Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 4/4/2014

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet. Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alle herzlich zur voraussichtlich letzten Plenarsitzung dieser Woche. Ich habe Ihnen mit Blick auf die nächste Sitzungswoche, die ja unmittelbar bevorsteht, mitzuteilen, dass sich der Ältestenrat in seiner gestrigen Sitzung darauf verständigt hat, während der Haushaltsberatungen ab dem 8. April wie üblich keine Befragung der Bundesregierung, keine Fragestunde und auch keine Aktuellen Stunden durchzuführen. Als Präsenztage sind die Tage von Montag, dem 7. April, bis Freitag, dem 11. April, festgelegt worden. Erhebt sich dagegen Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann haben wir das so vereinbart. Ich rufe Tagesordnungspunkt 18 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Philipp Mißfelder, Sibylle Pfeiffer, Frank Heinrich ({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Niels Annen, Dr. Bärbel Kofler, Gabriela Heinrich, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Kordula Schulz-Asche, Tom Koenigs, Omid Nouripour, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Erinnerung und Gedenken an die Opfer des Völkermordes in Ruanda 1994 Drucksache 18/973 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für diese Aussprache 96 Minuten vorgesehen. - Auch dazu kann ich keinen Widerspruch erkennen, sodass wir so verfahren können. Dazu liegt ein Antrag vor, über den wir dann später befinden werden. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Bundesminister des Auswärtigen, FrankWalter Steinmeier. ({1})

Dr. Frank Walter Steinmeier (Minister:in)

Politiker ID: 11004167

Die Berge Ruandas strömen Wärme und Behaglichkeit aus. Sie locken durch Schönheit und Stille, kristallene Luft, Ruhe und die Vollkommenheit ihrer Linien und Formen. Am Morgen füllt durchsichtiger Nebel die grünen Täler. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! So beschreibt Richard Kapuscinski die Landschaft von Ruanda. „Land der tausend Hügel“ wird Ruanda deshalb auch im Volksmund dort genannt. Einer der tausend Hügel liegt in Murambi. Hierhin waren Zehntausende Tutsi geflüchtet, als vor 20 Jahren der Massenmord in Ruanda begann. „Oben am Hügel in der neu gebauten Schule seid ihr sicher“, hatte der Bischof gesagt. Genau an diesem Morgen, am 21. April 1994, umstellten Milizen die Schulgebäude und begannen zu morden, mit Macheten, Messern und Knüppeln ein Blutrausch, der kein Ende nehmen wollte. Zehntausende Menschen starben auf diesem Hügel an einem einzigen Tag. Jonathan Nturo hat das Massaker als kleiner Junge überlebt. Heute sagt er beim Blick über den Hügel: Ich wundere mich manchmal, dass hier noch Gras wächst, dass das Leben weitergeht. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ja, es ist schwer, zu begreifen, dass die Erde sich weiterdreht nach einem solchen Grauen des Völkermords. Dieses Gefühl kennt jeder von uns, vielleicht vom ersten Besuch in BergenBelsen, Buchenwald oder Auschwitz. Es beschleicht jeden, der an solche Orte kommt. Aber auch überall dort wächst noch Gras. Jetzt im Frühling blühen sogar die Bäume. Als Deutscher bin ich vorsichtig mit historischen Vergleichen. Sie werden der Einzigartigkeit und Unvergleichbarkeit dieser Verbrechen und insbesondere der Dimension nationalsozialistischer Verbrechen nie gerecht. Sie werden aber auch der Geschichte und den unterschiedlichen Kulturen Afrikas nicht gerecht. Und trotzdem: Als Deutscher kann man von einem Völkermord in Afrika nicht sprechen, ohne an den von uns selbst zu verantwortenden Völkermord zu denken. Das sind Schicksalsmomente unserer Kontinente. Sie prägen unser Handeln bis heute und prägen eben auch - davon rede ich - die Beziehungen unserer Völker zueinander. Unsere Schicksalsmomente mögen so unterschiedlich sein wie die Landschaften - die Hügel von Ruanda, die Wälder um Auschwitz, die Mohnfelder von Verdun -, doch die Lehren aus diesen Schicksalsmomenten verbinden uns. Sie sind Lehren einer geteilten Menschlichkeit. Die eine Lehre, die an einem Gedenktag wie heute zu ziehen ist, die wir ziehen müssen, heißt: Niemals wieder! Ja, niemals wieder. Doch viel schwieriger ist die Frage, wie wir dieser Verantwortung des „Niemals wieder!“ eigentlich gerecht werden. Seien wir ehrlich: Wir haben schon einmal „Niemals wieder!“ gerufen. Das war 1948, nach dem Holocaust, als die Vereinten Nationen die Völkermordkonvention beschlossen haben. Doch wir haben dieses Versprechen nicht halten können. Die internationale Gemeinschaft hat versagt, als sie in Ruanda vor 20 Jahren inmitten der Gewalt ihre Blauhelmsoldaten abzog. Zur Wahrheit gehört auch, dass heute, in der Gegenwart, die Dämonen des Völkermords keineswegs gebannt sind, auch wenn die internationale Gemeinschaft unter der Überschrift „Responsibility to Protect“ auf Ruanda reagiert hat, auch wenn sie Prävention, Einsatzfähigkeit und die internationale Strafgerichtsbarkeit verbessert hat. Wir sprechen nicht überall von Völkermord, aber wir stehen im Kongo, in Zentralafrika und in Syrien vor endlosem Blutvergießen. Jonathan Nturo und allen Opfern von Menschheitsverbrechen können wir den Verlust ihrer Kinder, Väter, Mütter und Freunde niemals wiedergutmachen. Aber wir schulden ihnen etwas, auch wenn wir ehrlich wissen, dass nicht jedes Unrecht und jedes Blutvergießen gestoppt werden kann. Wir schulden ihnen, dass wir uns nicht dem Gefühl der Ohnmacht und schon gar nicht der Gleichgültigkeit hingeben, dass wir nicht nur anprangern, sondern das uns Mögliche tun, das in unserer Macht steht, um Völkermord zu verhindern. Das ist unsere Verpflichtung, und dieser Verpflichtung müssen wir gerecht werden. ({0}) Ruanda ist dabei, Vergangenheit aufzuarbeiten, ein neues Ruanda zu schaffen. Überall in Afrika entsteht ganz viel Neues in diesen Jahren. Afrika, habe ich in einer anderen Rede gesagt, verändert sich schneller als unsere Wahrnehmung von Afrika. Das ist der Grund für meine Reise nach Äthiopien, Tansania und Angola, die ich in der vergangenen Woche gemacht habe. So unterschiedlich die drei Länder sind, so habe ich doch eigentlich überall, von fast allen Gesprächspartnern, denselben Ruf gehört. Der Ruf lautet: Wir wollen keine Bettler vor den Türen Europas sein. Der afrikanische Kontinent ist aus sich heraus lebensfähig, kann Nahrung und Entwicklung für alle Menschen jedenfalls potenziell bereitstellen. Wenn es um Sicherheit, Stabilität und Frieden geht, sagen viele: Wir wollen nicht um Europas Soldaten bitten, sondern wollen das selbst bewältigen können, selbst handeln können. - Liebe Kolleginnen und Kollegen, das muss eben auch unser Interesse sein. Wir Europäer wollen auch, dass Afrika sein Schicksal in die eigenen Hände nimmt. Afrika ist ein Kontinent im Aufbruch, und wir müssen diesen Aufbruch massiv unterstützen. ({1}) Dazu gehört auch, dass wir viele der afrikanischen Staaten heute mehr und mehr als Partner wahrnehmen. Wir brauchen sie als Partner, auch um die globalen Herausforderungen, vor denen wir gemeinsam stehen, bewältigen zu können. Wenn man dort unterwegs ist, dann merkt man, wie sehr unsere beiden Kontinente, Europa und Afrika, aufeinander angewiesen sind, zueinander gerückt sind, wie sehr wir von der Stabilität des jeweils anderen Kontinentes abhängen. Das erleben wir Europäer - und wir reden hier auch darüber -, wenn Flüchtlinge aus Afrikas Krisenherden an Europas Grenzen stoßen. Aber man spürt es auch in vielen Gesprächen in Afrika, wenn dort gesagt wird: Wir spüren hier vor allen Dingen eure seit fünf Jahren dauernde Krise in Europa, weil von den europäischen Staaten, insbesondere den südeuropäischen Staaten, weniger investiert wird. - Die europäische Krise hinterlässt eben auch tiefe Spuren in Afrika. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Ziel ist leicht beschrieben. Danach zu handeln, ist nicht ganz so einfach. Dazu entwickelt sich Afrika viel zu rasant, viel zu vielfältig. Dieses Afrika will einfach unter keine knackige Überschrift passen, nach der Medien und gelegentlich die Politik suchen. Afrika ist weder einfach Krisenkontinent noch einfach Chancenkontinent. Wahrscheinlich hat Horst Köhler recht, der gesagt hat: Solche Urteile sagen ohnehin viel mehr über uns selber als über Afrika. Ich finde, wenn die Entwicklung Afrikas so vielfältig ist, dann muss unser Instrumentenkasten daran angepasst werden und genauso vielfältig sein. Je nach Land und je nach Lage gehören in diesen Instrumentenkasten wirtschaftliche Investitionen genauso wie Abrüstung oder die Eindämmung von Kleinwaffen; dazu gehört kultureller Austausch genauso wie Straßenbau, die Stärkung des Rechtsstaates genauso wie das Training von Sicherheitskräften. All diese Instrumente habe ich in verschiedenen Ländern, in verschiedenen Staaten gesehen, und alle werden sich in den afrikapolitischen Leitlinien der Bundesregierung wiederfinden, die wir gerade erarbeiten. Ich weiß auch aus eigener Erfahrung: Gerade gegenüber Afrika bleibt Außenpolitik immer auch ein Balanceakt. Dazu gehört der Respekt vor den Unterschieden und die Suche nach Gemeinsamkeiten, aber auch die Feststellung dessen, was möglicherweise unvereinbar ist. Gemeinsamkeiten gibt es heute sehr viel mehr als das „Nie wieder!“, von dem ich ganz am Anfang meiner Rede gesprochen habe, das „Nie wieder!“ zu Krieg und Völkermord. Es ist sehr viel mehr, weil erstens die Europäer wie die Afrikaner gelernt haben, mit Nachbarn zu leben, mit ihnen zu arbeiten statt gegen sie. Das ist eine Leitidee der regionalen Integration, wie wir sie in Europa entwickelt haben; aber das ist eben auch die Leitidee der Afrikanischen Union. Ich befürchte, wir unterschätzen gelegentlich, was von den afrikanischen Organisationen mittlerweile geleistet wird. Natürlich reden wir zu Recht über Einsätze, über Mandate, die hier im Deutschen Bundestag beschlossen werden. Aber viele wissen einfach nicht, dass die Afrikanische Union 70 000 Soldaten in innerafrikanischen Konflikten im Einsatz hat und mit Mühe - und nicht überall erfolgreich - danach sucht, dort Stabilität wiederherzustellen, wo sie verloren gegangen ist. Die Stärkung der afrikanischen Eigenverantwortung, die dazu notwendig ist, hat auf dem EU-Afrika-Gipfel in dieser Woche eine große Rolle gespielt. Wir versuchen, diese Eigenverantwortung zu stärken nicht nur durch situative Ausbildungsmissionen, sondern ganz gezielt, indem wir beispielsweise das Kofi Annan International Peacekeeping Training Centre in Ghana unterstützen oder das Peace and Security Centre - ich konnte mir das ansehen -, das wir auf dem Gelände der Afrikanischen Union in Addis Abeba bauen und das nächstes Jahr eröffnet wird, pünktlicher als manche Baustelle in Deutschland. ({2}) Zweitens. Wir wollen die Vielfalt der Menschen schützen. Die Botschafterin Ruandas hat in einer Rede zum 20-jährigen Gedenken an den Völkermord gesagt: Wir bauen ein Ruanda auf, in dem alle Menschen … sich mit gleichen Rechten entfalten können. In Vielfalt leben, das geht nur - das wissen wir - in einem Rechtsstaat, auf den sich alle verlassen können. Dazu gehört die Freiheit von Meinung und Religion genauso wie die Freiheit der sexuellen Orientierung. Das war ein Grundsatz, der auf meiner Reise eine große Rolle gespielt hat, zum Beispiel beim Besuch des German Tanzanian Law Centre in Daressalam, wo ich Studenten getroffen habe, die sehr an einem Rechtsstaatsdialog mit uns, mit Europa, aber insbesondere mit Deutschland, interessiert sind. Viele ihrer Lehrer haben an deutschen Universitäten studiert. Deshalb will ich an dieser Stelle den vielen deutschen Universitäten meinen herzlichen Dank für ihr Engagement auf dem afrikanischen Kontinent aussprechen, insbesondere dem Deutschen Akademischen Austauschdienst, der sich durch seine Stipendienprogramme mit unendlicher Energie dafür einsetzt, dass die entsprechenden Vorhaben auf den Weg gebracht werden können. ({3}) Drittens haben wir gelernt, dass Frieden oder Unfrieden auch materielle Grundlagen hat, insbesondere dann, wenn sie fehlen. Der Völkermord vor 20 Jahren wurde angeheizt durch materielle Not, durch knappe Ressourcen, durch Konflikte, die die Machthaber systematisch ausgenutzt haben, um möglichst viele Menschen in das Morden zu verstricken. Deshalb gehört zu den Lehren des Völkermords das Friedensversprechen auf der einen Seite, aber auch das Wohlstandsversprechen auf der anderen Seite. Kongo, Nigeria und Angola, alle diese Staaten lehren uns, dass Öl, Gas, Gold und Diamanten nicht von selbst für Wohlstandsentwicklung sorgen, an der alle teilhaben, sondern das muss politisch organisiert werden. Nur wenn der wirtschaftliche Aufbruch Perspektiven für alle Menschen schafft, nur wenn er - auch durch Bildung, Entwicklung und die Schaffung eines Gesundheitswesens - alle Menschen am Wohlstand teilhaben lässt, schweißt er die Gesellschaft zusammen. Nur dann können wir für Frieden sorgen. ({4}) In Addis Abeba führte ich längere Gespräche mit Vertretern der Afrikanischen Union, auch mit der Kommissionsvorsitzenden Frau Dlamini-Zuma. Nach den Gesprächen stellte eine deutsche Journalistin die relativ klare Frage an Frau Zuma: Was ist eigentlich die größte Erwartung Afrikas an Europa? Frau Zuma hat eine klare Antwort gegeben. Sie sagte: Unsere Jugend! Für sie wollen wir mit Europa arbeiten, für ihre Ausbildung, für ihre wirtschaftlichen Perspektiven. Die nächste Frage der Journalistin war: Und was hat Europa von Afrika zu erwarten? Darauf antwortete Frau Zuma: Auch unsere Jugend! Unsere Jugend ist unser Reichtum, und von diesem Reichtum wird auch Europa profitieren. Meine Damen und Herren, die Lehren aus den Schicksalsmomenten, die ich genannt habe, verbinden uns. 20 Jahre nach dem Völkermord ist Ruanda heute ein Land, das auf dem Weg ist in eine neue Zukunft, ohne zu verdrängen, ohne zu vergessen. Die tausend Hügel, von denen ich gesprochen habe, sind und bleiben die Schicksalslandschaft Afrikas. Roméo Dallaire, der 1993 als Kommandeur der Blauhelme nach Ruanda kam, rief, als er diese tausend Hügel sah: Ein Garten Eden ist das hier. Wenige Monate später musste er voll Scham und Wut das Massaker mit ansehen. Die Erinnerung ist in tausend Hügeln eingeprägt. Ihr Name bleibt verbunden mit den Menschheitsverbrechen vor 20 Jahren. Liebe Kolleginnen und Kollegen, neben aller Erinnerung, die in dieser Landschaft ruht: Denen, die Ruanda heute aufbauen, mögen die tausend Hügel wieder Heimat sein und fruchtbarer Boden. Vielen Dank. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Stefan Liebich für die Fraktion Die Linke. ({0})

Stefan Liebich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004093, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! „Ihr habt gute Arbeit geleistet“, so bedankte sich der Präfekt des Verwaltungsbezirks Gikongoro im Süden Ruandas bei jenen, die innerhalb weniger Stunden Abertausende von Menschen getötet hatten. Damals, vor 20 Jahren, hat kein Virus des Tötens, wie manche sagen, das Land befallen. Es waren keine vermeintlichen Wilden, die sich in einen Stammeskrieg verirrten. Es waren gebildete, moderne Eliten, die Unvorstellbares taten. Sie organisierten einen hunderttausendfachen Mord an den Tutsi und den gemäßigten Hutu und führten ihn teilweise auch eigenhändig durch. Eine Frage, der wir uns heute stellen müssen, ist, wie es zu diesem Völkermord kommen konnte und wer dafür in Ruanda, in Afrika, in Europa, in unserer Weltgemeinschaft die Verantwortung trägt. Wie konnte so etwas geschehen in einem Land, in dem die Menschen die gleiche Sprache sprechen, meist auch die gleiche Religion haben, in dem man über sehr lange Zeit friedlich miteinander lebte und sich vor allem dadurch unterschied, dass der eine Ackerbauer und der andere Viehbesitzer war? Hutu und Tutsi wurden erst von Europäern zu Feinden gemacht. Es war der Engländer John Speke, der 1860 fand, dass die Tutsi den neolithisch-hamitischen Völkern zugerechnet werden müssten und den afrikanischen Hutu überlegen seien. Festgeschrieben wurden die angeblichen Rassenunterschiede durch die Deutschen, deren Kolonie das Territorium Ruandas zunächst war, und vor allem durch die belgischen Kolonialherren, die in Pässe eintragen ließen, ob jemand Hutu oder Tutsi ist. Soziale Unterschiede wurden ethnisiert, damit die europäischen Mächte das Land leichter beherrschen und die Gruppen gegeneinander ausspielen konnten. Hier liegt die Wurzel des Übels. Es waren auch die Belgier, die eine Hutu-Regierung in Ruanda ins Amt brachten und damit der jahrhundertealten Tutsi-Herrschaft ein Ende setzten. Die Hutu diskriminierten die Tutsi. Die Tutsi flohen. Es gab Kämpfe und Tote, und die Invasion der Tutsi der Ruandischen Patriotischen Front, der heutigen Regierungspartei Ruandas, unter Paul Kagame von Uganda aus konnte nur durch das Eingreifen Frankreichs, das die Hutu-Regierung unterstützte, gestoppt werden. Nun begann die Vorbereitung zum Völkermord: Radios wurden umsonst im Land verteilt, um Hass- und Gewaltaufrufe zu verbreiten. Als das Präsidentenflugzeug am 6. April 1994 abgeschossen wurde, brachen alle Dämme. Mit Namenslisten gingen die Anhänger von Hutu Power, so der Name einer rassistischen Partei, als Erstes zu den Häusern der gemäßigten Hutu-Politiker und brachten sie um. Am 7. April 1994, also einen Tag später, war die gesamte Regierung ausgelöscht oder untergetaucht. Dann wurde den Milizen freie Hand gewährt. Allen, die sich an den Massakern beteiligten, bot man materielle Anreize. Wer nicht mitmischte, wurde mitsamt seiner Familie getötet. In 100 Tagen wurden 75 Prozent der ruandischen Tutsi ermordet. Das Grauen wird noch heute in zahlreichen Gedenkstätten deutlich. Viele stellten und stellen sich die Frage, warum die Weltgemeinschaft den Geschehnissen keinen Riegel vorgeschoben hat, warum die UNO nicht militärisch eingegriffen hat, als die Dimension der Unmenschlichkeit bekannt wurde. Ich finde diese Frage verständlich. Noch wichtiger ist es, sich damit auseinanderzusetzen, was man hätte tun können, um den Völkermord schon vor seinem Geschehen zu verhindern. Vor der Verantwortung zum Schutz der Zivilbevölkerung, vor solchen Verbrechen liegt die Verantwortung, zu vermeiden, dass es überhaupt so weit kommen kann. ({0}) Warum wurden vor 130 Jahren hier ganz in der Nähe in der Wilhelmstraße die Grundlagen für die Aufteilung der Kolonien Afrikas gelegt und willkürlich Grenzen gezogen, ohne irgendeinen der Menschen zu fragen, die seit Jahrhunderten auf diesem Kontinent lebten? Was war die Rolle Deutschlands und Belgiens bei der Ziehung der Grenzen zwischen den Bewohnern Ruandas? Schließlich: Was ist mit Frankreich? „Hebt endlich die Geheimhaltung der Rolle Frankreichs in Ruanda auf!“, fordert seit vergangenem Mittwoch eine Petition, die bereits von Tausenden Franzosen unterschrieben wurde. Denn immer noch hält die Regierung Hollande die Akten unter Verschluss. Französische Experten hatten die rassistische Hutu Power bei der statistischen Erfassung und Organisation der gesamten Bevölkerung beraten. Die Statistiken haben später beim Völkermord geholfen. Die GenozidRegierung selbst wurde in den Räumen der französischen Botschaft in Kigali gegründet, und als der Völkermord bereits auf Hochtouren lief, wurde sie noch in Paris empfangen. Wer Außenpolitik nicht nur von der Seitenlinie machen möchte, Frau Merkel, Herr Steinmeier, und wer Afrika dabei im Blick hat, der sollte schleunigst gegenüber den französischen Freunden aktiv werden und hier Aufklärung fordern. ({1}) Wenn wir die Opfer des Völkermords ehren wollen, dann sollten wir Ruanda helfen, zum Beispiel den Überlebenden des Völkermords, die heute unter HIV und Aids leiden, und jenen, die an ihrem Lebensabend keine Familien mehr haben, die sie unterstützen können. Wir helfen nicht, wenn wir mit Kritik an der Scheindemokratie, die Ruanda heute ist, sparen. Unterdrückung der Opposition, mangelnde Pressefreiheit und die Rolle Kagames im Kongo dürfen nicht verschwiegen werden. Eines noch zum Schluss: Bitte legitimieren Sie keine neuen Militäreinsätze in Situationen, die mit Ruandas Völkermord mit Hunderttausenden Toten nicht zu vergleichen sind! ({2}) Eine soziale und gerechte Weltwirtschaftsordnung und daraus erwachsende Stabilität - der Außenminister hat darauf hingewiesen - sind sicher keine Garantie, aber können helfen, solche Abgründe der Unmenschlichkeit zu vermeiden. Hier haben wir noch viel zu tun. Vielen Dank. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Philipp Mißfelder für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Philipp Mißfelder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003810, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In diesen Tagen jährt sich der Völkermord in Ruanda - am kommenden Montag findet eine Gedenkveranstaltung in Ruanda selbst statt - zum 20. Mal. Zwischen April und Juni 1994 wurden über 800 000 Menschen, vorwiegend Tutsi, aber auch gemäßigte Hutu, Opfer eines unbeschreiblichen Sterbens. Der Deutsche Bundestag verneigt sich mit diesem Gedenken und den Initiativen, die wir ergriffen haben, vor den Opfern von Gewalt, Mord und Vertreibung. Wir wollen durch unser Gedenken sicherstellen, dass dies nicht vergessen wird. Wir bedauern insbesondere, dass es der internationalen Gemeinschaft trotz zahlreicher Hinweise aus dem Land und außerhalb des Landes damals nicht gelungen ist, die Vorboten des Völkermords zu erkennen und die Entwicklung zu verhindern. Deshalb wollen wir mit dieser Debatte nicht nur anregen, der Opfer zu gedenken - dies tun wir -, sondern wir wollen auch darüber sprechen - das ist in den vorherigen Wortbeiträgen bereits geschehen -, wie Völkermord insgesamt verhindert werden kann und welchen Einfluss europäische Politik, positiv wie negativ, auf Afrika haben kann. Die Ursachen dieses Völkermords sind von meinem Vorredner sehr deutlich herausgearbeitet worden. Eines muss man sagen: Selbstverständlich haben auch europäische Länder dort aufgrund ihrer Interessenpolitik herumexperimentiert. Dies hat dem Land nicht gutgetan, und das haben viele Menschen mit dem Tod bezahlt. ({0}) Die autoritäre Militärregierung hat damals versucht, die Opposition niederzuringen und dringend notwendige Reformen zu verhindern. Als 1973 Präsident Juvénal Habyarimana durch einen Staatsstreich ins Amt kam, war die Rollenverteilung nicht nur in ethnischer Hinsicht klar, sondern auch machtpolitisch zementiert. Zur Konsolidierung seiner Macht platzierte der Präsident diverse Hutu-Anhänger in nahezu allen Schlüsselpositionen, vor allem in der Armee des Landes. Anfang der 90er-Jahre eskalierten die Auseinandersetzungen mit der Patriotischen Front, der Rwandese Patriotic Front, des heutigen Staatspräsidenten Paul Kagame, der später den Völkermord beendet hat. Lokale Pogrome kosteten damals bereits Hunderte von Tutsi das Leben. Nach langwierigen Verhandlungen unterzeichneten Regierung und Opposition am 4. August 1993 in Tansania ein Friedensabkommen, das eine Teilung der Macht sowie eine Integration der Rebellenarmee vorsah. Beide Parteien befürworteten die Stationierung einer UN-Blauhelmtruppe, um die Umsetzung der Vereinbarung zu überwachen. Am 5. Oktober 1993 richtete der UN-Sicherheitsrat mit der Resolution 872 auf Vorschlag des damaligen Generalsekretärs Boutros Boutros-Ghali eine UNO-Mission für Ruanda ein. Aber auch das hat den späteren Völkermord nicht verhindert. Der damalige UNAMIRKommandeur traf am 22. Oktober 1993 in der ruandischen Hauptstadt Kigali ein, die ersten Soldaten fünf Tage später. Das heißt, die UNO war damals schon präsent. Die Etablierung einer Übergangsregierung unter Einschluss der Patriotischen Front Kagames scheiterte jedoch. Über Radio - das wurde bereits gesagt - wurde damals bereits dazu aufgerufen, die Tutsi umzubringen. Die Situation eskalierte vollkommen, als am 6. April 1994 das Flugzeug abgeschossen wurde, in dem Präsident Habyarimana saß, und dieser dabei ums Leben kam. Dadurch wurde eine neue Eskalationsstufe erreicht. Die Planungen dazu wurden aber wahrscheinlich schon vorher getroffen. Wir müssen kritisch überprüfen, was die UNO-Mission damals gebracht hat und ob sie vielleicht Schlimmeres hätte verhindern können. Die UNO hat sich deshalb Jahre später, im Jahr 1999, unter dem früheren schwedischen Premierminister Carlsson ausführlich mit diesem Völkermord und mit seinem Zustandekommen beschäftigt. Ich möchte aus dem Bericht zitieren: Die Unabhängige Untersuchungskommission stellt fest, daß die Vereinten Nationen im Vorfeld und während des Völkermordes in Ruanda 1994 in mehreren grundsätzlichen Punkten versagt haben. Die Verantwortung für das Versagen der Vereinten Nationen, den Völkermord in Ruanda zu verhindern oder zu stoppen, liegt bei einer Reihe verschiedener Akteure, insbesondere beim Generalsekretär, dem Sekretariat, dem UNO-Sicherheitsrat, der UNAMIR und bei der breiteren Mitgliedschaft der Vereinten Nationen. Diese internationale Verantwortung verlangt eine klare Entschuldigung der Organisation und der betreffenden Mitgliedstaaten gegenüber dem ruandischen Volk. Hinsichtlich der Verantwortung jener Ruander, die den Völkermord an ihren Landsleuten planten, dazu aufhetzten und ihn begingen, sind fortgesetzte Bemühungen erforderlich, sie vor Gericht zu stellen, vor den Internationalen Strafgerichtshof für Ruanda und vor nationale Gerichte in Ruanda selbst. Aus diesem Bericht und aus den vielen Bemühungen, die es damals gab, um den Völkermord und das Versagen der internationalen Staatengemeinschaft aufzuarbeiten, ist die Diskussion um die sogenannte Responsibility to Protect entstanden. Sie spielt hier sehr häufig eine Rolle. Häufig wird aber vergessen, dass der Ausgangspunkt eigentlich das Versagen der UNO im Hinblick auf den Völkermord in Ruanda war. Deshalb ist es richtig, wenn man die Responsibility to Protect bemüht oder als politisches Hilfsargument anführt, dass man sich vergewissert, dass dieser Gedenktag eine ganz wichtige Funktion hat, und dass man sieht - es ist uns gelungen, die Debatte um RtoP in der UNO voranzubringen -: Häufig führt die Selbstblockade der UNO dazu, dass es keine Garantie dafür gibt, dass dieses Prinzip auch angewandt wird. Vor diesem Hintergrund möchte ich an einem Punkt - gar nicht polemisch - widersprechen. Auch hier im Hause gibt es unterschiedliche Auffassungen darüber, ob man im Rahmen der Responsibility to Protect oder im Rahmen weiterer Möglichkeiten zur Verhinderung eines Völkermordes militärische Maßnahmen ergreifen sollte oder nicht. Ich stimme dem, was gesagt worden ist, zu. Man kann generell sagen: Es ist besser, wenn man vorausschauend agiert. - Die verfehlte Kolonialpolitik hat dazu geführt, dass man Ruanda zu wenig geholfen hat, dass man Ruanda in diese Situation gebracht hat, dass man Ethnien zuerst kreiert und sie dann gegeneinander aufgehetzt hat. Aber nichtsdestotrotz: Wenn so etwas falsch gelaufen ist und sich ein Land in eine falsche Richtung bewegt, dann muss man bereit sein, zum Schutz der Zivilbevölkerung als äußerstes Mittel der Politik auch militärische Maßnahmen zu ergreifen. Da stimmen wir hier im Haus eben nicht alle überein. Deshalb möchte ich mich noch einmal dafür starkmachen, dass ein Mittel im Rahmen der Responsibility to Protect als äußerste Möglichkeit eben auch militärische Maßnahmen sein sollten. ({1}) Der Bundesaußenminister hat klargemacht, dass er einen Schwerpunkt seiner Arbeit auf Afrika legt; ich glaube, seine jüngste Reise vor ein paar Tagen dokumentiert das sehr deutlich. Deshalb möchte ich heute unsere Bereitschaft betonen, mit der Regierung in Ruanda ein neues Kapitel der bilateralen Zusammenarbeit aufzuschlagen. Kritische Punkte in Bezug auf Präsident Kagame sind angesprochen worden. Aber eines sollten wir nicht vergessen: Dieser Mann hat den Völkermord damals beendet und zur Aussöhnung im Land erheblich beigetragen. Wir sehen, dass Ruanda Schwierigkeiten hat. Wir sehen aber auch, dass die wirtschaftlichen Perspektiven, die Perspektiven von Good Governance und Regierungsführung im Allgemeinen viel besser sind als in vielen anderen Ländern. Vor diesem Hintergrund sollten wir am heutigen Tage mit Blick auf die Zukunft festhalten, dass wir, gerade was die Region der Großen Seen oder die Diskussion über den Kongo angeht, mit Ruanda zusammenarbeiten, die politische und die bilaterale Zusammenarbeit vertiefen und weiterhin versuchen wollen, ein freundschaftliches und partnerschaftliches Verhältnis zur Regierung zu pflegen. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun die Kollegin Kordula SchulzAsche für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Kordula Schulz-Asche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004405, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es gab viele Ereignisse, Bilder und Gefühle im Jahr 1994, die ich mein Leben lang nicht vergessen werde. Eine kleine Auswahl: Am Abend des 6. April 1994 hatten wir in Kigali einen portugiesischen Arbeitskollegen zu Besuch. Meine dreijährige Tochter lag schon schlafend im Bett, als um 20.20 Uhr ein lauter Knall aus Richtung Flughafen zu hören war. Wenig später erfuhren wir über Telefon und Funkgeräte vom Abschuss des Flugzeugs des damaligen ruandischen Präsidenten. In dieser Nacht auf den 7. April begann der systematische Völkermord an den Tutsi und die Ermordung von moderaten und oppositionellen Hutu. Am 7. April erhielten wir den Anruf der Ehefrau eines Arbeitskollegen, beide Tutsi, die uns verzweifelt um Hilfe bat, weil Soldaten versuchten, in das Haus einzudringen. Plötzlich hörten wir Krachen im Hintergrund und kurz darauf Schreie; dann brach das Gespräch ab. Später haben wir erfahren, dass an diesem Tag die gesamte Familie ermordet worden war. Am 9. April fuhren wir im ersten Konvoi im Rahmen der Evakuierung Richtung Burundi. Als wir uns der kleinen Stadt Gitarama näherten, kam uns ein alter, sehr hoch gewachsener Mann, ein Bauer, entgegen. Er schaute auf den Konvoi, begriff, dass die Ausländer gerade dabei waren, das Land zu verlassen, ließ seinen Stab fallen und schlug verzweifelt die Hände vor das Gesicht. In diesem Moment dachte ich wieder einmal: Wir werden es wahrscheinlich schaffen, aber diese Menschen hier lassen wir zurück. Müsste man nicht bleiben? Müsste man nicht irgendetwas tun? - Ein Gefühl, meine Damen und Herren, das man nie wieder vergisst. Im September und Oktober 1994, nach dem Völkermord, kehrte ich nach Ruanda zurück und erfuhr von vielen Kolleginnen und Kollegen, die unter den Opfern waren, aber auch von jenen Kolleginnen und Kollegen, von denen es hieß, dass sie gemordet haben. So fuhr ich bis 1998 regelmäßig zu der Nichtregierungsorganisation, in der ich vor dem Völkermord gearbeitet hatte, um die Einarbeitung neuer Mitarbeiter zu begleiten. Die Frage „Warum habt ihr nicht geholfen?“ konnte ich allerdings nicht beantworten. Aber seitdem bin ich der festen Überzeugung, dass es eine Verantwortung der internationalen Gemeinschaft gibt, aus den Fehlern in Ruanda zu lernen, um eine Zivilbevölkerung tatsächlich wirksam vor Völkermord zu schützen und vor allem alle Möglichkeiten der Prävention zu erkennen, dann aber auch zu nutzen. ({0}) Im Mittelpunkt der heutigen Debatte steht für mich das Gedenken an die vielen Opfer des Völkermords in Ruanda. Wir gedenken auch jener, die, sich selbst größter Gefahr aussetzend, anderen geholfen haben. Wir haben aber auch ausdrücklich des Leids derjenigen zu gedenken, die überlebt haben, die Verwandte verloren haben - manche haben ihre ganze Familie verloren -, die, selbst traumatisiert, verstümmelt, vergewaltigt, nun ihren Platz in der heutigen ruandischen Gesellschaft finden müssen. Sie gehören oft zu den Vergessenen dieses Völkermords. Die Konzentration, die richtige Konzentration auf die juristische Verurteilung der Täter vernachlässigt nach wie vor die Frage, wie die Opfer, wie die Zeugen besser unterstützt werden können. Hier, meine Damen und Herren, sehe ich auch international noch großen Handlungsbedarf, auch für die Zukunft. ({1}) Der fraktionsübergreifende Antrag erwähnt die ruandischen Bemühungen zur Aufarbeitung, die Arbeit des Arusha-Tribunals, den Aufbau eines geordneten Staatswesens, unterstützt auch durch die Zusammenarbeit mit Deutschland, mit dem Ziel einer guten demokratischen, rechtsstaatlichen und nachhaltig sozioökonomischen Entwicklung in der Region der Großen Seen. Wirkliche Partnerschaft heißt aber auch, immer dann in den Dialog zu treten, wenn Menschenrechte verletzt werden. Die nachhaltige Entwicklung eines Landes ist nur möglich, wenn sich der Rechtsstaat auf eine aktive vielfältige Zivilgesellschaft stützen kann, die keine Angst vor Verfolgung haben muss. ({2}) Auch hier könnte Ruanda zu einem Vorbild werden. Die Bereitschaft, dies zu unterstützen, besteht - da bin ich mir sicher - im gesamten Haus. Die bisherige Aufarbeitung des Völkermords in Ruanda - ich denke an seine Genese, seine Mechanismen und seine Akteure - hat bereits geholfen, internationale Instrumente der Frühwarnung und Prävention zu entwickeln, auch wenn es - das wird uns immer wieder bewusst - schwere Rückschläge gibt. Besonders die Responsibility to Protect, die durch die Vereinten Nationen 2005 entwickelt und etabliert wurde, geht auch auf die Erfahrungen in Ruanda zurück. Heute ist daher eine entscheidende Frage, ob wir wirklich bereits alle Erfahrungen aufgearbeitet und wirklich alle Konsequenzen gezogen haben. Die Antwort ist: offensichtlich nein. Es ist immer leicht, auf andere zu zeigen. Die Verantwortlichen für das Versagen der internationalen Gemeinschaft während des Völkermords hatten einige schnell identifiziert: die USA mit ihrem Scheitern in Somalia, Belgien als ehemalige Kolonialmacht, Frankreich als starker Verbündeter der Regierung Habyarimana, die Vereinten Nationen, weil sie es versäumt hatten, früher einzugreifen. Und Deutschland? Vor dem Hintergrund der sich hinziehenden Friedensverhandlungen in Arusha häuften sich seit 1992 immer mehr Informationen über Trainingscamps von Milizen, Waffenverteilung, Todeslisten mit Namen von Tutsi und oppositionellen Hutu, über Massaker, auch in großem Ausmaß, an der Bevölkerung. Was wurde aufgrund all dieser Warnungen getan? Warum wurden geheimdienstliche Erkenntnisse Deutschlands nicht an die UN-Ruanda-Mission weitergeleitet? Warum wurde die Bitte der UN im Mai 1994 auf Sanitätssoldaten abgeschlagen? Warum wurden 147 Flüchtlinge, für die Rheinland-Pfalz sogar die Übernahme aller Kosten zugesagt hatte, nicht in Deutschland aufgenommen? Warum dauerte es so lange, bis der damalige Außenminister das Wort „Völkermord“ in den Mund nahm, und warum hatte es, als er es tat, keinerlei Folgen? Warum hat der Bundestag 1994 kein einziges Mal über Ruanda diskutiert? - Das sind nur einige offene Fragen. ({3}) „Wo wart ihr? Warum habt ihr uns nicht geholfen?“ Bartholomäus Grill sagt in dieser Woche in einem sehr beeindruckenden Artikel im Spiegel: Ich schäme mich bei solchen Fragen bis heute. Er hinterfragt die eigene Rolle als Journalist und seine 1994, wie er selbst sagt, „flott hingeschriebene Fernanalyse“. Weiter sagt Herr Grill: Am Ende schrieb ich, dass eine Intervention von außen wohl zwecklos sei. Der Text enthält die unverzeihlichsten Irrtümer, die mir in meinem Berufsleben unterlaufen sind. Hoffentlich ist dieser Artikel ein Auslöser der Aufarbeitung von journalistischer Seite der Art und Weise von Berichterstattung, aber zum Beispiel auch der Ausbildung von Journalisten der Zeitschrift Kangura oder des Senders Radio-Télévision Libre des Mille Collines. Es ist auch überfällig, die Verantwortung der deutschen Entwicklungs-, Verteidigungs-, Außen- und Innenpolitik aufzuarbeiten. In den 20 Jahren vor dem Völkermord war Deutschland der zweitgrößte Geber. Ruanda erhielt Ausstattungshilfe für die Streitkräfte, und seit 1978 gab es auch vor Ort eine Beratergruppe der Bundeswehr - bis zum April 1994. DED, GTZ, die Deutsche Welle, politische Stiftungen, die beiden großen Kirchen und viele Nichtregierungsorganisationen wirkten vor Ort. Die enge Partnerschaft zwischen RheinlandPfalz und Ruanda bestand in den 1990er-Jahren aus über 650 Projekten. Und wieder die Fragen: Wo wart ihr? Warum habt ihr uns nicht geholfen? Die Prävention von Völkermorden bedarf der Entschiedenheit der Vereinten Nationen. Diese Entschiedenheit wird immer auch geprägt vom Engagement einzelner Nationen. Im Ruanda vor dem Völkermord hielten Politiker aus fast allen Parteien Ausschau nach dem Engagement eines neutralen Partners, und ihre Hoffnung richtete sich auf Deutschland. Dass es wiederholt und zunehmend dringlicher den Wunsch nach einer deutschen Vermittlungsinitiative gab, wissen wir vom Hörensagen. Ob dies stimmt und ob die Bundesrepublik jemals erwogen hatte, diesem Wunsch nachzukommen, wird man heute ohne eine gründliche historische Aufarbeitung kaum noch belegen können. Nach dem Völkermord war Deutschland eines der ersten Länder, die in Ruanda wieder aktiv wurden. Mit wesentlicher deutscher Unterstützung haben die afrikanischen Partnerländer mit dem Ausbau von Frühwarnsystemen und der Unterstützung von Friedensmissionen beginnen können, die es vor dem Völkermord in Ruanda überhaupt nicht gegeben hat. Was nun fehlt, ist eine systematische, unabhängige wissenschaftliche Aufarbeitung der deutschen Politik in den Jahren 1990 bis 1994. Dies betrifft auch die Politik im Verhältnis zu anderen europäischen Partnern; Frankreich ist bereits genannt worden. ({4}) Das Ziel einer solchen Aufarbeitung sollte es sein, dass wir für die Zukunft weitere Lehren daraus ziehen und wirklich sagen können: Unser Ziel ist: Nie wieder Völkermord! Lassen Sie uns alle gemeinsam, auch vor dem Hintergrund unserer eigenen Geschichte, eine Antwort auf die Frage finden: Warum habt ihr uns nicht geholfen? Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Niels Annen für die SPD-Fraktion. ({0})

