Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie zu
unserer Plenarsitzung . Bevor wir in die Regierungsbefragung eintreten, möchte ich Sie auf die interfraktionelle
Vereinbarung aufmerksam machen, den Tagesordnungspunkt 18 - da geht es um den Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung - nach dem Tagesordnungspunkt 2 mit einer Debattenzeit von 60 Minuten
aufzurufen . Darf ich dazu Ihr Einvernehmen feststellen? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann können wir
nachher so verfahren .
Ich rufe jetzt unseren Tagesordnungspunkt 1 auf:
Befragung der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat als Thema der heutigen Kabinettssitzung mitgeteilt: Bericht der Bundesregierung
zur internationalen Kooperation in Bildung, Wissenschaft und Forschung 2014 - 2016.
Dafür erhält wie üblich das Wort für einen einleitenden fünfminütigen Bericht die zuständige Bundesministerin für Bildung und Forschung, Frau Dr . Wanka . Falls
es, unabhängig vom Bericht, schon feste Wortmeldungsabsichten gibt, bitte ich, mir diese anzuzeigen; dann kann
ich schon einmal mit dem Sortieren der Fragen beginnen . - Bitte schön, Frau Wanka .
Vielen Dank . - Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren Abgeordnete! Meine Damen und Herren!
Wir hatten heute im Kabinett den Bericht der Bundesregierung zur internationalen Kooperation in den Themenfeldern Bildung, Wissenschaft und Forschung . Das ist
der erste Bericht dieser Art . Wir werden ihn auf Wunsch
des Bundestages alle zwei Jahre erstellen. Ich finde das
sehr gut . In diesem Bericht ziehen wir Bilanz über die
Jahre 2014 bis 2016 . Es gibt bereits - vom Deutschen
Akademischen Austauschdienst - einen jährlichen Bericht über die Auslandsmobilität . Der vorliegende Bericht zur internationalen Kooperation beinhaltet weitere
Punkte . Ich glaube, dass dieser Bericht sehr informativ
ist für alle, die wissen wollen, was in der Bundesregierung - nicht nur in unserem Ressort, sondern auch im
BMZ und im Auswärtigen Amt - für die internationale
Kooperation in Wissenschaft und Forschung getan wird .
Ich nenne im Folgenden die vier Punkte, die für uns
ganz entscheidend sind:
Das ist erstens das Thema Mobilität, das wir hier
schon vertieft behandelt haben .
Das sind zweitens - ein Punkt, der in den letzten
Jahren sehr an Intensität gewonnen hat - die internationalen Kooperationen zu Forschungsfragen, die global
eine Rolle spielen, zum Beispiel in Bezug auf die Klimaanpassung . Dabei geht es nicht nur um Konsortien,
sondern auch um Resultate . Hinsichtlich Landnutzung
und Klimaanpassung finden Sie in dem Bericht Informationen über unsere zwei großen Zentren WASCAL und
SASSCAL in Afrika . In diesen Zentren geht es nicht nur
darum, zu erforschen, wie man Land nutzen und Wasser
sparen kann, sondern es geht auch um die Schulung der
Bauern und anderer Betroffener.
Der dritte Punkt ist der gemeinsame Betrieb von
Großforschungsanlagen . Das wird zunehmend wichtiger,
weil auch starke Forschungsnationen wie Deutschland
nicht mehr ohne Weiteres in der Lage sind, solche großen
Anlagen alleine zu betreiben . Der Betrieb und der Bau
solcher Anlagen sind sehr ambitionierte Vorhaben, die
durch die internationale Beteiligung nicht immer einfach
zu koordinieren sind . Das war ein Grund für uns, diesen
Punkt auf der G-7-Wissenschaftsministertagung, die vor
zwei Jahren hier in Berlin stattfand, zu thematisieren und
zu versuchen, ihn gemeinsam anzugehen .
Der vierte wichtige Punkt ist das Thema berufliche
Bildung. Hier finden Sie Angaben und Aussagen zum
Berufsbildungsexport und darüber, wie wir im Bereich
der beruflichen Bildung Länder entsprechend beraten
und unterstützen und welche Pilotvorhaben wir durchführen .
Wir setzen uns in diesem Bericht, der alle zwei Jahre
vorgelegt wird, auch einen Schwerpunkt . Der Schwerpunkt in diesem Jahr ist der Europäische Forschungsraum, bei dem für mich drei Punkte außerordentlich
wichtig sind - dazu finden Sie hier auch Informationen -:
Erstens . Wenn es um die Forschung, um Forschungsrahmenprogramme und um Exzellenz geht, setzen wir in
Europa ganz oben an, weil wir uns nur mit Exzellenz und
exzellenten Ergebnissen im internationalen Wettbewerb
behaupten können . Deswegen machen wir keine Abstriche bei diesem Prinzip .
