Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie alle herzlich zur voraussichtlich letzten Plenarsitzung dieser Woche.
Ich habe Ihnen mit Blick auf die nächste Sitzungswoche, die ja unmittelbar bevorsteht, mitzuteilen, dass sich
der Ältestenrat in seiner gestrigen Sitzung darauf verständigt hat, während der Haushaltsberatungen ab dem
8. April wie üblich keine Befragung der Bundesregierung, keine Fragestunde und auch keine Aktuellen Stunden durchzuführen. Als Präsenztage sind die Tage von
Montag, dem 7. April, bis Freitag, dem 11. April, festgelegt worden. Erhebt sich dagegen Widerspruch? - Das
ist nicht der Fall. Dann haben wir das so vereinbart.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 18 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Philipp
Mißfelder, Sibylle Pfeiffer, Frank Heinrich
({0}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Niels Annen, Dr. Bärbel Kofler, Gabriela
Heinrich, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Kordula
Schulz-Asche, Tom Koenigs, Omid Nouripour,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Erinnerung und Gedenken an die Opfer des
Völkermordes in Ruanda 1994
Drucksache 18/973
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 96 Minuten vorgesehen. - Auch dazu
kann ich keinen Widerspruch erkennen, sodass wir so
verfahren können.
Dazu liegt ein Antrag vor, über den wir dann später
befinden werden.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Bundesminister des Auswärtigen, FrankWalter Steinmeier.
({1})
Die Berge Ruandas strömen Wärme und Behaglichkeit aus. Sie locken durch Schönheit und Stille,
kristallene Luft, Ruhe und die Vollkommenheit ihrer Linien und Formen. Am Morgen füllt durchsichtiger Nebel die grünen Täler.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! So
beschreibt Richard Kapuscinski die Landschaft von
Ruanda. „Land der tausend Hügel“ wird Ruanda deshalb
auch im Volksmund dort genannt.
Einer der tausend Hügel liegt in Murambi. Hierhin
waren Zehntausende Tutsi geflüchtet, als vor 20 Jahren
der Massenmord in Ruanda begann. „Oben am Hügel in
der neu gebauten Schule seid ihr sicher“, hatte der Bischof gesagt. Genau an diesem Morgen, am 21. April
1994, umstellten Milizen die Schulgebäude und begannen zu morden, mit Macheten, Messern und Knüppeln ein Blutrausch, der kein Ende nehmen wollte. Zehntausende Menschen starben auf diesem Hügel an einem einzigen Tag. Jonathan Nturo hat das Massaker als kleiner
Junge überlebt. Heute sagt er beim Blick über den Hügel: Ich wundere mich manchmal, dass hier noch Gras
wächst, dass das Leben weitergeht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ja, es ist schwer, zu
begreifen, dass die Erde sich weiterdreht nach einem solchen Grauen des Völkermords. Dieses Gefühl kennt jeder von uns, vielleicht vom ersten Besuch in BergenBelsen, Buchenwald oder Auschwitz. Es beschleicht jeden, der an solche Orte kommt. Aber auch überall dort
wächst noch Gras. Jetzt im Frühling blühen sogar die
Bäume.
Als Deutscher bin ich vorsichtig mit historischen Vergleichen. Sie werden der Einzigartigkeit und Unvergleichbarkeit dieser Verbrechen und insbesondere der
Dimension nationalsozialistischer Verbrechen nie gerecht. Sie werden aber auch der Geschichte und den unterschiedlichen Kulturen Afrikas nicht gerecht. Und
trotzdem: Als Deutscher kann man von einem Völkermord in Afrika nicht sprechen, ohne an den von uns
selbst zu verantwortenden Völkermord zu denken. Das
sind Schicksalsmomente unserer Kontinente. Sie prägen
unser Handeln bis heute und prägen eben auch - davon
rede ich - die Beziehungen unserer Völker zueinander.
Unsere Schicksalsmomente mögen so unterschiedlich
sein wie die Landschaften - die Hügel von Ruanda, die
Wälder um Auschwitz, die Mohnfelder von Verdun -,
doch die Lehren aus diesen Schicksalsmomenten verbinden uns. Sie sind Lehren einer geteilten Menschlichkeit.
Die eine Lehre, die an einem Gedenktag wie heute zu
ziehen ist, die wir ziehen müssen, heißt: Niemals wieder!
Ja, niemals wieder. Doch viel schwieriger ist die Frage,
wie wir dieser Verantwortung des „Niemals wieder!“ eigentlich gerecht werden. Seien wir ehrlich: Wir haben
schon einmal „Niemals wieder!“ gerufen. Das war 1948,
nach dem Holocaust, als die Vereinten Nationen die Völkermordkonvention beschlossen haben. Doch wir haben
dieses Versprechen nicht halten können. Die internationale Gemeinschaft hat versagt, als sie in Ruanda vor
20 Jahren inmitten der Gewalt ihre Blauhelmsoldaten
abzog.
Zur Wahrheit gehört auch, dass heute, in der Gegenwart, die Dämonen des Völkermords keineswegs gebannt sind, auch wenn die internationale Gemeinschaft
unter der Überschrift „Responsibility to Protect“ auf Ruanda reagiert hat, auch wenn sie Prävention, Einsatzfähigkeit und die internationale Strafgerichtsbarkeit verbessert hat. Wir sprechen nicht überall von Völkermord,
aber wir stehen im Kongo, in Zentralafrika und in Syrien
vor endlosem Blutvergießen.
Jonathan Nturo und allen Opfern von Menschheitsverbrechen können wir den Verlust ihrer Kinder, Väter,
Mütter und Freunde niemals wiedergutmachen. Aber wir
schulden ihnen etwas, auch wenn wir ehrlich wissen,
dass nicht jedes Unrecht und jedes Blutvergießen gestoppt werden kann. Wir schulden ihnen, dass wir uns
nicht dem Gefühl der Ohnmacht und schon gar nicht der
Gleichgültigkeit hingeben, dass wir nicht nur anprangern, sondern das uns Mögliche tun, das in unserer
Macht steht, um Völkermord zu verhindern. Das ist unsere Verpflichtung, und dieser Verpflichtung müssen wir
gerecht werden.
({0})
Ruanda ist dabei, Vergangenheit aufzuarbeiten, ein
neues Ruanda zu schaffen. Überall in Afrika entsteht
ganz viel Neues in diesen Jahren. Afrika, habe ich in einer anderen Rede gesagt, verändert sich schneller als unsere Wahrnehmung von Afrika.
Das ist der Grund für meine Reise nach Äthiopien,
Tansania und Angola, die ich in der vergangenen Woche
gemacht habe. So unterschiedlich die drei Länder sind,
so habe ich doch eigentlich überall, von fast allen Gesprächspartnern, denselben Ruf gehört. Der Ruf lautet:
Wir wollen keine Bettler vor den Türen Europas sein. Der afrikanische Kontinent ist aus sich heraus lebensfähig, kann Nahrung und Entwicklung für alle Menschen
jedenfalls potenziell bereitstellen.
Wenn es um Sicherheit, Stabilität und Frieden geht,
sagen viele: Wir wollen nicht um Europas Soldaten bitten, sondern wollen das selbst bewältigen können, selbst
handeln können. - Liebe Kolleginnen und Kollegen, das
muss eben auch unser Interesse sein. Wir Europäer wollen auch, dass Afrika sein Schicksal in die eigenen
Hände nimmt. Afrika ist ein Kontinent im Aufbruch, und
wir müssen diesen Aufbruch massiv unterstützen.
({1})
Dazu gehört auch, dass wir viele der afrikanischen
Staaten heute mehr und mehr als Partner wahrnehmen.
Wir brauchen sie als Partner, auch um die globalen Herausforderungen, vor denen wir gemeinsam stehen, bewältigen zu können. Wenn man dort unterwegs ist, dann
merkt man, wie sehr unsere beiden Kontinente, Europa
und Afrika, aufeinander angewiesen sind, zueinander gerückt sind, wie sehr wir von der Stabilität des jeweils anderen Kontinentes abhängen. Das erleben wir Europäer
- und wir reden hier auch darüber -, wenn Flüchtlinge
aus Afrikas Krisenherden an Europas Grenzen stoßen.
Aber man spürt es auch in vielen Gesprächen in Afrika,
wenn dort gesagt wird: Wir spüren hier vor allen Dingen
eure seit fünf Jahren dauernde Krise in Europa, weil von
den europäischen Staaten, insbesondere den südeuropäischen Staaten, weniger investiert wird. - Die europäische Krise hinterlässt eben auch tiefe Spuren in Afrika.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Ziel ist leicht
beschrieben. Danach zu handeln, ist nicht ganz so
einfach. Dazu entwickelt sich Afrika viel zu rasant, viel
zu vielfältig. Dieses Afrika will einfach unter keine
knackige Überschrift passen, nach der Medien und gelegentlich die Politik suchen. Afrika ist weder einfach Krisenkontinent noch einfach Chancenkontinent. Wahrscheinlich hat Horst Köhler recht, der gesagt hat: Solche
Urteile sagen ohnehin viel mehr über uns selber als über
Afrika.
Ich finde, wenn die Entwicklung Afrikas so vielfältig
ist, dann muss unser Instrumentenkasten daran angepasst
werden und genauso vielfältig sein. Je nach Land und je
nach Lage gehören in diesen Instrumentenkasten wirtschaftliche Investitionen genauso wie Abrüstung oder
die Eindämmung von Kleinwaffen; dazu gehört kultureller Austausch genauso wie Straßenbau, die Stärkung des
Rechtsstaates genauso wie das Training von Sicherheitskräften. All diese Instrumente habe ich in verschiedenen
Ländern, in verschiedenen Staaten gesehen, und alle
werden sich in den afrikapolitischen Leitlinien der Bundesregierung wiederfinden, die wir gerade erarbeiten.
Ich weiß auch aus eigener Erfahrung: Gerade gegenüber Afrika bleibt Außenpolitik immer auch ein Balanceakt. Dazu gehört der Respekt vor den Unterschieden
und die Suche nach Gemeinsamkeiten, aber auch die
Feststellung dessen, was möglicherweise unvereinbar
ist.
Gemeinsamkeiten gibt es heute sehr viel mehr als das
„Nie wieder!“, von dem ich ganz am Anfang meiner
Rede gesprochen habe, das „Nie wieder!“ zu Krieg und
Völkermord.
Es ist sehr viel mehr, weil erstens die Europäer wie
die Afrikaner gelernt haben, mit Nachbarn zu leben, mit
ihnen zu arbeiten statt gegen sie. Das ist eine Leitidee
der regionalen Integration, wie wir sie in Europa entwickelt haben; aber das ist eben auch die Leitidee der
Afrikanischen Union.
Ich befürchte, wir unterschätzen gelegentlich, was
von den afrikanischen Organisationen mittlerweile geleistet wird. Natürlich reden wir zu Recht über Einsätze,
über Mandate, die hier im Deutschen Bundestag beschlossen werden. Aber viele wissen einfach nicht, dass
die Afrikanische Union 70 000 Soldaten in innerafrikanischen Konflikten im Einsatz hat und mit Mühe - und
nicht überall erfolgreich - danach sucht, dort Stabilität
wiederherzustellen, wo sie verloren gegangen ist. Die
Stärkung der afrikanischen Eigenverantwortung, die
dazu notwendig ist, hat auf dem EU-Afrika-Gipfel in
dieser Woche eine große Rolle gespielt.
Wir versuchen, diese Eigenverantwortung zu stärken nicht nur durch situative Ausbildungsmissionen, sondern
ganz gezielt, indem wir beispielsweise das Kofi Annan
International Peacekeeping Training Centre in Ghana
unterstützen oder das Peace and Security Centre - ich
konnte mir das ansehen -, das wir auf dem Gelände der
Afrikanischen Union in Addis Abeba bauen und das
nächstes Jahr eröffnet wird, pünktlicher als manche Baustelle in Deutschland.
({2})
Zweitens. Wir wollen die Vielfalt der Menschen
schützen. Die Botschafterin Ruandas hat in einer Rede
zum 20-jährigen Gedenken an den Völkermord gesagt:
Wir bauen ein Ruanda auf, in dem alle Menschen …
sich mit gleichen Rechten entfalten können.
In Vielfalt leben, das geht nur - das wissen wir - in einem Rechtsstaat, auf den sich alle verlassen können.
Dazu gehört die Freiheit von Meinung und Religion genauso wie die Freiheit der sexuellen Orientierung. Das
war ein Grundsatz, der auf meiner Reise eine große
Rolle gespielt hat, zum Beispiel beim Besuch des German Tanzanian Law Centre in Daressalam, wo ich Studenten getroffen habe, die sehr an einem Rechtsstaatsdialog mit uns, mit Europa, aber insbesondere mit
Deutschland, interessiert sind. Viele ihrer Lehrer haben
an deutschen Universitäten studiert. Deshalb will ich an
dieser Stelle den vielen deutschen Universitäten meinen
herzlichen Dank für ihr Engagement auf dem afrikanischen Kontinent aussprechen, insbesondere dem Deutschen Akademischen Austauschdienst, der sich durch
seine Stipendienprogramme mit unendlicher Energie dafür einsetzt, dass die entsprechenden Vorhaben auf den
Weg gebracht werden können.
({3})
Drittens haben wir gelernt, dass Frieden oder Unfrieden auch materielle Grundlagen hat, insbesondere dann,
wenn sie fehlen. Der Völkermord vor 20 Jahren wurde
angeheizt durch materielle Not, durch knappe Ressourcen, durch Konflikte, die die Machthaber systematisch
ausgenutzt haben, um möglichst viele Menschen in das
Morden zu verstricken. Deshalb gehört zu den Lehren
des Völkermords das Friedensversprechen auf der einen
Seite, aber auch das Wohlstandsversprechen auf der anderen Seite.
Kongo, Nigeria und Angola, alle diese Staaten lehren
uns, dass Öl, Gas, Gold und Diamanten nicht von selbst
für Wohlstandsentwicklung sorgen, an der alle teilhaben,
sondern das muss politisch organisiert werden. Nur
wenn der wirtschaftliche Aufbruch Perspektiven für alle
Menschen schafft, nur wenn er - auch durch Bildung,
Entwicklung und die Schaffung eines Gesundheitswesens - alle Menschen am Wohlstand teilhaben lässt,
schweißt er die Gesellschaft zusammen. Nur dann können wir für Frieden sorgen.
({4})
In Addis Abeba führte ich längere Gespräche mit Vertretern der Afrikanischen Union, auch mit der Kommissionsvorsitzenden Frau Dlamini-Zuma. Nach den Gesprächen stellte eine deutsche Journalistin die relativ
klare Frage an Frau Zuma: Was ist eigentlich die größte
Erwartung Afrikas an Europa? Frau Zuma hat eine klare
Antwort gegeben. Sie sagte: Unsere Jugend! Für sie wollen wir mit Europa arbeiten, für ihre Ausbildung, für ihre
wirtschaftlichen Perspektiven. Die nächste Frage der
Journalistin war: Und was hat Europa von Afrika zu erwarten? Darauf antwortete Frau Zuma: Auch unsere Jugend! Unsere Jugend ist unser Reichtum, und von diesem Reichtum wird auch Europa profitieren.
Meine Damen und Herren, die Lehren aus den
Schicksalsmomenten, die ich genannt habe, verbinden
uns. 20 Jahre nach dem Völkermord ist Ruanda heute ein
Land, das auf dem Weg ist in eine neue Zukunft, ohne zu
verdrängen, ohne zu vergessen.
Die tausend Hügel, von denen ich gesprochen habe,
sind und bleiben die Schicksalslandschaft Afrikas.
Roméo Dallaire, der 1993 als Kommandeur der Blauhelme nach Ruanda kam, rief, als er diese tausend Hügel
sah: Ein Garten Eden ist das hier. Wenige Monate später
musste er voll Scham und Wut das Massaker mit ansehen.
Die Erinnerung ist in tausend Hügeln eingeprägt. Ihr
Name bleibt verbunden mit den Menschheitsverbrechen
vor 20 Jahren. Liebe Kolleginnen und Kollegen, neben
aller Erinnerung, die in dieser Landschaft ruht: Denen,
die Ruanda heute aufbauen, mögen die tausend Hügel
wieder Heimat sein und fruchtbarer Boden.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort erhält nun der Kollege Stefan Liebich für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! „Ihr
habt gute Arbeit geleistet“, so bedankte sich der Präfekt
des Verwaltungsbezirks Gikongoro im Süden Ruandas
bei jenen, die innerhalb weniger Stunden Abertausende
von Menschen getötet hatten. Damals, vor 20 Jahren, hat
kein Virus des Tötens, wie manche sagen, das Land befallen. Es waren keine vermeintlichen Wilden, die sich
in einen Stammeskrieg verirrten. Es waren gebildete,
moderne Eliten, die Unvorstellbares taten. Sie organisierten einen hunderttausendfachen Mord an den Tutsi
und den gemäßigten Hutu und führten ihn teilweise auch
eigenhändig durch. Eine Frage, der wir uns heute stellen
müssen, ist, wie es zu diesem Völkermord kommen
konnte und wer dafür in Ruanda, in Afrika, in Europa, in
unserer Weltgemeinschaft die Verantwortung trägt. Wie
konnte so etwas geschehen in einem Land, in dem die
Menschen die gleiche Sprache sprechen, meist auch die
gleiche Religion haben, in dem man über sehr lange Zeit
friedlich miteinander lebte und sich vor allem dadurch
unterschied, dass der eine Ackerbauer und der andere
Viehbesitzer war?
Hutu und Tutsi wurden erst von Europäern zu Feinden gemacht. Es war der Engländer John Speke, der
1860 fand, dass die Tutsi den neolithisch-hamitischen
Völkern zugerechnet werden müssten und den afrikanischen Hutu überlegen seien. Festgeschrieben wurden die
angeblichen Rassenunterschiede durch die Deutschen,
deren Kolonie das Territorium Ruandas zunächst war,
und vor allem durch die belgischen Kolonialherren, die
in Pässe eintragen ließen, ob jemand Hutu oder Tutsi ist.
Soziale Unterschiede wurden ethnisiert, damit die europäischen Mächte das Land leichter beherrschen und die
Gruppen gegeneinander ausspielen konnten. Hier liegt
die Wurzel des Übels.
Es waren auch die Belgier, die eine Hutu-Regierung
in Ruanda ins Amt brachten und damit der jahrhundertealten Tutsi-Herrschaft ein Ende setzten. Die Hutu diskriminierten die Tutsi. Die Tutsi flohen. Es gab Kämpfe
und Tote, und die Invasion der Tutsi der Ruandischen
Patriotischen Front, der heutigen Regierungspartei
Ruandas, unter Paul Kagame von Uganda aus konnte nur
durch das Eingreifen Frankreichs, das die Hutu-Regierung unterstützte, gestoppt werden.
Nun begann die Vorbereitung zum Völkermord: Radios wurden umsonst im Land verteilt, um Hass- und
Gewaltaufrufe zu verbreiten. Als das Präsidentenflugzeug am 6. April 1994 abgeschossen wurde, brachen alle
Dämme. Mit Namenslisten gingen die Anhänger von
Hutu Power, so der Name einer rassistischen Partei, als
Erstes zu den Häusern der gemäßigten Hutu-Politiker
und brachten sie um. Am 7. April 1994, also einen Tag
später, war die gesamte Regierung ausgelöscht oder untergetaucht. Dann wurde den Milizen freie Hand gewährt. Allen, die sich an den Massakern beteiligten, bot
man materielle Anreize. Wer nicht mitmischte, wurde
mitsamt seiner Familie getötet. In 100 Tagen wurden
75 Prozent der ruandischen Tutsi ermordet. Das Grauen
wird noch heute in zahlreichen Gedenkstätten deutlich.
Viele stellten und stellen sich die Frage, warum die
Weltgemeinschaft den Geschehnissen keinen Riegel vorgeschoben hat, warum die UNO nicht militärisch eingegriffen hat, als die Dimension der Unmenschlichkeit bekannt wurde. Ich finde diese Frage verständlich.
Noch wichtiger ist es, sich damit auseinanderzusetzen, was man hätte tun können, um den Völkermord
schon vor seinem Geschehen zu verhindern. Vor der Verantwortung zum Schutz der Zivilbevölkerung, vor solchen Verbrechen liegt die Verantwortung, zu vermeiden,
dass es überhaupt so weit kommen kann.
({0})
Warum wurden vor 130 Jahren hier ganz in der Nähe
in der Wilhelmstraße die Grundlagen für die Aufteilung
der Kolonien Afrikas gelegt und willkürlich Grenzen gezogen, ohne irgendeinen der Menschen zu fragen, die
seit Jahrhunderten auf diesem Kontinent lebten? Was
war die Rolle Deutschlands und Belgiens bei der Ziehung der Grenzen zwischen den Bewohnern Ruandas?
Schließlich: Was ist mit Frankreich? „Hebt endlich die
Geheimhaltung der Rolle Frankreichs in Ruanda auf!“,
fordert seit vergangenem Mittwoch eine Petition, die bereits von Tausenden Franzosen unterschrieben wurde.
Denn immer noch hält die Regierung Hollande die Akten unter Verschluss.
Französische Experten hatten die rassistische Hutu
Power bei der statistischen Erfassung und Organisation
der gesamten Bevölkerung beraten. Die Statistiken haben später beim Völkermord geholfen. Die GenozidRegierung selbst wurde in den Räumen der französischen Botschaft in Kigali gegründet, und als der Völkermord bereits auf Hochtouren lief, wurde sie noch in
Paris empfangen. Wer Außenpolitik nicht nur von der
Seitenlinie machen möchte, Frau Merkel, Herr
Steinmeier, und wer Afrika dabei im Blick hat, der sollte
schleunigst gegenüber den französischen Freunden aktiv
werden und hier Aufklärung fordern.
({1})
Wenn wir die Opfer des Völkermords ehren wollen,
dann sollten wir Ruanda helfen, zum Beispiel den Überlebenden des Völkermords, die heute unter HIV und
Aids leiden, und jenen, die an ihrem Lebensabend keine
Familien mehr haben, die sie unterstützen können. Wir
helfen nicht, wenn wir mit Kritik an der Scheindemokratie, die Ruanda heute ist, sparen. Unterdrückung der
Opposition, mangelnde Pressefreiheit und die Rolle
Kagames im Kongo dürfen nicht verschwiegen werden.
Eines noch zum Schluss: Bitte legitimieren Sie keine
neuen Militäreinsätze in Situationen, die mit Ruandas
Völkermord mit Hunderttausenden Toten nicht zu vergleichen sind!
({2})
Eine soziale und gerechte Weltwirtschaftsordnung und
daraus erwachsende Stabilität - der Außenminister hat
darauf hingewiesen - sind sicher keine Garantie, aber
können helfen, solche Abgründe der Unmenschlichkeit
zu vermeiden. Hier haben wir noch viel zu tun.
Vielen Dank.
({3})
Nächster Redner ist der Kollege Philipp Mißfelder für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
diesen Tagen jährt sich der Völkermord in Ruanda - am
kommenden Montag findet eine Gedenkveranstaltung in
Ruanda selbst statt - zum 20. Mal. Zwischen April und
Juni 1994 wurden über 800 000 Menschen, vorwiegend
Tutsi, aber auch gemäßigte Hutu, Opfer eines unbeschreiblichen Sterbens. Der Deutsche Bundestag verneigt sich mit diesem Gedenken und den Initiativen, die
wir ergriffen haben, vor den Opfern von Gewalt, Mord
und Vertreibung. Wir wollen durch unser Gedenken sicherstellen, dass dies nicht vergessen wird.
Wir bedauern insbesondere, dass es der internationalen Gemeinschaft trotz zahlreicher Hinweise aus dem
Land und außerhalb des Landes damals nicht gelungen
ist, die Vorboten des Völkermords zu erkennen und die
Entwicklung zu verhindern. Deshalb wollen wir mit dieser Debatte nicht nur anregen, der Opfer zu gedenken
- dies tun wir -, sondern wir wollen auch darüber sprechen - das ist in den vorherigen Wortbeiträgen bereits
geschehen -, wie Völkermord insgesamt verhindert werden kann und welchen Einfluss europäische Politik, positiv wie negativ, auf Afrika haben kann.
Die Ursachen dieses Völkermords sind von meinem
Vorredner sehr deutlich herausgearbeitet worden. Eines
muss man sagen: Selbstverständlich haben auch europäische Länder dort aufgrund ihrer Interessenpolitik herumexperimentiert. Dies hat dem Land nicht gutgetan, und
das haben viele Menschen mit dem Tod bezahlt.
({0})
Die autoritäre Militärregierung hat damals versucht,
die Opposition niederzuringen und dringend notwendige
Reformen zu verhindern. Als 1973 Präsident Juvénal
Habyarimana durch einen Staatsstreich ins Amt kam,
war die Rollenverteilung nicht nur in ethnischer Hinsicht
klar, sondern auch machtpolitisch zementiert. Zur Konsolidierung seiner Macht platzierte der Präsident diverse
Hutu-Anhänger in nahezu allen Schlüsselpositionen, vor
allem in der Armee des Landes.
Anfang der 90er-Jahre eskalierten die Auseinandersetzungen mit der Patriotischen Front, der Rwandese
Patriotic Front, des heutigen Staatspräsidenten Paul
Kagame, der später den Völkermord beendet hat. Lokale
Pogrome kosteten damals bereits Hunderte von Tutsi das
Leben.
Nach langwierigen Verhandlungen unterzeichneten
Regierung und Opposition am 4. August 1993 in Tansania ein Friedensabkommen, das eine Teilung der Macht
sowie eine Integration der Rebellenarmee vorsah. Beide
Parteien befürworteten die Stationierung einer UN-Blauhelmtruppe, um die Umsetzung der Vereinbarung zu
überwachen.
Am 5. Oktober 1993 richtete der UN-Sicherheitsrat
mit der Resolution 872 auf Vorschlag des damaligen Generalsekretärs Boutros Boutros-Ghali eine UNO-Mission für Ruanda ein. Aber auch das hat den späteren Völkermord nicht verhindert. Der damalige UNAMIRKommandeur traf am 22. Oktober 1993 in der ruandischen Hauptstadt Kigali ein, die ersten Soldaten fünf
Tage später. Das heißt, die UNO war damals schon präsent. Die Etablierung einer Übergangsregierung unter
Einschluss der Patriotischen Front Kagames scheiterte
jedoch. Über Radio - das wurde bereits gesagt - wurde
damals bereits dazu aufgerufen, die Tutsi umzubringen.
Die Situation eskalierte vollkommen, als am 6. April
1994 das Flugzeug abgeschossen wurde, in dem Präsident Habyarimana saß, und dieser dabei ums Leben kam.
Dadurch wurde eine neue Eskalationsstufe erreicht. Die
Planungen dazu wurden aber wahrscheinlich schon vorher getroffen.
Wir müssen kritisch überprüfen, was die UNO-Mission damals gebracht hat und ob sie vielleicht Schlimmeres hätte verhindern können. Die UNO hat sich deshalb
Jahre später, im Jahr 1999, unter dem früheren schwedischen Premierminister Carlsson ausführlich mit diesem
Völkermord und mit seinem Zustandekommen beschäftigt. Ich möchte aus dem Bericht zitieren:
Die Unabhängige Untersuchungskommission stellt
fest, daß die Vereinten Nationen im Vorfeld und
während des Völkermordes in Ruanda 1994 in
mehreren grundsätzlichen Punkten versagt haben.
Die Verantwortung für das Versagen der Vereinten
Nationen, den Völkermord in Ruanda zu verhindern oder zu stoppen, liegt bei einer Reihe verschiedener Akteure, insbesondere beim Generalsekretär,
dem Sekretariat, dem UNO-Sicherheitsrat, der
UNAMIR und bei der breiteren Mitgliedschaft der
Vereinten Nationen. Diese internationale Verantwortung verlangt eine klare Entschuldigung der Organisation und der betreffenden Mitgliedstaaten gegenüber dem ruandischen Volk. Hinsichtlich der
Verantwortung jener Ruander, die den Völkermord
an ihren Landsleuten planten, dazu aufhetzten und
ihn begingen, sind fortgesetzte Bemühungen erforderlich, sie vor Gericht zu stellen, vor den Internationalen Strafgerichtshof für Ruanda und vor nationale Gerichte in Ruanda selbst.
Aus diesem Bericht und aus den vielen Bemühungen,
die es damals gab, um den Völkermord und das Versagen der internationalen Staatengemeinschaft aufzuarbeiten, ist die Diskussion um die sogenannte Responsibility
to Protect entstanden. Sie spielt hier sehr häufig eine
Rolle. Häufig wird aber vergessen, dass der Ausgangspunkt eigentlich das Versagen der UNO im Hinblick auf
den Völkermord in Ruanda war. Deshalb ist es richtig,
wenn man die Responsibility to Protect bemüht oder als
politisches Hilfsargument anführt, dass man sich vergewissert, dass dieser Gedenktag eine ganz wichtige Funktion hat, und dass man sieht - es ist uns gelungen, die
Debatte um RtoP in der UNO voranzubringen -: Häufig
führt die Selbstblockade der UNO dazu, dass es keine
Garantie dafür gibt, dass dieses Prinzip auch angewandt
wird.
Vor diesem Hintergrund möchte ich an einem Punkt
- gar nicht polemisch - widersprechen. Auch hier im
Hause gibt es unterschiedliche Auffassungen darüber, ob
man im Rahmen der Responsibility to Protect oder im
Rahmen weiterer Möglichkeiten zur Verhinderung eines
Völkermordes militärische Maßnahmen ergreifen sollte
oder nicht.
Ich stimme dem, was gesagt worden ist, zu. Man kann
generell sagen: Es ist besser, wenn man vorausschauend
agiert. - Die verfehlte Kolonialpolitik hat dazu geführt,
dass man Ruanda zu wenig geholfen hat, dass man
Ruanda in diese Situation gebracht hat, dass man Ethnien zuerst kreiert und sie dann gegeneinander aufgehetzt hat. Aber nichtsdestotrotz: Wenn so etwas falsch
gelaufen ist und sich ein Land in eine falsche Richtung
bewegt, dann muss man bereit sein, zum Schutz der Zivilbevölkerung als äußerstes Mittel der Politik auch militärische Maßnahmen zu ergreifen. Da stimmen wir hier
im Haus eben nicht alle überein. Deshalb möchte ich
mich noch einmal dafür starkmachen, dass ein Mittel im
Rahmen der Responsibility to Protect als äußerste Möglichkeit eben auch militärische Maßnahmen sein sollten.
({1})
Der Bundesaußenminister hat klargemacht, dass er einen Schwerpunkt seiner Arbeit auf Afrika legt; ich
glaube, seine jüngste Reise vor ein paar Tagen dokumentiert das sehr deutlich. Deshalb möchte ich heute unsere
Bereitschaft betonen, mit der Regierung in Ruanda ein
neues Kapitel der bilateralen Zusammenarbeit aufzuschlagen. Kritische Punkte in Bezug auf Präsident
Kagame sind angesprochen worden. Aber eines sollten
wir nicht vergessen: Dieser Mann hat den Völkermord
damals beendet und zur Aussöhnung im Land erheblich
beigetragen.
Wir sehen, dass Ruanda Schwierigkeiten hat. Wir sehen aber auch, dass die wirtschaftlichen Perspektiven,
die Perspektiven von Good Governance und Regierungsführung im Allgemeinen viel besser sind als in vielen anderen Ländern. Vor diesem Hintergrund sollten wir am
heutigen Tage mit Blick auf die Zukunft festhalten, dass
wir, gerade was die Region der Großen Seen oder die
Diskussion über den Kongo angeht, mit Ruanda zusammenarbeiten, die politische und die bilaterale Zusammenarbeit vertiefen und weiterhin versuchen wollen, ein
freundschaftliches und partnerschaftliches Verhältnis zur
Regierung zu pflegen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({2})
Das Wort erhält nun die Kollegin Kordula SchulzAsche für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es gab
viele Ereignisse, Bilder und Gefühle im Jahr 1994, die
ich mein Leben lang nicht vergessen werde. Eine kleine
Auswahl:
Am Abend des 6. April 1994 hatten wir in Kigali einen portugiesischen Arbeitskollegen zu Besuch. Meine
dreijährige Tochter lag schon schlafend im Bett, als um
20.20 Uhr ein lauter Knall aus Richtung Flughafen zu
hören war. Wenig später erfuhren wir über Telefon und
Funkgeräte vom Abschuss des Flugzeugs des damaligen
ruandischen Präsidenten. In dieser Nacht auf den 7. April begann der systematische Völkermord an den Tutsi
und die Ermordung von moderaten und oppositionellen
Hutu.
Am 7. April erhielten wir den Anruf der Ehefrau eines
Arbeitskollegen, beide Tutsi, die uns verzweifelt um
Hilfe bat, weil Soldaten versuchten, in das Haus einzudringen. Plötzlich hörten wir Krachen im Hintergrund
und kurz darauf Schreie; dann brach das Gespräch ab.
Später haben wir erfahren, dass an diesem Tag die gesamte Familie ermordet worden war.
Am 9. April fuhren wir im ersten Konvoi im Rahmen
der Evakuierung Richtung Burundi. Als wir uns der kleinen Stadt Gitarama näherten, kam uns ein alter, sehr
hoch gewachsener Mann, ein Bauer, entgegen. Er
schaute auf den Konvoi, begriff, dass die Ausländer gerade dabei waren, das Land zu verlassen, ließ seinen
Stab fallen und schlug verzweifelt die Hände vor das Gesicht. In diesem Moment dachte ich wieder einmal: Wir
werden es wahrscheinlich schaffen, aber diese Menschen
hier lassen wir zurück. Müsste man nicht bleiben?
Müsste man nicht irgendetwas tun? - Ein Gefühl, meine
Damen und Herren, das man nie wieder vergisst.
Im September und Oktober 1994, nach dem Völkermord, kehrte ich nach Ruanda zurück und erfuhr von
vielen Kolleginnen und Kollegen, die unter den Opfern
waren, aber auch von jenen Kolleginnen und Kollegen,
von denen es hieß, dass sie gemordet haben. So fuhr ich
bis 1998 regelmäßig zu der Nichtregierungsorganisation,
in der ich vor dem Völkermord gearbeitet hatte, um die
Einarbeitung neuer Mitarbeiter zu begleiten.
Die Frage „Warum habt ihr nicht geholfen?“ konnte
ich allerdings nicht beantworten. Aber seitdem bin ich
der festen Überzeugung, dass es eine Verantwortung der
internationalen Gemeinschaft gibt, aus den Fehlern in
Ruanda zu lernen, um eine Zivilbevölkerung tatsächlich
wirksam vor Völkermord zu schützen und vor allem alle
Möglichkeiten der Prävention zu erkennen, dann aber
auch zu nutzen.
({0})
Im Mittelpunkt der heutigen Debatte steht für mich
das Gedenken an die vielen Opfer des Völkermords in
Ruanda. Wir gedenken auch jener, die, sich selbst größter Gefahr aussetzend, anderen geholfen haben. Wir haben aber auch ausdrücklich des Leids derjenigen zu gedenken, die überlebt haben, die Verwandte verloren
haben - manche haben ihre ganze Familie verloren -,
die, selbst traumatisiert, verstümmelt, vergewaltigt, nun
ihren Platz in der heutigen ruandischen Gesellschaft finden müssen. Sie gehören oft zu den Vergessenen dieses
Völkermords. Die Konzentration, die richtige Konzentration auf die juristische Verurteilung der Täter vernachlässigt nach wie vor die Frage, wie die Opfer, wie die
Zeugen besser unterstützt werden können. Hier, meine
Damen und Herren, sehe ich auch international noch
großen Handlungsbedarf, auch für die Zukunft.
({1})
Der fraktionsübergreifende Antrag erwähnt die ruandischen Bemühungen zur Aufarbeitung, die Arbeit des
Arusha-Tribunals, den Aufbau eines geordneten Staatswesens, unterstützt auch durch die Zusammenarbeit mit
Deutschland, mit dem Ziel einer guten demokratischen,
rechtsstaatlichen und nachhaltig sozioökonomischen
Entwicklung in der Region der Großen Seen. Wirkliche
Partnerschaft heißt aber auch, immer dann in den Dialog
zu treten, wenn Menschenrechte verletzt werden. Die
nachhaltige Entwicklung eines Landes ist nur möglich,
wenn sich der Rechtsstaat auf eine aktive vielfältige Zivilgesellschaft stützen kann, die keine Angst vor Verfolgung haben muss.
({2})
Auch hier könnte Ruanda zu einem Vorbild werden. Die
Bereitschaft, dies zu unterstützen, besteht - da bin ich
mir sicher - im gesamten Haus.
Die bisherige Aufarbeitung des Völkermords in Ruanda - ich denke an seine Genese, seine Mechanismen
und seine Akteure - hat bereits geholfen, internationale
Instrumente der Frühwarnung und Prävention zu entwickeln, auch wenn es - das wird uns immer wieder bewusst - schwere Rückschläge gibt. Besonders die Responsibility to Protect, die durch die Vereinten Nationen
2005 entwickelt und etabliert wurde, geht auch auf die
Erfahrungen in Ruanda zurück.
Heute ist daher eine entscheidende Frage, ob wir
wirklich bereits alle Erfahrungen aufgearbeitet und wirklich alle Konsequenzen gezogen haben. Die Antwort ist:
offensichtlich nein. Es ist immer leicht, auf andere zu
zeigen. Die Verantwortlichen für das Versagen der internationalen Gemeinschaft während des Völkermords hatten einige schnell identifiziert: die USA mit ihrem Scheitern in Somalia, Belgien als ehemalige Kolonialmacht,
Frankreich als starker Verbündeter der Regierung
Habyarimana, die Vereinten Nationen, weil sie es versäumt hatten, früher einzugreifen.
