Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alle
herzlich.
Der Kollege Eckhardt Rehberg begeht heute seinen
60. Geburtstag. Dazu möchte ich ihm ganz herzlich gratulieren
({0})
und alles Gute für das neue Lebensjahr wünschen. Wir
geben uns auch große Mühe, ein passendes Programm
für den heutigen Tag hier im Plenarsaal des Deutschen
Bundestages zu veranstalten,
({1})
damit der Tag in unauslöschlicher Erinnerung bleibt.
Wir müssen vor Eintritt in die Tagesordnung noch
zwei Wahlen durchführen.
Für das Kuratorium der Stiftung Denkmal für die
ermordeten Juden Europas schlägt die SPD-Fraktion
vor, den Kollegen Michael Roth als Mitglied zu wählen.
Sind Sie mit diesem Vorschlag einverstanden? - Das ist
offensichtlich der Fall. Damit ist der Kollege Roth gewählt.
Des Weiteren schlägt die SPD-Fraktion vor, für den
ausgeschiedenen Kollegen Heinz Paula die Kollegin
Birgit Kömpel als Mitglied des Beirats der Schlichtungsstelle für den öffentlichen Personenverkehr zu
wählen. - Auch hierzu kann ich offensichtlich Einvernehmen feststellen. Damit ist die Kollegin Kömpel als
Beiratsmitglied gewählt.
Es gibt eine interfraktionelle Vereinbarung, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste
aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Konsequenzen der Bundesregierung aus dem
IPCC-Weltklimabericht
({2})
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Stephan
Mayer ({3}), Armin Schuster ({4}), Clemens Binninger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der
Abgeordneten Dr. Lars Castellucci, Gabriele
Fograscher, Uli Grötsch, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD
Herstellung des Einvernehmens des Deutschen Bundestages mit der Bestellung des Instituts für Gesetzesfolgenabschätzung und
Evaluation beim Deutschen Forschungsinstitut für Öffentliche Verwaltung, Speyer, als
wissenschaftlichen Sachverständigen im Rahmen der Evaluierung des RechtsextremismusDatei-Gesetzes
Drucksache 18/974
ZP 3 Beratung des Antrags der Bundesregierung
Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte am maritimen Begleitschutz bei der
Hydrolyse syrischer Chemiewaffen an Bord
der CAPE RAY im Rahmen der gemeinsamen
VN/OVCW-Mission zur Vernichtung der
syrischen Chemiewaffen
Drucksache 18/984
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({5})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsauschuss gemäß § 96 der GO
Dabei soll wie üblich von der Frist für den Beginn der
Beratungen, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Nach dem Tagesordnungspunkt 11 soll der Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf der Drucksache
18/974 zur Herstellung des Einvernehmens des Deutschen Bundestages mit der Bestellung des Instituts für
Gesetzesfolgenabschätzung und Evaluation beim Deutschen Forschungsinstitut für Öffentliche Verwaltung als
wissenschaftlichem Sachverständigen im Rahmen der
Präsident Dr. Norbert Lammert
Evaluierung des Rechtsextremismus-Datei-Gesetzes
aufgerufen werden. Dazu sind als Debattenzeit 25 Minuten vorgesehen.
Der Tagesordnungspunkt 20 wird abgesetzt. An dessen Stelle soll im Umfang von 38 Minuten der Antrag
der Bundesregierung auf Drucksache 18/984 zur Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte am maritimen
Begleitschutz im Rahmen der VN-Mission zur Vernichtung der syrischen Chemiewaffen debattiert werden.
Schließlich mache ich noch auf eine nachträgliche
Ausschussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste
aufmerksam:
Der am 14. Februar 2014 ({6}) überwiesene
nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Arbeit und Soziales ({7}) zur Mitberatung überwiesen werden:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Erleichterung der Bewältigung von Konzerninsolvenzen
Drucksache 18/407
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz ({8})
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ich frage Sie, ob irgendjemand gegen irgendeine dieser Vereinbarungen Einwände hat. - Das ist nicht zu erkennen. Dann haben wir das damit so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über
Leistungsverbesserungen in der gesetzlichen
Rentenversicherung ({9})
Drucksache 18/909
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({10})
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsauschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 96 Minuten vorgesehen. - Auch das ist
offenkundig einvernehmlich. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Bundesministerin für Arbeit und Soziales, Andrea
Nahles.
({11})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Die Bundesregierung legt heute ihr erstes wichtiges Gesetzespaket vor. Das Rentenpaket hat eine klare Botschaft: Wir halten Wort. Denn das, was wir hier heute
auf dem Tisch liegen haben, haben wir den Menschen in
unserem Land versprochen.
Das Rentenpaket hat eine klare Aussage. Sie geht
über den einzelnen Rentenbescheid hinaus. Wenn wir die
Lebensleistung von Müttern sowie von langjährig Versicherten, die unseren Sozialstaat über Jahrzehnte mit ihren Beiträgen stabilisiert und getragen haben, anerkennen, dann schaffen wir mehr Gerechtigkeit, und dann
senden wir ein klares Signal: Wir erkennen die Lebensleistung von Menschen in unserem Land an.
({0})
In vielen Begegnungen der letzten Wochen wurde mir
deutlich, dass die Botschaft auch ankommt. Als ich am
Internationalen Frauentag in Andernach Rosen verteilte,
kam eine Frau auf mich zu und erzählte mir: Ich habe
drei Kinder großgezogen; die haben alle studiert. - Das
war ihr ganz wichtig; das hat sie mehrfach betont. - Dass
das endlich anerkannt wird, das freut mich. Kriegen Sie
das Gesetz denn auch hin? - Ja, das kriege ich hin, sagte
ich.
({1})
Dieses Beispiel macht deutlich: Die Intention dieses Gesetzes, das, was wir machen, kommt bei den Menschen
wirklich an. Daran merkt man: Es ist nicht geschenkt, es
ist verdient. Das ist ein ganz zentraler Punkt.
({2})
Die Rentendebatte hat schon hohe Wellen geschlagen.
Die Vorhaben werden von manchen als Nachteil für die
jüngere Generation ausgelegt. Ich begegne vielen jungen
Menschen: Die gehen nicht auf die Barrikaden. Der
Wohlstand unseres Landes hängt sehr stark damit zusammen, dass wir gute und leistungsfähige Unternehmen haben, gut ausgebildete Fachkräfte, Menschen mit
Pflichtbewusstsein, die ihrer Arbeit nachgehen. Der
Wohlstand unseres Landes hängt aber auch damit zusammen, dass wir Solidarität üben, Solidarität zwischen
Arm und Reich, zwischen Jung und Alt. Das ist ein
Kerngedanke der sozialen Marktwirtschaft, die Gott sei
Dank über Jahrzehnte unser Land geprägt hat.
In diesem Geiste finden es die Jungen in einer übergroßen Mehrheit völlig in Ordnung, dass wir das für ihre
Mütter, Großmütter und ihre Väter tun. Das, was wir
heute vorlegen, finden sie vollkommen gerecht, auch generationengerecht.
({3})
Ich sage ganz deutlich, meine Kolleginnen und Kollegen: Wer sich um Kinder gekümmert hat, der hat seinen
Beitrag zum Generationenvertrag geleistet.
({4})
Deswegen rechnen wir die Erziehungsleistungen stärker
an. Deswegen bekommen 10 Millionen Menschen - es
sind vor allem Frauen - eine höhere Mütterrente.
Eine andere Begegnung: Als ich am letzten Wochenende nach Hause fliegen wollte und gerade meinen Flugschein vorgezeigt habe, sagten zwei ältere Damen in einem etwas rauen Ton, wie das in Berlin so üblich ist, zu
mir: Kommen Sie mal mit! Ich dachte: Oje, was ist jetzt
los? Ist mit meinem Flugschein etwas nicht in Ordnung?
Aber es kam etwas völlig anderes. Die beiden älteren
Damen erzählten mir, sie seien 62 und 63 Jahre alt und
arbeiteten beide schon seit 44 Jahren. Eine der beiden
Damen fragte mich: Schaffen Sie das mit der abschlagsfreien Rente nach 45 Beitragsjahren? Da habe ich gesagt: Ja, das schaffe ich.
({5})
Was wir damit zum Ausdruck bringen, ist: Wer
45 Jahre gearbeitet hat, also 45 Jahre lang Beiträge gezahlt hat, der hat gegenüber drei bis vier Generationen
von Rentnerinnen und Rentnern seine Pflicht im Generationenvertrag erfüllt. Das erkennen wir an, indem es
keine Abschläge mehr geben soll. Das gilt jetzt für die
rentennahen Jahrgänge, anschließend wächst es wieder
auf.
Auch diese Regelung wurde kritisiert: Sie gelte nur
für eine bestimmte Zahl von Menschen. - Das ist richtig.
Genau diejenigen sind es, die unsere besondere Anerkennung verdienen. Denn das sind diejenigen, die direkt
von der Schule in den Beruf gegangen sind, die 45 Berufsjahre durchgezogen haben.
({6})
Diese Menschen haben noch durchschnittliche Arbeitszeiten von 45 Stunden in der Woche gehabt. Der freie
Samstag musste noch erkämpft werden. Auch der Arbeitsschutz, der mittlerweile Standard ist, galt in den
70er-Jahren noch nicht.
({7})
Vor diesem Hintergrund - das will ich Ihnen ehrlich sagen - ist es klar: Diese Leute haben ihr Soll erfüllt. Ihre
Arbeitsjahre merken sie jeden Tag in den Knochen. Deswegen ist diese Regelung gerecht. Deswegen werden wir
sie auch umsetzen.
({8})
Ich will genauso klar sagen: Ich habe überhaupt kein
Interesse daran, dass diese Regelung ausgenutzt wird,
um neue Frühverrentungen zu befördern. Deswegen führen wir - dafür bietet die parlamentarische Debatte der
nächsten Wochen ja auch eine gute Gelegenheit - intensive Gespräche über die Frage: Wie kann man verfassungskonform verhindern, dass diese Regelung ausgenutzt wird? Wenn es dabei zu Antworten im
parlamentarischen Verfahren kommt, bin ich sehr froh
darüber.
Ein wichtiger Punkt für mich ist die Tatsache, dass
heute nur 14,7 Prozent der über 63-Jährigen einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nachgehen. Das
müssen wir ändern. Aus diesem Grund werden wir die
Altersgrenze schrittweise von 63 auf 65 Jahre anheben.
Wenn wir es in demselben Zeitraum schaffen würden,
die Zahl der Beschäftigten von 14,7 Prozent auf 50 Prozent zu bringen, dann hätten wir schon viel erreicht. Ich
sage an dieser Stelle deswegen auch: Wir müssen dafür
sorgen, dass von den Unternehmen - viele haben es
schon verstanden; einige aber leider noch nicht - die Arbeit von Älteren wertgeschätzt wird. In der Vergangenheit war es oft genug so, dass Ältere ganz schnell zum
alten Eisen zählten. Sie behinderten die Effizienz und
den Erfolg im Wettbewerb. Das ist Schnee von gestern.
Wir brauchen die Erfahrung der älteren Arbeitnehmer,
der älteren Fachkräfte in unserem Land.
({9})
Das sehen wir ja auch hier im Bundestag. Hier im Hohen Haus ist niemand seit 45 Jahren dabei.
({10})
- Moment, Kollege Schäuble immerhin fast. Für das,
was er in seinen 42 Jahren hier geleistet hat, hat er auf
jeden Fall meine Anerkennung. Allerdings hat er nicht in
die Rentenversicherung einbezahlt.
({11})
Ich will damit nur sagen: Wir wollen ausdrücklich,
dass gerade die Erfahrung der Älteren in unserer Gesellschaft ihren Platz hat. Ich habe auch kein Problem, darüber zu reden, wie wir den Übergang vom Erwerbsleben in die Rente zwischen 60 und 67 Jahren oder auch
danach besser und flexibler gestalten können, als wir das
jetzt tun. Dazu gibt es kluge Vorschläge. Die finde ich
gut.
({12})
Ich sage Ihnen aber auch: Ich kann mir da vieles vorstellen, solange ich dafür die finanziellen Möglichkeiten
zur Verfügung gestellt bekomme.
({13})
In dem Rentenpaket, das jetzt vorliegt, geht es auch
um eine bessere finanzielle Ausstattung der Reha. Für
geburtenstarke Jahrgänge muss genug Geld da sein, damit die Forderung „Reha vor Rente“ auch eingelöst werden kann. Es geht nämlich um den Wiedereinstieg ins
Berufsleben und nicht um das Abschieben aufs Altenteil.
Das ist der Kern der Vorschläge zum Rehabudget. Wo es
am Ende aber nicht mehr geht, wo wir das nicht mehr
schaffen, wo die Menschen krank sind, werden wir solidarisch einstehen. Wer gesundheitlich nicht mehr in der
Lage ist, zu arbeiten, der wird künftig bei verminderter
Erwerbsfähigkeit besser abgesichert werden. Auch das
ist beides im Rentenpaket enthalten.
Das Rentenpaket umsetzen heißt Wort halten. Es ist
eine wichtige Weichenstellung für die Zukunft. Es zeigt,
dass diese Koalition sich vorgenommen hat, gute Arbeit,
gute Renten und ein gutes Leben für die Menschen in
unserem Land zu realisieren.
Vielen Dank.
({14})
Das Wort erhält nun der Kollege Matthias Birkwald
für die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Nahles, Sie haben Ihr Rentenpaket vorgelegt,
und ich sage: Ja, aber. In den vergangenen Jahrzehnten
haben wir immer nur über Rentenkürzungen diskutiert.
Jetzt diskutieren wir endlich einmal über bessere Leistungen für Rentnerinnen und Rentner. Das findet die
Linke gut.
({0})
Mit Ihrem Rentenpaket gehen Sie mehrere Schritte in
die richtige Richtung, aber
({1})
in Ihrem Rentenpaket finden sich - jetzt bitte gut aufpassen - zwei Gerechtigkeitslücken, ein großer Konstruktionsfehler, ein Tropfen auf den heißen Stein, eine Mogelpackung, eine zaghafte Verbesserung und eine offene
Großbaustelle. Das, meine Damen und Herren, findet die
Linke schlecht.
({2})
Meine Überschrift für Ihr Rentenpaket lautet: Manches
wird besser, aber nichts wird gut.
Gehen wir die Punkte mal im Einzelnen durch:
Die sogenannte Mütterrente. Die Absicht ist gut:
mehr Gerechtigkeit bei der Anerkennung von Kindererziehungszeiten. Aber die Umsetzung ist schlecht.
({3})
Für Kinder, die vor 1992 geboren wurden, Herr Kauder,
soll es ab dem 1. Juli insgesamt gut 57 Euro Mütterrente
im Westen und knapp 53 Euro im Osten geben. Das ist
die erste Gerechtigkeitslücke; das ist ungerecht und das
ist falsch.
({4})
Ein Vierteljahrhundert nach dem Mauerfall sind im Osten geborene Kinder auf dem Rentenkonto ihrer Eltern
immer noch weniger wert als im Westen geborene Kinder. Das ist beschämend.
({5})
Für Kinder, die nach 1992 geboren wurden, wird es
ab Juli im Westen 85 Euro und im Osten 79 Euro auf
dem Rentenkonto von Mutter oder Vater geben. Das ist
die zweite Gerechtigkeitslücke. Ich frage Sie, Frau
Nahles: Was soll das? - Sie sagen, Sie schlössen die Gerechtigkeitslücke bei den Kindererziehungszeiten, doch
das stimmt nur zur Hälfte. Jedes Kind muss der Gesellschaft gleich viel wert sein, und zwar völlig egal, ob es
in Leipzig geboren wurde oder in Köln, ob es 1960 geboren wurde oder 2010. Deswegen sagt die Linke: Wir
wollen für jedes Kind rund 86 Euro auf dem Rentenkonto von Mutter oder Vater haben.
({6})
Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, Sie wollen die Mütterrente ernsthaft aus Beiträgen
der Versicherten finanzieren. Das bedeutet ganz schlicht:
Die Altenpflegerin zahlt für die Mütterrente der Ärztin.
Das ist der große Konstruktionsfehler in Ihrem Rentenpaket, und zwar aus zwei Gründen: Kindererziehung ist
und bleibt eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Reiche,
Beamtinnen und Beamte, Rechtsanwälte, Steuerberaterinnen, Architektinnen und Politikerinnen und Politiker
müssen sich an ihrer Finanzierung beteiligen. Deshalb
muss diese Mütterrente unbedingt aus Steuermitteln finanziert werden.
({7})
Alles andere ist verfassungswidrig. Der zweite Grund:
Dieses Geld fehlt dann bei der echten Armutsbekämpfung. Das ist das zweite Problem bei der Finanzierung
der Mütterrente.
Das wird bei den Erwerbsminderungsrenten deutlich.
Auch hier, Frau Nahles, ist Ihre Absicht gut: Wer krank
ist, darf nicht mit Almosen abgespeist werden. - Aber
auch hier ist Ihre Umsetzung schlecht. Ihr Vorschlag
bringt Kranken, die nicht mehr arbeiten können, gerade
mal 36 Euro netto. Das ist besser als nichts, aber es ist
nur ein Tropfen auf den heißen Stein.
({8})
Niemand wird freiwillig krank, und darum sage ich: Die
Abschläge bei der Erwerbsminderungsrente müssen gestrichen werden, und zwar komplett. Das brächte im
Schnitt 77 Euro im Monat. Wir Linken sagen: Die Zurechnungszeit muss um drei statt um zwei Jahre verlängert werden. Insgesamt brächte das 130 Euro mehr. Ich
sage: So holt man kranke Menschen aus der Grundsicherung heraus, meine Damen und Herren.
({9})
Noch besser wäre es übrigens, wenn die Beschäftigten gar nicht erst dauerhaft krank werden würden. Dazu
brauchen wir - Sie haben ja die Reha erwähnt - gute Rehamaßnahmen. Die kosten Geld, und die Babyboomer
kommen so langsam ins Rehaalter; das haben Sie erkannt. Darum wollen Sie mehr Geld für Rehamaßnahmen ausgeben. Das ist gut. Aber warum um Himmels
willen, Frau Nahles, wollen Sie das Rehabudget ab 2017
wieder zurückfahren? Die Deutsche Rheuma-Liga „bezweifelt …, ob die geplanten Maßnahmen ausreichen,
um den wachsenden Bedarf an Rehabilitationsmaßnahmen zukunftssicher zu gestalten“. Das ist richtig. - Ihr
Vorschlag bringt nur eine zaghafte Verbesserung. Ich
sage: Alle kranken Männer und Frauen, die eine Rehamaßnahme brauchen, sollen sie auch bekommen, und
deshalb muss der Rehadeckel weg.
({10})
Kommen wir zur Rente ab 63/65. Liebe Arbeitgeber,
hören Sie jetzt bitte mal gut zu. Es geht nicht um Privilegien; es geht um Menschen, die früh ins Berufsleben
eingestiegen sind und ein Leben lang gearbeitet haben.
Bisher werden diese Kolleginnen und Kollegen durch
Abschläge bestraft. Nach 45 Beitragsjahren vorzeitig abschlagsfrei in Rente zu gehen, ist gerecht. Wer früh anfängt, muss auch früh aufhören können.
({11})
So weit, so gut, Herr Oppermann, aber das Ganze ist
eine Mogelpackung; denn von der Regelung sind nur
sehr wenige Jahrgänge betroffen. Nur wer zwischen dem
1. Juli 1951 und Silvester 1952 geboren wurde und die
45 Beitragsjahre zusammenbekommt, nur für den oder
die gilt die Rente ab 63. Danach wächst sie in Zweimonatsschritten wieder auf zur Rente ab 65. Das ist eine
Mogelpackung!
({12})
Ein weiterer Kritikpunkt ist: Sie wollen ernsthaft
Langzeiterwerbslose von der Rente ab 63 ausschließen.
Ich frage Sie jetzt einfach einmal - Frau Nahles, Ihr Vater ist Maurer, wie ich weiß -: Was ist denn der Unterschied zwischen einem Maurer, der einmal vier Jahre arbeitslos gewesen ist und einem Maurer, der viermal ein
Jahr arbeitslos gewesen ist? Aus meiner Sicht haben
beide dieselbe Lebensleistung erbracht, und deswegen
müssen sie gleich behandelt werden. Die Linke fordert:
Alle Zeiten der Arbeitslosigkeit müssen bei der Rente ab
63 mit berücksichtigt werden.
({13})
Die Rente ab 63 ist übrigens auch deswegen eine
große Mogelpackung, weil in Wirklichkeit für fast alle
Menschen gilt, dass sie in Zukunft bis 66 oder 67 arbeiten müssen; wenn sie es denn können. Bei der großen
Mehrheit wird das nicht der Fall sein. Sie wird weiterhin
mit Abschlägen bestraft. An dieser Situation ändern Sie
nichts. Das ist schlecht. Die Linke will deshalb die Rente
erst ab 67 abschaffen, und zwar ohne Wenn und Aber.
Das ist notwendig.
({14})
Ich fasse Ihr Rentenpaket zusammen: Viermal gut gemeint, aber viermal schlecht gemacht.
({15})
Frau Nahles, Sie bauen in einem sanierungsbedürftigen
Haus hier ein neues Waschbecken ein und da einen
neuen Treppenabsatz an, aber Sie wagen sich nicht an
das große Loch im Fundament. Das ist das Problem.
({16})
Die Kürzungsfaktoren in der Rentenanpassungsformel
tasten Sie überhaupt nicht an. Das ist Ihre offene Großbaustelle.
({17})
Deshalb wird das Rentenniveau weiter fallen - das steht
in Ihrem Gesetzentwurf drin -: auf 43,7 Prozent im Jahr
2030. Das bedeutet: Von einer Rente von ehemals
1 000 Euro werden dann nur noch 810 Euro übrig bleiben. So wird aus Ihrem Rentenpaket ein Rentenpäckchen. Diese Abwärtsspirale muss gestoppt werden.
({18})
Wir müssen die gesetzliche Rentenversicherung stärken, damit die Jungen, die heute in die Rentenkasse einzahlen, später eine Rente erhalten, die zum Leben reicht.
Die Linke fordert echte Maßnahmen gegen Altersarmut.
Außerdem wollen wir das Rentenniveau wieder auf
53 Prozent anheben; das war das Niveau im Jahr 2001,
bevor Schröder und Riester die Rente ruiniert haben.
Das Rentenniveau muss steigen, und zwar dauerhaft.
Das wäre generationengerecht; denn das nutzt den Jungen und den Alten.
Herzlichen Dank.
({19})
Karl Schiewerling ist der nächste Redner für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung bringt
heute den Entwurf eines Gesetzes über Leistungsverbesserungen in der gesetzlichen Rentenversicherung in die
parlamentarische Beratung ein. Ich zolle der Bundesarbeitsministerin, dem Bundesarbeitsministerium und der
zuständigen Abteilung Respekt für die Zügigkeit, mit
der sie diese Gesetzesinitiative angepackt haben.
({0})
Es geht in der Tat darum, die Situation vieler Menschen zu verbessern. Für die Union war es im Wahlkampf und auch schon lange davor ein zentrales Anliegen, die Situation der Frauen zu verbessern, die Kinder
erzogen haben, aber keine Möglichkeit hatten, Arbeitswelt und Familie miteinander zu vereinen, weil es keine
Betreuung über Mittag und keine Kindertagesstätten
gab. Ihnen gebührt unser Respekt. Durch die Mütterrente
erkennen wir die Erziehungsleistungen dieser Frauen an.
({1})
Ich will an dieser Stelle mit dem Märchen aufräumen,
dass die Mütterrente ausschließlich aus Beiträgen finanziert wird. Hören Sie mit dem Unfug auf!
({2})
Die Deutsche Rentenversicherung zahlt im Jahr 255 Milliarden Euro aus. Diese Summe wird zu einem Drittel
von den Arbeitnehmern finanziert, zu einem Drittel von
den Arbeitgebern, und ein Drittel ist Bundeszuschuss.
Der Bundeszuschuss beträgt etwa 82 Milliarden Euro. In
diesen 82 Milliarden Euro befinden sich 12,6 Milliarden
Euro für die Kindererziehungszeiten. Von diesen 12,6 Milliarden Euro geben wir heute etwa 5,9 Milliarden Euro
für die Kindererziehungszeiten aus. Die Rücklage von
etwa 32 Milliarden Euro setzt sich zusammen aus einem
Drittel Beitrag der Versicherten, einem Drittel Beitrag
der Arbeitgeber und einem Drittel Steuern.
({3})
Das entspricht jeweils über 10 Milliarden Euro.
Wir senken den Rentenversicherungsbeitrag nicht. Er
bleibt bei 18,9 Prozent. Das hat zur Konsequenz, dass
auch der Staat seinen Zuschuss an der Rentenversicherung nicht reduziert und auf diesem Weg auch seinen
Beitrag zur Mütterrente zahlt. Deswegen ist diese Regelung verantwortungsvoll.
({4})
In der Tat geht es um Zukunftsgerechtigkeit, um Gerechtigkeit gegenüber den zukünftigen Generationen.
Wir haben doch nie einen Hehl daraus gemacht, dass
diese Mütterrente von denjenigen finanziert werden
muss, die jetzt Steuern und Beiträge zahlen. Wir tun das,
weil diejenigen, die Kinder erzogen haben, erst dafür gesorgt haben, dass es unserem Land heute gut geht. Deswegen unternehmen wir diesen Schritt. Das ist ein Beitrag zur sozialen Gerechtigkeit in unserem Land.
({5})
Für die Union ist es zentral, dass wir mit Mut und Augenmaß unter Leitung von Angela Merkel an den unter
Federführung von Franz Müntefering getroffenen Beschlüssen zur Rente mit 67 festhalten, und zwar einschließlich der abschlagsfreien Rente für diejenigen, die
lange gearbeitet haben. Nach 45 Beitragsjahren soll man
im Alter von 65 Jahren in Rente gehen können.
({6})
Die Begründungen für diese Rentenreform, die wir 2007
durchgeführt haben, haben sich nicht geändert. Die Menschen werden immer älter. Sie leben immer länger, übrigens leben sie auch immer länger gesünder. Die Menschen liegen nicht mit 65 Jahren schlagartig darnieder.
({7})
Es ist eine Tatsache, dass immer weniger Menschen geboren werden. Die Grundlagen der Rentenversicherung
- das ist eine demografische Frage - haben sich nicht geändert.
Nun haben wir in der Koalition vereinbart, dass wir
von diesem Gesetz, das wir 2007 verabschiedet haben,
vorübergehend abweichen und denjenigen, die besonders
lange gearbeitet haben, die Möglichkeit geben wollen,
mit 63 Jahren vorzeitig abschlagsfrei in Rente zu gehen.
Ich glaube, dass die Begründungen, die die Bundesarbeitsministerin in ihrem Begleitschreiben zu diesem
Gesetzentwurf geliefert hat, Argumente beinhalten, die
nicht von der Hand zu weisen sind. Es geht - so steht es
in der Begründung - insbesondere um die Menschen, die
während der deutschen Wiedervereinigung besondere
Nachteile und Schwierigkeiten in Kauf nehmen mussten,
die oft unverschuldet arbeitslos wurden, und es geht um
die Umbruchsituation in industriellen Kernzonen, zum
Beispiel im Ruhrgebiet. Denjenigen, die davon besonders betroffen sind, soll nun in besonderer Weise geholfen werden.
Wir legen großen Wert darauf, dass wir, wenn wir diesen Schritt jetzt gehen, bis 2029, wenn die Rente mit 67
erstmals voll greift, auch die Rente mit 65 nach 45 Beitragsjahren wieder erreicht haben und wir sie so erreicht
haben, wie es ursprünglich gedacht war.
({8})
Die Bundesarbeitsministerin hat zu Recht darauf hingewiesen, dass es im parlamentarischen Beratungsverfahren noch Veränderungen geben wird. Hier gilt das
Stuck’sche Gesetz: Kein Gesetzentwurf verlässt den
Bundestag so, wie er eingebracht wurde. Wir werden das
in guter, fairer und vernünftiger Art miteinander diskutieren und bis zur endgültigen Abstimmung klären.
Damit die Menschen bis 67 arbeiten können, damit
die Menschen auch dann, wenn sie gesundheitliche
Schwierigkeiten haben, die Möglichkeit haben, ihrem
Erwerb nachzugehen und für ihre Altersvorsorge selbst
zu sorgen, wollen wir die finanziellen Möglichkeiten der
Rehabilitation, der medizinischen wie der beruflichen,
verbessern. Der Rehadeckel ist notwendig; denn es muss
hier auch Grenzen geben. Ich kann Ihnen einige Fälle
nennen, die zeigen, dass zum Teil Rehabilitationen gemacht werden, die in dieser Dimension nicht nötig gewesen wären. Deswegen brauchen wir den Deckel. Aber
es muss ein atmender, ein flexibler Deckel sein, der dann
ansteigt, wenn viele Menschen davon betroffen sind, und
wieder sinkt, wenn weniger Menschen in der entsprechenden Alterskohorte sind. Das halten wir für den richtigen Weg.
({9})
Deswegen ist der Weg, den wir im Gesetzgebungsverfahren beschreiten, richtig.
({10})
Wir haben auch die besondere Situation der Menschen im Blick, die krank geworden sind, ohne dass sie
etwas dafür können, und eine Erwerbsminderungsrente
beziehen. Ja, wir als Union und übrigens auch unser Koalitionspartner, die SPD, hätten wirklich gerne noch
mehr im Bereich der Erwerbsminderungsrente gemacht.
Aber wir haben auch andere Ziele im Blick zu behalten,
nämlich die Ziele, die der Bundesfinanzminister hat. Es
geht dabei darum, die Steuern nicht zu erhöhen und die
Staatsausgaben in den Griff zu bekommen, damit wir
über diesen Weg eine nachhaltige Grundlage für unser
Land schaffen.
({11})
Diese Ziele setzen uns gewisse Grenzen.
({12})
Auch wir wollen in der Tat flexiblere Übergänge in
die Rente. Norbert Blüm hat jüngst in einem Interview
dargelegt, dass die Zeit des Gleichmarsches im Industriezeitalter längst vorbei ist. In unserer Gesellschaft gibt
es unterschiedliche Lebenssituationen. Es gibt Menschen, die weit länger als bis 67 arbeiten können und das
auch gerne möchten. Dann gibt es Menschen, die etwas
früher in Rente gehen möchten, und es gibt Menschen,
die vor dem Erreichen des Renteneintrittsalters gerne etwas kürzertreten möchten. Wir müssen uns der Verbesserung dieser flexiblen Übergänge annehmen. Die Möglichkeiten, die es heute schon gibt, wollen wir nutzen
und gegebenenfalls etwas gängiger machen. Wir werden
auch Vorschläge machen, wie wir diese Übergänge für
spätere Zeiten gestalten können.
Herr Kollege.
Ich sehe einen zentralen Punkt bei der Rentenreform,
über die wir jetzt diskutieren, der auch für die Zukunft
wichtig sein wird.
Herr Kollege, darf ich Sie darauf aufmerksam machen, dass es für die Diskussion weiterer interessanter
Gesichtspunkte die erforderliche Zeit nicht mehr gibt?
({0})
Ja. Ich nenne auch keinen weiteren Gesichtspunkt
mehr, sondern mache nur noch eine abschließende Bemerkung, Herr Präsident. - Für uns ist zentral, dass die
Rentenversicherung das bleibt, was sie ist: eine Rentenversicherung und keine Sozialleistung. Die Rente ist
keine Fürsorgeleistung des Staates, sondern selbst erarbeitet. Wir müssen bei allem, was wir tun, darauf achten,
dass die Menschen wissen, dass sie das, was sie im Alter
bekommen, selbst verdient haben. Rente hat etwas damit
zu tun, dass man stolz auf seine Lebensleistung sein
kann. Wir wollen die Rahmenbedingungen so setzen,
dass diese Systeme nicht vermischt werden und dass die
Menschen stolz sein können auf das, was sie geleistet
haben. Der Staat wird dies honorieren.
Herzlichen Dank.
({0})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen erhält nun
Katrin Göring-Eckardt das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Schiewerling, Sie haben es gerade noch einmal sehr
deutlich gesagt: Bei der Rente geht es um Leistung. Frau
Nahles hat gesagt, dass es um die Anerkennung von Lebensleistung geht. Wenn man sich Ihr Paket anschaut
und es ausgepackt hat, dann sieht man, dass es in ganz
vielen Punkten eine Mogelpackung ist; denn es geht
nicht um die Lebensleistung aller, sondern nur um die
Lebensleistung mancher. Das kritisieren wir. Wir sagen
Ihnen: Schauen Sie bitte genauer hin, wenn es gerecht
zugehen soll. Schauen Sie sich bitte an, wie die Situation
derer ist, die im Alter in Armut leben. Diese Menschen
haben Sie bei Ihrem Rentenpaket vergessen.
({0})
Was ist mit den Frauen, insbesondere im Westen der
Republik, die gar keine Chance hatten, tatsächlich so
lange zu arbeiten, weil sie keine Kinderbetreuung hatten,
und die dann trotz guter Ausbildung nur Teilzeitjobs
oder niedrig bezahlte Jobs hatten? Diese Frauen vergessen Sie bei Ihrem Rentenpaket. Das ist ungerecht.
({1})
Was ist mit denen, deren Rentenniveau so weit sinkt,
dass von Fairness, von Anerkennung in der Rente überhaupt nicht mehr die Rede sein kann?
({2})
Nein, meine Damen und Herren, der eigentliche Reformbedarf in der Rentenversicherung ist riesig. Aber
Sie legen ein Paket vor, das gerade nicht reformiert. Sie
machen das Gegenteil. Ich sage Ihnen: Sie bauen vor allen Dingen das Vertrauen ab, das es in dieses System
einmal gegeben hat; man muss sich nur einmal anschauen, was man als junger Mensch überhaupt noch
von der Rentenversicherung erwarten kann. Das sage ich
Ihnen, obwohl ich es gut und richtig finde und obwohl
auch ich den Älteren gönne, was sie jetzt bekommen.
Aber fragen Sie einmal die 20-Jährigen, was die für
sich selbst von der Rentenversicherung erwarten.
({3})
Die erwarten nicht mehr, dass das eine Umlage ist. Die
erwarten noch nicht einmal mehr, dass es ein Nullsummenspiel ist. Das sind Leute, bei denen wir davon ausgehen, dass sie in einer nicht einfachen Situation hart arbeiten werden, viele von ihnen wahrscheinlich 45 Jahre
oder nach Ihren Vorstellungen sogar länger. Ich finde,
wenn man über Gerechtigkeit redet, dann muss es um
Gerechtigkeit für alle gehen, die hart gearbeitet haben,
und um Gerechtigkeit für alle, die gar keine Chance hatten, die Vorgaben zu erreichen, die Sie hier vorlegen.
({4})
Das Rentenniveau sinkt, die Altersarmut steigt, und
die Verbesserung bei den Erwerbsminderungsrenten
macht in Ihrem Paket noch nicht einmal 10 Prozent aus.
Ich will Ihnen sagen, wie die Situation heute ist: Wer
heute arbeitsunfähig ist, der kriegt im Durchschnitt
600 Euro im Monat. 600 Euro! Das liegt unterhalb des
Existenzminimums. Wer so wenig Geld hat, der muss im
Alter zum Sozialamt gehen. Wer ist überhaupt von Erwerbsminderung betroffen? Das sind nicht Leute, die
faul auf der Haut gelegen haben. Das sind nicht Leute,
die in der Hängematte gelegen haben. Das sind Leute,
die hart gearbeitet haben, und zwar so hart, dass sie
krank geworden sind. Profitieren werden überhaupt nur
die, die nach dem 1. Juli dieses Jahres in Rente gehen.
Die kriegen dann am Ende 40 Euro mehr im Monat, also
600 Euro plus 40 Euro.
({5})
Dann haben die aber immer noch keine auskömmliche
Rente, meine Damen und Herren. Da sage ich Ihnen klar
und deutlich: Das hat mit Gerechtigkeit, so wie wir sie
verstehen, nichts zu tun.
({6})
Ich verstehe nicht, warum Ihr Gerechtigkeitsempfinden
gerade bei denen aufhört, die besonders auf die Unterstützung der Gemeinschaft angewiesen wären.
Herr Schiewerling, ich finde, Ihre Einlassungen zu
den Rehaleistungen haben gezeigt, mit welchem Zynismus Sie da herangehen.
({7})
- Nein.
({8})
- Herr Schiewerling, wenn Sie sich hier hinstellen und
sagen: „Es gibt Leute, die Rehaleistungen in Anspruch
nehmen, die sie eigentlich nicht brauchen“
({9})
- das haben Sie hier gesagt -, dann sage ich Ihnen ganz
klar und deutlich: Das ist nicht meine und nicht unsere
Haltung gegenüber denen, die vom Arbeiten krank geworden sind und Unterstützung brauchen. Das Rehapaket ist schon klein genug, und die Leistungen nehmen
diejenigen in Anspruch, die sie tatsächlich brauchen.
({10})
Nun zur Lebensleistung derer, die so lange gearbeitet
haben; Beispiele sind genannt worden. All diese Menschen gehören einer bestimmten Generation an. Jetzt
kann man sagen: Ja, denen gönnen wir das. - Das ist
klar. Diejenigen, die zwischen 1951 und 1964 geboren
sind, haben die Chance auf eine Verbesserung. Eine
wirkliche Verbesserung gibt es aber nur für eine ganz
kleine Gruppe. Nicht erreichen werden Sie die Jüngeren.
Nicht erreichen werden Sie viele Frauen, die wenig verdient haben. Nicht erreichen werden Sie die Ostdeutschen. Die haben bei Ihnen keine Chance.
Man hat schon den Eindruck, Gerechtigkeit gibt es
bei Ihnen nur für diejenigen, die Sie gut kennen,
({11})
nämlich für diejenigen, mit denen Sie auf der Schulbank
saßen, so nach dem Motto: Man kennt sich, und man
hilft sich.
({12})
Die anderen, also diejenigen, die heute alt sind und in
Armut leben, und diejenigen, die jung sind und nach Ihren Vorstellungen selbstverständlich länger arbeiten
müssen, haben Sie vergessen.
({13})
Auch das, meine Damen und Herren, ist nicht gerecht.
Deswegen sage ich klar und deutlich: Die Gerechtigkeit
hört in Ihrem Rentenpaket da auf, wo Sie nicht hingucken können. Sie vergessen die, die wirklich Unterstützung brauchen.
({14})
Natürlich werden wir eine Diskussion über Fachkräfte führen. Wir werden eine Diskussion über Frühverrentung haben. Ich verstehe nicht, wieso Sie Ihre Energie
nicht da hineinstecken, von den Unternehmen zu verlangen, dass es eine echte Kultur der Altersarbeit gibt, von
der dann am Ende alle profitieren, dass es tatsächlich flexible Übergänge gibt. Ich verstehe gar nicht, wieso Sie
die Gewerkschaften nicht in die Pflicht nehmen, für Arbeitsbedingungen zu sorgen, bei denen solche flexiblen
Übergänge möglich sind, und für Arbeitsbedingungen zu
sorgen, bei denen auch Ältere in Unternehmen noch anständig arbeiten können. Das ist die Aufgabe: die Gewerkschaften und die Unternehmen in die Pflicht zu nehmen, politisch zu sagen: „Daran arbeiten wir“, und nicht
einfach zu sagen: „Das ignorieren wir ab heute.“ - Denn
die Leute gibt es. Es gibt die Leute, die lange arbeiten
müssen und die es sich gar nicht leisten können, auch
nach Ihrem Paket nicht, mit 63 in Rente zu gehen, weil
nämlich ihre Rente so verdammt niedrig ist, dass sie davon am Ende nicht leben können. Meine Damen und
Herren, ich sage Ihnen noch einmal: Gerecht geht anders.
({15})
Deswegen bitte ich Sie herzlich: Denken Sie doch
wenigstens nach über die heutigen Kleinrentner, deren
Rentenniveau Sie senken! Denken Sie darüber nach, was
mit der Rentnerin ist, die in der zweiten Hälfte des Monats an dem Ausflug nicht teilnehmen kann, weil sie sich
Kaffee und Kuchen schlicht und ergreifend nicht leisten
kann!
({16})
- Schön, dass Sie darüber lachen.
({17})
Ich finde, ehrlich gesagt, dass diese Frau, die in Altersarmut lebt, Ihnen ein Anliegen sein muss.
({18})
Denken Sie im Übrigen auch darüber nach, was Sie mit
dem Bundeshaushalt und mit der Rentenversicherungskasse machen! Sie wissen schon, dass es ab 2017/18
nicht mehr reichen wird. Das, was Sie machen, hat mit
Zukunftsverantwortung nichts zu tun. Deswegen sage
ich Ihnen: Ihr Paket ist nicht gerecht, und es ist zukunftsvergessen.
Vielen Dank.
({19})
Zu einer direkten Erwiderung nach § 30 unserer Geschäftsordnung erhält der Kollege Schiewerling das
Wort.
Frau Kollegin Göring-Eckardt, ich möchte Ihnen danken, dass Sie auf meinen Beitrag zur Rehabilitation eingegangen sind, weil mir das die Gelegenheit gibt, Missverständnisse, sollte es sie gegeben haben, an dieser
Stelle auszuräumen. Ich sage das auch als jemand, der
nun seit mehr als 30 Jahren in der Selbstverwaltung der
Deutschen Rentenversicherung tätig ist und auch Verantwortung für die Rehabilitation trägt.
Im Mittelpunkt meines Hinweises standen die vielfältigen Anfragen von Rehabilitationsträgern, das Rehabudget unbegrenzt zu erhöhen. Wenn man jedoch Rehabilitationsträgern keine finanziellen Grenzen setzt, dann
ist die Gefahr groß, dass das Rehabudget ausufert. Es
geht also nicht darum, ob diejenigen, die eine Rehabilitation brauchen, eine Rehabilitation auch bekommen - das
ist völlig unstrittig; deswegen wollen wir die Möglichkeiten auch erweitern -, sondern es geht grundsätzlich
darum, den Rehadeckel beizubehalten, weil wir sonst die
Kosten nicht mehr in den Griff bekommen.
Das ist meine Intention gewesen. Meine Aussage betraf überhaupt nicht die Menschen, die eine Reha dringend benötigen; im Gegenteil: Ich würde mir sehr wünschen, dass, wenn wir die Rehabilitationsmöglichkeiten
jetzt erweitern, möglichst viele, die eine Reha brauchen,
diese auch in Anspruch nehmen, damit sie wieder fit
werden für die Arbeitswelt. Das war meine Intention.
Mir lag daran, das an dieser Stelle klarzustellen. Auf alle
anderen Aussagen in Ihrer Rede will ich nicht eingehen;
ich denke, die Kolleginnen und Kollegen, die nach mir
reden, werden das tun.
({0})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Carola Reimann
für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Selten habe ich zu
einem geplanten Gesetz so viele Briefe, E-Mails und
Anrufe von Bürgerinnen und Bürgern erhalten wie in
den letzten Wochen zum Rentenpaket. Die persönlichen
Anfragen und Reaktionen bestätigen das, was uns die
Umfragen der letzten Wochen auch sagen: Die Menschen wollen das Rentenpaket, und sie wollen, dass es
jetzt möglichst zügig umgesetzt wird.
({0})
Deshalb ist klar: Unsere Aufgabe ist es, dafür zu sorgen,
dass das gesamte Paket wie angekündigt ab dem 1. Juli
bei den Leuten ankommt - nicht mehr und nicht weniger.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir verfolgen mit
dem Rentenpaket ein klares Ziel: Wir wollen Gerechtigkeitslücken schließen und die Lebensleistung unserer
Rentnerinnen und Rentner besser honorieren. Niemand
wird die Lebensleistung von Menschen anzweifeln, die
45 Jahre gearbeitet haben und die 45 Jahre mit ihren Beiträgen die gesetzliche Rentenversicherung stabil gehalten haben. Wir wollen nicht, dass sie nach Jahrzehnten
harter Arbeit auch noch mit Abschlägen bestraft werden.
Wir wollen ihre Lebensleistung honorieren und nicht bestrafen, auch wenn gesellschaftliche Umbrüche stattgefunden haben.
Deshalb, Kolleginnen und Kollegen, wollen wir uns
ganz genau an den Koalitionsvertrag halten. Ich will daraus noch einmal zitieren. Auf Seite 51 steht:
Langjährig Versicherte, die durch 45 Beitragsjahre
- Folgendes steht dort explizit ({1}) ihren
Beitrag zur Stabilisierung der Rentenversicherung
erbracht haben, können ab dem 1. Juli 2014 mit
dem vollendeten 63. Lebensjahr abschlagsfrei in
Rente gehen.
({2})
Kolleginnen und Kollegen, Lebensleistungen anerkennen, das gilt auch für die Erziehungsleistungen von
Müttern von vor 1992 geborenen Kindern. Auch diese
werden wir besser anerkennen. Außerdem werden wir
etwas für Menschen tun, die aus gesundheitlichen Gründen - das ist hier schon angeklungen - früher auf Leistungen aus der Rentenversicherung angewiesen sind.
Zum einen sorgt das Rentenpaket für Verbesserungen bei
der Erwerbsminderungsrente, zum anderen wollen wir
die Rehabilitation stärken.
Es ist wichtig, dass wir in der Rentenversicherung den
Fokus künftig stärker auf Gesundheit richten. Gerade
vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung
ist absehbar, dass die Notwendigkeit von Rehabilitationsmaßnahmen insgesamt wächst. Wir wollen, dass
alle möglichst lange gesund und aktiv am Berufsleben
teilnehmen können und auch nach einer Krankheit in die
Arbeit zurückkehren können. Unser Motto ist da „Reha
vor Rente“, gerade weil wir wissen, dass in Zukunft jeder Mann und jede Frau auf dem Arbeitsmarkt gebraucht
wird.
({3})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, uns geht es
also um die Anerkennung von Lebensleistungen, um
Unterstützung im Krankheitsfall und um Unterstützung
bei der Rückkehr auf den Arbeitsmarkt. Wer dies abfällig als „Wahlgeschenke“ abtut, hat offensichtlich keine
Ahnung, wie notwendig und wie wichtig die einzelnen
Maßnahmen des Rentenpakets für viele sind. Wir spielen
hier nicht das verspätete Christkind, sondern wir sorgen
dafür, dass die Rente besser und gerechter wird.
({4})
Natürlich gibt es das alles nicht zum Nulltarif. Aber
wir sind in der Lage, die notwendigen Verbesserungen
zu finanzieren, weil wir dank unserer wirtschaftlichen
Stärke finanziell gut aufgestellt sind. Diese wirtschaftliche Stärke ist im Übrigen nicht vom Himmel gefallen;
vielmehr ist sie ein Ergebnis weitreichender Reformen,
die wir Sozialdemokraten in schwierigen Zeiten durchgesetzt haben - auch bei der Rente.
({5})
Das war nicht populär, und das war für keinen von uns
leicht; aber es war notwendig und an der Zeit. Genauso
ist es jetzt notwendig und an der Zeit, dass wir Gerechtigkeitslücken in der Rente schließen.
Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, wir
brauchen hier keine Belehrungen. Wir haben bei unserer
Rentenpolitik der letzten Jahre immer beides im Blick
gehabt: die mit der demografischen Entwicklung verbundenen Herausforderungen der Zukunft genauso wie
die Lebensleistungen und die Interessen der älteren Generation.
({6})
Für uns ist das kein Widerspruch; für uns gehört das zusammen.
({7})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir starten
nun mit den parlamentarischen Beratungen zum Rentenpaket. Es ist ein Paket, das wir als Große Koalition bereits in den Koalitionsverhandlungen vereinbart haben
und das nach hervorragender Arbeit der Ministerin
Nahles und ihres Ministeriums nun in Gesetzesform hier
im Bundestag angekommen ist. Der Generalsekretär der
CDU, der Kollege Tauber - ich glaube, er ist gerade
nicht da -, hat kürzlich gesagt, er werde die Einführung
der Mütterrente liebevoll begleiten. Das freut mich. Wir
werden das selbstverständlich mit genauso viel Hingabe
tun: bei der Mütterrente, bei der Rente mit 63, bei der
Verbesserung der Erwerbsminderungsrente und auch bei
der Stärkung der Reha. Ich bin zuversichtlich, dass wir
so gemeinsam das große Rentenpaket zügig auf den Weg
bringen werden, damit es rechtzeitig ab dem 1. Juli 2014
den Menschen zugutekommt.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Sabine Zimmermann erhält nun das Wort für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wenn man die Debatte hier so verfolgt, dann
muss man einfach denken: Sie kennen die Realität in
diesem Land nicht, Sie wissen nicht, dass Millionen von
Menschen im Niedriglohnbereich arbeiten, teilweise mit
4,50 Euro die Stunde nach Hause gehen, Sie wissen
nicht, dass viele Menschen die Grundsicherung im Alter
brauchen, weil sie in den ganzen Jahren so niedrige
Löhne hatten. Ich denke, dass Sie die Realität gar nicht
kennen.
Sie sprechen hier vollmundig über die Anerkennung
der Lebensleistung und das Schließen von Gerechtigkeitslücken. Ich sage Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Mein Kollege Matthias W. Birkwald hat recht,
wenn er sagt: Bei den von Ihnen angekündigten Maßnahmen handelt es sich nicht um ein Rentenpaket, es
handelt sich allenfalls um ein Rentenpäckchen und noch
dazu um eine Mogelpackung.
({0})
„Rente muss zum Leben reichen“, das fordert auch
der Deutsche Gewerkschaftsbund zu Recht in seiner
Kampagne. Dank Ihrer Senkung des Rentenniveaus und
Ihrer Rente ab 67 werden aber immer mehr Menschen
sagen müssen: Meine Rente reicht nicht zum Leben. Hier ist Altersarmut vorprogrammiert. Und was tun Sie?
Sie tun nichts, meine Damen und Herren.
Sabine Zimmermann ({1})
Ihre Maßnahmen haben mit Gerechtigkeit definitiv
nichts zu tun. Schauen wir uns die sogenannte Mütterrente einmal an: Sie wollen die Erziehungszeiten für vor
1992 geborene Kinder richtigerweise besser anerkennen.
Statt ein Jahr lang soll künftig zwei Jahre lang der
Durchschnittsbeitrag in die Rentenversicherung fließen.
Bei den Eltern, deren Kinder nach 1992 geboren sind,
werden aber drei Jahre anerkannt. Ich frage Sie: Ist das
gerecht? Gibt es für diese Ungleichbehandlung irgendeinen sachlichen Grund? Ich höre keinen, und ich kann das
niemandem erklären, meine Damen und Herren.
({2})
Ihnen fehlen der Wille und der Mut, das für eine gerechte Lösung nötige Geld durch eine andere Steuerpolitik aufzubringen. Sie lassen die Verkäuferin, die Krankenschwester, den Müllwerker und prekär beschäftigte
Menschen diese Mütterrente bezahlen, während der
praktizierende Arzt, die Rechtsanwältin oder wir alle als
Abgeordnete des Deutschen Bundestages fein raus sind
und dort keinen müden Euro beisteuern müssen. Das ist
ungerecht.
({3})
Was mich nicht nur als Frau aus dem Osten besonders
empört: Sie halten auch an der Ungleichbehandlung zwischen Ost und West fest. Ich frage Sie, meine Damen
und Herren - wir sind im 25. Jahr der deutschen Einheit -: Wie lange wollen Sie Ost und West noch unterschiedlich behandeln? Soll es noch in 100 Jahren so
sein? So kann es doch nicht weitergehen!
({4})
Erklären Sie der Frau in Dresden doch einmal, warum
ihre Erziehungsleistung weniger wert sein soll als die einer Frau oder eines Mannes in Hamburg? Ich bin mir sicher, auch das können Sie nicht erklären.
Noch eines zur Rente ab 63 für langjährig Versicherte: Für diese Reform brennen Sie hier ein Riesenfeuerwerk ab; dabei handelt es sich um nicht mehr als eine
eigentlich selbstverständliche Übergangsregelung, die
schon bei der Einführung der Rente ab 67 ins Gesetz gehört hätte. Gleichzeitig zeigt Ihr Umgang mit Zeiten der
Arbeitslosigkeit einmal mehr, dass es Ihnen um manches
gehen mag, aber definitiv nicht um Rentengerechtigkeit.
({5})
Sie wollen nur kurzfristige Zeiten der Arbeitslosigkeit
anerkennen; das ist schlimm genug. Aber ein starkes
Stück ist es, wenn Sie auch noch argumentieren, es gehe
hier um die Lebensleistung. Nun frage ich Sie - da
möchte ich das Beispiel meines Kollegen noch einmal
aufgreifen -: Was unterscheidet einen Maurer, der viermal ein Jahr arbeitslos war, von einem Maurer, der einmal vier Jahre arbeitslos war?
({6})
- Ja, Sie können sich aufregen; es ist aber so, und das
müssen Sie den Leuten draußen erklären. - Die gleiche
Frage können Sie bei einer Altenpflegerin stellen, die
auch hart arbeitet. Wo soll in diesen Fällen der Unterschied in der Lebensleistung liegen? Da gibt es keinen.
Dennoch verurteilen Sie Menschen, die langzeitarbeitslos sind, mit saftigen Abschlägen in Rente zu gehen oder
aber länger zu arbeiten. Das hat nichts mit Gerechtigkeit
zu tun.
({7})
So bleibt als Fazit des Rentenpäckchens eigentlich nur:
Manches wird besser, nichts wird gut, und das wird auch
so bleiben. Von einer Rentenreform sollten Sie erst wieder sprechen, wenn Sie sich den eigentlichen Baustellen
widmen. Statt das Rentenniveau weiter abzusenken,
muss es endlich wieder angehoben werden.
({8})
An der Rente mit 67, meine Damen und Herren, sollten
Sie nicht länger herumdoktern, sondern sie einfach beerdigen.
Danke schön.
({9})
Das Wort erhält nun der Kollege Peter Weiß für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Was versprochen wurde, wird auch eingehalten: Das
steht eigentlich als Überschrift über diesem Rentenpaket.
({0})
Ich kann manche Kritik - vor allen Dingen manche
Zeitungskommentare - nicht verstehen. Die Wählerinnen und Wähler in unserem Land haben im September
vergangenen Jahres unsere Wahlprogramme und nicht
irgendwelche Zeitungskommentare gewählt.
({1})
Das, was sowohl im Wahlprogramm der Union als auch
in dem der SPD steht, wird mit diesem Gesetzespaket
umgesetzt, und ich sage ganz klar und deutlich: Die
Wählerinnen und Wähler haben auch einen Anspruch
darauf, dass wir das, was wir im Wahlprogramm zugesagt haben, jetzt auch konkret in Gesetzesform gießen.
({2})
Zu Recht stellt sich in jeder Rentendebatte auch die
Frage nach der Generationengerechtigkeit;
Peter Weiß ({3})
({4})
denn darauf fußt unser Rentensystem, und natürlich ist
es so, wie Frau Göring-Eckardt sagte, dass sich ein
20-Jähriger, wenn er ins Arbeitsleben eintritt, heute
fragt, was er einmal von der Rente erwarten kann.
({5})
Ich finde, das sozialpolitisch Wichtigste ist, dass sich ein
Arbeitnehmer und eine Arbeitnehmerin in unserem Land
darauf verlassen können, Leistungen einer Sozialversicherung zu erhalten, wenn sie in eine Lebenssituation
kommen, in der sie sich selber nicht mehr helfen können,
wenn sie also einen Unfall erleiden oder erkranken und
nicht mehr am Erwerbsleben teilnehmen können oder
zeitweise ausscheiden müssen.
Deshalb sind für mich die Verbesserungen bei der Berechnung der Erwerbsminderungsrente, also der Rente
für diejenigen, die einfach nicht mehr arbeiten können
und vorzeitig aus dem Erwerbsleben ausscheiden müssen, und die Anhebung des Budgets für Rehaleistungen,
also für Gesundheitsmaßnahmen in dem Fall, dass man
krank ist und in eine Kur muss, Akte der Generationengerechtigkeit. Auch die junge Generation kann sich darauf verlassen: Wenn man sich selber nicht mehr helfen
kann, hilft die Rentenversicherung.
({6})
Natürlich geht es bei der Generationengerechtigkeit,
wenn man sie richtig durchbuchstabiert, nicht nur um
eine Generation. Dass wir heute endlich die Mütterrente
verbessern - die Anrechnungszeit wird für Mütter von
vor 1992 geborenen Kindern verdoppelt -, betrifft doch
vor allen Dingen Mütter, die damals keine U-3-Betreuungsplätze und oft auch keinen Kindergartenplatz fanden, weil es noch keinen Rechtsanspruch auf U-3-Betreuung oder einen Kindergartenplatz gab. Deswegen
sind sie ganz oder teilweise aus dem Beruf ausgestiegen.
Die Kinder, die damals geboren wurden, stützen heute
als Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit ihren Beiträgen unser Rentenversicherungssystem. Deswegen ist
es doch geradezu ein Gebot der Generationengerechtigkeit, dass wir die Lebensleistung dieser Mütter besser
anerkennen. Deshalb ist das ein zentraler Punkt, den wir
mit diesem Rentenpaket durchsetzen.
({7})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, selbstverständlich erwarten auch die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die in einer langen Lebensleistung mit ihren
Beiträgen das Sozialsystem insgesamt getragen und finanziert haben und mit ihren Steuern unseren Staat finanzieren, dass wir ihre Lebensleistung in besonderer
Weise würdigen. Deswegen wird man landauf, landab
stets hören: Wer 45 Jahre lang hart gearbeitet und etwas
für diesen Staat geleistet hat, dem darf man auch eine
Anerkennung in der Form zukommen lassen, dass er
nicht unbedingt noch länger arbeiten muss, sondern ohne
Abschläge in Rente gehen kann, wenn er das Rentenalter
erreicht hat. Ich halte auch das für einen Akt der Gerechtigkeit.
({8})
Deswegen haben wir übrigens in der letzten Großen
Koalition, als wir nach einem mühsamen Prozess miteinander beschlossen hatten, die Regelaltersgrenze in der
Rentenversicherung von 65 Jahre auf 67 Jahre anzuheben, was richtig ist und auch so bleibt, gleichzeitig beschlossen: Wer 45 Beitragsjahre aufweist, der kann auch
in Zukunft mit 65 Jahren abschlagsfrei in Rente gehen.
Das war für uns ein wesentlicher Bestandteil der Vereinbarung, um die Regelaltersgrenze in Deutschland anzuheben. Auf der anderen Seite wollen wir alles tun, um
nicht neue Frühverrentungsanreize zu schaffen; denn das
wäre das falsche Signal.
Wir steigen jetzt in die parlamentarischen Beratungen
ein. Es gibt unterschiedliche Ideen und Vorstellungen,
die wir miteinander prüfen. Für uns als Union ist aber
wichtig - ich glaube, die Sozialdemokraten sehen das
genauso -, dass am Ende eine Beschlussfassung im Bundestag mit folgendem Inhalt stehen muss: Ja zu diesem
Rentenpaket, aber Nein zu neuen Frühverrentungsanreizen.
({9})
Zu Recht wird natürlich die Frage nach den Rentenfinanzen gestellt. Dabei sind zwei Dinge wichtig.
Das Erste ist: Ja, wir als Staat bezuschussen die Leistungen der Rentenversicherung mit hohen Steuerbeträgen. Mittlerweile kommt ein Drittel dessen, was ausgezahlt wird, nicht aus Beitragsmitteln, sondern vonseiten
des Staates aus Steuermitteln. Wir beschließen bereits
mit diesem Gesetz, dass wir zur nachhaltigen Finanzierung der Rentenfinanzen in den nächsten vier Jahren zusätzliche Steuermittel für die Rentenversicherung zur
Verfügung stellen.
Das Zweite ist - das ist noch wichtiger - der Beitrag
der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Der Präsident
der Bundesagentur für Arbeit hat vor zwei Tagen in seiner Pressekonferenz erklärt, dass die Bundesagentur für
Arbeit davon ausgeht, dass wir in diesem Jahr einen
neuen Beschäftigungsrekord in Deutschland erreichen
können. Das zeigt: Solide Finanzen der Rentenversicherung hängen zuallererst an einer guten Beschäftigungssituation und an den vielen Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmern, die mit ihren Beiträgen die Rentenversicherung unterstützen.
Wir als Große Koalition können dieses Rentenpaket
deswegen mit gutem Gewissen beschließen, weil wir einerseits zusätzliche Generationengerechtigkeit schaffen
und wir andererseits durch eine gute wirtschaftliche Entwicklung dafür sorgen, dass auch in Zukunft die Einnahmen für die Rentenversicherung gesichert sind.
Vielen Dank.
Peter Weiß ({10})
({11})
Markus Kurth spricht nun für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Weiß, Sie und Ihre Kolleginnen und Kollegen von
der CDU/CSU dürfen das Wort „Generationengerechtigkeit“, wenn Sie dieses Paket verabschieden, bis zum
Ende Ihres Lebens nicht mehr in den Mund nehmen.
({0})
Ich wollte diese Rede eigentlich nicht mit einer Betrachtung der finanziellen Folgen beginnen, aber Ihre
Reden provozieren nun wirklich sehr. Es muss einem
bange werden, wenn man sich ansieht, was im Jahr 2018
im Bereich Beitragssatzentwicklung dräut.
({1})
Zwar muss der Beitragssatz wegen der demografischen
Entwicklung 2018 sowieso steigen. Aber diese Entwicklung wird durch ihr Rentenpaket jetzt noch einmal verstärkt.
({2})
- Max Straubinger, seien Sie doch einmal still und hören
Sie zu!
({3})
Erinnern Sie sich nicht daran, dass eine Serie von Beitragssatzsteigerungen in der Vergangenheit Diskussionen um das Leistungsniveau ausgelöst hat
({4})
und es in der gesetzlichen Rentenversicherung tatsächlich zu Niveauabsenkungen gekommen ist? Jetzt sind
wir aber im Unterschied zu der Zeit vor 10 oder 20 Jahren an dem Punkt angelangt, dass das Rentenniveau keinesfalls weiter absinken darf.
Ein Eckrentner wird im Jahr 2030 nach Steuern nur
noch 950 Euro netto haben. Dieses Niveau darf nicht unterschritten werden. Wenn die gesetzliche Rente selbst
nach einem halbwegs soliden Erwerbsleben nicht einmal
zur Armutsvermeidung reicht, dann ist es mit der Akzeptanz des Umlageverfahrens wirklich vorbei.
({5})
Herr Kollege Kurth, darf Ihnen der Kollege
Straubinger eine Zwischenfrage stellen?
Ja, gerne. Bitte schön.
Herr Kollege Kurth, weil Sie sich vorhin so um den
Beitragssatz gesorgt haben: Könnten Sie mir bestätigen,
dass der Beitragssatz unter der rot-grünen Bundesregierung bei 19,9 Prozent lag und er jetzt bei 18,9 Prozent
liegt und somit unter Unionsregierungen gesenkt worden
ist?
({0})
Ich kann Ihnen Folgendes sagen: Als Rot-Grün 1998
an die Regierung kam, lag der Rentenbeitragssatz, den
wir von der Regierung Kohl übernommen haben, bei
etwa 20 Prozent. Wir haben daraufhin die Ökosteuer eingeführt, also Umweltverschmutzung finanziell belastet,
und die Erträge aus dieser Steuer in die gesetzliche Rentenversicherung fließen lassen. Dann haben wir - auch
wenn man sich noch einmal kritisch damit befassen
muss - mit der Riester-Rente bzw. dem Riester-Faktor
eine zusätzliche Säule geschaffen. 2004 haben wir den
Nachhaltigkeitsfaktor eingeführt, damit die Entwicklung
des zahlenmäßigen Verhältnisses von Beitragszahlern
und Rentnern berücksichtigt wird.
({0})
Das heißt, alles, was im Kern zu der guten Finanzentwicklung der heutigen Rentenversicherung geführt hat,
geht auf Fundamentalentscheidungen von Rot-Grün zurück. Das ist die historische Wahrheit.
({1})
An dem Punkt muss man in der Tat darauf achten,
Herr Birkwald, dass man die Schraube nicht überdreht.
Jeder Autoschrauber weiß: Nach ganz fest kommt ganz
lose. Darum sagen ich hier ganz deutlich: Es ist auch
eine Frage der Generationengerechtigkeit, dass sich diejenigen, die heute einzahlen, darauf verlassen können,
dass das Rentenniveau auch in Zukunft armutsfest ist.
({2})
Darf der Kollege Ernst auch noch eine Zwischenbemerkung machen? Das ist dann allerdings die letzte, die
ich zulassen würde.
Ich bin offen für alle Hinweise, wenn ich helfen kann,
zur Erkenntnis beizutragen.
Bitte schön.
Danke schön, Kollege Kurth. Meine Bemerkung
schließt an das an, was der Kollege Straubinger gesagt
hat: In der Zeit, in der Sie regiert haben, ist doch genau
die Absenkung des Leistungsniveaus beschlossen worden, die Sie jetzt kritisieren.
({0})
Nein. - Natürlich haben die Beschlüsse von Rot-Grün
zu einem sinkenden Rentenniveau bzw. zu einem langsameren Anstieg der Rentenpunkte geführt.
({0})
Das will doch niemand bestreiten. Wir haben nämlich
gesehen, dass es ein Spannungsfeld gibt, das wir bearbeiten müssen: zwischen Beitragszahlern einerseits,
Rentnerinnen und Rentnern andererseits und dem erheblichen Staatszuschuss auf der dritten Seite. Wir haben
versucht, das in ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen,
und ich denke, das ist auch einigermaßen gut geglückt.
({1})
Ich leugne doch gar nicht, dass wir an der einen oder
anderen Stelle Nachsteuerungsbedarf haben. Daran, dass
zum Beispiel die Riester-Rente und Möglichkeiten der
privaten und betrieblichen Altersvorsorge gerade von
denen, die geringste Einkommen haben, nicht in Anspruch genommen werden, sehen wir, dass es zusätzliche Probleme gibt. Darauf haben wir Grüne auch reagiert. Wir schlagen das Modell einer sogenannten
Garantierente für Personen vor, die 30 Jahre lang versichert waren und Beiträge gezahlt haben.
Bleiben Sie bitte stehen, Herr Ernst! Das gehört noch
zur Beantwortung der Frage, Herr Ernst. Nicht wegducken! Ah, Angst hat er!
({2})
Da muss ich Sie enttäuschen, Herr Kollege. Die
Frage, wie lange die Antwort des jeweiligen Redners
ohne Beachtung seiner eigentlichen Redezeit notwendig
und angemessen ist, entscheidet der amtierende Präsident.
({0})
Deswegen darf der Kollege Ernst sich jetzt wieder setzen, und Sie dürfen fortfahren.
({1})
Na ja. - Wir Grünen machen jedenfalls den Vorschlag, nach 30 Versicherungsjahren Renten, die unterhalb des Grundsicherungsniveaus liegen, aufzustocken,
und zwar in der Form, dass sie über dem Grundsicherungsniveau liegen.
({0})
Das heißt, wir entwickeln an der Stelle Vorschläge zur
Armutsbekämpfung und steuern da, wo wir es erkennen
und wo es notwendig ist, natürlich nach.
({1})
Herr Ernst, das gehört noch zu der Antwort auf Ihre
Frage, auch wenn die Redezeituhr schon weitergelaufen
ist.
Was die Aussichten bezüglich der Finanzierung angeht, finde ich es dramatisch, dass wir möglicherweise
ab dem Jahr 2018 wieder auf eine Kürzungsdebatte zulaufen. Wenn es ganz schlecht läuft, dann werden sich
nämlich die Rentengeschenke von heute als die Rentenkürzung von morgen erweisen. Das müssen Sie dann
verantworten.
({2})
In der knappen Zeit kann ich nur noch auf eines eingehen: Sie erkennen auch wichtige Herausforderungen
nicht. Sie reden zwar von längerer Lebensarbeitszeit und
flexiblen Übergängen. Aber genau in der Hinsicht machen Sie gar nichts. Sie bieten nur Scheinlösungen wie
die sogenannte Rente mit 63 an. Wir brauchen aber Lösungen für alle, die, sei es aus gesundheitlichen oder aus
anderen Gründen, das Renteneintrittsalter nicht erreichen können.
Diese Lösungen müssen möglichst individuell zugeschnitten sein. Das heißt, wir brauchen mehrere Ansätze,
etwa von einer zweiten Ausbildung im Berufsleben über
eine Teilrente bis hin zu einer vernünftigen Erwerbsminderungsrente. Es muss also ein vielfältiges Instrumentarium geben statt einfältige Einheitslösungen.
({3})
Am schlimmsten finde ich, dass mit der abschlagsfreien Rente nach 45 Beitragsjahren gar nicht diejenigen
erreicht werden, die es am dringendsten nötig hätten.
Ganz entgegen der SPD-Rhetorik kommen diese nämlich gerade nicht in den Genuss der sogenannten Rente
mit 63, weil sie die 45 Beitragsjahre längst nicht erreichen. Schauen Sie sich die Rentenzugangsstatistiken der
Versicherung an. Vier von zehn Bauarbeitern gehen vorzeitig in die Erwerbsminderungsrente, mehr als ein Drittel der Maler und Lackierer, vier von zehn Hilfsarbeitern. So können Sie die Branchen durchgehen und sehen,
wer überhaupt nicht in den Genuss dieser neuen schönen
Sozialleistung kommt.
Ich finde es - das muss ich abschließend noch sagen empörend, dass diejenigen, die nach Jahrzehnten teils
härtester Arbeit aus gesundheitlichen Gründen mit gekürzter Rente in den Ruhestand gehen müssen, von Ihnen auch noch zu hören kriegen, mit dem Rentenpaket
täten Sie etwas für diejenigen, die etwas geleistet haben.
Das kann doch im Umkehrschluss nur bedeuten, dass Sie
die anderen als Minderleister ansehen, mit deren Rentenbeiträgen Sie die Geschenke für die anderen finanzieren,
als Minderleister, deren Rentenniveau Sie ja auch kaltblütig absenken.
({4})
- Nein, das ist genau so. - Sie spielen Arbeitnehmer gegeneinander aus. Ich wundere mich an der Stelle schon,
dass sich auch die Gewerkschaften, die die besonders
belasteten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vertreten, nicht zu Wort melden. Erinnert sich noch jemand an
den Schattenarbeitsminister Klaus Wiesehügel? Er wird
sich jetzt wohl bewusst, dass er nur Wahlkampfkomparse war.
({5})
Nein, Ihre Politik geht an den wirklichen Herausforderungen vorbei, und Sie leisten bei der Finanzierung
richtig schlechte Arbeit.
Danke.
({6})
Das Wort erhält nun die Kollegin Katja Mast für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Herr Kurth, Sie tun hier beim ersten großen Gesetzespaket der Großen Koalition, als sei sie morgen schon vorbei. Wir haben uns viel mehr vorgenommen als das, was wir heute vorlegen. Wir sind aber auch
stolz auf das Rentenpaket, das eine abschlagsfreie Rente
nach 45 Versicherungsjahren und die Mütterrente vorsieht, außerdem die Erwerbsminderungsrente für die
Leute, die Sie am Schluss erwähnt haben, verbessert und
auch den Rehadeckel anhebt, womit wir sehr viel für die
Vorsorge tun. Wir stehen zu diesem Rentenpaket.
({0})
Ich habe für meine Rede heute dank der HannsSeidel-Stiftung
({1})
etwas gefunden, nämlich die Wahlplattform der CDU
und CSU aus dem Jahr 1998 für die Legislatur bis 2002.
In dieser Wahlplattform
({2})
steht auf Seite 21 ein folgenschwerer Satz. Ich würde
gerne zitieren, wenn Sie, Herr Präsident, es zulassen.
({3})
Doch. Im Unterschied zum Fraktionsvorsitzenden der
Union gestatte ich Ihnen dieses Zitat ausdrücklich.
({0})
Es sollte sich allerdings im Rahmen Ihrer Redezeit abspielen.
Das versuche ich. Vielen Dank. - Dort steht der folgenschwere Satz:
Wer nach 45 Beitragsjahren in Rente geht, soll
keine Abschläge hinnehmen müssen.
({0})
Deshalb sind wir froh, dass wir diese Forderung jetzt
gemeinsam umsetzen und auch bei diesem Punkt unsere
in der Öffentlichkeit immer wieder hochgespielten Dissense sicherlich in naher Zukunft zur gemeinsamen Zufriedenheit lösen werden.
({1})
Ich würde gerne meinen Blick in die Zukunft richten
und an dieser Stelle - noch einmal mit Erlaubnis des
Herrn Präsidenten - unseren Koalitionsvertrag kurz zitieren. In unserem Koalitionsvertrag steht auf Seite 72:
Deswegen wollen wir lebenslaufbezogenes Arbeiten unterstützen. Wir werden den rechtlichen Rahmen für flexiblere Übergänge vom Erwerbsleben in
den Ruhestand verbessern.
Das heißt, wir wollen Hemmnisse beim Übergang in die
Rente gemeinsam abbauen, darüber ins Gespräch kommen und dazu künftig gemeinsame Initiativen hier starten. Im Rentenrecht ist es übrigens heute schon so, dass
derjenige, der keine Vollrente bezieht und länger arbeitet, pro Monat, in dem er oder sie arbeitet, 0,5 Prozentpunkte mehr Rente am Ende herausbekommt. Es gibt
also einen Bonus schon in unserem heutigen Rentenrecht.
Es gibt aber noch ein zweites Instrument, das uns am
Herzen liegt. Das ist die sogenannte Teilrente. Die Teilrente kann man ab 63 Jahren bekommen, wenn man einen Rentenanspruch hat. Heute ist es oft so: Wenn man
in Rente geht, dann empfindet man den Renteneintritt
wie ein Fallbeil. Man hat in der vorherigen Woche noch
39 Stunden am Band oder in der Altenpflege gearbeitet,
und in der kommenden Woche ist man - nicht immer zur
Freude der Familie - die ganze Zeit zu Hause. Deshalb
geht es auch darum, gleitende Übergänge in Rente zu organisieren.
Die Teilrente im geltenden Gesetz ist aber leider sehr
starr und sehr kompliziert. Wenn wir mit unserem Koalitionspartner über lebenslauforientierte Übergänge in die
Rente für die kommenden Generationen reden, weisen
wir immer darauf hin, dass wir genau an dieser Stelle ansetzen und die gesetzlichen Regelungen modernisieren
müssen. Das ist ein Punkt, der für uns ganz wichtig ist.
Gerade für diejenigen, die zum Beispiel jetzt auf der Zuschauertribüne sitzen - ich vermute, dass es sich bei den
jungen Damen und Herren um Schulklassen handelt -,
geht es darum, in ihren Erwerbsbiografien, die von Anfang an von Flexibilität geprägt sind, den Übergang zur
Rente zu organisieren.
Unser Koalitionsvertrag trägt die Überschrift
„Deutschlands Zukunft gestalten“. Das ist nicht nur eine
Überschrift, sondern unsere Überzeugung.
({2})
Nächster Redner ist der Kollege Stephan Stracke für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Mit dem vorgelegten Rentenpaket setzen wir
zentrale rentenpolitische Verabredungen des Koalitionsvertrages um. Der Gesetzentwurf trägt deutlich die
Handschrift der Union. Mit der Mütterrente und den Verbesserungen bei der Erwerbsminderungsrente und bei
der Reha greifen wir langjährige Forderungen der CSU
auf. Hiervon profitieren 10 Millionen Menschen in diesem Land.
({0})
Das Rentenpaket ist Ausdruck zweier wesentlicher
Grundprinzipien: Generationengerechtigkeit und Leistungsgerechtigkeit. Wir verbinden beide miteinander.
Leitgedanke ist: Wir wollen diejenigen belohnen, die ein
Leben lang viel geleistet haben. Deshalb ist die Mütterrente gerechtfertigt. Sie stellt den zentralen rentenpolitischen Fortschritt in diesem Paket dar. Deshalb wird sie
zum 1. Juli dieses Jahres kommen.
({1})
Die Rente ist ein Spiegel der gesamten Lebensleistung. Zur Lebensleistung von über 9 Millionen Frauen in
diesem Land gehört auch, dass sie Kinder erzogen haben, und das unter Bedingungen, wie es sie jetzt nicht
mehr gibt. Die Generationen unserer Mütter und Großmütter hatten nicht die hervorragenden Betreuungsmöglichkeiten, von denen beispielsweise meine Generation
profitieren kann. So wurde die Berufstätigkeit oftmals
über einen längeren Zeitraum unterbrochen oder gar
gänzlich aufgegeben. Das führte dann im Alter dazu,
dass sie niedrigere Renten beziehen, und das, obwohl sie
ein Leben lang viel geleistet haben. Das ist nicht gerecht.
Es ist auch nicht gerecht, dass sie bei der Anerkennung
von Kindererziehungszeiten deutlich schlechter gestellt
sind als die heutige Generation. Das haben viele gesellschaftliche Gruppen angesprochen. Wir haben das als
CSU aufgegriffen und auf die politische Agenda gehoben, und jetzt kommt es.
Dabei ist auch richtig und wichtig, zu betonen: Die
Mütterrente ist ein Generationenprojekt, ein Projekt, das
über alle Generationen hinweg geht. Gerade die junge
Generation
({2})
muss sich sagen: Es geht um meine Eltern, um meine
Mutter, meinen Vater, meinen Opa, meine Oma. - Und
sie erkennt die Leistungen der vorangegangenen Generationen an, indem sie sagt: Ihr habt viel geleistet und habt
uns Chancen eröffnet, die ihr selber nicht hattet. Deswegen sollt ihr auch von der Mütterrente profitieren. - Diejenigen, die hart gearbeitet haben, verdienen eine anständige Rente. Dafür sorgen wir mit der Mütterrente.
({3})
Unsere Eltern und Großeltern haben wie keine andere
Generation in der Bundesrepublik Deutschland zum Erhalt des Generationenvertrags beigetragen. Aus den Kindern von damals wurden die Beitragszahler von heute.
Genau sie sind es, die für die hervorragende wirtschaftliche Situation in diesem Land gesorgt haben. Deswegen
haben wir jetzt finanzielle Spielräume. Diese nutzen wir
für die Mütterrente. Wer viel geleistet hat, soll auch viel
profitieren. Das galt und gilt auch für die abschlagsfreie
Rente nach 45 Beitragsjahren. Wir haben im Übrigen,
Frau Kollegin Mast, immer von 45 Beitragsjahren gesprochen. Von der Anerkennung von Arbeitslosenzeiten
war damals nicht die Rede.
({4})
Es geht vielmehr ausschließlich darum, dass wir die
Leistung derjenigen, die viel und hart gearbeitet haben,
entsprechend anerkennen. Derjenige, der ein halbes
Jahrhundert lang mit seinen Beiträgen dazu beigetragen
hat, unser Rentensystem zu sichern und zu stabilisieren,
verdient am Ende seines Erwerbslebens Solidarität. Deswegen sagen wir: Die abschlagsfreie Rente mit 65 ist
richtig.
({5})
- Ab 65 ist richtig. - Wir haben im Rahmen des Koalitionsvertrages vereinbart, dass wir diese Rente übergangsweise zwei Jahre vorziehen, auf 63. Dies bauen wir
wieder schrittweise bis zum Jahre 2028 auf. Dann erreichen wir wieder das Niveau, was wir vorher hatten.
({6})
Wenn wir im Übrigen Zeiten der Arbeitslosigkeit zeitlich begrenzt und übergangsweise anerkennen, dann
muss auch ein weiteres Prinzip gelten: Es kann nicht
sein, dass derjenige, der in das Rentenversicherungssystem freiwillig Beiträge zahlt, schlechter gestellt wird als
derjenige, dem beispielsweise Zeiten von Arbeitslosigkeit anerkannt werden. Es kann doch nicht sein, dass beispielsweise ein Handwerker, der sehr viel arbeitet und
18 Jahre in die Pflichtversicherung gezahlt hat und sich
dann entscheidet, bis zur Rente freiwillig Beiträge zu
zahlen, schlechter gestellt wird als derjenige, dem Arbeitslosenzeiten gutgeschrieben werden. Das ist auch
eine Frage der Gerechtigkeit. Wir müssen diese Gerechtigkeitsfrage entsprechend lösen. Auch hier befinden wir
uns im Gespräch mit unserem Koalitionspartner.
({7})
Für uns ist ganz klar: Der Weg der Rente mit 67 ist
der richtige Weg. Daran halten wir auch fest; denn die
Rente mit 67 ist das schlichte Ergebnis praktischer Vernunft. Wenn jemand, der heute mit 65 Jahren im Erwerbsleben steht, noch knapp 19 Jahre unter guten Rahmenbedingungen leben kann, dann ist es doch klar, dass
wir unter dem Gesichtspunkt der Generationengerechtigkeit zusehen müssen, die Rentenversicherung dauerhaft
tragbar zu machen. An dem eingeschlagenen Weg
„Rente mit 67“ halten wir fest; hierfür braucht es allerdings auch soziale Flankierung. Genau dafür sorgen wir
jetzt, indem wir die Erwerbsminderungsrente verbessern
und gleichzeitig das Rehabudget aufstocken.
All das zeigt: Das Rentenpaket ist ein rundes Paket,
das insbesondere Verbesserungen bei der Mütterrente
mit sich bringt. Alle Vorhaben sind auch generationengerecht finanziert. Das Rentenpaket ist generationengerecht, weil es mittel- und langfristig finanziert ist. Im
Rentenversicherungsbericht aus dem Jahr 2009 gab es
die Prognose, dass der Beitragssatz im Jahr 2014 bei
19,9 Prozent liegen wird. Tatsächlich liegen wir bei
18,9 Prozent. Das sind 10 Milliarden Euro Ersparnis
jährlich.
({8})
Das zeigt, wie gut wir derzeit dastehen. Das hängt damit
zusammen, dass wir eine hervorragende wirtschaftliche
Entwicklung haben, dass wir für viele sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze sorgen. Deswegen haben
wir jetzt die Spielräume, die Dinge so machen zu können, wie es im Rentenpaket vereinbart ist. Das wollen
wir gemeinsam tun.
Herzlichen Dank.
({9})
Martin Rosemann ist der nächste Redner für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein Vorwurf gegenüber dem Rentenpaket der Bundesregierung, den ich
in den letzten Wochen immer wieder gehört und gelesen
habe und der heute aus den Reihen von Bündnis 90/Die
Grünen von Herrn Kurth und Frau Göring-Eckardt wieder erhoben wurde, ist, wir würden nicht dort ansetzen,
wo der Bedarf am größten ist.
({0})
Meine Damen und Herren, ich bin der Meinung, dem
liegt ein grundsätzliches Missverständnis
({1})
über unser deutsches Rentenversicherungssystem zugrunde. Die Rente ist keine Sozialleistung.
({2})
Natürlich soll die gesetzliche Rentenversicherung Altersarmut verhindern. Deswegen nehmen wir die Verbesserungen bei der Erwerbsminderungsrente vor. Deswegen
werden wir als Große Koalition in dieser Legislaturperiode auch die solidarische Lebensleistungsrente einführen. Aber gleichermaßen muss die solidarische gesetzliche Rente Lebensleistung anerkennen. Deswegen wollen
wir die Mütterrente und auch die sogenannte Rente mit
63 Jahren. Damit erkennen wir vor allem die Leistung
der Menschen an, die sehr früh ins Arbeitsleben eingestiegen sind und dann lange und in der Regel körperlich
sehr hart gearbeitet haben. Von der Anerkennung der Lebensleistung hängt meines Erachtens das Vertrauen in
das System der gesetzlichen Rente ganz maßgeblich ab.
Vertrauen ist bei unseren sozialen Sicherungssystemen,
gerade auch bei der Rente, besonders wichtig.
In einer älter werdenden Gesellschaft müssen die
Leute im Durchschnitt auch länger arbeiten. Deshalb
wollen wir als SPD die Entwicklungen beim Renteneintrittsalter nicht zurückdrehen, und deshalb wollen wir
auch keine Rückkehr in die alte Frühverrentungslogik
der 80er- und 90er-Jahre.
({3})
Wir wissen aber, dass es neben der demografischen Realität auch eine gesellschaftliche Realität und eine Realität in den Betrieben gibt. Das verlangt von uns differenzierte Antworten, vor allem für erwerbsgeminderte
Personen und für Leute, die sehr früh ins Erwerbsleben
eingestiegen sind. Durch differenzierte Lösungen und
differenzierte Antworten schaffen wir auch neues Vertrauen. Das zeigt die große Zustimmung, die unser Rentenpaket in der Bevölkerung insgesamt, aber gerade
auch in der jungen Generation erfährt.
Meine Damen und Herren, wenn wir differenzierte
Lösungen wollen, müssen wir uns auch fragen, wie wir
mit der Anrechnung von Arbeitslosigkeit beim vorzeitigen Renteneintritt umgehen. Herr Kollege Schiewerling
hat zu Recht auf die Vergangenheit verwiesen, auf die
großen Strukturkrisen in Ostdeutschland, aber auch im
Bergbau und in der Stahlindustrie. Genauso gilt das aber
angesichts zunehmend brüchiger Erwerbsbiografien und
der Tatsache, dass Krisen auch in Zukunft nicht ausgeschlossen sind, aus unserer Sicht auch für die Zukunft.
Genau so steht es deshalb auch im Koalitionsvertrag.
({4})
Zusammenfassend will ich sagen: Die Große Koalition verbindet mit ihrer Rentenpolitik die Verantwortung
gegenüber der Lebensleistung der älteren Generation mit
der Verantwortung gegenüber zukünftigen Generationen. Wir sorgen für die notwendigen und von der Bevölkerung auch gewollten Leistungsverbesserungen. Wir
bauen Gerechtigkeitslücken konsequent ab und sorgen
damit wieder für mehr Vertrauen in die gesetzliche
Rente.
({5})
Das Wort erhält nun die Kollegin Jana Schimke für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Land
schaut heute auf uns. Mit dem Rentenpaket beraten wir
eine zentrale soziale Frage - die der Alterssicherung. So
sagte ein früherer Bundesminister kürzlich: Kein Lebensabschnitt ist so differenziert in seiner Lebenslage
wie das Alter. - Die Bedeutung der Aussage von Norbert
Blüm nimmt immer mehr zu; denn die Lebenserwartung
steigt. Der spätere Lebensabschnitt war noch nie so lang
und noch nie so vielfältig wie heute. Während die Ruhestandszeit in den 60er-Jahren noch durchschnittlich
10 Jahre betrug, liegt sie heute bei 20 Jahren. Darauf
müssen wir uns einstellen - gesellschaftlich und politisch.
Doch der Lebensabend gestaltet sich nicht immer so,
wie man es sich wünscht. Es gibt Menschen, die Hilfe
benötigen. Durch eine schwere Krankheit oder eine Behinderung benötigen sie die Unterstützung der Solidarund Versichertengemeinschaft. Um diese Menschen
noch stärker zu unterstützen, enthält unser Gesetzespaket Verbesserungen bei der Erwerbsminderungsrente.
Mit den geplanten Reformen wollen wir aber auch
vorbeugen. Dazu zählen Prävention und Rehabilitation.
In einer älter werdenden Gesellschaft werden Leistungen
dieser Art zunehmend beansprucht. Bereits heute ist jeder Fünfte in Deutschland mindestens 65 Jahre alt. Ihr
Anteil wird bis zum Jahr 2060 voraussichtlich auf 34 Prozent ansteigen. Deshalb wollen wir in Zukunft bei der
Berechnung des Rehabudgets die demografische Entwicklung in Deutschland berücksichtigen.
({0})
Gleichzeitig gibt es - das ist auch eine Folge der älter
werdenden Gesellschaft - immer mehr Menschen, die
sich fit fühlen. Nicht ohne Grund tun sich viele schwer,
wenn der Renteneintritt näher rückt. Während sich der
eine auf den Ruhestand freut, fällt es dem anderen
schwer, diesen Schritt zu gehen und einen neuen Lebensabschnitt zu planen. Ein Blick in die Ratgeberrubrik im
Buchhandel spricht für sich. Dort gibt es rund 100 Publikationen mit ähnlich lautenden Titeln wie Wenn der
Wecker nicht mehr klingelt oder 111 Gründe, sich auf
den Ruhestand zu freuen. Das zeigt: Der Ruhestand und
der Eintritt in den Ruhestand sind ein gesellschaftliches
Thema.
({1})
Deshalb brauchen wir für diesen Lebensabschnitt differenzierte Lösungen. Auf dem Arbeitsmarkt nimmt die
Beschäftigung Älterer zu. Im Fortschrittsbericht zum
Fachkräftekonzept der Bundesregierung bekennt man
sich ausdrücklich zu den Potenzialen älterer Arbeitnehmer. Hier hatten wir in der Vergangenheit gute Erfolge
erzielt: Der Anteil älterer Arbeitnehmer ist seit 2000 stetig gestiegen. Die Erwerbstätigenquote ist in diesem
Zeitraum von knapp 20 Prozent auf heute über 46 Prozent angestiegen. Diese positive Entwicklung wollen wir
weiter fördern.
Uns eint das gemeinsame Ziel, die Rente mit 63 so
auszugestalten, dass diese beschäftigungspolitischen Erfolge der letzten Jahrzehnte nicht gefährdet werden.
({2})
Hier aber müssen wir einen Spagat schaffen. Deswegen
ist es gut, dass die Koalitionspartner diese Frage konstruktiv angehen, sich ihrer Verantwortung bewusst sind
und nach flexiblen Lösungen suchen.
Weil das Alter heute so vielfältig wie das Leben selbst
ist, sollten jene, die länger arbeiten möchten und die sich
noch fit fühlen, auch länger arbeiten dürfen. Damit helfen sie übrigens auch, die Fachkräftelücke in unserem
Land zu schließen. Deshalb ist es notwendig, bestehende
Hürden für eine Weiterbeschäftigung im Rentenalter abzubauen. Eine befristete Beschäftigung sollte nach Renteneintritt zum Beispiel auch bei demselben Arbeitgeber
möglich sein. Der öffentliche Dienst praktiziert das bereits heute. In der Privatwirtschaft ist dies jedoch nicht
rechtssicher möglich. Das lässt sich auch daraus ableiten, dass jüngere Arbeitnehmer in Deutschland zu
90 Prozent abhängig beschäftigt sind, während erwerbstätige Rentner zu einem Drittel Freiberufler sind. Hier
sollten wir gleiche Zugangsmöglichkeiten schaffen.
({3})
Denn für die meisten Beschäftigten in Deutschland ist
Arbeit keine Strafe, sondern bedeutet Anerkennung,
Selbstverwirklichung und Erfolg.
({4})
Eine Politik für die Menschen sollte dies auch beim
Übergang in die Rente berücksichtigen.
Vielen Dank.
({5})
Die Kollegin Dagmar Schmidt erhält nun das Wort für
die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Damen und Herren! Ich habe
meine zwei Minuten Redezeit zwar nicht am Ende der
Debatte - das wird wohl der CDU/CSU vorbehalten
bleiben -, aber immerhin gegen Ende der Debatte. Ich
versuche trotzdem ein - natürlich sehr objektives - Resümee.
Ich möchte mit einem Dank an die Ministerin beginnen. Wir halten Wort: Wir erkennen die Lebensleistung
von Müttern und Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern
an. Das ist nicht geschenkt, das ist verdient. Danke, dass
das Rentenpaket so schnell und gut auf den Weg gebracht wurde.
({0})
Ich habe auch den Rednern der Linksfraktion zugehört. Sie haben gesagt, dass sie es natürlich begrüßen,
dass es bessere Leistungen für Rentnerinnen und Rentner geben soll; das finden sie gut. Was sie nicht so gut
finden, kann ich in meiner zweiminütigen Rede leider
nicht noch einmal nachvollziehen.
({1})
Aber immerhin hat man uns zugestanden, ein Rentenpäckchen zu beschließen. Das ist ja schon etwas.
Die SPD teilt die Freude mit der CDU/CSU über die
Mütterrente. Diese drückt den Respekt vor der Leistung
der Kindererziehung aus. Wenn diese über Steuern finanziert würde - das hätten wir uns gewünscht -,
({2})
dann wäre unsere Freude noch größer gewesen.
({3})
Ich danke Frau Göring-Eckardt, dass sie das Thema
Altersarmut angesprochen hat; denn das gibt uns Gelegenheit, dazu ein paar Punkte zu sagen. Wir machen viel
in dem Rentenpaket, aber wir machen natürlich noch
nicht alles. Wir werden in dieser Legislatur mit der solidarischen Lebensleistungsrente aber einen wichtigen
Schritt zur Bekämpfung der Altersarmut tun.
({4})
Wir werden des Weiteren auch mit dem Tarifpaket einen wichtigen Beitrag zur Bekämpfung der Altersarmut
leisten. Auch hier geht mein Dank an die Ministerin,
dass sie das schon auf den Weg gebracht hat.
({5})
Wir haben getan, was wir versprochen haben. Wir
sind dabei, Deutschland gerechter zu machen.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({6})
Matthias Zimmer ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man
gegen Ende der Debatte zu Wort kommt, ist ja vieles
schon gesagt worden. Ich bin nun wirklich kein Freund
von Reden nach dem Motto „Es ist schon vieles gesagt
worden, aber noch nicht von mir“. Deswegen will ich
nicht auf das Rentenpaket im Einzelnen eingehen, sondern stichwortartig einige Punkte hervorheben, von denen ich glaube, dass sie die Debatte in den nächsten Wochen noch bestimmen werden.
Zunächst einmal zur Erwerbsunfähigkeitsrente.
({0})
Ich glaube, jeder, der die Möglichkeit hatte, 45 Jahre zu
arbeiten, kann sich glücklich schätzen, zumindest aus
der Sicht derjenigen, die eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit beziehen. Wer wegen Erwerbsunfähigkeit in
Rente gehen muss, hat neben den gesundheitlichen Einschränkungen auch häufig eine deutlich geminderte
Rente. Durch die Ausweitung der Zurechnungszeiten
werden diese Menschen jetzt bessergestellt, ebenso dadurch, dass die letzten vier Jahre vor Eintritt der Erwerbsminderung nicht berücksichtigt werden, wenn sie
die Bewertung der Zurechnungszeit verringern. Das ist
insgesamt ein Schritt in die richtige Richtung.
Da wir die bekannte Großzügigkeit des Bundesfinanzministers nicht überstrapazieren wollen, würde ich
mir wünschen, dass wir im Rahmen der parlamentarischen Beratungen die Gewichtung innerhalb des Rentenpaketes noch einmal ein wenig verschieben könnten.
Vielleicht ergibt sich ja in der Osterpause unter dem
Geist österlicher Versöhnung die Gelegenheit, hierüber
einmal konstruktiv nachzudenken.
({1})
Ein wenig mehr österliche Gelassenheit würde ich
mir im Übrigen auch bei so mancher öffentlichen Debatte über das Rentenpaket wünschen. Fangen wir einmal bei der Möglichkeit an, abschlagsfrei nach 45 Beitragsjahren mit 63 Jahren in Rente zu gehen. Vielleicht
hilft ja der Hinweis, dass es die Möglichkeit zum Renteneintritt ab 63 mit Abschlägen bereits seit 2008 gibt,
und zwar für langjährig Versicherte. Ich habe nicht den
Eindruck, dass es hier bereits zu einer nennenswerten
Frühverrentungswelle gekommen ist, und ich habe die
begründete Vermutung, dass das auch bei der abschlagsfreien Rente für langjährig Versicherte nicht passieren
wird.
({2})
Es ist richtig: Die Arbeitswelt hat sich spürbar gewandelt. Die einstmals praktizierte Frühverrentung zulasten
der Sozialkassen gehört der Vergangenheit an. Dazu
kommt: Ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
werden heute anders wertgeschätzt als noch vor 15 oder
20 Jahren. Sie werden im Arbeitsleben gebraucht. Das
ist auch gut so.
({3})
Ich kann aber auch die Sorgen derjenigen verstehen,
die sagen: Ist das nicht das falsche Signal? Schließlich
haben wir mit großen Mühen die Regelaltersgrenze zum
Renteneintritt stufenweise auf 67 Jahre angehoben. - Ich
glaube, die Symbolik der Zahlen ist hier nicht unwichtig.
Deswegen finde ich auch die Idee gut, zu sagen: Warum
lassen wir nicht die Menschen, die über die Regelaltersgrenze hinaus arbeiten wollen, dies auch tun? Die Mittelstandsvereinigung der Union hat hierzu einen, wie ich
denke, bemerkenswerten und klugen Vorschlag gemacht.
Ich meine, wenn Menschen Arbeit wichtig ist, sollten sie
auch ein wenig mehr Flexibilität hinsichtlich des Renteneintritts bekommen.
({4})
Das ist nicht nur gut für die Arbeitnehmer, sondern auch
für die Betriebe, die auf diese Art und Weise Erfahrung
und Know-how länger binden können. Ich will den österlichen Frieden ja nicht überstrapazieren, aber ich
würde mir eine konstruktive Aufnahme dieses Vorschlags wünschen.
({5})
Ich nehme auch die Sorgen der jungen Generation
ernst, die fragt: Wie ist es um die Nachhaltigkeit des
Rentenpakets bestellt? Zahlen wir als junge Generation
nicht am Ende die Zeche? - Es ist ja richtig: Die Kosten
des Rentenpakets sind in der Gesamtbetrachtung hoch.
Aber nicht alles trägt die junge Generation. Auch Rentner selbst werden ebenso wie Steuerzahler an der Finanzierung des Rentenpakets beteiligt.
({6})
Ich warne aber davor, hier einen Generationenkonflikt
herbeizureden; denn wir investieren an anderer Stelle
viel in die Chancen der jungen Generation, in ihre Bildungschancen, in ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt.
Und wir stellen mit Befriedigung fest: Wir haben eine
der niedrigsten Raten der Jugendarbeitslosigkeit in Europa.
({7})
Meine Damen und Herren, der Kollege Kurth hat es
eben angesprochen: Ich glaube schon, dass die Tatsache,
dass wir ab 2015 keine neuen Schulden mehr machen,
ein wirklich guter Beitrag zur Generationengerechtigkeit
ist, und darauf können wir stolz sein.
({8})
Abschließend noch ein Gedanke. Wir werden auch in
dieser Legislaturperiode noch über die Frage zu reden
haben, wie wir auch über die Rentenpolitik Altersarmut
verhindern können. Wir werden mit dem Mindestlohn
einen kleinen Schritt gehen, um Altersarmut zu verhindern, im Übrigen auch einen Schritt - so hoffe ich wenigstens -, um weitere Beiträge zur Rentenversicherung
zu generieren. Wir stehen mit dem Rentenpaket und dem
Gesetz über den Mindestlohn durchaus vor einer Zäsur,
die manchem unbehaglich ist. Diese Sorgen sollten wir
ernst nehmen und argumentativ entkräften, unaufgeregt
und sachlich. Und natürlich wünsche ich mir als Parlamentarier auch, dass das bessere Argument der Feind
des guten Arguments ist und wir mit Macht dem
Struck’schen Gesetz Geltung verschaffen, wonach noch
kein Gesetz den Bundestag so verlassen hat, wie es in
den Bundestag gekommen ist.
Danke schön.
({9})
Nächster Redner ist der Kollege Albert Stegemann.
({0})
Sehr geehrter Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe
Kollegen! Heute beraten wir in erster Lesung das Gesetz
über Leistungsverbesserungen in der gesetzlichen Rentenversicherung. Kein anderes politisches Projekt wird
zurzeit derart kontrovers diskutiert. Das Schauspiel, das
sich hier täglich auftut, erinnert mich immer an folgendes Zitat: „Ein Kompromiss ist dann vollkommen, wenn
alle unzufrieden sind.“ - „Unzureichend geprüft“, „zu
teuer“, „ungerecht“ - das sind nur einige Schlagworte
von scheinbar sozialen Initiativen. Wenn diese und Wirtschaftsverbände befinden, dass wir an dieser Stelle zu
weit gehen, die Fraktion Die Linke uns aber vorwirft,
dass wir nicht weit genug gehen, dann scheinen wir das
Maß der Mitte nicht ganz aus den Augen verloren zu haben.