Niels Annen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003732, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. - Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kollegin Schulz-Asche, ich möchte Ihnen für Ihre eindrücklichen, sehr persönlichen Worte recht herzlich danken. ({0}) Am 6. April 1994 wurde die Maschine des ruandischen Präsidenten im Landeanflug auf Kigali abgeschossen. Dabei kamen alle Insassen ums Leben. Nur wenige Minuten später begann der Mord an Hunderttausenden Tutsi, aber auch an moderaten Hutu, die sich schützend vor ihre Nachbarn gestellt hatten. Es war keine spontane Eruption von Gewalt, sondern ein von langer Hand organisatorisch und ideologisch vorbereiteter Mord. In den Reden ist darauf hingewiesen worden: Die Verantwortlichen dafür - meine Damen und Herren, das macht es besonders schwer zu verstehen - waren bekannt. Auch für mich hat die Erinnerung an den Genozid in Ruanda einen sehr persönlichen Bezug: Am 6. April 1994 habe ich meinen 21. Geburtstag gefeiert. Die Tragweite der Ereignisse, die wir eher beiläufig über das Radio erfahren haben, habe ich damals, wie so viele andere auch, nicht erfasst. In Ruanda sind zwischen April und Juli 1994 systematisch unvorstellbare Verbrechen begangen worden, Verbrechen, die unser Fassungsvermögen auf eine harte Probe stellen; der Außenminister hat dazu die richtigen Worte gefunden. Ich glaube - ohne unpassende Vergleiche anstellen zu wollen -: Für uns Deutsche stellt dieser Gedenktag eine besondere - wie soll man sagen? - Herausforderung dar. Wir wissen, wie schwer es ist, zu den dunklen Seiten der eigenen Vergangenheit zu stehen. Ich bin deshalb dankbar und ich freue mich darüber, dass es CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen gelungen ist, einen gemeinsamen Antrag vorzulegen, den wir heute verabschieden wollen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, der heutige Gedenktag erinnert uns nicht nur an den von Deutschen begangenen Völkermord an den Juden, sondern auch an das Versagen der internationalen Gemeinschaft, dem Morden in Ruanda ein Ende zu bereiten; auch darauf ist zu Recht hingewiesen worden. Dieses - man kann das gar nicht häufig genug betonen - Versagen der internationalen Gemeinschaft ist auch unser Versagen, ist auch ein Versagen der deutschen Politik gewesen. Seit dem Völkermord in Ruanda stellen wir uns in diesem Parlament, in der deutschen Öffentlichkeit bei Nachrichten über massive Menschenrechtsverletzungen die Frage: Ist unsere Antwort angemessen? Der häufig ausgesprochene, manchmal aber auch unausgesprochene Maßstab für die Antwort ist Ruanda; in gewisser Weise ist Ruanda somit zum Synonym für Menschheitsverbrechen geworden. Wenn wir heute der Opfer gedenken, müssen wir uns auch die Frage stellen, ob wir aus diesem gemeinschaftlichen Versagen die notwendigen, die richtigen Lehren gezogen haben. Krisen betreffen häufig nicht nur ein Land - wir haben häufig nicht mehr die klassischen Akteure innerstaatlicher Konflikte -, Konfliktursachen kennen oftmals keine Staatsgrenzen mehr. Das stellt uns vor große Herausforderungen. Gerade die aktuellen Krisen in Mali, in der Zentralafrikanischen Republik und im Südsudan, die den Deutschen Bundestag und die deutsche Öffentlichkeit beschäftigen, machen allesamt nicht an - manchmal aus der Kolonialzeit stammenden, willkürlichen - Grenzen halt, und sie können leicht über diese Grenzen hinaus Auswirkungen haben. Unsere Politik, liebe Kolleginnen und Kollegen, muss darauf angemessen reagieren. Wir alle wissen: Das ist nicht immer einfach. Ruanda hat, auch wenn uns einige innenpolitische Entwicklungen durchaus Sorgen bereiten, in den letzten Jahren beeindruckende Fortschritte gemacht. Wir ermutigen die Regierung, auf diesem Wege weiterzugehen. Ich möchte die Gelegenheit deshalb gerne nutzen, den Generalkonsul Ruandas in Vertretung der Botschafterin heute auf der Bühne zu begrüßen: Seien Sie uns herzlich willkommen! ({1}) Der Genozid in Ruanda hat in der Zwischenzeit sehr konkrete politische, aber auch völkerrechtliche Konsequenzen ausgelöst. So wurde die sogenannte SchutzverNiels Annen antwortung als Kategorie des Völkerrechts entwickelt. Das ist ein Fortschritt, weil Staaten, die massive Menschenrechtsverletzungen zu verantworten haben, sich nicht mehr hinter der nationalen Souveränität verstecken können. Natürlich ist auch diese Norm nicht perfekt, und die Diskussion über den Einsatz der NATO in Libyen zeigt uns, wie schmal der Grat zwischen berechtigtem - auch militärischem - Eingreifen auf der einen und der Überinterpretation eines auf der Schutzverantwortung basierenden Mandates der Vereinten Nationen auf der anderen Seite ist. Gerade deshalb sei hier ausdrücklich daran erinnert: Die eigentliche Bedeutung der Schutzverantwortung liegt in der Verpflichtung, Staaten in die Lage zu versetzen, Massengewalttaten im Vorfeld solcher Ereignisse zu verhindern. Ich halte es für eine zentrale Aufgabe der deutschen Politik, diese Fähigkeiten aufzubauen und dabei mit den afrikanischen Staaten und der Afrikanischen Union zusammenzuarbeiten. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, deswegen möchte ich dem Bundesaußenminister dafür danken, dass er ausdrücklich darauf hingewiesen hat, wie wichtig diese Kooperation mit den afrikanischen Staaten ist. Ich will das hier einmal vielleicht auch etwas salopp formulieren: In der Wahrnehmung der deutschen Politik, aber auch in der Wahrnehmung der deutschen Öffentlichkeit wird Afrika manchmal wie ein Land behandelt, und dabei vergessen wir, wie unterschiedlich die Entwicklungen in Afrika sind. Wir müssen die positiven Entwicklungen unterstützen, und ich glaube, dazu können wir als Parlamentarier beitragen. ({3}) Heute - und das ist ein Fortschritt - herrscht ein weitgehender Konsens darüber, dass die Staatengemeinschaft in Ruanda versagt hat. Der ehemalige amerikanische Präsident Bill Clinton, der sein Wegschauen in Ruanda als das schwerste Versäumnis seines Lebens bezeichnet hat, hat in einer Rede in Kigali Folgendes formuliert - ich zitiere -: Wir haben nicht schnell genug reagiert, die Verbrechen nicht das genannt, was sie waren: ein Genozid. Wir können die Vergangenheit nicht ändern, aber alles in unserer Macht Stehende tun, um eine Zukunft ohne Angst, aber voller Hoffnung zu bauen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das bleibt auch weiterhin unsere Aufgabe. Herzlichen Dank. ({4})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Wolfgang Gehrcke hat nun das Wort für die Fraktion Die Linke. ({0})

Wolfgang Gehrcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003130, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herzlichen Dank. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es bleibt natürlich die Fassungslosigkeit über das, was in Ruanda passiert ist. Ich finde, das können der menschliche Verstand und erst recht die menschliche Seele nicht aufnehmen und verarbeiten. Ich wünsche mir sehr, dass diese Fassungslosigkeit fraktionsübergreifend alle Mitglieder dieses Parlamentes bewegt. Vielleicht können wir eines tun, nämlich zu gleichen Fragen kommen. Ob wir dann auch zu gleichen Antworten kommen, weiß ich nicht. Ich möchte Ihnen aber anbieten, dass wir über gleiche Fragen an gleichen Antworten arbeiten. Ich biete Ihnen also meine Fragen an und bitte Sie, mit darüber nachzudenken. Meine erste Frage lautet natürlich: Was kann Menschen dazu bringen, andere Menschen in einer kollektiven Raserei umzubringen? Brecht hat das einmal so formuliert: Welche Kälte muss über Menschen gekommen sein, um so etwas vollbringen zu können? - Auf diese Frage suche ich eine Antwort: Was kann Menschen dazu bringen? Ich blicke dabei nicht nur auf Ruanda, und ich sage das schon gar nicht in Verbindung mit Afrika. Wir können hier auch auf die Killing Fields in Kambodscha blicken, und wir können blicken auf die Geschichte unseres eigenen Landes. Ich fand es sehr in Ordnung, dass der Außenminister auch angesprochen hat, dass wir von Deutschland als von einem Land reden, das industriell, massenhaft, Menschen ermordet hat. Wir kommen also auch aus einer Tradition der Schuld. Meine nächste Frage lautet: Was kann man dafür tun, dass Menschen so immun gemacht werden, dass sie nicht gegen andere Menschen aufgehetzt werden können? Das ist doch eine Frage, die wir weltweit beantworten müssen. Ich suche eine Antwort darauf, dass solche Aufhetzungen wie in Ruanda nicht vom Himmel fallen, sondern Ursachen haben. Wenn man Bevölkerungsteile aufeinander hetzt, hat das zuletzt und am wenigsten ethnische und religiöse, sondern auch konkrete ökonomische und politische Ursachen. Ich möchte gerne, dass wir Anstrengungen dafür unternehmen, Ausgleichsformen zu finden, und ein staatliches Gewaltmonopol entwickeln, das tatsächlich an Recht, Rechtsstaatlichkeit und Gerechtigkeit gebunden ist. Wir können, wenn wir über Ruanda diskutieren, nicht von uns weisen, auch über koloniale Geschichte zu reden. Ich möchte den Außenminister und auch die Bundesregierung sehr bitten: Wenn Sie von einer neuen Afrika-Konzeption sprechen, die dringend notwendig ist, dann lassen Sie uns auch darüber reden, dass sich die europäischen Staaten, auch Deutschland, gegenüber der Bevölkerung in vielen Ländern Afrikas schuldig gemacht haben. ({0}) Nur wenn wir unsere Schuld eingestehen, wird eine neue Konzeption überhaupt möglich werden. Darüber sollten wir gemeinsam nachdenken, gerade vor dem Hintergrund dessen, was heute in vielen Teilen Afrikas passiert. Wir sollten auch darüber nachdenken, dass soziale Konflikte durch Landknappheit, Landraub, Land-Grabbing und durch Wasserknappheit verstärkt werden - Landknappheit und Wasserknappheit sind die ökonomischen Ursachen von Kriegen der Gegenwart und auch der Zukunft -, dass Konflikte durch Spekulationen auf Preise verstärkt werden, durch die Zerstörung gewachsener Strukturen, durch die Verführung von Elitekonzeptionen und auch durch sprachliche Spaltung. Kann man nicht, wenn wir aus Ruanda lernen wollen, eine AfrikaPolitik entwickeln, die sich ganz klar gegen Land- und Wasserraub ausspricht, gegen die Fortsetzung des Kolonialismus mit ökonomischen Mitteln? Darauf müssen wir Antworten geben. Ich denke, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass Konflikte nicht vom Himmel fallen. Es ist immer komisch, wenn es heißt, irgendetwas sei plötzlich eingetreten. Nichts tritt plötzlich ein; Konflikte werden vorbereitet und geschürt. Ruanda hat eine halbe Million Macheten im Ausland gekauft. Hat sich niemand die Frage gestellt, wozu man eine halbe Million Macheten kauft? Vielleicht sind wir, was Ruanda angeht, über das Archaische des Völkermordes erschrocken. Ich frage mich selbst und auch uns: Was ist mit Kleinwaffen? Sind die Kleinwaffen nicht die moderne Form der Macheten? ({1}) Müssen wir nicht zumindest zu einer Initiative „Schluss mit dem Handel und dem Profit durch den weltweiten Verkauf von Kleinwaffen“ kommen? Diese Fragen richten sich an uns selbst. Muss man nicht zusammen und öffentlich der Propaganda nachgehen und Propaganda sofort aufgreifen, wo sie rassistisch ist oder zum Rassismus führt, auch in Europa, auch im eigenen Land? Das müssen die Schlussfolgerungen sein. ({2}) Kofi Annan hat nach dem Völkermord gesagt: „Der Grund für das Scheitern von Ruanda war fehlender politische Wille.“ - Bringen wir einen wirklichen Willen zur Gleichberechtigung auf, politisch und ökonomisch, damit so etwas nicht wieder eintritt! Ich möchte zum Schluss noch ganz knapp einige Punkte ansprechen, die mir sehr am Herzen liegen. Wenn wir über Völkermord sprechen, müssen wir dann nicht zugleich auch darüber reden, dass jeden Tag weltweit 57 000 Menschen verhungern? Auch das ist eine Form von Völkermord, die wir bekämpfen müssen. Müssen wir nicht darüber reden, dass im Mittelmeer 19 000 Menschen ertrunken sind, Menschen, die gehofft hatten, in Europa ein besseres Leben zu finden? Ist nicht auch das ein Teil der Verantwortung, die wir wahrnehmen müssen? Ich finde, das ist unsere Verantwortung. Indem wir solche Fragen aufwerfen, finden wir einen neuen Weg zu den afrikanischen Ländern. Indem wir unsere Schuld anerkennen, können wir die Schuld anderer besser benennen. Diese Botschaft wollte ich Ihnen von dieser Stelle aus überbringen. Lassen Sie uns zumindest gemeinsame Fragen stellen! Über die Antworten kann man dann streiten. Ich hätte gerne an diesem fraktionsübergreifenden Antrag mitgearbeitet. Das Verhalten, diese Kleinkariertheit, dass man im Zusammenhang mit einem Völkermord die Linke ausgrenzt und sie daran hindert, an einem solchen Antrag mitzuarbeiten und ihre Fragen einzubringen, muss sich hier in diesem Hause ändern. Herzlichen Dank. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Andreas Nick erhält nun das Wort für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Dr. Andreas Nick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004362, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Wir möchten Ihnen mitteilen, dass wir morgen mit unseren Familien umgebracht werden.“ So steht es in einem am 15. April 1994 in Mugonero geschriebenen Brief. Das Zitat ist auch Titel eines Buches mit Berichten über das unvorstellbare Grauen des Völkermords in Ruanda. Wir gedenken heute der Opfer. Von April bis Juli 1994 verloren in Ruanda mehr als 800 000 Menschen ihr Leben durch unvorstellbare Gewalttaten, die das malerische Land der tausend Hügel in ein Meer von Blut und Tränen verwandelten. In knapp 100 Tagen töteten Angehörige der Hutu-Mehrheit etwa 75 Prozent der im Land lebenden Tutsi-Minderheit ebenso wie moderate Hutus, die sich dem Völkermord widersetzten. Wir ehren deshalb heute auch die Bemühungen derjenigen Ruander, die sich oft unter Einsatz ihres eigenen Lebens für die Rettung von Frauen, Männern und Kindern eingesetzt haben, zum Beispiel der über 1 200 in das Hôtel des Mille Collines in Kigali geflohenen Menschen, an deren Rettung der preisgekrönte Film Hotel Ruanda erinnert. Die Ereignisse in Ruanda waren keineswegs - darin sind sich die meisten Beobachter heute einig - ein heftiger Ausbruch uralter „Stammesfehden“ zwischen Hutu und Tutsi, traditionellen Ackerbauern und Viehzüchtern. Sie tragen vielmehr zahlreiche Merkmale eines systematischen und geplanten Völkermords als Teil eines brutalen Machtkampfs, bei dem nicht zuletzt - das wurde schon angesprochen - der Einsatz von Radiosendern als „Hassmedien“ zur Aufstachelung der Gewalt eine wichtige Rolle spielte. In seinem Buch Handschlag mit dem Teufel - Die Mitschuld der Weltgemeinschaft am Völkermord in Ruanda schreibt der kanadische General Roméo Dallaire: Ich habe in Ruanda dem Teufel die Hand geschüttelt. Ich habe ihn gesehen, gerochen und berührt. Er ist an dieser Erfahrung fast zerbrochen. Als Kommandeur der in Ruanda stationierten Blauhelmtruppen musste er ertragen, dass ihm trotz seiner eindringlichen Berichte seitens der Weltgemeinschaft die benötigte Hilfe verweigert wurde, um den Völkermord zu stoppen. Wir bedauern daher auch nachdrücklich die wenig entschiedene Rolle der internationalen Gemeinschaft, die trotz vielfältiger Informationen über das mörderische Handeln vor Ort nicht ausreichend versucht hat, diese Gräuel zu beenden. ({0}) Ein Völkermord wie der in Ruanda ist teuflisch; aber er ist kein Werk des Teufels, sondern er wird von Menschen an Menschen begangen. Wir Europäer, wir Deutschen zumal, haben an dieser Stelle mit Blick auf unsere eigene Geschichte wahrlich keinen Anlass zu Hochmut gegenüber den Menschen in Afrika. Die Ortsnamen Auschwitz und Srebrenica sind dafür Mahnung genug. Fassungslos stehen wir aber immer wieder vor diesen Ereignissen und fragen: Wie ist das möglich? Wie können Menschen sich derart entmenschlichen, dass sie zu solchen Taten fähig werden? Die Entmenschlichung steht dabei nicht am Ende, sondern bereits am Anfang, nämlich die Entmenschlichung des anderen in den Augen der späteren Täter als entscheidender Schritt auf dem Weg zur eigenen Entmenschlichung, die derartige Verbrechen erst möglich macht. Das Gegenüber wird reduziert auf seine vermeintliche Zugehörigkeit zu einer andersartigen Gruppe; ein einzelnes seiner vielen Identitätsmerkmale wird verabsolutiert, sei es die Sprache, das religiöse Bekenntnis, die ethnische Herkunft oder der soziale Status. Wenn der andere Mensch aber nicht mehr als in seinem Menschsein gleich und gleichwertig angesehen wird, dann ist eine ganz wesentliche Hemmschwelle zur Entmenschlichung der Täter gefallen. Die Philosophin Hannah Arendt hat zu Recht darauf hingewiesen, dass Völkermord - anders als es sich in einer wenig treffsicheren deutschen Übersetzung eingebürgert hat - im Kern nicht ein „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ ist, sondern ein „Verbrechen gegen die Menschheit“. Genau deshalb kann sich die Völkergemeinschaft ihrer Verantwortung nicht entziehen, wie sie es 1994 in Ruanda viel zu lange getan hat. Denn erst bei der Aufarbeitung des Völkermords in Ruanda wurde die UN-Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes aus dem Jahre 1948 erstmals praktisch angewendet: Im November 1994 wurde der Internationale Strafgerichtshof für Ruanda eingesetzt. Mit rund 60 Verurteilungen vor allem der Drahtzieher - hochrangige Politiker, Offiziere, Amtsträger und Journalisten hat das sogenannte Arusha-Tribunal durchaus Maßstäbe gesetzt: Erstmals wurde ein Regierungschef wegen Völkermord verurteilt, und auch die Rolle der sogenannten Hassmedien wurde juristisch aufgearbeitet. In Reaktion auf das Versagen der internationalen Gemeinschaft in Ruanda wurde das Konzept der Schutzverantwortung, der Responsibility to Protect, entwickelt und 2005 von den Vereinten Nationen verabschiedet - Kollege Mißfelder ist darauf schon ausführlich eingegangen -: Schutz vor Kriegsverbrechen, ethnischen Säuberungen und anderen Menschheitsverbrechen. Dabei geht es um eine dreifache Verpflichtung der Staatengemeinschaft: zur Prävention, zur Reaktion und zum Wiederaufbau. Wo steht Ruanda heute? Mehr als drei Viertel der Ruander sind jünger als 36 Jahre, viele haben im Völkermord ihre Eltern verloren und sind als Waisen aufgewachsen. Neben der Aufarbeitung durch die nationalen Gerichte haben bis 2012 etwa 200 000 Laienrichter in den wiederbelebten traditionellen Gacaca-Gerichten am Prozess von Wahrheitsfindung, Gerechtigkeit und Versöhnung mitgewirkt. Die Bezugnahme auf ethnische Identitäten als Hutu oder Tutsi ist heute verboten. Bei allen noch bestehenden Problemen, auch in der Festigung demokratischer Strukturen und umfassender bürgerlicher Rechte: Ein Mitte der 90er-Jahre als kaum lebensfähig erachtetes Land gilt heute in vielen Bereichen als Erfolgsgeschichte, als eines der sichersten und am wenigsten korrupten Länder Afrikas. Mit einem wirtschaftlichen Wachstum von jährlich 7 bis 8 Prozent ist Ruanda auf gutem Wege, die meisten Millenniumsziele der Vereinten Nationen zu erreichen. Wir unterstützen die erfolgreichen Ansätze zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit und Entwicklung in Ruanda in vielfältiger Weise. Viele Menschen in meiner Heimat Rheinland-Pfalz haben dabei eine ganz besondere und persönliche Beziehung zum Land der tausend Hügel; denn auf Initiative des damaligen Ministerpräsidenten Bernhard Vogel ist Ruanda seit 1982 das Partnerland von Rheinland-Pfalz. Es ist eine Partnerschaft, die trotz aller Verwerfungen den Genozid 1994 nicht nur überlebt, sondern sich bis heute als eines der wirksamsten und beständigsten Hilfsprogramme in Ruanda erwiesen hat. Es ist eine beispielhafte Graswurzelpartnerschaft, auf Augenhöhe, mit breitem zivilgesellschaftlichem Engagement und konkreten Projekten: 250 Schulpartnerschaften, 50 Initiativgruppen und mehr als 1 000 erfolgreich umgesetzte Kleinprojekte sind eine eindrucksvolle Bilanz. ({1}) Lassen Sie mich kurz nur wenige Beispiele aus meinem Wahlkreis nennen. Die Gemeinde Holzheim ist mit 930 Einwohnern die kleinste Gemeinde in RheinlandPfalz, die seit 1988 eine kommunale Partnerschaft in Ruanda unterhält. Aus Veranstaltungserlösen und privaten Spenden sind in dieser Zeit über 300 000 Euro projektbezogen nach Ruanda geflossen, für Wasser- und Stromversorgung, eine Primarschule und eine Gesundheitsstation. - Die Kreishandwerkerschaft Rhein-Westerwald hat vor kurzem ein Schulbauprojekt für 300 Kinder finanziert. Die Wirtschaftsjunioren WesterwaldLahn sammeln, ebenfalls unter dem Dach der Stiftung „fly and help“, derzeit für ein vergleichbares Projekt. Der Verein „Hilfe für Ruanda aus Hachenburg e. V.“ engagiert sich seit 2005 in vielfältigen Projekten vor al2174 lem im medizinischen Bereich, bei Bildung und Landwirtschaft. Was diese Partnerschaft so wertvoll macht, ist, neben ihrer Nachhaltigkeit, der unmittelbare Bezug und die Vielzahl der persönlichen Begegnungen zwischen Menschen aus Ruanda und Rheinland-Pfalz. Alle Besucher berichten von der Freude und der Dankbarkeit und von strahlenden Kinderaugen, die sie in der Begegnung mit den Menschen in Ruanda erleben durften und die sie als große persönliche Bereicherung empfinden. „Wir sind nach dieser Reise andere Menschen als vorher“ - so beschrieb kürzlich ein Reisender seine Erfahrung. Der frühere Bundespräsident Horst Köhler hat vor einigen Tagen gesagt: Was wir für die deutsch-afrikanischen Beziehungen brauchen, ist eine neue Bescheidenheit in unserer Haltung und eine neue Leidenschaft in unserem Handeln. Die heutige Erinnerung an den Völkermord in Ruanda vor 20 Jahren gibt dazu allen Anlass und die Partnerschaft von Rheinland-Pfalz mit Ruanda ein gutes Beispiel. Vielen Dank. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort jetzt der Kollegin Gabriela Heinrich für die SPD-Fraktion. ({0})

Gabriela Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004296, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Meine Damen und Herren! Über 800 000 Menschen mussten in Ruanda sterben. Sie starben, weil die internationale Gemeinschaft weggeschaut hat. Unser fraktionsübergreifender Antrag ist ein Signal, dass wir uns gegen das Wegschauen und gleichzeitig für Versöhnung aussprechen. Worin bestand das Wegschauen der internationalen Staatengemeinschaft vor 20 Jahren? Die Friedenstruppe UNAMIR wurde verkleinert statt vergrößert, als der Genozid schon in vollem Gang war. Warnungen im Vorfeld wurden nicht ernst genommen. Die Welt tat den Völkermord als Stammeskrieg ab. Dieses Versagen der internationalen Staatengemeinschaft darf sich niemals wiederholen. ({0}) Mit unserem Antrag bauen wir auf dem Konzept der Schutzverantwortung auf. Diese Norm der Vereinten Nationen ist eine Folge des Völkermords in Ruanda. Wenn Staaten nicht in der Lage oder nicht willens sind, ihre Bevölkerung zu schützen, muss die internationale Staatengemeinschaft reagieren und diese Verantwortung übernehmen. Das ist zum Beispiel dann der Fall, wenn Menschen massenhaft ermordet werden oder ethnischen Säuberungen ausgesetzt sind. Ganz wichtig ist - der Kollege Niels Annen hat das bereits beschrieben -: Reagieren ist nur eine Seite der Schutzverantwortung. Die internationale Gemeinschaft muss Staaten auch ermutigen, den Schutz der Bevölkerung selbst zu übernehmen, und Staaten müssen überhaupt erst in die Lage versetzt werden, dies zu leisten. Meine Hochachtung gilt dem Bemühen Ruandas, Stabilität und Staatlichkeit wiederherzustellen. Versöhnung ist die Grundlage von Stabilität, und Stabilität ist die Grundlage dafür, dass sich Ruanda weiterentwickelt, wirtschaftlich und als Demokratie. Dazu gehören dann auch Pressefreiheit, Meinungs- und Versammlungsfreiheit sowie das Zulassen von Opposition. All das ist nicht einfach in einem Land, in dem vor 20 Jahren ein Genozid stattfand und die Menschen noch viel miteinander reden müssen, um voranzukommen. Der Antrag erkennt die Bemühungen um Aufarbeitung und Versöhnung in Ruanda ausdrücklich an. Grundlage dafür ist, die Täter zu bestrafen und alles dafür zu tun, dass sich Glutnester des Konflikts nicht wieder entzünden. Wir müssen uns Folgendes vor Augen führen: Heute leben in Ruanda die Täter von damals neben den Opfern und deren Angehörigen. Am 20. Jahrestag des Völkermords werden unsägliche Albträume wiederkehren, Albträume, die von abgehackten Gliedmaßen handeln, von Macheten und von Vergewaltigung. Meine Hochachtung gebührt daher den Menschen in Ruanda. Sie sind bereit, sich zu versöhnen. ({1}) Vergewaltigung als Kriegshandlung zu beschreiben und aufzuarbeiten, ist ein Tabuthema - nicht nur in Ruanda -, das es zu brechen gilt. Mir ist das wichtig; denn in Ruanda wurden unzählige Frauen vielfach brutal vergewaltigt. Viele unter ihnen mussten vorher die Ermordung ihrer Familien mit ansehen. Viele wurden schwanger. Viele wurden mit HIV infiziert. Sie wurden schwanger mit Kindern, die sie nicht lieben konnten, traumatisierte Kinder und traumatisierte Mütter, Kinder, die nicht geliebt und die verstoßen wurden. So etwas kann einer der teuflischsten Kreisläufe werden, die denkbar sind. Deswegen ist es so wichtig, dass unser Antrag Ruanda ermutigt, sich noch mehr zu kümmern, sich noch mehr zu kümmern, Tabus aufzuheben und den Traumata zu begegnen. Das ist auch der Punkt, wo wir weiter unterstützen müssen und unterstützen können. Ein Beispiel dafür ist der Zivile Friedensdienst. Er unterstützt die Reintegration von Flüchtlingen und die Friedensarbeit in der Region Große Seen. Er kümmert sich auch um traumatisierte Menschen, insbesondere um von Gewalt betroffene Frauen. Ruanda ist bei allen Fortschritten noch immer ein sehr armes Land. Aber es gibt auch Erfolge, auf denen wir weiter aufbauen sollten. So hat Ruanda zum Beispiel eine Krankenversicherung. Rund 90 Prozent der Menschen sind krankenversichert. Das wurde von der GIZ und mit Mitteln der Entwicklungszusammenarbeit unterstützt. Die unzähligen Projekte von Rheinland-Pfalz wurden bereits beschrieben. Auch hier wird Ruanda in seiner Entwicklung unterstützt. Es sind Partnerschaften und Projekte wie diese, mit denen wir unterstützen, dass der Versöhnungsprozess fortgeführt wird. Mit unserem Antrag wollen wir solche Projekte stärken und setzen damit auf Prävention. Meine Damen und Herren, die historische Verantwortung Deutschlands gegenüber Ruanda ist älter als 20 Jahre; das wurde bereits erwähnt. Meine afrikanischen Freunde weisen mich immer wieder darauf hin, dass das Deutsche Reich und Belgien als Kolonialmächte beteiligt waren, die Menschen künstlich in Hutu und Tutsi einzuteilen. Eine rassistische Politik setzte die Tutsi als Elite des Landes fest. Dadurch bildete sich der Gegensatz dieser Völkergruppen erst richtig heraus und dies, obwohl die Menschen die gleiche Sprache sprechen. Es ist ein wichtiges Ziel der ruandischen Regierung, diese Einteilung wieder aufzuheben. Es gehört zur Versöhnung, diesen Gegensatz aufzulösen. Versöhnung ist möglich. Wer könnte das besser verstehen als wir Deutsche, die wir uns mit ganz Europa versöhnen mussten? Ruanda muss für uns eine Warnung sein, nicht wegzuschauen und unsere Verantwortung wahrzunehmen. Das bedeutet die Prävention von Konflikten und Menschenrechtsverletzungen. Das bedeutet aber auch Wiederaufbau und Versöhnung. Letzteres ist für Ruanda die beste Prävention. Vielen Dank. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt die Kollegin Dagmar Wöhrl das Wort. ({0})