Und Deutschland? Vor dem Hintergrund der sich hinziehenden Friedensverhandlungen in Arusha häuften
sich seit 1992 immer mehr Informationen über Trainingscamps von Milizen, Waffenverteilung, Todeslisten
mit Namen von Tutsi und oppositionellen Hutu, über
Massaker, auch in großem Ausmaß, an der Bevölkerung.
Was wurde aufgrund all dieser Warnungen getan? Warum wurden geheimdienstliche Erkenntnisse Deutschlands nicht an die UN-Ruanda-Mission weitergeleitet?
Warum wurde die Bitte der UN im Mai 1994 auf Sanitätssoldaten abgeschlagen? Warum wurden 147 Flüchtlinge, für die Rheinland-Pfalz sogar die Übernahme aller
Kosten zugesagt hatte, nicht in Deutschland aufgenommen? Warum dauerte es so lange, bis der damalige Außenminister das Wort „Völkermord“ in den Mund nahm,
und warum hatte es, als er es tat, keinerlei Folgen? Warum hat der Bundestag 1994 kein einziges Mal über Ruanda diskutiert? - Das sind nur einige offene Fragen.
({3})
„Wo wart ihr? Warum habt ihr uns nicht geholfen?“
Bartholomäus Grill sagt in dieser Woche in einem sehr
beeindruckenden Artikel im Spiegel:
Ich schäme mich bei solchen Fragen bis heute.
Er hinterfragt die eigene Rolle als Journalist und seine
1994, wie er selbst sagt, „flott hingeschriebene Fernanalyse“.
Weiter sagt Herr Grill:
Am Ende schrieb ich, dass eine Intervention von
außen wohl zwecklos sei. Der Text enthält die unverzeihlichsten Irrtümer, die mir in meinem Berufsleben unterlaufen sind.
Hoffentlich ist dieser Artikel ein Auslöser der Aufarbeitung von journalistischer Seite der Art und Weise von
Berichterstattung, aber zum Beispiel auch der Ausbildung von Journalisten der Zeitschrift Kangura oder des
Senders Radio-Télévision Libre des Mille Collines.
Es ist auch überfällig, die Verantwortung der deutschen Entwicklungs-, Verteidigungs-, Außen- und Innenpolitik aufzuarbeiten. In den 20 Jahren vor dem Völkermord war Deutschland der zweitgrößte Geber.
Ruanda erhielt Ausstattungshilfe für die Streitkräfte, und
seit 1978 gab es auch vor Ort eine Beratergruppe der
Bundeswehr - bis zum April 1994. DED, GTZ, die
Deutsche Welle, politische Stiftungen, die beiden großen
Kirchen und viele Nichtregierungsorganisationen wirkten vor Ort. Die enge Partnerschaft zwischen RheinlandPfalz und Ruanda bestand in den 1990er-Jahren aus über
650 Projekten. Und wieder die Fragen: Wo wart ihr?
Warum habt ihr uns nicht geholfen?
Die Prävention von Völkermorden bedarf der Entschiedenheit der Vereinten Nationen. Diese Entschiedenheit wird immer auch geprägt vom Engagement einzelner Nationen. Im Ruanda vor dem Völkermord hielten
Politiker aus fast allen Parteien Ausschau nach dem Engagement eines neutralen Partners, und ihre Hoffnung
richtete sich auf Deutschland. Dass es wiederholt und
zunehmend dringlicher den Wunsch nach einer deutschen Vermittlungsinitiative gab, wissen wir vom Hörensagen. Ob dies stimmt und ob die Bundesrepublik jemals erwogen hatte, diesem Wunsch nachzukommen,
wird man heute ohne eine gründliche historische Aufarbeitung kaum noch belegen können.
Nach dem Völkermord war Deutschland eines der
ersten Länder, die in Ruanda wieder aktiv wurden. Mit
wesentlicher deutscher Unterstützung haben die afrikanischen Partnerländer mit dem Ausbau von Frühwarnsystemen und der Unterstützung von Friedensmissionen
beginnen können, die es vor dem Völkermord in Ruanda
überhaupt nicht gegeben hat. Was nun fehlt, ist eine systematische, unabhängige wissenschaftliche Aufarbeitung der deutschen Politik in den Jahren 1990 bis 1994.
Dies betrifft auch die Politik im Verhältnis zu anderen
europäischen Partnern; Frankreich ist bereits genannt
worden.
({4})
Das Ziel einer solchen Aufarbeitung sollte es sein,
dass wir für die Zukunft weitere Lehren daraus ziehen
und wirklich sagen können: Unser Ziel ist: Nie wieder
Völkermord! Lassen Sie uns alle gemeinsam, auch vor
dem Hintergrund unserer eigenen Geschichte, eine Antwort auf die Frage finden: Warum habt ihr uns nicht geholfen?
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Nächster Redner ist der Kollege Niels Annen für die
SPD-Fraktion.
({0})
Vielen Dank. - Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Liebe Kollegin Schulz-Asche, ich
möchte Ihnen für Ihre eindrücklichen, sehr persönlichen
Worte recht herzlich danken.
({0})
Am 6. April 1994 wurde die Maschine des ruandischen Präsidenten im Landeanflug auf Kigali abgeschossen. Dabei kamen alle Insassen ums Leben. Nur wenige
Minuten später begann der Mord an Hunderttausenden
Tutsi, aber auch an moderaten Hutu, die sich schützend
vor ihre Nachbarn gestellt hatten. Es war keine spontane
Eruption von Gewalt, sondern ein von langer Hand organisatorisch und ideologisch vorbereiteter Mord. In den
Reden ist darauf hingewiesen worden: Die Verantwortlichen dafür - meine Damen und Herren, das macht es besonders schwer zu verstehen - waren bekannt.
Auch für mich hat die Erinnerung an den Genozid in
Ruanda einen sehr persönlichen Bezug: Am 6. April
1994 habe ich meinen 21. Geburtstag gefeiert. Die Tragweite der Ereignisse, die wir eher beiläufig über das Radio erfahren haben, habe ich damals, wie so viele andere
auch, nicht erfasst.
In Ruanda sind zwischen April und Juli 1994 systematisch unvorstellbare Verbrechen begangen worden,
Verbrechen, die unser Fassungsvermögen auf eine harte
Probe stellen; der Außenminister hat dazu die richtigen
Worte gefunden. Ich glaube - ohne unpassende Vergleiche anstellen zu wollen -: Für uns Deutsche stellt dieser
Gedenktag eine besondere - wie soll man sagen? - Herausforderung dar. Wir wissen, wie schwer es ist, zu den
dunklen Seiten der eigenen Vergangenheit zu stehen. Ich
bin deshalb dankbar und ich freue mich darüber, dass es
CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen gelungen
ist, einen gemeinsamen Antrag vorzulegen, den wir
heute verabschieden wollen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der heutige Gedenktag erinnert uns nicht nur an den von Deutschen begangenen Völkermord an den Juden, sondern auch an
das Versagen der internationalen Gemeinschaft, dem
Morden in Ruanda ein Ende zu bereiten; auch darauf ist
zu Recht hingewiesen worden. Dieses - man kann das
gar nicht häufig genug betonen - Versagen der internationalen Gemeinschaft ist auch unser Versagen, ist auch
ein Versagen der deutschen Politik gewesen.
Seit dem Völkermord in Ruanda stellen wir uns in
diesem Parlament, in der deutschen Öffentlichkeit bei
Nachrichten über massive Menschenrechtsverletzungen
die Frage: Ist unsere Antwort angemessen? Der häufig
ausgesprochene, manchmal aber auch unausgesprochene
Maßstab für die Antwort ist Ruanda; in gewisser Weise
ist Ruanda somit zum Synonym für Menschheitsverbrechen geworden.
Wenn wir heute der Opfer gedenken, müssen wir uns
auch die Frage stellen, ob wir aus diesem gemeinschaftlichen Versagen die notwendigen, die richtigen Lehren
gezogen haben. Krisen betreffen häufig nicht nur ein
Land - wir haben häufig nicht mehr die klassischen
Akteure innerstaatlicher Konflikte -, Konfliktursachen
kennen oftmals keine Staatsgrenzen mehr. Das stellt uns
vor große Herausforderungen. Gerade die aktuellen Krisen in Mali, in der Zentralafrikanischen Republik und im
Südsudan, die den Deutschen Bundestag und die deutsche Öffentlichkeit beschäftigen, machen allesamt nicht
an - manchmal aus der Kolonialzeit stammenden, willkürlichen - Grenzen halt, und sie können leicht über
diese Grenzen hinaus Auswirkungen haben. Unsere
Politik, liebe Kolleginnen und Kollegen, muss darauf angemessen reagieren. Wir alle wissen: Das ist nicht immer einfach.
Ruanda hat, auch wenn uns einige innenpolitische
Entwicklungen durchaus Sorgen bereiten, in den letzten
Jahren beeindruckende Fortschritte gemacht. Wir ermutigen die Regierung, auf diesem Wege weiterzugehen.
Ich möchte die Gelegenheit deshalb gerne nutzen, den
Generalkonsul Ruandas in Vertretung der Botschafterin
heute auf der Bühne zu begrüßen: Seien Sie uns herzlich
willkommen!
({1})
Der Genozid in Ruanda hat in der Zwischenzeit sehr
konkrete politische, aber auch völkerrechtliche Konsequenzen ausgelöst. So wurde die sogenannte SchutzverNiels Annen
antwortung als Kategorie des Völkerrechts entwickelt.
Das ist ein Fortschritt, weil Staaten, die massive Menschenrechtsverletzungen zu verantworten haben, sich
nicht mehr hinter der nationalen Souveränität verstecken
können. Natürlich ist auch diese Norm nicht perfekt, und
die Diskussion über den Einsatz der NATO in Libyen
zeigt uns, wie schmal der Grat zwischen berechtigtem
- auch militärischem - Eingreifen auf der einen und der
Überinterpretation eines auf der Schutzverantwortung
basierenden Mandates der Vereinten Nationen auf der
anderen Seite ist.
Gerade deshalb sei hier ausdrücklich daran erinnert:
Die eigentliche Bedeutung der Schutzverantwortung
liegt in der Verpflichtung, Staaten in die Lage zu versetzen, Massengewalttaten im Vorfeld solcher Ereignisse zu
verhindern. Ich halte es für eine zentrale Aufgabe der
deutschen Politik, diese Fähigkeiten aufzubauen und dabei mit den afrikanischen Staaten und der Afrikanischen
Union zusammenzuarbeiten.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, deswegen möchte
ich dem Bundesaußenminister dafür danken, dass er ausdrücklich darauf hingewiesen hat, wie wichtig diese Kooperation mit den afrikanischen Staaten ist. Ich will das
hier einmal vielleicht auch etwas salopp formulieren: In
der Wahrnehmung der deutschen Politik, aber auch in
der Wahrnehmung der deutschen Öffentlichkeit wird
Afrika manchmal wie ein Land behandelt, und dabei
vergessen wir, wie unterschiedlich die Entwicklungen in
Afrika sind. Wir müssen die positiven Entwicklungen
unterstützen, und ich glaube, dazu können wir als Parlamentarier beitragen.
({3})
Heute - und das ist ein Fortschritt - herrscht ein weitgehender Konsens darüber, dass die Staatengemeinschaft in Ruanda versagt hat. Der ehemalige amerikanische Präsident Bill Clinton, der sein Wegschauen in
Ruanda als das schwerste Versäumnis seines Lebens bezeichnet hat, hat in einer Rede in Kigali Folgendes formuliert - ich zitiere -: Wir haben nicht schnell genug reagiert, die Verbrechen nicht das genannt, was sie waren:
ein Genozid. Wir können die Vergangenheit nicht ändern, aber alles in unserer Macht Stehende tun, um eine
Zukunft ohne Angst, aber voller Hoffnung zu bauen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das bleibt auch weiterhin unsere Aufgabe.
Herzlichen Dank.
({4})
Wolfgang Gehrcke hat nun das Wort für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Herzlichen Dank. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es bleibt natürlich die Fassungslosigkeit über das, was in Ruanda passiert ist. Ich finde, das
können der menschliche Verstand und erst recht die
menschliche Seele nicht aufnehmen und verarbeiten. Ich
wünsche mir sehr, dass diese Fassungslosigkeit fraktionsübergreifend alle Mitglieder dieses Parlamentes bewegt.
Vielleicht können wir eines tun, nämlich zu gleichen
Fragen kommen. Ob wir dann auch zu gleichen Antworten kommen, weiß ich nicht. Ich möchte Ihnen aber anbieten, dass wir über gleiche Fragen an gleichen Antworten arbeiten. Ich biete Ihnen also meine Fragen an
und bitte Sie, mit darüber nachzudenken.
Meine erste Frage lautet natürlich: Was kann Menschen dazu bringen, andere Menschen in einer kollektiven Raserei umzubringen? Brecht hat das einmal so formuliert: Welche Kälte muss über Menschen gekommen
sein, um so etwas vollbringen zu können? - Auf diese
Frage suche ich eine Antwort: Was kann Menschen dazu
bringen?
Ich blicke dabei nicht nur auf Ruanda, und ich sage
das schon gar nicht in Verbindung mit Afrika. Wir können hier auch auf die Killing Fields in Kambodscha
blicken, und wir können blicken auf die Geschichte unseres eigenen Landes. Ich fand es sehr in Ordnung, dass
der Außenminister auch angesprochen hat, dass wir von
Deutschland als von einem Land reden, das industriell,
massenhaft, Menschen ermordet hat. Wir kommen also
auch aus einer Tradition der Schuld.
Meine nächste Frage lautet: Was kann man dafür tun,
dass Menschen so immun gemacht werden, dass sie
nicht gegen andere Menschen aufgehetzt werden können? Das ist doch eine Frage, die wir weltweit beantworten müssen.
Ich suche eine Antwort darauf, dass solche Aufhetzungen wie in Ruanda nicht vom Himmel fallen, sondern Ursachen haben. Wenn man Bevölkerungsteile aufeinander hetzt, hat das zuletzt und am wenigsten
ethnische und religiöse, sondern auch konkrete ökonomische und politische Ursachen.
Ich möchte gerne, dass wir Anstrengungen dafür unternehmen, Ausgleichsformen zu finden, und ein staatliches Gewaltmonopol entwickeln, das tatsächlich an
Recht, Rechtsstaatlichkeit und Gerechtigkeit gebunden
ist.
Wir können, wenn wir über Ruanda diskutieren, nicht
von uns weisen, auch über koloniale Geschichte zu reden. Ich möchte den Außenminister und auch die Bundesregierung sehr bitten: Wenn Sie von einer neuen
Afrika-Konzeption sprechen, die dringend notwendig
ist, dann lassen Sie uns auch darüber reden, dass sich die
europäischen Staaten, auch Deutschland, gegenüber der
Bevölkerung in vielen Ländern Afrikas schuldig gemacht haben.
({0})
Nur wenn wir unsere Schuld eingestehen, wird eine neue
Konzeption überhaupt möglich werden. Darüber sollten
wir gemeinsam nachdenken, gerade vor dem Hintergrund dessen, was heute in vielen Teilen Afrikas passiert.
Wir sollten auch darüber nachdenken, dass soziale
Konflikte durch Landknappheit, Landraub, Land-Grabbing und durch Wasserknappheit verstärkt werden
- Landknappheit und Wasserknappheit sind die ökonomischen Ursachen von Kriegen der Gegenwart und auch
der Zukunft -, dass Konflikte durch Spekulationen auf
Preise verstärkt werden, durch die Zerstörung gewachsener Strukturen, durch die Verführung von Elitekonzeptionen und auch durch sprachliche Spaltung. Kann man
nicht, wenn wir aus Ruanda lernen wollen, eine AfrikaPolitik entwickeln, die sich ganz klar gegen Land- und
Wasserraub ausspricht, gegen die Fortsetzung des Kolonialismus mit ökonomischen Mitteln? Darauf müssen
wir Antworten geben.
Ich denke, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass
Konflikte nicht vom Himmel fallen. Es ist immer komisch, wenn es heißt, irgendetwas sei plötzlich eingetreten. Nichts tritt plötzlich ein; Konflikte werden vorbereitet und geschürt. Ruanda hat eine halbe Million
Macheten im Ausland gekauft. Hat sich niemand die
Frage gestellt, wozu man eine halbe Million Macheten
kauft? Vielleicht sind wir, was Ruanda angeht, über das
Archaische des Völkermordes erschrocken. Ich frage
mich selbst und auch uns: Was ist mit Kleinwaffen? Sind
die Kleinwaffen nicht die moderne Form der Macheten?
({1})
Müssen wir nicht zumindest zu einer Initiative „Schluss
mit dem Handel und dem Profit durch den weltweiten
Verkauf von Kleinwaffen“ kommen? Diese Fragen richten sich an uns selbst. Muss man nicht zusammen und
öffentlich der Propaganda nachgehen und Propaganda
sofort aufgreifen, wo sie rassistisch ist oder zum Rassismus führt, auch in Europa, auch im eigenen Land? Das
müssen die Schlussfolgerungen sein.
({2})
Kofi Annan hat nach dem Völkermord gesagt: „Der
Grund für das Scheitern von Ruanda war fehlender politische Wille.“ - Bringen wir einen wirklichen Willen zur
Gleichberechtigung auf, politisch und ökonomisch, damit so etwas nicht wieder eintritt!
Ich möchte zum Schluss noch ganz knapp einige
Punkte ansprechen, die mir sehr am Herzen liegen.
Wenn wir über Völkermord sprechen, müssen wir dann
nicht zugleich auch darüber reden, dass jeden Tag weltweit 57 000 Menschen verhungern? Auch das ist eine
Form von Völkermord, die wir bekämpfen müssen.
Müssen wir nicht darüber reden, dass im Mittelmeer
19 000 Menschen ertrunken sind, Menschen, die gehofft
hatten, in Europa ein besseres Leben zu finden? Ist nicht
auch das ein Teil der Verantwortung, die wir wahrnehmen müssen? Ich finde, das ist unsere Verantwortung.
Indem wir solche Fragen aufwerfen, finden wir einen
neuen Weg zu den afrikanischen Ländern. Indem wir unsere Schuld anerkennen, können wir die Schuld anderer
besser benennen. Diese Botschaft wollte ich Ihnen von
dieser Stelle aus überbringen. Lassen Sie uns zumindest
gemeinsame Fragen stellen! Über die Antworten kann
man dann streiten.
Ich hätte gerne an diesem fraktionsübergreifenden
Antrag mitgearbeitet. Das Verhalten, diese Kleinkariertheit, dass man im Zusammenhang mit einem Völkermord die Linke ausgrenzt und sie daran hindert, an einem solchen Antrag mitzuarbeiten und ihre Fragen
einzubringen, muss sich hier in diesem Hause ändern.
Herzlichen Dank.
({3})
Andreas Nick erhält nun das Wort für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
„Wir möchten Ihnen mitteilen, dass wir morgen mit unseren Familien umgebracht werden.“ So steht es in einem am 15. April 1994 in Mugonero geschriebenen
Brief. Das Zitat ist auch Titel eines Buches mit Berichten
über das unvorstellbare Grauen des Völkermords in
Ruanda.
Wir gedenken heute der Opfer. Von April bis Juli
1994 verloren in Ruanda mehr als 800 000 Menschen ihr
Leben durch unvorstellbare Gewalttaten, die das malerische Land der tausend Hügel in ein Meer von Blut und
Tränen verwandelten. In knapp 100 Tagen töteten Angehörige der Hutu-Mehrheit etwa 75 Prozent der im Land
lebenden Tutsi-Minderheit ebenso wie moderate Hutus,
die sich dem Völkermord widersetzten. Wir ehren deshalb heute auch die Bemühungen derjenigen Ruander,
die sich oft unter Einsatz ihres eigenen Lebens für die
Rettung von Frauen, Männern und Kindern eingesetzt
haben, zum Beispiel der über 1 200 in das Hôtel des
Mille Collines in Kigali geflohenen Menschen, an deren
Rettung der preisgekrönte Film Hotel Ruanda erinnert.
Die Ereignisse in Ruanda waren keineswegs - darin
sind sich die meisten Beobachter heute einig - ein heftiger Ausbruch uralter „Stammesfehden“ zwischen Hutu
und Tutsi, traditionellen Ackerbauern und Viehzüchtern.
Sie tragen vielmehr zahlreiche Merkmale eines systematischen und geplanten Völkermords als Teil eines brutalen Machtkampfs, bei dem nicht zuletzt - das wurde
schon angesprochen - der Einsatz von Radiosendern als
„Hassmedien“ zur Aufstachelung der Gewalt eine wichtige Rolle spielte.
In seinem Buch Handschlag mit dem Teufel - Die
Mitschuld der Weltgemeinschaft am Völkermord in
Ruanda schreibt der kanadische General Roméo
Dallaire:
Ich habe in Ruanda dem Teufel die Hand geschüttelt. Ich habe ihn gesehen, gerochen und berührt.
Er ist an dieser Erfahrung fast zerbrochen. Als Kommandeur der in Ruanda stationierten Blauhelmtruppen
musste er ertragen, dass ihm trotz seiner eindringlichen
Berichte seitens der Weltgemeinschaft die benötigte
Hilfe verweigert wurde, um den Völkermord zu stoppen.
Wir bedauern daher auch nachdrücklich die wenig entschiedene Rolle der internationalen Gemeinschaft, die
trotz vielfältiger Informationen über das mörderische
Handeln vor Ort nicht ausreichend versucht hat, diese
Gräuel zu beenden.
({0})
Ein Völkermord wie der in Ruanda ist teuflisch; aber
er ist kein Werk des Teufels, sondern er wird von Menschen an Menschen begangen. Wir Europäer, wir Deutschen zumal, haben an dieser Stelle mit Blick auf unsere
eigene Geschichte wahrlich keinen Anlass zu Hochmut
gegenüber den Menschen in Afrika. Die Ortsnamen
Auschwitz und Srebrenica sind dafür Mahnung genug.
Fassungslos stehen wir aber immer wieder vor diesen
Ereignissen und fragen: Wie ist das möglich? Wie können Menschen sich derart entmenschlichen, dass sie zu
solchen Taten fähig werden? Die Entmenschlichung
steht dabei nicht am Ende, sondern bereits am Anfang,
nämlich die Entmenschlichung des anderen in den Augen der späteren Täter als entscheidender Schritt auf
dem Weg zur eigenen Entmenschlichung, die derartige
Verbrechen erst möglich macht. Das Gegenüber wird reduziert auf seine vermeintliche Zugehörigkeit zu einer
andersartigen Gruppe; ein einzelnes seiner vielen Identitätsmerkmale wird verabsolutiert, sei es die Sprache, das
religiöse Bekenntnis, die ethnische Herkunft oder der soziale Status. Wenn der andere Mensch aber nicht mehr
als in seinem Menschsein gleich und gleichwertig angesehen wird, dann ist eine ganz wesentliche Hemmschwelle zur Entmenschlichung der Täter gefallen.
Die Philosophin Hannah Arendt hat zu Recht darauf
hingewiesen, dass Völkermord - anders als es sich in einer wenig treffsicheren deutschen Übersetzung eingebürgert hat - im Kern nicht ein „Verbrechen gegen die
Menschlichkeit“ ist, sondern ein „Verbrechen gegen die
Menschheit“. Genau deshalb kann sich die Völkergemeinschaft ihrer Verantwortung nicht entziehen, wie sie
es 1994 in Ruanda viel zu lange getan hat. Denn erst bei
der Aufarbeitung des Völkermords in Ruanda wurde die
UN-Konvention über die Verhütung und Bestrafung des
Völkermordes aus dem Jahre 1948 erstmals praktisch
angewendet: Im November 1994 wurde der Internationale Strafgerichtshof für Ruanda eingesetzt. Mit rund
60 Verurteilungen vor allem der Drahtzieher - hochrangige Politiker, Offiziere, Amtsträger und Journalisten hat das sogenannte Arusha-Tribunal durchaus Maßstäbe
gesetzt: Erstmals wurde ein Regierungschef wegen Völkermord verurteilt, und auch die Rolle der sogenannten
Hassmedien wurde juristisch aufgearbeitet.
In Reaktion auf das Versagen der internationalen Gemeinschaft in Ruanda wurde das Konzept der Schutzverantwortung, der Responsibility to Protect, entwickelt
und 2005 von den Vereinten Nationen verabschiedet
- Kollege Mißfelder ist darauf schon ausführlich eingegangen -: Schutz vor Kriegsverbrechen, ethnischen Säuberungen und anderen Menschheitsverbrechen. Dabei
geht es um eine dreifache Verpflichtung der Staatengemeinschaft: zur Prävention, zur Reaktion und zum Wiederaufbau.
Wo steht Ruanda heute? Mehr als drei Viertel der Ruander sind jünger als 36 Jahre, viele haben im Völkermord ihre Eltern verloren und sind als Waisen aufgewachsen. Neben der Aufarbeitung durch die nationalen
Gerichte haben bis 2012 etwa 200 000 Laienrichter in
den wiederbelebten traditionellen Gacaca-Gerichten am
Prozess von Wahrheitsfindung, Gerechtigkeit und Versöhnung mitgewirkt. Die Bezugnahme auf ethnische
Identitäten als Hutu oder Tutsi ist heute verboten. Bei allen noch bestehenden Problemen, auch in der Festigung
demokratischer Strukturen und umfassender bürgerlicher Rechte: Ein Mitte der 90er-Jahre als kaum lebensfähig erachtetes Land gilt heute in vielen Bereichen als Erfolgsgeschichte, als eines der sichersten und am
wenigsten korrupten Länder Afrikas. Mit einem wirtschaftlichen Wachstum von jährlich 7 bis 8 Prozent ist
Ruanda auf gutem Wege, die meisten Millenniumsziele
der Vereinten Nationen zu erreichen.
Wir unterstützen die erfolgreichen Ansätze zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit und Entwicklung in Ruanda in vielfältiger Weise. Viele Menschen in meiner
Heimat Rheinland-Pfalz haben dabei eine ganz besondere und persönliche Beziehung zum Land der tausend
Hügel; denn auf Initiative des damaligen Ministerpräsidenten Bernhard Vogel ist Ruanda seit 1982 das Partnerland von Rheinland-Pfalz. Es ist eine Partnerschaft, die
trotz aller Verwerfungen den Genozid 1994 nicht nur
überlebt, sondern sich bis heute als eines der wirksamsten und beständigsten Hilfsprogramme in Ruanda
erwiesen hat. Es ist eine beispielhafte Graswurzelpartnerschaft, auf Augenhöhe, mit breitem zivilgesellschaftlichem Engagement und konkreten Projekten:
250 Schulpartnerschaften, 50 Initiativgruppen und mehr
als 1 000 erfolgreich umgesetzte Kleinprojekte sind eine
eindrucksvolle Bilanz.
({1})
Lassen Sie mich kurz nur wenige Beispiele aus meinem Wahlkreis nennen. Die Gemeinde Holzheim ist mit
930 Einwohnern die kleinste Gemeinde in RheinlandPfalz, die seit 1988 eine kommunale Partnerschaft in
Ruanda unterhält. Aus Veranstaltungserlösen und privaten Spenden sind in dieser Zeit über 300 000 Euro projektbezogen nach Ruanda geflossen, für Wasser- und
Stromversorgung, eine Primarschule und eine Gesundheitsstation. - Die Kreishandwerkerschaft Rhein-Westerwald hat vor kurzem ein Schulbauprojekt für 300 Kinder finanziert. Die Wirtschaftsjunioren WesterwaldLahn sammeln, ebenfalls unter dem Dach der Stiftung
„fly and help“, derzeit für ein vergleichbares Projekt. Der Verein „Hilfe für Ruanda aus Hachenburg e. V.“
engagiert sich seit 2005 in vielfältigen Projekten vor al2174
lem im medizinischen Bereich, bei Bildung und Landwirtschaft.
Was diese Partnerschaft so wertvoll macht, ist, neben
ihrer Nachhaltigkeit, der unmittelbare Bezug und die
Vielzahl der persönlichen Begegnungen zwischen Menschen aus Ruanda und Rheinland-Pfalz. Alle Besucher
berichten von der Freude und der Dankbarkeit und von
strahlenden Kinderaugen, die sie in der Begegnung mit
den Menschen in Ruanda erleben durften und die sie als
große persönliche Bereicherung empfinden. „Wir sind
nach dieser Reise andere Menschen als vorher“ - so beschrieb kürzlich ein Reisender seine Erfahrung.
Der frühere Bundespräsident Horst Köhler hat vor einigen Tagen gesagt:
Was wir für die deutsch-afrikanischen Beziehungen
brauchen, ist eine neue Bescheidenheit in unserer
Haltung und eine neue Leidenschaft in unserem
Handeln.
Die heutige Erinnerung an den Völkermord in Ruanda
vor 20 Jahren gibt dazu allen Anlass und die Partnerschaft von Rheinland-Pfalz mit Ruanda ein gutes Beispiel.
Vielen Dank.
({2})
Ich erteile das Wort jetzt der Kollegin Gabriela
Heinrich für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kollegen und
Kolleginnen! Meine Damen und Herren! Über 800 000
Menschen mussten in Ruanda sterben. Sie starben, weil
die internationale Gemeinschaft weggeschaut hat. Unser
fraktionsübergreifender Antrag ist ein Signal, dass wir
uns gegen das Wegschauen und gleichzeitig für Versöhnung aussprechen. Worin bestand das Wegschauen der
internationalen Staatengemeinschaft vor 20 Jahren? Die
Friedenstruppe UNAMIR wurde verkleinert statt vergrößert, als der Genozid schon in vollem Gang war. Warnungen im Vorfeld wurden nicht ernst genommen. Die
Welt tat den Völkermord als Stammeskrieg ab. Dieses
Versagen der internationalen Staatengemeinschaft darf
sich niemals wiederholen.
({0})
Mit unserem Antrag bauen wir auf dem Konzept der
Schutzverantwortung auf. Diese Norm der Vereinten Nationen ist eine Folge des Völkermords in Ruanda. Wenn
Staaten nicht in der Lage oder nicht willens sind, ihre
Bevölkerung zu schützen, muss die internationale Staatengemeinschaft reagieren und diese Verantwortung
übernehmen. Das ist zum Beispiel dann der Fall, wenn
Menschen massenhaft ermordet werden oder ethnischen
Säuberungen ausgesetzt sind. Ganz wichtig ist - der
Kollege Niels Annen hat das bereits beschrieben -: Reagieren ist nur eine Seite der Schutzverantwortung. Die
internationale Gemeinschaft muss Staaten auch ermutigen, den Schutz der Bevölkerung selbst zu übernehmen,
und Staaten müssen überhaupt erst in die Lage versetzt
werden, dies zu leisten.
Meine Hochachtung gilt dem Bemühen Ruandas, Stabilität und Staatlichkeit wiederherzustellen. Versöhnung
ist die Grundlage von Stabilität, und Stabilität ist die
Grundlage dafür, dass sich Ruanda weiterentwickelt,
wirtschaftlich und als Demokratie. Dazu gehören dann
auch Pressefreiheit, Meinungs- und Versammlungsfreiheit sowie das Zulassen von Opposition. All das ist nicht
einfach in einem Land, in dem vor 20 Jahren ein Genozid stattfand und die Menschen noch viel miteinander reden müssen, um voranzukommen.
Der Antrag erkennt die Bemühungen um Aufarbeitung und Versöhnung in Ruanda ausdrücklich an. Grundlage dafür ist, die Täter zu bestrafen und alles dafür zu
tun, dass sich Glutnester des Konflikts nicht wieder entzünden. Wir müssen uns Folgendes vor Augen führen:
Heute leben in Ruanda die Täter von damals neben den
Opfern und deren Angehörigen. Am 20. Jahrestag des
Völkermords werden unsägliche Albträume wiederkehren, Albträume, die von abgehackten Gliedmaßen handeln, von Macheten und von Vergewaltigung. Meine
Hochachtung gebührt daher den Menschen in Ruanda.
Sie sind bereit, sich zu versöhnen.
({1})
Vergewaltigung als Kriegshandlung zu beschreiben
und aufzuarbeiten, ist ein Tabuthema - nicht nur in
Ruanda -, das es zu brechen gilt. Mir ist das wichtig;
denn in Ruanda wurden unzählige Frauen vielfach brutal
vergewaltigt. Viele unter ihnen mussten vorher die Ermordung ihrer Familien mit ansehen. Viele wurden
schwanger. Viele wurden mit HIV infiziert. Sie wurden
schwanger mit Kindern, die sie nicht lieben konnten,
traumatisierte Kinder und traumatisierte Mütter, Kinder,
die nicht geliebt und die verstoßen wurden. So etwas
kann einer der teuflischsten Kreisläufe werden, die
denkbar sind. Deswegen ist es so wichtig, dass unser Antrag Ruanda ermutigt, sich noch mehr zu kümmern, sich
noch mehr zu kümmern, Tabus aufzuheben und den
Traumata zu begegnen. Das ist auch der Punkt, wo wir
weiter unterstützen müssen und unterstützen können.
Ein Beispiel dafür ist der Zivile Friedensdienst. Er unterstützt die Reintegration von Flüchtlingen und die Friedensarbeit in der Region Große Seen. Er kümmert sich
auch um traumatisierte Menschen, insbesondere um von
Gewalt betroffene Frauen.
Ruanda ist bei allen Fortschritten noch immer ein sehr
armes Land. Aber es gibt auch Erfolge, auf denen wir
weiter aufbauen sollten. So hat Ruanda zum Beispiel
eine Krankenversicherung. Rund 90 Prozent der Menschen sind krankenversichert. Das wurde von der GIZ
und mit Mitteln der Entwicklungszusammenarbeit unterstützt. Die unzähligen Projekte von Rheinland-Pfalz
wurden bereits beschrieben. Auch hier wird Ruanda in
seiner Entwicklung unterstützt. Es sind Partnerschaften
und Projekte wie diese, mit denen wir unterstützen, dass
der Versöhnungsprozess fortgeführt wird. Mit unserem
Antrag wollen wir solche Projekte stärken und setzen damit auf Prävention.
Meine Damen und Herren, die historische Verantwortung Deutschlands gegenüber Ruanda ist älter als
20 Jahre; das wurde bereits erwähnt. Meine afrikanischen Freunde weisen mich immer wieder darauf hin,
dass das Deutsche Reich und Belgien als Kolonialmächte beteiligt waren, die Menschen künstlich in Hutu
und Tutsi einzuteilen. Eine rassistische Politik setzte die
Tutsi als Elite des Landes fest. Dadurch bildete sich der
Gegensatz dieser Völkergruppen erst richtig heraus und
dies, obwohl die Menschen die gleiche Sprache sprechen.
Es ist ein wichtiges Ziel der ruandischen Regierung,
diese Einteilung wieder aufzuheben. Es gehört zur Versöhnung, diesen Gegensatz aufzulösen. Versöhnung ist
möglich. Wer könnte das besser verstehen als wir Deutsche, die wir uns mit ganz Europa versöhnen mussten?
Ruanda muss für uns eine Warnung sein, nicht wegzuschauen und unsere Verantwortung wahrzunehmen.
Das bedeutet die Prävention von Konflikten und Menschenrechtsverletzungen. Das bedeutet aber auch Wiederaufbau und Versöhnung. Letzteres ist für Ruanda die
beste Prävention.
Vielen Dank.
({2})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt die Kollegin
Dagmar Wöhrl das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist heute Morgen schon viel von internationaler Verantwortung damals und heute gesprochen worden. Ich
möchte Ihnen zunächst einmal zwei Zitate vorlesen. Erstes Zitat:
Am Abend zuvor spielten meine Kinder mit den
Nachbarskindern, mein Mann unterhielt sich mit ihrem Vater und ich kochte … das Abendessen. Am
Tag darauf kamen sie und töteten meine Familie.
Man sagt mir nun, ich solle nach vorne schauen.
Mein Mann und meine Kinder wurden ermordet.
Wie kann ich also verzeihen?
Zweites Zitat:
Als sie unsere Stadt einnahmen, haben sie zuerst
meinen Vater erschossen. Als sie dann wieder zu
unserem Haus kamen, wollten sie die angeblich
versteckten Waffen bei uns mitnehmen. Meine
Mutter und meine Schwester sagten ihnen, dass wir
keine Waffen im Hause hätten. Als ich wieder nach
Hause kam, fand ich sie beide tot auf dem Fußboden. Ich bin nun ganz alleine.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, erkennen Sie einen
Unterschied? Das erste Zitat ist 20 Jahre alt, das zweite
nur ein paar Monate. Das erste stammt aus Ruanda, das
zweite aus der Zentralafrikanischen Republik. Das stellt
uns vor die Frage, wie es heute mit unserer internationalen Schutzverantwortung steht, zumindest gegen die
schlimmsten Verbrechen: Völkermord und Verbrechen
gegen die Menschlichkeit.
Wir haben es gehört: Zwischen dem 6. April und dem
17. Juli 1994 wurden in Ruanda über 800 000 Menschen
ermordet - kaltblütig, systematisch, grausam -, das
heißt, fast 10 Prozent der Bevölkerung. Mit anderen
Worten: mindestens 8 000 Menschen am Tag, in der Minute fünf Tote. Eine mediale Hetzkampagne im Land
stachelte die Mörder zusätzlich an. Radiosender meldeten: Das Grab ist nur halb voll. Wer hilft uns, es zu füllen? - Nur eine halbe Stunde nach dem Abschuss des
Flugzeuges des Präsidenten wurden die ersten Tutsi und
Oppositionspolitiker ermordet. Es war ein organisierter
Völkermord. Es war kein Bürgerkrieg. Es war auch kein
Stammeskrieg, wie die Weltpresse damals einfältig titelte. Es war vorbereitet. Hutu-Milizen hatten vorbereitete Listen mit Namen und Adressen von allen Tutsis.
Wochen vorher wurden über 100 000 Macheten aus
China bestellt. Das hätten Warnungen sein sollen.