({0})
Ich bin selbst Unternehmer, jedoch umso mehr erstaunt, welche selbsternannten Wirtschaftsexperten sich
mit verschärfter Rhetorik in dieser Debatte zu Wort melden, und das ganz offenkundig, ohne das große Ganze
im Blick zu haben. Ehrlich gesagt, mir geht das langsam
auf die Nerven.
Schauen wir uns das vorliegende Gesetz noch einmal
genau an:
Bei der Mütterrente zweifelt doch kein Mensch in der
öffentlichen Diskussion an, dass wir bisher eine Ungleichbehandlung der Mütter haben, die ihre Kinder vor
bzw. nach 1992 geboren haben. Ferner zweifelt niemand
an, dass es sich hierbei um ein Gerechtigkeitsdefizit handelt. Wie man überhaupt auf die Idee kommt, das teilweise Schließen einer Gerechtigkeitslücke als ungerecht
zu bezeichnen, das muss mir erst mal einer erklären. Das
einzig Ungerechte an der Mütterrente ist, dass sie erst
jetzt kommt; vorher war sie jedoch nicht finanzierbar.
Mit den geplanten Verbesserungen bei der Erwerbsminderungsrente wollen wir soziale Härten abfedern.
Das betrifft jedes Jahr fast 170 000 Menschen, die aus
ihrem Job ausscheiden, bevor sie das Rentenalter erreichen. Den Arbeitsplatz zu verlieren, das berufliche Umfeld aufzugeben und die eigene Lebenssituation neu zu
ordnen - dies bedeutet einen harten Einschnitt, oft mit
finanziellen Folgen verbunden. Es geht uns doch im Wesentlichen darum, die Lücke im Rentenkonto aufzufüllen, die durch fehlende Beitragszahlungen aufgrund einer verminderten Erwerbstätigkeit - sprich: durch
Krankheit - entstanden ist. Dies ist, mit Verlaub, nicht
überflüssig - nein, dies war überfällig.
({1})
Bei den Kosten des Rehabudgets, das ebenfalls Bestandteil des Rentenpaketes ist, kann man sogar von einer Investition sprechen: Getreu dem Motto „Reha vor
Rente“ soll mit den zusätzlichen Mitteln des Rehabudgets ein aktiver Beitrag zu einem längeren Erwerbsleben
geleistet werden. Wer nach langer Krankheit wieder seiner Beschäftigung nachgeht, ist ein Gewinn für die Versichertengemeinschaft. Das Rehabudget dient der Unterstützung betroffener Menschen, die ihr Leben noch
selbst aktiv gestalten wollen.
({2})
Ich komme abschließend zu dem Teil des Rentenpaketes, welcher besonders viele Gemüter zu erregen
scheint. Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, die abschlagsfreie Rente für besonders langjährig Versicherte
heißt so, wie sie heißt, da der Begriff der Rente mit 63
vollkommen irreführend ist. Kein Abgeordneter innerhalb der Unionsfraktion will eine Abkehr von der letzten
Rentenreform. Allen Akteuren ist klar, dass sich die demografische Problematik nicht entspannt hat. Es geht
ausschließlich darum, Rentnern, die ihr Leben lang gearbeitet haben, für eine Übergangszeit die Möglichkeit zu
geben, nach 45 Jahren abschlagsfrei mit 63 in Rente zu
gehen. Bislang müssen Arbeitnehmer Abschläge in Kauf
nehmen. Nur darum geht es. Deshalb liegen die Kosten
für diesen Teil des Rentenpaketes bei nur etwa 25 Prozent der Gesamtkosten.
Apropos Kosten: Den Zeitgenossen, die dazu übergehen, die Kosten der Rentenreform auf 160 Milliarden
Euro bis 2030 zu schätzen, sei gesagt, dass diesen Kosten Einnahmen in Höhe von 4 000 Milliarden, also 4 Billionen Euro, gegenüberstehen.
({3})
- Danke schön, Herr Birkwald, das freut mich. - Was ich
damit sagen will: Das Kumulieren von Kosten über
lange Zeiträume führt nur zur Verwirrung und nicht zu
einem wirklichen Mehrwert in der Diskussion.
({4})
Ferner ist sich die Regierungskoalition darüber einig,
dass ein geeignetes Instrument zur Vermeidung einer
Frühverrentungswelle gefunden werden muss. Gerade
ältere Arbeitnehmer sind wertvolle Arbeitskräfte. Auf
ihr Wissen und ihre Erfahrung können wir nicht verzichten. Daher muss ein flexibler Renteneintritt möglich
sein.
Für Arbeitnehmer, die im Einvernehmen mit ihren
Arbeitgebern über den Renteneintritt hinaus arbeiten
wollen, müssen wir vorhandene gesetzliche Barrieren
abbauen. Hier gilt es jedoch, rechtliche Prüfungen abzuwarten. Somit sollte gelten: Gründlichkeit vor Schnelligkeit.
({5})
Die Regierungskoalition hat ihre Hausaufgaben gemacht. Es ist ein Kompromiss zwischen den Regierungsparteien gefunden worden, der zwar nicht alle Interessen
berücksichtigen kann; aber dennoch kommt die Koalition ihrem Auftrag nach, im Sinne des Volkes und zu
dessen Wohl zu handeln.
Die Reformen sind Reaktionen auf die veränderte Lebensrealität unserer Mitbürger und auf die gute wirtschaftliche Situation. Deshalb schließe ich mit einem Zitat eines Ehrenbürgers aus meiner Heimat:
Ich wünsche allen Beteiligten ein gesundes Maß
Gelassenheit und Gottvertrauen, wenn Interessenvertreter bzw. die Medien mal wieder dabei sind,
die eine oder andere Sau durchs Dorf zu treiben.
Vielen Dank.
({6})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Tobias Zech für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der erste
Entwurf des Leistungsverbesserungsgesetzes in der gesetzlichen Rentenversicherung steht. Der Entwurf ist der
Bauplan für das Gebäude, das wir noch errichten müssen; wir treten ja erst heute - das wurde mehrfach angesprochen - in das parlamentarische Verfahren ein.
Die Grundlage ist gelegt. Jetzt geht es darum, an den
Details zu arbeiten. Ein Haus soll entstehen - um bei
diesem Bild zu bleiben -, in dem möglichst viele wohnen können: Arbeitnehmer und Arbeitgeber, Alte und
Junge, Starke und Schwache. Es sollte auch nicht nach
einer Generation wieder einstürzen.
Zum Thema Generationenpolitik. Herr Kurth, ich
fand es gut, wie leidenschaftlich Sie vorhin Ihre Position
vertreten haben. Aber man muss eines sagen: Wir werden zum ersten Mal seit 25 Jahren wieder Leistungsverbesserungen in der gesetzlichen Rentenversicherung ermöglichen - und das, ohne die zentralen Aussagen
unseres Wahlprogramms zu verlassen, nämlich: keine
Steuererhöhungen und keine neuen Schulden. Das ist generationengerechte Politik. Das ist Politik für die junge
Generation, für die ich hier sprechen darf.
({0})
Was sind also die Bausteine des Rentenpaketes? Die
Verbesserungen bei der Erwerbsminderungsrente - Kollege Schiewerling hat dies sehr deutlich ausgeführt sind aus meiner Sicht der wichtigste Bestandteil; denn
damit helfen wir denen, die von Altersarmut bedroht
sind, die keinerlei Aussicht darauf haben, im Rentenalter
ein entsprechendes Auskommen zu haben. Hier hätte
man durchaus mehr tun können, aber wir sind auf einem
richtigen Weg.
Das Thema Rente mit 63 ist nicht unbedingt mein
Wunschthema. Hinsichtlich der abschlagsfreien Rente
nach 45 Beitragsjahren sind wir uns, glaube ich, einig.
Die Frage ist, wie wir die Ausnahmen definieren. Wir
sind uns einig - das ist der erste Schritt -, dass wir keine
Frühverrentung wollen, weil wir die Fachkräfte, die gut
ausgebildeten älteren Mitarbeiter im Unternehmen belassen wollen. Hier sollten wir ins Detail gehen und
schauen, wie wir damit umgehen können.
Es gibt einen Vorschlag: Erstattung von Beiträgen.
Das hatten wir schon einmal in Deutschland. Wir haben
gelernt, dass das nicht richtig funktioniert. Aus meiner
Sicht sollte man versuchen, die unbilligen Härten, die
Sie, Frau Ministerin, in Ihrem Begleitschreiben zum Gesetzentwurf gut beschrieben haben, abzufedern. Die
Grundlage des Gesetzentwurfs ist aber, dass man
45 Jahre lang Beiträge gezahlt hat, dass man 45 Jahre
lang eine Leistung erbracht hat. Insofern bin ich dafür,
dass wir für die Vergangenheit eine Arbeitslosenzeit von
bis zu fünf Jahren berücksichtigen, aber ab dem 1. Juli
2014 eine lückenlose Erwerbsbiografie fordern. Dann
haben wir ein zukunftsfähiges Konzept.
({1})
- Das ist nicht ungerecht.
Unverständlich in diesem Zusammenhang ist, weshalb die freiwilligen Beitragszahler nicht in den Genuss
der abschlagsfreien Rente kommen sollen. Diverse Ausnahmen wurden vom Ministerium aufgezählt, die bei
den 45 Jahren richtigerweise berücksichtigt werden: Zeiten der Pflege und Kindererziehung, Wehrdienst, Weiterbildungen und sogar - für die Vergangenheit - Arbeitslosenzeiten. Was ist aber mit dem selbstständigen
Handwerker, der 45 Jahre freiwillig durchgehend eingezahlt hat? Für den soll das nicht gelten? Wille und Ziel
ist es doch, besonders langjährige Beitragszahler zu belohnen und zu entlasten. Freiwillig Versicherte haben genauso lange gearbeitet, genauso hart geschuftet, genauso
eingezahlt und damit das Sozialversicherungssystem sogar freiwillig unterstützt. Hier sehe ich einen massiven
Nachbesserungsbedarf.
Die Rente nach 45 Beitragsjahren bedeutet eine Flexibilisierung nach unten. In der jetzigen Zeit - das gilt insbesondere, wenn man den demografischen Wandel und
die Zukunftsfähigkeit unseres Landes betrachtet - sollten wir auch in die andere Richtung flexibilisieren. Es
gibt ja schon Diskussionen über einen flexibleren Renteneintritt. Ich denke, wir müssen über die Möglichkeiten diskutieren. Das fängt bei den Arbeitgeber- und
Arbeitnehmerbeiträgen zur Arbeitslosen- und Rentenversicherung an. Wir müssen aber auch überlegen, wie
wir das Teilzeit- und Befristungsgesetz neu gestalten
können.
Ich freue mich auf die Diskussion. Es gibt genügend
Möglichkeiten. Packen wir es gemeinsam an! Frau
Ministerin, Sie haben vorhin gesagt, dass Sie schon
mehrmals gefragt wurden, ob Sie das schaffen. Ich
denke, Sie schaffen das, aber nur gemeinsam mit uns.
({2})
Dann haben wir ein gutes Paket und eine gute Lösung
für die Rentner in Deutschland.
Herzlichen Dank.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/909 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu andere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 4:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchführung der Direktzahlungen an Inhaber
landwirtschaftlicher Betriebe im Rahmen von
Stützungsregelungen der Gemeinsamen Agrarpolitik ({0})
Drucksache 18/908
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft ({0})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind auch
für diese Aussprache 96 Minuten vorgesehen. - Das ist
offenkundig einvernehmlich. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
der Bundeslandwirtschaftsminister Christian Schmidt.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich entnehme der Rednerliste, dass Kollege
Wiese heute seine erste Rede im Parlament hält.
({0})
- Nicht. Dann haben wir heute vielleicht einen anderen
Neuling. Ich wollte damit nur darauf hinweisen, dass ich
zwar schon die eine oder andere Rede in diesem Hause
gehalten habe, aber meine heutige Rede zur Landwirtschaft meine erste in dieser Zuständigkeit ist.
({1})
Insofern fühle ich mich mit den Erstrednern sehr verbunden.
Herr Minister, das Präsidium verfolgt das natürlich
auch mit besonderer Aufmerksamkeit. Ich kann Ihnen
den Bonus für Erstredner, den das Präsidium im Übrigen
gelegentlich gewährt, trotzdem nicht in Aussicht stellen.
({0})
Herr Präsident, herzlichen Dank. Aber man versucht
es doch immer wieder.
({0})
Ich will allerdings darauf hinweisen - wenn Sie noch
eine persönliche Bemerkung gestatten -, dass ich bisher
insbesondere in Ministerien tätig war, die nicht unmittelbar Erfahrungen mit dem Föderalismus in voller Intensität haben. Das Bundesministerium der Verteidigung und
das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ziehen Bundeskreise, aber keine
stark föderalen Kreise. Das ändert sich jetzt natürlich für
mich sehr. Frau Kollegin Höfken, wir beide, Sie und ich,
und 15 andere Landesminister und Senatoren werden
sich ab heute Mittag in Cottbus zur Agrarministerkonferenz treffen. Ich darf schon jetzt darauf hinweisen - ich
bedanke mich für das Verständnis bei allen Fraktionen -,
dass das für mich bedeutet, dass ich leider nicht die gesamte Debatte verfolgen kann,
({1})
sondern mich nach der ersten Runde hier verabschieden
muss; denn dann darf ich mich den geschätzten Kolleginnen und Kollegen der Länder stellen.
({2})
Landwirtschaft gehört in die Mitte der Gesellschaft.
Sie sichert unsere Lebensgrundlagen. Sie sichert auch
weite Teile unserer so geschätzten Lebensqualität. Deshalb halte ich es für sehr angemessen und freue mich darüber, dass die Landwirtschaft heute in der Kernzeit in
diesem Haus debattiert wird.
({3})
Das ist Ausdruck von Wertschätzung für Wertschöpfung.
Darum wird sich mein Ministerium als Lebensministerium in dieser Legislaturperiode kümmern, auch in der
Hoffnung, dass wir weitere Debatten zu guter Zeit führen können.
Die fast 300 000 Bauernfamilien, die wir in Deutschland haben, stehen am Anfang der Wertschöpfungskette.
Im christlichen Sinne ziehen sie die Früchte aus dem Boden und arbeiten als Gärtner mit der Schöpfung. Sie haben den Auftrag, Menschen zu ernähren und mit den
natürlichen Ressourcen schonend umzugehen. Dabei erfüllen sie Aufgaben und Auflagen im Interesse der Gesellschaft, die über den Preis nicht abgegolten werden
können. Zudem haben sie mit natürlichen Widrigkeiten
zu kämpfen. Mehr als alle anderen sind sie von der Witterung und von klimatischen Entwicklungen betroffen.
Im Gegenzug, so meine ich, haben sie Unterstützung
verdient: Direktzahlungen, und zwar unabhängig davon,
wie viel und was sie produzieren - ich glaube, es ist der
richtige Weg, dies zu entkoppeln -, gebunden an die Fläche, die sie pflegen, und bald deutschlandweit in gleicher Höhe; bis heute fallen die Direktzahlungen in den
verschiedenen Bundesländern unterschiedlich hoch aus.
Verweigern wir unseren Bauern diese Unterstützung, gefährden wir die vielfältigen Agrarstrukturen und beeindruckenden Landschaften in Deutschland. Darum geht
es heute in dieser Debatte.
Wie gestalten wir ab 2015 ein System der Anerkennung für Leistungen, von denen wir alle als Verbraucherinnen und Verbraucher profitieren? Ja, die Zahlungen
sollen der Natur und unseren Lebensgrundlagen und natürlich insbesondere der Landwirtschaft zugutekommen.
({4})
Ich habe damit den Spannungsbogen dargestellt, innerhalb dessen wir uns, wie ich meine, am besten in einer pragmatischen, vernünftigen Weise auseinandersetzen. Es geht um fundamentale Gerechtigkeitsfragen. Die
politischen Entscheidungen, ob in Brüssel, hier im Deutschen Bundestag oder im Bundesrat, wirken sich unmittelbar auf wirtschaftliche Existenzen und das Schicksal
von Menschen aus, die an erster Stelle in der Wertschöpfungskette Verantwortung übernehmen. Ich meine, dass
es richtig und gut ist, dass wir dem Anspruch auf Verlässlichkeit und Planungssicherheit gerecht werden.
Die Direktzahlungen haben für viele Bauern im Land
eine Schlüsselbedeutung. Der durchschnittliche Anteil
der Direktzahlungen am Einkommen der Betriebe lag im
Wirtschaftsjahr 2012/2013 bei einem Drittel, bei 34 Prozent. Mit anderen Worten: Die Direktzahlungen sind
eine ihrer Existenzgrundlagen. Unabhängig davon, wie
man sich dazu stellt, muss jedem klar sein: Wir müssen
unseren Landwirten diesen Ausgleich für besonders
hohe Anforderungen zubilligen.
Lassen Sie mich nebenbei bemerken, dass ich aufgrund meiner langjährigen parlamentarischen Erfahrung
mit Regelwerken und Gesetzen glaube, ein wenig Ahnung zu haben. Aber angesichts der Volumina und Details der Regelungen im landwirtschaftlichen Bereich
kommt es zu Überraschungseffekten,
({5})
die auch alte Fahrensleute noch in tiefes Erstaunen versetzen und manche Frage auslösen.
({6})
Kollege Ostendorff, mir hat ein erfahrener grüner
Politiker - nicht mehr aktiv - vor ein paar Tagen gesagt:
Passt bitte auf, dass ihr bei der Ökoverordnung, die die
Europäer auf den Weg bringen wollen, keine Handbücher schreibt,
({7})
sodass sie niemand mehr wirklich umsetzen kann, vor
allem die kleineren Betriebe nicht. - Wir müssen den
deutschen Bauern, was die finanzielle Seite angeht, im
Rahmen der Gemeinsamen Agrarpolitik Stabilität versprechen.
4,8 Milliarden Euro stehen pro Jahr für die Direktzahlungen zur Verfügung, und das bis zum Jahr 2020. Sie
wissen, dass wir vor einigen Jahren ganz andere Befürchtungen hatten. Es gab allerhand Begehrlichkeiten,
ob sie nun von anderen europäischen Ländern - ich erinnere an die Diskussion mit den osteuropäischen Nachbarn - oder von anderen Politikbereichen vorgetragen
wurden; es wurde gesagt, Landwirtschaft sei doch keine
Zukunftsbranche. Nein, die Landwirtschaft ist eine Zukunftsbranche, und es ist ein großer politischer Erfolg,
dass es keine dramatischen Kürzungen geben wird. Ich
bedanke mich bei allen dafür.
({8})
Neben der Einkommenssicherung und der Risikovorsorge für unsere Landwirte haben wir ein weiteres Ziel
fest im Blick: Wir wollen die Bedingungen für eine
nachhaltige Landwirtschaft verbessern. Deshalb haben
wir einen Gesetzentwurf vorgelegt, der auch basierend
auf den Beratungen der Sonder-Agrarministerkonferenz
vom November letzten Jahres die Umschichtung der
Mittel fest verankert hat.
Wir wollen 4,5 Prozent der jährlichen Obergrenze für
die Direktzahlungen als zusätzliche Mittel für die Förderung der ländlichen Entwicklung umschichten. Das
macht rund 229 Millionen Euro aus, Jahr für Jahr. Damit
stehen den Ländern 1,1 Milliarden Euro zusätzlich für
eine nachhaltige Landwirtschaft zur Verfügung. Dieses
Geld kann gut investiert werden: für Grünlandstandorte,
für eine besonders tiergerechte Haltung, für die Haltung
von Raufutterfressern, für Agrar-, Umwelt- und Klimaschutzmaßnahmen, für den Ausbau des ökologischen
Landbaus. Ich bin froh, dass wir in eine Zeit kommen, in
der keine ideologischen Gegnerschaften mehr kultiviert
werden, sondern eher das Miteinander die Perspektive
ist.
Die Bundesländer haben sich verpflichtet, die zusätzlichen Mittel für diese Zwecke und damit landwirtschaftsnah zu verwenden. Ich nenne das politisch sinnvoll und eine Umschichtung mit Augenmaß. Ja, wir
nehmen von dem Geld, das den Bauern bislang unmittelbar zugutegekommen ist; aber im Vorfeld waren hier
noch ganz andere Beträge in der Diskussion. Zugleich
hilft diese Umschichtung dabei, die Mittel im ländlichen
Raum zu halten. Es sind die EU-Fördermittel ja um insgesamt fast 9 Prozent gekürzt worden.
Die Fördermittel sollen im Ergebnis um 4 Prozent anwachsen. Kein Zweifel: Beides, starke Landwirtschaft
und starke ländliche Entwicklung, geht bei uns, bei dieser Bundesregierung, Hand in Hand. Die Förderung der
Landwirtschaft wird umweltgerechter; denn 30 Prozent
der Direktzahlungen kommen künftig dem Umwelt- und
Klimaschutz zugute. Unsere Landwirte müssen zusätzliche Leistungen erbringen. Sie dienen dem Erhalt von
Dauergrünland, sie garantieren eine größere Vielfalt
beim Anbau der Feldfrüchte, und sie führen zu ökologischen Vorrangflächen. Ab 2015 müssen unsere Landwirte 5 Prozent der Ackerflächen als ökologische Vorrangflächen bereitstellen. Das EU-Recht eröffnet ihnen
dabei einen Katalog von Möglichkeiten, den wir nutzen
sollten. Der reicht von Landschaftselementen wie
Hecken und Baumreihen über Pufferstreifen an Gewässern bis hin zu Feldrandstreifen und Brachflächen. Zum
Stichwort „Baumreihen“ sei nur ganz kurz gesagt: Ich
höre, dass in den Ausführungsbestimmungen der Europäischen Kommission die Baumkronenbreite schon auf
genau 4 Meter festgelegt ist. Ein Wunsch an unsere
Techniker wäre dann, dass wir solche Messungen möglicherweise satellitengestützt vornehmen könnten. Ich will
damit nur sagen: Liebe Leute, die ihr in Europa tätig
seid, lasst bitte mal die Kirche im Dorf und den Baum
dort, wo er steht!
({9})
Weiter zu nennen sind Flächen mit Zwischenfrüchten
und Eiweißpflanzen.
Mit all diesen Möglichkeiten werden wir unsere
Landwirte zukünftig zu mehr Umweltschutz und Biodiversität ermutigen, und das ist gut und richtig so.
Wenn wir es anders machen würden, müssten wir
stilllegen. Stilllegung ist aber keine Antwort; Stilllegung
ist eigentlich ein Stück Kapitulation vor dem, was ansteht.
({10})
Das heißt allerdings auch, dass wir auf ökologischen
Vorrangflächen eine Bewirtschaftung nach guter fachlicher Praxis zulassen wollen. Es findet sich ein hohes
Maß an Flexibilität in diesem Gesetzentwurf. Aber das
heißt auch, dass die gute fachliche Praxis bei Zwischenfrüchten und Eiweißpflanzen möglich sein muss. Wir
wollen den Landwirten mit unserem Gesetzentwurf
diese Flexibilität geben.
Ein Wort zur nationalen Umsetzung; das wird auch
Thema der Beratungen sein. Ich will das Struck’sche Gesetz jetzt nicht zitieren, zumal es sich um eine Vorlage
handelt, die ich eingebracht habe; aber dass das Europäische Parlament sich bei der Zustimmung zu den sogenannten delegierten Rechtsakten nach Art. 290 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union
nach dem Lissabonner Vertrag - das ist ein neues Instrument, das die Kommission hat - gegenwärtig schwertut,
zeigt, dass hier noch Gesprächs- und Erörterungsbedarf
ist.
({11})
Wir werden heute Abend mit der EU-Kommission das
eine oder andere besprechen können. An praktikablen
Lösungen für Themen wie „der aktive Landwirt“ müssen
wir noch weiter arbeiten.
Wir haben keine Kürzung oder Kappung der Direktzahlungen für sehr große Betriebe vorgesehen. Wir sagen nicht nur im Jahr der familienbetriebenen Landwirtschaft: Die kleineren und mittleren Betriebe sollten
schon gefördert werden, weil sie besondere Bedingungen haben. - Es ist also keine Kappung, sondern eine gewisse Unterstützung der kleineren Betriebe. Wir haben
uns, wie Sie wissen, auf zusätzlich rund 50 Euro pro
Hektar für die ersten 30 Hektar und etwa 30 Euro für die
nächsten 16 Hektar geeinigt.
„Der aktive Landwirt“ ist ein Begriff, der noch in eine
Auslegungsliste der EU-Kommission kommen muss.
Dazu sage ich: Wir dürfen nicht in zu starkem Maße mit
Negativlisten arbeiten.
({12})
- Herr Präsident, ich entnehme der Gestik des Herrn
Fraktionsvorsitzenden, dass er mir vielleicht noch etwas
schenkt.
({13})
Lieber Christian Schmidt, es ist Verhandlungssache,
wem wir dann die Redezeit wegnehmen. Aber ich will
Sie natürlich nicht unterbrechen. Das muss in Ihren Reihen geklärt werden. - Bitte schön.
Vorschlag: Ich bin in Kürze fertig; dann sind die Verhandlungen, wie ich das gern habe, schiedlich-friedlich
konstruktiv zu Ende geführt.
Ich kann natürlich nicht eine Diversifizierung im Einkommen fordern, sagen: „Ihr Landwirte müsst auch andere Einkommensquellen sinnvoll erschließen“, und anschließend, wenn sie das tun, meinen: „Jetzt seid ihr aber
keine reinen Landwirte mehr. Ich muss euch ausschließen.“ - Das geht nicht!
({0})
Wir brauchen ein System der Anerkennung für die
Bauernfamilien und ihre unverzichtbare Wertschöpfung.
Ich denke, dass uns dies bei diesem Gesetzentwurf in guter Weise gelungen ist.
Herzlichen Dank.
({1})
Vielen Dank, Christian Schmidt. Viel Erfolg bei Ihrer
künftigen Arbeit, nicht nur für den ländlichen Raum!
Nächste Rednerin: Dr. Kirsten Tackmann für die
Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Gäste! Ich verstehe sehr gut, dass alle Beteiligten
endlich wissen wollen, wohin der Hase läuft in der EUAgrarpolitik; es ist immerhin schon 2014. Aber Entscheidungen schnell und demokratisch zu treffen, widerspricht sich manchmal. Zumindest der Linken ist eine
kluge und demokratisch gefasste Entscheidung allemal
wichtiger als eine schnelle,
({0})
gerade weil die Beschlüsse bis 2020 gelten sollen und erheblichen Einfluss auf die Städte, die kleinen Dörfer und
auch auf die Landwirtschaft haben werden. Deshalb
lohnt sich trotz allem Zeitdruck durchaus ein sehr prüfender Blick auf die Vorschläge, die jetzt hier vorliegen.
Dazu gehört allerdings auch eine Bewertung der aktuellen Situation, der Förderwirkungen und der Frage,
wer von den Fördermitteln bisher profitiert hat. Ich
selbst lebe in einem kleinen märkischen Dorf und
komme viel herum. Ich erlebe es, dass immer mehr Menschen genau wissen wollen, wo, wie und von wem die
Lebensmittel, die sie essen, hergestellt werden, Menschen, die sich gerade im so sensiblen Lebensmittelbereich keinen rein wirtschaftlichen Verwertungsinteressen
und der Geldgier ausliefern wollen. Sie sind die Verbündeten aller Betriebe, die im Dorf Arbeitsplätze schaffen,
ihre Leute vernünftig bezahlen und mit der Natur in Einklang produzieren.
({1})
Es ist doch grotesk: Einerseits genießt die Landwirtschaft eine große Anerkennung in der Gesellschaft; Platz
drei in einer Emnid-Umfrage, welcher Beruf in der Zukunft für die Gesellschaft besonders wertvoll und wichtig ist, zeigt das doch. Andererseits hört man zunehmend
Kritik an Landwirtschaftsbetrieben, Schlachtbetrieben
und Supermärkten. Das Vertrauen ist erschüttert, und das
nicht nur wegen Pferdefleisch und Antibiotikamissbrauch. Es geht um das Pflügen bis an den Gewässerrand
und den Waldrand heran. Es geht um Betriebe, die mit
den Dörfern überhaupt nichts mehr zu tun haben, weil
der Geschäftsführer nur noch einmal in der Woche
schaut, ob der Lohnunternehmer auf dem Acker seine
Arbeit getan hat. Es geht um Feldwege, die verschwinden. Es geht um zu viel Dünge- und Pflanzenschutzmittel. Es geht um Äcker, die totgespritzt werden, um den
Erntezeitpunkt zu optimieren. Es geht um gentechnisch
veränderte Pflanzen, und es geht um das Verschwinden
von Allerweltsarten wie Lerche und Kiebitz. Gerade
junge Leute ernähren sich immer häufiger vegan oder
vegetarisch, weil sie die Tierhaltungsbedingungen nicht
mehr mitverantworten wollen.
({2})
Ja, immer mehr Menschen wissen nicht mehr, wie Lebensmittel auf dem Acker, im Stall und im Gewächshaus
produziert werden. Gerade deswegen brauchen wir einen
intensiven Dialog zwischen Verbraucherinnen und Verbrauchern und der Landwirtschaft - aber auf Augenhöhe. Dann verstehen vielleicht mehr Menschen, welche
Probleme die Landwirtschaftsbetriebe haben. Ihre Probleme entstehen zum Beispiel, weil sie Äcker an den
Straßen- und Siedlungsbau, an nichtlandwirtschaftliche
Investoren oder an den Hochwasserschutz verlieren oder
weil erfolgreicher Artenschutz für sie zusätzliche Probleme bereitet, etwa mit Bibern oder Wölfen.
Aber viele Probleme sind auch die Folge einer falschen EU-Agrarpolitik. Das fängt beim Preisdumping
auf dem Weltagrarmarkt an, geht weiter mit Agrarbetrieben, die gegenüber immer größeren Schlachthöfen, Molkereien und Supermärkten machtlos sind, und hört bei
der Preistreiberei beim Kauf oder bei der Pacht von
Äckern nicht auf. Deswegen sage ich ganz klar: Eine
noch so kluge Agrarförderpolitik wird scheitern, wenn
es keine sozial und ökologisch fairen Marktbedingungen, wenn es nicht mehr regionale Verarbeitung und Vermarktung und wenn es keinen konsequenten Kampf gegen Bodenspekulation gibt.
({3})
Aber auch eine falsche Agrarförderpolitik hat zu den
Problemen beigetragen. Es war zwar richtig, 2005 aus
der gekoppelten Produktion auszusteigen und auf die
Förderung der Flächenbewirtschaftung umzustellen;
aber die Verlierer sind zum Beispiel die Schaf- und Ziegenhalter, die ohne Mutterschafprämie kaum noch überleben. Sie werden aber dringend gebraucht, zum Beispiel
für die Deichpflege oder für die Offenhaltung der Landschaft. Hecken sind der Flächenbeschaffung oft zum Opfer gefallen. Viele Betriebe haben die Tierhaltung aufgegeben. Also: Ein einfaches Weiter-so ist überhaupt keine
Option.
({4})
Deshalb sagt die Linke ganz klar: Öffentliches Fördergeld muss für öffentliche Leistungen zielgenauer ausgegeben werden, also für mehr Arbeitsplätze, für mehr
Umwelt und Klimaschutz. Aus Sicht der Linken wollte
EU-Agrarkommissar Ciolos genau die richtigen Weichen stellen. Die Bundesregierung hat das aber lange
blockiert und ist erst im letzten Moment auf den fahrenden Zug aufgesprungen, um sofort die Bremse zu übernehmen.
Zum Beispiel wollte Ciolos wie die Linke Betriebe
mit vielen Arbeitskräften fördern; denn eine große Genossenschaft mit vielen Beschäftigten ist eben etwas
anderes als eine große Agrargesellschaft. Dass diese
Möglichkeit ausgeschlagen wurde, ist eine klare Fehlentscheidung. Wir wollten nur aktive Landwirte fördern
und Konzerne von der Förderung ausschließen; auch das
wird wohl nur bedingt gelingen. Wir waren für ökologische Vorrangflächen in allen Betrieben, wollten dort
aber Eiweißpflanzenanbau ermöglichen. Die Bundesregierung will nun, dass dort auch noch Düngemittel und
Pflanzenschutzmittel verwendet werden; aber das ist absolut kontraproduktiv.
({5})
Wir waren für ein Verbot der Umwandlung von Grünland in Ackerland. Nun sollen aber auch Pflegeumbrüche auf allen Grünlandflächen in Natura-2000-Gebieten
verboten werden. Geplant ist also eine deutliche Nutzungseinschränkung, und das nur aus bürokratischen
Gründen. Das halten wir für völlig falsch.
({6})
Es gibt also noch viele offene Fragen, die wir in der
Anhörung am kommenden Montag dringend miteinander besprechen müssen - im Interesse der Verbraucherinnen und Verbraucher, der Landwirtschaft und des
ländlichen Raums.
Vielen Dank.
({7})
Danke, Frau Kollegin. Nächste Rednerin: Ute Vogt
für die SPD.
({0})
Ganz herzlichen Dank. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will dem Ministerium danken, dass wir trotz des Wechsels, der in diesem Haus sicherlich nicht nur für Ruhe gesorgt hat, doch recht
schnell zur zügigen Umsetzung dieses ersten Teils der
EU-Agrarreform kommen. Ich bin Ihnen dankbar, Herr
Minister, dass Sie die nachhaltige Landwirtschaft als ein
wichtiges Ziel nicht nur für die Landwirtschaft, sondern
für unsere gesamte Gesellschaft ausdrücklich nach vorne
gestellt haben.
({0})
Ich will nicht verhehlen, dass die EU-Agrarreform,
wie wir sie jetzt vorliegen haben, hinter den heutigen
Anforderungen an Ökologie und Nachhaltigkeit insgesamt zurückbleibt. Das ist nun bis 2017 festgelegt. Es
gilt jetzt, das Beste daraus zu machen. Aber es stimmt
auch der Satz: Nach der Reform ist immer auch vor der
Reform. - Wir müssen das, was passiert, auf jeden Fall
kritisch begleiten, um daraus für die nächsten Schritte
schon heute die richtigen Schlüsse zu ziehen.
({1})
Es geht heute in der Debatte ebenfalls darum, dass wir
darüber diskutieren, wie wir die Beschlüsse der Agrarministerkonferenz umsetzen. Nur für jeden dritten Hof
findet sich in der heutigen Zeit noch ein Nachfolger,
ganz selten auch eine Nachfolgerin. Ich denke, es ist gut,
dass durch die Beschlüsse der Agrarministerkonferenz
die jungen Landwirte gestärkt werden. Es ist auch ein
wichtiger Schritt, dass kleinere Betriebe in Zukunft besser gefördert werden können. Die 220 Millionen Euro,
die von der ersten in die zweite Säule umgeschichtet
werden, helfen den Ländern durchaus, flexibel und sehr
zielorientiert zu steuern. Leider, muss ich sagen, haben
die Agrarminister der Länder es nicht geschafft, die
Spielräume etwas stärker zu nutzen. 4,5 Prozent der Mittel - das sind diese 220 Millionen Euro - werden umgeschichtet. Das ist ein erster Schritt; aber wir hätten die
Chance gehabt, bis zu 15 Prozent zu gehen. Ich sage für
meine Fraktion, dass wir es gerne gesehen hätten, wenn
das, was es an Umschichtungsmöglichkeiten gibt, ausgeschöpft worden wäre;
({2})
denn diese Mittel geben uns Spielraum, zum Beispiel zur
Unterstützung artgerechter Tierhaltung, aber auch zur
Unterstützung der ökologischen Bewirtschaftung. 220 Millionen Euro - das klingt nach viel Geld, ist aber doch
nicht so viel, wenn man sieht, dass dieses Geld auf die
Länder und dann auch noch auf die Betriebe zu verteilen
ist.
Der einstimmige Beschluss der Länderagrarminister
ist von uns nicht mehr zu ändern, wir müssen ihn so nehmen. Umso mehr kommt es jetzt darauf an, was wir in
der parlamentarischen Beratung aus der Gesetzesvorlage
machen. 30 Prozent der Direktzahlungen sind mit sogenannten Greening-Auflagen versehen. Es geht dabei um
die Einhaltung von Fruchtfolgen, es geht um den Erhalt
von Dauergrünland, es geht um ökologische Vorrangflächen. In der Tat haben wir hier einiges noch zu sichern;
denn wenn wir uns die letzten Jahrzehnte anschauen, erkennen wir: Seit den 70er-Jahren sind in Bayern etwa
30 Prozent der früheren Grünlandflächen verloren gegangen, in Ost- und Norddeutschland Untersuchungen
zufolge sogar bis zu 80 Prozent. Ich denke, es ist ein
wichtiges Ziel, dass Grünland in Zukunft nicht mehr verloren geht, sondern im Zweifel auch wieder verstärkt
vorhanden ist.
({3})
Dabei ist es wichtig, zu sehen, dass Grünland nicht
gleich Grünland ist. Der Wert dieser Flächen für den Klimaschutz und die Artenvielfalt hängt nämlich stark davon ab, welche Bewirtschaftungsweise angewandt wird.
Deshalb müssen wir bei den kommenden Beratungen,
angefangen mit der anstehenden Anhörung, auf alle
Fälle im Blick haben, dass die Art der Bewirtschaftung
dieser Flächen im Vordergrund steht. Es geht nicht allein
darum, Grünland zu erhalten; es muss auch eine sehr
sorgsame Bewirtschaftung stattfinden.
Ein besonderes Augenmerk will ich noch auf die ökologischen Vorrangflächen legen. Es findet ein teilweise
sogar sehr emotionaler und erbitterter Streit um dieses
Thema statt. Ich bin ausdrücklich dafür, dass wir zur Sicherung der Biodiversität und der Artenvielfalt strikte
Vorgaben für diese Vorrangflächen machen.
Allen, die aufgeregt schreien, kann man im Sinne des
Ministers, der auch schon dazu aufgefordert hat, nur sagen: Lassen Sie die Kirche im Dorf. - Es geht um ganze
5 Prozent der Ackerflächen, die ökologische Vorrangflächen werden sollen. Wenn man das umrechnet, sieht
man, dass das gerade einmal 595 000 Hektar von insgesamt 11,9 Millionen Hektar bei uns sind. Ich denke, wir
täten gut daran, den ökologischen Vorrang für diese sehr
kleine Fläche am Ende wirklich besonders ernst zu nehmen.
({4})
Ökologischer Vorrang bedeutet, dass bei der Bewirtschaftung dieser Flächen ökologische Gesichtspunkte
Vorrang vor wirtschaftlichen haben müssen. Es geht darum, dass wir hier unsere Spielräume nutzen, indem wir
zum Beispiel - das wurde in der Debatte schon erwähnt den Einsatz von Pestiziden auf diesen Flächen tatsächlich untersagen. Das finde ich ein wichtiges Ziel. Wir
werden noch ein bisschen darüber diskutieren müssen sicherlich auch in der Koalition. Aber ich finde: Es gibt
hier Spielräume. Es geht nicht nur um Pestizide, sondern
auch um mineralische Dünger.
({5})
Ich glaube, bei der Ausgestaltung des Gesetzentwurfs
und den daraus folgenden Verordnungen haben wir noch
einiges zu tun.
({6})
Ich will Ihnen auch für die Diskussion noch einmal in
Erinnerung rufen, dass die Vorgaben, die wir machen, im
Sinne des Gemeinwohls erfolgen; denn hier wird ja nicht
wenig Geld verteilt. Bei allem Verständnis dafür, dass
dies eine wichtige Unterstützung für die Landwirte ist,
die viel tun, um unsere Ernährung zu sichern und unsere
Kulturlandschaft zu erhalten, muss man deutlich machen, dass es sich um öffentliche Gelder, also Steuermittel, handelt und dass es deshalb keine Anmaßung ist,
wenn man für die Vergabe dieser öffentlichen Gelder
entsprechende Auflagen vorsieht.
Ich freue mich auf die Beratungen und glaube, wir haben einiges zu diskutieren - durchaus auch strittig. Es
geht uns darum, im parlamentarischen Verfahren allen
Seiten Rechnung zu tragen. Das tun wir beispielsweise,
indem wir in der Anhörung alle Beteiligten zu Wort
kommen lassen. Aus dieser Anhörung wollen wir dann
unsere Schlüsse ziehen.
Wir wünschen uns, dass nicht nur das Gesetz, sondern
auch die Verordnungen die Handschrift der beiden
Ministerien tragen, die dies gemeinsam zu verantworten
haben. Wir haben vereinbart: Die Umsetzung auf dem
Verordnungswege geschieht im Einvernehmen zwischen
Umwelt- und Landwirtschaftsministerium. Ich glaube,
wenn wir bei der Umsetzung sowohl die Umweltaspekte
als auch die Bedürfnisse der Landwirte berücksichtigen,
dann haben wir eine Umsetzung geschafft, die unserer
Gesellschaft auf alle Fälle nutzen und das Wort „nachhaltig“ mit Sicherheit verdienen wird.
({7})
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Als Nächste hat - und
ich begrüße sie recht herzlich - Staatsministerin Uli
Höfken, Ministerin für Umwelt, Landwirtschaft, Ernährung, Weinbau - das freut manche hier im Saal - und
Forsten das Wort für den Bundesrat. Frau Höfken, bitte.
Ulrike Höfken, Staatsministerin ({0}):
Ganz herzlichen Dank. - Ich danke auch der Grünenfraktion dafür, dass ich die Sicht der Länder hier vortragen darf.
Das ist natürlich ein wichtiges Thema für diejenigen,
die dies alles umsetzen müssen. Wir haben in meinem
Bundesland Rheinland-Pfalz erreicht - und ich bin sehr
froh, dass ich dazu beitragen durfte -, dass sich die Benachteiligung der bäuerlichen Betriebe bei der Direktzahlung jetzt nach und nach dem Ende zuneigt. Ich muss
an dieser Stelle in diesem Hohen Hause aber auch darauf
hinweisen: Wir haben weniger Geld in der zweiten
Säule. Das liegt auch sehr stark an den Kürzungen bei
der Gemeinschaftsaufgabe. Ich darf die Abgeordneten
und die Ministerien an ihre Zusage erinnern, die Mittel
im Bereich des Hochwasserschutzes genauso wie die der
Gemeinschaftsaufgabe aufzustocken. Ich bitte Sie darum, das in den Haushaltsberatungen wahr zu machen.
({1})
Die Nachhaltigkeit hängt ja auch an dieser Unterstützung, genauso wie Investitionsmöglichkeiten oder die
Bodenordnung.
Wir haben bei der GAP eine Reform auf den Weg gebracht, die ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung
sein könnte, wenn nicht diese Bundesregierung - das
muss man natürlich sagen - wie auch die vorherige jeden
Fortschritt immer wieder ein ganzes Stück weit aushebeln würde, und zwar auf allen Ebenen.
Ein zentraler Punkt der GAP ist das Greening. Auch
der Umweltausschuss des Bundesrates wendet sich gegen eine Verwässerung dieses elementaren Bestandteils
der Reform. Wir werden am 11. April diese Frage im
Bundesrat debattieren.
Herr Minister Schmidt ist offensichtlich schon unterwegs; dafür habe ich Verständnis.
({2})
- Entschuldigung, ich hätte mich nur einmal umdrehen
müssen. Schön, dass Sie noch da sind. - Sie haben öffentlich Gesprächsbereitschaft signalisiert. Ich freue
mich, dass wir uns heute Abend über dieses Thema unterhalten können.
Sie haben in diesem Zusammenhang auch vor überzogenen Kampagnen gewarnt. Dazu sage ich Ihnen: Wenden Sie sich da einmal an Ihre Kolleginnen und Kollegen
im Europäischen Parlament; denn diese drohen gerade
damit, das Instrument der delegierten Rechtsakte durchfallen zu lassen.
({3})
Das wäre eine echte Katastrophe für die Umsetzung auf
Landesebene und würde die Betriebe vor Probleme stellen, die wir so schnell gar nicht lösen können.
Diese Haltung der CDU/CSU im Europäischen Parlament scheint dazu zu dienen, das Parlament dahin gehend unter Druck zu setzen, weitere agrarindustrielle Interessen durchzusetzen.
({4})
Das merken wir schon jetzt. Wir haben gestern die Auslegungsvorschläge der Kommission bekommen. Da sieht
man: Es geht um eine Reduzierung der Nachhaltigkeitselemente im Rahmen der GAP-Reform. Das werden wir
so nicht hinnehmen.
({5})
Ich gehe auch davon aus, dass es hier - so habe ich
meine Vorrednerin, Frau Vogt, verstanden - nach wie
vor gemeinsame Ziele gibt, nämlich die Stärkung der
umwelt- und tiergerechten Erzeugung und die Stärkung
der bäuerlichen Landwirtschaft. Es geht auch darum, im
Deutschen Bundestag dafür zu sorgen, ein weiteres Artensterben, die Verseuchung des Trinkwassers oder die
Schädigung unserer Wälder zu verhindern. Das sind übrigens auch ökonomische Faktoren. Fragen Sie dazu einmal die Waldbesitzer.
({6})
Wir alle miteinander haben die Pflicht, die Artenvielfalt, die Biodiversität zu erhalten. Ich erinnere an die
Biodiversitätsstrategie, die Sie selber verabschiedet haben, die Wasserrahmenrichtlinie und die nationalen Gesetze dazu genauso wie an den Klimaschutz. Die Umsetzung dieser Ziele hat eng mit dem Greening zu tun.
Darum will ich kurz auf drei Punkte eingehen, die sich
vielleicht banal anhören, aber von großer Bedeutung
sind.
Der erste Punkt ist der Anbau von Zwischenfrüchten.
Die Frage ist: Erlaubt man den Anbau von ZwischenStaatsministerin Ulrike Höfken ({7})
früchten als Greening-Maßnahme? Herr Minister Schmidt,
es ist eben nicht so, dass gute fachliche Praxis und Vorrangfläche grundsätzlich miteinander zu vereinbaren
sind, sondern es gibt durchaus Unterschiede zwischen
ökologischer Vorrangfläche und guter fachlicher Praxis;
das ist meine feste Auffassung. Der Anbau von Zwischenfrüchten darf nicht zugelassen werden; das ist zwar
gute fachliche Praxis, aber keine ökologische Vorrangleistung.
({8})
- Ja, als Erosionsschutz ist das gut, aber der Biodiversität bringt das nichts.
Ein zweiter Punkt sind Pestizide und Dünger. Wir
möchten verhindern, dass auf ökologischen Vorrangflächen Pestizide und Dünger ausgebracht werden. Das
würde das Ganze auf den Kopf stellen.
({9})
Der dritte Punkt. Grünland zu erhalten, ist eines der
wichtigsten Ziele der GAP-Reform wie auch, so habe
ich es verstanden, dieser Bundesregierung. Also muss es
darum gehen, Grünland zu erhalten und dafür zu sorgen
- das diskutieren wir auch auf der AMK -, dass es hier
ein Autorisierungssystem gibt, sodass wir nicht abwarten, bis die nächsten 5 Prozent Grünland verschwunden
sind.
({10})
Ich habe mit großer Aufmerksamkeit verfolgt, was
Ministerin Hendricks zur Lage der Natur gesagt hat. Ich
möchte Sie alle beim Wort nehmen, gerade auch die
Kollegen der SPD, die sich zurzeit als Merkels brave
Helferlein etwas verspotten lassen müssen. Ich glaube,
dass wir alle ungeachtet dessen, was im Bericht zur Lage
der Natur steht, aufgefordert sind, dafür zu sorgen, dass
die nationalen Möglichkeiten zur Umsetzung des Greenings auch wirklich wahrgenommen werden, damit das
ursprünglich in der GAP vereinbarte Ziel „öffentliche
Gelder für öffentliche Leistungen“ realisiert werden
kann. Ich hoffe, dass wir gemeinsam zu einem guten Ergebnis kommen.
Vielen Dank.
({11})
Vielen Dank, Frau Ministerin Höfken. - Jetzt hat
Gitta Connemann das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wer von
Ihnen kennt Jemgum?
({0})
- Danke. Kollege Johann Saathoff, mein ostfriesischer
Nachbar. Sonst niemand? - Schade. Es ist dort nämlich
wie im Paradies, sagen jedenfalls die Einheimischen und
finden auch die Gänse. Jedes Jahr im Frühjahr und im
Herbst machen sie dort zu Zehntausenden Rast: Graugänse, Nonnengänse und Blessgänse. Auf dem Weg vom
Süden in die nordischen Brutgebiete legen sie dort sozusagen einen Boxenstopp ein; denn ihnen wird ein reich
gedeckter Tisch präsentiert: saftige grüne Wiesen.
Die Gemeinde Jemgum ist zu 80 Prozent europäisches Vogelschutzgebiet. Das Gras genießen übrigens
auch die Schwarzbunten. Ostfriesland ist für seine Weidekuhhaltung berühmt, und der Tourist erfreut sich an
dem Anblick dieser Kulturlandschaft - ja, Kulturlandschaft; ich betone das -; denn ohne bäuerliche Pflege,
ohne Pflügen und Säen würde es das nicht geben.
({1})
Dann würde es auch keine Gänse geben. Dies zeigt einmal mehr: Naturschutz und Vogelschutz gehen nur mit
der Landwirtschaft, nicht gegen sie.
({2})
Dies ist auf europäischer Ebene erkannt worden. Deshalb sollen im Rahmen der Gemeinsamen Agrarpolitik
die Leistungen unserer Landwirte für Umwelt- und Naturschutz finanziell gestärkt und auch andere in Europa
dazu animiert werden. Denn es gibt ohne Frage auch
Agrarflächen, die ökologisch geschädigt sind: überdüngte, versalzene oder vertrocknete Böden, die vom
Winde verweht werden, zerstörte Lebensräume für
Schmetterlinge und Bienen, zum Teil auch für Vögel
und Pflanzen. Hier braucht es mehr Anreize für Nachhaltigkeit über das Greening der Direktzahlungen und
die Förderung von Agrarumweltmaßnahmen, aber - das
betonen wir - auf freiwilliger Basis, nicht durch Planwirtschaft. So lautet jetzt auch der politische Wille der
EU. Dies war übrigens keine Selbstverständlichkeit;
denn an der Reform schieden sich die Geister. Da wurde
gestritten und gefeilscht; denn es geht um viel Geld, immerhin den größten Haushaltsposten der EU, die Direktzahlungen. Ich betone: Das sind keine Subventionen
- Herr Minister Schmidt hat darauf hingewiesen -, sondern es ist ein Ausgleich für Leistungen, die die Landwirtschaft erbringt. Aber sie sind zum Teil an die geflossen, die sie nicht brauchen: von großen Landbesitzern
wie die Queen bis zur Industrie. Deshalb war eine Neuordnung erforderlich.
Aber wie sollte diese aussehen? Es gab Fraktionen,
die eine Agrarwende von oben wollten. Par ordre du
mufti sollten 15 Prozent aller Flächen stillgelegt werden,
und das in einer Zeit, in der Fläche so knapp und wertvoll ist wie nie zuvor.
({3})
Bis zur Fruchtfolge sollte alles vorgeschrieben werden Planwirtschaft, ersonnen am grünen Tisch. Damit wäre
jeder Landwirt zum ausführenden Organ degradiert worden. Dabei ist er der Fachmann, übrigens auch mit den
erforderlichen regionalen Kenntnissen; denn Deutschland ist vielfältig,
({4})
von der Alm bis zur Salzwiese, vom Wald bis zum Wein,
Frau Ministerin Höfken, übrigens immer von Menschenhand geschaffen, so wie in Jemgum. Deshalb ist es auch
gut, dass sich am Ende die Vernunft gegen staatliche Bevormundung durchgesetzt hat. Die Reform der Agrarpolitik bringt mehr Freiheit für Europas Landwirte.
Frau Connemann, erlauben Sie eine Zwischenfrage
von Harald Ebner?
Immer besonders gerne.
Oh, Harald, was geht denn da ab?
Habe ich etwas falsch gemacht?
({0})
Liebe Frau Kollegin, Sie haben von Freiwilligkeit gesprochen. Ich möchte das unterstreichen. Ich möchte Sie
dazu fragen, ob denn die Annahme von Direktzahlungen
und das Stellen eines gemeinsamen Antrags nicht auch
eine freiwillige Entscheidung eines Landwirtes ist; denn
nur mit dieser Annahme der Direktzahlungen und dem
Stellen eines gemeinsamen Antrags würden die mit der
GAP verbundenen Greening-Auflagen greifen. Deshalb
möchte ich Sie fragen, wie Sie es da mit der Freiwilligkeit halten?
Die Freiwilligkeit ist als Prinzip verankert, und das ist
gut so. Dass es natürlich im Detail schwierig werden
kann, ist klar. Das zeigt uns nicht nur dieses Gesetz, sondern das zeigen uns gerade die delegierten Rechtsakte,
die in Europa derzeit verhandelt werden. Ich bin übrigens unserem Kollegen Albert Deß, der dafür sorgt, dass
dort die Flexibilität wirklich hergestellt wird, die wir für
die Landwirte vor Ort brauchen, außerordentlich dankbar,
({0})
und ich bin unserem Minister Christian Schmidt dankbar,
({1})
der seine Zustimmung zu den delegierten Rechtsakten
verwehrt hat, weil, wie er gesagt hat, noch nicht alles
ausreichend klar ist. Im Übrigen hat sich der Amtsschimmel tatsächlich im Kleingedruckten ausgetobt.
Deswegen ist es gut, dass wir dies kontrollieren, übrigens für mehr Flexibilität. Lieber Kollege Ebner, da bin
ich absolut bei Ihnen.
Wir waren bei der staatlichen Bevormundung.
({2})
Übrigens ist es immer gut für die Politik, auch in diesem
Haus, nicht zu entscheiden, was ein guter Betrieb bzw.
eine gute Bewirtschaftungsform ist und was nicht. Wir in
der Union sagen: Wir brauchen alle. Wir brauchen die
ökologischen, die biologischen und die konventionellen
Betriebe ebenso wie die kleinen und die großen; denn
wir brauchen Vielfalt für den Verbraucher, die er übrigens bei uns hat. Ich glaube, es gibt kein Land auf der
Welt, wo es so sichere Lebensmittel zu so bezahlbaren
Preisen gibt. Auf die Leistung, die die deutsche Landwirtschaft erbringt, können wir stolz sein.
({3})
Nun geht es an die Umsetzung der Reform. Jetzt wird
es haarig; denn der Teufel steckt bekanntlich im Detail.
So warten wir auf die delegierten Rechtsakte und Auslegungsvermerke. Wir hatten gerade darüber gesprochen.
Wir wünschen uns dort mehr Flexibilität. Aber ich sage
auch sehr deutlich: Diese Flexibilität müssen wir national nutzen. Den ersten Aufschlag haben wir mit dem
Umverteilungsprämiengesetz getan, durch das kleinere
und mittlere Betriebe zukünftig eine bessere Unterstützung erhalten werden. Die Vorlage aus Ihrem Haus, lieber Herr Minister, war gekonnt; denn dieser Gesetzentwurf ist ohne Gegenstimmen angenommen worden.
Jetzt folgt das zweite Gesetz, das DirektzahlungenDurchführungsgesetz, über das wir heute diskutieren.
Darin steckt ganz viel Gutes. Lieber Herr Minister, Sie
haben es dargestellt. Übrigens, für unsere Fraktion sage
ich deutlich: Wir sind froh, dass die Umschichtung der
Mittel auf 4,5 Prozent begrenzt wurde;
({4})
denn wir dürfen nie vergessen: Dies ist das Geld der
Landwirtschaft,
({5})
und eine Umschichtung auf das Land ist für das Land
schön, geht aber im Ergebnis zulasten der Landwirtschaft.
Es gibt viele andere Punkte, die Sie angesprochen haben. Einen Punkt, lieber Herr Minister, beurteilen wir als
Agrarpolitiker der Union anders als Bund und Länder.
Wir halten den Plan, alles Dauergrünland in Natura2000-Gebieten, also in Vogelschutzgebieten und in FFHGebieten, als umweltsensibles Dauergrünland festschreiben zu wollen, für falsch.
({6})
Denn daraus folgt ein generelles Umwandlungs-,
Tausch- und übrigens auch Pflugverbot. Keine Frage:
Niemand will Umwandlung; aber eine Pflegemaßnahme
muss möglich bleiben. Alles andere ist fachlich nicht begründet und rechtlich auch nicht notwendig.
Ohne Frage müssen wir Dauergrünland schützen;
denn Wiesen binden Kohlenstoff. Deshalb verlangt die
EU, entsprechende Gebiete zu identifizieren, unter anderem extrem umweltgefährdete Gebiete innerhalb von
Natura-2000-Gebieten. Die EU gibt jedoch nicht vor,
sämtliches Grünland in diesen Gebieten unter Schutz zu
stellen. Dies ist auch vernünftig; denn häufig geht es bei
dem eigentlichen Schutzziel des Gebietes um etwas ganz
anderes, wie beim Vogelschutz in Jemgum.
Ich verstehe, dass Bund und Landesregierungen nach
einer einfachen Abgrenzung gesucht haben. Aber die gefundene taugt, ehrlich gesagt, nicht.
({7})
Denn Dauergrünland ist nicht Dauergrünland, und Natura-2000-Gebiet ist nicht Natura-2000-Gebiet. Wir
brauchen hier differenzierte Betrachtungen. Dies schlägt
übrigens auch unser bundeseigenes Institut, das ThünenInstitut, vor, das sich als Sachverständiger für die am
Montag stattfindende Anhörung gemeldet hat. Dieses Institut sagt sehr deutlich: Bedenkt bitte, dass jede Vorschrift dieser Art eine erhebliche Einschränkung zulasten eines Landwirts darstellt! Also macht es bitte nur
dort, wo es wirklich erforderlich ist! Keine Pauschalierung! - Vor diesem Hintergrund muss ein Umbruch zum
Beispiel durch Pflügen möglich bleiben.
Es geht hier um Pflegemaßnahmen mit langer Tradition. Seit Generationen wird der Boden alle paar Jahre
gepflügt und neu eingesät. Gerade erst solche Maßnahmen haben dazu geführt, dass wir besonders hochwertiges Grünland haben. Was noch schwerer wiegt, ist, dass
wir anderenfalls das Vertrauen der Landwirte brechen;
denn die Landwirte in Deutschland verlassen sich auf die
Zusage der Politik, dass es nicht zu Bewirtschaftungsveränderungen kommt, wenn zum Beispiel ein Gebiet
als Vogelschutzgebiet ausgewiesen wird. Dieses Vertrauen ist schützenswert, jedenfalls für uns.
({8})
Wir wollen weiter Kühe auf der Weide. Wir wollen
auch Gänse. Wir wollen aber keine schleichende Enteignung unserer Landwirte. Deshalb sagen wir deutlich
Nein zu der geplanten pauschalen Veränderungssperre.
Wir müssen über andere Lösungen sprechen. Etliche
Vorschläge liegen auf dem Tisch. Diese werden nun Gegenstand des laufenden Gesetzgebungsverfahrens sein.
Mein Parlamentarischer Geschäftsführer hat mir gesagt, dass ich nicht das Struck’sche Gesetz zitieren soll,
weil darauf heute schon mehrfach hingewiesen wurde.
Deswegen halte ich es mit dem Kollegen Holzenkamp,
der immer sagt: Über uns Parlamentariern ist der blaue
Himmel. - So ist es auch. Ich freue mich auf den
blauen Himmel im Gesetzgebungsverfahren und auf
die - hoffentlich auch zukünftig - grünen Weiden unter unseren Füßen, so wie in Jemgum.
({9})
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Der Blick nach oben
gibt Ihnen recht, was den blauen Himmel angeht.
Kerstin Kassner für die Linke ist die nächste Rednerin.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Ich darf Sie nun auf eine kleine gedankliche Fahrt zu mir nach Hause einladen. Entweder sind Sie
Städter - dann sehnen Sie sich regelmäßig nach dem
Grün und der freien Natur -, oder Sie sind wie ich ein
Bewohner der ländlichen Räume. Diese machen immerhin 58 Prozent der Fläche unserer Bundesrepublik aus.
Auf dieser großen Fläche lebt etwa jeder vierte Einwohner Deutschlands.
In der Internetpräsentation des Landwirtschaftsministeriums steht, dass die ländlichen Räume nicht nur eine
romantische Idylle sind; das kann ich mit Fug und Recht
unterschreiben. Das ist in der Tat so. Ich denke nur an
mein Heimatland Mecklenburg-Vorpommern: wunderschöne Wiesen und Seen, nicht zu vergessen das Meer,
aber auch große landwirtschaftliche Flächen. Genauso
ist es auf meiner Heimatinsel Rügen. Dort steht neben
dem Tourismus die Landwirtschaft gleichermaßen an
erster Stelle; denn sie prägt das Landschaftsbild auf der
Insel maßgeblich. Wir wünschen uns ein hohes Maß an
Lebensqualität. Das ist aufgrund der räumlichen Bedingungen, der guten Luft und allem, was dazu gehört, von
Natur aus gegeben; aber - das sage ich bewusst - es gehört ganz viel bürgerschaftliches Engagement dazu, dies
auch dauerhaft zu gewährleisten.
Es gibt ein großes Gefälle zwischen den Bedingungen
in den ländlichen Räumen, dem Süden, dem Südwesten
und meiner Heimatregion. Ich betreue die beiden Wahlkreise 15 und 16, also im Großen und Ganzen Vorpommern; Neubrandenburg gehört auch dazu. Wenn ich jetzt
entschuldigend zu den Greifswaldern und Stralsundern
sage, dass das ländlicher Raum pur ist, dann können Sie
mir glauben, dass ich weiß, wovon ich spreche. Es ist
leider eine Abwärtsspirale zu verzeichnen. Es gibt einen
Abwanderungstrend, der aufgehalten werden muss. Zuerst gehen die jungen Frauen weg und mit ihnen die ungeborenen Kinder. Danach gehen auch die jungen Männer weg; denn sie finden es bei uns dann auch nicht mehr
attraktiv. Das führt dazu, dass immer weniger Menschen
in den ländlichen Räumen leben. Damit stellt sich die
gesamte Situation schwieriger dar: die Kaufkraftentwicklung, die Schulen, die Versorgung mit ärztlichen
Leistungen, all das ist schwierig und nur mit großer
Mühe und Not aufrechtzuerhalten.
Mit der Verlagerung der Mittel in Höhe von 4,5 Prozent aus dem Gesamtvolumen kann das, was uns im
Rahmen der Entwicklung ländlicher Räume weniger zur
Verfügung steht, mindestens kompensiert werden. Es
gibt so viele Möglichkeiten, wie man erreichen kann,
dass die ländlichen Räume für das Leben dort attraktiv
bleiben. Bei Besuchen vor Ort habe ich viele kreative
Ideen vorgefunden, die lohnenswert sind, nachgemacht
oder weiterentwickelt zu werden.
Es gibt zum Beispiel das Vorhaben, multiple Häuser
zu errichten oder vorhandene Gebäude entsprechend
umzunutzen. Dort können dann verschiedene Aufgaben
im Dorf erfüllt werden: Am Montag kommt die Ärztin.
Am Dienstag ist die Physiotherapeutin da. Am Mittwoch
sind die Vereine des Ortes anwesend. Am Donnerstag
findet dort die Sprechstunde des Bürgermeisters statt,
und die Gemeindevertretung trifft sich am Abend. Am
Wochenende wird natürlich das gemeindliche Leben gepflegt, das Tanzbein geschwungen, oder es werden interessante Nachmittage veranstaltet.
Man kann sich auch andere Dinge einfallen lassen.
Ich kenne viele Beispiele. Im Rahmen von LEADER
hatten die Insel Rügen und viele andere ländliche Bereiche mit dem Bottom-up-Prinzip Möglichkeiten, die außerordentlich erfolgreich waren. Dort haben sich viele
Menschen engagiert. Kulturelle Möglichkeiten wurden
entwickelt und genutzt. Zum Beispiel wurden die Kirchen vor Ort wieder hergerichtet und zum Kulturzentrum des Dorfes gemacht.
Das alles sind Möglichkeiten, die außerordentlich interessant sind und bei denen sich ein Mitmachen lohnt.
Ich möchte, dass solche guten Ideen umgesetzt werden,
damit auch zukünftig den Bürgerinnen und Bürgern in
den ländlichen Räumen das Leben in ihrer Heimatregion
gefällt und sie dort bleiben.
({0})
Ich kann mir aber auch vorstellen, dies gezielt zu unterstützen, zum Beispiel durch eine Breitbandversorgung. Heutzutage sind viele Unternehmen unabhängig
von ihrem Standort. Wenn die Anbindung an das Netz
über eine Breitbandversorgung gewährleistet ist, ist ein
Arbeiten weit über die landwirtschaftsaffinen Bereiche
hinaus möglich. Aber es gibt auch andere Möglichkeiten: Landwirtschaftsbetriebe, die nicht nur Lebensmittel
produzieren, sondern sie auch verarbeiten. Aus einem
Sozialbetrieb ist bei uns eine Molkerei entstanden, einhergehend mit touristischen Angeboten.
({1})
Das sind gute Lösungen, wie man den ländlichen Raum
beleben kann. Deshalb würde ich mich freuen, wenn wir
uns auch zukünftig darauf verlassen könnten, dass die
Menschen im ländlichen Raum zufrieden sind und sich
dort wohlfühlen.
Danke.
({2})
Danke, Frau Kollegin Kassner. - Nächster Redner ist
Dirk Wiese für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Bundeslandwirtschaftsminister Schmidt ist,
wie ich sehe, schon auf dem Weg zur Agrarministerkonferenz in Cottbus. Aber, Herr Staatssekretär, richten Sie
ihm an dieser Stelle doch aus, dass wir heute auf jeden
Fall eine Gemeinsamkeit haben: Wir halten heute zwar
nicht unsere erste Rede im Deutschen Bundestag, aber
wir reden auf jeden Fall beide zum ersten Mal zum
Thema Landwirtschaft. Das ist doch eine schöne Gemeinsamkeit, die wir heute haben. Richten Sie ihm bitte
schöne Grüße aus.
Ich komme zur Sache. Der ländliche Raum umfasst
90 Prozent der Fläche der Bundesrepublik Deutschland.
Hier lebt mehr als die Hälfte der Bevölkerung in Kleinstädten, Gemeinden und Dörfern. Er ist Heimat, er ist
Lebensmittelpunkt, und er ist vielerorts eine von mittelständischen Familienunternehmen geprägte Industrieregion im Grünen. In dieser Region ist eine zukunftsorientierte und dem Gedanken der Nachhaltigkeit zugetane
Landwirtschaft zu Hause. Das ist gerade mit Blick auf
das Jahr 2014, dem von den Vereinten Nationen ausgerufenen Jahr der familienbetriebenen Landwirtschaft, von
Bedeutung.
Warum erwähne ich das an dieser Stelle explizit? Die
heute diskutierten Direktzahlungen sind nicht nur Subventionen im negativen Sinne. Sie verfolgen auch das
wichtige Ziel, die heimischen Landwirte in zweiter und
dritter Generation dabei zu unterstützen, unsere vielseitige Kulturlandschaft zu bewahren und zu pflegen; denn
sie sorgen mit ihrer täglichen Arbeit dafür, dass jeder
hier im Raum von seinem Heimatwahlkreis sagen kann:
Wir leben und arbeiten dort, wo andere Urlaub machen ({0})
obwohl das Sauerland - Frau Connemann, gestatten Sie
mir diese Anmerkung - natürlich etwas schöner ist als
alle anderen Wahlkreise und Regionen.
({1})
- Ja, Frau Connemann kommt aus Ostfriesland. Aber der
Nachteil von Ostfriesland ist, dass es nicht so hügelig ist
wie das Sauerland und man deshalb schon freitags weiß,
wer sonntags zu Besuch kommt. Da haben wir im Sauerland ein paar Vorteile.
({2})
- Wir haben auch viele Seen. Aber darüber können wir
in kleiner Runde diskutieren.
Passen Sie auf, sonst muss ich Sie noch rügen. Ich
komme aus Schwaben. Da ist es auch schön.
({0})
Fast so schön.
({0})
- Da haben wir eine neue Debatte - sehr gut -; die führen wir weiter.
Zum Gesetzentwurf. Versuchen wir einmal, trotz der
sperrigen Überschrift der heutigen Debatte zur ersten
Lesung des Entwurfes eines Gesetzes zur Durchführung
der Direktzahlungen an Inhaber landwirtschaftlicher Betriebe im Rahmen von Stützungsregelungen der Gemeinsamen Agrarpolitik etwas Licht ins Dunkel zu bringen;
denn die gesetzlichen Folgen der zu beratenden Regelungen betreffen das Leben vieler Bürgerinnen und Bürger unmittelbar, und zwar täglich.
Ute Vogt ist bereits ausführlich auf die Eckpunkte des
vorliegenden Gesetzentwurfs eingegangen. Zu den
Stichworten zählen die zusätzliche Förderung für die
ländliche Entwicklung im Rahmen der zweiten Säule,
der schrittweiser Abbau der regionalen Differenzen beim
Wert der Zahlungsansprüche, die Regelung in Bezug auf
das Dauergrünland und die Ausschöpfung der EU-rechtlich maximal zulässigen Förderobergrenze bei der
Junglandwirteförderung.
Ich möchte in meiner Rede zwei Punkte schwerpunktmäßig hervorheben: zum einen die Junglandwirteförderung und zum anderen die regionale Begrenzung bei
Ausgleichsmaßnahmen. Junglandwirteförderung heißt
konkret: Es geht um die landwirtschaftlichen Fachkräfte
von morgen, die Unterstützung bei der Übernahme der
Höfe und Betriebe ihrer Eltern brauchen und in Zukunft
dafür Sorge tragen werden, dass wir - hoffentlich - täglich gute Lebensmittel wie Brot, Milch, Obst, Gemüse
oder Fleisch kaufen können.
({1})
Regionale Begrenzung heißt ganz konkret: Die Fläche
muss sich da erholen können, wo sie auch intensiv genutzt wird. Wenn in einer Region die Fläche intensiv bewirtschaftet wird, dann muss sie sich auch für einen gewissen Zeitraum erholen können. Man darf sich nicht in
anderen Regionen sozusagen freikaufen.
({2})
Der vorliegende Gesetzentwurf stärkt die Junglandwirteförderung aus meiner Sicht. Eine finanziell gut ausgestattete Junglandwirteförderung ist für die kommende
Generation wichtig und von großer Bedeutung. Dies haben Vertreter des Bundes der deutschen Landjugend
beim Parlamentarischen Abend vor einiger Zeit erst wieder deutlich gemacht; viele Kolleginnen und Kollegen
waren an diesem Abend anwesend. Laut letzten Erhebungen belief sich die Zahl der Landwirte über 65 Jahre
innerhalb der Europäischen Union auf rund 30 Prozent,
während die Zahl der unter 35-Jährigen bei 6 Prozent
verharrte. Dies ist eine große Herausforderung für die
Zukunft der Landwirtschaft.
({3})
Darum begrüße ich die entsprechenden Regelungen
im vorliegenden Gesetzentwurf ausdrücklich.
({4})
Die aus meiner Sicht richtige Stärkung der Junglandwirte durch die Gemeinsame Agrarpolitik der EU führt
auch dazu, dass wir bei der anstehenden Reform der
Hofabgabeklausel auf Grundlage des fundierten Gutachtens des Thünen-Instituts - Abschlag von 10 Prozent;
wir reden darüber nach der Vorlage der Evaluierung vonseiten des Bundeslandwirtschaftsministeriums zur Sommerpause - zeitnah tätig werden können. So ist es angekündigt. Dem einen oder anderen ist der Begriff der
Hofabgabeklausel vielleicht nicht so präsent. Darum an
dieser Stelle eine kurze Erläuterung, worum es dabei
geht: Wer im Alter von 65 Jahren Leistungen aus der
landwirtschaftlichen Rentenversicherung haben möchte,
an die er sein Leben lang ordnungsgemäß Beiträge entrichtet hat, der muss seine Flächen - einfach gesagt - abgeben.
({5})
Tut er dies nicht, so hat er keinen Anspruch, auch wenn
er eingezahlt hat. Findet er keinen Käufer oder Erwerber
bzw. Nachfolger für seine Flächen, dann gibt es kein
Geld.
Das ist ungerecht. Diese einst strukturpolitisch völlig
richtige Weichenstellung aus dem Jahr 1957 ist aus meiner Sicht und der Sicht der SPD-Bundestagsfraktion
heute unter dem Gesichtspunkt der sozialen Gerechtigkeit eigentlich nicht mehr aufrechtzuerhalten.
({6})
Sie stellt aus meiner persönlichen Sicht eine Zwangsabgabe dar. Darum müssen wir die Reform angehen. Das
haben wir im Koalitionsvertrag auch vereinbart.
Frau Höhn, an dieser Stelle: Es gibt hier eine Schnittmenge. Wir wollen die Junglandwirte durch die
Junglandwirteförderung stärken und haben dann auch
Spielraum bei der Hofabgabeklausel. An dieser Stelle
besteht ein Zusammenhang. Ich glaube, es ist wichtig,
dies heute noch einmal anzusprechen.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich auf
den zweiten Punkt eingehen. Aus Sicht der Region Südwestfalen, der Kreise Olpe, Märkischer Kreis, Soest,
Siegen-Wittgenstein und meiner Heimat Hochsauerlandkreis - das ist ein Beispiel von vielen in der Republik ist es von immenser Bedeutung, die ökologischen Vorrangflächen in einen räumlichen Bezug zur Betriebsstätte zu legen, um insbesondere eine Verlagerung der
Verpflichtung aus landwirtschaftlichen Gunstregionen
mit intensiver Bewirtschaftung auf vermeintlich ertragsschwächere Standorte zu verhindern. Denn das, was momentan stattfindet, ist eigentlich absurd: Regionen mit
einer intensiven landwirtschaftlichen Bewirtschaftung
erwerben in anderen Regionen Flächen und erfüllen so
ihre vorgeschriebenen Auflagen. Zur Verbesserung der
Böden in den belasteten Regionen trägt das nicht bei,
und in den betroffenen Regionen, in denen Flächen vonseiten gebietsferner Landwirte gekauft oder gepachtet
werden, steigen infolge dessen die Preise pro landwirtschaftliche Fläche zum Schaden der ortsansässigen
Landwirte. Gerade bei uns im Sauerland ist das der Fall.
({8})
Bis 2009 waren Ackerbauern bereits gehalten, einen
gewissen Prozentsatz ihrer Betriebsfläche stillzulegen.
Landwirte aus den großen maßgeblichen Ackerbauregionen in Nordrhein-Westfalen kamen ihren Stilllegungsverpflichtungen seinerzeit nach, indem sie zum Beispiel
in der Region Südwestfalen landwirtschaftliche Nutzfläche anpachteten und stilllegten. Kurzum: Die damalige
Nichtbewirtschaftungsverpflichtung wurde in andere
Regionen verschoben, weil die für die Flächenstilllegung benötigten landwirtschaftlichen Nutzflächen dort
günstiger zu pachten waren als in den Ackerbauregionen. Das stellt ein Problem dar. Als Grund für das niedrigere Pachtniveau im Sauerland wird immer angeführt, es
liege an der Höhenlage, der Topografie oder dem späteren Vegetationsbeginn. Ich finde das manchmal gar nicht
schlecht. Aber nun gut, das sind die Gründe.
({9})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Stilllegungsflächen fehlen den Landwirten vor Ort. Das führt auch
dazu, dass auf den bewirtschafteten Flächen, die neben
den Stilllegungsflächen liegen, der Unkrautbewuchs zunimmt und sinnvolle örtliche Kulturlandschaftsprogramme konterkariert werden. Diese werden durch Steuermittel finanziert. Deshalb müssen wir uns, wie ich
meine, dieser Problematik annehmen.
Darum: Lassen wir doch das Struck’sche Gesetz, wonach kein Gesetz den Bundestag so verlässt, wie es hineingekommen ist, zur vollen Entfaltung kommen und
richtige Änderungen bzw. Anpassungen am bestehenden
Entwurf vornehmen. Ich bin mir sicher: NordrheinWestfalen wird sich dem im Bundesrat nicht verschließen. Vielleicht kann man an dieser Stelle auch noch eine
Öffnungsklausel auf den Weg bringen.
({10})
Ansonsten kann ich den vorliegenden Gesetzentwurf
nur begrüßen. Bei den 4,5 Prozent in Bezug auf die
ELER-Mittel wäre vielleicht noch etwas mehr drin gewesen.
({11})
Aber nun gut.
Die europäische Agrarpolitik ist, um das am Schluss
auszuführen, nicht unumstritten. Eine Einigung der Mitgliedsländer auf europäischer Ebene ist nicht immer einfach; oft erfolgt sie auf dem kleinsten gemeinsamen
Nenner. Wir haben hier einen Kompromiss vorliegen.
Wenn wir an der einen oder anderen Stelle etwas nachbessern, kann man das auf den Weg bringen. Ich glaube,
der zukünftige erste Präsident der Europäischen Kommission aus Deutschland nach Walter Hallstein wird
nach dem 25. Mai vielleicht etwas mehr Schwung in die
Reformdebatte bringen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({12})
Danke, Herr Kollege aus dem Sauerland. - Jetzt
spricht Friedrich Ostendorff für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Im
Herbst 2010 legte EU-Agrarkommissar Dacian Ciolos
einen Bericht vor, der die Grundlagen für einen Vorschlag zur Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik nach
2013, der zentralen agrarpolitischen Zukunftsentscheidung für die Bäuerinnen und Bauern Europas, darstellte.
Dieser Vorschlag von Kommissar Ciolos war und ist
wegweisend und notwendig.
({0})
Dieser Vorschlag ist wegweisend, weil er auf einer
beispiellosen öffentlichen Debatte mit über 5 500
schriftlichen Beiträgen der europäischen Bürgerinnen
und Bürger basiert. Die Ergebnisse dieser Diskussion
sind nachvollziehbar in den Vorschlag des Kommissars
eingeflossen.
Meine Damen und Herren, der Vorschlag ist notwendig; denn er geht von den großen Herausforderungen Ernährung, Klimawandel, Artensterben und Energie aus.
Er entwickelt Lösungsansätze für diese Probleme, die
unsere Lebensgrundlage insgesamt betreffen. Eines ist
klar: Ein Weiter-so in der Agrarpolitik kann es nicht geben. 50 Milliarden Euro EU-Agrarsubventionen ohne
Begründung kann es im 21. Jahrhundert nicht mehr geben.
({1})
Die Gemeinsame Agrarpolitik braucht eine neue, eine
echte Legitimation, oder sie wird spätestens nach 2020
am Ende sein. Diese Legitimation, liebe Kolleginnen
und Kollegen, muss lauten: öffentliche Gelder für öffentliche Leistungen.
({2})
Die Bundesregierung aber hat bei den Verhandlungen
der GAP-Reform vom ersten Moment an auf der Bremse
gestanden. Sie hat schwerwiegende politische und handwerkliche Fehler begangen, die der Demokratie in Europa nachhaltig schaden, die Lösung drängender Probleme behindern und die Zukunft der Gemeinsamen
Agrarpolitik insgesamt infrage stellen.
Erstens. Die Bundesregierung ist nicht dem demokratischen und transparenten Ansatz von Kommissar Ciolos
gefolgt. Sie hat das eindeutige Votum der Bürgerinnen
und Bürger für eine ökologischere und gerechtere Agrarpolitik ignoriert. Sie hat die Zivilgesellschaft, die seit
vier Jahren mit 20 000 bis 30 000 Menschen im Januar
hier in Berlin unter dem Motto „Wir haben es satt!“ für
eine andere Agrarpolitik auf die Straße geht, permanent
diffamiert.
({3})
Stattdessen hat der Bauernverband weiterhin alleine die
Politik diktiert. Damit hat die Bundesregierung dem
Glauben der Bürgerinnen und Bürger an Europa schweren Schaden zugefügt.
Zweitens. Die Bundesregierung hat nicht erkannt,
dass nur mit einem starken europäischen Instrument wie
der Gemeinsamen Agrarpolitik die großen Herausforderungen gelöst werden können. Der Vorschlag von Kommissar Ciolos hat die einmalige Chance eröffnet, EUweit Artensterben einzudämmen, den Klimawandel zu
bekämpfen und die Gerechtigkeitslücken zu schließen.
Mit ihrer Blockadehaltung hat die Bundesregierung
diese große Chance für Europa vertan.
({4})
Drittens. Die Bundesregierung hat sich so sehr um
Ausnahmen für ihre agrarindustrielle Klientel bemüht,
dass aus einem einfachen und transparenten Maßnahmenkatalog nun eine Ausnahme- und Schlupflochbürokratie zu werden droht. Es ist doch abenteuerlich, wie
der CSU-Mann Albert Deß im Europaparlament dieser
Tage herumläuft und versucht, durch Nachtreten im
Kleingedruckten diese Reform noch klientelfreundlicher
und damit vor allen Dingen noch bürokratischer zu machen.
({5})
Um die Interessen des Bauernverbands durchzusetzen, versucht Herr Deß, die Kommission zu erpressen,
und droht, die längst beschlossene Reform an Formalien
scheitern zu lassen, wenn der Kommissar nicht tut, was
die Bauernverbände wünschen. Dieses Vorgehen von
Herrn Deß schadet nicht nur den europäischen Bäuerinnen und Bauern, sondern vor allen Dingen denen in Bayern.
({6})
Sie, Herr Minister Schmidt, spielen dieses Spiel mit.
Das ist antidemokratisch. Das ist antieuropäisch. Das ist
Klientelpolitik in ihrer schmutzigsten Form. Hören Sie
doch auf, uns etwas von Ethik in der Agrarpolitik zu erzählen, solange Sie Ihre eigenen Seilschaften nicht im
Griff haben, Herr Minister.
Viertens. Ein weiterer großer Fehler der Bundesregierung war, dass sie den einmaligen gesellschaftlichen
Konsens zur Umgestaltung, zum Umbau und damit zur
zukünftigen Sicherung der GAP ausgeschlagen hat.
Noch nie haben sich so viele Nichtregierungsorganisationen und Verbände gemeinsam für eine Erhaltung und
Entwicklung der GAP ausgesprochen, wenn die Zahlungen zukünftig an gesellschaftliche Leistungen gebunden
werden. Die Bundesregierung hat diesen Konsens ausgeschlagen und damit die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass
die GAP 2020 aus Mangel an gesellschaftlicher Akzeptanz an ihr Ende kommt. Dies war und ist ein verhängnisvoller Fehler.
Noch sind einige grobe Fehler heilbar.
Erstens. Pestizide und Mineraldünger haben auf ökologischen Vorrangflächen nichts zu suchen.
({7})
Ändern Sie das!
Zweitens. Grünlandschutz muss sofort kommen und
an allen sensiblen Standorten gelten. Die dramatisch
fortschreitende Grünlandzerstörung muss aufhören.
({8})
Ändern Sie das, und machen Sie 2014 nicht zum Jahr der
Grünlandzerstörung!
Drittens. Eine Umschichtung von nur 4,5 Prozent der
Gelder von der ersten in die zweite Säule ist für die Finanzierung der Agrarumweltprogramme viel zu wenig.
Möglich sind 15 Prozent. Ändern Sie das!
({9})
Viertens. Horst Seehofer, Ministerpräsident von Bayern, hat den Bundesländern eine Aufstockung der Mittel
zur Förderung der ländlichen Entwicklung um 200 Millionen Euro versprochen. Dieses Versprechen hat er leider gebrochen. Ändern Sie das, und stellen Sie die Mittel
in den Bundeshaushalt 2014 ein!
({10})
Herr Minister Schmidt, Ihre Partei hat bei dieser Reform viel Schaden angerichtet. Ich fordere Sie daher auf:
Beenden Sie die Blockade in Brüssel, beenden Sie die
bürokratischen Tricks! Setzen Sie diese Reform so um,
dass ihre Ziele erreicht werden können - für mehr Ökologie, für mehr Gerechtigkeit in Europa, für eine zukunftsfähige, moderne bäuerliche Landwirtschaft im
Einklang mit der Natur.
({11})
Danke, Herr Kollege. - Nächster Redner in der lebendigen Debatte ist Hermann Färber für die CDU/CSU.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste auf den Zuschauertribünen! 50 Prozent der Menschen in Deutschland leben
in ländlichen Regionen, aber 100 Prozent der Menschen
ernähren sich von landwirtschaftlichen Produkten. Wir
diskutieren hier also nicht über irgendein politisches
Randthema, sondern über einen Kernbereich, der täglich
über 80 Millionen Bundesbürger betrifft.
({0})
Gestatten Sie mir, dass ich kurz auf die Worte meines
Vorredners eingehe. Lieber Friedrich Ostendorff, die
Landwirtschaft in Deutschland erbringt viele, viele Leistungen für die Gesellschaft, die sie am Markt nicht vergütet bekommt. Das möchte ich an dieser Stelle einfach
so sagen.
({1})
Die Direktzahlungen - Herr Ebner, bitte hören Sie zu,
sonst muss ich das nachher wiederholen - gehören in die
Hand dessen, der die Hand am Pflug hat, der draußen die
Arbeit macht, und nicht in die Hand dessen, der sich in
irgendwelchen Zirkeln und politischen Diskussionen immer neue Gängeleien, Schikanen und Auflagen für die
Bauern ausdenkt.
({2})
Das ist mir wichtig, und das möchte ich an dieser Stelle
so gesagt haben.
Die Reform der europäischen Agrarpolitik war in der
Tat eine schwere Geburt. Bis heute ist noch nicht klar,
wie das Kind nachher aussehen wird. Wir wollen aber an
den weiteren Verhandlungen konstruktiv teilhaben. Es
liegt uns an einer schnellen und guten Regelung, die den
Landwirten die dringend benötigte Planungssicherheit
gibt.
Die Reform hat auch sehr viele gute Bestandteile:
Den schrittweisen Übergang zu einer einheitlichen Basisprämie finde ich sehr angemessen. Wir begrüßen die
Förderung der ersten Hektare, die wir schon für 2014 beschlossen haben - sie wurde schon erwähnt -: 50 Euro
für die ersten 30 Hektar und weitere 30 Euro für die
nächsten 16 Hektar. Damit wird gerade die Klientel der
Betriebe bedient, die eigentlich die Grundlage der Landwirtschaft bilden. Auch die Junglandwirteregelung ist
grundsätzlich positiv. Wir müssen aber noch daran arbeiten - da bitte ich Sie, dass wir gemeinsam daran arbeiten -, dass auch die Vater-Sohn-GbR, die sogenannte
Generationen-GbR, in jedem Bereich darunter fallen.
Die Generationen-GbR ist ein deutsches Phänomen; sie
ist aber auch ein Zeichen von Verantwortung und Nachhaltigkeit in den Betrieben in der Phase des Generationenwechsels.
Bei der Umschichtung der Mittel von der ersten in die
zweite Säule haben wir uns auf einen Wert von 4,5 Prozent geeinigt. Diese Einigung steht, und daran wird auch
nichts mehr geändert. Da müssen wir auch einen Punkt
setzen, meine Damen und Herren. Wir können von den
Landwirten nicht zusätzliche Leistungen einfordern,
aber nicht mehr bezahlen.
Es ist kein Geheimnis, dass wir nicht mit jeder Einzelregelung der Reform glücklich sind. Sie führt in der Tat
zu weiterem Bürokratisierungsaufwand für die Bauern.
Dabei müssen die Bauern schon heute 19 Cross-Compliance-Richtlinien und die darin enthaltenen verbindlichen
2 680 Standards beachten. Das Ende der Fahnenstange
ist also schon längst erreicht. Deshalb ist es uns sehr
wichtig, dass es bei der Umsetzung der Reform zu keinen weiteren Belastungen für die Landwirtschaft in
Deutschland kommt. Wir setzen uns für eine Eins-zueins-Umsetzung ein.
({3})
Zum Thema Grünlandumbruchverbot. Im Gesetzentwurf ist eine klare Verschärfung der europäischen Regelungen auf nationaler Ebene enthalten, und das lehnen
wir ab. Den Landwirten ist - das wurde heute schon
mehrfach gesagt - bei der Einführung der Natura-2000Gebiete immer wieder versprochen worden, dass es im
Nachhinein keine weiteren Verschärfungen der Bedingungen geben soll.
({4})
Der damalige Umweltminister und jetzige Wirtschaftsminister Gabriel hat das richtig gesehen. Ich zitiere aus einer Pressemeldung vom 17. Februar 2006, in
der stand:
Ich weiß, dass in einigen Regionen, in denen jetzt
weitere Gebiete gemeldet wurden, eine Verunsicherung bei Betrieben und Bürgern entstanden ist, welche Auswirkungen die Naturschutzmeldung nun für
sie hat. Gemeinsam mit den Ländern will ich dazu
beitragen, dass die Sorgen und Skepsis abgebaut
werden …
Genau dazu bietet sich jetzt die Gelegenheit. Setzen
Sie sich bitte mit dafür ein, dass über die Natura-2000Gebiete nach fachlichen Kriterien entschieden wird und
nicht nach Verwaltungsinteressen. Genau darum geht es
jetzt.
({5})
Die Natura-2000-Gebiete umfassen insgesamt circa
15 Prozent der Fläche der Bundesrepublik. Es ist versäumt worden, innerhalb der Natura-2000-Gebiete die
wirklich schutzbedürftigen Grünlandflächen auszuweisen. Deshalb soll nun ein pauschales Umbruchverbot
gelten, das aus fachlicher, aus Naturschutzsicht überhaupt keinen Sinn macht.
({6})
Viele Natura-2000-Gebiete sind Vogelschutzgebiete. Einem Vogelschwarm ist es aber völlig egal, ob er rechts
oder links von der Straße landen kann, wichtig ist, dass
überhaupt eine Wiese vorhanden ist. Für diese Bereiche
jetzt ein pauschales Umbruchverbot zu erlassen, ist einfach widersinnig. Wir brauchen hier eine ganz andere
Lösung.
Ein weiterer Bereich macht mir sehr große Sorgen:
die ökologischen Vorrangflächen, die sogenannten Greening-Flächen. Lieber Kollege Ostendorff, liebe Frau
Vogt,
({7})
bereits heute bestehen 19 Prozent der Fläche aus Landschaftselementen wie Hecken, Bachläufen und Biotopen, und das ohne die ökologischen Vorrangflächen.
Diese Tatsache sollte man zur Kenntnis nehmen und anerkennen.
Jetzt werden zusätzliche ökologische Vorrangflächen
gefordert. Wir möchten, dass auf diesen zusätzlichen
Flächen der Anbau von Eiweißpflanzen möglich ist. Der
Anbau muss aber auch wirtschaftlich möglich sein. Wir
müssen hier für die entsprechenden Rahmenbedingungen sorgen. Das beinhaltet auch Düngung und Pflanzenschutz, um nachher ein ordentliches Produkt, in diesem
Fall Eiweißpflanzen, ernten zu können. Mit pauschalen
Verboten ist der Natur auch hier nicht geholfen.
({8})
Wir müssen das Thema Nachhaltigkeit global betrachten. Dadurch, dass wir in Deutschland immer mehr
Flächen aus der Produktion nehmen - nichts anderes
wird doch gemacht, wenn Düngung und Pflanzenschutz
auf ökologischen Vorrangflächen verboten werden -,
wird doch nicht weniger konsumiert. Nein, es wird nur
woanders angebaut. Und wo soll das sein? Etwa im südamerikanischen Regenwald? Ist das die Lösung, die wir
wollen? Nein!
Hier und heute haben wir sichere Lebensmittel von
bester Qualität wie nie zuvor in der Geschichte der
Menschheit.
({9})
Wir haben eine der schönsten Kulturlandschaften auf
dieser Welt, und nur hier haben wir Einfluss, wie und
was produziert werden soll.
Ich erwähnte es schon: Wir warten noch auf die Definition des aktiven Landwirts. Was seinerzeit Flughäfen
und Golfplätze von den Stützungszahlungen ausschließen sollte, wird nun zu einem bürokratischen Monstrum
für Landwirte und gefährdet vor allem unsere Nebenerwerbslandwirte, die den Anforderungen kaum gerecht
werden können. Jeder, der sich neben seinem Betrieb ein
Zusatzeinkommen erschlossen hat, läuft jetzt Gefahr,
diese Zahlungen nicht zu bekommen. Hier sehen wir
Nachbesserungsbedarf.
Trotz aller Kritik im Einzelnen: Wir wollen Lösungen, die der Landwirtschaft in Deutschland, so wie wir
sie kennen, eine gute Zukunft sichern. Unser Leitbild der
von Familien betriebenen, regional verankerten, flächendeckenden Landwirtschaft wird von breiten Teilen der
Bevölkerung geteilt. Gerade diese familiengeführten Betriebe sind von zusätzlichen bürokratischen Belastungen
immer ganz besonders betroffen.
Herr Kollege, bitte kommen Sie zum Ende.
Ich habe noch einen Satz. ({0})
Wer die Vielfalt dieser Landwirtschaft sichern will, der
darf nicht mit Gängelung und Verboten arbeiten, der
muss Lösungen anbieten.
Danke schön.
({1})
Danke, Herr Kollege. - Nächster Redner: Hans-Georg
von der Marwitz für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr verehrte Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen
und Herren! Es ist vollbracht. Die Kernelemente der europäischen Agrarreform sind beschlossen. Was ist geblieben von den einst großen Zielen des Brüsseler Agrarkommissars? Nun will ich dem armen, viel gescholtenen
Ciolos nicht zu nahe treten; denn es war eine Sisyphusarbeit, allen Wünschen und Interessen der Mitgliedstaaten,
der Kommission, des EP und nicht zuletzt der vielen
Lobbyisten gerecht zu werden. Insofern habe ich große
Achtung vor den geleisteten Arbeiten. Aber was sollte
die GAP doch gleich werden? Gerechter, ökologischer,
unbürokratischer und transparenter.
({0})
Kommen wir zum ersten Punkt, dem gerechten Verteilen der Agrarsubventionen. Dazu müssen wir uns erst
einmal den bisherigen Verteilungsschlüssel in Deutschland vor Augen führen. Die Mittel der ersten Säule, also
die Direktzahlungen an die Agrarbetriebe, werden mithilfe des Hektarschlüssels ausgeschüttet. Das bedeutet:
Je mehr Hektar der Landwirt bewirtschaftet, desto mehr
Subventionen fließen in den Betrieb. Anders formuliert:
Wer hat, dem wird gegeben. Besonders die flächenstarken ostdeutschen Agrarbetriebe sind die größten Profiteure dieses Verteilungssystems.
({1})
Synergie- und Skaleneffekte stärken sowieso schon die
Wirtschaftskraft dieser Unternehmen. Längst gibt es Betriebe, die mit weniger als 0,3 Arbeitskräften je 100 Hektar wirtschaften. Da lag es nahe, über Kappung und degressive Zahlungen zu diskutieren.
({2})
Die Brandenburger CDU-Landtagsfraktion hat sich
2011 in einem viel beachteten Positionspapier für die
Begrenzung von Direktzahlungen ausgesprochen Darin
heißt es:
Zur Förderung des Strukturwandels hin zu einer
leistungsfähigen bäuerlichen Landwirtschaft befürworten wir eine Deckelung der Direktzahlungen
und ihre Koppelung an die Voraussetzung, dass sich
der jeweilige Betrieb im Eigentum von in der Region ansässigen Personen befindet.
({3})
Der Landesbauernverband Brandenburg witterte
schon sehr früh Einbußen für seine Mitglieder und gab
den Slogan heraus: Hektar ist Hektar, egal von wem er
bewirtschaftet wird! Hände weg von der Kappung und
Degression! Jetzt wird es spannend; denn mit diesem
Slogan hat der Bauernverband einen dramatischen Richtungswechsel gegenüber der bisherigen Argumentationskette geliefert. Agrarsubventionen wurden immer als
Einkommensausgleich und als Steuerungsmechanismus
gegen Landflucht und für den Erhalt vielschichtiger
Agrarstrukturen gesehen.
({4})
Subventionen in der ersten und zweiten Säule seien das
wichtigste Planungsinstrument der Politik, die Entwicklung des ländlichen Raums positiv zu beeinflussen. Der
ehemalige Agrarminister Friedrich sagte in seiner Antrittsrede bei der CDU/CSU-Arbeitsgruppe: Die bäuerlichen Familienbetriebe sind der Wirtschaftsmotor des
ländlichen Raums. - Wohl wahr.
({5})
Doch ausgerechnet der Brandenburger Bauernverband hat sich wortgewaltig gegen die Kappung und Degression der Agrarsubventionen gestemmt.
({6})
Damit konterkarierte ausgerechnet der landwirtschaftliche Berufsstand, der sich angeblich für die Familienbetriebe verantwortlich fühlt, deren Interessen, jedenfalls
in Brandenburg. Das ist, Gott sei Dank, nicht in ganz
Deutschland so.
({7})
Der Slogan des Brandenburger Bauernverbands, Hektar
sei Hektar, egal von wem er bewirtschaftet wird, hat dies
eindrücklich offenbart.
({8})
Denn wer sind wohl ohne Änderung des Verteilungsschlüssels, also ohne Kappung und Degression, die größten Profiteure der Direktzahlungen? Vorrangig Agrargesellschaften, deren Wirtschaftsprinzip kaum in das Bild
einer vielschichtigen familiengeführten und im Generationenkontext denkenden und handelnden Unternehmenslandschaft passt.
({9})
Es ist schon erstaunlich, dass die süd- und die westdeutsche Fraktion des Verbandes diese Entwicklung zumindest kommentarlos akzeptierten. Umso dankbarer
bin ich, dass die Agrarministerkonferenz der Länder im
November 2013 ein kleines Zeichen gegen diesen Trend
gesetzt hat. So macht Deutschland jetzt von der Möglichkeit Gebrauch, Mittel aus der ersten in die zweite
Säule umzuschichten. 4,5 Prozent der Direktzahlungen
- das haben wir heute schon mehrfach gehört - sollen in
die Förderung des ländlichen Raums fließen. Bis zu
15 Prozent wären nach EU-Vorgaben möglich gewesen.
Leider haben wir den Rahmen nicht gänzlich ausgeschöpft.
({10})
Aber wenn ich sehe, wie in einigen osteuropäischen
Ländern das Gegenteil passiert, nämlich dass Gelder von
der zweiten in die erste Säule fließen, kann ich nur sagen: Wir setzen zumindest die richtigen Signale.
Wir fangen an, Strukturpolitik zu machen, auch wenn
die Auswirkungen des erzielten Kompromisses sehr
überschaubar bleiben werden. Von einem Paradigmenwechsel hin zu einer zielgerichteten Verteilung und einer
nachhaltigen Unterstützung bäuerlicher Familienbetriebe kann nicht gesprochen werden. Denn wer profitiert auch in Zukunft am meisten von den europäischen
Agrarsubventionen? Es sind nach wie vor die flächenstarken Betriebe, die den Mittelzufluss für weitere Konzentrationen nutzen werden - lesen Sie dazu einmal die
Wirtschaftswoche Nr. 14 vom 31. März 2014, den Artikel: „Mein Stück Acker“ -, außerdem Verpächter, die
längst erkannt haben, dass sie ihren Pächtern dank Brüssel mehr aus den Rippen leiern können, und nicht zuletzt
die Betriebe mit hohem Eigentumsanteil, die über sichere Renditen verfügen und bei Pacht und Erwerb mehr
bieten können. Das System der pauschalen Flächenförderung hat sich offensichtlich überlebt.