Dagmar G. Wöhrl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002829, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist heute Morgen schon viel von internationaler Verantwortung damals und heute gesprochen worden. Ich möchte Ihnen zunächst einmal zwei Zitate vorlesen. Erstes Zitat: Am Abend zuvor spielten meine Kinder mit den Nachbarskindern, mein Mann unterhielt sich mit ihrem Vater und ich kochte … das Abendessen. Am Tag darauf kamen sie und töteten meine Familie. Man sagt mir nun, ich solle nach vorne schauen. Mein Mann und meine Kinder wurden ermordet. Wie kann ich also verzeihen? Zweites Zitat: Als sie unsere Stadt einnahmen, haben sie zuerst meinen Vater erschossen. Als sie dann wieder zu unserem Haus kamen, wollten sie die angeblich versteckten Waffen bei uns mitnehmen. Meine Mutter und meine Schwester sagten ihnen, dass wir keine Waffen im Hause hätten. Als ich wieder nach Hause kam, fand ich sie beide tot auf dem Fußboden. Ich bin nun ganz alleine. Liebe Kolleginnen und Kollegen, erkennen Sie einen Unterschied? Das erste Zitat ist 20 Jahre alt, das zweite nur ein paar Monate. Das erste stammt aus Ruanda, das zweite aus der Zentralafrikanischen Republik. Das stellt uns vor die Frage, wie es heute mit unserer internationalen Schutzverantwortung steht, zumindest gegen die schlimmsten Verbrechen: Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Wir haben es gehört: Zwischen dem 6. April und dem 17. Juli 1994 wurden in Ruanda über 800 000 Menschen ermordet - kaltblütig, systematisch, grausam -, das heißt, fast 10 Prozent der Bevölkerung. Mit anderen Worten: mindestens 8 000 Menschen am Tag, in der Minute fünf Tote. Eine mediale Hetzkampagne im Land stachelte die Mörder zusätzlich an. Radiosender meldeten: Das Grab ist nur halb voll. Wer hilft uns, es zu füllen? - Nur eine halbe Stunde nach dem Abschuss des Flugzeuges des Präsidenten wurden die ersten Tutsi und Oppositionspolitiker ermordet. Es war ein organisierter Völkermord. Es war kein Bürgerkrieg. Es war auch kein Stammeskrieg, wie die Weltpresse damals einfältig titelte. Es war vorbereitet. Hutu-Milizen hatten vorbereitete Listen mit Namen und Adressen von allen Tutsis. Wochen vorher wurden über 100 000 Macheten aus China bestellt. Das hätten Warnungen sein sollen. Wer Ruanda kennt, liebe Kolleginnen und Kollegen, weiß, dass Ruanda ein kleines Land ist. Es ist das am dichtesten bevölkerte Land in ganz Afrika: 432 Einwohner pro Quadratkilometer. Es gab einen Verteilungskampf um knappe Ressourcen. Es war ein ethnischer Konflikt, der seit Generationen brodelte und dann zum Ausbruch kam. Es gab nur ein Ziel. Das einzige Ziel war, die Minderheit der Tutsis vollständig auszurotten. Während in Ruanda blindwütig gemordet wurde - dies wurde angesprochen -, hat die internationale Gemeinschaft versagt: die Vereinten Nationen, der Westen, die afrikanischen Bruderstaaten und die Weltpresse. Es fehlte der Mut, international Verantwortung zu übernehmen, der Mut, die Situation zu verstehen, der Mut einzugreifen und der Mut, gegen die Instrumentalisierung von Glaube und Ethnien vorzugehen. Durch eine ehrliche Analyse damals wären wir gezwungen gewesen, einzugreifen. Mut hatte damals niemand außer einigen Ruandern, die unter Einsatz ihres Lebens versucht haben, ihren Brüdern und ihren Schwestern zu helfen und sie vor den Mordlustigen zu verstecken, so wie der Direktor des Hôtel des Mille Collines in Kigali, der mehr als 1 000 Menschen gerettet hat. Haben wir aus dem Versagen damals Lehren gezogen? - Es hat sich das Rechtsinstitut der Schutzverantwortung entwickelt. Der Internationale Strafgerichtshof für Ruanda wurde eingerichtet; heute nimmt der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag über seine Rechtsprechung Einfluss. Es ist das erste Mal, dass die Straflosigkeit für schwerwiegende Verbrechen politischer Amtsträger beendet wurde. Es ist das erste Mal, dass Vergewaltigung als Begehungsform des Völkermordes vor Gericht anerkannt worden ist. Die Vereinten Nationen haben sich bei den Friedensmissionen einen neuen strategischen Ansatz gegeben, nämlich dass die zentralen Aufgaben der Schutz der Zivilbevölkerung, der Schutz der Menschenrechte sind und dass ein robustes Mandat, nicht nur eines zur Selbstverteidigung, notwendig sein kann. Inzwischen sind 20 Jahre vergangen. Ruanda wird als Musterland dargestellt mit Wachstumsraten von 8 Prozent. Die Weltbank hat Ruanda letztes Jahr als unternehmerfreundlichstes Land ganz Afrikas bezeichnet. Der Wiederaufbau schreitet voran, auch dank internationaler Unterstützung, auch dank deutscher Unterstützung im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit. Ruanda übernimmt international Verantwortung. Ruanda ist zu einem verlässlichen Partner bei Friedensmissionen auf dem afrikanischen Kontinent geworden. Allein 850 Soldaten aus Ruanda sind an MISCA beteiligt, der Mission in der Zentralafrikanischen Republik, auch aufgrund der eigenen schmerzlichen und leidvollen Erfahrungen. Es besteht Nachholbedarf; das ist klar. In den Bereichen Meinungsfreiheit und politische Teilhabe ist noch viel zu tun. Trotz vieler Fortschritte ist - das ist uns bewusst - ein nachhaltiger innerer Friede noch nicht gegeben. Die Unterscheidung zwischen Hutus und Tutsis ist präsent, auch wenn die Verfassung heute eine Unterscheidung verbietet. Es gibt noch viele traumatisierte Täter und Opfer. Zur Versöhnung wurden die GacacaGerichte eingerichtet, an denen bis 2012 2 Millionen Fälle verhandelt wurden. Aber kann sich ein Täter mit dem Opfer versöhnen, das er vergewaltigt und gefoltert hat, dessen Familie er ermordet hat? Opfer und Täter leben notgedrungen noch heute Tür an Tür. Man versucht zu verdrängen; vergessen wird man kaum können. Wir versuchen, die Menschen bei der Versöhnung zu unterstützen. Dies tun wir mit unserem Zivilen Friedensdienst und mit der GIZ, die gemeinsam mit dem Dachverband IBUKA die Überlebenden des Genozids bei dem Versöhnungsprozess in den Dörfern unterstützt. Dieser Tage gedenken Millionen Ruander ihrer verstorbenen Familienmitglieder. Der Verlust ist jedoch nicht mehr gutzumachen. Aber auch heute, liebe Kolleginnen und Kollegen, werden Menschen getötet, leben noch immer viele Menschen in Gefahr vor Folter und Vergewaltigung. Ich denke an Syrien mit inzwischen über 150 000 Toten. Ich denke an den Südsudan. Ich denke an die Zentralafrikanische Republik, in der ein blutiger Konflikt zwischen Moslems und Christen stattfindet und ein Versöhnungsprozess in weiter Ferne ist. Er hat noch nicht einmal begonnen. Das Morden geht weiter. Wie müssen wir, wie muss eine verantwortungsbewusste Weltgemeinschaft darauf reagieren? Der Genozid hat die Weltbevölkerung aufgeschreckt. Es ist gut, dass wir heute diese Debatte führen. Vor 20 Jahren haben wir sie nicht geführt. Das war ein ganz großer Fehler. Wir haben die Verantwortung, Menschen weltweit zu schützen, denen Mord und Vergewaltigung droht. Wir wissen aber auch, dass der Einfluss, auf nationale Konflikte zu reagieren, oft begrenzt ist. Ein Engagement kann gefährlich sein. Das Leben unserer Soldaten kann auf dem Spiel stehen. Verantwortung zu übernehmen heißt nicht, dass wir uns künftig überall militärisch engagieren müssen. Verantwortung zu übernehmen heißt vielmehr, sich nach Kräften und Möglichkeiten innerhalb der Europäischen Union und innerhalb der Vereinten Nationen zu engagieren, zu vermitteln, präventiv tätig zu werden, um gemeinsam Gräueltaten frühzeitig zu verhindern. Die Weltgemeinschaft muss lernen, öfter mit einer Stimme zu sprechen; denn nur dann schaffen wir es, Konflikte auch helfend mit zu beseitigen. Wir müssen das Konzept der Schutzverantwortung mit unseren Partnern noch konkreter ausgestalten und die Entwicklung eigener afrikanischer Instrumente zur Krisenprävention unterstützen. Wir versuchen, im Rahmen unserer Möglichkeiten, auch im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit, Einfluss zu nehmen, frühzeitig gezielte entwicklungspolitische und präventive Maßnahmen zu ergreifen, damit unsere Partnerländer sich selbst helfen können, um wirtschaftliche Stabilität, politische Teilhabe und langfristigen Frieden für sich zu erreichen. Ruanda ist seit 2000 ein Schwerpunktland der bilateralen Zusammenarbeit. Wir wissen, dass unser Antrag heute auch zeigt: Wir müssen und werden uns weiterhin für die Stärkung der Demokratie und der Menschenrechte als Grundlage des Friedens in Ruanda einsetzen. Wir werden Ruanda weiterhin beim Aufbau einer starken Zivilgesellschaft und unabhängiger Medien unterstützen. Wir haben die Verpflichtung - die Opfer, die Ermordeten verpflichten uns -, Menschen in anderen Ländern, die von Gräueltaten bedroht sind oder an denen Gräueltaten verübt werden, zu helfen. Es müssen noch viele mutige Schritte getan werden, bis wir wirklich und ehrlich von einer internationalen Verantwortung sprechen können. Wir gedenken heute zusammen mit den Ruandern ihrer Opfer, zu denen auch viele unschuldige Hutus gehören - auch das muss man erwähnen -, die versucht haben, Unterstützung zu leisten. Ich glaube, wir alle gemeinsam hier im Hause können zusichern, dass wir sie auf dem Weg zu Stabilität und langfristigem Frieden auch weiterhin begleiten werden. Vielen Dank. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frank Heinrich hat nun das Wort für die CDU/CSUFraktion ({0})

Frank Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004054, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gedenken, Versöhnung, Aufarbeitung: Ich denke, auch Geschichte schreiben sollte im Mittelpunkt stehen, Geschichte schreiben über das, was wir in den Frank Heinrich ({0}) letzten 20 Jahren in diesem Land schon erlebt haben und was nicht mit dem heutigen Gedenken aufhört. Ich möchte drei Menschen aus dem Buch La Stratégie des antilopes, Die Strategie der Antilopen, des Franzosen Jean Hatzfeld über diese Zeit vor 20 Jahren zu Wort kommen lassen. Cassius war 1994 sieben Jahre alt. An die Taten hat er nur vier klare Erinnerungen: Meine Mutter, die vor meinen Augen geköpft wurde, bevor ich an der Reihe sein sollte. Das Eisen der Machete über meinem Kopf. Das Versteck aus Blättern im Wald, in dem ich tagelang hockte. Die faulende Wunde in meinem Kopf, sodass ich mich heute noch an der Stelle kratze, an der die Insekten früher in meinem Kopf fraßen. Ignace Rukiramacumu: Das Vertrauen neu zu finden, interethnisch zu heiraten, das ist wohl im Eimer. Aber etwas zusammen trinken, sich Kühe schenken, einander auf dem Acker zu helfen, das hängt vom Charakter eines jeden Einzelnen ab. … Es ist der Verlust, der das tiefste Innere zerstört und der verhindert, zu vergessen. Die Versöhnung ist eine Pflicht der Menschen in Ruanda, die keinen anderen Acker als ihr kleines Land haben. Sie wird quälend sein, aber sie wird gelingen, auch weil die Behörden gerecht mit beiden Lagern sind, indem sie alle dazu bringen, sich als gleich zu akzeptieren. Sylvie Umubyeyi: Früher war ich viel zu sehr von Angst geprägt. Wenn ich einen der Mörder sehen würde, müsste ich an meine verschwundenen Eltern, an alles, was ich verloren haben, denken. Wie ich es schon sagte: Wenn man sich zu lange bei der Angst vor dem Genozid aufhält, verliert man die Hoffnung. Man verliert, was man vom Leben retten konnte. Ich behalte die Hoffnung, eines Tages glücklich zu sein. … Ich, ich leide nicht an meinem Körper. Ich habe schöne Kinder. Ich kann reisen und sprechen. Ich wurde in meiner Existenz beschnitten, aber ich will absolut weitermachen. Wenn ich kein Vertrauen in meinen Nachbarn mehr habe, behalte ich doch das Vertrauen in mich. Einige von uns hatten gestern die Gelegenheit, mit Überlebenden zu sprechen. Mir blieben zwei Sätze aus diesem Gespräch besonders in Erinnerung. Der erste war: An dem Tag habe ich den Glauben an die Menschheit verloren. Und der zweite: Immer wieder sehe ich dieses Bild vor mir: das Ackerfeld, und aus den Furchen ragen die Arme der niedergemetzelten Kinder. 20 Jahre ist es in diesem April her, dass Ruanda zum Schauplatz dieses Massenmordes wurde. Es war der furchtbarste Völkermord seit der Judenvernichtung der Nationalsozialisten - es wurde hier erwähnt - und dem Genozid auf den Killing Fields in Kambodscha. Innerhalb von nur 100 Tagen starben mehr als 800 000 Menschen. Wohl nie in der Menschheitsgeschichte haben so viele Täter in so kurzer Zeit so viele Mitmenschen umgebracht. „Ntidigasubire“ - „Nie wieder“ - steht nun auf großen Plakaten an den Straßen in Kigali, an den Toren der Gedenkstätten, auf den Gräbern, und damit endet heute jede Radiosendung über den Genozid. Die Wunden und das Gedenken an die Opfer - nicht nur an die, die gestorben sind - sind noch da; der Genozid ist noch sehr präsent. Viele Menschen tragen die Narben. Aber Ruanda ist auf einem guten Weg, auf einem Weg der Versöhnung und der Entwicklung. Das haben wir heute in dieser Debatte und in diesem Antrag ausgedrückt. Eines der Elemente auf dem Weg der Versöhnung ist die Aufarbeitung der Geschichte. Letztes Jahr hatten wir in unserem Ausschuss die ruandische Außenministerin Louise Mushikiwabo zu Gast. Sie sagte Folgendes: Nach dem Ende des Völkermords …, bei dem die internationale Gemeinschaft … versagt hatte, stand Ruanda vor der Wahl. Würde die Wut darüber uns an diesem historischen Punkt in eine insulare und verbitterte Nation verwandeln - oder können wir den Zorn überwinden und stattdessen mehr … Zusammenarbeit mit der Welt anstreben? Wir haben uns für Letzteres entschieden, für einen Weg der Versöhnung … Dafür war und ist weiterhin eine ehrliche Aufarbeitung der Geschichte notwendig, nicht nur bis heute, sondern auch ab heute. Aus dem ruandischen Genozid wurden Lehren gezogen - wir haben es von mehreren Kollegen gehört -: Responsibility to Protect, die Schutzverantwortung, die von den Vereinten Nationen entwickelt wurde. Wir brauchen solche Frühwarnsysteme, wir brauchen mehr Prävention. In unserer Debatte über Afrika vor zwei Wochen haben wir auch dieses Wort sehr oft gehört: Preparedness. Es wurde eine Geschichte geschrieben, nicht nur eine Genozidgeschichte, sondern auch eine Geschichte der Aufarbeitung, der Entwicklung. Wir haben gehört: Ruanda wird als afrikanisches Musterland bezeichnet, als Erfolgsmodell. Dafür sprechen wirtschaftliche Argumente, die Bekämpfung der Korruption, die Frauenrechte, die Erfüllung der MDGs und die Erfolge beim Umweltschutz. Deutschland hat sehr gute Beziehungen zu Ruanda, aus bekannten Gründen. Ich selbst freue mich über eine gute Zusammenarbeit mit der Botschafterin von Ruanda. Wir begegnen uns auf vielen Veranstaltungen. Sie hat gute Beziehungen zu allen Fraktionen. Gestern Morgen war sie beim Gedenken an die deutsche Verantwortung beim ruandischen Genozid mit dabei. Als Freunde müssen wir auch begleiten, müssen wir möglicherweise unterstützen, nicht nur mit Geldern, sondern auch durch Erinnern und Mahnen. In den letzten Monaten gab es Berichte über Fragen, die von Menschenrechtsorganisationen aufgeworfen wurden, die die Transparenz, das Demonstrationsrecht, die Medienfreiheit und das Verschwindenlassen von Menschen betreffen. Das Positive überwiegt bei weitem, und doch darf man an diesen Stel2178 Frank Heinrich ({1}) len nicht aufhören, zu mahnen. Wir ermuntern Ruanda auch durch unsere Unterstützung: Bleiben Sie dran! Schreiben Sie weiter Geschichte! Dieser Prozess ist nicht beendet; wir Deutsche wissen sehr wohl, wie lange ein solcher Prozess dauern kann. Daraus folgt unter anderem die Notwendigkeit, auch mit unseren Geldern die wissenschaftliche Aufarbeitung weiter zu fördern. Wir haben, wie ich gerade gesagt habe, eine lange Geschichte der Verdrängung, Aufarbeitung und Weiterentwicklung. Es bleibt noch eine ganze Menge zu tun. Deshalb wollen wir dafür auch Haushaltsmittel einsetzen. Dabei wünschen wir uns aber auch - da spreche ich als Menschenrechtler - eine Beobachtung und Stärkung der Entwicklung von Demokratie und Menschenrechten in diesem Land von diesem Tag an. Der Außenminister hat es vorhin gesagt: Wir müssen das uns Mögliche tun, das in unserer - gemeinsamen Macht steht. Ich sage „gemeinsam“, weil das, was wir hier ausdrücken, im gemeinsamen Interesse der Weltgemeinschaft und Ruandas liegt. Ich habe schon in der letzten Debatte über Afrikapolitik vor 14 Tagen von dem Traum gesprochen, dass wir irgendwann nicht mehr nur von gemeinsamer Augenhöhe sprechen, sondern möglicherweise von Afrika als Big Brother, dass wir nicht nur vom Chancenkontinent sprechen, sondern von einem Kontinent, der uns vielleicht noch viel mehr zu geben hat, als wir jemals für möglich halten. Ein kurzes Beispiel zum Schluss. Bei einem Vortrag in der Schweiz vor nicht allzu langer Zeit hatte ein überlebender Tutsi von seinen Erlebnissen in besagter Zeit berichtet. Es herrschte Betroffenheit. Kurz darauf sieht man ihn, wie er zur Musik im Gottesdienst tanzt. Eine deutsche Freundin - etwas verwirrt über die Situation fragte ihn später: Wie kannst du tanzen, nach dem, was du alles erlebt hast? Seine Antwort: Wie kann es sein, dass ihr das nicht erlebt habt und nicht tanzt? - Lebensmut und Lebensbejahung, trotz solcher Erlebnisse, als kulturelles Gut, das können wir sehr wohl von Ruanda und vielen anderen in Afrika lernen. Der Außenminister hat heute Morgen in seiner Rede Frau Zuma zitiert. Er sagte: Wir können sehr viel lernen vom Reichtum der Jugend in Afrika. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Wilfried Lorenz. ({0})

Wilfried Lorenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004343, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! 20 Jahre nach dem Völkermord in Ruanda und fast 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs ist es berechtigt, die Frage zu stellen: Hat die internationale Völkergemeinschaft aus der Geschichte gelernt? Wir gedenken heute des grausamsten Völkermords auf dem afrikanischen Kontinent. Gedenken heißt innehalten, erinnern, aber vor allem Wege in eine bessere Zukunft finden und diese dann auch zu gehen. Erinnern an den ruandischen Völkermord heißt gleichzeitig, sich an die Verantwortung der internationalen Staatengemeinschaft für Afrika und andere Regionen in der Welt zu erinnern. Ich möchte an dieser Stelle die Frage wiederholen: Haben wir aus der Geschichte wirklich ausreichend gelernt? Wir erinnern uns heute an die unfassbare Gewalt in Ruanda, die die internationale Staatengemeinschaft nicht beenden konnte. Wir erinnern uns heute an Blutbäder und an unaussprechliche Grausamkeiten, die uns mit Abscheu und Entsetzen erfüllen. Gerade deshalb ist es mir persönlich ein wichtiges Anliegen, heute hier zu sprechen, und zwar als Bürger eines Staates, der sich für ein friedliches Miteinander in der Welt einsetzt und Grundrechte wie Würde und körperliche Unversehrtheit seiner Bürgerinnen und Bürger schützt, und als Kind einer Zeit, in der die unmittelbaren Nachwirkungen des Zweiten Weltkriegs in Deutschland noch hautnah zu spüren waren. Die Regierungskoalition und die Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen haben gemeinsam einen Antrag formuliert, in dem sie das in Ruanda Geschehene verurteilen und die unsäglichen Gräueltaten gerade an Frauen und Kindern ächten. Das Bedauern über - ich zitiere aus dem Antrag „die wenig entschiedene Rolle der internationalen Gemeinschaft, die trotz vielfältiger Informationen über das mörderische Handeln vor Ort nicht ausreichend versucht hat, die Gräuel zu beenden“, kommt darin deutlich zum Ausdruck. Gleichzeitig werden wir mit dem Antrag Wege aufzeigen, um den Versöhnungsprozess und den Aufbau demokratischer und rechtsstaatlicher Strukturen in Ruanda zu unterstützen. Der Völkermord in Ruanda entstand aus einem Jahrzehnte schwelenden Konflikt zwischen Volksgruppen der Hutu und der Tutsi. Erinnern wir uns kurz. April bis Juni 1994: 800 000 Tutsis und gemäßigte Hutus in nur 100 Tagen ermordet, systematisch hingemetzelt auf das Grausamste mit Macheten, Äxten und Knüppeln; Morde, Köpfungen und Vergewaltigungen als Normalität. Das ist die schreckliche Bilanz des Völkermordes in Ruanda, und dennoch: Die ruandische Gesellschaft ist dabei, die Geschichte aufzuarbeiten, und hat bereits eine große Wegstrecke hin zu einem inneren Frieden zurückgelegt. In unserem Antrag würdigen wir ausdrücklich den Beitrag der Regierung Ruandas zur gesamtgesellschaftlichen Versöhnung. Sie, diese Regierung, diese Menschen dort, haben die Lehren aus dem nicht verhinderten Genozid gezogen. Sie verfolgen eine auf Schaffung demokratischer Strukturen gerichtete Reformagenda und engagieren sich für ein globales Bewusstsein, das die Früherkennung aufkommender Konflikte und die Prävention fördert. Hier wurde aus der Geschichte gelernt. Systematische Eliminierungen ethnischer Volksgruppen, Massaker und Völkerrechtsverletzungen gab es aber auch in der europäischen Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg, sogar noch in der Zeit nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, als wir alle von der Friedensdividende gesprochen haben. Ich denke zum Beispiel an Srebrenica. Im Fall Ruanda blieb die Völkergemeinschaft zunächst untätig. Es gab keinen Aufschrei der Empörung, nur zögerlich wurde entschieden, das Blauhelmkontingent aufzustocken, eine UN-Resolution gab es erst im späteren Verlauf der Krise, als das Töten schon im vollen Gange war. Was lernen wir aus diesen Ereignissen? Welche Lehren ziehen wir daraus? Erstens. Durch Nichthandeln kann sich die Völkergemeinschaft ebenso schuldig machen wie durch Handeln. Zweitens. Deutschland muss seiner Rolle als politisch und wirtschaftlich starke Kraft in der Völkergemeinschaft gerecht werden. Dies haben unser Bundespräsident, Herr Gauck, und die Bundesverteidigungsministerin, Frau Dr. von der Leyen, in Grundsatzreden sehr deutlich formuliert. Daher ist das Engagement Deutschlands in Zentralafrika und Somalia nur konsequent. Im internationalen Miteinander können Wegschauen, Zögern und Untätigbleiben die furchtbaren Konsequenzen haben, auf die wir in diesem Moment, in dieser Stunde schauen. Der Völkergemeinschaft müssen Möglichkeiten zugestanden werden, schwere Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Verstöße gegen das Völkerrecht zu unterbinden; RtoP ist hier gerade angesprochen worden. Dieses Eingreifen muss frühzeitig geschehen, bevor Morde, Folter, Verstümmelungen oder Massenvergewaltigungen unvorstellbare Ausmaße annehmen können - wie in Ruanda -, auch wenn sich die Völkergemeinschaft dabei ohne Mandat - wie im Kosovo-Krieg - anfangs in einer völkerrechtlichen Grauzone bewegt. Solche Grauzonen resultierten bisher aus einem Vetoverhalten weniger Staaten im UN-Sicherheitsrat, das ungeachtet menschlichen Leidens machtpolitischen Interessen diente. Wir haben es gerade wieder erleben müssen, dass eine Verletzung des Völkerrechts nicht vom UN-Sicherheitsrat verurteilt werden konnte. Alle fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates stehen in der besonderen Pflicht, bewusst mit ihrem Vetorecht umzugehen. Sie sind aufgerufen, eine Kultur der Zusammenarbeit zu pflegen; denn wir befinden uns im 21. Jahrhundert, in dem die Stärke des Rechts und nicht das Recht des Stärkeren gelten muss. ({0}) Deutschland trägt seiner Verantwortung mit dem Konzept der vernetzten Sicherheit Rechnung. Wir betreiben kein Säbelrasseln, sondern vernetzen außen-, entwicklungs- und sicherheitspolitische Kompetenz, um die Ursachen von Konflikten frühzeitig erkennen und diese eindämmen zu können. Die Friedensdenkschrift des Rates der Evangelischen Kirche aus dem Jahr 2007 hat den Titel: „Aus Gottes Frieden leben - für gerechten Frieden sorgen“. Ja, wir müssen für Frieden sorgen. Militärbischof Rink verweist in einem Interview zu Recht darauf, dass militärische Einsätze nur die Ultima Ratio sein können. Entwicklungshelfer wollen wegen der Lage vor Ort zurzeit nicht mehr in die Zentralafrikanische Republik gehen. Vor diesem Hintergrund stellt sich Bischof Rink die Frage, „ob die internationale Gemeinschaft zusieht, wenn das Land im Chaos versinkt, Menschen erschossen werden oder verhungern, oder ob, weil alle anderen Möglichkeiten nicht mehr greifen, unter Umständen ein Einsatz der Bundeswehr mit entsprechendem Mandat - sagen wir: als Schlichtungshilfe - dazu beiträgt, wieder ein rechtsstaatliches Leben herzustellen.“ Meine tiefste Überzeugung ist, dass Deutschland die Verpflichtung hat, Verantwortung zu übernehmen. Wir müssen anderen Staaten helfen, Sicherheit zu schaffen. Das ist die Grundlage für Frieden, Freiheit und wirtschaftlichen Wohlstand. Das ist auch eine moralische Pflicht, gerade vor dem Hintergrund unserer Geschichte. Unsere Sicherheit, auf der wir unseren Wohlstand aufgebaut haben, haben wir jahrzehntelang durch andere Länder garantiert bekommen. Das sollten wir Deutsche nicht vergessen. ({1}) Lassen Sie mich eine sehr persönliche Anmerkung machen. Ich habe als Kind 1949 die Berliner Blockade erlebt und war glücklich und froh, eines dieser Essenspakete, die vom Himmel geworfen wurden, aufzufangen. Ich habe mich damals darüber gefreut, dass ich es bekommen habe, aber auch darüber, dass ich meinen Hunger zumindest teilweise stillen konnte. Dabei ist anzumerken, dass die Menschen in dieser Stadt nur überlebt haben, weil sie von ehemaligen Kriegsgegnern nicht im Stich gelassen worden sind. Den Ausdruck „nicht im Stich lassen“ haben wir heute in der Diskussion schon mehrfach gehört. Daraus entstanden Freundschaften, Freundschaften über Jahrzehnte hinweg, Freundschaften zwischen Menschen, Freundschaften von Land zu Land und Freundschaften, die den Frieden in Europa gedeihen ließen. Lassen Sie mich zum Schluss - meine Redezeit ist abgelaufen - ein afrikanisches Sprichwort zitieren: „Siehst du Unrecht und Böses und sprichst nicht dagegen, dann wirst du sein Opfer.“ Mein Fazit aus dieser Diskussion ist: Völkermord darf sich nicht wiederholen, heute nicht, morgen nicht, nirgendwo. Dieser Verantwortung müssen wir uns stellen, jetzt, jederzeit und überall. Ich bedanke mich. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das war, Herr Kollege Lorenz, Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag, zu der ich Ihnen herzlich gratulieren möchte. ({0}) Präsident Dr. Norbert Lammert Ich möchte mich aber auch bei allen Kolleginnen und Kollegen ausdrücklich bedanken, die an dieser Diskussion teilgenommen haben, und insbesondere allen Rednerinnen und Rednern aus allen Fraktionen meinen Respekt ausdrücken für die Art und Weise, mit der sie sich mit diesem Thema auseinandergesetzt haben. ({1}) Um ähnlich wie Herr Lorenz ganz zum Schluss eine persönliche Anmerkung zu machen: Nach dieser denkwürdigen Debatte bleibt das bittere Fazit, dass uns die selbstkritische Auseinandersetzung mit der eigenen Verantwortung 20 Jahre nach den Ereignissen überzeugender gelingt als die konkrete Wahrnehmung unserer Verpflichtungen und Möglichkeiten zu dem Zeitpunkt, als die Ereignisse stattgefunden haben. ({2}) Wir kommen nun zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf der Drucksache 18/973 mit dem Titel: „Er- innerung und Gedenken an die Opfer des Völkermordes in Ruanda 1994“. Wer stimmt diesem Antrag zu? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist dieser Antrag mit breiter Mehrheit bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. Wir kommen nun zu den Tagesordnungspunkten 19 a und 19 b: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Corinna Rüffer, Kerstin Andreae, Markus Kurth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Fünf Jahre UN-Behindertenrechtskonvention - Sofortprogramm für Barrierefreiheit und gegen Diskriminierung Drucksache 18/977 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({3}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin Werner, Diana Golze, Sabine Zimmermann ({4}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Programm zur Beseitigung von Barrieren auflegen Drucksache 18/972 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit ({5}) Ausschuss für Arbeit und Soziales ({6}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Haushaltsauschuss Federführung strittig Interfraktionell ist auch hier eine Debattenzeit von 96 Minuten vereinbart worden. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Also können wir so verfahren. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der Kollegin Corinna Rüffer für die Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen.