Wer Ruanda kennt, liebe Kolleginnen und Kollegen,
weiß, dass Ruanda ein kleines Land ist. Es ist das am
dichtesten bevölkerte Land in ganz Afrika: 432 Einwohner pro Quadratkilometer. Es gab einen Verteilungskampf um knappe Ressourcen.
Es war ein ethnischer Konflikt, der seit Generationen
brodelte und dann zum Ausbruch kam. Es gab nur ein
Ziel. Das einzige Ziel war, die Minderheit der Tutsis
vollständig auszurotten. Während in Ruanda blindwütig
gemordet wurde - dies wurde angesprochen -, hat die
internationale Gemeinschaft versagt: die Vereinten Nationen, der Westen, die afrikanischen Bruderstaaten und
die Weltpresse. Es fehlte der Mut, international Verantwortung zu übernehmen, der Mut, die Situation zu verstehen, der Mut einzugreifen und der Mut, gegen die
Instrumentalisierung von Glaube und Ethnien vorzugehen. Durch eine ehrliche Analyse damals wären wir gezwungen gewesen, einzugreifen. Mut hatte damals niemand außer einigen Ruandern, die unter Einsatz ihres
Lebens versucht haben, ihren Brüdern und ihren
Schwestern zu helfen und sie vor den Mordlustigen zu
verstecken, so wie der Direktor des Hôtel des Mille
Collines in Kigali, der mehr als 1 000 Menschen gerettet
hat.
Haben wir aus dem Versagen damals Lehren gezogen? - Es hat sich das Rechtsinstitut der Schutzverantwortung entwickelt. Der Internationale Strafgerichtshof
für Ruanda wurde eingerichtet; heute nimmt der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag über seine Rechtsprechung Einfluss. Es ist das erste Mal, dass die Straflosigkeit für schwerwiegende Verbrechen politischer
Amtsträger beendet wurde. Es ist das erste Mal, dass
Vergewaltigung als Begehungsform des Völkermordes
vor Gericht anerkannt worden ist. Die Vereinten Nationen haben sich bei den Friedensmissionen einen neuen
strategischen Ansatz gegeben, nämlich dass die zentralen Aufgaben der Schutz der Zivilbevölkerung, der
Schutz der Menschenrechte sind und dass ein robustes
Mandat, nicht nur eines zur Selbstverteidigung, notwendig sein kann.
Inzwischen sind 20 Jahre vergangen. Ruanda wird als
Musterland dargestellt mit Wachstumsraten von 8 Prozent. Die Weltbank hat Ruanda letztes Jahr als unternehmerfreundlichstes Land ganz Afrikas bezeichnet. Der
Wiederaufbau schreitet voran, auch dank internationaler
Unterstützung, auch dank deutscher Unterstützung im
Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit. Ruanda
übernimmt international Verantwortung. Ruanda ist zu
einem verlässlichen Partner bei Friedensmissionen auf
dem afrikanischen Kontinent geworden. Allein 850 Soldaten aus Ruanda sind an MISCA beteiligt, der Mission
in der Zentralafrikanischen Republik, auch aufgrund der
eigenen schmerzlichen und leidvollen Erfahrungen.
Es besteht Nachholbedarf; das ist klar. In den Bereichen Meinungsfreiheit und politische Teilhabe ist noch
viel zu tun. Trotz vieler Fortschritte ist - das ist uns bewusst - ein nachhaltiger innerer Friede noch nicht gegeben. Die Unterscheidung zwischen Hutus und Tutsis ist
präsent, auch wenn die Verfassung heute eine Unterscheidung verbietet. Es gibt noch viele traumatisierte
Täter und Opfer. Zur Versöhnung wurden die GacacaGerichte eingerichtet, an denen bis 2012 2 Millionen
Fälle verhandelt wurden. Aber kann sich ein Täter mit
dem Opfer versöhnen, das er vergewaltigt und gefoltert
hat, dessen Familie er ermordet hat? Opfer und Täter leben notgedrungen noch heute Tür an Tür. Man versucht
zu verdrängen; vergessen wird man kaum können.
Wir versuchen, die Menschen bei der Versöhnung zu
unterstützen. Dies tun wir mit unserem Zivilen Friedensdienst und mit der GIZ, die gemeinsam mit dem Dachverband IBUKA die Überlebenden des Genozids bei
dem Versöhnungsprozess in den Dörfern unterstützt.
Dieser Tage gedenken Millionen Ruander ihrer verstorbenen Familienmitglieder. Der Verlust ist jedoch nicht
mehr gutzumachen.
Aber auch heute, liebe Kolleginnen und Kollegen,
werden Menschen getötet, leben noch immer viele Menschen in Gefahr vor Folter und Vergewaltigung. Ich
denke an Syrien mit inzwischen über 150 000 Toten. Ich
denke an den Südsudan. Ich denke an die Zentralafrikanische Republik, in der ein blutiger Konflikt zwischen
Moslems und Christen stattfindet und ein Versöhnungsprozess in weiter Ferne ist. Er hat noch nicht einmal begonnen. Das Morden geht weiter. Wie müssen wir, wie
muss eine verantwortungsbewusste Weltgemeinschaft
darauf reagieren?
Der Genozid hat die Weltbevölkerung aufgeschreckt.
Es ist gut, dass wir heute diese Debatte führen. Vor
20 Jahren haben wir sie nicht geführt. Das war ein ganz
großer Fehler. Wir haben die Verantwortung, Menschen
weltweit zu schützen, denen Mord und Vergewaltigung
droht. Wir wissen aber auch, dass der Einfluss, auf nationale Konflikte zu reagieren, oft begrenzt ist. Ein Engagement kann gefährlich sein. Das Leben unserer Soldaten
kann auf dem Spiel stehen. Verantwortung zu übernehmen heißt nicht, dass wir uns künftig überall militärisch
engagieren müssen. Verantwortung zu übernehmen heißt
vielmehr, sich nach Kräften und Möglichkeiten innerhalb der Europäischen Union und innerhalb der Vereinten Nationen zu engagieren, zu vermitteln, präventiv tätig zu werden, um gemeinsam Gräueltaten frühzeitig zu
verhindern.
Die Weltgemeinschaft muss lernen, öfter mit einer
Stimme zu sprechen; denn nur dann schaffen wir es,
Konflikte auch helfend mit zu beseitigen. Wir müssen
das Konzept der Schutzverantwortung mit unseren Partnern noch konkreter ausgestalten und die Entwicklung
eigener afrikanischer Instrumente zur Krisenprävention
unterstützen. Wir versuchen, im Rahmen unserer Möglichkeiten, auch im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit, Einfluss zu nehmen, frühzeitig gezielte entwicklungspolitische und präventive Maßnahmen zu
ergreifen, damit unsere Partnerländer sich selbst helfen
können, um wirtschaftliche Stabilität, politische Teilhabe und langfristigen Frieden für sich zu erreichen.
Ruanda ist seit 2000 ein Schwerpunktland der bilateralen Zusammenarbeit. Wir wissen, dass unser Antrag
heute auch zeigt: Wir müssen und werden uns weiterhin
für die Stärkung der Demokratie und der Menschenrechte als Grundlage des Friedens in Ruanda einsetzen.
Wir werden Ruanda weiterhin beim Aufbau einer starken Zivilgesellschaft und unabhängiger Medien unterstützen. Wir haben die Verpflichtung - die Opfer, die Ermordeten verpflichten uns -, Menschen in anderen
Ländern, die von Gräueltaten bedroht sind oder an denen
Gräueltaten verübt werden, zu helfen. Es müssen noch
viele mutige Schritte getan werden, bis wir wirklich und
ehrlich von einer internationalen Verantwortung sprechen können.
Wir gedenken heute zusammen mit den Ruandern ihrer Opfer, zu denen auch viele unschuldige Hutus gehören - auch das muss man erwähnen -, die versucht haben, Unterstützung zu leisten. Ich glaube, wir alle
gemeinsam hier im Hause können zusichern, dass wir sie
auf dem Weg zu Stabilität und langfristigem Frieden
auch weiterhin begleiten werden.
Vielen Dank.
({0})
Frank Heinrich hat nun das Wort für die CDU/CSUFraktion
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Gedenken, Versöhnung, Aufarbeitung: Ich
denke, auch Geschichte schreiben sollte im Mittelpunkt
stehen, Geschichte schreiben über das, was wir in den
Frank Heinrich ({0})
letzten 20 Jahren in diesem Land schon erlebt haben und
was nicht mit dem heutigen Gedenken aufhört.
Ich möchte drei Menschen aus dem Buch La Stratégie
des antilopes, Die Strategie der Antilopen, des Franzosen Jean Hatzfeld über diese Zeit vor 20 Jahren zu Wort
kommen lassen.
Cassius war 1994 sieben Jahre alt. An die Taten hat er
nur vier klare Erinnerungen:
Meine Mutter, die vor meinen Augen geköpft
wurde, bevor ich an der Reihe sein sollte. Das Eisen
der Machete über meinem Kopf. Das Versteck aus
Blättern im Wald, in dem ich tagelang hockte. Die
faulende Wunde in meinem Kopf, sodass ich mich
heute noch an der Stelle kratze, an der die Insekten
früher in meinem Kopf fraßen.
Ignace Rukiramacumu:
Das Vertrauen neu zu finden, interethnisch zu heiraten, das ist wohl im Eimer. Aber etwas zusammen
trinken, sich Kühe schenken, einander auf dem
Acker zu helfen, das hängt vom Charakter eines jeden Einzelnen ab. … Es ist der Verlust, der das
tiefste Innere zerstört und der verhindert, zu vergessen. Die Versöhnung ist eine Pflicht der Menschen
in Ruanda, die keinen anderen Acker als ihr kleines
Land haben. Sie wird quälend sein, aber sie wird
gelingen, auch weil die Behörden gerecht mit beiden Lagern sind, indem sie alle dazu bringen, sich
als gleich zu akzeptieren.
Sylvie Umubyeyi:
Früher war ich viel zu sehr von Angst geprägt.
Wenn ich einen der Mörder sehen würde, müsste
ich an meine verschwundenen Eltern, an alles, was
ich verloren haben, denken. Wie ich es schon sagte:
Wenn man sich zu lange bei der Angst vor dem Genozid aufhält, verliert man die Hoffnung. Man verliert, was man vom Leben retten konnte. Ich behalte
die Hoffnung, eines Tages glücklich zu sein. … Ich,
ich leide nicht an meinem Körper. Ich habe schöne
Kinder. Ich kann reisen und sprechen. Ich wurde in
meiner Existenz beschnitten, aber ich will absolut
weitermachen. Wenn ich kein Vertrauen in meinen
Nachbarn mehr habe, behalte ich doch das Vertrauen in mich.
Einige von uns hatten gestern die Gelegenheit, mit
Überlebenden zu sprechen. Mir blieben zwei Sätze aus
diesem Gespräch besonders in Erinnerung. Der erste
war: An dem Tag habe ich den Glauben an die Menschheit verloren. Und der zweite: Immer wieder sehe ich
dieses Bild vor mir: das Ackerfeld, und aus den Furchen
ragen die Arme der niedergemetzelten Kinder.
20 Jahre ist es in diesem April her, dass Ruanda zum
Schauplatz dieses Massenmordes wurde. Es war der
furchtbarste Völkermord seit der Judenvernichtung der
Nationalsozialisten - es wurde hier erwähnt - und dem
Genozid auf den Killing Fields in Kambodscha. Innerhalb von nur 100 Tagen starben mehr als 800 000 Menschen. Wohl nie in der Menschheitsgeschichte haben so
viele Täter in so kurzer Zeit so viele Mitmenschen umgebracht.
„Ntidigasubire“ - „Nie wieder“ - steht nun auf großen Plakaten an den Straßen in Kigali, an den Toren der
Gedenkstätten, auf den Gräbern, und damit endet heute
jede Radiosendung über den Genozid. Die Wunden und
das Gedenken an die Opfer - nicht nur an die, die gestorben sind - sind noch da; der Genozid ist noch sehr präsent. Viele Menschen tragen die Narben. Aber Ruanda
ist auf einem guten Weg, auf einem Weg der Versöhnung
und der Entwicklung. Das haben wir heute in dieser Debatte und in diesem Antrag ausgedrückt.
Eines der Elemente auf dem Weg der Versöhnung ist
die Aufarbeitung der Geschichte. Letztes Jahr hatten wir
in unserem Ausschuss die ruandische Außenministerin
Louise Mushikiwabo zu Gast. Sie sagte Folgendes:
Nach dem Ende des Völkermords …, bei dem die
internationale Gemeinschaft … versagt hatte, stand
Ruanda vor der Wahl. Würde die Wut darüber uns
an diesem historischen Punkt in eine insulare und
verbitterte Nation verwandeln - oder können wir
den Zorn überwinden und stattdessen mehr … Zusammenarbeit mit der Welt anstreben? Wir haben
uns für Letzteres entschieden, für einen Weg der
Versöhnung …
Dafür war und ist weiterhin eine ehrliche Aufarbeitung
der Geschichte notwendig, nicht nur bis heute, sondern
auch ab heute.
Aus dem ruandischen Genozid wurden Lehren gezogen - wir haben es von mehreren Kollegen gehört -:
Responsibility to Protect, die Schutzverantwortung, die
von den Vereinten Nationen entwickelt wurde. Wir brauchen solche Frühwarnsysteme, wir brauchen mehr Prävention. In unserer Debatte über Afrika vor zwei Wochen haben wir auch dieses Wort sehr oft gehört:
Preparedness.
Es wurde eine Geschichte geschrieben, nicht nur eine
Genozidgeschichte, sondern auch eine Geschichte der
Aufarbeitung, der Entwicklung. Wir haben gehört: Ruanda wird als afrikanisches Musterland bezeichnet, als
Erfolgsmodell. Dafür sprechen wirtschaftliche Argumente, die Bekämpfung der Korruption, die Frauenrechte, die Erfüllung der MDGs und die Erfolge beim
Umweltschutz.
Deutschland hat sehr gute Beziehungen zu Ruanda,
aus bekannten Gründen. Ich selbst freue mich über eine
gute Zusammenarbeit mit der Botschafterin von Ruanda.
Wir begegnen uns auf vielen Veranstaltungen. Sie hat
gute Beziehungen zu allen Fraktionen. Gestern Morgen
war sie beim Gedenken an die deutsche Verantwortung
beim ruandischen Genozid mit dabei. Als Freunde müssen wir auch begleiten, müssen wir möglicherweise unterstützen, nicht nur mit Geldern, sondern auch durch Erinnern und Mahnen. In den letzten Monaten gab es
Berichte über Fragen, die von Menschenrechtsorganisationen aufgeworfen wurden, die die Transparenz, das
Demonstrationsrecht, die Medienfreiheit und das Verschwindenlassen von Menschen betreffen. Das Positive
überwiegt bei weitem, und doch darf man an diesen Stel2178
Frank Heinrich ({1})
len nicht aufhören, zu mahnen. Wir ermuntern Ruanda
auch durch unsere Unterstützung: Bleiben Sie dran!
Schreiben Sie weiter Geschichte! Dieser Prozess ist
nicht beendet; wir Deutsche wissen sehr wohl, wie lange
ein solcher Prozess dauern kann.
Daraus folgt unter anderem die Notwendigkeit, auch
mit unseren Geldern die wissenschaftliche Aufarbeitung
weiter zu fördern. Wir haben, wie ich gerade gesagt
habe, eine lange Geschichte der Verdrängung, Aufarbeitung und Weiterentwicklung. Es bleibt noch eine ganze
Menge zu tun. Deshalb wollen wir dafür auch Haushaltsmittel einsetzen. Dabei wünschen wir uns aber auch - da
spreche ich als Menschenrechtler - eine Beobachtung
und Stärkung der Entwicklung von Demokratie und
Menschenrechten in diesem Land von diesem Tag an.
Der Außenminister hat es vorhin gesagt: Wir müssen
das uns Mögliche tun, das in unserer - gemeinsamen Macht steht. Ich sage „gemeinsam“, weil das, was wir
hier ausdrücken, im gemeinsamen Interesse der Weltgemeinschaft und Ruandas liegt. Ich habe schon in der
letzten Debatte über Afrikapolitik vor 14 Tagen von dem
Traum gesprochen, dass wir irgendwann nicht mehr nur
von gemeinsamer Augenhöhe sprechen, sondern möglicherweise von Afrika als Big Brother, dass wir nicht nur
vom Chancenkontinent sprechen, sondern von einem
Kontinent, der uns vielleicht noch viel mehr zu geben
hat, als wir jemals für möglich halten.
Ein kurzes Beispiel zum Schluss. Bei einem Vortrag
in der Schweiz vor nicht allzu langer Zeit hatte ein überlebender Tutsi von seinen Erlebnissen in besagter Zeit
berichtet. Es herrschte Betroffenheit. Kurz darauf sieht
man ihn, wie er zur Musik im Gottesdienst tanzt. Eine
deutsche Freundin - etwas verwirrt über die Situation fragte ihn später: Wie kannst du tanzen, nach dem, was
du alles erlebt hast? Seine Antwort: Wie kann es sein,
dass ihr das nicht erlebt habt und nicht tanzt? - Lebensmut und Lebensbejahung, trotz solcher Erlebnisse, als
kulturelles Gut, das können wir sehr wohl von Ruanda
und vielen anderen in Afrika lernen.
Der Außenminister hat heute Morgen in seiner Rede
Frau Zuma zitiert. Er sagte: Wir können sehr viel lernen
vom Reichtum der Jugend in Afrika.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({2})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Wilfried Lorenz.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! 20 Jahre nach
dem Völkermord in Ruanda und fast 70 Jahre nach Ende
des Zweiten Weltkriegs ist es berechtigt, die Frage zu
stellen: Hat die internationale Völkergemeinschaft aus
der Geschichte gelernt?
Wir gedenken heute des grausamsten Völkermords
auf dem afrikanischen Kontinent. Gedenken heißt innehalten, erinnern, aber vor allem Wege in eine bessere Zukunft finden und diese dann auch zu gehen. Erinnern an
den ruandischen Völkermord heißt gleichzeitig, sich an
die Verantwortung der internationalen Staatengemeinschaft für Afrika und andere Regionen in der Welt zu erinnern. Ich möchte an dieser Stelle die Frage wiederholen: Haben wir aus der Geschichte wirklich ausreichend
gelernt?
Wir erinnern uns heute an die unfassbare Gewalt in
Ruanda, die die internationale Staatengemeinschaft nicht
beenden konnte. Wir erinnern uns heute an Blutbäder
und an unaussprechliche Grausamkeiten, die uns mit
Abscheu und Entsetzen erfüllen. Gerade deshalb ist es
mir persönlich ein wichtiges Anliegen, heute hier zu
sprechen, und zwar als Bürger eines Staates, der sich für
ein friedliches Miteinander in der Welt einsetzt und
Grundrechte wie Würde und körperliche Unversehrtheit
seiner Bürgerinnen und Bürger schützt, und als Kind einer Zeit, in der die unmittelbaren Nachwirkungen des
Zweiten Weltkriegs in Deutschland noch hautnah zu
spüren waren.
Die Regierungskoalition und die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen haben gemeinsam einen Antrag formuliert,
in dem sie das in Ruanda Geschehene verurteilen und die
unsäglichen Gräueltaten gerade an Frauen und Kindern
ächten. Das Bedauern über - ich zitiere aus dem Antrag „die wenig entschiedene Rolle der internationalen Gemeinschaft, die trotz vielfältiger Informationen über das
mörderische Handeln vor Ort nicht ausreichend versucht
hat, die Gräuel zu beenden“, kommt darin deutlich zum
Ausdruck. Gleichzeitig werden wir mit dem Antrag
Wege aufzeigen, um den Versöhnungsprozess und den
Aufbau demokratischer und rechtsstaatlicher Strukturen
in Ruanda zu unterstützen.
Der Völkermord in Ruanda entstand aus einem Jahrzehnte schwelenden Konflikt zwischen Volksgruppen
der Hutu und der Tutsi. Erinnern wir uns kurz. April bis
Juni 1994: 800 000 Tutsis und gemäßigte Hutus in nur
100 Tagen ermordet, systematisch hingemetzelt auf das
Grausamste mit Macheten, Äxten und Knüppeln; Morde,
Köpfungen und Vergewaltigungen als Normalität. Das
ist die schreckliche Bilanz des Völkermordes in Ruanda,
und dennoch: Die ruandische Gesellschaft ist dabei, die
Geschichte aufzuarbeiten, und hat bereits eine große
Wegstrecke hin zu einem inneren Frieden zurückgelegt.
In unserem Antrag würdigen wir ausdrücklich den Beitrag der Regierung Ruandas zur gesamtgesellschaftlichen Versöhnung. Sie, diese Regierung, diese Menschen
dort, haben die Lehren aus dem nicht verhinderten Genozid gezogen. Sie verfolgen eine auf Schaffung demokratischer Strukturen gerichtete Reformagenda und engagieren sich für ein globales Bewusstsein, das die
Früherkennung aufkommender Konflikte und die Prävention fördert. Hier wurde aus der Geschichte gelernt.
Systematische Eliminierungen ethnischer Volksgruppen, Massaker und Völkerrechtsverletzungen gab es aber
auch in der europäischen Geschichte nach dem Zweiten
Weltkrieg, sogar noch in der Zeit nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, als wir alle von der Friedensdividende
gesprochen haben. Ich denke zum Beispiel an Srebrenica. Im Fall Ruanda blieb die Völkergemeinschaft zunächst untätig. Es gab keinen Aufschrei der Empörung,
nur zögerlich wurde entschieden, das Blauhelmkontingent aufzustocken, eine UN-Resolution gab es erst im
späteren Verlauf der Krise, als das Töten schon im vollen
Gange war.
Was lernen wir aus diesen Ereignissen? Welche Lehren ziehen wir daraus?
Erstens. Durch Nichthandeln kann sich die Völkergemeinschaft ebenso schuldig machen wie durch Handeln.
Zweitens. Deutschland muss seiner Rolle als politisch
und wirtschaftlich starke Kraft in der Völkergemeinschaft gerecht werden. Dies haben unser Bundespräsident, Herr Gauck, und die Bundesverteidigungsministerin, Frau Dr. von der Leyen, in Grundsatzreden sehr
deutlich formuliert.
Daher ist das Engagement Deutschlands in Zentralafrika und Somalia nur konsequent. Im internationalen
Miteinander können Wegschauen, Zögern und Untätigbleiben die furchtbaren Konsequenzen haben, auf die
wir in diesem Moment, in dieser Stunde schauen.
Der Völkergemeinschaft müssen Möglichkeiten zugestanden werden, schwere Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Verstöße gegen das Völkerrecht zu unterbinden; RtoP ist hier gerade angesprochen worden. Dieses
Eingreifen muss frühzeitig geschehen, bevor Morde,
Folter, Verstümmelungen oder Massenvergewaltigungen unvorstellbare Ausmaße annehmen können - wie in
Ruanda -, auch wenn sich die Völkergemeinschaft dabei
ohne Mandat - wie im Kosovo-Krieg - anfangs in einer
völkerrechtlichen Grauzone bewegt.
Solche Grauzonen resultierten bisher aus einem Vetoverhalten weniger Staaten im UN-Sicherheitsrat, das ungeachtet menschlichen Leidens machtpolitischen Interessen diente. Wir haben es gerade wieder erleben
müssen, dass eine Verletzung des Völkerrechts nicht
vom UN-Sicherheitsrat verurteilt werden konnte. Alle
fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates stehen in der besonderen Pflicht, bewusst mit ihrem Vetorecht umzugehen. Sie sind aufgerufen, eine Kultur der
Zusammenarbeit zu pflegen; denn wir befinden uns im
21. Jahrhundert, in dem die Stärke des Rechts und nicht
das Recht des Stärkeren gelten muss.
({0})
Deutschland trägt seiner Verantwortung mit dem
Konzept der vernetzten Sicherheit Rechnung. Wir betreiben kein Säbelrasseln, sondern vernetzen außen-, entwicklungs- und sicherheitspolitische Kompetenz, um die
Ursachen von Konflikten frühzeitig erkennen und diese
eindämmen zu können.
Die Friedensdenkschrift des Rates der Evangelischen
Kirche aus dem Jahr 2007 hat den Titel: „Aus Gottes
Frieden leben - für gerechten Frieden sorgen“. Ja, wir
müssen für Frieden sorgen. Militärbischof Rink verweist
in einem Interview zu Recht darauf, dass militärische
Einsätze nur die Ultima Ratio sein können. Entwicklungshelfer wollen wegen der Lage vor Ort zurzeit nicht
mehr in die Zentralafrikanische Republik gehen. Vor
diesem Hintergrund stellt sich Bischof Rink die Frage,
„ob die internationale Gemeinschaft zusieht, wenn das
Land im Chaos versinkt, Menschen erschossen werden
oder verhungern, oder ob, weil alle anderen Möglichkeiten nicht mehr greifen, unter Umständen ein Einsatz der
Bundeswehr mit entsprechendem Mandat - sagen wir:
als Schlichtungshilfe - dazu beiträgt, wieder ein rechtsstaatliches Leben herzustellen.“
Meine tiefste Überzeugung ist, dass Deutschland die
Verpflichtung hat, Verantwortung zu übernehmen. Wir
müssen anderen Staaten helfen, Sicherheit zu schaffen.
Das ist die Grundlage für Frieden, Freiheit und wirtschaftlichen Wohlstand. Das ist auch eine moralische
Pflicht, gerade vor dem Hintergrund unserer Geschichte.
Unsere Sicherheit, auf der wir unseren Wohlstand aufgebaut haben, haben wir jahrzehntelang durch andere Länder garantiert bekommen. Das sollten wir Deutsche nicht
vergessen.
({1})
Lassen Sie mich eine sehr persönliche Anmerkung
machen. Ich habe als Kind 1949 die Berliner Blockade
erlebt und war glücklich und froh, eines dieser Essenspakete, die vom Himmel geworfen wurden, aufzufangen. Ich habe mich damals darüber gefreut, dass ich es
bekommen habe, aber auch darüber, dass ich meinen
Hunger zumindest teilweise stillen konnte. Dabei ist anzumerken, dass die Menschen in dieser Stadt nur überlebt haben, weil sie von ehemaligen Kriegsgegnern nicht
im Stich gelassen worden sind. Den Ausdruck „nicht im
Stich lassen“ haben wir heute in der Diskussion schon
mehrfach gehört. Daraus entstanden Freundschaften,
Freundschaften über Jahrzehnte hinweg, Freundschaften zwischen Menschen, Freundschaften von Land zu
Land und Freundschaften, die den Frieden in Europa gedeihen ließen.
Lassen Sie mich zum Schluss - meine Redezeit ist abgelaufen - ein afrikanisches Sprichwort zitieren: „Siehst
du Unrecht und Böses und sprichst nicht dagegen, dann
wirst du sein Opfer.“ Mein Fazit aus dieser Diskussion
ist: Völkermord darf sich nicht wiederholen, heute nicht,
morgen nicht, nirgendwo. Dieser Verantwortung müssen
wir uns stellen, jetzt, jederzeit und überall.
Ich bedanke mich.
({2})
Das war, Herr Kollege Lorenz, Ihre erste Rede im
Deutschen Bundestag, zu der ich Ihnen herzlich gratulieren möchte.
({0})
Präsident Dr. Norbert Lammert
Ich möchte mich aber auch bei allen Kolleginnen und
Kollegen ausdrücklich bedanken, die an dieser Diskussion teilgenommen haben, und insbesondere allen Rednerinnen und Rednern aus allen Fraktionen meinen Respekt ausdrücken für die Art und Weise, mit der sie sich
mit diesem Thema auseinandergesetzt haben.
({1})
Um ähnlich wie Herr Lorenz ganz zum Schluss eine
persönliche Anmerkung zu machen: Nach dieser denkwürdigen Debatte bleibt das bittere Fazit, dass uns die
selbstkritische Auseinandersetzung mit der eigenen Verantwortung 20 Jahre nach den Ereignissen überzeugender gelingt als die konkrete Wahrnehmung unserer Verpflichtungen und Möglichkeiten zu dem Zeitpunkt, als
die Ereignisse stattgefunden haben.
({2})
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Antrag
der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die
Grünen auf der Drucksache 18/973 mit dem Titel: „Er-
innerung und Gedenken an die Opfer des Völkermordes
in Ruanda 1994“. Wer stimmt diesem Antrag zu? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist dieser
Antrag mit breiter Mehrheit bei Enthaltung der Fraktion
Die Linke angenommen.
Wir kommen nun zu den Tagesordnungspunkten 19 a
und 19 b:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Corinna
Rüffer, Kerstin Andreae, Markus Kurth, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Fünf Jahre UN-Behindertenrechtskonvention - Sofortprogramm für Barrierefreiheit
und gegen Diskriminierung
Drucksache 18/977
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({3})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin
Werner, Diana Golze, Sabine Zimmermann
({4}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Programm zur Beseitigung von Barrieren
auflegen
Drucksache 18/972
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit ({5})
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({6})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Haushaltsauschuss
Federführung strittig
Interfraktionell ist auch hier eine Debattenzeit von
96 Minuten vereinbart worden. - Dazu höre ich keinen
Widerspruch. Also können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Corinna Rüffer für die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Es geht an dieser Stelle nachdenklich weiter. Seit fünf
Jahren ist die Konvention der Vereinten Nationen über
die Rechte von Menschen mit Behinderungen geltendes
Recht in Deutschland. Dass wir eine solche Konvention
haben, ist in erster Linie denjenigen Menschen mit Behinderungen zu verdanken, die über Jahrzehnte nicht
aufgegeben haben, für ihre Rechte zu kämpfen.
({0})
Bei ihnen möchte ich mich heute bedanken. Was sie getan haben, war bitter nötig.
({1})
Als die Vereinten Nationen das Jahr 1981 zum UNOJahr der Behinderten erklärten, ernteten sie heftige Kritik von Menschen mit Behinderungen in ganz Deutschland. In einer Resolution schrieb die Aktionsgruppe gegen das UNO-Jahr:
Wir erklären, daß das „Internationale Jahr der Behinderten“ … über unsere Köpfe hinweg und gegen
unsere Interessen durchgeführt wird.
Sie sprachen von einer Integrationsoperette, die die
gravierenden Missstände im Behindertenbereich verschleiern soll. Menschen mit Behinderungen kämen als
selbstbestimmt handelnde Menschen nicht vor. Aus
diesem Grund organisierten die Aktivistinnen und Aktivisten das sogenannte Krüppeltribunal. Hier machten sie
auf Menschenrechtsverletzungen im Sozialstaat aufmerksam. Zur Sprache kamen die unwürdige Lebenssituation in Heimen, Behördenwillkür, Sonderwelten
durch Werkstätten, die Situation behinderter Frauen,
Mobilitätsbarrieren und vieles andere mehr. Der Erfolg
dieser Bewegung wurde nicht zuletzt deutlich, als gut
20 Jahre später behinderte Menschen selber über die
UN-Konventionen mitverhandelt haben. Er wird deutlich, wenn Menschen mit Behinderungen in politische
Entscheidungsprozesse ernsthaft einbezogen werden und
als Expertinnen und Experten ernstgenommen werden.
({2})
Er wird auch an jeder Rampe und an jeder Übersetzung
in leichte Sprache deutlich. Der Kern der Kritik, der bereits vor 30 Jahren formuliert wurde, richtete sich gegen
eine Politik, die den Schein aufrechterhielt und Missstände verschleierte, also gegen Integrationsoperetten.
Die Situation behinderter Menschen hat sich in den
letzten 30 Jahren erheblich verbessert. Das liegt auch daran, dass Menschen mit Behinderungen für ihr Selbstbestimmungsrecht gekämpft haben. Wenn ich mir behindertenpolitische Reden anhöre, dann frage ich mich
allerdings gelegentlich, ob wir mittlerweile von InkluCorinna Rüffer
sionsoperetten sprechen müssten. Die Gruppe derjenigen, die gerne von Inklusion spricht und nicht aus dem
Quark kommt, wenn es wirklich um etwas geht, hat jedenfalls prominente Vertreter. „Gut Ding will Weile haben“ scheint ihr Motto zu sein. Ich bin gespannt, wie
häufig uns Frau Nahles das in puncto Teilhabegesetz
noch erklären wird. Wenn ich mir die Finanzplanung
dieser Bundesregierung anschaue, dann muss ich feststellen, dass es vor 2017 jedenfalls nicht losgehen wird.
Wenn es darum geht, die Umsetzung der Behindertenrechtskonvention voranzutreiben, sollten wir uns nicht
von schönen Worten blenden lassen. Wir müssen im
Blick behalten, was sich wirklich verändert und was sich
im Leben von Menschen mit Behinderungen konkret
verbessert.
({3})
Die Lebenssituation behinderter Menschen ist in
Deutschland im Vergleich zu vielen anderen Ländern relativ gut. Wir müssen bei der Umsetzung der Konvention
keinesfalls bei null anfangen. Gerade aus diesem Grund
sollten wir unsere Erfolge daran messen, wie gut es uns
gelingt, auch denjenigen eine selbstbestimmte Teilhabe
zu ermöglichen, die besonders verletzlich sind. Wir sollten uns fragen, wie selbstbestimmt zum Beispiel diejenigen leben, die nicht in einer Werkstatt arbeiten dürfen,
weil sie - auch nachdem sie an Maßnahmen im Berufsbildungsbereich teilgenommen haben - kein Mindestmaß an wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung erbringen werden. Wir sollten uns fragen, was wir für die
Selbstbestimmungsrechte derjenigen tun, die nicht sprechen können. Wir sollten uns auch fragen - jetzt schlage
ich einen etwas weiteren Bogen -, wie unsere Vorstellungen von einem lebenswerten Leben die Entscheidung
über einen Schwangerschaftsabbruch beeinflussen,
wenn eine genetische Untersuchung nahelegt, dass ein
Kind mit einer Beeinträchtigung leben wird.
({4})
Gemeinsam mit mehr als 20 Kolleginnen und Kollegen aus meiner Fraktion habe ich vor zwei Wochen die
Bundesregierung zu ihren behindertenpolitischen Vorhaben befragt. So wollten wir beispielsweise wissen, wie
Menschen mit Behinderungen leben, die nach Deutschland geflüchtet sind. Auch hier handelt es sich um Personen, die besonders verletzlich sind. Wir wollten wissen,
wie diese Menschen untergebracht sind, ob sie Zugang
zu Rehamaßnahmen haben und ob die Bundesregierung
zu diesen Fragen Daten erheben wird, sollten diese bisher nicht zur Verfügung stehen. Die Antwort in der Fragestunde: Anerkannte Flüchtlinge werden nicht in Unterkünften für Asylbewerber untergebracht. Außerdem
stehen ihnen Sozialhilfeleistungen und medizinische
Versorgung wie eigenen Staatsangehörigen zur Verfügung. Ganz ehrlich: Das ist in etwa so, als würde ich auf
die Frage nach einem Kuchenrezept antworten, dass
Mehl eine der Zutaten ist und man den Ofen benutzen
kann, den man auch für Lasagne verwendet. Diese Bundesregierung ist offensichtlich nicht gewillt, sich mit der
Situation behinderter Menschen auseinanderzusetzen,
die nach Deutschland geflüchtet sind.
Ich möchte zum Ende meiner Rede noch eine Entwicklung ansprechen, die wir gerade vor dem Hintergrund der Behindertenrechtskonvention im Auge behalten sollten. In den letzten Jahren beobachte ich verstärkt
die Tendenz, dass gegenüber Arbeitgeberinnen und
Arbeitgebern die besonderen Fähigkeiten von Menschen
mit Behinderungen angepriesen werden. So informiert
zum Beispiel die BDA darüber, dass behinderte Menschen am Arbeitsplatz häufig besonders motiviert sind,
weil sie beweisen möchten, das ihre Arbeit Wertschätzung verdient. Das mag so sein. Aber lassen wir uns das
einmal auf der Zunge zergehen: Hier wird dafür geworben, Menschen mit Behinderungen einzustellen, weil sie
sich beweisen möchten. Das hat nichts zu tun mit der
Perspektive der Behindertenrechtskonvention.
({5})
Die Konvention zielt darauf, einen inklusiven Arbeitsmarkt zu schaffen. Das bedeutet, der Arbeitsmarkt muss
so gestaltet werden, dass sowohl der sehr leistungsstarke
als auch der leistungsschwache Mensch seinen Lebensunterhalt durch Arbeit verdienen können. Menschen mit
Behinderungen haben ein Recht auf Arbeit.
({6})
Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich halte es für sinnvoll, dass Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber bestehende
Vorurteile über Menschen mit Behinderungen reflektieren und hoffentlich überwinden - selbstverständlich. Wir
dürfen uns aber nicht damit zufriedengeben, wenn von
Inklusion gesprochen wird und damit gemeint ist, Menschen mit Behinderungen als wertvolle und nicht ausreichend genutzte Ressource am Arbeitsmarkt zu präsentieren. Wenn Menschen mit Behinderungen besonders
motiviert arbeiten, weil sie stärker als nichtbehinderte
Menschen das Gefühl haben, sich beweisen zu müssen,
dann liegt das daran, dass sie derzeit diskriminiert werden. Das ist ein Problem, gegen das wir vorgehen müssen. Das ist jedenfalls kein guter Zustand, aus dem Profit
geschlagen werden sollte.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, seit fünf Jahren ist
die Behindertenrechtskonvention geltendes Recht in
Deutschland. Mit der Konvention haben wir uns verpflichtet, Menschen mit Behinderungen die gleichberechtigte Teilhabe in allen Lebensbereichen zu ermöglichen. Das passiert nicht, wenn möglichst viele
Menschen möglichst oft „Inklusion“ sagen. Die Bundesregierung täte gut daran, sich vom Vertrösten und Verzögern aufs Handeln zu verlegen. Vielleicht möchte sie uns
ja beweisen, dass ihre Arbeit Wertschätzung verdient.