({11})
Ich komme aus einer Region, in der der Strukturwandel besonders krasse Formen angenommen hat. Einer
meiner Nachbarn bewirtschaftet im Gesellschaftsverbund derzeit rund 18 000 Hektar, eine Gemarkungsfläche von mehr als 20 Dörfern, und ein Ende weiterer Fusionen ist nicht absehbar. Vielleicht verstehen Sie jetzt,
warum ich mir um die Strukturen der deutschen Landwirtschaft wirklich Sorgen mache.
({12})
Wir haben als Politiker kaum ein Steuerungsinstrument gegen den grassierenden Strukturwandel in der
Hand, den die Bevölkerung erst wahrnehmen wird, wenn
die Auswirkungen offensichtlich werden, wenn der
Wirtschaftsmotor Landwirtschaft in den Dörfern den
Geist aufgibt. Lediglich mit den Agrarsubventionen können wir Richtungen vorgeben.
Nun zum zweiten Punkt der Reformziele: der Ökologie. Zum ersten Mal in der Geschichte der GAP ist es geHans-Georg von der Marwitz
lungen, Direktzahlungen an ökologische Gegenleistungen zu koppeln. Die Zeit bedingungsloser Förderungen
ist vorbei.
({13})
Doch wie so oft - auch das wurde heute schon gesagt steckt der Teufel im Detail. Bei der Bewertung dieses
Ansatzes sollten wir uns auf zwei Fragen konzentrieren:
Erfüllen die Auflagen erstens ihren Zweck, und sind sie
zweitens praxisgerecht überhaupt durchführbar?
Im Rahmen der Anbaudiversifizierung müssen mindestens drei verschiedene Kulturen in einem Betrieb angebaut werden. Dabei muss der Anteil jeder Kultur mindestens 5 Prozent betragen und darf 70 Prozent nicht
überschreiten. Mit dieser Maßnahme sollen Monokulturen verhindert und Biodiversität gefördert werden. Das
Gegenteil ist der Fall. Denn mit bis zu 70 Prozent einer
Kultur in der Anbaufläche kann man nicht einmal von
Fruchtwechsel sprechen.
({14})
So wird sich wohl für den beobachtenden Bürger in der
Landschaft wenig ändern.
Bei den ökologischen Vorrangflächen wird es komplizierter. Ursprünglich sollten 5 Prozent der bewirtschafteten Fläche ausschließlich nach ökologischen Gesichtspunkten bewirtschaftet oder stillgelegt werden. Der jetzt
vorgelegte Maßnahmenkatalog wird dem anfänglichen
Greening-Gedanken kaum noch gerecht.
({15})
Bäume, Waldflächen und Gräben haben wir schon vor
der Reform in unserer Agrarlandschaft gehabt, ohne sie
wirtschaftlich geltend machen zu können. Auch Grenzertrags- und naturnahe Flächen werden durch die Greening-Auflagen an Wert gewinnen, sehr zum Verdruss der
Schäfer, die mir vergangene Woche ihr Leid geklagt haben. Bei uns in Brandenburg ist das besonders bedeutend.
Damit sind wir beim dritten Punkt: Unbürokratischer
und transparenter sollte die GAP werden. Zur Bürokratie
stelle ich kurz und knapp fest: Zusätzliche Vorschriften
und Bürokratieabbau sind unüberbrückbare Gegensätze.
Dieser Ansatz war schon von Beginn der Agrarreform an
mehr als fragwürdig. Als CDU haben wir uns immer für
Entbürokratisierung eingesetzt. Diesen Grundsatz dürfen
wir auch in der europäischen Agrarpolitik nicht vernachlässigen.
Ich komme zum Schluss. Mein Fazit zur GAP lautet:
Der große Wurf ist mit Sicherheit nicht gelungen. Aber
vielleicht hat die zum Teil sehr kontroverse und polarisierte Diskussion der letzten vier Jahre manche Erkenntnis wachsen lassen. Nach der GAP ist vor der GAP; wir
haben es schon gehört. Auf europäischer Ebene drastische Veränderungen herbeiführen zu wollen, bedeutet
eine große Kraftanstrengung über einen langen Zeitraum
und bekanntlich das Bohren dicker Bretter,
Jetzt müssen Sie wirklich zum Schluss kommen.
- ich bin sofort fertig -, ganz im Sinne einer Aussage
der eben schon zitierten Wirtschaftswoche: „Je breiter
die Palette an Produkten und je stärker die Anbaugebiete
regional gestreut sind, desto stabiler ist das Geschäft.“ Ich sage: desto sicherer die Versorgungssicherheit, desto
sicherer die betriebliche Vielfalt und Stabilität.
Bitte, Herr Kollege, kommen Sie jetzt zum Schluss.
({0})
Meine Damen und Herren, Subventionen sind Steuermittel. Insofern muss der Grundsatz lauten: öffentliches
Geld für Aufgaben, die uns allen dienen. Deshalb: Lassen Sie uns in Zukunft gemeinsam überlegen, wie wir
mit den 4,8 Milliarden Euro aus der ersten Säule den
größten gesellschaftlichen Mehrwert ziehen.
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat der Kollege Willi Brase für die SPD.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde, mein Vorredner hat in bemerkenswerter Art und Weise auf die
Entwicklung der Diskussion über die GAP hingewiesen.
Ich kann nur sagen: Ich bin ein Stück weit begeistert,
was Sie hier ausgeführt haben.
({0})
Der Gesetzentwurf, den wir heute beraten - ich werde
seinen Titel zitieren, weil mir selten so etwas Tolles untergekommen ist -,
({1})
lautet „Entwurf eines Gesetzes zur Durchführung der Direktzahlungen an Inhaber landwirtschaftlicher Betriebe
im Rahmen von Stützungsregelungen der Gemeinsamen
Agrarpolitik“. Wir wollen 4,8 Milliarden Euro, 4,5 Prozent der jährlichen nationalen Obergrenze für die Direktzahlungen, als zusätzliche Förderung für die ländliche
Entwicklung bereitstellen. Dies soll im Rahmen der bisherigen Betriebsprämienregelung bestehende regionale
Unterschiede beim Wert der Direktzahlungen bis 2019
abbauen. - Das hört sich schon gut an.
Wir wollen uns einer neuen Basisprämienregelung
schrittweise annähern, damit wir 2019 bundesweit einheitliche Werte für Zahlungsansprüche je Hektar für die
Basisprämie haben. - So weit, so gut.
Wie wird dieser Anspruch umgesetzt? Frau Präsidentin, Sie gestatten mir, dass ich aus dem § 9 des Gesetzentwurfs zitiere:
Für das Jahr 2015 wird der nach Anwendung des
§ 7 verbleibende Anteil der nationalen Obergrenze
für die Basisprämienregelung auf die Regionen wie
folgt aufgeteilt: Die Zahl der beantragten Zahlungsansprüche je Region ohne beantragte Zahlungsansprüche aus der nationalen Reserve wird mit dem
für die jeweilige Region in der Anlage für das Jahr
2015 festgelegten Faktor multipliziert ({2}). Die Regionssummen 2015 für alle
Regionen werden addiert ({3}).
Der Anteil einer Region am zu verteilenden Prämienvolumen ergibt sich durch Division der jeweiligen Regionssumme 2015 durch die Bundessumme
2015. Die jeweilige regionale Obergrenze für 2015
ergibt sich, indem das zu verteilende Prämienvolumen mit dem so ermittelten Anteil der Region multipliziert wird.
({4})
Meine Damen und Herren, wenn ich Ihnen jetzt die
Begründung zu § 9 vorlesen würde, würde ich wahrscheinlich drei Minuten zitieren. Mir wäre aber immer
noch nicht klar, wie die regionalen Unterschiede bis
2019 auf den Punkt gebracht werden.
({5})
Wie ist das eigentlich zu verstehen? Was sagt uns dieser Text? Ich glaube, wenn wir so mit der Gemeinsamen
Agrarpolitik umgehen, dann wird es sehr schwer werden, die Verhandlungen zwischen Landeswirtschaftsministern und Bundeslandwirtschaftsministerium als klar
und deutlich darzustellen. Das wird nicht dazu führen,
dass die Bürgerinnen und Bürger in der Bundesrepublik
die Agrarpolitik besser finden; im Gegenteil: Sie werden
diesen Finanzierungsansatz nicht mehr verstehen. Ich
behaupte, dass auch eine Menge der Kolleginnen und
Kollegen im Bundestag diesen Ansatz nicht mehr versteht.
({6})
Er ist ein Stück weit Ausdruck der vermachteten Landwirtschaftspolitik in unserem Land. Wenn wir mehr Anerkennung der Agrarpolitik wollen, müssen wir eigentlich dafür sorgen, dass mehr Klarheit in der Sache
hergestellt wird, sehr geehrte Damen und Herren.
({7})
Für mich ist dieses Beispiel auch ein Ausdruck dafür,
dass wir in der Perspektive darüber nachdenken müssen,
ob das Zwei-Säulen-Modell - Direktzahlungen und Entwicklung des ländlichen Raums - eigentlich noch richtig
ist. Herr Staatssekretär, richten Sie dem Minister aus,
dass ich dankbar bin, dass er als langjähriger Parlamentarier heute bei seiner ersten Rede als Minister indirekt
auf diesen Tatbestand hingewiesen hat, indem er ganz
klar zum Ausdruck gebracht hat, dass ihm manche Kompliziertheiten im Gesetzgebungsverfahren so noch nicht
untergekommen sind. Ich halte diese Formulierung, mit
der wir das sozusagen zur Befriedung aller am Agrarmarkt Beteiligten umzusetzen versuchen, für nicht dienlich. Sie wird uns bei dem Ziel „mehr Anerkennung der
Gemeinsamen Agrarpolitik“ nicht weiterführen.
Ich will einen zweiten Punkt inhaltlich ansprechen, zu
dem mein Kollege Wiese schon Ausführungen gemacht
hat. Wir haben im Vorfeld und auch vor dem Hintergrund der Anhörung, die wir am kommenden Montag
durchführen werden, nachgefragt: Wie ist es eigentlich
mit der Anrechnung regional entfernt liegender Pachtflächen als Greening-Flächen? Wir haben den Wissenschaftlichen Dienst bemüht. Der Wissenschaftliche
Dienst hat uns mitgeteilt: Wenn dort Änderungen gewünscht sind, sind diesbezügliche gesetzliche Maßnahmen nur auf der EU-Ebene zu treffen. - Deshalb finde
ich es gut und richtig, wenn unsere EU-Parlamentarier
diese Frage im Zusammenhang mit den delegierten
Rechtsakten diskutieren. Wir wollen nicht, dass sozusagen über große Entfernungen hinweg zusätzliche Pachtungen vorgenommen werden und in den betroffenen
Regionen unsere Landwirte darunter leiden, dass die
Pachten steigen, möglicherweise auch die Kosten für Eigentumserwerb steigen, und sie das Nachsehen haben
gegenüber den Betrieben, die von weither kommen und
solche Pachtungen vornehmen. Wir lehnen das ab, liebe
Kolleginnen und Kollegen.
({8})
Wir fühlen uns in dieser Position ein Stück weit unterstützt durch die Debatte im Bundesrat, im Landwirtschaftsausschuss. Dort geht es darum - ich darf zitieren,
Frau Präsidentin -: Ökologische Vorrangflächen sollen
in einem räumlichen Bezug zur Betriebsstätte liegen, um
insbesondere eine Verlagerung der Verpflichtung von
landwirtschaftlichen Gunstregionen auf ertragsschwache
Standorte zu verhindern. - Ich finde, hier sollte sich endlich die Mehrheit der Landesagrarminister durchsetzen,
liebe Kolleginnen und Kollegen.
({9})
Wenn wir die Regelung zur Basisprämie nach der Anhörung in die endgültige Gesetzesform umgesetzt haben
und das 2019/20 dann auch bundesweit angeglichen haben, dann haben wir ein Ziel erreicht. Aber wir haben
noch ein zweites großes Ziel: Wir wollen mittelfristig
den Ausstieg aus den Direktzahlungen. Wir wollen, dass
die Förderung im Rahmen der ersten Säule weitestgehend übergeht in die Förderung im Rahmen der zweiten
Säule. Wir wollen die Entwicklung der ländlichen
Räume. Das Prinzip „öffentliches Geld für öffentliche
Leistung“ soll und muss Zug um Zug umgesetzt werden.
Ich glaube, wenn man Steuergeld ausgibt, dann darf man
erwarten, dass dafür auch entsprechende Leistungen erbracht werden. Das ist ein richtiger Weg.
Von daher sehen wir als SPD-Fraktion den heute vorliegenden Gesetzentwurf - die endgültige Fassung bleibt
natürlich der weiteren Beratung vorbehalten - schon als
Weg dahin, dass wir 2020 mehr auf die zweite Säule
übergehen. Wir fangen mit nur 4,5 Prozent der Mittel an.
Herr von Marwitz, Sie hatten recht; vielleicht waren
oder sind wir nicht bereit, mehr dafür zu geben. 15 Prozent wären oder sind noch möglich.
({10})
Es gibt nun die Einigung; daran kommen wir nicht vorbei.
({11})
Aber wir fühlen uns auch durch das Thünen-Institut unterstützt. In dem für Montag vorgelegten Gutachten wird
deutlich ausgeführt: Mittel- und langfristig muss mit den
Unterschieden zwischen den Säulen der Gemeinsamen
Agrarpolitik Schluss sein. Wir wollen, dass hier eine Änderung erfolgt.
Wir haben im Koalitionsvertrag festgelegt, dass wir
bei der nationalen Umsetzung der GAP besonders die
wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Entwicklungen der ländlichen Räume im Auge haben. Wir wollen
diese Räume fördern. Für meine Fraktion sage ich hier:
Dies ist für uns Ausdruck einer Politik, die auf die Entwicklung ländlicher Räume ausgerichtet ist. Wir wissen,
dass es in den ländlichen Räumen nicht nur um Landwirtschaft geht - das wurde heute in manchen Beiträgen
schon angesprochen -, sondern auch um Daseinsvorsorge, um Arbeitsplätze, um Bildung, um gute Arbeit
insgesamt und darum, für ältere Menschen das Leben in
ländlichen Räumen nach wie vor möglich zu machen.
Insofern wollen wir gemeinsam in der heutigen Debatte - das geht ein bisschen über die GAP hinaus - die
Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur
und des Küstenschutzes“ weiterentwickeln. Wenn wir
dieses Instrument über eine Grundgesetzänderung, auch
im Zusammenhang mit der GRW, vernünftig auf den
Weg bringen, dann sollten wir einen materiell ausreichend hohen Anteil für den Küstenschutz bewahren.
Aber wir werden auch dazu übergehen müssen, für die
ländliche regionale Entwicklung zusätzliche Mittel zu
beantragen. Ich denke, da sind wir in der Koalition gefordert, gemeinsam beim Finanzminister, hoffentlich mit
Unterstützung unseres Landwirtschaftsministers, mehr
Mittel zu beantragen, damit wir zu einer besseren und
stärkeren Unterstützung der ländlichen Regionen kommen.
({12})
Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Wir als Sozialdemokraten unterstützen ausdrücklich das Leitbild einer
Landwirtschaft, die flächendeckend wirtschaftet, die
multifunktional ausgerichtet ist und die auch dem Ziel
einer ressourcenschonenden Produktionsweise verpflichtet ist. An diesem Ziel sollten wir festhalten. Lassen Sie uns gemeinsam diesen Weg gehen, und lassen
Sie uns bei der Beratung des Gesetzentwurfs noch einmal überlegen, ob wir es schaffen, bessere Formulierungen als die in § 9 des Gesetzentwurfs - die kein Mensch
versteht - zu finden. Es ist nicht gut für das Parlament
und für die Landwirtschaftsminister - ich denke nicht
nur an das Bundeslandwirtschaftsministerium, sondern
auch an die Landwirtschaftsminister in den Ländern,
auch wenn die Bundesratsbank ministeriell nicht mehr
besetzt ist -, wenn es bis zum Schluss nur noch darum
geht, wer den kleinsten Anteil an den Direktzahlungen
hat. Wenn es so läuft, dann liegen wir falsch. So sollten
wir es nicht machen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({13})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Als letzte Rednerin in
dieser Debatte hat Marlene Mortler für die CDU/CSUFraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Gemeinsame Agrarpolitik gehört seit Beginn der Einigung Europas zu den wichtigsten Aufgabenfeldern
europäischer Politik. Die GAP wurde dem Wandel der
Lebensverhältnisse in Europa immer wieder angepasst.
Anfangs stand der Wunsch der Menschen: Wir wollen
satt werden. Heute steht die Landwirtschaft im Spannungsfeld zwischen einerseits ökologischer und sozialer
Verantwortung und wachsenden gesellschaftlichen Ansprüchen und andererseits wirtschaftlichen Zwängen für
nachhaltiges unternehmerisches Handeln.
Aber gerade die Ausführungen der Grünen haben
deutlich gemacht: Hier wird pauschal diffamiert. Wer
pauschal diffamiert, der wird nicht mehr ernst genommen.
({0})
Gott sei Dank sehen über 70 Prozent der Menschen in
Deutschland und EU-weit die Landwirtschaft in einem
anderen Licht. Sie stehen hinter unseren Bäuerinnen und
Bauern, und sie stellen ihnen ein gutes Zeugnis aus.
Meine Damen und Herren, früher gab es Geld für die
Produktion. Heute gibt es Direktzahlungen nur dann,
wenn der Landwirt den hohen Auflagen im Bereich Tierschutz, Umweltschutz und Verbraucherschutz nachkommt.
({1})
Deshalb sage ich: Diese Agrarreform stärkt nicht nur unsere Bauern und Bäuerinnen, sie stärkt auch unsere Umwelt.
({2})
Für diese Politik hat Deutschland hart und erfolgreich in
Brüssel gekämpft. Daher ein herzliches Dankeschön der
damaligen Ministerin Aigner, Dr. Friedrich und
Christian Schmidt!
({3})
Ich danke ausdrücklich unserem Minister Schmidt
- kaum im Amt - für seinen großartigen Einsatz im Bereich Bioenergie im Rahmen der Verbesserung des EEG.
Auch wir Agrarpolitiker waren von Anfang an und
mit vollem Herzen dabei; denn viele von uns - das hat
man heute bei den Reden gespürt - sind nicht nur Theoretiker, sondern auch Praktiker; das heißt, wir kommen
aus der Landwirtschaft, wir arbeiten mit und in der Natur. Deshalb wissen wir genau, dass die tägliche Frage
unserer Bauern und Bäuerinnen lautet: Wie komme ich
besser über die Runden? Wie sichere ich im Sinne der
Agenda 21 mein Ein- und Auskommen, nicht nur für
mich persönlich, sondern auch für meine Familie? Welche Perspektiven habe ich? Wie verlässlich ist diese
Politik? Meine Antwort: Unsere Bäuerinnen und Bauern
können sich auf uns verlassen.
({4})
Ich möchte das Ganze in einen größeren Zusammenhang stellen. Ob in Deutschland, in Europa oder weltweit: Kein anderer Wirtschaftszweig hat so sehr das
Potenzial zur Abmilderung des Klimawandels und zur
Sicherung unserer Ernährung wie die Landwirtschaft
selber. Deshalb haben die Vereinten Nationen das Jahr
2014 zum Internationalen Jahr der bäuerlichen Familienbetriebe ausgerufen. Minister Schmidt hat kürzlich selber gesagt: Ernährungspolitik ist Sicherheitspolitik.
Selbst ich als neue Drogenbeauftragte der Bundesregierung werde von diesem Thema immer wieder eingeholt,
ob bei der Tagung der Commission on Narcotic Drugs
kürzlich in Wien oder gestern im Gespräch mit Vertretern des BMZ, der GIZ und des Auswärtigen Amtes oder
im Gespräch mit der zuständigen thailändischen Botschafterin, die mithilfe Deutschlands in Nordthailand etwas ganz Tolles geschafft hat, nämlich die Bauern vom
Drogenanbau wegzubringen und sie zum legalen Anbau
von Früchten, die ihnen ein Ein- und Auskommen sichern, zu bringen. Das ist unser Anspruch.
({5})
Diesen Anspruch können wir am besten erfüllen, wenn
wir selber weiter mit gutem Beispiel vorangehen, das
heißt unser Wissen und Können in der Praxis und in der
Wissenschaft befördern und nicht behindern.
Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist vorbei.
Deshalb, sehr geehrte verständnisvolle Präsidentin,
({0})
setze ich bei der weiteren Umsetzung dieses Gesetzgebungspaketes auf praxistaugliche, praktikable Lösungen.
Wie es der Minister formuliert hat: Stilllegung ist ein
Stück Kapitulation. - Unsere Frage lautet: Wie können
wir in Zukunft mit weniger Fläche mehr produzieren?
Das muss selbstverständlich nachhaltig erfolgen; denn
nicht nur wir in Deutschland und Europa, sondern die
Menschen weltweit haben das Menschenrecht auf Nahrung. Das ist unser Anspruch, und dem fühlen wir uns
nicht nur als Parlamentarier, sondern auch als Bundesregierung verbunden.
Danke schön.
({1})
Danke, Frau Kollegin. Auch danke für das „verständnisvolle“; das ist bei diesen Landwirtschaftsdebatten immer vonnöten. Danke für die lebendige Debatte.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/908 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich bitte, den Platzwechsel zügig vorzunehmen, und
rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Rosemarie Hein, Diana Golze, Matthias W.
Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Kooperationsverbot abschaffen - Gemeinschaftsaufgabe Bildung im Grundgesetz verankern
Drucksache 18/588
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss Digitale Agenda
Haushaltsauschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Frau Dr. Hein, warten wir noch eine Sekunde. - Liebe
Kolleginnen und Kollegen, könnten Sie sich bitte entscheiden, ob Sie stehen, sitzen oder reden wollen? Zum
Reden rufe ich Sie dann auf.
Ich eröffne die Debatte. Das Wort hat Dr. Rosemarie
Hein für die Linke.
({1})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Sicherlich nicht nur ich werde immer
wieder gefragt, warum der Bund nicht endlich mehr Zuständigkeit in der Bildung übernimmt. Gab es diese Forderung noch vor zehn Jahren vor allem auf Veranstaltungen im Osten, kann man nun auch in den westlichen
Bundesländern geradezu Begeisterungsstürme hervorrufen, wenn man quasi die Abschaffung der Bildungshoheit der Länder fordert.
({0})
Keine Sorge: Das wollen wir nicht.
({1})
Wir müssen aber darüber reden, warum so viele für die
Abschaffung sind.
Schuld ist das 2006 verhängte Kooperationsverbot
zwischen Bund und Ländern in Bildungsfragen. Da das
Wort „Kooperationsverbot“ immer schlecht verstanden
wird, will ich noch einmal knapp erklären, was es bedeutet:
2006 wurde im Zuge der Föderalismusreform auf
Drängen einiger Länder im Grundgesetz festgeschrieben, dass der Bund in Fragen der Schul- und Hochschulpolitik nicht mehr mitfinanzieren darf. Es gibt ganz wenige Ausnahmen, und es gibt inzwischen eine Reihe von
Umwegen über sehr komische und scheinbar unverdächtige Programme. Denn auch wenn die Länder über die
alleinige Zuständigkeit für Bildungsfragen überwiegend
glücklich waren, können sie die notwendigen Bildungsausgaben heute nicht mehr schultern. Dies ist durch die
2009 erlassene Schuldenbremse für Bund und Länder
noch weiter verschärft worden.
Zu diesen Finanzierungsschwierigkeiten kommt hinzu,
dass sich das Bildungswesen in den Bundesländern immer stärker auseinanderentwickelt. Das wollen wir mit
unserem Antrag ändern. Es geht uns um mehr soziale
Gerechtigkeit, um bessere Bildungsqualität und um
mehr Vergleichbarkeit zwischen den Bundesländern.
Gestatten Sie mir einige Erläuterungen dazu:
Die bundesdeutschen Schulsysteme sind durch mehr
als ein Dutzend unterschiedliche Schulformen für die
Klassen 5 bis 10, unterschiedlich lange Pflichtschulzeiten, unterschiedliche Abschlüsse mit unterschiedlichen
Berechtigungen, unterschiedliche Unterrichtsfächer und
unterschiedliche Schulzeitlängen - man denke nur an die
derzeitige Debatte um G 8 und G 9 - gekennzeichnet.
Das ist nur ein Teil des Irrgartens, durch den sich Familien quälen müssen, wenn sie das Bundesland wechseln
wollen oder müssen.
Das Problem geht nach der Ausbildung weiter: Weil
auch die Ausbildungen für viele Berufe - so zum Beispiel für die Sozialarbeit, für Erziehungsberufe und für
das Lehramt - Ländersache sind, kann es schnell passieren, dass man zwar in dem Herkunftsland einen anerkannten Beruf hat, aber in einem anderen Bundesland
entweder als ungelernte Kraft oder zu deutlich schlechteren Tarifbedingungen eingestellt wird.
Frau Kramp-Karrenbauer hat in der Bundesratssitzung am 10. Februar 2012 erklärt:
Wir Länder müssen uns verdeutlichen, dass ein
Schulwechsel von einem Bundesland in ein anderes
zu den größten Abenteuern gehört, die eine Familie
zu bestehen hat.
Sie hat recht. Wenn man mit einem Kind nach der
fünften Klasse am Gymnasium aus Bayern nach Berlin
oder Brandenburg wechseln will oder muss, dann
kommt das Kind dort erst einmal in die Grundschule.
Schülerinnen und Schüler zum Beispiel aus Aachen können ihren Fremdsprachenunterricht in einem anderen
Bundesland möglicherweise nicht so fortsetzen, wie sie
ihn begonnen haben, weil es ihn in dieser Weise in anderen Bundesländern gar nicht gibt. Die Anzahl der Jahre
aber, die man eine Fremdsprache erlernt hat, ist ausschlaggebend dafür, ob man das Abitur erreichen kann
oder nicht.
Auch hinsichtlich der Lernmittel gibt es in den Bundesländern höchst verschiedene Regelungen: Gibt es in
Baden-Württemberg und Hessen beispielsweise noch
kostenfreie Schulbücher, so muss man in NordrheinWestfalen, Niedersachsen und Sachsen-Anhalt sehr unterschiedlich hohe Leihgebühren bezahlen. Wechselt
man gar vom Saarland nach Rheinland-Pfalz, muss man
völlig neue Bücher kaufen; denn in beiden Ländern gibt
es, soviel ich weiß, keine Lernmittelfreiheit.
Manche meinen, das träfe nur Einzelfälle. Ich habe
mich einmal kundig gemacht und kann Ihnen sagen: Den
Umzug über Ländergrenzen hinweg müssen jedes Jahr
ungefähr 200 000 Kinder und Jugendliche im schulpflichtigen Alter verkraften.
Da diese Einsicht nun auch bei den Bundesländern
angekommen ist und man sich dennoch nicht auf eine
Harmonisierung der Bildungsgänge im Schulbereich einigen konnte, hat sich die Kulturministerkonferenz jetzt
zu einem revolutionären Schritt entschieden: Es gibt eine
Internetseite mit der Überschrift „Schulwechsel über
Ländergrenzen hinweg“. Ich habe sie angeklickt. Dort
finden Sie, fein säuberlich aufgelistet, für fast jedes Bundesland einen Link zu den entsprechenden gesetzlichen
Regelungen, die es in dem jeweiligen Land gibt. Da können Sie sich durchwursteln. Bravo! Damit ist den Familien sehr geholfen. - Bitte verzeihen Sie mir diesen Sarkasmus, aber es nervt einfach.
({2})
Es geht noch weiter. Auch bei der Schülerbeförderung
- dieses Beispiel müssen Sie sich noch anhören - gibt es
diese Unterschiede. In einigen Ländern werden die Kosten der Schülerbeförderung bis zur zehnten Klasse von
Land und Schulträgern übernommen, zum Beispiel in
Hessen, Nordrhein-Westfalen und Sachsen-Anhalt. In
anderen Ländern gibt es nur einen Zuschuss zur Beförderung oder ein Schülerticket, wie in Berlin, Brandenburg und Baden-Württemberg. Nur wenige Länder, wie
Sachsen-Anhalt und Bayern, übernehmen einen Teil der
Beförderungskosten bis zum Abitur. Der Besuch der
gymnasialen Oberstufe aber wird damit vor allen Dingen
den Kindern erschwert, die aus sozial benachteiligten
Familien kommen.
Nun hat die Bundesregierung ein Bildungs- und Teilhabepaket beschlossen, in dem auch Mittel für die Schülerbeförderungskosten vorgesehen sind. Davon profitieren zwar manche Familien; aber den Ländern und
Schulträgern, die die Schüler bisher schon kostenfrei befördert haben, bringt das überhaupt gar nichts. Wer also
in diesem Land sozial denkt, hat davon nichts. Das allerdings konnte die Mutter des Bildungs- und Teilhabepaketes nicht wissen; denn die Mittel werden ja nicht über
den Bildungshaushalt verteilt, sondern über die Kosten
der Unterkunft. Diese haben bekanntlich nichts mit Bildung zu tun.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich könnte noch
zahlreiche Beispiele dieser Art nennen.
({3})
Sie belegen, dass das Verbot der Zusammenarbeit in Bildungsfragen und die alleinige Zuständigkeit der Länder
mehr schaden als nützen.
({4})
Die Ganztagsschulen - die SPD hat es leider nicht geschafft, dass das Thema in den Koalitionsvertrag aufgenommen wird - sind ebenso wie die Schulsozialarbeit
davon betroffen. Auch das gemeinsame Lernen von Kindern mit und ohne Handicap, also die Inklusion, kann
ohne eine Bundesbeteiligung nicht gestemmt werden.
Die Ungereimtheiten betreffen nahezu alle Bildungsbereiche. In der allgemeinen Schulbildung sind sie inzwischen himmelschreiend. Allerdings weiß ich, dass es
auch im Hochschulbereich - die Studierenden und auch
Vertreter von Hochschulen sowie der Länder haben sich
dazu kürzlich geäußert - solche Probleme gibt und dass
es nicht ausreicht, in der Zukunft über Exzellenzinitiativen nur die Leuchttürme zu fördern.
Deshalb haben die Länder Schleswig-Holstein und
Hamburg vor einigen Jahren eine Bundesratsinitiative
ergriffen. Einige Länder sind ihr beigetreten, aber getan
hat sich leider nichts. Auch Lehrerverbände, Elternverbände und Wirtschaftsverbände fordern ein Umdenken
von uns. Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf,
im Bundesrat endlich Flagge zu zeigen und mit den Ländern so lange zu diskutieren, bis eine Lösung gefunden
ist.
({5})
Es gibt auf der Internetseite der Kultusministerkonferenz noch eine andere interessante Seite, nämlich die für
die „Zentralstelle für ausländisches Bildungswesen“.
Diese Zentralstelle kümmert sich um die Vergleichbarkeit im Ausland erworbener Abschlüsse. Ich fürchte, es
ist Zeit für eine „Zentralstelle für das inländische Bildungswesen“.
({6})
Allerdings wäre es besser, wir könnten im Grundgesetz endlich eine Gemeinschaftsaufgabe Bildung verankern und wir ließen die gemeinsame Finanzierung übergreifender Bildungsaufgaben endlich zu. Das nimmt den
Ländern nicht die Rechte, aber den Lernenden und ihren
Familien manche Sorge. Genau das wollen wir mit unserem Antrag erreichen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in der vergangenen
Legislatur haben Grüne, SPD und Linke jeweils mehrere
Anträge zu diesem Thema, die in die gleiche Richtung
gingen, eingebracht, zwar mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung, aber sie gingen in die gleiche Richtung.
({7})
Ich hoffe sehr, dass die Einigkeit, die damals darüber bestand, dass das Kooperationsverbot für den gesamten
Bildungsbereich und nicht nur für die Hochschulen aufgehoben werden muss, bei der SPD auch nach der Wahl
noch Bestand hat.
Vielen Dank.
({8})
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Das Wort für die Bundesregierung hat Stefan Müller.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn man sich den Antrag der Linken ansieht und vor
allem Ihre Rede, Frau Hein, hört, dann könnte man erstens den Eindruck bekommen, als würde das Grundgesetz eine Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern
verbieten.
({0})
Das Gegenteil ist richtig. Wenn Sie das Grundgesetz
genau lesen, dann werden Sie feststellen, dass es zwar
ausschließt, dass der Bund sich in Felder der ausschließlichen Länderzuständigkeit einmischen darf und dort hineinregieren kann. Aber es verbietet gerade nicht die Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern, sondern es
erlaubt sie. Die Wahrheit ist: So viel Kooperation wie
heute hat es in der Geschichte der Bundesrepublik
Deutschland noch nicht gegeben.
({1})
- Ja. - Dafür gibt es ein paar Beispiele: Nehmen Sie den
Hochschulpakt, mit dem Bund und Länder gemeinsam
dafür gesorgt haben, dass es einen Aufwuchs bei den
Studienplätzen gegeben hat. Nehmen Sie die Exzellenzinitiative, mit der Bund und Länder gemeinsam dafür gesorgt haben, dass Bewegung in die Hochschullandschaft
in Deutschland gekommen ist. Nehmen Sie den Pakt für
Forschung und Innovation oder als weiteres Beispiel die
Qualitätsoffensive Lehrerbildung.
Diese Beispiele zeigen: Kooperation ist möglich, und
sie funktioniert auch in diesem Land, liebe Kolleginnen
und Kollegen.
({2})
Zweitens. Im Antrag wird behauptet, dass seit dem
Bildungsgipfel von 2008 nicht viel passiert sei. Wenn
Sie einen Blick in den Umsetzungsbericht der KMK und
GWK werfen, dann werden Sie auch in dem Punkt feststellen, dass das Gegenteil richtig ist.
Ich will auch hierzu ein paar Beispiele nennen: 2011
besuchten 95 Prozent der vierjährigen Kinder Vorschulen und Kindergärten. Das ist weit mehr als der OECDDurchschnitt. Der Anteil der Schulabgänger ohne
Hauptschulabschluss ist von 8 Prozent auf 5,9 Prozent
gesenkt worden. Die Zahl der Studienanfänger lag 2013
bei über 506 000 und damit rund 145 000 über dem
Stand von vor sechs Jahren. Es ließe sich fortsetzen: Die
Jugendarbeitslosigkeit ist mit 7,7 Prozent die niedrigste
in Europa, und die Weiterbildungsbeteiligung erreichte
2012 mit 49 Prozent Rekordniveau.
Herr Gehring, Sie haben gerade den Haushalt angesprochen. Wenn Sie sich genau anschauen, was in
Deutschland für Bildung und Forschung ausgegeben
wird, dann müssen Sie erstens feststellen, dass die absoluten Bildungsausgaben von 153 Milliarden Euro auf
177 Milliarden Euro gestiegen sind, und zweitens, dass
die Ausgaben für Bildung und Forschung insgesamt bis
2012 auf 9,3 Prozent des BIP gesteigert werden konnten.
Das ist das Ergebnis einer gemeinsamen Kraftanstrengung von Bund und Ländern. Ich finde, wir können uns
über diese positive Entwicklung zu Recht freuen, liebe
Kolleginnen und Kollegen.
({3})
Drittens. Im Antrag wird beklagt, die „Bundesaufgabe Hochschulbau“ sei abgeschafft worden. Diese Bundesaufgabe hat es aber nie gegeben. Der alte Art. 91 a
des Grundgesetzes vor der Föderalismusreform besagte,
dass der Bund bei der Erfüllung der Länderaufgabe
Hochschulbau mitwirkt. Ein Blick auf die aktuelle Situation zeigt, dass der Bund auch heute noch die Länder unterstützt, zum Beispiel im Rahmen der fortbestehenden
Gemeinschaftsaufgabe Forschungsbauten mit 300 Millionen Euro im Jahr. Außerdem gibt der Bund den Ländern für den Hochschulbau rund 700 Millionen Euro
jährlich an Entflechtungsmitteln. Das sind insgesamt
jährlich 1 Milliarde Euro.
Ich möchte noch einen vierten Punkt aus Ihrem Antrag aufgreifen, nämlich die Forderung, dass der Bund
die Umsatzsteuerbeteiligung der Länder erhöhen soll,
die Sie sich, wenn ich das richtig verstehe, zu eigen machen. Das ist eine Forderung des Bundesrates. Ich gebe
zu, wir, die CDU/CSU, stehen dem sehr zurückhaltend
gegenüber. Wir glauben, dass gemeinsame Bund-Länder-Programme zweckdienlicher sind, weil es dadurch
möglich ist, gezielt bildungspolitische Herausforderungen aufzugreifen, was sinnvoller ist, als den Ländern
einfach nur jedes Jahr mehr Geld zu überweisen.
Zwei Fragen sind hier entscheidend. Erstens. Wie
wollen und können wir sicherstellen, dass im Falle einer
höheren Umsatzsteuerbeteiligung der Länder dieses
Geld tatsächlich eins zu eins für Bildung und Forschung
in den Ländern ausgegeben wird? Die zweite Frage ist:
Wie wollen und können wir sicherstellen, dass das Geld
nicht an anderer Stelle weggenommen wird, wo es dann
fehlt?
Deswegen sagen wir: Eine höhere Umsatzsteuerbeteiligung der Länder ist für uns nicht der richtige Weg.
({4})
Wir haben uns, neben vielen anderen Punkten, gemeinsam in dieser Koalition darauf verständigt, dass wir,
um ein Beispiel zu nennen, zu einer Grundfinanzierung
der Hochschulen vonseiten des Bundes kommen wollen.
Nach meiner Auffassung brauchen wir dafür eine Änderung des Grundgesetzes. Einen entsprechenden Vorschlag
hat es in der vergangenen Legislaturperiode gegeben. Dieser Gesetzentwurf ist seinerzeit leider nicht umgesetzt
worden. Es ist kein Geheimnis, dass wir innerhalb der
Koalition noch unterschiedliche Auffassungen haben,
wie wir eine solche Grundfinanzierung hinbekommen.
Ich glaube, dass eine Änderung des Grundgesetzes dafür
der richtige Weg ist. Wir sind unterschiedlicher Meinung, wie wir zu dieser Grundfinanzierung kommen,
aber dass wir sie erreichen wollen, ist jedenfalls Konsens in dieser Großen Koalition. Das ist unstrittig.
({5})
Wir brauchen diese Grundfinanzierung auch als wesentlichen Baustein, um die Wissenschaftspakte in den
nächsten Jahren fortzuentwickeln. Hochschulpakt, Exzellenzinitiative, Pakt für Forschung und Innovation diese Pakte haben dafür gesorgt, dass Bewegung in die
Hochschul- und Wissenschaftslandschaft gekommen ist.
Internationale Vergleiche zeigen, dass wir unsere Position als führende Wissenschaftsnation ausbauen konnten. Jedenfalls erreicht auch die Innovationstätigkeit
neue internationale Spitzenwerte, und - das ist sehr erfreulich - noch nie haben deutsche Hochschulen so viele
Talente aus dem Ausland angezogen. Kurzum: Deutschland steht heute wirtschaftlich und sozial deutlich besser
da als viele andere Staaten im OECD-Raum. Das ist
auch Ergebnis unserer gemeinsamen Anstrengungen im
Bereich der Bildungs- und Forschungspolitik. Diesen
Weg wollen wir auch in dieser Wahlperiode fortsetzen.
({6})
Danke, Herr Kollege. - Der nächste Redner ist Kai
Gehring für Bündnis 90/Die Grünen.
Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.
Frau Präsidentin, auch Ihnen einen schönen Tag. Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Herr Staatssekretär, Ihre Rede war insofern
erhellend, als dass noch einmal offenkundig geworden
ist, dass sich die 80-Prozent-Mehrheit dieses Hauses bei
der Frage, wie sie mit dem Kooperationsverbot umgehen
will, noch nicht einig ist.
2006 hat die damalige Große Koalition dieser Republik das Kooperationsverbot eingebrockt. Wir waren dagegen, den Bund aus jeder Verantwortung für Bildung
herauszudrängen und dauerhaften Wissenschaftskooperationen Steine in den Weg zu legen. Acht Jahre später
hat sich die heutige Große Koalition in ihrem Koalitionsvertrag zu dieser Frage nicht verständigt. Es fehlt jede
Aussage zum Kooperationsverbot. Das ist eine schwere
Enttäuschung. Bei Bildung und Wissenschaft liefert die
Große Koalition bisher von A bis Z nur kleines Karo.
({0})
Das Kooperationsverbot hat sich als Bildungsblockade und Wissenschaftsbremse ausgewirkt. Es war und
ist ein schwerer Fehler. Das hat auch Frank-Walter
Steinmeier hier so bezeichnet, bisher folgenlos. Wir
Grüne werben weiter für einen Bund-Länder-Konsens,
der das Kooperationsverbot kippt und eine Ermöglichungsverfassung schafft; denn Fehler kann man korrigieren.
({1})
Es ist im gemeinsamen Interesse der Gesellschaft, der
Wirtschaft und aller staatlichen Ebenen, die Leistungsfähigkeit und die Qualität von Bildung und Wissenschaft
zu steigern; denn die hohen sozialen Kosten unterlassener Bildungs- und Forschungsinvestitionen tragen letztlich wir alle. Die Leute haben die Nase voll von fehlenden Kitaplätzen, maroden Schulen und überfüllten
Hörsälen. Das Land der Dichter und Denker verträgt
keine Kleinstaaterei, wenn es um die Zukunft unserer
Kinder und Erfinder geht.
({2})
Die Probleme unseres Wissenschaftssystems - es gibt
da viele Baustellen - lassen sich mit einem Kooperationsverbot nicht dauerhaft lösen. Kurzfristige Sofortprogramme wie die Wissenschaftspakte, Hochschulpakt,
Pakt für Forschung und Innovation, Exzellenzinitiative,
haben die bundesweite Unterfinanzierung unserer Hochschulen allenfalls abgemildert, aber nicht überwunden.
Unter der GroKo ist nicht einmal klar, ob und wie diese
Wissenschaftspakte weitergehen. Ministerin Wanka trifft
im Haushalt dafür jedenfalls keine Vorsorge, sondern sie
wird offenbar das erste Opfer von Schäubles schwarzer
Null.
Wir müssen endlich heraus aus der wissenschaftspolitischen Lähmung und Selbstblockade der GroKo. Der
Reform- und der Finanzdruck steigen. Eine moderne
Wissensgesellschaft lässt sich nur in gesamtstaatlicher
Verantwortung gestalten.
({3})
Viele Bundesländer sind kaum in der Lage, ihr Bildungs- und Wissenschaftssystem auskömmlich zu finanzieren, zumal sie die Vorgaben der Schuldenbremse erfüllen sollen. Dieses Problem sollten wir nicht erst in
zwei Jahren lösen, wenn die Neuordnung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen ansteht. Wir sollten den Ländern
nun aber auch nicht einfach 6 Milliarden Euro überweisen, wie es der Koalitionsvertrag nahelegt. Wir brauchen
fachgebundene Programme, also eine Zweckbindung
von Zukunftsinvestitionen in Bildung und Wissenschaft.
({4})
Ohne feste Vereinbarung von Bund und Ländern, dass
die 6 Milliarden Euro in Schulen und Universitäten investiert werden, besteht einfach das Risiko, dass sie in
Haushaltslöchern oder Schlaglöchern landen. Das liegt
weder im Interesse der Steuerzahler noch im Interesse
der Fach- und Haushaltspolitiker dieses Hohen Hauses.
({5})
Der Verfassungsänderungsvorschlag von SchwarzGelb wurde bereits angesprochen. Dieser war aus unserer Sicht ungeeignet, die Erosion der Grundfinanzierung
der Hochschulen zu stoppen. Nur Leuchttürme mit internationaler Strahlkraft herauszuputzen, wäre uns zu wenig. Uns geht es vor allem um verlässlichen Studienplatzausbau sowie Infrastruktur- und Hochschulbau. Wir
wollen letztlich das gesamte Wissenschaftssystem zum
Leuchten bringen.
({6})
Apropos Leuchten, Herr Kollege, bei Ihnen leuchtet
die rote Lampe schon seit einiger Zeit.
({0})
Seit zehn Sekunden. Ich rede schnell.
Wir haben als Grüne viele Initiativen vorgeschlagen.
Jetzt ist die Bundesregierung am Zug. Sie müssen einen
neuen Vorschlag machen, um das Grundgesetz zu ändern. Wir würden ihn sehr sorgfältig prüfen - gerne auch
im Rahmen eines Reformkonvents, den wir hier mehrmals vorgeschlagen haben -, damit die notwendige
Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat zustande kommt. Wir haben 2006 prophezeit, dass es mindestens zehn Jahre dauert, das Grundgesetz zu ändern.
Bitte sorgen Sie dafür, dass wir nicht recht bekommen!
Sorgen wir gemeinsam für einen kooperativen Föderalismus!
({0})
Als Nächstem erteile ich das Wort dem Kollegen
Dr. Ernst Dieter Rossmann, SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Staatssekretär Müller hat sich schon sehr profund mit
den Linken auseinandergesetzt. Ich will das nicht wiederholen, sondern nur einen Eindruck wiedergeben.
Meine Damen und Herren von der Linken, Sie können
so beredt über die Vielfalt des deutschen Schul- und Bildungswesens diskutieren, aber Ihre Antwort, die Änderung des Grundgesetzes, betrifft das überhaupt nicht. Ich
wünsche mir, dass bei Ihnen Rede und Initiative für das
Parlament irgendwann in einem Zusammenhang stehen.
Das kann nicht schaden.
({0})
Nun darf ich mich im Namen der Großen Koalition
mit Ihnen, Herr Gehring, auseinandersetzen. Sie haben
recht, wenn Sie konstatieren, dass wir auf der Suche
sind. Aber Ihnen ergeht es nicht anders. Sie haben heute
in der taz in einem Nebensatz gesagt: „Aber die SPD
weiß nicht, was sie will.“ Ich darf Ihnen sagen: Die SPD
weiß sehr genau, was sie will. Wir haben dazu eindeutige Parteibeschlüsse.
({1})
Wir möchten gerne, dass Bund und Länder in bestimmten Konstruktionen die Bildung fördern. Mir ist bekannt,
dass die Grünen ähnliche Beschlüsse gefasst haben.
Aber genauso wie wir sind auch Sie noch auf der Suche.
Denn ist Herr Kretschmann als gewichtiger Ministerpräsident von Baden-Württemberg nicht mehr Mitglied der
Grünen?
({2})
Erinnere ich mich richtig, dass die Grünen den Ministerpräsidenten in Hessen stellen wollten? Wissen Sie eigentlich noch, was Sie in Hessen werden können, werden wollen oder werden dürfen?
({3})
Wir müssen konstatieren: Wir alle befinden uns auf der
Suche nach der besten Lösung. Wir sollten uns nicht unsere Positionen vorhalten, sondern darüber nachdenken,
wie wir in einem bestimmten politischen Spektrum zusammenkommen können.
({4})
Ich werbe stark für eine solche Haltung und nicht für
eine Haltung des Vorrechnens und des Abrechnens.
Dass es zu Veränderungen und Lösungen kommen
muss, ist unstrittig. Aber in der letzten Legislaturperiode, als wir Schulen vor Ort über eine Bildungsinitiative fördern wollten, sind wir bei der Initiative „Kultur
macht stark“ geendet, weil mehr nicht ging. Auch beim
Bildungs- und Teilhabepaket mussten wir manchmal einen Umweg machen, weil es grundgesetzlich keine
Möglichkeiten gab, Kinder direkt in der Schule zu fördern. Wir haben vor allem erlebt, dass die Verfassung
Diener von politischer Entwicklung für die Verbesserung
im Bildungswesen ist und nicht umgekehrt. Denken Sie
an das legendäre Konjunkturpaket, das eine schnelle Änderung des Grundgesetzes zur Folge hatte, damit wir
nicht mehr abrechnen mussten, ob es 49 oder 51 Prozent
energetische Sanierung an Hochschulen oder Schulen
gab.
Wir müssen an dem Grundsatz arbeiten, dass über die
Verfassung Verbesserungen im Bildungswesen unterstützt werden. Ob wir dies in der ganzen Breite des Bildungswesens erreichen können, wird zu klären und zu
diskutieren sein. Wir glauben zum Beispiel, dass der von
der SPD in einem Parteibeschluss einmütig festgehaltene
Ansatz, über einen neuen Art. 104 c des Grundgesetzes
dauerhafte Finanzhilfen an die Länder und Kommunen
geben zu können, sehr hilfreich ist. Es wäre in der aktuellen Auseinandersetzung über die zukünftige Finanzarchitektur klug, sie mit der Verfassungsarchitektur ins
Benehmen zu setzen. Wir konstatieren genauso - hier
knüpfe ich unmittelbar an einen Punkt an, den der
Staatssekretär Müller für die Große Koalition gesetzt
hat -, dass es eine Möglichkeit geben muss, neue Instrumente der Bildungsförderung entsprechend den Verfassungsvoraussetzungen zu schaffen.
Es wurden bereits Ausführungen über die Unterfinanzierung des Hochschulbereiches und die Verschiebung
der Gewichte im Hochschulbereich gemacht. Dort gibt
es viele - bei aller Sympathie für Wettbewerbselemente -, die mittlerweise darüber stöhnen, dass es
immer mehr eine Drittmittelfinanzierung gibt, die die
Hochschulstrukturen verändert. Es wäre hilfreich, wir
hätten eine größere Stärkung bei der Grundfinanzierung.
Das ist dann natürlich nicht nur eine Finanzaufgabe, sondern auch eine Verfassungsaufgabe. Die Große Koalition
hat sich diese Aufgabe zu eigen gemacht. Im Koalitionsvertrag steht, dass ein zusätzliches Ziel die Stärkung der
Grundfinanzierung der Hochschulen ist. Kundige wissen, dass die Formulierung „zusätzlich“ merkwürdig ist,
weil es nach dem Grundgesetz gar nicht möglich ist.
Wenn man in den Koalitionsvertrag schreibt, dass man
zusätzlich etwas machen will, was nach dem Grundgesetz noch nicht geht, ist dies zumindest ein Hinweis darauf, dass dies zu einer sehr späten Stunde geschah.
({5})
Jetzt, mit einem klareren Kopf, muss es doch ein Ansporn für uns sein, zu tragfähigen Lösungen zwischen
den Koalitionspartnern, zwischen Bund und Ländern,
auch zwischen Regierungsfraktionen und Oppositionsfraktionen, zu kommen, um das politisch maximal Mögliche zu erreichen, nämlich Bildung im Zusammenwirken von Bund und Ländern zu fördern.
Herr Gehring, ich möchte mich direkt an Sie als Sprecher der Grünen wenden. Ich habe Ihre Rede so wahrgenommen, dass Sie es sehr wohl als Fortschritt begreifen
würden, wenn den Hochschulen dauerhaft zu einer stär2048
keren Absicherung ihrer Finanzierung verholfen werden
kann, weil das ein wesentlicher Teil von Bildungsförderung ist. Selbst wenn wir nur dieses und nicht mehr erreichen können, wofür wir sehr ernsthaft werben - auch
beim Koalitionspartner -, dann wäre es ein Erfolg. So
werben Sie bei Ihrem grünen Ministerpräsidenten und
dort, wo Sie Regierungsverantwortung haben. Wir werben ebenfalls.
Am Ende darf es in diesen vier Jahren der Großen
Koalition und Arbeit im Parlament aber nicht nur ein
ständiges Werben geben, sondern es muss auch zu einer
Entscheidung kommen. Wir sehen es als Auftrag für
diese Große Koalition und das Parlament an, diese Entscheidung in einem Paket mit anderen Fragen zügig vorzubereiten, um dann daraus etwas zu machen. Es nutzt
am Ende nichts, eine Verfassung zu haben, die man verbessert hat, und eine Wirklichkeit, die hinter der Verfassung hinterherhinkt. Die Verfassungsarchitektur und die
Finanzarchitektur so zusammenzubringen, dass es unmittelbare und nachvollziehbare Auswirkungen auf die
Menschen hat, die in der Bildung arbeiten, die Bildung
erleben und Bildung als Zukunft verstehen, wird die
Aufgabe sein, der wir uns in aller Ernsthaftigkeit stellen
wollen.
Danke.
({6})
Als Nächstem erteile ich dem Kollegen Tankred
Schipanski, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Unsere damalige Wissenschaftsministerin Annette
Schavan hat erstmals im März 2010 einen konkreten
Vorschlag unterbreitet, wie sie sich einen neuen kooperativen Föderalismus vorstellt. Diesen Impuls haben wir in einer Vielzahl von Debatten in diesem Hohen Hause in der letzten Legislatur aufgegriffen. Nach
intensiver Diskussion legte dann die christlich-liberale Koalition am 10. Oktober 2012 mit der Bundestagsdrucksache 17/10956 einen ganz konkreten Gesetzentwurf vor, den wir alle kennen und der die
Änderung des Art. 91 b Abs. 1 Nr. 2 Grundgesetz vorsah. Es war ein Vorschlag, der einen gesellschaftlichen Konsens aufgriff
({0})
und der die sensible Frage der Kernzuständigkeiten der
Bundesländer berücksichtigt und austariert hat.
Es gab in der Analyse und in den Schlussfolgerungen
einen Konsens. Alle Sachverständigen und Wissenschaftsorganisationen wiesen zu Recht darauf hin, dass
durch unseren Vorschlag der Änderung des Art. 91 b die
Unwucht zwischen außeruniversitärer und universitärer
Forschung behoben werden kann. Der Wissenschaftsrat
hat uns in seinem Gutachten zu den Perspektiven des
deutschen Wissenschaftssystems vom 12. Juli 2013 ausdrücklich bestätigt, dass eine Änderung des Art. 91 b ein
richtiger und wichtiger Schritt zur Weiterentwicklung
unseres Wissenschaftssystems wäre.
({1})
Ein Blick in den Koalitionsvertrag der Großen Koalition zeigt, dass wir uns einig sind, dass unsere Universitäten - das Herzstück unseres Wissenschaftssystems Unterstützung vom Bund erhalten sollen. Das soll nicht
nur im Rahmen der bisherigen befristeten Vorhaben,
sondern - Kollege Rossmann hat es bereits gesagt - auch
mit Blick auf die Grundfinanzierung geschehen, also
ganz im Sinne des Formulierungsvorschlags des
Art. 91 b aus der letzten Legislatur.
Wir erörtern nunmehr, wie wir den Auftrag, den uns
der Koalitionsvertrag gibt, im gesamtstaatlichen Interesse umsetzen. Eine Verfassungsänderung, also eine
Änderung des Art. 91 b, ist eine Variante. Sie kann so
aus dem Koalitionsvertrag herausgelesen werden. Ein
anderer Weg wäre die Weiterentwicklung unserer bisherigen umfangreichen Kooperation zwischen Bund und
Ländern. Das gilt zum Beispiel für den Hochschulpakt,
die Exzellenzinitiative oder den Qualitätspakt Lehre; der
Herr Staatssekretär hat das angesprochen. Der Wissenschaftsrat hat mit seinem Gutachten richtige Impulse gesetzt.
Es zeigt sich, dass der Begriff des Kooperationsverbotes sehr zugespitzt gewählt ist.
({2})
Denn wir erleben doch gerade eine umfangreiche Kooperationskultur. Kooperation ist im gesamtstaatlichen
Interesse. Dies ist im Übrigen auch die Idee des kooperativen Föderalismus, den uns das Grundgesetz gebietet.
Das Grundgesetz unterscheidet ganz bewusst zwischen
Wissenschaft - Art. 5 - und Schule, Art. 7. Der heute zu
diskutierende Antrag der Linken greift aber nur die Kooperationskultur im Bildungsbereich auf. Das ist ein Politikfeld, in dem wir keinen gesellschaftlichen Konsens
für eine Verfassungsänderung erkennen können, im Besonderen keinen Konsens mit den Bundesländern, um
deren Kernkompetenzen es sich hier handelt. Ich verweise auf die Anhörung vom 28. November 2012, die
unser Ausschuss in der letzten Legislatur mit Blick auf
eine Grundgesetzänderung durchführte. Dort konnten
wir erleben, wie sich die Länder im Bildungsbereich
schwertun, dem Bund lediglich eine koordinierende
Rolle zuzubilligen. Das ist aber eine Rolle, die der Bund
meines Erachtens von Verfassungs wegen her bereits besitzt.
Wir sind uns über Fraktionsgrenzen hinweg in diesem
Hohen Hause einig, dass die Arbeit der Kultusministerkonferenz - diplomatisch gesprochen - verbesserungsbedürftig ist. Seit 14 Jahren arbeitet dieses Gremium nun
an gemeinsamen Bildungsstandards und kommt nur
mühsam voran. Transparenz, Vergleichbarkeit der Abschlüsse und bundesweite Bildungsmindeststandards
sind in unserem kooperativen Bildungsföderalismus notwendige Grundbausteine.
Das, was wir gegenwärtig im Rahmen der Diskussionen um G 8 und G 9 in einigen Bundesländern erleben,
ist erschreckend.
({3})
Es zeigt mir, dass die KMK eben nicht in der Lage ist,
nationale Verantwortung wahrzunehmen.
Der Antrag der Linken enthält keinen Lösungsansatz
für diese Probleme.
({4})
Weder lese ich etwas von der Vergleichbarkeit der
Schulabschlüsse noch von Mindeststandards und Transparenz. In Ihrem Antrag geht es nicht um Inhalt, sondern
um Finanzströme. Sie machen nur einen einzigen Vorschlag, und der ist abenteuerlich. Sie wollen Landesgeld
durch Bundesgeld ersetzen. Sie wollen die Einnahmen
der Länder auf Kosten des Bundes erhöhen. Das ist Egoismus und das Gegenteil von Bildungskooperation, wie
wir sie brauchen.
({5})
Kooperativer Föderalismus bedeutet für mich, dass
das Engagement des Bundes nicht das Engagement eines
Bundeslandes ersetzen darf, sondern nur ergänzen. Hierauf haben wir uns im Wissenschaftsbereich mit den
Bundesländern verständigt. Diese Kooperationskultur
wollen wir ausbauen. Diesen Arbeitsauftrag haben wir
klar im Koalitionsvertrag formuliert und werden ihn
auch gemeinsam erfüllen.
Vielen Dank.
({6})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort Özcan
Mutlu, Bündnis 90/Die Grünen. - Bitte schön.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im
Januar dieses Jahres hatten wir hier eine lebhafte Diskussion zu den Ergebnissen der Pisa-Studie. Mich hat damals
vor allem erheitert, dass Sie sich dazu gefeiert haben; denn
dank Ihres schwarz-roten Kooperationsverbotes können
und dürfen Sie mit diesem Ergebnis eigentlich nichts zu tun
haben.
({0})
Das Pisa-Ergebnis, egal wie man es bewertet - wir sind
da kritischer als Sie -, entspringt nämlich der Leistung
der Bundesländer. Darüber sollten Sie sich Gedanken
machen.
Im Wahlkampf hatte ich durchaus Hoffnung auf Besserung verspürt; denn im Wahlprogramm der SPD stand
folgender Satz:
Mit dem Kooperationsverbot in der Bildung ist die
Politik einen Irrweg gegangen.
So ähnlich ist auch die parteiübergreifende Meinung vieler Kolleginnen und Kollegen hier im Hause und in den
Landtagen der Republik.
Sind den blumigen Worten der SPD auch konkrete
Taten gefolgt? - Nein, leider nicht. Nicht einmal in den
Koalitionsvertrag hat es die Aufhebung des Kooperationsverbotes geschafft. Da sage ich in Richtung der
SPD: Nicht die Politik ist einen Irrweg gegangen, sondern Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD,
sind mit Ihrer Zustimmung zum Kooperationsverbot einen Irrweg gegangen. Wir sagen: Lassen Sie uns gemeinsam in diesem Hause und in dieser Republik diesen
Irrweg beenden.
({1})
Mit der Föderalismusreform 2006 haben Sie als
GroKo dem deutschen Bildungssystem ohne jede Not
eine ungenießbare Suppe eingebrockt. Von den Sozialverbänden über die Gewerkschaften bis hin zum BDI,
alle sprechen sich für eine Abschaffung des Kooperationsverbotes aus. Deshalb sollten Sie, lieber Kollege
Rossmann, sich mit Ihren 80 Prozent in diesem Haus
nicht hinter einem grünen Ministerpräsidenten verstecken.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich erinnere mich
noch ganz gut an unser rot-grünes Ganztagsschulprogramm. Gegen den zum Teil massiven Widerstand der
CDU-regierten Bundesländer sind mit dem rot-grünen
Programm 10 000 neue Ganztagsschulen entstanden.
Das ist unsere gemeinsame Erfolgsstory.
({3})
Ich denke, wir sind uns alle darüber einig, dass es ein gutes Programm war und dass es richtig und wichtig ist,
dieses Programm weiterzuführen.
({4})
Mit dem Kooperationsverbot ist das aber nicht mehr
möglich; es sei denn, Sie führen wieder ein indirektes
bildungspolitisches Sonderprogramm ein, um das leidige
Kooperationsverbot zu umgehen: „Bildungs- und Teilhabepaket“, sage ich nur.
Aber wozu diese Tricksereien? Lassen Sie uns doch
gemeinsam die Bundesländer überzeugen - ich will Baden-Württemberg nicht ausschließen - und sie für eine
Kooperation zwischen Bund und Ländern gewinnen. Im
Mittelpunkt unserer Bestrebungen muss der Bildungserfolg der Schülerinnen und Schüler stehen und damit die
Zukunft unserer Gesellschaft und unseres Landes. Niemand will den Bundesländern ihre Kompetenzen in der
Bildung wegnehmen; das werden sie auch nicht zulassen. Es muss um Kooperation gehen und um gemeinsame Anstrengungen für eine bessere Bildung statt um
bildungspolitische Kleinstaaterei, die nachweislich kontraproduktiv ist.
({5})
Schauen Sie sich den finanziellen Zustand unserer
Länder und Kommunen doch einmal genauer an. Die
meisten Bundesländer sind pleite, und die Kommunen
sind pleite zum Quadrat. Es ist doch grotesk: Länder und
Kommunen streiten sich derzeit darüber, wer für die
Umsetzung der Inklusion die finanzielle Verantwortung
trägt. Der Bund hält sich dagegen bisher fein aus der Debatte heraus. Dabei ist es offensichtlich, dass viele Bundesländer und Kommunen die riesigen Herausforderungen der Bildungspolitik nicht alleine meistern können.
Es ist ja nicht so, dass wir Grünen jetzt fordern, der
Bund müsse alles mitfinanzieren und Geld bereitstellen.
Wenn Herr Seehofer, Herr Weil und Herr Kretschmann
kein Geld vom Bund wollen, dann auch gut. Aber jene,
die auf die Unterstützung durch den Bund angewiesen
sind, müssen in einer kooperativen Art und Weise unterstützt werden.
Nun höre ich auch hier, dass das Kooperationsverbot
für den Hochschulbereich anscheinend gelockert werden
soll. Ich erlaube mir, zu diesem Thema die Ministerin
Wanka zu zitieren - Herr Müller, Sie sollten genau zuhören -: „Es wird Zeit, dass wir dieses Relikt abschaffen.“
Recht hat sie. Dieses Relikt muss in Gänze abgeschafft
werden; denn das, was für den Hochschulbereich gilt,
gilt erst recht für die Allgemeinbildung und die schulische Bildung. Deshalb sage ich zum Schluss: Wir brauchen kein Verbot von Kooperation. Wir sollten uns stattdessen für ein Gebot zur Kooperation starkmachen. Ich
appelliere an Ihre Vernunft. Lassen Sie diese Spielchen
von Opposition und Regierung.
({6})
Lassen Sie uns hier im Interesse unseres Landes an einem Strang ziehen.
({7})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Kollegen Swen Schulz, SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bildungsföderalismus ist in der Tat ein schwieriges Thema. Das liegt
unter anderem daran, dass es zwischen Bundes- und
Landespolitikern tendenziell unterschiedliche Meinungen darüber gibt, wer was machen soll. Dieses Phänomen, Herr Kollege Mutlu, tritt in allen Parteien auf. Das
müssen wir einmal festhalten.
({0})
- Sie versuchen bei den Grünen, das einzudämmen. Das
versuchen andere auch. - Festzuhalten ist: Wir können
hier nicht nur das machen, was wir gerne wollen, weil es
den Bundesrat und die Landespolitiker gibt, die schon
darauf achten, was wir aus ihrer Sicht machen sollten. Es
gibt eine Fülle von hervorragenden Beispielen der Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern, vom Ganztagsschulprogramm über den Hochschulpakt bis zum
Pakt für Forschung und Innovation. Es muss unser Ziel
sein, diese Kooperation zu stärken und auszubauen.
({1})
Eine Grundgesetzänderung würde dabei zweifelsohne
helfen. Wir haben in den Koalitionsverhandlungen intensiv darüber gesprochen. Wir von der SPD konnten uns
mit unserem Vorschlag, der den Bildungsbereich in
Gänze, auch die Schulen, beinhalten würde, leider nicht
durchsetzen.
({2})
Damit bei der Bildung trotzdem etwas geschieht, ist im
Koalitionsvertrag gewissermaßen hilfsweise festgeschrieben, dass die Länder um 6 Milliarden Euro entlastet werden, um ihre Aufgaben im Bildungsbereich besser
wahrnehmen zu können. Jetzt laufen die Gespräche, wie
das im Einzelnen aussehen soll. Ich sage hier ganz klar:
Es muss sichergestellt werden, dass das Geld tatsächlich
in den Krippen, Kitas, Schulen und Hochschulen landet.
Wir dürfen nicht eine Art Blankoscheck austeilen nach
dem Motto „Länder, hier habt ihr das Geld; macht mal
schön, wir schauen gar nicht so genau hin“. Das darf es
nicht geben.
({3})
Eines will ich in diesem Zusammenhang hier offen
ansprechen: Ich habe mich über einige Wortmeldungen
der letzten Wochen aus den Reihen der CDU/CSU geärgert. Sie folgen immer derselben Melodie: Die SPD blockiert mit ihren gierigen Ländern die Finanzierung von
Bildungs- und Wissenschaftspolitik. - Da das mehrfach
öffentlich behauptet wurde, will ich an dieser Stelle klarstellen:
({4})
Das stimmt nicht.
({5})
Ich bitte Sie herzlich, Kollege Rupprecht und die anderen, dieses Märchen nicht weiterzuverbreiten.
({6})
Erstens unterscheiden sich die Länder in ihrem Trachten nach dem Geld des Bundes höchstens graduell. Ein
Beispiel: Gerade hat der Finanzausschuss des Bundesrates beschlossen, dass das Geld ohne Zweckbindung, zum
Beispiel in Form höherer Umsatzsteueranteile, an die
Länder fließen soll - Abstimmungsergebnis 15 : 1. Herr
Swen Schulz ({7})
Rupprecht und Herr Müller, die eine Gegenstimme kam
nicht etwa aus Bayern, sondern aus Bremen. Das nur
einmal zur Klarstellung.
({8})
Zweitens steht im Koalitionsvertrag eindeutig, dass
die Länder entlastet werden, und nicht, dass der Bund etwas tut oder dass Frau Wanka die Milliarden zur freien
Verfügung erhält. Das muss man nicht gut finden. Aber
meiner Erinnerung nach ist der Koalitionsvertrag nicht
nur von Sigmar Gabriel, sondern auch von Angela
Merkel und Horst Seehofer unterschrieben worden.
Drittens rate ich den Kolleginnen und Kollegen von
der CDU/CSU, sich nicht zu weit aus dem Fenster zu
lehnen, wenn es um die Bildungsfinanzierung geht.
({9})
Denn die Geldprobleme des Bildungs- und Forschungsministeriums haben ja nicht mit der Großen Koalition
begonnen, sondern es war Schwarz-Gelb, das uns ein Finanzloch von 5 Milliarden Euro hinterlassen hat.
({10})
Es wurden Versprechungen im Umfang von 5 Milliarden
Euro gemacht, die in der Finanzplanung gar nicht vorgesehen sind. Im Gegenteil: In der mittelfristigen Finanzplanung waren sogar Kürzungen im Bereich Bildung
und Forschung eingeplant. Unsere geschätzten Koalitionspartner sollten sich also lieber mit Frau Merkel,
Herrn Schäuble und Frau Wanka zusammensetzen, um
eine Lösung für die schwarz-gelben Altlasten zu finden,
anstatt abzulenken und mit dem Finger auf die Länder zu
zeigen.
({11})
Kolleginnen und Kollegen, wir haben in der Bildungs- und Forschungspolitik einen sehr geringen finanziellen Spielraum. Das ist auch das Ergebnis von politischen Grundsatzentscheidungen. Diese Koalition hat
sich vorgenommen, keine Schulden mehr zu machen
und gleichzeitig keine Steuererhöhungen vorzunehmen.
Das hat einen Preis, nämlich engere finanzielle Spielräume. Auch das muss man nicht gut finden, aber auch
damit müssen wir nun umgehen.
Ich will da ein Thema aufgreifen, das der Kollege
Rossmann angesprochen hat. Ich frage mich, was eine
Grundgesetzänderung vor diesem finanziellen Hintergrund derzeit überhaupt hilft. Denn ein geändertes
Grundgesetz alleine löst ja erst mal kein einziges Problem an irgendeiner Schule oder Hochschule. Das ist
wie der Bau einer Startbahn - eine Startbahn ist wunderbar, aber damit etwas passiert, braucht man erst mal ein
Flugzeug; doch wir können nicht mal die Tankfüllung
bezahlen, Kolleginnen und Kollegen.
({12})
Andererseits will ich die Hoffnung nicht aufgeben. Es
ist eine Grundsatzdebatte über die Finanzbeziehungen
zwischen Bund und Ländern vereinbart. Vielleicht erarbeiten wir in diesem Rahmen eine tragfähige und ausfinanzierte Architektur für den Bereich Bildung und
Wissenschaft in Bund und Ländern. Die Mühe wäre das
wert.
Herzlichen Dank.
({13})
Zu ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag erteile
ich der Kollegin Sybille Benning, CDU/CSU-Fraktion,
das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir wollen die Dynamik der Exzellenzinitiative, des Hochschulpakts und des Pakts für Forschung und Innovation nutzen und diese Programme fortführen. Wir stehen zu
unserer Initiative aus der vergangenen Legislaturperiode
und möchten das Kooperationsverbot im Hochschulbereich abschaffen, damit die Hochschulen mehr Geld für
die Grundfinanzierung zur Verfügung haben.
Unsere Hochschulen sind das Herzstück unseres Wissenschaftssystems. Sie müssen dauerhaft wettbewerbsfähig sein und deshalb Planungssicherheit haben.
({0})
Die Schulbildung aber ist Ländersache. Hier muss ich
den Ausführungen in Ihrem Antrag klar widersprechen.
Die Schulpolitik beim Bund anzusiedeln, hieße, die
Schulbildung in Deutschland zu zentralisieren. Das entspricht nicht unseren Vorstellungen von Föderalismus.
({1})
Ihr Lösungsvorschlag scheint zu sein, dass der Bund den
Ländern einfach mehr Geld überweist, und zwar deutlich
mehr. Sie zitieren eine Forderung der GEW, wonach im
Bildungsbereich ein zusätzlicher jährlicher Finanzbedarf
von 56,8 Milliarden Euro bestehe. Das entspricht der
Hälfte aller Bildungsausgaben von Bund, Ländern und
Kommunen im Jahr 2013. Die Hälfte einfach noch mal
obendrauf - das ist, freundlich formuliert, eine Illusion.
({2})
Sie behaupten in Ihrem Antrag außerdem, seit dem
Bildungsgipfel in Dresden sei nicht viel passiert. Unsere
Bundeskanzlerin Angela Merkel und die Ministerpräsidenten der Länder haben 2008 ein umfassendes Programm zur Stärkung von Bildung und Ausbildung in
Deutschland beschlossen. Seitdem hat die verbesserte
Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern - wie
eben auch schon mehrfach berichtet - bereits viele
Früchte getragen.
Meine Damen und Herren, ich möchte jetzt die Erfolge in einigen Bereichen etwas näher beleuchten, die
Sie mit den Worten „Nicht viel passiert“ beiseitewischen
wollen:
Erstens. Sie übersehen, dass der Anteil der Ausgaben
für Bildung und Forschung am Bruttoinlandsprodukt in
den letzten fünf Jahren auf 9,5 Prozent gestiegen ist. Damit ist das in Dresden gesetzte Ziel eines Anteils von
10 Prozent in greifbarer Nähe.
Zweitens. Die frühkindliche Bildung hat sich in den
letzten Jahren enorm verbessert. 96 Prozent der Vierjährigen und 90 Prozent der Dreijährigen in Deutschland
nehmen an frühkindlicher Bildung teil. Deutschland
liegt damit weit über dem OECD-Durchschnitt.
({3})
Gerne zähle ich weitere Punkte auf. Der Anteil der
Schulabgänger, die ohne einen Hauptschulabschluss die
Schule abbrechen, ist zwischen 2006 und 2012 auf
5,9 Prozent zurückgegangen. Das ist ein wichtiger Erfolg. Für jeden einzelnen Jugendlichen, der einen Abschluss macht, ist es ein Gewinn. Wir werden weiterhin
hart dafür arbeiten, dass möglichst alle ihren Abschluss
machen.
({4})
In Deutschland bilden sich mehr Menschen weiter.
Das vereinbarte Ziel in Dresden lautete: 50 Prozent. Das
ist fast erreicht.
Nehmen Sie, meine Damen und Herren, bitte außerdem zur Kenntnis, dass in Deutschland ein vergleichsweise hohes Bildungsniveau herrscht. Derzeit haben
86 Prozent unserer Bevölkerung einen Hochschulabschluss, die Hochschulreife oder eine abgeschlossene
Berufsausbildung.
Außerdem ist die Bildungsbeteiligung überdurchschnittlich hoch. Ein Ziel des Programms zur Stärkung
von Bildung und Ausbildung ist natürlich, die Menschen
in Arbeit zu bringen. Wie erfolgreich Bund und Länder
hier zusammenarbeiten, sieht man sehr deutlich an der
geringen Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland, die mit
7,7 Prozent bei weitem die niedrigste in ganz Europa ist.
({5})
Ganz besonders beeindruckend finde ich die Steigerung der Studienanfängerzahlen. Jeder Zweite eines Altersjahrganges geht studieren. Die Studienanfängerquote
liegt ganze 10 Prozentpunkte über dem 2008 aufgestellten 40-Prozent-Ziel, also bei 50 Prozent.
Innerhalb von sechs Jahren ist die Studienanfängerzahl um 145 000 Menschen gestiegen. Stellen Sie sich
vor: Das wäre das gesamte gefüllte Westfalenstadion,
plus die Arena auf Schalke, plus ein gefülltes Münchener Stadion. So viele Menschen zusätzlich erwarten eine
hochwertige Ausbildung. Um dieser Erwartung zu entsprechen, brauchen die Hochschulen unsere Unterstützung.
({6})
Ich fasse zusammen: Die frühkindliche Bildung hat
sich enorm verbessert, der Anteil der Schulabgänger
ohne Hauptschulabschluss hat sich verringert, die Bildungsausgaben sind deutlich gestiegen, mehr Menschen
bilden sich über ihren gesamten Berufsweg hin weiter,
viele Menschen beginnen ein Studium, und die Bildungsbeteiligung hat sich deutlich erhöht.
Mit Ihrem Antrag haben Sie mir als neuer Abgeordneter die Gelegenheit gegeben, wichtige Erfolge im Bildungs- und Forschungsbereich unter der Leitung der
Union im Bund darzustellen.
({7})
Dafür danke ich Ihnen. Klar ist aber: So, wie Sie es sich
vorstellen, geht es nicht.
Vielen Dank.
({8})
Liebe Frau Kollegin Benning, das Präsidium beglückwünscht Sie zu Ihrer ersten Rede und wünscht Ihnen für
die Zukunft eine interessante parlamentarische Arbeit.
({0})
Als Nächstem erteile ich das Wort dem Kollegen
Martin Rabanus, SPD-Fraktion.
({1})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Verlauf der Debatte macht es mir ein bisschen schwieriger, so einzusteigen, wie ich das als von Natur aus harmoniebedürftiger Mensch eigentlich wollte. Ich wollte
als Erstes auf die Gemeinsamkeiten, die es im Hohen
Hause gibt, abheben.
({0})
Möglicherweise gelingt das auch. Wenn wir von der
Rede der Frau Kollegin Hein von der antragstellenden
Fraktion, von dem wolkenverhangenen parteipolitischen Geklüngel der Grünen sowie von ein paar koalitionsinternen Hinweisen absehen, dann stellt man fest,
dass sich alle, einschließlich der Bundesregierung, dafür
ausgesprochen haben, das Koalitions-, Entschuldigung,
das Kooperationsverbot abzuschaffen.
({1})
„Kooperationsverbot abschaffen“ - das ist - soweit
ich das erkennen konnte - die gemeinsame Überschrift.
Aber schon in der Debatte gab es den einen oder anderen
deutlichen Hinweis, dass man in den Fraktionen möglicherweise, in Maßen, etwas Unterschiedliches darunter
versteht.
({2})
- Was die SPD darunter versteht, ist in der Tat sehr klar,
Frau Kollegin Hein. Wir haben als einzige Partei sehr
frühzeitig einen zwischen der Bundesebene und den sozialdemokratisch regierten Ländern abgestimmten Textvorschlag zur Ergänzung des Grundgesetzes - Art. 104 c vorgelegt.
({3})
Dass die Union in Teilen andere Vorstellungen hat, ist
hier schon hinreichend deutlich geworden. Dass Sie den
Kulturföderalismus völlig anders einschätzen als wir, ist
auch deutlich geworden. Dass die Grünen, je nachdem,
in welcher Lage sie sich befinden, völlig unterschiedliche Aussagen tätigen, ist auch hinreichend deutlich geworden.
({4})
Nach diesem wunderschönen Hinweis auf den Vertrag der Großen Koalition in Berlin möchte ich Ihre Aufmerksamkeit auf Ihren eigenen Koalitionsvertrag in Hessen richten; denn auch dort finden Sie keinerlei
Aussagen zum Umgang mit dem Kooperationsverbot.
({5})
Wenn ich mich erinnere, wie die Grünen in Hessen noch
im September letzten Jahres die Backen aufgeblasen haben,
({6})
wird mir klar, liebe Kordula Schulz-Asche, dass die Situation, in der man sich befindet, gelegentlich unterschiedliche Verbindlichkeiten und unterschiedliche Intonationen zur Folge hat.
Warum sage ich das?
({7})
Ich sage das, weil es wichtig ist, bei so einem Thema
nicht in Gut und Böse, in Richtig und Falsch zu unterscheiden, weil es wichtig ist, nicht den moralischen Zeigefinger zu erheben. Wir haben es hier natürlich mit einer Gemengelage unterschiedlicher Interessen von Bund
und Ländern zu tun. Das ist deutlich geworden. Es gibt
unterschiedliche Konstellationen. Die für sich genommen jeweils legitimen Interessen müssen in den kommenden Wochen und Monaten einer kritischen Diskussion zugeführt werden. Darauf ist in der Debatte unter
anderem vom Kollegen Rossmann hingewiesen worden.
Wenn wir in diesem Haus gemeinsam der Auffassung
sind, dass wir die Bildung in der gemeinsamen Verantwortung von Bund und Ländern stärken und voranbringen wollen, dann müssen wir uns einem solchen Prozess
unterziehen. Dann müssen wir uns alle an die eigene
Nase fassen. Vor allen Dingen müssen wir aber alle bereit sein, uns aufeinander zuzubewegen, um die Bildung
im Zusammenspiel von Bund und Ländern im Interesse
von Kindern und Jugendlichen tatsächlich zu stärken.
({8})
Das ist das, was die Menschen draußen von uns erwarten. Das ist das, was sich die SPD in der Koalition
vorgenommen hat.
({9})
Schaufensteranträge bringen uns dabei nicht weiter. Ich
glaube, dass sich auch die CDU in der Koalition genau
das vorgenommen hat. Ich glaube, am Ende, wenn sich
der Nebel etwas gelichtet hat, sind auch die Grünen bereit, sich an einer solchen Debatte konstruktiv zu beteiligen.
({10})
Das jedenfalls wünsche ich mir. Das wünschen wir uns
als SPD-Fraktion in der Großen Koalition. Wir werden
sehen, ob das in den kommenden Wochen und Monaten
eingelöst wird.
Vielen Dank.
({11})
Als Nächster erteile ich das Wort zu ihrer ersten Rede
im Deutschen Bundestag der Kollegin Alexandra
Dinges-Dierig.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Üblicherweise ist es ja so:
Wenn man etwas wiederholt, nützt das dem Lernen. Ich
denke, das passt hier ganz gut. Sie können sich vorstellen, dass ich als zehnte Rednerin in dieser Debatte nicht
viel Neues sagen werde. Aber vielleicht kombiniere ich
die Dinge etwas anders. Es kann aber sicherlich auch
nicht schaden, manches zwei- oder dreimal zu hören.
Deshalb möchte ich zu Beginn für die CDU/CSU
ganz klar feststellen, dass wir uns ausdrücklich zum Föderalismus im Bereich der Bildung bekennen: von der
Kita über die Schule bis hin zur Hochschule.
({0})
Ich sage an dieser Stelle aber auch ganz klar: Bildung
und Finanzierung sind Aufgabe aller beteiligten Träger.
Bund, Länder und Kommunen tragen jeweils ihren Teil
der Finanzierung und damit auch ihrer Verantwortung in
unterschiedlicher Gewichtung. Dieser gemeinsamen
Verantwortung werden wir auch in Zukunft gerecht werden.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von der Linken, liebe Frau Hein, es war für mich etwas schwierig,
das, was ich in Ihrem Antrag gelesen habe, mit dem, was
Sie heute ausgeführt haben, in Übereinstimmung zu
bringen.
({1})
Sie wollen uns mit Ihrem Antrag einreden, dass die Bildungspolitik auf dem Holzweg ist. Sie gehen sogar so
weit, zu behaupten, dass sich bei Qualität und Finanzierung nicht wirklich viel geändert hat. Ich glaube - das
haben Sie auch an den Ausführungen der Redner nach
Ihnen gemerkt -, dass Sie damit eindeutig falschliegen.
({2})
Unsere Ergebnisse in Studien zur Bildung - einige
wurden heute genannt - sind stetig besser geworden. Wir
können jedes Jahr immer wieder die Ergebnisse vieler
Studien lesen, zum Beispiel TIMSS, PISA und entsprechende länderspezifische Auswertungen. Selbst die
OECD hat inzwischen verstanden - sie hat eine Weile
dazu gebraucht -, wie das deutsche Bildungssystem
funktioniert. Wenn wir Bildung auf einen Blick 2013 lesen, dann sehen wir, dass es in den Bereichen Schule und
Hochschule eindeutige positive Entwicklungen gibt und
dass wir im gesamten Ranking eindeutig nach oben rutschen. Ein Grund dafür ist ganz klar die von uns angestoßene Exzellenzinitiative. Die wachsende Beteiligung
internationaler Wissenschaftler im Forschungsbereich ist
ein weiterer Beweis für diese positive Entwicklung.
Noch etwas hat mich am Antrag der Linken sehr irritiert; deshalb möchte ich es an dieser Stelle ansprechen.
Sie behaupten an einer Stelle, dass Sanierungen und Renovierungen in Schulgebäuden nichts mit Bildungspolitik und Lernergebnissen zu tun haben. Ich kann dazu nur
sagen: Wenn das wirklich Ihre Meinung ist - es steht in
Ihrem Antrag -, dann verstehen Sie nicht viel von Lernprozessen. Vielleicht überdenken Sie diesen Passus Ihres
Antrags noch einmal.
Für den Fall, dass es noch Zweifler gibt, möchte ich
noch einmal, aber nur ganz kurz, die Big Points nennen,
die wir insbesondere im Bereich der Bildungsfinanzierung im Bund angeschoben haben, seitdem unsere Bundeskanzlerin Angela Merkel heißt. Es fing beim Aufwachsen unserer Budgets an und reichte bis hin zur
Exzellenzinitiative; darüber haben wir heute schon viel
gehört.
({3})
Ich denke natürlich auch an den Hochschulpakt und daran, dass wir die Ausfinanzierung der wachsenden Studierendenzahlen durch den Hochschulpakt gewährleisten. Das waren immerhin schlappe 10 Milliarden Euro.
Wir haben die Qualität der Lehre verbessert - Herr
Müller hat das ausgeführt - und die Qualitätsinitiative in
der Lehrerbildung aufgelegt.
Aber wir haben die Länder bei der Bewältigung ihrer
Aufgaben nicht nur im Bereich der Hochschulen massiv
unterstützt, sondern wir haben sie auch auf eine andere
Art und Weise unterstützt, und zwar mit dem Bildungsund Teilhabepaket für bildungsbenachteiligte Kinder;
auch davon war heute schon die Rede. Auch bei der Herkulesaufgabe Kitaausbau haben wir mit 5,4 Milliarden
Euro geholfen. Dazu kommt jetzt die jährliche Beteiligung des Bundes an den laufenden Kosten der Kitas.
Das ist ein Wort. Der Bund steht zu seiner Mitverantwortung im Bereich der Bildung.
({4})
Da wir ja immer wieder von Finanzen sprechen: Im
Bereich der Bildung übernimmt der Bund auch an einer
anderen Stelle zusätzliche Verantwortung, indem er die
Länder ein Stück weit finanziell entlastet. Das bedeutet,
dass die Länder ihrer Verantwortung den Kommunen gegenüber besser gerecht werden können. Es geht dabei
um die Übernahme der Kosten für die Grundsicherung.
Das sind immerhin Entlastungen für die Länder von im
Schnitt über 5 Milliarden Euro im Jahr. Auch die Entlastungen bei der Eingliederungshilfe werden kommen.
Das schafft Freiraum und ermöglicht es den Ländern,
zum Beispiel mehr in die Köpfe unserer Kinder und Jugendlichen zu investieren.
({5})
Langer Rede kurzer Sinn: Diese Beispiele zeigen,
dass wir unsere gesamtgesellschaftliche Aufgabe wahrnehmen und unserer Verantwortung gerecht werden. Unser föderaler Staat lebt vom guten Miteinander aller Ebenen. Das wird auch in Zukunft so sein. Aber wir müssen
auch berücksichtigen, dass wir eine Schuldenbremse haben. Der Bund ist sich der Begrenztheit der Mittel natürlich sehr bewusst und nicht unbegrenzt belastbar. Deshalb müssen wir die Mittel effizient anlegen. Wir
müssen vor allem dafür sorgen, dass die Länder, wenn
der Bund weiter in Bildung investiert, ihren eigenen Anteil an der Verantwortung für das weitere Gelingen der
Bildungsrepublik nicht zurückfahren.
Deshalb, meine Damen und Herren, werden wir in
dieser Legislaturperiode mit den Ländern über eine weitere Verbesserung unserer Bildungslandschaft sprechen,
natürlich auch hinsichtlich ihrer Finanzierung. Ich bin
ganz zuversichtlich, auch angesichts der Ausführungen
meiner Vorredner, dass wir gemeinsam, vielleicht sogar
über die Grenzen der Koalition hinaus, eine Nachfolgelösung finden, sei es im Bereich der Exzellenzinitiative,
des Hochschulpaktes oder bei weiteren Bildungsthemen.
Wie wir das dann in Art. 91 b des Grundgesetzes niederlegen werden, wird unser gemeinsamer Dialog zeigen.
Ich bedanke mich recht herzlich für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Herzlichen Glückwunsch, Frau Kollegin DingesDierig, zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag!
Auf eine gute weitere parlamentarische Zusammenarbeit!
({0})
Als letztem Redner in dieser Debatte, aber zu seiner
ersten Rede im Deutschen Bundestag gebe ich nun
Xaver Jung von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir brauchen eine differenzierte Neufassung
des Art. 91 b Grundgesetz, die Wissenschaft und schulische Bildung nicht in einen Topf wirft, wie die Linke das
tut.
({0})
Wir wollen, dass der Bund bei der Grundfinanzierung
von Universitäten und Fachhochschulen tätig werden
kann. Schule ist aber der klassische Kernbereich der
Länderzuständigkeit und soll es auch bleiben.
({1})
Um Schule zu optimieren, braucht es keine Änderung
des Grundgesetzes. Wir müssen stattdessen wieder viel
mehr über Inhalte reden. Was wir brauchen, ist noch
mehr Absprache, noch mehr Koordination zwischen den
Ländern. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, eines muss ich Ihnen schon sagen: Unser Bildungssystem und unsere Lehrer sind nicht so schlecht, wie Sie
es in Ihrem Antrag formuliert haben.
({2})
Dass wir in Deutschland die Wirtschaftskrise in den
letzten Jahren so erfolgreich gemanagt haben, ist maßgeblich der Qualität des deutschen Bildungssystems zu
verdanken. Wir haben es oft gehört - aber man kann es
nicht oft genug hören -: Wir haben die niedrigste Jugendarbeitslosigkeit in der ganzen EU. Noch nie
wurde in Deutschland so viel in Bildung investiert
wie in den letzten Jahren. Für uns von der CDU/CSUFraktion haben Bildung und Forschung auch weiterhin höchste Priorität. Deswegen haben wir im Koalitionsvertrag zusätzlich 9 Milliarden Euro für Bildung
vorgesehen. Wir werden in dieser Wahlperiode die
Ganztagsschule stärken, die digitale Bildung ausbauen,
die Inklusion voranbringen und die Durchlässigkeit des
Schulsystems stärken.
({3})
Wir werden, Herr Schulz, auch weiterhin die Länder bei
deren Bildungsaufgaben unterstützen. Aber wir möchten
gerne mitreden, wenn es darum geht, wohin die Mittel
fließen. In Rheinland-Pfalz, wo ich herkomme, fließen
sie nämlich zum Beispiel in den Nürburgring; dann bezahlt man den damit.
({4})
Wir wollen wissen, wofür wir unser Geld ausgeben.
({5})
Was wir vor allem brauchen, ist die bundesweite Vergleichbarkeit von Schulabschlüssen. Dazu müssen die
Länder ihre Lehrpläne besser miteinander abstimmen.
Es muss möglich sein - da gebe ich Ihnen recht -, dass
Eltern und Kinder problemlos in ein anderes Bundesland
wechseln. Das muss übrigens auch für Referendare und
Lehrer gelten.
({6})
Der Bund hat viel Geld auch in Bildungsforschung investiert. Schulvergleichsstudien bestätigen große Leistungsunterschiede zwischen den Ländern. Aber das liegt
nicht allein am fehlenden Geld des Bundes, wie so oft
behauptet wird, sondern vor allem an der fehlenden politischen Kraft und am fehlenden Willen mancher Bundesländer, die richtigen Prioritäten zu setzen. Ein Vergleich
macht dies besonders deutlich: 2011 wendete Thüringen
für Bildung 8 500 Euro pro Kopf auf, NRW lediglich
5 600 Euro. Da hilft auch keine Grundgesetzänderung.
Die Linken fordern in ihrem Antrag, dass die Länder
ihre Bildungshoheit aufgeben. Das passt natürlich sehr
gut in ihre Ideologie. Sie fordern wieder einmal den Zentralstaat.
({7})
Wir wollen Vielfalt und Subsidiarität.
({8})
Bei Gründung der Bundesrepublik hat man sich bewusst für eine dezentrale Organisation des Bildungswesens entschieden. Die Föderalismuskommission hat dies
erneut bestätigt. Die Länder haben dieses gewollt. Sie
befinden sich jetzt in der Pflicht, endlich ihre Hausaufgaben zu machen.
Meine Damen und Herren, aus vielen Jahren Erfahrung als Lehrer und auch als Vater zweier schulpflichtiger Kinder weiß ich, dass Schule einen ganz entscheidenden Bildungsauftrag hat, nämlich den Schülerinnen
und Schülern zu ermöglichen, sich zu eigenständigen
und selbstverantwortlichen Bürgern mit eigener Identität
zu entwickeln. Die deutsche Geschichte zeigt, dass Zen2056
tralismus in der Bildung oft mit Gleichschaltung und
ideologischer Umerziehung verbunden war. Ziel Ihrer
Vorgängerpartei war es nie, den selbstverantwortlichen
Bürger zu eigener Identität zu erziehen.
({9})
Wir begrüßen den föderalistischen Aufbau.
Gute Bildung ist eine Grundlage für mehr Teilhabe,
Integration und Chancengerechtigkeit. Gute Bildung ist
der Schlüssel für sozialen Aufstieg. Gute Bildung ist die
Grundvoraussetzung für Wohlstand, Wachstum und Fortschritt in unserem Land sowie den Erfolg Deutschlands
im internationalen Wettbewerb. Bildung wird nicht besser durch die Aufhebung des Kooperationsverbots,
({10})
sondern eher durch Wettbewerb um den besten Weg.
({11})
Gute Bildung ist nicht allein Aufgabe des Staates, sondern der gesamten Gesellschaft. Unterstützen wir unsere
Familien und die Eltern dabei!
Meine Damen und Herren, wir haben in den letzten
Jahren die richtigen Prioritäten gesetzt. Wir werden
diese erfolgreiche Bildungspolitik auch in der neuen Koalition gern fortsetzen.
({12})
Lieber Herr Kollege Jung, ich gratuliere im Namen
des Präsidiums recht herzlich zu Ihrer ersten Rede. Auf
gute parlamentarische Zusammenarbeit!
({0})
Ich schließe hiermit die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/588 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 a und 22 b auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchführung der Verordnung ({1}) Nr. 1215/2012
sowie zur Änderung sonstiger Vorschriften
Drucksache 18/823
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe
Kekeritz, Friedrich Ostendorff, Claudia Roth
({2}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Weltagrarbericht jetzt unterzeichnen
Drucksache 18/979
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({3})
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Damit sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a bis 23 f auf.
Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen,
zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 23 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zum Vorschlag für einen Beschluss
des Rates zur Aufhebung des Beschlusses
2007/124/EG, Euratom des Rates
Drucksache 18/824
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({4})
Drucksache 18/992
Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/992, den Gesetzentwurf
der Bundesregierung auf Drucksache 18/824 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Dann ist der Gesetzentwurf von
allen Fraktionen des Hauses bei Enthaltung der Fraktion
der Linken so angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich jetzt zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann
ist der Gesetzentwurf mit den Stimmen aller Fraktionen
bei Enthaltung der Fraktion Die Linke in dritter Lesung
so angenommen.
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 23 b:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({5})
Sammelübersicht 28 zu Petitionen
Drucksache 18/858
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Bei einer Enthaltung ist die Sammelübersicht 28 angenommen.
Tagesordnungspunkt 23 c:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({6})
Sammelübersicht 29 zu Petitionen
Drucksache 18/859
Vizepräsident Peter Hintze
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke
und Enthaltungen bei der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist die Sammelübersicht 29 angenommen.
Tagesordnungspunkt 23 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({7})
Sammelübersicht 30 zu Petitionen
Drucksache 18/860
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist die Sammelübersicht 30 einstimmig
angenommen.
Tagesordnungspunkt 23 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({8})
Sammelübersicht 31 zu Petitionen
Drucksache 18/861
Hierzu liegen Erklärungen nach § 31 Abs. 1 der Ge-
schäftsordnung des Bundestages vor.1)
Wer stimmt für die Sammelübersicht 31? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und ohne Enthaltung ist die
Sammelübersicht 31 mit den Stimmen aller übrigen
Fraktionen angenommen.
Tagesordnungspunkt 23 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({9})
Sammelübersicht 32 zu Petitionen
Drucksache 18/862
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist die Sammelübersicht 32 mit den
Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion
gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
und der Fraktion Die Linke angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
- Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({10}) zu dem Antrag der Bundesregierung
Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte
an der EU-geführten Ausbildungsmission
EUTM Somalia auf Grundlage des Ersuchens
der somalischen Regierung mit Schreiben vom
27. November 2012 und 11. Januar 2013 sowie
der Beschlüsse des Rates der Europäischen
Union 2010/96/GASP vom 15. Februar 2010
und 2013/44/GASP vom 22. Januar 2013 in
Verbindung mit der Resolution 1872 ({11})
des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen
Drucksachen 18/857, 18/994
1) Anlage 2
- Bericht des Haushaltsausschusses ({12})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
Drucksache 18/995
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor.
Über die Beschlussempfehlung zu dem Antrag der
Bundesregierung werden wir später namentlich abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich gebe als erster Rednerin Dagmar Freitag, SPDFraktion, das Wort.
({13})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Afrika steht, wir wissen es, im Fokus internationaler und
nationaler Beratungen. Zurzeit läuft noch der zweitägige
EU-Afrika-Gipfel, der unter dem Motto „In Menschen,
Wohlstand und Frieden investieren“ steht. Rund 80 Nationen beraten in Brüssel über das zukünftige Profil der
Zusammenarbeit. Einen entsprechenden Antrag der
Koalitionsfraktionen zu diesem Gipfel hat dieses Haus
bereits am 21. März dieses Jahres beschlossen. Darin haben wir deutlich zum Ausdruck gebracht: Wir dürfen
Afrika nicht nur als Krisenherd wahrnehmen, sondern
vor allem auch als einen Nachbarkontinent mit großen
Chancen und Potenzialen.
({0})
Auf dieser Basis muss das Afrika-Konzept der Bundesregierung von 2011 weiterentwickelt werden. Ziel ist,
dass sich die Partner Europäische Union und Afrika in
einer Partnerschaft auf Augenhöhe - darauf liegt die
Betonung - verstehen.
Sicherheitspolitische Fragen werden bei diesem Gipfel natürlich eine entscheidende Rolle spielen. Frieden
und die Schaffung eines sicheren Umfeldes sind unabdingbare Voraussetzungen für die weitere Entwicklung
und für Wohlstand, aber auch - das möchte ich ausdrücklich ergänzen - für die Durchführung ordnungsgemäßer Wahlen, die 2016 stattfinden sollen. Ziel muss
sein, die Stabilität in Afrika zu verbessern; denn insbesondere fragile Staaten Nordafrikas und der Sahelzone
sind nach wie vor geprägt durch gewalttätige Konflikte
mit verheerenden Folgen für die Bevölkerung, die, wir
wissen es, unter Armut, Gewalt und Unterdrückung
leidet. Hier müssen deutliche Akzente in den Bereichen
Frieden, Sicherheit, zivilgesellschaftliche Organisation,
Klima, Energie, Wirtschaftsentwicklung gesetzt werden. Ziel all dessen ist die Stärkung der unverzichtbaren
Eigenverantwortlichkeit vor Ort.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Zentrum der
heutigen Debatte steht das von einem langen und quälenden Bürgerkrieg geprägte Somalia im Kontext mit dem
von der Bundesregierung vorgelegten Antrag.
Es ist unstrittig: Die Lage in Somalia ist nach wie vor
fragil. Mit Blick auf die kommenden Jahre ist die ganz
entscheidende Frage - ich denke, da sind wir uns einig -:
Gelingt die Entwicklung dieses Landes, oder wird
Somalia als sogenannter Failed State enden und damit
die gesamte Region des Horns von Afrika und darüber
hinaus bedrohen?
Die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft
für den Friedens- und Stabilisierungsprozess ist und
bleibt notwendig. Wir wissen, mittlerweile gibt es 3 600
somalische Soldaten, die bis Ende 2013 von der Europäischen Union ausgebildet wurden. Diese sollen die
Truppen der African Union Mission in Somalia,
AMISOM, vor allem im Kampf gegen die radikal islamistische al-Schabab unterstützen.