Corinna Rüffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004390, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es geht an dieser Stelle nachdenklich weiter. Seit fünf Jahren ist die Konvention der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen geltendes Recht in Deutschland. Dass wir eine solche Konvention haben, ist in erster Linie denjenigen Menschen mit Behinderungen zu verdanken, die über Jahrzehnte nicht aufgegeben haben, für ihre Rechte zu kämpfen. ({0}) Bei ihnen möchte ich mich heute bedanken. Was sie getan haben, war bitter nötig. ({1}) Als die Vereinten Nationen das Jahr 1981 zum UNOJahr der Behinderten erklärten, ernteten sie heftige Kritik von Menschen mit Behinderungen in ganz Deutschland. In einer Resolution schrieb die Aktionsgruppe gegen das UNO-Jahr: Wir erklären, daß das „Internationale Jahr der Behinderten“ … über unsere Köpfe hinweg und gegen unsere Interessen durchgeführt wird. Sie sprachen von einer Integrationsoperette, die die gravierenden Missstände im Behindertenbereich verschleiern soll. Menschen mit Behinderungen kämen als selbstbestimmt handelnde Menschen nicht vor. Aus diesem Grund organisierten die Aktivistinnen und Aktivisten das sogenannte Krüppeltribunal. Hier machten sie auf Menschenrechtsverletzungen im Sozialstaat aufmerksam. Zur Sprache kamen die unwürdige Lebenssituation in Heimen, Behördenwillkür, Sonderwelten durch Werkstätten, die Situation behinderter Frauen, Mobilitätsbarrieren und vieles andere mehr. Der Erfolg dieser Bewegung wurde nicht zuletzt deutlich, als gut 20 Jahre später behinderte Menschen selber über die UN-Konventionen mitverhandelt haben. Er wird deutlich, wenn Menschen mit Behinderungen in politische Entscheidungsprozesse ernsthaft einbezogen werden und als Expertinnen und Experten ernstgenommen werden. ({2}) Er wird auch an jeder Rampe und an jeder Übersetzung in leichte Sprache deutlich. Der Kern der Kritik, der bereits vor 30 Jahren formuliert wurde, richtete sich gegen eine Politik, die den Schein aufrechterhielt und Missstände verschleierte, also gegen Integrationsoperetten. Die Situation behinderter Menschen hat sich in den letzten 30 Jahren erheblich verbessert. Das liegt auch daran, dass Menschen mit Behinderungen für ihr Selbstbestimmungsrecht gekämpft haben. Wenn ich mir behindertenpolitische Reden anhöre, dann frage ich mich allerdings gelegentlich, ob wir mittlerweile von InkluCorinna Rüffer sionsoperetten sprechen müssten. Die Gruppe derjenigen, die gerne von Inklusion spricht und nicht aus dem Quark kommt, wenn es wirklich um etwas geht, hat jedenfalls prominente Vertreter. „Gut Ding will Weile haben“ scheint ihr Motto zu sein. Ich bin gespannt, wie häufig uns Frau Nahles das in puncto Teilhabegesetz noch erklären wird. Wenn ich mir die Finanzplanung dieser Bundesregierung anschaue, dann muss ich feststellen, dass es vor 2017 jedenfalls nicht losgehen wird. Wenn es darum geht, die Umsetzung der Behindertenrechtskonvention voranzutreiben, sollten wir uns nicht von schönen Worten blenden lassen. Wir müssen im Blick behalten, was sich wirklich verändert und was sich im Leben von Menschen mit Behinderungen konkret verbessert. ({3}) Die Lebenssituation behinderter Menschen ist in Deutschland im Vergleich zu vielen anderen Ländern relativ gut. Wir müssen bei der Umsetzung der Konvention keinesfalls bei null anfangen. Gerade aus diesem Grund sollten wir unsere Erfolge daran messen, wie gut es uns gelingt, auch denjenigen eine selbstbestimmte Teilhabe zu ermöglichen, die besonders verletzlich sind. Wir sollten uns fragen, wie selbstbestimmt zum Beispiel diejenigen leben, die nicht in einer Werkstatt arbeiten dürfen, weil sie - auch nachdem sie an Maßnahmen im Berufsbildungsbereich teilgenommen haben - kein Mindestmaß an wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung erbringen werden. Wir sollten uns fragen, was wir für die Selbstbestimmungsrechte derjenigen tun, die nicht sprechen können. Wir sollten uns auch fragen - jetzt schlage ich einen etwas weiteren Bogen -, wie unsere Vorstellungen von einem lebenswerten Leben die Entscheidung über einen Schwangerschaftsabbruch beeinflussen, wenn eine genetische Untersuchung nahelegt, dass ein Kind mit einer Beeinträchtigung leben wird. ({4}) Gemeinsam mit mehr als 20 Kolleginnen und Kollegen aus meiner Fraktion habe ich vor zwei Wochen die Bundesregierung zu ihren behindertenpolitischen Vorhaben befragt. So wollten wir beispielsweise wissen, wie Menschen mit Behinderungen leben, die nach Deutschland geflüchtet sind. Auch hier handelt es sich um Personen, die besonders verletzlich sind. Wir wollten wissen, wie diese Menschen untergebracht sind, ob sie Zugang zu Rehamaßnahmen haben und ob die Bundesregierung zu diesen Fragen Daten erheben wird, sollten diese bisher nicht zur Verfügung stehen. Die Antwort in der Fragestunde: Anerkannte Flüchtlinge werden nicht in Unterkünften für Asylbewerber untergebracht. Außerdem stehen ihnen Sozialhilfeleistungen und medizinische Versorgung wie eigenen Staatsangehörigen zur Verfügung. Ganz ehrlich: Das ist in etwa so, als würde ich auf die Frage nach einem Kuchenrezept antworten, dass Mehl eine der Zutaten ist und man den Ofen benutzen kann, den man auch für Lasagne verwendet. Diese Bundesregierung ist offensichtlich nicht gewillt, sich mit der Situation behinderter Menschen auseinanderzusetzen, die nach Deutschland geflüchtet sind. Ich möchte zum Ende meiner Rede noch eine Entwicklung ansprechen, die wir gerade vor dem Hintergrund der Behindertenrechtskonvention im Auge behalten sollten. In den letzten Jahren beobachte ich verstärkt die Tendenz, dass gegenüber Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern die besonderen Fähigkeiten von Menschen mit Behinderungen angepriesen werden. So informiert zum Beispiel die BDA darüber, dass behinderte Menschen am Arbeitsplatz häufig besonders motiviert sind, weil sie beweisen möchten, das ihre Arbeit Wertschätzung verdient. Das mag so sein. Aber lassen wir uns das einmal auf der Zunge zergehen: Hier wird dafür geworben, Menschen mit Behinderungen einzustellen, weil sie sich beweisen möchten. Das hat nichts zu tun mit der Perspektive der Behindertenrechtskonvention. ({5}) Die Konvention zielt darauf, einen inklusiven Arbeitsmarkt zu schaffen. Das bedeutet, der Arbeitsmarkt muss so gestaltet werden, dass sowohl der sehr leistungsstarke als auch der leistungsschwache Mensch seinen Lebensunterhalt durch Arbeit verdienen können. Menschen mit Behinderungen haben ein Recht auf Arbeit. ({6}) Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich halte es für sinnvoll, dass Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber bestehende Vorurteile über Menschen mit Behinderungen reflektieren und hoffentlich überwinden - selbstverständlich. Wir dürfen uns aber nicht damit zufriedengeben, wenn von Inklusion gesprochen wird und damit gemeint ist, Menschen mit Behinderungen als wertvolle und nicht ausreichend genutzte Ressource am Arbeitsmarkt zu präsentieren. Wenn Menschen mit Behinderungen besonders motiviert arbeiten, weil sie stärker als nichtbehinderte Menschen das Gefühl haben, sich beweisen zu müssen, dann liegt das daran, dass sie derzeit diskriminiert werden. Das ist ein Problem, gegen das wir vorgehen müssen. Das ist jedenfalls kein guter Zustand, aus dem Profit geschlagen werden sollte. ({7}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, seit fünf Jahren ist die Behindertenrechtskonvention geltendes Recht in Deutschland. Mit der Konvention haben wir uns verpflichtet, Menschen mit Behinderungen die gleichberechtigte Teilhabe in allen Lebensbereichen zu ermöglichen. Das passiert nicht, wenn möglichst viele Menschen möglichst oft „Inklusion“ sagen. Die Bundesregierung täte gut daran, sich vom Vertrösten und Verzögern aufs Handeln zu verlegen. Vielleicht möchte sie uns ja beweisen, dass ihre Arbeit Wertschätzung verdient. Vielen Dank. ({8})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Frau Kollegin. - Guten Morgen von meiner Seite aus! Der nächste Redner: Uwe Schummer für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Uwe Schummer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003631, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrtes Präsidium! Meine Damen! Meine Herren! Dass Sie die Bundesregierung zum Handeln auffordern, und zwar endlich, nachdem die Große Koalition jetzt 100 Tage an der Regierung ist, finde ich bemerkenswert. ({0}) Es gibt keine Koalitionsvereinbarung, in die mehr Handlungsempfehlungen zur Inklusion in allen Politikbereichen aufgenommen worden sind als in die jetzt gültige zwischen Union und Sozialdemokraten. Diese enthält insgesamt zwanzig solcher Handlungsempfehlungen. ({1}) Wir haben ja bereits am Mittwoch im Ausschuss für Arbeit und Soziales und in anderen Ausschüssen miteinander diskutiert und überlegt, wie wir die ambitionierten Ziele der Koalition gemeinsam umsetzen können. Ein Thema war der neue Teilhabebericht. Wir haben gesagt: Wir wollen wegkommen vom alten Bericht zur Lage der Menschen mit Behinderungen, in dem seit 1982 Defizite aufgeführt und Subventionen dargestellt wurden. - Die Konsequenz war, dass wir im letzten Jahr erstmals einen Teilhabebericht zum Thema Inklusion erstellt haben, in dem auch die sehr unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten der Menschen mit Behinderungen dargestellt werden. So differenziert wie die Lebenswirklichkeiten sind, so differenziert werden auch die politischen Antworten sein müssen. Es war ein guter und wichtiger Erfolg des früheren Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, von Hubert Hüppe - er ist heute unter uns -, ({2}) dass mit diesem neuen Teilhabebericht auch die UNKonvention umgesetzt werden konnte, verbunden mit der Zielsetzung, für mehr Teilhabe zu sorgen. Der Teilhabebericht ist auch eine Grundlage für weitere Politikansätze, die die Große Koalition in den nächsten drei Jahren verfolgen wird, um die Teilhabe insgesamt zu verbessern, und zwar in allen Bereichen des Lebens. Im Sinne der Grundregel „Nichts über uns ohne uns“ hat der Deutsche Behindertenrat dafür gesorgt, dass an der Erstellung des Teilhabeberichts auch Wissenschaftler beteiligt waren, die selber betroffen sind und daher auch ihre Lebenswirklichkeit mit einbringen konnten; sie machten ein Drittel des gesamten Redaktionsteams aus. Kerstin Tack und ich sind wild entschlossen, ({3}) dafür zu sorgen, dass die Mitwirkungsmöglichkeiten der Verbände der Betroffenen auch bei der Erstellung der nächsten Teilhabeberichte noch weiter ausgebaut werden, ({4}) damit das Motto „Nichts über uns ohne uns“ auch als Grundlage des politischen Handelns verankert wird. Wir haben damit den Art. 31 der UN-Konvention umgesetzt, der uns in der Politik auffordert, Statistiken und Datensammlungen über die Lebenslagen behinderter Menschen aufzuarbeiten. In diesen Statistiken und Datensammlungen sollen sich auch differenziert die unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten und Belange der Menschen mit Behinderungen oder mit Beeinträchtigungen wiederfinden. Nach dem Teilhabebericht sind 25 Prozent der Bevölkerung über 18 Jahre betroffen. Das sind 17 Millionen Menschen. Davon sind etwa 7 Millionen Menschen anerkannt schwerbehindert. Wir werden aufgrund der Demografie, der Bevölkerungsstruktur, die Frage von Behinderung und Beeinträchtigung, auch von chronischen Krankheiten, in der Zukunft politisch noch weiter aufarbeiten müssen. Von daher wird es wichtig sein, dass „barrierefrei“ für alle Facetten des Lebens gilt. Wir hatten am Donnerstag dieser Woche eine Initiative mit Gehörlosen aus Thüringen zu Gast, die uns aufgefordert haben, die heutigen technischen Standards zu nutzen, beispielsweise für Gehörlose eine Notruf-App zu entwickeln, mit der man wichtige Informationen, wichtige Nachrichten sofort zuspielen kann, damit auch diese Menschen über ihr iPhone oder ihr iPad schnell über die aktuelle Sachlage informiert werden können. Es sind sehr einfache technische Möglichkeiten, die heute schon existieren, die wir nur nutzen müssen, um auch in der Kommunikation Barrieren zu überwinden und mehr Teilhabemöglichkeiten zu schaffen. Wir müssen aber auch mentale Barrieren, Barrieren in den Köpfen, Barrieren dadurch, dass wir etwas nicht gelernt haben, überwinden. Wenn man nicht weiß, wie man mit contergangeschädigten Menschen umgeht, wie man ihnen die Hand gibt, dann hat man Bedenken, Schwierigkeiten, zieht sich zurück, geht nicht auf diese Menschen zu. Das sind unsere Barrieren, die wir aufarbeiten müssen, damit wir auf die Menschen zugehen, sie begrüßen, mit ihnen scherzen können, damit wir sehr entspannt sein können, wenn wir auf sie zugehen. ({5}) Barrieren haben wir alle miteinander, und wir alle miteinander sind aufgefordert, sie zu beseitigen. Es ist normal, verschieden zu sein, und es ist wichtig, dass wir lernen, offen miteinander umzugehen, in allen Facetten. Der Teilhabebericht gibt uns auch Handlungsempfehlungen. Dazu gehört - das ist auch in unserer Koalitionsvereinbarung festgelegt worden -, dass wir unter dem Dach der Kinder- und Jugendhilfe die verschiedenen Fördermaßnahmen für Eltern, für Kinder, für Jugendliche bündeln, sodass es vor Ort eine Anlaufsituation, eine Struktur gibt, die weiterhilft, wenn Fragen entstehen, weil zum Beispiel Fördermaßnahmen beantragt werden müssen. Wir werden das familiäre Umfeld und die Familien selbst durch eine Kultur der Nachbarschaft stärken müssen - durch die Vernetzung mit begleitenden Hilfen, Tagesstätten, Beratung und Betreuung. Wir wollen verstärkt die betreuten Werkstätten nutzen. Sie sollen auch Arbeitsmöglichkeiten außerhalb der betreuten Werkstätten organisieren. Wir sagen: so viel inklusive Arbeit wie nur irgend möglich, aber weiterhin so viel Betreuung wie nötig. Ich halte nichts davon, eine Struktur abzuschaffen und zu schauen, was dann passiert. Wir werden Strukturen miteinander vernetzen müssen, aber immer mit der Zielsetzung, für den einzelnen Menschen, an dem wir Maß nehmen, möglichst viel auch inklusive Arbeit zu entwickeln. In meinem Heimatkreis am Niederrhein fangen auch Kinder mit Downsyndrom an, aus der betreuten Werkstatt rauszugehen. ({6}) Gemeinsam mit anderen, mit Handwerksmeistern bauen sie in einem offenen Museum eine niederrheinische Lehmkate. Sie sind sehr stolz darauf, eine solche Leistung zu erbringen. Man sieht auf einmal, wie stark, wie innovativ und wie motiviert sie sind. Vom Bundesverband der Floristen kam einmal jemand zu mir und beklagte sich über den Fachkräftemangel. Ich habe ihn gefragt: Haben Sie einmal überlegt, beispielsweise verstärkt auch Behinderte einzustellen? Die Antwort war erst einmal: Die Kunden haben es immer so eilig; die haben keine Zeit, zu warten. - Hier geht es um Entschleunigung, um Dinge des Miteinanders und Füreinanders, über die wir miteinander reden müssen. Wir müssen ein Stück weit auch einen Mentalitätswandel, eine Revolution der Herzen erzeugen, damit das Miteinander und Füreinander insgesamt verbessert werden kann. ({7}) Die inklusive Bildung endet in Deutschland heute oft nach der Kindertagesstätte. 60 Prozent der betroffenen Kinder gehen noch gemeinsam mit anderen Kindern in eine Regelkita. In der Grundschule sind es nur noch 34 Prozent. Im weiteren Bildungsverlauf werden es immer weniger, bis hin zu den Restbeständen in der Arbeitswelt. Da müssen wir stärker werden; da müssen wir besser werden. Auch mit dem Bundesteilhabegesetz wird diese Zielsetzung verfolgt werden. Es geht hier eben nicht nur um ein Sparprogramm für die Kommunen; es geht darum, dass für die betroffenen Menschen eine Verbesserung, ein Mehrwert an Teilhabe in der Gesellschaft entwickelt wird. Sowohl die Kommunen als auch die Länder als auch der Bund werden zusammen mit den Trägern weiterhin aktiv sein müssen. Es kann nicht nur um ein Sparprogramm zwecks Ausgabenentlastung der Kommunen gehen, es muss letztendlich um mehr Teilhabe für die betroffenen Menschen gehen. ({8}) Die Leitidee dieser Großen Koalition - das haben wir auch in der Koalitionsvereinbarung festgeschrieben - ist die inklusive Gesellschaft, in der wir gemeinsam lernen, arbeiten, spielen, wohnen und mit allen Facetten leben. Das wird unser Anspruch sein. Daran, wie wir das miteinander umsetzen werden, können Sie uns gerne in drei Jahren - nicht nach 100 Tagen - messen. ({9})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Herr Kollege. - Nächste Rednerin ist Katrin Werner für die Linke. ({0})

Katrin Werner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004188, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Seit fünf Jahren gilt in unserem Land eine Konvention, die man die modernste Menschenrechtskonvention nennt. Was hat sich für 7 Millionen schwerbehinderte Menschen, für mehr als 17 Millionen Menschen mit Beeinträchtigungen oder chronischen Erkrankungen im Alltag praktisch verbessert, verschlechtert, oder was blieb, wie es war? Übereinstimmend sagen viele: Es wird schwieriger, den Alltag zu organisieren. Es fehlt an inklusiven Infrastrukturen. Mittelfristig fehlen 3 Millionen barrierefreie Wohnungen in Deutschland, Defizit steigend. Nur jede dritte Arztpraxis ist wenigstens rollstuhlgerecht. Noch immer blüht eine Landschaft von Sonderwelten: Heime, in denen im Minutentakt verrichtet wird, Werkstätten, in denen für Dumpinglöhne auch für Rüstungsunternehmen, wie zum Beispiel in Bremerhaven, gearbeitet wird, und Förderschulen, die 75 Prozent der Schüler ohne Abschluss verlassen. Nach der UN-Behindertenrechtskonvention jedoch muss Politik Menschen mit Behinderungen absichern, fördern und ermutigen, selbstbestimmt zu leben; sie muss also Räume für Selbstentfaltung öffnen - wie für alle anderen Menschen auch. ({0}) Inklusion braucht deshalb „angemessene Vorkehrungen“ für den Einzelfall im Zusammenspiel mit vielen „geeigneten Maßnahmen“ im Großen. Art. 4 der UN-Behindertenrechtskonvention spricht davon, „alle geeigneten Gesetzgebungs-, Verwaltungsund sonstigen Maßnahmen zur Umsetzung der in diesem Übereinkommen anerkannten Rechte zu treffen“. Deshalb unterstützen wir den Antrag der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen, zunächst das Behindertengleichstellungsgesetz und das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz zu novellieren. Denn es geht in dieser Wahlperiode nicht isoliert um ein Bundesteilhabegesetz. Die Gültigkeit des SGB IX steht - sagen Wissenschaftler - zu 80 Prozent nur auf dem Papier. Auch in diesem Gesetz ist der Behinderungsbegriff zu ändern. Es geht auch um den arbeitnehmerähnlichen Status und ein Recht auf bedarfsgerechte Assistenz in allen Lebensphasen und Lebenslagen, und zwar unabhängig von Einkommen und Vermögen. ({1}) Gebraucht wird eine soziale Umwelt, an der alle Menschen mit Beeinträchtigungen teilhaben können. Das sind auch ältere Menschen und Menschen mit chronischen Erkrankungen, Familien mit Kleinkindern und Kinder selbst, nicht nur Menschen mit einem Behinderungsgrad. Es geht um alle Menschen mit dauerhaftem oder zeitweiligem Unterstützungsbedarf. Es gibt eben auch thematische Focal Points. Einer davon ist in der UN-Behindertenrechtskonvention die Barrierefreiheit. Aus Sicht der betroffenen Menschen heißt das: im Alltag - zu jeder Zeit - nahezu jeden Ort, jede Einrichtung, jedes Angebot und jede Information erreichen, nutzen und verstehen zu können, ohne Bittgänge, Kostenvorbehalte oder Vermögensanrechnung. ({2}) Schon 2011 forderten die Landesbehindertenbeauftragten in ihrer Dresdner Erklärung energischere Schritte. Der Teilhabebericht von 2013 zeigt, dass diese fehlen. Aber inklusive Strukturen wird es ohne Barrierefreiheit nicht geben. Ein bisschen Barrierefreiheit ist leider exklusiv. Einzel- und Pilotprojekte reichen nicht. Barrierefreie Lösungen im Alltag müssen leider immer wieder eingefordert, erstritten oder sogar eingeklagt werden. Zuletzt kritisierte der Bundesrechungshof, dass vom Bundesverkehrsministerium und der Deutschen Bahn AG „die Bahnsteige an mehr als 3 900 kleineren Bahnhöfen … pauschal als stufenfrei bewertet werden, selbst wenn die Bahnsteige ausschließlich über Treppen erreichbar sind“. Zwei Drittel aller Bahnhöfe werden so indirekt als barrierefrei ausgegeben, obgleich sie für Rollstuhlfahrer oder Menschen mit größeren Mobilitätseinschränkungen kaum nutzbar sind. Deshalb fordert die Fraktion Die Linke ein Sofortprogramm zur Beseitigung bestehender Barrieren in Höhe von jährlich 1 Milliarde Euro für einen Zeitraum von fünf Jahren. ({3}) Wir wollen konkrete Taten, die die Lebenslagen von Menschen mit Unterstützungsbedarf praktisch verbessern. Wir wollen ein Signal, dass Teilhabe mehr ist als ein einzelner Leistungsanspruch, nämlich Wert und Wirklichkeit für alle, ein soziales Gut. Wir wollen diese Beseitigung von Barrieren bewusst als Zusatzprogramm, neben dem Bundesleistungsgesetz. Dabei betonen wir, dass mit dem Teilhabegesetz keine und keiner schlechtergestellt werden darf. Aber wir sehen auch: Die Entlastung der Kommunen von den Kosten der Eingliederungshilfe räumt keine einzige Barriere fort. Wir wollen ein Programm, das in den Kommunen wirkt: dort, wo Menschen zum Arzt gehen oder rollen; dort, wo sie in der Schule oder im Theater hören können, was sie nicht sehen, oder in Bildern verstehen, was Buchstaben ihnen nicht verraten; ({4}) dort, wo sie ihr Recht selbst vertreten, im Rathaus oder im Gericht; dort, wo sie arbeiten und Freunde am Stammtisch treffen; dort, wo sie wohnen, daheim statt im Heim. Wir wollen von Anfang an eine fachkundige Begleitung durch das Bundeskompetenzzentrum Barrierefreiheit und eine Evaluation dieses Programms, damit es nachhaltig wird. Wir wollen eine Regierung mit menschenrechtlichem Tatendrang und beantragen deshalb geeignete Maßnahmen, wie sie die UN-Konvention versteht. Wir wollen nicht mehr und nicht weniger. Danke. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Frau Kollegin. - Das Wort hat Kerstin Tack für die SPD-Fraktion. ({0})

Kerstin Tack (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004173, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Die UN-Behindertenrechtskonvention, die Deutschland vor fünf Jahren ratifiziert hat, verpflichtet uns alle, Teilhabe an allen Lebensbereichen dieser Gemeinschaft zu ermöglichen. Aus dieser Verpflichtung, die wir eingegangen sind, haben wir geeignete Maßnahmen abzuleiten; denn wir sind zuständig für die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention. In Deutschland leben 17 Millionen Menschen mit Behinderungen. Nur rund 2 Prozent von ihnen sind von Geburt an bzw. vom ersten Lebensjahr an behindert. Das heißt, dass im Laufe des Lebens Behinderung uns alle ereilen kann. Deshalb ist die Zielgruppe, über die wir reden, beeindruckend groß. ({0}) Die Koalition hat sich richtig viel vorgenommen: Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik finden die Belange von Menschen mit Behinderungen in einem Koalitionsvertrag flächendeckend Berücksichtigung. ({1}) Das ist eine große Errungenschaft. Diese Maßnahmen finden sich im Koalitionsvertrag nicht nur unter „Menschen mit Behinderungen“ wieder, sie finden sich - das werden wir im Laufe der Debatte noch vorgetragen bekommen - auch in jedem weiteren Kapitel. Aber ich will auch sagen, dass die Anträge der Opposition doch recht enttäuschend sind. Wenn ich sehe, dass die Kollegin der Grünen anlässlich fünf Jahren Behindertenrechtskonvention ausschließlich fordert, dass wir das Behindertengleichstellungsgesetz und das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz ändern, muss ich ehrlich sagen: Da wollen wir eindeutig mehr als Handlungsauftrag aus der UN-Behindertenrechtskonvention ableiten. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage/-bemerkung von Markus Kurth?

Kerstin Tack (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004173, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Selbstverständlich darf Herr Kurth zwischenfragen.

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sie sagen, Sie haben sich wesentlich mehr vorgenommen.

Kerstin Tack (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004173, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wie ist es denn dann zu deuten, dass Sie zwar im Koalitionsvertrag das Bundesteilhabegesetz angesprochen und den Kommunen im gleichen Zuge eine Entlastung um 5 Milliarden Euro jährlich in Aussicht gestellt haben, dies in der vorletzten Woche aber kurzerhand einfach in die kommende Legislaturperiode verschoben haben, auf das Jahr 2018, wenn Sie ja womöglich gar nicht mehr regieren? ({0})

Kerstin Tack (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004173, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Kurth, ich gehe davon aus, dass Sie, wie alle anderen Kolleginnen und Kollegen des Hohen Hauses auch, den Koalitionsvertrag intensiv gelesen haben und selbstverständlich in der Lage sind, daraus abzuleiten, wie sich unsere 23 Milliarden Euro zusammensetzen, weil Sie ja nicht nur lesen, sondern auch rechnen können. Das, was schon gestern diskutiert wurde, ist richtig: Wir werden das Bundesteilhabegesetz im Jahr 2016 zur Verabschiedung bringen, und es wird in 2017 in Kraft treten. Das ist unsere Aussage dazu. ({0}) Frau Kollegin, vielleicht ist das auch der Grund dafür, dass Sie in Ihrem Beitrag hier schlussendlich gar nichts zu Ihrem Antrag gesagt haben. Ich gehe davon aus, dass fünf Jahre UN-Behindertenrechtskonvention natürlich auch für Sie Anlass sind, mehr zu tun, als sich nur die zwei Gesetze anzugucken. Bei der Kollegin der Linken erleben wir das, was wir schon kennen: 1 Milliarde Euro ist das Mindeste, was man grundsätzlich in jedem Antrag fordert, ohne dass man sagt, wo das Geld herkommen soll. Auch hier will ich sagen: Barrierefreiheit ist eine Selbstverständlichkeit. Wir werden sie bei den weiteren Maßnahmen zur Städtebauförderung und anderem selbstverständlich realisieren. Genau so, wie von Ihnen gefordert, ist auch das Teil unseres Koalitionsvertrages, den wir umzusetzen gedenken. ({1}) Mit dem modernen Bundesteilhabegesetz, das wir in dieser Legislaturperiode auf den Weg bringen, werden wir genau diesen Anspruch auf Teilhabe in der Gesellschaft umfassend umsetzen. Wir wollen die soziale Teilhabe aus dem bisherigen Fürsorgesystem der Sozialhilfe herausholen und es als eigenständiges Recht im SGB IX verankern. Allein das ist ein Paradigmenwechsel, den wir aus der UN-Behindertenrechtskonvention als Auftrag für uns definieren. Um auch das deutlich zu sagen: Mit der Herausnahme aus der Sozialhilfe ist selbstverständlich auch das Bedürftigkeitsprinzip obsolet. ({2}) Selbstverständlich haben wir auch die Kosten im Blick, deren Anstieg ja nicht daraus resultiert, dass die Menschen ein immer größeres Geldbudget zur Verfügung gestellt bekommen, sondern ausschließlich daraus, dass die Zahl der Leistungsberechtigten massiv angestiegen ist. Haben noch im Jahre 2000 525 000 Menschen Eingliederungshilfe erhalten, so waren es 2012 bereits 821 000 - mit steigender Tendenz -, und selbstverständlich zieht das eine Spirale nach sich. Was lernen wir daraus? Daraus muss man doch den Rückschluss ziehen, dass man insbesondere bei der Antwort auf die Frage, wie man die Hilfe steuern sollte, anders, passgenauer, personen- und nicht institutionenzentriert vorgehen und ein neues Leistungspaket überdenken muss. Genau das steht im Koalitionsvertrag, und das werden wir machen. ({3}) Meine Damen und Herren, Behinderung ist ein Lebensrisiko, das jeden von uns individuell treffen kann. Gleichzeitig ist Behinderung kein personengebundes Schicksal, sondern es sind die Rahmenbedingungen der Gesellschaft, die Behinderung produzieren. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Kerstin Tack (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004173, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, mache ich. - Deshalb ist für uns völlig klar: Behinderung darf nicht arm machen. Das betrifft die behinderten Personen selber, aber auch die Lebenspartner der Personen. Auch das wird uns ein Anliegen sein: dass selbstverständlich jede Person, egal ob mit oder ohne Behinderung, zur sozialen Teilhabe eigenes Einkommen ansparen und einsetzen darf. Das ist unser Leitthema; das werden wir vorlegen. Wir sind uns sehr sicher, dass wir in drei Jahren ein sehr zufriedenstellendes Teilhabegesetz auf den Weg bringen können. Herzlichen Dank. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke, Frau Kollegin. - Das Wort hat Kerstin Andreae für Bündnis 90/Die Grünen.

Kerstin Andreae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003493, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir wollen eine inklusive Gesellschaft, in der Menschen- und Bürgerrechte so ernst genommen werden, dass jeder gleichgestellt ist. Wir müssen mit den - durch die von uns gestaltete Umwelt, durch unser Verhalten, durch uns - behinderten Menschen auf Augenhöhe umgehen. Es geht darum, dass sich alle Menschen mit der gleichen Selbstverständlichkeit in ihrem Leben, Wohnen und Arbeiten bewegen können. Das erfordert eine andere Kultur der Aufmerksamkeit, des Respekts und der Rücksichtnahme, und zwar nicht nur aus einem karitativen, sozialen Blickwinkel heraus, sondern schlicht deshalb, weil es ein Menschenrecht ist. ({0}) Ja, das Teilhabegesetz kommt - 2017. ({1}) Die Menschen warten aber. Jeder einzelne Schritt ist wichtig. Jetzt legen wir Ihnen in unserem Antrag vier Maßnahmen vor, die etwas mit Freiheit, mit Menschenrechten, mit Ermöglichung zu tun haben, vier Maßnahmen, die Sie sofort umsetzen könnten. Es spricht nichts dagegen, dass Sie 2017 ein Teilhabegesetz auf den Weg bringen. Aber es spricht viel dagegen, Frau Tack, dass Sie sagen: Dieser Antrag ist enttäuschend; da steht ja nicht viel drin. - Setzen Sie diese vier Maßnahmen um, und Sie haben unheimlich viel erreicht. ({2}) Worum geht es? Es geht um die Anpassung des Behindertenbegriffs an das Verständnis der Behindertenrechtskonvention. Wir müssen deutlich sagen: Behinderung entsteht erst dann, wenn ein Mensch, der von der physischen, geistigen und psychischen Norm, von dem scheinbar Normalen abweicht, auf Barrieren, Treppen, enge Räume, komplizierte Anweisungen, Erwartungen an Stressresistenz, Vorurteile trifft. Die Behindertenrechtskonvention nimmt die Gesellschaft als Verursacher für diese Barrieren in die Verantwortung. Das ist ein Paradigmenwechsel. Dieser Paradigmenwechsel steht unserer Gesellschaft gut an. Führen Sie ihn jetzt herbei! ({3}) Wir wollen das Recht auf Verständigung in leichter Sprache. Behörden müssen schon heute in Gebärdensprache und Brailleschrift kommunizieren. Leichte Sprache ist notwendig, damit auch geistig behinderte Menschen verstehen. Das hat etwas mit Wertschätzung zu tun, damit, dass auf Augenhöhe kommuniziert wird. Auch das würde unserer Gesellschaft gut anstehen. ({4}) Wir wollen angemessene Vorkehrungen. Das klingt kompliziert, ist aber ganz einfach: Da, wo nicht sofort grundsätzlich etwas geändert werden kann, da, wo wir kurzfristige Maßnahmen brauchen, da muss eine Umsetzung leichter möglich sein, etwa die Rampe, damit der Rollstuhlfahrer am Abend noch ein Bier in der Kneipe trinken kann. Das sind angemessene Vorkehrungen. Der letzte Punkt. Derzeit ist der Diskriminierungsschutz von Menschen mit Behinderungen auf bestimmte Teilbereiche beschränkt. Wollen wir akzeptieren, dass, wie vor einigen Jahren geschehen, einer Familie mit einem inkontinenten Kind im Jugendalter eine Ferienwohnung während ihres Aufenthalts dort mit der Begründung gekündigt wurde, dass zu viele Windeln zu viel Müll produzierten? Wollen wir akzeptieren, dass in manchen Restaurants und Klubs Menschen, weil sie sich anders bewegen und anders essen, der Zutritt zu diesen Orten verwehrt wird? Nein, das wollen wir nicht akzeptieren. Auch hier wird eine Veränderung unserer Gesellschaft guttun. ({5}) Lassen Sie uns das gemeinsam angehen. Die Umsetzung dieser Maßnahmen kostet nicht viel Geld, manchmal sogar gar kein Geld. Aber sie bringen vielen viel. Sie kosten ein Umdenken. ({6}) Wenn es Ihnen schwerfällt, einem Antrag der Opposition zuzustimmen, dann nehmen Sie einfach diese Vorschläge in Ihre jetzigen Debatten auf. Warten Sie nicht drei Jahre, um diese Maßnahmen für Freiheit und für Menschenrechte umzusetzen. Vielen Dank. ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke schön, Frau Kollegin. - Das Wort hat Dr. Astrid Freudenstein für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Astrid Freudenstein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004277, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Katholische Jugendfürsorge in meiner Heimatstadt Regensburg betreibt eine eigene Facebook-Seite, die „Teilhabeprojekte“ heißt. Dort wird erfreulicherweise nicht nur gelegentlich etwas gepostet, sondern es tut sich sehr viel auf dieser Seite. Die Volkshochschule zum Beispiel bietet eine Altstadtführung in leichter Sprache an. Bei „Radio sag’ was!“ gehen junge Radiomacher mit Behinderung im örtlichen Lokalfunk mit bemerkenswerten Interviews auf Sendung. Das Atelier der KJF stellt seine Werke im örtlichen Künstlerhaus Andreas-Stadel inmitten der Werke anderer Künstler aus. Und, und, und. Die KJF Regensburg präsentiert auf dieser Facebookseite einen Überblick über ihre Teilhabeprojekte und über das, was jeden Tag im Kleinen passiert. Die gute Nachricht nach fünf Jahren UN-Behindertenrechtskonvention lautet daher: Es ist nicht bei der Idee einer inklusiven Gesellschaft geblieben. Die Sache lebt, und wir sind damit gut unterwegs. In der UN-Behindertenrechtskonvention wird bekräftigt - ich zitiere -, „… dass alle Menschenrechte und Grundfreiheiten allgemein gültig und unteilbar sind, einander bedingen und miteinander verknüpft sind und dass Menschen mit Behinderungen der volle Genuss dieser Rechte und Freiheiten ohne Diskriminierung garantiert werden muss“. Klar, denkt man, wieso sollten Menschenrechte auch nicht für Menschen mit Behinderungen gelten? Doch was sich wie ein Allgemeinplatz anhört, stößt in der Realität oft an Grenzen: an Barrieren im wörtlichen Sinne. Umso wichtiger war es, dass die Vereinten Nationen mit der Konvention vor fünf Jahren die erste verbindliche universelle Menschenrechtsquelle für behinderte Menschen geschaffen haben. Die unterzeichnenden Staaten haben sich verpflichtet, die darin festgeschriebenen Rechte in ihre nationale Gesetzgebung zu übertragen. Auch Deutschland hat das getan. Unsere Aufgabe ist es, die Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, dass Teilhabe für alle Menschen gleichberechtigt ermöglicht wird und Barrieren eingerissen werden. Nun fiel die Behindertenrechtskonvention in Deutschland nicht in ein behindertenpolitisches Vakuum. Erst am Mittwoch haben wir uns im Ausschuss mit dem Teilhabebericht der Bundesregierung befasst. Dieser Teilhabebericht zeigt - neben dem Staatenbericht - auf, an welchen Stellen wir noch etwas tun müssen, um unsere Verpflichtungen zu erfüllen. Der Bericht zeigt aber auch, dass die Bundesrepublik, vor allem auf gesetzgeberischer Seite, schon eine Menge im Sinne der Konvention für die Menschen mit Behinderung getan hat und tut. Neben den SGB sind das vor allem die - auch in dem Antrag der Grünen angesprochenen - Gesetze zur Gleichstellung behinderter Menschen, das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz und das Behindertengleichstellungsgesetz. Sie trugen und tragen ganz maßgeblich zur Gleichberechtigung bei und sind nur einige Beispiele. Zurzeit werden diese Gesetze vor dem Hintergrund der Konvention evaluiert. Diese Evaluation soll bis zum Sommer abgeschlossen sein. Dabei geht es um genau die Punkte, die Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, in Ihrem Antrag ansprechen: nämlich um den Behinderungsbegriff, um den Einsatz leichter Sprache usw. Es ist wichtig, nicht nur die Gleichstellung an sich rechtlich festzuzurren, sondern eben auch das veränderte Verständnis von Behinderung, das der Behindertenrechtskonvention zugrunde liegt. Da sind wir ganz bei Ihnen. Trotz dieser Gesetze, die die gleichen Rechte garantieren, haben Menschen mit und ohne Behinderungen in der Praxis immer noch häufig ungleiche Chancen auf Teilhabe. Während ein Viertel der behinderten Menschen keine oder nur wenige Behinderungen durch die Umwelt erfährt, erlebt ein anderes Viertel große Einschränkungen in allen betrachteten Lebensbereichen. Ein Gießkannenprinzip hilft uns deshalb nicht weiter. Wir müssen Nachteilsausgleiche und Programme differenziert auf besonders betroffene Gruppen und Situationen ausrichten. Die Barrieren, die noch am meisten an der Teilhabe hindern, müssen als Erste eingerissen werden. Aufgabe der Politik ist es jedoch nicht nur, die Barrieren für die Betroffenen so weit wie möglich abzubauen. Jede Barriere ist zwar eine zu viel, aber aus der Behindertenrechtskonvention folgt noch etwas anderes: Die individuelle Lebensplanung und die Selbstbestimmung der Menschen mit Behinderung muss mehr geachtet und gestärkt werden. Viele Barrieren werden bedeutungslos, wenn dem Menschen mehr Wahlfreiheit gelassen wird, wenn er die Entscheidungen zu seiner Lebensplanung selbstbestimmt treffen kann und Teilhabe erfährt. Die Entwicklung der Eingliederungshilfe zu einem modernen Teilhaberecht ist deshalb einer der wichtigsten Bausteine bei der Umsetzung der Behindertenrechtskonvention. Dadurch wird sie auch eine der wesentlichen gesellschaftlichen und sozialpolitischen Aufgaben dieser Legislaturperiode werden. Wir wollen weg von einer überwiegend einrichtungsbezogenen hin zu einer personenzentrierten Hilfe, und daran arbeiten wir. ({0}) Der Mensch mit Behinderung muss mit seinen spezifischen Bedürfnissen im Mittelpunkt stehen. Wir wollen deshalb bei der Reform die Perspektive der Betroffenen kontinuierlich mit einbeziehen. Ein solcher Prozess dau2188 ert tatsächlich; er gewinnt dadurch aber auch an Legitimität und an Qualität. Herzlichen Dank. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Frau Kollegin. - Nächste Rednerin ist Sabine Zimmermann für die Fraktion Die Linke. ({0})

Sabine Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003869, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was sagt eigentlich die UN-Behindertenrechtskonvention zu dem ganz wichtigen Thema Arbeit? Sie schreibt klar und deutlich das gleiche Recht auf Arbeit für Menschen mit Behinderung fest. Wichtige Ziele sind der Zugang zum Arbeitsmarkt, die Gewährleistung von Chancengleichheit von Menschen mit Behinderung, die Förderung der Beschäftigung sowie die Barrierefreiheit am Arbeitsplatz. Aber wie ernst nimmt denn diese Bundesregierung und wie ernst nahm die letzte Bundesregierung dieses Thema und diese Konvention? Sie erinnern sich alle: Wir alle haben in diesem Hohen Haus für diese Konvention gestimmt. Ich sage Ihnen trotzdem: Wir sind Lichtjahre entfernt von einer inklusiven Arbeitswelt. ({0}) Die Lage von Menschen mit Behinderung am Arbeitsmarkt ist leider immer noch ein Trauerspiel. Seit Jahren rührt sich nichts an der hohen Arbeitslosigkeit von Menschen mit Behinderung. Aktuell sind in der Statistik über 183 000 schwerbehinderte Menschen. Das ist im Vergleich zu 2008 ein immenser Anstieg von 10 Prozent. Bei Betrieben mit mindestens 20 Arbeitsplätzen müssen wenigstens 5 Prozent Menschen mit Behinderung beschäftigt sein. Wenn die Betriebe diese Quote nicht erfüllen, dann kommt die sogenannte Ausgleichsabgabe. Viele Unternehmen kaufen sich aber mit dieser Abgabe einfach von ihrer Pflicht frei. Deshalb wird die Quote von 5 Prozent von Jahr zu Jahr - das können Sie beobachten - nicht erfüllt. Ein anderes Problem ist: Wenn ein schwerbehinderter Arbeitsloser seine Arbeitslosigkeit beendet, findet nur jeder siebente eine Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt. Zum Vergleich: Bei nicht schwerbehinderten Arbeitslosen gilt dies in fast jedem dritten Fall. Arbeitgeber klagen regelmäßig über den sogenannten Fachkräftemangel. Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Ich kann es nicht mehr hören; denn wenn man einmal auf das Potenzial von schwerbehinderten Menschen schaut, dann stellt man fest: Sie sind gut qualifiziert, sie sind hochmotiviert, aber keiner holt sie aus der Arbeitslosenstatistik. Wenn solche gut qualifizierten Menschen, wenn hochmotivierte Menschen mit Behinderung in meine Bürgersprechstunde kommen und mir erzählen, wie schwer es ist, wie es fast unmöglich ist, einen Job zu finden, dann macht mich das richtig wütend; denn ich verstehe nicht, dass es in einem wirtschaftlich so gut dastehenden Land, wie Sie es in den Debatten immer wieder erwähnen, nicht möglich ist, mehr Menschen mit Behinderung in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Dabei ginge es auch anders. Wir Linken wollen unter anderem die Erhöhung der Pflichtquote, zumindest wieder auf 6 Prozent, die Erhöhung der Anreize für Unternehmen und eine bessere und dauerhafte Förderung der Beschäftigung behinderter Menschen. ({1}) Eines will ich ganz besonders herausheben, nämlich dass Menschen, die heute gute Arbeit in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung leisten, eine Chance zum Übergang in die reguläre Arbeitswelt bekommen müssen. ({2}) - Ein Recht, das ist richtig. - Das würde das Klima in der Arbeitswelt entscheidend und auch positiv beeinflussen. Ganz wichtig ist es auch, dass bei einem solchen Übergang die besonderen Rentenansprüche für Menschen mit einer Behinderung erhalten bleiben. Wichtig ist aber auch, Barrierefreiheit umfassend am Arbeitsplatz umzusetzen, und zwar grundsätzlich so, dass Menschen mit und ohne Behinderung beschäftigt werden können. ({3}) Sehr geehrte Damen und Herren von der Bundesregierung, bitte begreifen Sie die UN-Behindertenrechtskonvention nicht länger als ein schön zu lesendes Dokument, verstehen Sie es als eine handfeste Arbeitsanleitung! Fangen Sie an, an einer inklusiven Arbeitswelt zu arbeiten! Die Barrieren für Menschen mit Behinderung auf dem Arbeitsmarkt müssen endlich eingerissen werden. Schluss mit jeder Form von Diskriminierung! Danke schön. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke, Frau Kollegin. - Nächste Rednerin ist Ulla Schmidt für die SPD. ({0})