Vielen Dank.
({8})
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Guten Morgen von
meiner Seite aus!
Der nächste Redner: Uwe Schummer für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Verehrtes Präsidium! Meine Damen! Meine Herren!
Dass Sie die Bundesregierung zum Handeln auffordern,
und zwar endlich, nachdem die Große Koalition jetzt
100 Tage an der Regierung ist, finde ich bemerkenswert.
({0})
Es gibt keine Koalitionsvereinbarung, in die mehr Handlungsempfehlungen zur Inklusion in allen Politikbereichen aufgenommen worden sind als in die jetzt gültige
zwischen Union und Sozialdemokraten. Diese enthält
insgesamt zwanzig solcher Handlungsempfehlungen.
({1})
Wir haben ja bereits am Mittwoch im Ausschuss für
Arbeit und Soziales und in anderen Ausschüssen miteinander diskutiert und überlegt, wie wir die ambitionierten Ziele der Koalition gemeinsam umsetzen können. Ein Thema war der neue Teilhabebericht. Wir haben
gesagt: Wir wollen wegkommen vom alten Bericht zur
Lage der Menschen mit Behinderungen, in dem seit
1982 Defizite aufgeführt und Subventionen dargestellt
wurden. - Die Konsequenz war, dass wir im letzten Jahr
erstmals einen Teilhabebericht zum Thema Inklusion erstellt haben, in dem auch die sehr unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten der Menschen mit Behinderungen
dargestellt werden. So differenziert wie die Lebenswirklichkeiten sind, so differenziert werden auch die politischen Antworten sein müssen.
Es war ein guter und wichtiger Erfolg des früheren
Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, von Hubert Hüppe - er ist heute unter uns -,
({2})
dass mit diesem neuen Teilhabebericht auch die UNKonvention umgesetzt werden konnte, verbunden mit
der Zielsetzung, für mehr Teilhabe zu sorgen. Der Teilhabebericht ist auch eine Grundlage für weitere Politikansätze, die die Große Koalition in den nächsten drei
Jahren verfolgen wird, um die Teilhabe insgesamt zu
verbessern, und zwar in allen Bereichen des Lebens.
Im Sinne der Grundregel „Nichts über uns ohne uns“
hat der Deutsche Behindertenrat dafür gesorgt, dass an
der Erstellung des Teilhabeberichts auch Wissenschaftler
beteiligt waren, die selber betroffen sind und daher auch
ihre Lebenswirklichkeit mit einbringen konnten; sie
machten ein Drittel des gesamten Redaktionsteams aus.
Kerstin Tack und ich sind wild entschlossen,
({3})
dafür zu sorgen, dass die Mitwirkungsmöglichkeiten der
Verbände der Betroffenen auch bei der Erstellung der
nächsten Teilhabeberichte noch weiter ausgebaut werden,
({4})
damit das Motto „Nichts über uns ohne uns“ auch als
Grundlage des politischen Handelns verankert wird.
Wir haben damit den Art. 31 der UN-Konvention umgesetzt, der uns in der Politik auffordert, Statistiken und
Datensammlungen über die Lebenslagen behinderter
Menschen aufzuarbeiten. In diesen Statistiken und Datensammlungen sollen sich auch differenziert die unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten und Belange der
Menschen mit Behinderungen oder mit Beeinträchtigungen wiederfinden.
Nach dem Teilhabebericht sind 25 Prozent der Bevölkerung über 18 Jahre betroffen. Das sind 17 Millionen
Menschen. Davon sind etwa 7 Millionen Menschen anerkannt schwerbehindert. Wir werden aufgrund der Demografie, der Bevölkerungsstruktur, die Frage von Behinderung und Beeinträchtigung, auch von chronischen
Krankheiten, in der Zukunft politisch noch weiter aufarbeiten müssen.
Von daher wird es wichtig sein, dass „barrierefrei“ für
alle Facetten des Lebens gilt. Wir hatten am Donnerstag
dieser Woche eine Initiative mit Gehörlosen aus Thüringen zu Gast, die uns aufgefordert haben, die heutigen
technischen Standards zu nutzen, beispielsweise für Gehörlose eine Notruf-App zu entwickeln, mit der man
wichtige Informationen, wichtige Nachrichten sofort zuspielen kann, damit auch diese Menschen über ihr
iPhone oder ihr iPad schnell über die aktuelle Sachlage
informiert werden können. Es sind sehr einfache technische Möglichkeiten, die heute schon existieren, die wir
nur nutzen müssen, um auch in der Kommunikation Barrieren zu überwinden und mehr Teilhabemöglichkeiten
zu schaffen.
Wir müssen aber auch mentale Barrieren, Barrieren in
den Köpfen, Barrieren dadurch, dass wir etwas nicht gelernt haben, überwinden. Wenn man nicht weiß, wie man
mit contergangeschädigten Menschen umgeht, wie man
ihnen die Hand gibt, dann hat man Bedenken, Schwierigkeiten, zieht sich zurück, geht nicht auf diese Menschen zu. Das sind unsere Barrieren, die wir aufarbeiten
müssen, damit wir auf die Menschen zugehen, sie begrüßen, mit ihnen scherzen können, damit wir sehr entspannt sein können, wenn wir auf sie zugehen.
({5})
Barrieren haben wir alle miteinander, und wir alle miteinander sind aufgefordert, sie zu beseitigen. Es ist normal, verschieden zu sein, und es ist wichtig, dass wir lernen, offen miteinander umzugehen, in allen Facetten.
Der Teilhabebericht gibt uns auch Handlungsempfehlungen. Dazu gehört - das ist auch in unserer Koalitionsvereinbarung festgelegt worden -, dass wir unter dem
Dach der Kinder- und Jugendhilfe die verschiedenen
Fördermaßnahmen für Eltern, für Kinder, für Jugendliche bündeln, sodass es vor Ort eine Anlaufsituation, eine
Struktur gibt, die weiterhilft, wenn Fragen entstehen,
weil zum Beispiel Fördermaßnahmen beantragt werden
müssen.
Wir werden das familiäre Umfeld und die Familien
selbst durch eine Kultur der Nachbarschaft stärken müssen - durch die Vernetzung mit begleitenden Hilfen, Tagesstätten, Beratung und Betreuung. Wir wollen verstärkt die betreuten Werkstätten nutzen. Sie sollen auch
Arbeitsmöglichkeiten außerhalb der betreuten Werkstätten organisieren. Wir sagen: so viel inklusive Arbeit wie
nur irgend möglich, aber weiterhin so viel Betreuung
wie nötig. Ich halte nichts davon, eine Struktur abzuschaffen und zu schauen, was dann passiert. Wir werden
Strukturen miteinander vernetzen müssen, aber immer
mit der Zielsetzung, für den einzelnen Menschen, an
dem wir Maß nehmen, möglichst viel auch inklusive Arbeit zu entwickeln.
In meinem Heimatkreis am Niederrhein fangen auch
Kinder mit Downsyndrom an, aus der betreuten Werkstatt rauszugehen.
({6})
Gemeinsam mit anderen, mit Handwerksmeistern bauen
sie in einem offenen Museum eine niederrheinische Lehmkate. Sie sind sehr stolz darauf, eine solche Leistung zu
erbringen. Man sieht auf einmal, wie stark, wie innovativ und wie motiviert sie sind.
Vom Bundesverband der Floristen kam einmal jemand zu mir und beklagte sich über den Fachkräftemangel. Ich habe ihn gefragt: Haben Sie einmal überlegt,
beispielsweise verstärkt auch Behinderte einzustellen?
Die Antwort war erst einmal: Die Kunden haben es immer so eilig; die haben keine Zeit, zu warten. - Hier geht
es um Entschleunigung, um Dinge des Miteinanders und
Füreinanders, über die wir miteinander reden müssen.
Wir müssen ein Stück weit auch einen Mentalitätswandel, eine Revolution der Herzen erzeugen, damit das
Miteinander und Füreinander insgesamt verbessert werden kann.
({7})
Die inklusive Bildung endet in Deutschland heute oft
nach der Kindertagesstätte. 60 Prozent der betroffenen
Kinder gehen noch gemeinsam mit anderen Kindern in
eine Regelkita. In der Grundschule sind es nur noch
34 Prozent. Im weiteren Bildungsverlauf werden es immer weniger, bis hin zu den Restbeständen in der Arbeitswelt. Da müssen wir stärker werden; da müssen wir
besser werden.
Auch mit dem Bundesteilhabegesetz wird diese Zielsetzung verfolgt werden. Es geht hier eben nicht nur um
ein Sparprogramm für die Kommunen; es geht darum,
dass für die betroffenen Menschen eine Verbesserung,
ein Mehrwert an Teilhabe in der Gesellschaft entwickelt
wird. Sowohl die Kommunen als auch die Länder als
auch der Bund werden zusammen mit den Trägern weiterhin aktiv sein müssen. Es kann nicht nur um ein Sparprogramm zwecks Ausgabenentlastung der Kommunen
gehen, es muss letztendlich um mehr Teilhabe für die betroffenen Menschen gehen.
({8})
Die Leitidee dieser Großen Koalition - das haben wir
auch in der Koalitionsvereinbarung festgeschrieben - ist
die inklusive Gesellschaft, in der wir gemeinsam lernen,
arbeiten, spielen, wohnen und mit allen Facetten leben.
Das wird unser Anspruch sein. Daran, wie wir das miteinander umsetzen werden, können Sie uns gerne in drei
Jahren - nicht nach 100 Tagen - messen.
({9})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Nächste Rednerin ist
Katrin Werner für die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Seit fünf Jahren gilt in unserem Land
eine Konvention, die man die modernste Menschenrechtskonvention nennt. Was hat sich für 7 Millionen
schwerbehinderte Menschen, für mehr als 17 Millionen
Menschen mit Beeinträchtigungen oder chronischen Erkrankungen im Alltag praktisch verbessert, verschlechtert, oder was blieb, wie es war?
Übereinstimmend sagen viele: Es wird schwieriger,
den Alltag zu organisieren. Es fehlt an inklusiven Infrastrukturen. Mittelfristig fehlen 3 Millionen barrierefreie
Wohnungen in Deutschland, Defizit steigend. Nur jede
dritte Arztpraxis ist wenigstens rollstuhlgerecht. Noch
immer blüht eine Landschaft von Sonderwelten: Heime,
in denen im Minutentakt verrichtet wird, Werkstätten, in
denen für Dumpinglöhne auch für Rüstungsunternehmen, wie zum Beispiel in Bremerhaven, gearbeitet wird,
und Förderschulen, die 75 Prozent der Schüler ohne Abschluss verlassen.
Nach der UN-Behindertenrechtskonvention jedoch
muss Politik Menschen mit Behinderungen absichern,
fördern und ermutigen, selbstbestimmt zu leben; sie
muss also Räume für Selbstentfaltung öffnen - wie für
alle anderen Menschen auch.
({0})
Inklusion braucht deshalb „angemessene Vorkehrungen“
für den Einzelfall im Zusammenspiel mit vielen „geeigneten Maßnahmen“ im Großen.
Art. 4 der UN-Behindertenrechtskonvention spricht
davon, „alle geeigneten Gesetzgebungs-, Verwaltungsund sonstigen Maßnahmen zur Umsetzung der in diesem
Übereinkommen anerkannten Rechte zu treffen“. Deshalb unterstützen wir den Antrag der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen, zunächst das Behindertengleichstellungsgesetz und das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz zu
novellieren.
Denn es geht in dieser Wahlperiode nicht isoliert um
ein Bundesteilhabegesetz. Die Gültigkeit des SGB IX
steht - sagen Wissenschaftler - zu 80 Prozent nur auf
dem Papier. Auch in diesem Gesetz ist der Behinderungsbegriff zu ändern. Es geht auch um den arbeitnehmerähnlichen Status und ein Recht auf bedarfsgerechte
Assistenz in allen Lebensphasen und Lebenslagen, und
zwar unabhängig von Einkommen und Vermögen.
({1})
Gebraucht wird eine soziale Umwelt, an der alle Menschen mit Beeinträchtigungen teilhaben können. Das
sind auch ältere Menschen und Menschen mit chronischen Erkrankungen, Familien mit Kleinkindern und
Kinder selbst, nicht nur Menschen mit einem Behinderungsgrad. Es geht um alle Menschen mit dauerhaftem
oder zeitweiligem Unterstützungsbedarf.
Es gibt eben auch thematische Focal Points. Einer davon ist in der UN-Behindertenrechtskonvention die Barrierefreiheit. Aus Sicht der betroffenen Menschen heißt
das: im Alltag - zu jeder Zeit - nahezu jeden Ort, jede
Einrichtung, jedes Angebot und jede Information erreichen, nutzen und verstehen zu können, ohne Bittgänge,
Kostenvorbehalte oder Vermögensanrechnung.
({2})
Schon 2011 forderten die Landesbehindertenbeauftragten in ihrer Dresdner Erklärung energischere Schritte.
Der Teilhabebericht von 2013 zeigt, dass diese fehlen.
Aber inklusive Strukturen wird es ohne Barrierefreiheit
nicht geben. Ein bisschen Barrierefreiheit ist leider exklusiv.
Einzel- und Pilotprojekte reichen nicht. Barrierefreie
Lösungen im Alltag müssen leider immer wieder eingefordert, erstritten oder sogar eingeklagt werden.
Zuletzt kritisierte der Bundesrechungshof, dass vom
Bundesverkehrsministerium und der Deutschen Bahn
AG „die Bahnsteige an mehr als 3 900 kleineren Bahnhöfen … pauschal als stufenfrei bewertet werden, selbst
wenn die Bahnsteige ausschließlich über Treppen erreichbar sind“. Zwei Drittel aller Bahnhöfe werden so
indirekt als barrierefrei ausgegeben, obgleich sie für
Rollstuhlfahrer oder Menschen mit größeren Mobilitätseinschränkungen kaum nutzbar sind.
Deshalb fordert die Fraktion Die Linke ein Sofortprogramm zur Beseitigung bestehender Barrieren in Höhe
von jährlich 1 Milliarde Euro für einen Zeitraum von
fünf Jahren.
({3})
Wir wollen konkrete Taten, die die Lebenslagen von
Menschen mit Unterstützungsbedarf praktisch verbessern. Wir wollen ein Signal, dass Teilhabe mehr ist als
ein einzelner Leistungsanspruch, nämlich Wert und
Wirklichkeit für alle, ein soziales Gut. Wir wollen diese
Beseitigung von Barrieren bewusst als Zusatzprogramm,
neben dem Bundesleistungsgesetz. Dabei betonen wir,
dass mit dem Teilhabegesetz keine und keiner schlechtergestellt werden darf. Aber wir sehen auch: Die Entlastung der Kommunen von den Kosten der Eingliederungshilfe räumt keine einzige Barriere fort. Wir wollen
ein Programm, das in den Kommunen wirkt: dort, wo
Menschen zum Arzt gehen oder rollen; dort, wo sie in
der Schule oder im Theater hören können, was sie nicht
sehen, oder in Bildern verstehen, was Buchstaben ihnen
nicht verraten;
({4})
dort, wo sie ihr Recht selbst vertreten, im Rathaus oder
im Gericht; dort, wo sie arbeiten und Freunde am
Stammtisch treffen; dort, wo sie wohnen, daheim statt
im Heim.
Wir wollen von Anfang an eine fachkundige Begleitung durch das Bundeskompetenzzentrum Barrierefreiheit und eine Evaluation dieses Programms, damit es
nachhaltig wird. Wir wollen eine Regierung mit menschenrechtlichem Tatendrang und beantragen deshalb
geeignete Maßnahmen, wie sie die UN-Konvention versteht. Wir wollen nicht mehr und nicht weniger.
Danke.
({5})
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Das Wort hat Kerstin
Tack für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Die UN-Behindertenrechtskonvention, die Deutschland vor fünf Jahren ratifiziert hat, verpflichtet uns alle, Teilhabe an allen Lebensbereichen dieser Gemeinschaft zu ermöglichen. Aus
dieser Verpflichtung, die wir eingegangen sind, haben
wir geeignete Maßnahmen abzuleiten; denn wir sind zuständig für die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention.
In Deutschland leben 17 Millionen Menschen mit Behinderungen. Nur rund 2 Prozent von ihnen sind von Geburt an bzw. vom ersten Lebensjahr an behindert. Das
heißt, dass im Laufe des Lebens Behinderung uns alle
ereilen kann. Deshalb ist die Zielgruppe, über die wir reden, beeindruckend groß.
({0})
Die Koalition hat sich richtig viel vorgenommen:
Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik finden
die Belange von Menschen mit Behinderungen in einem
Koalitionsvertrag flächendeckend Berücksichtigung.
({1})
Das ist eine große Errungenschaft. Diese Maßnahmen
finden sich im Koalitionsvertrag nicht nur unter „Menschen mit Behinderungen“ wieder, sie finden sich - das
werden wir im Laufe der Debatte noch vorgetragen bekommen - auch in jedem weiteren Kapitel.
Aber ich will auch sagen, dass die Anträge der Opposition doch recht enttäuschend sind. Wenn ich sehe, dass
die Kollegin der Grünen anlässlich fünf Jahren Behindertenrechtskonvention ausschließlich fordert, dass wir
das Behindertengleichstellungsgesetz und das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz ändern, muss ich
ehrlich sagen: Da wollen wir eindeutig mehr als Handlungsauftrag aus der UN-Behindertenrechtskonvention
ableiten.
({2})
Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage/-bemerkung von Markus Kurth?
Selbstverständlich darf Herr Kurth zwischenfragen.
Sie sagen, Sie haben sich wesentlich mehr vorgenommen.
Ja.
Wie ist es denn dann zu deuten, dass Sie zwar im
Koalitionsvertrag das Bundesteilhabegesetz angesprochen und den Kommunen im gleichen Zuge eine Entlastung um 5 Milliarden Euro jährlich in Aussicht gestellt
haben, dies in der vorletzten Woche aber kurzerhand einfach in die kommende Legislaturperiode verschoben haben, auf das Jahr 2018, wenn Sie ja womöglich gar nicht
mehr regieren?
({0})
Herr Kollege Kurth, ich gehe davon aus, dass Sie, wie
alle anderen Kolleginnen und Kollegen des Hohen Hauses auch, den Koalitionsvertrag intensiv gelesen haben
und selbstverständlich in der Lage sind, daraus abzuleiten, wie sich unsere 23 Milliarden Euro zusammensetzen, weil Sie ja nicht nur lesen, sondern auch rechnen
können. Das, was schon gestern diskutiert wurde, ist
richtig: Wir werden das Bundesteilhabegesetz im Jahr
2016 zur Verabschiedung bringen, und es wird in 2017
in Kraft treten. Das ist unsere Aussage dazu.
({0})
Frau Kollegin, vielleicht ist das auch der Grund dafür,
dass Sie in Ihrem Beitrag hier schlussendlich gar nichts
zu Ihrem Antrag gesagt haben. Ich gehe davon aus, dass
fünf Jahre UN-Behindertenrechtskonvention natürlich
auch für Sie Anlass sind, mehr zu tun, als sich nur die
zwei Gesetze anzugucken.
Bei der Kollegin der Linken erleben wir das, was wir
schon kennen: 1 Milliarde Euro ist das Mindeste, was
man grundsätzlich in jedem Antrag fordert, ohne dass
man sagt, wo das Geld herkommen soll. Auch hier will
ich sagen: Barrierefreiheit ist eine Selbstverständlichkeit. Wir werden sie bei den weiteren Maßnahmen zur
Städtebauförderung und anderem selbstverständlich realisieren. Genau so, wie von Ihnen gefordert, ist auch
das Teil unseres Koalitionsvertrages, den wir umzusetzen gedenken.
({1})
Mit dem modernen Bundesteilhabegesetz, das wir in
dieser Legislaturperiode auf den Weg bringen, werden
wir genau diesen Anspruch auf Teilhabe in der Gesellschaft umfassend umsetzen. Wir wollen die soziale Teilhabe aus dem bisherigen Fürsorgesystem der Sozialhilfe
herausholen und es als eigenständiges Recht im SGB IX
verankern. Allein das ist ein Paradigmenwechsel, den
wir aus der UN-Behindertenrechtskonvention als Auftrag für uns definieren. Um auch das deutlich zu sagen:
Mit der Herausnahme aus der Sozialhilfe ist selbstverständlich auch das Bedürftigkeitsprinzip obsolet.
({2})
Selbstverständlich haben wir auch die Kosten im
Blick, deren Anstieg ja nicht daraus resultiert, dass die
Menschen ein immer größeres Geldbudget zur Verfügung gestellt bekommen, sondern ausschließlich daraus,
dass die Zahl der Leistungsberechtigten massiv angestiegen ist. Haben noch im Jahre 2000 525 000 Menschen
Eingliederungshilfe erhalten, so waren es 2012 bereits
821 000 - mit steigender Tendenz -, und selbstverständlich zieht das eine Spirale nach sich.
Was lernen wir daraus? Daraus muss man doch den
Rückschluss ziehen, dass man insbesondere bei der Antwort auf die Frage, wie man die Hilfe steuern sollte, anders, passgenauer, personen- und nicht institutionenzentriert vorgehen und ein neues Leistungspaket
überdenken muss. Genau das steht im Koalitionsvertrag,
und das werden wir machen.
({3})
Meine Damen und Herren, Behinderung ist ein Lebensrisiko, das jeden von uns individuell treffen kann.
Gleichzeitig ist Behinderung kein personengebundes
Schicksal, sondern es sind die Rahmenbedingungen der
Gesellschaft, die Behinderung produzieren.
({4})
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Ja, mache ich. - Deshalb ist für uns völlig klar: Behinderung darf nicht arm machen. Das betrifft die behinderten Personen selber, aber auch die Lebenspartner der
Personen. Auch das wird uns ein Anliegen sein: dass
selbstverständlich jede Person, egal ob mit oder ohne
Behinderung, zur sozialen Teilhabe eigenes Einkommen
ansparen und einsetzen darf. Das ist unser Leitthema;
das werden wir vorlegen.
Wir sind uns sehr sicher, dass wir in drei Jahren ein
sehr zufriedenstellendes Teilhabegesetz auf den Weg
bringen können.
Herzlichen Dank.
({0})
Danke, Frau Kollegin. - Das Wort hat Kerstin
Andreae für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir wollen eine inklusive Gesellschaft, in der Menschen- und Bürgerrechte so ernst genommen werden,
dass jeder gleichgestellt ist. Wir müssen mit den - durch
die von uns gestaltete Umwelt, durch unser Verhalten,
durch uns - behinderten Menschen auf Augenhöhe umgehen. Es geht darum, dass sich alle Menschen mit der
gleichen Selbstverständlichkeit in ihrem Leben, Wohnen
und Arbeiten bewegen können. Das erfordert eine andere Kultur der Aufmerksamkeit, des Respekts und der
Rücksichtnahme, und zwar nicht nur aus einem karitativen, sozialen Blickwinkel heraus, sondern schlicht deshalb, weil es ein Menschenrecht ist.
({0})
Ja, das Teilhabegesetz kommt - 2017.
({1})
Die Menschen warten aber. Jeder einzelne Schritt ist
wichtig. Jetzt legen wir Ihnen in unserem Antrag vier
Maßnahmen vor, die etwas mit Freiheit, mit Menschenrechten, mit Ermöglichung zu tun haben, vier Maßnahmen, die Sie sofort umsetzen könnten. Es spricht nichts
dagegen, dass Sie 2017 ein Teilhabegesetz auf den Weg
bringen. Aber es spricht viel dagegen, Frau Tack, dass
Sie sagen: Dieser Antrag ist enttäuschend; da steht ja
nicht viel drin. - Setzen Sie diese vier Maßnahmen um,
und Sie haben unheimlich viel erreicht.
({2})
Worum geht es? Es geht um die Anpassung des Behindertenbegriffs an das Verständnis der Behindertenrechtskonvention. Wir müssen deutlich sagen: Behinderung entsteht erst dann, wenn ein Mensch, der von der
physischen, geistigen und psychischen Norm, von dem
scheinbar Normalen abweicht, auf Barrieren, Treppen,
enge Räume, komplizierte Anweisungen, Erwartungen
an Stressresistenz, Vorurteile trifft. Die Behindertenrechtskonvention nimmt die Gesellschaft als Verursacher
für diese Barrieren in die Verantwortung. Das ist ein Paradigmenwechsel. Dieser Paradigmenwechsel steht unserer Gesellschaft gut an. Führen Sie ihn jetzt herbei!
({3})
Wir wollen das Recht auf Verständigung in leichter
Sprache. Behörden müssen schon heute in Gebärdensprache und Brailleschrift kommunizieren. Leichte Sprache ist notwendig, damit auch geistig behinderte Menschen verstehen. Das hat etwas mit Wertschätzung zu
tun, damit, dass auf Augenhöhe kommuniziert wird.
Auch das würde unserer Gesellschaft gut anstehen.
({4})
Wir wollen angemessene Vorkehrungen. Das klingt
kompliziert, ist aber ganz einfach: Da, wo nicht sofort
grundsätzlich etwas geändert werden kann, da, wo wir
kurzfristige Maßnahmen brauchen, da muss eine Umsetzung leichter möglich sein, etwa die Rampe, damit der
Rollstuhlfahrer am Abend noch ein Bier in der Kneipe
trinken kann. Das sind angemessene Vorkehrungen.
Der letzte Punkt. Derzeit ist der Diskriminierungsschutz von Menschen mit Behinderungen auf bestimmte
Teilbereiche beschränkt. Wollen wir akzeptieren, dass,
wie vor einigen Jahren geschehen, einer Familie mit einem inkontinenten Kind im Jugendalter eine Ferienwohnung während ihres Aufenthalts dort mit der Begründung gekündigt wurde, dass zu viele Windeln zu viel
Müll produzierten? Wollen wir akzeptieren, dass in manchen Restaurants und Klubs Menschen, weil sie sich anders bewegen und anders essen, der Zutritt zu diesen Orten verwehrt wird? Nein, das wollen wir nicht
akzeptieren. Auch hier wird eine Veränderung unserer
Gesellschaft guttun.
({5})
Lassen Sie uns das gemeinsam angehen. Die Umsetzung dieser Maßnahmen kostet nicht viel Geld, manchmal sogar gar kein Geld. Aber sie bringen vielen viel.
Sie kosten ein Umdenken.
({6})
Wenn es Ihnen schwerfällt, einem Antrag der Opposition zuzustimmen, dann nehmen Sie einfach diese Vorschläge in Ihre jetzigen Debatten auf. Warten Sie nicht
drei Jahre, um diese Maßnahmen für Freiheit und für
Menschenrechte umzusetzen.
Vielen Dank.
({7})
Danke schön, Frau Kollegin. - Das Wort hat
Dr. Astrid Freudenstein für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Katholische Jugendfürsorge in meiner Heimatstadt Regensburg betreibt eine eigene Facebook-Seite, die „Teilhabeprojekte“ heißt. Dort
wird erfreulicherweise nicht nur gelegentlich etwas gepostet, sondern es tut sich sehr viel auf dieser Seite. Die
Volkshochschule zum Beispiel bietet eine Altstadtführung in leichter Sprache an. Bei „Radio sag’ was!“ gehen
junge Radiomacher mit Behinderung im örtlichen Lokalfunk mit bemerkenswerten Interviews auf Sendung. Das
Atelier der KJF stellt seine Werke im örtlichen Künstlerhaus Andreas-Stadel inmitten der Werke anderer Künstler aus. Und, und, und. Die KJF Regensburg präsentiert
auf dieser Facebookseite einen Überblick über ihre Teilhabeprojekte und über das, was jeden Tag im Kleinen
passiert.
Die gute Nachricht nach fünf Jahren UN-Behindertenrechtskonvention lautet daher: Es ist nicht bei der
Idee einer inklusiven Gesellschaft geblieben. Die Sache
lebt, und wir sind damit gut unterwegs.
In der UN-Behindertenrechtskonvention wird bekräftigt - ich zitiere -, „… dass alle Menschenrechte und
Grundfreiheiten allgemein gültig und unteilbar sind, einander bedingen und miteinander verknüpft sind und
dass Menschen mit Behinderungen der volle Genuss dieser Rechte und Freiheiten ohne Diskriminierung garantiert werden muss“. Klar, denkt man, wieso sollten Menschenrechte auch nicht für Menschen mit Behinderungen
gelten? Doch was sich wie ein Allgemeinplatz anhört,
stößt in der Realität oft an Grenzen: an Barrieren im
wörtlichen Sinne.
Umso wichtiger war es, dass die Vereinten Nationen
mit der Konvention vor fünf Jahren die erste verbindliche universelle Menschenrechtsquelle für behinderte
Menschen geschaffen haben. Die unterzeichnenden
Staaten haben sich verpflichtet, die darin festgeschriebenen Rechte in ihre nationale Gesetzgebung zu übertragen. Auch Deutschland hat das getan.
Unsere Aufgabe ist es, die Rahmenbedingungen dafür
zu schaffen, dass Teilhabe für alle Menschen gleichberechtigt ermöglicht wird und Barrieren eingerissen werden. Nun fiel die Behindertenrechtskonvention in Deutschland nicht in ein behindertenpolitisches Vakuum. Erst am
Mittwoch haben wir uns im Ausschuss mit dem Teilhabebericht der Bundesregierung befasst. Dieser Teilhabebericht zeigt - neben dem Staatenbericht - auf, an welchen Stellen wir noch etwas tun müssen, um unsere
Verpflichtungen zu erfüllen.
Der Bericht zeigt aber auch, dass die Bundesrepublik,
vor allem auf gesetzgeberischer Seite, schon eine Menge
im Sinne der Konvention für die Menschen mit Behinderung getan hat und tut. Neben den SGB sind das vor allem die - auch in dem Antrag der Grünen angesprochenen - Gesetze zur Gleichstellung behinderter Menschen,
das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz und das Behindertengleichstellungsgesetz. Sie trugen und tragen
ganz maßgeblich zur Gleichberechtigung bei und sind
nur einige Beispiele.
Zurzeit werden diese Gesetze vor dem Hintergrund
der Konvention evaluiert. Diese Evaluation soll bis zum
Sommer abgeschlossen sein. Dabei geht es um genau die
Punkte, die Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der
Grünen, in Ihrem Antrag ansprechen: nämlich um den
Behinderungsbegriff, um den Einsatz leichter Sprache
usw.
Es ist wichtig, nicht nur die Gleichstellung an sich
rechtlich festzuzurren, sondern eben auch das veränderte
Verständnis von Behinderung, das der Behindertenrechtskonvention zugrunde liegt. Da sind wir ganz bei
Ihnen.
Trotz dieser Gesetze, die die gleichen Rechte garantieren, haben Menschen mit und ohne Behinderungen in
der Praxis immer noch häufig ungleiche Chancen auf
Teilhabe. Während ein Viertel der behinderten Menschen keine oder nur wenige Behinderungen durch die
Umwelt erfährt, erlebt ein anderes Viertel große Einschränkungen in allen betrachteten Lebensbereichen.
Ein Gießkannenprinzip hilft uns deshalb nicht weiter.
Wir müssen Nachteilsausgleiche und Programme differenziert auf besonders betroffene Gruppen und Situationen ausrichten. Die Barrieren, die noch am meisten an
der Teilhabe hindern, müssen als Erste eingerissen werden.
Aufgabe der Politik ist es jedoch nicht nur, die Barrieren für die Betroffenen so weit wie möglich abzubauen.
Jede Barriere ist zwar eine zu viel, aber aus der Behindertenrechtskonvention folgt noch etwas anderes: Die
individuelle Lebensplanung und die Selbstbestimmung
der Menschen mit Behinderung muss mehr geachtet und
gestärkt werden. Viele Barrieren werden bedeutungslos,
wenn dem Menschen mehr Wahlfreiheit gelassen wird,
wenn er die Entscheidungen zu seiner Lebensplanung
selbstbestimmt treffen kann und Teilhabe erfährt.
Die Entwicklung der Eingliederungshilfe zu einem
modernen Teilhaberecht ist deshalb einer der wichtigsten
Bausteine bei der Umsetzung der Behindertenrechtskonvention. Dadurch wird sie auch eine der wesentlichen
gesellschaftlichen und sozialpolitischen Aufgaben dieser
Legislaturperiode werden. Wir wollen weg von einer
überwiegend einrichtungsbezogenen hin zu einer personenzentrierten Hilfe, und daran arbeiten wir.
({0})
Der Mensch mit Behinderung muss mit seinen spezifischen Bedürfnissen im Mittelpunkt stehen. Wir wollen
deshalb bei der Reform die Perspektive der Betroffenen
kontinuierlich mit einbeziehen. Ein solcher Prozess dau2188
ert tatsächlich; er gewinnt dadurch aber auch an Legitimität und an Qualität.
Herzlichen Dank.
({1})
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Nächste Rednerin ist
Sabine Zimmermann für die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Was sagt eigentlich die UN-Behindertenrechtskonvention zu dem ganz wichtigen Thema Arbeit?
Sie schreibt klar und deutlich das gleiche Recht auf Arbeit für Menschen mit Behinderung fest. Wichtige Ziele
sind der Zugang zum Arbeitsmarkt, die Gewährleistung
von Chancengleichheit von Menschen mit Behinderung,
die Förderung der Beschäftigung sowie die Barrierefreiheit am Arbeitsplatz.
Aber wie ernst nimmt denn diese Bundesregierung
und wie ernst nahm die letzte Bundesregierung dieses
Thema und diese Konvention? Sie erinnern sich alle:
Wir alle haben in diesem Hohen Haus für diese Konvention gestimmt. Ich sage Ihnen trotzdem: Wir sind Lichtjahre entfernt von einer inklusiven Arbeitswelt.
({0})
Die Lage von Menschen mit Behinderung am Arbeitsmarkt ist leider immer noch ein Trauerspiel. Seit
Jahren rührt sich nichts an der hohen Arbeitslosigkeit
von Menschen mit Behinderung. Aktuell sind in der Statistik über 183 000 schwerbehinderte Menschen. Das ist
im Vergleich zu 2008 ein immenser Anstieg von 10 Prozent.
Bei Betrieben mit mindestens 20 Arbeitsplätzen müssen wenigstens 5 Prozent Menschen mit Behinderung
beschäftigt sein. Wenn die Betriebe diese Quote nicht erfüllen, dann kommt die sogenannte Ausgleichsabgabe.
Viele Unternehmen kaufen sich aber mit dieser Abgabe
einfach von ihrer Pflicht frei. Deshalb wird die Quote
von 5 Prozent von Jahr zu Jahr - das können Sie beobachten - nicht erfüllt. Ein anderes Problem ist: Wenn
ein schwerbehinderter Arbeitsloser seine Arbeitslosigkeit beendet, findet nur jeder siebente eine Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt. Zum Vergleich: Bei
nicht schwerbehinderten Arbeitslosen gilt dies in fast jedem dritten Fall.
Arbeitgeber klagen regelmäßig über den sogenannten
Fachkräftemangel. Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Ich
kann es nicht mehr hören; denn wenn man einmal auf
das Potenzial von schwerbehinderten Menschen schaut,
dann stellt man fest: Sie sind gut qualifiziert, sie sind
hochmotiviert, aber keiner holt sie aus der Arbeitslosenstatistik. Wenn solche gut qualifizierten Menschen,
wenn hochmotivierte Menschen mit Behinderung in
meine Bürgersprechstunde kommen und mir erzählen,
wie schwer es ist, wie es fast unmöglich ist, einen Job zu
finden, dann macht mich das richtig wütend; denn ich
verstehe nicht, dass es in einem wirtschaftlich so gut dastehenden Land, wie Sie es in den Debatten immer wieder erwähnen, nicht möglich ist, mehr Menschen mit Behinderung in den Arbeitsmarkt zu integrieren.
Dabei ginge es auch anders. Wir Linken wollen unter
anderem die Erhöhung der Pflichtquote, zumindest wieder auf 6 Prozent, die Erhöhung der Anreize für Unternehmen und eine bessere und dauerhafte Förderung der
Beschäftigung behinderter Menschen.
({1})
Eines will ich ganz besonders herausheben, nämlich
dass Menschen, die heute gute Arbeit in einer Werkstatt
für Menschen mit Behinderung leisten, eine Chance zum
Übergang in die reguläre Arbeitswelt bekommen müssen.
({2})
- Ein Recht, das ist richtig. - Das würde das Klima in
der Arbeitswelt entscheidend und auch positiv beeinflussen. Ganz wichtig ist es auch, dass bei einem solchen
Übergang die besonderen Rentenansprüche für Menschen mit einer Behinderung erhalten bleiben. Wichtig
ist aber auch, Barrierefreiheit umfassend am Arbeitsplatz umzusetzen, und zwar grundsätzlich so, dass Menschen mit und ohne Behinderung beschäftigt werden
können.
({3})
Sehr geehrte Damen und Herren von der Bundesregierung, bitte begreifen Sie die UN-Behindertenrechtskonvention nicht länger als ein schön zu lesendes
Dokument, verstehen Sie es als eine handfeste Arbeitsanleitung! Fangen Sie an, an einer inklusiven Arbeitswelt zu arbeiten! Die Barrieren für Menschen mit Behinderung auf dem Arbeitsmarkt müssen endlich
eingerissen werden. Schluss mit jeder Form von Diskriminierung!
Danke schön.
({4})
Danke, Frau Kollegin. - Nächste Rednerin ist Ulla
Schmidt für die SPD.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Für mich bedeutet die Umsetzung der Behindertenrechtskonvention eine große gesellschaftspolitische Aufgabe. Diese Umsetzung und die damit verbundene Diskussion darüber, welche Schritte wir gehen müssen,
gehören zu den größten gesellschaftspolitischen Herausforderungen zu Beginn dieses Jahrhunderts und sind für
mich genauso bedeutsam wie die Bildungsreformen, die
wir in den 60er-Jahren durchgeführt haben und die das
Ulla Schmidt ({0})
Land nachhaltig verändert haben. Das in der Behindertenrechtskonvention festgelegte Menschenrecht auf Teilhabe an und in der Gesellschaft sollte die Diskussionen
übergreifend bestimmen. Die Diskussionen machen sehr
deutlich, dass dieses Menschenrecht in unserem Land,
das sonst alles versucht, um die Menschenrechte einzuhalten, Tag für Tag verletzt wird. Ich glaube, dass wir
dieses Menschenrecht nur durchsetzen können, wenn
wir das zu einer gemeinsamen Aufgabe des ganzen Parlaments machen.