Wir wissen natürlich auch um die Schwierigkeit
dieser Aufgabe. Aber nach allem, was wir wissen, haben
wir erstmals die Situation, dass zumindest große Städte
von AMISOM kontrolliert werden. Wir verzeichnen eine
durchaus positive Entwicklung im Norden des Landes.
Wir wissen um die Probleme in Zentral- und Südsomalia.
Somalia benötigt vor allem Hilfen beim Aufbau von
Sicherheits- und Verwaltungsstrukturen auf zentraler,
aber auch - das will ich ausdrücklich erwähnen - auf
regionaler Ebene und natürlich bei der Etablierung von
völkerrechtlichen und menschenrechtlichen Standards.
Nur so - ich hoffe, da sind wir uns einig - kann ein
belastbarer Stabilisierungsprozess vorangetrieben werden. Die EU spielt in diesem Prozess nach wie vor eine
entscheidende Rolle. Deutschland handelt dabei im Verbund mit der EU gemäß der Leitlinie „Strategischer Rahmen für das Horn von Afrika“, die im November 2011
beschlossen worden ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir beraten heute
abschließend über die Beteiligung Deutschlands an der
EU-geführten Ausbildungsmission EUTM Somalia. Bis
zu 20 Soldatinnen und Soldaten sollen befristet bis zum
31. März 2015 eingesetzt werden. Im Mittelpunkt werden stehen die Ausbildung der somalischen Streitkräfte
sowie - um diesen Auftrag soll der Einsatz erweitert
werden - strategische Beratungen des somalischen
Generalstabs und des Verteidigungsministeriums, was
als besonders wichtig erachtet wird. Dieser Einsatz - ich
denke, der Hinweis ist noch einmal wichtig - beinhaltet
jedoch ausdrücklich keinen Auftrag zur Teilnahme an
Kampfhandlungen und keine direkte Unterstützung militärischer Operationen der multinationalen Friedensmission der Afrikanischen Union.
Neu ist auch die Verlagerung der Mission von Uganda
direkt nach Mogadischu. Dort sollen in einem streng geschützten Bereich des Flughafens, der nach vorliegenden
Informationen und Einschätzungen auch anderer Nationen als weitgehend sicher gilt, unsere Soldaten stationiert werden. Ich glaube, die Verlagerung nach Mogadischu ist sinnvoll. Somalische Probleme müssen im Land
selbst gelöst werden und nicht in Kampala.
Dieses Mandat mit einer festgelegten Obergrenze von
- ich habe es bereits erwähnt - maximal 20 deutschen
Soldatinnen und Soldaten ist ein vergleichsweise kleines
Mandat. Es ist ein Baustein im Kontext unterschiedlicher Maßnahmen und Hilfen für die somalische Bevölkerung. Wir halten die Beteiligung an diesem Mandat für
vertretbar und bitten herzlich um Ihre Zustimmung.
Vielen Dank.
({1})
Als Nächster erteile ich das Wort der Kollegin Sevim
Dağdelen, Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute soll
es wieder um die Zustimmung zu einem Auslandseinsatz
der Bundeswehr gehen. Mittlerweile vergeht kaum noch
eine Woche, in der nicht ein oder zwei Bundeswehreinsätze hier beschlossen werden sollen.
({0})
Es gibt kaum ein Problem auf dieser Erde, auf das die
Große Koalition nicht mit Bundeswehrsoldaten antworten möchte. Zu diesem abenteuerlichen Kurs der Inflationierung der Auslandseinsätze der Bundeswehr sagt
die Linke wie eine übergroße Mehrheit der Bevölkerung
klar und deutlich Nein.
({1})
Nach Jahren in Uganda wollen Sie Ihre Militärausbilder im Rahmen der Mission EUTM Somalia jetzt nach
Somalia schicken. Ich frage Sie: Wie sieht denn eigentlich Ihre bisherige Bilanz der militärischen Ausbildung
somalischer Milizen in Uganda aus? Nicht von der Hand
zu weisen ist: Sie haben auch Kindersoldaten mit ausgebildet.
({2})
Sie haben Leute ausgebildet, denen schlimmste Menschenrechtsverbrechen vorgeworfen werden.
({3})
Und Sie haben Leute ausgebildet, von denen laut
Somalia Monitoring Group der Vereinten Nationen in
der Vergangenheit 80 Prozent mitsamt ihrer Ausrüstung
desertiert sind; einige von ihnen sind gar auf die andere
Seite übergelaufen.
Laut dem Sanktionsausschuss des UN-Sicherheitsrates liefert selbst die Regierung, die Sie hier unterstützen,
Waffen an die Extremisten. Die Regierungsarmee sei
- ich zitiere - „die wichtigste Waffenquelle für die
Islamisten“ in Somalia. Bei solch einer furchterregenden
Bilanz muss hier doch eigentlich ein deutliches Stoppzeichen gesetzt werden.
({4})
Weil wir uns nicht mitschuldig machen wollen an diesen
Menschenrechtsverletzungen, sagen wir Nein zu diesem
Einsatz.
({5})
Sie verkünden hier erfundene Erfolgsmeldungen.
Dazu gehört, dass Sie es als Sieg verkaufen, dass die
Ausbildung jetzt nicht mehr in Uganda, sondern auf somalischem Boden stattfindet.
({6})
Ich frage Sie: Ist es wirklich ein Erfolg, dass sich diese
Ausbildungsmission jetzt im Hochsicherheitstrakt des
Flughafens von Mogadischu verschanzt?
Ist es ein Erfolg, dass sich der somalische Bürgerkrieg
immer weiter internationalisiert? Ist es ein Erfolg, dass
Kenia infolgedessen aktuell beschlossen hat, alle
Somalis in Lagern zu internieren, weil diese als gefährlich gelten?
Oder ist es für Sie ein Erfolg, wenn von deutschem
Boden aus gezielte Tötungen mit Drohnenangriffen in
Somalia stattfinden? Ich finde es jedenfalls ungeheuerlich, dass Sie gegen diese Morde, die vom US-Hauptquartier in Stuttgart aus begangen werden, nichts unternehmen. Auch deshalb ist Deutschland natürlich Partei
in diesem dreckigen, schlimmen somalischen Bürgerkrieg.
({7})
Ich frage Sie vor diesem Hintergrund: Ist das Ihre wertegeleitete Außenpolitik, von der Sie immer reden? Um
welche Werte handelt es sich hier eigentlich?
({8})
Die Linke jedenfalls lehnt diese Drohnenmorde in Somalia ab.
({9})
Ich frage Sie auch, ob Sie sich jemals überlegt haben,
wen Sie dort in Somalia eigentlich unterstützen. Angesichts der Leute, die Sie dort unterstützen, will ich Ihnen
einmal positiv unterstellen, dass Sie sich wahrscheinlich
noch nie damit beschäftigt haben.
({10})
Der sogenannten Regierung in Somalia, die Sie mit Ihrer
Ausbildungsmission unterstützen, werden schlimmste
Menschenrechtsverbrechen vorgeworfen. Ihre sogenannten Gerichte verhängen die Todesstrafe, ihre Politik steht
für Repression, für Gewalt und für Korruption.
Ich frage Sie: Haben Sie sich jemals mit der Verfassung dieser Regierung auseinandergesetzt? Ich meine
hier nicht die ultrareaktionäre Ausrichtung mit einem
kompletten Abtreibungsverbot und der Verfolgung
sexueller Minderheiten, sondern ich meine hier die
Verfassungsbestimmungen, die ganz am Anfang dieser
Verfassung stehen. Sie legen fest, dass die Scharia über
allen anderen Gesetzen steht.
({11})
Eine ganz enge reaktionäre Auslegung des Islam ist in
der Verfassung dieser Regierung, die Sie mit dieser Ausbildungsmission unterstützen, als Staatsreligion festgesetzt.
({12})
- Ja, das ist so. Sie können doch nicht einfach die Augen
vor der Realität verschließen.
({13})
Das heißt, dass viele Menschen gar keine Religionsfreiheit haben. Hindus, aber auch konfessionslose Christen,
Sufis und Schiiten: Sie alle sind der praktischen Verfolgung ausgeliefert. Solch eine autoritär-islamistische
Regierung unterstützen Sie mit der Bundeswehr.
Wie wollen Sie der Bevölkerung diesen Einsatz eigentlich erklären? Wollen Sie sagen, dass Sie gerne
Steuergelder ausgeben, um Menschenrechtsverletzer
oder islamistische Autokraten zu unterstützen?
Die Linke lehnt Ihre Bundeswehreinsätze zur Unterstützung solcher Art von autoritären Regimen jedenfalls
ab.
({14})
Wir finden, es braucht endlich eine politische Lösung,
eine Verhandlungslösung in Somalia und nicht ein weiteres Anheizen dieses Bürgerkrieges mit deutscher Hilfe
durch die deutsche Bundeswehr.
({15})
Als Nächstem erteile ich dem Kollegen Philipp
Mißfelder, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen!
Frau Dağdelen, normalerweise ist es so, dass diejenige,
die für Ihre Fraktion am häufigsten Verschwörungstheorien vorträgt, Frau Buchholz ist.
({0})
Aber ich muss sagen: Sie haben sie heute wirklich getoppt, und zwar im negativen Sinne.
({1})
Ich finde wirklich, dass Sie es einfach sein lassen sollten,
hier solche Konstrukte vorzutragen.
({2})
Ich sage jetzt etwas zum Mandat. Zum Mandat gehört, dass wir unser Vorgehen gut überlegt haben und
dass wir das auch lange diskutiert haben.
({3})
Frau Freitag hat es vorhin angesprochen: Die Sicherheit
unserer eigenen Soldaten steht für uns natürlich an erster
Stelle. Bei jedem Mandat, das wir hier beschließen,
muss angesichts der Sicherheitsrisiken zwischen der Sicherheit unserer Soldaten und dem Nutzen des Mandats
abgewogen werden. So sind wir auch bei der schwierigen Frage in diesem Fall der Meinung, dass es trotz der
geringen Zahl der Soldaten richtig ist, gemäß dieser Abwägung zu sagen: Wir können das verantworten.
Sie haben eben in Ihrem Wortbeitrag ausgeführt, dass
die Soldaten im Sicherheitstrakt des Flughafens von Mogadischu arbeiten. Das geschieht nicht ohne Grund. Wir
wissen nämlich, dass Somalia ein gefährlicher Ort ist.
Weil Somalia in Zukunft aber Sicherheitsstrukturen
braucht, sind wir der Meinung, dass wir die Ertüchtigungsstrategie weiter fortführen müssen, sodass somalische Autoritäten selbst in die Lage versetzt werden, in
Zukunft die Sicherheit in ihrem Land zu garantieren.
Deshalb bilden wir an dieser Stelle aus und beraten strategisch.
Dass Sie hier direkt Waffenlieferungen unterstellen,
muss ich an dieser Stelle zurückweisen. Mir sind die von
Ihnen angesprochenen UNO-Dokumente bekannt. Auch
wir sehen die Entwicklung im Land mit Sorge.
({4})
Aber gerade deshalb wollen wir uns in Somalia engagieren, damit die Situation in diesem Land besser wird.
({5})
Ich sage es einmal anders: Jede finanzielle Hilfe, die
wir im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit gewähren, jede politische Initiative, die wir mit Blick auf
Somalia in der Vergangenheit gestartet haben und auch
in Zukunft starten wollen, bringt nur dann etwas, wenn
in diesem Failed State überhaupt wieder Sicherheitsstrukturen entstehen.
Wir stehen natürlich vor der Situation, abwägen zu
müssen: Wollen wir als Ausländer die Sicherheit im
Land garantieren oder alternativ Autoritäten vor Ort in
die Lage versetzen, in Zukunft selbst die Sicherheit zu
gewährleisten? Ich halte die zweite Variante in der Abwägung für die vertretbarere, sonst müssten wir dort
dauerhaft militärisch stark und robust präsent sein.
({6})
Vor diesem Hintergrund kann man dieses Mandat gut
vertreten. Wir haben es auch über Wochen und Monate
diskutiert. Uns ist das nicht leichtgefallen. Früher gab es
die Ausbildungsmission in Uganda. Ich würde Ihnen
nicht darin zustimmen, dass diese Mission per se nicht
erfolgreich war, sondern ich würde ganz im Gegenteil
sagen, dass sich auch dort Deutschland verantwortungsbewusst und erfolgreich beteiligt hat.
({7})
Das wollen wir fortsetzen.
Ich glaube, dass insbesondere vor diesem Hintergrund
die Ertüchtigungsstrategie, die für Afrika insgesamt in
den Mittelpunkt unserer außenpolitischen Schwerpunktsetzung gerückt ist, ein Baustein sein kann. Das ist aber
nur ein Baustein. Daran werden wir weiterhin arbeiten.
Es ist auch in unserer Fraktion ausführlich diskutiert
worden: Inwiefern wollen und können wir in Afrika mit
militärischen Maßnahmen erfolgreich sein? Ich glaube,
dass das immer der geringere Beitrag von uns bleiben
sollte. Wir sind der festen Überzeugung, dass das, was
wir politisch und auch im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit leisten können, viel wichtiger ist. Aber all
das kann nur in einem Sicherheitsrahmen geschehen.
Diese Sicherheit muss eben auch ermöglicht werden.
Deshalb gibt es an dieser Stelle eine militärische Komponente - zugegebenermaßen in einem sehr kleinen Umfang. Angesichts dieses Umgangs ist Ihre Empörung in
Wahrheit ja nur gespielt; auch das muss man dazusagen.
Sie haben sich ja richtig angestrengt.
({8})
Wir wollen, dass für die Menschen in Somalia eine
bessere Zukunft möglich ist. Ich sage es noch einmal:
Wir wollen, dass dies innerhalb staatlicher Strukturen
möglich ist, von denen wir noch weit entfernt sind. Dort
trifft man zurzeit auf Stammesstrukturen und zum Teil
auch sehr unübersichtliche Strukturen. Wir haben versucht, sie zu analysieren. Wir werden versuchen, diesem
Zustand politisch eine Konzeption entgegenzusetzen.
Das ist allerdings sehr schwierig.
Natürlich kann keiner von diesem Pult aus eine Garantie dafür abgeben, dass sich das Blatt nicht wendet,
dass sich Situationen ändern und sich Frontverläufe verschieben. Nichtsdestotrotz müssen wir uns vor diesem
Hintergrund immer überlegen: Schauen wir weg oder
sind wir aktiv? Hier sage ich ganz deutlich: Es ist besser,
in diesem begrenzten Umfang aktiv zu sein, als sich
nicht um die Zukunft Somalias zu scheren. Deshalb
setzte ich mich für dieses Mandat ein.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({9})
Als Nächster erteile ich der Kollegin Agnieszka
Brugger, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Zahlen sind erschreckend: 860 000 Somalierinnen und Somalier sind auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen. Über
2 Millionen befinden sich auf der Flucht. Nach über
20 Jahren Bürgerkrieg sehnen sich die Menschen nach
Stabilität und Sicherheit, nach Frieden und Freiheit.
Trotz einiger Bemühungen der internationalen Gemeinschaft ist dieses Ziel noch lange nicht erreicht. Bis heute
fehlt eine schlüssige Gesamtstrategie für die Lösung dieses Konfliktes.
Wir Grüne werden das Mandat der Bundesregierung
für eine Beteiligung an der europäischen Mission zur
Ausbildung somalischer Streitkräfte ablehnen, und zwar
nicht, weil wir finden, dass man in Somalia angesichts
der wirklich sehr, sehr schwierigen Lage nichts tun
sollte, sondern weil wir bezweifeln, dass Sie hier den
richtigen Ansatz verfolgen.
({0})
In ihren Reden bei der Mandatseinbringung in der
letzten Sitzungswoche sind Verteidigungsministerin von
der Leyen und Staatsminister Roth kaum auf die Lage
vor Ort eingegangen. Schöne Schlagworte wie „Rahmenstrategie“, „vernetzte Sicherheit“ oder „politische
Konsolidierung“ sind gefallen. Aber erläutern Sie bitte
einmal, was das ganz konkret für den Konflikt in Somalia bedeutet! Denn die Ausbildungsmission für die somalischen Streitkräfte kann nur einen langfristigen Beitrag
zur Konfliktlösung leisten, wenn sie in eine kohärente
Gesamtstrategie eingebettet ist.
({1})
Das bisherige Engagement der internationalen Gemeinschaft, der EU und insbesondere auch der Afrikanischen
Union genügt diesem Anspruch nicht. Aber um das zu
erkennen, muss man genauer hinsehen. Mir scheint, das
will die Bundesregierung nicht.
In den vergangenen Jahren sind die internationalen
Versuche, zentrale Strukturen in Somalia zu etablieren,
vorsichtig gesagt, wenig erfolgreich gewesen. Gerade im
Sinne der notleidenden Zivilbevölkerung muss eine vernünftige dezentrale Machtbalance zwischen der Zentralregierung in Mogadischu und den Regionen, gerade
auch den Regierungen von Somaliland und Puntland, gefunden werden.
Meine Damen und Herren, das internationale Engagement findet außerdem in einem Umfeld statt, in dem die
USA mit Drohnenangriffen völkerrechtswidrige gezielte Tötungen von Aufständischen in Somalia verüben.
Dabei kommt es immer wieder zu zivilen Opfern, unter
denen sogar Kinder sind. Es gibt belastbare Hinweise,
dass über U.S. AFRICOM in Stuttgart und die Air Base
in Ramstein eine Beteiligung an der Planung und Ausführung dieser Angriffe von deutschem Staatsgebiet aus
erfolgt. Die Bundesregierung verweigert hierzu jegliche
Aufklärung und jegliche Auskunft. Auch hier wollen Sie
nicht wirklich hinschauen. Hören Sie endlich auf, die
Augen vor diesem Völkerrechtsbruch zu verschließen,
und setzen Sie sich für ein Ende dieser Drohnenangriffe
ein!
({2})
Diese gezielten Tötungen erweisen sich zudem als
höchst kontraproduktiv, da sie aufseiten der Aufständischen Radikalisierung und Rekrutierung massiv befördern.
Vielmehr sollte - auch vor dem Hintergrund der Erfahrungen in Afghanistan - eines klar sein: Militärisch
ist der Konflikt in Somalia nicht zu lösen. Damit der
Frieden in Somalia eine Chance hat, muss - so schwierig
das auch ist - mit allen Gewaltakteuren, auch mit den
moderaten al-Schabab-Mitgliedern, verhandelt werden,
damit das Kämpfen endlich ein Ende findet.
({3})
Meine Damen und Herren, mit einem neuen Mandat
hat die Bundesregierung nicht nur die Möglichkeit, sondern aus grüner Sicht auch die Verantwortung, das bisherige Engagement zu überprüfen, zu hinterfragen und gegebenenfalls neu zu justieren. Wenn wir Grüne genauer
hinschauen, als Sie das offensichtlich tun, sehen wir
deutlich: Die Ausbildung von rund 3 600 somalischen
Kämpferinnen und Kämpfern bei der Vorgängermission
in Uganda hat ziemlich viele Probleme zum Vorschein
gebracht. Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Ausbildungsmission einfach als erfolgreich zu bezeichnen,
das ist reine Schönrednerei!
({4})
Zum einen gibt es Hinweise, dass die somalischen
Streitkräfte überwiegend Mitglieder aus einem Klan rekrutieren. In einem zerrissenen Land, in dem Identität
und Loyalität vorwiegend über Klans definiert wird,
schwächt das nicht nur den Rückhalt der Streitkräfte in
der Bevölkerung, sondern es verstärkt auch die Rivalitäten zwischen verschiedenen Gruppen in Somalia.
Zum anderen gibt es immer wieder Berichte darüber,
dass große Teile der ausgebildeten Truppen auf dem
Weg von Uganda nach Somalia zu den Milizen übergelaufen sind.
Nachdem das UN-Waffenembargo gegen Somalia gelockert wurde, sind auch noch Waffen über staatliche
Stellen in die Hände von Milizen und Aufständischen
gelangt. Sie sehen, die Liste der Probleme ist lang.
Aus Ihrem Mandat und auch aus Ihren Reden geht in
keinster Weise hervor, wie Sie damit umgehen wollen,
geschweige denn, dass Sie diese Probleme überhaupt zur
Kenntnis nehmen.
({5})
Wir haben Ihnen in den letzten Wochen so viele Fragen
gestellt, aber Sie agieren die ganze Zeit frei nach dem
Motto: Ich sehe nicht, was ich nicht sehen will. - Das ist
höchst verantwortungslos.
({6})
Meine Damen und Herren, vor diesem Hintergrund
können wir diesem oberflächlichen Mandat nicht zustimmen. Aber: Die Somalierinnen und Somalier haben
unsere Unterstützung verdient. Deshalb fordern wir Sie
auf: Reformieren Sie Ihre Somalia-Politik, und formulieren Sie statt Schaufensterreden endlich eine engagierte,
schlüssige und überzeugende Gesamtstrategie zur Lösung dieses Konfliktes!
Vielen Dank.
({7})
Als Nächstem erteile ich dem Kollegen Thomas
Hitschler, SPD-Fraktion, das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Vielleicht gelingt es mir, mit einem etwas anderen Ansatz in das Thema einzusteigen, als ich ihn bei
dem einen oder anderen jetzt gehört habe. Möglicherweise erinnern Sie sich noch an die Fußballweltmeisterschaft 2010, an die bunten Bilder, an den Stolz der Menschen über die erste WM in Afrika, an die trötenden
Vuvuzelas und an die Aufbruchstimmung auf dem gesamten Kontinent. Dieser Optimismus und die gute
Stimmung wurden eingefangen von einem der erfolgreichsten Lieder dieser Zeit: Wavin’ Flag des Rappers
K’naan.
In der Originalversion hat dieses Stück wenig mit
dem braunen Zuckerwasser zu tun, für dessen Werbung
es während der WM eingesetzt wurde. Die Wavin’ Flag
im Originaltext steht nicht für fahnenschwenkende feiernde Fußballfans, sondern für etwas viel Wichtigeres.
Geboren und aufgewachsen ist K’naan in Mogadischu.
Dessen Straßen bezeichnet er rückblickend als die
schlimmsten im Universum. Sein Lied handelt von diesen Straßen. Es handelt von Hunger, es handelt von Armut, und es handelt von Krieg. An Aktualität hat dieser
Song leider nichts eingebüßt.
Somalia gilt vielen als Muster eines Failed State - das
haben wir heute das eine oder das andere Mal schon gehört -, eines gescheiterten Staates, der seit 1991 ohne im
gesamten Land anerkannte Regierung ist. Die Gefahr der
Piraterie ist allen präsent. Die Al-Schabab-Milizen terrorisieren weite Teile des Landes. Ein staatliches Gewaltmonopol existiert kaum. Leidtragend ist vor allem die
Bevölkerung. Wo es keine staatlichen Strukturen gibt,
gibt es auch keinen Schutz der Menschenrechte, gibt es
kaum soziale und kaum wirtschaftliche Entwicklung,
können selbst Hunger und Durst nicht ausreichend gestillt werden.
Eine tragfähige Sicherheitsstruktur ist Grundvoraussetzung für jeden Rechtsstaat, ein Rechtsstaat die Grundvoraussetzung für menschenwürdiges Leben. Um den
Aufbau dieser Sicherheitsstrukturen geht es bei der EUTrainingsmission in Somalia. Seit 2010 wurden 3 600
somalische Soldatinnen und Soldaten - auch diese Zahl
haben wir das eine oder andere Mal schon gehört - ausgebildet, ein Drittel der gesamten Armee Somalias. Dabei geht es nicht nur um die Vermittlung von militärischen Fähigkeiten, es geht auch um das Verständnis
eines rechtsstaatlich eingebetteten und zivil kontrollierten Militärs, ein Verständnis, das bereits einem Drittel
der somalischen Armee nähergebracht werden konnte,
auch dank der europäischen Mission, liebe Kolleginnen
und Kollegen.
({0})
Sie haben recht, liebe Kollegin Brugger: Natürlich
schließt das auch Rückschläge wie Fahnenflucht oder
Ähnliches, was Sie aufgezählt haben, nicht aus. So etwas
kommt in dieser Region immer wieder vor. Aber Fortschritt verläuft nicht linear, und der richtige Umgang mit
Rückschlägen entscheidet darüber, ob sich eine Gesellschaft langfristig nach vorne entwickeln kann.
({1})
Einem Großteil der Armee ein solches Grundverständnis
zu vermitteln, trägt einen wichtigen Teil zu dieser Befähigung bei.
Die EU-Trainingsmission steht dabei nicht alleine da,
sondern ist Teil eines ganzheitlichen Ansatzes. Es handelt sich um ein Konzept, das entwicklungspolitische,
wirtschaftliche und militärische Aufbauarbeit zusammenbringt, ein Konzept, in dem internationale Partner
gemeinsam dafür arbeiten, Somalia nach vorne zu bringen. Zu diesen Partnern gehören die Vereinten Nationen,
die Afrikanische Union, die Europäische Union, die
Nachbarstaaten und, ganz wichtig, die Menschen in Somalia selbst.
Und es sind Erfolge erkennbar, auch wenn wir heute
von vielen Misserfolgen gehört haben. Im Kleinen gibt
es sogar Trendwenden. Die Piraterie konnte eingedämmt
werden, die Al-Schabab-Milizen konnten aus Mogadischu zurückgedrängt werden. Es gibt sogar einen kleinen
wirtschaftlichen Aufschwung. Um diesen Fortschritt zu
sichern und auszubauen, sollten wir dem Antrag der
Bundesregierung folgen und die EU-Trainingsmission,
und zwar in Mogadischu, wieder aufnehmen.
({2})
Zwei Gründe dafür unterstreiche ich an dieser Stelle:
Erstens sollten wir als EU geschlossen auftreten. Dies
ist eine gemeinsame Mission, und daher ist es sinnvoll,
wenn wir auch gemeinsam an einem Ort zusammenarbeiten.
Zweitens ist dies für die Menschen in Somalia ein
wichtiges Signal der Unterstützung, ein Signal, dass die
internationalen Partner vor Ort Präsenz zeigen und sichtbar sind, dass wir sie nicht allein lassen.
Ja, die Sicherheitslage ist angespannt und die Verlegung nicht ohne Risiko. Dieser Verantwortung sind wir
uns bewusst. Aber Verbesserungen sind sichtbar. Unsere
Partner und unsere eigenen Fachleute kommen zu dem
Schluss, dass dieser Schritt politisch und militärisch vertretbar ist. Wir treffen diese Entscheidung also nicht
leichtfertig, wie ich es heute das eine oder andere Mal
gehört habe. Als Parlament fordern wir ganz klar, dass
der Schutz unserer Soldatinnen und Soldaten im Einsatz
gewährleistet ist.
Im Song von K’naan heißt es:
Wenn ich älter bin, werde ich stärker sein. Sie werden mich Freiheit nennen, so wie eine wehende
Fahne.
Die Waving Flag ist ein Symbol der Hoffnung in einem Land, das dringend Hoffnung braucht. Unsere Entscheidung, die EU-Trainingsmission zurück nach Somalia zu holen, ist ebenfalls ein Symbol der Hoffnung.
Darum bitte ich Sie: Geben wir den Menschen in Somalia diese Hoffnung! Unser Beitrag wird gebraucht. Stimmen Sie daher diesem Mandat zu!
Vielen Dank.
({3})
Als Nächstem erteile ich das Wort dem Kollegen
Klaus Brähmig, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! „Die einzige und ehrlichste Hilfe ist die Hilfe
zur Selbsthilfe.“ Das sagte einmal der Schweizer Alfred
Selacher. Persönlich kann ich dieser Aussage nur zustimmen.
Wir wollen mit der heutigen Mandatierung die afrikanischen Länder grundsätzlich und Somalia im Speziellen
ertüchtigen, sich selbst zu helfen. Dazu benötigen wir einen vernetzten Ansatz aus militärischer, diplomatischer,
ziviler und wirtschaftlicher Unterstützung. In diesem
Fall beraten wir Militärs vor Ort und bilden sie aus. Insofern ist es meines Erachtens richtig und wichtig, dass wir
diese multinationale Mission der Bundeswehr in und für
Somalia fortführen.
Wir wissen, dass sich die Bundeswehr noch vor einigen Monaten aus der Ausbildung von somalischen Soldaten zurückziehen wollte. Der Grund war, dass die
Ausbildung von Uganda nach Somalia verlegt werden
sollte. Damals sind die Verantwortlichen zu der Entscheidung gekommen, dass die Situation zu gefährlich
werden könnte. Aber in den letzten Monaten hat sich die
Sicherheitslage stabilisiert. Die Bundesregierung kommt
gemeinsam mit unseren EU-Partnern zu einer Neubewertung der militärischen Lage vor Ort. Deshalb soll die
Mission an den Flughafen der somalischen Hauptstadt
Mogadischu verlagert werden.
({0})
Insofern kann ich die Bedenken einiger Kollegen gegen
diesen Einsatz vielleicht nachvollziehen. Aber glauben
Sie mir: Weder die militärische Führung noch wir als
Abgeordnete würden deutsche Soldaten einem unkalkulierbaren Sicherheitsrisiko aussetzen.
Richtig ist: Somalia gilt nunmehr seit über 20 Jahren
als ein sogenannter gescheiterter Staat. Die prekäre humanitäre und menschenrechtliche Lage, Schmuggel, organisierte Kriminalität und die wachsenden Terroraktivitäten zwingen uns zum Handeln; denn die Lage bedroht
die Stabilität der gesamten Region am Horn von Afrika.
Die internationale Staatengemeinschaft kann es sich
schlicht nicht leisten, Somalia lediglich als hoffnungslosen Fall abzustempeln. Gemeinsam mit der Afrikanischen Union gibt es ein breites Bündnis aus Staaten und
Organisationen, das sich seit Jahren engagiert. Es gibt
hier also keine nationalen Alleingänge. Mit unseren
Partnern sind wir der Überzeugung, dass eine Unterstützung der lokalen Initiativen vor Ort nachhaltiger wirkt
als der Versuch eines Staatsaufbaus von außen oder das
Implementieren von fremden Entwicklungsmodellen.
Diese Mission ist eingebettet unter dem Dach der Vereinten Nationen und wird gemeinsam von der Europäischen und der Afrikanischen Union getragen.
Das Ziel ist meines Erachtens klar: Wir wollen die
Sicherheit der Region wiederherstellen und staatliche
Strukturen aufbauen. Schon heute können wir Erfolge
im Kampf gegen Piraterie und bei der Sicherung weiterer Regionen auf dem Festland feststellen. Im Rahmen
der EUTM-Ausbildungsmission, über die wir heute debattieren, wurden bis heute 3 600 Soldatinnen und Soldaten sowie rund 120 militärische Ausbilder ausgebildet.
Diese setzen sich bereits jetzt für Stabilität, Sicherheit
und den Schutz der Bevölkerung Somalias ein. Allerdings ist auch Realismus angezeigt. Eine nachhaltige
Gesamtlösung für Somalia wird uns langfristig nur dann
gelingen, wenn sich die wesentlichen politischen Akteure und die Mehrheit der somalischen Bevölkerung
selbst auf ein Entwicklungsmodell verständigen und dieses auch umsetzen.
Deshalb sind zusätzlich auch nichtmilitärische
Schritte notwendig. Die gesellschaftliche Befriedung,
die Verbesserung der Lebensbedingungen, der Aufbau
einer Verwaltungsstruktur etc. sind unabdingbar. Insofern müsste auch dem Letzten hier im Hohen Hause klar
werden, dass diese zivilen Strukturen nicht ohne Sicherheitsapparat aufgebaut werden können. Somalia braucht
die Sicherheitsstrukturen, damit zivile Hilfe überhaupt
möglich ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, genau hier setzt die
Mission EUTM Somalia an. Deshalb sollten wir diese
fortsetzen bzw. uns daran beteiligen. Angesichts der
oben genannten Zustandsbeschreibung der Sicherheitslage und der mangelnden Staatsstrukturen ist dieser Einsatz nicht ungefährlich. Umgekehrt sehen wir und unsere
Partner keine Chance auf einen nachhaltigen Frieden,
wenn wir nicht den zivilen Neuaufbau mit dem Aufbau
eines schlagkräftigen Sicherheitsapparates verbinden.
({1})
Sehr geehrte Damen und Herren, der geistige Vordenker der geplanten Weltrevolution Wladimir Iljitsch
Lenin hat gesagt: „Pazifismus und abstrakte Friedenspredigt sind eine Form der Irreführung der Arbeiterklasse.“ Leider leiden einige Kollegen dieses Hauses an
dieser Form der Irreführung.
Meinen Dank richte ich an dieser Stelle natürlich besonders an die Soldatinnen und Soldaten, die vor Ort
- auch in Mogadischu - in Zukunft agieren werden. Für
mich sind diese Frauen und Männer Friedensstifter für
Somalia.
({2})
Unsere Sicherheitskräfte leisten Hilfe für die leidgeprüften Menschen in Somalia. Von ihrem und unserem Erfolg hängt es ab, ob und inwieweit dieses Land nach
Jahrzehnten des Bürgerkrieges Frieden erhalten wird.
Deswegen stimme ich mit meiner Fraktion für dieses
Mandat.
({3})
Als letzter Rednerin in dieser Debatte erteile ich das
Wort der Kollegin Julia Bartz, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und
Kollegen! Fast auf den Tag genau vor 20 Jahren verließen unsere Soldaten der Gebirgsjägerbrigade 23 Somalia. Zuvor waren zwei Bundeswehrkontingente in Somalia im Einsatz, um im Rahmen des UN-Einsatzes
UNOSOM humanitäre Hilfe zu leisten. Doch leider waren weder dieser Einsatz der Bundeswehr noch die deutsche Entwicklungshilfe in den 1970er- und 1980er-Jahren von nachhaltigem Erfolg für das somalische Volk
geprägt.
Somalia ist nach wie vor ein fragiler Staat. Es gibt
keine funktionierenden staatlichen Strukturen. Das somalische Volk musste Flut- und Hungerkatastrophen,
Dürre und Bürgerkrieg erleiden. Somalia ist nicht nur
ein humanitäres Katastrophengebiet, sondern auch ein
Rückzugsort für internationalen Terrorismus und Piraterie.
An dieser Stelle scheiden sich jetzt die Geister. Einige
sagen: Trotzdem - ich sage: genau deswegen - reden wir
heute über eine Beteiligung bewaffneter deutscher
Streitkräfte an der EU-geführten Ausbildungsmission
EUTM Somalia. Die Ausbildungsmission EUTM Somalia ist ein wichtiger Baustein für die Sicherheit in Somalia. Die Mission ist eingebettet in eine breite Allianz, bestehend aus der Afrikanischen Union und vielen anderen
Staaten und Organisationen, die sich allesamt seit Jahren
in Somalia engagieren. Unser gemeinsames Ziel ist es,
für Sicherheit in Somalia, vor allem auch im Seegebiet,
zu sorgen, staatliche Strukturen wieder aufzubauen und
das Land zu stabilisieren.
({0})
Im Vergleich zu 1994 greifen wir heute auf unsere Erfahrungen aus UNOSOM, KFOR, ISAF, EUTM Mali
und vielen anderen Auslandseinsätzen zurück. Unser
Engagement findet deshalb nicht nur in enger Abstimmung mit unseren afrikanischen Kooperationspartnern
statt, sondern auch in einem vernetzten Ansatz. Diplomatie, Sicherheit und wirtschaftliche Entwicklung arbeiten gemeinsam an einer Verbesserung der Lage am Horn
von Afrika.
Es gibt bereits sichtbare Erfolge:
Zum Beispiel beim Kampf gegen die Piraterie. Die
Angriffe auf Handelsschiffe und Hilfstransporte sind
deutlich zurückgegangen.
Zweitens können wir den Erfolg der afrikanischen
Friedensmission AMISOM betrachten, die bereits in einigen Regionen auf dem Festland in Somalia für Sicherheit gesorgt hat.
Es ist uns drittens gelungen, innerhalb weniger Jahre
- die Mission EUTM Somalia läuft ja erst seit 2010 3 600 somalische Soldatinnen und Soldaten auszubilden.
Dieser beachtliche Umfang zeigt, wie effektiv diese
Mission ist.
Wir wollen an diese Erfolge anknüpfen und uns weiterhin an der Ausbildung beteiligen. Dabei legen wir
jetzt vermehrt einen Schwerpunkt auf die Ausbildung
der Ausbilder. Das Training findet nun nicht mehr wie
bisher in Uganda, sondern in Mogadischu statt. Ja, die
Sicherheitslage vor Ort in Mogadischu ist nach wie vor
kritisch. Wir treffen aber Sicherheitsvorkehrungen, um
unsere Soldatinnen und Soldaten zu schützen. Zum Beispiel findet der Transport vom Flughafen in das Ausbildungscamp Jazeera ausschließlich in gepanzerten Fahrzeugen statt.
Dennoch bleibt auch dieser Einsatz mit einem Risiko
verbunden. Aber es gibt wohl kaum einen Auslandseinsatz der Bundeswehr, der frei von Risiko ist. Ich betone
noch einmal: Es handelt sich nicht um einen Kampfeinsatz, sondern um eine reine Ausbildungsmission, zu der
wir zunächst 4 und maximal 20 Soldatinnen und Soldaten entsenden werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Ausbildung somalischer Streitkräfte ist der Grundstein für eine langfristig angelegte Sicherheitsarchitektur in Somalia. Sie
ist auch die Grundlage für eine nachhaltige Stabilisierung dieses geschundenen Landes. Ich lade Sie alle dazu
ein, diesen Prozess zu begleiten, und bitte Sie um Ihre
Zustimmung zum Antrag der Bundesregierung.
Vielen Dank.
({1})
Wir kommen nun zur Abstimmung über die Be-
schlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf
Drucksache 18/994 zu dem Antrag der Bundesregierung
zur Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der
EU-geführten Ausbildungsmission EUTM Somalia. Der
Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung,
den Antrag der Bundesregierung auf Drucksache 18/857
anzunehmen. Wir stimmen nun über die Beschlussemp-
fehlung namentlich ab. Ich bitte die Schriftführerinnen
und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzuneh-
men. - Sind die Plätze an den Urnen besetzt? - Das ist
der Fall. Ich eröffne die namentliche Abstimmung über
die Beschlussempfehlung.
Hat ein Mitglied des Hauses seine Stimme noch nicht
abgegeben? - Das ist nicht der Fall. Dann schließe ich
die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und
Schriftführer, die Auszählung vorzunehmen. Das Ergeb-
nis der namentlichen Abstimmung wird Ihnen später be-
kannt gegeben.1)
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Ent-
schließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
auf Drucksache 18/998. Wer stimmt für diesen Ent-
schließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer ent-
hält sich? - Der Entschließungsantrag ist von allen Frak-
tionen mit Ausnahme der einbringenden Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a bis 7 d auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({0}) zu
dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und
SPD
Änderung der Geschäftsordnung zur beson-
deren Anwendung der Minderheitenrechte in
der 18. Wahlperiode
Drucksachen 18/481, 18/997
b) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und DIE
LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Sicherung der Oppositionsrechte in der
18. Wahlperiode des Deutschen Bundestages
Drucksache 18/380
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({1})
Drucksache 18/997
c) Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion
DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines
… Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes
({2})
Drucksache 18/838
1) Ergebnis siehe Seite 2067 C
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({3})
Drucksache 18/997
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({4}) zu
dem Antrag der Fraktionen BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN und DIE LINKE
Änderung der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages zwecks Sicherung der
Minderheitenrechte der Opposition im
18. Deutschen Bundestag
Drucksachen 18/379, 18/997
Über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für
Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung zum
Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD sowie über den Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke zur
Änderung des Grundgesetzes werden wir später namentlich abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, sich
bei dieser für das Parlament und die Öffentlichkeit wichtigen Frage entspannt auf Ihre Plätze zu setzen und den
Rednern zu lauschen oder, wenn es gar nicht anders
geht, das Plenum zu verlassen und die Gespräche draußen weiterzuführen.
Als erstem Redner erteile ich das Wort dem Kollegen
Bernhard Kaster, CDU/CSU-Fraktion.
({5})
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Lassen Sie mich mit einem Zitat aus dem
Koalitionsvertrag beginnen - das ist immer eine gute Sache -:
({0})
Eine starke Demokratie braucht die Opposition im
Parlament. CDU, CSU und SPD werden die Minderheitenrechte im Bundestag schützen. Auf Initiative der Koalitionspartner wird der Bundestag einen
Beschluss fassen, der den Oppositionsfraktionen
die Wahrnehmung von Minderheitenrechten ermöglicht sowie die Abgeordneten der Opposition bei
der Redezeitverteilung angemessen berücksichtigt.
So steht es im Koalitionsvertrag.
({1})
Ich denke, eine solche Stärkung der Oppositionsrechte in einem Koalitionsvertrag dürfte wohl weltweit
einmalig sein.
({2})
Ein Wahlergebnis und auch eine Große Koalition machen es rechtlich, das heißt streng juristisch, nicht zwingend erforderlich, bestehendes Recht oder eine bestehende Geschäftsordnung zu ändern. Die Debatte, die wir
führen, die wir auch führen wollen, ist eine Debatte über
die politische Kultur und das Selbstverständnis der parlamentarischen Demokratie. Darum geht es.
Unser im Koalitionsvertrag gegebenes Versprechen
setzen wir heute um. Die Zustimmung der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen, für die wir nach diesen schwierigen Gesprächen dankbar sind, zeigt, dass das Ganze
eine ausgewogene Regelung darstellt. Ich bedanke mich
ausdrücklich bei allen, die an diesen verständlicherweise
schwierigen, aber auch fairen Gesprächen teilgenommen
haben. Allen Beteiligten dafür noch einmal ein herzliches Dankeschön!
({3})
Wir beschließen heute eine Sonderregelung in unserer
Geschäftsordnung, und zwar nur für diese Legislaturperiode - und das bei einem Parlaments- und Geschäftsordnungsrecht, das ohnehin überdurchschnittlich von
Minderheitenrechten geprägt ist, wie dies europa- und
weltweit kaum so zu finden ist. Wir haben zahlreiche
Rechte für einzelne Fraktionen, für einzelne Abgeordnete, seien es die Große oder die Kleine Anfrage, seien
es die Aktuelle Stunde, die Regierungsbefragung, die
Fragestunde etc. Wir haben auch Regeln, die gar nicht
niedergeschrieben, sondern Tradition sind. Ich erinnere
beispielsweise daran, dass der Vorsitz im Haushaltsausschuss traditionell der Opposition zugestanden wird.
Uns geht es doch immer so, dass Kolleginnen und Kollegen aus dem Ausland, die bei uns sind, angesichts dieser
Rechte, der ungeschriebenen und auch der geschriebenen, nur staunen und das immer wieder hinterfragen.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, der oberste
Souverän sind die Wählerinnen und Wähler. Nach einem Wahlergebnis kann niemand Rechte einfordern
- auch nicht die Linke -, die der Wähler einer Partei
nicht gegeben hat.
({4})
Die Fraktion Die Linke beantragt heute nicht nur die
Änderung von fünf verschiedenen Gesetzen, sondern
schlägt zusätzlich sogar fünf - ich betone: fünf - Verfassungsänderungen vor.
({5})
Angesichts der Textvorschläge - vom Verfahren will ich
jetzt gar nicht sprechen - bitte ich doch um ein wenig
mehr Respekt vor unserer Verfassung.
Eines muss auch klar sein: Unabhängig von Wahlergebnissen müssen wir als Parlament unser Handeln dem
Recht anpassen und nicht das Recht dem Parlament. Das
können wir nicht jedes Mal drehen, wie es gerade passt.
({6})
Wir beschließen heute eine Sonderregelung nur für
diese Legislaturperiode, und zwar in unserer Geschäftsordnung. Über das Thema, dies in der Geschäftsordnung
zu regeln oder dazu ein Gesetz zu beschließen, ist oft
diskutiert worden. Man muss zugeben: Der Begriff „Geschäftsordnung“ klingt sprachlich immer ein wenig nach
Vereinssatzung. Aber die Regeln der Geschäftsordnung
des Deutschen Bundestages sind nicht mehr und nicht
weniger als die Spielregeln der Demokratie in unserem
Land. Diesen Stellenwert hat unsere Geschäftsordnung
für unser Parlament.
({7})
Bezüglich der Geschäftsordnung gilt: Der formulierte
Text ist das eine, die faire Anwendung das andere. Das
gilt für die Regierungsfraktionen genauso wie für die Oppositionsfraktionen. In diesem Zusammenhang möchte
ich nur anmerken und den Hinweis geben, dass wir bereits
in der letzten Sitzungswoche einen Untersuchungsausschuss nach den Regeln eingesetzt haben, die wir erst
heute beschließen werden. - So viel also zum fairen Umgang miteinander hier im deutschen Parlament.
In der öffentlichen Debatte haben vor allem die Redezeiten eine große Rolle gespielt. Wir müssen dabei immer
drei Gesichtspunkte betrachten: erstens das statusrechtliche Rederecht eines jeden einzelnen Abgeordneten, zweitens das Prinzip von Rede und Gegenrede und drittens die
Fraktionsstärke. Das sind die drei Elemente, die eine
Rolle spielen.
Die Oppositionsparteien erzielten bei der Bundestagswahl ein Wahlergebnis von zusammen 17 Prozent; sie
haben 20 Prozent der Sitze hier. Die jetzt vereinbarten
Redezeiten der Opposition bewegen sich je nach Debattenlänge zwischen 25 und 32 Prozent. Wer sich bewusst
macht, dass alle 631 Kolleginnen und Kollegen in diesem Haus dieselben Rechte haben, dem wird auch klar:
Noch mehr hätte man nicht entgegenkommen können.
({8})
Ein entscheidender Punkt war auch die Frage: Wie
definieren wir die Minderheit? Wie wird das in der Geschäftsordnung formuliert? Wir haben uns geeinigt, dass
wir die Geltendmachung von Minderheitenrechten nicht
von der Unterstützung aller Kolleginnen und Kollegen
der Oppositionsfraktionen, also von 100 Prozent ihrer
Abgeordneten, abhängig machen wollen. Wir haben hier
mit der Festlegung der Zahl von 120 Abgeordneten eine,
wie ich denke, gute Regelung mit Augenmaß gefunden.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, jedes Minderheitenrecht ist immer auch eine Einschränkung der Mehrheit und des Mehrheitsprinzips. Insofern liegt es in unserer gemeinsamen Verantwortung, hier das richtige Maß
zu finden. Genau das ist hier in verantwortlicher Weise
gelungen, sodass jetzt auch für die Opposition gilt:
Künftig gilt der Inhalt. Hinter Formalien braucht man
sich jetzt nicht mehr zu verstecken; das ist geklärt. In
diesem Sinne können wir, die Regierungsfraktionen und
die Oppositionsfraktionen, jetzt gemeinschaftlich die
Arbeit in diesem Hause mit den neuen Regeln gut fortsetzen.
Vielen Dank.
({9})
Schönen Dank. - Ich gebe dem Haus das von den
Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung bekannt: abgegebene Stimmen 591. Mit Ja haben gestimmt 471, mit Nein
haben gestimmt 118, zwei Kollegen haben sich enthalten. Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 589;
davon
ja: 469
nein: 118
enthalten: 2
Ja
CDU/CSU
Stephan Albani
Katrin Albsteiger
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Maik Beermann
Manfred Behrens ({0})
Veronika Bellmann
Dr. André Berghegger
Dr. Christoph Bergner
Ute Bertram
Peter Beyer
Steffen Bilger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Alexandra Dinges-Dierig
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Jutta Eckenbach
Dr. Bernd Fabritius
Uwe Feiler
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Dirk Fischer ({1})
Axel E. Fischer ({2})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Thorsten Frei
Dr. Astrid Freudenstein
Dr. Hans-Peter Friedrich
({3})
Michael Frieser
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Cemile Giousouf
Josef Göppel
Reinhard Grindel
Ursula Groden-Kranich
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Astrid Grotelüschen
Markus Grübel
Manfred Grund
Oliver Grundmann
Monika Grütters
Dr. Herlind Gundelach
Fritz Güntzler
Christian Haase
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Matthias Hauer
Mark Hauptmann
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Frank Heinrich ({4})
Mark Helfrich
Uda Heller
Jörg Hellmuth
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Ansgar Heveling
Christian Hirte
Dr. Heribert Hirte
Robert Hochbaum
Alexander Hoffmann
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Dr. Hendrik Hoppenstedt
Margaret Horb
Bettina Hornhues
Charles M. Huber
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Erich Irlstorfer
Sylvia Jörrißen
Andreas Jung
Dr. Franz Josef Jung
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Steffen Kanitz
Anja Karliczek
Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Dr. Georg Kippels
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Markus Koob
Carsten Körber
Hartmut Koschyk
Kordula Kovac
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Roy Kühne
Günter Lach
Uwe Lagosky
Dr. Karl A. Lamers
Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Barbara Lanzinger
Dr. Silke Launert
Paul Lehrieder
Dr. Katja Leikert
Dr. Philipp Lengsfeld
Philipp Graf Lerchenfeld
Dr. Ursula von der Leyen
Antje Lezius
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Wilfried Lorenz
Dr. Claudia Lücking-Michel
Dr. Jan-Marco Luczak
Daniela Ludwig
Karin Maag
Yvonne Magwas
Thomas Mahlberg
Dr. Thomas de Maizière
Gisela Manderla
Matern von Marschall
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({5})
Reiner Meier
Dr. Michael Meister
Jan Metzler
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Dietrich Monstadt
Karsten Möring
Elisabeth Motschmann
Dr. Gerd Müller
({6})
Stefan Müller ({7})
Dr. Philipp Murmann
Dr. Andreas Nick
Michaela Noll
Helmut Nowak
Dr. Georg Nüßlein
Florian Oßner
Dr. Tim Ostermann
Henning Otte
Ingrid Pahlmann
Sylvia Pantel
Martin Patzelt
Dr. Martin Pätzold
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Ronald Pofalla
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Kerstin Radomski
Alexander Radwan
Alois Rainer
Dr. Peter Ramsauer
Vizepräsident Peter Hintze
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({8})
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht
Anita Schäfer ({9})
Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Annette Schavan
Jana Schimke
Norbert Schindler
Heiko Schmelzle
Gabriele Schmidt ({10})
Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön ({11})
Dr. Ole Schröder
Dr. Kristina Schröder
({12})
Bernhard Schulte-Drüggelte
Dr. Klaus-Peter Schulze
Uwe Schummer
Armin Schuster ({13})
Christina Schwarzer
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Tino Sorge
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Dr. Wolfgang Stefinger
Peter Stein
Erika Steinbach
Sebastian Steineke
Johannes Steiniger
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Rita Stockhofe
Gero Storjohann
Max Straubinger
Karin Strenz
Thomas Strobl ({14})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Sabine Sütterlin-Waack
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Astrid Timmermann-Fechter
Dr. Volker Ullrich
Arnold Vaatz
Oswin Veith
Thomas Viesehon
Michael Vietz
Volkmar Vogel ({15})
Sven Volmering
Christel Voßbeck-Kayser
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Nina Warken
Kai Wegner
Albert Weiler
Marcus Weinberg ({16})
Dr. Anja Weisgerber
Peter Weiß ({17})
Sabine Weiss ({18})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Marian Wendt
Kai Whittaker
Annette Widmann-Mauz
Heinz Wiese ({19})
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Oliver Wittke
Dagmar G. Wöhrl
Barbara Woltmann
Heinrich Zertik
Emmi Zeulner
Gudrun Zollner
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heike Baehrens
Ulrike Bahr
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Dr. Matthias Bartke
Sören Bartol
Bärbel Bas
Dirk Becker
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding ({20})
Burkhard Blienert
Edelgard Bulmahn
Dr. Lars Castellucci
Petra Crone
Sabine Dittmar
Elvira Drobinski-Weiß
Siegmund Ehrmann
Michaela Engelmeier-Heite
Dr. h. c. Gernot Erler
Saskia Esken
Karin Evers-Meyer
Dr. Fritz Felgentreu
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Ulrich Freese
Sigmar Gabriel
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Ulrike Gottschalck
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Wolfgang Gunkel
Rita Hagl-Kehl
Metin Hakverdi
Ulrich Hampel
Sebastian Hartmann
({21})
Dirk Heidenblut
Hubertus Heil ({22})
Gabriela Heinrich
Marcus Held
Wolfgang Hellmich
Dr. Barbara Hendricks
Heidtrud Henn
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Dr. Eva Högl
Matthias Ilgen
Christina Jantz
Frank Junge
Thomas Jurk
Oliver Kaczmarek
Christina Kampmann
Ralf Kapschack
Gabriele Katzmarek
Ulrich Kelber
Marina Kermer
Arno Klare
Lars Klingbeil
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe
Birgit Kömpel
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Helga Kühn-Mengel
Christian Lange ({23})
Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Dr. Birgit Malecha-Nissen
Caren Marks
Hilde Mattheis
Dr. Matthias Miersch
Klaus Mindrup
Susanne Mittag
Bettina Müller
Michelle Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Dietmar Nietan
Ulli Nissen
Thomas Oppermann
Mahmut Özdemir ({24})
Aydan Özoğuz
Markus Paschke
Jeannine Pflugradt
Detlev Pilger
Sabine Poschmann
Joachim Poß
Florian Post
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Dr. Simone Raatz
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Andreas Rimkus
Sönke Rix
Dr. Martin Rosemann
René Röspel
Michael Roth ({25})
Johann Saathoff
Annette Sawade
Dr. Hans-Joachim
Schabedoth
Axel Schäfer ({26})
Dr. Nina Scheer
Udo Schiefner
Dr. Dorothee Schlegel
Ulla Schmidt ({27})
Matthias Schmidt ({28})
Dagmar Schmidt ({29})
Carsten Schneider ({30})
Ursula Schulte
Swen Schulz ({31})
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Stefan Schwartze
Andreas Schwarz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Norbert Spinrath
Svenja Stadler
Martina Stamm-Fibich
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Claudia Tausend
Michael Thews
Franz Thönnes
Carsten Träger
Rüdiger Veit
Dirk Vöpel
Gabi Weber
Bernd Westphal
Andrea Wicklein
Gülistan Yüksel
Stefan Zierke
Dr. Jens Zimmermann
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
Vizepräsident Peter Hintze
Nein
SPD
Dr. Ute Finckh-Krämer
Petra Hinz ({32})
Cansel Kiziltepe
Christian Petry
Waltraud Wolff
({33})
DIE LINKE
Jan van Aken
Dr. Dietmar Bartsch
Karin Binder
Heidrun Bluhm
Christine Buchholz
Eva Bulling-Schröter
Roland Claus
Dr. Diether Dehm
Wolfgang Gehrcke
Diana Golze
Annette Groth
Dr. Gregor Gysi
Dr. André Hahn
Heike Hänsel
Inge Höger
Andrej Hunko
Sigrid Hupach
Kerstin Kassner
Katja Kipping
Jan Korte
Jutta Krellmann
Caren Lay
Ralph Lenkert
Stefan Liebich
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Cornelia Möhring
Niema Movassat
Dr. Alexander S. Neu
Petra Pau
Harald Petzold ({34})
Martina Renner
Kersten Steinke
Azize Tank
Frank Tempel
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Katrin Werner
Birgit Wöllert
Hubertus Zdebel
Pia Zimmermann
({35})
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Luise Amtsberg
Kerstin Andreae
Annalena Baerbock
Volker Beck ({36})
Dr. Franziska Brantner
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Harald Ebner
Dr. Thomas Gambke
Kai Gehring
Anja Hajduk
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Dieter Janecek
Uwe Kekeritz
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Stephan Kühn ({37})
Christian Kühn ({38})
Renate Künast
Monika Lazar
Steffi Lemke
Dr. Tobias Lindner
Beate Müller-Gemmeke
Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Cem Özdemir
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth ({39})
Corinna Rüffer
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Ulle Schauws
Dr. Gerhard Schick
Dr. Frithjof Schmidt
Kordula Schulz-Asche
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Dr. Julia Verlinden
Beate Walter-Rosenheimer
Enthalten
SPD
Marco Bülow
Dr. Daniela De Ridder
Als Nächster erteile ich das Wort in dieser Debatte
Kollegin Dr. Petra Sitte, Fraktion Die Linke.
({40})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In den
Verhandlungen zu den Minderheitsrechten hier im Bundestag wurde der Opposition immer wieder vorgehalten,
dass die Große Koalition ja nun nichts für ihre Wahlergebnisse könne.
({0})
Nebenbei bemerkt: Auch ich bin dieser Meinung.
({1})
- Ich rege mich gar nicht auf; Sie schreien. - Sie lassen
uns nun wissen, dass diese Wahlergebnisse nicht durch
erweiterte oder gar Sonderrechte der Opposition verfälscht werden dürften. Darum ist es uns in den Debatten
aber überhaupt nicht gegangen.
Der ehemalige Bundesverfassungsrichter Professor
Mahrenholz hat da in unserer Expertenanhörung zu den
vorliegenden Lösungsvorschlägen sehr klar unterschieden. Er meinte, die aus dem Wahlergebnis resultierenden
Mehrheiten entfalteten erst in den Abstimmungen über
Gesetzentwürfe und Anträge ihre Wirkung. Das stellt
hier überhaupt niemand infrage.
({2})
Aber vor den Abstimmungen und unabhängig von ihnen
haben wir noch eine ganze Reihe anderer wichtiger Aufgaben zu erfüllen. So sind wir als Opposition durch die
Verfassung beauftragt, die Regierung zu kontrollieren
({3})
und politische Alternativen aufzuzeigen. Davon sollten
sich Interessierte anhand von Rede und Gegenrede zwischen Opposition und Koalition, wie das gerade dargestellt worden ist, selbst ein Bild machen können. Dieses
öffentliche Verhandeln, so wie es im Grundgesetz steht,
versteht das Bundesverfassungsgericht als wesentliches
Element der parlamentarischen Demokratie. Zugleich verweist das Gericht auf die herausgehobene Stellung der
Opposition; es hat dies in Urteilsbegründungen mehrfach
beschrieben. Darauf haben wir als Opposition, aber eben
auch die Bürgerinnen und Bürger ein Recht. Deshalb haben wir, Bündnisgrüne und Linke, gemeinsam Vorschläge
in den Bundestag eingebracht. Was ist den Linken besonders wichtig?
Erstens. Wir wollen, dass die Regelungen in der
Rechtssystematik sauber und rechtssicher gestaltet werden. Nun ist es aber so, dass die Geschäftsordnung gegenüber Gesetzen - und erst recht gegenüber dem
Grundgesetz - nachrangiges Recht ist. Wenn Sie die
Minderheitenrechte ausschließlich über die Geschäftsordnung, wie Sie das beschrieben haben, anpassen,
({4})
dann wählen Sie den unsauberen Weg.
Wir erkennen selbstverständlich an, dass in Ihrem
Antrag zur Änderung der Geschäftsordnung eine ganze
Reihe von Vorschlägen der Opposition aufgenommen
worden sind. Aber was ich mich immer wieder frage, ist:
Warum gehen Sie diesen Weg nicht konsequent zu
Ende? Warum ändern Sie die Gesetze nicht? Warum stellen Sie nicht die Frage, dass die im Grundgesetz niedergelegten Quoren im Widerspruch dazu stehen?
Zur Einrichtung eines Untersuchungsausschusses beispielsweise verlangt das Grundgesetz ganz klar die Zustimmung eines Viertels der Mitglieder des Bundestages.
({5})
- Lesen Sie es doch nach: ein Viertel der Mitglieder des
Bundestages; das ist sonnenklar darin beschrieben. Wenn dieses Quorum nun gesenkt werden soll, dann
muss über eine Änderung der einschlägigen Gesetze,
insbesondere des Grundgesetzes, nachgedacht werden.
In unserem Gesetzentwurf ist dies selbstverständlich enthalten.
({6})
Zweitens. Wir wollen unabdingbare Minderheitenrechte. Diese müssen verlässlich geregelt sein. Wir wollen von keinen Interpretationen oder pseudokreativen
Auslegungen der Geschäftsordnung abhängig sein. Besonders heikel erscheint uns das mit Blick auf den Verteidigungsausschuss. Diesem werden im Grundgesetz die
Rechte eines Untersuchungsausschusses zugestanden.
Über das Minderheitenrecht kann ein Viertel der Mitglieder des Verteidigungsausschusses verlangen, dass dort
eine Angelegenheit zum Gegenstand einer Untersuchung
gemacht wird. Wir Oppositionsfraktionen stellen aber
eben nicht ein Viertel, sondern nur 6 der 32 Ausschussmitglieder.
Im Geschäftsordnungsantrag der Koalition steht nun,
dass uns die Ausübung der Minderheitenrechte trotzdem
ermöglicht werden soll. Ich frage aber: Wie soll das
praktisch gehen? Bekanntermaßen ist der Verteidigungsausschuss ein sehr konfliktreicher Ausschuss. Sollen in
Zukunft immer zwei Koalitionsabgeordnete - wer auch
immer das jeweils sein mag - gezwungen werden, mit
uns zu stimmen, um das notwendige Viertel zu erreichen? Was passiert eigentlich, wenn Sie keinen Ihrer Abgeordneten nötigen können, doch mit uns zu stimmen?
Das ist das Problem, das wir dabei sehen.
Drittens. Im Unterschied zu allen anderen Fraktionen
ist uns Linken die Befugnis zur Normenkontrollklage
wichtig. Das wundert mich, dass das nur uns wichtig zu
sein scheint, weil es hier ganz konkret um Rechte der
Betroffenen von in diesem Haus beschlossenen Gesetzen
geht. Bei der Normenkontrollklage - für jene, die das
noch nicht wissen - geht es darum, dass Gesetze auf ihre
Verfassungsmäßigkeit geprüft werden. Wir sind uns natürlich im Klaren, dass man nicht jede Woche eine solche Normenkontrollklage anstreben kann - das haben
wir auch nie vorgehabt - und dass das Vorgehen einer
gewissen Sensibilität bedarf. Aber wir wollen uns nicht
gänzlich dieses Recht nehmen lassen. Die Erfahrungen
zeigen - so ist das in der Anhörung gesagt worden -,
dass die eingereichten Normenkontrollklagen höchst berechtigt waren und dass zum Teil auch Verfassungswidrigkeit von Gesetzen festgestellt wurde.
Die Normenkontrollklage kann nach Expertenmeinung nur durch eine Ergänzung des Grundgesetzes geregelt werden. Als Folge der Anhörung, die wir selber
durchgeführt haben, haben wir einen Gesetzentwurf zur
Änderung bzw. Ergänzung des Grundgesetzes eingebracht. Die Koalition lehnt eine entsprechende Änderung des Grundgesetzes unter anderem deshalb ab, weil
auch eine Verfassungsbeschwerde eingereicht werden
könnte. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie wissen doch ganz genau, dass dies nicht für Fraktionen gilt,
sondern nur für diejenigen, die von einem Gesetz persönlich betroffenen sind. Diese müssen sich im Regelfall
durch alle Instanzen der Gerichte klagen, bis die Sache
dann nach vielen Jahren unter Umständen beim Bundesverfassungsgericht landet und sie recht oder eben auch
nicht recht bekommen. Dieser Weg ist, was Umfang,
Zeit und Kosten angeht, sehr aufwendig. Deshalb ist uns
die Möglichkeit einer Normenkontrollklage so wichtig.
Frau Kollegin Sitte, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Abgeordneten Ströbele?
Herr Ströbele? - Ja, klar.
Herr Ströbele.
Frau Kollegin, Sie haben gerade erklärt, dass man vor
einer Verfassungsbeschwerde immer erst den Instanzenweg gegangen sein muss. Das ist grundsätzlich richtig.
Haben Sie mitbekommen, dass, wenn Herr Gauweiler
oder andere gegen europäische Regelungen Verfassungsbeschwerde eingelegt haben, das ohne den Instanzenweg
gegangen ist?
({0})
Haben Sie mitbekommen, dass das Bundesverfassungsgericht bei solch zentralen Fragen relativ weitzügig entscheidet, Verfassungsbeschwerden zuzulassen, auch ohne
dass man vorher als Betroffener dagegen etwa den Verwaltungsrechtsweg eingeschlagen hat?
Als Zusatzfrage dazu. Sie haben vorhin gesagt, man
müsse jetzt klären, ob das Grundgesetz hinsichtlich der
Normenkontrollklage geändert werden kann. Würden
Sie mir auch in diesem Punkt recht geben, dass die Normenkontrollklage, wenn sich eine solche Situation ergibt, durchaus von Fraktionen eingereicht werden kann?
Dann müsste das Bundesverfassungsgericht darüber entscheiden, ob sie in diesem Ausnahmefall, wegen der
Konstellation im Deutschen Bundestag, möglicherweise
doch zulässig ist, entgegen dem Gesetzeswortlaut. Das
wäre nicht viel anders, als wenn Sie jetzt mit Ihrem
Wunsch zum Bundesverfassungsgericht gingen, das
Recht auf Erhebung einer Normenkontrollklage von der
Koalition zugebilligt zu bekommen.
Ich fange mit der zweiten Frage an. Wenn ich Sie
richtig verstanden habe, gehen Sie davon aus, dass wir,
ohne einen entsprechenden Gesetzentwurf in den Bundestag eingebracht zu haben, beim Bundesverfassungsgericht hätten vorstellig werden können. Wir gehen nach
der Rechtsberatung, die wir hatten, davon aus, dass es
zumindest einmal im Bundestag eine Gelegenheit gegeben haben muss, über diesen Gesetzentwurf zur Änderung des Grundgesetzes zu sprechen. Deshalb gehen wir
davon aus, dass das Verfassungsgericht zu uns sagen
würde: Liebe Fraktion Die Linke, liebe Grüne - falls die
Grünen mit dabei sind -, wenn Sie hier eine Normenkontrollklage anstrengen wollen oder - umgekehrt wenn Sie auf dem Wege einer Organklage nachweisen
wollen, dass Ihre Rechte eingeschränkt wurden, dann
müssen Sie wenigstens einmal im Bundestag darüber geredet haben. - Das ist unser Ausgangspunkt. Deshalb haben wir nach der Auswertung der Anhörung im Ausschuss gesagt: Wir bringen einen Gesetzentwurf zur
Änderung des Grundgesetzes ein. Selbstverständlich
kann man keinem Verfassungsrechtler erklären, dass
man, wenn man die Quoren bei der Normenkontrollklage ändert, nicht konsequenterweise auch die anderen
Quoren ändert. Wir sind einfach nur den Weg zu Ende
gegangen. Es obliegt Ihnen, ob Sie sich dem anschließen. Ich würde das begrüßen. Das ist die Antwort auf die
zweite Frage.
Helfen Sie mir bitte noch einmal: Was war Ihre erste
Frage?
({0})
In der Frage ging es um den Instanzenweg, ob das
auch direkt geht. Ich habe mich selber darüber gewundert, dass das geht.
Selbstverständlich ist mir das bewusst. Das ist, wenn
ich mich recht erinnere, Art. 100 des Grundgesetzes. Ich
habe hier aber nur acht Minuten Redezeit. Daher kann
ich nicht jede Facette des Rechtsweges beschreiben.
({0})
Selbstverständlich - das ist völlig klar - ist uns das bewusst. Wir haben das, was bisher dazu gelaufen ist, ja
auch ausgewertet.
Ich will eines anfügen: Es ist doch höchst widersprüchlich, wenn eine Landesregierung und die Bundesregierung eine Normenkontrollklage anstrengen können,
das aus diesem Haus heraus aber nicht möglich ist. Nun
muss man sehen: Wenn Sie als Bundesregierung hier einen Gesetzentwurf eingebracht haben, wenn Sie darüber
in den Ausschüssen beraten und das in voller Überzeugung verabschiedet haben, dann werden Sie doch nicht
im nächsten Schritt - davon können wir doch nicht ausgehen - vor dem Bundesverfassungsgericht erscheinen,
um Ihre eigenen Gesetze zu einer Normenkontrollklage
anzumelden. Insofern ist das eher ein Oppositionsrecht,
ein Recht, das de facto oft von der Opposition genutzt
worden ist.
Wie wichtig Normenkontrolle sein könnte, zeigt sich
im Grunde genommen schon jetzt. Herr Kaster hat die
Koalitionsvereinbarung angesprochen. Während Sie noch
darüber verhandelt haben, haben wir eine ganze Reihe
parlamentarischer Initiativen eingebracht. Heute Morgen
zum Beispiel haben wir über das Rentenpaket gesprochen. Unsere Anträge hatten im Kern durchgängig das
Gerechtigkeitsproblem zum Gegenstand, ob das Mieten
waren, die Flüchtlingspolitik, der Mindestlohn oder auch
die Renten usw.
Jetzt zeigt sich zum Beispiel an diesem Gesetz - wir
sprechen von einer Gerechtigkeitslücke -, dass das verfassungsrechtlich vielleicht problematisch sein könnte.
Deshalb wollten wir im Zuge dieses Gesamtpaketes über
die Möglichkeit einer Normenkontrollklage reden; denn
es kann sehr wohl sein, dass an dieser Stelle eine verfassungsmäßige Überprüfung notwendig wird.
Insgesamt: Es ist gut, dass wir es heute endlich beschließen.
({1})
Wir als Linksfraktion werden uns enthalten. Denn es
wird natürlich eine Geschäftsgrundlage für die nächsten
Jahre sein. Das macht nicht gegenstandslos, dass man
die Gesetze und das Grundgesetz eigentlich ändern
müsste. Aber wir werden das jetzt bereitgestellte Instrumentarium umfassend für unsere Arbeit für unsere politischen Alternativen nutzen.
Danke schön.
({2})
Vielen Dank. - Nächste Rednerin für die SPD-Fraktion ist Christine Lambrecht.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Ausgangssituation ist klar: 504 Abgeordneten der
Koalition stehen rein theoretisch 127 Abgeordnete der
Opposition gegenüber. Das sind die Zahlen, die auf dem
Tisch liegen. Dass dieses Verhältnis hier im Deutschen
Bundestag so besteht, ist aber nicht das Ergebnis von
Entscheidungen der Großen Koalition, sondern - wir haben es ja schon gehört - eine Entscheidung der Wählerinnen und Wähler. Mit dieser Situation müssen wir jetzt
umgehen.
Eine ähnliche Situation hat es lediglich in einer Legislaturperiode gegeben, nämlich in der von 1966 bis 1969.
Da stand eine Große Koalition einer Oppositionsfraktion
gegenüber. Das war die FDP, die knapp 10 Prozent hatte.
Damals gab es allerdings keine Initiativen, um diese
Fraktion mit zusätzlichen Rechten auszustatten oder ihre
Rechte besonders sicherzustellen. Damals hat der Deutsche Bundestag nicht reagiert. Für uns als Große Koalition war ganz schnell klar, dass das nicht der Weg ist,
den wir in dieser Situation gehen wollen. Deswegen
- Herr Kaster hat ja schon darauf hingewiesen - haben
wir das auch im Koalitionsvertrag verankert. Für uns ist
ganz klar: Wir stehen für ein lebendiges Parlament und
eine hörbare Opposition. Das ist unsere klare Ansage.
({0})
Deswegen haben wir zügig Gespräche mit den Oppositionsfraktionen aufgenommen, um auszuloten, wie die
Minderheitenrechte - nicht die Oppositionsrechte, sondern die Minderheitenrechte - in dieser Legislaturperiode sichergestellt werden können, auch wenn die
Oppositionsfraktionen zusammen derzeit diese Quoren
nicht erfüllen. Darüber, dass Minderheitenrechte sichergestellt werden müssen, gab es schnell Konsens. Lediglich über das Wie ist intensiv gerungen worden. Auch
ich kann mich dem Dank anschließen: Es waren sehr
sachliche Auseinandersetzungen.
Es gab zuerst einen Vorschlag des Bundestagspräsidenten, dass man das Ganze durch einen Beschluss hier
im Bundestag sicherstellt. Die Bedenken hinsichtlich der
Rechtssicherheit, die von der Opposition kamen, haben
wir aufgenommen und daraufhin Veränderungen in der
Geschäftsordnung vorgeschlagen. Das ist auch der richtige Ort; genau dorthin gehört es. Hier regeln wir unsere
Angelegenheiten, und genau darum geht es. Wir brauchen keine Gesetzesänderungen, die wir in der nächsten
Legislaturperiode bei anderen Mehrheitsverhältnissen
rückgängig machen müssten. Wir müssten die Gesetze
dann wieder verändern. Damit das nicht erforderlich
wird, sind wir der Ansicht, dass es ausreicht, die Geschäftsordnung zu verändern.
In unserem ursprünglichen Entwurf hatten wir noch
vorgesehen, dass alle Mitglieder der nicht die Regierung
tragenden Fraktionen, also immer 127, entsprechende
Minderheitenrechte hätten geltend machen können. In
den Gesprächen, in den Beratungen ist dann relativ
schnell klar geworden, dass das teilweise eine recht
schwierige Situation zur Folge haben könnte, natürlich
zum einen, weil infrage steht, ob beide Oppositionsfraktionen gemeinsam bestimmte Initiativen auf den Weg
bringen würden. Angesichts mancher inhaltlichen Auseinandersetzungen hat man nicht den Eindruck, dass es
„die Opposition“ überhaupt gibt, sondern dass in manchen Bereichen durchaus völlig unterschiedliche Auffassungen bestehen.
({1})
Aber das lassen wir einmal völlig außen vor. Zum anderen hätten Sie auch jedes Mal alle an Bord haben müssen. Das wäre, beispielsweise wenn jemand lange erkrankt ist, schwierig gewesen. Deswegen haben wir auch
in diesem Punkt die Bedenken aufgenommen und nicht
mehr an diesem Quorum festgehalten. Jetzt ist vorgesehen, dass 120 Abgeordnete ausreichen. Dieses Quorum
ist nicht an die Oppositionsfraktionen gebunden, sondern kann durchaus auch durch Mitglieder der Koalitionsfraktionen erreicht werden.
({2})
- Das war vernünftig. Deswegen sind wir auch auf diesen vernünftigen Vorschlag eingegangen. Deswegen
handelt es sich jetzt auch um echte Minderheitenrechte
und nicht um Oppositionsrechte, weil eben die Minderheit entscheidet.
({3})
- Dazu komme ich gleich.
Ich möchte auf einen anderen Punkt, den Frau Sitte
beschrieben hat, eingehen. Sie sagte: Es reicht nicht aus,
dass wir die Geschäftsordnung ändern, wenn es zum
Beispiel um Untersuchungsausschüsse geht,
({4})
weil das Untersuchungsausschussgesetz in Verbindung
mit der Verfassung ein anderes Quorum vorsieht. - Frau
Sitte, ich kann es noch einmal sagen: Manchmal - das ist
ein alter Juristengrundsatz - reicht ein Blick ins Gesetz.
Denn bei diesem Quorum geht es nicht darum, dass wir
die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses beschließen, sondern es geht um das Antragsrecht. 120 Abgeordnete können die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses beantragen, und dann beschließt der
Deutsche Bundestag darüber; das ist der Weg. Dieser
Beschluss ist entscheidend. So kann es auch niemals
dazu kommen, dass sich ein Dritter, zum Beispiel ein
Zeuge, dadurch beschwert fühlt, dass ein Untersuchungsausschuss eingesetzt werden kann; das ist nicht
möglich. Deswegen bitte ich Sie, dieses Argument nicht
länger zu bringen. Das entspricht auch gar nicht dem Niveau, das Sie in den Verhandlungen ansonsten gezeigt
haben.
Ich möchte noch etwas zur abstrakten Normenkontrollklage sagen. Bei uns gab es da keine Bewegung
- ja -, weil das aus unserer Sicht überhaupt kein originäres Minderheitenrecht ist. Es kann von der Bundesregierung, es kann von Landesregierungen und es kann von
einem Viertel der Mitglieder des Deutschen Bundestages
wahrgenommen werden.
({5})
Wir haben keine Veranlassung gesehen, das zu ändern,
und zwar aufgrund dieser inhaltlichen Begründung. Es
ging uns nicht darum, Ihnen dieses Recht zu nehmen,
sondern wir haben uns so entschieden, weil das nach unserer Vorstellung kein Minderheitenrecht ist. Sie haben
andere Möglichkeiten - Herr Ströbele hat dankenswerterweise dazu ausgeführt -, all Ihre Einwände gegen den
Mindestlohn und was weiß ich noch alles vorzutragen.
Von Herrn Riexinger habe ich ja gehört, dass Sie gegen
den Mindestlohn als Erstes vorgehen möchten. Das lässt
tief blicken, dass auch gegen den Mindestlohn vorgegangen werden soll.
({6})
Mich freut, dass die Grünen diesen Lösungsvorschlägen mit ihren vielen Veränderungen auch im Interesse
der Oppositionsfraktionen zustimmen werden. Ich
würde sagen: Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, dass wir
aufhören, uns mit uns selbst zu beschäftigen, und dass
wir uns an die Sacharbeit machen.
In diesem Sinne: Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Vielen Dank. - Nächste Rednerin in der Debatte ist
Britta Haßelmann, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Besucherinnen und Besucher! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ja, ich bin froh, dass wir heute das Thema „Wie gehen wir künftig mit den Minderheitenrechten im
Deutschen Bundestag um?“ abschließen und endlich
eine rechtssichere Regelung in unsere Geschäftsordnung
aufnehmen. Wir beraten darüber seit Monaten. Ich finde
es gut, wenn vom heutigen Tag das klare Signal ausgeht:
Die Minderheitenrechte, die in einem umfassenden
Katalog von elf Punkten aufgeführt sind, sind in der
Geschäftsordnung verankert, und das kann - das ist eine
der wichtigsten Fragen, die im Beschlussvorschlag steht mit der Mehrheit der Großen Koalition nicht wieder geändert werden. Das ist für uns ein ganz wichtiger Punkt.
({0})
Der Kollege Kaster und die Kollegin Lambrecht haben darauf hingewiesen: Wir haben darüber sehr lange
verhandelt. Gestartet sind wir mit der Überlegung, im
Deutschen Bundestag einen Absichtsbeschluss zu fassen
und zu erklären, dass die Minderheitenrechte gewahrt
werden. Das war uns in der Tat zu wenig. Wir haben gesagt: Wir wollen, dass das fixiert wird. Wir wollen, dass
das aufgeschrieben wird, dass wir das vereinbaren und
dass wir als Parlament den Beschluss fassen, dass es einen umfangreichen Katalog von Minderheitenrechten
gibt.
Dazu gehört zum Beispiel die Frage, einen Untersuchungsausschuss zu beantragen. Es muss ferner sichergestellt werden, dass im Verteidigungsausschuss die
Untersuchung eines bestimmten Gegenstandes möglich
ist. Das hatten wir in der letzten Legislaturperiode oft.
Deshalb war uns das wichtig; man denke nur an das
Thema „Euro Hawk“ und den Untersuchungsausschuss
dazu in der letzten Legislaturperiode.
Ein weiteres Thema sind Ausschussanhörungen. Wir
wollen, dass die Opposition bzw. eine Minderheit
verlangen kann, dass öffentliche Anhörungen zu Gesetzentwürfen stattfinden. Ein anderes Thema ist die Einrichtung einer Enquete-Kommission. Darüber hinaus
werden die Minderheitenrechte in Bezug auf das ESMFinanzierungsgesetz und die Subsidiaritätsklage gesichert sein. Das sind einfach wichtige Punkte, die jetzt in
diesen elf Nummern des neuen § 126 a Abs. 1 unserer
Geschäftsordnung fixiert werden für diese besondere
Situation: 80 Prozent Große Koalition und 20 Prozent
Opposition. Das ist uns ganz wichtig gewesen. Dass
diese dann auch noch abweichungsfest sind, das heißt
mit den Stimmen von Union und SPD nicht geändert
werden können, ist ein weiterer ganz wichtiger Punkt.
Ich bin froh, dass wir am Ende dieser Beratung hier gelandet sind.
({1})
Es ist völlig klar, dass wir - das haben auch die Initiativen von Grünen und Linken gemeinsam gezeigt - an
einem anderen Punkt gestartet sind. Wir hatten uns vorgestellt: Geschäftsordnung und Gesetze werden geändert. - Wenn man verhandelt, muss man aber ab einem
bestimmten Punkt einfach zur Kenntnis nehmen, dass
bei den 80 Prozent im Deutschen Bundestag keine Bereitschaft besteht, auch Gesetze zu ändern. Dann muss
man gucken, dass man die Geschäftsordnung entsprechend ändert. An diesem Punkt sind wir jetzt.
Über das Ergebnis bin ich froh. Deshalb konnten wir
unserer Fraktion ganz klar sagen: Das bedeutet eine massive Verbesserung in der Situation, in der wir gerade
sind, nämlich 80 Prozent Mehrheit und 20 Prozent
Opposition. Unsere Minderheitenrechte werden in der
Geschäftsordnung fixiert. Wir können sie rechtssicher
verankern. Wir können sie gegenüber den anderen Fraktionen im Parlament einfordern und einklagen.
({2})
Das ist klar. Das ist ein wichtiger Punkt.
Ich bin froh, dass wir heute hier stehen. Jetzt ist die
Arbeitsfähigkeit dieses Parlaments endlich ein Stück
weit mehr gesichert, und wir brauchen nicht jede Woche
darüber zu diskutieren: Wie gehen wir mit einzelnen
Fragen um? Haben wir jetzt das Recht auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses, oder nicht? Deshalb
können wir heute der vorgesehenen Änderung der Geschäftsordnung sehr beruhigt zustimmen. Ich bin froh,
dass wir das hingekriegt haben.
Ich weiß, dass wir bei der Redezeit keine Verständigung haben - aber die Redezeit ist heute nicht Gegenstand der Abstimmung; es geht hier um die elf Nummern. Aber sonst, finde ich, hat sich Beharrlichkeit
gelohnt. Es hat sich gelohnt, mit einer gewissen Hartnäckigkeit darauf zu bestehen, dass wir das verankert
bekommen. Deshalb wird meine Fraktion heute auch zustimmen.
Vielen Dank.
({3})
Schönen Dank. - Nächster Redner ist Dr. Johann D.
Wadephul, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich möchte der Kollegin Haßelmann ganz herzlich für den Redebeitrag danken. Er bringt das zum Ausdruck, was im Geschäftsordnungsausschuss der Geist
der Auseinandersetzung gewesen ist - wir haben streitige Beratungen gehabt -, aber er bringt auch zum Ausdruck, zu welcher Einigung man in einer vernünftigen,
sachlichen und ergebnisorientierten Ausschussarbeit in
diesem Hause fähig ist. Ich denke, es ist ein Stück auch
der Kultur unseres Hauses, dass wir diese Legislaturperiode mit einem solchen Projekt beginnen, nämlich dass
wir an dieser Stelle wichtige Rechte derjenigen Abgeordneten und derjenigen Fraktionen wahren, die die
Regierung nicht tragen. Das zu berücksichtigen, das zu
fixieren, das auch in einer Plenardebatte miteinander zu
erörtern und darüber abzustimmen - ich finde, darauf
kann der Deutsche Bundestag insgesamt stolz sein. Das
ist keine Selbstverständlichkeit.
({0})
Ich bin etwas betrübt darüber, wie die Linksfraktion
sich in diesem Hause verhält, obwohl mein politisches
Seelenheil, dasjenige meiner Fraktion und, ich glaube,
auch dasjenige der Großen Koalition insgesamt nicht
davon abhängen.
({1})
Dennoch, Frau Kollegin Sitte, Sie wissen: Wir haben
wirklich sehr gerungen. Wir sind auch an die Grenzen
dessen gegangen, was aus Sicht einer Majorität insgesamt Berücksichtigung finden kann. Ich finde es schade,
dass Sie an dieser Stelle versuchen, Haare in der Suppe
zu finden, um eine Enthaltung Ihrer Fraktion noch irgendwie zu begründen. Sie fangen jetzt an - ich habe das
vorhin nur so vernommen -, von Rechtsunsicherheiten
und pseudokreativer Auslegung der Geschäftsordnung
zu sprechen. Was sollen solche Begrifflichkeiten? Es
steht glasklar drin, was wir zusagen. Ich glaube, so etwas
hat es noch nie gegeben. Wir sagen Rechte zu: 120 Abgeordnete können etwas beantragen, und das ändern wir
nicht. - Ich kenne nicht so viele Gesetze, von denen wir
sagen: Die ändern wir in dieser Legislaturperiode definitiv um keinen Millimeter. - Man möge mich eines Besseren belehren! Wir legen uns hier für diese Legislaturperiode glasklar fest.
Daran herumzukritteln, das irgendwie infrage zu stellen, das mit Rechtsunsicherheit in Verbindung zu bringen, in diesem Zusammenhang Wörter wie „kreativ“
oder „pseudokreativ“ zu benutzen - ich meine, wenn wir
kreativ sind, sind wir richtig kreativ, nicht pseudokreativ; das am Rande -,
({2})
das Ganze hier irgendwie zu diskreditieren, finde ich unnötig. Das zeigt, dass Ihnen wirklich die Kraft dazu
fehlt, sich hier zu etwas zu bekennen und in diesem Haus
konstruktiv mitzuwirken. Diese Bemerkung sei mir gestattet.
({3})
- Sie sollten aber zur Kenntnis nehmen, dass die Veränderung, die wir nach den Ausschussberatungen vorgenommen haben, also das Zurückgehen auf 120 Abgeordnete, Ausdruck der Anerkenntnis war, dass wir das
Recht des einzelnen Abgeordneten, sich frei zu entscheiden, nur seinem Gewissen gegenüber verantwortlich zu
sein, kennen und dass wir das auch mit Blick auf die
Oppositionsabgeordneten respektieren. Das heißt, dass
wir von Ihnen nicht verlangen - anders als es im ersten
Antragsentwurf stand -, dass die gesamten Fraktionen,
alle Abgeordneten einer Fraktion, immer zustimmen
müssen,
({4})
weil wir aus eigener Erfahrung wissen, Frau Sitte, dass
es immer einzelne Abgeordnete geben kann, die einer
Vorlage nicht zustimmen.
({5})
Das ist für uns eine wichtige Sache, die wir an dieser
Stelle zugestanden haben.
Ich kann Ihnen nur noch sagen: Wenn Sie die Möglichkeit haben, mit der Zustimmung von 120 Abgeordneten einen Untersuchungsausschuss - er ist das wichtigste Instrumentarium, über das wir in der Sache
miteinander streiten - einzusetzen, dann kann ich nur sagen: In der Tat kann man uns das Wahlergebnis nicht
vorwerfen, aber Opposition machen müssen Sie am
Schluss schon selber, meine sehr verehrten Damen und
Herren von der Linksfraktion.
({6})
Das können wir Ihnen nicht auch noch abnehmen, sondern Sie müssen sich schon der Möglichkeiten bedienen,
die Sie an dieser Stelle haben.
Ich will etwas zu Ihren Gesetzentwürfen zu einer Verfassungsänderung sagen; Sie haben das ja ganz offen
hier gerade eben noch einmal vorgetragen. Ich finde es
schon bedenklich: Der Ausschuss führt eine Anhörung
durch. Sie beantragen eine Änderung der Geschäftsordnung und eine Änderung einfacher Gesetze, unter anderem des Parlamentarischen Untersuchungsausschussgesetzes. Dazu sagt ein Sachverständiger, vielleicht auch
ein zweiter:
({7})
Das kann man wohl nicht machen, weil im Grundgesetz
etwas anderes steht. - Das ist übrigens auch unsere Auffassung. Dann sagen Sie: Okay, dieser Satz reicht uns
aus. Wir beantragen mal eben fünf Verfassungsänderungen. - Diese schlagen Sie uns hier vor. Darüber sollen
wir gleich namentlich abstimmen. Ich finde schon, was
die Debattenkultur und die Verhandlungskultur in diesem Hause angeht, dass das ein einmaliger Vorgang ist.
Man beginnt ja, sich Wolfgang Nešković zurückzuwünschen. Sie in der Linksfraktion vielleicht nicht; aber mir
geht es langsam so. Er hatte in diesen Fragen ja zumindest noch Stil und Form.
({8})
Sie können doch nicht aus einer Anhörung, die sich
auf die Geschäftsordnung und einfache Gesetze bezieht,
einfach herleiten, dass man mal eben an fünf Stellen das
Grundgesetz verändert.
({9})
Dass wir darüber hier namentlich abstimmen, finde ich
ein wirklich sehr gewagtes Vorgehen. Das will ich an
dieser Stelle erklären.
Herr Kollege Wadephul, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Sitte?
Ja, bitte.
Bitte schön, Frau Sitte.
Herr Wadephul, zu der Frage „Kooperativität oder
nicht?“ will ich mich jetzt gar nicht äußern.
Wir haben im Ausschuss darüber geredet, ob wir dazu
eine Anhörung durchführen. Ich habe ausdrücklich darum gebeten, dass wir diese Anhörung durchführen, weil
uns als Linke die Frage wichtig ist, ob sich die in unserem gemeinsamen Antrag vorgeschlagene Regelung zur
Normenkontrollklage ohne Grundgesetzänderung überhaupt rechtlich absichern lässt. Die Berechtigung dieser
Frage haben alle, nicht nur Professor Mahrenholz, gesehen. Selbst die Verfassungsrechtlerin der Grünen, die
diesen Vorschlag unterbreitet hat, hat am Ende dieser
Anhörung gesagt: Ja, meine Kollegen haben recht. Es
müsste eine Änderung oder eine Ergänzung des Grundgesetzes erfolgen. - Daraufhin habe ich angekündigt:
Wenn es sich tatsächlich bewahrheitet, dass sich der Weg
über eine Änderung des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes nicht realisieren lässt, dann werden wir den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes
einbringen.
({0})
Nun gab es einige Irritationen, weil wir diesen
Gesetzentwurf nach der Anhörung vorgelegt haben.
Wenn ich im Ausschuss zu Ihnen gesagt hätte: „Liebe
Kollegen, wir benötigen noch eine Anhörung zu unserem Gesetzentwurf zur Änderung des Grundgesetzes“,
dann hätten Sie gesagt: Wieso? Das haben wir doch gerade ausführlich von den Expertinnen und Experten dargestellt bekommen. - Insofern ist das ein Ergebnis dieser
Anhörung. Ich lege Wert darauf, dass mir hier nicht unterstellt wird, wir hätten an der Stelle gepokert. Das war
eine ganz klare Ansage, von Anfang an.
Ich habe es vorhin gesagt: Wir können bei der Normenkontrolle doch nicht eine Änderung zu einem einzigen Quorum vorlegen. Dann hätte doch jeder von Ihnen
gesagt: Das ist inkonsequent; es sind doch auch an anderer Stelle des Grundgesetzes - ob es um die Einberufung
des Bundestages oder die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses bzw. des Verteidigungsausschusses
als Untersuchungsausschuss angeht - entsprechende
Quoren. Man kann uns doch nicht vorwerfen, dass wir
an dieser Stelle die Ergänzung des Grundgesetzes konsequent zu Ende denken.
({1})
In der Sache sehe ich da gar keinen Widerspruch. Ich
weiß, was die Sachverständigen gesagt haben, und ich
weiß auch, dass Sie gesagt haben, dass Sie auf eine weitere Anhörung verzichten.
({0})
Ich habe Sie, weil mir das wichtig war, gestern im Ausschuss ausdrücklich gefragt, ob Sie dazu noch eine Anhörung wollten. Da haben Sie gesagt: Nein. - Frau Sitte,
um das klar zu sagen: Es hat keine Anhörung zu Ihren
Vorschlägen zur Änderung des Grundgesetzes gegeben,
sondern es hat eine Anhörung gegeben zu Ihrem Antrag,
die Geschäftsordnung zu ändern, und zu Ihrem Gesetzentwurf zur Änderung des PUAG.
({1})
- Nein. Es ist schon ein großer Unterschied, ob man einen Sachverständigen dazu anhört, ob eine einfachgesetzliche Änderung durchgeführt werden kann - ohne
das Grundgesetz zu ändern -, oder ob Sie - das hätte
dann erfolgen müssen - mehreren Sachverständigen
konkret die von Ihnen beabsichtigten Grundgesetzänderungen vorlegen. Dann hätten wir nämlich ganz andere
Fragen erörtert - auf diese Fragen kommt es aus meiner
Sicht an -: Ist es richtig vor der historischen Erfahrung,
die die Mütter und Väter des Grundgesetzes dazu bewogen hat, gewisse Quoren festzulegen, nur weil wir in
dieser Wahlperiode Mehrheitsverhältnisse zwischen Koalition und Opposition im Verhältnis 80 : 20 haben, das
Grundgesetz an mehreren Stellen zu ändern? Meine Antwort darauf ist: Nein.
({2})
Wir sollten das Grundgesetz nicht immer gleich zur Disposition stellen. Zu dieser Frage ist kein einziger Sachverständiger angehört worden.
({3})
Das ist meine Kritik, und diesen Punkt halte ich wirklich
für problematisch.
({4})
- Na ja, wir haben zweimal miteinander über diese Frage
diskutiert, und Sie kennen unsere Auffassung dazu.
({5})
Wenn Sie beklagen, dass die Mitwirkungsmöglichkeiten nach wie vor nicht ausreichend sind, möchte ich dazu
nur Folgendes sagen: Wenn wir den einzelnen Abgeordneten wertschätzen und zugestehen, dass nicht immer
alle Oppositionsabgeordneten zustimmen müssen, wenn
die Opposition ihre Minderheitenrechte ausüben möchte,
dann machen wir das deshalb, weil uns Art. 38 des
Grundgesetzes wichtig ist: Der einzelne Abgeordnete ist
nur seinem Gewissen unterworfen; er hat eine singuläre
Bedeutung für dieses Haus. Das gilt aber auch für die
Abgeordneten der Mehrheitsfraktionen, die bei den
Wünschen, die hier weiter vorgetragen worden sind, insbesondere was die Redezeit angeht, gegenüber Oppositionsabgeordneten dann in eine wirklich deutlich nachrangige Position kommen würden. Es ist schon jetzt so,
dass Abgeordnete aus den Mehrheitsfraktionen hier sehr
viel weniger reden können als Abgeordnete aus den Oppositionsfraktionen. Sie sollten darüber nachdenken,
dass wir hier gewisse Grenzen einhalten müssen,
({6})
dass wir auch die Rechte derjenigen Abgeordneten ernst
nehmen müssen, die die Regierung jetzt tragen. Auch sie
sind frei gewählte Abgeordnete, auch sie müssen frei abstimmen können, auch sie müssen ihre Möglichkeiten
hier frei entfalten können, reden können wie die Abgeordneten der Opposition. Deswegen, glaube ich, ist das
Ergebnis insgesamt sehr ausgewogen.
Herr Kollege Wadephul, wir haben auch jetzt schon
Regeln zur Redezeit.
Vielen Dank.
({0})
Danke schön. - Nächste Rednerin ist Katja Keul,
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich bin wirklich sehr erleichtert, dass wir Sie
doch noch davon überzeugen konnten, die Geschäftsordnung zu ändern. Der Kollege Kaster hat zu Beginn seiner
Rede noch einmal betont, welche Bedeutung dieser Geschäftsordnung zukommt. Es wäre doch höchst unbefriedigend gewesen, einen zusätzlichen Bundestagsbeschluss zu haben, wie Sie das ursprünglich beabsichtigt
hatten, der neben der Geschäftsordnung steht und auch
noch von dieser abweicht. Man hätte dann gleichrangiges, sich widersprechendes Recht gehabt. Das wäre
wirklich kein Qualifikationsnachweis für einen Gesetzgeber gewesen. Deswegen bin ich sehr erleichtert, dass
wir Sie davon überzeugen konnten, die Geschäftsordnung zu ändern.
({0})
Die meisten Punkte - nicht alle - ließen sich befriedigend in der Geschäftsordnung regeln. Da wir nach dieser
Änderung der Geschäftsordnung 25 Prozent Oppositionsvertreter in einen Untersuchungsausschuss schicken
können, kann das PUAG in seiner bisherigen Form angewendet werden, weil die Quote von 25 Prozent für den
Untersuchungsausschuss erfüllt wird. Hier funktioniert
das also. Es funktioniert allerdings nicht beim Verteidigungsausschuss, wenn er in seiner Gesamtheit zum Untersuchungsausschuss wird, weil hier das Quorum nicht
erfüllt ist. An dieser Stelle hätte man eine Gesetzesänderung vornehmen müssen. Die Formulierung, die Sie jetzt
dazu vorgeschlagen haben, löst das Problem zwar nicht,
lässt aber zumindest Ihren guten Willen glaubhaft erkennen, sodass wir daran die Einigung nicht scheitern lassen
wollen.
({1})
Aufgrund der Einigung haben sich unsere beiden Vorlagen aus unserer Sicht erledigt. Leider blieb es uns verwehrt, diese hier heute für erledigt zu erklären, da die
Fraktion Die Linke das anders sieht, sodass wir hier
noch darüber abstimmen werden.
Eine Grundgesetzänderung haben wir von Anfang an
nicht für erforderlich gehalten; denn das Grundgesetz
legt in Art. 44 fest, dass wir das Recht und auf Antrag
von 25 Prozent der Mitglieder des Bundestages die
Pflicht haben, einen Untersuchungsausschuss einzusetzen. Das heißt also, dass der Bundestag ab 25 Prozent
keinen Spielraum mehr hat. Für die Fälle, in denen wir
darunter liegen, steht es uns als Bundestag frei, anderweitige Regelungen zu treffen, was wir heute tun. Frau
Sitte, ich will Ihnen Art. 44 Abs. 1 des Grundgesetzes
vorlesen. Darin steht:
Der Bundestag hat das Recht und auf Antrag eines
Viertels seiner Mitglieder die Pflicht, einen Untersuchungsausschuss einzusetzen …
Das heißt, wir haben das Recht, verbindlich zu beschließen, schon bei einem Antrag von weniger als 25 Prozent
der Abgeordneten einen Untersuchungsausschuss verbindlich einzurichten, und das tun wir jetzt.
({2})
Zuletzt komme ich zur Normenkontrolle. Dazu ist ja
schon viel gesagt worden. Das Grundgesetz sieht in
Art. 93 vor, dass die Normenkontrolle von einer Landesregierung, von der Bundesregierung oder auch von
25 Prozent der Mitglieder des Bundestages eingeleitet
werden kann. Wir haben durchaus ein Interesse daran,
darüber zu debattieren. Allein das ist der Grund dafür,
warum wir uns bei der Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke freundlicherweise noch enthalten. Vor dem Hintergrund, dass Sie im Zusammenhang mit den Minderheitenrechten fünf umfangreiche
Grundgesetzänderungen im Schnellverfahren beantragen, würden mir hier durchaus deutlichere Worte einfallen. Ihr Vorgehen, diese Grundgesetzänderungen in
erster Lesung auch noch ohne Debatte auf die Tagesordnung gesetzt zu haben, zeigt ja, dass Sie es damit nicht
wirklich ernst meinen.
({3})
Denken Sie bitte an die Redezeit!
Mit der heutigen Änderung der Geschäftsordnung
zeigen wir, dass die Opposition auch in der heutigen Zusammensetzung in der Lage ist, ihre Rechte angemessen
durchzusetzen, und dass der Bundestag eben doch ein
lernfähiges Parlament mit der erforderlichen demokratischen Kultur ist.
Vielen Dank.
({0})
Nächste Rednerin ist Frau Dr. Katarina Barley, SPDFraktion.
({0})
Verehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen
und Kollegen! Es ist ja nicht wirklich ein Geheimnis,
dass für einige Menschen in der Bundesrepublik
Deutschland diese Große Koalition nicht unbedingt die
Wunschkonstellation nach der letzten Bundestagswahl
war.
({0})
Das hatte damit zu tun, dass diese übergroße Mehrheit in
der Öffentlichkeit als erdrückend wahrgenommen und
allgemein die Befürchtung geäußert wurde, die Minderheitenrechte könnten zu kurz kommen.