Ulla Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002019, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Für mich bedeutet die Umsetzung der Behindertenrechtskonvention eine große gesellschaftspolitische Aufgabe. Diese Umsetzung und die damit verbundene Diskussion darüber, welche Schritte wir gehen müssen, gehören zu den größten gesellschaftspolitischen Herausforderungen zu Beginn dieses Jahrhunderts und sind für mich genauso bedeutsam wie die Bildungsreformen, die wir in den 60er-Jahren durchgeführt haben und die das Ulla Schmidt ({0}) Land nachhaltig verändert haben. Das in der Behindertenrechtskonvention festgelegte Menschenrecht auf Teilhabe an und in der Gesellschaft sollte die Diskussionen übergreifend bestimmen. Die Diskussionen machen sehr deutlich, dass dieses Menschenrecht in unserem Land, das sonst alles versucht, um die Menschenrechte einzuhalten, Tag für Tag verletzt wird. Ich glaube, dass wir dieses Menschenrecht nur durchsetzen können, wenn wir das zu einer gemeinsamen Aufgabe des ganzen Parlaments machen. ({1}) Ich bin sehr viel unterwegs und habe viele Bundesländer besucht. Egal wer gerade regiert, in keinem Land und in keiner Kommune wird zu 100 Prozent das umgesetzt, was wir eigentlich wollen. Ob Brandenburg, Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen, Bayern oder Schleswig-Holstein - ich könnte eigentlich alle Bundesländer aufzählen -, überall gibt es gelungene Beispiele. Aber es gibt noch viel zu tun, bis das, was wir wollen, nämlich die volle Teilhabe aller Menschen, tatsächlich umgesetzt ist. Deshalb bitte ich Sie: Lassen Sie uns nicht gegeneinander arbeiten, sondern überlegen, was wir miteinander machen können, um dies umzusetzen. ({2}) Für mich ist neben den Artikeln betreffend Arbeitsmarkt, Schule und Kindergarten der Art. 9 der Behindertenrechtskonvention, der die Barrierefreiheit behandelt, essenziell. Menschen können nicht teilhaben, wenn Barrieren sie daran hindern. Aber beim Abbau von Barrieren handelt es sich um einen Prozess. Barrieren lassen sich nicht per Gesetz von einem Tag auf den anderen niederreißen. Vielmehr muss jede Barriere Schritt für Schritt abgebaut werden. Ich bin sehr froh, dass wir im Präsidium des Deutschen Bundestags beschlossen haben: Wir wollen, dass der Deutsche Bundestag Vorbild beim Abbau von Barrieren wird. ({3}) Wir wollen, dass Menschen mit Behinderung nicht nur an Anhörungen und Debatten teilhaben, sondern dass sie sie auch verfolgen können. Wir wollen unsere Publikationen und Debattenübertragungen so aufbereiten, dass Blinde, Gehörlose, Sehbehinderte, Hörgeschädigte sowie Menschen mit kognitiven oder psychischen Einschränkungen am gesellschaftlichen Prozess teilhaben und sich dafür interessieren können, was wir politisch entscheiden. ({4}) Natürlich kann man der Meinung sein, dass das Teilhabegesetz nicht alles ist. Aber ich sage Ihnen aufgrund meiner Erfahrung: Die Gestaltung des Teilhabegesetzes, das zum Ziel hat, die Eingliederungshilfe aus dem System der Fürsorge herauszuholen und zu einem modernen Teilhaberecht zu entwickeln, wird der Lackmustest sein, der deutlich macht, wie ernst es uns damit ist. ({5}) Dabei geht es um vieles, was heute von der Eingliederungshilfe nicht geleistet wird. Es geht um Selbstbestimmung und Partizipation, aber auch um Mitmachen und Beteiligung. Ich bin sehr froh, das unsere Ministerin Andrea Nahles gesagt hat: Wir beginnen in diesem Jahr und werden mit den Menschen mit Behinderung einen entsprechenden Gesetzentwurf erarbeiten und diesen im Jahr 2016 verabschieden. Lassen Sie sich gesagt sein: Wer Andrea Nahles kennt, weiß, dass sie das tut. ({6}) Wenn man ein modernes Teilhaberecht gestaltet, ist eines wichtig: Wir sind als Staat verpflichtet, die Barrieren abzubauen. Wir haben uns als Staat verpflichtet, dafür zu sorgen, dass Nachteile, die durch eine Behinderung entstehen, ausgeglichen werden. Deshalb sage ich Ihnen: Es kann nicht sein, dass auf Dauer der Ausgleich der Nachteile vom Staat in die private Einkommenssituation des Einzelnen gelegt werden. Auch behinderte Menschen haben ein Recht auf ein Sparbuch. ({7}) Behinderte Menschen haben nach der UN-Konvention ein Recht darauf, dass sie ihre Lebenssituation stetig verbessern können. Deshalb wird es ein wichtiger Schritt sein, dass wir diesen Prozess voranbringen. Wir wollen nicht, dass sich Eltern behinderter Kinder darum sorgen müssen, ob sie für ihre Kinder ein Guthaben anlegen können, damit sich die Kinder, wenn die Eltern einmal nicht mehr leben, Sonderwünsche erfüllen können. Wir wollen, dass Menschen mit Behinderung ihre Wohnung und ihre Arbeit frei wählen können. Dann müssen wir ihnen aber zugestehen, dass sie ansparen dürfen, damit sie sich Möbel oder andere Dingen kaufen können. ({8}) Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Lasst uns daran arbeiten! Das ist eine große Aufgabe, nicht allein des Bundestages, sondern auch der Länder und der Kommunen. Ich bin sehr für die Entlastung der Kommunen, aber diese Aufgabe ist so groß, dass wir sie nur gemeinsam schultern können. Erst kommen die Inhalte, erst brauchen wir ein modernes Teilhaberecht, und dann können wir darüber entscheiden, wie wir die Kommunen oder andere bei dieser Aufgabe entlasten. Machen Sie mit! Das ist ein ganz wichtiges Projekt. Danke schön. ({9})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Ulla Schmidt. - Nächste Rednerin in der Debatte ist die Kollegin Jutta Eckenbach für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Jutta Eckenbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004265, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kollegen! Teilhabe ist ein Menschenrecht. Das ist heute Morgen schon ein paarmal gesagt worden. Ich gehe noch einmal auf die Worte von Hubert Hüppe, unserem ehemaligen Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, der immer für diesen Personenkreis dagewesen ist, ein. Hubert Hüppe hat immer wieder gesagt: Es geht nicht darum, dass wir mit diesen Menschen Mitleid haben, sondern es geht einzig und allein darum, dass wir die Menschen teilhaben lassen an einem selbstbestimmten Leben. Ich bin sehr froh, dass der gesamte Bundestag heute Morgen zu dieser Einstellung kommt. Dazu ermutigen wir sie. ({0}) Für die CDU/CSU kann ich natürlich sagen, dass uns das immer wieder ganz wichtig war und ich dies nur der Form halber heute Morgen noch einmal klarstellen möchte. Meine Damen und Herren, seit der Rede des Kollegen Hüppe hat sich in der Gesetzeslandschaft viel getan. Zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention wurden in den vergangenen Jahren Verbesserungen bei den Fahrgastrechten oder Änderungen im Luftverkehrsgesetz vorgenommen. Gesetze zur Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs in der Verwaltung oder vor Gerichten wurden verabschiedet. Ich freue mich ganz besonders, dass wir gerade hören konnten, dass sich auch der Bundestag hier einbringt, für Menschen mit Behinderungen tätig zu werden. Ich freue mich schon auf den Tag, an dem es möglich sein wird, alle in geeigneter Form zu erreichen. Dafür von unserer Seite herzlichen Dank. ({1}) Es kommt aber auch darauf an, dass wir uns Zeit nehmen. Ich komme aus Nordrhein-Westfalen. Gestatten Sie mir daher einen Schlenker auf die dortige Landesebene. Hier möchte ich das Thema Schulpolitik - Stichwort Inklusion - aufgreifen. Genau dieses Thema entwickelt sich in Nordrhein-Westfalen zu einem großen Problem. Das Beispiel Inklusion macht deutlich, dass Überarbeitungen, Evaluierungen und Weiterentwicklungen erforderlich sind, um allen Beteiligten gerecht zu werden. Die Umsetzung der Inklusion darf nicht mit der Brechstange erfolgen; denn Teilhabe erfordert vor allem Qualität, und zwar Qualität für alle Seiten. ({2}) Auf dieses Umsetzungsproblem in Nordrhein-Westfalen wollte ich hier besonders hinweisen. Um unserem hohen Qualitätsanspruch gerecht werden zu können, bedarf es leider auch etwas Zeit: Zeit zum Austausch aller Interessen und Meinungen; Zeit zur Überarbeitung; Zeit zur Ausarbeitung. Ein SchnellSchnell ist dabei sicher der falsche Weg. ({3}) Meine Damen und Herren, bereits in der vergangenen Legislaturperiode wurde dem Bundestag der Teilhabebericht der Bundesregierung vorgelegt. Die Bundesregierung ist - das haben wir heute Morgen schon gehört seit 1982 verpflichtet, einen solchen Bericht vorzulegen. Der letzte Bericht, den wir vorgelegt bekommen haben, hat jedoch die Besonderheit - das haben wir bereits im zuständigen Fachausschuss behandelt -, dass in ihm ein ganz anderer Blickwinkel eingenommen wird und er damit ganz andere Aussagen beinhaltet als die vorherigen Berichte. Wir haben im Ausschuss ebenfalls gehört, dass wir noch mehr Erfahrungen sammeln müssen, dass wir noch näher an die Menschen herankommen müssen, um noch mehr von ihnen zu erfahren. Auch von schwerstbehinderten Menschen möchte ich wissen, welchen Bedarf und welche Bedürfnisse sie haben. Aber wie sollen wir diese Menschen erreichen? Es kommt also darauf an, ganz spezifische Fragestellungen zu entwickeln, um diese Menschen zu erreichen; denn es gibt - das ist mir persönlich wichtig - nicht den Behinderten, vielmehr haben viele Menschen ganz unterschiedliche Einschränkungen. Den Einzelnen zu erreichen, das muss doch unser Ziel sein. Deswegen ist es, wie ich finde, wichtig, dass wir eine Vorstudie machen und weitere Entwicklungen beobachten, um noch mehr von den Menschen zu erfahren. Dann können wir noch individueller tätig werden. ({4}) In dem Bericht wurde ein Schwerpunkt auf Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen gelegt. Aus meiner Arbeit im Landschaftsverband Rheinland - ich nenne es immer mein früheres Leben - weiß ich um die Besonderheiten dieser Personengruppen. Wir haben es immer wieder mit psychisch erkrankten Personen zu tun gehabt. Es ist auch Aufgabe des Landschaftsverbandes, bei diesen Erkrankungen tätig zu werden. Speziell auf einen Aspekt möchte ich eingehen, bei dem wir als Nichtbetroffene nicht so sehr im Film sind, wie ich immer sage, nämlich auf die Langzeitarbeitslosen. Wenn man mit den Betroffenen redet, dann hört man, dass psychisch erkrankte Langzeitarbeitslose, wenn sie endlich eine neue Arbeit gefunden haben, es zwei oder drei Wochen schaffen, dieser Tätigkeit nachzugehen. Aber nach zwei oder drei Wochen ist es vorbei, sie können ihre Ängste nicht überwinden. Diesen Menschen müssen wir helfen. Ich glaube, dass das eine ganz wichtige Aufgabe ist. Ein zweiter Bereich, den ich neben der Psychiatrie als ganz wichtig erachte und den ich während meiner Arbeit im Landschaftsverband kennengelernt habe, ist der Bereich der Jugend- und Behindertenhilfe. Auch in der Jugendhilfe müssen wir Hürden überwinden, die durch die Sozialgesetzbücher aufgebaut werden. Das ist ganz wichtig. Ich sehe gerade, dass mich die Lampe am Rednerpult durch Blinken darauf hinweist, dass meine Redezeit abgelaufen ist. Ich dachte, sieben Minuten Redezeit seien länger. Deswegen komme ich zum Schluss: Behinderung ist nicht heilbar. Sie ist ein integraler Bestandteil der Persönlichkeit behinderter Menschen und verdient unseren Respekt. Jedoch sind behindernde Strukturen und behinderndes Verhalten heilbar. Wir werden die Welt einfacher machen. Und das werden wir gemeinsam mit unseren Mitstreiterinnen und Mitstreitern einfach machen. Ich freue mich in diesem Sinne auf die weitere Aussprache in den Ausschüssen und stimme der Überweisung wie alle anderen zu. Ich bedanke mich herzlich für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Frau Kollegin Eckenbach. Wir gratulieren Ihnen alle zu Ihrer ersten Rede im Hohen Haus ({0}) und wünschen Ihnen viel Erfolg bei Ihrer Arbeit für die Menschenrechte in unserem Land. Jetzt hat das Wort Katrin Kunert für die Linke. ({1})

Katrin Kunert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003795, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Werte Frau Eckenbach, ich glaube, fünf Jahre nach Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention kann man hier nun wirklich nicht von der Brechstange reden. ({0}) Vor drei Wochen kam die überaus erfolgreiche deutsche Mannschaft von den Paralympics aus Sotschi zurück. Sie hat mit neun Goldmedaillen, fünf Silbermedaillen, einer Bronzemedaille und ganz vielen Topplatzierungen den zweiten Platz in der Nationenrangliste erkämpft. Das ist ein sehr tolles Ergebnis. ({1}) Positiv will ich anmerken, dass es längst überfällig war, die Prämienzahlungen für die Medaillen anzugleichen. Endlich ist eine paralympische Medaille genauso viel wert wie eine olympische Medaille. ({2}) Positiv will ich auch anmerken, dass bei der Berichterstattung über die sportlichen Wettkämpfe die Leistungen und die Athletinnen und Athleten im Mittelpunkt standen und nicht die Leidensgeschichten von Behinderten. Aber all dies kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir auch im Bereich des Sports weit von der Inklusion entfernt sind. Der Geist der UN-Behindertenrechtskonvention lebt vom selbstbestimmten Mitmachen der Menschen mit Behinderung; denn sie wissen am besten, was für sie eine hohe Lebensqualität in der Freizeit, beim Reisen oder beim Sport ausmacht. ({3}) Für den Bereich des Sports hat die Linke in der 17. Wahlperiode einen Antrag eingebracht, der damals von allen Sachverständigen in einer Anhörung für sehr gut befunden wurde. Dieser Antrag ist leider abgelehnt worden. Das sind wir gewöhnt. Aber es ist schon schade, dass die Koalition sich nicht einmal die Mühe gemacht hat, ihn als Grundlage zu nehmen, um hier einen neuen Antrag für den Bereich des Sports vorzulegen. ({4}) Besonders in den Bereichen des Schulsports, des Breitensports und der Nachwuchsgewinnung stellen wir immer wieder fest, dass Kinder und Jugendliche zu schnell eine Sportbefreiung erhalten, weil man mit Behinderungen schlecht bzw. gar nicht umgehen kann. Das müssen wir ändern. Lehrer-, Übungsleiter- und Trainerausbildung müssen dem inklusiven Anspruch gerecht werden. Gemeinsames Sporttreiben in der Schule, im Verein und im Wettbewerb muss selbstverständlich für alle sein. ({5}) Grundlegende Voraussetzung dafür ist natürlich die Barrierefreiheit von Sportstätten. Es gibt erst eine einzige Sporthalle in Deutschland, nämlich in Hamburg, die völlig barrierefrei ist. Das ist ein Manko für die deutsche Gesellschaft. Deshalb fordern wir auch ein bundesweites Sportstättensanierungsprogramm. Neben den aktiven Sportlerinnen und Sportlern müssen wir aber auch die Zuschauerinnen und Zuschauer mit einer Behinderung im Blick haben, die den Sport konsumieren wollen. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage: Wie geben das die Möglichkeiten der Übertragung her? Wie gelangen sie barrierefrei ins Stadion? Dazu gibt es ein sehr positives Beispiel, nämlich einen Reiseführer der Bundesliga-Stiftung: Barrierefrei ins Stadion. Auch hier kann der Bund einmal schauen, welche sportlichen Aktivitäten und Initiativen es gibt, um diesem Ziel gerecht zu werden. ({6}) An allererster Stelle steht doch aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Barrieren in den Köpfen zu beseitigen. Das ist der Ausgangspunkt. Wenn man diese Debatte verfolgt, muss man feststellen, dass die Barrierefreiheit in vielen Bereichen noch nicht gegeben ist. Inklusion in eine Gesellschaft bedeutet nämlich nicht unbedingt, alle gleich zu behandeln, sondern, sich an den Bedürfnissen von Menschen mit Behinderung zu orientieren. Das ist unser Anspruch. Deshalb bleiben wir an diesem Thema dran. Herzlichen Dank. ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Frau Kollegin Kunert. - Nächster Redner in der Debatte ist Dr. Matthias Bartke für die SPD. ({0})

Dr. Matthias Bartke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004248, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dies ist heute meine erste Rede im Deutschen Bundestag. ({0}) Ich freue mich sehr darüber, dass ich sie zur UN-Behindertenrechtskonvention halten darf. Es gibt wohl kaum einen Sozialpolitiker, dem Behindertenpolitik nicht ein Herzensanliegen ist. Denn der Umgang einer Gesellschaft mit ihren Menschen mit Behinderung ist immer ein Gradmesser für ihre Qualität. Seit Einführung des SGB IX vor fast 14 Jahren und vor allem mit der UN-Behindertenrechtskonvention hat sich in unserem Land viel zum Besseren gewandelt. Aber die Lage ist noch lange nicht so, dass man sagen könnte, sie ist gut. Mit der UN-Behindertenrechtskonvention wurde die Inklusion zum neuen Leitgedanken der Behindertenpolitik. Sie beinhaltet eine Abkehr von der alten Zweiklassentheorie „Behindert“ versus „Nicht behindert“. Inklusion heißt, dass alle Menschen gleichberechtigte Teile eines gemeinsamen Ganzen sind: ({1}) Nicht der Mensch muss an die Rahmenbedingungen angepasst werden, sondern der Sozialraum so gestaltet sein, dass allen Mitgliedern der Gesellschaft ein Zugang offen ist. Dies, meine Damen und Herren, ist ein grundlegender Paradigmenwechsel, den die Konvention bewirkt hat. ({2}) Nur ist eines auch klar: Eine inklusive Behindertenpolitik gibt es nicht zum Nulltarif. Die Schaffung eines barrierefreien Sozialraumes ist teuer, manchmal sogar sehr teuer. Die Unterzeichnung der UN-Konvention ist auch ein Bekenntnis zu diesen Kosten. Schwarz-Rot bekennt sich mit dem Koalitionsvertrag dazu, die Kommunen nicht mit den Kosten für die Behindertenpolitik alleinzulassen. Sie werden bei der Eingliederungshilfe um 1 Milliarde Euro jährlich entlastet. Mit Verabschiedung des Bundesteilhabegesetzes kommt eine jährliche Entlastung um weitere 5 Milliarden Euro hinzu, ({3}) und zwar, Herr Kurth, im Jahr 2016. Dies sind wahrlich keine Peanuts. Im Koalitionsvertrag haben wir außerdem eine Stärkung des inklusiven Arbeitsmarktes vereinbart. Das ist auch dringend notwendig, denn die Arbeitslosenquote bei Menschen mit Behinderung ist mehr als doppelt so hoch wie bei Menschen ohne Behinderung. Besonders alarmierend ist dabei der hohe Anteil von jungen Schwerbehinderten. Hier besteht dringender Handlungsbedarf. In meiner Heimatstadt Hamburg ist man für Mitarbeiter von Werkstätten für Behinderte im Rahmen eines neuen Modellprojekts „Budget für Arbeit“ neue Wege gegangen. Zu diesem Budget gehört unter anderem ein unbefristeter Lohnkostenzuschuss für Arbeitgeber, die in ihren Unternehmen geistig behinderte Mitarbeiter einstellen. Das Projekt funktioniert hervorragend. Das Schöne ist, dass sich das Betriebsklima in den Unternehmen häufig verbessert hat: Unternehmen, die zuvor ausschließlich auf Effizienz ausgelegt waren, bekommen durch die geistig behinderten Mitarbeiter plötzlich eine menschliche Komponente; ({4}) sie stellen eine Bereicherung für die Betriebe dar. Das ist gelebte Inklusion. Es freut mich sehr, dass das Modellprojekt „Budget für Arbeit“ Eingang in den Koalitionsvertrag gefunden hat. Es ist sinnvoll, über dauerhafte Lohnkostenzuschüsse nicht nur für Arbeitnehmer mit geistiger Behinderung, sondern auch für Langzeitarbeitslose mit körperlichen Behinderungen nachzudenken. Damit erhalten vor allem junge behinderte Arbeitslose eine neue Perspektive. Lassen Sie mich, meine Damen und Herren, auf ein Problem zu sprechen kommen, das mir besonders am Herzen liegt. Die UN-Konvention fordert völlig eindeutig, dass Arbeitnehmer nicht wegen ihrer Behinderung diskriminiert werden oder weniger Lohn bekommen dürfen und dass auch sie das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard haben. ({5}) Bei schwerstbehinderten Arbeitnehmern mit persönlichem Assistenzbedarf wird hingegen täglich auf das Krasseste verstoßen. Bei ihnen werden alle Ersparnisse über 2 600 Euro gegengerechnet und müssen an den Staat abgeführt werden. Das gilt auch für die Ehepartner. Ich finde, diese Regelung ist ein Skandal. ({6}) Vor zwei Wochen haben wir im Ausschuss für Arbeit und Soziales in einem formellen Akt eine Petition mit über 126 000 Unterschriften gegen diese Regelung erhalten. In ihr ist prägnant formuliert: Anlegen einer Altersvorsorge? Unmöglich. Rücklagen für … Notfälle bilden? Nicht erlaubt. Geld für einen Autokauf ansparen? Fehlanzeige … Die große Liebe heiraten? Besser nicht. ({7}) Diese Verrechnungspraxis entspricht vielleicht den Buchstaben des SGB XII; den Normen und vor allem dem Geist der UN-Konvention widerspricht sie auf das Eklatanteste. Hier tut eine Abhilfe dringend not. ({8}) Im Bereich der Behindertenpolitik sind wir schon einen weiten Weg gegangen, aber es liegt auch noch ein weiter Weg vor uns. Zum Abschluss möchte ich daher Erich Kästner zitieren, der einmal wunderbar passend gesagt hat: Auch aus Steinen, die dir in den Weg gelegt werden, kannst du etwas bauen. Ich danke Ihnen. ({9})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Herr Kollege. Das ganze Haus gratuliert Ihnen zu Ihrer ersten Rede im Bundestag. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg, nicht nur im Kampf für die große Liebe. ({0}) Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Peter Weiß von der CDU/CSU-Fraktion. ({1})

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die UN-Behindertenrechtskonvention hat einen Prozess ausgelöst, im Zuge dessen auch unser eigenes Denken eine Veränderung erfährt. Zum Schluss dieser erfreulichen Debatte kann man feststellen: Die Idee einer inklusiven Gesellschaft ist mittlerweile bei uns angekommen. Sich daran zu gewöhnen, war - wenn man sich die Tradition und die bisher geleistete Arbeit in der Behindertenpolitik in Deutschland vor Augen führt - eine echte Revolution, aber sie ist gelungen. Unser Bekenntnis ist klar: Ja, wir wollen eine inklusive Gesellschaft. ({0}) Das bedeutet vor allen Dingen, die Kompetenzen und auch den Sachverstand der Menschen mit Behinderungen ernst zu nehmen. Was heißt das? Lassen Sie mich ein Beispiel nennen: Im Inklusionsbeirat der Bundesregierung sitzen nicht nur Menschen, die Sachverstand haben und über Behinderte reden, sondern dort sitzen Menschen mit Behinderung, um ihre eigenen Interessen und Bedürfnisse zu artikulieren. ({1}) Das wichtigste Instrument ist der Nationale Aktionsplan. All die Forderungen und Wünsche, die vorgetragen worden sind, müssen jetzt in den Nationalen Aktionsplan aufgenommen werden. Wir brauchen einen Arbeitsplan, mit dem uns Schritt für Schritt die Umsetzung hin zu einer inklusiven Gesellschaft gelingt. Es geht nun darum, dass nicht Politiker über Behinderte schreiben, sondern in dem Aktionsplan muss sich das wiederfinden, was Menschen mit Behinderung selber eingebracht haben. ({2}) Eine Anpassung der Gesetzgebung im Zuge der Reform der Eingliederungshilfe hin zu einem neuen Bundesteilhabegesetz ist der entscheidende Schritt. Die Opposition kann sich jetzt natürlich hinstellen und fragen: Warum gibt es das nicht schon längst? Legt endlich einen Entwurf vor! - Verehrte Kolleginnen und Kollegen, um Ihr Kurzzeitgedächtnis etwas aufzufrischen: Seit Jahren reden wir in Deutschland über die Reform der Eingliederungshilfe. Wir haben einen mühsamen, aber interessanten Prozess angestoßen. In einer Bund-LänderArbeitsgruppe haben sich Bund und Bundesländer zusammen hingesetzt und aufgeschrieben, wie eine solche Reform inhaltlich aussehen soll. Jetzt ist es in der Tat an der Zeit, die Reform der Eingliederungshilfe anzupacken. Das haben wir uns als Große Koalition vorgenommen. ({3}) In der Debatte gerieten ein paar Dinge durcheinander. Gestern ist mehr über die Entlastung der Kommunen in Höhe von 5 Milliarden Euro gesprochen worden als über den Inhalt der Eingliederungshilfe selbst. Ich will klipp und klar sagen: Ja, der Bund, wir als Große Koalition, stehen zu unserer Zusage, im Rahmen der Reform die kommunale Seite um insgesamt 5 Milliarden Euro zu entlasten und uns an den Kosten der Eingliederungshilfe zu beteiligen. Aber bevor es zu einer Entlastung kommt, müssen die Inhalte stimmen. Das ist das Wesentliche: Wir wollen eine inhaltliche Reform der Eingliederungshilfe. Das ist unser Ziel. ({4}) Wenn wir über eine inklusive Gesellschaft sprechen, dann sprechen wir natürlich über unterschiedliche Arten von Behinderungen. Ich möchte darauf aufmerksam machen, dass der Personenkreis der Menschen mit psychischen Behinderungen oft vergessen wird. Unter den rund 7,3 Millionen schwerbehinderten Menschen, die in der Bundesstatistik verzeichnet sind - ich sage das ausdrücklich einschränkend -, befindet sich - amtlich festgestellt - 1 Million Menschen mit seelischen Behinderungen. Wir wissen, dass langfristig psychisch kranke Menschen von sich aus vielfach keine Anerkennung als Schwerbehinderte beantragen. Aktuell leben in Deutschland 1,4 Millionen Menschen mit der ärztlich gestellten Diagnose Demenz unter uns. Aber nur etwa ein Drittel dieser Personen beantragt von sich aus, dass amtlich eine Schwerbehinderung festgestellt wird. Ein zweiter Hinweis: Im Zusammenhang mit der wachsenden Anzahl der Menschen mit seelischen Behinderungen muss man die dramatisch steigende Zahl der Peter Weiß ({5}) Menschen berücksichtigen, die wegen psychischer Erkrankungen, wegen psychischer Störungen auf eine Erwerbstätigkeit verzichten müssen und Erwerbsminderungsrente beantragen. Deshalb ist es wichtig, auch an die seelisch behinderten Menschen zu denken, wenn man von Menschen mit Behinderungen spricht. Natürlich haben Menschen mit psychischen Störungen andere Probleme als zum Beispiel Menschen mit einer Gehbehinderung oder einer Sinnesbehinderung. Sie brauchen auch andere Formen von Unterstützung. Ich will das kurz an drei Punkten verdeutlichen. Erstens: Teilhabe. Die gesellschaftliche Teilhabe ist ein zentrales Thema. Um erwerbstätig sein zu können, benötigen Menschen mit psychischen Behinderungen auf ihre Bedürfnisse zugeschnittene Arbeitsbedingungen und Unterstützungsangebote. Zweitens: Barrierefreiheit. Bezogen auf einen Rollstuhlfahrer können wir Barrierefreiheit sehr leicht definieren. Bezogen auf einen Menschen mit seelischen Behinderungen fällt uns das sehr schwer. Menschen mit seelischer Behinderung haben oft Schwierigkeiten in sozialen Beziehungen. Sie reagieren vielleicht besonders sensibel auf bestimmte Stressfaktoren. Sie haben vielleicht Ängste, die die Alltagsbewältigung, die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft erschweren. Drittens: Selbstbestimmung. Für Menschen mit psychischen Erkrankungen ist Selbstbestimmung ein wichtiges und spezifisches Thema, weil sie oft große Schwierigkeiten haben, eine für sie sinnvolle Entscheidung zu treffen. Dann müssen Betreuer oder Gerichte für sie entscheiden. Wir haben in der letzten Legislaturperiode das Betreuungsrecht reformiert und die Schwelle für Zwangsmaßnahmen, also für Unterbringung oder Zwangsbehandlung, deutlich erhöht. Auch das war ein wichtiger Beitrag zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention. Dieser Prozess ist noch nicht abgeschlossen. Neben dem, was wir rechtlich oder durch finanzielle Unterstützung regeln können, ist, wie ich finde, für die Idee einer inklusiven Gesellschaft von großer Bedeutung, dass sich die vielen guten Beispiele, die wir in unserem Land haben, vervielfältigen. Deshalb fand ich die Idee des früheren Behindertenbeauftragten der Bundesregierung, Hubert Hüppe, sehr gut, eine sogenannte inklusive Landkarte ins Leben zu rufen. ({6}) Für all die tollen Beispiele, die wir in unserem Land haben, gilt: Man konnte beantragen, in dieser Landkarte verzeichnet zu werden. Nicht der Behindertenbeauftragte hat entschieden, wer aufgenommen wird, sondern Menschen mit Behinderung haben den Auswahlprozess mitgestaltet und entschieden, wer in die Landkarte aufgenommen wird. Die besten Beispiele wurden ausgezeichnet. Ich glaube, in den kommenden Jahren wird es entscheidend darauf ankommen, dass wir dafür sorgen, dass die vielen guten Beispiele für eine inklusive Gesellschaft in Deutschland sich möglichst rasch vervielfältigen, sodass wir in einigen Jahren sagen können: Auf dieser inklusiven Landkarte gibt es keine weißen Flecken mehr. Vielen Dank. ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Herr Kollege Weiß. Es ist gut, dass Sie Herrn Hüppe erwähnt haben. - Herr Hüppe, ich glaube, das ganze Haus dankt Ihnen für das, was Sie in diesem Bereich geleistet haben. ({0}) Seien Sie mal nicht so bescheiden! Wir danken Ihnen nicht nur für die Landkarte. Nächste Rednerin: Waltraud Wolff für die SPD. ({1})

Waltraud Wolff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003270, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren auf den Zuschauerrängen! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir alle haben übereinstimmend festgestellt: Alle Menschen haben den Anspruch und das Recht auf eine gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Das hört sich sehr groß an; darüber ist ja schon vielfältig diskutiert worden. Vor fünf Jahren wurde dieses Ziel in der UN-Behindertenrechtskonvention festgehalten. Deutschland war das erste Land, das diese Konvention unterzeichnet und ratifiziert hat, aber wir sind natürlich noch nicht am Ende des Weges. Auch unser Ziel ist eine inklusive Gesellschaft. Jeder Mensch soll seine eigene Lebenssituation so weit wie möglich selbst gestalten können. ({0}) Das ist unser Anspruch. Eines kann ich Ihnen sagen, so wie ich hier stehe: Bis zum Ende dieser Legislaturperiode werden wir auf diesem Weg ein großes Stück vorangekommen sein. Die Behindertenrechtskonvention beschreibt die Einschränkungen von Menschen mit Behinderungen als abhängig von der Wechselbeziehung zwischen den individuellen Fähigkeiten eines Menschen und den Barrieren, auf die er trifft. Aufgrund einer Beeinträchtigung ist man also nicht per se dafür prädestiniert, dass man nicht uneingeschränkt am gesellschaftlichen Leben teilhaben kann. Oft ist es doch die Umwelt, die aus einer Beeinträchtigung erst eine Behinderung macht. ({1}) Hier gilt es, den Finger in die Wunde zu legen. Beispiel: Wenn Fußgänger die Welt planen würden, könnte das durchaus eine Welt voller Stufen und Treppen sein. Natürlich hätte das für einen Rollifahrer gravierende Auswirkungen. In dieser Welt ist aber nicht der Rollstuhl Waltraud Wolff ({2}) die Barriere, sondern die Barriere sind die Treppen. Darum müssen diese Treppen weg. ({3}) Aus solchen und aus vielen anderen Gründen haben wir im Koalitionsvertrag ein zutiefst sinnvolles und menschliches Ziel definiert: Menschen mit und ohne Behinderungen sollen zusammen spielen, lernen, leben, arbeiten und wohnen. In allen Bereichen des Lebens sollen Menschen mit Behinderungen selbstverständlich dazugehören und zwar von Anfang an. ({4}) An circa 20 Stellen im Koalitionsvertrag gibt es dazu Aussagen. Als ich diese gefunden habe, war ich etwas erstaunt, aber ich habe mich natürlich sehr darüber gefreut. Es gibt größere und kleinere Baustellen, die zu bearbeiten sind. Diese betreffen im Grunde genommen alle Fachgebiete. Wir haben festgestellt: Wir wollen die Eingliederungshilfe zu einem modernen Teilhabegesetz machen. Wir wollen eine gemeinsame Bildung vorantreiben und einen Arbeitsmarkt schaffen, der auch Menschen mit Behinderungen offensteht. Wir wollen Barrieren abbauen. Wir brauchen einen leichteren Zugang für Menschen mit Behinderungen zu Transportmitteln. Jeder kennt das: Ein Rollstuhlfahrer muss erst bei der Bahn anrufen, damit er überhaupt in den ICE kann. Wir brauchen einen besseren Zugang zu Informationen und Kommunikationsmöglichkeiten. Wir werden in der Gesundheitsversorgung viel ändern und gerade bei der Vorsorge mehr tun. ({5}) Mir ist eines ganz besonders wichtig: Wir wollen das Selbstbestimmungsrecht hilfebedürftiger Erwachsener stärken. Willy Brandt hat in den 70er-Jahren von Menschen mit Behinderungen als Erster von Mitbürgern gesprochen. Warum, frage ich, dürfen Menschen mit Behinderungen, die unter voller Betreuung stehen, heute nicht zur Wahl gehen? Diese Diskriminierung muss ein Ende haben. ({6}) Barrierefreiheit verknüpfen wir immer mit einem Rolli. Klar, wir wollen da sehr viel tun. Aber Barrierefreiheit fängt im Kopf an, und zwar bei uns allen. Als Opposition kann man zwar sagen, dass die Regierung nicht genug tut, aber zum Beispiel für einen inklusiven Arbeitsmarkt können wir nur den Rahmen setzen. Wir brauchen auch Arbeitgeber, die bereit sind, Menschen mit Behinderungen einzustellen. ({7}) Barrierefreiheit hat also auch etwas mit Bildungsarbeit, mit dem Abbau von Vorurteilen zu tun. Hierbei müssen wir alle mithelfen. Wenn ich von gemeinsamem Lernen und einem gemeinsamen Arbeitsmarkt rede, heißt das nicht gleichzeitig, dass es keine Werkstätten für Behinderte und keine Sonderschulen für Kinder mit Förderbedarf geben soll. Diese werden wir auch in der Zukunft brauchen. In diesem Punkt müssen Eltern Sicherheit haben. ({8}) Wir wollen Teilhabe statt Fürsorge. Wir wollen ein gemeinsames Spielen, Lernen, Wohnen und Arbeiten ermöglichen. Wir tun etwas. Lassen Sie uns das auch gemeinsam mit der Opposition tun. Herzlichen Dank. ({9})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke, Frau Kollegin. - Nächste Rednerin ist Gabriele Schmidt für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Gabriele Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004402, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man gegen Ende einer Debatte ans Rednerpult tritt, dann ist schon viel gesagt worden. Wir haben heute Morgen schon sehr viele wunderbare Beispiele für gelungene Inklusion, für Aktionen im Interesse der Menschen mit Behinderungen und für Leistungen der Menschen mit Behinderungen, zum Beispiel in Sotschi, aber auch lokal, gehört. Ich werde daher nicht noch weitere Beispiele nennen, sondern versuchen, das Ganze aus meiner Sicht zusammenzufassen: Wir wollen die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention vorantreiben und den Nationalen Aktionsplan gemeinsam mit den Menschen mit Behinderungen weiterentwickeln. Die Konvention ist durch die Ratifizierung geltendes Recht und eine wichtige Leitlinie für die Behindertenpolitik in Deutschland. Das Ziel des Übereinkommens ist, die selbstbestimmte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben in Deutschland zu fördern, Diskriminierung zu unterbinden und den Inklusionsprozess in der Gemeinschaft weiter anzustoßen und zu fördern. Es geht um Chancengleichheit in der Bildung, um berufliche Integration und um die gesamtstaatliche Aufgabe, Menschen mit Behinderungen einen selbstbestimmten Platz in einer barrierefreien Gesellschaft zu sichern. ({0}) Dabei steht der Zugang für Menschen mit Behinderungen zu Transportmitteln, Informationen, Diensten und Einrichtungen im Vordergrund. Wir nehmen diese Aufgabe sehr ernst, auch wenn uns von der Opposition manchmal etwas anderes unterstellt wird. Gabriele Schmidt ({1}) Die UN-Behindertenrechtskonvention verpflichtet Vertragsstaaten, politische Konzepte zur Durchführung auszuarbeiten und umzusetzen. Genau dieser Verpflichtung ist die Bundesregierung in der Zwischenzeit mit der Erarbeitung des Nationalen Aktionsplans nachgekommen. ({2}) Der Nationale Aktionsplan wurde 2011 beschlossen. Er leistet unserer Überzeugung nach einen wichtigen Beitrag zur Förderung einer gleichberechtigten Teilhabe von den rund 7 bis 8 Millionen in Deutschland lebenden Menschen mit Behinderung. Dieser Aktionsplan trägt nicht nur die Handschrift der Bundesregierung, sondern, wie wir bereits gehört haben, von Anfang an auch die von Menschen mit Behinderung. Er umfasst über 200 Einzelmaßnahmen und hat einen Zeithorizont von zehn Jahren. Darüber hinaus sind Länder und Kommunen dazu angehalten, eigene Aktionspläne zu erarbeiten. Das passiert in vielgestaltiger Hinsicht; davon haben wir heute schon gehört. In dieser Legislaturperiode im Deutschen Bundestag sind die Fortentwicklung und auch die Verbesserung der Beteiligungsmöglichkeiten erklärtes Ziel. Von September 2013 bis Juni dieses Jahres wird der Nationale Aktionsplan im Auftrag des BMAS von der Prognos AG wissenschaftlich evaluiert. Schwerpunkt dabei ist die Beteiligung der Zivilgesellschaft. In diesem Zusammenhang sollte noch einmal der von allen Fraktionen begrüßte Teilhabebericht der Bundesregierung über die Lebenslagen von Menschen mit Beeinträchtigungen erwähnt werden. Dieser Teilhabebericht ist im Übrigen auch von der Fachöffentlichkeit sehr positiv aufgenommen worden. Sie sehen also: Wir kommen unseren Verpflichtungen nach. Mit der Schaffung des SGB IX, des Behindertengleichstellungsgesetzes, der Gleichstellungsgesetze aller 16 Bundesländer und des am 18. August 2006 in Kraft getretenen Allgemeinen Gleichstellungsgesetzes wurde in den letzten zehn Jahren die Grundlage für mehr Selbstbestimmung und Teilhabe geschaffen. Die Ergebnisse der Evaluation des Nationalen Aktionsplans und die Erkenntnisse des Teilhabeberichts werden in die Weiterentwicklung einfließen. Die Erkenntnisse der Staatenprüfung werden ebenfalls Berücksichtigung finden. Im September 2014 soll der von der Bundesregierung eingereichte erste Staatenbericht aus dem Jahr 2011 vom UN-Vertragsausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen abschließend geprüft werden. Die Evaluation des Behindertengleichstellungsgesetzes und der drei auf seiner Grundlage ergangenen Rechtsverordnungen ist ebenfalls eine Aufgabe, die sich aus dem Nationalen Aktionsplan ergibt. Dabei sollen möglicher Anpassungsbedarf und Regelungslücken aufgezeigt werden. Die Bewertung des Gesetzes hat zum Ziel, verlässliche Erkenntnisse darüber zu erhalten, ob alle Gruppen von Menschen mit Behinderungen ausreichend berücksichtigt sind und ob sich die Instrumente dieses Gesetzes in der Praxis bewährt haben. Hier geht es insbesondere um leichte Sprache, Zielvereinbarungen und Verbandsklage. Der Abschlussbericht soll, wie zu vernehmen ist, schon im Mai dieses Jahres vorliegen. Zum Schluss möchte ich noch auf die Forderung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen nach einer Anpassung des Behinderungsbegriffs eingehen. Wie bereits erwähnt, ist die Konvention geltendes Recht. Diese Forderung ist nach meiner Ansicht überflüssig und in der Sache nicht zielführend. Denn der im SGB IX und im Behindertengleichstellungsgesetz definierte Behinderungsbegriff stellt eben nicht nur auf gesundheitliche Funktionsbeeinträchtigungen ab, sondern er nimmt auch die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am gesellschaftlichen Leben in den Blick und entspricht somit den Anforderungen der Konvention. ({3}) Im Übrigen wird derzeit vom Arbeitsministerium im Rahmen der bereits angesprochenen Evaluation des Behindertengleichstellungsgesetzes geprüft, ob der Begriff angepasst werden muss. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, lassen Sie uns da bitte nicht um Begriffe streiten, sondern in der Sache arbeiten. Vielen Dank. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Frau Kollegin Schmidt. - Nächste Rednerin in der Debatte: Heike Baehrens für die SPD-Fraktion. ({0})