({1})
Ich bin sehr viel unterwegs und habe viele Bundesländer besucht. Egal wer gerade regiert, in keinem Land
und in keiner Kommune wird zu 100 Prozent das umgesetzt, was wir eigentlich wollen. Ob Brandenburg, Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen, Bayern oder
Schleswig-Holstein - ich könnte eigentlich alle Bundesländer aufzählen -, überall gibt es gelungene Beispiele.
Aber es gibt noch viel zu tun, bis das, was wir wollen,
nämlich die volle Teilhabe aller Menschen, tatsächlich
umgesetzt ist. Deshalb bitte ich Sie: Lassen Sie uns nicht
gegeneinander arbeiten, sondern überlegen, was wir miteinander machen können, um dies umzusetzen.
({2})
Für mich ist neben den Artikeln betreffend Arbeitsmarkt, Schule und Kindergarten der Art. 9 der Behindertenrechtskonvention, der die Barrierefreiheit behandelt,
essenziell. Menschen können nicht teilhaben, wenn Barrieren sie daran hindern. Aber beim Abbau von Barrieren handelt es sich um einen Prozess. Barrieren lassen
sich nicht per Gesetz von einem Tag auf den anderen
niederreißen. Vielmehr muss jede Barriere Schritt für
Schritt abgebaut werden. Ich bin sehr froh, dass wir im
Präsidium des Deutschen Bundestags beschlossen haben: Wir wollen, dass der Deutsche Bundestag Vorbild
beim Abbau von Barrieren wird.
({3})
Wir wollen, dass Menschen mit Behinderung nicht nur
an Anhörungen und Debatten teilhaben, sondern dass sie
sie auch verfolgen können. Wir wollen unsere Publikationen und Debattenübertragungen so aufbereiten, dass
Blinde, Gehörlose, Sehbehinderte, Hörgeschädigte sowie Menschen mit kognitiven oder psychischen Einschränkungen am gesellschaftlichen Prozess teilhaben
und sich dafür interessieren können, was wir politisch
entscheiden.
({4})
Natürlich kann man der Meinung sein, dass das Teilhabegesetz nicht alles ist. Aber ich sage Ihnen aufgrund
meiner Erfahrung: Die Gestaltung des Teilhabegesetzes,
das zum Ziel hat, die Eingliederungshilfe aus dem System der Fürsorge herauszuholen und zu einem modernen
Teilhaberecht zu entwickeln, wird der Lackmustest sein,
der deutlich macht, wie ernst es uns damit ist.
({5})
Dabei geht es um vieles, was heute von der Eingliederungshilfe nicht geleistet wird. Es geht um Selbstbestimmung und Partizipation, aber auch um Mitmachen und
Beteiligung. Ich bin sehr froh, das unsere Ministerin
Andrea Nahles gesagt hat: Wir beginnen in diesem Jahr
und werden mit den Menschen mit Behinderung einen
entsprechenden Gesetzentwurf erarbeiten und diesen im
Jahr 2016 verabschieden. Lassen Sie sich gesagt sein:
Wer Andrea Nahles kennt, weiß, dass sie das tut.
({6})
Wenn man ein modernes Teilhaberecht gestaltet, ist
eines wichtig: Wir sind als Staat verpflichtet, die Barrieren abzubauen. Wir haben uns als Staat verpflichtet, dafür zu sorgen, dass Nachteile, die durch eine Behinderung entstehen, ausgeglichen werden. Deshalb sage ich
Ihnen: Es kann nicht sein, dass auf Dauer der Ausgleich
der Nachteile vom Staat in die private Einkommenssituation des Einzelnen gelegt werden. Auch behinderte
Menschen haben ein Recht auf ein Sparbuch.
({7})
Behinderte Menschen haben nach der UN-Konvention ein Recht darauf, dass sie ihre Lebenssituation stetig
verbessern können. Deshalb wird es ein wichtiger Schritt
sein, dass wir diesen Prozess voranbringen. Wir wollen
nicht, dass sich Eltern behinderter Kinder darum sorgen
müssen, ob sie für ihre Kinder ein Guthaben anlegen
können, damit sich die Kinder, wenn die Eltern einmal
nicht mehr leben, Sonderwünsche erfüllen können. Wir
wollen, dass Menschen mit Behinderung ihre Wohnung
und ihre Arbeit frei wählen können. Dann müssen wir
ihnen aber zugestehen, dass sie ansparen dürfen, damit
sie sich Möbel oder andere Dingen kaufen können.
({8})
Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Lasst uns
daran arbeiten! Das ist eine große Aufgabe, nicht allein
des Bundestages, sondern auch der Länder und der
Kommunen.
Ich bin sehr für die Entlastung der Kommunen, aber
diese Aufgabe ist so groß, dass wir sie nur gemeinsam
schultern können. Erst kommen die Inhalte, erst brauchen wir ein modernes Teilhaberecht, und dann können
wir darüber entscheiden, wie wir die Kommunen oder
andere bei dieser Aufgabe entlasten. Machen Sie mit!
Das ist ein ganz wichtiges Projekt.
Danke schön.
({9})
Vielen Dank, Ulla Schmidt. - Nächste Rednerin in
der Debatte ist die Kollegin Jutta Eckenbach für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kollegen! Teilhabe ist ein Menschenrecht. Das ist heute
Morgen schon ein paarmal gesagt worden. Ich gehe noch
einmal auf die Worte von Hubert Hüppe, unserem ehemaligen Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, der immer für diesen Personenkreis dagewesen ist, ein. Hubert Hüppe hat immer
wieder gesagt: Es geht nicht darum, dass wir mit diesen
Menschen Mitleid haben, sondern es geht einzig und allein darum, dass wir die Menschen teilhaben lassen an
einem selbstbestimmten Leben. Ich bin sehr froh, dass
der gesamte Bundestag heute Morgen zu dieser Einstellung kommt. Dazu ermutigen wir sie.
({0})
Für die CDU/CSU kann ich natürlich sagen, dass uns das
immer wieder ganz wichtig war und ich dies nur der
Form halber heute Morgen noch einmal klarstellen
möchte.
Meine Damen und Herren, seit der Rede des Kollegen
Hüppe hat sich in der Gesetzeslandschaft viel getan. Zur
Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention wurden in den vergangenen Jahren Verbesserungen bei den
Fahrgastrechten oder Änderungen im Luftverkehrsgesetz vorgenommen. Gesetze zur Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs in der Verwaltung oder vor
Gerichten wurden verabschiedet. Ich freue mich ganz
besonders, dass wir gerade hören konnten, dass sich
auch der Bundestag hier einbringt, für Menschen mit Behinderungen tätig zu werden. Ich freue mich schon auf
den Tag, an dem es möglich sein wird, alle in geeigneter
Form zu erreichen. Dafür von unserer Seite herzlichen
Dank.
({1})
Es kommt aber auch darauf an, dass wir uns Zeit nehmen. Ich komme aus Nordrhein-Westfalen. Gestatten Sie
mir daher einen Schlenker auf die dortige Landesebene.
Hier möchte ich das Thema Schulpolitik - Stichwort Inklusion - aufgreifen. Genau dieses Thema entwickelt
sich in Nordrhein-Westfalen zu einem großen Problem.
Das Beispiel Inklusion macht deutlich, dass Überarbeitungen, Evaluierungen und Weiterentwicklungen erforderlich sind, um allen Beteiligten gerecht zu werden. Die
Umsetzung der Inklusion darf nicht mit der Brechstange
erfolgen; denn Teilhabe erfordert vor allem Qualität, und
zwar Qualität für alle Seiten.
({2})
Auf dieses Umsetzungsproblem in Nordrhein-Westfalen
wollte ich hier besonders hinweisen.
Um unserem hohen Qualitätsanspruch gerecht werden zu können, bedarf es leider auch etwas Zeit: Zeit
zum Austausch aller Interessen und Meinungen; Zeit zur
Überarbeitung; Zeit zur Ausarbeitung. Ein SchnellSchnell ist dabei sicher der falsche Weg.
({3})
Meine Damen und Herren, bereits in der vergangenen
Legislaturperiode wurde dem Bundestag der Teilhabebericht der Bundesregierung vorgelegt. Die Bundesregierung ist - das haben wir heute Morgen schon gehört seit 1982 verpflichtet, einen solchen Bericht vorzulegen.
Der letzte Bericht, den wir vorgelegt bekommen haben,
hat jedoch die Besonderheit - das haben wir bereits im
zuständigen Fachausschuss behandelt -, dass in ihm ein
ganz anderer Blickwinkel eingenommen wird und er damit ganz andere Aussagen beinhaltet als die vorherigen
Berichte.
Wir haben im Ausschuss ebenfalls gehört, dass wir
noch mehr Erfahrungen sammeln müssen, dass wir noch
näher an die Menschen herankommen müssen, um noch
mehr von ihnen zu erfahren. Auch von schwerstbehinderten Menschen möchte ich wissen, welchen Bedarf
und welche Bedürfnisse sie haben. Aber wie sollen wir
diese Menschen erreichen? Es kommt also darauf an,
ganz spezifische Fragestellungen zu entwickeln, um
diese Menschen zu erreichen; denn es gibt - das ist mir
persönlich wichtig - nicht den Behinderten, vielmehr haben viele Menschen ganz unterschiedliche Einschränkungen. Den Einzelnen zu erreichen, das muss doch unser Ziel sein. Deswegen ist es, wie ich finde, wichtig,
dass wir eine Vorstudie machen und weitere Entwicklungen beobachten, um noch mehr von den Menschen zu erfahren. Dann können wir noch individueller tätig werden.
({4})
In dem Bericht wurde ein Schwerpunkt auf Menschen
mit psychischen Beeinträchtigungen gelegt. Aus meiner
Arbeit im Landschaftsverband Rheinland - ich nenne es
immer mein früheres Leben - weiß ich um die Besonderheiten dieser Personengruppen. Wir haben es immer
wieder mit psychisch erkrankten Personen zu tun gehabt.
Es ist auch Aufgabe des Landschaftsverbandes, bei diesen Erkrankungen tätig zu werden.
Speziell auf einen Aspekt möchte ich eingehen, bei
dem wir als Nichtbetroffene nicht so sehr im Film sind,
wie ich immer sage, nämlich auf die Langzeitarbeitslosen. Wenn man mit den Betroffenen redet, dann hört
man, dass psychisch erkrankte Langzeitarbeitslose, wenn
sie endlich eine neue Arbeit gefunden haben, es zwei
oder drei Wochen schaffen, dieser Tätigkeit nachzugehen. Aber nach zwei oder drei Wochen ist es vorbei, sie
können ihre Ängste nicht überwinden. Diesen Menschen
müssen wir helfen. Ich glaube, dass das eine ganz wichtige Aufgabe ist.
Ein zweiter Bereich, den ich neben der Psychiatrie als
ganz wichtig erachte und den ich während meiner Arbeit
im Landschaftsverband kennengelernt habe, ist der Bereich der Jugend- und Behindertenhilfe. Auch in der Jugendhilfe müssen wir Hürden überwinden, die durch die
Sozialgesetzbücher aufgebaut werden. Das ist ganz
wichtig.
Ich sehe gerade, dass mich die Lampe am Rednerpult
durch Blinken darauf hinweist, dass meine Redezeit abgelaufen ist. Ich dachte, sieben Minuten Redezeit seien
länger. Deswegen komme ich zum Schluss: Behinderung
ist nicht heilbar. Sie ist ein integraler Bestandteil der Persönlichkeit behinderter Menschen und verdient unseren
Respekt. Jedoch sind behindernde Strukturen und behinderndes Verhalten heilbar. Wir werden die Welt einfacher machen. Und das werden wir gemeinsam mit unseren Mitstreiterinnen und Mitstreitern einfach machen.
Ich freue mich in diesem Sinne auf die weitere Aussprache in den Ausschüssen und stimme der Überweisung wie alle anderen zu. Ich bedanke mich herzlich für
Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Vielen Dank, Frau Kollegin Eckenbach. Wir gratulieren Ihnen alle zu Ihrer ersten Rede im Hohen Haus
({0})
und wünschen Ihnen viel Erfolg bei Ihrer Arbeit für die
Menschenrechte in unserem Land.
Jetzt hat das Wort Katrin Kunert für die Linke.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Werte Frau Eckenbach, ich glaube, fünf Jahre nach Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention kann
man hier nun wirklich nicht von der Brechstange reden.
({0})
Vor drei Wochen kam die überaus erfolgreiche deutsche Mannschaft von den Paralympics aus Sotschi
zurück. Sie hat mit neun Goldmedaillen, fünf Silbermedaillen, einer Bronzemedaille und ganz vielen Topplatzierungen den zweiten Platz in der Nationenrangliste
erkämpft. Das ist ein sehr tolles Ergebnis.
({1})
Positiv will ich anmerken, dass es längst überfällig
war, die Prämienzahlungen für die Medaillen anzugleichen. Endlich ist eine paralympische Medaille genauso
viel wert wie eine olympische Medaille.
({2})
Positiv will ich auch anmerken, dass bei der Berichterstattung über die sportlichen Wettkämpfe die Leistungen und die Athletinnen und Athleten im Mittelpunkt
standen und nicht die Leidensgeschichten von Behinderten. Aber all dies kann nicht darüber hinwegtäuschen,
dass wir auch im Bereich des Sports weit von der Inklusion entfernt sind. Der Geist der UN-Behindertenrechtskonvention lebt vom selbstbestimmten Mitmachen der
Menschen mit Behinderung; denn sie wissen am besten,
was für sie eine hohe Lebensqualität in der Freizeit,
beim Reisen oder beim Sport ausmacht.
({3})
Für den Bereich des Sports hat die Linke in der
17. Wahlperiode einen Antrag eingebracht, der damals
von allen Sachverständigen in einer Anhörung für sehr
gut befunden wurde. Dieser Antrag ist leider abgelehnt
worden. Das sind wir gewöhnt. Aber es ist schon schade,
dass die Koalition sich nicht einmal die Mühe gemacht
hat, ihn als Grundlage zu nehmen, um hier einen neuen
Antrag für den Bereich des Sports vorzulegen.
({4})
Besonders in den Bereichen des Schulsports, des
Breitensports und der Nachwuchsgewinnung stellen wir
immer wieder fest, dass Kinder und Jugendliche zu
schnell eine Sportbefreiung erhalten, weil man mit Behinderungen schlecht bzw. gar nicht umgehen kann. Das
müssen wir ändern. Lehrer-, Übungsleiter- und Trainerausbildung müssen dem inklusiven Anspruch gerecht
werden. Gemeinsames Sporttreiben in der Schule, im
Verein und im Wettbewerb muss selbstverständlich für
alle sein.
({5})
Grundlegende Voraussetzung dafür ist natürlich die
Barrierefreiheit von Sportstätten. Es gibt erst eine einzige Sporthalle in Deutschland, nämlich in Hamburg, die
völlig barrierefrei ist. Das ist ein Manko für die deutsche
Gesellschaft. Deshalb fordern wir auch ein bundesweites
Sportstättensanierungsprogramm. Neben den aktiven
Sportlerinnen und Sportlern müssen wir aber auch die
Zuschauerinnen und Zuschauer mit einer Behinderung
im Blick haben, die den Sport konsumieren wollen. In
diesem Zusammenhang stellt sich die Frage: Wie geben
das die Möglichkeiten der Übertragung her? Wie gelangen sie barrierefrei ins Stadion? Dazu gibt es ein sehr positives Beispiel, nämlich einen Reiseführer der Bundesliga-Stiftung: Barrierefrei ins Stadion. Auch hier kann
der Bund einmal schauen, welche sportlichen Aktivitäten und Initiativen es gibt, um diesem Ziel gerecht zu
werden.
({6})
An allererster Stelle steht doch aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Barrieren in den Köpfen zu beseitigen. Das ist der Ausgangspunkt. Wenn man diese
Debatte verfolgt, muss man feststellen, dass die Barrierefreiheit in vielen Bereichen noch nicht gegeben ist. Inklusion in eine Gesellschaft bedeutet nämlich nicht unbedingt, alle gleich zu behandeln, sondern, sich an den
Bedürfnissen von Menschen mit Behinderung zu orientieren. Das ist unser Anspruch. Deshalb bleiben wir an
diesem Thema dran.
Herzlichen Dank.
({7})
Vielen Dank, Frau Kollegin Kunert. - Nächster Redner in der Debatte ist Dr. Matthias Bartke für die SPD.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Dies ist heute meine erste Rede im Deutschen
Bundestag.
({0})
Ich freue mich sehr darüber, dass ich sie zur UN-Behindertenrechtskonvention halten darf. Es gibt wohl kaum
einen Sozialpolitiker, dem Behindertenpolitik nicht ein
Herzensanliegen ist. Denn der Umgang einer Gesellschaft mit ihren Menschen mit Behinderung ist immer
ein Gradmesser für ihre Qualität.
Seit Einführung des SGB IX vor fast 14 Jahren und
vor allem mit der UN-Behindertenrechtskonvention hat
sich in unserem Land viel zum Besseren gewandelt.
Aber die Lage ist noch lange nicht so, dass man sagen
könnte, sie ist gut. Mit der UN-Behindertenrechtskonvention wurde die Inklusion zum neuen Leitgedanken
der Behindertenpolitik. Sie beinhaltet eine Abkehr von
der alten Zweiklassentheorie „Behindert“ versus „Nicht
behindert“. Inklusion heißt, dass alle Menschen gleichberechtigte Teile eines gemeinsamen Ganzen sind:
({1})
Nicht der Mensch muss an die Rahmenbedingungen angepasst werden, sondern der Sozialraum so gestaltet
sein, dass allen Mitgliedern der Gesellschaft ein Zugang
offen ist. Dies, meine Damen und Herren, ist ein grundlegender Paradigmenwechsel, den die Konvention bewirkt hat.
({2})
Nur ist eines auch klar: Eine inklusive Behindertenpolitik gibt es nicht zum Nulltarif. Die Schaffung eines
barrierefreien Sozialraumes ist teuer, manchmal sogar
sehr teuer. Die Unterzeichnung der UN-Konvention ist
auch ein Bekenntnis zu diesen Kosten. Schwarz-Rot bekennt sich mit dem Koalitionsvertrag dazu, die Kommunen nicht mit den Kosten für die Behindertenpolitik alleinzulassen. Sie werden bei der Eingliederungshilfe um
1 Milliarde Euro jährlich entlastet. Mit Verabschiedung
des Bundesteilhabegesetzes kommt eine jährliche Entlastung um weitere 5 Milliarden Euro hinzu,
({3})
und zwar, Herr Kurth, im Jahr 2016. Dies sind wahrlich
keine Peanuts.
Im Koalitionsvertrag haben wir außerdem eine Stärkung des inklusiven Arbeitsmarktes vereinbart. Das ist
auch dringend notwendig, denn die Arbeitslosenquote
bei Menschen mit Behinderung ist mehr als doppelt so
hoch wie bei Menschen ohne Behinderung. Besonders
alarmierend ist dabei der hohe Anteil von jungen
Schwerbehinderten. Hier besteht dringender Handlungsbedarf.
In meiner Heimatstadt Hamburg ist man für Mitarbeiter von Werkstätten für Behinderte im Rahmen eines
neuen Modellprojekts „Budget für Arbeit“ neue Wege
gegangen. Zu diesem Budget gehört unter anderem ein
unbefristeter Lohnkostenzuschuss für Arbeitgeber, die in
ihren Unternehmen geistig behinderte Mitarbeiter einstellen. Das Projekt funktioniert hervorragend. Das
Schöne ist, dass sich das Betriebsklima in den Unternehmen häufig verbessert hat: Unternehmen, die zuvor ausschließlich auf Effizienz ausgelegt waren, bekommen
durch die geistig behinderten Mitarbeiter plötzlich eine
menschliche Komponente;
({4})
sie stellen eine Bereicherung für die Betriebe dar. Das ist
gelebte Inklusion. Es freut mich sehr, dass das Modellprojekt „Budget für Arbeit“ Eingang in den Koalitionsvertrag gefunden hat. Es ist sinnvoll, über dauerhafte
Lohnkostenzuschüsse nicht nur für Arbeitnehmer mit
geistiger Behinderung, sondern auch für Langzeitarbeitslose mit körperlichen Behinderungen nachzudenken. Damit erhalten vor allem junge behinderte Arbeitslose eine neue Perspektive.
Lassen Sie mich, meine Damen und Herren, auf ein
Problem zu sprechen kommen, das mir besonders am
Herzen liegt. Die UN-Konvention fordert völlig eindeutig, dass Arbeitnehmer nicht wegen ihrer Behinderung
diskriminiert werden oder weniger Lohn bekommen dürfen und dass auch sie das Recht auf einen angemessenen
Lebensstandard haben.
({5})
Bei schwerstbehinderten Arbeitnehmern mit persönlichem Assistenzbedarf wird hingegen täglich auf das
Krasseste verstoßen. Bei ihnen werden alle Ersparnisse
über 2 600 Euro gegengerechnet und müssen an den
Staat abgeführt werden. Das gilt auch für die Ehepartner.
Ich finde, diese Regelung ist ein Skandal.
({6})
Vor zwei Wochen haben wir im Ausschuss für Arbeit
und Soziales in einem formellen Akt eine Petition mit
über 126 000 Unterschriften gegen diese Regelung erhalten. In ihr ist prägnant formuliert:
Anlegen einer Altersvorsorge? Unmöglich.
Rücklagen für … Notfälle bilden? Nicht erlaubt.
Geld für einen Autokauf ansparen? Fehlanzeige …
Die große Liebe heiraten? Besser nicht.
({7})
Diese Verrechnungspraxis entspricht vielleicht den
Buchstaben des SGB XII; den Normen und vor allem
dem Geist der UN-Konvention widerspricht sie auf das
Eklatanteste. Hier tut eine Abhilfe dringend not.
({8})
Im Bereich der Behindertenpolitik sind wir schon einen weiten Weg gegangen, aber es liegt auch noch ein
weiter Weg vor uns. Zum Abschluss möchte ich daher
Erich Kästner zitieren, der einmal wunderbar passend
gesagt hat:
Auch aus Steinen, die dir in den Weg gelegt werden, kannst du etwas bauen.
Ich danke Ihnen.
({9})
Vielen Dank, Herr Kollege. Das ganze Haus gratuliert
Ihnen zu Ihrer ersten Rede im Bundestag. Ich wünsche
Ihnen viel Erfolg, nicht nur im Kampf für die große
Liebe.
({0})
Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Peter
Weiß von der CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die UN-Behindertenrechtskonvention hat einen Prozess ausgelöst, im Zuge dessen auch unser eigenes Denken eine Veränderung erfährt.
Zum Schluss dieser erfreulichen Debatte kann man
feststellen: Die Idee einer inklusiven Gesellschaft ist
mittlerweile bei uns angekommen. Sich daran zu gewöhnen, war - wenn man sich die Tradition und die bisher
geleistete Arbeit in der Behindertenpolitik in Deutschland vor Augen führt - eine echte Revolution, aber sie ist
gelungen. Unser Bekenntnis ist klar: Ja, wir wollen eine
inklusive Gesellschaft.
({0})
Das bedeutet vor allen Dingen, die Kompetenzen und
auch den Sachverstand der Menschen mit Behinderungen ernst zu nehmen. Was heißt das? Lassen Sie mich
ein Beispiel nennen: Im Inklusionsbeirat der Bundesregierung sitzen nicht nur Menschen, die Sachverstand haben und über Behinderte reden, sondern dort sitzen Menschen mit Behinderung, um ihre eigenen Interessen und
Bedürfnisse zu artikulieren.
({1})
Das wichtigste Instrument ist der Nationale Aktionsplan. All die Forderungen und Wünsche, die vorgetragen
worden sind, müssen jetzt in den Nationalen Aktionsplan aufgenommen werden. Wir brauchen einen Arbeitsplan, mit dem uns Schritt für Schritt die Umsetzung hin
zu einer inklusiven Gesellschaft gelingt. Es geht nun darum, dass nicht Politiker über Behinderte schreiben, sondern in dem Aktionsplan muss sich das wiederfinden,
was Menschen mit Behinderung selber eingebracht haben.
({2})
Eine Anpassung der Gesetzgebung im Zuge der Reform der Eingliederungshilfe hin zu einem neuen Bundesteilhabegesetz ist der entscheidende Schritt. Die Opposition kann sich jetzt natürlich hinstellen und fragen:
Warum gibt es das nicht schon längst? Legt endlich einen Entwurf vor! - Verehrte Kolleginnen und Kollegen,
um Ihr Kurzzeitgedächtnis etwas aufzufrischen: Seit
Jahren reden wir in Deutschland über die Reform der
Eingliederungshilfe. Wir haben einen mühsamen, aber
interessanten Prozess angestoßen. In einer Bund-LänderArbeitsgruppe haben sich Bund und Bundesländer zusammen hingesetzt und aufgeschrieben, wie eine solche
Reform inhaltlich aussehen soll. Jetzt ist es in der Tat an
der Zeit, die Reform der Eingliederungshilfe anzupacken. Das haben wir uns als Große Koalition vorgenommen.
({3})
In der Debatte gerieten ein paar Dinge durcheinander.
Gestern ist mehr über die Entlastung der Kommunen in
Höhe von 5 Milliarden Euro gesprochen worden als über
den Inhalt der Eingliederungshilfe selbst. Ich will klipp
und klar sagen: Ja, der Bund, wir als Große Koalition,
stehen zu unserer Zusage, im Rahmen der Reform die
kommunale Seite um insgesamt 5 Milliarden Euro zu
entlasten und uns an den Kosten der Eingliederungshilfe
zu beteiligen. Aber bevor es zu einer Entlastung kommt,
müssen die Inhalte stimmen. Das ist das Wesentliche:
Wir wollen eine inhaltliche Reform der Eingliederungshilfe. Das ist unser Ziel.
({4})
Wenn wir über eine inklusive Gesellschaft sprechen,
dann sprechen wir natürlich über unterschiedliche Arten
von Behinderungen. Ich möchte darauf aufmerksam machen, dass der Personenkreis der Menschen mit psychischen Behinderungen oft vergessen wird. Unter den rund
7,3 Millionen schwerbehinderten Menschen, die in der
Bundesstatistik verzeichnet sind - ich sage das ausdrücklich einschränkend -, befindet sich - amtlich festgestellt - 1 Million Menschen mit seelischen Behinderungen. Wir wissen, dass langfristig psychisch kranke
Menschen von sich aus vielfach keine Anerkennung als
Schwerbehinderte beantragen.
Aktuell leben in Deutschland 1,4 Millionen Menschen mit der ärztlich gestellten Diagnose Demenz unter
uns. Aber nur etwa ein Drittel dieser Personen beantragt
von sich aus, dass amtlich eine Schwerbehinderung festgestellt wird.
Ein zweiter Hinweis: Im Zusammenhang mit der
wachsenden Anzahl der Menschen mit seelischen Behinderungen muss man die dramatisch steigende Zahl der
Peter Weiß ({5})
Menschen berücksichtigen, die wegen psychischer Erkrankungen, wegen psychischer Störungen auf eine Erwerbstätigkeit verzichten müssen und Erwerbsminderungsrente beantragen. Deshalb ist es wichtig, auch an
die seelisch behinderten Menschen zu denken, wenn
man von Menschen mit Behinderungen spricht.
Natürlich haben Menschen mit psychischen Störungen andere Probleme als zum Beispiel Menschen mit einer Gehbehinderung oder einer Sinnesbehinderung. Sie
brauchen auch andere Formen von Unterstützung. Ich
will das kurz an drei Punkten verdeutlichen.
Erstens: Teilhabe. Die gesellschaftliche Teilhabe ist
ein zentrales Thema. Um erwerbstätig sein zu können,
benötigen Menschen mit psychischen Behinderungen
auf ihre Bedürfnisse zugeschnittene Arbeitsbedingungen
und Unterstützungsangebote.
Zweitens: Barrierefreiheit. Bezogen auf einen Rollstuhlfahrer können wir Barrierefreiheit sehr leicht definieren. Bezogen auf einen Menschen mit seelischen Behinderungen fällt uns das sehr schwer. Menschen mit
seelischer Behinderung haben oft Schwierigkeiten in sozialen Beziehungen. Sie reagieren vielleicht besonders
sensibel auf bestimmte Stressfaktoren. Sie haben vielleicht Ängste, die die Alltagsbewältigung, die Teilhabe
am Leben in der Gesellschaft erschweren.
Drittens: Selbstbestimmung. Für Menschen mit psychischen Erkrankungen ist Selbstbestimmung ein wichtiges und spezifisches Thema, weil sie oft große Schwierigkeiten haben, eine für sie sinnvolle Entscheidung zu
treffen. Dann müssen Betreuer oder Gerichte für sie entscheiden. Wir haben in der letzten Legislaturperiode das
Betreuungsrecht reformiert und die Schwelle für Zwangsmaßnahmen, also für Unterbringung oder Zwangsbehandlung, deutlich erhöht. Auch das war ein wichtiger
Beitrag zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention. Dieser Prozess ist noch nicht abgeschlossen.
Neben dem, was wir rechtlich oder durch finanzielle
Unterstützung regeln können, ist, wie ich finde, für die
Idee einer inklusiven Gesellschaft von großer Bedeutung, dass sich die vielen guten Beispiele, die wir in unserem Land haben, vervielfältigen. Deshalb fand ich die
Idee des früheren Behindertenbeauftragten der Bundesregierung, Hubert Hüppe, sehr gut, eine sogenannte inklusive Landkarte ins Leben zu rufen.
({6})
Für all die tollen Beispiele, die wir in unserem Land haben, gilt: Man konnte beantragen, in dieser Landkarte
verzeichnet zu werden. Nicht der Behindertenbeauftragte hat entschieden, wer aufgenommen wird, sondern
Menschen mit Behinderung haben den Auswahlprozess
mitgestaltet und entschieden, wer in die Landkarte aufgenommen wird. Die besten Beispiele wurden ausgezeichnet. Ich glaube, in den kommenden Jahren wird es
entscheidend darauf ankommen, dass wir dafür sorgen,
dass die vielen guten Beispiele für eine inklusive Gesellschaft in Deutschland sich möglichst rasch vervielfältigen, sodass wir in einigen Jahren sagen können: Auf dieser inklusiven Landkarte gibt es keine weißen Flecken
mehr.
Vielen Dank.
({7})
Vielen Dank, Herr Kollege Weiß. Es ist gut, dass Sie
Herrn Hüppe erwähnt haben. - Herr Hüppe, ich glaube,
das ganze Haus dankt Ihnen für das, was Sie in diesem
Bereich geleistet haben.
({0})
Seien Sie mal nicht so bescheiden! Wir danken Ihnen
nicht nur für die Landkarte.
Nächste Rednerin: Waltraud Wolff für die SPD.
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren auf den Zuschauerrängen! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Wir alle haben übereinstimmend festgestellt: Alle Menschen haben den Anspruch und das
Recht auf eine gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Das hört sich sehr groß an; darüber
ist ja schon vielfältig diskutiert worden. Vor fünf Jahren
wurde dieses Ziel in der UN-Behindertenrechtskonvention festgehalten. Deutschland war das erste Land, das
diese Konvention unterzeichnet und ratifiziert hat, aber
wir sind natürlich noch nicht am Ende des Weges. Auch
unser Ziel ist eine inklusive Gesellschaft. Jeder Mensch
soll seine eigene Lebenssituation so weit wie möglich
selbst gestalten können.
({0})
Das ist unser Anspruch. Eines kann ich Ihnen sagen, so
wie ich hier stehe: Bis zum Ende dieser Legislaturperiode werden wir auf diesem Weg ein großes Stück vorangekommen sein.
Die Behindertenrechtskonvention beschreibt die Einschränkungen von Menschen mit Behinderungen als abhängig von der Wechselbeziehung zwischen den individuellen Fähigkeiten eines Menschen und den Barrieren,
auf die er trifft. Aufgrund einer Beeinträchtigung ist man
also nicht per se dafür prädestiniert, dass man nicht uneingeschränkt am gesellschaftlichen Leben teilhaben
kann. Oft ist es doch die Umwelt, die aus einer Beeinträchtigung erst eine Behinderung macht.
({1})
Hier gilt es, den Finger in die Wunde zu legen. Beispiel: Wenn Fußgänger die Welt planen würden, könnte
das durchaus eine Welt voller Stufen und Treppen sein.
Natürlich hätte das für einen Rollifahrer gravierende
Auswirkungen. In dieser Welt ist aber nicht der Rollstuhl
Waltraud Wolff ({2})
die Barriere, sondern die Barriere sind die Treppen. Darum müssen diese Treppen weg.
({3})
Aus solchen und aus vielen anderen Gründen haben
wir im Koalitionsvertrag ein zutiefst sinnvolles und
menschliches Ziel definiert:
Menschen mit und ohne Behinderungen sollen zusammen spielen, lernen, leben, arbeiten und wohnen.
In allen Bereichen des Lebens sollen Menschen mit
Behinderungen selbstverständlich dazugehören und zwar von Anfang an.
({4})
An circa 20 Stellen im Koalitionsvertrag gibt es dazu
Aussagen. Als ich diese gefunden habe, war ich etwas
erstaunt, aber ich habe mich natürlich sehr darüber gefreut. Es gibt größere und kleinere Baustellen, die zu bearbeiten sind. Diese betreffen im Grunde genommen alle
Fachgebiete.
Wir haben festgestellt: Wir wollen die Eingliederungshilfe zu einem modernen Teilhabegesetz machen.
Wir wollen eine gemeinsame Bildung vorantreiben und
einen Arbeitsmarkt schaffen, der auch Menschen mit
Behinderungen offensteht. Wir wollen Barrieren abbauen. Wir brauchen einen leichteren Zugang für Menschen mit Behinderungen zu Transportmitteln. Jeder
kennt das: Ein Rollstuhlfahrer muss erst bei der Bahn anrufen, damit er überhaupt in den ICE kann. Wir brauchen
einen besseren Zugang zu Informationen und Kommunikationsmöglichkeiten. Wir werden in der Gesundheitsversorgung viel ändern und gerade bei der Vorsorge
mehr tun.
({5})
Mir ist eines ganz besonders wichtig: Wir wollen das
Selbstbestimmungsrecht hilfebedürftiger Erwachsener
stärken. Willy Brandt hat in den 70er-Jahren von Menschen mit Behinderungen als Erster von Mitbürgern gesprochen. Warum, frage ich, dürfen Menschen mit Behinderungen, die unter voller Betreuung stehen, heute
nicht zur Wahl gehen? Diese Diskriminierung muss ein
Ende haben.
({6})
Barrierefreiheit verknüpfen wir immer mit einem
Rolli. Klar, wir wollen da sehr viel tun. Aber Barrierefreiheit fängt im Kopf an, und zwar bei uns allen. Als
Opposition kann man zwar sagen, dass die Regierung
nicht genug tut, aber zum Beispiel für einen inklusiven
Arbeitsmarkt können wir nur den Rahmen setzen. Wir
brauchen auch Arbeitgeber, die bereit sind, Menschen
mit Behinderungen einzustellen.
({7})
Barrierefreiheit hat also auch etwas mit Bildungsarbeit,
mit dem Abbau von Vorurteilen zu tun. Hierbei müssen
wir alle mithelfen.
Wenn ich von gemeinsamem Lernen und einem gemeinsamen Arbeitsmarkt rede, heißt das nicht gleichzeitig, dass es keine Werkstätten für Behinderte und keine
Sonderschulen für Kinder mit Förderbedarf geben soll.
Diese werden wir auch in der Zukunft brauchen. In diesem Punkt müssen Eltern Sicherheit haben.
({8})
Wir wollen Teilhabe statt Fürsorge. Wir wollen ein
gemeinsames Spielen, Lernen, Wohnen und Arbeiten ermöglichen. Wir tun etwas. Lassen Sie uns das auch gemeinsam mit der Opposition tun.
Herzlichen Dank.
({9})
Danke, Frau Kollegin. - Nächste Rednerin ist
Gabriele Schmidt für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Wenn man gegen Ende einer
Debatte ans Rednerpult tritt, dann ist schon viel gesagt
worden. Wir haben heute Morgen schon sehr viele wunderbare Beispiele für gelungene Inklusion, für Aktionen
im Interesse der Menschen mit Behinderungen und für
Leistungen der Menschen mit Behinderungen, zum Beispiel in Sotschi, aber auch lokal, gehört. Ich werde daher
nicht noch weitere Beispiele nennen, sondern versuchen,
das Ganze aus meiner Sicht zusammenzufassen:
Wir wollen die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention vorantreiben und den Nationalen Aktionsplan gemeinsam mit den Menschen mit Behinderungen weiterentwickeln. Die Konvention ist durch die
Ratifizierung geltendes Recht und eine wichtige Leitlinie für die Behindertenpolitik in Deutschland. Das Ziel
des Übereinkommens ist, die selbstbestimmte Teilhabe
von Menschen mit Behinderungen am politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben
in Deutschland zu fördern, Diskriminierung zu unterbinden und den Inklusionsprozess in der Gemeinschaft weiter anzustoßen und zu fördern. Es geht um Chancengleichheit in der Bildung, um berufliche Integration und
um die gesamtstaatliche Aufgabe, Menschen mit Behinderungen einen selbstbestimmten Platz in einer barrierefreien Gesellschaft zu sichern.