Nun hat der geschätzte Bundestagspräsident schon in
der konstituierenden Sitzung bemerkt, dass große Mehrheiten nicht per se verfassungswidrig sind.
({1})
Aber daran, dass wir uns alle einig sind, dass eine funktionierende Demokratie eine funktionierende und wirkungsvolle Opposition braucht, kann ja kein Zweifel bestehen.
Den Mehrheitsfraktionen war dieses Anliegen so
wichtig, dass wir es ausdrücklich im Koalitionsvertrag
aufgenommen haben. Ich sage das so ausdrücklich, weil
man sich das wirklich auf der Zunge zergehen lassen und
auch einmal in einen internationalen und historischen
Kontext stellen muss. Man muss sich das einmal vor Augen führen: Wenn sich eine Mehrheit, die, wenn man es
einmal ganz salopp formuliert, alles plattmachen könnte,
wochenlang damit beschäftigt, wie man der Minderheit
am effektivsten und sinnvollsten bestimmte Rechte einräumen kann, dann ist dies, wenn man es mit dem Vorgehen in vielen anderen Staaten mit durchaus längerer
demokratischer Tradition vergleicht, schon ein sehr bemerkenswerter Vorgang,
({2})
noch dazu in einem Land, das hinsichtlich seiner demokratischen Tradition durchaus einige Anlaufschwierigkeiten hatte. Vor diesem Hintergrund möchte ich sagen,
dass dieser Tag ein guter Tag für die Demokratie in
Deutschland und für unsere gemeinsame parlamentarische Arbeit ist.
({3})
Der erste Vorschlag unseres Bundestagspräsidenten
war, hier mit einem einfachen Bundestagsbeschluss vorzugehen. Das fand die Opposition zu wenig verbindlich.
Es war wohl auch ein Mangel an Vertrauen vorhanden,
dass wir das wirklich ernst meinen. Aber ich glaube,
dass der weitere Verlauf der Diskussionen und der Verhandlungen und auch das Ergebnis bewiesen haben, dass
dieses Misstrauen nicht gerechtfertigt war. Umso erfreulicher ist es, dass wir aus der beiderseitigen Unzufriedenheit herausgefunden und sehr konstruktiv miteinander
verhandelt haben. Das erweiterte Berichterstattergespräch mit den Sachverständigen wurde schon erwähnt;
das war sicherlich für alle Seiten sehr hilfreich. Wir haben es uns also nicht einfach gemacht. Im Ergebnis haben wir uns von beiden Seiten angenähert. Dafür bedanke ich mich bei den Vertreterinnen und Vertretern
ausdrücklich aller Fraktionen noch einmal sehr herzlich.
Wir haben nun einen Antrag zur Änderung der Geschäftsordnung vorliegen. Das war aus meiner Sicht,
verehrte Kollegin Keul, immer der richtige Ort, um Änderungen vorzunehmen, weil es die Bedürfnisse einer
spezifischen Legislaturperiode betrifft. Wir haben in diesem Antrag auch festgelegt, dass wir von den Änderungen nicht mit Zweidrittelmehrheit abweichen können.
({4})
Ich möchte betonen, dass ich die gefundene Lösung
für die systematisch bessere Lösung halte als die, die wir
ursprünglich vorgesehen hatten; denn bisher sind im
Grundgesetz Rechte für einzelne Abgeordnete, für Fraktionen und für eine bestimmte Anzahl von Abgeordneten
vorgesehen. Was es nicht gibt, sind Rechte der Opposition. Ich finde es gut, dass wir mit unserem Vorschlag in
der Systematik bleiben und nicht für eine Legislaturperiode ein ganz neues Instrument schaffen, nämlich
Rechte von Angehörigen der Oppositionsfraktionen hier
im Plenum. Wir haben damit zwei Probleme ausgeräumt. Ein Problem ist schon erwähnt worden: Der ursprüngliche Entwurf sah vor, dass alle Abgeordneten der
Oppositionsfraktionen die Minderheitenrechte gemeinsam wahrnehmen. Es wurde eingewandt, dass schon das
Fehlen eines Abgeordneten bzw. einer Einigung die Wahrnehmung der Minderheitenrechte verhindern könnte. Darauf sind wir eingegangen. Die jetzt gefundene Lösung
ist ein sehr praktikables Instrument, auch für die Opposition; aber ich betone: auch für die Opposition.
Durch die Regelung, dass 120 Mitglieder des Parlaments die Minderheitenrechte wahrnehmen können,
wird nicht mehr zwischen Angehörigen der Regierungsfraktionen und Angehörigen der Oppositionsfraktionen
differenziert. Ursprünglich war vorgesehen - das war
das zweite Problem -, dass 20 Prozent der Oppositionsfraktionen bestimmte Rechte hätten wahrnehmen können. Bei den Mehrheitsfraktionen hätten es 25 oder eben
auch 33 Prozent sein müssen. Aber alle Abgeordneten
müssen im Grundsatz die gleichen Rechte haben; denn
wir alle gemeinsam und nicht nur die Opposition kontrollieren die Regierung. Das nennt man in Deutschland
Gewaltenteilung, und daran sollten wir festhalten.
({5})
Natürlich haben Sie sich weiter gehende Änderungen
gewünscht. Die Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, in diesem Falle von der Linken, wollten mehrere Änderungen des Grundgesetzes erreichen. Das betrifft vor allen Dingen die abstrakte Normenkontrolle.
Dazu nur ganz kurz: Wenn Sie vor das Bundesverfassungsgericht ziehen wollen, dann ist ein solcher Antrag
auf Normenkontrolle sicherlich zulässig, wenn es um
Ihre eigenen Rechte geht. Als Abgeordnete müssen Sie
kein Quorum einhalten; das ist so und das bleibt Gott sei
Dank auch so. Aber ich glaube nicht, dass ein solcher
Antrag begründet wäre; denn im Grundgesetz selbst ist
vorgesehen, dass ein Viertel der Abgeordneten das Quorum für die abstrakte Normenkontrolle ist.
({6})
Ich komme gleich zum Ende. - Es wird nicht ganz
einfach sein, vorzutragen, dass das Grundgesetz selbst in
diesem Punkt gegen das Grundgesetz verstößt. Es ist
auch nicht sachgerecht, das Grundgesetz in jeder Legislatur den veränderten Mehrheiten anzupassen. Aber vor
allen Dingen ist eben die Normenkontrolle kein Minderheitenrecht, sondern eine Verfahrensart unter mehreren
für verschiedene Akteure.
Kurz gesagt: Ich bin wirklich froh, dass wir eine so
breite Mehrheit für die Änderung der Geschäftsordnung
gefunden haben. Ich glaube, dass heute ein guter Tag für
die politische Kultur ist und dass es auch ein Signal nach
außen ist. Dafür möchte ich mich sehr herzlich bedanken.
({0})
Das Wort zu einer Kurzintervention hat die Kollegin
Wawzyniak.
Ich nutze das Instrument der Kurzintervention, weil
zum zweiten Mal eine Frage, die der Kollege Ströbele
der Kollegin Sitte gestellt hat und die ich weiterreichen
wollte, nicht beantwortet werden kann. Ich würde mich
freuen, wenn die nächsten Rednerinnen und Redner mir
bitte einmal erklären könnten, wie ich als Bundestagsabgeordnete von Gesetzen, die zum Beispiel Hartz IV betreffen, selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen
sein soll, sodass ich Verfassungsbeschwerde einlegen
kann. Das Argument von Herrn Ströbele war ja, man
könne als Bundestagsabgeordneter Verfassungsbeschwerde einreichen. Vielleicht kann mir das einer der
nächsten Redner erklären. Ich freue mich auf die Erklärung.
Danke.
Danke schön. - Frau Kollegin Barley, möchten Sie
darauf antworten? - Das ist nicht der Fall.
Dann hat jetzt Dr. Stefan Heck das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Ich freue mich, dass ich meine erste Rede im
Deutschen Bundestag zu diesem wichtigen verfassungsrechtlichen Thema halten darf.
({0})
Für uns alle ist klar: Es entspricht dem Wesen der Demokratie, dass am Ende die Mehrheit entscheidet. Es ist dieses Prinzip, das alle demokratischen Kräfte am Ende
eint. Aber zu einer funktionierenden und lebendigen Demokratie gehört darüber hinaus eine vernehmbare und
lebendige Opposition.
Es ist gut, dass wir bereits heute im europäischen Vergleich sehr weit gehende Minderheitenrechte in der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages verankert
haben. Jede Fraktion kann unabhängig von ihrer Größe
Gesetzentwürfe einbringen, namentliche Abstimmungen verlangen, Große und Kleine Anfragen stellen, Aktuelle Stunden beantragen und nicht zuletzt auch Regierungsmitglieder herbeizitieren. Trotzdem haben die
Koalitionsfraktionen aufgrund der besonderen Situation, in der wir uns in dieser Legislaturperiode befinden,
von Anfang an zugesagt, die Minderheitenrechte noch
weiter auszubauen. Wir haben Wort gehalten und legen
Ihnen heute einen Vorschlag vor, der Ihnen sehr weit entgegenkommt.
Wenn man die Wortbeiträge hier verfolgt, dann besteht kein Zweifel daran, dass das Thema, über das wir
heute sprechen, grundlegende Fragen berührt. Es entspricht dem Wesen des Rechtsstaates, dass die Verfassung über der Tagespolitik, über einzelnen Sachentscheidungen und nicht zuletzt auch über den jeweils
herrschenden Mehrheitsverhältnissen im Deutschen
Bundestag steht. Deswegen, Frau Kollegin Dr. Sitte,
sollten wir zurückhaltend sein, wenn es darum geht, das
Grundgesetz zu ändern. Das Grundgesetz ist kein Gesetz
wie jedes andere. Seine Änderung muss die Ausnahme
bleiben und darf nicht zur Regel werden.
({1})
Die Debatte, die wir in diesem Zusammenhang führen, ist gelegentlich etwas paradox: Zunächst hat die Opposition in den ersten Wortmeldungen nach der Wahl
landauf, landab davor gewarnt, man müsse das Grundgesetz vor der Zweidrittelmehrheit der Großen Koalition
schützen, und jetzt fordert die Linksfraktion, wir sollten
mit der gleichen, vormals angeblich noch bedrohlichen
Mehrheit die Verfassung in ihrem Sinne ändern, um die
Linksfraktion vor der Großen Koalition zu schützen.
Heute so und morgen anders. Wenn Sie meinen, mit
8,6 Prozent der Wählerstimmen die Verfassung jeweils
nach Ihrem Gusto gestalten zu können, dann stellen Sie
die Dinge reichlich auf den Kopf.
({2})
Das passt nicht zusammen, und dabei machen wir nicht
mit.
Wir haben uns heute aus guten Gründen dafür entschieden, dass wir die wesentlichen Punkte der Minderheitenrechte in der Geschäftsordnung statt in der Verfassung ändern. Ich möchte gerne drei Punkte ansprechen,
die aus meiner Sicht wichtig sind.
Erstens. Es ist falsch, wenn Sie hier von Oppositionsrechten sprechen. Die Verfassung kennt den Begriff der
Opposition nicht, und zwar aus gutem Grund. Es gibt im
Deutschen Bundestag keine Abgeordneten erster und
zweiter Klasse. Wir alle sind in unserer Rechtsstellung
gleich, unabhängig von unserem Lebensalter, unabhängig von der Parlamentserfahrung und eben auch unabhängig von der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Fraktion. Wir alle haben die gleichen Rechte, und wir alle
haben auch gemeinsame Aufgaben und gemeinsame
Pflichten. Das ist vor allem, die Regierung zu kontrollieren.
Bei Fragen der Europäischen Union, der Integration,
aber auch bei Fragen unserer eigenen Rechtsstellung denken Sie an die Debatte über die Offenlegungspflichten - haben sich in den verfassungsrechtlichen Verfahren
immer wieder ganz bemerkenswerte Allianzen quer
durch die Fraktionen gebildet. Es ist unsere gemeinsame
Aufgabe, die Regierung zu kontrollieren, und diese Aufgabe sollten wir gemeinsam selbstbewusst wahrnehmen.
({3})
Eines steht jedenfalls fest: Sie sind keine besseren Abgeordneten, nur weil Sie in der Opposition sind.
Zweitens. Der Ausgangspunkt unserer Arbeit ist und
bleibt die Wahl zum Deutschen Bundestag. Bei dieser
Wahl haben CDU und CSU fast die absolute Mehrheit
der Mandate erreicht. Trotzdem war es uns wichtig, Ihnen im Interesse des gesamten Parlamentes entgegenzukommen. Bei den Redezeiten erhalten Sie bereits jetzt
zwischen 26 und sogar 32 Prozent, obwohl Ihnen nach
dem Wahlergebnis eigentlich nur 17 Prozent zustehen.
Darüber hinaus können Sie künftig schon mit 120 Abgeordneten Untersuchungsausschüsse und Enquete-Kommissionen einsetzen. Aber bei allem Entgegenkommen
in Verfahrensfragen muss am Ende auch deutlich bleiben, wo die Mehrheit in diesem Hause ist. Wir haben
von den Wählerinnen und Wählern einen klaren Gestaltungsauftrag bekommen, und den nehmen wir auch an.
({4})
Drittens. Ich möchte nochmals auf den bis zuletzt
streitigen Punkt der verfassungsrechtlichen Verfahren
eingehen. Das erforderliche Quorum für die abstrakte
Normenkontrolle wurde bereits 2008 von einem Drittel
auf ein Viertel der Mitglieder des Deutschen Bundestages abgesenkt. Wir haben uns heute mit guten Gründen,
wie ich finde, dafür entschieden, dieses Quorum nicht
noch weiter abzusenken. Die abstrakte Normenkontrolle
ist nämlich kein originäres Minderheitenrecht, sondern
in erster Linie ein objektives Beanstandungsverfahren.
Zudem - wir haben das eben von Ihnen, Herr Ströbele,
gehört - ist die abstrakte Normenkontrolle, die von verschiedenen Antragstellern geltend gemacht werden
kann, insbesondere von Landesregierungen, nicht die
einzige Möglichkeit, ein Gesetz zur Überprüfung vor das
Bundesverfassungsgericht zu bringen. Es zeichnet unseren Rechtsstaat gerade aus, dass wir die Möglichkeit haben, dass jeder Bürger über die Verfassungsbeschwerde
die Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes geltend machen kann.
An dieser Stelle will ich noch auf eines hinweisen. Ich
finde, wir als Abgeordnete sollten uns auch davor hüten,
immer mehr politische Streitfragen unter juristischem
Vorwand von Berlin nach Karlsruhe zu verlagern oder
auch verlagern zu lassen.
({5})
Wir sollten die grundlegenden Entscheidungen unseres
Landes hier im Bundestag besprechen; denn hier gehören sie hin.
Zusammenfassend ist zu sagen: Wir haben heute nach
intensiven und konstruktiven Gesprächen einen guten
und ausgewogenen Änderungsvorschlag vorliegen, der
dem Mehrheitsprinzip Rechnung trägt, aber auch den berechtigten Anliegen der Minderheit in diesem Parlament
sehr weitgehend entgegenkommt.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Heck. Ich gratuliere
Ihnen ganz herzlich zu Ihrer ersten Rede.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie noch
um zehn Minuten Konzentration. - Nächster Redner in
der Debatte ist Dr. Johannes Fechner, SPD-Fraktion, der
auch seine erste Rede hier hält.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In der Tat gab es die Sorge, dass diese riesige Mehrheit
der Großen Koalition die Opposition in einer effektiven
Arbeit einschränkt. Aber schon im Koalitionsvertrag haben wir uns vorgenommen, die Minderheitenrechte angesichts dieser sehr großen Mehrheit zu verbessern. Ich
möchte es nochmals zitieren, weil ich es schon für einen
einmaligen Vorgang halte, dass sich die Regierung so um
die Opposition kümmert.
({0})
Wir haben hier geregelt:
Eine starke Demokratie braucht die Opposition im
Parlament. CDU, CSU und SPD werden die Minderheitenrechte im Bundestag schützen.
Auf Initiative der Koalitionspartner wird der Bundestag einen Beschluss fassen, der den Oppositionsfraktionen die Wahrnehmung von Minderheitenrechten ermöglicht sowie die Abgeordneten der
Opposition bei der Redezeitverteilung angemessen
berücksichtigt.
Genau diese Zusage haben wir eingehalten.
({1})
Das ist ein wichtiges Zeichen für die politische Kultur in
Deutschland.
Ich freue mich, dass im Geschäftsordnungsausschuss
nahezu einstimmig - nur mit Ihrer Enthaltung - diese
Regelung beschlossen wurde. Dadurch verbessern wir
die Rechte der Opposition ganz erheblich. Sie können
jetzt einen Untersuchungsausschuss einsetzen, Subsidiaritätsklage erheben und die Einsetzung von EnqueteKommissionen verlangen, um nur die wichtigsten Möglichkeiten zu nennen. Insbesondere bei der Einsetzung
von Untersuchungsausschüssen haben wir - ich will
mich hier kurzfassen, da das schon genannt wurde - die
Vorschläge der Sachverständigen aufgenommen und es
ermöglicht, dass schon 120 Mitglieder des Bundestages - Sie haben zusammen 127 - die Einsetzung eines
Untersuchungsausschusses erreichen können.
Außerdem sind wir Ihnen beim Schlüssel für die Verteilung der Redezeiten entgegengekommen. Sie haben
jetzt mehr Redezeit, als Ihnen eigentlich zusteht. Das haben wir gemacht, obwohl das dazu führt, dass die Redezeit der Mehrheitsfraktionen gekürzt wird. Es gibt eine
stattliche Anzahl von SPD- und Unionsabgeordneten,
die hier noch nie reden konnten, während bei Ihnen fast
jeder mindestens zweimal an der Reihe war. Also auch
hier gibt es ein erhebliches Entgegenkommen unsererseits.
({2})
Diese Verbesserungen der Minderheitenrechte sind in
der Geschichte der Demokratie in Deutschland, aber
auch in Europa beispiellos. Es gibt also überhaupt keinen Grund, die parlamentarische Kultur der Großen Koalition zu kritisieren; denn rein verfassungsrechtlich betrachtet - das möchte ich ausdrücklich sagen -, wären
die Änderungen überhaupt nicht erforderlich gewesen.
Aber sie sind politisch sinnvoll, und deswegen machen
wir das. Vorwürfe, dass die Große Koalition ihre Übermacht an Stimmen ausnutze, sind vollkommen unbegründet.
({3})
Das Grundgesetz wollen wir nicht ändern; denn es
handelt sich um eine spezielle Regelung für die
18. Wahlperiode. Ich gehöre zu denjenigen, die darauf
setzen, dass die Große Koalition nicht zum Dauerzustand wird, um es einmal salopp zu formulieren. Deswegen wollen wir das Grundgesetz nicht ändern, erst recht
nicht auf die Art und Weise, wie Sie es tun wollen. Frau
Haßelmann hat zu Recht darauf hingewiesen, dass wir
eine verbindliche Regelung haben, wonach im normalen
Geschäftsbetrieb Änderungen durch eine Zweidrittelmehrheit, wie es nach der Geschäftsordnung möglich
wäre, nicht erfolgen können.
Ich möchte noch einen Satz zur abstrakten Normenkontrollklage sagen. Dieses Instrument ist gerade kein
subjektives Recht, sondern bezieht sich nur auf objektive
Rechtsverletzungen; nur darum geht es. Der Verfassungsgeber hat ganz bewusst geregelt, dass durch die abstrakte Normenklage eine Fülle von Gesetzen angegriffen werden kann - es gibt also einen sehr großen
Anwendungsbereich -, wollte aber im Gegenzug den
Personenkreis derjenigen, die diese Klage erheben können, klein halten. Sie können also keine individuellen
Rechtsverletzungen geltend machen - es sei denn als
Abgeordnete - und nicht jedes Gesetz angreifen. Ich
halte es für eine sehr sinnvolle Regelung, dass der Personenkreis, der eine abstrakte Normenkontrollklage erheben kann, deutlich reduziert ist.
Da hier oft die Vorstellung mitschwingt, nur die Opposition habe die Aufgabe, die Regierung zu kontrollieren: So sehe ich es nicht. Denn trotz unserer großen
Mehrheit ist es Job aller Mitglieder der die Regierung
tragenden Koalitionsfraktionen, die Regierung zu kontrollieren. Auch wir diskutieren konstruktiv-kritisch über
das Regierungshandeln. Keine Vorlage der Regierung
wird von uns blind übernommen. Wir sind sicherlich
nicht bloße Abnicker des Regierungshandelns.
({4})
Wir haben Ihnen nun die Voraussetzungen für eine effektive Oppositionsarbeit geschaffen. Jetzt liegt es an Ihnen, konstruktiv damit umzugehen und eine effektive
Oppositionsarbeit zu leisten. Diesen Appell richte ich
vor allem an die Linksfraktion, die sich heute bedauerlicherweise enthalten wird.
Zum Schluss: Das ist meine erste Rede. Gestatten Sie
mir daher, meiner kleinen Tochter alles Gute zum heutigen Geburtstag zu wünschen.
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank. - Wir gratulieren Ihnen und natürlich
auch Ihrer Tochter ganz herzlich.
({0})
Letzter Redner in der Debatte ist der Kollege GrosseBrömer, CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Gleich bei der ersten Rede das Glück zu haben, dass die kleine Tochter Geburtstag hat und ihr zu
gratulieren, ist bezogen auf die Sympathiewerte für den
nachfolgenden Redner die volle Katastrophe.
({0})
Wie dem auch sei.
Es ist natürlich schön, dass zwei junge Kollegen zum
Thema der Parlamentsrechte der Abgeordneten ihre erste
Rede halten konnten. Ich finde, das ist ein wichtiges
Thema. Es ist gut, dass wir uns intensiv um Regelungen
bemüht haben. Es ist richtig gesagt worden, man hätte
vielleicht gar nichts regeln müssen. Wir haben eine Verfassung. Wir haben ein Parlamentsrecht. Das beinhaltet
in einer großen Fülle Minderheitenrechte. Im Übrigen
gibt es nicht nur für Fraktionen Minderheitenrechte, so
wie es bei den Reden, die wir bislang gehört haben, eingefordert wurde, sondern jeder Einzelne von uns hat natürlich auch Minderheitenrechte. Das muss ich hier keinem erklären. Aber das gehört sicher auch zur gesamten
Debatte.
Wir als Koalition machen heute etwas Einmaliges.
Wir geben freiwillig, nicht zuletzt aufgrund unserer
Größe, Rechte ab und regeln in der Geschäftsordnung
die Stärkung der Opposition. Wir tun das nicht aus Großzügigkeit, sondern wir tun das - daran hat es auch keinen
Zweifel gegeben - aus Überzeugung, weil wir der Auffassung sind, zu einer funktionierenden Demokratie gehört eine starke, hörbare und sichtbare Opposition. Ich
bin davon überzeugt, dass das, was wir in der Geschäftsordnung regeln, dazu führen wird, dass Sie jetzt, wenn
Sie gut sind - das müssen Sie noch ergänzend werden -,
({1})
nicht mehr sagen können: Oh Gott, sind wir klein; wir
haben gar keine Möglichkeiten. - Ab heute haben Sie
sie. Jetzt müssen Sie mit Oppositionsarbeit langsam anfangen. Das will ich auch noch einmal sagen.
({2})
Jetzt haben Sie alle Chancen, hörbar und sichtbar zu
werden. Wenn Sie es nicht schaffen, sind Sie ab heute
selber schuld.
({3})
Ich will Ihnen noch eines sagen: Frau Haßelmann hat
klar und eindeutig gesagt, dass das, was wir als Koalition
vorgeschlagen haben und heute umsetzen, eine massive
Verbesserung der Oppositionsrechte ist.
({4})
Ich finde es gut, wenn man so viel Lob bekommt. Im
Übrigen finde ich es auch angemessen. Dann muss es an
dieser Stelle auch erwähnt werden.
({5})
Zu dem Hinweis, wir hätten am Anfang gesagt, das
sei mit einem Beschluss ausreichend geregelt: Wir dürfen eines nicht vergessen, wir haben im Ältestenrat
- ganz klug - den Bundestagspräsidenten gebeten, uns
rechtlich und inhaltlich eine Vorgabe mitzugeben. Darin
lag es begründet, dass wir gesagt haben: Rechtlich und
wahrscheinlich auch hinsichtlich der Effizienz hätte ein
Beschluss dieses Bundestages völlig ausgereicht. Aber
nur weil Sie es wollten, haben wir es auch in der Geschäftsordnung fixiert. Dies ist ein weiterer Nachweis
dafür, welch großes Verständnis wir für die kleine Opposition haben.
Wir haben die Rederechte sinnvollerweise auch ausgeweitet. Obwohl Sie nur 17 Prozent bei den Wahlen bekommen haben - aus welchen Gründen auch immer -,
haben Sie bis zu 32 Prozent Redezeit. Ich finde das richtig und sinnvoll. Man muss auch Rede- und Gegenrede
ermöglichen.
Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Kolleginnen und Kollegen der Koalition gerade verfassungsrechtlich die gleichen Rechte haben wie die in der Opposition. Darauf ist schon hingewiesen worden. Ich hoffe,
wir haben gemeinsam die Chance, vernünftige und auch
strittige Debatten zu führen; denn die Demokratie lebt
nicht nur von Minderheitenrechten. Demokratie lebt
auch von einer lebendigen Debatte, von Widerspruch
und nicht von Harmonie. Diesem Parlament wird es guttun, dass Sie Ihre heute garantierten Minderheitenrechte
in sachlicher Hinsicht ausnutzen. Werden Sie gut! Wir
als Regierungskoalition haben auch den Anspruch, gut
zu sein. Ich habe das Gefühl, wir haben es im Gegensatz
zu Ihnen schon ein Stück weit unter Beweis gestellt.
Deswegen ist es schön, wenn wir heute eines feststellen
können: Es gibt Länder in dieser Welt, da wird die Opposition drangsaliert.
({6})
Bei uns ist es so, dass die Opposition rechtlich gestärkt
wird. Das ist doch auch ein Vorteil dieses Parlamentes
und auch der Koalition.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Vielen Dank. - Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und
SPD mit dem Titel „Änderung der Geschäftsordnung zur
besonderen Anwendung der Minderheitenrechte in der
18. Wahlperiode“. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
18/997, den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und
SPD auf Drucksache 18/481 in der Ausschussfassung
anzunehmen.
Wir stimmen nun über die Beschlussempfehlung auf
Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und SPD namentlich ab. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Sind die
Plätze an den Urnen besetzt? - Nein, hier vorne fehlt
noch ein Schriftführer oder eine Schriftführerin.
({0})
Die Minderheitenrechte sollten jetzt nicht dazu führen,
dass die rechte Urne von der Opposition nicht besetzt
wird. - Sind jetzt alle Urnen besetzt? - Ich eröffne die
Abstimmung.
Haben jetzt alle Mitglieder des Hauses abgestimmt?
- Nein. - Jetzt haben aber alle ihre Stimme abgegeben.
Die Abstimmung ist geschlossen. Die Schriftführer und
Schriftführerinnen beginnen mit der Auszählung. Das
Ergebnis der Auszählung wird Ihnen später bekannt ge-
geben.1)
Bevor wir zur nächsten namentlichen Abstimmung
kommen, haben wir eine einfache Abstimmung durchzu-
führen. Deshalb bitte ich Sie, sich zu Ihren Plätzen zu
begeben. - Ich bitte Sie alle, Platz zu nehmen. Sonst
können wir nicht mit der Abstimmung beginnen. - Auch
die Abgeordneten der SPD hier vorne würde ich bitten,
sich jetzt hinzusetzen. - Liebe Kolleginnen und Kolle-
gen, es macht keinen Sinn; wir können nicht abstimmen,
wenn Sie nicht Platz nehmen.
Wir stimmen jetzt über den Entwurf eines Gesetzes
der Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke
zur Sicherung der Oppositionsrechte in der 18. Wahlpe-
riode des Deutschen Bundestages ab. Der Ausschuss für
Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung emp-
fiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 18/997, den Gesetzentwurf der Fraktionen
Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke auf Drucksa-
che 18/380 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen.
- Wer stimmt dagegen? - Der Gesetzentwurf ist in zwei-
ter Beratung mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD
gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und der
Linken abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Ge-
schäftsordnung die weitere Beratung.
Tagesordnungspunkt 7 c. Abstimmung über den Ent-
wurf eines Gesetzes der Fraktion Die Linke zur Ände-
rung des Grundgesetzes, Art. 23, 39, 44, 45 a und 93.
Der Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Ge-
schäftsordnung empfiehlt unter Buchstabe c seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 18/997, den Gesetz-
entwurf der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/838
abzulehnen. Wir stimmen nun auf Verlangen der Frak-
tion Die Linke über den Gesetzentwurf namentlich ab.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die
vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Sind die Plätze an
den Urnen besetzt? - Ich sehe, das ist der Fall. Ich er-
öffne die Abstimmung über den Gesetzentwurf.
Haben jetzt alle Mitglieder des Hauses abgestimmt? -
Ich sehe, das ist der Fall.
1) Ergebnis siehe Seite 2085 C
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftfüh-
rerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu begin-
nen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später
bekannt gegeben.1)
Wir setzen die Abstimmungen fort.
Wir kommen jetzt zu Tagesordnungspunkt 7 d: Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung,
Immunität und Geschäftsordnung zu dem Antrag der
Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke mit
dem Titel „Änderung der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages zwecks Sicherung der Minderheitenrechte der Opposition im 18. Deutschen Bundestag“. Der
Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe d seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/997, den Antrag
der Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke
auf Drucksache 18/379 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung mit
den Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes
zur Änderung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes
Drucksache 18/910
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die Bundesregierung hat die Kollegin Anette Kramme.
({2})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir alle haben in den letzten Jahren die Be-
richterstattung über die Zustände in den Schlachthöfen
verfolgt. Viele der Kollegen konnten uns hier ureigenst
erzählen, welche Zustände in vielen deutschen Schlacht-
höfen herrschen. Uns ist berichtet worden über nied-
rigste Löhne, vor allen Dingen bei entsandten Arbeitneh-
mern, die aus Rumänien, Bulgarien, Polen oder Ungarn
kommen. Uns ist berichtet worden über Stundenlöhne in
einer Größenordnung von 4 bis 6 Euro. Es gibt wohl
Einzelfälle, in denen die Löhne noch niedriger waren.
Vom Einsatz von unüberschaubaren Subunternehmer-
ketten, die ihren Sitz im Ausland haben, ist uns ebenfalls
berichtet worden. Tarifstrukturen waren bislang nur ein-
geschränkt vorhanden. Bis Ende 2013 gab es keinen
1) Ergebnis siehe Seite 2087 B
regionalen Tarifvertrag, geschweige denn einen Flächentarifvertrag. Dabei handelt es sich um eine wirklich harte
und belastende Arbeit. Die Arbeit ist extreme Fließbandarbeit, sehr anstrengend, monoton und hochgradig arbeitsteilig. Häufig wird nur ein einzelner Arbeitsschritt
durchgeführt. Ich kann Ihnen, liebe Kollegen und Kolleginnen, nur empfehlen, einen solchen Schlachthof zu besichtigen, in dem täglich Tausende von Tieren zerlegt
werden.
Wir sind sehr froh, dass die intensiven Diskussionen
über den gesetzlichen Mindestlohn in der Fleischbranche
ein Umdenken bewirkt haben. Anfang dieses Jahres haben sich die Tarifpartner auf einen Mindestlohntarifvertrag für die Fleischbranche geeinigt. Es ist gut, dass es
der Branche gelungen ist, ihre Angelegenheiten selbst zu
regeln. Gerne haben wir dem Parlament einen Gesetzentwurf zur Erweiterung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes vorgelegt. Damit werden künftig über 170 000
Arbeitnehmer dieser Branche potenziell geschützt. Geschützt wird aber auch eine andere Gruppe. Geschützt
wird eine Gruppe, bestehend aus circa 23 000 entsandten
Arbeitnehmern, also denjenigen, die aus vielen anderen
Ländern der Europäischen Union hergekommen sind,
um die schwere Arbeit zu erledigen. Durch die Einbeziehung in das Arbeitnehmer-Entsendegesetz und die anschließende Rechtsverordnung kann der Tarifvertrag
- das ist das Wichtige - nicht nur eine nationale, sondern
auch eine international zwingende Wirkung entfalten.
({0})
Es ergeben sich aber noch andere positive Wirkungen.
Die Einhaltung des Mindestlohns wird künftig durch die
Finanzkontrolle Schwarzarbeit überwacht. Bei Verstößen können Bußgelder in einer Größenordnung bis zu
500 000 Euro verhängt werden, und - das ist ebenfalls
sehr wichtig für die entsandten Arbeitnehmer - der deutsche Generalunternehmer haftet, wenn ein Subunternehmen seinen Arbeitnehmern den Branchenmindestlohn
nicht zahlt.
({1})
Er kann sich dabei nicht darauf zurückziehen, er hätte
von den schlechten Arbeitsbedingungen nichts gewusst.
Ich weiß, dass einige kritische Geister unter Ihnen sofort
anmerken werden: Was nutzt das denn den ausländischen Arbeitnehmern? Die kennen sich hier doch nicht
aus, wissen nicht Bescheid über das deutsche Recht.
Ich will die Gelegenheit nutzen und auf ein vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales finanziertes und
vom DGB durchgeführtes Projekt verweisen. Es heißt
„Faire Mobilität - Arbeitnehmerfreizügigkeit sozial,
gerecht und aktiv“. An verschiedenen Standorten werden
ausländische Arbeitnehmer beraten, damit diese ihre
Rechte wahrnehmen können. In Hamburg geht es speziell um die Fleischbranche.
Von diesem Gesetz werden viele Arbeitnehmer profitieren. Von dem Gesetz zur Stärkung der Tarifautonomie,
durch das der gesetzliche Mindestlohn kommen wird,
werden noch mehr profitieren. Ich finde, das sind gute
Botschaften für die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen,
({2})
aber auch für die Arbeitgeber, die dem Lohndumping der
schwarzen Schafe nicht mehr ausgesetzt sind.
Herzlichen Dank.
({3})
Nächste Rednerin ist Sabine Zimmermann, Fraktion
Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Im letzten Jahr
durften wir in diesem Hause eine Kostprobe der gesanglichen Fähigkeiten der damaligen SPD-Abgeordneten
Andrea Nahles hören. Mit Blick auf die Bundesregierung sang sie damals frei nach Pippi Langstrumpf: Ich
mach mir die Welt, wie sie mir gefällt. - Keine Angst,
ich werde jetzt hier nicht singen, obwohl ich früher ein
junges Talent war.
({0})
Heute hat Frau Nahles als Bundesministerin die Möglichkeit, die Welt zu verändern. Das ist bitter nötig,
schauen wir uns nur die Arbeitsverhältnisse hier in der
Fleischindustrie an.
({1})
In den deutschen Schlachthöfen haben sich in den
zurückliegenden 10, 20 Jahren unhaltbare Zustände entwickelt. Beim Schlachten und in der Fleischverarbeitung
hat es einen enormen Erdrutsch bei den Löhnen und bei
den Arbeitsbedingungen gegeben. Als die Dienstleistungsmärkte in Europa geöffnet wurden, versäumte es
die Politik - vielleicht sollten wir sagen: hat sie es bewusst unterlassen -, in den Mitgliedsländern für die Entlohnung verbindliche Mindeststandards festzuschreiben. Maßgeblich gefördert durch deutsche Regierungen
hat so eine falsche Politik der Europäischen Union zu einem dramatischen Sozialdumping geführt. Es sind vor
allem ausländische Beschäftigte, meist aus Osteuropa
entsandte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die
über Werkverträge und Subunternehmen zu Hungerlöhnen beschäftigt werden. Sie leben oft zusammengepfercht in menschenunwürdigen Unterbringungen, abgeschottet von der deutschen Gesellschaft. Das ist moderne
Sklaverei und menschenunwürdig. Das muss endlich beendet werden.
({2})
Die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten
schätzt: 80 Prozent der Beschäftigten in deutschen
Schlachthöfen sind Werkvertragsarbeitnehmer. Die
Zustände in den deutschen Schlachthöfen sind so katastrophal, dass sich Nachbarländer wie Frankreich, Dänemark und Belgien beschwert haben, Deutschland verschaffe sich durch Lohndumping Wettbewerbsvorteile.
Belgien hat bei der EU-Kommission sogar eine offizielle
Beschwerde eingereicht. Das muss man doch endlich
einmal zur Kenntnis nehmen. Die Bundesregierung
macht hier wenig bis fast gar nichts. Der Gesetzentwurf,
der hier heute vorgelegt wird, ist zwar richtig und geht in
die richtige Richtung, aber die Lohnhöhe - darüber werden wir noch reden - entspricht natürlich nicht unseren
Vorstellungen.
({3})
Dafür, dass dies in Deutschland möglich ist, sollten
sich die politisch Verantwortlichen schämen. Es ist dringend notwendig, zu handeln und bei den Löhnen Mindeststandards für die Branche festzulegen. Der hier vorgelegte Gesetzentwurf bietet das einfach nicht. Das eine
ist natürlich, wie ich schon sagte, die Entgelthöhe. Wir
alle wissen: Die vereinbarten Tarife führen nicht aus
dem Niedriglohnsektor heraus. Der Branchenmindestlohn soll ab dem 1. Juli dieses Jahres 8 Euro betragen.
Die Niedriglohnschwelle lag aber schon im Jahr 2012
bei 9,30 Euro.
Besonders fatal ist: Die Beschäftigten werden im
kommenden Jahr zunächst nicht vom gesetzlichen Mindestlohn profitieren. Denn hier wird vor allen Dingen die
Übergangsregelung greifen, in der festgelegt werden
soll, dass die Arbeitgeber diesen Beschäftigten den Mindestlohn vorenthalten können. Auch das gehört zu Ihrem
Flickenteppich des Mindestlohns. Herr Schiewerling, ich
schaue Sie da ganz besonders an.
({4})
Sie sagen immer, der Mindestlohn, so wie Sie ihn einführen, ist das Nonplusultra.
Das größte Problem ist aber die Umsetzung des Branchenmindestlohns in der Praxis; Frau Kramme hat das
angesprochen. Erst massive Medienberichte haben dazu
geführt, dass die Arbeitgeber bereit waren, einen Tarifvertrag abzuschließen, der jetzt als allgemeinverbindlich
erklärt werden und für alle Beschäftigten gelten soll.
Schon jetzt ist klar, dass Arbeitgeber alles tun werden,
um die gesetzlichen Regelungen zu umgehen und zu
unterlaufen. Scheinselbstständigkeiten, falsche Stundenabrechnungen, Zwangsabgaben vom Lohn für überteuerte Unterkünfte, all das sind Praktiken, die wir alle
schon aus anderen Branchen kennen.
Eine effektive Kontrolle ist nur möglich, wenn die
Finanzkontrolle Schwarzarbeit personell ordentlich ausgestattet ist. Dies ist derzeit nicht der Fall. Um ordentlich zu kontrollieren, brauchen wir mindestens 2 500 Beschäftigte mehr. Das fordert die Zollgewerkschaft. Die
Bundesregierung muss dem Wildwuchs an Scheinwerkverträgen und Subunternehmen Einhalt gebieten. Sie
Sabine Zimmermann ({5})
muss auf europäischer Ebene für eine Durchsetzungsrichtlinie sorgen, die nicht einem weiteren Lohndumping
hier in Deutschland Tür und Tor öffnet.
({6})
Um auf die damalige Rede unserer heutigen Arbeitsministerin zurückzukommen: Solange in Deutschland
Menschen harte Arbeit unter krankmachenden Bedingungen leisten und dafür auch noch Hungerlöhne in
Kauf nehmen müssen, solange Praktiken wie in Callcentern, bei den Truckerfahrern oder in der Fleischindustrie
zu- und nicht abnehmen, so lange darf nichts bleiben,
wie es ist, und so lange ist nichts wunderbar auf unserem
Arbeitsmarkt. Hier - das möchte ich den beiden Staatssekretärinnen mit auf den Weg geben - muss Frau
Nahles endlich handeln.
Danke schön.
({7})
Vielen Dank. - Bevor gleich der Kollege
Schiewerling das Wort erhält, darf ich Ihnen die von den
Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelten
Ergebnisse der namentlichen Abstimmungen bekannt
geben.
Ergebnis der namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung zu dem Antrag zur Änderung der
Geschäftsordnung zur besonderen Anwendung der Minderheitenrechte in der 18. Wahlperiode auf den Drucksachen 18/481 und 18/997: abgegebene Stimmen 588. Mit
Ja haben gestimmt 531, mit Nein haben gestimmt 2, Enthaltungen 55. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 585;
davon
ja: 530
enthalten: 55
Ja
CDU/CSU
Stephan Albani
Katrin Albsteiger
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Maik Beermann
Manfred Behrens ({0})
Veronika Bellmann
Dr. André Berghegger
Dr. Christoph Bergner
Ute Bertram
Peter Beyer
Steffen Bilger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Alexandra Dinges-Dierig
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Jutta Eckenbach
Dr. Bernd Fabritius
Uwe Feiler
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Dirk Fischer ({1})
Axel E. Fischer ({2})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Thorsten Frei
Dr. Astrid Freudenstein
Dr. Hans-Peter Friedrich
({3})
Michael Frieser
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Cemile Giousouf
Josef Göppel
Reinhard Grindel
Ursula Groden-Kranich
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Astrid Grotelüschen
Markus Grübel
Manfred Grund
Oliver Grundmann
Monika Grütters
Dr. Herlind Gundelach
Fritz Güntzler
Christian Haase
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Matthias Hauer
Mark Hauptmann
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Frank Heinrich ({4})
Mark Helfrich
Uda Heller
Jörg Hellmuth
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Ansgar Heveling
Christian Hirte
Dr. Heribert Hirte
Robert Hochbaum
Alexander Hoffmann
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Dr. Hendrik Hoppenstedt
Margaret Horb
Bettina Hornhues
Charles M. Huber
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Erich Irlstorfer
Sylvia Jörrißen
Andreas Jung
Dr. Franz Josef Jung
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kanitz
Anja Karliczek
Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Dr. Georg Kippels
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Markus Koob
Carsten Körber
Hartmut Koschyk
Kordula Kovac
Michael Kretschmer
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Roy Kühne
Günter Lach
Uwe Lagosky
Dr. Karl A. Lamers
Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Barbara Lanzinger
Dr. Silke Launert
Paul Lehrieder
Dr. Katja Leikert
Dr. Philipp Lengsfeld
Philipp Graf Lerchenfeld
Dr. Ursula von der Leyen
Antje Lezius
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Wilfried Lorenz
Dr. Claudia Lücking-Michel
Dr. Jan-Marco Luczak
Daniela Ludwig
Karin Maag
Yvonne Magwas
Thomas Mahlberg
Dr. Thomas de Maizière
Gisela Manderla
Matern von Marschall
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({5})
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
Reiner Meier
Dr. Michael Meister
Jan Metzler
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Dietrich Monstadt
Karsten Möring
Elisabeth Motschmann
({6})
Stefan Müller ({7})
Dr. Philipp Murmann
Dr. Andreas Nick
Michaela Noll
Helmut Nowak
Dr. Georg Nüßlein
Florian Oßner
Dr. Tim Ostermann
Henning Otte
Ingrid Pahlmann
Sylvia Pantel
Martin Patzelt
Dr. Martin Pätzold
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Ronald Pofalla
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Kerstin Radomski
Alexander Radwan
Alois Rainer
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({8})
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht
Anita Schäfer ({9})
Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Annette Schavan
Jana Schimke
Norbert Schindler
Heiko Schmelzle
Gabriele Schmidt ({10})
Patrick Schnieder
Nadine Schön ({11})
Dr. Ole Schröder
Dr. Kristina Schröder
({12})
Bernhard Schulte-Drüggelte
Dr. Klaus-Peter Schulze
Uwe Schummer
Armin Schuster ({13})
Christina Schwarzer
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Tino Sorge
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Dr. Wolfgang Stefinger
Peter Stein
Erika Steinbach
Sebastian Steineke
Johannes Steiniger
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Rita Stockhofe
Gero Storjohann
Max Straubinger
Karin Strenz
Thomas Strobl ({14})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Sabine Sütterlin-Waack
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Astrid Timmermann-Fechter
Dr. Volker Ullrich
Arnold Vaatz
Oswin Veith
Thomas Viesehon
Michael Vietz
Volkmar Vogel ({15})
Sven Volmering
Christel Voßbeck-Kayser
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Nina Warken
Kai Wegner
Albert Weiler
Marcus Weinberg ({16})
Dr. Anja Weisgerber
Peter Weiß ({17})
Sabine Weiss ({18})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Marian Wendt
Kai Whittaker
Annette Widmann-Mauz
Heinz Wiese ({19})
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Oliver Wittke
Dagmar G. Wöhrl
Barbara Woltmann
Heinrich Zertik
Emmi Zeulner
Gudrun Zollner
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heike Baehrens
Ulrike Bahr
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Dr. Matthias Bartke
Sören Bartol
Bärbel Bas
Dirk Becker
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding ({20})
Burkhard Blienert
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Dr. Lars Castellucci
Petra Crone
Dr. Daniela De Ridder
Sabine Dittmar
Siegmund Ehrmann
Michaela Engelmeier-Heite
Dr. h. c. Gernot Erler
Saskia Esken
Karin Evers-Meyer
Dr. Fritz Felgentreu
Elke Ferner
Christian Flisek
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Ulrich Freese
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Ulrike Gottschalck
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Wolfgang Gunkel
Bettina Hagedorn
Rita Hagl-Kehl
Metin Hakverdi
Ulrich Hampel
Sebastian Hartmann
({21})
Dirk Heidenblut
Hubertus Heil ({22})
Gabriela Heinrich
Marcus Held
Dr. Barbara Hendricks
Heidtrud Henn
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz ({23})
Dr. Eva Högl
Matthias Ilgen
Christina Jantz
Frank Junge
Thomas Jurk
Oliver Kaczmarek
Christina Kampmann
Ralf Kapschack
Gabriele Katzmarek
Ulrich Kelber
Marina Kermer
Cansel Kiziltepe
Arno Klare
Lars Klingbeil
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe
Birgit Kömpel
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Helga Kühn-Mengel
Christian Lange ({24})
Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Dr. Birgit Malecha-Nissen
Caren Marks
Hilde Mattheis
Dr. Matthias Miersch
Klaus Mindrup
Susanne Mittag
Bettina Müller
Michelle Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Dietmar Nietan
Ulli Nissen
Thomas Oppermann
Mahmut Özdemir ({25})
Aydan Özoğuz
Markus Paschke
Christian Petry
Jeannine Pflugradt
Detlev Pilger
Sabine Poschmann
Joachim Poß
Florian Post
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Dr. Simone Raatz
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Andreas Rimkus
Sönke Rix
Dr. Martin Rosemann
René Röspel
Michael Roth ({26})
Johann Saathoff
Annette Sawade
Dr. Hans-Joachim
Schabedoth
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
Axel Schäfer ({27})
Dr. Nina Scheer
Udo Schiefner
Dr. Dorothee Schlegel
Ulla Schmidt ({28})
Matthias Schmidt ({29})
Dagmar Schmidt ({30})
Carsten Schneider ({31})
Ursula Schulte
Swen Schulz ({32})
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Stefan Schwartze
Andreas Schwarz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Norbert Spinrath
Svenja Stadler
Martina Stamm-Fibich
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Claudia Tausend
Michael Thews
Franz Thönnes
Carsten Träger
Rüdiger Veit
Dirk Vöpel
Gabi Weber
Bernd Westphal
Andrea Wicklein
Waltraud Wolff
({33})
Gülistan Yüksel
Stefan Zierke
Dr. Jens Zimmermann
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Luise Amtsberg
Kerstin Andreae
Annalena Baerbock
Marieluise Beck ({34})
Volker Beck ({35})
Dr. Franziska Brantner
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Harald Ebner
Dr. Thomas Gambke
Kai Gehring
Anja Hajduk
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Dieter Janecek
Uwe Kekeritz
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Stephan Kühn ({36})
Christian Kühn ({37})
Renate Künast
Monika Lazar
Steffi Lemke
Dr. Tobias Lindner
Beate Müller-Gemmeke
Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Cem Özdemir
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth ({38})
Corinna Rüffer
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Ulle Schauws
Dr. Gerhard Schick
Dr. Frithjof Schmidt
Kordula Schulz-Asche
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Dr. Julia Verlinden
Beate Walter-Rosenheimer
Enthalten
DIE LINKE
Jan van Aken
Dr. Dietmar Bartsch
Karin Binder
Heidrun Bluhm
Christine Buchholz
Eva Bulling-Schröter
Roland Claus
Dr. Diether Dehm
Wolfgang Gehrcke
Diana Golze
Annette Groth
Dr. Gregor Gysi
Dr. André Hahn
Heike Hänsel
Inge Höger
Andrej Hunko
Sigrid Hupach
Kerstin Kassner
Katja Kipping
Jan Korte
Caren Lay
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Stefan Liebich
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Cornelia Möhring
Niema Movassat
Dr. Alexander S. Neu
Petra Pau
Harald Petzold ({39})
Martina Renner
Kersten Steinke
Azize Tank
Frank Tempel
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Katrin Werner
Birgit Wöllert
Hubertus Zdebel
Pia Zimmermann
({40})
Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den
Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes auf den Drucksachen 18/838 und 18/997: abgegebene Stimmen 582. Mit Ja haben gestimmt 54, mit Nein
haben gestimmt 470, Enthaltungen 58. Der Gesetzentwurf ist abgelehnt.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 583;
davon
ja: 55
nein: 470
enthalten: 58
Ja
DIE LINKE
Jan van Aken
Dr. Dietmar Bartsch
Karin Binder
Heidrun Bluhm
Christine Buchholz
Eva Bulling-Schröter
Roland Claus
Dr. Diether Dehm
Wolfgang Gehrcke
Diana Golze
Annette Groth
Dr. Gregor Gysi
Dr. André Hahn
Heike Hänsel
Inge Höger
Andrej Hunko
Sigrid Hupach
Kerstin Kassner
Katja Kipping
Jan Korte
Caren Lay
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Stefan Liebich
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Cornelia Möhring
Niema Movassat
Dr. Alexander S. Neu
Petra Pau
Harald Petzold ({41})
Martina Renner
Kersten Steinke
Azize Tank
Frank Tempel
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Katrin Werner
Birgit Wöllert
Hubertus Zdebel
Pia Zimmermann
({42})
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
Nein
CDU/CSU
Stephan Albani
Katrin Albsteiger
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Maik Beermann
Manfred Behrens ({43})
Veronika Bellmann
Dr. André Berghegger
Dr. Christoph Bergner
Ute Bertram
Peter Beyer
Steffen Bilger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Alexandra Dinges-Dierig
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Jutta Eckenbach
Dr. Bernd Fabritius
Uwe Feiler
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Dirk Fischer ({44})
Axel E. Fischer ({45})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Thorsten Frei
Dr. Astrid Freudenstein
Dr. Hans-Peter Friedrich
({46})
Michael Frieser
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Cemile Giousouf
Josef Göppel
Reinhard Grindel
Ursula Groden-Kranich
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Astrid Grotelüschen
Markus Grübel
Manfred Grund
Oliver Grundmann
Monika Grütters
Dr. Herlind Gundelach
Fritz Güntzler
Christian Haase
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Matthias Hauer
Mark Hauptmann
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Frank Heinrich ({47})
Mark Helfrich
Uda Heller
Jörg Hellmuth
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Ansgar Heveling
Christian Hirte
Dr. Heribert Hirte
Robert Hochbaum
Alexander Hoffmann
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Dr. Hendrik Hoppenstedt
Margaret Horb
Bettina Hornhues
Charles M. Huber
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Erich Irlstorfer
Sylvia Jörrißen
Andreas Jung
Dr. Franz Josef Jung
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kanitz
Anja Karliczek
Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Dr. Georg Kippels
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Markus Koob
Carsten Körber
Hartmut Koschyk
Kordula Kovac
Michael Kretschmer
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Roy Kühne
Günter Lach
Uwe Lagosky
Dr. Karl A. Lamers
Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Barbara Lanzinger
Dr. Silke Launert
Paul Lehrieder
Dr. Katja Leikert
Dr. Philipp Lengsfeld
Philipp Graf Lerchenfeld
Dr. Ursula von der Leyen
Antje Lezius
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Wilfried Lorenz
Dr. Claudia Lücking-Michel
Dr. Jan-Marco Luczak
Daniela Ludwig
Karin Maag
Yvonne Magwas
Thomas Mahlberg
Dr. Thomas de Maizière
Gisela Manderla
Matern von Marschall
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({48})
Reiner Meier
Dr. Michael Meister
Jan Metzler
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Dietrich Monstadt
Karsten Möring
Elisabeth Motschmann
({49})
Stefan Müller ({50})
Dr. Philipp Murmann
Dr. Andreas Nick
Michaela Noll
Helmut Nowak
Dr. Georg Nüßlein
Florian Oßner
Dr. Tim Ostermann
Henning Otte
Ingrid Pahlmann
Martin Patzelt
Dr. Martin Pätzold
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Ronald Pofalla
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Kerstin Radomski
Alexander Radwan
Alois Rainer
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({51})
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht
Anita Schäfer ({52})
Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Annette Schavan
Jana Schimke
Norbert Schindler
Heiko Schmelzle
Gabriele Schmidt ({53})
Patrick Schnieder
Nadine Schön ({54})
Dr. Ole Schröder
Dr. Kristina Schröder
({55})
Bernhard Schulte-Drüggelte
Dr. Klaus-Peter Schulze
Uwe Schummer
Armin Schuster ({56})
Christina Schwarzer
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Tino Sorge
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Dr. Wolfgang Stefinger
Peter Stein
Erika Steinbach
Sebastian Steineke
Johannes Steiniger
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Rita Stockhofe
Gero Storjohann
Max Straubinger
Karin Strenz
Thomas Strobl ({57})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Sabine Sütterlin-Waack
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Astrid Timmermann-Fechter
Dr. Volker Ullrich
Arnold Vaatz
Oswin Veith
Thomas Viesehon
Michael Vietz
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
Volkmar Vogel ({58})
Sven Volmering
Christel Voßbeck-Kayser
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Nina Warken
Kai Wegner
Albert Weiler
Marcus Weinberg ({59})
Dr. Anja Weisgerber
Peter Weiß ({60})
Sabine Weiss ({61})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Marian Wendt
Kai Whittaker
Annette Widmann-Mauz
Heinz Wiese ({62})
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Oliver Wittke
Dagmar G. Wöhrl
Barbara Woltmann
Heinrich Zertik
Emmi Zeulner
Gudrun Zollner
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heike Baehrens
Ulrike Bahr
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Dr. Matthias Bartke
Sören Bartol
Bärbel Bas
Dirk Becker
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding ({63})
Burkhard Blienert
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Dr. Lars Castellucci
Petra Crone
Dr. Daniela De Ridder
Sabine Dittmar
Siegmund Ehrmann
Michaela Engelmeier-Heite
Dr. h. c. Gernot Erler
Saskia Esken
Karin Evers-Meyer
Dr. Fritz Felgentreu
Elke Ferner
Christian Flisek
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Ulrich Freese
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Ulrike Gottschalck
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Wolfgang Gunkel
Bettina Hagedorn
Rita Hagl-Kehl
Metin Hakverdi
Ulrich Hampel
Sebastian Hartmann
({64})
Dirk Heidenblut
Hubertus Heil ({65})
Gabriela Heinrich
Marcus Held
Dr. Barbara Hendricks
Heidtrud Henn
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz ({66})
Dr. Eva Högl
Matthias Ilgen
Christina Jantz
Frank Junge
Thomas Jurk
Oliver Kaczmarek
Christina Kampmann
Ralf Kapschack
Gabriele Katzmarek
Ulrich Kelber
Marina Kermer
Cansel Kiziltepe
Arno Klare
Lars Klingbeil
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe
Birgit Kömpel
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Helga Kühn-Mengel
Christian Lange ({67})
Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Dr. Birgit Malecha-Nissen
Caren Marks
Hilde Mattheis
Dr. Matthias Miersch
Klaus Mindrup
Susanne Mittag
Bettina Müller
Michelle Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Dietmar Nietan
Ulli Nissen
Thomas Oppermann
Mahmut Özdemir ({68})
Aydan Özoğuz
Markus Paschke
Christian Petry
Jeannine Pflugradt
Detlev Pilger
Sabine Poschmann
Joachim Poß
Florian Post
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Dr. Simone Raatz
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Andreas Rimkus
Sönke Rix
Dr. Martin Rosemann
René Röspel
Bernd Rützel
Johann Saathoff
Annette Sawade
Dr. Hans-Joachim
Schabedoth
Axel Schäfer ({69})
Dr. Nina Scheer
Udo Schiefner
Dr. Dorothee Schlegel
Ulla Schmidt ({70})
Matthias Schmidt ({71})
Dagmar Schmidt ({72})
Carsten Schneider ({73})
Ursula Schulte
Swen Schulz ({74})
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Stefan Schwartze
Andreas Schwarz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Norbert Spinrath
Svenja Stadler
Martina Stamm-Fibich
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Claudia Tausend
Michael Thews
Franz Thönnes
Carsten Träger
Rüdiger Veit
Dirk Vöpel
Gabi Weber
Bernd Westphal
Andrea Wicklein
Waltraud Wolff
({75})
Gülistan Yüksel
Stefan Zierke
Dr. Jens Zimmermann
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
Enthalten
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Luise Amtsberg
Kerstin Andreae
Annalena Baerbock
Marieluise Beck ({76})
Volker Beck ({77})
Dr. Franziska Brantner
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Harald Ebner
Dr. Thomas Gambke
Kai Gehring
Anja Hajduk
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Dieter Janecek
Uwe Kekeritz
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Stephan Kühn ({78})
Christian Kühn ({79})
Renate Künast
Monika Lazar
Steffi Lemke
Dr. Tobias Lindner
Beate Müller-Gemmeke
Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Cem Özdemir
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth ({80})
Corinna Rüffer
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Ulle Schauws
Dr. Gerhard Schick
Dr. Frithjof Schmidt
Kordula Schulz-Asche
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Dr. Julia Verlinden
Beate Walter-Rosenheimer
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
({81})
Jetzt hat der Kollege Schiewerling das Wort.
({82})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich hoffe sehr, dass die Zeitungsmeldungen von menschenunwürdigen Arbeits- und
Lebensbedingungen von Arbeitnehmern in der Fleischindustrie bald ein Ende haben. Da haben wohl einige
Unternehmer und Unternehmen die Liberalisierung des
Arbeitsmarktes, die in den Jahren 2003, 2004 und 2005
erfolgt ist, gründlich missverstanden. Wer glaubt, er
könne mit Arbeitnehmern umgehen wie mit dem
Fleisch, das man verarbeitet, der muss wissen, dass er
nicht nur sich selbst, sondern auch andere Unternehmer
und die Ethik des Unternehmers in höchstem Maße beschädigt.
({0})
Ich möchte von denen, die dieses machen, nie mehr hören, dass der Staat zu viel reguliert. Wer so mit Menschen umgeht, braucht sich nicht zu wundern, wenn der
Staat eingreift.
({1})
Das tun wir mit diesem Gesetz.
Meine Damen und Herren, ich bin sehr betroffen. In
meinem Wahlkreis Coesfeld, im Münsterland, im benachbarten Emsland und im südlichen Oldenburger
Münsterland
({2})
konzentrieren sich diese Probleme in massivster Weise.
Sie haben dort Wellen geschlagen und Ausmaße erreicht,
die man nicht für möglich gehalten hätte. Ich freue mich
sehr, dass die Menschen durch den Anblick der Unterkünfte der Arbeitnehmer, die aus Rumänien und Bulgarien gekommen sind, auf die Situation aufmerksam geworden sind und festgestellt haben, unter welch
unwürdigen Bedingungen diese Arbeitnehmer gelebt haben und leben. Weil man ja nicht hinter die Mauern der
Schlachthöfe schauen konnte, hatte man nur den Blick
dafür, wie die Menschen, die dort arbeiten, leben. Das
hat den - im besten Sinne des Wortes - heiligen Zorn der
Bevölkerung hervorgerufen.
Gott sei Dank haben sich die Gewerkschaft NahrungGenuss-Gaststätten, die in den Regionen, von denen ich
gerade gesprochen habe, aber strukturell zu schwach
aufgestellt ist - das werfe ich ihr nicht vor; es ist leider
so -, und die Kirchen, insbesondere das Bistum Münster,
also die katholische Kirche, mit der Situation befasst,
und im südlichen Oldenburg hat Prälat Kossen mit unglaublicher Intensität auf die Missstände aufmerksam
gemacht.
({3})
Ich darf darauf hinweisen, welch große Emotionen es
ausgelöst hat, als man ein totes Tier in seinen Briefkasten gesteckt hat, als Hinweis darauf, was ihm passiert,
wenn er so weitermacht. Wissen Sie, bei solchen Machenschaften sträuben sich einem die Nackenhaare.
({4})
Ich sage Ihnen in aller Deutlichkeit: Das hat mit sozialer
Marktwirtschaft und verantwortungsvollem Unternehmertum nichts, aber auch gar nichts zu tun.
({5})
Deswegen reagieren wir. Wir haben im letzten Jahr
reagiert, indem wir zunächst mit allen Betroffenen geredet haben. Die Bundesarbeitsministerin hat sich eingeschaltet. Franz-Josef Holzenkamp, der Kollege aus SüdOldenburg, wo die Situation besonders eklatant ist, hat
die Betroffenen dazu gebracht, sich an einen Tisch zu
setzen.
Wir haben gesagt: Wir fallen nicht mit allen möglichen gesetzlichen Regelungen ein, sondern wir zwingen
die Arbeitgeber, die Unternehmen, endlich dazu, einen
Arbeitgeberverband zu gründen, damit sie ordentliche
Tarifverträge mit der Gewerkschaft Nahrung-GenussGaststätten schließen können. - Sie haben sich erst gesträubt - nicht alle; einige haben sich in besonderer
Weise gesträubt -, aber dann konnten sie nicht mehr anders; der öffentliche Druck war entscheidend. Wir sind
einen ordnungspolitisch sauberen Weg gegangen. Sie haben einen Arbeitgeberverband gegründet. Sie haben mit
der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten einen
Tarifvertrag geschlossen. Dieser Tarifvertrag - so haben
wir das in dieser Koalition einvernehmlich geklärt wird jetzt Gegenstand des Entsendegesetzes. Deswegen
werden in Zukunft die entsandten Arbeitnehmer aus Rumänien, aus Bulgarien, woher auch immer sie kommen,
geschützt sein und zumindest das erhalten, was im Tarifvertrag steht.
({6})
Herr Schiewerling, gestatten Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Vogler?
Ja. Kollegen aus dem Münsterland muss man immer
die Möglichkeit geben, profunde Fragen zu stellen.
Vielen Dank, Herr Kollege, dass Sie die Zwischenfrage oder Zwischenbemerkung zulassen. - Ich komme
- Sie haben das schon erwähnt - ebenfalls aus dem
Münsterland, aus Emsdetten. Da haben wir die Zustände, die Sie beschrieben haben, in dem Betrieb von
Sprehe. Es gibt sehr viele Menschen, die sich für das
Wohl der betroffenen Arbeiterinnen und Arbeiter engagieren.
Wir sehen noch ein großes Problem, das Sie mit dem
vorliegenden Gesetzentwurf noch nicht angehen. Ich
würde Sie gern darauf hinweisen, dass es einen starken
ökonomischen Anreiz gibt, einen gesetzlichen Anreiz,
Normalarbeitsverhältnisse in diesem Bereich zu vermeiden und auf Werkverträge und Leiharbeit zu setzen. Diesen Anreiz setzt das Erneuerbare-Energien-Gesetz mit
der Möglichkeit für Unternehmen, sich durch einen hohen Anteil von Leiharbeit und Werkverträgen von der
EEG-Umlage befreien zu lassen. Da sind in den letzten
Jahren Millionen Euro gespart worden, gerade in der
Schlachtbranche. Auf Anfrage der Grünen und auch auf
meine Anfrage hin hat die Bundesregierung das berichtet.
Jetzt haben Sie bestätigt, dass Sie eigentlich noch
keine Pläne dazu haben, genau diesen Punkt bei der Reform des EEG, die schon in der nächsten Woche im Kabinett auf der Tagesordnung steht, aufzunehmen. Ich
möchte Sie als Kollegen, der sich in der Materie auskennt und der Empathie für die Beschäftigten mitbringt,
einfach bitten: Setzen Sie sich in Ihrer Fraktion und in
der Regierungskoalition insgesamt bitte dafür ein, dass
bei der Reform des EEG diese Regelung, dass Werkverträge und Leiharbeit dazu dienen können, eine Befreiung
von der EEG-Umlage zu bekommen, gestrichen wird,
damit wir auch in dieser Branche wieder ordentliche und
sichere Normalarbeitsverhältnisse bekommen.
({0})
Frau Kollegin, ich habe Ihnen noch gar nichts bestätigt, sondern ich habe hier vorgetragen, was ist. Ich
nehme die Anregungen, die Sie mit Blick auf das Erneuerbare-Energien-Gesetz gegeben haben, zur Kenntnis.
Wir können aber in dem Gesetzgebungsverfahren, um
das es heute geht, nicht alle Dinge regeln.
({0})
In diesem Gesetzgebungsverfahren regeln wir zunächst
einmal, dass die Menschen, die aus Rumänien, Bulgarien und von sonst wo zu uns kommen, faire Arbeitsbedingungen haben. Wir werden alles tun, dass nicht am
Bereich der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik Fairness am
Arbeitsmarkt scheitert.
Alle anderen Fragen, die sich aus volkswirtschaftlichen Erwägungen ergeben oder die mit Energie zu tun
haben, müssen anderswo geklärt werden. Dazu werden
wir ganz sicher keine Lex Schlachthöfe machen. In welcher Form das passiert, wird an anderer Stelle zu klären
sein.
({1})
Zum vorliegenden Gesetzentwurf lassen Sie mich
noch darauf hinweisen, dass wir in Deutschland ein
funktionierendes, ein, wie ich finde, gut funktionierendes, Rechtssystem haben. Wir werden diejenigen, die
Missbrauch betreiben wollen, auch mit diesem Gesetzentwurf möglicherweise nicht hindern, Missbrauch zu
betreiben, aber wir bekommen damit die Möglichkeit,
Missbrauch gesetzlich zu ahnden. Ich freue mich sehr,
dass wir im Rahmen des Mindestlohngesetzes, das wir
noch beraten werden, und im Rahmen des vorliegenden
Gesetzes auch die Möglichkeiten des Zolls mit der Finanzkontrolle Schwarzarbeit deutlich verbessern werden, damit wir dem Missbrauch dann auch auf die Spur
kommen. Dass es funktioniert, sehen wir zum Beispiel in
dem Kreis, aus dem Sie kommen. Da hat die Justiz zugeschlagen. Der Unternehmer, der geglaubt hat, sich so
verhalten zu können, sitzt hinter Schloss und Riegel. Er
ist verhaftet und verurteilt worden. Diejenigen aus der
Familie, die glauben, sie könnten das so weitermachen,
werden sich wundern; sie werden sehen, was mit ihnen
passiert.
Ich glaube, dass wir in diesem Punkt ein ordentliches
rechtsstaatliches Verfahren beschreiten. Ich bin sehr
froh, dass das, was wir noch in der letzten Legislaturperiode auf den Weg gebracht haben, jetzt den Weg nimmt,
den wir eingeschlagen haben.
Lassen Sie mich auf folgende Fragen eingehen: Was
heißt es eigentlich, wenn wir diesen Gesetzentwurf verabschieden? Welche Botschaften gehen davon eigentlich
aus? - Wir möchten gerne, dass von der Verabschiedung
dieses Gesetzentwurfs die Botschaft ausgeht, dass wir
für Fairness und für Mindeststandards auf dem Arbeitsmarkt sind. Die Arbeitnehmer, die zu uns kommen, sollen wissen, dass wir nicht dulden, dass mit ihnen so verfahren wird, wie bisher verfahren wurde. Ich kann die
Unternehmen, die Werkvertragsarbeitnehmer aus anderen Ländern zu uns holen, nur inständig bitten, nicht zu
sagen, sie hätten mit deren Unterbringung und Lebenssituation nichts zu tun. Vielmehr tragen diese Unternehmen Mitverantwortung; sie sollten also ethisch verantwortungsvoll handeln. Das sagen wir ihnen gemeinsam.
Ich kann nur darum bitten, dass das, was die Gemeinde Sögel im Emsland begonnen hat, andere Gemeinden übernehmen, nämlich durch Ortssatzungen und
Ortsstatuten dafür zu sorgen, dass Menschen, die aus anderen Ländern zu uns kommen, einen Mindeststandard
an ordnungsgemäßer, menschenwürdiger Unterbringung haben.
({2})
Hier haben die Kommunen Gestaltungsmöglichkeiten.
Das Ganze ist nicht nur eine Frage des Bundesgesetzgebers; vielmehr kann man die betreffenden Dinge vor Ort
regeln. Dafür setzen wir uns massiv ein.
Ich bin sehr froh, dass wir die Fleischbranche jetzt ins
Arbeitnehmer-Entsendegesetz aufnehmen. Froh sind mit
mir alle Landwirte, die mit dem bisherigen Verfahren
nicht einverstanden waren, und alle Menschen, die sich
für die Menschen, mit denen man schlecht umgegangen
ist, engagiert haben. Ich glaube, wir sind auf einem guten Weg.
Herzlichen Dank.
({3})
Nächste Rednerin ist Beate Müller-Gemmeke, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Unlängst saß ich abends tatsächlich
einmal auf dem Sofa und habe mir als Tatort-Fan eine
Wiederholung angeschaut, und zwar Schweinegeld. Da
geht es um Mord in einem Schlachthof. Dieser Krimi
war nicht nur spannend; er zeigte vor allem eine unsägliche Realität in Deutschland. Damit ist nun endlich
Schluss, zumindest bei den Dumpinglöhnen. Endlich
wurde in der Fleischbranche wenigstens ein Mindestlohn
vereinbart. Und der wird jetzt auch zügig in das Arbeitnehmer-Entsendegesetz übernommen. Das haben wir
Grüne schon lange gefordert, und deshalb unterstützen
wir natürlich den Gesetzentwurf der Bundesregierung.
({0})
Auf den ersten Blick scheint es, als ob diese Übergangsregelung beim Mindestlohn zumindest in dieser
Branche die Tarifautonomie stärkt. Schlussendlich wird
sich das aber erst in der Zukunft zeigen. Wenn die Arbeitgeber der Fleischbranche diesen Mindestlohntarifvertrag nur auf den Weg gebracht haben, damit sie trotz
des gesetzlichen Mindestlohns noch eine Weile niedriger
entlohnen können, dann wäre diese Ausnahme fatal. Die
Arbeitgeber müssen die Zeit jetzt natürlich nutzen und in
weiter gehende Tarifverhandlungen einsteigen. Natürlich
muss es auch um höhere Löhne gehen. Passiert hier
nichts, dann war die Übergangsregelung lediglich ein
Geschenk an die Branche, und das wäre nicht akzeptabel.
({1})
Neben den niedrigen Löhnen geht es natürlich auch
um die Arbeitsbedingungen, und die sind miserabel. In
NRW beispielsweise wurden bei zwei Dritteln der kontrollierten Betriebe massive Arbeitsschutzmängel festgestellt. Die Arbeitszeiten in der Branche sind katastrophal: 13 Stunden am Stück am Fließband sind häufig
Normalität. Die Gesundheitsvorsorge ist völlig unzureichend. Arbeitsunfälle sind an der Tagesordnung, und die
fürchterlichen Zustände in den Unterkünften der Beschäftigten sind ebenfalls bekannt. Daher muss die Arbeitsministerin auch auf die Arbeitgeber Druck machen,
und vor allem muss es effektive Kontrollen geben; denn
alle Beschäftigten, auch in der Fleischbranche, haben
das Recht auf gute Arbeitsbedingungen.
({2})
Was für die Menschen nicht gut ist, schadet auch den
Tieren. Wenn Bandgeschwindigkeiten aus wirtschaftlichen Gründen immer schneller werden, dann bleiben nur
noch wenige Sekunden, um ein Tier zu betäuben und in
Würde zu töten. Jährlich werden so in Deutschland
770 Millionen Tiere geschlachtet, und wegen der enormen Geschwindigkeit wird eine nicht unbeträchtliche
Anzahl ohne jegliche Betäubung getötet. Auch diese
Probleme muss die Bundesregierung endlich in den
Blick nehmen; denn echter Tierschutz sieht anders aus.
({3})
Aber jetzt wieder zurück zu den Menschen und zum
Tatort Schweinegeld. In dem Film wird der Kommissar
durch den Betrieb geführt. Er fragt nach den Beschäftigten. Die Sekretärin antwortet ganz selbstverständlich
und kurz: Das sind nicht unsere Arbeiter. - Genau so ist
es im echten Leben - es wurde schon angesprochen -:
Viele Beschäftigte kommen aus Rumänien oder Bulgarien, sie arbeiten unter menschenunwürdigen Bedingungen, sie schlachten und zerlegen tagtäglich Tiere im Akkord. Wenn sie überhaupt einen Arbeitgeber haben, dann
arbeiten sie teilweise für dubiose Firmen. Ihr Arbeitsverhältnis wird getarnt als Werkvertrag. - Auch das ist unsägliche Realität in Deutschland. Hier muss die Bundesregierung endlich tätig werden.
({4})
Im Koalitionsvertrag steht zwar, dass die Bundesregierung gesetzeswidrige Werkverträge verhindern will;
bisher sind das aber nur spröde Worte und Pläne für das
nächste Jahr.
({5})
Wenn durch zweifelhafte Werkvertragskonstruktionen
immer mehr Firmen auf demselben Betriebsgelände arbeiten, dann zersplittern die Belegschaften - zulasten der
Beschäftigten, der Betriebsräte, der Gewerkschaften.
Die Ministerin will die Tarifautonomie stärken. Wenn sie
das wirklich ernst meint, dann muss endlich Schluss sein
mit diesem Missbrauch von Werkverträgen.
({6})
Mein Fazit ist also: Der Mindestlohn in der Fleischbranche ist richtig und auch wichtig; aber er reicht nicht
aus. Notwendig sind bessere Arbeitsbedingungen und
auch klare Grenzen für Werkverträge. Notwendig sind
vor allem effektive Kontrollen, gerade in dieser Branche; Herr Schiewerling, Sie haben es eben ausgeführt.
Die Finanzkontrolle Schwarzarbeit, die letztlich alle
Mindestlöhne kontrollieren muss, hat aber schon heute
zu wenig Personal, und mehr Personal ist auch nicht geplant. Hier muss die Arbeitsministerin beim Finanzminister endlich klare Kante zeigen; denn ein Mindestlohn nur auf dem Papier - das wäre nicht akzeptabel.
Vielen Dank.
({7})
Vielen Dank. - Es spricht jetzt Bernd Rützel, SPDFraktion.
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als ich
ein kleiner Junge war, gab es einmal im Jahr bei uns zu
Hause ein besonderes Ereignis: Es war Schlachttag. Ein
ortsansässiger Metzger kam vorbei und zerlegte in der
heimischen Waschküche ein Schwein. So war der Bedarf
an Wurst, Schinken und Fleisch für Monate gedeckt.
Seither ist viel passiert: Heute sprechen wir von der
Fleischindustrie, und unser Hunger nach Fleisch wird industriell gestillt. Aus dem löblichen, ehrsamen Fleischerhandwerk ist eine Fleischindustrie entstanden,
die vor allem durch schlechte Arbeitsbedingungen auf
sich aufmerksam machte. Vor allem die Schlachtindustrie hat lange Jahre auf das Geschäftsmodell aus
Werkverträgen und Subunternehmerketten gesetzt.
Für einen Monatslohn von umgerechnet 176 Euro
wurden - auch in meiner Heimat Bayern - Menschen
aus Rumänien durch Subunternehmen beschäftigt. Ich
kritisiere hier in keinster Weise, dass Menschen aus
anderen Ländern bei uns arbeiten. Ich bin für die Arbeitnehmerfreizügigkeit - aber zu fairen Bedingungen.
({0})
Die Politik hätte auf diese Missstände längst reagieren können. Die Einführung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohnes hätte für Ordnung in dieser
Branche sorgen können. Deswegen freue ich mich, dass
ich heute an der Einführung eines Mindestlohnes mitarbeiten kann. Ich habe mich gefreut, dass stellenweise
alle hier - über die Fraktionsgrenzen hinweg - applaudiert haben. Ich denke, wir sind auf dem richtigen Weg.
({1})
Die Branche der fleischverarbeitenden Industrie
schlüpft unter die Decke des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes. Durch die Aufnahme in das Arbeitnehmer-Entsendegesetz sorgen wir dafür, dass der allgemeinverbindliche Mindestlohn auch für nicht tarifgebundene
Betriebe gilt.
Der Tarifvertrag zwischen der Arbeitgebervereinigung Nahrung und Genuß und der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten wird für allgemeinverbindlich
erklärt. Dadurch können die Löhne von vielen Tausend
Menschen in der Fleischbranche noch vor Einführung
des gesetzlichen Mindestlohnes am 1. Januar 2015 teils
deutlich erhöht werden - und das unabhängig davon, ob
die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in regulärer
Beschäftigung oder in Leiharbeit sind oder ob es sich um
über Werkverträge mit Subunternehmen beschäftigte
Menschen handelt. Allein Letztere sind über 20 000
meist osteuropäische Werkvertragsnehmer, die für Niedrigstlöhne arbeiten.
In der deutschen Fleischbranche tätige Menschen sind
damit endlich gleichermaßen gegen die übelsten Formen
des Lohndumpings geschützt. Es geht am 1. Juli 2014
mit 7,75 Euro pro Stunde los. Im Dezember 2014 werden es 8 Euro sein. Ab dem 1. Oktober des nächsten Jahres erhöht sich der Mindestlohn auf 8,60 Euro und ab
1. Dezember 2016 auf 8,75 Euro.
Aus drei Gründen freue ich mich heute besonders darüber, dass jetzt auch diejenigen an den Fleischtöpfen
bedacht werden, die in unserem Teil der Welt die
Fleischtöpfe für uns füllen: Es kehrt ein Stück Gerechtigkeit ein; die Ausbeutung wird beendet. Es wurde endlich ein Mittel gegen die kriminelle Ausnutzung von
Werkverträgen gefunden. Es ist ein deutliches Zeichen
für andere Branchen, und der Mindestlohn wirkt bereits.
Damit, liebe Kolleginnen und Kollegen, enden wir
nicht wie Johanna Dark in Die heilige Johanna der
Schlachthöfe von Bertolt Brecht, die den ausgesperrten
Arbeitern auf den Schlachthöfen Chicagos den Glauben
an Gott näherbringen will und am Ende erkennen muss,
dass ihre Hoffnungen auf Gott und die Verhandlungen
mit den Kapitalisten gescheitert sind und dass sie den
Arbeitern, denen sie helfen wollte, nur geschadet hat.
Heute ist ein guter Schlachttag.
Danke schön.
({2})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist Wilfried Oellers
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Heute ist ein guter Tag
({0})
für die Beseitigung von Missbrauch und ungewünschten
Arbeitsbedingungen in Deutschland und ein guter Tag
für die Tarifautonomie in unserem Land.
({1})
Mit der Aufnahme der Fleischbranche findet nunmehr
eine weitere und damit die 14. Branche Einzug ins Arbeitnehmer-Entsendegesetz. Damit wird ein weiterer bundesweiter Mindestlohn bzw. Mindeststandard geregelt.
Bei Zustimmung zum hier vorliegenden Gesetzentwurf gilt für die Fleischbranche ab dem 1. Juli 2014 ein
bundeseinheitlicher Mindestlohn in Höhe von 7,75 Euro
pro Stunde. Nach einer Anhebung des Mindestlohns ab
dem 1. Dezember 2014 auf 8 Euro und einer weiteren
Anhebung ab dem 1. Oktober 2015 auf 8,60 erreicht der
Mindestlohn ab dem 1. Dezember 2016 einen Betrag in
Höhe von 8,75 Euro.
Durch den am 13. Januar 2014 zwischen den Tarifvertragsparteien geschlossenen Tarifvertrag wird damit die
im Koalitionsvertrag vereinbarte Mindestlohnhöhe von
8,50 Euro mehr als ein Jahr vor dem Stichtag 1. Januar
2017, ab dem der bundesweit einheitliche Mindestlohn
in Höhe von 8,50 Euro auch für bis dahin noch gültige
anderweitige tarifvertragliche Vereinbarungen gelten
soll, überschritten.
Die aus dem Gesetzentwurf resultierende Aufnahme
des vereinbarten Tarifvertrags der Fleischindustrie in das
Arbeitnehmer-Entsendegesetz hat insbesondere zur
Folge, dass die Arbeitnehmer von ausländischen Subunternehmern, die in Deutschland arbeiten, ebenfalls die
genannten Mindestlöhne und Mindeststandards zu erhalten haben. Damit wird ein zu Recht an den Pranger gestellter Missbrauch von Werkverträgen und Leiharbeitern aus Osteuropa unterbunden; denn eine solche
Aufnahme erfolgt nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz mit dem Ziel, angemessene Mindestarbeitsbedingungen für grenzüberschreitend entsandte und für regelmäßig im Inland beschäftigte Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer zu schaffen und faire und funktionierende
Wettbewerbsbedingungen zu gewährleisten. Dies gilt bei
der Aufnahme in das Arbeitnehmer-Entsendegesetz für
alle Betriebe einer Branche.
({2})
Durch den geschilderten Missbrauch geriet nicht nur
die gesamte fleischverarbeitende Branche in Misskredit.
Diese negativen Zustände hatten eine gewisse Strahlwirkung und damit auch Auswirkungen auf das fleischproduzierende landwirtschaftliche Gewerbe, das in dieser
Diskussion zu Unrecht in einem Atemzug mit der
Fleischwirtschaft genannt wurde.
Mit diesem Tarifvertrag haben es die Tarifvertragsparteien geschafft, Mindeststandards bundeseinheitlich
festzulegen, um so zukünftig den geschilderten Missbrauch zu unterbinden.
All die genannten Gründe rechtfertigen die Empfehlung, dem Gesetzentwurf zuzustimmen, um den negativen Eindrücken der Vergangenheit entgegenzuwirken.
({3})
Insbesondere ist bei diesem Gesetzentwurf zu berücksichtigen, dass es der ausdrückliche Wunsch der Tarifvertragsparteien ist, den beschlossenen bundeseinheitlichen Tarifvertrag in das Arbeitnehmer-Entsendegesetz
aufzunehmen. Der Gesetzgeber sollte sich diesem ausdrücklichen Wunsch nicht entgegenstellen und damit die
Tarifautonomie stärken.
Die gewünschte Aufnahme der Fleischbranche in das
Arbeitnehmer-Entsendegesetz stellt damit den letzten
Schritt eines seit Frühjahr bzw. Sommer 2013 eingeleiteten Prozesses dar. Sie ist als wesentlicher Erfolg der
Union anzusehen, die sich sehr für den Abschluss eines
bundeseinheitlichen Tarifvertrags der Fleischbranche
ausgesprochen hat.
({4})
Vor allem aber ist diese Aufnahme ein deutlicher Erfolg für die Tarifautonomie. Sie stärkt damit die verfassungsrechtlich garantierte Tarifvertragsfreiheit, für die
sich die Union stets eingesetzt hat. Dass nunmehr die 14.
Branche in das Arbeitnehmer-Entsendegesetz aufgenommen wird, ist ein deutliches positives Signal in
Richtung Tarifvertragsfreiheit. Diese positive Entwicklung sollte uns Anlass geben, die Tarifautonomie bei allen anderen anstehenden Entscheidungen weiter zu stärken.
({5})
Heute ist ein guter Tag für die Beseitigung von Missständen und für die Tarifautonomie in Deutschland. Lassen Sie uns weiter daran arbeiten, dass noch viele weitere
gute Tage für die Tarifautonomie und gegen Missbrauch
in Deutschland folgen werden!
Vielen Dank.
({6})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist Dennis Rohde,
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Ausweitung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes auf die Fleischwirtschaft steht unmittelbar bevor.
Der Weg ist frei, den zu Beginn dieses Jahres ausgehandelten Mindestlohn für allgemeinverbindlich zu erklären. Damit schieben wir der Ausbeutung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern auch in diesem Bereich
endlich einen Riegel vor.
({0})
Für uns als Land inmitten Europas ist dabei wichtig,
dass die Tarifbedingungen dann auch für Arbeitgeber
gelten, die ihren Sitz im Ausland haben und die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nach Deutschland entsenden. Als Abgeordneter aus der Region Weser-Ems
kann ich Ihnen aus Erfahrung sagen, dass dieses Thema
ein Dauerbrenner ist: allgegenwärtig in den Medien,
landauf, landab, Gesprächsrunde für Gesprächsrunde,
Diskussionen in den Räten, im Landtag oder in extra eingerichteten Arbeitskreisen. Wir haben genau wie die anderen betroffenen Regionen lange auf den heutigen Tag
gewartet. Nicht zuletzt dank des Einsatzes von Bundesarbeitsministerin Nahles und des Abschlusses des Branchendialoges im März 2014 können wir sagen: Auch die
Fleischindustrie bekommt endlich einen Mindestlohn.
({1})
Als Sozialdemokrat sage ich Ihnen: Stundenlöhne von
wenigen Euro zu bezahlen und den Beschäftigten dann
noch überzogene Mieten für schmuddelige Gruppenunterkünfte abzuziehen, ist schamlos und kaltschnäuzig.
Das werden wir in diesem Hause nicht weiter hinnehmen.
({2})
Denn uns ist doch klar: Solch unverfrorenes Handeln
verunglimpft auch die Betriebe, in denen es ordentlich
und nach Tarifrecht zugeht. Es verzerrt den Wettbewerb
und schädigt unsere Wirtschaft. Damit ist jetzt Schluss.
Zusammengefasst geht es also um zwei Dinge: erstens um den Schutz von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern vor Dumpinglöhnen, vor Ausbeutung und nicht
angemessenen Arbeitsbedingungen und zweitens um die
Wiederherstellung von gleichen Wettbewerbsbedingungen für unsere Unternehmen. Genau deshalb muss ein
Tarifvertrag für die ganze fleischverarbeitende Industrie
gelten und nicht nur für die Betriebe, die sich auch ohne
Gesetz an die guten Sitten halten.
({3})
Es zeigt sich heute erneut: Tarifautonomie und ordnungspolitische Verantwortung harmonieren sehr gut
miteinander und führen gemeinsam zu vernünftigen
Ergebnissen. Denn es ist parlamentarische Pflicht, nicht
einfach alles laufen zu lassen. Wer unter dem Deckmantel des Mantras „Der Markt wird es schon regeln“ Ungerechtigkeiten wie bizarr niedrige Löhne kleinredet, der
braucht arbeitsmarktpolitische Nachhilfe. Denn genau
das ist nicht die sozial-marktwirtschaftliche Idee eines
fairen Zusammenspiels von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft.
({4})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Große
Koalition liefert. Wir bauen keine Luftschlösser. Wir
verteilen keine rosaroten Brillen. Wir diskutieren und
beschließen pragmatische Lösungen und räumen systematisch das ab, was in den letzten Jahren liegen geblieben ist. Es liegt viel vor uns, und das sitzen wir nicht aus,
sondern wir packen es an. Es wurde auch Zeit.
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank. - Nächster Redner für die CDU/CSU ist
der Kollege Matthäus Strebl.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Zum wiederholten Mal beraten wir heute
einen Gesetzentwurf zur Änderung des ArbeitnehmerEntsendegesetzes. Heute steht die Fleischindustrie in
ihrer ganzen Vielfalt vom Schlachten bis zur Fleischverarbeitung im Mittelpunkt. Von der Aufnahme in das
Arbeitnehmer-Entsendegesetz sind über 80 000 Beschäftigte direkt betroffen. Sie sorgen unter hohen körperlichen Belastungen letztlich für unser aller leibliches
Wohl, ohne entsprechend entlohnt zu werden.
Für bundesweite Empörung sorgte kürzlich, vor etwa
einem Dreivierteljahr, die Südfleisch, als bekannt wurde,
dass sie mithilfe von Werkverträgen osteuropäische
Arbeitnehmer ausbeutete.
({0})
In der Sendung Kontrovers des Bayerischen Fernsehens
wurde ausführlich darüber berichtet, dass eine rumänische Frau, die bei Südfleisch beschäftigt war und eigentlich 1 076 Euro hätte bekommen sollen, mit 170 Euro
abgefunden wurde. Sie konnte nicht einmal die Heimreise bezahlen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, da fehlt der
Respekt für geleistete Arbeit. Das ist beschämend, und
deswegen müssen wir darauf reagieren.
({1})
Unser Ziel ist es, mit dem Gesetz den Beschäftigten
der Fleischindustrie endlich eine vernünftige Bezahlung
zu sichern. Wir werden als Gesetzgeber die Beschäftigten der Fleischindustrie vor Wildwuchs und Ausbeutung
schützen.
Lassen Sie mich kurz zurückblicken: Als das Arbeitnehmer-Entsendegesetz im April 2009 in Kraft trat, ging
es um - ich zitiere - „zwingende Arbeitsbedingungen für
grenzüberschreitend entsandte und für regelmäßig im
Inland beschäftigte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer“. Damit sollten faire und funktionierende Wettbewerbsbedingungen gewährleistet werden.
Zugleich galt es, sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zu erhalten und die Ordnungs- und Befriedigungsfunktion der Tarifautonomie zu wahren. Sieben
Branchen waren es, die anfangs in das Verzeichnis des
Entsendegesetzes aufgenommen wurden. Inzwischen
sind - zuletzt im Dezember des vergangenen Jahres mit
dem Friseurhandwerk - fünf weitere Branchen hinzugekommen.
Trotz aller Fortschritte auf diesem Gebiet sind heute
und in Zukunft weitere Ergänzungen und Fortschreibungen des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes unerlässlich.
Das gilt ganz besonders für die Fleischindustrie. Denn
wir kommen nicht an der Tatsache vorbei: Aufgrund
einiger schwarzer Schafe ist die gesamte Branche in den
vergangenen Jahren zunehmend in Verruf geraten. Die
offenen Grenzen zu den osteuropäischen Ländern haben
dazu geführt, dass speziell in der Fleischindustrie - besonders in den grenznahen Regionen - massenhaft Missbrauch mit der Not der Menschen aus diesen Ländern
betrieben wurde und teilweise noch wird.
Beispielhaft hierfür steht die Südfleisch, die ich bereits genannt habe. Dieses Unternehmen hat die Möglichkeit genutzt - richtiger ist es, zu sagen: Missbrauch
betrieben -, Werkverträge mit Subunternehmen abzuschließen, statt die Arbeitnehmer zu fairen Bedingungen
selbst anzustellen. Werkverträge sind im Grunde genommen etwas Gutes. Das aber muss richtig betrieben werden, und wenn hier Missbrauch betrieben wird, müssen
wir eingreifen.
({2})
Bekannt und leider durchaus keine Ausnahme ist,
dass in deutschen Schlachthöfen Arbeitnehmer vor allem
aus osteuropäischen Nachbarländern für weniger als
200 Euro im Monat schuften und Schwerstarbeit verrichten müssen. Solchen Erscheinungen wollen und
müssen wir entgegentreten. Deshalb ist die vorliegende
Änderung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes überfällig und unverzichtbar. Das Bundeskabinett hat daher am
26. Februar 2014 einen Gesetzentwurf zur Änderung des
Arbeitnehmer-Entsendegesetzes beschlossen. Erst wenn
die Branche im Branchenkatalog des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes steht, kann der Mindestlohn für allgemeinverbindlich erklärt werden.
Erfreulicherweise - das wurde von den Vorrednern
schon gesagt - hat die Tarifkommission der Fleischwirtschaft einen Mindestlohntarifvertrag vereinbart. Das war
am 13. Januar dieses Jahres. Das muss man dankenswerterweise sagen. Die Kollegen haben schon auf die Steigerung hingewiesen. Der Stundenlohn soll beginnend
bei 7,75 Euro über 8 Euro und 8,60 Euro auf 8,75 Euro
steigen. Das müssen wir jetzt im Arbeitnehmer-Entsendegesetz aufnehmen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie
uns da herangehen, die Fleischindustrie in den Branchenkatalog des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes aufnehmen und dazu beitragen, dass ordentliche Löhne gezahlt werden.
Herzlichen Dank.
({3})
Der Kollege Strebl hatte das letzte Wort zu diesem
Tagesordnungspunkt. Deshalb schließe ich hiermit die
Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/910 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Britta
Haßelmann, Kerstin Andreae, Dr. Thomas
Gambke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Eine Milliarde Euro Entlastung für Kommunen im Jahr 2014 umsetzen
Drucksache 18/975
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsauschuss ({0})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Britta Haßelmann, Bündnis 90/Die Grünen.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Wir beschäftigen
uns jetzt in diesem Tagesordnungspunkt mit dem Thema
„Entlastung der Kommunen“. Es ist noch nicht so lange
her, da hat sich die Große Koalition für ihren Koalitionsvertrag und das im Koalitionsvertrag beschriebene
Ausmaß, in dem die Kommunen von SPD und Union
entlastet werden sollen, schon gebührend gefeiert.
({0})
Das ist wirklich unbegründet; denn alles, was Sie den
Kommunen versprochen haben, zum Beispiel die Eingliederungshilfe und das Bundesteilhabegesetz, das in
dieser Legislaturperiode eingeführt werden sollte, und
zwar im Interesse der Menschen mit Beeinträchtigungen, weil wir uns verpflichtet haben, die UN-Konvention
umzusetzen, haben Sie nicht gehalten. Eine Entlastung
von 5 Milliarden Euro, die Sie im Rahmen des Fiskalpaktes mit den Ländern vereinbart haben, soll erst, man
höre und staune, 2018 kommen. Das ist nach der jetzigen
Legislaturperiode. Das sage ich insbesondere in Richtung der Sozialdemokraten. Warum feiern Sie sich eigentlich überall so, dass Sie die Kommunen entlasten
und ihnen 5 Milliarden Euro in dieser Legislaturperiode
versprechen? Ein Blick in den Haushaltsentwurf, über
den wir in der nächsten Woche beraten, zeigt aber: Diese
Entlastung kommt erst 2018, also nach dieser Legislaturperiode. Versprochen und gebrochen!
({1})
Darüber hinaus haben Sie den Kommunen zugesichert, bis zum Inkrafttreten eines Bundesteilhabegesetzes - es ist sicherlich schwierig, ein solches Gesetz auf
den Weg zu bringen - übergangsweise 1 Milliarde Euro
zur Verfügung zu stellen. Da ich aus Nordrhein-Westfalen komme, weiß ich, wie Sie sich dafür vor Ort gefeiert
haben. Sie haben gesagt, dass die Kommunen im
Bereich der Bundesleistungsgesetze, für die wir hier in
Berlin verantwortlich sind, um 1 Milliarde Euro, die ab
2014 zur Verfügung steht, entlastet werden. Ein Blick in
den Haushaltsentwurf macht aber deutlich: Auch dieses
Versprechen wird nicht gehalten; denn die 1 Milliarde
Euro für den Übergang steht erst ab 2015 und nicht, wie
Sie die Menschen überall glauben gemacht haben, schon
ab 2014 zur Verfügung. Deshalb haben wir diesen Antrag gestellt. Es ist wichtig, dass Sie seriöse Versprechen
machen, auf die man sich vor Ort verlassen kann.
({2})
- Herr Kahrs, im Gegensatz zu Ihnen habe ich das alles
gelesen.
({3})
Sie entlasten die Kommunen um 1,1 Milliarden Euro
bei der Grundsicherung im Alter. Dieser Schritt wurde
zwischen der schwarz-gelben Regierung und den rotgrün regierten Ländern sowie mit unserer Zustimmung
in der letzten Legislaturperiode vereinbart. So weit, so
gut. Das ist positiv für die Kommunen, weil damit die
Grundsicherung im Alter vom Bund zu 100 Prozent
übernommen wird. Der Bund trägt für diese Leistung
Verantwortung. Darüber hinaus haben Sie aber den
Kommunen 1 Milliarde Euro ab 2014 zugesichert.
({4})
Zumindest haben Sie das überall, zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz, erzählt. Aber im
Haushalt ist diese Milliarde nicht eingestellt. Entweder
sagen Sie den Kommunen: „Wir können das nicht finanzieren“, oder Sie unterlegen dieses Versprechen auch im
Haushalt. Darauf zielt unser Antrag ab. Wir wollen, dass
Sie Ihr Versprechen gegenüber der kommunalen Ebene
einhalten.
({5})
Herr Liebing, zu Ihrer Geschichte, den Kommunen
gehe es insgesamt so gut
({6})
- Herr Brinkhaus, das kann ich Ihnen erklären -, und
dort, wo es schlecht laufe, regiere Rot-Grün,
({7})
kann ich nur sagen: Mein Gott! Wie peinlich ist diese
Analyse! Die Kommunen in Nordrhein-Westfalen wurden seit 2010 - seit diesem Zeitpunkt ist Jürgen Rüttgers
Gott sei Dank nicht mehr im Amt gewesen - um
300 Millionen bzw. 393 Millionen Euro pro Jahr entlastet. Im Jahr 2014 gibt es eine Finanzausgleichsmasse im
Umfang von 9,4 Milliarden Euro. Im Rahmen des
Stärkungspakts für die Kommunen
({8})
werden 4 Milliarden Euro des Landes zwischen 2011
und 2020 zur Verfügung gestellt. Dafür hat Rot-Grün in
Nordrhein-Westfalen gesorgt. In mehreren Konnexitätsurteilen wird darauf hingewiesen, dass Schwarz-Gelb
die Verpflichtungen gegenüber den Kommunen nicht
eingehalten hat. Die schwierige Lage gilt auch für andere Bundesländer. Man muss nur genau hinschauen.
({9})
Sie können sich an dieser Stelle keinen schlanken Fuß
mit Verweis auf die verbesserte Lage machen. Bundesweit weisen die Kommunen zwar einen Überschuss von
1,1 Milliarden Euro auf. Es gibt aber bei den Kommunen
längst ein Gefälle, eine Zweiklassengesellschaft. Die
Gesamtverschuldung liegt bei 130 Milliarden Euro. Die
Kassenkredite belaufen sich auf 47 Milliarden Euro. Die
sozialen Kosten der Bundesleistungsgesetze, für die wir
hier in Berlin verantwortlich sind - es handelt sich um
Pflichtaufgaben der Kommunen -, belaufen sich auf
45 Milliarden Euro. Dafür kommen im Moment zu großen Teilen die Kommunen auf. Ich merke, wie sehr das
Thema Sie aufregt, und kann nur sagen: Liefern Sie einfach! Halten Sie Ihre Versprechen! Das sage ich in Richtung der Sozialdemokraten, insbesondere derjenigen aus
Nordrhein-Westfalen. Ich finde es skandalös, dass Ihre
A-Länder-Kollegen auf der Finanzministerkonferenz des
Bundesrates den Antrag von Schleswig-Holstein und
Bremen, für die 2014er-Lösung einzustehen, abgelehnt
haben.
({10})
Nächster Redner für die CDU/CSU-Fraktion ist der
Kollege Dr. André Berghegger.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Sehr geehrte Frau
Haßelmann, natürlich sind wir in der Interpretation dieser Situation unterschiedlicher Meinung.
({0})
Der vorliegende Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen gibt mir die Gelegenheit, deutlich herauszustellen: CDU und CSU stehen für eine kommunalfreundliche Politik.