Heike Baehrens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004244, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Verehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Hätten Sie gedacht, dass vier von fünf Arztpraxen in Deutschland nicht barrierefrei sind ({0}) und dass in nicht einmal 7 Prozent der Praxen barrierefreie Sanitärräume vorhanden sind? ({1}) Ist Ihnen bewusst, dass Ärzte und Pflegekräfte in unseren Krankenhäusern mit der Behandlung von an Demenz erkrankten Patienten und von Menschen mit geistiger Behinderung in der Regel überfordert sind? Menschen mit erheblichen Behinderungen oder besonders originellem Verhalten haben oft einen komplexen Hilfebedarf. Darauf ist unser Gesundheitswesen in der Breite noch nicht eingestellt. Wir müssen heute ehrlich zugeben, dass die zentrale Intention der UN-Behindertenrechtskonvention noch nicht in der Mitte unserer Gesellschaft angekommen ist. ({2}) Recht allgemein und dennoch bestimmt formuliert Art. 25 der Konvention: Die Vertragsstaaten anerkennen das Recht von Menschen mit Behinderungen auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit ohne Diskriminierung … Sehr viel konkreter wird dann Art. 26, der besagt: Menschen mit Behinderungen sollen in die Lage versetzt werden, ein Höchstmaß an Unabhängigkeit … und die volle Teilhabe an allen Aspekten des Lebens zu erreichen … Zu diesem Zweck organisieren, stärken und erweitern die Vertragsstaaten umfassende Habilitations- und Rehabilitationsdienste und -programme, insbesondere auf dem Gebiet der Gesundheit … und der Sozialdienste … Dies bleibt auch fünf Jahre nach Unterzeichnung der Konvention Aufgabe und Herausforderung in unserem Land. Unüberwindbare Treppen, zu schmale Türen, ungeeignete Behandlungstische und -stühle bei Ärzten und in Krankenhäusern markieren dabei Barrieren, die mit gutem Willen und mit recht überschaubarem Ressourceneinsatz in absehbarer Zeit beseitigt werden können. Ärzte und andere Akteure jedenfalls hätten den als Rechtsanspruch verankerten Sinn der UN-Konvention, vor allem aber auch die Zeichen des demografischen Wandels noch nicht wirklich erkannt, wenn sie diese Missstände nicht zeitnah und konsequent beseitigen würden. ({3}) An anderen Stellen sind dickere Bretter zu bohren. So erleben behinderte und chronisch kranke Menschen bei der Versorgung mit Arznei- und Hilfsmitteln fast täglich die Diskrepanz zwischen ihrem gesetzlichen Anspruch und der vom Kostendämpfungsbestreben beherrschten Wirklichkeit: wenn die Zeit für den Aufbau von Vertrauen und Verstehen fehlt, wenn Assistenz nicht zur Verfügung steht, wenn das Taschengeld nicht reicht, um rezeptfreie Arzneimittel bezahlen zu können, wenn Kommunikation nicht gelingt, weil man einfach nicht die gleiche Sprache spricht. Die volle Zugänglichkeit zu Gesundheitsleistungen wird nur dann realisiert, wenn die noch immer in erheblichem Maße vorhandenen Kommunikationsbarrieren konsequent abgebaut werden. ({4}) Müssten nicht alle Beschäftigten im medizinischen Bereich eine für Laien verständliche Sprache nutzen, um so überhaupt erst eine gute Kommunikation auf Augenhöhe zu ermöglichen? Beipackzettel oder Therapieanweisungen in einfacher Sprache zu formulieren, wäre nicht nur für Menschen mit Behinderungen ein legitimer Anspruch; es wäre ein Gewinn für alle und ein wichtiger Beitrag zu einer bürgernahen Gesundheitsversorgung. ({5}) Noch ein letzter Aspekt. Es gibt viele gute Angebote und fantastische Hilfsmittel, aber die größten Hürden sind dann zu überwinden, wenn es um die Frage geht: Wer trägt die Kosten? Wer ist zuständig? Wo stelle ich den Antrag? Dies bleibt auch nach fünf Jahren immer noch eine große Aufgabe und Herausforderung. Dieser Aufgabe sollten wir uns stellen bei den anstehenden Gesetzgebungsvorhaben, die wir uns vorgenommen haben. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Frau Kollegin. - Nächster Redner: Uwe Lagosky für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Uwe Lagosky (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004335, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! „Nichts über uns ohne uns“ steht bei uns im Koalitionsvertrag als einfache Vorgabe für die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention. Unsere Gesellschaft können wir und wollen wir nur gemeinsam mit den Menschen mit Behinderung inklusiv gestalten. Das zentrale Maßnahmenpaket hierfür ist der Nationale Aktionsplan aus dem Jahr 2011. Bei ihm geht es nicht nur darum, Mittel in mehr Barrierefreiheit zu stecken oder das Behindertengleichstellungsgesetz oder das AGG zu ändern, wie es in den von der Fraktion Die Linke und von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen eingebrachten Anträgen gefordert wird, sondern es geht um viel mehr; denn die Inklusion betrifft alle Lebenslagen und erfordert deshalb notwendigerweise einen Wandel im Denken der Menschen insgesamt. Dieser gesellschaftliche Entwicklungsprozess wird durch unsere Vorgaben im Koalitionsvertrag sowie durch das Maßnahmenpaket im Nationalen Aktionsplan mehr als gut flankiert. Als letzter Redner in einer Reihe von vielen ist es mir jetzt wichtig, einmal auf den Arbeitsmarkt zu schauen und ihn unter dem Blick der Inklusion zu betrachten. Wer arbeitet und sich auf diese Weise einbringt, erfährt das Gefühl, gebraucht zu werden. Außerdem haben sowohl die berufliche Kommunikation als auch die sozialen Kontakte im Betrieb eine besondere Bedeutung für ein erfülltes Leben. Deshalb möchte ich an dieser Stelle auf die 3 Millionen behinderten Menschen hinweisen, die im arbeitsfähigen Alter sind. Diese Zahl steigt nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit in den nächsten Jahren noch. Von ihnen waren im März 2014 ungefähr 183 000 arbeitslos. Es hat nach Verlust der Arbeit im Durchschnitt 77 Wochen gebraucht, bis ein Behinderter wieder in den Arbeitsprozess eingegliedert werden konnte. Bei anderen Arbeitslosen beträgt diese Zeit 64 Wochen. Für arbeitslose Schwerbehinderte ist es also deutlich schwieriger, in den Arbeitsmarkt zu kommen. Kümmern wir uns also darum, auch dieses Potenzial zu heben! Arbeiten wir daran, dass die Schwerbehinderten vermehrt in Beschäftigung kommen! ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, sicherlich gibt es zahlreiche Arbeitgeber, die immer noch unsicher sind, was die Einstellung von behinderten Menschen angeht: Fallen teure Anschaffungen an? Sind Umbauarbeiten erforderlich? Antworten auf diese Fragen liefern in unserer Gesellschaft die Arbeitgeberservices und der Technische Beratungsdienst der Bundesagentur für Arbeit. Sie können auch bei der finanziellen Förderung entsprechender Maßnahmen helfen oder Kontakte zum passenden Kostenträger herstellen. In ihrem Geschäftsbericht weist die BA übrigens 2,43 Milliarden Euro für die Förderung von Menschen mit Behinderung aus. Dieses hohe Niveau wird auch im aktuellen Haushaltsplan gehalten. Nun müssen die Arbeitgeber solche Fördermaßnahmen natürlich auch kennen. Als eines der vielen positiven Beispiele möchte ich hier einmal VW nennen. Ich habe mich vorgestern mit einem Freund unterhalten, der in der Schwerbehindertenvertretung von VW Salzgitter mitwirkt. Er bestätigte mir das, was ich in meiner betriebsrätlichen Arbeit bei BS|ENERGY bis zum letzten Jahr kennengelernt habe: Es werden alle Möglichkeiten ergriffen, damit Beschäftigte mit einer Behinderung im Arbeitsleben bleiben können. Die Schwerbehindertenvertreter organisieren gemeinsam mit dem Betrieb Hilfestellungen an den Arbeitsplätzen. Sie führen Begehungen durch. Sie bieten Beratungsdienstleistungen an und führen den Dialog mit den Integrationsämtern, und die wiederum gestalten die Arbeitsplätze entsprechend mit. Auch die Ausbildung von Menschen mit Behinderung erfolgt samt aller erdenklichen Hilfestellungen. Entscheidend ist, dass die gesundheitlichen Grundvoraussetzungen erfüllt sind und die notwendigen Qualifikationen gegeben sind. Wir müssen mit solchen guten Beispielen werben, damit unsere gesamte Gesellschaft davon lernt. ({1}) Gemäß dem Koalitionsvertrag werden wir die Arbeit der Schwerbehindertenvertretungen in Zukunft unterstützen. Unter anderem geschieht das zurzeit schon durch die Initiative Inklusion. Diese von der Bundesregierung mit den Ländern, Kammern, Integrationsämtern, Hauptfürsorgestellen und der BA entwickelte Initiative soll vor allem jugendlichen Menschen mit Behinderung den Eintritt in das reguläre Arbeitsgeschäft erleichtern. Bis 2016 werden in diesem Programm 100 Millionen Euro ausgegeben, die aus dem Ausgleichsfonds kommen; davon haben wir heute hier ja schon mehrfach gehört. In eine ähnliche Richtung geht eines der jüngsten Projekte: die Inklusionsinitiative für Ausbildung und Beschäftigung. Auch diese unterstützt die Bundesregierung mit 50 Millionen Euro aus dem Ausgleichsfonds. Fassen wir zusammen: Der 2011 eingeführte Nationale Aktionsplan setzt bis 2020 die UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland um. Die meisten Maßnahmen wurden bis Ende der 17. Wahlperiode angeschoben, einige sogar abgeschlossen. Die heutige Debatte allerdings zeigt, dass wir hier noch viel zu tun haben. Lassen Sie uns das Bundesteilhabegesetz gemeinsam auf den Weg bringen! Dafür möchte ich werben. Herzlichen Dank. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Herr Kollege Lagosky. - Sie sind noch nicht der letzte Redner in dieser Debatte. Das letzte Wort hat vielmehr Dr. Martin Rosemann für die SPD. ({0})

Dr. Martin Rosemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004389, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Es ist schön, hier auch einmal das letzte Wort zu haben. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Das allerletzte Wort haben Sie nicht; das habe ich. Aber Sie haben fast das letzte Wort.

Dr. Martin Rosemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004389, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das allerletzte Wort haben Sie; das habe ich mir schon gedacht. - Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will mit einer persönlichen Bemerkung beginnen. Ich selber habe seit meiner Geburt eine Körperbehinderung: Mein rechtes Bein ist 16 Zentimeter kürzer als das linke; an der rechten Hand habe ich nur drei Finger. Meine Erfahrung vor allem als Kind und Jugendlicher war immer: Ich wollte einfach genauso mitmachen wie die anderen auch, vor allem beim Fußball. Allen Menschen mit Behinderungen welcher Art auch immer, die ich im Laufe meines Lebens kennengelernt habe, ging es genauso. Sie wollten keine Sonderbehandlung, schon gar kein Mitleid, ({0}) sondern sie wollten einfach mitmachen und dabei sein wie die anderen auch. In diesem Geist ist ja auch die UN-Behindertenrechtskonvention verfasst. Deswegen ist heute einfach ein guter Tag, zu sagen: Herzlichen Glückwunsch zu fünf Jahren UN-Behindertenrechtskonvention! ({1}) Bei Geburtstagen sollte man vielleicht auch etwas über die Väter und Mütter sagen. Deswegen will ich, nachdem vorhin Herrn Hüppe zu Recht für seine Arbeit gedankt und er für sie gelobt worden ist, auch derjenigen für ihre Arbeit danken, die damals, als die UN-Behindertenrechtskonvention von Deutschland unterschrieben wurde, die Beauftragte der Bundesregierung war, nämlich Karin Evers-Meyer. ({2}) Man muss immer noch ein bisschen weiter zurückgehen; alles hat ja Ursachen. So will ich auch den Vater des SGB IX, Karl Hermann Haack, nicht verschweigen. Auch ihm möchte ich für seine Arbeit damals unter RotGrün danken. ({3}) Natürlich wissen wir alle: Bei der Umsetzung der UN-Konvention gibt es Licht und Schatten. Deshalb ist es aus meiner Sicht von zentraler Bedeutung, dass sich die Große Koalition eine umfassendere Reform der Eingliederungshilfe im Rahmen des Bundesteilhabegesetzes vorgenommen hat. Das ist eines der wichtigsten und größten Projekte in dieser Legislaturperiode. Technisch geht es nur darum, das Bundesteilhabegesetz im SGB IX als eigenständigen Leistungsbereich zu verankern. Es geht also um nichts weiter als die Umsetzung der UNBehindertenrechtskonvention in ein bundesdeutsches Teilhaberecht. In Wirklichkeit geht es dabei aber um nicht weniger als eine völlig neue Ausrichtung der Politik für behinderte Menschen, nämlich von der Fürsorge zur Teilhabe. ({4}) Das verlangt von vielen ein völliges Umdenken, ein neues Denken nach dem Motto: Behindert ist man nicht, behindert wird man. - Besonders wichtig ist mir wie auch vielen, die vor mir gesprochen haben, die Teilhabe von behinderten Menschen am ersten Arbeitsmarkt. Dafür braucht es mehr Durchlässigkeit. Das bedeutet für mich aber auch, auf all diejenigen Regelungen kritisch zu schauen, die bisher eine Beschäftigung am ersten Arbeitsmarkt gegenüber einer Beschäftigung in einer Werkstatt für behinderte Menschen diskriminieren. Ich habe in meinem Wahlkreis ein Projekt, bei dem sich Leute darum bemühen, Beschäftigungsverhältnisse am ersten Arbeitsmarkt für schwerbehinderte Menschen zu schaffen. ({5}) Das ist in der Praxis mit großem Aufwand verbunden: Es geht darum, geeignete Stellen zu finden; es geht darum, Stellen entsprechend auszugestalten; es geht darum, die Menschen in dieser Beschäftigung auch immer weiter zu begleiten. Dafür stehen bisher noch nicht ausreichend Instrumente zur Verfügung. Meine Damen und Herren, beim Bundesteilhabegesetz muss aus meiner Sicht gelten: Gründlichkeit geht vor Schnelligkeit. ({6}) Das BMAS geht dieses Projekt rechtzeitig an, damit es mit der notwendigen Gründlichkeit vorangetrieben werden kann, und die SPD-Bundestagsfraktion begleitet diesen Prozess auch mit einer eigenen Arbeitsgruppe und bringt, gemeinsam mit unserem Koalitionspartner, Vorschläge ein. Für uns - ich will das für die SPD-Fraktion noch einmal ganz deutlich sagen - ist zentral, dass das Bundesteilhabegesetz im Jahr 2016 verabschiedet wird, ({7}) dass es im Jahr 2017 in Kraft tritt und dass die Entlastungswirkungen für die Kommunen bereits im Jahr 2017 beginnen. ({8}) Ebenso zentral ist für uns, dass bereits der Prozess der Entwicklung dieses Bundesteilhabegesetzes inklusiv sein muss. Das bedeutet: von Beginn an Beteiligung der Behindertenverbände, und nicht nur der großen Verbände, sondern auch Beteiligung von Selbsthilfegruppen, von Angehörigenvertretungen und von den Menschen mit Behinderungen selbst. Es darf keine Änderung über die Köpfe der Betroffenen hinweg geben. Hier fängt die Inklusion an, meine Damen und Herren! ({9}) Letzter Satz, Frau Präsidentin: Ich meine, dass wir mit Andrea Nahles und Verena Bentele die beiden richtigen Frauen an der Spitze dieses Prozesses haben. Ich weiß, beiden ist dies ein Herzensanliegen, ebenso uns als SPD-Bundestagsfraktion. Wir freuen uns darauf. Herzlichen Dank. ({10})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke, Herr Kollege. - Damit schließe ich die Debatte. Ich bedanke mich bei allen; denn es wurde, wie ich glaube, heute sehr deutlich: Dies ist nicht nur das Anliegen der SPD-Fraktion. Ich hoffe, dass die Gäste auf den Tribünen gemerkt haben, dass dieses Parlament auch der Ort für leidenschaftliche Debatten sein kann und ist, Debatten, in denen man zeigt, dass man das Gemeinsame in den Vordergrund stellen will und nicht das Trennende. Nicht nur heute Morgen bei der Debatte zum Völkermord in Ruanda, sondern auch jetzt konnte man merken, dass hier auch Herzenswärme und Intelligenz zu Hause ist. Vielen Dank für diese intensive Diskussion! ({0}) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 18/977 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. ({1}) - Ich darf kurz noch einmal um Ihre Aufmerksamkeit bitten. Die Vorlage auf Drucksache 18/972 soll ebenfalls an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden. Dabei ist die Federführung aber strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und SPD wünschen Federführung beim Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit. Die Fraktion Die Linke Vizepräsidentin Claudia Roth wünscht Federführung beim Ausschuss für Arbeit und Soziales. Deswegen müssen wir jetzt darüber abstimmen. Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der Fraktion Die Linke abstimmen, also Federführung beim Ausschuss für Arbeit und Soziales. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Der Überweisungsvorschlag ist bei Zustimmung der Linken und Ablehnung durch CDU/ CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt. Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD abstimmen, also Federführung beim Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der Überweisungsvorschlag mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen bei Ablehnung durch die Linken angenommen. Ich rufe den Zusatzpunkt 3 auf: Beratung des Antrags der Bundesregierung Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte am maritimen Begleitschutz bei der Hydrolyse syrischer Chemiewaffen an Bord der CAPE RAY im Rahmen der gemeinsamen VN/OVCW-Mission zur Vernichtung der syrischen Chemiewaffen Drucksache 18/984 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({2}) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Haushaltsauschuss gemäß § 96 der GO Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen. ({3})

Dr. Ursula Leyen (Minister:in)

Politiker ID: 11004092

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung wendet sich heute mit der Bitte an Sie, der Entsendung einer Fregatte zur Absicherung der gemeinsamen Mission der Vereinten Nationen und der Organisation für das Verbot chemischer Waffen zur Vernichtung von syrischen Chemiewaffen zuzustimmen. Uns allen ist der dramatische und tragische Hintergrund dieser Mission klar: In Syrien tobt seit drei Jahren ein Bürgerkrieg. Wahrscheinlich sind schon über 100 000 Menschen getötet worden. Millionen Menschen sind auf der Flucht. Immer wieder kommt es zu grauenhaften Verbrechen. Ein unfassbares Ausmaß an Grauen hatte aber das Verbrechen, das am 21. August 2013 stattfand, als das Regime Chemiewaffen gegen die eigene Bevölkerung gerichtet hat. ({0}) Das war eine Stufe der Barbarei, die wir auf das Allerschärfste verurteilen. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Frau Ministerin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Jan van Aken?

Dr. Ursula Leyen (Minister:in)

Politiker ID: 11004092

Ja.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Gut.

Jan Aken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004001, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau von der Leyen, Sie haben gerade gesagt, dass das Regime am 21. August 2013 diese Chemiewaffen eingesetzt hat. Die Vereinten Nationen sagen nichts dazu, wer sie eingesetzt hat. Sie sagen ausdrücklich: Es kann nicht festgestellt werden, wer sie eingesetzt hat. Das einzig Konkrete, was sie dazu sagen, ist: Es ist sehr wahrscheinlich, dass es Chemiewaffen aus den Beständen der syrischen Armee waren, es ist aber völlig unklar, ob möglicherweise Rebellen diese Waffen eingesetzt haben, nachdem sie sie erobert hatten, oder Assad-Truppen selbst. Da Sie gerade eben gesagt haben, es sei das Regime gewesen, frage ich Sie: Können Sie kurz darstellen, auf welche Quellen Sie diese Aussage fußen?

Dr. Ursula Leyen (Minister:in)

Politiker ID: 11004092

Auf genau den Quellen, die Sie eben zitiert haben, nämlich dass es Chemiewaffen aus den Lagern des Regimes waren. ({0}) Genau das haben Sie eben angeführt. Ich glaube, einen Grabenkrieg darum zu führen, wer diese Chemiewaffen eingesetzt hat, bringt nichts. Alle Hinweise deuten darauf, dass es so ist, wie wir das gesagt haben. ({1}) Darüber aber, dass das eine Barbarei gegen die Bevölkerung in Damaskus gewesen ist, besteht in diesem Hohen Haus wohl Einigkeit. ({2}) Hunderte von Menschen sind durch diese Angriffe ums Leben gekommen, Hunderte von Kindern und Frauen. Menschen mit schwersten Verletzungen und VergiftunBundesministerin Dr. Ursula von der Leyen gen sind in Krankenhäuser eingeliefert worden. Es hat die Grenzen unserer Vorstellungskraft schier überschritten, als wir gesehen haben, wozu Menschen beim Einsatz von Chemiewaffen fähig sind. Deshalb sind wir heute alle aufgerufen, diese chemischen Waffen nicht nur zu ächten, sondern mit aller Kraft dabei zu helfen, sie auch zu vernichten. ({3}) Die Weltgemeinschaft hat diesen Angriff nicht nur verurteilt, sondern sie hat auch gehandelt, und zwar geschlossen und gemeinsam. Jetzt geht es darum, dass wir konkret werden, dass wir alle dazu stehen, was wir gemeinsam beschlossen haben. Für diesen Einsatz ist das amerikanische Spezialschiff „Cape Ray“ vorgesehen, das in der Lage ist, auf hoher See eine Hydrolyse dieser chemischen Kampfstoffe durchzuführen. Nach der Hydrolyse entsprechen die chemischen Kampfstoffe handelsüblichen Chemieabfällen gewerblicher Art. Dieses Verfahren läuft über mehrere Wochen und Monate auf hoher See. Dabei muss die „Cape Ray“ geschützt werden. Die Gefährdungslage im Mittelmeer ist zwar gering, aber die Symbolkraft dieses Schiffes ist hoch. Uns ist wichtig, dass im Rahmen der Resolution 2118 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen nicht nur die Beseitigung der Chemiewaffen verbindlich gefordert wird, sondern auch die Unterstützung dieser Mission. Deshalb wollen wir nicht nur eine Fregatte entsenden, sondern wir bieten auch Verbrennungskapazitäten für die Abfälle, Laborfähigkeiten und finanzielle Unterstützung an. Meine Damen und Herren, in diesem Zusammenhang ein Wort zu dieser Mission, die eigentlich zusammen mit Russland durchgeführt werden sollte. Nach diesem schrecklichen Verbrechen in Syrien wurde zwischen den USA und Russland eine Rahmenvereinbarung getroffen. Auf dieser Basis ist die gemeinsame Resolution des UNSicherheitsrates entstanden. Ursprüngliche Idee war es, dass der Begleitschutz der „Cape Ray“ als gemeinsame Operation der NATO und Russlands durchgeführt wird. Angesichts des russischen Vorgehens auf der Krim hat die NATO die militärische Kooperation mit Russland ausgesetzt. Ich finde, das ist verständlich. ({4}) Bei dieser gemeinsamen Mission unter dem Dach der Vereinten Nationen und der OVCW geht es auch darum, sicherzustellen, dass sich die Stärke des Völkerrechts gegen das brutale Recht des Stärkeren in Syrien durchsetzt. ({5}) Ursprünglich hat Russland am Zustandekommen dieser Resolution mitgewirkt. Das heißt, es teilt unser Interesse, dass auf Basis des Völkerrechts diese syrischen Chemiewaffen vernichtet werden. Vor diesem Hintergrund finde ich es wichtig - das ist unser aller Hoffnung -, dass sich Russland darauf besinnt, dass auch in anderen Regionen der Welt das Völkerrecht voll und ganz zu respektieren ist. ({6}) Wenn dies wieder der Fall sein sollte, dann, so hoffe ich, wird auch wieder ein gemeinsames Vorgehen von NATO und Russland möglich sein. Zwei Gedanken möchte ich noch mit Ihnen teilen. Die Krim-Krise bindet zurzeit fast die gesamte Aufmerksamkeit. Aber der Bürgerkrieg in Syrien tobt immer weiter, und die Weltgemeinschaft hat noch immer keine Lösung für diesen Konflikt gefunden. Bei aller Notwendigkeit der Konzentration auf die Krim-Krise dürfen wir das Elend der syrischen Bevölkerung nicht vergessen und unsere Aufmerksamkeit nicht von Syrien abwenden. Hier muss gemeinsam mit der Weltgemeinschaft eine Lösung gefunden werden. ({7}) Wir haben jetzt die Chance, unseren Beitrag zu den Abrüstungsbemühungen der Weltgemeinschaft zu erbringen. Ich hoffe, dass das ganze Hohe Haus - das sage ich bewusst mit Blick auf die Linke - dieses Mandat unterstützt; denn ich finde: Wer in seiner Forderung nach Abrüstung glaubwürdig bleiben will, der darf sich dann bei der praktischen Umsetzung dem auch nicht verschließen. Vielen Dank. ({8})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Frau Ministerin. - Das Wort hat Christine Buchholz für die Linke. ({0})

Christine Buchholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004022, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Heute geht es um syrische Chemiewaffen. Woher kommt das Giftgas eigentlich? Zwischen 1982 und 1993 waren deutsche Firmen an der Lieferung von Material für syrische Giftgasfabriken beteiligt. ({0}) Die Organisation für das Verbot chemischer Waffen übermittelte kürzlich 50 Namen der beteiligten deutschen Firmen. Doch die Bundesregierung weigert sich, die Namen der Firmen bekannt zu geben. ({1}) Es geht noch weiter: Deutsche Firmen haben zwischen 1998 und 2011 350 Tonnen an chemischen Substanzen, aus denen Giftgas hergestellt werden kann - sogenannte Dual-Use-Substanzen - an das Assad-Regime geliefert. Die Bundesregierung wiegelt auch in diesem Punkt ab. Nun geht es endlich um die Zerstörung von Chemiewaffen. ({2}) Die Linke begrüßt, dass die Vernichtung der Reste des syrischen Giftgases in Deutschland erfolgen soll. ({3}) Sie wären durchaus glaubwürdiger, Frau von der Leyen, wenn Sie die Exporte von chemiewaffenfähigem Material an Länder, die die Chemiewaffenkonvention nicht unterzeichnet haben, unverzüglich stoppen würden. ({4}) In der heutigen Debatte geht es um ein Mandat für den Einsatz eines Kriegsschiffes der Marine. Es soll sich am Schutz des US-Marineschiffes „Cape Ray“ im Mittelmeer vor Italien beteiligen. Auf diesem Schiff findet die erste Stufe der Vernichtung des syrischen Giftgases, die sogenannte Hydrolyse, statt. Ursprünglich hieß es, es handele sich um einen Einsatz im Rahmen des NATO-Russland-Rates. Dann wurde die Kooperation mit Russland seitens der NATO aufgekündigt - wegen der Krim-Krise. Ich glaube nicht, dass das das ganze Verfahren sicherer gemacht hat. ({5}) Jetzt haben wir eine Mission, die unter dem Kommando der USA steht. Auch der Mandatstext zeigt, dass es sich vor allem um eine US- und NATO-Operation handelt. ({6}) Dazu gibt es noch Fragen: Warum beispielsweise werden als Operationsgebiet das Mittelmeer und der Nordatlantik plus angrenzende Seegebiete ausgewiesen? Bisher hieß es, die deutsche Fregatte soll die „Cape Ray“ nur auf ihrem kurzen Weg von dem italienischen Hafen Gioia Tauro in internationale Gewässer vor der italienischen Küste begleiten. Meine Damen und Herren, das Vorgehen der Regierung macht misstrauisch. ({7}) Hinzu kommt, dass, wie wir wissen, der Hydrolyseprozess auf der „Cape Ray“ bereits durch eine US-Spezialeinheit an Bord und einen inneren Ring aus USKriegsschiffen geschützt wird. Darum soll ein Ring aus Kriegsschiffen verschiedener anderer Staaten gelegt werden, darunter die Fregatte „Augsburg“. Ich meine, es handelt sich beim Einsatz dieser Fregatte - auch militärisch - vor allem um eine symbolische Aktion. Doch die entscheidende Frage ist: ein Symbol für was? ({8}) Die Antwort liegt auf der Hand: für die neue außenpolitische Strategie der Bundesregierung. ({9}) Sie schicken die Bundeswehr in mehr internationale Einsätze und nennen das Bündnistreue. Sie wollen ihre militärischen Fähigkeiten ausbauen und testen, und Sie wollen die Öffentlichkeit daran gewöhnen; denn noch immer lehnen drei Viertel der Bevölkerung die Auslandseinsätze der Bundeswehr ab. ({10}) - Nun regen Sie sich aber nicht auf! Sie haben gestern einen weiteren Bundeswehreinsatz, nämlich den in Somalia, beschlossen, ({11}) und Sie wollen nächste Woche nicht nur die Entsendung der Fregatte ins Mittelmeer beschließen, sondern auch noch einen neuen Einsatz in der Zentralafrikanischen Republik. Ohne uns! ({12}) Meine Damen und Herren, meine Fraktion diskutiert das vorliegende Mandat noch. ({13}) Mir persönlich ist noch kein Argument bekannt geworden, das mich bewegen könnte, meine Absicht, mit Nein zu stimmen, zu ändern. Ich fasse zusammen: Erstens. Es ist gut, dass die Vernichtung der Reste des syrischen Giftgases in Deutschland erfolgen soll. ({14}) Zweitens. Statt die Bundeswehr in den nächsten Einsatz zu schicken, sollten Sie Ihren Beitrag zur Abrüstung leisten. ({15}) Klären Sie endlich die Beteiligung von deutschen Firmen an der Lieferung von Material und Substanzen für die syrischen Giftgasfabriken auf! ({16}) Stoppen Sie die Lieferung von solchen Chemikalien an die fünf Länder, die keine Vertragsstaaten der Chemiewaffenkonvention sind! ({17}) Nur so wird glaubwürdig garantiert, dass Chemiewaffen nicht ihre tödliche Bestimmung finden: weder in Syrien noch irgendwo sonst auf der Welt. ({18})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke, Frau Kollegin. - Nächster Redner ist Staatsminister Michael Roth. ({0})

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Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es dürfte neben der Ukraine derzeit keine Krisenregion weltweit geben, die uns derart aufwühlt wie Syrien, ja, gelegentlich fassungslos macht angesichts dessen, was Menschen dort zu erleiden haben, was ein Regime, eine Diktatur, Bürgerinnen und Bürgern des eigenen Landes antut. Sie werden sich vielleicht noch an die letzte Rede von Außenminister Frank-Walter Steinmeier zu Syrien hier im Deutschen Bundestag erinnern. Wir standen damals kurz vor Beginn der Genfer Friedensverhandlungen. Ich gebe zu: Wir waren damals nicht sonderlich optimistisch, aber wir haben eine Chance für einen politischen Prozess gesehen, der endlich das furchtbare Leid der Menschen in Syrien beenden oder doch zumindest die brutale Gewalt verringern würde. Diese Chance wollten wir gemeinsam mit unseren Partnern nutzen. Wir haben auch bei den Oppositionellen in Syrien - ob sie nun bewaffnet oder unbewaffnet sind - entschieden dafür geworben, dass sie diese Chance zum Frieden ergreifen. In Genf haben die Vertreter der Nationalen Koalition dann auch - das muss man sagen - sehr konstruktiv mitverhandelt. Es war aber wieder einmal das Assad-Regime, das den Prozess missbraucht hat, um Zeit zu gewinnen. ({0}) - Wenn Sie mir, liebe Vertreter der Linkspartei, schon nicht glauben wollen: Ich zitiere hier den Sondergesandten der Vereinten Nationen und der Arabischen Liga, Lakhdar Brahimi. Der hat dies nämlich sehr deutlich formuliert. Er als Vertreter der Arabischen Liga und der Vereinten Nationen - nicht die Bundesregierung und auch nicht Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier hat zum Ausdruck gebracht, er werde so lange keine dritte Gesprächsrunde einberufen, bis er sicher sein könne, dass die Regierungsseite ernsthaft verhandele. Wir müssen hier die Verantwortung schon klar und deutlich benennen. ({1}) Leider deutet derzeit wenig darauf hin, dass Assad sich kompromissbereit zeigen wird. Im Gegenteil: Er bereitet seine Wiederwahl auf Grundlage einer pseudodemokratischen Gesetzgebung vor, die praktisch keine Gegenkandidaten zulässt, und er setzt ganz offenbar darauf, eine Entscheidung auf dem Schlachtfeld zu suchen. Der Diktator setzt die Vernichtung seines eigenen Volkes kaltblütig fort. Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine militärische Lösung des Syrien-Konflikts kann und darf es nicht geben. Der Versuch, einen Sieg zu erzwingen, würde die Spirale der Gewalt noch weiter drehen und noch mehr Menschenleben fordern. Eine solche Politik ist verantwortungslos und menschenverachtend. Ich will noch einmal in Erinnerung rufen: Assads Regime, die Armee hat ganze Stadtteile ausgehungert und in die Kapitulation gezwungen. Assad lässt Wohnviertel bombardieren. Alleine aus Aleppo ist wegen dieser grausamen Kriegsführung seit Beginn des Krieges eine halbe Million Menschen geflohen. Die Regierung behindert konsequent den humanitären Zugang in solche Gegenden des Landes, in denen sie eine oppositionelle Gesinnung vermutet. Wie Sie alle wissen, schreckt das Assad-Regime auch nicht davor zurück, Giftgas gegen die Zivilbevölkerung einzusetzen; Frau Bundesministerin von der Leyen hat dies eben geschildert. Über 1 400 Menschen starben am 21. August des vergangenen Jahres bei den Giftgasangriffen auf die Vororte von Damaskus. Eine Untersuchung der Vereinten Nationen, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linkspartei, hat ergeben, dass industriell gefertigte Kampfstoffe aus einem groß angelegten Chemiewaffenprogramm zum Einsatz gekommen sind. Die Bundesregierung ist damals zu der Einschätzung gekommen, dass als Täter nur die syrische Armee infrage kommt. ({2}) An dieser Einschätzung, die unsere engsten Verbündeten teilen, hat sich nichts geändert. ({3}) Lassen Sie mich noch einmal in Erinnerung rufen: Derzeit sind innerhalb Syriens fast 6 Millionen Flüchtlinge unterwegs. In den Nachbarländern gibt es 2,6 Millionen Flüchtlinge, die zum Teil unter kaum zumutbaren Bedingungen leben müssen. Die Auswirkungen dieses Bürgerkriegs sind also nicht nur in Syrien selbst auf das Schmerzhafteste zu spüren. Vielmehr ist die gesamte Region in einem mehr als fragilen Zustand. Sie ist schwersten Belastungen ausgesetzt. Eine weitere Eskalation der Gewalt in Syrien droht die konfessionellen Spannungen zwischen Sunniten, Schiiten und Christen in der ganzen Region anzuheizen. Hier sitzen viele versierte Außenpolitikerinnen und Außenpolitiker, die sich seit Jahren mit diesem Thema befassen und die wissen, welche Sprengkraft diese Region birgt. Wir müssen alles dafür tun, um die Deeskalation voranzutreiben. Aber es gibt nur sehr wenige Hoffnungszeichen. Die Stabilität der Nachbarländer, insbesondere des Libanon und des Irak, würde in erheblichem Maße gefährdet, wenn wir jetzt nicht endlich zu einer Stabilisierung Syriens kommen. ({4}) Auch in der Türkei sind rund 850 000 Flüchtlinge untergekommen. ({5}) Ich werde mich persönlich in Bälde über die Zustände in den türkischen Flüchtlingslagern informieren. Die Bundesregierung setzt sich weiterhin intensiv für eine friedliche Beendigung des Konflikts in Syrien ein.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Roth, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung der Kollegin Hänsel?