({0})
Dabei steht der Zugang für Menschen mit Behinderungen zu Transportmitteln, Informationen, Diensten
und Einrichtungen im Vordergrund. Wir nehmen diese
Aufgabe sehr ernst, auch wenn uns von der Opposition
manchmal etwas anderes unterstellt wird.
Gabriele Schmidt ({1})
Die UN-Behindertenrechtskonvention verpflichtet
Vertragsstaaten, politische Konzepte zur Durchführung
auszuarbeiten und umzusetzen. Genau dieser Verpflichtung ist die Bundesregierung in der Zwischenzeit mit der
Erarbeitung des Nationalen Aktionsplans nachgekommen.
({2})
Der Nationale Aktionsplan wurde 2011 beschlossen.
Er leistet unserer Überzeugung nach einen wichtigen
Beitrag zur Förderung einer gleichberechtigten Teilhabe
von den rund 7 bis 8 Millionen in Deutschland lebenden
Menschen mit Behinderung. Dieser Aktionsplan trägt
nicht nur die Handschrift der Bundesregierung, sondern,
wie wir bereits gehört haben, von Anfang an auch die von
Menschen mit Behinderung. Er umfasst über 200 Einzelmaßnahmen und hat einen Zeithorizont von zehn Jahren.
Darüber hinaus sind Länder und Kommunen dazu angehalten, eigene Aktionspläne zu erarbeiten. Das passiert
in vielgestaltiger Hinsicht; davon haben wir heute schon
gehört.
In dieser Legislaturperiode im Deutschen Bundestag
sind die Fortentwicklung und auch die Verbesserung der
Beteiligungsmöglichkeiten erklärtes Ziel. Von September 2013 bis Juni dieses Jahres wird der Nationale Aktionsplan im Auftrag des BMAS von der Prognos AG
wissenschaftlich evaluiert. Schwerpunkt dabei ist die
Beteiligung der Zivilgesellschaft. In diesem Zusammenhang sollte noch einmal der von allen Fraktionen begrüßte
Teilhabebericht der Bundesregierung über die Lebenslagen von Menschen mit Beeinträchtigungen erwähnt werden. Dieser Teilhabebericht ist im Übrigen auch von der
Fachöffentlichkeit sehr positiv aufgenommen worden.
Sie sehen also: Wir kommen unseren Verpflichtungen
nach.
Mit der Schaffung des SGB IX, des Behindertengleichstellungsgesetzes, der Gleichstellungsgesetze aller 16 Bundesländer und des am 18. August 2006 in
Kraft getretenen Allgemeinen Gleichstellungsgesetzes
wurde in den letzten zehn Jahren die Grundlage für mehr
Selbstbestimmung und Teilhabe geschaffen. Die Ergebnisse der Evaluation des Nationalen Aktionsplans und
die Erkenntnisse des Teilhabeberichts werden in die
Weiterentwicklung einfließen. Die Erkenntnisse der
Staatenprüfung werden ebenfalls Berücksichtigung finden.
Im September 2014 soll der von der Bundesregierung
eingereichte erste Staatenbericht aus dem Jahr 2011 vom
UN-Vertragsausschuss für die Rechte von Menschen mit
Behinderungen abschließend geprüft werden. Die Evaluation des Behindertengleichstellungsgesetzes und der
drei auf seiner Grundlage ergangenen Rechtsverordnungen ist ebenfalls eine Aufgabe, die sich aus dem Nationalen Aktionsplan ergibt. Dabei sollen möglicher Anpassungsbedarf und Regelungslücken aufgezeigt werden.
Die Bewertung des Gesetzes hat zum Ziel, verlässliche
Erkenntnisse darüber zu erhalten, ob alle Gruppen von
Menschen mit Behinderungen ausreichend berücksichtigt sind und ob sich die Instrumente dieses Gesetzes in
der Praxis bewährt haben. Hier geht es insbesondere um
leichte Sprache, Zielvereinbarungen und Verbandsklage.
Der Abschlussbericht soll, wie zu vernehmen ist, schon
im Mai dieses Jahres vorliegen.
Zum Schluss möchte ich noch auf die Forderung der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen nach einer Anpassung
des Behinderungsbegriffs eingehen. Wie bereits erwähnt,
ist die Konvention geltendes Recht. Diese Forderung ist
nach meiner Ansicht überflüssig und in der Sache nicht
zielführend. Denn der im SGB IX und im Behindertengleichstellungsgesetz definierte Behinderungsbegriff
stellt eben nicht nur auf gesundheitliche Funktionsbeeinträchtigungen ab, sondern er nimmt auch die Teilhabe
von Menschen mit Behinderungen am gesellschaftlichen
Leben in den Blick und entspricht somit den Anforderungen der Konvention.
({3})
Im Übrigen wird derzeit vom Arbeitsministerium im
Rahmen der bereits angesprochenen Evaluation des Behindertengleichstellungsgesetzes geprüft, ob der Begriff
angepasst werden muss. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, lassen Sie uns da bitte nicht um
Begriffe streiten, sondern in der Sache arbeiten.
Vielen Dank.
({4})
Vielen Dank, Frau Kollegin Schmidt. - Nächste Rednerin in der Debatte: Heike Baehrens für die SPD-Fraktion.
({0})
Verehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und
Herren! Hätten Sie gedacht, dass vier von fünf Arztpraxen in Deutschland nicht barrierefrei sind
({0})
und dass in nicht einmal 7 Prozent der Praxen barrierefreie Sanitärräume vorhanden sind?
({1})
Ist Ihnen bewusst, dass Ärzte und Pflegekräfte in unseren Krankenhäusern mit der Behandlung von an Demenz
erkrankten Patienten und von Menschen mit geistiger
Behinderung in der Regel überfordert sind? Menschen
mit erheblichen Behinderungen oder besonders originellem Verhalten haben oft einen komplexen Hilfebedarf.
Darauf ist unser Gesundheitswesen in der Breite noch
nicht eingestellt. Wir müssen heute ehrlich zugeben,
dass die zentrale Intention der UN-Behindertenrechtskonvention noch nicht in der Mitte unserer Gesellschaft
angekommen ist.
({2})
Recht allgemein und dennoch bestimmt formuliert
Art. 25 der Konvention:
Die Vertragsstaaten anerkennen das Recht von Menschen mit Behinderungen auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit ohne Diskriminierung …
Sehr viel konkreter wird dann Art. 26, der besagt:
Menschen mit Behinderungen sollen in die Lage versetzt
werden,
ein Höchstmaß an Unabhängigkeit … und die volle
Teilhabe an allen Aspekten des Lebens zu erreichen
… Zu diesem Zweck organisieren, stärken und erweitern die Vertragsstaaten umfassende Habilitations- und Rehabilitationsdienste und -programme,
insbesondere auf dem Gebiet der Gesundheit …
und der Sozialdienste …
Dies bleibt auch fünf Jahre nach Unterzeichnung der
Konvention Aufgabe und Herausforderung in unserem
Land.
Unüberwindbare Treppen, zu schmale Türen, ungeeignete Behandlungstische und -stühle bei Ärzten und in
Krankenhäusern markieren dabei Barrieren, die mit gutem Willen und mit recht überschaubarem Ressourceneinsatz in absehbarer Zeit beseitigt werden können.
Ärzte und andere Akteure jedenfalls hätten den als
Rechtsanspruch verankerten Sinn der UN-Konvention,
vor allem aber auch die Zeichen des demografischen
Wandels noch nicht wirklich erkannt, wenn sie diese
Missstände nicht zeitnah und konsequent beseitigen
würden.
({3})
An anderen Stellen sind dickere Bretter zu bohren. So
erleben behinderte und chronisch kranke Menschen bei
der Versorgung mit Arznei- und Hilfsmitteln fast täglich
die Diskrepanz zwischen ihrem gesetzlichen Anspruch
und der vom Kostendämpfungsbestreben beherrschten
Wirklichkeit: wenn die Zeit für den Aufbau von Vertrauen und Verstehen fehlt, wenn Assistenz nicht zur
Verfügung steht, wenn das Taschengeld nicht reicht, um
rezeptfreie Arzneimittel bezahlen zu können, wenn
Kommunikation nicht gelingt, weil man einfach nicht
die gleiche Sprache spricht. Die volle Zugänglichkeit zu
Gesundheitsleistungen wird nur dann realisiert, wenn die
noch immer in erheblichem Maße vorhandenen Kommunikationsbarrieren konsequent abgebaut werden.
({4})
Müssten nicht alle Beschäftigten im medizinischen
Bereich eine für Laien verständliche Sprache nutzen, um
so überhaupt erst eine gute Kommunikation auf Augenhöhe zu ermöglichen? Beipackzettel oder Therapieanweisungen in einfacher Sprache zu formulieren, wäre
nicht nur für Menschen mit Behinderungen ein legitimer
Anspruch; es wäre ein Gewinn für alle und ein wichtiger
Beitrag zu einer bürgernahen Gesundheitsversorgung.
({5})
Noch ein letzter Aspekt. Es gibt viele gute Angebote
und fantastische Hilfsmittel, aber die größten Hürden
sind dann zu überwinden, wenn es um die Frage geht:
Wer trägt die Kosten? Wer ist zuständig? Wo stelle ich
den Antrag? Dies bleibt auch nach fünf Jahren immer
noch eine große Aufgabe und Herausforderung. Dieser
Aufgabe sollten wir uns stellen bei den anstehenden Gesetzgebungsvorhaben, die wir uns vorgenommen haben.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Nächster Redner: Uwe
Lagosky für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! „Nichts über uns ohne uns“ steht bei uns im
Koalitionsvertrag als einfache Vorgabe für die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention. Unsere Gesellschaft können wir und wollen wir nur gemeinsam mit
den Menschen mit Behinderung inklusiv gestalten.
Das zentrale Maßnahmenpaket hierfür ist der Nationale Aktionsplan aus dem Jahr 2011. Bei ihm geht es
nicht nur darum, Mittel in mehr Barrierefreiheit zu stecken oder das Behindertengleichstellungsgesetz oder das
AGG zu ändern, wie es in den von der Fraktion Die
Linke und von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen eingebrachten Anträgen gefordert wird, sondern es geht um
viel mehr; denn die Inklusion betrifft alle Lebenslagen
und erfordert deshalb notwendigerweise einen Wandel
im Denken der Menschen insgesamt. Dieser gesellschaftliche Entwicklungsprozess wird durch unsere Vorgaben im Koalitionsvertrag sowie durch das Maßnahmenpaket im Nationalen Aktionsplan mehr als gut
flankiert.
Als letzter Redner in einer Reihe von vielen ist es mir
jetzt wichtig, einmal auf den Arbeitsmarkt zu schauen
und ihn unter dem Blick der Inklusion zu betrachten.
Wer arbeitet und sich auf diese Weise einbringt, erfährt
das Gefühl, gebraucht zu werden. Außerdem haben sowohl die berufliche Kommunikation als auch die sozialen Kontakte im Betrieb eine besondere Bedeutung für
ein erfülltes Leben.
Deshalb möchte ich an dieser Stelle auf die 3 Millionen behinderten Menschen hinweisen, die im arbeitsfähigen Alter sind. Diese Zahl steigt nach Angaben der
Bundesagentur für Arbeit in den nächsten Jahren noch.
Von ihnen waren im März 2014 ungefähr 183 000 arbeitslos. Es hat nach Verlust der Arbeit im Durchschnitt
77 Wochen gebraucht, bis ein Behinderter wieder in den
Arbeitsprozess eingegliedert werden konnte. Bei anderen Arbeitslosen beträgt diese Zeit 64 Wochen. Für arbeitslose Schwerbehinderte ist es also deutlich schwieriger, in den Arbeitsmarkt zu kommen. Kümmern wir uns
also darum, auch dieses Potenzial zu heben! Arbeiten
wir daran, dass die Schwerbehinderten vermehrt in Beschäftigung kommen!
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, sicherlich gibt es
zahlreiche Arbeitgeber, die immer noch unsicher sind,
was die Einstellung von behinderten Menschen angeht:
Fallen teure Anschaffungen an? Sind Umbauarbeiten erforderlich? Antworten auf diese Fragen liefern in unserer
Gesellschaft die Arbeitgeberservices und der Technische
Beratungsdienst der Bundesagentur für Arbeit. Sie können auch bei der finanziellen Förderung entsprechender
Maßnahmen helfen oder Kontakte zum passenden Kostenträger herstellen. In ihrem Geschäftsbericht weist die
BA übrigens 2,43 Milliarden Euro für die Förderung von
Menschen mit Behinderung aus. Dieses hohe Niveau
wird auch im aktuellen Haushaltsplan gehalten.
Nun müssen die Arbeitgeber solche Fördermaßnahmen natürlich auch kennen. Als eines der vielen positiven Beispiele möchte ich hier einmal VW nennen. Ich
habe mich vorgestern mit einem Freund unterhalten, der
in der Schwerbehindertenvertretung von VW Salzgitter
mitwirkt. Er bestätigte mir das, was ich in meiner betriebsrätlichen Arbeit bei BS|ENERGY bis zum letzten
Jahr kennengelernt habe: Es werden alle Möglichkeiten
ergriffen, damit Beschäftigte mit einer Behinderung im
Arbeitsleben bleiben können. Die Schwerbehindertenvertreter organisieren gemeinsam mit dem Betrieb Hilfestellungen an den Arbeitsplätzen. Sie führen Begehungen durch. Sie bieten Beratungsdienstleistungen an und
führen den Dialog mit den Integrationsämtern, und die
wiederum gestalten die Arbeitsplätze entsprechend mit.
Auch die Ausbildung von Menschen mit Behinderung
erfolgt samt aller erdenklichen Hilfestellungen. Entscheidend ist, dass die gesundheitlichen Grundvoraussetzungen erfüllt sind und die notwendigen Qualifikationen gegeben sind. Wir müssen mit solchen guten
Beispielen werben, damit unsere gesamte Gesellschaft
davon lernt.
({1})
Gemäß dem Koalitionsvertrag werden wir die Arbeit
der Schwerbehindertenvertretungen in Zukunft unterstützen. Unter anderem geschieht das zurzeit schon
durch die Initiative Inklusion. Diese von der Bundesregierung mit den Ländern, Kammern, Integrationsämtern,
Hauptfürsorgestellen und der BA entwickelte Initiative
soll vor allem jugendlichen Menschen mit Behinderung
den Eintritt in das reguläre Arbeitsgeschäft erleichtern.
Bis 2016 werden in diesem Programm 100 Millionen
Euro ausgegeben, die aus dem Ausgleichsfonds kommen; davon haben wir heute hier ja schon mehrfach gehört. In eine ähnliche Richtung geht eines der jüngsten
Projekte: die Inklusionsinitiative für Ausbildung und Beschäftigung. Auch diese unterstützt die Bundesregierung
mit 50 Millionen Euro aus dem Ausgleichsfonds.
Fassen wir zusammen: Der 2011 eingeführte Nationale Aktionsplan setzt bis 2020 die UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland um. Die meisten Maßnahmen wurden bis Ende der 17. Wahlperiode
angeschoben, einige sogar abgeschlossen. Die heutige
Debatte allerdings zeigt, dass wir hier noch viel zu tun
haben. Lassen Sie uns das Bundesteilhabegesetz gemeinsam auf den Weg bringen! Dafür möchte ich werben.
Herzlichen Dank.
({2})
Vielen Dank, Herr Kollege Lagosky. - Sie sind noch
nicht der letzte Redner in dieser Debatte.
Das letzte Wort hat vielmehr Dr. Martin Rosemann
für die SPD.
({0})
Frau Präsidentin! Es ist schön, hier auch einmal das
letzte Wort zu haben.
({0})
Das allerletzte Wort haben Sie nicht; das habe ich.
Aber Sie haben fast das letzte Wort.
Das allerletzte Wort haben Sie; das habe ich mir
schon gedacht. - Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich will mit einer persönlichen Bemerkung beginnen. Ich selber habe seit meiner
Geburt eine Körperbehinderung: Mein rechtes Bein ist
16 Zentimeter kürzer als das linke; an der rechten Hand
habe ich nur drei Finger. Meine Erfahrung vor allem als
Kind und Jugendlicher war immer: Ich wollte einfach
genauso mitmachen wie die anderen auch, vor allem
beim Fußball. Allen Menschen mit Behinderungen welcher Art auch immer, die ich im Laufe meines Lebens
kennengelernt habe, ging es genauso. Sie wollten keine
Sonderbehandlung, schon gar kein Mitleid,
({0})
sondern sie wollten einfach mitmachen und dabei sein
wie die anderen auch. In diesem Geist ist ja auch die
UN-Behindertenrechtskonvention verfasst. Deswegen
ist heute einfach ein guter Tag, zu sagen: Herzlichen
Glückwunsch zu fünf Jahren UN-Behindertenrechtskonvention!
({1})
Bei Geburtstagen sollte man vielleicht auch etwas
über die Väter und Mütter sagen. Deswegen will ich,
nachdem vorhin Herrn Hüppe zu Recht für seine Arbeit
gedankt und er für sie gelobt worden ist, auch derjenigen
für ihre Arbeit danken, die damals, als die UN-Behindertenrechtskonvention von Deutschland unterschrieben
wurde, die Beauftragte der Bundesregierung war, nämlich Karin Evers-Meyer.
({2})
Man muss immer noch ein bisschen weiter zurückgehen;
alles hat ja Ursachen. So will ich auch den Vater des
SGB IX, Karl Hermann Haack, nicht verschweigen.
Auch ihm möchte ich für seine Arbeit damals unter RotGrün danken.
({3})
Natürlich wissen wir alle: Bei der Umsetzung der
UN-Konvention gibt es Licht und Schatten. Deshalb ist
es aus meiner Sicht von zentraler Bedeutung, dass sich
die Große Koalition eine umfassendere Reform der Eingliederungshilfe im Rahmen des Bundesteilhabegesetzes
vorgenommen hat. Das ist eines der wichtigsten und
größten Projekte in dieser Legislaturperiode. Technisch
geht es nur darum, das Bundesteilhabegesetz im SGB IX
als eigenständigen Leistungsbereich zu verankern. Es
geht also um nichts weiter als die Umsetzung der UNBehindertenrechtskonvention in ein bundesdeutsches
Teilhaberecht. In Wirklichkeit geht es dabei aber um
nicht weniger als eine völlig neue Ausrichtung der Politik für behinderte Menschen, nämlich von der Fürsorge
zur Teilhabe.
({4})
Das verlangt von vielen ein völliges Umdenken, ein
neues Denken nach dem Motto: Behindert ist man nicht,
behindert wird man. - Besonders wichtig ist mir wie
auch vielen, die vor mir gesprochen haben, die Teilhabe
von behinderten Menschen am ersten Arbeitsmarkt. Dafür braucht es mehr Durchlässigkeit. Das bedeutet für
mich aber auch, auf all diejenigen Regelungen kritisch
zu schauen, die bisher eine Beschäftigung am ersten Arbeitsmarkt gegenüber einer Beschäftigung in einer
Werkstatt für behinderte Menschen diskriminieren.
Ich habe in meinem Wahlkreis ein Projekt, bei dem
sich Leute darum bemühen, Beschäftigungsverhältnisse
am ersten Arbeitsmarkt für schwerbehinderte Menschen
zu schaffen.
({5})
Das ist in der Praxis mit großem Aufwand verbunden: Es
geht darum, geeignete Stellen zu finden; es geht darum,
Stellen entsprechend auszugestalten; es geht darum, die
Menschen in dieser Beschäftigung auch immer weiter zu
begleiten. Dafür stehen bisher noch nicht ausreichend
Instrumente zur Verfügung.
Meine Damen und Herren, beim Bundesteilhabegesetz muss aus meiner Sicht gelten: Gründlichkeit geht
vor Schnelligkeit.
({6})
Das BMAS geht dieses Projekt rechtzeitig an, damit es
mit der notwendigen Gründlichkeit vorangetrieben werden kann, und die SPD-Bundestagsfraktion begleitet diesen Prozess auch mit einer eigenen Arbeitsgruppe und
bringt, gemeinsam mit unserem Koalitionspartner, Vorschläge ein. Für uns - ich will das für die SPD-Fraktion
noch einmal ganz deutlich sagen - ist zentral, dass das
Bundesteilhabegesetz im Jahr 2016 verabschiedet wird,
({7})
dass es im Jahr 2017 in Kraft tritt und dass die Entlastungswirkungen für die Kommunen bereits im Jahr 2017
beginnen.
({8})
Ebenso zentral ist für uns, dass bereits der Prozess der
Entwicklung dieses Bundesteilhabegesetzes inklusiv
sein muss. Das bedeutet: von Beginn an Beteiligung der
Behindertenverbände, und nicht nur der großen Verbände, sondern auch Beteiligung von Selbsthilfegruppen, von Angehörigenvertretungen und von den Menschen mit Behinderungen selbst. Es darf keine Änderung
über die Köpfe der Betroffenen hinweg geben. Hier
fängt die Inklusion an, meine Damen und Herren!
({9})
Letzter Satz, Frau Präsidentin: Ich meine, dass wir
mit Andrea Nahles und Verena Bentele die beiden richtigen Frauen an der Spitze dieses Prozesses haben. Ich
weiß, beiden ist dies ein Herzensanliegen, ebenso uns als
SPD-Bundestagsfraktion. Wir freuen uns darauf.
Herzlichen Dank.
({10})
Danke, Herr Kollege. - Damit schließe ich die Debatte.
Ich bedanke mich bei allen; denn es wurde, wie ich
glaube, heute sehr deutlich: Dies ist nicht nur das Anliegen der SPD-Fraktion. Ich hoffe, dass die Gäste auf den
Tribünen gemerkt haben, dass dieses Parlament auch der
Ort für leidenschaftliche Debatten sein kann und ist, Debatten, in denen man zeigt, dass man das Gemeinsame in
den Vordergrund stellen will und nicht das Trennende.
Nicht nur heute Morgen bei der Debatte zum Völkermord in Ruanda, sondern auch jetzt konnte man merken,
dass hier auch Herzenswärme und Intelligenz zu Hause
ist. Vielen Dank für diese intensive Diskussion!
({0})
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/977 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
({1})
- Ich darf kurz noch einmal um Ihre Aufmerksamkeit
bitten.
Die Vorlage auf Drucksache 18/972 soll ebenfalls an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden. Dabei ist die Federführung aber strittig.
Die Fraktionen der CDU/CSU und SPD wünschen Federführung beim Ausschuss für Umwelt, Naturschutz,
Bau und Reaktorsicherheit. Die Fraktion Die Linke
Vizepräsidentin Claudia Roth
wünscht Federführung beim Ausschuss für Arbeit und
Soziales. Deswegen müssen wir jetzt darüber abstimmen.
Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
Fraktion Die Linke abstimmen, also Federführung beim
Ausschuss für Arbeit und Soziales. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Der Überweisungsvorschlag ist bei
Zustimmung der Linken und Ablehnung durch CDU/
CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU und SPD abstimmen, also Federführung beim Ausschuss für Umwelt, Naturschutz,
Bau und Reaktorsicherheit. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der Überweisungsvorschlag mit
den Stimmen von CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die
Grünen bei Ablehnung durch die Linken angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 3 auf:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte
am maritimen Begleitschutz bei der Hydrolyse syrischer Chemiewaffen an Bord der
CAPE RAY im Rahmen der gemeinsamen
VN/OVCW-Mission zur Vernichtung der syrischen Chemiewaffen
Drucksache 18/984
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({2})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsauschuss gemäß § 96 der GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre und
sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen.
({3})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Die Bundesregierung wendet sich heute
mit der Bitte an Sie, der Entsendung einer Fregatte zur
Absicherung der gemeinsamen Mission der Vereinten
Nationen und der Organisation für das Verbot chemischer Waffen zur Vernichtung von syrischen Chemiewaffen zuzustimmen.
Uns allen ist der dramatische und tragische Hintergrund dieser Mission klar: In Syrien tobt seit drei Jahren
ein Bürgerkrieg. Wahrscheinlich sind schon über
100 000 Menschen getötet worden. Millionen Menschen
sind auf der Flucht. Immer wieder kommt es zu grauenhaften Verbrechen.
Ein unfassbares Ausmaß an Grauen hatte aber das
Verbrechen, das am 21. August 2013 stattfand, als das
Regime Chemiewaffen gegen die eigene Bevölkerung
gerichtet hat.
({0})
Das war eine Stufe der Barbarei, die wir auf das Allerschärfste verurteilen.
({1})
Frau Ministerin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Jan van Aken?
Ja.
Gut.
Frau von der Leyen, Sie haben gerade gesagt, dass
das Regime am 21. August 2013 diese Chemiewaffen
eingesetzt hat. Die Vereinten Nationen sagen nichts
dazu, wer sie eingesetzt hat. Sie sagen ausdrücklich: Es
kann nicht festgestellt werden, wer sie eingesetzt hat. Das einzig Konkrete, was sie dazu sagen, ist: Es ist sehr
wahrscheinlich, dass es Chemiewaffen aus den Beständen der syrischen Armee waren, es ist aber völlig unklar,
ob möglicherweise Rebellen diese Waffen eingesetzt haben, nachdem sie sie erobert hatten, oder Assad-Truppen
selbst.
Da Sie gerade eben gesagt haben, es sei das Regime
gewesen, frage ich Sie: Können Sie kurz darstellen, auf
welche Quellen Sie diese Aussage fußen?
Auf genau den Quellen, die Sie eben zitiert haben,
nämlich dass es Chemiewaffen aus den Lagern des Regimes waren.
({0})
Genau das haben Sie eben angeführt. Ich glaube, einen
Grabenkrieg darum zu führen, wer diese Chemiewaffen
eingesetzt hat, bringt nichts. Alle Hinweise deuten darauf, dass es so ist, wie wir das gesagt haben.
({1})
Darüber aber, dass das eine Barbarei gegen die Bevölkerung in Damaskus gewesen ist, besteht in diesem Hohen
Haus wohl Einigkeit.
({2})
Hunderte von Menschen sind durch diese Angriffe
ums Leben gekommen, Hunderte von Kindern und Frauen.
Menschen mit schwersten Verletzungen und VergiftunBundesministerin Dr. Ursula von der Leyen
gen sind in Krankenhäuser eingeliefert worden. Es hat
die Grenzen unserer Vorstellungskraft schier überschritten, als wir gesehen haben, wozu Menschen beim Einsatz von Chemiewaffen fähig sind. Deshalb sind wir
heute alle aufgerufen, diese chemischen Waffen nicht
nur zu ächten, sondern mit aller Kraft dabei zu helfen,
sie auch zu vernichten.
({3})
Die Weltgemeinschaft hat diesen Angriff nicht nur
verurteilt, sondern sie hat auch gehandelt, und zwar geschlossen und gemeinsam. Jetzt geht es darum, dass wir
konkret werden, dass wir alle dazu stehen, was wir gemeinsam beschlossen haben. Für diesen Einsatz ist das
amerikanische Spezialschiff „Cape Ray“ vorgesehen,
das in der Lage ist, auf hoher See eine Hydrolyse dieser
chemischen Kampfstoffe durchzuführen. Nach der Hydrolyse entsprechen die chemischen Kampfstoffe handelsüblichen Chemieabfällen gewerblicher Art. Dieses
Verfahren läuft über mehrere Wochen und Monate auf
hoher See. Dabei muss die „Cape Ray“ geschützt werden. Die Gefährdungslage im Mittelmeer ist zwar gering, aber die Symbolkraft dieses Schiffes ist hoch.
Uns ist wichtig, dass im Rahmen der Resolution 2118
des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen nicht nur die
Beseitigung der Chemiewaffen verbindlich gefordert
wird, sondern auch die Unterstützung dieser Mission.
Deshalb wollen wir nicht nur eine Fregatte entsenden,
sondern wir bieten auch Verbrennungskapazitäten für die
Abfälle, Laborfähigkeiten und finanzielle Unterstützung
an.
Meine Damen und Herren, in diesem Zusammenhang
ein Wort zu dieser Mission, die eigentlich zusammen mit
Russland durchgeführt werden sollte. Nach diesem
schrecklichen Verbrechen in Syrien wurde zwischen den
USA und Russland eine Rahmenvereinbarung getroffen.
Auf dieser Basis ist die gemeinsame Resolution des UNSicherheitsrates entstanden. Ursprüngliche Idee war es,
dass der Begleitschutz der „Cape Ray“ als gemeinsame
Operation der NATO und Russlands durchgeführt wird.
Angesichts des russischen Vorgehens auf der Krim hat
die NATO die militärische Kooperation mit Russland
ausgesetzt. Ich finde, das ist verständlich.
({4})
Bei dieser gemeinsamen Mission unter dem Dach der
Vereinten Nationen und der OVCW geht es auch darum,
sicherzustellen, dass sich die Stärke des Völkerrechts gegen das brutale Recht des Stärkeren in Syrien durchsetzt.
({5})
Ursprünglich hat Russland am Zustandekommen dieser
Resolution mitgewirkt. Das heißt, es teilt unser Interesse, dass auf Basis des Völkerrechts diese syrischen
Chemiewaffen vernichtet werden. Vor diesem Hintergrund finde ich es wichtig - das ist unser aller Hoffnung -, dass sich Russland darauf besinnt, dass auch in
anderen Regionen der Welt das Völkerrecht voll und
ganz zu respektieren ist.
({6})
Wenn dies wieder der Fall sein sollte, dann, so hoffe ich,
wird auch wieder ein gemeinsames Vorgehen von NATO
und Russland möglich sein.
Zwei Gedanken möchte ich noch mit Ihnen teilen. Die
Krim-Krise bindet zurzeit fast die gesamte Aufmerksamkeit. Aber der Bürgerkrieg in Syrien tobt immer weiter,
und die Weltgemeinschaft hat noch immer keine Lösung
für diesen Konflikt gefunden. Bei aller Notwendigkeit
der Konzentration auf die Krim-Krise dürfen wir das
Elend der syrischen Bevölkerung nicht vergessen und
unsere Aufmerksamkeit nicht von Syrien abwenden.
Hier muss gemeinsam mit der Weltgemeinschaft eine
Lösung gefunden werden.
({7})
Wir haben jetzt die Chance, unseren Beitrag zu den
Abrüstungsbemühungen der Weltgemeinschaft zu erbringen. Ich hoffe, dass das ganze Hohe Haus - das sage
ich bewusst mit Blick auf die Linke - dieses Mandat unterstützt; denn ich finde: Wer in seiner Forderung nach
Abrüstung glaubwürdig bleiben will, der darf sich dann
bei der praktischen Umsetzung dem auch nicht verschließen.
Vielen Dank.
({8})
Vielen Dank, Frau Ministerin. - Das Wort hat
Christine Buchholz für die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Heute
geht es um syrische Chemiewaffen. Woher kommt das
Giftgas eigentlich? Zwischen 1982 und 1993 waren
deutsche Firmen an der Lieferung von Material für syrische Giftgasfabriken beteiligt.
({0})
Die Organisation für das Verbot chemischer Waffen
übermittelte kürzlich 50 Namen der beteiligten deutschen Firmen. Doch die Bundesregierung weigert sich,
die Namen der Firmen bekannt zu geben.
({1})
Es geht noch weiter: Deutsche Firmen haben zwischen 1998 und 2011 350 Tonnen an chemischen Substanzen, aus denen Giftgas hergestellt werden kann - sogenannte Dual-Use-Substanzen - an das Assad-Regime
geliefert. Die Bundesregierung wiegelt auch in diesem
Punkt ab.
Nun geht es endlich um die Zerstörung von Chemiewaffen.
({2})
Die Linke begrüßt, dass die Vernichtung der Reste des
syrischen Giftgases in Deutschland erfolgen soll.
({3})
Sie wären durchaus glaubwürdiger, Frau von der Leyen,
wenn Sie die Exporte von chemiewaffenfähigem Material an Länder, die die Chemiewaffenkonvention nicht
unterzeichnet haben, unverzüglich stoppen würden.
({4})
In der heutigen Debatte geht es um ein Mandat für
den Einsatz eines Kriegsschiffes der Marine. Es soll sich
am Schutz des US-Marineschiffes „Cape Ray“ im Mittelmeer vor Italien beteiligen. Auf diesem Schiff findet
die erste Stufe der Vernichtung des syrischen Giftgases,
die sogenannte Hydrolyse, statt.
Ursprünglich hieß es, es handele sich um einen Einsatz im Rahmen des NATO-Russland-Rates. Dann
wurde die Kooperation mit Russland seitens der NATO
aufgekündigt - wegen der Krim-Krise. Ich glaube nicht,
dass das das ganze Verfahren sicherer gemacht hat.
({5})
Jetzt haben wir eine Mission, die unter dem Kommando der USA steht. Auch der Mandatstext zeigt, dass
es sich vor allem um eine US- und NATO-Operation
handelt.
({6})
Dazu gibt es noch Fragen: Warum beispielsweise werden als Operationsgebiet das Mittelmeer und der Nordatlantik plus angrenzende Seegebiete ausgewiesen? Bisher
hieß es, die deutsche Fregatte soll die „Cape Ray“ nur
auf ihrem kurzen Weg von dem italienischen Hafen
Gioia Tauro in internationale Gewässer vor der italienischen Küste begleiten. Meine Damen und Herren, das
Vorgehen der Regierung macht misstrauisch.
({7})
Hinzu kommt, dass, wie wir wissen, der Hydrolyseprozess auf der „Cape Ray“ bereits durch eine US-Spezialeinheit an Bord und einen inneren Ring aus USKriegsschiffen geschützt wird. Darum soll ein Ring aus
Kriegsschiffen verschiedener anderer Staaten gelegt
werden, darunter die Fregatte „Augsburg“.
Ich meine, es handelt sich beim Einsatz dieser Fregatte - auch militärisch - vor allem um eine symbolische
Aktion. Doch die entscheidende Frage ist: ein Symbol
für was?
({8})
Die Antwort liegt auf der Hand: für die neue außenpolitische Strategie der Bundesregierung.
({9})
Sie schicken die Bundeswehr in mehr internationale Einsätze und nennen das Bündnistreue. Sie wollen ihre militärischen Fähigkeiten ausbauen und testen, und Sie wollen die Öffentlichkeit daran gewöhnen; denn noch
immer lehnen drei Viertel der Bevölkerung die Auslandseinsätze der Bundeswehr ab.
({10})
- Nun regen Sie sich aber nicht auf! Sie haben gestern
einen weiteren Bundeswehreinsatz, nämlich den in Somalia, beschlossen,
({11})
und Sie wollen nächste Woche nicht nur die Entsendung
der Fregatte ins Mittelmeer beschließen, sondern auch
noch einen neuen Einsatz in der Zentralafrikanischen
Republik. Ohne uns!
({12})
Meine Damen und Herren, meine Fraktion diskutiert
das vorliegende Mandat noch.
({13})
Mir persönlich ist noch kein Argument bekannt geworden, das mich bewegen könnte, meine Absicht, mit Nein
zu stimmen, zu ändern.
Ich fasse zusammen: Erstens. Es ist gut, dass die Vernichtung der Reste des syrischen Giftgases in Deutschland erfolgen soll.
({14})
Zweitens. Statt die Bundeswehr in den nächsten Einsatz zu schicken, sollten Sie Ihren Beitrag zur Abrüstung
leisten.
({15})
Klären Sie endlich die Beteiligung von deutschen Firmen an der Lieferung von Material und Substanzen für
die syrischen Giftgasfabriken auf!
({16})
Stoppen Sie die Lieferung von solchen Chemikalien an
die fünf Länder, die keine Vertragsstaaten der Chemiewaffenkonvention sind!
({17})
Nur so wird glaubwürdig garantiert, dass Chemiewaffen
nicht ihre tödliche Bestimmung finden: weder in Syrien
noch irgendwo sonst auf der Welt.
({18})
Danke, Frau Kollegin. - Nächster Redner ist Staatsminister Michael Roth.
({0})
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es dürfte neben der Ukraine derzeit keine Krisenregion weltweit geben, die uns derart aufwühlt wie
Syrien, ja, gelegentlich fassungslos macht angesichts
dessen, was Menschen dort zu erleiden haben, was ein
Regime, eine Diktatur, Bürgerinnen und Bürgern des eigenen Landes antut.
Sie werden sich vielleicht noch an die letzte Rede von
Außenminister Frank-Walter Steinmeier zu Syrien hier
im Deutschen Bundestag erinnern. Wir standen damals
kurz vor Beginn der Genfer Friedensverhandlungen. Ich
gebe zu: Wir waren damals nicht sonderlich optimistisch, aber wir haben eine Chance für einen politischen
Prozess gesehen, der endlich das furchtbare Leid der
Menschen in Syrien beenden oder doch zumindest die
brutale Gewalt verringern würde. Diese Chance wollten
wir gemeinsam mit unseren Partnern nutzen.
Wir haben auch bei den Oppositionellen in Syrien
- ob sie nun bewaffnet oder unbewaffnet sind - entschieden dafür geworben, dass sie diese Chance zum Frieden
ergreifen. In Genf haben die Vertreter der Nationalen
Koalition dann auch - das muss man sagen - sehr konstruktiv mitverhandelt. Es war aber wieder einmal das
Assad-Regime, das den Prozess missbraucht hat, um
Zeit zu gewinnen.
({0})
- Wenn Sie mir, liebe Vertreter der Linkspartei, schon
nicht glauben wollen: Ich zitiere hier den Sondergesandten der Vereinten Nationen und der Arabischen Liga,
Lakhdar Brahimi. Der hat dies nämlich sehr deutlich formuliert. Er als Vertreter der Arabischen Liga und der
Vereinten Nationen - nicht die Bundesregierung und auch
nicht Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier hat zum Ausdruck gebracht, er werde so lange keine
dritte Gesprächsrunde einberufen, bis er sicher sein könne,
dass die Regierungsseite ernsthaft verhandele. Wir müssen
hier die Verantwortung schon klar und deutlich benennen.