({1})
Wir sind verlässliche Partner. Das ist bisher so gewesen,
und das wird auch in Zukunft mit der SPD so sein.
({2})
An dieser Stelle möchte ich noch einmal betonen,
dass nach unserer Finanzverfassung die Bundesländer
dafür verantwortlich sind, die Kommunen finanziell auskömmlich auszustatten.
({3})
Trotz dieser Aufgabenverteilung stehen wir fest an der
Seite der Kommunen und helfen selbstverständlich in
besonderen Situationen. Dazu ein Blick in die jüngere
Vergangenheit: Seit Übernahme der Regierungsverantwortung im Jahr 2005 hat die Union die Interessen der
Kommunen deutlich berücksichtigt. An dieser Stelle
möchte ich einige Stichworte erwähnen: Kosten der Unterkunft und Heizung im Rahmen der Grundsicherung
für Arbeitssuchende, das Steuervereinfachungsgesetz
2011, die Beteiligung am Hochschulpakt und an der Exzellenzinitiative sowie die Entflechtungsmittel im Rahmen der Verhandlungen über den Fiskalpakt.
Ich gehöre dem Hohen Haus zwar erst seit September
2013 an und habe damit an den parlamentarischen Entscheidungen der Vergangenheit nicht mitgewirkt. Ich
glaube aber, dass ich die Situation aus Sicht der Kommu2098
nen gut beurteilen kann. In den letzten Jahren durfte ich
als hauptamtlicher Bürgermeister eines Mittelzentrums
im Landkreis Osnabrück in Niedersachsen daran mitwirken, diese kommunalfreundliche Politik umzusetzen und
mitzugestalten.
({4})
Wir sollten uns immer wieder bewusst machen: Die Länder und die Kommunen konnten in der vergangenen Legislaturperiode die größten finanziellen Entlastungen der
Geschichte durch den Bund verzeichnen. Die Regierung
hat nicht nur versprochen, Frau Haßelmann, sie hat auch
gehandelt. Das schafft Vertrauen.
({5})
Zwei wesentliche Punkte möchte ich betonen: zunächst die Betreuung der Kinder unter drei Jahren. Der
Ausbau der Kleinkindbetreuung fällt grundsätzlich in die
Zuständigkeit der Länder. Dennoch hat der Bund vorbildlich tatkräftige Unterstützung geleistet. Dadurch
wurde der Krippenausbau flächendeckend erst richtig
angestoßen. Jeder von uns kann das im eigenen Wahlkreis erkennen. Insgesamt 5,4 Milliarden Euro hat der
Bund für den Ausbau der Kleinkindbetreuung und die
Finanzierung der Betriebskosten bereits in den Jahren
2009 bis 2014 bereitgestellt. Ab 2015 kommen noch einmal jährlich 845 Millionen Euro für den Betrieb von
Kinderkrippen und Tagespflegestellen hinzu. Wir sehen
vor Ort, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf wird
deutlich gestärkt.
Ein weiteres Beispiel ist die Übernahme der Kosten
für die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung. Hier erkennen wir eine dynamische Entwicklung.
Noch im Koalitionsvertrag sind wir bei der Übernahme
der letzten Stufe der Grundsicherung von 1,1 Milliarden
Euro ausgegangen. Diese Entlastung beläuft sich derzeit
jedoch schon auf 1,6 Milliarden Euro. Die schrittweise
Erhöhung der Erstattung der Nettoausgaben bei den
Kommunen bewirkt eine Entlastung bis 2017 in der Größenordnung von voraussichtlich über 25,4 Milliarden
Euro.
Sicherlich ist an dieser Stelle auch die allgemeine
wirtschaftliche Entwicklung zu nennen - das ist gar
keine Frage -, die wir nach der Finanz- und Wirtschaftskrise verzeichnen. Jedoch sind maßgebliche Rahmenbedingungen hierfür durch wachstumsfreundliche Entscheidungen auf Bundesebene gesetzt worden. Zwar
lässt sich die Wirkung nicht quantifizieren, doch ohne
Zweifel sind auch die Kommunen an dieser positiven
konjunkturellen Entwicklung beteiligt.
Die Kommunen profitieren neben der Gesamtheit der
Länder auch von der positiven Einnahmeentwicklung,
den Entlastungen durch den Bund und den günstigen Finanzierungsbedingungen. Insgesamt konnten die Kommunen ihre Steuereinnahmen um rund 20 Milliarden
Euro gegenüber der Zeit vor der Finanz- und Wirtschaftskrise steigern. Die Zinszahlungen gingen im selben Zeitraum erheblich zurück. Insgesamt erzielten die
Kommunen im Jahr 2012 einen Finanzierungsüberschuss von 1,8 Milliarden Euro.
Natürlich gibt es weiterhin große Unterschiede bei
den Kommunen. Jede Kommune ist anders, und es gibt
vielfältige Ursachen für die jeweilige Situation. Wir sind
jedoch in unserem bewährten Föderalismus in der Vielfalt geeint. Das zeichnet uns aus, und das ist richtig so.
Es muss weiter Anreize für eigene Konsolidierungsbemühungen geben, ohne dass wir die finanziell schwächeren Kommunen aus den Augen verlieren.
Insgesamt werden die Kommunen durch den Wettbewerb stärker.
Die Politik der Bundesregierung, eine angemessene
Finanzausstattung der föderalen Ebenen zu sichern, trägt
erste Früchte. Die Bundesländer sind jedoch weiter gefordert, ihre Verantwortung für eine auskömmliche Finanzausstattung der Kommunen zu übernehmen.
({6})
Zu betonen ist nämlich, dass zu einem funktionierenden
föderalen System ebenso gehört, dass der Bund selbst
über eine angemessene Finanzausstattung verfügt.
Aus dem Koalitionsvertrag in seiner Gesamtheit lässt
sich Folgendes erkennen: Die Kommunen werden von
2015 bis 2017 jeweils um 1 Milliarde Euro entlastet, bevor eine Entlastung im Rahmen des Bundesteilhabegesetzes in Höhe von 5 Milliarden Euro erfolgt. Diese
Maßnahmen sind gegenfinanziert. Darauf hat sich die
Koalition unter Abwägung aller Umstände verständigt.
Die im Antrag von Bündnis 90/Die Grünen geforderte
Summe von 1 Milliarde Euro bereits im Jahr 2014 ist aus
Sicht der Kommunen zwar wünschenswert - da schlägt
mein kommunales Herz -, aber leider nicht zu finanzieren, da keine Spielräume erkennbar sind. Einen entsprechenden Gegenfinanzierungsvorschlag habe ich Ihrem
Antrag nicht entnehmen können. Das wäre ein ungedeckter Wechsel auf die Zukunft.
({7})
Das geht so nicht. Vielmehr muss die Maxime gelten:
mit dem Einkommen auskommen! Dabei sind wir auf einem guten Weg. Gleichwohl werden wir unsere kommunalfreundliche Politik fortsetzen. Hierzu sind im Koalitionsvertrag weitere Maßnahmen zugunsten der
Kommunen vereinbart. Dazu zählen etwa die Aufstockung der Städtebauförderung, der Ausbau der Breitbandversorgung oder die Verbesserung des Hochwasserschutzes. Der Koalitionsvertrag zeigt deutlich, dass die
Kommunalinteressen bei dieser Bundesregierung in guten Händen sind.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Herr Kollege Dr. Berghegger, das war Ihre erste
Rede. Ich gratuliere Ihnen herzlich dazu und wünsche
Ihnen viele weitere Reden im Hohen Hause.
({0})
Vizepräsident Johannes Singhammer
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Kollegin Kerstin Kassner, Die Linke.
({1})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dem Kollegen herzlichen Glückwunsch zu seiner ersten Rede!
Die Botschaft, dass die Kommunen von der neuen Bundesregierung gut versorgt werden, höre ich wohl, allein
mir fehlt der Glaube.
({0})
Ich habe in meiner Funktion als Landrätin auf Rügen in
zehn Jahren sehr wohl erlebt, dass da Anspruch und
Wirklichkeit auseinanderdriften. Zuallererst Glückwunsch an die Kollegen von den Grünen, dass sie es geschafft haben, hier einen Antrag vorzulegen, zu dem wir
uns äußern können, um die Situation hier klar und deutlich zu beschreiben und sie zu verändern.
({1})
Die Situation der Kommunen ist nach wie vor bedenklich, und wir haben die Pflicht, hier darüber zu reden.
Herr Rehberg, trotz Ihres heutigen Geburtstages: Es
ist mir in meiner Zeit als Landrätin gelungen, ein Defizit
von 8 Millionen Euro im Haushalt des Landkreises Rügen auf null zu reduzieren. Das muss erst einmal nachgemacht werden.
({2})
Ich habe mir einmal angesehen, wie die Situation in
Mecklenburg-Vorpommern ist. Auch dafür trägt Herr
Rehberg Mitverantwortung.
({3})
In den letzten 20 Jahren gab es 12 defizitäre Jahre für
die Landkreise, nur 8 waren positiv. Am Ende steht
heute, mit Abschluss des Jahres 2013, für die Kommunen ein Defizit von 412,4 Millionen Euro. Es ist also fast
eine halbe Milliarde Euro, die die Landkreise in Mecklenburg-Vorpommern quält. Das kann keine gute Bilanz
sein.
({4})
Die Sozialausgaben, Herr Rehberg, sind von 1995, als
alle Landkreise 618 Millionen Euro aufbringen mussten,
auf im Jahre 2013 mittlerweile 1,302 Milliarden Euro
gestiegen, haben sich also mehr als verdoppelt. Eine
ganz kräftige Zäsur war dabei die Einführung des HartzIV-Gesetzes. In diesem Zusammenhang hat ein exorbitanter Anstieg stattgefunden.
Ich will es mit Zahlen aus meinem Haushalt auf Rügen untersetzen:
({5})
Damals, bis zum Jahre 2004, hatten wir im Kreis Rügen
5 Millionen Euro für Sozialausgaben aufzubringen. Für
die Kosten der Unterkunft hatten wir dann von einem
Jahr zum nächsten 18 Millionen Euro aufzubringen. Ein
Teil wurde vom Bund gegenfinanziert, aber am Ende
mussten wir 15 Millionen Euro aus unserer Kasse aufbringen. Und wie es so ist: Der Kreis kann die Ausgaben
nur über die Kreisumlage refinanzieren. Das heißt, dass
wir allen Kommunen auf der Insel in die Tasche greifen
mussten. Ich denke, das muss der Bund verhindern. Deshalb ist mein Appell an Sie als Verantwortliche in der
Großen Koalition: Prüfen Sie jedes Ihrer Vorhaben auf
seine Auswirkungen auf die Kommunen.
Dabei ist es nicht so einfach, eine mögliche Relevanz
für die Kommunen darzustellen. Denn oft ist es so, dass
sich ein Vorhaben im Durchschnitt zwar positiv auf die
Kommunen auswirkt; aber dasselbe Vorhaben kann für
die Gemeinden und die Landkreise, in denen die wirtschaftliche Konjunktur nach wie vor schwach ist, die sozialen Belastungen hoch sind, die Arbeitslosigkeit immer noch annähernd bei 20 Prozent liegt und sehr viele
Menschen Leistungen im Rahmen der Grundsicherung
im Alter - Gott sei Dank hat jetzt der Bund diese Kosten
übernommen -, aber auch ergänzende Leistungen vom
Sozialamt oder vom Jobcenter erhalten, eine richtig
harte Zäsur bedeuten. Oft können sie sich ein Vorhaben
nicht leisten und müssen die entsprechenden Aufwendungen über Kassenkredite finanzieren.
Ich will es ganz deutlich sagen: Wir haben in unserer
Fraktion einen Kommunal-TÜV eingeführt; jedes Vorhaben, das wir auf den Weg bringen, wird auf seine Auswirkungen auf die Kommunen hin untersucht. Das erwarte ich, bitte schön, auch von der Großen Koalition.
Also: Hände weg von den Kommunen!
Danke schön.
({6})
Vielen Dank, Frau Kassner. - Nächster Redner ist für
die SPD der Kollege Bernhard Daldrup.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Berghegger, zunächst herzlichen Glückwunsch zu
Ihrer ersten Rede! Wie Sie wissen, rede auch ich für die
Koalition, wenn auch vielleicht nicht mit demselben Optimismus, obwohl es in der Sache in die gleiche Richtung geht.
Ich möchte vorweg eine Bemerkung machen. Ich begrüße es sehr, dass die Grünen eine solche Gelegenheit
schaffen, über die Lage der Kommunen zu reden; das ist
in der Tat gut.
({0})
Aber ich will Frau Haßelmann doch auch fragen: Wenn
Sie der Meinung sind, dass die Mittel für die Eingliede2100
rungshilfe in Höhe von 5 Milliarden Euro früher bereitgestellt werden müssen, warum beantragen Sie es dann
nicht?
({1})
In Ihrem Antrag ist nur von 1 Milliarde Euro die Rede;
der Rest steht lediglich in der Begründung.
({2})
- Ich frage Sie ja nur, warum Sie es nicht beantragen.
Wenn Sie der Meinung sind, dass es richtig ist, dies früher zu tun, sollten Sie am besten einen Deckungsvorschlag unterbreiten.
({3})
Ich will sagen: Die Beschreibung der Situation der
Kommunen, die Sie abgeben, ist für viele Kommunen
tatsächlich zutreffend. Der Finanzierungssaldo liegt, was
die Kommunen angeht, insgesamt im Plus, und zwar bei
1,1 Milliarden Euro. Das verdeckt jedenfalls ein Stück
weit die Realität. Der Anstieg der Kassenkredite auf
48 Milliarden Euro ist trotz höherer Steuereinnahmen
dramatisch. Die Gesamtverschuldung schreitet voran.
Die Sozialausgaben der Kommunen sind bundesweit auf
46 Milliarden Euro gewachsen. Das ist schon eine dramatische Situation. Die Investitionstätigkeit der Kommunen ist mittlerweile auf das Niveau der 90er-Jahre zurückgefallen. Das heißt mit anderen Worten, nüchtern
und ohne jede Schuldzuweisung festgestellt: Die Kommunen fahren in Deutschland auf Verschleiß. Das führt
zu einem Substanzverlust, der auch den Wirtschaftsstandort Deutschland insgesamt beeinträchtigt. Darauf
müssen wir uns konzentrieren.
({4})
Die erste Feststellung ist also: Trotz wachsender Steuereinnahmen, höherer Beschäftigung und niedrigerer Zinsen können viele Kommunen die ihnen übertragenen
Aufgaben nicht finanzieren. Das ist durchaus ein Alarmzeichen.
Wenn man die Lage etwas differenzierter betrachtet,
dann erkennt man, dass die Dramatik eher zunimmt. Es
gibt zwar selbstverständlich viele gesunde, lebenswerte
Städte, Gemeinden und Landkreise in Deutschland
- keine Frage! -, aber ihnen steht eine größere Zahl von
Städten, Gemeinden und Landkreisen gegenüber, die jedes Jahr tiefer in den Strudel der Verschuldung geraten.
Diese Situation, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist weder auf ein Bundesland noch auf eine Gemeindegrößenklasse beschränkt.
({5})
- Pirmasens liegt doch nicht in Nordrhein-Westfalen,
Kaiserslautern liegt doch nicht in Nordrhein-Westfalen.
Ich kann Ihnen reihenweise Beispiele aufzählen. Fallen
Sie doch nicht immer in die alten Muster zurück!
({6})
Ich beschreibe erst einmal nur eine Situation und weise
gar keine Schuld zu. Ich sage ganz im Gegenteil: Ohne
die Unterstützung des Bundes würde diese Schere weiter
auseinandergehen. Das hat diese Koalition erkannt, und
sie wird etwas dagegen tun. Das heißt mit anderen Worten: Wir stehen mit Blick auf das ganze Land vor einer
Herausforderung. Bei dieser Gelegenheit sei mir die Bemerkung gestattet: Ja, unsere Banken sind systemrelevant, aber unsere Kommunen sind es auch.
({7})
Kollege Daldrup, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Kurth?
Wenn ich das kann? - Ich habe das noch nie gemacht,
ich rede hier ja nicht so oft.
Bitte schön.
Ich hoffe, dass Sie das können. - Sie haben die Lage,
ähnlich wie Frau Haßelmann, richtig analysiert und gesagt, die Bundesregierung würde etwas tun. Aber warum
tun Sie nicht das, was Sie im Koalitionsvertrag niedergeschrieben haben bzw. was Sie insbesondere Ihre Parteifreunde in den Kommunen in Nordrhein-Westfalen glauben machen?
({0})
Im Januar waren die Bürgermeisterinnen und Bürgermeister sowie die Landräte des Ruhrgebiets von CDU
und SPD hier in Berlin und haben mit den Bundestagsabgeordneten des Ruhrgebiets, und zwar aller Fraktionen,
den Austausch gesucht. Sie haben unmissverständlich zu
erkennen gegeben, dass sie auf die Zusagen gebaut haben,
dass zumindest innerhalb dieser Legislaturperiode mit der
geplanten Entlastung der Kommunen in Höhe von 5 Milliarden Euro begonnen wird und dass sie bereits ab 2014
jedes Jahr um 1 Milliarde Euro entlastet werden.
Könnte es sein, dass Sie in der Phase, als Sie, speziell
in der SPD, die Zustimmung für Ihren Koalitionsvertrag
brauchten, bewusst die eigenen Parteigänger in den strukturschwachen Kommunen in NRW und im Ruhrgebiet in
dem Glauben gelassen haben, die Entlastung käme - sonst
hätten sich die Bürgermeister ja nicht so geäußert -, und
dass Sie sie mit der Veröffentlichung der mittelfristigen
Finanzplanung jetzt im Endeffekt hinters Licht geführt
haben?
Wissen Sie, ich bin seit elf Jahren Landesgeschäftsführer der SGK in Nordrhein-Westfalen. Wir sind zuständig für 9 000 ehrenamtliche und hauptamtliche
Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker. Ich
glaube, ich kenne die Situation in Nordrhein-Westfalen
ganz gut.
Ich kenne die Forderungen, ich habe sie zu einem großen Teil mit formuliert. Ich kenne die Auseinandersetzungen, ich bin bei den Gesprächen dabei gewesen. Ich
sage Ihnen ganz offen: Stärker als bei jeder Bundestagswahl zuvor haben wir es uns zur Aufgabe gemacht, die
Situation der Kommunen durch mehr Investitionen in
die Infrastruktur zu verbessern. Zum gegenwärtigen
Zeitpunkt passiert das im Bereich der Städtebauförderung durch mehr unmittelbare finanzielle Entlastung,
und zwar sowohl 2014 und 2015 als auch 2016.
({0})
Wir werden relativ schnell mit der Umsetzung des
Bundesleistungsgesetzes beginnen. Man kann es nicht
übers Knie brechen, aber wir werden diese Zielsetzung
verfolgen. Insofern gebe ich Ihnen von vorne bis hinten
nicht recht; denn wir sind ehrlich mit unseren eigenen
Leuten umgegangen.
({1})
Ich will darauf aufmerksam machen - das knüpft an
Ihre Ausführungen an -, dass die Kommunen trotz Investitionsverzicht, trotz dramatischer Einsparungen bei
den Personalkosten - wenn Sie die Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linken lesen, werden Sie
sehen, dass die Kommunen deutlich mehr Personal eingespart haben als etwa der Bund und erst recht als die
Länder -, trotz hoher lokaler Steuern und Gebühren
nicht in der Lage sind, ihre Haushalte auszugleichen,
weil die Dynamik der Sozialausgaben sehr viel dramatischer ist. Das ist der Grund, warum wir von einer Vergeblichkeitsfalle reden: nicht, weil wir anklagen, sondern weil die Schere, die immer weiter auseinandergeht,
nicht zu schließen ist. Deswegen brauchen wir hier konkrete Konzepte.
Ich will das Thema „klebende Finger der Länder“
aufgreifen. Wir alle wissen, dass es so etwas gibt. Wenn
neun Bundesländer in der Bundesrepublik Deutschland
jedoch mittlerweile Finanzierungsprogramme für strukturschwache Kommunen im eigenen Land mit eigenen
Mitteln ausstatten, dann kann man das so nicht einfach
stehen lassen. Da das Schwarze-Peter-Spiel auf Dauer
nicht weiterhilft, müssen wir uns den Ursachen zuwenden.
({2})
Jetzt komme ich zum Thema Sozialausgaben. Es geht
hier nicht nur um die Eingliederungshilfe, aber ich spreche sie an, weil sie mit Abstand die größte Dynamik aufweist. Von 1991 bis 2011, also seit 20 Jahren, wächst die
Zahl derjenigen, die Eingliederungshilfe in Anspruch
nehmen von 324 000 auf 790 000 Personen. Die Aufwendungen sind in 20 Jahren von 4,1 Milliarden Euro
auf 14,4 Milliarden Euro gestiegen. Das war 2011, Herr
Kauder. Im Moment sind wir bei 16 Milliarden. Die
Kosten werden in neun Bundesländern der Bundesrepublik Deutschland, die etwa 60 Millionen Menschen repräsentieren, allein von den Kommunen finanziert.
Diese Situation ist schlicht und ergreifend so nicht tragbar.
({3})
Was müssen wir tun? In Bezug auf die Eingliederungshilfe müssen wir aus der Fürsorgeaufgabe der 60erJahre eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe machen, erst
recht vor dem Hintergrund der Behindertenrechtskonvention, die wir gestalten wollen. „Gestalten wollen“
heißt nicht, die Angelegenheit auf dem Rücken der Betroffenen auszutragen. Dieses Thema werden wir angehen. Das ist aber eine Aufgabe, die Zeit braucht.
({4})
In diesem Zusammenhang will ich darauf hinweisen,
dass es ein Ergebnis der Verhandlungen zwischen Bund
und Ländern war, dass die Kosten der Grundsicherung
im Alter vollständig vom Bund übernommen werden.
Ohne die SPD wäre das im Vermittlungsverfahren nicht
gelungen. Folgerichtig ist, dass die damit verbundene
dritte Stufe der Entlastung in Höhe von 1,1 Milliarden Euro im Koalitionsvertrag für 2014 aufgenommen
worden ist. Da stehen diese 1,1 Milliarden Euro drin.
Das ist nicht die zusätzliche Milliarde, die Sie, Frau
Haßelmann, fordern. Ich will an dieser Stelle aber darauf
hinweisen, dass diese zusätzliche Milliarde nicht einmal
der Bundesrat fordert. Auch das von Grün-Rot regierte
Baden-Württemberg fordert das nicht.
Der Ausbau dieser Finanzierungsmaßnahmen ist,
glaube ich, nachvollziehbar - eben ist schon einmal darauf aufmerksam gemacht worden; ich habe es auch
schon gesagt -: Die Fortsetzung der Zahlung der Entflechtungsmittel, steuer- oder bildungspolitische Entscheidungen, Aufstockung der Mittel für die Städtebauförderung auf 700 Millionen Euro und die
Einführung des Mindestlohns - das will ich an dieser
Stelle einmal sagen -, die die Kommunen vermutlich um
einen dreistelligen Millionenbetrag entlasten wird, weil
die Zahl der Aufstocker deutlich zurückgehen wird, das
alles sind konkrete Entlastungen der Kommunen, für die
diese Koalition steht.
({5})
Auf dieser Linie liegt auch die finanzielle Entlastung
der Kommunen durch ein modernes Teilhaberecht. Es
geht nicht einfach nur um mehr Geld, sondern es geht
um ein Teilhaberecht, das die bestehende Ausgabendynamik bremst und keine neue schafft. Daran soll sich der
Bund aus gesamtgesellschaftlicher Verantwortung heraus beteiligen. Wir unterstützen deswegen die Bundessozialministerin in ihrem Vorhaben, dieses Gesetz im
Jahre 2016 dem Parlament zur Beschlussfassung vorzulegen.
({6})
Herr Kollege Daldrup, Sie denken an die vereinbarte
Redezeit?
Selbstverständlich. Ich bin letztes Mal dafür gelobt
worden, dass ich sie eingehalten habe. Ich dachte, dass
ich einen kleinen Bonus hätte.
({0})
Ich will zum Schluss kommen. Was ist die Perspektive des Bundesleistungsgesetzes? 2015 bzw. 2016
kommt die Milliarde; darauf ist hingewiesen worden.
Möglicherweise können wir uns hinsichtlich der KdU
verständigen. Das wäre durchaus wünschenswert und
angesichts der sozialpolitischen Herausforderungen vernünftig.
Ich will darauf aufmerksam machen, dass die Koalition die Kommunen an der Gestaltung der zukünftigen
Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern beteiligen will. Auch diesbezüglich werden die Kommunen
also dabei sein.
Eine letzte Bemerkung: Sie sehen, diese Koalition
macht die finanzielle Stärkung der Kommunen zu einem
Kernanliegen dieser Bundesregierung.
({1})
Für uns sind die Kommunen kein Kellergeschoss der
Demokratie. Für uns sind sie der Nukleus guter Lebensqualität. Die Sicherstellung der finanziellen Zukunftsfähigkeit der Kommunen ist deshalb ein Ziel, das wir mit
Entschiedenheit verfolgen werden.
Herzlichen Dank.
({2})
Jetzt spricht der Kollege Alois Karl für die CDU/
CSU.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Im Mai sind in Nordrhein-Westfalen
Kommunalwahlen, und im April stellen die Grünen einen Antrag, die Kommunen um 1 Milliarde Euro zu entlasten.
({0})
Ein Schelm, der Übles dabei denkt.
Viele von uns sind auch Kommunalpolitiker. Wir wissen, dass es strukturschwache Gegenden schon immer
gegeben hat, strukturstarke übrigens auch. Strukturschwäche, meine lieben Kollegen von den Grünen, die
Sie den Antrag gestellt haben, ist nichts Gottgegebenes,
ist etwas anderes als eine von den zehn Plagen, von denen das Alte Testament spricht, die über Ägypten gekommen sind, weil man sich dem Willen Gottes widersetzt hat. Die Strukturschwäche, von der Sie reden, ist
kein dauerhafter Schicksalsschlag. Dieses Argument
nutzt sich mit der Zeit ab. Sie meinen, indem wir 1 Milliarde Euro über den Tisch schieben, könnten wir die
Probleme, die Sie in Ihrem Antrag angesprochen haben,
lösen. Mitnichten ist das der Fall. Sie gaukeln den Leuten vor, dass man mit dem Herüberschieben eines Paketes mit 1 Milliarde Euro die Probleme, die Sie angesprochen haben, lösen könnte. Mit nachhaltiger Politik, liebe
Frau Haßelmann, hat das nichts, aber auch gar nichts zu
tun, mit Populismus schon eher.
({1})
Mir ist bei den Gedanken, die ich mir zu dieser Rede
gemacht habe, auch Bundeskanzler Helmut Kohl in den
Sinn gekommen, der von blühenden Landschaften gesprochen hat. In der Tat: In vielen Gegenden unseres
Landes, in Sachsen, in Thüringen, in manchen anderen
Bundesländern auch und in meinem Bundesland Bayern
sowieso, können wir von blühenden Landschaften sprechen,
({2})
aber nur deshalb, weil sich Strukturen geändert haben.
Seit Jahren haben wir uns darangemacht, Strukturen zu
verbessern.
({3})
- Mein Guter, im Jahr 1957 ist das Saarland das elfte
Bundesland geworden. - Bayern lag damals mit Abstand
strukturpolitisch, finanzpolitisch und wirtschaftspolitisch auf dem letzten Platz. Heute befinden wir uns bei
allen Rankings an erster oder zweiter Stelle,
({4})
und zwar nur deshalb, weil damals der Mut vorhanden
war, alte Strukturen zu verändern.
Strukturschwäche hat damit zu tun, dass manche Gegenden nicht wettbewerbsfähig sind. „Nicht wettbewerbsfähig“ heißt: Unternehmungen und Unternehmer
siedeln sich nicht an, Arbeitsplätze werden nicht geschaffen, die Arbeitslosigkeit steigt, Sozialabgaben gehen nicht ein, Steuern werden nicht gezahlt, die kommunalen Haushalte erleiden Defizite und müssen dies mit
Schulden ausgleichen. Das beraubt auch die nächste Generation der Freiheit. Unsere nächste Generation hat
nicht mehr die Freiheit, ordentlich Kommunalpolitik zu
betreiben, wenn sie einen großen Teil des Haushaltes für
den Schuldendienst aufbringen muss. Das ist der eigentliche große Skandal: dass wir häufig verschuldete Haushalte vorfinden.
({5})
Heute ist schon ein paar Mal angesprochen worden, dass
die Kommunen insgesamt gesehen im letzten Jahr 1,1 Milliarden Euro Überschuss erzielt haben - so steht es auch in
Ihrem Antrag -, während der Bund 22 Milliarden Euro DeAlois Karl
fizit gemacht hat. Wir haben ein Defizit von 22 Milliarden
Euro und sollen 1 Milliarde Euro zusätzlich zahlen. Allein
daran erkennen Sie schon, dass das so nicht geht.
Die Schulden sind ungleich verteilt; auch das ist
schon gesagt worden. Natürlich gibt es in Deutschland
zusammengerechnet etwa 130 Milliarden Euro Schulden
bei den Kommunen, etwa 47, 48 Milliarden Euro Kassenkredite. Wenn wir uns das anschauen, sehen wir, dass
die Schulden in der Tat ungleich verteilt sind. Etwa die
Hälfte der gesamten Kassenkredite, etwa 24 Milliarden
Euro, konzentrieren sich auf lediglich 27 Städte, 16 davon in Nordrhein-Westfalen.
({6})
Ein Viertel dieser Kassenkredite, etwa 12 Milliarden
Euro, konzentrieren sich auf lediglich acht Städte, sieben
davon in Nordrhein-Westfalen. Ich muss Sie, liebe Frau
Haßelmann, fragen: Gibt es Ihnen nicht zu denken, dass
sich an diesen desaströsen Verhältnissen, die Sie selber
in Ihrem Antrag beschreiben, auch in der Zeit, in der Sie
in Nordrhein-Westfalen an der Regierung mitwirken,
bisher nichts, aber auch gar nichts zum Besseren gewendet hat? Diese Frage müssen wir Ihnen direkt stellen.
({7})
Wenn Sie meinen, die Probleme dadurch lösen zu
können, dass 1 Milliarde Euro über den Tisch gehen
- es geht darum, sozusagen eine schnelle Mark zu
machen -, dann meine ich, machen Sie sich so, wie
Sie das ausgedrückt haben, einen schlanken Fuß. Da
gehen Ihnen sehr schnell die Argumente aus.
Auf die Finanzverfassung möchte ich nicht näher eingehen; das hat Kollege Berghegger vorhin schon getan.
Dennoch sei gesagt, dass wir in dem Jahrzehnt leben, in
dem die Kommunen mehr entlastet werden als jemals
zuvor. Wenn Sie die Kosten für die Grundsicherung, die
Beiträge für den Ausbau der U-3-Betreuungsplätze, die
KdU, die Städtebauförderung, die Eingliederungshilfe
usw. zusammenrechnen, kommen Sie auf einen Betrag
von weit mehr als 150 Milliarden Euro. Dieses Geld
wird in diesem Jahrzehnt von Bundesseite auf die Seite
der Kommunen geschoben. Das ist eine großartige Leistung, die wir erbringen, obwohl wir unseren Haushalt
sanieren.
Unsere Aufgabe ist es auch, für solide Finanzen im
Bund zu sorgen. Wir haben versprochen - wir werden
das machen und das Versprechen einhalten -, ab dem
nächsten Jahr, ab 2015, keine neuen Schulden zu machen. Auch das ist ein großartiger Beitrag zugunsten der
Kommunen.
In Wahrheit würden wir mit Ihren Vorschlägen nicht
ein einziges Problem lösen. Ich appelliere an Ihre Weitsicht und Ihre Ernsthaftigkeit: Unterstützen Sie unsere
Finanzpolitik! Sie ist nämlich auf eine langfristige Solidität ausgerichtet. Sie ist auf Dauerhaftigkeit ausgerichtet und darauf, dass wir nicht mehr Geld ausgeben wollen, als wir einnehmen. Das ist nachhaltig. Frau
Haßelmann, so geht Politik. Ihr Antrag geht in die verkehrte Richtung. Aus dem Grunde lehnen wir ihn ab.
Vielen herzlichen Dank.
({8})
Als nächstem Redner erteile ich dem Kollegen
Johannes Kahrs, SPD, das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Bevor ich mich zu dem äußere, was der Kollege Karl gesagt hat, möchte ich eingedenk des guten
Verhältnisses innerhalb unserer Koalition dem Kollegen
Eckhardt Rehberg zum 60. Geburtstag gratulieren.
Lieber Ecki, wir werden dich nachher noch angemessen
feiern.
({0})
Nachdem ich jetzt sehr viel positives Kapital aufgebaut habe,
({1})
werde ich einen Teil davon wieder aufbrauchen. Der
Kollege Karl hat ja eben gesagt, dass man Strukturen ändern muss. Das ist richtig. Aber dafür braucht man Hilfe.
Bestes Beispiel: Bayern.
({2})
Die sozialdemokratisch regierten Länder Hamburg,
Bremen, Nordrhein-Westfalen und Saarland haben in
den zurückliegenden Jahrzehnten viel Geld in Bayern investiert, um den Strukturwandel, der in Bayern stattgefunden hat, zu unterstützen.
({3})
Das heißt, ein Großteil der Republik war solidarisch und
hat geholfen, damit in Bayern auch Gegenden, die es
schwer haben, die Chance bekommen, sich etwas aufzubauen, das heute Früchte trägt. Das ist übrigens auch
gut so.
Herr Kollege Kahrs, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollege Karl?
Aber selbstverständlich, ich schätze ihn ja sehr.
({0})
Lieber Kollege Kahrs, wir schätzen uns beide. „k. und
k.“ kann man fast sagen - aber ich meine nicht die Monarchie.
({0})
Das Thema Länderfinanzausgleich habe ich bewusst
nicht angesprochen, weil ich niemandem zu sehr auf die
Füße treten und auch nicht zu beweihräuchernd wirken
wollte. Sie hätten die Gelegenheit gehabt, zu schweigen.
Sie haben das leider nicht gemacht.
({1})
Darum möchte ich der Wahrheit ein wenig Geltung verschaffen. Wir haben in Bayern in der Tat über 38 Jahre -
Herr Kollege Karl, das ist eine Zwischenfrage.
({0})
Sie sollten Ihre Bemerkung also in eine Frage kleiden.
Herr Präsident, lassen Sie meiner Frage einen gewissen Anlauf.
({0})
Wir sind sehr dankbar, dass Bayern als strukturschwaches Land - ich habe das ausgeführt - über 38 Jahre
hinweg Mittel im Rahmen des Länderfinanzausgleichs
erhalten hat, lieber Kollege Kahrs, nämlich insgesamt
3,4 Milliarden Euro. Aber seit dem Jahr 2001, also die
letzten 13 Jahre, zahlt Bayern Geld zurück - Bayern ist
das einzige Land, das von einem Nehmerland zu einem
Geberland geworden ist -, bisher bereits einen Betrag in
Höhe von 46 Milliarden Euro.
({1})
Wir haben im Jahr 2013 4,3 Milliarden Euro gezahlt.
Ich glaube schon, dass das ein gutes Beispiel dafür ist,
dass ein Land von einem strukturschwachen zu einem
strukturstarken Land und sogar zu einem Geberland werden kann.
({2})
Meinen Sie nicht, lieber Herr Kollege Kahrs - das ist
meine Frage -, dass das auch für andere Länder ein
durchaus gutes Beispiel sein kann?
({3})
Herr Kollege, nach den Spielregeln des Hauses müssen Sie stehen bleiben, während ich Ihre Frage beantworte.
({0})
In der Sache haben Sie selbstverständlich recht.
({1})
- Hat er. - Natürlich ist es so: Wenn es einem Land
schlecht geht, wie es Bayern schlecht gegangen ist, es
die Solidarität des Bundes erhält, man also hilft und aus
dem Land etwas Anständiges wird, dann ist das eine
gute Sache. Ich finde, dass Sie da recht haben, und ich
glaube, dass wir diese Chance auch anderen Ländern geben sollten.
Im Kern ist es doch so: Wenn das Prinzip, dass Hilfe
funktionieren kann, richtig ist und es nicht gottgegeben
ist, dass es denen, denen es schlecht geht, ewig schlecht
geht, sondern man ihnen hilft, damit es ihnen irgendwann besser geht - auch im Grundgesetz sind ja gleiche
Lebensverhältnisse in dieser Republik garantiert; wir
alle arbeiten daran -, dann ist es doch folgerichtig, dass
man versuchen sollte, das gute Beispiel, das Bayern
abgegeben hat, in anderen Ländern zu wiederholen. Wir
haben euch geholfen, ihr habt euch angemessen aufgeführt,
({2})
es hat funktioniert, und alles ist wunderbar. Das ist völlig
in Ordnung. Diesem Prinzip folgend, muss man sich
natürlich darüber unterhalten, ob diejenigen, die früher
geholfen haben - - Sie haben die Milliardenbeträge genannt - die D-Mark war in den 50er- und 60er-Jahren
deutlich mehr wert als der Euro heute -, die man sich jedoch preisbereinigt angucken muss. Das sage ich, ohne
das bayerische Engagement schmälern zu wollen. Ich
möchte nur anmerken: Hamburg hat immer gezahlt.
Diesem Beispiel Bayerns folgend, müssten wir uns
jetzt eigentlich daranmachen - ({3})
- Ich genieße doch, dass der Kollege steht.
({4})
Das reize ich jetzt so lange aus, wie der Präsident mir die
Chance dazu gibt.
({5})
Das heißt - damit komme ich zum Ende, damit der Kollege sich setzen kann; man muss den Menschen die
Chance geben, etwas dazuzulernen -, dass wir diesem
Prinzip weiter folgen wollen. - Jetzt können Sie sich setzen, Herr Kollege; ich fahre fort.
({6})
- Das war nicht arrogant.
({7})
Da war ich einfach hilfsbereit im besten koalitionären
Sinne. Wir schätzen uns ja.
({8})
Das heißt also, dass wir in der Koalition - so steht es
auch in unserem Koalitionsvertrag - natürlich denjenigen helfen wollen, die die Hilfe brauchen. Allerdings gilt
- das ist von dem Kollegen schon gesagt worden -:
Wenn man hilft, dann muss es auch zielgenau sein. In
unserem Koalitionsvertrag steht:
Die Gemeinden, Städte und Landkreise in Deutschland sollen weiter finanziell entlastet werden.
Das ist von den Grünen schon erwähnt worden.
Im Jahr 2014 erfolgt ohnehin die letzte Stufe der
Übernahme der Grundsicherung im Alter durch den
Bund und damit eine Entlastung der Kommunen in
Höhe von 1,1 Mrd. Euro. Darüber hinaus sollen die
Kommunen im Rahmen der Verabschiedung des
Bundesteilhabegesetzes im Umfang von fünf
Milliarden jährlich von der Eingliederungshilfe entlastet werden. Bereits vor der Verabschiedung des
Bundesteilhabegesetzes
- das muss ja erst noch geschehen beginnen wir mit einer jährlichen Entlastung der
Kommunen in Höhe von einer Milliarde Euro pro
Jahr.
Das wird in 2015 so anfangen.
Wenn man dem Prinzip des Kollegen Karl folgt, dass
man denjenigen helfen soll, denen es nicht so gut geht,
müssen wir einen Weg finden, wie wir denjenigen, denen es besonders schlecht geht, dieses Geld zukommen
lassen. Das heißt, wir alle müssen uns gemeinsam
anstrengen, im Gesetzgebungsverfahren einen Weg zu
finden, wie wir die Finanzierung der Kommunen vernünftig organisieren, damit das wie in Bayern läuft:
Denen, denen es nicht so gut geht, wird gegeben, damit
sie die Chance haben, ihre Verhältnisse zu verbessern.
Das ist in dieser Republik häufiger, in unterschiedlichen Variationen, gelungen. Ich glaube, das hat nichts
damit zu tun, ob man gut oder schlecht wirtschaftet; das
hat etwas mit Strukturwandel zu tun, mit Dingen, die auf
dem Weltmarkt laufen oder nicht. Das kann man sich
angucken. Es gibt Länder, die SPD-regiert waren und
Nehmerländer wurden. Es gibt CDU-regierte Länder,
denen es auch heute nicht gut geht. Da wird man einen
Weg finden müssen.
Deswegen hat diese Koalition - das finde ich wichtig,
richtig und gut - im Koalitionsvertrag an vielerlei Stellen gesagt, was wir alles für die Kommunen und für die
Länder tun wollen. Mir ist es wichtig, dass wir hier noch
einmal sagen, dass eine Entlastung der Länder nicht
heißt, dass alles bei den Ländern bleibt; auch die Länder
müssen in ihrem Rahmen dafür sorgen, dass die Kommunen entlastet werden. Das alles muss gemeinsam vernünftig laufen.
({9})
Wir haben das in den Koalitionsverhandlungen beschlossen; ich könnte jetzt den Koalitionsvertrag zitieren. Dabei geht es um den Bereich der Städtebauförderung; die Zahlen sind genannt worden. Dabei geht es
darum, dass wir 6 Milliarden Euro an die Länder geben
für den ganzen Bereich der Kinderbetreuung, für die
großen Herausforderungen wie Schule, Hochschule und
andere Dinge. Wir werden in den folgenden Wochen und
Monaten gemeinsam die Frage diskutieren: Wie macht
man das am vernünftigsten? Wie kriegen wir es hin, dass
die Kommunen, die Probleme haben, entlastet werden?
Ich glaube, dass es gut war, dass die SPD im Bundestagswahlkampf dieses Thema aufgegriffen hat, dass ihr
alle gefolgt sind, dass dieses Thema jetzt auf die Tagesordnung kommt, dass wir alle ein Bewusstsein dafür haben: Man muss etwas für die Kommunen tun. - Das eint
uns in diesem Hohen Hause. Jetzt müssen Taten folgen.
Vielen Dank.
({10})
Letzter Redner in dieser Aussprache ist der Kollege
Ingbert Liebing, CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Eigentlicher Anlass für diese Debatte ist der Antrag
der Grünen. Ich möchte gerne zu Beginn meiner Ausführungen feststellen, dass manche Fakten, die Sie dort aufgelistet haben, sicherlich zutreffen. Es gibt viele Kommunen, die gewaltige finanzielle Probleme haben. Aber
Sie haben zu Recht auch auf die Unterschiedlichkeit der
Probleme hingewiesen. Nun könnte man durchdeklinieren, in welchen Bundesländern die kommunalen Finanzprobleme am größten sind. Man könnte darauf hinweisen, dass das in erster Linie rot-grün regierte Länder
sind, vor allem Nordrhein-Westfalen, vor allem Rheinland-Pfalz. Ich will das gar nicht tun.
({0})
Von verschiedenen Rednern ist schon darauf hingewiesen worden, dass in erster Linie die Bundesländer in
der Verantwortung stehen, für eine aufgabengerechte Finanzausstattung der Kommunen zu sorgen.
({1})
Ich finde, es ist gerade deshalb lohnenswert, sich einmal
anzuschauen, wie sich die Grünen in der Regierungsverantwortung verhalten, dort wo sie Verantwortung für
die Kommunen tragen. Wir können nach NordrheinWestfalen schauen. Da lassen sie die Kommunen beim
Thema Inklusion im Stich. Ich finde schon dreist, wenn
Frau Löhrmann gegenüber den Kommunen sagt: Über
das Thema Inklusion braucht ihr euch keine Gedanken
zu machen. Das bezahlt ja nachher der Bund mit der Eingliederungshilfe. - Meine Damen und Herren, so haben
wir miteinander nicht gewettet.
({2})
Da lassen Sie die Kommunen im Stich.
In Rheinland-Pfalz schlittert die rot-grüne Landesregierung in den nächsten Verfassungskonflikt mit den
Kommunen über den kommunalen Finanzausgleich. In
Niedersachsen gibt es einen Heidenärger über die Kommunalstrukturen. In meinem Heimatland, in SchleswigHolstein, feiert sich eine grüne Finanzministerin für einen positiven Jahresabschluss 2013: 115 Millionen Euro
Überschuss im Haushalt 2013. Aber sie verschweigt,
dass in diesem Jahr gleichzeitig 120 Millionen Euro aus
dem kommunalen Finanzausgleich zulasten der Kommunen entnommen wurden. Nur dadurch konnte diese
Rechnung aufgehen.
({3})
Von den Bundesmitteln, die im Bereich der Grundsicherung an die Länder fließen, behält diese grüne
Finanzministerin über 40 Millionen Euro in der Landeskasse ein - zulasten der Kommunen. Das ist die Wirklichkeit, für die Sie in den Ländern Verantwortung tragen. Auch das gehört zur Geschichte dazu.
({4})
Eben ist schon viel über den Strukturwandel und die
Strukturprobleme gesagt worden, die ebenfalls zu den
Finanzproblemen der Kommunen führen. Ja, es ist sicherlich so, dass es Strukturprobleme gibt. Aber unser
Anspruch ist, dass wir die Ursachen dieser Probleme angehen wollen, dass wir den Strukturwandel tatsächlich
gestalten wollen.
({5})
Ich habe den Eindruck, bei Ihnen geht es nur darum,
möglichst viel Geld zu bekommen, um die Probleme
finanziell zu lösen. Wir dagegen wollen die Ursachen
dieser Probleme beseitigen. Das ist der Unterschied.
({6})
Angesichts der Bilanz, für die Sie Verantwortung tragen, brauchen wir uns von Ihnen, den Grünen, überhaupt
keine Nachhilfe erteilen zu lassen. Wir leisten etwas für
die Kommunen. Die Kollegen Alois Karl und André
Berghegger haben darauf bereits hingewiesen.
({7})
Ich lade Sie ein, beim Thema Eingliederungshilfe, wenn
wir über ein Bundesleistungsgesetz sprechen, auch zu
liefern: mit dafür zu sorgen, dass die Ausgabendynamik
begrenzt wird, dass wir nicht jedes Jahr wieder neue
Ausgabensteigerungen zulasten der Kommunen haben
und dass am Ende tatsächlich eine Entlastung der Kommunen steht. Da können Sie liefern, Frau Haßelmann.
({8})
Besonders in Nordrhein-Westfalen wird sehr stark
eine Diskussion geführt, die Kritik in Richtung Bundesregierung und am Bundesfinanzminister persönlich enthält. Ich lese, dass der eine oder andere schreibt,
Schäuble spare seinen Haushalt zulasten der Kommunen
zurecht. Unglaublich! Das ist schlichtweg falsch. Bei einem Bundeshaushalt 2014, der 1,6 Milliarden Euro mehr
für die Kommunen enthält als der Haushalt des Vorjahres, kann man doch nicht sagen, Herr Schäuble spare
sich den Haushalt zulasten der Kommunen zurecht. Das
genaue Gegenteil ist der Fall.
({9})
Es ist auch kein Widerspruch, wenn wir sagen:
Unsere Politik ist eine kommunalfreundliche Politik; wir
wollen dort, wo wir können, den Kommunen helfen, und
wir leisten trotzdem Haushaltskonsolidierung. - Das
eine bedingt das andere. Nur dann, wenn wir unseren
Haushalt tatsächlich in Ordnung gebracht haben, sind
wir auch in der Lage, andere Aufgaben wahrzunehmen
und auch den Kommunen zu helfen.
({10})
Dass wir die Aufgabe der Grundsicherung im Alter
übernommen haben, war doch nur deswegen möglich,
weil wir in der vergangenen Wahlperiode ein konstantes
Ausgabenvolumen gehalten und nicht jedes Jahr draufgepackt haben. Während wir das Ausgabenvolumen im
Bundeshaushalt über vier Jahre konstant gehalten haben
und gleichzeitig 5 Milliarden Euro zusätzlich für die
Kommunen im Bereich der Grundsicherung mobilisiert
haben, hat die rot-grüne Landesregierung in NordrheinWestfalen das Ausgabenvolumen im Landeshaushalt um
11 Prozent gesteigert. Das ist der Unterschied. Deswegen ist Nordrhein-Westfalen nicht in der Lage, die eigene Verantwortung für die Kommunen wahrzunehmen.
({11})
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen, wir haben gezeigt, was kluge Politik ist. Diese
Politik hilft auch den Kommunen. Orientieren Sie sich
daran! Machen Sie dabei mit! Dann dient es auch den
Kommunen.
Vielen Dank.
({12})
Vielen Dank, Herr Kollege Liebing.
Damit kämen wir, wenn es nicht noch weitere Anmerkungen gibt, zum Schluss dieser Debatte.
({0})
Dann schließe ich diese Debatte.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/975 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Vizepräsident Johannes Singhammer
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Tätigkeitsbericht 2012/2013 der Bundesnetzagentur - Telekommunikation
mit
Sondergutachten der Monopolkommission Telekommunikation 2013: Vielfalt auf den
Märkten erhalten
Drucksache 18/209
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({1})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
Ausschuss Digitale Agenda
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind auch
für diese Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Erster Redner ist der Kollege Klaus Barthel, SPD.
({2})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Neben
dem Tätigkeitsbericht der Bundesnetzagentur zeigt das
zugehörige Sondergutachten der Monopolkommission
auf knapp 100 Seiten auf, was sich in der Telekommunikationsbranche so tut. Auf über 250 Seiten wird darüber
hinaus dargestellt, was die Bundesnetzagentur in diesem
Bereich alles leistet: von der Marktregulierung über die
Nummerierung, die Frequenzvergabe, den Verbraucherschutz, den Datenschutz, die internationale Arbeit bis
hin zur technischen Überwachung, zur Störungsbearbeitung, zum Messdienst, zur elektromagnetischen Verträglichkeit usw.
Ich glaube, es ist an dieser Stelle erst einmal geboten,
dass wir unsere Anerkennung aussprechen für die Arbeit, die bei dieser Behörde geleistet wird, zum einen in
der Zentrale, aber auch in den Außenstellen, die direkt in
den Regionen liegen und damit in den Wahlkreisen von
vielen von uns. Deswegen ist es ganz wichtig, dass wir
auch heute noch einmal von hier das Signal senden, dass
wir uns bewusst sind, dass die Bundesnetzagentur dafür
auch die entsprechende personelle Ausstattung braucht,
und dass wir auch gemeinsam dafür eintreten, dass die
Zahl der Außenstellen in der Fläche nicht reduziert wird,
damit die Bundesnetzagentur in der Fläche präsent
bleibt.
Es ist der Bundesnetzagentur gelungen, denke ich
- das zeigt auch der Bericht -, ihre Unabhängigkeit zu
wahren. Das ist angesichts des Drucks, dem sie oft ausgesetzt ist, nicht einfach. Auf Veranstaltungen von einschlägig Betroffenen aus der Branche wurden wir in regelmäßigen Abständen - alle halbe Jahre, immer mal
wieder - mit totalen Untergangsszenarien konfrontiert,
zum Beispiel als es darum ging, den Endkundenpreis für
die TAL-Leitung neu festzulegen, oder als es um das
Vectoring ging. Jedes Mal war entweder die Rede davon,
dass jetzt der Wettbewerb endgültig zusammenbricht
und eine Remonopolisierung kommt oder dass die Deutsche Telekom ruiniert wird und Hunderttausende von
Arbeitsplätzen auf dem Spiel stehen. Die Bundesnetzagentur hat es offensichtlich geschafft, immer wieder einen Weg zu finden, der für alle Marktteilnehmer gangbar
und verkraftbar war. Das bestätigt auch die Stellungnahme der Monopolkommission. Deswegen muss man
dieses Lob auch an dieser Stelle noch einmal aussprechen.
Ich glaube aber, wir müssen noch weiter schauen. In
dieser Runde ist es, denke ich, nicht nötig, etwas zur Bedeutung von modernen, leistungsfähigen Telekommunikationsinfrastrukturen zu sagen. Sie sind das Rückgrat
der digitalen Wirtschaft, wie es so oft heißt, und sie sind
auch das Rückgrat unserer Volkswirtschaft. Denken Sie
nur an die berühmten Datenautobahnen. Die entsprechenden Sonntagsreden kennen Sie alle. Dieses Rückgrat spielt auch bei der digitalen Agenda eine besondere
Rolle.
Die IKT-Wirtschaft in Deutschland boomt: Der Jahresumsatz beträgt 228 Milliarden Euro mit ständig steigender Tendenz, die Bruttowertschöpfung liegt bei
85 Milliarden Euro, die Investitionen belaufen sich auf
18,2 Milliarden Euro. 900 000 Arbeitsplätze gibt es direkt in diesem Bereich und 360 000 in unmittelbarer Abhängigkeit davon. Das ist vom ökonomischen Gewicht
her neben der Automobilindustrie und dem Maschinenbau also ein Kernbereich der deutschen Wirtschaft, und
das ist ein Leitmarkt mit überdurchschnittlichen Investitionen und Innovationskraft.
Jetzt kommt das Aber: Wenn wir uns den Telekommunikationssektor anschauen, von dem in dem vorliegenden Tätigkeitsbericht die Rede ist, dann haben wir
schon Grund, uns mit der Sorge zu befassen, wie es um
das Rückgrat bestellt ist. Der Einschätzung der Bundesnetzagentur kann ich nicht folgen, wenn hier viel von
Wachstumsdynamik und Wettbewerb die Rede ist; denn
die Fakten in dem Bericht sprechen eine klare Sprache:
Wir haben es im Telekommunikationssektor mit rückläufigen Umsätzen zu tun. Auf dem Höhepunkt Mitte der
2000er-Jahre waren es 67 Milliarden Euro, jetzt sind es
nur noch 57 Milliarden Euro. Es sind stagnierende bis
rückläufige Investitionen zu verzeichnen. Sie betragen
jedes Jahr nur noch gut 6 Milliarden Euro. Es waren einmal viel mehr; 2007 waren es zum Beispiel noch
7,2 Milliarden Euro. Auch die Beschäftigung ist rückläufig; sie sank in den letzten zehn Jahren um etwa ein
Viertel. Daneben ist nach dem ehemaligen Internetboom
und der Dotcom-Blase eine nachhaltige Investitionsblockade festzustellen.
Der Wettbewerb ist intensiv, die Preise und Margen
sinken, aber auch die Investitionen gehen zurück und
konzentrieren sich immer mehr auf die Ballungsräume.
Es steht heute kaum noch jemand dagegen auf, wenn
man sagt, beim Aufbau der Telekommunikationsinfra2108
struktur in den ländlichen Räumen ist Marktversagen
festzustellen.
Das bedeutet, dass die Ziele der bisherigen Bundesregierung im Hinblick auf die Breitbandstrategie ganz klar
verfehlt werden. Auch darum muss man nicht herumreden. 2014, also in diesem Jahr, sollten 75 Prozent der
Haushalte über einen Breitbandanschluss mit einer
Übertragungsrate von mindestens 50 Megabit pro Sekunde verfügen. Bis Ende 2012 wurden gerade einmal
56 Prozent erreicht.
({0})
Die alte Bundesregierung hat dieses Ziel verfehlt; Herr
Kollege Pfeiffer, daran waren Sie beteiligt. Sie hat im
Grund nichts gemacht, außer immer neue Ziele zu proklamieren, anstatt sich darum zu bemühen, die gesetzten
erst einmal zu erreichen.
Ich denke, jetzt, in der Großen Koalition, ist festzustellen: Wir bestätigen diese Ziele und kämpfen um ihre
Erreichung, aber wir wollen auch Maßnahmen ergreifen,
auf die ich jetzt nicht noch einmal im Einzelnen eingehen will, weil das zum Beispiel vor ein paar Wochen
- am 31. Januar 2014 - mein Kollege Martin Dörmann
hier an dieser Stelle schon getan hat: neues Regulierungsregime, Zusammenwirken aller Akteure - Bund,
Länder, Gemeinden, Europäische Union, Bundesnetzagentur, Unternehmen -, Infrastrukturatlas, Breitbandatlas, neue Finanzierungsinstrumente, Bürgerfonds, KfWFörderprogramm usw. Ich will stattdessen den Blick ins
Ausland lenken, weil das zeigt, dass wir in Deutschland
einfach mehr tun müssen:
Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie hat in
der letzten Legislaturperiode beim TAB einen Bericht
zur Technikfolgenabschätzung mit dem Titel „Gesetzliche Regelungen für den Zugang zur Informationsgesellschaft“ angeregt. Neben den Themen Konvergenz und
Leitmedien hat er sich auch mit dem Breitbandausbau
beschäftigt und die Entwicklung zum Beispiel in Australien, in Finnland, in Großbritannien, in Japan, in den
USA und in Deutschland untersucht.
Das gemeinsame Ergebnis für all diese Vergleichsländer
ist, dass in den Ländern, in denen das Breitband erfolgreich ausgebaut worden ist, eine neue starke Rolle des
Staates festgestellt wird. All diese Länder - sie sind ja
sozialistischer Tendenzen gänzlich unverdächtig - sind
den Weg gegangen, die Nachfrage staatlich zu stützen
und anzuregen. Sie haben entweder wie Australien öffentliche Investitionen getätigt und mit staatlichem Geld
eigene Infrastrukturen aufgebaut oder wie Finnland mit
einer Universaldienstverpflichtung und einem Universaldienstfonds eine flächendeckende Versorgung umgesetzt.
Finnland zum Beispiel hat das Recht etabliert, dass jedem Verbraucher bis 2015 eine Verbindung mit einer
Geschwindigkeit von mindestens 100 Megabit zur Verfügung steht. Das Land wird dieses Ziel im nächsten
Jahr erreichen; das steht fest. Laut dem Monitoringbericht der alten Bundesregierung ist Finnland dank einer
Universaldienstverpflichtung für alle beim Ausbau der
Telekommunikationsinfrastruktur Sieger auf der ganzen
Welt, Rang 1.
Das Beispiel Finnland zeigt auch, dass eine flächendeckende Versorgung möglich ist. Bei uns zum Beispiel
wird behauptet, die Europäische Union lasse das nach
ihrem Wettbewerbsrecht nicht zu. Aber Finnland ist
doch Mitglied der Europäischen Union, oder?
({1})
Das Gegenteil ist richtig. Brüssel hat jetzt darüber nachgedacht, ob man nicht doch neue Regulierungsregime
braucht, bei denen mehr Wert auf Investitionen gelegt
wird. Wir haben es gehört: Heute ist im Europäischen
Parlament darüber diskutiert und abgestimmt worden.
In unserem Koalitionsvertrag - ich weiß nicht, ob das
alle schon so richtig wahrgenommen haben - ist mit
Recht von einer „Daseinsvorsorge“ in diesem Bereich
die Rede. Im Grundgesetz heißt es dazu ganz klar: Der
Bund steht hier in der Pflicht. Liebe Kolleginnen und
Kollegen, wenn hier der Bund in der Pflicht steht, dann
kann man nicht einfach sagen: Das sollen jetzt einmal
die Kommunen machen. - Hier gab es ja gerade eine Debatte über die finanzielle Situation der Kommunen.
Wenn wir die Entwicklung so weiterlaufen lassen, wird
die Spaltung in unserem Land immer größer; denn die
Kommunen, die kein Geld haben, können die Breitbandinfrastruktur eben nicht ausbauen. Die anderen Kommunen, die Geld haben, werden das umso stärker tun. Auch
das Telekommunikationsgesetz sieht hier eine Finanzierung durch den Bund vor.
Ich denke - Frau Staatssekretärin Bär ist hier anwesend -, dass ich da beim Minister offene Türen einrennen müsste, weil sich die CSU im Landtags- und im
Bundestagswahlkampf zu der Auffassung, dass es sich
hierbei um Daseinsvorsorge handelt, und zu dem Instrument des Universaldienstes bekannt hat. Wir warten hier
auf Taten.
({2})
Wir müssen zusehen, dass die Bundesnetzagentur auf
einen neuen Pfad gesetzt wird. Sie ignoriert diese Investitionsblockade ein wenig, leugnet die Notwendigkeit
weiterer gesetzlicher Maßnahmen und wird dabei auch
noch von der Monopolkommission, also der Gralshüterin der reinen Marktwirtschaft, unterstützt. Da wird gesagt: All das, was der Markt nicht leistet, soll mit Fördergeldern des Staates aufgefangen werden. - Das kann
es nicht sein. Deswegen sage ich: Schluss mit den Denkverboten in diesem Bereich!
Wenn wir das Thema Netzneutralität ernst nehmen
- in dem Bericht der Bundesnetzagentur gibt es dazu
schöne Zitate -, dann müssten wir dahin kommen, dass
es Netzneutralität eigentlich nur dann geben kann, wenn
man gesetzlich definiert, welchen Anspruch alle Kunden
gegenüber allen Anbieterinnen und Anbietern haben.
Netzneutralität darf also nicht so verstanden werden,
dass einfach nur der Mangel gleichmäßig alle Inhalteanbieter betrifft. Vielmehr muss es darum gehen, eine MinKlaus Barthel
destkapazität für alle zu schaffen, womit garantiert wird,
dass die entsprechenden Angebote durchgeleitet werden.
Es ist also notwendig, hier klare rechtliche Regelungen
zu schaffen; ansonsten reden wir immer wieder nur davon, dass die vorhandenen Engpässe gleichmäßig übers
Land verteilt werden.
Kolleginnen und Kollegen, es ist richtig, wie es in
diesem Bericht steht, dass viele Maßnahmen auf den
Weg gebracht sind: Vectoring, LTE-Ausbau und neue
Frequenzen.
Herr Kollege Barthel, denken Sie an Ihre Redezeit.
Das tue ich. Ich bin gerade beim Schlusssatz, Herr
Präsident.
({0})
Alle diese Maßnahmen sind richtig und zu unterstützen, aber in dem Bericht wird auch deutlich, dass all das
nicht ausreicht, sondern dass wir die Telekommunikationspolitik weiterentwickeln müssen. Der Koalitionsvertrag gibt dazu wertvolle Hinweise. Aber wir müssen
sie auch konkretisieren, statt sie einfach nur zur Kenntnis zu nehmen und abzuheften, um dann im nächsten
Jahr wieder von vorne anzufangen. Wir haben uns gemeinsam vorgenommen, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass wir in diesem Bereich jetzt endlich zum Handeln übergehen, nachdem bis jetzt ein paar Jahre
verloren worden sind.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({1})
Nächster Redner ist der Kollege Herbert Behrens, Die
Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Preise runter, Service rauf - das ist die Zauberformel der
Privatisierung, über die wir hier reden. Sie hat es vor
20 Jahren notwendig gemacht, die Bundesnetzagentur,
damals noch als Regulierungsbehörde bezeichnet, einzurichten.
Preise runter, Service rauf - um nichts anderes ging
es, als vor 20 Jahren die Telekom privatisiert wurde.
Dem Unternehmen geht es heute gut, nicht aber allen
Beschäftigten. Die Telekom gehört zu den größten Telekommunikationsunternehmen Europas und ist mit vielen
Töchtern weltweit vertreten. Sie kauft und verkauft Unternehmen und deren Beschäftigte. Wenn die Geschäfte
einmal nicht gut laufen, dann werden Betriebe verscherbelt oder Dienstleistungen ausgegliedert. Die Beschäftigten bei T-Systems sind das jüngste Beispiel für diese
Seite des Wettbewerbs: 4 900 Kolleginnen und Kollegen
sollen bis 2015 ihren Arbeitsplatz verlieren, weil die Geschäfte keinen Profit mehr abwerfen.
Davon ist natürlich nichts im Bericht der Bundesnetzagentur zu lesen.
({0})
Für die Linke sind aber gerade diese sozialen Bedingungen der Beschäftigten und sichere Arbeitsplätze die
zentralen Fragen, wenn wir über Wettbewerb in der Telekommunikation reden.
Der vorliegende Bericht gibt uns auf 370 Seiten einen
tiefen Einblick in die Welt von Regulierung und Deregulierung. Sicher, wir brauchen eine starke, unabhängige
und gründlich arbeitende Behörde, die den bei den Telekommunikationsunternehmen ausgelösten Wettbewerb
überwacht. Aber mit großem Erstaunen muss man feststellen, welcher Aufwand getrieben wird, um die negativen Folgen eines freien Wettbewerbs in diesem Sektor
zu begrenzen. Da kommt bei mir der Gedanke auf, ob
die vielen personellen und finanziellen Ressourcen, die
da hineinfließen, nicht viel sinnvoller eingesetzt wären,
wenn damit ein wirklich gutes, kundenfreundliches Angebot geschaffen würde.
({1})
Es würde manchem Dresdener Bürger gut gefallen,
wenn es ein vernünftiges Breitbandangebot gäbe. Mitten
in der Stadt steht dort heute den meisten Menschen nur
ein LTE-Angebot zur Verfügung, das regelmäßig dann
an seine Grenzen stößt, wenn sich zum Beispiel Studierende und Touristen darüber ihren mobilen Internetzugang holen.
Ein gut ausgebautes Netz, ausreichende Bandbreite,
verlässliche Vertragspartner: Das sind die Kriterien, an
denen sich der Erfolg von Privatisierung und Wettbewerb messen lassen muss.
Die Bundesregierung will bis zum Jahr 2018 flächendeckend schnelles Internet mit 50 Mbit erreichen. Davon
sind wir heute noch weit entfernt, und das nicht nur auf
dem flachen Land.
({2})
Knapp 80 Prozent der Anschlüsse in den Städten bieten
heute 50 Mbit, was aber nicht heißt, dass wir bereits ein
zukunftsweisendes Glasfasernetz hätten. Das Beispiel
Dresden zeigt es. Gleichwohl wird die Infrastruktur für
schnelles Internet in den Städten sehr viel schneller realisiert werden als anderswo. In den Ballungszentren rechnen sich die Investitionen, und die Telekommunikationsunternehmen fahren beträchtliche Gewinne ein.
Auf dem Land aber haben die Menschen richtig große
Probleme. Der Handwerksmeister in der Prignitz in
Brandenburg zum Beispiel, der sich an Ausschreibungen
beteiligen will, ist auf einen vernünftigen Zugang zum
Netz angewiesen. Oder nehmen wir eine Grafikerin aus
Thedinghausen, einem Ort in meinem Wahlkreis: Sie
will eine aufwendige Präsentation an ihren Kunden schicken. Das ist mit den Netzzugängen dort sehr schwierig.
Hier zeigen sich die negativen Folgen des Wettbewerbdogmas am deutlichsten.
Fehlende Infrastruktur auf dem Land und anderswo
darf nicht mit dem Hinweis abgetan werden, dass die
Menschen dort gar kein Interesse am schnellen Internet
hätten, wie es im Bericht der Bundesnetzagentur angedeutet wird. Das ist doch glatter Unsinn!
({3})
Jeder hat das Recht auf gleichwertige Lebensverhältnisse, egal wo er lebt. Das ist nicht nur eine politische
Forderung der Linken, das ist ein Grundgesetzauftrag. In
Art. 87 f Grundgesetz heißt es: Der Bund gewährleistet
„im Bereich des Postwesens und der Telekommunikation flächendeckend angemessene und ausreichende
Dienstleistungen.“
Darum erwarte ich im nächsten Bericht der Bundesnetzagentur Aussagen darüber, mit welchen Maßnahmen
diese Ziele, nämlich eine angemessene, ausreichende
Dienstleistung, erreicht worden sind.
Der Bundesgerichtshof stellte 2013 fest - ich zitiere -:
Die Nutzbarkeit des Internets ist ein Wirtschaftsgut,
dessen ständige Verfügbarkeit … auch im privaten
Bereich für die eigenwirtschaftliche Lebenshaltung
… von zentraler Bedeutung ist.
Im Bericht der Bundesnetzagentur dagegen heißt es, es
sei - auch Zitat weiterhin fraglich, inwieweit durch die Nichtverfügbarkeit eines Breitbandanschlusses … eine soziale Ausgrenzung zu befürchten ist.
Es wäre zum Totlachen, wenn es nicht so traurig wäre.
Es lässt sich wirklich fragen, wer diesen Bericht geschrieben hat.
Wir als Linke fordern: Rücknahme der Deregulierung
dort, wo der Wettbewerb die Gewinne privatisiert hat
und Investitionen in die nicht profitablen Bereiche von
den Steuerzahlern und Steuerzahlerinnen finanziert werden sollen.
({4})
Die Breitbandversorgung muss zur Grundversorgung gerechnet werden. Wir brauchen schnelles Internet für alle.
Vielen Dank.
({5})
Als nächstem Redner erteile ich für die CDU/CSU
dem Kollegen Hansjörg Durz das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
16 Jahre nach Öffnung des Telekommunikationsmarktes
in Deutschland können wir auf diesem Markt erhebliche
Fortschritte konstatieren. Die Monopolkommission hat
ihr Sondergutachten, das wir heute gemeinsam mit dem
Tätigkeitsbericht der Bundesnetzagentur debattieren, mit
dem Anspruch „Vielfalt auf den Märkten erhalten“ überschrieben. Diesem Motto kann man nur zustimmen;
denn diese Vielfalt bedeutet, dass Bürger und Wirtschaft
heute von einer Vielzahl von Angeboten und Dienstleistungen zu deutlich günstigeren Preisen profitieren. Zudem haben sich die Infrastruktur und damit die Leistungsfähigkeit der verschiedenen Netze und
Technologien in der Telekommunikation erheblich verbessert.
Auch wenn wir heute über den Tätigkeitsbericht der
Regulierungsbehörde debattieren, deren Arbeit von uns
- das ist bereits erwähnt worden - hoch geschätzt wird
und deren Tätigwerden in vielen Bereichen für die Funktionsfähigkeit der Teilmärkte im Telekommunikationsbereich unverzichtbar ist, möchte ich festhalten: Regulierung ist kein Selbstzweck, sondern muss immer auf
das erforderliche Maß begrenzt bleiben.
({0})
Regulierung ist dafür da, die Voraussetzungen zu schaffen, dass Wettbewerb zwischen den Akteuren sein ganzes Potenzial entfalten kann, zum Wohle der Menschen.
Die Bundesnetzagentur hat zum Ende des letzten Jahres turnusgemäß ihren sehr umfassenden Tätigkeitsbericht im Bereich der Telekommunikation vorgelegt, in
dem die Lage und die Entwicklung der Branche eingehend analysiert werden. Dem Bericht sind eine ganze
Reihe von Daten zu entnehmen, anhand derer sich die
Trends im Bereich der Telekommunikation eindrucksvoll nachvollziehen lassen. Besonders bemerkenswert
finde ich dabei jene Statistiken, die den gefühlten und
immer wieder angesprochenen Trend der Digitalisierung
mit handfesten Zahlen untermauern.
Während sich die Gesprächsminuten im Festnetz
- sprich: die klassischen Telefongespräche - seit Jahren
rückläufig entwickeln, nimmt der über das Festnetz abgewickelte Datenverkehr rasant zu. So hat sich das
durchschnittliche monatliche Datenvolumen, das über
das Festnetz in Deutschland abgewickelt wurde, in den
letzten fünf Jahren verdoppelt, im Vergleich zu 2005 sogar verfünffacht, Tendenz steigend. Gleiches lässt sich
im Mobilfunkbereich beobachten. Das mit Abstand
stärkste Wachstum zeigt auch dort das Datenvolumen,
das sich im mobilen Netz in vier Jahren verfünffacht hat.
Daran wird erkennbar: Die Menschen in unserem Land
sind immer häufiger und immer länger online, durch den
vermehrten Einsatz von Tablets und anderen mobilen
Endgeräten immer häufiger mobil online.
Die digitalen Endgeräte werden dabei selbstverständlich sowohl im geschäftlichen wie im privaten Bereich
genutzt. Bankgeschäfte oder Urlaubsbuchungen werden
heute von einer Vielzahl von Menschen online erledigt.
Gleiches gilt für den Konsum von Unterhaltungsinhalten
via Mediatheken oder anderen Streamingangeboten. Von
der Bedeutung des Internets für die Wirtschaft ganz zu
schweigen. Wir wissen: Die Zukunftsfähigkeit unserer
Volkswirtschaft und damit auch der Wohlstand unserer
Gesellschaft sind abhängig vom Grad unserer Digitalisierung. Über diesbezügliche Zusammenhänge und Auswirkungen haben wir in der vorletzten Sitzungswoche
im Zusammenhang mit dem Antrag der Koalitionsfraktionen ausführlich debattiert.
Der Zugang zu schnellem Internet ist seit Jahren von
zentraler Bedeutung. Dieser Bedarf wird weiter und in
den nächsten Jahren massiv steigen, sowohl unter qualitativen als auch unter quantitativen Aspekten. Angesichts dieser Entwicklung brauchen und wollen wir den
Ausbau hochleistungsfähiger Breitbandnetze auch im
ländlichen Raum. Wir wollen in Deutschland bis zum
Jahr 2018 die schon genannte flächendeckende Grundversorgung mit mindestens 50 Megabit erreichen. Infrastrukturminister Alexander Dobrindt sprach unlängst
von Innovationsgerechtigkeit als Zielstellung. Dem
möchte ich mich ausdrücklich anschließen.
({1})
Die bisweilen feststellbare digitalisierte Spaltung
zwischen urbanen Ballungszentren und dem ländlichen
Raum darf sich nicht verfestigen. Gerade im ländlichen
Raum, in dem der Netzausbau naturgemäß mit höheren
Kosten verbunden ist, müssen wir mit Beihilfeprogrammen des Bundes und der Länder unterstützen. Diese Praxis wird auch von der Bundesnetzagentur in ihrem Bericht als sinnvoll erachtet. Der TÜV Rheinland hat in
einer Studie den Finanzbedarf allein für den flächendeckenden Breitbandausbau mit 50 Megabit auf insgesamt
20 Milliarden Euro beziffert.
({2})
Darüber hinaus dürfen wir nicht vergessen: Das Ausbauziel 50 Megabit ist nur ein Zwischenziel. Mittel- bis
langfristig werden weit höhere Kapazitäten nachgefragt
werden. Es dürfte allen Beteiligten klar sein: Um unsere
Ziele zu erreichen, bedarf es der Zusammenführung aller
vorhandenen Kapazitäten. Im Sondergutachten der Monopolkommission heißt es:
Entscheidend für den Fortbestand und die Intensivierung des Wettbewerbs auf dem Markt für Breitbandanschlüsse ist, dass der Netzausbau weiterhin
wettbewerbsgetrieben und anhand von privaten Investitionen erfolgt.
Mit anderen Worten: Wir brauchen ein gemeinsames
Projekt von Politik, Wissenschaft und Wirtschaft. Die
von Bundesminister Dobrindt ins Leben gerufene Netzallianz Digitales Deutschland halte ich vor diesem Hintergrund für eine hervorragende Initialzündung, um alle
vorhandenen Potenziale zu bündeln und möglichst effizient auszuschöpfen.
({3})
Der Tätigkeitsbericht der Bundesnetzagentur bietet
aber auch eine gute Gelegenheit, zu betrachten, was in
den vergangenen Jahren erreicht wurde, und im Rahmen
einer Bestandsaufnahme kritisch zu hinterfragen, ob die
getroffenen Maßnahmen auf dem Telekommunikationsmarkt den erhofften Erfolg gebracht haben.
Dazu ist erstens festzustellen: Das wettbewerbliche
Leitbild hat sich als starker Motor für Investitionen,
Innovationen und Wachstum im Bereich der Telekommunikation absolut bewährt. Die Öffnung der Telekommunikationsmärkte vor 16 Jahren hat den dahinter stehenden Markt grundlegend verändert und dynamisiert.
Die Preise sind seither drastisch gesunken. Die Verbraucher haben heute auf nahezu allen Teilmärkten echte
Auswahlmöglichkeiten zwischen einer Vielzahl von Angeboten und Wettbewerbern. Private wie geschäftliche
Nutzer haben von dieser Entwicklung nachhaltig profitiert, da die Kosten für Telefonate und Internetnutzung in
den letzten Jahren erheblich zurückgegangen sind. Der
Verbraucherpreisindex für Telekommunikation hat sich
seit 1998 um knapp 40 Prozent verringert, Tendenz weiter fallend. Mit der Öffnung der Telekommunikationsmärkte wurden aber nicht nur die Preise drastisch zugunsten der Verbraucher gesenkt, sondern auch die
angebotenen Leistungen sukzessive verbessert.
Das bringt mich zur zweiten Feststellung. Eine verlässliche und kluge Regulierungspraxis ist die Voraussetzung dafür, dass Unternehmen in Breitbandinfrastrukturen investieren. Laut dem Bericht der
Bundesnetzagentur ist die Zahl der Breitbandanschlüsse
in Deutschland im letzten Jahr auf 28,4 Millionen gestiegen. Damit verfügt mittlerweile jeder dritte Haushalt in
der Bundesrepublik über einen Breitbandanschluss. Im
EU-weiten Vergleich liegt Deutschland damit auf Platz
vier. Das ist zwar nicht unser Anspruch; aber immerhin
ist es Platz vier. Auch diese Entwicklung verdanken wir
einem Mehr an Wettbewerb. Verschiedene Maßnahmen
der Regulierung haben dazu geführt, dass sich behutsam
ein Wettbewerb auf verschiedenen Teilmärkten entwickeln konnte. Hier sei exemplarisch auf den gesamten
Bereich der Vorleistungsprodukte verwiesen. Seit der
vollständigen Marktöffnung wurden in Deutschland bereits über 100 Milliarden Euro in den Netzausbau investiert, im Übrigen mehr als die Hälfte von Wettbewerbern
der Deutschen Telekom.
Die Beobachtung des Marktes lässt eine dritte
Schlussfolgerung zu. Unternehmen investieren vor allem
dort in den Netzausbau, wo sie mit anderen Anbietern im
Wettbewerb stehen. Um die Ziele beim Netzausbau zu
erreichen, müssen wir auf die verschiedensten Technologien zurückgreifen.
Die Entscheidung der Bundesnetzagentur zur Einführung der Vectoring-Technologie hat im vergangenen Jahr
für viel Diskussionsstoff gesorgt. Durch Vectoring wird
eine zeitnahe und relativ kostengünstige Aufrüstung des
bestehenden Telekommunikationsnetzes ermöglicht. Als
Union begrüßen wir die Ausschöpfung der sich daraus
ergebenden Möglichkeiten ausdrücklich. Vectoring ist
für uns ein wichtiger Baustein zur Erreichung des Etappenziels. Auch die Monopolkommission würde Vectoring als wünschenswerte Übergangstechnologie begrüßen. Klar ist aber auch, dass mittels Vectoring im
Moment zwar gute Ergebnisse erzielt werden, in Zukunft aber nur begrenzte Bandbreiten verfügbar sind.
Sichtbar ist übrigens, dass der Ausbau der VectoringTechnologie auch und gerade dort realisiert wird, wo
Kabelnetzbetreiber bereits Infrastruktur aufgebaut haben. Das ist in Ordnung, aber auch ein Beleg für mehr
Wettbewerb.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen, unser Ziel ist es, Deutschland zum führenden
digitalen Standort in Europa auszubauen. Der Tätigkeitsbericht der Bundesnetzagentur bestätigt, dass in den vergangenen Jahren viel geschehen ist. Wir wissen aber
auch, dass uns auf dem Weg noch viel Arbeit bevorsteht.
Dafür müssen wir sicherlich öffentliche Mittel in die
Hand nehmen. Unser Ziel werden wir vor allem dann erreichen, wenn wir es schaffen, Vielfalt auf den Märkten
zu erhalten und mittels Wettbewerb die notwendigen Investitionen anzustoßen.
Vielen Dank.
({4})
Danke schön. - Nächste Rednerin ist für Bündnis 90/
Die Grünen die Kollegin Katharina Dröge.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Mein Kollege Herr Durz hat schon vieles über
die positive Entwicklung auf dem Telekommunikationsmarkt seit der Marktöffnung im Jahr 1999 gesagt. Deswegen will ich mich an dieser Stelle kurzfassen. Ich teile
Ihre Analyse und finde auch, dass die Marktöffnung gezeigt hat, wie positiv der Wettbewerb für die Verbraucherinnen und Verbraucher sowie für die Unternehmen
in Deutschland sein kann. Seit der Marktöffnung erleben
wir drastische Senkungen bei den Preisen für Festnetz-,
Internet- und Handynutzung. In den ersten drei Jahren
nach der Marktöffnung hatten wir teilweise Preissenkungen von bis zu 20 Prozent. Das ist eine gute Nachricht.
({0})
So viel von mir zur Analyse. Sie haben viel dazu gesagt. Jetzt geht es darum, die Handlungsnotwendigkeiten
zu diskutieren.
({1})
- Langsamer? Es tut mir leid, ich rede jetzt langsamer.
Dann muss nicht so schnell mitgeschrieben werden. - Im
Rahmen der Handlungsnotwendigkeiten geht es nicht
nur um sinkende Preise, sondern natürlich auch um die
Themen Qualität und Verbraucherzufriedenheit. Genau
hier liegen für mich die Handlungsfelder, in denen sich
zeigt, wie eine gute Wettbewerbspolitik aussieht.
Märkte, die so kompliziert und unübersichtlich für die
Verbraucherinnen und Verbraucher sind wie die Telekommunikation, brauchen Rahmensetzungen des Staates, die bei der Orientierung helfen.
({2})
Denn welcher Verbraucher ist schon in der Lage, wirklich zu beurteilen, wie hoch die Datenübertragungsrate
ist, die bei ihm tatsächlich ankommt? Hier sind Informationspflichten wichtig.
Oder das Thema Anbieterwechsel. Ich weiß nicht,
wer hier im Saal schon einmal versucht hat, seinen Telefonanbieter zu wechseln.
({3})
Ich sage Ihnen: Tag für Tag versuchen es Menschen, und
sie haben mit vielen Hürden und Schwierigkeiten zu
kämpfen.
({4})
Die neue Transparenzverordnung der Bundesnetzagentur ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung,
auch wenn an der einen oder anderen Stelle noch kleinere Nachbesserungen notwendig sind, die wir noch am
Montag im Beirat der Bundesnetzagentur diskutiert haben. Aber es ist wichtig, dass die Bundesnetzagentur
ganz klar sagt, dass im Hinblick auf Transparenz und
Verbraucherschutz die Selbstregulierung der Unternehmen allein nicht funktioniert, sondern dass es eines regulatorischen Rahmens hinsichtlich der Informations- und
Transparenzpflichten der Anbieter bedarf.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wichtig beim
Thema Wettbewerb ist auch die Frage der Netzneutralität. Sie ist ein Garant für die Chancen von kleinen und
mittelständischen Unternehmen, sich in einem innovativen Markt mit guten Ideen gegen große Konzerne
durchzusetzen. Ich freue mich deshalb sehr, dass das Europaparlament sich heute in einer wegweisenden Entscheidung für ein offenes und freies Internet ausgesprochen hat.
({6})
Wir Grünen begrüßen es ausdrücklich, dass die Netzneutralität nun als Grundprinzip in Europa verankert ist.
({7})
Doch wenn Sie, meine Damen und Herren von der
Bundesregierung, das Ziel eines fairen Wettbewerbs und
fairer Chancen tatsächlich ernst nehmen, dann müssen
Sie jetzt handeln. Sie sind aufgefordert, die Netzneutralität endlich effektiv gesetzlich in Deutschland zu verankern bzw. sich dafür im Rat einzusetzen.
Das, was Herr Barthel - ich weiß nicht, wo er gerade
ist - in seiner Rede zum Thema Netzneutralität und zum
Thema Breitbandausbau gesagt hat, hat mich etwas gewundert. Sie, liebe SPD, sind jetzt in der Regierung.
Das, was Herr Barthel hierzu gesagt hat, klang ein bisschen wie eine Oppositionsrede; er sprach davon, was
man sich alles wünscht. Setzen Sie es doch einfach um!
Ich wünsche Ihnen viel Erfolg dabei.
({8})
Lassen Sie mich zum Schluss noch eine grundsätzliche Bemerkung machen. Ich finde es bezeichnend, dass
gerade Sie als Große Koalition - oder sollte ich besser
sagen, als Monopolkoalition? - keine wirklich erkennbaren Anstrengungen unternehmen, um den Wettbewerb
um faire Verbraucherpreise in Deutschland zu fördern.
({9})
Das sieht man an Ihrem mangelnden Handeln in Sachen Netzneutralität und Breitbandausbau. Das sieht
man genauso beim Thema Bahnpolitik. Das Bundeskartellamt hat noch vor wenigen Wochen ein Missbrauchsverfahren gegen die Deutsche Bahn eingeleitet wegen
des Verdachts auf Behinderung des Wettbewerbs im
Fahrkartenverkauf. Die Monopolkommission hat ganz
klar gesagt, dass nur die Trennung des Schienennetzes
von den Transportunternehmen einen fairen Wettbewerb
garantieren kann. Doch im Koalitionsvertrag findet sich
das Gegenteil, nämlich ein integrierter Bahnkonzern. Ich
sage Ihnen: Eine verbraucherfreundliche Politik sieht anders aus.
({10})
Aber ganz ehrlich - damit schließe ich auch -: Mich
wundert diese Politik nicht; denn die Strecke zwischen
Bahn und Kanzleramt ist wahrscheinlich die einzige in
Deutschland, die reibungslos funktioniert - garantiert
ohne Verspätung.
({11})
Vielen Dank. - Abschließender Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Thomas Jarzombek,
CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Dröge, Sie haben vollkommen recht: Die Bahn ist
so pünktlich, dass der Kollege Barthel von der SPD
schon zum Bahnhof gesprintet ist. Das gibt mir jetzt die
Freiheit, ihn über die Ferne daran zu erinnern, dass wir
inzwischen in einer Koalition sind. Das sind möglicherweise für manche hier in diesem Hause verblüffende Erkenntnisse.
({0})
Ich finde es auch ganz erstaunlich, dass man im
Jahr 18 der Liberalisierung des Telekommunikationsmarktes ernsthaft diskutiert, ob Wettbewerb etwas Gutes
ist. Ich glaube, ja.
Ich bin jetzt 40 Jahre alt. Ich kann mich noch daran
erinnern, wie ich als junger Mensch mit dem Mondscheintarif gequält wurde, bei dem man wirklich genau
aufpassen musste, wie lange man telefoniert, weil einem
jede Minute ins Portemonnaie geschnitten hat. Das ist
vorbei. Als es noch ein Monopol in Deutschland gab und
die Deutsche Post das Breitbandnetz ausgebaut hat - daran können Sie sich vielleicht erinnern -, gab es die
OPAL, die Optische Anschlussleitung. Das hat uns nicht
nach vorne gebracht, sondern das Gegenteil war der Fall.
Hier wurden Standards implementiert, die uns gerade im
Osten trotz Milliardeninvestitionen eben nicht ins Breitbandzeitalter geführt haben. Deshalb, glaube ich, ist es
gut, dass hier nicht ein Einziger nach eigenem Gusto entscheidet, sondern der Markt eine Rolle spielt.
Es ist auch eine Frage dessen, wie man mit den Verbraucherrechten umgeht; Sie haben das ja gerade erwähnt.
Ich kenne viele Leute, die mit ihrem Anbieter unzufrieden
sind und sagen: Mir reicht es; ich kündige, ich wechsle.
- Das geht nur, wenn es mindestens zwei Anbieter gibt.
Deshalb ist Wettbewerb etwas ganz Essenzielles. Der
Wettbewerb hilft uns.
({1})
Dann wird oft genug erklärt, der Wettbewerb schade
den Investitionen. Das ist eine Platte, die ich in den letzten Monaten viel zu oft gehört habe. Ich glaube, gerade
der heute vorliegende Bericht beweist doch das Gegenteil. Die Investitionen sind so hoch wie seit Jahren nicht
mehr. Interessant ist der Blick darauf, wer denn hier eigentlich investiert. Da sind die Zahlen klar verteilt:
3,5 Milliarden Euro kommen von den Privaten und nur
2,8 Milliarden Euro von der Deutschen Telekom. Ich
sage ganz klar nach Bonn: Ich finde, da geht noch was.
Insofern ist es gut, dass wir private Wettbewerber haben, die momentan offensichtlich die Mehrheit der Investitionen stemmen, die wir brauchen, um Deutschland
ins Breitbandzeitalter zu bringen. Da hilft uns keine Diskussion über einen Universaldienst, der genau das Gegenteil bewirkt, nämlich tatsächlich anfängt, den Wettbewerb wieder einzuschränken. In dem Augenblick, in
dem wir beschließen, dass wir mit Staatsknete das Breitbandnetz ausbauen, werden doch alle diejenigen, die
heute einen Ausbauplan irgendwo in Niedersachsen haben und gerade dabei sind, Kabelverzweiger zu ertüchtigen, sagen: Das stoppen wir jetzt erst einmal und warten
ab, was vom Bund an Geld kommt.
({2})
Dann gibt es den verwegenen Gedanken, man könnte
auf jeden Breitbandanschluss eine Umlage erheben. Das
wurde in den letzten Jahren von der damaligen Opposition viel diskutiert. Ich kann Ihnen nur sagen: Wir beschäftigen uns ja jetzt im Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur mit diesem Thema und wissen,
glaube ich, ganz gut, wie das angefangen hat, als man
auf Benzin eine Umlage für externe Kosten und dies und
das erhoben hat. Die Mineralölsteuer war zwischenzeitlich höher als der Preis des Benzins. Davor warne ich. Bei
allen Zielen, die wir hier verfolgen - wir reden immer so
viel über Megabit, vielleicht auch noch über Latenzzeiten -: Ich finde, der Preis eines Breitbandanschlusses ist
etwas sehr Wichtiges. Das ist eine Frage von gesellschaftlicher Teilhabe. Früher war der Brockhaus ein Statussymbol. Ich weiß gar nicht, wie viel Tausend D-Mark er
gekostet hat. Mit soundso vielen Bänden, in Leder eingebunden, dokumentierte er das Bildungsbürgertum im Regal. Das konnten sich nicht viele Leute leisten. Heute gibt
es für 19,90 Euro einen Breitbandanschluss, mit dem das
gesamte Wissen der Welt verfügbar ist. Ich finde, das ist
im Hinblick auf die gesellschaftliche Teilhabe ein Fortschritt.
({3})
Deshalb finde ich Äußerungen falsch, nach denen Internetanschlüsse in Deutschland zu billig sind. Ich
glaube nicht, dass sie zu billig sind. Ich glaube, dass die
Herausforderung darin besteht, die Bevölkerung dahin
zu bringen, dass sie erstens die Anschlüsse bestellt und
zweitens erkennt, dass man sie zu mehr nutzen kann als
zur reinen Unterhaltung. Das ist eine wichtige Aufgabe
bei der Vermittlung von Medienkompetenz, die wir in
der Enquete-Kommission sehr umfangreich beleuchtet
haben.
Es gibt an dieser Stelle viel zu tun, aber auch deutliche Erfolge. Kollege Barthel hat angemerkt, dass Finnland bei der Breitbandversorgung auf Platz eins ist, und
sagte, was wir jetzt alles tun müssten. Meine Damen und
Herren, im Jahr 2008 hatten gerade einmal 55 Prozent
der deutschen Haushalte einen Breitbandanschluss; das
heißt, fast die Hälfte war gewissermaßen offline. Im letzten Jahr waren es laut Eurostat 85 Prozent. Der Anteil
der Haushalte mit Breitbandanschlüssen ist also innerhalb von fünf Jahren von 55 Prozent auf 85 Prozent angestiegen. Damit liegen wir nur 3 Prozentpunkte hinter
Finnland zurück. Sicher ist es ein Ziel, den ersten Platz
zu erreichen; aber die Welt ist nicht so düster, wie der
Kollege es beschrieben hat.
({4})
An dieser Stelle möchte ich die Gelegenheit nutzen,
einmal dem Bundesminister Dobrindt wie auch der
Staatssekretärin Dorothee Bär, die heute bei uns ist, für
den sehr gelungenen Start und die gute Initiative der
Netzallianz Digitales Deutschland zu danken, mit der
man es geschafft hat, die Anbieter zusammenzubringen
und gezielt darüber zu reden, wie man zu mehr Investitionen in den Breitbandausbau kommt. Das brauchen
wir.
Ich glaube, dass auch die Strategie, die formuliert
wurde, ein substanzieller Erfolg ist. Dabei geht es um die
Frage: Was machen wir im Bereich der mobilen Breitbandlösungen? Es gab gestern im Ausschuss einen Bericht des Breitbandbüros des Bundes. Da hat Herr
Brauckmüller, der Chef des Breitbandbüros, erklärt:
50 bis 60 Prozent der Nutzungen werden künftig mobil
sein. Wenn Sie selber einmal schauen, mit welchen Geräten Sie heute online sind, dann werden Sie wenige
finden, die überhaupt noch einen Anschluss für einen
RJ-45-Netzstecker haben. Ich glaube, dass die mobile
Nutzung das Thema der Zukunft ist. Wir wollen im Verkehr die Telematik einführen, die Maschine-zu-Maschine-Kommunikation stärken und immer mehr SmartGeräte nutzen. Deshalb ist das wichtig.
Hier ist es ein Riesenerfolg, dass Minister wie Staatssekretärin es geschafft haben, dass, wenn es nach einer
Auktion oder Vergabe - was auch immer es sein wird;
ich finde übrigens, dass eine Auktion nicht unbedingt
das beste Instrument sein muss, ganz im Gegenteil - zu
einer Digitalen Dividende kommt, die entsprechenden
Erlöse in den Breitbandausbau gehen und nicht im allgemeinen Haushalt versickern. Das ist ein großer Erfolg
des Bundesministers, und das muss man an dieser Stelle
klar herausstellen.
({5})
Ein zweiter Punkt ist wichtig, wenn es darum geht,
die vorhandenen Möglichkeiten zu erschließen. Das
Breitbandbüro hat im Ausschuss ausgeführt, dass man
mit LTE-Advanced unter Nutzung der Frequenzen um
700 Megahertz aus der Digitalen Dividende 2 von heute
2 bis 6 Mbit mit LTE quasi mit einem Schnips auf
600 Mbit pro Sekunde kommen kann; damit wären
600 Mbit überall im ländlichen Raum verfügbar.
Das Ganze hängt jetzt an einer einzigen Stelle, nämlich bei den Ländern. Die Länder dürfen hier nicht
blockieren, sondern müssen diese Frequenzen freigeben.
Ganz entscheidend ist, dass die Länder am Ende nicht
das tun, was sie sonst immer tun, nämlich ein Preisschild
dranhängen,
({6})
also gar nicht mehr auf die Sachfrage schauen, sondern
nur noch fragen: Was kriegen wir denn jetzt eigentlich?
Wenn die Länder ein solches Preisschild dranhängen,
dann wird das zu Desinvestitionen führen. Insbesondere
wird die Nagelprobe für die Länder darin bestehen, zu
zeigen, dass auch sie selbst bereit sind, ihre Erlöse aus
dem Projekt in den Breitbandausbau zu investieren, also
bitte nicht in allen möglichen Kokolores.
({7})
Das ist die Botschaft, die heute von hier ausgehen muss.
Insofern freue ich mich sowohl auf die weiteren Beratungen in unserem neuen Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur als auch die Beratungen zur Netzneutralität im Ausschuss Digitale Agenda, der sich schon
nächste Woche mit den Beschlüssen des EU-Parlaments
beschäftigen wird. Auch das wird eine spannende Diskussion, auf die ich mich sehr freue.
Vielen Dank.
({8})
Vielen Dank. - Damit schließe ich die Aussprache zu
Tagesordnungspunkt 10.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/209 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Herbert
Behrens, Dr. Gregor Gysi, Caren Lay, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Nachtruhe am Flughafen Berlin Brandenburg
sicherstellen - Antrag des Landes Brandenburg unterstützen
Drucksache 18/971
Vizepräsident Johannes Singhammer
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind auch
für diese Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner ist der Kollege Thomas Nord, Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und
Kollegen! Mein Wahlkreis liegt in der Nähe des BER.
Das Volksbegehren für ein konsequentes Nachtflugverbot und einen neuen Standort hatte dort eine große
Lobby. Wir hätten das unterstützen können, meine Partei
hat jedoch darauf verzichtet. Niemand darf Milliarden
von bereits ausgegebenen Steuergeldern einfach abschreiben.
Umso konsequenter ist die Linke der Auffassung,
dass die Fluglärmbetroffenen einen Anspruch auf bestmöglichen Schallschutz und ein konsequentes Nachtflugverbot haben.
({0})
Für diese Position habe ich bei Debatten mit Bürgerinnen und Bürgern nicht nur Zustimmung erfahren, aber
durchaus Respekt. Die Mehrheit der Brandenburgerinnen und Brandenburger ist bereit, die Realität zur Kenntnis zu nehmen, wenn die Politik zugleich bereit ist, die
Interessen der vom Fluglärm Betroffenen ernsthaft mit
in Rechnung zu stellen.
({1})
Auf diese Ernsthaftigkeit von Politik können die Bürgerinnen und Bürger jedoch nicht mehr wirklich bauen.
Über Jahre hat sich Misstrauen entwickelt, und leider tun
auch jetzt die Regierungskoalitionen im Bund und in
Berlin alles dafür, dass sich dieses Misstrauen weiter
verfestigt.
Die Absicht, einen Flughafen bei Schönefeld zu
bauen, hat in diesem Jahr 18. Geburtstag. Im Mai 1996
einigten sich der Bund und die Länder Berlin und Brandenburg darauf, dort einen Single Airport zu entwickeln.
Der Traum vom BER wird in diesem Jahr also volljährig. Einige Verantwortliche haben jedoch aus den Geburtsfehlern dieses Projektes offensichtlich nichts gelernt. Am 7. April wird wahrscheinlich der Fehler von
1996 wiederholt. Brandenburgs Ministerpräsident
Manfred Stolpe wies damals noch einmal ausdrücklich
darauf hin, dass die Entscheidung für Schönefeld falsch
ist; die Bundesregierung und Berlin setzten sich aber darüber hinweg.
Seitdem ist dieses Projekt ein Trauerspiel. Es gehört
- das wissen wir alle - zu den größten Desastern öffentlicher Investitionen. Wenn heute auf die Wirtschaftlichkeit des Projektes verwiesen wird, sobald es um die
Wahrung der Interessen der Anwohnerinnen und Anwohner geht, dann klingt das wie ein Treppenwitz. Das
scheint der einzige Punkt zu sein, bei dem Wirtschaftlichkeit von Bedeutung ist. Anders lässt sich die Vielzahl
willkürlicher und milliardenschwerer Fehlentscheidungen kaum erklären. Im Übrigen wird allen Bürgerinnen
und Bürgern in Art. 2 des Grundgesetzes körperliche
Unversehrtheit garantiert, unabhängig davon, ob sich das
rechnet oder nicht.
({2})
Zur Wahrheit gehört, dass alle Entscheidungen immer
von allen drei Gesellschaftern des BER mitgetragen
wurden, also auch von brandenburgischen Landesregierungen. Das gilt auch, wenn heute die brandenburgische
CDU, immerhin zehn Jahre mit in der Regierung, versucht, sich vom märkischen Acker der Mitverantwortung zu machen. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen
der Union in Brandenburg, lassen wir Ihnen nicht durchgehen. Darüber wird im Landtagswahlkampf sicherlich
zu reden sein.
Nach vielen Versuchen, sich Gehör zu verschaffen,
griffen Bürgerinnen und Bürger zum Mittel der direkten
Demokratie. Es fand das erste erfolgreiche Volksbegehren in Brandenburg statt. Über 106 000 Brandenburgerinnen und Brandenburger stimmten für ein konsequentes Nachtflugverbot. Folgerichtig und in Respekt vor
diesem klaren Ergebnis hat die brandenburgische rotrote Regierungskoalition dieses Begehren mit einem
Landtagsbeschluss angenommen und verhandelt seit einem Jahr mit den anderen Gesellschaftern über dessen
Umsetzung. Die Landesregierung vertritt damit die Interessen der Bürgerinnen und Bürger Brandenburgs. Sie
hat gehofft, die Mitgesellschafter überzeugen zu können,
dass es gut wäre, die Interessen des BER mit denen der
Bürgerinnen und Bürger ins gesellschaftliche Gleichgewicht zu bringen.