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Bitte.

Heike Hänsel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003763, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Danke schön. - Herr Staatsminister, Sie haben über den Konflikt und den grausamen Krieg in Syrien gesprochen. Aber ich vermisse von Ihnen einen Satz über die massive Unterstützung, insbesondere durch Waffenlieferungen, für Rebellen, fundamentalistische Gruppen, Dschihadisten und Terroristen vonseiten Saudi-Arabiens in Zusammenarbeit mit den USA. Es ist doch genauso ein Verbrechen, schweres Gerät an die genannten Gruppen zu liefern, die diesen Bürgerkrieg anheizen. Dazu habe ich von Ihnen bisher kein einziges Wort in der Darstellung dieses Krieges gehört. Mich interessiert Ihre Meinung zu dem veröffentlichten YouTube-Video, aus dem hervorgeht, dass Personen im türkischen Außenministerium über einen möglichen fingierten Angriff von syrischer Seite nachgedacht haben, und das im Hinblick darauf, dass Bundeswehrsoldaten in der Türkei stationiert sind, die jederzeit in einen solchen Konflikt hineingezogen werden können. Das sind für mich brennende Fragen. Darauf hätte ich von Ihnen gerne eine Antwort. ({0})

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Sehr verehrte Frau Kollegin, was mich eher verstört, ist, dass Ihnen kein noch so hanebüchenes Argument recht ist, um Gründe dafür zu finden, diesen Einsatz zu verhindern bzw. abzulehnen, obwohl er konkret dazu beiträgt, Chemiewaffen zu vernichten. Das ist der Auftrag. Darüber diskutieren wir heute im Deutschen Bundestag. ({0}) Selbstverständlich haben wir auch gegenüber den Verantwortlichen der Türkei deutliche Worte gefunden und darauf hingewiesen, dass das bisherige Mandat der NATO ausschließlich auf Selbstverteidigung und Unterstützung der Verteidigung der Türkei ausgerichtet ist. Sie müssen aber auch zur Kenntnis nehmen, dass die Türkei bislang 72 Zivilisten aufgrund von Angriffen Syriens verloren hat. In der Türkei sind derzeit - darauf habe ich bereits hingewiesen - über 800 000 Flüchtlinge aus Syrien untergebracht. Trotz dieser dramatischen Lage hat sich das NATO-Mitglied Türkei verantwortungsbewusst und besonnen verhalten. Der Bundestag kann sich darauf verlassen, dass wir weiterhin in allen unseren Gesprächen mit den türkischen Verantwortlichen darauf hinweisen, dass wir vom NATO-Mitglied Türkei, sollte denn eine Änderung der bisherigen Strategie vorgesehen sein, eine zeitnahe Aufnahme von Gesprächen mit den NATO-Bündnispartnern erwarten. Die bisherigen Gespräche haben nicht erkennen lassen, dass die Türkei gewillt ist, ihr verantwortungsbewusstes und besonnenes Verhalten aufzugeben. Das müssen wir auch in dieser Hinsicht erst einmal würdigen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({1}) Wir müssen aber auch realistisch sein. Ich möchte noch einmal an dem Punkt anknüpfen, den ich vorhin zum Ausdruck gebracht habe. Wann der Wiedereinstieg in Friedensverhandlungen gelingen kann, ist derzeit überhaupt nicht absehbar. Das heißt aber doch nicht, dass wir zur Untätigkeit verdammt sind - ganz im Gegenteil. Deshalb setzen wir uns direkt und unmittelbar für diejenigen ein, die unter den Grausamkeiten des Kriegs leiden. Seit Beginn der Krise in Syrien im Jahr 2011 hat die Bundesregierung für die Bewältigung der politischen und humanitären Katastrophe fast 500 Millionen Euro bereitgestellt. Unsere Hilfe dient insbesondere den Menschen, die innerhalb Syriens vor den Kampfhandlungen fliehen mussten. Sie werden mit Lebensmitteln und Medikamenten versorgt. Flüchtlinge, die über die Grenze in den benachbarten Libanon geflohen sind, erhalten dort Versorgung und eine Unterkunft. Aber täglich steigt die Zahl derer, die auf humanitäre Hilfe angewiesen sind. Daher wollen wir dieses humanitäre Engagement intensiv weiterführen und möglichst ausbauen. Insofern bitte ich Sie heute bei dieser Gelegenheit, liebe Kolleginnen und Kollegen, um Unterstützung. Ohne weitere finanzielle Unterstützung - dazu brauchen wir das Ja des Deutschen Bundestages - werden wir die humanitären Hilfsleistungen leider nicht ausbauen können. Ich wäre sehr daran interessiert, wenn sich wirklich alle Fraktionen bereit erklären könnten, uns in unserem Bemühen, die humanitären Hilfsleistungen auszubauen, zu unterstützen. ({2}) Wir beschränken uns aber auch nicht darauf, die humanitären Folgen des Bürgerkriegs zu lindern. Wir wollen auch verhindern, dass es erneut zu Gräueltaten gegen die syrische Bevölkerung kommt. Deshalb beteiligt sich die Bundesregierung an dem Programm zur Vernichtung der syrischen Chemiewaffen. Wir wollen den abermaligen Einsatz dieser Waffen verhindern. Aber auch das ist kein einfacher Prozess. Das Assad-Regime hat nach Monaten des Verzögerns im März einige Teile seines Giftgases außer Landes transportiert. Die Bundesregierung drängt zusammen mit ihren Verbündeten, vor allem den USA, auf diplomatischem Wege auf einen zügigen und vollständigen Abtransport der Chemiewaffen; denn Deutschland hat ein hohes Interesse daran, dieses beispiellose Abrüstungsvorhaben erfolgreich und fristgerecht abzuschließen. Wir haben das notwendige Knowhow und die notwendigen Kapazitäten, um uns entschieden und substanziell einzubringen. In den vergangenen Monaten haben wir bereits Verantwortung übernommen. Wir haben umfangreiche logistische und finanzielle Unterstützung für die Organisation für das Verbot chemischer Waffen, die OVCW, geleistet. Wir haben darüber hinaus angeboten, Abbaustoffe aus den zerstörten syrischen Chemiewaffen sicher und umweltverträglich in einer Spezialanlage im niedersächsischen Munster zu entsorgen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Resolution 2118 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen ruft die Weltgemeinschaft auf, die Vereinten Nationen und die Organisation für das Verbot chemischer Waffen bei der Vernichtung der syrischen Chemiewaffen zu unterstützen. Die USA beabsichtigen, die gefährlichsten syrischen Chemiewaffen auf einem speziell umgerüsteten US-Schiff zu neutralisieren. Wir wollen einen weiteren Beitrag leisten. Eine Fregatte der deutschen Marine soll sich an dieser multinationalen Begleitschutzoperation beteiligen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Roth, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Ströbele?

Michael Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003213, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Danke, Herr Kollege Roth, dass Sie mir die Gelegenheit geben, auf einen Punkt hinzuweisen. - Sie sagen, dass die UNO alle Nationen aufgefordert hat, bei der Beseitigung dieses Giftgases zu helfen. Wieso schließen Sie plötzlich Russland von der Beteiligung an dieser Aktion zur Beseitigung der Chemiewaffen aus? Ich denke, dies ist ein Erziehungsversuch gegenüber Russland, ein Versuch am falschen Objekt. Hier passt es überhaupt nicht. Wenn es wirklich um eine Aktion geht nach dem Motto „Schwerter zu Pflugscharen“ - hier vielleicht „Giftgas zu Frischluft“, wie auch immer man dies bezeichnen will -, dann muss man auch konsequent sein und muss jeden willkommen heißen, der dabei mitwirkt. Man kann nicht den einen oder anderen aus ganz anderen politischen Gründen ausschließen. ({0})

Not found (Gast)

Herr Kollege Ströbele, lassen Sie mich zunächst darauf hinweisen, dass sich eine Reihe von NATO- und Nicht-NATO-Staaten am Begleitschutz für das USSchiff beteiligen: Belgien, Frankreich, Finnland, Griechenland, Großbritannien, Italien, Kroatien, Portugal, die Türkei. Sie wissen genau, dass es dazu derzeit gar keine Bereitschaft Russlands gibt. Die Russen sind daran nicht beteiligt. ({0}) Darüber hinaus wurde aus dem NATO-RusslandEngagement - der NATO-Russland-Rat ist jetzt suspendiert worden; das wissen Sie ganz genau, Sie kennen auch die Gründe - ein multinationaler Einsatz gemacht. Alle Staaten, die dazu bereit sind, wurden eingeladen, sich an diesem Engagement zu beteiligen. Kollege Ströbele, wir schließen niemanden aus, aber die Zusammenarbeit zwischen der NATO und Russland in dem entsprechenden Rat ist suspendiert. Sie sollten also keine Vermutungen darüber anstellen, dass wir jemanden ausschließen wollen. Wir wollen diesen Einsatz zu einem erfolgreichen Abschluss bringen. Ursprünglich war das - ich will das noch einmal erläutern, Herr Kollege Ströbele - eine gemeinsame Operation der NATO und der Russischen Föderation. Wir hätten eine solche gemeinsame Operation sehr begrüßt. Aber vor dem Hintergrund des völkerrechtswidrigen Vorgehens Russlands in der Ukraine - auch Sie haben die aktuellen Entwicklungen zur Kenntnis nehmen müssen - ist ein solcher gemeinsamer Einsatz nun nicht mehr möglich. Die Tür ist aber prinzipiell offen für alle Teilnehmer weit über den NATO-Rahmen hinaus; ich habe Ihnen eben eine Reihe von Staaten genannt, die hier engagiert sind. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir würden mit diesem Einsatz einmal mehr unsere Verlässlichkeit als Partner demonstrieren, eine bislang beispiellose Abrüstungsmaßnahme unterstützen, und nicht zuletzt dabei helfen, das syrische Volk vor der Armee des Diktators Assad zu schützen. Im Namen der Bundesregierung bitte ich Sie deshalb um Ihre Zustimmung zu diesem Mandat. Vielen Dank. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Gehrcke das Wort.

Wolfgang Gehrcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003130, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Staatsminister, ich möchte Ihre Argumente gerne verstehen; denn bei besseren Argumenten würde ich meine Meinung möglicherweise ändern. Ich verstehe es aber einfach nicht: Wenn es nun so war, dass Russland zu der Aktion der Vernichtung der Chemiewaffen - das ist, wie Sie zu Recht sagen, eine Abrüstungsaktion - gebracht worden ist, vielleicht sogar unter dem Druck der Weltgemeinschaft oder aus eigenen Motiven, warum ist Russland dann vor Vollendung dieser Aktion über die Suspendierung des NATO-Russland-Rats rausgeschmissen worden? Wenn Sie der Auffassung sind, dass Völkerrechtsfragen thematisiert werden müssen, dann müssten Sie auch darauf bestehen, dass Russland so weit wie möglich in diese Aktion einbezogen wird. Deswegen kann ich Ihre Position nicht nachvollziehen. Ich würde dies aber gerne tun. Straft man Russland damit, wenn man es daran hindert, in vollem Umfang an der Aktion, die Sie über den NATO-Russland-Rat zugesagt haben, mitzuwirken, und dieses Übereinkommen aufkündet? Ist das wirklich eine angemessene und sinnvolle Strafe?

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Roth, Sie haben, wenn Sie das wünschen, die Möglichkeit, zu erwidern. ({0})

Not found (Gast)

Vielen Dank. - Zu Beginn bitte ich Sie darum, auch sprachlich abzurüsten. Die Kurzintervention des Kollegen Gehrcke gibt mir Gelegenheit, auf folgenden Punkt hinzuweisen: Angesichts der derzeitigen Aktivitäten Russlands von einer Abstrafaktion zu sprechen, das entbehrt wirklich jeder Grundlage und macht - sehen Sie mir diesen flapsigen Begriff nach - den Bock zum Gärtner. Ich finde es unkollegial und merkwürdig, dass Sie hier mit einer so einseitigen Argumentation eines versuchen: Ihnen ist kein Argument zu schade und zu schlecht, um die fraktionsübergreifende Einmütigkeit, dass es sich hierbei um einen substanziellen Beitrag zur Vernichtung von Chemiewaffen handelt, infrage zu stellen. ({0}) Es handelt sich hierbei auch um einen Beitrag, eine Krisenregion, in der es zu schlimmsten Menschenrechtsverletzungen kommt, halbwegs zu stabilisieren. Wir befinden uns hier doch in einer internationalen Staatengemeinschaft, die sich sehen lassen kann. Ich will noch einen allerletzten Punkt benennen, weil Sie ja auf die Verantwortung Russlands hingewiesen haben. Die militärische Absicherung innerhalb der syrischen Territorialgewässer wurde bisher ausschließlich von Russland übernommen. ({1}) Der russische Kreuzer - das wissen Sie sicherlich auch befindet sich aber derzeit zu Wartungsarbeiten in Zypern. Weil sich Russland zurückgezogen hat, befürchten wir, dass es möglicherweise zu weiteren Verzögerungen kommt. Reden Sie also hier nicht von einer Strafaktion, Herr Kollege Gehrcke! ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die Kollegin Brugger das Wort. ({0})

Agnes Malczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004106, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Am 21. August letzten Jahres verloren weit über 1 000 Menschen auf qualvolle Art und Weise ihr Leben. Viele von ihnen erstickten elendig. Unzählige Syrerinnen und Syrer, die den grausamen Giftgasanschlag in der Nähe von Damaskus überlebt haben, sind heute blind, von den Verbrennungen entstellt oder krebskrank. Der 21. August 2013 war der dunkelste Tag im anhaltenden Grauen des syrischen Bürgerkriegs. Dieses Verbrechen gegen die Menschlichkeit hat die Welt zutiefst erschüttert. ({0}) Die internationale Gemeinschaft hat diesen Anschlag mit der UN-Resolution 2118 im September 2013 aufs Schärfste verurteilt. Der UN-Sicherheitsrat beschloss einstimmig, dass das gesamte syrische Chemiewaffenarsenal herausgegeben und vernichtet werden muss. Die Zerstörung dieser menschenverachtenden und grausamen Waffen ist ein wichtiger und richtiger Schritt. ({1}) Wir Grüne begrüßen es ausdrücklich, dass Deutschland sich an der Vernichtung beteiligen will und in Munster 370 Tonnen der zuvor auf hoher See zersetzten und verdünnten Chemikalien umweltgerecht verbrannt werden sollen. Wir Grüne haben die Bundesregierung bereits im Herbst letzten Jahres aufgefordert, sich jenseits finanzieller Unterstützung an diesen Vernichtungsaktivitäten zu beteiligen. ({2}) Da haben Sie erst so ein bisschen herumgedruckst. Aber umso besser, dass Sie sich jetzt dafür entschieden haben; denn wir haben in Deutschland die nötige Fachexpertise und in Munster eine weltweit führende Verbrennungsanlage, die auf Chemiewaffen spezialisiert ist. Die Bundesregierung legt heute ein Mandat vor, das die maritime Absicherung des Hydrolysevorgangs auf dem US-amerikanischen Schiff „Cape Ray“ und den Schutz beim Abtransport der chemischen Reststoffe zu den Vernichtungsanlagen beinhaltet. Mit der Entsendung einer Fregatte will Deutschland sich an dieser Mission der Vereinten Nationen und der OVCW in einer breiten Koalition mit anderen Staaten beteiligen. Ziel dieser Mission ist es, den Auftrag der Vereinten Nationen umzusetzen und ein für alle Mal die grauenhaften syrischen Chemiewaffen zu zerstören. Mir fällt kein plausibles Argument ein, warum man diesem Vorhaben nicht zustimmen kann. Daher unterstützen wir Grüne dieses Mandat. ({3}) Ich frage mich ernsthaft, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linkspartei, was man gegen einen Einsatz haben kann, der Schutz bei der Zerstörung von Massenvernichtungswaffen gewährleistet. ({4}) Die Vernichtung der Chemiewaffen darf nicht darüber hinwegtäuschen: Die Zivilbevölkerung in Syrien leidet immer noch auf das Schlimmste unter dem gnadenlosen Bürgerkrieg, in dem immer noch Gräueltaten, Morde und Menschenrechtsverletzungen verübt werden. Eines ist ganz klar: Auch wenn bei der Vernichtung der syrischen Chemiewaffen mit der Regierung zwangsweise zusammengearbeitet werden muss, kann das Assad-Regime durch diese Aktion mitnichten rehabilitiert werden. Meine Damen und Herren von der Bundesregierung, trotz der breiten Zustimmung kann ich Ihnen ein paar kritische Worte nicht ersparen. Deutschland muss sich hier nicht nur aus humanitärer Sicht engagieren, sondern Deutschland trägt auch aufgrund seiner Exportpolitik große Verantwortung. Deutsche Unternehmen haben nach Angaben der OVCW eine große Rolle beim Aufbau des syrischen Chemiewaffenprogramms gespielt. Von 1982 bis 1993 gab es 50 Lieferungen deutscher Firmen: Steuerungsanlagen, Pumpen, Kontrollventile, Gasdetektoren, eine Chemiewaschanlage und 2 400 Tonnen einer Schwefelsäure, die zur Produktion des Giftgases Sarin genutzt werden kann. Das ist erschreckend. ({5}) Die schwarz-rote Bundesregierung weigert sich mit Verweis auf das Geschäftsgeheimnis, offenzulegen, welche Unternehmen am Aufbau des syrischen Chemiewaffenprogramms mitverdient haben. Meine Damen und Herren, das ist inakzeptabel. An dieser Stelle sind Transparenz, Offenheit und lückenlose Aufklärung angesagt. ({6}) Zudem wurde bekannt, dass deutsche Unternehmen bis 2011, auch noch bei Beginn des syrischen Bürgerkrieges, Chemikalien an Syrien geliefert haben, die sowohl zivil als auch militärisch nutzbar sind - und das trotz zahlreicher Expertenwarnungen und obwohl Deutschland die Chemiewaffenkonvention ratifiziert hat. Auch das ist ungeheuerlich. Schwarz-Rot hat im Koalitionsvertrag angekündigt, beim Export von Dual-Use-Chemikalien etwas verbessern zu wollen. Abgesehen davon, dass Sie dann jetzt auch so schnell wie möglich an dieser Stelle handeln sollten, fordern wir Grüne Sie auf, die Ausfuhr- und Endverbleibskontrolle von Dual-Use-Gütern auf nationaler und europäischer Ebene zu verschärfen und dabei nicht weiterhin Wirtschaftsinteressen ständig höher zu gewichten als Menschenrechte. ({7}) Meine Damen und Herren, wir sind es den Opfern des barbarischen Giftgasanschlages in Syrien schuldig, dass wir alle uns aktiv dafür einsetzen, dass solche Verbrechen gegen die Menschlichkeit nie wieder verübt werden können. Diesen Menschen sind wir es schuldig, dass die grausamsten aller Waffen für immer und ewig vernichtet werden und dass deutsche Unternehmen nie wieder mit solchen Programmen Geld verdienen. Diesen Menschen sind wir es schuldig, dass Massenvernichtungswaffen - chemische, aber auch biologische und Atomwaffen niemals wieder gegen unschuldige Zivilistinnen und Zivilisten eingesetzt werden. Das bedeutet nicht nur, diese Waffen zu zerstören, sondern auch, eine Kehrtwende in der Rüstungsexportpolitik, eine Verschärfung der Rüstungsexportkontrolle und eine entsprechende Stärkung der Verträge an dieser Stelle einzuleiten. Vielen Dank. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Philipp Mißfelder für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Philipp Mißfelder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003810, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich finde es richtig, dass die Bundesregierung dieses Mandat einbringt, und ich bin der Meinung, dass wir uns am Schutz der „Cape Ray“ beteiligen sollten. Damit zeigen und dokumentieren wir, dass es uns wichtig ist, bei der Konfliktlösung - ich betrachte die Vernichtung der Chemiewaffen als Teil der Konfliktlösungsstrategie - nicht nur am Rand zu stehen, sondern auch ein aktiver Partner zu sein, einen aktiven Beitrag zu leisten. Ich finde es gut, dass man diesen Weg gefunden hat. Natürlich ist das grausame, schreckliche Verbrechen, das mit dem Einsatz der Chemiewaffen geschehen ist, bis heute nicht restlos aufgeklärt worden, und die westliche Gemeinschaft ist auch mit Sicherheit nicht so entschlossen aufgetreten, wie sich das viele von ihr gewünscht haben. Aber die Paradoxie unseres Handelns an dieser Stelle, auch die Ankündigungen seitens der Amerikaner, was rote Linien angeht, ist vor allem der Komplexität des Bürgerkrieges in Syrien geschuldet. Wir haben häufig gesagt - auch ich habe es schon einmal an diesem Platz gesagt -, dass eine Konfliktlösung nur ohne Assad möglich ist; das war zu Beginn der Dreh- und Angelpunkt fast aller Wortmeldungen hier im Hause. Wir sehen aber, dass sich die militärische Situation aufgrund der massiven Intervention seitens Irans und der Hisbollah verändert hat und sich das Blatt in militärischer Hinsicht gewendet hat. Insofern haben wir alles darangesetzt, eine politische Lösung voranzubringen, und haben, anders als andere, einen militärischen Lösungsansatz ausgeschlossen. Vor diesem Hintergrund glaube ich, dass man dieses Mandat nicht als Teil irgendwelcher militärischen Konstrukte missverstehen darf; denn hier geht es in der Tat darum, Abrüstungsmaßnahmen voranzubringen. Nur aus Sicherheitsüberlegungen heraus muss der Transport der Chemiewaffen militärisch begleitet werden. Um ein entsprechendes Mandat wirbt die Bundesregierung an dieser Stelle. Ich bin der festen Überzeugung, dass es richtig ist, die Gespräche über die Zukunft Syriens fortzusetzen; aber ich glaube auch - das ist vorhin in der Debatte mehrfach gesagt worden -, dass gerade die öffentliche Fokussierung auf andere Problemfelder und Konfliktherde der Welt dazu geführt hat, dass Syrien und die entsprechenden Verhandlungen in den letzten Wochen und Monaten etwas in den Hintergrund getreten sind. Wenn man versucht, zu bilanzieren, welche substanziellen Fortschritte es gegeben hat, dann kommt man leider zu dem Ergebnis, dass es in den letzten Wochen und Monaten keine substanziellen Fortschritte gegeben hat. Die Situation ist eher festgefahren. Wenn Sie sich angeschaut haben, mit welcher Kritik der amerikanische Präsident, als er Saudi-Arabien besuchte, konfrontiert worden ist - Saudi-Arabien sagt nach wie vor, man habe großes Interesse daran, dass Amerika die Dschihadisten und die Aufständischen, die sich aus diesem Teil der Opposition rekrutieren, unterstützt -, sehen Sie, wie weit die Position auch unserer Verbündeten teilweise von unserer abweicht. Wir müssen die politische Aufmerksamkeit nach wie vor darauf richten: Wie kann der Bürgerkrieg gestoppt werden? Welche Zukunft soll das Land haben? Da ist der Frontverlauf in keiner Weise klar. Denn sosehr wir auch Sympathie für die syrischen Oppositionellen in Syrien hegen: Wir können nicht die Augen davor verschließen, dass viele Dschihadisten von außen eingesickert sind und dass wir auch im Falle eines Friedensschlusses damit konfrontiert sein werden, dass Dschihadisten, die vielleicht die deutsche Staatsangehörigkeit haben, trainiert, ausgebildet und kampferprobt zurück nach Deutschland kommen. Vor diesen Hintergrund sage ich: Die Komplexität dieses Problems ist nicht zu überschätzen. Deshalb sollte man sachlich argumentieren; ich fand allerdings, dass das bei den Wortbeiträgen der Linkspartei nicht der Fall war. Wir werben für dieses Mandat. Wir wollen uns weiterhin politisch engagieren, damit Syrien eine friedliche Zukunft hat. Ich traue mir keine Prognose darüber zu, in welcher personellen Konstellation das stattfinden wird und wer die Ansprechpartner sein sollen. Ich habe mit zahlreichen Vertretern der syrischen Opposition Gespräche geführt. Manche waren mir außerordentlich sympathisch; sie setzen sich für eine friedliche, demokratische und freie Zukunft ihres Landes ein. Andere hingegen sehe ich eher als zwielichtige Personen, die etwas ganz anderes im Schilde führen. Insgesamt ist festzustellen: Sosehr uns die Ereignisse auf der Krim, die deutsch-russische Partnerschaft oder auch das Hickhack um die Zukunft des deutsch-russische Verhältnisses beschäftigen, sollten wir nicht vergessen, dass in Syrien ein Bürgerkrieg tobt, der bisher sehr viele Opfer gekostet hat. Er verdient nach wie vor unsere politische Aufmerksamkeit. Herzlichen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Der Kollege Dr. Reinhard Brandl hat nun für die Unionsfraktion das Wort. ({0})

Dr. Reinhard Brandl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004018, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Auch wenn es heute um ein Mandat für den Einsatz bewaffneter Streitkräfte geht, ist der ganze Vorgang doch ein eindrucksvoller Beleg dafür, dass es sich selbst in scheinbar ausweglosen Situationen immer lohnt, nach diplomatischen Lösungen zu suchen. ({0}) Ich erinnere mich mit Schrecken an den 21. August - das Datum ist mehrfach genannt worden -, an dem der grausame Konflikt in Syrien durch den Einsatz von Chemiewaffen eine neue Dimension erreicht hat. Ich erinnere mich genau an die Tage und Wochen danach, in denen die Welt um eine Antwort gerungen hat und in denen man teilweise das Gefühl hatte: Ein Militärschlag ist unausweichlich. Dann kam die diplomatische Wende: 14. September die Einigung zwischen USA und Russland, am selben Tag dann die Ankündigung des Beitritts Syriens zum Übereinkommen über ein Verbot chemischer Waffen, 27. September die Resolution des UN-Sicherheitsrates. Bereits wenige Tage später haben die Vorbereitungen für die Zerstörung von unglaublichen 1 300 Tonnen Chemiewaffen an 23 Standorten in Syrien begonnen. Das ist ein riesengroßer abrüstungspolitischer Erfolg, der - und das ist eigentlich das Bemerkenswerte - mitten in einem tobenden Bürgerkrieg zustande gekommen ist. Das ist ein deutliches Signal an die Länder, dass die Weltgemeinschaft trotz unterschiedlicher Interessen, trotz Meinungsverschiedenheiten in vielen geostrategischen Fragen bei einer Frage wie dem Einsatz von Massenvernichtungswaffen zusammensteht und dass sie, organisiert in den VN, nicht bereit ist, den Einsatz von Massenvernichtungswaffen zu dulden, sondern dagegen vorgeht. Ich bin auch stolz auf unser Land, auf Deutschland, weil wir zur Zerstörung dieser Waffen einen wirklich substanziellen Beitrag leisten. Dazu gehört eine finanzielle Unterstützung. Dazu gehört - ganz am Anfang vor allem die logistische Unterstützung der Inspektoren, die Luftunterstützung, die wir damals geleistet haben. Dazu gehört die Beteiligung deutscher Forschungsinstitute an der Analyse der Kampfstoffe. Dazu gehört die Vernichtung von 370 Tonnen Reststoffen in Munster. Und dazu gehört eben auch der Schutz des Spezialschiffes der USA, auf dem auf hoher See die Kampfstoffe unDr. Reinhard Brandl schädlich gemacht werden. Nur dieser Teil, der Begleitschutz dieses Spezialschiffes, braucht ein Mandat des Deutschen Bundestages. Aber es ist wichtig, deutlich zu machen, dass das nur ein kleiner Teil eines größeren, umfassenden Beitrags ist, den Deutschland in diesem Prozess der Zerstörung der Waffen leistet. Die Bedrohung des Schiffes ist in den Gewässern zwar niedrig, nichtsdestotrotz muss es geschützt werden. Dafür stellen wir von deutscher Seite eine Fregatte und bis zu 300 Soldaten bereit. Abhängig davon, wie schnell der Abtransport der Kampfstoffe aus Syrien möglich ist, kann die ganze Operation bereits in wenigen Monaten beendet sein. Die spannende Frage in dieser Debatte lautet: Welchen Grund versucht die Linke dieses Mal an den Haaren herbeizuziehen, um gegen einen solchen Einsatz zu stimmen? Ich habe Frau Buchholz genau zugehört. Sie haben aus meiner Sicht ein Sachargument vorgetragen. Sie sagten, Sie seien misstrauisch, weil das Einsatzgebiet zu groß gewählt sei. Dieses Sachargument kann ich entkräften. Frau Buchholz, Sie wissen, dass die Hydrolyse etwa 90 Tage dauern wird, abhängig von ruhiger See und entsprechenden Witterungsverhältnissen. ({1}) Deswegen macht es Sinn - wir wissen ja nicht, wie im Mai oder Juni das Wetter sein wird -, dass das Schiff dorthin fährt, wo die See ruhig ist. ({2}) Der Eiertanz, den Sie hier aufführen, ist meines Erachtens lächerlich. Man sieht an Ihrer Rede, wie blind Ideologie macht: Selbst wenn es um die Vernichtung von Massenvernichtungswaffen geht, können Sie nicht zustimmen. ({3}) Ich hoffe, dass das die Menschen sehen, die Sie gewählt haben, und ich hoffe, dass das auch die Menschen sehen, die Ihnen vielleicht einmal Regierungsverantwortung zutrauen wollen. ({4}) So sind Sie aus meiner Sicht nicht in der Lage, Verantwortung für unser Land zu übernehmen. ({5}) Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 18/984 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Pia Zimmermann, Sabine Zimmermann ({0}), Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Deckungslücken der Sozialen Pflegeversicherung schließen und die staatlich geförderten Pflegezusatzversicherungen - sogenannter Pflege-Bahr - abschaffen Drucksache 18/591 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit ({1}) Finanzausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Pia Zimmermann für die Fraktion Die Linke. ({2}) Ich bitte Sie, Frau Zimmermann, so lange zu warten, bis die notwendigen Umgruppierungen auf der rechten Seite des Hauses abgeschlossen sind, sodass wir der Debatte folgen können.

Pia Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004454, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gute Pflege ist ein Menschenrecht, nur leider sind wir von der Verwirklichung dieses Menschenrechts sehr weit entfernt. Stattdessen gibt es eine Pflegemisere, und es besteht akuter politischer Handlungsbedarf, und zwar nicht nur hinsichtlich eines besorgniserregenden Mangels an Pflegekräften, nein, sondern auch mit Blick auf die wachsende soziale Ungerechtigkeit im Pflegesystem. Herr Minister Gröhe - er ist nicht da -, von Ihnen und dem Pflegebeauftragten, Herrn Laumann, sind nahezu täglich nur wohlfeile Worte zu hören. Aber wenn es um konkrete Vorschläge geht, zum Beispiel wie bei unserem heutigen Antrag, eines dieser grundsätzlichen Probleme anzugehen, verweigern Sie sich. Darum appelliere ich an Sie, meine Damen und Herren Abgeordnete: Gehen Sie mit uns diesen Schritt, schaffen Sie diese unsinnige Pflege-Bahr-Zusatzversicherung ab! ({0}) Ich richte mich insbesondere an die Kolleginnen und Kollegen von der SPD und möchte etwas aus einem Flugblatt, das man auch auf Ihrer Internetseite findet, zitieren. Ich habe das Flugblatt mitgebracht; so sieht es aus. Zitat: Die SPD lehnt den „Pflege-Bahr“ ab. Wir wollen keinen Einstieg in die Zwei-Klassen-Pflege. ({1}) Sehr gut so weit. Weiter: Der „Pflege-Bahr“ ist gleichzeitig nutzlos und ungerecht, denn er löst die Probleme in der Pflege nicht. Auch gut - so weit. ({2}) Deshalb fordere ich Sie auf: Nehmen Sie sich selber ernst! Enttäuschen Sie die Menschen in diesem Land nicht erneut, und stimmen Sie unserem Antrag zu! ({3}) Hier noch ein paar Argumente dafür, dass der PflegeBahr abgeschafft gehört. Der Pflege-Bahr privatisiert das Risiko, pflegebedürftig zu werden, und macht den Anspruch auf Pflege noch mehr zu einer Frage des Geldbeutels, noch mehr, weil bereits das Teilleistungsprinzip der Pflegeversicherung bedeutet, dass sie lediglich eine Zuschussversicherung ist. Mehr als die Hälfte der Kosten müssen pflegebedürftige Menschen und ihre Angehörigen schon jetzt aus eigener Tasche zahlen. Das lehnt die Linke entschieden ab. ({4}) Der Pflege-Bahr verspricht, das Risiko der Pflegebedürftigkeit privat abzusichern. Aber das widerspricht nicht nur dem Solidarprinzip, sondern stimmt noch nicht einmal. Er ist vollkommen ungeeignet, die Versorgungslücken zwischen den Leistungen der Pflegeversicherung und den tatsächlichen Pflegekosten zu schließen. Pflege wird immer teurer. Eine Anpassung an diese Entwicklung ist jedoch beim Pflege-Bahr überhaupt nicht vorgesehen. Niemand kann heute sagen, was die vereinbarten Leistungen wert sind, wenn sie gebraucht werden, und zwar nicht heute, sondern in der Zukunft, beim Eintritt in die Pflegebedürftigkeit. ({5}) - Genau. - Zudem höhlt der Pflege-Bahr das Solidaritätsprinzip weiter aus und verschärft die soziale Spaltung. Er ist absolut kontraproduktiv, weil er sich nicht an den Interessen der Menschen orientiert, sondern vor allen Dingen Geld in die Versicherungswirtschaft spült. ({6}) Alle Menschen haben das gleiche Recht auf eine ihren Bedürfnissen entsprechende Pflege. Deshalb müssen wir die Finanzierung auf breitere Schultern verlagern. Wissen Sie eigentlich, dass die Pflegehelferinnen, die Verkäuferinnen und die Friseurinnen den Pflege-Bahr mitfinanzieren, und zwar über ihre Steuern, ihn sich selber aber gar nicht leisten können? Diese Ungerechtigkeit muss abgeschafft werden. ({7}) Die solidarische Bürgerinnen- und Bürgerversicherung in der Pflege wäre das Fundament, um gute Pflege für alle umfänglich zu finanzieren. Als ersten Schritt fordern wir deshalb den Stopp der staatlichen Förderung von privaten Zusatzversicherungen und die Rückabwicklung der vorhandenen Verträge. ({8}) Um Ihren Argumenten gleich vorzugreifen: Das ist machbar. Es ist tatsächlich nur eine Frage des politischen Willens. Denn immerhin sind durch die fünfjährige Karenzzeit beim Pflege-Bahr noch keine Ansprüche entstanden. Auch das Beispiel der Rückabwicklung der privaten Zahnzusatzversicherungen von 2004 zeigt, dass diese problemlos storniert werden können. Sie wissen, dass Sie 2014 noch eine große Aufgabe vor sich haben. Durch das Pflege-Weiterentwicklungsgesetz sind Sie verpflichtet, die Leistungen zu prüfen und der Kostenentwicklung anzupassen. Die Menschen mit Pflegebedarf und die Verbände warten darauf. Wir werden das nicht aus dem Auge verlieren; das kann ich Ihnen versprechen. ({9}) Außerdem fordern wir eine regelgebundene Anpassung der Versicherungsleistungen an die Lohn- und Preisentwicklungen. Es reicht einfach nicht aus, nur kurzfristige Leistungsverbesserungen vorzunehmen. Es braucht eine gänzliche Abkehr vom Teilleistungsprinzip, um den Ansprüchen auf gute Pflege für alle gerecht werden zu können. Eine Zustimmung zu unserem Antrag wäre ein vertrauenerweckendes Zeichen für bessere Pflege und für mehr Pflegegerechtigkeit für alle Menschen in diesem Land. Ich bitte um Ihre Zustimmung, wenn wir demnächst darüber abstimmen. Herzlichen Dank. ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Erwin Rüddel das Wort. ({0})

Erwin Rüddel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004139, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die staatlich geförderte private Zusatzversicherung gegen das Pflegerisiko erlebt derzeit einen wahren Boom. Wurden im Januar 2013 240 Verträge pro Tag abgeschlossen, waren es im Juni 2013 bereits über 1 000 Verträge pro Tag. Das zeigt, dass die staatlich geförderte Zusatzversicherung bei den Menschen ankommt. Zurzeit werden täglich 1 600 neue Verträge abgeschlossen. Die Versicherungswirtschaft ist davon überzeugt, dass wir in diesem Jahr noch die Millionengrenze überschreiten werden. Im Januar 2014 kamen wir bereits auf über 400 000 Verträge. Was zeigt uns das?