({1})
Leider deutet derzeit wenig darauf hin, dass Assad
sich kompromissbereit zeigen wird. Im Gegenteil: Er bereitet seine Wiederwahl auf Grundlage einer pseudodemokratischen Gesetzgebung vor, die praktisch keine Gegenkandidaten zulässt, und er setzt ganz offenbar darauf,
eine Entscheidung auf dem Schlachtfeld zu suchen. Der
Diktator setzt die Vernichtung seines eigenen Volkes
kaltblütig fort.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine militärische
Lösung des Syrien-Konflikts kann und darf es nicht geben. Der Versuch, einen Sieg zu erzwingen, würde die
Spirale der Gewalt noch weiter drehen und noch mehr
Menschenleben fordern. Eine solche Politik ist verantwortungslos und menschenverachtend. Ich will noch
einmal in Erinnerung rufen: Assads Regime, die Armee
hat ganze Stadtteile ausgehungert und in die Kapitulation gezwungen. Assad lässt Wohnviertel bombardieren.
Alleine aus Aleppo ist wegen dieser grausamen Kriegsführung seit Beginn des Krieges eine halbe Million Menschen geflohen. Die Regierung behindert konsequent
den humanitären Zugang in solche Gegenden des Landes, in denen sie eine oppositionelle Gesinnung vermutet.
Wie Sie alle wissen, schreckt das Assad-Regime auch
nicht davor zurück, Giftgas gegen die Zivilbevölkerung
einzusetzen; Frau Bundesministerin von der Leyen hat
dies eben geschildert. Über 1 400 Menschen starben am
21. August des vergangenen Jahres bei den Giftgasangriffen auf die Vororte von Damaskus. Eine Untersuchung der Vereinten Nationen, liebe Kolleginnen und
Kollegen der Linkspartei, hat ergeben, dass industriell
gefertigte Kampfstoffe aus einem groß angelegten Chemiewaffenprogramm zum Einsatz gekommen sind. Die
Bundesregierung ist damals zu der Einschätzung gekommen, dass als Täter nur die syrische Armee infrage
kommt.
({2})
An dieser Einschätzung, die unsere engsten Verbündeten
teilen, hat sich nichts geändert.
({3})
Lassen Sie mich noch einmal in Erinnerung rufen:
Derzeit sind innerhalb Syriens fast 6 Millionen Flüchtlinge unterwegs. In den Nachbarländern gibt es 2,6 Millionen Flüchtlinge, die zum Teil unter kaum zumutbaren
Bedingungen leben müssen. Die Auswirkungen dieses
Bürgerkriegs sind also nicht nur in Syrien selbst auf das
Schmerzhafteste zu spüren. Vielmehr ist die gesamte Region in einem mehr als fragilen Zustand. Sie ist schwersten Belastungen ausgesetzt. Eine weitere Eskalation der
Gewalt in Syrien droht die konfessionellen Spannungen
zwischen Sunniten, Schiiten und Christen in der ganzen
Region anzuheizen. Hier sitzen viele versierte Außenpolitikerinnen und Außenpolitiker, die sich seit Jahren mit
diesem Thema befassen und die wissen, welche Sprengkraft diese Region birgt. Wir müssen alles dafür tun, um
die Deeskalation voranzutreiben. Aber es gibt nur sehr
wenige Hoffnungszeichen.
Die Stabilität der Nachbarländer, insbesondere des Libanon und des Irak, würde in erheblichem Maße gefährdet, wenn wir jetzt nicht endlich zu einer Stabilisierung
Syriens kommen.
({4})
Auch in der Türkei sind rund 850 000 Flüchtlinge untergekommen.
({5})
Ich werde mich persönlich in Bälde über die Zustände in
den türkischen Flüchtlingslagern informieren.
Die Bundesregierung setzt sich weiterhin intensiv für
eine friedliche Beendigung des Konflikts in Syrien ein.
Kollege Roth, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung der Kollegin Hänsel?
Bitte.
Danke schön. - Herr Staatsminister, Sie haben über
den Konflikt und den grausamen Krieg in Syrien gesprochen. Aber ich vermisse von Ihnen einen Satz über die
massive Unterstützung, insbesondere durch Waffenlieferungen, für Rebellen, fundamentalistische Gruppen,
Dschihadisten und Terroristen vonseiten Saudi-Arabiens
in Zusammenarbeit mit den USA. Es ist doch genauso
ein Verbrechen, schweres Gerät an die genannten Gruppen zu liefern, die diesen Bürgerkrieg anheizen. Dazu
habe ich von Ihnen bisher kein einziges Wort in der Darstellung dieses Krieges gehört.
Mich interessiert Ihre Meinung zu dem veröffentlichten YouTube-Video, aus dem hervorgeht, dass Personen
im türkischen Außenministerium über einen möglichen
fingierten Angriff von syrischer Seite nachgedacht haben, und das im Hinblick darauf, dass Bundeswehrsoldaten in der Türkei stationiert sind, die jederzeit in einen
solchen Konflikt hineingezogen werden können.
Das sind für mich brennende Fragen. Darauf hätte ich
von Ihnen gerne eine Antwort.
({0})
Sehr verehrte Frau Kollegin, was mich eher verstört,
ist, dass Ihnen kein noch so hanebüchenes Argument
recht ist, um Gründe dafür zu finden, diesen Einsatz zu
verhindern bzw. abzulehnen, obwohl er konkret dazu
beiträgt, Chemiewaffen zu vernichten. Das ist der Auftrag. Darüber diskutieren wir heute im Deutschen Bundestag.
({0})
Selbstverständlich haben wir auch gegenüber den
Verantwortlichen der Türkei deutliche Worte gefunden
und darauf hingewiesen, dass das bisherige Mandat der
NATO ausschließlich auf Selbstverteidigung und Unterstützung der Verteidigung der Türkei ausgerichtet ist. Sie
müssen aber auch zur Kenntnis nehmen, dass die Türkei
bislang 72 Zivilisten aufgrund von Angriffen Syriens
verloren hat. In der Türkei sind derzeit - darauf habe ich
bereits hingewiesen - über 800 000 Flüchtlinge aus Syrien untergebracht. Trotz dieser dramatischen Lage hat
sich das NATO-Mitglied Türkei verantwortungsbewusst
und besonnen verhalten. Der Bundestag kann sich darauf
verlassen, dass wir weiterhin in allen unseren Gesprächen mit den türkischen Verantwortlichen darauf hinweisen, dass wir vom NATO-Mitglied Türkei, sollte denn
eine Änderung der bisherigen Strategie vorgesehen sein,
eine zeitnahe Aufnahme von Gesprächen mit den
NATO-Bündnispartnern erwarten. Die bisherigen Gespräche haben nicht erkennen lassen, dass die Türkei gewillt ist, ihr verantwortungsbewusstes und besonnenes
Verhalten aufzugeben. Das müssen wir auch in dieser
Hinsicht erst einmal würdigen, liebe Kolleginnen und
Kollegen.
({1})
Wir müssen aber auch realistisch sein. Ich möchte
noch einmal an dem Punkt anknüpfen, den ich vorhin
zum Ausdruck gebracht habe. Wann der Wiedereinstieg
in Friedensverhandlungen gelingen kann, ist derzeit
überhaupt nicht absehbar. Das heißt aber doch nicht,
dass wir zur Untätigkeit verdammt sind - ganz im Gegenteil. Deshalb setzen wir uns direkt und unmittelbar
für diejenigen ein, die unter den Grausamkeiten des
Kriegs leiden.
Seit Beginn der Krise in Syrien im Jahr 2011 hat die
Bundesregierung für die Bewältigung der politischen
und humanitären Katastrophe fast 500 Millionen Euro
bereitgestellt. Unsere Hilfe dient insbesondere den Menschen, die innerhalb Syriens vor den Kampfhandlungen
fliehen mussten. Sie werden mit Lebensmitteln und Medikamenten versorgt. Flüchtlinge, die über die Grenze in
den benachbarten Libanon geflohen sind, erhalten dort
Versorgung und eine Unterkunft. Aber täglich steigt die
Zahl derer, die auf humanitäre Hilfe angewiesen sind.
Daher wollen wir dieses humanitäre Engagement intensiv weiterführen und möglichst ausbauen.
Insofern bitte ich Sie heute bei dieser Gelegenheit,
liebe Kolleginnen und Kollegen, um Unterstützung.
Ohne weitere finanzielle Unterstützung - dazu brauchen
wir das Ja des Deutschen Bundestages - werden wir die
humanitären Hilfsleistungen leider nicht ausbauen können. Ich wäre sehr daran interessiert, wenn sich wirklich
alle Fraktionen bereit erklären könnten, uns in unserem
Bemühen, die humanitären Hilfsleistungen auszubauen,
zu unterstützen.
({2})
Wir beschränken uns aber auch nicht darauf, die humanitären Folgen des Bürgerkriegs zu lindern. Wir wollen auch verhindern, dass es erneut zu Gräueltaten gegen
die syrische Bevölkerung kommt. Deshalb beteiligt sich
die Bundesregierung an dem Programm zur Vernichtung
der syrischen Chemiewaffen. Wir wollen den abermaligen Einsatz dieser Waffen verhindern. Aber auch das ist
kein einfacher Prozess. Das Assad-Regime hat nach
Monaten des Verzögerns im März einige Teile seines
Giftgases außer Landes transportiert. Die Bundesregierung drängt zusammen mit ihren Verbündeten, vor allem
den USA, auf diplomatischem Wege auf einen zügigen
und vollständigen Abtransport der Chemiewaffen; denn
Deutschland hat ein hohes Interesse daran, dieses beispiellose Abrüstungsvorhaben erfolgreich und fristgerecht abzuschließen. Wir haben das notwendige Knowhow und die notwendigen Kapazitäten, um uns entschieden und substanziell einzubringen.
In den vergangenen Monaten haben wir bereits Verantwortung übernommen. Wir haben umfangreiche logistische und finanzielle Unterstützung für die Organisation für das Verbot chemischer Waffen, die OVCW,
geleistet. Wir haben darüber hinaus angeboten, Abbaustoffe aus den zerstörten syrischen Chemiewaffen sicher
und umweltverträglich in einer Spezialanlage im niedersächsischen Munster zu entsorgen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Resolution 2118
des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen ruft die
Weltgemeinschaft auf, die Vereinten Nationen und die
Organisation für das Verbot chemischer Waffen bei der
Vernichtung der syrischen Chemiewaffen zu unterstützen. Die USA beabsichtigen, die gefährlichsten syrischen Chemiewaffen auf einem speziell umgerüsteten
US-Schiff zu neutralisieren. Wir wollen einen weiteren
Beitrag leisten. Eine Fregatte der deutschen Marine soll
sich an dieser multinationalen Begleitschutzoperation
beteiligen.
Kollege Roth, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Ströbele?
Bitte.
Danke, Herr Kollege Roth, dass Sie mir die Gelegenheit geben, auf einen Punkt hinzuweisen. - Sie sagen,
dass die UNO alle Nationen aufgefordert hat, bei der Beseitigung dieses Giftgases zu helfen. Wieso schließen
Sie plötzlich Russland von der Beteiligung an dieser Aktion zur Beseitigung der Chemiewaffen aus? Ich denke,
dies ist ein Erziehungsversuch gegenüber Russland, ein
Versuch am falschen Objekt. Hier passt es überhaupt
nicht. Wenn es wirklich um eine Aktion geht nach dem
Motto „Schwerter zu Pflugscharen“ - hier vielleicht
„Giftgas zu Frischluft“, wie auch immer man dies bezeichnen will -, dann muss man auch konsequent sein
und muss jeden willkommen heißen, der dabei mitwirkt.
Man kann nicht den einen oder anderen aus ganz anderen politischen Gründen ausschließen.
({0})
Herr Kollege Ströbele, lassen Sie mich zunächst darauf hinweisen, dass sich eine Reihe von NATO- und
Nicht-NATO-Staaten am Begleitschutz für das USSchiff beteiligen: Belgien, Frankreich, Finnland, Griechenland, Großbritannien, Italien, Kroatien, Portugal,
die Türkei. Sie wissen genau, dass es dazu derzeit gar
keine Bereitschaft Russlands gibt. Die Russen sind daran
nicht beteiligt.
({0})
Darüber hinaus wurde aus dem NATO-RusslandEngagement - der NATO-Russland-Rat ist jetzt suspendiert worden; das wissen Sie ganz genau, Sie kennen
auch die Gründe - ein multinationaler Einsatz gemacht.
Alle Staaten, die dazu bereit sind, wurden eingeladen,
sich an diesem Engagement zu beteiligen. Kollege
Ströbele, wir schließen niemanden aus, aber die Zusammenarbeit zwischen der NATO und Russland in dem entsprechenden Rat ist suspendiert. Sie sollten also keine
Vermutungen darüber anstellen, dass wir jemanden ausschließen wollen. Wir wollen diesen Einsatz zu einem
erfolgreichen Abschluss bringen.
Ursprünglich war das - ich will das noch einmal erläutern, Herr Kollege Ströbele - eine gemeinsame Operation der NATO und der Russischen Föderation. Wir
hätten eine solche gemeinsame Operation sehr begrüßt.
Aber vor dem Hintergrund des völkerrechtswidrigen
Vorgehens Russlands in der Ukraine - auch Sie haben
die aktuellen Entwicklungen zur Kenntnis nehmen müssen - ist ein solcher gemeinsamer Einsatz nun nicht
mehr möglich. Die Tür ist aber prinzipiell offen für alle
Teilnehmer weit über den NATO-Rahmen hinaus; ich
habe Ihnen eben eine Reihe von Staaten genannt, die
hier engagiert sind.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir würden mit diesem Einsatz einmal mehr unsere Verlässlichkeit als Partner demonstrieren, eine bislang beispiellose Abrüstungsmaßnahme unterstützen, und nicht zuletzt dabei helfen,
das syrische Volk vor der Armee des Diktators Assad zu
schützen. Im Namen der Bundesregierung bitte ich Sie
deshalb um Ihre Zustimmung zu diesem Mandat.
Vielen Dank.
({1})
Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Gehrcke
das Wort.
Herr Staatsminister, ich möchte Ihre Argumente gerne
verstehen; denn bei besseren Argumenten würde ich
meine Meinung möglicherweise ändern. Ich verstehe es
aber einfach nicht: Wenn es nun so war, dass Russland
zu der Aktion der Vernichtung der Chemiewaffen - das
ist, wie Sie zu Recht sagen, eine Abrüstungsaktion - gebracht worden ist, vielleicht sogar unter dem Druck der
Weltgemeinschaft oder aus eigenen Motiven, warum ist
Russland dann vor Vollendung dieser Aktion über die
Suspendierung des NATO-Russland-Rats rausgeschmissen worden? Wenn Sie der Auffassung sind, dass Völkerrechtsfragen thematisiert werden müssen, dann müssten Sie auch darauf bestehen, dass Russland so weit wie
möglich in diese Aktion einbezogen wird. Deswegen
kann ich Ihre Position nicht nachvollziehen. Ich würde
dies aber gerne tun. Straft man Russland damit, wenn
man es daran hindert, in vollem Umfang an der Aktion,
die Sie über den NATO-Russland-Rat zugesagt haben,
mitzuwirken, und dieses Übereinkommen aufkündet? Ist
das wirklich eine angemessene und sinnvolle Strafe?
Kollege Roth, Sie haben, wenn Sie das wünschen, die
Möglichkeit, zu erwidern.
({0})
Vielen Dank. - Zu Beginn bitte ich Sie darum, auch
sprachlich abzurüsten.
Die Kurzintervention des Kollegen Gehrcke gibt mir
Gelegenheit, auf folgenden Punkt hinzuweisen: Angesichts der derzeitigen Aktivitäten Russlands von einer
Abstrafaktion zu sprechen, das entbehrt wirklich jeder
Grundlage und macht - sehen Sie mir diesen flapsigen
Begriff nach - den Bock zum Gärtner. Ich finde es unkollegial und merkwürdig, dass Sie hier mit einer so einseitigen Argumentation eines versuchen: Ihnen ist kein
Argument zu schade und zu schlecht, um die fraktionsübergreifende Einmütigkeit, dass es sich hierbei um einen substanziellen Beitrag zur Vernichtung von Chemiewaffen handelt, infrage zu stellen.
({0})
Es handelt sich hierbei auch um einen Beitrag, eine
Krisenregion, in der es zu schlimmsten Menschenrechtsverletzungen kommt, halbwegs zu stabilisieren. Wir befinden uns hier doch in einer internationalen Staatengemeinschaft, die sich sehen lassen kann.
Ich will noch einen allerletzten Punkt benennen, weil
Sie ja auf die Verantwortung Russlands hingewiesen haben. Die militärische Absicherung innerhalb der syrischen Territorialgewässer wurde bisher ausschließlich
von Russland übernommen.
({1})
Der russische Kreuzer - das wissen Sie sicherlich auch befindet sich aber derzeit zu Wartungsarbeiten in Zypern. Weil sich Russland zurückgezogen hat, befürchten
wir, dass es möglicherweise zu weiteren Verzögerungen
kommt. Reden Sie also hier nicht von einer Strafaktion,
Herr Kollege Gehrcke!
({2})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die
Kollegin Brugger das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Am
21. August letzten Jahres verloren weit über 1 000 Menschen auf qualvolle Art und Weise ihr Leben. Viele von
ihnen erstickten elendig. Unzählige Syrerinnen und Syrer, die den grausamen Giftgasanschlag in der Nähe von
Damaskus überlebt haben, sind heute blind, von den Verbrennungen entstellt oder krebskrank.
Der 21. August 2013 war der dunkelste Tag im anhaltenden Grauen des syrischen Bürgerkriegs. Dieses Verbrechen gegen die Menschlichkeit hat die Welt zutiefst
erschüttert.
({0})
Die internationale Gemeinschaft hat diesen Anschlag
mit der UN-Resolution 2118 im September 2013 aufs
Schärfste verurteilt. Der UN-Sicherheitsrat beschloss
einstimmig, dass das gesamte syrische Chemiewaffenarsenal herausgegeben und vernichtet werden muss. Die
Zerstörung dieser menschenverachtenden und grausamen Waffen ist ein wichtiger und richtiger Schritt.
({1})
Wir Grüne begrüßen es ausdrücklich, dass Deutschland sich an der Vernichtung beteiligen will und in
Munster 370 Tonnen der zuvor auf hoher See zersetzten
und verdünnten Chemikalien umweltgerecht verbrannt
werden sollen. Wir Grüne haben die Bundesregierung
bereits im Herbst letzten Jahres aufgefordert, sich jenseits finanzieller Unterstützung an diesen Vernichtungsaktivitäten zu beteiligen.
({2})
Da haben Sie erst so ein bisschen herumgedruckst. Aber
umso besser, dass Sie sich jetzt dafür entschieden haben;
denn wir haben in Deutschland die nötige Fachexpertise
und in Munster eine weltweit führende Verbrennungsanlage, die auf Chemiewaffen spezialisiert ist.
Die Bundesregierung legt heute ein Mandat vor, das
die maritime Absicherung des Hydrolysevorgangs auf
dem US-amerikanischen Schiff „Cape Ray“ und den
Schutz beim Abtransport der chemischen Reststoffe zu
den Vernichtungsanlagen beinhaltet. Mit der Entsendung
einer Fregatte will Deutschland sich an dieser Mission
der Vereinten Nationen und der OVCW in einer breiten
Koalition mit anderen Staaten beteiligen. Ziel dieser
Mission ist es, den Auftrag der Vereinten Nationen umzusetzen und ein für alle Mal die grauenhaften syrischen
Chemiewaffen zu zerstören. Mir fällt kein plausibles Argument ein, warum man diesem Vorhaben nicht zustimmen kann. Daher unterstützen wir Grüne dieses Mandat.
({3})
Ich frage mich ernsthaft, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linkspartei, was man gegen einen Einsatz
haben kann, der Schutz bei der Zerstörung von Massenvernichtungswaffen gewährleistet.
({4})
Die Vernichtung der Chemiewaffen darf nicht darüber
hinwegtäuschen: Die Zivilbevölkerung in Syrien leidet
immer noch auf das Schlimmste unter dem gnadenlosen
Bürgerkrieg, in dem immer noch Gräueltaten, Morde
und Menschenrechtsverletzungen verübt werden. Eines
ist ganz klar: Auch wenn bei der Vernichtung der syrischen Chemiewaffen mit der Regierung zwangsweise
zusammengearbeitet werden muss, kann das Assad-Regime durch diese Aktion mitnichten rehabilitiert werden.
Meine Damen und Herren von der Bundesregierung,
trotz der breiten Zustimmung kann ich Ihnen ein paar
kritische Worte nicht ersparen. Deutschland muss sich
hier nicht nur aus humanitärer Sicht engagieren, sondern
Deutschland trägt auch aufgrund seiner Exportpolitik
große Verantwortung. Deutsche Unternehmen haben
nach Angaben der OVCW eine große Rolle beim Aufbau des syrischen Chemiewaffenprogramms gespielt.
Von 1982 bis 1993 gab es 50 Lieferungen deutscher Firmen: Steuerungsanlagen, Pumpen, Kontrollventile, Gasdetektoren, eine Chemiewaschanlage und 2 400 Tonnen
einer Schwefelsäure, die zur Produktion des Giftgases
Sarin genutzt werden kann. Das ist erschreckend.
({5})
Die schwarz-rote Bundesregierung weigert sich mit
Verweis auf das Geschäftsgeheimnis, offenzulegen, welche Unternehmen am Aufbau des syrischen Chemiewaffenprogramms mitverdient haben. Meine Damen und
Herren, das ist inakzeptabel. An dieser Stelle sind Transparenz, Offenheit und lückenlose Aufklärung angesagt.
({6})
Zudem wurde bekannt, dass deutsche Unternehmen
bis 2011, auch noch bei Beginn des syrischen Bürgerkrieges, Chemikalien an Syrien geliefert haben, die sowohl zivil als auch militärisch nutzbar sind - und das
trotz zahlreicher Expertenwarnungen und obwohl
Deutschland die Chemiewaffenkonvention ratifiziert hat.
Auch das ist ungeheuerlich.
Schwarz-Rot hat im Koalitionsvertrag angekündigt,
beim Export von Dual-Use-Chemikalien etwas verbessern zu wollen. Abgesehen davon, dass Sie dann jetzt
auch so schnell wie möglich an dieser Stelle handeln
sollten, fordern wir Grüne Sie auf, die Ausfuhr- und
Endverbleibskontrolle von Dual-Use-Gütern auf nationaler und europäischer Ebene zu verschärfen und dabei
nicht weiterhin Wirtschaftsinteressen ständig höher zu
gewichten als Menschenrechte.
({7})
Meine Damen und Herren, wir sind es den Opfern des
barbarischen Giftgasanschlages in Syrien schuldig, dass
wir alle uns aktiv dafür einsetzen, dass solche Verbrechen gegen die Menschlichkeit nie wieder verübt werden
können. Diesen Menschen sind wir es schuldig, dass die
grausamsten aller Waffen für immer und ewig vernichtet
werden und dass deutsche Unternehmen nie wieder mit
solchen Programmen Geld verdienen. Diesen Menschen
sind wir es schuldig, dass Massenvernichtungswaffen
- chemische, aber auch biologische und Atomwaffen niemals wieder gegen unschuldige Zivilistinnen und Zivilisten eingesetzt werden. Das bedeutet nicht nur, diese
Waffen zu zerstören, sondern auch, eine Kehrtwende in
der Rüstungsexportpolitik, eine Verschärfung der Rüstungsexportkontrolle und eine entsprechende Stärkung
der Verträge an dieser Stelle einzuleiten.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat der Kollege Philipp Mißfelder für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Ich finde es richtig, dass die Bundesregierung dieses Mandat einbringt, und ich bin der Meinung,
dass wir uns am Schutz der „Cape Ray“ beteiligen sollten. Damit zeigen und dokumentieren wir, dass es uns
wichtig ist, bei der Konfliktlösung - ich betrachte die
Vernichtung der Chemiewaffen als Teil der Konfliktlösungsstrategie - nicht nur am Rand zu stehen, sondern
auch ein aktiver Partner zu sein, einen aktiven Beitrag zu
leisten. Ich finde es gut, dass man diesen Weg gefunden
hat.
Natürlich ist das grausame, schreckliche Verbrechen,
das mit dem Einsatz der Chemiewaffen geschehen ist,
bis heute nicht restlos aufgeklärt worden, und die westliche Gemeinschaft ist auch mit Sicherheit nicht so entschlossen aufgetreten, wie sich das viele von ihr gewünscht haben. Aber die Paradoxie unseres Handelns an
dieser Stelle, auch die Ankündigungen seitens der Amerikaner, was rote Linien angeht, ist vor allem der Komplexität des Bürgerkrieges in Syrien geschuldet.
Wir haben häufig gesagt - auch ich habe es schon einmal an diesem Platz gesagt -, dass eine Konfliktlösung
nur ohne Assad möglich ist; das war zu Beginn der
Dreh- und Angelpunkt fast aller Wortmeldungen hier im
Hause. Wir sehen aber, dass sich die militärische Situation aufgrund der massiven Intervention seitens Irans
und der Hisbollah verändert hat und sich das Blatt in militärischer Hinsicht gewendet hat. Insofern haben wir alles darangesetzt, eine politische Lösung voranzubringen,
und haben, anders als andere, einen militärischen Lösungsansatz ausgeschlossen. Vor diesem Hintergrund
glaube ich, dass man dieses Mandat nicht als Teil irgendwelcher militärischen Konstrukte missverstehen darf;
denn hier geht es in der Tat darum, Abrüstungsmaßnahmen voranzubringen. Nur aus Sicherheitsüberlegungen
heraus muss der Transport der Chemiewaffen militärisch
begleitet werden. Um ein entsprechendes Mandat wirbt
die Bundesregierung an dieser Stelle.
Ich bin der festen Überzeugung, dass es richtig ist, die
Gespräche über die Zukunft Syriens fortzusetzen; aber
ich glaube auch - das ist vorhin in der Debatte mehrfach
gesagt worden -, dass gerade die öffentliche Fokussierung auf andere Problemfelder und Konfliktherde der
Welt dazu geführt hat, dass Syrien und die entsprechenden Verhandlungen in den letzten Wochen und Monaten
etwas in den Hintergrund getreten sind. Wenn man versucht, zu bilanzieren, welche substanziellen Fortschritte
es gegeben hat, dann kommt man leider zu dem Ergebnis, dass es in den letzten Wochen und Monaten keine
substanziellen Fortschritte gegeben hat. Die Situation ist
eher festgefahren.
Wenn Sie sich angeschaut haben, mit welcher Kritik
der amerikanische Präsident, als er Saudi-Arabien besuchte, konfrontiert worden ist - Saudi-Arabien sagt
nach wie vor, man habe großes Interesse daran, dass
Amerika die Dschihadisten und die Aufständischen, die
sich aus diesem Teil der Opposition rekrutieren, unterstützt -, sehen Sie, wie weit die Position auch unserer
Verbündeten teilweise von unserer abweicht.
Wir müssen die politische Aufmerksamkeit nach wie
vor darauf richten: Wie kann der Bürgerkrieg gestoppt
werden? Welche Zukunft soll das Land haben? Da ist der
Frontverlauf in keiner Weise klar. Denn sosehr wir auch
Sympathie für die syrischen Oppositionellen in Syrien
hegen: Wir können nicht die Augen davor verschließen,
dass viele Dschihadisten von außen eingesickert sind
und dass wir auch im Falle eines Friedensschlusses damit
konfrontiert sein werden, dass Dschihadisten, die vielleicht die deutsche Staatsangehörigkeit haben, trainiert,
ausgebildet und kampferprobt zurück nach Deutschland
kommen. Vor diesen Hintergrund sage ich: Die Komplexität dieses Problems ist nicht zu überschätzen. Deshalb
sollte man sachlich argumentieren; ich fand allerdings,
dass das bei den Wortbeiträgen der Linkspartei nicht der
Fall war.
Wir werben für dieses Mandat. Wir wollen uns weiterhin politisch engagieren, damit Syrien eine friedliche
Zukunft hat. Ich traue mir keine Prognose darüber zu, in
welcher personellen Konstellation das stattfinden wird
und wer die Ansprechpartner sein sollen. Ich habe mit
zahlreichen Vertretern der syrischen Opposition Gespräche geführt. Manche waren mir außerordentlich sympathisch; sie setzen sich für eine friedliche, demokratische
und freie Zukunft ihres Landes ein. Andere hingegen
sehe ich eher als zwielichtige Personen, die etwas ganz
anderes im Schilde führen.
Insgesamt ist festzustellen: Sosehr uns die Ereignisse
auf der Krim, die deutsch-russische Partnerschaft oder
auch das Hickhack um die Zukunft des deutsch-russische Verhältnisses beschäftigen, sollten wir nicht vergessen, dass in Syrien ein Bürgerkrieg tobt, der bisher sehr
viele Opfer gekostet hat. Er verdient nach wie vor unsere
politische Aufmerksamkeit.
Herzlichen Dank.
({0})
Der Kollege Dr. Reinhard Brandl hat nun für die
Unionsfraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Auch wenn es heute um ein Mandat für den Einsatz
bewaffneter Streitkräfte geht, ist der ganze Vorgang doch
ein eindrucksvoller Beleg dafür, dass es sich selbst in
scheinbar ausweglosen Situationen immer lohnt, nach
diplomatischen Lösungen zu suchen.
({0})
Ich erinnere mich mit Schrecken an den 21. August
- das Datum ist mehrfach genannt worden -, an dem der
grausame Konflikt in Syrien durch den Einsatz von Chemiewaffen eine neue Dimension erreicht hat. Ich erinnere mich genau an die Tage und Wochen danach, in denen die Welt um eine Antwort gerungen hat und in denen
man teilweise das Gefühl hatte: Ein Militärschlag ist unausweichlich.
Dann kam die diplomatische Wende: 14. September
die Einigung zwischen USA und Russland, am selben
Tag dann die Ankündigung des Beitritts Syriens zum
Übereinkommen über ein Verbot chemischer Waffen,
27. September die Resolution des UN-Sicherheitsrates.
Bereits wenige Tage später haben die Vorbereitungen für
die Zerstörung von unglaublichen 1 300 Tonnen Chemiewaffen an 23 Standorten in Syrien begonnen. Das ist
ein riesengroßer abrüstungspolitischer Erfolg, der - und
das ist eigentlich das Bemerkenswerte - mitten in einem
tobenden Bürgerkrieg zustande gekommen ist. Das ist
ein deutliches Signal an die Länder, dass die Weltgemeinschaft trotz unterschiedlicher Interessen, trotz Meinungsverschiedenheiten in vielen geostrategischen
Fragen bei einer Frage wie dem Einsatz von Massenvernichtungswaffen zusammensteht und dass sie, organisiert in den VN, nicht bereit ist, den Einsatz von Massenvernichtungswaffen zu dulden, sondern dagegen
vorgeht.
Ich bin auch stolz auf unser Land, auf Deutschland,
weil wir zur Zerstörung dieser Waffen einen wirklich
substanziellen Beitrag leisten. Dazu gehört eine finanzielle Unterstützung. Dazu gehört - ganz am Anfang vor allem die logistische Unterstützung der Inspektoren,
die Luftunterstützung, die wir damals geleistet haben.
Dazu gehört die Beteiligung deutscher Forschungsinstitute an der Analyse der Kampfstoffe. Dazu gehört die
Vernichtung von 370 Tonnen Reststoffen in Munster.
Und dazu gehört eben auch der Schutz des Spezialschiffes der USA, auf dem auf hoher See die Kampfstoffe unDr. Reinhard Brandl
schädlich gemacht werden. Nur dieser Teil, der Begleitschutz dieses Spezialschiffes, braucht ein Mandat des
Deutschen Bundestages. Aber es ist wichtig, deutlich zu
machen, dass das nur ein kleiner Teil eines größeren,
umfassenden Beitrags ist, den Deutschland in diesem
Prozess der Zerstörung der Waffen leistet.
Die Bedrohung des Schiffes ist in den Gewässern
zwar niedrig, nichtsdestotrotz muss es geschützt werden.
Dafür stellen wir von deutscher Seite eine Fregatte und
bis zu 300 Soldaten bereit. Abhängig davon, wie schnell
der Abtransport der Kampfstoffe aus Syrien möglich ist,
kann die ganze Operation bereits in wenigen Monaten
beendet sein.
Die spannende Frage in dieser Debatte lautet: Welchen Grund versucht die Linke dieses Mal an den Haaren herbeizuziehen, um gegen einen solchen Einsatz zu
stimmen? Ich habe Frau Buchholz genau zugehört. Sie
haben aus meiner Sicht ein Sachargument vorgetragen.
Sie sagten, Sie seien misstrauisch, weil das Einsatzgebiet
zu groß gewählt sei. Dieses Sachargument kann ich entkräften. Frau Buchholz, Sie wissen, dass die Hydrolyse
etwa 90 Tage dauern wird, abhängig von ruhiger See und
entsprechenden Witterungsverhältnissen.
({1})
Deswegen macht es Sinn - wir wissen ja nicht, wie im
Mai oder Juni das Wetter sein wird -, dass das Schiff
dorthin fährt, wo die See ruhig ist.
({2})
Der Eiertanz, den Sie hier aufführen, ist meines Erachtens lächerlich. Man sieht an Ihrer Rede, wie blind Ideologie macht: Selbst wenn es um die Vernichtung von
Massenvernichtungswaffen geht, können Sie nicht zustimmen.
({3})
Ich hoffe, dass das die Menschen sehen, die Sie gewählt
haben, und ich hoffe, dass das auch die Menschen sehen,
die Ihnen vielleicht einmal Regierungsverantwortung
zutrauen wollen.
({4})
So sind Sie aus meiner Sicht nicht in der Lage, Verantwortung für unser Land zu übernehmen.
({5})
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/984 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Pia
Zimmermann, Sabine Zimmermann ({0}),
Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE
Deckungslücken der Sozialen Pflegeversicherung schließen und die staatlich geförderten
Pflegezusatzversicherungen - sogenannter
Pflege-Bahr - abschaffen
Drucksache 18/591
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({1})
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Pia Zimmermann für die Fraktion Die Linke.
({2})
Ich bitte Sie, Frau Zimmermann, so lange zu warten,
bis die notwendigen Umgruppierungen auf der rechten
Seite des Hauses abgeschlossen sind, sodass wir der Debatte folgen können.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Gute Pflege ist ein Menschenrecht, nur leider
sind wir von der Verwirklichung dieses Menschenrechts
sehr weit entfernt. Stattdessen gibt es eine Pflegemisere,
und es besteht akuter politischer Handlungsbedarf, und
zwar nicht nur hinsichtlich eines besorgniserregenden
Mangels an Pflegekräften, nein, sondern auch mit Blick
auf die wachsende soziale Ungerechtigkeit im Pflegesystem. Herr Minister Gröhe - er ist nicht da -, von Ihnen
und dem Pflegebeauftragten, Herrn Laumann, sind nahezu täglich nur wohlfeile Worte zu hören. Aber wenn es
um konkrete Vorschläge geht, zum Beispiel wie bei unserem heutigen Antrag, eines dieser grundsätzlichen
Probleme anzugehen, verweigern Sie sich. Darum appelliere ich an Sie, meine Damen und Herren Abgeordnete:
Gehen Sie mit uns diesen Schritt, schaffen Sie diese unsinnige Pflege-Bahr-Zusatzversicherung ab!
({0})
Ich richte mich insbesondere an die Kolleginnen und
Kollegen von der SPD und möchte etwas aus einem
Flugblatt, das man auch auf Ihrer Internetseite findet, zitieren. Ich habe das Flugblatt mitgebracht; so sieht es
aus. Zitat:
Die SPD lehnt den „Pflege-Bahr“ ab. Wir wollen
keinen Einstieg in die Zwei-Klassen-Pflege.
({1})
Sehr gut so weit. Weiter:
Der „Pflege-Bahr“ ist gleichzeitig nutzlos und ungerecht, denn er löst die Probleme in der Pflege
nicht.
Auch gut - so weit.
({2})
Deshalb fordere ich Sie auf: Nehmen Sie sich selber
ernst! Enttäuschen Sie die Menschen in diesem Land
nicht erneut, und stimmen Sie unserem Antrag zu!
({3})
Hier noch ein paar Argumente dafür, dass der PflegeBahr abgeschafft gehört. Der Pflege-Bahr privatisiert das
Risiko, pflegebedürftig zu werden, und macht den Anspruch auf Pflege noch mehr zu einer Frage des Geldbeutels, noch mehr, weil bereits das Teilleistungsprinzip
der Pflegeversicherung bedeutet, dass sie lediglich eine
Zuschussversicherung ist. Mehr als die Hälfte der Kosten müssen pflegebedürftige Menschen und ihre Angehörigen schon jetzt aus eigener Tasche zahlen. Das lehnt
die Linke entschieden ab.
({4})
Der Pflege-Bahr verspricht, das Risiko der Pflegebedürftigkeit privat abzusichern. Aber das widerspricht
nicht nur dem Solidarprinzip, sondern stimmt noch nicht
einmal. Er ist vollkommen ungeeignet, die Versorgungslücken zwischen den Leistungen der Pflegeversicherung
und den tatsächlichen Pflegekosten zu schließen. Pflege
wird immer teurer. Eine Anpassung an diese Entwicklung ist jedoch beim Pflege-Bahr überhaupt nicht vorgesehen. Niemand kann heute sagen, was die vereinbarten
Leistungen wert sind, wenn sie gebraucht werden, und
zwar nicht heute, sondern in der Zukunft, beim Eintritt in
die Pflegebedürftigkeit.
({5})
- Genau. - Zudem höhlt der Pflege-Bahr das Solidaritätsprinzip weiter aus und verschärft die soziale Spaltung. Er ist absolut kontraproduktiv, weil er sich nicht an
den Interessen der Menschen orientiert, sondern vor allen Dingen Geld in die Versicherungswirtschaft spült.