Die Reaktionen der Bundesregierung und der Berliner
Landesregierung sind eindeutig. Sie sind in höchstem
Maße ignorant und wiederholen den Fehler von 1996.
Sie wollen sich, wie bei der Entscheidung für den Standort, über Brandenburg hinwegsetzen. Natürlich ist das
möglich. Besser aber wäre es, die Bundesregierung
würde hier und heute durch das Parlament gestoppt.
({3})
Wirklich damit rechnen können wir aber leider nicht.
Weil dies so ist, hat Ministerpräsident Dietmar
Woidke gestern in einer Regierungserklärung weitere
Schritte auf die Mitgesellschafter zu gemacht. Sein
Kompromissvorschlag würde den höchstrichterlich ausgeurteilten Planfeststellungsbeschluss unberührt lassen.
Danach soll die Flughafengesellschaft mit Zustimmung
der Luftfahrtbehörden in der Zeit zwischen 5 und 6 Uhr
morgens auf den Gebrauch ihrer Betriebsgenehmigung
freiwillig verzichten. Das hieße im Klartext, es gebe
wenigstens eine Stunde mehr Nachtruhe für die Anwohnerinnen und Anwohner. Das liegt übrigens unter der
Forderung der brandenburgischen CDU, die eine Nachtruhe von 23 bis 6 Uhr fordert. Ich warte noch auf den
entsprechenden Antrag aus den Reihen der Union, damit
ich ihm hier freudig zustimmen kann.
Die bisher vorliegenden Äußerungen aus der Bundesregierung und dem Land Berlin legen nahe, dass sie
nicht die Absicht haben, den Interessen der Betroffenen
entgegenzukommen.
({4})
Der Bund und Berlin, Regierungen aus Union und SPD,
wollen sich erneut über brandenburgische Interessen
hinwegsetzen. Das ist rücksichtslos gegenüber der Gesundheit Hunderttausender Menschen, und es ist schädlich für das Projekt BER. 2014 ist nicht mehr 1996. Wer
heute noch glaubt, so ein Vorhaben kompromisslos gegen den Willen Hunderttausender und des Landes, das
die Hauptlast trägt, realisieren zu können, ist grenzenlos
arrogant und politisch höchst kurzsichtig.
({5})
Nachhaltiges Brandenburger Engagement ist für den
BER unverzichtbar. Alle Gesellschafter sind aufeinander
angewiesen. Niemand wird sich auf Dauer den legitimen
Interessen des einen oder anderen entziehen können.
Wenn Sie unserem Antrag zustimmen, zeigen Sie in dieser Frage mehr Weitsicht als die Vertreter der Bundesregierung gegenwärtig.
Danke schön.
({6})
Nächster Redner ist der Kollege Peter Wichtel, CDU/
CSU.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als ich den
Antrag der Linksfraktion diese Woche in Händen hielt
- das war am 1. oder 2. April -, habe ich mir den Antrag
zweimal angeschaut, um mich zu vergewissern, ob es ein
Aprilscherz oder wirklich ein Antrag ist. So, wie er
formuliert worden ist, ist es, denke ich, eindeutig, dass es
keinen Grund gibt, hier im Bundestag darüber zu diskutieren. Das ist Wahlkampfgetöse im Vorfeld des Landtagswahlkampfes in Brandenburg. Ich denke, das ist der
einzige Grund, weshalb der Antrag hier eingebracht
wurde.
Was ich am bedauerlichsten finde, ist, dass im anstehenden Wahlkampf mit Forderungen wie der nach einer
Ausweitung des Nachtflugverbots am Hauptstadtflughafen BER unnötigerweise wieder einmal auf dem
Rücken der Bürger diskutiert wird. Jeder, der sich mit
der Thematik auch nur ein bisschen auskennt und sich
damit beschäftigt hat, weiß ganz genau, dass der Ruf
nach einer Ausweitung des Nachtflugverbots absolut unrealistisch ist. Selbst der Brandenburger Ministerpräsident hat mittlerweile seine Bemühungen, die weiteren
Gesellschafter der FBB GmbH von einer solchen Ausweitung zu überzeugen, diese Woche eingestellt, wie ich
der Presse entnehmen konnte. Das heißt also, dass hier
und heute keiner der beteiligten Gesellschafter, weder
der Bund noch das Land Brandenburg noch das Land
Berlin, einen Antrag auf Verkürzung der Betriebszeiten
einbringt. Alle Beteiligten haben verstanden, dass eine
entsprechende Änderung des Planfeststellungsbeschlusses abgelehnt würde. Nur die Fraktion der Linken im
Deutschen Bundestag hat dies offensichtlich nicht verstanden.
({0})
Bedauerlich ist bei den Forderungen nach einer weiteren Verkürzung der Betriebszeit insbesondere - dies
habe ich bereits angedeutet -, dass den Menschen im
Umfeld des Flughafens Versprechungen gemacht werden, die nicht gehalten werden können.
Herr Kollege Wichtel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Nord?
Das beabsichtige ich nicht. Nein.
({0})
Dieses unnötige Wahlkampfgetöse macht den Bürgern vollkommen falsche Hoffnungen und verunsichert
zudem die zukünftigen Akteure am Hauptstadtflughafen.
Das betrifft die Beschäftigten, die zukünftigen Ladenbetreiber und die Fluggesellschaften. Wenn es nach all
den Verzögerungen und Hiobsbotschaften um den BER
in den vergangenen Jahren eine Sache gibt, die das Projekt und auch die Menschen im Umfeld nicht gebrauchen können, dann sind das weitere Versprechungen, die
nicht gehalten werden können.
({1})
Ich will an dieser Stelle noch einmal deutlich machen,
warum die beteiligten Gesellschafter einer Erweiterung
des Nachtflugverbotes nicht zustimmen. Bei den Betriebszeiten des BER ist die Zeit von 0 bis 5 Uhr als unterbrochene Flugzeit, als Nachtruhe, vorgesehen. Dies ist
nach einem Planfeststellungsverfahren und nach einem
höchstrichterlichen Urteil des Bundesverwaltungsgerichts so festgelegt worden. Jeder, der hier suggeriert,
dass man dies nach einem Planfeststellungsverfahren
einfach ändern kann, wenn es denn die Menschen wollen, sorgt nicht für Planungssicherheit, sondern für Planungsunsicherheit. Ich denke, das kann man so nicht machen.
({2})
Es gibt aber noch einen weiteren Grund, warum ich
denke, dass es richtig ist, die jetzt vorgesehene Regelung
der Betriebszeiten zu unterstützen, auch wenn man uns
mit dem heute vorliegenden Antrag genau das Gegenteil
weismachen will. Das Nachtflugverbot stellt bereits einen ausgewogenen Kompromiss zwischen den Interessen der Anwohner und den betrieblichen Notwendigkeiten des Flughafens dar. Zudem sind in den Randzeiten
zwischen 5 und 6 Uhr sowie zwischen 23 und 0 Uhr zusätzliche deutliche Einschränkungen bei Starts und Landungen vorgesehen. Die Bürgerinnen und Bürger im
Umfeld des Flughafens werden mit den vorgesehenen
Betriebszeiten also bereits spürbar entlastet.
({3})
Hier von einem dringend benötigten Kompromiss zu
sprechen, ist dementsprechend aus meiner Sicht irreführend und falsch. Eine Ausweitung des Kompromisses
würde einen Kompromiss vom Kompromiss bedeuten.
Ich bin zudem davon überzeugt, dass viele Menschen
in Berlin und Brandenburg diese Ansicht nicht teilen und
sich nicht übermäßig vom Fluglärm belästigt fühlen.
({4})
Wie in einem vor kurzem in der Berliner Zeitung erschienenen Artikel anschaulich verdeutlicht wurde, ist
die Nachbarschaft rund um den Flughafen ein sehr beliebtes Gebiet für Wohnimmobilien. Makler berichten
zurzeit schon, dass in einigen Bereichen das Angebot
knapp wird, dass es kaum noch Grundstücke gibt und die
Grundstücke, wie der Volksmund so schön sagt, wie
warme Semmeln weggehen,
({5})
und das ungeachtet der steigenden Immobilienpreise.
Diese Situation haben wir übrigens, liebe Kollegin von
den Grünen, die dauernd dazwischenruft, an allen Verkehrsflughäfen. Die Grundstücke in der Nähe der Flughäfen werden teurer; das versteht kein normaler Mensch.
({6})
Berichte wie dieser verdeutlichen, dass die Bürger im
Umfeld des BER den Flughafen annehmen und dass sie
das, was ich vorgetragen habe, in der Mehrheit so sehen.
Abschließend betrachtet kann ich daher nur dafür plädieren, dass sich alle beteiligten Gesellschafter endlich
um die hauptsächliche Herausforderung kümmern, nämlich darum, dass der BER fertiggestellt wird. Sie sollten
sich darauf konzentrieren und nicht mit durchsichtigen
Wahlkampfmanövern unnötig weitere unrealistische
Baustellen aufmachen.
Das darüber hinaus immer wieder beschworene gedeihliche Miteinander von Bürgern und Flughafen, das
in der Debatte über die Betriebszeiten ja immer über Gebühr betont wird, kann nur dann gelingen, wenn die
Menschen, so gut es geht, einbezogen werden. Dazu gehört aber auch, dass keine falschen Hoffnungen geschürt
werden, Hoffnungen, die ohnehin nicht umsetzbar sind.
Genau das ist der Fall, wenn man eine Ausweitung des
bereits vorhandenen rechtssicheren Nachtflugverbotes
fordert.
Leider beschreitet man seitens der brandenburgischen
Landesregierung weiter den Weg, leere Wahlkampfversprechen zu machen. Denn auch der nun geäußerte Vorschlag, der Flughafenbetreiber solle die Nachtruhe doch
einfach freiwillig um eine weitere Stunde auf 6 Uhr ausdehnen, ist unrealistisch und aus meiner persönlichen
Sicht eine weitere Durchhalteparole für den Landtagswahlkampf.
({7})
Aus diesem Grund und aus den anderen von mir vorgetragenen Gründen werden wir den vorliegenden Antrag
ablehnen.
({8})
Als nächster Redner hat der Kollege Stephan Kühn
das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Wichtel, das, was
die Kollegen von der CDU im brandenburgischen Landtag zu diesem Thema sagen, hört sich doch etwas anders
an als das, was Sie gesagt haben; das nur als Bemerkung
am Rande.
({0})
Mit Beschluss vom 27. Februar 2013 hat sich der
Brandenburger Landtag der Forderung des erfolgreichen
Bürgerbegehrens angeschlossen, das ein Nachtflugverbot in der Zeit von 22 bis 6 Uhr für den neuen Flughafen
Berlin Brandenburg fordert. Mit dem vorliegenden Antrag will die Linke erreichen, dass sich der Bund als Anteilseigner der Flughafen Berlin Brandenburg GmbH
dieser Forderung anschließt. Dieses Ansinnen unterstützen wir.
Leider hat die rot-rote Regierung in Brandenburg
diese Position gerade geräumt. Ministerpräsident
Woidke hat dazu gestern eine Regierungserklärung abgegeben. Dabei ist er von der geforderten Ausweitung
des Nachtflugverbots am künftigen Flughafen Berlin
Brandenburg abgerückt. Das Ergebnis des Volksbegehrens wird also nicht umgesetzt, Brandenburg bekommt
nicht den Bürgerwillen gemäß dem Volksentscheid, und
der Rückzug erfolgt eigentlich, wenn man ehrlich sein
will, vor Verhandlungsbeginn.
Ministerpräsident Woidke ist vor Verhandlungsbeginn
umgefallen. Er hatte über ein Jahr Zeit,
({1})
in den Gremien der Flughafengesellschaft einen Antrag
auf Änderung der Betriebsgenehmigung zu stellen. Das
ist nicht passiert. Man ist nicht tätig geworden. Der Vorschlag der Landesregierung - ein freiwilliger und auf
fünf Jahre begrenzter Verzicht auf den Nachtflugverkehr
in der Stunde von 5 bis 6 Uhr - ist eigentlich die Weigerung, überhaupt in den Kampf zu ziehen.
Stephan Kühn ({2})
({3})
Es gibt keinen Grund, hinter dieser Ausgangsposition
zurückzubleiben, solange nicht alle rechtlichen Mittel
ausgeschöpft sind.
({4})
In einem Rechtsgutachten vom 21. Januar dieses Jahres
werden Alternativen aufgezeigt, um zu einem Nachtflugverbot zu kommen. Mit dem jetzt vorgelegten Kompromissvorschlag hat Brandenburg seine Verhandlungsposition geschwächt. Ob dieser Minimalkompromiss überhaupt
erfolgreich sein wird, ist bekanntlich auch noch ungewiss.
Außerdem ist das Timing äußerst schlecht. Erst letzte
Woche hat der Sachverständigenrat für Umweltfragen
der Bundesregierung ein Sondergutachten mit dem Titel
„Fluglärm reduzieren: Reformbedarf bei der Planung
von Flughäfen und Flugrouten“ vorgelegt, das deutlich
macht, dass Fluglärmschutz im geltenden Luftverkehrsrecht nur unzureichend gewährleistet ist. Ich zitiere daraus:
Die gesetzliche Regelung der Fluglärmproblematik
im Luftverkehrsrecht ist unterentwickelt. Das
LuftVG enthält keine Grenzwerte. … Der Gesetzgeber sollte Immissionsgrenzwerte für Fluglärm
zum Schutz der Flughafenanwohner normieren.
Die entscheidende Passage, die Herr Woidke, aber
auch die Herren Wowereit und Dobrindt lesen sollten, ist
die folgende - ich zitiere wieder -:
Um den Schutz der Nachtruhe besonders hervorzuheben, sollte die diesbezügliche Rechtsprechung
des Bundesverwaltungsgerichts … kodifiziert werden. Insoweit sollte allerdings der Schutz der gesamten Nachtzeit ({5}) gewährleistet bleiben.
({6})
Weiter heißt es da:
Die von der Rechtsprechung vorgenommene Flexibilisierung, die zwischen „Kernnacht“ und „Randzeiten“ unterscheidet, muss vor dem Hintergrund
der staatlichen Schutzpflicht für die menschliche
Gesundheit aus Grundrechten eine besonders rechtfertigungsbedürftige Ausnahme bleiben, die nicht
zu einer Entwertung des Schutzes der Nachtruhe
während dieser Randzeiten führen darf.
Die Bundesregierung hat im Koalitionsvertrag versprochen, dass sie mehr gegen Fluglärm tun will. Insbesondere Verkehrsminister Dobrindt ist aufgefordert, diesen Ankündigungen auch Taten folgen zu lassen.
({7})
Die Umweltweisen der Bundesregierung, der genannte
Sachverständigenrat, haben hierzu qualifizierte Vorschläge gemacht. Die liegen auf dem Tisch. Die müssen
jetzt diskutiert werden.
Im Moment, muss man ehrlich sagen, ist der BER ein
Langzeitforschungsprojekt „lärmarmer Flughafen“.
({8})
Jetzt wird allerdings die Befürchtung geäußert,
durch eine Ausweitung des Nachtflugverbotes zwischen 22 Uhr und 6 Uhr würde die Wirtschaftlichkeit
des Flughafens gefährdet. Unwirtschaftlich wird der
Flughafen durch die Kostenexplosion, deren Ende noch
nicht absehbar ist, und durch die weitere Verzögerung
des Eröffnungstermins, die jeden Monat einen zweistelligen Millionenbetrag an zusätzlichen Kosten verursacht. Das ist die Wahrheit, meine Damen und Herren.
({9})
Unverändert regiert auf der Baustelle das Chaos. Die
Aussage von Flughafenchef Mehdorn „Wir haben den
BER im Griff“ war wohl nicht als Aprilscherz gedacht,
aber man muss sagen: Es ist einer. Nachdem Technikchef Amann alle Baumängel aufgelistet hat, ist mit Blick
auf die geplante bauliche Fertigstellung bis zum Ende
dieses Jahres im Wesentlichen nichts passiert.
Es ist ein offenes Geheimnis, dass die Kosten auf über
5 Milliarden Euro steigen werden. Ich denke, es muss
endlich Schluss damit sein, dass wir weitere Durchhalteparolen und Ankündigungen geliefert bekommen. Wir
brauchen endlich Ergebnisse. Es ist nur doof, wenn man
ausgerechnet die Leute auf der Baustelle entlässt, die
sich mit den Problemen auskennen.
({10})
In dieser Woche ist wieder einem Bereichsleiter gekündigt worden. Er ist derjenige, der sich nach Medieninformationen mit den überbelegten Kabelkanälen im Hauptpier auskennt. Diese Überbelegung muss man beseitigen,
wenn man den Flughafen irgendwann in Betrieb nehmen
will. Dieser Fachmann ist nun entlassen worden.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ich komme zum Schluss.
Der Bund bekennt sich zum Bau des Flughafens
Berlin-Brandenburg BER.
So steht es im Koalitionsvertrag, meine Damen und Herren.
Das reicht nicht. Wenn der Aufsichtsrat nächste Woche tagt, muss endlich Transparenz über weitere Kosten,
den Umfang und den zeitlichen Ablauf der Umbaumaßnahmen hergestellt werden. Sonst wird die Meldung von
Radio Bayern 3 vom 1. April, dass ab Juli jeder Deutsche 1 Euro im Monat für den neuen Hauptstadtflughafen zahlen soll, noch Realität, und das wollen wir alle,
glaube ich, nicht.
({0})
Als nächster Redner hat der Kollege Martin Dörmann
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Flughäfen haben zwei Seiten. Auf der einen Seite sind
sie unverzichtbar für eine mobile Gesellschaft. Sie verbinden Städte, Länder und Regionen. Sie schaffen Wirtschaftswachstum und Arbeitsplätze. Zigtausenden Menschen verhelfen sie zu einem sicheren Einkommen.
Reisende erleben die Möglichkeit, mit einem Flieger an
unzählige Orte dieser Welt zu fliegen, als eine persönliche Freiheit, die sie nicht missen wollen.
Auf der anderen Seite gibt es zahlreiche Menschen,
die von einem Flughafen gar nicht begeistert sind, weil
sie nämlich unmittelbar in seiner Nähe wohnen und vom
Fluglärm betroffen sind. Wer von lauten Flugzeugen um
den Schlaf gebracht wird, erlebt dies als Einschränkung
seiner Freiheit, als Verlust von Lebensqualität und möglicherweise sogar als Schaden an seiner Gesundheit.
({0})
Es ist vor diesem Hintergrund Aufgabe nachhaltiger
Politik, wirtschaftliche Interessen und das Bedürfnis
nach Mobilität auf der einen Seite und den notwendigen
Schutz der betroffenen Bevölkerung vor Lärm und Gesundheitsschäden auf der anderen Seite in einen angemessenen Ausgleich zu bringen.
({1})
Gerade dies ist ein zentrales umwelt- und verkehrspolitisches Anliegen der Großen Koalition. In unserem
Koalitionsvertrag haben wir uns auf eine Vielzahl von
Maßnahmen verständigt, um Fluglärm zu reduzieren,
Lärmschutz zu verbessern, und zwar auch und gerade in
den Nachtstunden. Dazu gehören beispielsweise lärmreduzierende flugbetriebliche Verfahren, eine Verschärfung der Lärmschutzgrenzwerte für neue Flugzeuge,
lärmabhängige Flughafenentgelte, die wir im Luftverkehrsgesetz verankern wollen. Außerdem werden wir
die Grenzwerte des Fluglärmschutzgesetzes in dieser Legislaturperiode überprüfen.
Auch bei der Festlegung von Flugverfahren wollen
wir den Lärmschutz verbessern. Technische Innovationen im Luftverkehr und eine schnelle Modernisierung
der Flugzeugflotten mit leisen Flugzeugen sollen diese
Maßnahmen flankieren und verstärken. Wir wollen also
alle angemessenen Maßnahmen ergreifen, um Menschen
vor negativen Einflüssen eines Flughafens zu schützen.
Ich freue mich, dass damit ganz viele Punkte Eingang in
den Koalitionsvertrag gefunden haben, die die SPDBundestagsfraktion in der vergangenen Wahlperiode in
einem besonderen Dialogprojekt mit dem Titel „Infrastrukturkonsens“ in ein Gesamtkonzept gegossen hat.
Vieles davon findet sich im Koalitionsvertrag wieder.
({2})
Bei allen notwendigen Bemühungen um verstärkten
Lärmschutz müssen Flughäfen aber auch die Möglichkeit haben, dringende Verkehrsbedürfnisse abzudecken
und wirtschaftlich erfolgreich zu arbeiten. Zudem
braucht Deutschland einige Flughäfen, die auch nachts
angeflogen werden können. Daher haben wir uns in der
Koalition darauf verständigt, keine generellen Betriebsbeschränkungen mit einem Nachtflugverbot vorzunehmen. So weit unsere Grundsatzposition.
Wie sieht es nun bezüglich des neuen Flughafens Berlin Brandenburg aus? Welche Regelungen wurden dort
zum Schutz der Bevölkerung getroffen? Für den Flughafen BER gelten so strenge Grenzwerte für die Tagseite
wie an keinem anderen internationalen Flughafen weltweit. Bevor ein Anspruch auf passiven Lärmschutz besteht, ist es ansonsten üblich, dass eine bestimmte Anzahl von Flugbewegungen über einem bestimmten
Grenzwert liegt, nämlich in Deutschland üblicherweise
über 55 dB, und zwar gemessen im Rauminneren der
Wohnhäuser. Dies ist ein Lärmpegel, der etwa einer normalen Unterhaltung entspricht.
An den meisten Flughäfen wird eine bestimmte Anzahl von Flugbewegungen zugelassen, die über diesem
Lärmereignis liegen können, beispielsweise 6 oder 16
Flugbewegungen. Diese Zahl lautet für Berlin: 0. Also
bereits eine einzige Flugbewegung über diesem Lärmpegel innerhalb der verkehrsreichsten sechs Monate eines
Jahres führt dazu, dass ein Anspruch auf passiven Lärmschutz besteht, beispielsweise eine entsprechende Fensterverglasung, die von der Flughafengesellschaft finanziert werden muss. Dies bedeutet mehrere Hundert
Millionen Euro Zusatzkosten für Lärmschutzmaßnahmen, die es an keinem anderen Flughafen gibt. Insgesamt wird mit Kosten für den Schallschutz von mehr als
700 Millionen Euro gerechnet. Das ist, wie wir finden,
wirklich gut investiertes Geld für die Gesundheit der
Menschen.
({3})
Zudem gibt es am Flughafen Berlin Brandenburg ein
Nachtflugverbot in der Zeit von 0 bis 5 Uhr. Das Bundesverwaltungsgericht hat den entsprechenden Planungsergänzungsbeschluss ausdrücklich für rechtmäßig
erklärt. In den Randzeiten abends und morgens darf zudem nur eine verminderte Anzahl von Flugzeugen starten oder landen. Den Bedarf hierfür hat das Bundesverwaltungsgericht allerdings aus mehreren Gründen als
„plausibel dargelegt“ bezeichnet, etwa weil Zeitverschiebungen und Streckenlängen bei Interkontinentalflügen eben Abflüge bis 23.30 Uhr oder Landungen ab
5.30 Uhr nötig machen.
Nun debattieren wir heute über einen Antrag der
Fraktion Die Linke, der eine Ausweitung des Nachtflugverbotes für den neuen Flughafen BER auf die Zeit von
22 bis 6 Uhr fordert. Es ist bereits ausführlich dargelegt
worden, dass das vor dem Hintergrund geschieht, dass
die Landesregierung Brandenburg nach einem erfolgreichen Volksbegehren eine entsprechende Position eingenommen hat.
Es ist auch zu respektieren, dass eine Landesregierung vor diesem Hintergrund und auch aufgrund einer
kritischen Stimmung in der Bevölkerung sich dazu entschlossen hat, weitere Versuche zu unternehmen, um
weitere Maßnahmen zum Lärmschutz zu erreichen und
so die Akzeptanz in der Bevölkerung zu erhöhen.
Ja, es ist wahr, wir als Politik müssen zur Kenntnis
nehmen, dass die Bevölkerung insgesamt - und aus
guten Gründen - kritischer mit Lärmbelastungen umgeht.
({4})
Eine offene Diskussion um das richtige Maß kann letztlich dazu beitragen, die Akzeptanz gerade auch von
Flughäfen zu verbessern.In Abwägung aller Argumente
kommt die Große Koalition insgesamt dennoch zu einem
anderen Ergebnis als die Landesregierung Brandenburg.
Deshalb lehnen wir den Antrag der Linken hier ab, und
das möchte ich auch gerne noch einmal näher begründen:
Wir alle wissen um den schwierigen Weg, den der
neue Flughafen bereits hinter sich hat. Er hat aber auch
noch ein gutes Stück Weg vor sich. Es war ein ernsthaftes Ringen um einen breit angelegten Konsens, das seinerzeit zu der Nachtruhezeit von 0 und 5 Uhr im Planergänzungsbeschluss geführt hat, übrigens federführend
erarbeitet vom zuständigen Landesverkehrsministerium
in Brandenburg. Nach langen Jahren vor Gericht gibt es
nun ein rechtskräftiges Urteil, das die Rechtmäßigkeit
der gefundenen Regelung und damit auch ihre Angemessenheit bestätigt hat. Von daher können die beiden anderen Anteilseigner, nämlich Berlin und der Bund, sehr
wohl gute Argumente dafür anführen, den bereits gefundenen Kompromiss konsequent weiterzuverfolgen.
Hinzu kommt, dass es äußerst zweifelhaft ist, ob
selbst eine einvernehmlich von den Gesellschaftern beschlossene Ausweitung der Nachtruhezeit unter Zustimmung aller Anteilseigner rechtlich überhaupt haltbar
wäre. Der Flughafen hat nämlich auf Grundlage des
Planergänzungsbeschlusses eine Betriebspflicht in den
Stunden außerhalb der festgelegten Nachtruhezeit von
0 bis 5 Uhr.
({5})
Selbst wenn sich die Gesellschafter in der Gesellschafterversammlung über eine Ausweitung der Nachtruhezeit einig wären, könnte eine Fluggesellschaft darauf
klagen - mit Aussicht auf Erfolg -, in den Randzeiten,
um die es heute geht, fliegen zu dürfen. Jede Änderung
der im Planergänzungsbeschluss gefundenen Nachtruhezeit würde also zu neuer Rechtsunsicherheit führen und
den wirtschaftlichen Erfolg des Flughafens infrage stellen.
In einem Gutachten wurde errechnet, dass, wenn man
die Nachtruhezeit auf die drei Randstunden ausdehnen
würde, mit Mindereinnahmen von 40 Millionen Euro
pro Jahr und einem Verlust von 8 000 Arbeitsplätzen zu
rechnen wäre. Da die Zahl der Flugbewegungen prognostisch sogar noch höher ist, wird der Verlust wahrscheinlich noch höher ausfallen.
Ich will zudem daran erinnern, dass der Flughafen
BER gerade deshalb außerhalb des Stadtgebiets neu geplant wurde, um dort die Möglichkeiten für ein Flugdrehkreuz zu schaffen, das den Menschen in Berlin und
Brandenburg neue Reiseziele ermöglicht und die hohen
- ja, die sehr hohen - Investitionskosten für alle Beteiligten rechtfertigt.
Wir alle wissen: Beim BER sind noch zahlreiche Probleme zu lösen. Wir sollten also dazu beitragen, die Voraussetzungen für einen wirtschaftlichen Erfolg des
Flughafens zu bewahren. Ansonsten droht ein Dauersubventionsbetrieb, der auch nicht im Interesse der Bürgerinnen und Bürger sein kann.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht letztlich um
einen Dreiklang: Der Flughafen muss technisch funktionieren, er muss wirtschaftlich betrieben werden können,
und die um ihn herum lebenden Menschen müssen konsequent und angemessen vor vermeidbarem Lärm geschützt werden. Auch wenn es in der heute diskutierten
Frage offensichtlich Akzentunterschiede gibt, so bin ich
doch hoffnungsvoll, dass am Ende des Tages alle Beteiligten, insbesondere die drei Anteilseigner, einen Weg
finden werden, um gemeinsam zum Erfolg des Flughafens und zu einem guten Lärmschutz dort beizutragen.
Vielen Dank.
({6})
Jetzt hat Klaus-Dieter Gröhler das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! 164, das ist die
Antwort auf die Frage, warum die Fraktion Die Linke ihren Antrag hier heute eingebracht hat.
Die Frage nach dem Warum stellt sich ja inzwischen
besonders, seit der Ministerpräsident des Landes Brandenburg am letzten Montag das Scheitern seiner Forderung nach einer Veränderung des Nachtflugverbots eingestanden hat und jetzt nur noch appelliert, dass es Starts
zwischen 5 und 6 Uhr nicht geben soll. Damit ist die
Grundlage für diesen Antrag eigentlich entfallen. Eigentlich, meine Damen und Herren, hätten Sie sich heute
hierhinstellen und sagen müssen: „Wir ziehen diesen
Antrag zurück“; denn er hat gar keine Basis mehr.
({0})
Warum Sie das nicht getan haben, lässt sich mit der
Zahl 164 erklären: In 164 Tagen wird in Brandenburg
ein neuer Landtag gewählt. Ich glaube, das ist der eigentliche Grund, weshalb dieser Antrag hier heute gestellt
worden ist. Die Linke will Flagge zeigen. Klar: Wenn
man praktisch in fünf Jahren Regierungsbeteiligung in
Brandenburg nicht viele Erfolge vorzuweisen hat, dann
muss man versuchen, hier einen Schaufensterantrag zu
stellen.
Ich glaube, Ihnen geht es gar nicht wirklich um den
Lärmschutz und auch nicht um den Schutz der Menschen vor Ort, sondern darum, möglichst viele der
100 000 Stimmen beim damaligen Volksentscheid als
Wählerstimmen am 14. September 2014 an sich zu binden;
({1})
denn die antragstellende Fraktion weiß: Selbst wenn der
Bund als Anteilseigner mit dem Land Brandenburg zusammen für eine Änderung des Nachtflugverbots stimmen würde, würden beide am Votum Berlins scheitern,
weil die Beschlüsse der Gesellschafterversammlung
75 Prozent Zustimmung benötigen, um erfolgreich zu
sein. Das Land Berlin selbst hält aber 37 Prozent der Anteile. Damit können die 75 Prozent gar nicht zusammenkommen.
({2})
- Liebe Frau Paus, der Berliner Senat hat sich aber klar
gegen eine Änderung des Nachtflugverbots ausgesprochen. Nun bin ich ja wahrlich nicht jemand, der sehr oft
einer Meinung mit dem Regierenden Bürgermeister meiner schönen Heimatstadt Berlin ist, aber an der Stelle
finde ich es nun einmal richtig, dass Klaus Wowereit
eine klare Kante zeigt.
Herr Kollege, lassen Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Nord zu?
Nein, Frau Präsidentin. Ich würde gerne im Zusammenhang ausführen, weil ich finde, dass gerade die Anmerkungen des Regierenden Bürgermeisters in diesem
Punkt sehr wichtig sind. - Er hat sich klar gegen eine
Ausdehnung des Nachtflugverbots ausgesprochen und
gesagt, er werde nicht zulassen, dass der BER zum Provinzflughafen wird. Ich sage einmal: Das ist auch gut so.
({0})
Vielleicht sollten die Linken einmal zur Kenntnis
nehmen, dass eine Übereinstimmung zwischen dem, was
Sie hier fordern, und dem, was Ihre Fraktion im Abgeordnetenhaus von Berlin fordert, nicht besteht.
({1})
Während Sie hier sagen, dass die im Planfeststellungsverfahren fixierten Nachtruhezeiten, die vom Bundesverwaltungsgericht bestätigt worden sind, korrigiert
werden sollen, fordern Sie im Abgeordnetenhaus von
Berlin lediglich, dass die Flugzeuge nicht mehr zwischen 22 Uhr und 6 Uhr starten sollen. Von Landungen
spricht Ihre Fraktion in dem Antrag, den sie am 2. April
2014, also ganz aktuell, gestellt hat, überhaupt nicht.
Vielleicht können Sie einmal versuchen, zwischen den
Genossen hier und den Genossen da eine Harmonie herbeizuführen.
({2})
Ich darf noch einmal den Regierenden Bürgermeister
zitieren. Laut Frankfurter Allgemeiner Zeitung vom
19. Februar 2013 hat Klaus Wowereit gesagt: Jede Korrektur beim Nachtflugverbot ist ein Schaden für die Region. - Diesen Schaden kann auch die Linke nicht wollen; denn sonst hätte sie im November 2009 nicht einen
Koalitionsvertrag mit der SPD in Brandenburg mit folgendem Inhalt beschlossen - ich darf kurz zitieren -:
Die wirtschaftlichen Effekte des BBI sind bereits
heute spürbar, sie werden wichtiger Wachstumsimpuls bleiben. Der BBI schafft bis zu 40.000 Arbeitsplätze in der Region - vor allem durch steigende
Passagierzahlen, eine signifikante Verbesserung der
Standortgüte sowie zusätzliche Kaufkrafteffekte.
({3})
Damals haben Sie erkannt, dass ein Flughafen wesentliche Wachstumsimpulse für die Region Berlin/
Brandenburg initiieren kann, aber eben nur ein Flughafen, der konkurrenzfähig ist und sich gegen die Angebote seiner Mitbewerber behaupten kann. Von einem
Nachtflugverbot ist im damaligen Koalitionsvertrag
überhaupt gar keine Rede gewesen. Damals hätten Sie
diese Forderung mit unterbringen können, aber das haben Sie nicht.
Auch in Ihrer zehnjährigen Beteiligung an der Berliner Landesregierung haben Sie sich übrigens nicht für
ein ausgedehntes Nachtflugverbot eingesetzt, und Vertreter der Linken hätten schon jahrelang in den Gremien
des Flughafens entsprechende Forderungen durchsetzen
können. Ich frage Sie: Wozu sitzen denn zwei linke Landesminister im Aufsichtsrat, wenn die Bundestagsfraktion hier kurz vor dem Brandenburger Landtagswahlkampf einen entsprechenden Schaufensterantrag stellen
muss?
({4})
Verstehen Sie mich nicht falsch: Schallschutz ist ein
wichtiges
({5})
und grundgesetzlich geschütztes Gut für die Menschen.
Auch über meinem Berliner Wahlkreis CharlottenburgWilmersdorf verlaufen Flugrouten.
({6})
Deshalb ist es richtig und wichtig, dass die Flugrouten
nach der Inbetriebnahme des BER - ich lege mich hier
jetzt nicht auf ein Jahr fest; das wissen wir alle nicht ge2122
nau - von den zuständigen Behörden evaluiert, das heißt
überprüft und bewertet werden und dass dann unter Berücksichtigung des aktuellen Standes der Technik der
Fluggeräte entsprechende, möglicherweise neue Entscheidungen hinsichtlich der Flugrouten getroffen werden.
Dabei ist aber auch wichtig, dass es hier nicht zu einer
Ausdehnung von Strecken kommt, weil Umweltschutz
- es geht hier auch um die Vermeidung von Wegen - und
Lärmschutz schon Hand in Hand gehen müssen. Das
Ganze wird man im Rahmen einer Untersuchung, eines
Umweltmonitorings, unter anderem für die Region am
Müggelsee, bewerten müssen. Dabei sind auch die Wirtschaftlichkeit des Flughafens und die Anbindung der Region wichtig und mit zu betrachten.
Schon heute zu fordern, dass ein Flughafen von 22 bis
6 Uhr geschlossen sein muss, obwohl wir noch nicht einmal wissen, wann er seine Tore tatsächlich öffnen wird,
ist purer Populismus und hat mit einer ausgewogenen
und sachorientierten Politik nichts mehr zu tun.
({7})
Lassen Sie mich zusammenfassen: Ja zu einem erforderlichen und effektiven Lärmschutz für die Menschen
in den betroffenen Bereichen, Ja zum Umweltschutz in
der Flughafenregion, Ja zur Leistungsfähigkeit und Wirtschaftlichkeit des Flughafens, Nein zur Änderung des
bestehenden Nachtflugverbots und Nein zu Ihrem Antrag.
Abschließend möchte ich noch einmal den Regierenden Bürgermeister zitieren, der in dieser Frage viel Richtiges gesagt hat.
({8})
Laut Tagesspiegel vom 21. März 2012 richtete er an alle
Flughafengegner eine interessante Warnung - Zitat -:
Und ich sage all denen, die jetzt protestieren: Wehe,
ich erwische einen davon, der am neuen Flughafen
eincheckt.
Lassen Sie mich hinzufügen: Ich bin gespannt, wie oft
ich Kollegen der Linksfraktion, falls der Flughafen irgendwann einmal in Betrieb ist, morgens um 5.30 Uhr
treffe, wenn sie in ihren Flieger steigen.
Schönen Dank.
({9})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/971 mit dem Titel
„Nachtruhe am Flughafen Berlin Brandenburg sicherstellen - Antrag des Landes Brandenburg unterstützen“.
Wer stimmt für diesen Antrag? - Das sind die Fraktion
Die Linke und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Wer
stimmt gegen diesen Antrag? - Das ist die Koalition.
Wer enthält sich? - Einige Enthaltungen. Damit ist der
Antrag mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und die Linke abgelehnt worden.
Ich rufe den Zusatzpunkt 2 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Stephan
Mayer ({0}), Armin Schuster ({1}), Clemens Binninger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der
Abgeordneten Dr. Lars Castellucci, Gabriele
Fograscher, Uli Grötsch, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD
Herstellung des Einvernehmens des Deutschen Bundestages mit der Bestellung des
Instituts für Gesetzesfolgenabschätzung und
Evaluation beim Deutschen Forschungsinstitut für Öffentliche Verwaltung, Speyer, als
wissenschaftlicher Sachverständiger im Rahmen der Evaluierung des RechtsextremismusDatei-Gesetzes
Drucksache 18/974
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als Erster hat der Kollege
Clemens Binninger das Wort.
({2})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Dass wir heute über die Evaluierung eines Gesetzes
reden, hat vor allem mit der Zahl 36 zu tun. Sie beschreibt nämlich, warum wir solche Gesetze überhaupt
brauchen. 36 ist die Zahl der Sicherheitsbehörden, die in
Deutschland für die Bekämpfung des gewaltbereiten
Rechtsextremismus zuständig sind: 36 verschiedene Behörden bei Polizei und Verfassungsschutz, beim Bund
und bei den Ländern.
Es war schon immer ein großes Anliegen, zu garantieren, dass Informationen, die die Polizei bei der Verfolgung schwerer Straftaten oder zur Verhinderung von
Anschlägen braucht, möglichst ausgetauscht werden
können. Wie sah die Realität vor Inkrafttreten dieses Gesetzes und vor Einführung der Rechtsextremismusdatei
aus? Eines der bedrückendsten Beispiele dafür konnten
wir im vergangenen Jahr im Untersuchungsausschuss erleben. Es ging um die Aufklärung und Ermittlungen in
einer Serie von damals schon mehreren Morden. Die
Polizei eines Bundeslandes bat die Verfassungsschutzbehörde desselben Bundeslandes um Informationen zu gewaltbereiten Rechtsextremisten, um die Ermittlungen
vorantreiben zu können. Wer jetzt glaubt, dass eine solche Anfrage vielleicht in ein oder zwei Wochen - eine
gewisse Sorgfalt muss sicherlich sein - beantwortet ist,
der sah sich damals bitter getäuscht. Es hat neun Monate
gedauert, bevor zwischen zwei Landesbehörden Daten
über gewaltbereite Rechtsextremisten ausgetauscht wurden.
Bei diesem Zustand konnten wir es nicht belassen.
Deshalb haben wir die Rechtsextremismusdatei auf den
Weg gebracht, übrigens damals schon mit mehr als nur
den Stimmen der Regierungskoalition. Die Kollegen der
SPD waren auch mit dabei. Die Datei ist ein wichtiges
Instrument, das wir im Kampf gegen den Rechtsextremismus brauchen.
({0})
Über die Datei gab es lange politischen Streit - heute
wird er vielleicht nicht unbedingt geführt werden, weil
wir mehr über die Evaluierung reden - in der Frage:
Geht das überhaupt in Deutschland? Ist eine gemeinsame Datei von Verfassungsschutz und Polizei möglich,
oder verstößt das gegen das Trennungsgebot? Beim
Trennungsgebot geht es darum, dass Verfassungsschutz
und Polizei unterschiedliche Aufgaben haben. Der Verfassungsschutz hat keinen Strafverfolgungszwang, aber
auch keine Zwangsmittel. Die Polizei hat Strafverfolgungszwang, und sie kann ihn mit Zwangsmitteln durchsetzen.
Ich bin froh, dass diese Debatte zwischenzeitlich
höchstrichterlich entschieden wurde; denn wir haben neben der Rechtsextremismusdatei im Bereich des internationalen Terrorismus schon länger die Antiterrordatei,
die nach dem gleichen Prinzip arbeitet. Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe hat am 24. April 2013 entschieden, dass die Antiterrordatei grundsätzlich mit der
Verfassung vereinbar ist und dass das Trennungsgebot
beachtet wurde, dass aber Korrekturbedarf besteht. Ich
erwähne das, weil wir das Gesetz zur Rechtsextremismusdatei dem Antiterrordateigesetz nachempfunden haben. Es enthält in etwa die gleichen Befugnisse und die
gleichen Bestimmungen. Auch dort werden wir Korrekturen vornehmen müssen. Ich wage die Prognose, dass
sich das auch auf die Evaluierung auswirken wird.
Wir haben damals mit dem Gesetz beschlossen, dass
noch vor 2016 eine Evaluierung erfolgen soll. Sie soll
deutlich machen, ob das Gesetz die Anforderungen, die
wir stellen, überhaupt erfüllt hat, wie viele Daten erfasst
sind, ob es funktioniert, wie viele Abfragen gemacht
wurden oder ob am Ende keine Verbesserung erzielt
werden konnte - was ich nicht glaube. Die Erfahrungen
mit diesen Dateien werden, glaube ich, von den Praktikern bislang durchaus positiv bewertet. Aber es war uns
wichtig, dass wir uns solchen Evaluierungen nicht verschließen. Sie helfen uns, mit Sachverstand von außen
einen genaueren Blick darauf zu werfen, welche Wirkung Gesetzgebung hat und was wir vielleicht korrigieren müssen.
Das Gesetz sieht auch vor, dass die Evaluierung unter
Einbeziehung eines oder mehrerer Sachverständiger, die
im Einvernehmen mit dem Deutschen Bundestag bestellt
werden, erfolgen muss. Um genau dieses Einvernehmen
geht es heute. Mit dem vorliegenden Antrag soll das Einvernehmen hergestellt werden, damit der Bundesinnenminister einen Sachverständigen beauftragen kann.
Vorausgegangen ist ein Vergabeverfahren, bei dem
nach klaren Kriterien ausgewählt wurde. Diese Kriterien
sind zum Teil kritisiert worden wegen etwas unklarer
Oberbegriffe. Aber am Ende wurde ein Vorschlag präferiert, nämlich das Institut in Speyer, das Erfahrungen mit
solchen Gesetzesfolgenabschätzungen hat. Es hat auch
schon das Informationsfreiheitsgesetz bewertet und sehr
gute und konstruktive Vorschläge gemacht.
Es geht darum, verehrte Kolleginnen und Kollegen,
solche Instrumente zu nutzen, um wertvolle neue Hinweise zu bekommen. Es geht nicht darum, irgendwelche
Alibiveranstaltungen durchzuführen nach dem Motto
„Hauptsache, man hat das gemacht“, sondern darum, zu
erkennen: Lagen wir mit unserem Gesetzentwurf richtig? Hat er die Wirkungen erbracht, die wir uns von ihm
erhofft haben? Ist die Zusammenarbeit zwischen Polizei
und Verfassungsschutz besser geworden? Hat es dazu
beigetragen, schwere Straftaten aufzuklären oder Gefahren abzuwehren? Speisen die Behörden die notwendigen
Daten ein? Auch das ist ein Punkt, den man beachten
muss: Wie viele Daten sind erfasst? Wie tief ist der
Grundrechtseingriff? Wobei ich an dieser Stelle immer
dazusage: In dieser Datei sind gewaltbereite Rechtsextremisten gespeichert. Dessen muss man sich immer
bewusst sein. Es geht darum, die Informationen darüber
unter den Behörden auszutauschen. - All das sind Fragen, die sich mit dieser Evaluation verbinden und auf die
wir, wenn wir das Einvernehmen herstellen, kluge Antworten erhalten werden.
Ich weiß nicht, ob der Zeitpunkt - das wird das Bundesinnenministerium im Detail abstimmen - vielleicht
etwas früh ist - wir hatten eine Frist bis Ende 2016 gesetzt - oder ob man noch etwas zuwarten sollte, um einfach einen größeren praktischen Erfahrungsschatz und
mehr Anwendungsfälle zu haben. Aber ich glaube, wir
können darauf vertrauen, dass ein Zeitpunkt gewählt
wird, der zu dem bestmöglichen Ergebnis führt. Wenn
das der Fall ist, sollten wir uns hinterher mit diesen Ergebnissen auch befassen. Wir sollten sie nicht auf die
Seite legen und sagen: „Jetzt haben wir unsere Pflicht erfüllt, wie es im Gesetz steht“, uns aber ansonsten nicht
weiter darum kümmern, sondern wir sollten sie natürlich, wenn notwendig, in Gesetzesänderungen einfließen
lassen.
Aber entscheidend ist - das muss man, glaube ich,
immer wieder betonen -: Unsere föderale Sicherheitsarchitektur ist in manchen Deliktsbereichen kompliziert.
Wir wollen sie aber so beibehalten. Sie muss aber dann
im Zusammenspiel funktionieren. Wenn es funktionieren
soll, dass 36 unterschiedliche Behörden Informationen
auf Deliktsfeldern austauschen, deren Bekämpfung uns
allen am Herzen liegt, und wenn die Polizei beispielsweise wissen möchte, ob der Verfassungsschutz in einem
anderen Bundesland über eine bestimmte gewaltbereite,
rechtsextreme Person schon Erkenntnisse hat, dann darf
eine solche Abfrage nicht mehr neun Monate dauern.
Das ist niemandem zu erklären. Dann ist mit dieser Datei
eine Abfrage innerhalb weniger Sekunden möglich. Damit heben wir die Qualität der Zusammenarbeit der
36 Behörden auf eine neue Ebene.
Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass wir nicht nur
über die Evaluierung reden sollten, sondern auch die Erkenntnisse dazu nutzen sollten, eine grundsätzliche Debatte darüber zu führen, wie wichtig diese Dateien sind.
Ohne wird es nicht gehen. Wir brauchen die Zusammenarbeit, und wir können nicht monatelang warten. Deshalb sollten wir nicht von vornherein sagen, egal wie die
Evaluierung ausgeht: Unsere Position steht schon fest.
Wir lehnen das ab. - Wer das ablehnt, müsste eine Alternative bieten. Die sehe ich nirgends. Die Alternative zu
einer solchen gemeinsamen Datei von Polizei und Verfassungsschutz, die evaluiert werden kann - dazu beschließen wir heute den Antrag -, wäre die Zusammenarbeit in
alter Form: neun Monate warten auf Ergebnisse. Das
kann ernsthaft niemand wollen. Deshalb bitte ich heute
um Zustimmung zu diesem Antrag.
Herzlichen Dank.
({1})
Jetzt spricht Ulla Jelpke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der
Tat sprechen wir heute über die Verbunddatei Rechtsextremismus, die 2012 hier beschlossen worden ist. Der
Kollege Binninger hat eben schon gesagt: 36 Polizeibehörden und Geheimdienste von Bund und Ländern haben Zugriff auf diese Datei.
Die schwarz-gelbe Bundesregierung hat diese Datei
vor dem Hintergrund des Versagens der Sicherheitsbehörden gegenüber der Mordserie der Naziterrororganisation NSU eingeführt. Wir sagen hier ganz klar, dass eine
Evaluierung dringend nötig ist. Aber die Frage ist eben:
In welcher Form und von wem wird sie durchgeführt?
Wir denken schon, dass Bürgerrechtsorganisationen eigentlich die Richtigen wären, wenn man über die Evaluierung spricht; denn gerade sie können am besten bewerten, wie Grundrechte möglicherweise verletzt werden.
Wir von der Linken haben damals der Einrichtung
dieser Datei nicht zugestimmt, weil wir mehr als skeptisch waren. Das sind wir weiterhin. Wir leiden keineswegs unter Paranoia. Aber ich möchte daran erinnern,
dass dieses Haus beschlossen hatte, ein Abwehrzentrum
gegen rechts einzurichten. Das war im Prinzip richtig.
Aber unsere Befürchtung, dass aus der Datei möglicherweise eine Zentraldatei bzw. aus dem Abwehrzentrum
gegen rechts ganz schnell ein Abwehrzentrum gegen Extremismus wird, hat sich bewahrheitet. Nur wenige Monate nachdem dieses Abwehrzentrum gegen rechts eingerichtet wurde, haben Sie ein Abwehrzentrum gegen
Extremismus eingerichtet. Damit haben Sie im Grunde
genommen den Kampf gegen Rechtsextremismus instrumentalisiert, um nicht nur Islamisten und Rechtsextremisten, sondern auch Antifaschisten und Antikapitalisten einzubeziehen. Da macht die Linke auf gar keinen
Fall mit.
({0})
Die Verstrickung des Verfassungsschutzes in den
NSU-Skandal und in den Nazisumpf, der sich hier aufgetan hat, macht sehr deutlich, dass die Geheimdienste
im Grunde genommen zur Verschleierung beigetragen
haben, indem sie beispielsweise Akten vernichtet haben.
Die Geheimdienste sind nicht kontrollierbar. Nichtsdestotrotz bekommen sie mit der Datei und dem Abwehrzentrum mehr Rechte. In diesem Zusammenhang ist es
unbedingt notwendig, zu klären, wie mit dem grundgesetzlichen Gebot der Trennung von Geheimdiensten und
Polizei verfahren werden soll. Die Linke hat dazu eine
klare Meinung. Die Trennung muss weiter bestehen, um
überhaupt Kontrollstrukturen einzurichten. Solche Strukturen gibt es gegenwärtig kaum.
({1})
Bei der Evaluierung ist für uns die Effektivität im
Kampf gegen Rechtsextremismus und Naziterror entscheidend. Dabei muss nicht nur die Datei, sondern müssen alle Instrumente unter grundgesetzlichen Aspekten
überprüft werden. Wie Herr Binninger eben gesagt hat,
wurden viele Institutionen geschaffen, bei denen es keine
Trennung zwischen polizeilicher und geheimdienstlicher
Arbeit gibt. Wir haben es bei der Rechtsextremismusdatei mit einer erneuten Aufweichung des grundgesetzlichen Trennungsgebots zu tun. Man kann nicht einfach
eine Sache klonen. Sie haben auf die Antiterrordatei hingewiesen. Diese Datei, die sieben Jahre existiert, ist bis
heute nicht evaluiert, obwohl es immer wieder gefordert
wurde.
({2})
Deswegen fordern wir eine weiter gehende Evaluierung,
und zwar nicht nur der Rechtsextremismusdatei.
Im Grunde genommen wird der Rechtsextremismus
instrumentalisiert, um den Grundrechteabbau fortzuschreiben. Wir gehen aber davon aus, dass es eher mehr
Demokratie bedarf, um Rechtsextremisten zu bekämpfen. Ich glaube, dass es für die Rechtsextremisten ein
Sieg wäre, wenn die Trennung von geheimdienstlicher
und polizeilicher Arbeit weiterhin so verläuft, wie Sie es
beschlossen haben.
Danke.
({3})
Als nächster Redner hat Michael Hartmann das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Um es klar vorweg zu sagen: Was uns hier in diesem
Haus und weit darüber hinaus - bis hin zu den vielen
bürgerschaftlich engagierten Gruppen - eint, ist die
Klarheit, dass in unserem Land nie mehr, zu keiner Minute und an keiner Stelle, zugelassen werden darf, dass
die Rechten, die Nazis, noch einmal ihr Haupt erheben
und uns verhöhnen.
({0})
Michael Hartmann ({1})
Nicht etwa der Abbau von Behördenkompetenzen und
behördlichem Handeln ist gefordert, um Nazis und ihre
Helfershelfer zu bekämpfen. Vielmehr sind und bleiben
effiziente und gute staatliche Strukturen die Antwort der
wehrhaften Demokratie im Kampf gegen rechts.
({2})
Wir reden heute über die Evaluierung eines Gesetzes,
das im August 2012 verabschiedet wurde. Der Anlass
war schlimm genug. Es ist bekannt geworden, dass weit
über zehn Jahre hinweg ein Mördertrio durch unser Land
ziehen konnte, das glaubte, Menschen, nur weil sie anderer Abstammung waren, töten zu können. Diese Erschütterung, die uns allen noch in den Knochen steckt, hat
dazu geführt, dass wir uns gemeinsam überlegt haben,
welche Konsequenzen wir ziehen können und müssen.
Eine der ersten Konsequenzen war die Bildung dieser
Datei, weil sich gezeigt hat, dass wir bei vielen Behörden, an vielen Stellen Wissen über diese drei und ihr
Netzwerk hatten, dies aber nie vernünftig zusammengeführt wurde. Insofern ist die Bildung dieser Datei kein
Schlag gegen Bürgerrechte, liebe Ulla Jelpke, sondern
eine Bedingung, um zu verhindern, dass in Zukunft
Nazis weiter schadlos agieren können.
({3})
Wir haben, wie Sie, Herr Kollege Binninger, völlig zu
Recht gesagt haben, nicht nur diese Datei mit ausdrücklicher Zustimmung der SPD eingerichtet. Es wurde auch
das Abwehrzentrum gegen rechts gegründet. Das waren
gute und notwendige Schritte; denn wir stellen immer
wieder fest: Wenn Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von
Behörden - zwischen Bund und Ländern, aber auch zwischen den verschiedenen Behörden -, die sich oft genug
mit ungesundem Misstrauen begegnen, erst einmal gemeinsam am Tisch sitzen, sich in die Augen schauen und
Sachverhalte gemeinsam erörtern, dann wird jenes Misstrauen abgebaut und eine Kultur des Miteinanders und
der Zusammenarbeit geschaffen, die in einem föderalen
Staat die Grundvoraussetzung dafür ist, dass Sicherheitsorgane effizient funktionieren. Deshalb war es richtig,
diese Datei einzurichten. Aber eine Bedingung für die
Zustimmung der SPD war damals, dass jene Evaluierung, über die wir heute reden, in das Gesetz aufgenommen wird. Das hat zwei Gründe.
Erstens. Es gehört zu einer modernen Gesetzgebung,
überhaupt zu evaluieren und nicht zu sagen: Das ist in
Stein gemeißelt und immer wahr. Die Verhältnisse
können sich ändern. Man kann feststellen, dass Fehler
begangen wurden, dass die angestrebte Tiefe nicht erreicht wurde oder dass das Übermaßverbot nicht gewahrt
wurde. Insofern gehört es dazu, Gesetze von Zeit zu Zeit
auf den Prüfstein zu stellen und sie gegebenenfalls zu
korrigieren oder sogar zurückzunehmen.
Zweitens. Natürlich bedeutet eine Datei, die zur Bekämpfung von Rechtsextremisten und Neonazis eingerichtet wird, einen Eingriff in die Bürgerrechte. Deswegen muss sehr sorgfältig und sorgsam damit
umgegangen werden. Darum haben wir gesagt - und wir
halten dies nach wie vor für richtig -, dass wir diesem
Gesetz nur zustimmen können, wenn wir nach einer gewissen Zeit noch einmal prüfen: Wurde erreicht, was wir
erreichen wollten? Sind wir zu weit gegangen? Sind
vielleicht Personen oder Spuren zusammengeführt worden, die wir in einer solchen Datei nicht zusammengeführt sehen wollen?
Das sind die beiden Gründe: Gründlichkeit moderner
Gesetzgebung und Schonung der Bürgerrechte. Deshalb
war es wichtig, die Evaluierung einzuführen, und deshalb ist es richtig, heute zu beschließen, dass ein entsprechender Auftrag erteilt wird.
({4})
Damit sind wir aber nicht am Ende bei unserem
Kampf gegen den Nationalsozialistischen Untergrund
und gegen Rechtsextremisten. Es muss viel weiter gehen. Die Große Koalition hat beschlossen, dass die Empfehlung des NSU-Untersuchungsausschusses, die in erfreulicher Gemeinschaftlichkeit beschlossen wurde - das
sage ich ausdrücklich -, eins zu eins umgesetzt wird.
({5})
- Ich habe gesagt: gemeinschaftlich beschlossen. Damit
meine ich: ausdrücklich auch mit Ihren Stimmen und in
einer guten Zusammenarbeit mit allen Fraktionen. Das
war eine Meisterleistung des Deutschen Bundestages
und des parlamentarischen Regierungssystems. Ich will
hier niemandem Anerkennung und Respekt dafür verweigern, sondern - im Gegenteil - dies allen erweisen.
Aber Sie müssen schon anerkennen, dass diese Große
Koalition gesagt hat, dass alles eins zu eins abgearbeitet
und umgesetzt wird. Das ist keine Selbstverständlichkeit. Auch hier mussten Hindernisse überwunden werden. Wenn wir jetzt gemeinsam dafür sorgen, dass das
gemacht wird, dann setzen sich der gute Geist und die
gute Kultur des Untersuchungsausschusses fort.
Für uns bedeutet das mindestens, dass wir beim Umbau der Sicherheitsbehörden noch weiter gehen müssen,
dass beim Verfassungsschutz Fenster und Türen geöffnet
werden, dass gelüftet wird und eine andere Kultur der
Arbeit eintritt. Das bedeutet für uns auch, dass wir bei
der Führung von V-Personen sehr viel genauer, besser
und kritischer werden müssen, und, liebe Ulla Jelpke,
dass die Zusammenarbeit mit den Einrichtungen und Institutionen, und zwar auch der kritischen und sehr kritischen, in der Bürgergesellschaft intensiviert werden
muss.
Das alles und noch viel mehr gehört dazu, wenn wir
Lehren aus dem ziehen wollen, was uns dieses Mördertrio an schlimmer Geschichte in unser Stammbuch geschrieben hat. Ich bin sicher, dass der Deutsche Bundestag dies will. Wir halten die Beauftragung des Instituts in
Speyer für richtig, weil dort kompetente und erfahrene
Leute sitzen, die ihre Unabhängigkeit und hohe Expertise bereits oft bewiesen haben, und hoffen, alle in diesem Hause sehen das ebenso.
Vielen Dank.
({6})
Jetzt hat Irene Mihalic das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Vorhin ist schon mehrfach das Bundesverfassungsgerichtsurteil zur Antiterrordatei angesprochen worden,
in dem das informationelle Trennungsprinzip zwischen
Polizei und Nachrichtendiensten eindeutig festgestellt
wurde. Der erhebliche Prüf- und Änderungsbedarf, der
sich aus diesem Urteil ergibt, ist, glaube ich, hier im
Hause allen klar. Auch die von der Bundesregierung geleitete Kommission hat in ihrem Abschlussbericht einstimmig angemahnt, dass wegen der strukturellen Vergleichbarkeit mit der Antiterrordatei auch hinsichtlich
der Rechtsextremismusdatei analysiert werden müsse,
welche konkreten Folgerungen aus diesem Urteil abzuleiten sind. Schön, könnte man jetzt denken, dann
kommt die wissenschaftliche Evaluierung der Rechtsextremismusdatei ja gerade recht.
Kollege Binninger, Sie haben eben die sehr gute
Evaluierung des IFG angesprochen. Es gibt aber einen
Unterschied; denn bei der Evaluierung des IFG konnte
vonseiten des Deutschen Bundestages noch Einfluss auf
das Evaluierungsdesign genommen werden. Das stellt
sich hier aber anders dar, weil das BMI die Federführung
hat. Insofern muss man leider sagen, dass die Evaluierungspraxis der Bundesregierung keine allzu rühmliche
Geschichte hat.
({0})
Beim Terrorismusbekämpfungsgesetz hat sich das
Bundesinnenministerium ganz ungeniert selbst evaluiert
mit dem Ergebnis, dass Eingriffsbefugnisse für die
Sicherheitsbehörden noch nicht weit genug gehen. Als
2010 dann das Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetz evaluiert wurde, hat man die grundrechtsorientierte
Analyse gleich ganz vergessen. Zwar wurde noch
schnell ein Rechtsgutachten nachgeschoben; aber selbst
der damit beauftragte Gutachter Professor Dr. Amadeus
Wolff
({1})
hat öffentlich kritisiert, dass damit auch nicht bereinigt
werden könne, dass bei der Evaluierung wieder nur die
Vollzugsinteressen der Sicherheitsbehörden und nicht
die Grundrechte im Vordergrund gestanden haben.
Bei der Antiterrordatei sah es leider nicht viel besser
aus. Erst wurde die Evaluierung verschleppt, weil
Fristen nicht eingehalten wurden. Dann fehlte wieder
einmal die verfassungsrechtliche Analyse. Auch hier
wurde auf ein rechtswissenschaftliches Zweitgutachten
verwiesen, auf das wir aber bis heute warten.
Es ist zu befürchten, dass es bei der baugleichen
Rechtsextremismusdatei wieder so laufen wird, wobei
wir uns schon fragen, auf welcher sachlichen Grundlage
wir das heute hier im Bundestag entscheiden sollen;
denn, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition,
Sie haben es ja vermieden, Ihrem Antrag das Angebot
des Forschungsinstituts beizufügen, aus dem man das
Evaluierungsdesign hätte erkennen können. Was ich als
Mitglied des Innenausschusses darüber weiß, stimmt
mich alles andere als optimistisch, ob bei der Evaluierung das Urteil berücksichtigt wird. Ich möchte hier eindeutig klarstellen: Es ist nicht so, dass ich die Kompetenzen des Instituts anzweifle; ganz im Gegenteil. Aber
es ist zu befürchten, dass bei der Evaluierung wieder nur
die Vollzugsinteressen im Vordergrund stehen und nicht
die Grundrechte, und das, obwohl wir hier ein Bundesverfassungsgerichtsurteil umzusetzen haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, so geht es nicht. Es
ist unsere verfassungsrechtliche Pflicht, für eine verfassungskonforme Gesetzgebung zu sorgen und die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu achten und
auch umzusetzen. Deshalb werden wir Grüne heute unser Einvernehmen nicht erteilen.
({2})
Denn wo Evaluierung draufsteht, muss auch Evaluierung drin sein. Wenn wir hier unser Einvernehmen auf
Basis Ihres Antrages erteilen würden, dann würden wir
die Katze im Sack kaufen, weil wahrscheinlich außer
den Mitgliedern des Innenausschusses kaum jemand
etwas über das Evaluierungsdesign weiß.
({3})
Ich sage es noch einmal ganz ausdrücklich: Uns geht es
um eine Evaluierung am Maßstab der Verfassung und
der Grundrechte und nicht darum, hier das Institut in
Misskredit zu bringen. Den Namen des Instituts haben
Sie von der Koalition hier völlig ohne Not öffentlich gemacht und nicht wir.
({4})
Sie haben sich in Ihrem Antrag auf die Empfehlungen
des NSU-Untersuchungsausschusses und auf die Notwendigkeit bezogen, hier für einen besseren Informationsaustausch zu sorgen; das haben Sie eben in Ihren
Reden dargestellt. Aber man kann nicht sagen: Nur weil
wir eine Rechtsextremismusdatei haben, läuft es besser. Ein wesentliches Versagen im Zusammenhang mit dem
NSU bestand ja darin, dass man den Rechtsterrorismus
nicht erkannt hat. Man muss den Rechtsterrorismus doch
erst einmal erkennen, bevor man damit eine Datei füllen
kann. Auch das ist ein wichtiger Punkt.
Herr Binninger, Sie haben eben gesagt: Wenn man dagegen ist, dann muss man eine Alternative bieten. - Unsere Alternative ist eine gesetzliche Einhegung gemeinsamer Zentren, orientiert an verfassungsrechtlichen
Maßstäben und grundrechtlichen Aspekten.
Vielen Dank.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die
Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 18/974 mit dem Titel „Herstellung des Einvernehmens des Deutschen Bundestages mit der Bestellung des
Instituts für Gesetzesfolgenabschätzung und Evaluation
beim Deutschen Forschungsinstitut für Öffentliche Verwaltung, Speyer, als wissenschaftlichen Sachverständigen im Rahmen der Evaluierung des Rechtsextremismus-Datei-Gesetzes“. Wer stimmt für diesen Antrag?
- Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? - Bündnis 90/Die Grünen. Wer enthält sich? - Die
Linke. Damit ist der Antrag gegen die Stimmen von
Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Linken angenommen worden.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Luise
Amtsberg, Volker Beck ({0}), Hans-Christian
Ströbele, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Kontoeröffnungen für Flüchtlinge ermöglichen
Drucksache 18/905
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Innenausschuss ({2})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Federführung strittig
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Herrn Beck als
erstem Redner das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ein
Bankkonto ist der Schlüssel zur Teilhabe am gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben. Gehälter
werden in aller Regel auf Konten überwiesen. Privatrechtliche Verträge haben oft zur Voraussetzung, dass
man ein Girokonto angeben kann, egal ob es um einen
Mobilfunkanbieter, ein Fitnessstudio, eine Vereinsmitgliedschaft oder einen Einkauf im Internet geht. Auch
das Anmieten einer Wohnung setzt oftmals ein Girokonto voraus. Auch erspartes Geld kann man nur anlegen, wenn man ein Konto hat.
Bis 2009 war das auch für geduldete Flüchtlinge in
diesem Land kein Problem. Dann hat man es mit dem
Geldwäschebekämpfungsgesetz zur Voraussetzung für
die Eröffnung eines Kontos gemacht, mit einem gültigen
amtlichen Lichtbildausweis die Identität nachzuweisen.
Damit verfolgt der Gesetzgeber ein wichtiges Anliegen:
Die Identifikation des Kontoinhabers soll eine effektive
Ermittlungsarbeit bei Geldwäsche oder Terrorismusfinanzierung ermöglichen. Dieses Anliegen unterstützen
wir ausdrücklich.
({0})
Aber vielen Geduldeten ist es nicht möglich, entsprechende Identitätspapiere vorzulegen. Sie haben nur eine
Bescheinigung über die Nichtabschiebung, die ihre
Duldung nachweist. Das ist oftmals ihr einziges Identitätspapier. Wir meinen, man sollte die Rechtsgrundlage
dafür schaffen, dass dieses Papier die Voraussetzungen
des Geldwäschegesetzes hinsichtlich des Identitätsnachweises bei Eröffnung eines Kontos erfüllt.
({1})
Wenn man im Lande unterwegs ist, wird man von vielen Flüchtlingsinitiativen auf diese Problematik angesprochen. Ich habe das im letzten Jahr zum Anlass genommen, mich an den Deutschen Sparkassen- und
Giroverband zu wenden. Man hat mir daraufhin geschrieben, dass man bis zum Inkrafttreten des Geldwäschebekämpfungsgesetzes gerne auch Flüchtlingen Guthabenkonten zur Verfügung gestellt hat, aber man sich
durch die neue Rechtslage nunmehr daran gehindert
sieht. Herr Fahrenschon hat mir geschrieben, man habe
diesen Sachverhalt vor einiger Zeit dem federführenden
Bundesfinanzministerium geschildert. Von dort erhielten
wir die Zusage, dass anlässlich der nächsten Gesetzesnovelle im Geldwäschebereich wieder die alte Rechtslage
hergestellt werden soll.
Wie der Sparkassen- und Giroverband bin auch ich
der Meinung, dass die in Rede stehenden Ersatzpapiere
wieder in den Katalog der geeigneten Legitimationspapiere nach dem Geldwäschegesetz aufgenommen werden müssen, damit Geduldete und Flüchtlinge am wirtschaftlichen Leben teilnehmen können und eine
eventuelle Arbeitsaufnahme nicht an den geltenden Voraussetzungen scheitert.
Sie wissen, Geduldete sind in aller Regel Flüchtlinge.
Bei ihnen wurden im Rahmen des Identitätsnachweises
meist Fingerabdrücke genommen. Die Identität steht
also zweifelsfrei fest. Nur kommen viele Flüchtlinge
völlig unverschuldet nicht an Ausweispapiere heran. Die
Gründe dafür sind verschieden. Es gibt zum Beispiel
Botschaften hier in Berlin, die generell keine neuen Ausweise ausstellen, wie die Botschaft des Irak. Bei anderen
Staaten gibt es das Problem, dass man generell die
Staatsangehörigkeit anzweifelt. Dieses Problem haben
wir vor allen Dingen mit der Botschaft des Libanon.
Wieder andere Staaten, wie der Kongo, stellen an die
Ausstellung neuer Pässe hohe Anforderungen, die von
den meisten Flüchtlingen nicht erfüllt werden können.
Das fängt bei den hohen Gebühren an und endet bei den
Dokumenten, die man für einen neuen Pass vorlegen
muss.
Lassen Sie uns eine humanitäre Lösung für dieses
Problem finden. Die Koalition hat sich auf eine neue
Bleiberechtsregelung verständigt. Lassen Sie uns den
Geduldeten die Möglichkeit geben, am wirtschaftlichen
und am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, indem
wir eine Änderung des Geldwäschegesetzes vornehmen.
Die Banken wollen es - das sieht man am Beispiel des
Sparkassen- und Giroverbandes -, und die Flüchtlingsinitiativen wollen das. Die Sicherheitsbedenken, die es
Volker Beck ({2})
in diesem Zusammenhang gibt, kann man durch eine
entsprechende Verordnung ausräumen und so sicherstellen, dass kein Schindluder getrieben wird, da der Identitätsnachweis zweifelsfrei erbracht wird.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Das wäre gesellschaftspolitisch ein wichtiger Schritt
hin zur Integration, den wir gemeinsam gehen sollten.
Ich hoffe, dass die Zusage des Finanzministeriums gilt.
({0})
Als nächster Redner hat Olav Gutting das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Zunächst will ich feststellen, dass es gut ist, dass wir uns
hier mit dem Schicksal und den Problemen von Flüchtlingen beschäftigen.
Im Vergleich zum Vorjahr ist ein hoher Zuwachs an
Asylerstanträgen von über 70 Prozent zu verzeichnen.
Hauptherkunftsland ist derzeit Syrien. Wir wissen, die
Menschen dort flüchten vor einem schlimmen Bürgerkrieg, und wir haben in der CDU-geführten Bundesregierung der humanitären Verpflichtung Deutschlands in
diesem Bereich bereits Rechnung getragen. Unter anderem gibt es zwei Aufnahmeprogramme, mit denen wir
insgesamt 10 000 syrische Flüchtlinge in Deutschland
aufnehmen. Es ist völlig klar, dass Deutschland auch
nach Ausschöpfen der Kontingente syrischen Flüchtlingen weiterhin Schutz bieten wird.
Wir helfen aus christlicher Nächstenliebe. Wir helfen
auch, weil wir aus unserer eigenen Vergangenheit heraus
schreckliche Erfahrungen mit Flucht und Vertreibung
gemacht haben. Auch deshalb hat sich die Bundesregierung in Europa unter Federführung des BMF erfolgreich
und mit Nachdruck dafür eingesetzt, dass einem breiten
Berechtigtenkreis unter Einbeziehung von Flüchtlingen
mit berechtigtem Status der Zugang zu einem Bankkonto
eingeräumt wird. Auch wir wollen, dass Flüchtlinge die
Möglichkeit haben, hier ein Konto zu eröffnen; denn
- da haben Sie völlig recht, Herr Beck - das ist Voraussetzung, um am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen.
Ursprünglich sah der Vorschlag der EU-Kommission
zur Zahlungskontenrichtlinie das subjektive Recht auf
Zugang zu einem Jedermannkonto lediglich für einen
ganz eng begrenzten Personenkreis vor. Deutschland hat
sich zusammen mit dem Europäischen Parlament mit
Nachdruck dafür ausgesprochen, dass erstens im Hinblick auf das Recht auf Zugang zu einem Jedermannkonto eindeutig feststehen muss, wer zum Berechtigtenkreis gehört, und dass zweitens klargestellt werden
muss, dass neben weiteren besonders schützenswerten
Personengruppen auch Flüchtlinge das Recht auf Zugang zu einem Jedermannkonto haben. Beiden Anliegen
der Bundesregierung wurde zwischenzeitlich durch
mehrfache Anpassung der Richtlinie entsprochen. Die
Personengruppe der Asylsuchenden ist im Text sogar
ausdrücklich aufgenommen worden. Die Bundesregierung hat sich in den Verhandlungen außerdem mit Erfolg
dafür eingesetzt, dass dieses zentrale Recht durch die
Hintertür nicht wieder ausgehebelt wird, etwa durch entsprechend weit gefasste Ausgestaltungen der Verweigerungs- oder Kündigungsgründe.
Und jetzt kommen Sie von den Grünen mit dem Antrag, das Geldwäschegesetz zu ändern. Ja, es ist richtig:
Nach dem Geldwäschegesetz braucht es einen Identitätsnachweis zur Kontoeröffnung. Aber bei allem Verständnis: Dieser Antrag und diese Änderung sind nicht notwendig. Deswegen werden wir den Antrag ablehnen.
Wir werden Ihrem Ansinnen durch die kommende Zahlungskontenrichtlinie vollumfänglich Rechnung tragen
können. Vor zwei Wochen, am 20. März dieses Jahres,
wurde auf europäischer Ebene eine entsprechende Einigung über den Inhalt der Zahlungskontenrichtlinie erzielt. Es gibt die klare Aussage und die Zusage des BMF,
dass nach deren Veröffentlichung zeitnah mit der nationalen Umsetzung begonnen wird. Aus diesem Grund ist
eine isolierte Änderung des Geldwäschegesetzes heute
nicht notwendig. Wir werden das Problem über die europäische Ebene lösen.
Herr Kollege Gutting, lassen Sie eine Zwischenfrage
durch den Kollegen Beck zu?
Das darf er.
Mir ist es ziemlich einerlei, wie das Problem gelöst
wird; Hauptsache, es wird gelöst. Wir haben in der Begründung unseres Antrags die Entschließung des Europäischen Parlaments, die Grundlage der aktuellen Diskussionen in Brüssel war, ausdrücklich erwähnt.
Durch welchen Rechtsetzungsakt in Deutschland
werden Sie jetzt dafür sorgen, dass Geduldete ohne entsprechende Identitätspapiere in Zukunft Zugang zu einem Girokonto bekommen? Denn ohne nationale
Rechtsänderung sind die deutschen Geldinstitute weiterhin gehindert, das zu tun, was sie eigentlich gern tun
würden, nämlich den Leuten ein Girokonto zu ermöglichen.
({0})
Das ist völlig richtig. Die Zahlungskontenrichtlinie
muss in nationales Recht umgesetzt wird. Das wird sie
auch. Das Ergebnis wird sein, dass Flüchtlinge einen Zugang zum Jedermannkonto haben, das sie unbedingt benötigen.
({0})
Ob dazu in Teilen auch das Geldwäschegesetz geändert
werden muss, wird sich zeigen. Aber zunächst einmal
muss die Richtlinie veröffentlicht werden und vorliegen.
Erst dann kann man national entscheiden, wo und wie
man die entsprechenden Änderungen vornimmt.
({1})
Es ist gut, dass Sie diesen Antrag stellen. Ich habe es
gesagt: Es ist schön, dass wir darüber reden. Wir sind
uns über das Ziel völlig einig. Nur, jetzt eine isolierte
Gesetzesänderung vorzunehmen, macht keinen Sinn.
({2})
Erst wenn die Richtlinie vorliegt, kann man die entsprechenden Änderungen nachhaltig und zielgerichtet durchführen.
Vielen Dank.
({3})
- Für Asylbewerber und Geduldete.
({4})
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Ulla Jelpke das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
glaube, es ist völlig klar, dass die Grünen den ganzen
Prozess beschleunigen wollen, und das ist richtig. Eigentlich ist es doch traurig, dass wir heute darüber reden,
dass Menschen, die in Deutschland leben, auch wenn sie
keinen Aufenthaltstitel, sondern nur eine Duldung haben, in Deutschland kein Bankkonto eröffnen können,
weil nach dem Geldwäschegesetz zur Einrichtung des
Kontos Dokumente benötigt werden. Ich finde, das ist
ein Skandal.
({0})
Man muss es hier noch einmal ganz deutlich sagen:
Ohne ein Bankkonto haben Geduldete im Alltag unglaubliche Schwierigkeiten. Das fängt bei einem Handyvertrag an und geht weiter bei der Einzugsermächtigung,
wenn es um einen Mietvertrag geht. Ebenso können sie
oftmals keinen Arbeitsvertrag unterschreiben, weil die
Kontoverbindung verlangt wird. Wir kennen aus unserer
Praxis viele Fälle, in denen eine Arbeitsaufnahme daran
gescheitert ist, dass es kein Konto gibt. Durch das Fehlen
eines Girokontos wird im Grunde die wirtschaftliche und
soziale Integration verhindert. Man muss es hier noch
einmal sagen: Viele leben seit vielen Jahren in Deutschland, manche seit mehr als zehn Jahren. Es ist einfach
nicht hinzunehmen, dass solche Hindernisse bestehen.
({1})
Meine Damen und Herren und vor allen Dingen auch
liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, natürlich werden wir diesem Antrag zustimmen. Wir begrüßen es, dass Menschen diese Erleichterung bekommen
sollen
({2})
bzw. dass man dafür sorgen will, dass sie ein Konto einrichten können. Aber ich will hier noch einmal sagen:
Alle Bleiberechtsregelungen haben bisher gezeigt, dass
diejenigen Geduldeten, die hier keine Aufenthaltserlaubnis haben, im Grunde genommen selbstständig für ihren
Lebensunterhalt aufkommen müssen. Deswegen denke
ich, der Antrag greift ein bisschen zu kurz. Ich verstehe
dieses Anliegen. Ihr wollt es beschleunigen, aber ich
finde, man muss mehr zur Diskussion stellen, wenn man
über die Situation geduldeter Menschen hier in Deutschland redet.
({3})
Denn viele können ihren Lebensunterhalt nicht selber
aufbringen. Sie brauchen einfach mehr Rechte.
({4})
Das heißt, wir müssen hier im Grunde genommen,
wenn es um Geduldete und mehr Rechte für sie geht,
auch weiterhin über die Residenzpflicht, über die Unterbringung in Sammelunterkünften - da sitzen genau diejenigen, die geduldet werden -, die eingeschränkten
Sozialleistungen, die sie nur über das Asylbewerberleistungsgesetz bekommen, und über die Arbeitsverbote
sprechen. Ich will hier auch noch einmal erwähnen, dass
die gesundheitliche Versorgung dieser Flüchtlinge nur
eine Notfallversorgung ist. Das heißt, bei Schmerzzuständen oder bei Schwangerschaft und Geburt bekommen sie entsprechende Krankenscheine, um sich behandeln zu lassen. Hier sagen wir: Wir brauchen mehr und
umfassende Rechte für sogenannte geduldete Menschen
in Deutschland.
Zweitens will ich daran erinnern, dass nicht nur geduldete Menschen kein Konto haben, sondern auch Obdachlose oder Menschen, die überschuldet sind; deren
Konten werden von den Banken aufgelöst. Auch hier
muss man den Blick etwas weiter fassen. Übrigens muss
man sagen: In 28 Ländern der EU gibt es diese Garantie
auf ein Konto für alle diese Personengruppen, die ich
hier eben aufgezählt habe. Es ist einfach ein Skandal,
dass Deutschland da so hinterherhinkt.
Herr Gutting, ich habe Ihre Bemühungen zwar gesehen, aber es muss schneller gehen. Wir können hier nicht
lange bürokratische Wege gehen, bis das endlich für
Flüchtlinge, für Obdachlose oder auch Menschen, die
völlig überschuldet sind, umgesetzt wird. Deswegen
werden wir dem Antrag zustimmen, aber auch weitergehende Debatten über die Situation dieser Menschen führen.
Danke schön.
({5})
Als nächster Redner hat Uli Grötsch das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau
Kollegin Keul - ich glaube, sie hat gerade den Saal verlassen -, aus den eben vom Kollegen Gutting beschriebenen Gründen können wir Ihrem Antrag nicht zustimmen. Sie hätten Ihren Antrag aber noch zurückziehen
können; dann wären wir in der Tagesordnung der heutigen Sitzung schon ein Stück weiter.
({0})
Frau Kollegin Jelpke hat gerade darauf hingewiesen: Die
EU-Richtlinie greift weiter als der Antrag von Bündnis
90/Die Grünen, schließt alle Menschen in die Regelung
ein und bezieht sich nicht ausschließlich auf Asylbewerber und Flüchtlinge.
({1})
Meine Argumente sind im Endeffekt die gleichen Argumente wie die des Kollegen Gutting, die eben schon
vorgetragen wurden. Sie sehen, welch große Einigkeit in
der Großen Koalition auch in solchen Detailfragen
herrscht. Auch wir sind der Meinung, dass man zu einem
Leben in Deutschland natürlich ein Bankkonto braucht,
dass man heutzutage eine Bankkarte braucht und dass
bargeldloses Einkaufen eine Selbstverständlichkeit ist.
Natürlich wissen auch wir, dass dies ohne Bankkonto
schlichtweg nicht möglich ist. Wer in Deutschland am
öffentlichen Leben teilhaben will, braucht ein Bankkonto. Das ist natürlich kein Luxus, sondern eine Selbstverständlichkeit.
Nach Schätzung der Europäischen Kommission haben in Deutschland noch immer mehr als 670 000 Menschen über 15 Jahren kein Bankkonto, unter ihnen auch
viele Flüchtlinge und Asylbewerber, aber eben auch sozial schwache Menschen und die von Ihnen gerade
schon genannten anderen Gruppen unserer Bevölkerung.
Auch sie aber sind auf ein Bankkonto angewiesen, weil
sie zum Beispiel Ratenzahlungen tätigen müssen, etwa
für Anwälte, oder Flüchtlinge und Asylbewerber für
Deutschkurse, für Mitgliedschaften in Vereinen und für
vieles andere mehr. Deshalb hat der zuständige EUKommissar Michel Barnier recht, wenn er sagt:
Wer heutzutage über kein Bankkonto mit grundlegenden Funktionen verfügt, stößt im Alltagsleben
auf Schwierigkeiten und muss mehr bezahlen.
Wir sagen: Das darf nicht sein. Gerade die, die wenig haben, sollen nicht mehr bezahlen müssen.
({2})
Bereits seit 1995 gibt es die eben schon erwähnte freiwillige Selbstverpflichtung der Kreditinstitute, wonach
sie jedermann ein Guthabenkonto zur Verfügung stellen
wollen. Leider hat sich die Situation seit 1995 jedoch
nicht wirklich verbessert. Immer noch verweigern oder
kündigen Kreditinstitute gerade sozial schwachen oder
von Insolvenz betroffenen Bürgern das Konto.
Auch besonders schutzbedürftige Menschen wie
Asylbewerber und Flüchtlinge können zum Teil kein
Konto eröffnen, weil ein großer Teil von ihnen keine
Aufenthaltsgenehmigung hat. Sie haben zum Beispiel
- auch das wurde schon gesagt - Aufenthaltsgestattungen, weil sie noch ein laufendes Asylverfahren haben,
oder sie haben aus ganz unterschiedlichen Gründen lediglich Duldungen, die sie dann gegebenenfalls in kurzen Abständen wieder verlängern müssen. Andere haben
auf der Flucht vor politischer Verfolgung ihre Reisedokumente vernichtet, aus Angst davor, aufgespürt zu werden. Deshalb beruhen die in Deutschland ausgestellten
Dokumente oftmals auf eigenen Angaben.
Ich begrüße die jüngste Einigung zwischen dem Europäischen Parlament, dem Rat und der Kommission
zum Vorschlag einer Richtlinie über die Vergleichbarkeit
von Zahlungskontogebühren, den Wechsel von Zahlungskonten und den Zugang zu Zahlungskonten mit
grundlegenden Funktionen vom 20. März 2014, demnach vier Tage, bevor Ihr Antrag eingereicht wurde.
({3})
- Ja, natürlich. Wir haben ihn aufmerksam gelesen.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, meines Erachtens hat
sich Ihr Antrag erledigt, weil die gerade schon genannte
Trilogeinigung zur Zahlungskontorichtlinie bereits vier
Tage vor Ihrem Antrag eingereicht wurde.
Lassen Sie mich sagen, dass ich es für relativ gefährlich oder zumindest schwierig halte, nachdem die Europäische Union eine Richtlinie erlassen hat, eine Verordnung des Bundesinnenministeriums zum gleichen
Thema zu fordern. Wir sind wenige Wochen vor der Europawahl. Jeder von uns ist daran interessiert, dass viele
Menschen zur Europawahl gehen, dass Europa in den
Köpfen der Menschen ankommt und dass all das geschieht, was wir immer gerne über Europa sagen. Deswegen glaube ich, dass es schlichtweg schwierig ist, zu
sagen: Okay, die Europäische Union hat bereits eine
Richtlinie erlassen. Aber jetzt muss auch noch eine
Rechtsverordnung seitens des Bundesinnenministeriums erlassen werden, weil das bei der Europäischen
Union immer so lange dauert. - Ich glaube, das lässt die
europäischen Institutionen zu Unrecht in einem Licht erscheinen, in das sie nicht gehören.
({5})
Was mir am Ende meiner Ausführungen noch wichtig
ist, ist der Umstand, dass wir bei der Umsetzung der EURichtlinie auch die Sicht der Banken in den Blick nehmen sollten. Ich habe mich in dieser Frage mit meiner
Raiffeisenbank und der Sparkasse beraten. Ich meine,
dass man deren Anliegen durchaus ernst nehmen muss.
Wir werden bei der Umsetzung der Richtlinie darauf
achten müssen, dass wir die Kreditinstitute mit eventuell
auftretenden Problemen nicht allein lassen.
Meine Banken haben mir von ihren Erfahrungen mit
Kontoeröffnungen von Flüchtlingen und Asylbewerbern
berichtet. Es kommt zum Beispiel vor, dass sie Lastschriften aus abgeschlossenen Handyverträgen aufgrund
fehlender Geldeingänge nicht einlösen können. Es
kommt wohl auch vor, das aufgrund der relativ kurzen
Verweildauer an einem Ort, zum Beispiel bei einem abgelehnten Asylantrag, die Kontoinhaber ohne Kontoauflösung wieder weg sind und die Bank dann die Kontogebühren stornieren und das Konto auflösen muss.
Genauso geht es um die Fragen: Wie gehen wir mit
den Sprachbarrieren der Asylbewerber und der Flüchtlinge bei der Kontoeröffnung und der Kontoführung um?
Wie finden wir eine praktikable Lösung bei kurzen Verweildauern an einem Ort und der Frage einer Kontoverlegung an einen neuen Aufenthaltsort?
({6})
Ich glaube, dass bei 110 000 Asylanträgen im Jahr,
von denen etwa 31 000 abgelehnt werden - die durchschnittliche Bearbeitungsdauer beträgt etwa sieben Monate -, wirklich viel Arbeit auf uns zukommt.
({7})
Ich glaube aber auch, dass es diesen Aufwand und diese
Arbeit wert ist, um alle Menschen an unserem gesellschaftlichen Leben teilhaben zu lassen.
Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen von den
Grünen: Seien Sie unbesorgt! Wir werden uns mit dieser
Richtlinie zeitnah befassen und sie vernünftig und auch
zeitnah umsetzen.
Vielen Dank.
({8})
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Andrea
Lindholz das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Der Friedensnobelpreis ging 2006 zum ersten Mal nach Bangladesch. Die dortige Grameen-Bank
und ihr Gründer, der Wirtschaftsprofessor Muhammad
Yunus, wurden ausgezeichnet für die Bereitstellung von
Finanzdienstleistungen für besonders arme Bevölkerungsschichten. Yunus und die Grameen-Bank eröffnen
mit ihrer Arbeit vielen Menschen einen Weg aus der Armut, und sie tragen zum Frieden bei.
Die Möglichkeit, ein Konto zu eröffnen - da sind wir
uns einig -, eine Banküberweisung zu tätigen oder einen
sogenannten Mikrokredit aufzunehmen, kann ein zentraler Grundstein für wirtschaftliche und soziale Entwicklung sein.
({0})
In den Industrieländern halten wir Finanzdienstleistungen für eine Selbstverständlichkeit. Doch das sind sie
nicht. Yunus spricht sogar von einem System der finanziellen Apartheid, durch das zahllose Menschen auf der
Welt von Finanzdienstleistungen und somit vom Zugang
zum Wirtschaftskreislauf ausgeschlossen werden. Auch
in Europa haben 58 Millionen Menschen kein eigenes
Bankkonto. Diesen Menschen fehlt eine zentrale Voraussetzung, um am modernen Wirtschaftsleben teilnehmen
zu können.
Die Idee, mit der Bereitstellung von rudimentären Finanzdienstleistungen Armut zu bekämpfen, hat in
Deutschland eine lange Tradition. Im Grunde hat der
Friedensnobelpreisträger die Arbeit der beiden deutschen Sozialreformer Friedrich Wilhelm Raiffeisen und
Hermann Schulze-Delitzsch weiterentwickelt. Die beiden Urväter der Raiffeisen- und Volksbanken hatten bereits im 19. Jahrhundert, während der industriellen
Revolution in Deutschland, mithilfe von Kreditgenossenschaften der verarmten Landbevölkerung wirtschaftliche Entwicklung ermöglicht. Insofern, meine sehr geehrten Damen und Herren, ist die Grundidee des
vorliegenden Antrags nicht neu.
Auch das Kernanliegen des Antrages, nämlich Flüchtlingen den Zugang zu Bankkonten zu ermöglichen, ist
nicht neu und ist überholt.
({1})
- Herr Beck, ich bin Ihre Zwischenrufe gewöhnt. Ich
habe schon gesagt, Sie wollen mit mir unbedingt so weitermachen wie mit meinem Vorgänger, Herrn Geis.
({2})
- Ich freue mich darauf. - Diese Idee wurde von der
Bundesregierung und insbesondere vom Bundesfinanzminister bereits in Angriff genommen, und zwar sehr
viel weiter gehend, als es im Antrag gefordert wird.
Die Bundesregierung unterstützt ausdrücklich das
Vorhaben der EU-Kommission, auf europäischer Ebene
für Verbraucher, auch, Herr Kollege Beck, für Verbrau2132
cher ohne Aufenthaltserlaubnis, Asylbewerber, Verbraucher ohne festen Wohnsitz und andere ein Recht auf Zugang zu einem Zahlungskonto einzuführen. Im Rahmen
der sogenannten Zahlungskontenrichtlinie sollen Flüchtlinge nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa
ein Recht auf ein Guthabenkonto erhalten.
Bereits am 20. März 2014 wurde im Trilog zwischen
dem Rat, der Kommission und dem Europäischen Parlament eine Einigung über die Zahlungskontenrichtlinie
erzielt. Das EU-Parlament wird sie voraussichtlich am
15. April 2014 verabschieden. Ich gehe davon aus, dass
das Bundesfinanzministerium, das hierfür zuständig ist,
sich umgehend an die Umsetzung der Richtlinie macht.
Der Antrag ist damit obsolet und kann aus unserer Sicht
aus diesem Grunde abgelehnt werden.
Entscheidend ist aber, dass dieses Konto für jedermann - da möchte ich an Frau Jelpke anschließen - in
der Praxis auch tatsächlich umsetzbar ist. Es ist heute
schon so - das weiß ich aus meiner Tätigkeit als Fachanwältin für Familienrecht -, dass es für viele Menschen in
prekären Verhältnissen schwierig ist, überhaupt ein
Konto zu eröffnen. Es sind, Herr Kollege Grötsch, auch
nach meiner Erfahrung tatsächlich vor allen Dingen die
Raiffeisen- und Volksbanken, aber auch die Sparkassen,
die dieser sozialen Verpflichtung gerecht werden. Ich
stimme Ihnen zu: Wir können sie damit nicht alleinlassen. Es ist weniger eine Frage des finanziellen Risikos
- das hat man bei einem Guthabenkonto nicht -, sondern
eher eine Frage des Aufwandes. Da muss es auch an uns
liegen, diesen so bankenfreundlich wie möglich zu gestalten.
Ein letzter Punkt. Ich möchte an Sie, Herr Kollege
Grötsch, anknüpfen. Sie haben vorhin geschildert, was
von einem solchen Konto alles heruntergeht. Ich hoffe
nicht, dass die hier von uns genannten und betroffenen
Menschen Rechtsanwälten Raten zahlen müssen.
({3})
Für die Bezahlung der Anwälte bietet sich die Prozesskostenhilfe oder die Verfahrenskostenhilfe an. Ich
glaube, meine Kollegen Rechtsanwälte müssen davon
nicht bezahlt werden. Insofern bitte ich Sie alle um Unterstützung für die Sache selbst bei der Umsetzung der
Vorgaben des Bundesfinanzministeriums. Der Antrag
hat sich überholt und wird daher von unserer Fraktion
heute abgelehnt.
Vielen Dank.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die
Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/905 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Federführung beim Finanzausschuss liegen soll. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Damit ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Inge
Höger, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Atomwaffen ächten
Drucksachen 18/287, 18/399
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die
Kollegin Ute Finckh-Krämer das Wort.
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer oben
auf den Tribünen! Die nukleare Abrüstung ist mir und
vielen anderen Mitgliedern des Deutschen Bundestages,
aber auch zahlreichen engagierten Bürgerinnen und Bürgern sehr wichtig. Heute Morgen gab es zum Beispiel
ein abrüstungspolitisches Frühstück mit Vertreterinnen
und Vertretern der Ärzteorganisation IPPNW, dem Abrüstungspolitischen Netzwerk ICAN, dem Deutschen
Roten Kreuz und einem Vertreter der niederländischen
Sektion von Pax Christi. Ich freue mich, dass bei diesem
Gespräch alle Fraktionen des Hauses vertreten waren,
und nehme dies als bestätigendes Zeichen dafür, dass unter uns ein breiter Konsens zum Thema der nuklearen
Abrüstung besteht.
Durch den Beschluss des Deutschen Bundestages
vom 26. März 2010 im Vorfeld der Überprüfungskonferenz zum Nichtverbreitungsvertrag im Mai 2010, dem
alle Fraktionen des Deutschen Bundestages zugestimmt
haben, haben wir uns zu der im Nichtverbreitungsvertrag
formulierten Zielsetzung einer weltweiten nuklearen Abrüstung bekannt. Der Beschluss ist nicht nur Ausdruck
des Konsenses zur nuklearen Abrüstung im Deutschen
Bundestag, sondern repräsentiert auch die Meinung breiter Teile unserer Bürgerinnen und Bürger. Nuklearwaffen sollen in unserer Sicherheitsstrategie keinen dauerhaften Platz einnehmen. Aus unserer Sicht bleibt dieser
Beschluss eine der Grundlagen für unsere zukünftige Arbeit im Deutschen Bundestag.
({0})
Abrüstung und Rüstungskontrolle sind entscheidende
Elemente deutscher Außen- und Sicherheitspolitik. Nukleare Rüstungskontrolle, Abrüstung und Nichtverbreitung sind daher nicht nur Verpflichtungen, an die unser
Staat als Mitglied des Atomwaffensperrvertrags gebunden ist. Sie tragen wesentlich zum Frieden sowie zu unserer Sicherheit bei. Leider hat es in diesem Bereich seit
dem Abschluss des New-START-Abkommens zwischen
den USA und Russland kaum Fortschritte gegeben.
Diese Stagnation der nuklearen Abrüstung muss überwunden werden. Auch wir können dazu neue Impulse
geben.
Denn Nuklearwaffen bieten keine Sicherheit. Obwohl
ihre Anzahl seit dem Ende des Ost-West-Konfliktes von
circa 65 000 bis heute auf circa 17 000 - es handelt sich
bei diesen Zahlen um Schätzungen - reduziert wurde,
gehen von ihnen immer noch immense Gefahren für
Mensch und Umwelt aus. Auch im 21. Jahrhundert glauben jedoch einige unserer engsten Verbündeten weiterhin an den Nutzen dieser Waffen für die eigene Sicherheit. Außerdem halten nicht nur Pakistan und Indien,
sondern auch Russland am Konzept der atomaren Abschreckung fest. Es ist also noch viel Überzeugungsarbeit zu leisten, sowohl in Gesprächen mit unseren Partnern als auch mit den offiziellen und nichtoffiziellen
Atomwaffenstaaten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, im nächsten Jahr
findet erneut eine Überprüfungskonferenz zum Nichtverbreitungsvertrag statt. Deutschland engagiert sich im
Vorfeld im Rahmen der Europäischen Union und im
Rahmen der Non-Proliferation and Disarmament Initiative, NPDI, wie im eben veröffentlichten Jahresabrüstungsbericht 2013 der Bundesregierung nachzulesen ist.
Die Verhandlungen werden schwierig, da viele der
Teilnehmerstaaten des Nichtverbreitungsvertrags von
der Entwicklung seit der letzten Überprüfungskonferenz
enttäuscht sind.
Der Beschluss der Überprüfungskonferenz, im Jahr
2012 eine Konferenz zur Errichtung einer massenvernichtungswaffenfreien Zone im Mittleren Osten unter
Beteiligung aller Staaten der Region abzuhalten, konnte
nicht umgesetzt werden. Trotz der engagierten Bemühungen des finnischen Fazilitators Jaakko Laajava wurde die
Konferenz zunächst auf unbestimmte Zeit verschoben.
Ich bedauere, dass es hier bisher keine Fortschritte gegeben hat. Das darf uns aber nicht davon abhalten, weiterhin auf alle beteiligten Akteure einzuwirken, sich an einer solchen Konferenz zu beteiligen. Alle Staaten
müssen dabei die legitimen Sicherheitsinteressen der jeweils anderen akzeptieren. Dann könnte eine solche
Konferenz ein Baustein eines Friedensprozesses sein.
Viele Mitgliedstaaten des Nichtverbreitungsvertrags beobachten diesen Prozess genau, und ihre Kompromissbereitschaft auf der Überprüfungskonferenz hängt auch
von der Entwicklung dieses Prozesses ab. Eine Reduzierung der Initiative auf eine atomwaffenfreie Zone im
Mittleren Osten wäre ein Rückschritt hinter die 2010 beschlossene Zielsetzung.
Weitere wichtige Punkte, die sich auch im Abschlussdokument der letzten Überprüfungskonferenz finden,
wären das Inkrafttreten des umfassenden Teststoppabkommens, Comprehensive Nuclear Test Ban Treaty, und
die Verhandlungen über ein Abkommen zum Verbot der
Produktion von nuklearwaffenfähigem Material, Fissile
Material Cut-off Treaty.
Wir setzen uns innerhalb der NATO für eine Reduzierung der Rolle nuklearer Waffen im Rahmen der Bündnisstrategie ein. Eine solche Veränderung kann aber nur
unter Berücksichtigung der Sicherheitsbedürfnisse aller
NATO-Partner und Russlands zielführend sein, wenn sie
die Sicherheit und Stabilität in Europa verbessern soll.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, trotz des Völkerrechtsbruchs durch Russland in Bezug auf die Krim
müssen wir mit Russland über nukleare Abrüstung weiter reden und signalisieren, dass wir Russlands Sicherheitsbedenken Rechnung tragen. Der gegenwärtige russische Unwille zu nuklearer Abrüstung rührt meiner
Einschätzung nach auch aus einem Unterlegenheitsgefühl bei konventionellen Waffen her, das mit dem russischen Nuklearwaffenpotenzial kompensiert werden soll.