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Rüddel, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung der Kollegin Zimmermann? ({0})

Erwin Rüddel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004139, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Pia Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004454, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Herr Kollege Rüddel. - Es ist doch so, dass Sie die Anzahl an Vertragsabschlüssen, die Sie angestrebt haben, überhaupt nicht erreicht haben; Sie haben noch nicht einmal die Hälfte davon erreicht. Deutlich wird auch: In dem von Ihnen vorgelegten Haushalt sind die Mittel zur staatlichen Unterstützung und Finanzierung der Verträge im Pflege-Bahr deutlich abgesenkt worden. Das passt meines Erachtens nicht mit dem zusammen, was Sie gerade gesagt haben. Können Sie mir das vielleicht näher erklären? ({0})

Erwin Rüddel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004139, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich wäre in meiner Rede noch darauf eingegangen. Ich halte 1 Million Neuverträge im Jahr 2014 für eine sensationell hohe Zahl. Auch wenn wir geglaubt haben, dass wir eine höhere Zahl erreichen könnten, zeigt die Entwicklung, dass wir unser Ziel, Vorsorge zu fördern und die Menschen zu motivieren, vorzusorgen, erreicht haben. Wir sollten vielleicht gemeinsam überlegen, wo man Anreize schaffen kann, damit wir noch höhere Zahlen als derzeit erreichen können. Ich denke, das Ziel ist richtig. Ihrer Logik zufolge dürften wir auch keinen Cent für Prävention ausgeben. ({0}) Ich bin der festen Überzeugung, dass unser Weg, die Menschen zu motivieren, Vorsorge zu treffen, der richtige ist. Wir werden in den nächsten Wochen mit der Pflegereform zeigen, dass Vorsorge ein guter Weg ist. Mit dem Vorsorgefonds haben wir bereits einen weiteren Schritt getan. ({1}) Wir befinden uns auf einem guten Weg; denn er führt in eine gute Zukunft. Ihr Weg dagegen ist der falsche. Wir werden auch Ihren Antrag hier im Haus eindrucksvoll und mit breiter Mehrheit ablehnen. ({2}) Die vom Staat geförderte private Zusatzversicherung wird von den Menschen angenommen. Das beweisen die Zahlen eindeutig. Das Produkt erfüllt also den Wunsch des Gesetzgebers, die Bürger stärker vor einer finanziellen Überforderung im Pflegefall zu schützen und zu mehr Vorsorge zu motivieren. Die Menschen erkennen zusehends - auch das zeigen die Zahlen -, dass sie bei der Pflege stärker vorsorgen müssen, und das ist auch gut so. Denn nach meiner Einschätzung bieten sich insbesondere für Frauen und Männer zwischen 25 und 40 Jahren gute Chancen, mit staatlicher Unterstützung eine zusätzliche Vorsorge gegen das Pflegerisiko im Alter zu schaffen. Vom Staat werden 5 Euro pro Monat als Zulage gezahlt, wenn der oder die Versicherte einen Mindestbeitrag von 10 Euro pro Monat leistet. Risikozuschläge und Gesundheitsprüfungen sind nicht zulässig. Das ist ein wichtiger Punkt. Denn auch Menschen mit Vorerkrankungen können auf diesem Weg eine private Versicherung abschließen und mit nur 10 Euro im Monat den Einstieg in diese Vorsorgemaßnahme verwirklichen. Statt dieses Instrument infrage zu stellen oder gar abschaffen zu wollen, sollten sich die Initiatoren des vorliegenden Antrags, die Fraktion Die Linke, vielleicht besser überlegen, ob und wie wir es ausbauen und noch attraktiver machen können. ({3}) Ich persönlich - das betone ich ausdrücklich - hielte es durchaus für angebracht, über eine sinnvolle Weiterentwicklung der staatlich geförderten Zusatzversicherung nachzudenken. Dabei schwebt mir zum Beispiel eine Familienkomponente vor, bei der sich die Zahl der Kinder positiv auf die Höhe des staatlichen Zuschusses auswirken könnte. Aber auch andere Schritte wären denkbar, um diese Art der privaten Vorsorge seitens des Staates zusätzlich zu fördern. Stattdessen räsoniert die Linke in ihrem Antrag darüber, was die vereinbarten Mindestleistungen von 600 Euro Pflegegeld in der Pflegestufe III bei Eintritt der Pflegebedürftigkeit in 50 oder 60 Jahren wert sein könnten. ({4}) Das, Frau Zimmermann, kann man sich über diesen Zeitraum hinweg sicherlich mit Blick auf alle möglichen und unmöglichen Zahlen fragen. Anstatt nun darüber nachzudenken, ob und wie dieses Produkt durch eine Dynamisierung künftig noch verbessert werden könnte, schüttet die Linke lieber das Kind mit dem Bade aus und will die staatlich geförderte Zusatzversicherung mit einem Federstrich abschaffen. ({5}) Ihr Ziel ist es doch, den Menschen die Chance auf Vorsorge zu erschweren. ({6}) Sie wollen, dass das Teilleistungsprinzip abgeschafft wird und der Staat zukünftig einfach für alles aufkommt. Das ist sinngemäß das, was in Ihrem Antrag steht. Dieser folgt damit einem bekannten Muster: ({7}) einerseits den Menschen Angst machen und ihnen andererseits Wunderdinge versprechen, ({8}) immer nach dem Motto: Am Ende werden andere für euch die Zeche zahlen. ({9}) Natürlich zeigt sich auch hier wieder, dass Ihnen jeglicher Anreiz zu eigener Initiative, zu eigener Verantwortung und zu privater Vorsorge zutiefst zuwider ist. Die Botschaft Ihres Antrags lautet im Grunde: Macht euch keine Gedanken, Leute, der Staat wird es schon richten. - Das ist absolut unverantwortlich. ({10}) Meine Damen und Herren, der vorliegende Antrag ist auch aus einem anderen Grund ein ärgerliches Dokument. Man fragt sich nämlich angesichts der Ausführungen zur gesetzlichen Pflegeversicherung, ob die Kolleginnen und Kollegen von der Linken eigentlich den Koalitionsvertrag gelesen haben. Falls nicht, will ich hier im Plenum kurz feststellen: ({11}) CDU, CSU und SPD haben sich in ihrem Koalitionsvertrag auf die umfassendste Reform der gesetzlichen Pflegeversicherung seit ihrer Einführung 1995 verständigt. ({12}) Wir werden die Leistungsbeträge dynamisieren, den Schlüssel für Betreuungskräfte pro Pflegebedürftigem deutlich senken, Leistungen wie Kurzzeit- und Verhinderungspflege flexibilisieren, ({13}) die Maßnahmen zur Verbesserung des Wohnumfeldes verstärken, einen Pflegevorsorgefonds in Höhe von 1,2 Milliarden Euro jährlich schaffen und vor allem Menschen mit Demenzerkrankung und ihre Angehörigen weit stärker als bisher unterstützen, indem wir eine Neudefinition des Pflegebegriffs vornehmen. Schließlich werden wir für deutlich mehr und für gut ausgebildete und für ordentlich bezahlte Fachkräfte in der Pflege sorgen. Die Reform der gesetzlichen Pflegeversicherung, wie ich sie hier skizziert habe, ist ein zentrales politisches Vorhaben dieser Koalition. Daran konstruktiv mitzuwirken, sind alle in diesem Hause aufgefordert und eingeladen; das gilt ausdrücklich auch für die Kolleginnen und Kollegen der Linken. ({14})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die Kollegin Elisabeth Scharfenberg hat für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Elisabeth Scharfenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003835, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Im vorliegenden Antrag der Linksfraktion finden sich einige Forderungen, die wir Grüne durchaus mittragen und unterstreichen können, die sinnvoll sind. Es ist völlig richtig, dass wir endlich eine klare Regelung für eine jährliche Anpassung der Pflegeleistungen brauchen. Jetzt ist es nämlich so, dass die Bundesregierung alle drei Jahre so Pi mal Daumen bestimmt, wie viel sie denn geben will. Bei der geplanten Pflegereform von SchwarzRot soll es genauso laufen. Es wird keine objektive Rechnung geben, sondern es wird geschachert werden: Leistungsanhebung um 3 Prozent, 4 Prozent oder 5 Prozent? Wer bietet mehr? Wer geht drunter? Entscheidung nach Gusto oder danach, wer sich gerade durchsetzt! So ein Vorgehen führt nicht nur zu einer Entwertung der Leistungen; es führt zu einer Entwertung der Pflegeversicherung an sich. ({0}) Wir sagen, dass die Leistungen regelgebunden zu zwei Dritteln entlang der Lohn- und zu einem Drittel entlang der Inflationsentwicklung angepasst werden müssen. Das wäre sachgerecht, weil sich die Pflegekosten in etwa zu zwei Dritteln aus Personalkosten und zu einem Drittel aus Sachkosten zusammensetzen. Das ist übrigens keine neue grüne Forderung. Wir fordern das schon seit 2012 genau so in unserem Konzept der grünen Pflege-Bürgerversicherung. Schön, dass die Linksfraktion diesen Vorschlag von uns übernommen hat! ({1}) Richtig ist auch die Forderung, den Pflege-Bahr wieder abzuwickeln. Der Pflege-Bahr war und ist weder gerecht noch sinnvoll, und deshalb muss er - ganz klar wieder abgeschafft werden. ({2}) Der unsägliche Pflege-Bahr wurde von Schwarz-Gelb eingeführt - gegen den Rat der überragenden Mehrheit aller Fachverbände, gegen den Rat der Expertinnen und Experten sowie der versammelten Opposition. Damals war die SPD natürlich auch dagegen, weil ja noch Opposition. Für 2013 rechneten Sie mit 1,5 Millionen Pflege-Bahr-Verträgen. Sie haben das vollkommen überschätzt. Herr Rüddel, die Rechnung, die Sie gerade vorgetragen haben, klingt ein bisschen wie Pfeifen im Walde. Es sind bis heute - April 2014 - gerade einmal 400 000 Verträge abgeschlossen worden. Das ist kein Erfolg; das ist ein Witz. Der Pflege-Bahr bringt nichts. Alle haben es Ihnen gesagt. Aber Sie wollten es damals nicht hören, und Sie wollen es jetzt nicht hören. Die SPD hört jetzt leider auch weg. Die SPD hat inzwischen kein Problem mehr mit dem Pflege-Bahr. Die pflegepolitischen Überzeugungen der SPD sind sehr schnell auf der Strecke geblieben. Schade! ({3}) Mit einigem im Antrag sind wir nicht einverstanden: Da ist die Forderung der Linken, aus der Pflegeversicherung eine Vollversicherung zu machen. Sie geben da ein ganz schön voreiliges Versprechen ab. Verdi hat 2012 ein Gutachten über die Auswirkungen einer Pflegevollversicherung veröffentlicht. Klar wird: Es gibt viele Unsicherheiten. Was würde eine Vollversicherung eigentlich bezahlen? Wie teuer wäre eine Vollkasko-Pflegeversicherung? Teurer als heute auf jeden Fall! Es gibt da mehr Fragen als Antworten. Anders beim Pflege-Bahr. Da sind alle Fragen beantwortet. Ich werde noch einmal ganz deutlich: Der Pflege-Bahr ist eine Luftnummer und nichts anderes ({4}) übrigens genauso wie der Pflegevorsorgefonds, den die GroKo nächstes Jahr einführen will. ({5}) Da möchte ich Ihnen ein abenteuerliches Interview mit dem gesundheitspolitischen Sprecher der Unionsfraktion, Jens Spahn, vom 11. März in der Berliner Zeitung nicht vorenthalten. „Sicher wie das Gold der Bundesbank“, das war der Titel des Artikels. Darin erklärt uns Herr Spahn den Pflegevorsorgefonds. Der Fonds, sagt er, werde so sicher sein wie das Gold, das bei der Bundesbank lagert. Dann empfiehlt der gelernte Bankkaufmann Herr Spahn, dass man das Geld aus dem Fonds doch bitte schön - ich zitiere - „stärker in Aktien oder Unternehmensanleihen … oder auch in ausländische Anlagen“ stecken solle. ({6}) Man müsse höhere Renditen erwirtschaften. Außerdem sei die Idee des Sparens schon „ein Wert an sich“. Übrigens ist sich die Fachwelt einig, dass der Fonds nicht funktionieren wird. Das interessiert aber Herrn Spahn und die CDU/CSU nicht. Das lässt tief blicken. Ich hoffe, die SPD schwingt sich dazu auf, diesen Unsinn endlich zu Ende zu bringen. ({7}) Inmitten einer weltweiten Finanzkrise mit dem Geld der Versicherten zu zocken, den Menschen Märchen über goldene Töpfe - damit ist der Vorsorgefonds gemeint - zu erzählen, das bezeichne ich nicht als ernsthafte und nachhaltige Finanzierung. Um das Kraut fettzumachen, klammert sich die Große Koalition auch noch am unsolidarischen und äußerst erfolglosen Pflege-Bahr fest. Sie sollten die Menschen nicht für dumm verkaufen. Eine solide Finanzierung der Pflege schaut anders aus. Danke schön. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Mechthild Rawert für die SPD-Fraktion. ({0})

Mechthild Rawert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003825, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Im Mai 1994 verabschiedete der Deutsche Bundestag das Gesetz zur sozialen Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit. Die soziale Pflegeversicherung als fünfte Säule der Sozialversicherung in Deutschland ward geboren. Dieser Beschluss war ein sozialpolitischer Meilenstein; er war aber auch keine einfache Geburt. Dieser Geburt gingen damals 20 Jahre intensive und breite Diskussionen voraus. Es wurden debattiert die Situation der Pflegebedürftigen, die Folgen des demografischen Wandels und auch die finanziellen Belastungen der Kommunen - heute immer noch aktuelle Themen. Kurz vor dem 20. Geburtstag dieses Gesetzes sei es erlaubt, hier schon einmal zu gratulieren: Happy Birthday, liebe SPV, liebe soziale Pflegeversicherung! Du hast dich trotz schwerwiegender struktureller Reformstaus zu einer in der Bevölkerung akzeptierten Sozialversicherung entwickelt. Die soziale Pflegeversicherung war von Anfang an als Teilleistungssystem, als Teilkaskoversicherung, wie sie in der Bevölkerung häufig genannt wird, konzipiert. Ja, es ist richtig: Es sind notwendige Leistungsverbesserungen vorzunehmen. Die bisherigen Verbesserungen durch die verschiedensten Gesetze in der ambulanten und stationären Pflege reichen noch nicht aus. Darauf hat die Expertenkommission, darauf haben aber auch die ambulanten Träger und viele andere aufmerksam gemacht. Wir selber erleben dies tagtäglich, wenn wir in die entsprechenden Einrichtungen gehen. Wir wollen die eng richtungsbezogene Definition der Pflegebedürftigkeit überwinden und natürlich sehr viel mehr für Menschen tun, die an Demenz erkrankt sind, und vor allen Dingen für Menschen, die an psychischen Erkrankungen leiden. Wir brauchen hier mehr Leistungsansprüche. Das ist uns als Großer Koalition aber sehr bewusst. Deshalb werden wir dafür sorgen, dass in dieser Legislaturperiode nachhaltige strukturelle Reformen erfolgen werden. ({0}) Wir haben in der Koalitionsvereinbarung für den Bereich Pflege sehr viele Maßnahmen vereinbart; denn wir wollen, dass Pflege als gesamtgesellschaftliche Aufgabe von allen gesehen und auch wahrgenommen wird. ({1}) Wir wollen die zügige Neuordnung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs. Wir wollen eine Dynamisierung der Leistungssätze, um so den überproportionalen Eigenfinanzierungsanteil nicht weiter steigen zu lassen. ({2}) Wir wollen Verbesserungen bei der Vereinbarkeit von Berufstätigkeiten und Pflegetätigkeiten. Wir wollen eine Aufwertung der Pflegeberufe. Wir wollen ein Pflegeberufegesetz mit einheitlicher Grundausbildung und darauf aufbauender Spezialisierung. Wir wollen die Kostenfreiheit der Ausbildung. ({3}) Die so gewonnenen Mehreinnahmen bei der Pflege dienen uns allen. Wir wollen eine gute Pflegeinfrastruktur, und weil wir das wollen, sagen wir allen Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen: Dazu gehört eine Dynamisierung der Leistungssätze. Ich verspreche Ihnen, Frau Zimmermann, sie wird kommen. ({4}) Wir haben in der Diskussion vorhin schon gehört, dass die Pflegeversicherung auf der Leistungsseite eine Bürgerversicherung ist; denn jede und jeder bekommt, unabhängig davon, ob sie oder er bei einer privaten oder in der gesetzlichen Pflegeversicherung versichert ist, die gleichen Leistungen. ({5}) Ja, es stimmt: Am liebsten wäre uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten zur Bekämpfung der chronischen Unterfinanzierung der gesetzlichen Pflegeversicherung eine Bürgerversicherung auch auf der Finanzierungsseite gewesen. Wir haben für diese Legislaturperiode aber andere Modelle verabredet. ({6}) Das heißt jetzt nicht, dass wir gegen eine Bürgerversicherung sind; ({7}) wir verschieben sie. ({8}) Ich denke, das ist geklärt zwischen uns. Jetzt haben wir einen Koalitionsvertrag zu erfüllen. Unser Bürgerversicherungskonzept bleibt aber nach wie vor aktuell. ({9}) Die in dem Antrag der Linken gewünschte langfristige Abschaffung des Teilleistungsprinzips ist keine Lösung; das lehnen wir ab. ({10}) Vorhin ist schon darauf hingewiesen worden: Es gibt Konzepte für eine Vollkaskoversicherung, die aber teilweise noch auf unzureichenden Annahmen beruhen, und die Berechnungen sind auch nicht positiv, einmal abgesehen davon, dass ich mich frage, wer das finanzieren soll. Doch kommen wir zum Pflege-Bahr. Erinnern Sie sich noch? Im Rahmen des am 1. Januar 2013 in Kraft getretenen Pflege-Neuausrichtungs-Gesetzes hat die damalige schwarz-gelbe Regierung begonnen, private Pflegezusatzversicherungen zu fördern. Zumindest in der FDP hat mensch sich darüber gefreut, wie ich heute gehört habe: Herr Rüddel persönlich auch. ({11}) - Ja, er freut sich und findet das toll. - Das war aber, wie gesagt, mehr ein FDP-Kind. Der damalige FDP-Generalsekretär, Christian Lindner, hatte auch gleich einen passenden Namen dafür: Das ist der Pflege-Bahr, den wir jetzt einführen. - Dieser Pflege-Bahr ist für alle Versicherungsnehmerinnen und Versicherungsnehmer unabhängig vom jeweiligen Einkommen gleich hoch. Sie müssen mindestens 180 Euro zahlen; davon werden 60 Euro staatlich gefördert. Es blieb kein Geheimnis: Die SPD, Sozialverbände, Verbraucherschützerinnen und Verbraucherschützer, Fachinstitute, Linke, Grüne, sie alle lehnten die Einführung des Pflege-Bahrs ab. ({12}) - Habe ich gesagt; ich habe sie sogar als Erste genannt. Mit der Einführung des Pflege-Bahrs waren nämlich zwei Botschaften verbunden: Zum einen sollte damit laut Begründung im Gesetzentwurf ein Anreiz zu zusätzlicher Pflegevorsorge geschaffen werden, quasi ergänzend zum Teilleistungssystem. Es gab aber auch noch eine zweite Botschaft - die lag schon ein bisschen zurück -: Die Einführung einer einkommensunabhängigen privaten Pflegezusatzversicherung wurde, beispielsweise im Koalitionsvertrag von Schwarz-Gelb von 2009, mit einer substitutiven Wirkung begründet. Das heißt, damit ist eine Verlagerung von Finanzierungsverantwortung von der umlagefinanzierten Sozialversicherung zur kapitalgedeckten Privatversicherung intendiert. Glauben Sie mir: Das will die SPD nicht. Wir sind nach wie vor für starke Umlagefinanzierungssysteme. ({13}) Vielleicht zur Aufklärung: Durch die Finanzkrise sind am besten die Versicherungen gekommen, die ein umlagegefördertes System hatten. ({14}) Es war viel sicherer, das Geld dort angelegt zu haben, als bei privaten, profitorientierten Unternehmen. InfolgeMechthild Rawert dessen werden wir in Zukunft sicherlich auch noch einmal darüber reden - das gilt auch in Bezug auf andere Bereiche -, was gute Formen der Förderung sind. Die Linke fordert in ihrem Antrag auch, den PflegeBahr rückabzuwickeln, und einen Stopp der Pflegeversicherung. Alle Verbraucherschützerinnen und Verbraucherschützer - das sind auch Rechtsschutzexperten sagen aber: Das ist leider gar nicht möglich; denn diejenigen, die einen Vertrag abgeschlossen haben, bauen darauf, dass es die Förderung weiterhin gibt. All diejenigen, die jetzt sagen: „Es waren 1,5 Millionen Verträge geplant; herausgekommen sind allerdings nur 400 000“, haben recht. ({15}) - Es waren schon bis 2013 1,5 Millionen Verträge angedacht. ({16}) Das wurde auch bei der Aufstellung des Haushalts berücksichtigt. In der mittelfristigen Finanzplanung für die Jahre 2014, 2015 und 2016 waren für diese staatliche Zusatzversicherung nämlich noch jeweils 100 Millionen Euro vorgesehen. In den Haushalt 2014 eingestellt - ich finde, diese Bundesregierung ist hier klüger als die vorherige - werden aber nur 33 Millionen Euro. Es hat hier eine gute Kooperation zwischen den Fach- und Finanzpolitikern gegeben. Das muss man hier gar nicht weiter kommentieren. Wir werden uns sicherlich spätestens in einem Jahr noch einmal darüber unterhalten. Dass ich persönlich - das sage ich als Sozialdemokratin - keine Anhängerin der Privatisierung von Vorsorge bin, ist, denke ich, unbestritten: Es schadet auch nicht dem Koalitionsfrieden, wenn ich das hier so deutlich sage. ({17}) Meine Bitte an alle ist: Die Pflege gehört in die Mitte der Gesellschaft und muss noch viel mehr Gegenstand der Diskussionen des Deutschen Bundestages sein. Die Bürgerinnen und Bürger erwarten viel von uns. Packen wir es an! Machen wir daraus: gesagt, getan, gerecht! ({18})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Tino Sorge für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Tino Sorge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004409, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Zimmermann, ich habe Ihnen genau zugehört ({0}) und muss Ihnen leider sagen: Es hat sich in der bisherigen Debatte im Grunde genau das bestätigt, was aus Ihrem Antrag bereits hervorging. Entweder haben Sie nicht verstanden, dass wir von der Systematik her über eine Pflegezusatzversicherung reden, oder Sie blenden das ganz bewusst aus, um hier Effekthascherei zu betreiben. Deshalb werden wir, wie Sie schon gesagt haben, diesen Schritt nicht mit Ihnen gehen, sondern den Antrag ablehnen - zu Recht, wie ich finde. ({1}) Was sind die Fakten? Sie sind teilweise schon angesprochen worden: ({2}) Bis zum Jahr 2050 werden wir mit ungefähr 4,5 Millionen Pflegebedürftigen rechnen müssen. Damit sind dann circa 44 Prozent der pflegenahen Generation - das heißt derjenigen, die über 80 Jahre alt sind - Nutznießer von Pflegeleistungen. Das hat zur Folge, dass die Pflegekosten nicht nur insgesamt, sondern auch individuell ansteigen werden. Durch das stark ansteigende Lebensalter - die Menschen in unserem Land werden immer älter, worüber wir uns alle ja freuen - und den medizinischen Fortschritt liegt es in der Natur der Sache, dass die Pflegeaufwendungen steigen. Gerade deshalb ist es eben so wichtig, dass wir als Politiker denjenigen, deren Pflegesituation konkret ist, den Pflegebedürftigen und denen, die in die Pflege eingebunden sind, zur Seite stehen, sinnvolle Angebote unterbreiten und Unterstützung zuteilwerden lassen. ({3}) Das Pflegesystem muss auf ein breites Fundament gestellt werden. Aus Sicht der Union ist ein Baustein natürlich die staatliche Pflegeversicherung, von der aufgrund ihrer stetigen Weiterentwicklung sehr viele pflegebedürftige Menschen profitieren, und das ist auch gut. Als weiteren Baustein gibt es die private Pflegezusatzversicherung, die viele im Haus schon liebevoll Pflege-Bahr genannt haben. ({4}) - Ich habe das so empfunden, Frau Zimmermann. Diese Pflegezusatzversicherung - ich sage ganz bewusst: Pflegezusatzversicherung - ergänzt das staatliche System. Das heißt, das ist ein Angebot an diejenigen, die freiwillig eine Zusatzversicherung abschließen möchten. Die Zahlen sind schon genannt worden: Täglich werden 1 600 Neuverträge abgeschlossen. Insgesamt gibt es mittlerweile zwischen 400 000 und 500 000 Verträge. Man sieht: Die Zusatzversicherung wird angenommen. Es geht hier auch um den Kontext der Eigenvorsorge. Wir wollen ja die Menschen zu immer mehr Eigenvorsorge animieren. ({5}) Gerade meine Generation ist sich dessen bewusst, dass wir eigenverantwortlich vorsorgen müssen. Schauen Sie sich doch einmal die Vorzüge der Pflegezusatzversicherung an; sie liegen doch auf der Hand. Es gibt keine Risikozuschläge. Es gibt keine altersbedingten Prämiensteigerungen. Es gibt keine Gesundheitsprüfung. ({6}) Das heißt: All diejenigen, die früher keine Möglichkeit hatten, in diesem Bereich eine Versicherung abzuschließen, haben jetzt Zugang zu einer Pflegezusatzversicherung. ({7}) Da wir gerade bei der Systematik sind: Diese Versicherung war von vornherein - das ist schon angeklungen - als Zusatzversicherung geplant. Es stand nie im Raum, dass es eine Komplettversicherung werden sollte. Die Versicherten - auch meine Generation - wissen: Es handelt sich um eine Zusatzversicherung. Dieses System hat sich bewährt. Mit dieser Pflegezusatzversicherung - ich habe es schon gesagt - ist private Vorsorge überhaupt erst möglich geworden. Deshalb meine Bitte an die Kolleginnen und Kollegen von den Linken, den Grünen und auch an Sie, Frau Rawert - ich weiß nicht, ob ich Sie richtig verstanden habe -: Lassen Sie die Pflegezusatzversicherung doch erst einmal wirken! ({8}) Schauen wir uns doch erst einmal an, wie sie sich auswirkt! Es ist doch vernünftig, wenn die Evaluation seriös sein soll, sie erst nach einem längeren Zeitraum vorzunehmen und nicht schon nach einem Jahr. Wir sind der Meinung, dass die Pflegezusatzversicherung eine ausgewogene Balance zwischen Beitrag und Versicherungsleistung darstellt. Die Lage der Versicherten war vor Einführung dieser Versicherung wesentlich schlechter; das sollte hier niemand vergessen. Eine solche Zuschussversicherung bietet die Chance auf mehr Eigenverantwortung, schärft aber gleichzeitig den Blick für die Kosten und sensibilisiert dafür, welch große Herausforderung die Pflege ist. Das aktuelle System zeigt, dass Pflegebedürftigkeit kein individuelles Problem ist; diese Thematik betrifft immer die ganze Familie. Wir dürfen in diesem Zusammenhang nie vergessen, dass Pflegezeiten, der interfamiliäre Einsatz im Falle einer Pflegebedürftigkeit, heutzutage wesentlich stärker gefördert und unterstützt wird, als das noch vor Jahren der Fall war. Das ist ein Erfolg; das können wir doch einmal sagen. Die Bundesregierung setzt mit Karl-Josef Laumann als Beauftragten für Pflege ein weiteres deutliches Zeichen. ({9}) Die Versicherten, die Pflegebedürftigen, die Angehörigen und die Pflegekräfte in Deutschland sowie alle Familien, die sich mit der Pflegesituation auseinandersetzen müssen, können weiterhin auf eine gute, verlässliche und vertrauensvolle Versicherung bauen. Dafür steht die Bundesregierung. Dafür stehen wir als Union. Dafür steht die Koalition. Herzlichen Dank. ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Sorge, das war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag. Dazu gratuliere ich Ihnen im Namen des gesamten Hauses herzlich und wünsche Ihnen viel Erfolg in Ihrer Arbeit. ({0}) Das Wort hat der Kollege Heiko Schmelzle für die CDU/CSU-Fraktion. ({1})

Heiko Schmelzle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004400, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Besonders begrüßen möchte ich die Parlamentarische Staatssekretärin, Frau Widmann-Mauz. Für mich ist ihre Präsenz als Vertreterin der Regierung an einem Freitagnachmittag im Plenum des Deutschen Bundestages ({0}) ein deutliches Zeichen dafür, welch hohen Stellenwert das Thema Pflege in der 18. Wahlperiode für die Koalitionsfraktionen hat. ({1}) Die Deutschen sind heute weit über den Eintritt in den Ruhestand hinaus deutlich rüstiger, als es gleichaltrige Senioren vor einigen Jahrzehnten gewesen sind. Wir werden immer älter. Männer haben mittlerweile eine Lebenserwartung von 78 Jahren, Frauen von circa 83 Jahren. Das steigende Durchschnittsalter ist erfreulich, stellt unsere Gesellschaft jedoch vor immer größere Herausforderungen; denn die Zahl derjenigen, die auf Pflege bzw. Hilfe angewiesen sind, steigt ebenfalls stetig. Mit Weitblick wurde bereits 1995 unter der Regie des damaligen CDU-Arbeitsministers Norbert Blüm die gesetzliche Pflegeversicherung eingeführt. Ziel war es, allen Bürgerinnen und Bürgern für den Fall der Pflegebedürftigkeit eine Basisabsicherung zu gewährleisten. Man legte sich damals ganz bewusst auf das Teilleistungsprinzip fest, um überbordende Beitragskosten zu vermeiHeiko Schmelzle den, die eine vollständige Absicherung des Pflegebedürftigkeitsrisikos mit sich gebracht hätte. In der letzten Wahlperiode haben wir nun zum 1. Januar 2013 eine staatliche Förderung in Kraft gesetzt, die die Eigenvorsorge im Rahmen einer privaten Pflegezusatzversicherung unterstützt. Zum Beispiel erreichen auf diese Weise junge Menschen im Alter zwischen 20 und 40 Jahren mit einem Eigenbeitrag von 10 Euro monatlich und einer staatlichen Förderung von 5 Euro monatlich tendenziell deutlich mehr, als das Mindestsicherungsziel von 600 Euro in Pflegestufe III vorsieht. Im Idealfall sind dies bis zu 1 400 Euro über den Erstattungsbetrag hinaus, der bereits durch die gesetzliche Pflegeversicherung gezahlt wird. Die Zahlen des Verbandes der Privaten Krankenversicherung sind eindeutig. Vor Einführung der staatlichen Förderung hatten circa 1,8 Millionen Menschen eine private Pflegezusatzversicherung. Seit deren Einführung sind bereits 500 000 neue Verträge abgeschlossen worden. Dies entspricht innerhalb kürzester Zeit einer Steigerung um 27 Prozent. Das heißt, der von uns bzw. von der Politik gesetzte Anreiz hat insofern die gewünschte Wirkung entfaltet, vielleicht nicht im gewünschten Maße, aber die Richtung ist vorgegeben. Wenn aktuell 1 600 Verträge pro Tag dazukommen, dann ist das doch ein Erfolg. ({2}) Diese Zahlen werden durch die aktuelle repräsentative Allensbach-Umfrage untermauert. In dieser wurden rund 2 000 Menschen zum Thema Pflege befragt. 60 Prozent der Befragten hielten eine staatlich bezuschusste private Pflegezusatzversicherung für eine gute Sache. ({3}) Was können wir aus den erwähnten Zahlen schließen? Die Bürgerinnen und Bürger verstehen, dass man ergänzend Eigenvorsorge betreiben muss. Vor diesem Hintergrund muss man die Basisversorgung sehen. Die Fraktion Die Linke will mit ihrem Antrag die staatliche Förderung der ergänzenden privaten Pflegeversicherung stoppen und wünscht eine Rückabwicklung der 500 000 bereits abgeschlossenen Verträge. Des Weiteren fordern die Antragsteller langfristig einen Umbau der Pflegeversicherung zu einer „Vollkaskoversicherung“. Ich frage mich ernsthaft, wer das am Ende bezahlen soll. Die Linke verschließt in diesem Zusammenhang aus meiner Sicht die Augen vor den anstehenden Herausforderungen, die sich uns aufgrund einer alternden Bevölkerung stellen. Besonders irritiert war ich, im Antrag der Linken Folgendes zu lesen - ich zitiere -: Die geförderten Tarife sind aufgrund des Kontrahierungszwangs und der fehlenden risikobezogenen Prämienkalkulation teurer als vergleichbare nicht geförderte Produkte. Jetzt kommt der springende Punkt: Das führt zu einer negativen Risikoselektion und weiteren Beitragssteigerungen. ({4}) Das sehe ich völlig anders. Ich sehe es gerade als die soziale Komponente der staatlichen Förderung der ergänzenden privaten Pflegeversicherung an, dass auch Menschen mit Vorerkrankungen noch aktiv etwas tun können, um ihr persönliches Risiko einer Pflegebedürftigkeit finanziell abzusichern. ({5}) Die Linke möchte also gerade jenen die Möglichkeit der staatlich geförderten Eigenvorsorge nehmen, denen die geltende Regelung am meisten hilft. Ich möchte den Antragstellern abschließend ein Zitat von Mahatma Gandhi mit auf den Weg geben. Es lautet wie folgt: Wir haben die Pflicht, stets die Folgen unserer Handlungen zu bedenken. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit bei meiner ersten Rede. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Schmelzle, Sie sagten es abschließend: Das war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag. Auch Ihnen alles Gute für Ihre weitere Arbeit! ({0}) Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 18/591 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir sind am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Dienstag, den 8. April 2014, 11 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen gute Erholung über das Wochenende.