({6})
Alle Menschen haben das gleiche Recht auf eine ihren Bedürfnissen entsprechende Pflege. Deshalb müssen
wir die Finanzierung auf breitere Schultern verlagern.
Wissen Sie eigentlich, dass die Pflegehelferinnen, die
Verkäuferinnen und die Friseurinnen den Pflege-Bahr
mitfinanzieren, und zwar über ihre Steuern, ihn sich selber aber gar nicht leisten können? Diese Ungerechtigkeit
muss abgeschafft werden.
({7})
Die solidarische Bürgerinnen- und Bürgerversicherung
in der Pflege wäre das Fundament, um gute Pflege für
alle umfänglich zu finanzieren.
Als ersten Schritt fordern wir deshalb den Stopp der
staatlichen Förderung von privaten Zusatzversicherungen und die Rückabwicklung der vorhandenen Verträge.
({8})
Um Ihren Argumenten gleich vorzugreifen: Das ist
machbar. Es ist tatsächlich nur eine Frage des politischen
Willens. Denn immerhin sind durch die fünfjährige Karenzzeit beim Pflege-Bahr noch keine Ansprüche entstanden. Auch das Beispiel der Rückabwicklung der privaten Zahnzusatzversicherungen von 2004 zeigt, dass
diese problemlos storniert werden können.
Sie wissen, dass Sie 2014 noch eine große Aufgabe
vor sich haben. Durch das Pflege-Weiterentwicklungsgesetz sind Sie verpflichtet, die Leistungen zu prüfen und
der Kostenentwicklung anzupassen. Die Menschen mit
Pflegebedarf und die Verbände warten darauf. Wir werden das nicht aus dem Auge verlieren; das kann ich Ihnen versprechen.
({9})
Außerdem fordern wir eine regelgebundene Anpassung der Versicherungsleistungen an die Lohn- und
Preisentwicklungen. Es reicht einfach nicht aus, nur
kurzfristige Leistungsverbesserungen vorzunehmen. Es
braucht eine gänzliche Abkehr vom Teilleistungsprinzip,
um den Ansprüchen auf gute Pflege für alle gerecht werden zu können. Eine Zustimmung zu unserem Antrag
wäre ein vertrauenerweckendes Zeichen für bessere
Pflege und für mehr Pflegegerechtigkeit für alle Menschen in diesem Land. Ich bitte um Ihre Zustimmung,
wenn wir demnächst darüber abstimmen.
Herzlichen Dank.
({10})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege
Erwin Rüddel das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Die staatlich geförderte private Zusatzversicherung gegen das Pflegerisiko erlebt derzeit einen
wahren Boom. Wurden im Januar 2013 240 Verträge pro
Tag abgeschlossen, waren es im Juni 2013 bereits über
1 000 Verträge pro Tag. Das zeigt, dass die staatlich geförderte Zusatzversicherung bei den Menschen ankommt. Zurzeit werden täglich 1 600 neue Verträge abgeschlossen. Die Versicherungswirtschaft ist davon
überzeugt, dass wir in diesem Jahr noch die Millionengrenze überschreiten werden. Im Januar 2014 kamen wir
bereits auf über 400 000 Verträge. Was zeigt uns das?
Kollege Rüddel, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung der Kollegin Zimmermann?
({0})
Ja.
Vielen Dank, Herr Kollege Rüddel. - Es ist doch so,
dass Sie die Anzahl an Vertragsabschlüssen, die Sie angestrebt haben, überhaupt nicht erreicht haben; Sie haben noch nicht einmal die Hälfte davon erreicht. Deutlich wird auch: In dem von Ihnen vorgelegten Haushalt
sind die Mittel zur staatlichen Unterstützung und Finanzierung der Verträge im Pflege-Bahr deutlich abgesenkt
worden. Das passt meines Erachtens nicht mit dem zusammen, was Sie gerade gesagt haben. Können Sie mir
das vielleicht näher erklären?
({0})
Ich wäre in meiner Rede noch darauf eingegangen.
Ich halte 1 Million Neuverträge im Jahr 2014 für eine
sensationell hohe Zahl. Auch wenn wir geglaubt haben,
dass wir eine höhere Zahl erreichen könnten, zeigt die
Entwicklung, dass wir unser Ziel, Vorsorge zu fördern
und die Menschen zu motivieren, vorzusorgen, erreicht
haben. Wir sollten vielleicht gemeinsam überlegen, wo
man Anreize schaffen kann, damit wir noch höhere Zahlen als derzeit erreichen können. Ich denke, das Ziel ist
richtig. Ihrer Logik zufolge dürften wir auch keinen Cent
für Prävention ausgeben.
({0})
Ich bin der festen Überzeugung, dass unser Weg, die
Menschen zu motivieren, Vorsorge zu treffen, der richtige ist. Wir werden in den nächsten Wochen mit der
Pflegereform zeigen, dass Vorsorge ein guter Weg ist.
Mit dem Vorsorgefonds haben wir bereits einen weiteren
Schritt getan.
({1})
Wir befinden uns auf einem guten Weg; denn er führt in
eine gute Zukunft. Ihr Weg dagegen ist der falsche. Wir
werden auch Ihren Antrag hier im Haus eindrucksvoll
und mit breiter Mehrheit ablehnen.
({2})
Die vom Staat geförderte private Zusatzversicherung
wird von den Menschen angenommen. Das beweisen die
Zahlen eindeutig. Das Produkt erfüllt also den Wunsch
des Gesetzgebers, die Bürger stärker vor einer finanziellen Überforderung im Pflegefall zu schützen und zu
mehr Vorsorge zu motivieren. Die Menschen erkennen
zusehends - auch das zeigen die Zahlen -, dass sie bei
der Pflege stärker vorsorgen müssen, und das ist auch
gut so. Denn nach meiner Einschätzung bieten sich insbesondere für Frauen und Männer zwischen 25 und
40 Jahren gute Chancen, mit staatlicher Unterstützung
eine zusätzliche Vorsorge gegen das Pflegerisiko im Alter zu schaffen. Vom Staat werden 5 Euro pro Monat als
Zulage gezahlt, wenn der oder die Versicherte einen
Mindestbeitrag von 10 Euro pro Monat leistet.
Risikozuschläge und Gesundheitsprüfungen sind nicht
zulässig. Das ist ein wichtiger Punkt. Denn auch Menschen mit Vorerkrankungen können auf diesem Weg eine
private Versicherung abschließen und mit nur 10 Euro
im Monat den Einstieg in diese Vorsorgemaßnahme verwirklichen.
Statt dieses Instrument infrage zu stellen oder gar abschaffen zu wollen, sollten sich die Initiatoren des vorliegenden Antrags, die Fraktion Die Linke, vielleicht
besser überlegen, ob und wie wir es ausbauen und noch
attraktiver machen können.
({3})
Ich persönlich - das betone ich ausdrücklich - hielte
es durchaus für angebracht, über eine sinnvolle Weiterentwicklung der staatlich geförderten Zusatzversicherung nachzudenken. Dabei schwebt mir zum Beispiel
eine Familienkomponente vor, bei der sich die Zahl der
Kinder positiv auf die Höhe des staatlichen Zuschusses
auswirken könnte. Aber auch andere Schritte wären
denkbar, um diese Art der privaten Vorsorge seitens des
Staates zusätzlich zu fördern.
Stattdessen räsoniert die Linke in ihrem Antrag darüber, was die vereinbarten Mindestleistungen von
600 Euro Pflegegeld in der Pflegestufe III bei Eintritt der
Pflegebedürftigkeit in 50 oder 60 Jahren wert sein könnten.
({4})
Das, Frau Zimmermann, kann man sich über diesen Zeitraum hinweg sicherlich mit Blick auf alle möglichen und
unmöglichen Zahlen fragen. Anstatt nun darüber nachzudenken, ob und wie dieses Produkt durch eine Dynamisierung künftig noch verbessert werden könnte, schüttet die Linke lieber das Kind mit dem Bade aus und will
die staatlich geförderte Zusatzversicherung mit einem
Federstrich abschaffen.
({5})
Ihr Ziel ist es doch, den Menschen die Chance auf Vorsorge zu erschweren.
({6})
Sie wollen, dass das Teilleistungsprinzip abgeschafft
wird und der Staat zukünftig einfach für alles aufkommt.
Das ist sinngemäß das, was in Ihrem Antrag steht.
Dieser folgt damit einem bekannten Muster:
({7})
einerseits den Menschen Angst machen und ihnen andererseits Wunderdinge versprechen,
({8})
immer nach dem Motto: Am Ende werden andere für
euch die Zeche zahlen.
({9})
Natürlich zeigt sich auch hier wieder, dass Ihnen jeglicher Anreiz zu eigener Initiative, zu eigener Verantwortung und zu privater Vorsorge zutiefst zuwider ist. Die
Botschaft Ihres Antrags lautet im Grunde: Macht euch
keine Gedanken, Leute, der Staat wird es schon richten.
- Das ist absolut unverantwortlich.
({10})
Meine Damen und Herren, der vorliegende Antrag ist
auch aus einem anderen Grund ein ärgerliches Dokument. Man fragt sich nämlich angesichts der Ausführungen zur gesetzlichen Pflegeversicherung, ob die Kolleginnen und Kollegen von der Linken eigentlich den
Koalitionsvertrag gelesen haben. Falls nicht, will ich
hier im Plenum kurz feststellen:
({11})
CDU, CSU und SPD haben sich in ihrem Koalitionsvertrag auf die umfassendste Reform der gesetzlichen Pflegeversicherung seit ihrer Einführung 1995 verständigt.
({12})
Wir werden die Leistungsbeträge dynamisieren, den
Schlüssel für Betreuungskräfte pro Pflegebedürftigem
deutlich senken, Leistungen wie Kurzzeit- und Verhinderungspflege flexibilisieren,
({13})
die Maßnahmen zur Verbesserung des Wohnumfeldes verstärken, einen Pflegevorsorgefonds in Höhe von 1,2 Milliarden Euro jährlich schaffen und vor allem Menschen
mit Demenzerkrankung und ihre Angehörigen weit stärker als bisher unterstützen, indem wir eine Neudefinition
des Pflegebegriffs vornehmen. Schließlich werden wir
für deutlich mehr und für gut ausgebildete und für ordentlich bezahlte Fachkräfte in der Pflege sorgen.
Die Reform der gesetzlichen Pflegeversicherung, wie
ich sie hier skizziert habe, ist ein zentrales politisches
Vorhaben dieser Koalition. Daran konstruktiv mitzuwirken, sind alle in diesem Hause aufgefordert und eingeladen; das gilt ausdrücklich auch für die Kolleginnen und
Kollegen der Linken.
({14})
Die Kollegin Elisabeth Scharfenberg hat für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Im vorliegenden Antrag der Linksfraktion finden
sich einige Forderungen, die wir Grüne durchaus mittragen und unterstreichen können, die sinnvoll sind. Es ist
völlig richtig, dass wir endlich eine klare Regelung für
eine jährliche Anpassung der Pflegeleistungen brauchen.
Jetzt ist es nämlich so, dass die Bundesregierung alle
drei Jahre so Pi mal Daumen bestimmt, wie viel sie denn
geben will. Bei der geplanten Pflegereform von SchwarzRot soll es genauso laufen. Es wird keine objektive
Rechnung geben, sondern es wird geschachert werden:
Leistungsanhebung um 3 Prozent, 4 Prozent oder 5 Prozent? Wer bietet mehr? Wer geht drunter? Entscheidung
nach Gusto oder danach, wer sich gerade durchsetzt! So
ein Vorgehen führt nicht nur zu einer Entwertung der
Leistungen; es führt zu einer Entwertung der Pflegeversicherung an sich.
({0})
Wir sagen, dass die Leistungen regelgebunden zu
zwei Dritteln entlang der Lohn- und zu einem Drittel
entlang der Inflationsentwicklung angepasst werden
müssen. Das wäre sachgerecht, weil sich die Pflegekosten in etwa zu zwei Dritteln aus Personalkosten und zu
einem Drittel aus Sachkosten zusammensetzen. Das ist
übrigens keine neue grüne Forderung. Wir fordern das
schon seit 2012 genau so in unserem Konzept der grünen
Pflege-Bürgerversicherung. Schön, dass die Linksfraktion diesen Vorschlag von uns übernommen hat!
({1})
Richtig ist auch die Forderung, den Pflege-Bahr wieder abzuwickeln. Der Pflege-Bahr war und ist weder gerecht noch sinnvoll, und deshalb muss er - ganz klar wieder abgeschafft werden.
({2})
Der unsägliche Pflege-Bahr wurde von Schwarz-Gelb
eingeführt - gegen den Rat der überragenden Mehrheit
aller Fachverbände, gegen den Rat der Expertinnen und
Experten sowie der versammelten Opposition. Damals
war die SPD natürlich auch dagegen, weil ja noch Opposition. Für 2013 rechneten Sie mit 1,5 Millionen
Pflege-Bahr-Verträgen. Sie haben das vollkommen überschätzt. Herr Rüddel, die Rechnung, die Sie gerade vorgetragen haben, klingt ein bisschen wie Pfeifen im
Walde. Es sind bis heute - April 2014 - gerade einmal
400 000 Verträge abgeschlossen worden. Das ist kein Erfolg; das ist ein Witz. Der Pflege-Bahr bringt nichts. Alle
haben es Ihnen gesagt. Aber Sie wollten es damals nicht
hören, und Sie wollen es jetzt nicht hören. Die SPD hört
jetzt leider auch weg. Die SPD hat inzwischen kein Problem mehr mit dem Pflege-Bahr. Die pflegepolitischen
Überzeugungen der SPD sind sehr schnell auf der Strecke geblieben. Schade!
({3})
Mit einigem im Antrag sind wir nicht einverstanden:
Da ist die Forderung der Linken, aus der Pflegeversicherung eine Vollversicherung zu machen. Sie geben da
ein ganz schön voreiliges Versprechen ab. Verdi hat
2012 ein Gutachten über die Auswirkungen einer Pflegevollversicherung veröffentlicht. Klar wird: Es gibt viele
Unsicherheiten. Was würde eine Vollversicherung eigentlich bezahlen? Wie teuer wäre eine Vollkasko-Pflegeversicherung? Teurer als heute auf jeden Fall! Es gibt
da mehr Fragen als Antworten.
Anders beim Pflege-Bahr. Da sind alle Fragen beantwortet. Ich werde noch einmal ganz deutlich: Der
Pflege-Bahr ist eine Luftnummer und nichts anderes ({4})
übrigens genauso wie der Pflegevorsorgefonds, den die
GroKo nächstes Jahr einführen will.
({5})
Da möchte ich Ihnen ein abenteuerliches Interview
mit dem gesundheitspolitischen Sprecher der Unionsfraktion, Jens Spahn, vom 11. März in der Berliner Zeitung nicht vorenthalten. „Sicher wie das Gold der Bundesbank“, das war der Titel des Artikels. Darin erklärt
uns Herr Spahn den Pflegevorsorgefonds. Der Fonds,
sagt er, werde so sicher sein wie das Gold, das bei der
Bundesbank lagert. Dann empfiehlt der gelernte Bankkaufmann Herr Spahn, dass man das Geld aus dem
Fonds doch bitte schön - ich zitiere - „stärker in Aktien
oder Unternehmensanleihen … oder auch in ausländische Anlagen“ stecken solle.
({6})
Man müsse höhere Renditen erwirtschaften. Außerdem
sei die Idee des Sparens schon „ein Wert an sich“.
Übrigens ist sich die Fachwelt einig, dass der Fonds
nicht funktionieren wird. Das interessiert aber Herrn
Spahn und die CDU/CSU nicht. Das lässt tief blicken.
Ich hoffe, die SPD schwingt sich dazu auf, diesen Unsinn endlich zu Ende zu bringen.
({7})
Inmitten einer weltweiten Finanzkrise mit dem Geld
der Versicherten zu zocken, den Menschen Märchen
über goldene Töpfe - damit ist der Vorsorgefonds gemeint - zu erzählen, das bezeichne ich nicht als ernsthafte und nachhaltige Finanzierung. Um das Kraut fettzumachen, klammert sich die Große Koalition auch noch
am unsolidarischen und äußerst erfolglosen Pflege-Bahr
fest. Sie sollten die Menschen nicht für dumm verkaufen. Eine solide Finanzierung der Pflege schaut anders
aus.
Danke schön.
({8})
Das Wort hat die Kollegin Mechthild Rawert für die
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Im
Mai 1994 verabschiedete der Deutsche Bundestag das
Gesetz zur sozialen Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit. Die soziale Pflegeversicherung als fünfte
Säule der Sozialversicherung in Deutschland ward geboren. Dieser Beschluss war ein sozialpolitischer Meilenstein; er war aber auch keine einfache Geburt. Dieser
Geburt gingen damals 20 Jahre intensive und breite Diskussionen voraus. Es wurden debattiert die Situation der
Pflegebedürftigen, die Folgen des demografischen Wandels und auch die finanziellen Belastungen der Kommunen - heute immer noch aktuelle Themen. Kurz vor dem
20. Geburtstag dieses Gesetzes sei es erlaubt, hier schon
einmal zu gratulieren: Happy Birthday, liebe SPV, liebe
soziale Pflegeversicherung! Du hast dich trotz schwerwiegender struktureller Reformstaus zu einer in der Bevölkerung akzeptierten Sozialversicherung entwickelt.
Die soziale Pflegeversicherung war von Anfang an
als Teilleistungssystem, als Teilkaskoversicherung, wie
sie in der Bevölkerung häufig genannt wird, konzipiert.
Ja, es ist richtig: Es sind notwendige Leistungsverbesserungen vorzunehmen. Die bisherigen Verbesserungen
durch die verschiedensten Gesetze in der ambulanten
und stationären Pflege reichen noch nicht aus. Darauf
hat die Expertenkommission, darauf haben aber auch die
ambulanten Träger und viele andere aufmerksam gemacht. Wir selber erleben dies tagtäglich, wenn wir in
die entsprechenden Einrichtungen gehen.
Wir wollen die eng richtungsbezogene Definition der
Pflegebedürftigkeit überwinden und natürlich sehr viel
mehr für Menschen tun, die an Demenz erkrankt sind,
und vor allen Dingen für Menschen, die an psychischen
Erkrankungen leiden. Wir brauchen hier mehr Leistungsansprüche. Das ist uns als Großer Koalition aber
sehr bewusst. Deshalb werden wir dafür sorgen, dass in
dieser Legislaturperiode nachhaltige strukturelle Reformen erfolgen werden.
({0})
Wir haben in der Koalitionsvereinbarung für den Bereich Pflege sehr viele Maßnahmen vereinbart; denn wir
wollen, dass Pflege als gesamtgesellschaftliche Aufgabe
von allen gesehen und auch wahrgenommen wird.
({1})
Wir wollen die zügige Neuordnung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs. Wir wollen eine Dynamisierung der Leistungssätze, um so den überproportionalen Eigenfinanzierungsanteil nicht weiter steigen zu lassen.
({2})
Wir wollen Verbesserungen bei der Vereinbarkeit von
Berufstätigkeiten und Pflegetätigkeiten. Wir wollen eine
Aufwertung der Pflegeberufe. Wir wollen ein Pflegeberufegesetz mit einheitlicher Grundausbildung und darauf
aufbauender Spezialisierung. Wir wollen die Kostenfreiheit der Ausbildung.
({3})
Die so gewonnenen Mehreinnahmen bei der Pflege
dienen uns allen. Wir wollen eine gute Pflegeinfrastruktur, und weil wir das wollen, sagen wir allen Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen: Dazu gehört eine Dynamisierung der Leistungssätze. Ich verspreche Ihnen,
Frau Zimmermann, sie wird kommen.
({4})
Wir haben in der Diskussion vorhin schon gehört,
dass die Pflegeversicherung auf der Leistungsseite eine
Bürgerversicherung ist; denn jede und jeder bekommt,
unabhängig davon, ob sie oder er bei einer privaten oder
in der gesetzlichen Pflegeversicherung versichert ist, die
gleichen Leistungen.
({5})
Ja, es stimmt: Am liebsten wäre uns Sozialdemokratinnen
und Sozialdemokraten zur Bekämpfung der chronischen
Unterfinanzierung der gesetzlichen Pflegeversicherung
eine Bürgerversicherung auch auf der Finanzierungsseite
gewesen. Wir haben für diese Legislaturperiode aber andere Modelle verabredet.
({6})
Das heißt jetzt nicht, dass wir gegen eine Bürgerversicherung sind;
({7})
wir verschieben sie.
({8})
Ich denke, das ist geklärt zwischen uns. Jetzt haben wir
einen Koalitionsvertrag zu erfüllen. Unser Bürgerversicherungskonzept bleibt aber nach wie vor aktuell.
({9})
Die in dem Antrag der Linken gewünschte langfristige Abschaffung des Teilleistungsprinzips ist keine Lösung; das lehnen wir ab.
({10})
Vorhin ist schon darauf hingewiesen worden: Es gibt
Konzepte für eine Vollkaskoversicherung, die aber teilweise noch auf unzureichenden Annahmen beruhen, und
die Berechnungen sind auch nicht positiv, einmal abgesehen davon, dass ich mich frage, wer das finanzieren
soll.
Doch kommen wir zum Pflege-Bahr. Erinnern Sie
sich noch? Im Rahmen des am 1. Januar 2013 in Kraft
getretenen Pflege-Neuausrichtungs-Gesetzes hat die damalige schwarz-gelbe Regierung begonnen, private Pflegezusatzversicherungen zu fördern. Zumindest in der
FDP hat mensch sich darüber gefreut, wie ich heute gehört habe: Herr Rüddel persönlich auch.
({11})
- Ja, er freut sich und findet das toll. - Das war aber, wie
gesagt, mehr ein FDP-Kind. Der damalige FDP-Generalsekretär, Christian Lindner, hatte auch gleich einen passenden Namen dafür: Das ist der Pflege-Bahr, den wir
jetzt einführen. - Dieser Pflege-Bahr ist für alle Versicherungsnehmerinnen und Versicherungsnehmer unabhängig vom jeweiligen Einkommen gleich hoch. Sie
müssen mindestens 180 Euro zahlen; davon werden
60 Euro staatlich gefördert.
Es blieb kein Geheimnis: Die SPD, Sozialverbände,
Verbraucherschützerinnen und Verbraucherschützer,
Fachinstitute, Linke, Grüne, sie alle lehnten die Einführung des Pflege-Bahrs ab.
({12})
- Habe ich gesagt; ich habe sie sogar als Erste genannt. Mit der Einführung des Pflege-Bahrs waren nämlich
zwei Botschaften verbunden: Zum einen sollte damit
laut Begründung im Gesetzentwurf ein Anreiz zu zusätzlicher Pflegevorsorge geschaffen werden, quasi ergänzend zum Teilleistungssystem. Es gab aber auch noch
eine zweite Botschaft - die lag schon ein bisschen zurück -: Die Einführung einer einkommensunabhängigen
privaten Pflegezusatzversicherung wurde, beispielsweise
im Koalitionsvertrag von Schwarz-Gelb von 2009, mit
einer substitutiven Wirkung begründet. Das heißt, damit
ist eine Verlagerung von Finanzierungsverantwortung
von der umlagefinanzierten Sozialversicherung zur kapitalgedeckten Privatversicherung intendiert. Glauben Sie
mir: Das will die SPD nicht. Wir sind nach wie vor für
starke Umlagefinanzierungssysteme.
({13})
Vielleicht zur Aufklärung: Durch die Finanzkrise sind
am besten die Versicherungen gekommen, die ein umlagegefördertes System hatten.
({14})
Es war viel sicherer, das Geld dort angelegt zu haben, als
bei privaten, profitorientierten Unternehmen. InfolgeMechthild Rawert
dessen werden wir in Zukunft sicherlich auch noch einmal darüber reden - das gilt auch in Bezug auf andere
Bereiche -, was gute Formen der Förderung sind.
Die Linke fordert in ihrem Antrag auch, den PflegeBahr rückabzuwickeln, und einen Stopp der Pflegeversicherung. Alle Verbraucherschützerinnen und Verbraucherschützer - das sind auch Rechtsschutzexperten sagen aber: Das ist leider gar nicht möglich; denn diejenigen, die einen Vertrag abgeschlossen haben, bauen darauf, dass es die Förderung weiterhin gibt.
All diejenigen, die jetzt sagen: „Es waren 1,5 Millionen Verträge geplant; herausgekommen sind allerdings
nur 400 000“, haben recht.
({15})
- Es waren schon bis 2013 1,5 Millionen Verträge angedacht.
({16})
Das wurde auch bei der Aufstellung des Haushalts berücksichtigt. In der mittelfristigen Finanzplanung für die
Jahre 2014, 2015 und 2016 waren für diese staatliche
Zusatzversicherung nämlich noch jeweils 100 Millionen
Euro vorgesehen. In den Haushalt 2014 eingestellt - ich
finde, diese Bundesregierung ist hier klüger als die vorherige - werden aber nur 33 Millionen Euro. Es hat hier
eine gute Kooperation zwischen den Fach- und Finanzpolitikern gegeben. Das muss man hier gar nicht weiter
kommentieren. Wir werden uns sicherlich spätestens in
einem Jahr noch einmal darüber unterhalten. Dass ich
persönlich - das sage ich als Sozialdemokratin - keine
Anhängerin der Privatisierung von Vorsorge bin, ist,
denke ich, unbestritten: Es schadet auch nicht dem Koalitionsfrieden, wenn ich das hier so deutlich sage.
({17})
Meine Bitte an alle ist: Die Pflege gehört in die Mitte
der Gesellschaft und muss noch viel mehr Gegenstand
der Diskussionen des Deutschen Bundestages sein. Die
Bürgerinnen und Bürger erwarten viel von uns. Packen
wir es an! Machen wir daraus: gesagt, getan, gerecht!
({18})
Das Wort hat der Kollege Tino Sorge für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau
Zimmermann, ich habe Ihnen genau zugehört
({0})
und muss Ihnen leider sagen: Es hat sich in der bisherigen Debatte im Grunde genau das bestätigt, was aus Ihrem Antrag bereits hervorging. Entweder haben Sie
nicht verstanden, dass wir von der Systematik her über
eine Pflegezusatzversicherung reden, oder Sie blenden
das ganz bewusst aus, um hier Effekthascherei zu betreiben. Deshalb werden wir, wie Sie schon gesagt haben,
diesen Schritt nicht mit Ihnen gehen, sondern den Antrag
ablehnen - zu Recht, wie ich finde.
({1})
Was sind die Fakten? Sie sind teilweise schon angesprochen worden:
({2})
Bis zum Jahr 2050 werden wir mit ungefähr 4,5 Millionen Pflegebedürftigen rechnen müssen. Damit sind dann
circa 44 Prozent der pflegenahen Generation - das heißt
derjenigen, die über 80 Jahre alt sind - Nutznießer von
Pflegeleistungen. Das hat zur Folge, dass die Pflegekosten nicht nur insgesamt, sondern auch individuell ansteigen werden. Durch das stark ansteigende Lebensalter
- die Menschen in unserem Land werden immer älter,
worüber wir uns alle ja freuen - und den medizinischen
Fortschritt liegt es in der Natur der Sache, dass die Pflegeaufwendungen steigen. Gerade deshalb ist es eben so
wichtig, dass wir als Politiker denjenigen, deren Pflegesituation konkret ist, den Pflegebedürftigen und denen,
die in die Pflege eingebunden sind, zur Seite stehen,
sinnvolle Angebote unterbreiten und Unterstützung zuteilwerden lassen.
({3})
Das Pflegesystem muss auf ein breites Fundament gestellt werden. Aus Sicht der Union ist ein Baustein natürlich die staatliche Pflegeversicherung, von der aufgrund
ihrer stetigen Weiterentwicklung sehr viele pflegebedürftige Menschen profitieren, und das ist auch gut. Als
weiteren Baustein gibt es die private Pflegezusatzversicherung, die viele im Haus schon liebevoll Pflege-Bahr
genannt haben.
({4})
- Ich habe das so empfunden, Frau Zimmermann.
Diese Pflegezusatzversicherung - ich sage ganz bewusst: Pflegezusatzversicherung - ergänzt das staatliche
System. Das heißt, das ist ein Angebot an diejenigen, die
freiwillig eine Zusatzversicherung abschließen möchten.
Die Zahlen sind schon genannt worden: Täglich werden
1 600 Neuverträge abgeschlossen. Insgesamt gibt es
mittlerweile zwischen 400 000 und 500 000 Verträge.
Man sieht: Die Zusatzversicherung wird angenommen.
Es geht hier auch um den Kontext der Eigenvorsorge.
Wir wollen ja die Menschen zu immer mehr Eigenvorsorge animieren.
({5})
Gerade meine Generation ist sich dessen bewusst, dass
wir eigenverantwortlich vorsorgen müssen.
Schauen Sie sich doch einmal die Vorzüge der Pflegezusatzversicherung an; sie liegen doch auf der Hand. Es
gibt keine Risikozuschläge. Es gibt keine altersbedingten Prämiensteigerungen. Es gibt keine Gesundheitsprüfung.
({6})
Das heißt: All diejenigen, die früher keine Möglichkeit
hatten, in diesem Bereich eine Versicherung abzuschließen, haben jetzt Zugang zu einer Pflegezusatzversicherung.
({7})
Da wir gerade bei der Systematik sind: Diese Versicherung war von vornherein - das ist schon angeklungen - als Zusatzversicherung geplant. Es stand nie im
Raum, dass es eine Komplettversicherung werden sollte.
Die Versicherten - auch meine Generation - wissen: Es
handelt sich um eine Zusatzversicherung. Dieses System
hat sich bewährt.
Mit dieser Pflegezusatzversicherung - ich habe es
schon gesagt - ist private Vorsorge überhaupt erst möglich geworden. Deshalb meine Bitte an die Kolleginnen
und Kollegen von den Linken, den Grünen und auch an
Sie, Frau Rawert - ich weiß nicht, ob ich Sie richtig verstanden habe -: Lassen Sie die Pflegezusatzversicherung
doch erst einmal wirken!
({8})
Schauen wir uns doch erst einmal an, wie sie sich auswirkt! Es ist doch vernünftig, wenn die Evaluation seriös
sein soll, sie erst nach einem längeren Zeitraum vorzunehmen und nicht schon nach einem Jahr.
Wir sind der Meinung, dass die Pflegezusatzversicherung eine ausgewogene Balance zwischen Beitrag und
Versicherungsleistung darstellt. Die Lage der Versicherten war vor Einführung dieser Versicherung wesentlich
schlechter; das sollte hier niemand vergessen. Eine solche Zuschussversicherung bietet die Chance auf mehr
Eigenverantwortung, schärft aber gleichzeitig den Blick
für die Kosten und sensibilisiert dafür, welch große Herausforderung die Pflege ist.
Das aktuelle System zeigt, dass Pflegebedürftigkeit
kein individuelles Problem ist; diese Thematik betrifft
immer die ganze Familie. Wir dürfen in diesem Zusammenhang nie vergessen, dass Pflegezeiten, der interfamiliäre Einsatz im Falle einer Pflegebedürftigkeit, heutzutage wesentlich stärker gefördert und unterstützt wird,
als das noch vor Jahren der Fall war. Das ist ein Erfolg;
das können wir doch einmal sagen. Die Bundesregierung
setzt mit Karl-Josef Laumann als Beauftragten für Pflege
ein weiteres deutliches Zeichen.
({9})
Die Versicherten, die Pflegebedürftigen, die Angehörigen und die Pflegekräfte in Deutschland sowie alle Familien, die sich mit der Pflegesituation auseinandersetzen müssen, können weiterhin auf eine gute, verlässliche
und vertrauensvolle Versicherung bauen. Dafür steht die
Bundesregierung. Dafür stehen wir als Union. Dafür
steht die Koalition.
Herzlichen Dank.
({10})
Kollege Sorge, das war Ihre erste Rede im Deutschen
Bundestag. Dazu gratuliere ich Ihnen im Namen des gesamten Hauses herzlich und wünsche Ihnen viel Erfolg
in Ihrer Arbeit.
({0})
Das Wort hat der Kollege Heiko Schmelzle für die
CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Besonders begrüßen möchte ich die Parlamentarische Staatssekretärin, Frau Widmann-Mauz. Für
mich ist ihre Präsenz als Vertreterin der Regierung an einem Freitagnachmittag im Plenum des Deutschen Bundestages
({0})
ein deutliches Zeichen dafür, welch hohen Stellenwert
das Thema Pflege in der 18. Wahlperiode für die Koalitionsfraktionen hat.
({1})
Die Deutschen sind heute weit über den Eintritt in den
Ruhestand hinaus deutlich rüstiger, als es gleichaltrige
Senioren vor einigen Jahrzehnten gewesen sind. Wir
werden immer älter. Männer haben mittlerweile eine Lebenserwartung von 78 Jahren, Frauen von circa 83 Jahren. Das steigende Durchschnittsalter ist erfreulich, stellt
unsere Gesellschaft jedoch vor immer größere Herausforderungen; denn die Zahl derjenigen, die auf Pflege
bzw. Hilfe angewiesen sind, steigt ebenfalls stetig.
Mit Weitblick wurde bereits 1995 unter der Regie des
damaligen CDU-Arbeitsministers Norbert Blüm die gesetzliche Pflegeversicherung eingeführt. Ziel war es, allen Bürgerinnen und Bürgern für den Fall der Pflegebedürftigkeit eine Basisabsicherung zu gewährleisten. Man
legte sich damals ganz bewusst auf das Teilleistungsprinzip fest, um überbordende Beitragskosten zu vermeiHeiko Schmelzle
den, die eine vollständige Absicherung des Pflegebedürftigkeitsrisikos mit sich gebracht hätte.
In der letzten Wahlperiode haben wir nun zum 1. Januar 2013 eine staatliche Förderung in Kraft gesetzt, die
die Eigenvorsorge im Rahmen einer privaten Pflegezusatzversicherung unterstützt. Zum Beispiel erreichen auf
diese Weise junge Menschen im Alter zwischen 20 und
40 Jahren mit einem Eigenbeitrag von 10 Euro monatlich und einer staatlichen Förderung von 5 Euro monatlich tendenziell deutlich mehr, als das Mindestsicherungsziel von 600 Euro in Pflegestufe III vorsieht. Im
Idealfall sind dies bis zu 1 400 Euro über den Erstattungsbetrag hinaus, der bereits durch die gesetzliche
Pflegeversicherung gezahlt wird.
Die Zahlen des Verbandes der Privaten Krankenversicherung sind eindeutig. Vor Einführung der staatlichen
Förderung hatten circa 1,8 Millionen Menschen eine private Pflegezusatzversicherung. Seit deren Einführung
sind bereits 500 000 neue Verträge abgeschlossen worden. Dies entspricht innerhalb kürzester Zeit einer Steigerung um 27 Prozent. Das heißt, der von uns bzw. von
der Politik gesetzte Anreiz hat insofern die gewünschte
Wirkung entfaltet, vielleicht nicht im gewünschten
Maße, aber die Richtung ist vorgegeben. Wenn aktuell
1 600 Verträge pro Tag dazukommen, dann ist das doch
ein Erfolg.
({2})
Diese Zahlen werden durch die aktuelle repräsentative
Allensbach-Umfrage untermauert. In dieser wurden rund
2 000 Menschen zum Thema Pflege befragt. 60 Prozent
der Befragten hielten eine staatlich bezuschusste private
Pflegezusatzversicherung für eine gute Sache.
({3})
Was können wir aus den erwähnten Zahlen schließen?
Die Bürgerinnen und Bürger verstehen, dass man ergänzend Eigenvorsorge betreiben muss. Vor diesem Hintergrund muss man die Basisversorgung sehen.
Die Fraktion Die Linke will mit ihrem Antrag die
staatliche Förderung der ergänzenden privaten Pflegeversicherung stoppen und wünscht eine Rückabwicklung
der 500 000 bereits abgeschlossenen Verträge. Des Weiteren fordern die Antragsteller langfristig einen Umbau
der Pflegeversicherung zu einer „Vollkaskoversicherung“. Ich frage mich ernsthaft, wer das am Ende bezahlen soll.
Die Linke verschließt in diesem Zusammenhang aus
meiner Sicht die Augen vor den anstehenden Herausforderungen, die sich uns aufgrund einer alternden Bevölkerung stellen. Besonders irritiert war ich, im Antrag der
Linken Folgendes zu lesen - ich zitiere -:
Die geförderten Tarife sind aufgrund des Kontrahierungszwangs und der fehlenden risikobezogenen
Prämienkalkulation teurer als vergleichbare nicht
geförderte Produkte.
Jetzt kommt der springende Punkt:
Das führt zu einer negativen Risikoselektion und
weiteren Beitragssteigerungen.
({4})
Das sehe ich völlig anders. Ich sehe es gerade als die soziale Komponente der staatlichen Förderung der ergänzenden privaten Pflegeversicherung an, dass auch Menschen mit Vorerkrankungen noch aktiv etwas tun
können, um ihr persönliches Risiko einer Pflegebedürftigkeit finanziell abzusichern.
({5})
Die Linke möchte also gerade jenen die Möglichkeit der
staatlich geförderten Eigenvorsorge nehmen, denen die
geltende Regelung am meisten hilft.
Ich möchte den Antragstellern abschließend ein Zitat
von Mahatma Gandhi mit auf den Weg geben. Es lautet
wie folgt:
Wir haben die Pflicht, stets die Folgen unserer
Handlungen zu bedenken.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit bei meiner ersten Rede.
({6})
Kollege Schmelzle, Sie sagten es abschließend: Das
war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag. Auch Ihnen alles Gute für Ihre weitere Arbeit!
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/591 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir sind am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Dienstag, den 8. April 2014, 11 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen gute
Erholung über das Wochenende.