Darüber hinaus sieht Russland den Aufbau einer strategischen Raketenabwehr durch die NATO als potenzielle
Bedrohung für seine atomare Abschreckungsfähigkeit.
Gleichzeitig fühlen sich einige osteuropäische NATOLänder aus historisch nachvollziehbaren Gründen von
Russland bedroht und sehen in der nuklearen Abschreckung eine Art Versicherung. Diese festgefahrene Situation müssen wir aufzubrechen versuchen. Ein möglicher
Weg wäre, Fragen der nuklearen und der konventionellen Rüstungskontrolle gemeinsam zu betrachten.
Wenn wir in dem für uns wichtigen Bereich der in
Europa und Deutschland stationierten taktischen Nuklearwaffen substanzielle Fortschritte erzielen wollen,
müssen wir die vorhandene Bedrohungsperzeption berücksichtigen, ohne sie uns zu eigen zu machen. Aus
meiner Sicht machen diese Relikte des Kalten Krieges
sicherheitspolitisch keinen Sinn mehr. Das heißt, wir
müssen unsere Partner davon überzeugen, dass ihre Sicherheit unabhängig von der Stationierung dieser Waffen
gewährleistet ist.
Zum Schluss möchte ich mich noch bei den atomwaffenkritischen Nichtregierungsorganisationen für ihre Arbeit bedanken. Wir als Abgeordnete freuen uns über ihre
Denkanstöße und Handlungsvorschläge. Deutschland
kooperiert mit Organisationen wie dem Expertennetzwerk Middle Powers Initiative und dem Parlamentarischen Netzwerk für Nukleare Abrüstung und Nichtverbreitung, PNND. Leider war ich im Februar beim
Jahrestreffen des PNND in Washington die einzige Vertreterin des Deutschen Bundestages. Es gab bereits in
der letzten Legislaturperiode eine gute Zusammenarbeit
mit dem Netzwerk. Es wäre daher wünschenswert, dass
sich an solchen Veranstaltungen zukünftig alle Fraktionen des Hauses beteiligen, um zu zeigen, wie wichtig
uns dieses Thema ist.
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ja. - Liebe Kolleginnen und Kollegen, in der geschilderten komplizierten Situation ist der Antrag der Fraktion Die Linke eher kontraproduktiv. Wir lehnen ihn daher, entsprechend der Beschlussempfehlung, ab.
Danke.
({0})
Als nächste Rednerin hat Inge Höger das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Zuschauerinnen und Zuschauer! Gerne würde ich hier
heute sagen können: Es gibt kein Risiko eines Atomkrieges mehr. - Leider erleben wir gerade auch angesichts
der Krim-Krise aber das Gegenteil.
Das Berichtsblatt der Atomwissenschaftler veröffentlicht regelmäßig die aktuelle Gefahr eines Atomkrieges.
Im Januar 2014 kam das Mitteilungsblatt zusammen mit
18 Nobelpreisträgern zu dem Ergebnis: Die Atomuhr
steht auf fünf Minuten vor zwölf. Gefährlicher war die
Lage nur zu Beginn des Kalten Krieges und während des
Wettrüstens in den 1980er-Jahren.
Angesichts dieser Situation wäre eine neue Dynamik
in der Abrüstungspolitik, wie sie im Koalitionsvertrag
versprochen wurde, dringend notwendig.
({0})
Doch die Außenpolitik der Bundesregierung befördert
zunehmend Eskalation und Aufrüstung statt Entspannung und Abrüstung.
Im letzten Oktober haben sich bei der UN-Vollversammlung 124 Staaten für ein völkerrechtlich verbindliches Verbot des Einsatzes von Atomwaffen ausgesprochen. Die
Bundesregierung hat ihre Unterschrift verweigert. Sie
hat sich damit ins friedenspolitische Abseits manövriert.
Diesen gefährlichen Kurs hat sie im Februar 2014 in
Mexiko auf der zweiten Konferenz zu den humanitären
Auswirkungen eines Atomkrieges fortgesetzt. Die Fakten, die dort und auf der Vorgängerkonferenz in Oslo besprochen wurden, sind eindeutig: Kein Staat und keine
Hilfsorganisation kann nach dem Einsatz von Atombomben auch nur ansatzweise adäquate medizinische und
humanitäre Hilfe leisten. Es hilft nur die Ächtung von
Atomwaffen.
({1})
Was hindert die Bundesregierung daran, die einzig logische Konsequenz zu ziehen? Das Problem hat einen
Namen: NATO. Aus angeblicher Bündnissolidarität hält
die Bundesregierung unbeirrt an der NATO-Doktrin der
nuklearen Abschreckung fest. Das zeigt einmal mehr,
dass die NATO ein Hindernis für Frieden ist.
({2})
- Dann schaffen Sie zusammen mit der NATO die
Atomwaffen ab! - Aber selbst ein Verbleib in der NATO
verpflichtet Deutschland nicht, die verfehlte Atomwaffenpolitik fortzusetzen. Die Bundesregierung hätte beim
NATO-Gipfel in Chicago auch Nein zur Modernisierung
der Atomwaffen sagen können.
({3})
Jede Bundesregierung kann die Stationierung von
US-Atomwaffen aufkündigen, die noch immer in Büchel
in Rheinland-Pfalz lagern.
({4})
Es gibt keine Verpflichtung aus der NATO-Mitgliedschaft, weiterhin den Abwurf von Atombomben durch
die deutsche Luftwaffe üben zu lassen. Beenden Sie deswegen endlich die nukleare Teilhabe!
({5})
Deutschland muss raus aus der Sackgasse der NATOAtomwaffenpolitik; denn die Pläne für die Modernisierung der Atomwaffen machen ein neues atomares
Wettrüsten sehr wahrscheinlich. Ab 2020 sollen neue
atomare Lenkwaffen in Europa stationiert werden. Die
Gefahr eines Einsatzes der hier stationierten Atombomben wird damit deutlich steigen, weil es mehr Optionen
für angeblich präzise Angriffe gibt.
Die Stationierung der neuen Atomwaffen wird ab
dem nächsten Jahr vorbereitet. Dazu gehören auch die
Umrüstung der deutschen Tornados für den Abwurf und
der Umbau des Stützpunktes für Atomwaffen in Büchel.
Das ist keine Friedenspolitik.
({6})
Insgesamt sollen in fünf europäischen NATO-Ländern Kampfflugzeuge für den Einsatz der neuen Atombomben umgerüstet werden, nämlich in der Türkei, in
Belgien, in den Niederlanden, in Italien und in Deutschland. Sie alle sind aber offiziell keine Atomwaffenstaaten. Der Umbau der Kampfflugzeuge kostet 1 Milliarde
US-Dollar. Hinzu kommen die Umbaukosten für die Militärbasen in Höhe von 154 Millionen US-Dollar.
Zum Glück rührt sich in all diesen Ländern auch Widerstand aus der Friedensbewegung und teils weit darüber hinaus. Auf den Ostermärschen in Deutschland
und vor allem in Büchel werden wieder viele Menschen
für eine atomwaffenfreie Welt demonstrieren.
In einem Jahr gedenken wir des 70. Jahrestages des
Atombombenabwurfes auf Hiroshima und Nagasaki. Ich
fordere deshalb die Bundesregierung auf: Überdenken
Sie Ihre Haltung, und arbeiten Sie daran mit, im nächsten Jahr einen Verbotsantrag für den Einsatz von Atomwaffen auf den Weg zu bringen!
Vielen Dank.
({7})
Als nächster Redner hat Carsten Müller das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Wir haben heute den Antrag einer Fraktion zu
beraten, die in Abrüstungsfragen intern tief zerstritten
ist.
Carsten Müller ({0})
({1})
Sie streiten sich im Moment außerordentlich lebhaft darüber, ob sich Deutschland an der Vernichtung syrischer
Chemiewaffen beteiligen soll oder nicht. Dieser Streit
zeigt einmal mehr: Ihnen geht es überhaupt gar nicht um
die Sache.
({2})
Ihnen geht es überhaupt nicht um Abrüstungsfragen. Bei
Ihnen geht Populismus vor Problemlösung. Das nehmen
wir nicht hin.
({3})
Meine Damen und Herren, das Langfristziel der
CDU/CSU-Bundestagsfraktion genauso wie der Bundesregierung steht ganz klar fest: Es geht um die Vernichtung von Nuklearwaffen und um eine atomwaffenfreie
Welt. Ich will die drei Meilensteine in diesem Zusammenhang aufzählen:
Erstens. Wir unterstützen ausdrücklich den Vorschlag
von Barack Obama, die strategischen Nuklearwaffenarsenale zu reduzieren.
Zweitens. Wir beteiligen uns an den Gesprächen und
Diskussionen über die katastrophalen humanitären Auswirkungen von Kernwaffendetonationen.
Drittens. Wir setzen uns für ein umfassendes Verbot
von Nuklearwaffentests ein. Diese dürfen auf dieser
Welt im 21. Jahrhundert keinen Platz mehr haben.
Aber Abrüstung ist eben kein schneller Prozess. Sie
bedarf einer globalen Sichtweise. Hier sind Marathonqualitäten gefragt. Es geht dabei auch ganz wesentlich
um eine vertrauensvolle Zusammenarbeit.
Wir haben uns als NATO-Mitglied zur nuklearen Teilhabe verpflichtet. Meine Damen und Herren, es wäre
auch geradezu unverantwortlich, wenn wir uns dieser
Mitsprache, dieser Einflussmöglichkeit berauben würden. Das geht überhaupt nicht an. Ebenso geht es im
Moment nicht an, auf die nukleare Abschreckung im
Rahmen der NATO-Doktrin zu verzichten.
Es ist nun erschreckenderweise eine gewisse Aktualität in die Diskussion gekommen. Einige erinnern sich
vielleicht daran, wie - das hat mich sehr schockiert; das
muss ich zugeben - im russischen Fernsehen vor etwa
zweieinhalb Wochen zur besten Sendezeit darüber
schwadroniert wurde, welche Reichweiten russische
Mittelstreckenraketen und Langstreckenraketen mit atomaren Sprengköpfen haben und welche fürchterlichen
Verwüstungen diese anrichten können.
Der heutigen Tagespresse können Sie entnehmen,
dass die Armee der Russischen Föderation offensichtlich
- das ist ziemlich aktuell - umfangreiche Manöver hat
stattfinden lassen, bei denen der Einsatz von Nuklearwaffen wesentlicher Übungsbestandteil war. Das zeigt,
dass die Russische Föderation eben nicht immer zuverlässig und eben nicht immer glaubwürdig ist.
Das sehen Sie beispielhaft auch an dem Umgang mit
dem Budapester Memorandum von 1994. Das passt bedauerlicherweise zum Thema. In diesem Memorandum
- das muss ich Ihnen an sich nicht erklären - hatte Russland als Gegenleistung für die Abgabe der Atomwaffen
durch die Ukraine zugesichert, dass die staatliche Souveränität und die Grenzen geachtet werden. Wir haben lernen müssen: 20 Jahre später ist diese Zusage nicht mehr
das Papier wert, auf dem sie geschrieben ist. Das ist ein
nicht hinnehmbarer Zustand.
({4})
Russland hat diese wichtige Vereinbarung gebrochen.
Das ist Gift für die globale Abrüstung. An dieser Stelle
sollten wir es mit dem UNO-Generalsekretär Ban Kimoon halten, der beim Nukleargipfel in Den Haag davon
gesprochen hat, dass die Glaubwürdigkeit massiv untergraben worden ist und dass das natürlich tiefgreifende
Folgen für die Integrität des gesamten nuklearen Nichtverbreitungsprozesses haben wird.
Ich will schließen: Für eine Welt ohne Kernwaffen
brauchen wir einen Dreiklang aus Glaubwürdigkeit, Vertrauen und Verbindlichkeit. Der vorliegende Antrag trägt
diesem, insbesondere auch in Verbindung mit Ihren Ausführungen, bedauerlicherweise keine Rechnung.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({5})
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Agnieszka
Brugger das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
Krim-Krise erfüllt uns aktuell mit großer Sorge. Aber
während derzeit alle - zu Recht natürlich - mit dem
kurzfristigen Management dieser schweren Krise vollauf
beschäftigt sind, wird deutlich, dass ihre Auswirkungen
auf die Abrüstungspolitik verheerend sind.
Durch die militärische Annexion der Krim hat Russland das Budapester Memorandum verletzt. Die Ukraine
gab damals ihre Nuklearwaffen ab. Dafür verpflichteten
sich Russland, Großbritannien und die USA im Jahr
1994, als Gegenleistung die Souveränität und die bestehenden Grenzen der Ukraine nicht nur zu achten, sondern sie zu schützen. Nun hat Russland als Schutzmacht
diese Abmachung massiv gebrochen und somit ein riesiges Glaubwürdigkeitsproblem für die weltweite Abrüstung und Nichtverbreitung geschaffen.
Auch wenn der Kollege Mißfelder, wie man bei seinem Zuruf vorhin hören konnte, sich nicht daran erinnern kann: Wir haben uns alle gemeinsam in einem Antrag für das Ziel einer atomwaffenfreien Welt und den
Abzug der Atomwaffen aus Deutschland ausgesprochen.
({0})
Ich glaube, es wäre gut, wenn heute von dieser Debatte das Zeichen ausgehen würde, dass wir alle
- Grüne, Union, SPD, aber auch Sie von der Linken das russische Verhalten an dieser Stelle klar verurteilen, weil es der Abrüstungspolitik sehr schadet.
({1})
Denn ich frage mich: Wie will man Indien oder Pakistan nun davon überzeugen, ihre Atomwaffen abzugeben? Wie sollen der Iran, Brasilien oder Saudi-Arabien
jetzt davon abgehalten werden, nach solchen zu streben,
wenn Sicherheitsgarantien offensichtlich nicht das Papier wert sind, auf dem sie stehen?
Zudem erscheint es gerade leider auch schwer vorstellbar, dass demnächst ein neuer Vertrag zur Abrüstung
substrategischer Atomwaffen mit Handschlag zwischen
Obama und Putin geschlossen werden wird.
Man könnte nun angesichts dieser düsteren Aussichten vielleicht zu dem Schluss kommen, man brauche
jetzt nichts zu tun oder man könne vielleicht gar nichts
tun, und ich habe den nicht unbegründeten Verdacht,
dass Sie das in der schwarz-roten Koalition aus Bequemlichkeit auch so sehen werden.
Aber aus grüner Sicht ist das die völlig falsche Konsequenz. Im Gegenteil, man muss jetzt mit viel Kraft die
Abrüstungspolitik wiederbeleben. Aber dafür braucht es
neue Ideen und kein verzagtes Warten, bis die beiden
größten und schwerfälligen Atommächte sich eines Tages wieder aufeinander zubewegen.
Es gibt neue Ansätze, die man mit Nachdruck verfolgen muss. Im Oktober letzten Jahres haben 124 Staaten
einen Antrag unterstützt, der den Einsatz von Atomwaffen
unter allen Umständen verurteilt und auf die katastrophalen humanitären Folgen dieser Massenvernichtungswaffen hinweist. Man glaubt es kaum: Die deutsche Bundesregierung hat ihre Zustimmung dazu verweigert. Als
Begründung lieferte sie ihre NATO-Mitgliedschaft.
Meine Damen und Herren, das finde ich doch ziemlich dürftig, denn Norwegen, Dänemark und Island haben den Antrag unterstützt; ihre NATO-Mitgliedschaft
scheint dabei offensichtlich kein Problem gewesen zu
sein. Wir Grünen teilen auch diese Kritik aus dem Antrag der Linken, der in großen Teilen durchaus sinnvolle
Forderungen enthält. Aber leider werden wir uns enthalten, weil sie mit der einseitigen Kündigung von Verträgen mit NATO-Partnern auch hier eindeutig über das
Ziel hinausschießen.
Nicht nur international, sondern auch zu Hause legt
die Bundesregierung beim Thema nukleare Abrüstung
die Hände in den Schoß. Seit über einem Jahr fragen wir
die Bundesregierung zu der geplanten Modernisierung
der US-amerikanischen Atomwaffen in Deutschland,
und seit über einem Jahr kriegen wir total ausweichende
oder gar keine Antworten.
Dabei weiß die Bundesregierung sehr genau, wie der
Stand der Dinge ist. Erst jüngst war in den Medien zu lesen, dass die Bundesregierung sich mit knapp 31 Millionen Dollar am Umbau des Nuklearwaffenlagers in Büchel
beteiligt. Gleichzeitig werden demnächst zusätzliche Millionen von Euro zulasten der deutschen Steuerzahlerinnen
und Steuerzahler fällig, damit ein deutsches Kampfflugzeug die neuen Bomben tragen kann. Es hat mit Glaubwürdigkeit wenig zu tun, schöne Bekundungen gegen
Atomwaffen auf den Lippen zu tragen und gleichzeitig
viel Geld für nukleare Aufrüstung auszugeben.
Meine Damen und Herren, die Zeiten für die Abrüstungs- und Nichtverbreitungspolitik mögen auf den ersten Blick düster erscheinen. Aber gerade deshalb braucht
es jetzt Staaten, die engagiert und im Sinne sicherheitspolitischer Weitsicht und mit Mut für den Frieden vorangehen, um neue Dynamik zu ermöglichen. Deshalb
sollte Deutschland sich nicht bei den Modernisierungsplänen ahnungslos in die Büsche schlagen und erst recht
nicht die wegweisende Initiative vieler Staaten weiter
blockieren und ausbremsen.
Vielen Dank.
({2})
Als letzter Redner in dieser Aussprache hat der Kollege Hans-Peter Uhl das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen,
insbesondere von der Fraktion Die Linke! Ich komme
gleich zu den Gründen, warum wir Ihren Antrag ablehnen. Zuvor möchte ich aber die Intention Ihres Antrags
näher beleuchten, nämlich die sofortige Herstellung einer atomwaffenfreien Welt, beginnend mit einer einseitigen Vorleistung der NATO-Staaten, in dem Kontext der
aktuellen politischen Vorkommnisse in der Ukraine, die
in dem Zusammenhang bereits zu Recht angesprochen
worden sind.
Mit der Annexion der Krim durch Russland kehren
längst vergangen geglaubte Konflikte wieder in die
Mitte Europas zurück. Russland hat - da sind wir uns alle
einig, selbst Ihr Fraktionsvorsitzender - auf eklatante
Weise das Völkerrecht gebrochen. Insbesondere der
Bruch des Budapester Memorandums von 1994 ist ein
schwerer Schlag. Die USA, Großbritannien und Russland
haben die Unabhängigkeit der Ukraine zugesichert,
({0})
die Integrität der Ukraine garantiert.
({1})
Dies geschah als Gegenleistung für die Rückführung
sämtlicher Atomwaffen der Ukraine an Russland. Das ist
die Ausgangslage. Mit diesem Vertragsbruch hat RussDr. Hans-Peter Uhl
land der gesamten Welt einen schweren Schaden zugefügt. In dieser Welt leben wir heute.
Weiterhin hat dieses Vorgehen, der Aufmarsch russischer Streitkräfte an Russlands Westgrenze, gerade in
Mittel- und Osteuropa, gerade in den baltischen Staaten,
zu großer und verständlicher Besorgnis geführt. Man erwartet sich in diesen Teilen Europas Schutz. Von wem?
Schutz von der NATO und von niemand anderem.
({2})
Es ist unsere Aufgabe, mit dieser Besorgnis ernsthaft
umzugehen und nicht einseitig säbelrasselnderweise,
wenn ich es so formulieren darf, mit militärischen Drohungen auf das zu antworten, was Russland gemacht hat.
({3})
Da kommen Sie allen Ernstes mit der Aussage, die
NATO, von der die Menschen dort Schutz erwarten, sei
ein Hindernis für den Frieden.
({4})
Eine Verwirrung der Geister, kann ich nur sagen.
({5})
Es darf gerade jetzt in dieser Zeit keine einseitige
Vorleistung geben. Eine einseitige NATO-Abrüstung
bietet keinen zusätzlichen Schutz, im Gegenteil.
({6})
Die Linken haben jeden Bezug zur Realität verloren.
Vielleicht geht es ihnen auch gar nicht um das, was wir
alle in diesem Hause wollen, nämlich eine atomare Abrüstung. Ich kenne niemanden, wirklich niemanden, der
für atomare Aufrüstung ist. Wir alle sind uns in diesem
Ziel einig. Deswegen sollten Sie auch nicht den Versuch
unternehmen, auf unangenehme, unseriöse und intellektuell unredliche Weise hier irgendwelchen Fraktionen zu
unterstellen, sie wären für atomare Aufrüstung. Wir alle
sind für den Frieden. Wir brauchen keine Belehrung von
den Linken, weder die SPD noch die Grünen noch die
CDU/CSU.
Die Koalition hat sich in einem Antrag - er wurde bereits von der Kollegin der Grünen zitiert - zusammen
mit den Grünen und der SPD in der letzten Wahlperiode
mit dem Thema befasst. Deutschland will sich für Abrüstung und die Nichtverbreitung von Atomwaffen einsetzen und tut das in allen Gremien, allerdings - das
gebe ich gerne zu - nicht so, wie Sie von den Linken es
wollen, in einem Akt einseitiger Vorleistung, isoliert
vom Bündnis,
({7})
sondern nur im Bündnis mit den Partnern der NATO.
Dabei wird es auch bleiben, sosehr Sie von den Linken
die NATO auch bekämpfen mögen.
({8})
Die Bundesregierung bedarf also keiner weiteren
Aufforderung von Ihnen, für Frieden und gegen Atomwaffen zu sein. Wir sind es, so wie alle anderen Fraktionen hier in diesem Hause auch. Es könnte jetzt noch eine
Aufzählung von verschiedenen Aktivitäten der Bundesregierung in den letzten Monaten und Jahren erfolgen.
Auf die will ich aber hier verzichten.
Meine Damen und Herren von den Linken, ich bitte
Sie, aufzuhören mit Ihren Bemühungen, in der Bevölkerung den Eindruck zu erwecken, als wären Sie die Friedenspartei
({9})
und als würden wir und alle anderen Parteien es mit dem
Frieden und der atomaren Abrüstung nicht so ernst nehmen. Das verfängt nicht in der Bevölkerung, und das ist
auch gut so. Man nimmt Ihnen diese Schaufensterpolitik
nicht ab.
({10})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die
Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussfassung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die
Linke mit dem Titel „Atomwaffen ächten“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 18/399, den Antrag der Fraktion Die Linke
auf Drucksache 18/287 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Das ist die Koalition.
Wer stimmt dagegen? - Das ist die Linke. Wer enthält
sich? - Bündnis 90/Die Grünen. Dann ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalition gegen die
Stimmen der Linken bei Enthaltung von Bündnis 90/Die
Grünen angenommen worden.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Friedrich Ostendorff, Harald Ebner, Nicole
Maisch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Zukunft der bäuerlichen Milchviehhaltung sichern
Drucksache 18/976
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Friedrich Ostendorff das Wort.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Die Milchviehhaltung ist eines der wichtigsten Standbeine der Landwirtschaft in Deutschland und erst recht
der wichtigste landschaftsprägende Betriebszweig.
({0})
40 Prozent der landwirtschaftlichen Wertschöpfung
kommen aus der Milch. Die Kuh auf der Weide ist das
Bild, das Bürgerinnen und Bürger haben, wenn sie an
Landwirtschaft denken. Nach Jahren der niedrigen
Milchpreise haben wir endlich eine Situation, die eine
kostendeckende Erzeugung von Milch ermöglicht. Doch
trotz aktuell guter Marktlage ist der Druck auf die Milchbetriebe ungebrochen groß. In den letzten zehn Jahren
haben wir ein Drittel der Milchviehbetriebe verloren.
Die Zahl ist von 126 000 Betrieben im Jahr 2002 auf
85 000 im Jahr 2012 gesunken. Das sind 11,2 aufgegebene Betriebe pro Tag.
Es kommt jetzt schon wieder zu einem deutlichen Abrutschen der Preise auf dem globalen Markt. Analysten
warnen vor weiter sinkenden Milchpreisen im Mai und
Juni. Nachhaltig und tiergerecht wirtschaftende Milchviehbetriebe brauchen heute 45 bis 50 Cent pro Liter, um
ihre Kosten zu decken. Die Marktsituation wird sich
nach 2015 deutlich verschärfen; denn die augenblicklich
starke Nachfrage vor allem in China und Russland ist äußerst fragil.
({1})
Wir müssen deshalb in die Zukunft blicken und in weitgehend guten Zeiten für schlechte vorsorgen.
Ein Marktzusammenbruch nach dem 1. April 2015
muss unbedingt verhindert werden.
({2})
Wir brauchen deshalb eine Monitoringstelle für die
Marktbeobachtung, wie sie jetzt in Europa diskutiert
wird. Wir brauchen ein Frühwarnsystem, um auf kommende Krisen frühzeitig zu reagieren. Wir brauchen Kriseninstrumente und Programme zum zeitweiligen Abbau
von Überkapazitäten, die zum Beispiel einen freiwilligen Produktionsverzicht in Krisensituationen ausgleichen können.
({3})
Es geht aber vor allem um unser milchpolitisches
Leitbild. Wir brauchen eine flächengebundene Milcherzeugung.
({4})
Es geht um das Tierwohl und die Erhaltung unserer
Agrarlandschaften gerade in den benachteiligten Regionen. Es kann doch nicht sein, dass hinter den Bildern
von grasenden Kühen auf den Milchtüten in Wirklichkeit auf einseitige Hochleistung gezüchtete und oft mit
Gensoja ernährte Tiere stehen, die niemals auf der Weide
waren und kaum älter als vier bis fünf Jahre werden.
({5})
Nur noch rund 30 Prozent der Kühe in Betrieben mit
über 100 Tieren stehen auf der Weide; das ist eine Aussage der Bundesregierung. Das ist klassische Verbrauchertäuschung. Die Verbraucherinnen und Verbraucher
wollen Kühe auf der Weide. Sie wollen Qualitätsmilch
aus bäuerlicher Erzeugung, am besten Biomilch.
({6})
Wir fordern deshalb, ein besonderes Augenmerk auf die
Situation der milcherzeugenden Betriebe zu legen. Dies
muss sich in marktbegleitenden Programmen widerspiegeln. Wir fordern, dass die Kuh auf der Weide Realität
ist und dass Bedingungen geschaffen werden, die es den
Betrieben ermöglichen, dies umzusetzen.
({7})
Biodiversitätsschutz ohne Kühe auf der Weide wird
nicht zu schaffen sein. Wir fordern deshalb eine flächengebundene Milcherzeugung und eine Tierzüchtung, die
das Wohl der Tiere und die Lebensleistung statt kurzfristiger Höchstleistungen zum Ziel hat. Das kann nur eine
bäuerliche Milchviehhaltung leisten.
({8})
Als nächster Redner hat der Kollege Kees de Vries
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Der Antrag der Grünen ist überschrieben
mit dem Titel „Zukunft der bäuerlichen Milchviehhaltung sichern“. Dem kann ich nur zustimmen, und zwar
aus vollem Herzen. Was dann allerdings im Antrag folgt,
führt so zu nichts.
Dazu im Detail. Herr Ostendorff, Sie sehen die Milchpolitik derzeit auf Massenproduktion und Export ausgerichtet. Tatsächlich haben wir dank Export endlich wieder gute Preise.
({0})
Warum sollte der bäuerliche Familienbetrieb hiervon
nicht profitieren dürfen? Meiner Meinung nach ist die
Größe nicht entscheidend. Es kommt darauf an - und
vielleicht unterscheiden wir uns da, Herr Ostendorff -,
dass der Milchviehhalter von seiner Arbeit leben kann.
Der größte Teil der Milchviehhalter kann bei diesen guten Preisen gewinnbringend arbeiten, ein kleiner Teil
aber leider immer noch nicht kostendeckend. Das war im
Übrigen schon immer so. Eine Frage der Größe ist das
nur in zweiter Linie. Fest steht natürlich, dass auch ein
Landwirtschaftsbetrieb einen bestimmten MindestumKees de Vries
satz, eine bestimmte Größe braucht, um ein Einkommen
realisieren zu können.
Dann fordern Sie auf Ebene der Europäischen Union
die Einrichtung einer Marktbeobachtungsstelle. Wir
freuen uns, dass inzwischen auch Sie den Nutzen dieser
Stelle erkennen. Diese Forderung erheben wir schon
lange. Sie ist faktisch schon zugesagt worden.
({1})
Die Erzeugergemeinschaften, die Sie fordern, gibt es
ebenfalls bereits. Den Zusammenschluss der Milchviehhalter zu fördern, ist meines Erachtens jetzt schon möglich. Sie zu organisieren, sehe ich nicht primär als Staatsaufgabe; hier sind unsere Bauern selbst gefordert.
({2})
Irritiert bin ich bei Ihrer Forderung nach „Regelungen
für eine nachfrageorientierte Milchmengenregulierung“.
Das ist aus meiner Sicht nichts anderes als die Milchquote, die wir gerade erst abzuschaffen beschlossen haben. Sie hatte sicher viele Vorteile, aber auch einen großen Nachteil. Damit meine ich, dass die Betriebe viel, zu
viel Geld in Milchrechte investieren mussten. Damit haben Sie nicht nur die Neueinrichtung von Betrieben verhindert, sondern auch Nachfolgeregelungen sehr erschwert.
({3})
Eine solche Regelung führt aus meiner Sicht eher dazu,
dass kleine Betriebe gezwungen sind, aufzugeben. Das
kann auch nicht von Ihnen gewollt sein.
Zum Stichwort „Weidehaltung“ muss ich sagen, dass
wir dann auch eine qualitativ hochwertige Grasproduktion sicherstellen müssen. Wenn nun 1,1 Millionen Hektar Grünland - sehr nach Ihrem Geschmack - nicht
mehr, nicht mal zwecks Neuansaat, umgebrochen werden dürfen, dann ist das kontraproduktiv.
({4})
Auch zur geforderten hohen Grundfutterleistung kann
ich nur sagen: Schlagen Sie sich auf die Seite der CDU/
CSU, und schützen Sie mit uns hochwertige, energieund eiweißreiche Wiesen. Nur so verhindern wir noch
mehr Mais- und Sojaimporte.
({5})
Eine korrekte Kennzeichnung von Weidemilch und
Regionalvermarktung ist grundsätzlich zu begrüßen. Damit kann sich der Verbraucher bewusst für eine bestimmte Produktionsrichtung entscheiden. Alles andere
sollten wir besser dem Markt überlassen. In aller Regel
wird es nicht besser, wenn sich die Politik einmischt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch ich finde es
sehr wichtig, die Zukunft der Milchviehhaltung zu
sichern. Aber was mit diesem Antrag der Grünen gefordert wird, ist zum einen schon realisiert und zum
anderen nicht zielführend. Deshalb ist dieser Antrag abzulehnen.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Kirsten Tackmann für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Gäste! Milch ist gesund. Das behaupten
zumindest viele. Aber die Milcherzeugerbetriebe sind alles andere als gesund, und zwar schon eine ganze Weile.
Vor allen Dingen 2009 gab es viele Proteste gegen viel
zu geringe Milchpreise. Sogar Milchbäuerinnen belagerten einige Tage das Kanzleramt. Im Durchschnitt gab es
damals 25 Cent pro Liter, vielfach sogar noch deutlich
weniger. Gefordert wurden aber 40 Cent, um die Produktionskosten ausgleichen zu können. Im vergangenen
Jahr gab es zumindest im Durchschnitt schon einmal
37 Cent, so viel wie noch nie nach der Wiedervereinigung. Erstmals bekamen sogar die Kühe in Ost und West
für ihre Arbeit das gleiche Gehalt.
({0})
Aber der schöne Schein trügt ein wenig; denn kostendeckend ist auch dieser Preis immer noch nicht. Die großen finanziellen Verluste aus den Krisenjahren konnten
damit nicht ausgeglichen werden. Der Spielraum für
existenzsichernde Löhne, Investitionen in mehr Tierwohl oder bessere Arbeitsbedingungen ist immer noch
sehr begrenzt. Die großen Preisschwankungen am
Markt, die gerade schon einmal Thema waren, sind ein
erhebliches Betriebsrisiko. Auch die steigenden Bodenkauf- und -pachtpreise sind eine zusätzliche finanzielle
Belastung für die Betriebe. In Ostdeutschland steigt der
Bodenpreis ausgerechnet deshalb, weil ehemals volkseigene Flächen zum Wohle des Bundesfinanzministeriums
meistbietend verkauft werden. 400 bis 500 Millionen
Euro jährlich fließen so in die große Bundeskasse. Ich
finde das einfach unanständig.
({1})
Zu niedrige Milchpreise zwingen immer mehr Betriebe zur Aufgabe. 2009 wurde erstmals die magische
Grenze von 100 000 Milchviehbetrieben unterschritten.
2012 waren es sogar nur noch 85 000. Gleichzeitig stieg
die durchschnittliche Größe der Milchviehherden von
43 auf 49 Kühe. Der Gesamtkuhbestand stagnierte zwar
knapp oberhalb von 4 Millionen, aber die durchschnittliche Milchleistung stieg wiederum. Unter dem Strich gibt
es also immer mehr Milch. Aktuell sind es 22 Prozent
mehr als der heimische Milchdurst. 2002 waren es nur
14 Prozent mehr.
Eine boomende, sich gesundschrumpfende Branche,
könnte man meinen. Aber vor Ort wird mir oft gesagt:
Ohne den Erlös aus der Biogas- oder Photovoltaikanlage
hätten wir die Kühe längst abschaffen müssen. - Insofern stellt sich die Frage: Warum ist denn das so? Die EU
hat gerade eine interessante Studie dazu veröffentlicht.
Sie benennt als ein Problem die Gewinnverteilung in der
Milchproduktion zugunsten der Verarbeitungsindustrie.
Das ist eigentlich auch kein Wunder; denn immer weniger Molkereien werden immer größer und immer mächtiger. Deshalb ist eine der Forderungen der Linken die
Stärkung der Milcherzeuger am Markt. Nur dann können
sie sich dem ruinösen Preisdumping der Verarbeiter und
des Handels entziehen und die Milch schonend für Kühe
und Umwelt produzieren.
({2})
Wir unterstützen zum Beispiel Erzeugergemeinschaften oder auch Produktionsgenossenschaften. Solche gibt
es übrigens auch in Bayern. Das ist eine Meldung vom
2. April, nicht vom 1. April. Insofern geht es da also
durchaus voran.
Darüber hinaus ist wichtig, dass die Milchmenge flexibler an die Nachfrage angepasst werden kann. Das
sieht auch eine Studie im Auftrag des European Milk
Boards so. Darin wurde übrigens festgestellt, dass die
reale Einkommenssituation der Milchbetriebe trotz vieler Strukturmaßnahmen in den letzten 20 Jahren nicht
verbessert worden ist. Das gilt auch für große Milchbetriebe, die zwar etwas höhere Einkommen, aber eben
auch eine größere Verschuldung aufweisen. Fazit der
Studie: Die Landwirte müssen die Menge der produzierten Milch flexibler an die Nachfrage anpassen können.
Dazu wird ein selbst organisiertes Regulationssystem
gebraucht, bei dem die Milchviehbetriebe dann aber
auch wirklich ein ernsthaftes Wort mitreden können.
Ganz wichtig ist: Aus dem Liter Milch muss mehr
Wertschöpfung generiert werden. Das heißt: mehr Veredlung und nicht Verramschen auf dem Weltmarkt. Das
heißt: mehr regionale Verarbeitung und Vermarktung.
Das heißt aber auch: Verbot täuschender Kennzeichnung. Wenn „Brandenburg“ auf der Milchverpackung
steht, muss die Milch auch von Brandenburger Kühen
sein. Wenn „Weidemilch“ draufsteht, darf keine Stallmilch drin sein.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Das Wort hat der Kollege Rainer Spiering für die
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Milchviehhaltung und die Kuh auf der Weide
sind für mich keine Fremdworte. Die Antragsteller sagen: „Das Leitbild muss die Kuh auf der Weide sein.“
Als wahrhaftiges Kind vom Land habe ich dabei zwei
Gedanken: meine Kindheit und die Milka-Werbung.
({0})
Meine Kindheit war von dem Bild geprägt, das Ihrem
Ideal entspricht: kleine Ackerbauflächen, kleine Weideflächen, im Sommer Melkstände auf der Weide, zehn bis
zwölf Kühe, Schweine- und Hühnerhaltung auf jedem
Hof - und den Pflug zog nur 1 PS. Dieses Bild ist folkloristisch, genau wie die Milka-Werbung, und entspricht
nicht mehr der Wahrheit in Deutschland im Jahre 2014.
({1})
Landwirtschaft hat heute auch in der bäuerlichen
Milchviehhaltung viel mit Hightech und Marktregulierung zu tun. Verstehen Sie mich nicht falsch: Die SPD
steht an der Seite der bäuerlichen Milchviehhaltung.
({2})
Sie stellt hervorragende Produkte her. Im ländlichen
Raum hat sie eine eminente Bedeutung für die Schaffung
von Arbeitsplätzen. Ich verweise gerade auf die Region,
aus der ich komme, mit großen Landmaschinenherstellern wie Claas, Amazone, Krone und vielen anderen
mehr. Die Landwirtschaft ist für die Schaffung von Arbeitsplätzen und die Erhaltung der regionalen Kulturlandschaft zuständig; das sollte man dabei auf keinen
Fall vergessen.
({3})
Der Ausstieg aus der Milchquote bereitet den Landwirten Sorge. Die EU verabschiedet sich im April 2015
von einem System, das mehr als 30 Jahre lang Preise und
Mengen diktierte. Bauern durften, zumindest theoretisch, nur eine bestimmte Menge Milch produzieren.
Wer darüber lag, musste Strafe zahlen. Künftig dürfen
die Landwirte so viel Milch produzieren, wie sie wollen,
und sich mit dem Markt auseinandersetzen.
Seit der Milchkrise 2009/2010 ist der Preis angestiegen. Zurzeit funktioniert das Geschäftsmodell. Die
Landwirte produzieren Höchstmengen, und das, obwohl
die Zahl der Betriebe seit Jahren sinkt. Knapp 80 000
Milchviehbetriebe gibt es noch, sagt die Statistik.
Deutschland ist inzwischen der größte Milchproduzent
in der EU. Der Preis, den die Bauern für ihre Milch bekommen, ist derzeit so hoch wie seit fünfeinhalb Jahren
nicht mehr. Im Schnitt wurden im vergangenen Jahr
knapp 38 Cent pro Kilogramm Milch gezahlt. Sind das
langfristig die Preise, mit denen die Milchbauern ihre
Kosten decken können? Wir haben hier gehört: Dazu
gibt es unterschiedliche Auffassungen. Der eine oder andere hier weiß: Es kostet ein kleines Vermögen, Milchwirtschaft zu betreiben. Man braucht Ställe, technische
Ausstattung wie Melkanlagen und Hightechcomputer,
Land für seine Tiere entsprechend den Quoten, und man
muss natürlich am Markt Kapital generieren.
Die positive Entwicklung auf dem Milchmarkt wird
vor allem vom Export getrieben. In China, wo Lebensmittelskandale die Verbraucher immer häufiger verunsichern, werden teilweise - so habe ich gelesen 3,50 Euro für einen Liter Milch gezahlt, aber nur, wenn
sie aus dem Ausland stammt. Gerade die neue chinesische Mittelschicht hat Durst auf Milch.
({4})
Der Export deutscher Trinkmilch zum Beispiel nach
China hat sich seit 2007 vervielfacht. Der Milchmarkt
wird auch mit Blick auf das Auslaufen der Quotenregelung als wachstumsfähig eingestuft. Die EU-Kommission sagt in ihrer Markteinschätzung einen Anstieg der
Milcherzeugung voraus.
In Deutschland bestimmt gerade einmal eine Handvoll Konzerne das Geschäft: Fünf Unternehmen - darunter der Marktführer Deutsches Milchkontor, die dänische
Molkereigruppe Arla und Müllermilch - handeln mit
50 Prozent der produzierten Milchmenge. Zu befürchten
ist, dass die Molkereien ab kommendem Jahr ihre
Marktmacht noch stärker ausnutzen werden und die hohen Gewinne, die sie auf dem Weltmarkt erzielen, nicht
an die Landwirte weitergeben.
({5})
Diese Entwicklung dürfen wir nicht hinnehmen. Deshalb
ist die Idee des EU-Milchpakets gut: Die Landwirte
schließen sich zusammen und handeln dann gemeinsam
einen Milchpreis mit den Molkereien aus.
Die Bündelung des Angebots und die Anerkennung
von Erzeugergemeinschaften und Branchenverbänden
verschaffen den Erzeugern Möglichkeiten zur Einflussnahme. Gemeinsamkeit macht stark.
({6})
Der deutsche Gesetzgeber hat die naturgemäß schwächere Marktstellung der Bauern berücksichtigt. Mit dem
Marktstrukturgesetz wird den Landwirten im Wettbewerbsrecht eine Ausnahmestellung eingeräumt. Das
Marktstrukturgesetz, also Erzeugerstärkung nach deutschem Modell, ist europaweit sinnvoll.
({7})
Die starke Position des Handels und der Discounter
hat den deutschen Markt für Milchprodukte zu einem der
am härtesten umkämpften Märkte der Welt gemacht. Wir
haben das erlebt. Aber insgesamt ist der Markt auch globaler geworden. Das beinhaltet auch globale Chancen.
Wie eingangs erwähnt, gibt es neue Absatzmöglichkeiten. Wenn Lidl und andere vergleichbare Großhändler
demnächst wieder einmal den Markt verengen, dann gibt
es jetzt andere Märkte, auf denen die Waren abgesetzt
werden können.
Man kann das Marktkriseninstrument „Freiwilliger
Produktionsverzicht gegen Ausfallentschädigung“ wie
Sie, Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, für eine
Option halten. Die Frage ist nur: Ist das Instrument sinnvoll? Wie soll das System funktionieren? Wie soll das zu
vertretbaren Kosten europaweit umgesetzt werden?
Wenn der Landwirt eine Entschädigung bekommt, um
seine Produktion in Krisenzeiten einzuschränken, achtet
er weniger auf Marktsignale, und das wäre kontraproduktiv. Signale, die über die Politik gesteuert werden,
sind im Regelfall langsamer als der Markt. Eine
Mengensteuerung hinkt der Marktentwicklung immer
hinterher.
({8})
Denn wenn der Beschluss auf politischer Ebene gefasst
ist, die Produktion einzuschränken, hat der Markt längst
wieder eine andere Richtung eingeschlagen.
Das Thünen-Institut - das ist ein wichtiger Fakt verweist auf massive finanzielle Folgen im Falle eines
Produktionsverzichts. Bereits eine Rückführung der
Gesamtmilcherzeugung in der EU um 1 Prozent erfordere einen Ausgleich für die teilnehmenden Betriebe von
rund 240 Millionen Euro. Um einen Markteffekt zu erzielen, würde das vermutlich nicht ausreichen.
Die EU investiert in die Landwirtschaft viel Geld. Für
die SPD ist Agrarpolitik vor allen Dingen Teil einer
ganzheitlichen Politik für die ländlichen Räume und
nicht klientelbezogene Sektorpolitik. Ich kann nur sagen: Die Kulturlandschaft, die ich zu Hause habe,
möchte ich auf keinen Fall missen.
({9})
Wir wollen nach 2020 ganz aus dem System der
Direktzahlung aussteigen und die Mittel gezielt für die
Entwicklung ländlicher Räume und die Entlohnung von
gesellschaftlichen Leistungen einsetzen. Dazu gehören
auch die Leistungen, von denen im Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen die Rede ist: Erhalt von Grünland-Landschaften, von Traditionen und bäuerlicher
Kultur. Unser Prinzip heißt allerdings: öffentliches Geld
für öffentliche Leistung. Das ist unser Ziel. Ein Zurück
in die Marktregulierung wird es mit der SPD nicht
geben.
Herzlichen Dank fürs Zuhören.
({10})
Kollege Spiering, das war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag. Wir wünschen Ihnen viel Erfolg für
Ihre Arbeit.
({0})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege
Artur Auernhammer das Wort.
({1})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wenn im Deutschen Bundestag von der bäuerlichen Milchviehhaltung die Rede ist und von fünf Rednern drei Milcherzeuger sind, dann freut mich das.
({0})
Wenn in der Bundesregierung dann auch noch jemand
sitzt, der selbst Milchviehhalter ist, dann freut mich das
noch mehr. Aber wenn ich mir den Antrag der Grünen
anschaue, dann vergeht mir die Freude.
({1})
Man will wieder das Klischee von der glücklichen
Kuh auf der grünen Wiese aufzeigen, wahrscheinlich in
Lila, um dem Verbraucher zu suggerieren: Das ist das
Idealbild einer Kuh.
({2})
- Meine Kühe sind schwarz-weiß und braun gefärbt.
({3})
- Nein, Herr Kollege Ebner, Sie kennen sich anscheinend nicht mit den bayrischen Milchviehrassen aus! In
meinem Bestand habe ich eine vom Aussterben bedrohte
fränkische Milchrasse: das fränkische Gelbvieh. Ich bin
froh, diese zu halten. Aber damit der Milchtank auch
voll wird, nimmt man schwarz-weiße Holsteiner dazu.
({4})
Wenn Sie hier das Klischee aufzeigen wollen, dass
Kühe nur glücklich sind, wenn sie auf der grünen Wiese
gehalten werden, dann muss ich Ihnen sagen: Ich
komme aus Franken. Wenn es nach Ihren Vorstellungen
ginge und alle Milchviehhalter im Dorf ihre Kühe auf
die Weide stellen müssten - wir haben im Dorf im
Schnitt pro Betrieb 30 bis 40 Kühe -, dann müssten alle
Betriebe dichtmachen, weil aufgrund der strukturellen
Bedingungen keiner von uns in der Lage ist, seine Kühe
auf die Weide zu bringen.
({5})
In den engen fränkischen Dörfern geht das einfach nicht.
Das geht vielleicht in Ihrer Wunschvorstellung.
Wie unterstützen wir die deutsche Milchviehhaltung?
Es kann nicht sein, dass wir in Größenordnungen denken, die vielleicht die Kollegin Tackmann noch von früher kennt. Als ich nach der Wende in den Osten gefahren
bin, haben mir die Kühe in diesen Stallanlagen leidgetan.
({6})
Ich war froh, dass wir in Bayern bessere Anlagen hatten
und unsere Tiere besser halten konnten. Ich weiß, es hat
sich viel getan, es hat sich viel entwickelt. Größenwachstum allein kann aber kein Gradmesser sein. In der
Politik muss die Vernunft einkehren: Das, was man machen kann, soll man machen, und das, was man nicht
mehr machen kann, soll man nicht mehr machen.
Wir wissen genau, dass in nicht einmal einem Jahr die
Milchquotenregelung ausläuft. Ob die Milchquotenregelung für den Einzelbetrieb erfolgreich war, muss jeder
selbst entscheiden. Ich weiß, was ich in meinem Leben
für den Erwerb von Milchquoten ausgegeben habe.
Wenn ich das Geld hätte, wäre das anzeigepflichtig beim
Deutschen Bundestag.
({7})
Deshalb ist es wichtig, dass wir vor Auslaufen der
Milchquote Maßnahmen einleiten, um unsere Milcherzeuger zu entlasten. Ich möchte hier nur die drohende
Abgabe nennen und die Notwendigkeit, den Fettkorrekturfaktor endlich abzuschaffen.
Wenn wir in die Zukunft blicken, dann müssen wir
das optimistisch und positiv tun und dürfen keine
Schwarzmalerei hinsichtlich der Milchmärkte betreiben,
wie es die Grünen hier machen. Die größten Kostenfaktoren in der Milchviehhaltung sind nicht die Bodenkosten. Bei mir zum Beispiel sind es infolge der eklatanten Wettbewerbsverzerrung, die in den letzten Jahren
durch die Energie- und Lebensmittelproduktion entstanden ist, die Flächenkosten. Wer als Milchviehhalter an
andere Betriebe Fläche verliert, kann diese nicht mehr
zurückpachten, weil einfach zu wenig Kapitel dafür
vorhanden ist. Deshalb müssen wir durch eine gezielte
Förderung unsere Milchviehhalter stärken. Wir können
Programme auflegen. Wir haben die Möglichkeit dazu.
Der Freistaat Bayern nutzt diese Möglichkeit intensiv.
Ich würde mich freuen, wenn auch die anderen Bundesländer - ich denke gerade an die Bundesländer, in denen
Parteien regieren, die hier in der Opposition vertreten
sind - das in dem Umfang machen würden wie Bayern.
Um die Zukunft der deutschen Milchviehhaltung ist
mir nicht bange. Deutsche und auch bayerische Milchprodukte - Sie erlauben mir diesen Nebensatz - haben in
der Welt ein hohes Ansehen und werden stark nachgefragt. Die guten Chancen zum Export in die ganze Welt
wurden schon erwähnt. Wir sollten die Chancen nutzen.
Wir sollten unsere Milchviehhalter mit guten sachlichen
Argumenten stärken und nicht mit den Ideologievorstellungen argumentieren, die leider Gottes bei den Grünen
noch immer vorherrschen.
Vielen Dank.
({8})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/976 an den Ausschuss für Ernährung und
Landwirtschaft vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine
Leidig, Herbert Behrens, Caren Lay, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Den Aufsichtsrat der Deutschen Bahn AG
neu und verantwortungsvoll besetzen
Drucksache 18/592
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur ({0})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Vizepräsidentin Petra Pau
Ich bitte die notwendigen Umgruppierungen in den
Fraktionen so vorzunehmen, dass wir die nötige Aufmerksamkeit für die folgende Debatte herstellen können. ({1})
- Es geht weiter, wenn die CDU/CSU-Fraktion und die
SPD-Fraktion die notwendigen Umgruppierungen vorgenommen und gegebenenfalls notwendige Gespräche
an den Rand des Plenums verlagert haben.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Sabine Leidig für die Fraktion Die Linke.
({2})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Auf dem Nachrichtenportal Die Weltpresse konnte man
am 27. März dieses Jahres lesen - ich zitiere -:
Nach Limburg-Aus
Tebartz-van Elst wechselt zum Bahnvorstand
Ja, da schauen Sie, was?
({0})
Das ist natürlich Satire. Aber es war keine Satire, als drei
Monate zuvor die Meldung durch die Presse ging, dass
der ehemalige Kanzleramtsminister Pofalla in den Vorstand der Deutschen Bahn AG wechselt.
({1})
Offenbar geht dieses Vorhaben auf eine Absprache
zurück, die die Kanzlerin höchstpersönlich mit dem
Bahnvorstandsvorsitzenden Herrn Grube und dem Aufsichtsratsvorsitzenden Utz-Hellmuth Felcht getroffen
hat. Warum? Nicht etwa deshalb, weil Herr Pofalla ein
profunder Bahnkenner ist,
({2})
sondern weil er offenbar für seinen Einsatz belohnt werden sollte, der dazu führte, dass der Bahnaufsichtsrat das
Projekt „Stuttgart 21“ fortsetzte, obwohl dessen Unwirtschaftlichkeit nachgewiesen war.
({3})
Mit diesem Fakt stellt sich erneut die Frage - sie steht
sozusagen im Rampenlicht der Öffentlichkeit -, wer da
eigentlich in wessen Interesse Einfluss auf die Bahnpolitik nimmt. Denn es ist ja keineswegs so, wie immer behauptet wird, dass die Bahn quasi ein eigenmächtiger
und eigenständiger Konzern ist, auf den die Bundespolitik überhaupt keinen Einfluss nehmen kann. Im Fall
Pofalla ist dies offensichtlich geworden. Selbstverständlich gibt es auch andere Wege. Insbesondere ist es der
Bund, der den Aufsichtsrat der Deutschen Bahn AG besetzt, zumindest den Teil, der die Aktionäre vertritt. Die
Aktionäre sind, so könnte man sagen, zu 100 Prozent die
Bundesbürgerinnen und Bundesbürger.
Die Neubesetzung dieses Aufsichtsrates steht zwar
erst in einem Jahr an, aber wenn man ein solches
Gremium neu und anders besetzen möchte - genau das
schlagen wir mit unserem Antrag der Fraktion Die Linke
vor -, dann ist ein Jahr keine lange Zeit. Wir sind der
Überzeugung, dass die Bundesregierung andere Persönlichkeiten in diesen Aufsichtsrat setzen muss, Persönlichkeiten, die wirklich das Interesse einer guten Bahn
für alle in den Mittelpunkt stellen.
({4})
Erstens sind wir der Überzeugung, dass es an der Zeit
ist, endlich Frauen in diesem Aufsichtsrat zu sehen.
({5})
Vom Bund aus müsste zumindest die Hälfte der Plätze
mit Frauen besetzt werden. Denn immerhin nutzen
überwiegend Frauen die Bahn; zumindest im Nahverkehr bilden sie die Mehrheit der Bahnnutzerinnen und
Bahnnutzer.
Zweitens wollen wir, dass über die Vorschlagsliste für
die Besetzung des Aufsichtsrates in der Öffentlichkeit diskutiert wird und sie letztlich vom Parlament beschlossen
({6})
und nicht hinter verschlossenen Türen ohne Einfluss
ausgemauschelt wird.
Drittens - das ist der wichtigste Punkt - sind wir der
Meinung, dass andere Interessen dort eine Rolle spielen
sollen.
Es gibt fünf Personen, die wir auf keinen Fall im
neuen Aufsichtsrat sehen wollen. Diese Personen sind
jetzt im Aufsichtsrat.
({7})
Ich möchte sie Ihnen kurz vorstellen. Vielleicht vergeht
Ihnen dann das Lachen.
({8})
Vielleicht haben Sie auch unseren Antrag gelesen und
wissen, um wen es sich handelt. Der Aufsichtsratsvorsitzende Utz-Hellmuth Felcht zeichnet sich nicht dadurch
aus, dass er mit Bahnunternehmen viel Erfahrung hat,
sondern er ist Managing Director eines großen PrivateEquity-Fonds. Warum ist er Aufsichtsratsvorsitzender
geworden? Der ehemalige Bundesverkehrsminister
Ramsauer hat diese Entscheidung 2010 damit begründet,
dass er ein exzellenter Kenner des Börsengeschehens
sei, was im Hinblick auf den nach wie vor politisch gewünschten Börsengang der Deutschen Bahn AG wichtig
sei.
({9})
Ich bitte Sie: Der Börsengang der Deutschen Bahn AG
ist, so sagt es jedenfalls die Große Koalition,
({10})
kein Thema mehr, ist abgesagt.
({11})
Ich bin der Meinung, wir brauchen einen Aufsichtsratsvorsitzenden, der sich dadurch qualifiziert, dass er ein
großes öffentliches Unternehmen gedeihlich entwickeln
kann.
({12})
Kollegin Leidig, die letzten vier Namen müssen Sie
bitte in Ihren letzten Satz fassen und zum Ende kommen.
Die letzten vier Namen können Sie in unserem Antrag
nachlesen.
({0})
Wir haben Christoph Dänzer-Vanotti, der für Eon steht;
wir brauchen aber Leute, die für regenerative Energien
stehen.
({1})
Wir haben den Milliardär Heinrich Weiss, der Bombardier vorsteht.
Kollegin Leidig, ich meine das ausgesprochen ernst.
Setzen Sie einen Punkt!
Außerdem haben wir einen Klimaleugner, den wir
durch jemanden ersetzen müssen, der den Klimaschutz
ernst nimmt. Schließlich brauchen wir auch keinen
Stahlbaron wie Herrn Großmann,
({0})
sondern wir brauchen Leute, die Umweltschutz, Verbraucherinteressen und das Allgemeinwohl für die Deutsche Bahn vertreten.
({1})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege
Alexander Funk das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Ich wollte ja schon immer einmal im Bundestag
zu einer so späten Stunde sprechen. Das ist allerdings die
einzige Freude, die Sie mir mit diesem Antrag bereitet
haben.
({0})
Ansonsten bin ich mir noch nicht sicher, über was ich
mich mehr wundern soll: über die Widersprüchlichkeit
in Ihrem Antrag, über die Wahrnehmungsstörung oder
über die Unverschämtheit.
({1})
Zum Widerspruch. Gleich zu Beginn Ihres Antrags
wollen Sie, dass der Bundestag feststellt, die Aktiengesellschaft sei nicht die geeignete Form, um die Bahn zu
führen, um dann später die Bundesregierung aufzufordern, genau das zu überprüfen. Schon allein aufgrund
dieses Widerspruchs werden wir diesen Antrag ablehnen, weil das auch das Parlamentsverständnis betrifft.
Denn wenn der Bundestag etwas feststellt, egal was das
sein möge, dann fordert er nicht anschließend die Bundesregierung auf, diese Feststellung zu überprüfen. Aber
ich gehe einmal davon aus, das war nur ein Versehen Ihrerseits. Ich empfehle Ihnen an dieser Stelle, Ihren Zettelkasten neu zu sortieren.
({2})
Zur Wahrnehmungsstörung. Sie zeichnen ja ein verheerendes Bild der Bahn im Jahr 2014. Aber zu einer
Analyse gehört natürlich zunächst einmal, dass man die
Ausgangslage betrachtet - 20 Jahre Bahnreform - und
sich fragt: Wie sah die Situation vor 20 Jahren aus? Bundesbahn und Reichsbahn waren hochdefizitär.
({3})
34 Milliarden Euro Schulden wurden angehäuft.
({4})
Die Investitionen gingen zurück. Dafür übertrafen die
Personalaufwendungen die Umsatzerlöse um 50 Prozent. Der Service war verheerend, was schon allein daran zu sehen war, dass die Fahrgäste als Beförderungsfälle bezeichnet wurden;
({5})
heute sind sie Kunden. Von 1950 bis 1994 ist der Anteil
der Bahn am Personenverkehr von 36 Prozent auf 6 Prozent zurückgegangen. - Das war die Ausgangslage im
Jahr 1994.
Kollege Funk, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung der Kollegin Leidig?
({0})
Ja, gerne.
({0})
Selbst auf die Gefahr hin, dass Sie Ihren Feierabend
noch um fünf Minuten verschieben müssen,
({0})
möchte ich doch die Frage stellen, ob Sie sich bewusst
sind, dass die Ziele, die vor 20 Jahren formuliert worden
sind, lauteten, erstens die Preise für den Bahnverkehr zu
senken, zweitens den Anteil der Bahn am Modal Split zu
erhöhen und drittens den Service, die Pünktlichkeit und
ähnliche Dinge zu verbessern. Faktisch - das möchte ich
einfach nur sagen - haben wir keinen steigenden Anteil
am Modal Split. Wir haben Fahrpreiserhöhungen, die
doppelt so hoch sind wie die Inflationsrate. Wir haben
einen Abbau von 4 500 Kilometern Bahnstrecken, was
nicht unbedingt für mehr Service steht.
Grundziel der Bahnreform war, mehr Verkehr auf die
Schiene zu bekommen. Das ist nachweislich gelungen.
Auch der Service ist deutlich verbessert. Die Investitionen sind deutlich gesteigert worden. Heute haben wir ein
Bahnunternehmen, das jährlich einen Gewinn abwirft.
Ich bestreite überhaupt nicht, dass es nach wie vor
verärgerte Bahnkunden gibt. Bahnkunden ärgern sich
natürlich darüber, wenn ein Zug ausfällt, wenn es zu
Verspätungen kommt. So etwas ist angesichts von
25 000 Zugfahrten täglich und 5,6 Millionen Fahrgästen
täglich aber eigentlich auch nicht sonderlich verwunderlich. Das wird es immer wieder geben.
Daraus die Konsequenz zu ziehen, das Rad wieder zurückzudrehen, halten wir für falsch. Wir wollen die
Bahnreform weiterentwickeln,
({0})
um an dem Ziel, mehr Verkehr auf die Schiene zu bekommen, festzuhalten, um den Service weiter zu verbessern. Wir wollen das erreichen, indem wir noch mehr
Wettbewerb im Bereich Schiene schaffen. Dazu hat die
Monopolkommission einige Vorschläge auf den Tisch
gelegt; darüber werden wir in den nächsten Monaten sicherlich noch diskutieren. Jedenfalls wollen wir nicht
zurück zu einem Staatskonzern, der politisch dominiert
wird.
Damit bin ich beim dritten Punkt, nämlich bei der Unverschämtheit in Ihrem Antrag.
({1})
Die Art und Weise, wie Sie hier einen Aufsichtsrat diskreditieren und versuchen, indirekt ein solches Licht darauf zu werfen, als würden die dort ihre eigenen Interessen verfolgen,
({2})
das ist eine Unverschämtheit; anders kann man das nicht
bezeichnen. Das weisen wir ausdrücklich zurück.
({3})
Wir jedenfalls sind froh, dass es diesen Aufsichtsrat
in dieser Zusammensetzung gibt - mit den Arbeitnehmervertretern, mit den Vertretern der Politik, die natürlich auch die politischen Interessen verfolgen müssen,
und mit gestandenen Managern, die Erfahrung mit dem
Bahngeschäft haben
({4})
und dazu beigetragen haben, dass die Bahn heute so gut
dasteht, dass sie ein erfolgreiches wirtschaftliches Unternehmen ist. Wir danken diesem Aufsichtsrat ausdrücklich.
({5})
Alles das sind Gründe dafür, dass wir Ihren Antrag
ablehnen werden.
Ansonsten darf ich jedem für später noch eine angenehme Nachtruhe wünschen.
({6})
Der Kollege Matthias Gastel hat für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Dem Antrag der Linken sei Dank: Das Plenum diskutiert über Bahnpolitik, und es ist auch notwendig und gut so, dass wir das heute machen.
({0})
Seit Jahren singen DB-Vorstand, Union, SPD und
Teile der Gewerkschaften das immer gleiche Lied. Der
Refrain lautet: Die Deutsche Bahn ist gut und wird immer besser. - Mit Selbstzufriedenheit aber, meine Damen und Herren, wird nichts besser. Notwendig ist, die
Bahnreform ehrlich zu bilanzieren, Defizite klar herauszustellen und systematisch zu beheben.
({1})
Die Bilanz der Bahnreform ist durchwachsen. Weder
die Entwicklung der Fahrgastzahlen noch der Güterbereich geben Anlass zur Zufriedenheit. Vor allem leidet
das System Schiene an den Folgen der Börsengangstrategie: Strecken wurden stillgelegt; in manchen Bereichen wurde übertrieben viel Personal abgebaut. Mainz
lässt grüßen!
Wir fragen vor allem: Wieso diese internationale Ausrichtung der Deutschen Bahn? DB Schenker ist der
größte Spediteur auf dem europäischen Markt. Was passiert eigentlich, wenn die Bilanzen weiter abrutschen
und der Bund Steuergeld reinbuttern muss?
Äußerst problematisch ist auch, dass Gewinne aus der
Netzsparte der DB in den Bundeshaushalt abgezogen
werden - anstatt direkt ins Netz zurückinvestiert zu werden. Der Netzzustand verschlechtert sich mehr und
mehr. Der Bund als Eigentümer und der Aufsichtsrat haben hier ganz offensichtlich versagt.
({2})
Fakt ist: Von diesen Geschäften war bei der Bahnreform nicht die Rede, und davon steht auch nichts im
Grundgesetz. Was hat von diesen Geschäften der Fahrgast? Der Fahrgast erwartet Angebote in der Fläche,
pünktliche Züge, verlässliche Reiseketten, attraktive
Umsteigeangebote und funktionierende Internetverbindungen in den Zügen.
({3})
Wir müssen dringend einmal ausführlich darüber reden, wie umgegangen wird mit den kaum rentablen Investitionen und unsinnigen Prestigeprojekten. Wir müssen reden über die hohe Schuldenaufnahme der DB, die
ja noch steigen soll, wie wir seit der Pressekonferenz der
DB in der letzten Woche wissen. Wir müssen reden über
die wirklichen Bedürfnisse der Fahrgäste und über die
eigentlichen Aufgaben der Deutschen Bahn.
Wir sind der Meinung, Netz und Transport müssen
getrennt werden.
({4})
Die Infrastruktur muss wieder in das unmittelbare Eigentum des Bundes überführt werden.
({5})
Da sind wir uns mit der Monopolkommission einig. Alles andere behindert einen fairen Wettbewerb auf der
Schiene und damit auch die notwendigen Innovationen.
Wir begrüßen die Ankündigung der Bundesregierung für
ein neues Eisenbahnregulierungsgesetz. Hier muss jetzt
Tempo rein.
({6})
Die GroKo will das Steuerungskonzept für die
DB AG überarbeiten. Darauf sind wir sehr gespannt.
({7})
Seit der Bahnreform fehlt nämlich ein schlüssiges Steuerungsinstrument. Die Bundesregierung greift nach Belieben ein, mal zum Nachteil des Systems Schiene, wie bei
Stuttgart 21, und mal unterlässt sie das Eingreifen, wie
bei fragwürdigen Auslandsgeschäften. Nur eines gibt es
nicht: Transparenz.
Hier stimmen wir mit dem Antrag der Linken überein: In den Aufsichtsrat gehören auch Vertreterinnen und
Vertreter von Fahrgast-, Umwelt- und Verbraucherinteressen.
({8})
Wir brauchen dort Leute, die nicht nur auf die Gewinne
schauen. Wir brauchen dort Leute, die dafür brennen,
das System Schiene zu stärken. Die DB AG hat sich, unterstützt durch die Politik, endlich auf ihr Kerngeschäft
zu konzentrieren: die Gewährleistung einer zuverlässigen, ressourcenschonenden und klimafreundlichen Mobilität auf der Schiene.
({9})
Kollege Gastel, das war Ihre erste Rede im Deutschen
Bundestag. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg für Ihre weitere Arbeit.
({0})
Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Martin
Burkert das Wort.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir wissen, Rituale sind wichtig. Man denke etwa an die
Förderung des Familienzusammenhalts zu Hause durch
das gemeinsame Abendessen. Unsere Rituale in diesem
Hause sind genauso wichtig; sie stärken das Zusammengehörigkeitsgefühl der Parlamentarier. Ich denke an die
Feierstunden und Ähnliches. Vielleicht sollten wir so
manche Anträge einfach als freundliches Zeichen der
Fraktionen sehen, durch die unser Wirgefühl gestärkt
wird.
Alle Jahre wieder, Frau Leidig, reden wir über den
Bahnaufsichtsrat.
({0})
Zu Beginn einer Legislaturperiode geschieht dies meist
sehr ausführlich. Regelmäßig wird von Ihnen bemängelt,
dass die Mitglieder im Aufsichtsrat, eigentlich beruflich
erfolgreiche Personen, Interessenskonflikten unterliegen, dass sie für diese Aufgabe nicht geeignet sind.
({1})
Ich sage Ihnen ganz deutlich: Sie lehnen in Ihrem Antrag
sogar Arbeitnehmervertreterinnen und -vertreter im Aufsichtsrat ab. Ich sage Ihnen: Wir, die SPD, stehen zur betrieblichen Mitbestimmung.
({2})
So einfach ist das in unserem Land. Wir halten die Parität in den Aufsichtsräten für eine wichtige und gute Errungenschaft und befürworten es, wenn Arbeitnehmervertretungen auch Beschäftigte des betroffenen
Konzerns in die Aufsichtsräte berufen.
({3})
Ja, wir wollen, dass die Mitglieder in diesen Aufsichtsräten wirtschaftliche Kompetenz mitbringen. Außerdem wollen wir, dass in den Aufsichtsräten, also auch
im Aufsichtsrat der Deutschen Bahn AG, zukünftig, ab
2016, mindestens 30 Prozent Frauen sitzen. Herzlichen
Dank, Manuela Schwesig.
({4})
Das sage ich in aller Deutlichkeit. Wir wollen auch, dass
in den Aufsichtsräten Menschen sitzen, die über geeignetes Fachwissen verfügen, zum Beispiel aufgrund ihrer
beruflichen Tätigkeiten. Wer ist denn Ihrer Ansicht nach
geeignet, aber ohne Interessenkonflikt? Ich sage Ihnen:
Diesen Interessenkonflikt könnte man an jeder Person
aufzeigen.
Aber ich sage auch: Es ist richtig, dass auch Parlamentarier im Aufsichtsrat sitzen. - Ich sage sogar: Das
sollte Normalität sein. - Die Arbeitnehmer wählen ihre
Aufsichtsräte in Urwahl; dagegen ist sicherlich überhaupt nichts zu sagen.
Sie kritisieren 20 Jahre Bahnreform, eine Entscheidung, die vor 20 Jahren getroffen wurde. Wir feiern dieses Jahr das 20-jährige Jubiläum in unterschiedlichen
Veranstaltungen. Wir Sozialdemokraten sagen: Unter
dem Strich ist die Bahnreform ein großer Erfolg in
Deutschland und hat uns in ganz Europa ein Stück nach
vorne gebracht. Die Zuwachsraten sprechen eine deutliche Sprache: Steigerung im Regionalverkehr um 73 Prozent, und selbst der Güterverkehr folgt mit knapp
71 Prozent.
({5})
Deswegen sagen wir: Mit der Bahnreform konnte der
Trend zur stetigen Abnahme der Bedeutung des Schienenverkehrs im Vergleich zum Straßenverkehr zumindest gestoppt werden.
Nicht alles stellt uns zufrieden - das will ich auch sagen -; aber das hängt nicht mit der Zusammensetzung
des Aufsichtsrates der Deutschen Bahn AG zusammen.
({6})
Zu einer fairen Betrachtung gehört auch die Erörterung kritischer Punkte - auch das will ich nicht aussparen -: Wir haben technische Probleme erlebt, insbesondere beim ICE; hier bedarf es einer Nachsteuerung. Der
ständige Aufschub beim Ausliefern neuer ICE durch die
Fahrzeughersteller und auch die langwierigen Zulassungsverfahren erleichtern der Deutschen Bahn nicht die
Arbeit. Beim Thema Zulassung haben wir uns im Koalitionsvertrag verständigt, dass wir noch in dieser Legislatur nachhaltig tätig werden; auch das sage ich in aller
Deutlichkeit.
({7})
Die Situation beim Eisenbahn-Bundesamt beschäftigt
uns nicht erst seit diesen Tagen. Sie ist weder für die
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter noch für die Kunden
zufriedenstellend. Herr Staatssekretär Ferlemann, ich
gehe davon aus, dass mit diesem Haushalt endlich auch
eine Personalsteigerung für das Eisenbahn-Bundesamt
kommt; dafür ist es höchste Zeit. Ich bitte alle, da bei
den Haushaltsberatungen mitzuhelfen.
Wir erleben, dass trotz der Hindernisse, die es gibt
- ob von der DB AG selber verschuldet, vom Wettergott
oder von Graffitisprayern -, die Qualität in den Zügen
und beim Zugbegleitpersonal insgesamt beachtlich zugenommen hat: Die Züge sind in der Regel sauber und
komfortabel, in der Regel fühlt man sich auch wohl. Das
ist vor allem das Verdienst der Beschäftigten dieses Unternehmens. Auch hierfür muss man herzlichen Dank sagen.
({8})
Wir wollen nach wie vor, dass immer mehr Menschen
vom Auto auf die Schiene umsteigen und dass auch der
Güterverkehr auf der Schiene zunimmt. Voraussetzungen
dafür sind erstens eine leistungsfähige und anwohnerfreundliche Schieneninfrastruktur, zweitens faire Wettbewerbsbedingungen gegenüber Konkurrenten auf der
Schiene und drittens faire Wettbewerbsbedingungen gegenüber den anderen Verkehrsträgern wie Straßenverkehr, Wasserstraßenverkehr und Luftverkehr.
Wir werden die Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung mit neuen und genaueren Kennzahlen weiterentwickeln, mehr Geld in die Schieneninfrastruktur stecken
und vor allem beim barrierefreien Ausbau und beim
Lärmschutz in dieser Legislatur vorankommen. Ich bin
überzeugt, wir schaffen dies in der Großen Koalition.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dies alles sind
wichtige Aspekte und dringende Probleme, die wir im
Bereich der Schiene lösen müssen. Hierüber machen wir
uns Gedanken, und hierzu haben wir im Koalitionsvertrag vieles festgeschrieben. All diese Themen aber werden nicht durch die Zusammensetzung des Bahn-Aufsichtsrats verursacht und würden auch nicht durch seine
Abschaffung gelöst. Darum: Lassen Sie uns gemeinsam
an die Arbeit gehen, um die Bahn in Deutschland zukunftssicher aufzustellen - für die Kunden, für die Beschäftigten und nicht zuletzt für unsere Umwelt. Dieser
Aufruf ist durchaus als Appell, Frau Kollegin Leidig, an
das Wirgefühl aller Parlamentarier gedacht. Lassen Sie
uns daran arbeiten! Mir ist nicht bange um eine gute Zukunft der Deutschen Bahn AG und der Schieneninfrastruktur.
Ich wünsche einen schönen Abend.
({9})
Der Kollege Michael Donth hat für die CDU/CSUFraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Vor 225 Jahren
kam in Reutlingen ein Mann zur Welt, der als Pionier
des Eisenbahnwesens in Deutschland gilt und es vorangebracht hat.
({0})
Ich spreche von meinem schwäbischen Landsmann
Friedrich List.
Ich bin überzeugt: Er wäre stolz darauf, was aus seiner Idee geworden ist. Er vertrat das Konzept, dass
Schienenwege die Voraussetzung für wirtschaftlichen
Wohlstand sind. Seine Idee ist Wirklichkeit geworden
und hat auch heute noch ihre Berechtigung.
Damit die Eisenbahn aber dauerhaft als Grundlage
des wirtschaftlichen Wohlstands funktioniert, muss sie
sich der Zeit anpassen. Dazu diente auch die große
Bahnreform vor 20 Jahren, die nach Ansicht der Linken
allerdings ein Misserfolg war.
20 Jahre Bahnreform: Manche mögen da eine weniger positive Bilanz ziehen als ich. Eines ist aber klar: Die
Deutsche Bahn steht heute deutlich besser da als vor
20 Jahren.
({1})
Das sieht im Übrigen auch der Vorsitzende der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft Alexander Kirchner so.
({2})
Die Ziele der Reform sind weitgehend erreicht, auch
wenn man noch nicht am Ende der Entwicklung angekommen ist. Die bisherige positive Entwicklung ist
keine leere Behauptung, sondern in Zahlen greifbar. Dafür nur zwei Belege: Im Personenverkehr ist die Verkehrsleistung auf der Schiene um 36 Prozent gewachsen,
und auch der Anteil der Eisenbahn am Personenverkehrsmarkt ist angestiegen. Selbst im Güterbereich, in
dem es einen steigenden Konkurrenzdruck gibt, konnte
die Bahn ihren Marktanteil vergrößern.
Die Linke behauptet nun in ihrem Antrag, die Unternehmensreform, die Bildung einer Aktiengesellschaft,
habe sich für die Deutsche Bahn als ungeeignet erwiesen. Ich sage: Genau das Gegenteil ist der Fall.
Die Umwandlung der Deutschen Bundesbahn und der
Deutschen Reichsbahn in eine einheitliche Aktiengesellschaft mit unternehmerischer Ausrichtung hat die Weichen hin zu mehr Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit
und auch zu mehr Produktivität gestellt. Gerade dank der
Rechtsform, als AG, war es möglich, das Eisenbahnsystem in Deutschland nach der deutschen Einheit zusammenzubringen und auf einer soliden finanziellen Basis
erfolgreich in die Zukunft zu führen.
({3})
Mit einer Anstalt des öffentlichen Rechts, mit der die
Linke in ihrem Antrag liebäugelt, könnten diese Ziele
nicht in dem Umfang erreicht werden; denn eine solche
Anstalt steht mit anderen Unternehmen im Wettbewerb
nicht auf derselben marktwirtschaftlichen Stufe, was
systembedingt wieder zu Wettbewerbsverzerrungen führen würde.
({4})
Es ist gut, dass sich die Deutsche Bahn im Wettbewerb mit anderen Unternehmen behaupten muss und
auch behauptet. Wettbewerb fördert Qualität, Wirtschaftlichkeit und Vielfalt.
({5})
Daher ist es ein gutes Zeichen, dass es in Deutschland im
Vergleich zu anderen Ländern Europas relativ viele Eisenbahnunternehmen gibt; denn nur ein Unternehmen,
das mit Konkurrenz zu tun hat, wird zu Höchstleistungen
angespornt.
Deshalb ist es richtig und gut, dass sich die Deutsche
Bahn die Expertise in ihr Führungspersonal holt, die sie
braucht, um im Wettbewerb zu bestehen.
({6})
Dazu gehören auch, wie in anderen Konzernen ebenfalls
üblich, Persönlichkeiten, die Erfahrungen in verbundenen Unternehmen oder in Konkurrenzunternehmen gemacht haben. Es ist eine böswillige Unterstellung - das
wurde schon angesprochen - und falsch, diesen Personen vorzuhalten, dass sie sich nicht für eine Stärkung des
Schienenverkehrs engagieren würden.
Im Übrigen ist es unglaubwürdig, dass sich ausgerechnet die Linke als Gralshüter der Bahn aufspielt;
({7})
denn als im Herbst 2011 mehrere Brandanschläge in und
um Berlin auf die Bahn verübt wurden, die bei der Bahn
Schäden in Millionenhöhe verursacht haben,
({8})
hat sich Ihre damalige und heutige innenpolitische Sprecherin Ulla Jelpke mit diesen Attentätern solidarisiert.
({9})
Wie soll man einer Fraktion mit einer solchen Grundeinstellung abnehmen, dass sie sich glaubhaft für das Gemeinwohl und die Stärkung des Schienenverkehrs einsetzen möchte?
({10})
- Das steht auf Seite 6 der Frankfurter Rundschau vom
15. Oktober 2011.
({11})
Wir sind auf jeden Fall für die Bahn und lehnen Ihren
Antrag ab.
Vielen Dank!
({12})
Kollege Donth, das war Ihre erste Rede im Deutschen
Bundestag. Wir wünschen Ihnen viel Erfolg für Ihre weitere Arbeit.
({0})
Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird
Überweisung der Vorlage auf Drucksache 18/592 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Katharina
Dröge, Kerstin Andreae, Dr. Thomas Gambke,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Nationales Reformprogramm 2014 nutzen Wirtschaftspolitische Steuerung in der EU
ernst nehmen und Investitionen stärken
Drucksache 18/978
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({1})
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsauschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Katharina Dröge für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen.
({2})
Ich bemühe mich. - Sehr geehrte Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Manchmal ist es der
erste kleine Schritt, der viele Dinge bewegen kann. Bei
der Debatte über die makroökonomischen Ungleichgewichte kommt mir das gerade so vor.
Die schwarz-gelbe Bundesregierung hat noch im letzten Jahr die Meinung vertreten, dass es beim Thema
Leistungsbilanzüberschüsse kein Problem gebe,
({0})
dass es eigentlich nur eine Debatte derjenigen sei, die
den Deutschen die Exporte nicht gönnen würden. Von
dieser Einschätzung sind Sie mittlerweile, wenigstens
teilweise, abgerückt. Zumindest im Entwurf der Bundesregierung für ein nationales Reformprogramm, den Sie
gestern im Wirtschaftsausschuss vorgestellt haben, lassen Sie sich auf die Analysen der Europäischen Kommission ein. Das ist gut; denn endlich können wir darüber debattieren, worum es eigentlich geht, nämlich um
die deutsche Binnennachfrage.
({1})
Es ist zwar nur ein kleiner Schritt, aber dennoch ein
sehr wichtiger; denn ohne die Problemerkenntnis kämen
wir gar nicht zur Lösung des Problems. Über die Lösung
des Problems müssten Sie eigentlich im Zusammenhang
mit dem Entwurf für ein nationales Reformprogramm reden und diskutieren, und über dieses Reformprogramm
möchte ich gerne hier und heute mit Ihnen debattieren.
Da gibt es nur ein Problem: Der Entwurf für ein nationales Reformprogramm liegt nicht vor. Darüber können
wir heute Abend nicht reden. Diesen Entwurf beschließen Sie erst nächste Woche im Kabinett, dann, wenn es
keine Sitzungen mehr vor der Osterpause gibt, dann,
wenn wir hier im Bundestag dazu gar nicht mehr Stellung nehmen können. Danach schicken Sie den Entwurf
nach Brüssel. Eine Debatte im Parlament hierüber ist
nicht vorgesehen. Ich finde: Das ist das absolut falsche
Signal zur falschen Zeit.
({2})
Während zeitgleich die Europäische Zentralbank darüber berät, wie sie verhindern kann, dass der Süden Europas in eine Deflationsspirale fällt, haben wir keine
Möglichkeit, hier im Parlament das Verfahren zur koordinierten Wirtschaftspolitik, das ein Teil des Stabilitätsmechanismus und auch eine Lösung für diese europäische Krise sein sollte, zu diskutieren.
Wir haben unseren Antrag gestellt, um hier zumindest
in Teilen eine Debatte zu ermöglichen, um zumindest ei2150
nige Vorstellungen von Ihnen zu hören, wie Sie die Probleme lösen wollen, und um Ihnen mit unserem Antrag
vielleicht einige Anregungen dazu zu geben, wie man
ein nationales Reformprogramm ausgestalten könnte.
({3})
Wir sagen Ihnen: Wir brauchen endlich ein europäisches Investitionsprogramm zur wirtschaftlichen Unterstützung der Krisenländer. Wir brauchen endlich verlässliche politische Rahmenbedingungen für die Unternehmen
hier in Deutschland, etwa bei der Energiewende, damit
die Investitionsneigung der privaten Unternehmen in
Deutschland wieder steigt. Wir brauchen schneller und
ohne merkwürdige Ausnahmen einen vernünftigen Mindestlohn zur Steigerung der deutschen Binnennachfrage.
Und: Wir brauchen deutlich stärkere Investitionen der
öffentlichen Hand in unsere Infrastruktur.
Gerade zum letzten Punkt möchte ich Ihnen sagen:
Wenn Sie hier entschlossen handeln, dann tun Sie nicht
nur etwas für die Binnennachfrage, sondern damit eröffnen Sie auch Zukunfts- und Wachstumschancen für unser Land. Statt das viele Geld in unnötige Steuergeschenke wie ökologisch schädliche Subventionen oder
den ermäßigten Steuersatz für Hotelübernachtungen
oder unsinnige Projekte wie das Betreuungsgeld zu stecken,
({4})
können Sie etwas für die Zukunft unseres Landes tun.
Sie könnten mit Investitionen zum Wohle aller in
Deutschland und Europa beitragen. Ich bitte Sie, ganz
ernsthaft darüber nachzudenken, entsprechend zu handeln und mit uns unseren Antrag zu beschließen.
Ich danke Ihnen ganz herzlich.
({5})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege
Dr. Andreas Lenz das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Titel
des Antrags von Bündnis 90/Die Grünen beginnt mit den
Worten „Nationales Reformprogramm 2014 nutzen“.
Seien Sie sicher: Das machen wir. Wir werden das in aller Ruhe und in aller Sorgfalt machen. Wir haben jetzt
auch beispielsweise, was die Redezeit angeht, mehr Zeit
als Sie. Deshalb verstehe ich, dass Sie so schnell gesprochen haben. Ich werde mir dementsprechend ein bisschen mehr Zeit lassen.
Wir nutzen das Reformprogramm, um die deutsche
Wirtschaft voranzubringen, und nicht wie Sie, um immer
wieder neue Anträge zu einer alten und längst bekannten
Thematik zu stellen. Sie kritisieren in Ihrem Antrag die
hohen Leistungsbilanzüberschüsse der Bundesrepublik
Deutschland. In der Tat liegt der Leistungsbilanzüberschuss mit rund 200 Milliarden Euro bei 7,3 Prozent des
Bruttoinlandsprodukts. Als Schwellenwert gibt das
Scoreboard des wirtschaftlichen Überwachungsverfahrens einen Überschuss von 6 Prozent an. Es gilt festzustellen, dass Deutschland damit lediglich 1,3 Prozentpunkte über diesem angegebenen Schwellenwert liegt.
Hier muss noch einmal klar betont werden, dass die
Kommission mit Blick auf Deutschland eben gerade
keine zukunfts- und stabilitätsgefährdenden Ungleichgewichte festgestellt hat. Es handelt sich laut Kommission
zwar um Ungleichgewichte; sie sind aber nicht als exzessiv zu bezeichnen.
Die deutschen Exportüberschüsse sind Ausdruck der
hohen Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen,
({0})
darunter zahlreiche kleine und mittelständische Unternehmen, die in ihrem Bereich Weltmarktführer sind.
Deutsche Produkte werden nach wie vor auf den Weltmärkten stark nachgefragt. EU-Wirtschaftskommissar
Olli Rehn meinte treffend, er wünsche sich, dass jedes
EU-Land bei Produktion und Ausfuhren so stark sei wie
Deutschland. Das wünschen wir uns auch.
({1})
Im Übrigen finden 43 Prozent der Wertschöpfung
deutscher Exportprodukte in Form von Vorleistungen im
EU-Ausland statt, und 57 Prozent aller deutschen Importe stammen aus anderen EU-Mitgliedstaaten. Es lässt
sich überdies feststellen, dass der Anteil der deutschen
Exporte in Länder außerhalb der EU zunehmend wächst.
So beträgt der Handelsüberschuss mit Drittländern außerhalb der EU 140 Milliarden Euro und der Handelsüberschuss mit Euro-Ländern lediglich 1 Milliarde Euro.
Es schadet also auch hier nicht, eine europäische Perspektive einzunehmen. Die Euro-Zone für sich genommen konnte einen Handelsüberschuss in Höhe von
152 Milliarden Euro erzielen, und das, obwohl der Euro
rund 7 Prozent an Wert zugelegt hat, sich also die Exporte in Relation verteuert haben.
Es gibt übrigens neben der Leistungsbilanz noch andere Indikatoren beim wirtschaftspolitischen Überwachungsverfahren, beispielsweise einen eventuellen
Rückgang des Exportanteils um mehr als 6 Prozent oder
auch die öffentliche Verschuldung sowie die durchschnittliche Arbeitslosenquote. Das alles sind Punkte, in
denen Deutschland, wie Sie wissen, sehr gut dasteht.
Definitionsgemäß messen Leistungsbilanzüberschüsse jenen Teil der Ersparnisse eines Landes, die
nicht im Inland investiert werden. Nicht nur die Kommission, sondern auch die Bundesregierung weisen auf
die im internationalen Vergleich zu niedrige Investitionsquote in Deutschland hin. Auch deshalb sieht der Koalitionsvertrag erhebliche öffentliche Investitionen vor. Wir
investieren in den nächsten vier Jahren 4 Milliarden
Euro in Forschung, 5 Milliarden Euro in die Verkehrsinfrastruktur, 5 Milliarden Euro in die Entlastung der
Kommunen und 6 Milliarden Euro in Bildung und Betreuung.
Mehr wäre immer schön. Dies alles steht allerdings unter
dem Primat der Fortführung einer wachstumsfreundlichen Haushaltskonsolidierung. Wir sollten es eben nicht
den Südländern gleichtun und vor allem kreditfinanziert
konsumieren. Wir stehen zum Ziel, für 2015 einen ausgeglichenen Haushalt vorzulegen.
Im Übrigen hängt der Leistungsbilanzüberschuss
auch mit der Beteiligung an den fiskalischen Rettungskrediten zusammen. Diese sind, wie Sie wissen, momentan notwendig und liegen im europäischen Interesse.
Sie fordern klare politische Ziele und verlässliche
Rahmenbedingungen bei der Energiewende und beim
Breitbandausbau. Auch hier lohnt sich ein Blick in den
Koalitionsvertrag. Der Ausbaukorridor für die erneuerbaren Energien steht: bis zum Jahr 2025 40 bis 45 Prozent der Stromerzeugung aus regenerativen Energien, bis
zum Jahr 2035 55 bis 60 Prozent. Auf europäischer
Ebene verfolgen wir die Zieltrias von Energieeffizienz,
Ausbau der Erneuerbaren und Treibhausgasreduktion.
Auch die Digitalisierung bietet unzählige Chancen für
Innovationen und Investitionen. Die Digitale Agenda
2014 - 2017 gibt von daher ein richtiges Signal. Beim
Breitbandausbau ist es das Ziel, dass es in Deutschland
bis 2018 eine flächendeckende Grundversorgung mit
mindestens 50 Megabit pro Sekunde gibt. Außerdem
werden wir mehr Investitionssicherheit für Netzbetreiber
im ländlichen Raum schaffen.
Nun ist es so, dass von den jährlichen Investitionen in
Deutschland in Höhe von circa 460 Milliarden Euro nur
rund 9 Prozent auf den öffentlichen Sektor entfallen.
Über 90 Prozent der Investitionen werden vom privaten
Sektor geleistet. Es gilt also vor allem, ein investitionsfreundliches Klima in Deutschland zu schaffen bzw.
weiterhin zu bewahren. Das machen wir beispielsweise
auch dadurch, dass wir die Steuern für die Unternehmen
nicht erhöht haben.
({2})
Natürlich spielt die Nachfrageseite eine wichtige
Rolle. Anders als Sie in Ihrem Antrag formulieren, sehen
wir jedoch auch die Angebotsseite. Sie schreiben, dass
durch eine einseitige und sozial unausgewogene Sparpolitik der Bevölkerung große Opfer abverlangt werden,
dies aber ökonomisch und sozial nicht nachhaltig sei. Es
stimmt: Unseren Euro-Partnerländern werden hohe Opfer abverlangt. Dieser Prozess ist langwierig und schmerzhaft für die Bevölkerung der betroffenen Staaten. Aber
gerade dieser Weg ist nachhaltig. Die Ungleichgewichte
im Außenhandel können realistischerweise nur dadurch
verringert werden, dass angebotsseitige Reformen
durchgeführt werden. Diese steigern die Wettbewerbsfähigkeit von ganz Europa.
Die Reformen zeigen auch Wirkung. Die Defizite der
öffentlichen Haushalte der Euro-Staaten sind deutlich
gesunken. Die Unterschiede in den nationalen Leistungsbilanzen haben sich in den vergangenen Jahren
abgebaut. Spanien, Portugal, Irland und Griechenland
haben ihre Exporte spürbar gesteigert. Die Finanzierungssituation in den Krisenländern hat sich deutlich
verbessert. Das ist ein Erfolg der Strategie „Europa
2020“ für Wachstum und Beschäftigung.
Wir haben heute eine positive Entwicklung bei den
Reallöhnen. Mit einem Bruttolohnzuwachs von 2,7 Prozent und einem Reallohnzuwachs von 1,1 Prozent erwarten wir 2014 den größten Lohnzuwachs seit 2010. Wir
betrachten bei der Einführung des Mindestlohns die Lebenswirklichkeiten. Das machen wir im Bereich der
Ausbildungsverhältnisse, im Bereich der Praktika und
im Bereich des Ehrenamts. Wir wollen nicht, dass der
Mindestlohn zulasten der Beschäftigung in Deutschland
geht.
({3})
Unser flexibler Arbeitsmarkt ermöglicht erst die Rekordbeschäftigung von 42,1 Millionen Beschäftigten,
die wir dieses Jahr erwarten. Diese Flexibilität dürfen
wir nicht gefährden. Ebenso würde die Bekämpfung der
kalten Progression zu mehr Binnennachfrage, zu mehr
Binnenkonsum führen.
Lassen Sie mich noch Folgendes betonen: Man wird
diese Ungleichgewichte nicht über Nacht abbauen können. Da werden auch Ihre Anträge wenig bis gar nichts
helfen. Die Steigerung der Binnennachfrage wird in den
nächsten Jahren zur Reduktion des Defizits der Leistungsbilanz beitragen. Wenn die Standortbedingungen
für Investitionen gut sind, kann sich eine Investitionsdynamik im privaten Sektor entwickeln, wodurch die Außenhandelsdefizite automatisch reduziert werden. Wir
stehen gerade am Beginn einer dynamischen Investitionsentwicklung. Die Investitionen steigen sowohl im
privaten als auch im öffentlichen Sektor.
Wir legen dabei die Grundlagen für diese positive Entwicklung und schaffen Stabilität für mehr Investitionen.
Herzlichen Dank.
({4})
Den Beitrag des Kollegen Klaus Ernst von der Fraktion Die Linke haben wir entsprechend unseren Regeln
zu Protokoll genommen.
({0})
Das Wort hat der Kollege Wolfgang Tiefensee für die
SPD-Fraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Dröge, Sie haben uns gebeten,
dem Antrag Ihrer Fraktion zuzustimmen.
({0})
Das wollen wir nicht,
({1})
und zwar zunächst aus dem ganz einfachen Grund, weil
Sie in Ihrer Analyse zum Teil nicht richtig liegen. Der
wesentliche Grund ist aber, dass Sie eine Menge von
dem fordern, was sich in unserem Koalitionsvertrag und
im Haushalt 2014 wiederfindet.
({2})
Deshalb ist der Antrag Ihrer Fraktion im Wesentlichen
überflüssig.
({3})
Wir nehmen die Analyse der EU und die Kritik der
USA selbstverständlich ernst. Wir wissen, dass wir eine
zu geringe Investitionsquote haben.
({4})
Die Exportquote ist hoch; auch das wird kritisiert. Wir
wissen, dass die Binnennachfrage gesteigert werden
muss.
({5})
Aber, ich möchte Sie, Frau Dröge, und Sie, sehr geehrte
Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, zu später
Stunde zunächst mit ein paar Fakten traktieren.
({6})
Von Deutschlands internationaler Wettbewerbsfähigkeit und Exportstärke profitiert im Gegensatz zu Ihrer
Annahme die EU, ja das gesamte Euro-Gebiet. Deutschland ist eine der weltweit offensten Volkswirtschaften.
Dieser Offenheitsgrad wird nicht irgendwie bestimmt,
sondern ergibt sich aus Export und Import im Verhältnis
zum BIP. Unser Offenheitsgrad beträgt 97,7 Prozent, der
der USA 32 Prozent, der Japans 31 Prozent und der Chinas 59 Prozent.
Deutschlands Stärke im Außenhandel ist eben keine
Einbahnstraße. Deutschland ist nicht nur drittgrößter Exporteur, sondern zugleich auch drittgrößter Importeur
der Welt. Ein großer Teil der Importe stammt im Übrigen
von unseren europäischen Nachbarn. Der Importanteil
deutscher Exporte ist mit 42 Prozent höher als in allen
anderen großen Volkswirtschaften, zum Vergleich: USA
11 Prozent, Japan 13 Prozent, Italien 24 Prozent, Frankreich 23 Prozent und Russland 28 Prozent.
({7})
Erfolge deutscher Unternehmen auf den Weltmärkten
schaffen also Beschäftigung und Wohlstand nicht nur bei
uns, sondern durch Import von Vorprodukten und hochwertigen Konsumgütern auch in der Euro-Zone und in
der EU.
({8})
Deutschland trägt also zum Abbau der Ungleichgewichte innerhalb der EU und der Währungsunion bei. Da
die deutschen Importe aus der EU in den vergangenen
Jahren mehr zunahmen als die Exporte in die EU, sind
die Handelsbilanzüberschüsse gegenüber der EU seit
2007 - hören Sie zu, Frau Dröge! ({9})
von 174 Milliarden um ein Drittel auf zuletzt 116 Milliarden Euro zurückgegangen. Es ist kontraproduktiv,
von Wachstum und Wohlstand generierenden sowie
leistungsfähigen und wettbewerbsorientierten Volkswirtschaften mit Leistungsbilanzüberschüssen eine
Verringerung der Wettbewerbsfähigkeit durch expansive
Lohnerhöhungen oder administrative Maßnahmen zur
Reduktion der Sparneigung zu fordern.
({10})
- Schade, dass Sie nicht zuhören! Ihr Antrag, auf den ich
jetzt ganz konkret eingehen möchte, fußt nämlich auf einer falschen Analyse.
({11})
- Ich habe gerade die Fakten dargelegt.
({12})
Ob sie Ihnen gefallen oder nicht, sie widersprechen nun
einmal Ihrer Analyse.
({13})
Nun zu Ihren Argumenten. Erstens. Zur Finanzierung
unter anderem von energetischen Sanierungen soll ein
nationaler Energiesparfonds eingerichtet werden; das ist
eine tolle Idee.
({14})
- Beklatschen Sie sich nicht selbst. - Sie sagen aber
nicht exakt, woher das Geld kommen soll. „Über den
Abbau klima- und umweltschädlicher Subventionen“,
das ist leicht gesagt.
({15})
Wir gehen einen soliden Weg und stellen 2014 aktuell
1,8 Milliarden Euro für die Förderung des energetischen
Bauens und Sanierens zur Verfügung. Hinzu kommen
die 1,5 Milliarden für KfW-Programme wie das Programm „Energetische Stadtsanierung“.
Ihr zweites Argument: Wir sollen Investitionsanreize
für Unternehmen schaffen. Wir legen ja gerade - das
können Sie nachlesen - mit unserer stärkeren Ausrichtung auf Wirtschaftspolitik, mit Investitionen und Innovationen den Grundstein dafür, dass Investitionsanreize
gegeben werden.
({16})
Wir haben die Investitionen des Bundes in den Jahren
2014 bis 2018 - der Kollege hat es bereits angesprochen - um insgesamt 7 Milliarden Euro erhöht.
({17})
Im Rahmen des Europäischen Struktur- und Investitionsfonds ist es uns gelungen, bis 2020 ausreichend Spielräume, nämlich über 27,5 Milliarden Euro, zu gewinnen.
Wir reden über Industrie 4.0.
({18})
Das wird Anreize schaffen. Wir wollen das Programm
ZIM, das Zentrale Innovationsprogramm Mittelstand,
auf hohem Niveau, 513 Millionen Euro, fortführen. Die
für Forschung und Entwicklung vorgesehenen 2,5 Milliarden Euro sind schon angesprochen worden.
({19})
Wir wollen staatliche Investitionen erhöhen. Sie wissen,
dass wir in die Verkehrsinfrastruktur 5 Milliarden Euro
investieren wollen. Das müsste Sie eigentlich begeistern.
Beifall bitte von Ihrer Seite!
({20})
Außerdem wird es Investitionen in die Kinderbetreuung,
in Schulen und Hochschulen geben.
Drittes Argument: europäische Investitionsprogramme auflegen. Durch die erweiterte Kreditvergabe
der Europäischen Investitionsbank haben wir deren Kapazitäten ausgeweitet. Sie wird allein ein zusätzliches
Kreditvolumen von 20 Milliarden Euro ausreichen.
Nächstes Argument: Mindestlohn zügig und flächendeckend einführen. Sie wissen ganz genau, warum wir
erst 2017 für einige Unternehmen den Mindestlohn einführen, weil wir nämlich - das müsste auch Ihnen genehm sein - die Tarifbindung in unserem Land stärken
wollen. Der gesetzliche Mindestlohn in Höhe von
8,50 Euro wird die Binnennachfrage stärken.
({21})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Fakten
zeigen, dass Sie mit Ihrem Antrag nicht richtig liegen.
Die Analyse Ihrer Argumente zeigt,
({22})
dass die falschen Instrumente angewendet werden.
({23})
In unserem Regierungsprogramm und dem Haushalt
2014 steht die richtige Antwort auf das, was wir von der
EU hören.
({24})
Das wird erfolgreich sein.
Vielen Dank.
({25})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/978 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin
Andreae, Anja Hajduk, Volker Beck ({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Fördermitteltransparenz erhöhen
Drucksache 18/980
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({1})
Innenausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsauschuss
Interfraktionell ist vereinbart, die Reden zu Proto-
koll zu geben.1)
1) Anlage 4
Vizepräsidentin Petra Pau
Ebenfalls interfraktionell wird die Überweisung der
Vorlage auf Drucksache 18/980 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie
damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss der heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 4. April 2014, 9 Uhr,
ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen alles
Gute bis zum Beginn morgen früh.