Zweitens . Wir haben in Europa sehr forschungsstarke
Nationen, die große Beträge aus Horizon 2020, also aus
dem EU-Rahmenprogramm für Forschung und Innovation, erhalten . Die EU-13-Länder haben dagegen bisher
nur einen sehr kleinen Teil aus diesem Forschungsrahmenprogramm bekommen . Es geht nicht darum, hier etwas mit der Gießkanne zu verteilen oder Strukturförderung zu betreiben, sondern um Antworten auf die Fragen:
Wie kann man diese Länder unterstützen? Welche neuen
Instrumente können wir nutzen, um Exzellenz, exzellente Forschung und auch Spitzenforschung in diesen Ländern zu ermöglichen?
Drittens . Wir in Europa sind in der Lage, uns in Bezug
auf Grundlagenforschung, unsere Ideen, weltmarktrelevante Patente und andere Bereiche mit wirklich jedem
zu messen . Es geht aber auch um die Überführung von
Ideen in Produkte und um die Übersetzung in Produktionszyklen - nicht nur in einem Land, sondern in ganz
Europa -, sodass es einen Mehrwert gibt . Deswegen bin
ich ein sehr starker Verfechter der neuen Idee, die auch
von deutscher Seite transportiert wurde, nämlich nicht
nur einen Europäischen Forschungsrat, sondern auch einen Europäischen Innovationsrat zu installieren .
Wir alle wissen, dass sich die internationalen Bedingungen verändern, ob nun durch den Brexit, die neue Situation in den USA oder an anderer Stelle . Ich habe mir
gerade angeschaut, welche Summen in den USA nach
den Planungen 2018 gekürzt werden sollen . Das sind
zum Beispiel über 7 Milliarden Euro bei den National
Institutes of Health und weitere Milliarden an anderen
Stellen .
Seit 2005 ist der Wissenschaftsstandort Deutschland
wesentlich sichtbarer geworden . Das hat sich auch dadurch bemerkbar gemacht, dass wir bei der Anzahl der
ausländischen Studierenden und beim Wissenschaftleraustausch jetzt zu den stärksten Nationen gehören . Ich
glaube, diese Tendenzen werden sich noch verstärken .
Wir sagen: Wir sind für Toleranz . Wir brauchen Köpfe,
die frei denken können . - Das ist immer das Pfund der
Wissenschaft .
Dass wir keine Abwerbestrategie betreiben, halte ich
auch im internationalen Kontext für richtig . Wir machen
aber deutlich, dass wir Wissenschaftler und Forscher einladen möchten, zu uns zu kommen - wenn auch eventuell
nur temporär -, wenn sie das möchten . Auch unter diesem Aspekt ist es, glaube ich, gut, dass wir einen solchen
Bericht haben . So können wir gegenüber dem Bundestag
und der gesamten Öffentlichkeit demonstrieren, was wir
in der Bundesregierung in diesem Bereich tun .
Danke .
Vielen Dank . - Ich habe mir 13 Wortmeldungen notiert . Wenn wir sie jeweils mit einer Minute Frage und
Antwort bewältigt bekommen, dann sind wir genau in
der Zeit, die wir für die Regierungsbefragung eigentlich vorgesehen haben . - Wir fangen mit dem Kollegen
Lenkert an .
Vielen Dank, Herr Präsident . - Frau Ministerin, weltweit gibt es Flüchtlingsströme und Flüchtlingslager . Die
Bundesrepublik Deutschland gibt nicht einmal 2 Prozent
ihrer Mittel in der Flüchtlingshilfe für Bildung aus . Wir
sind uns ja einig, dass es gerade in Krisenregionen ausgesprochen wichtig ist, in Bildung zu investieren, damit in
friedlichen Zeiten der Bildungsstandard so hoch ist, um
einen Wiederaufbau zu ermöglichen .
Welche Möglichkeiten sehen Sie in Ihrem Ministerium, an dieser Stelle entscheidend voranzukommen, um
damit zur Konfliktlösung beizutragen, aber eben auch für
Perspektiven und Chancen der Menschen in ihren Heimatländern zu sorgen und im Prinzip eine humanitäre
Gesellschaft voranzubringen? In Ihrem Vortrag habe ich
nichts davon gehört, wie Sie an dieser Stelle vorankommen wollen, um von Chancengleichheit eben nicht nur zu
reden, sondern sie auch zu erreichen .
In fünf Minuten kann man nicht alles sagen; klar . Zu
dem Thema Unterstützung der Menschen in ihren Ländern findet man in dem Bericht viel. Es ist eine irrige Annahme, dass die Förderung von Bildung in einem Land
automatisch dazu führt, dass weniger Flüchtlinge zu uns
kommen . Die wissenschaftlichen Erkenntnisse besagen,
dass dann dafür in der Regel andere Menschen ihr Land
verlassen .
Nichtsdestotrotz ist uns ganz wichtig, in diesen Ländern Bildung zu stärken . Das geschieht auf vielfältige
Art und Weise, unterschiedlich in den einzelnen Ländern, zum Beispiel durch die Etablierung von beruflicher
Bildung - das bietet den jungen Leuten, die von hoher
Jugendarbeitslosigkeit betroffen sind, an vielen Stellen
Chancen -, durch den Aufbau einer Reihe von Institutionen, also Universitäten, die bilateral betrieben werden,
oder durch Kooperationen mit Fachhochschulen wie beispielsweise bei der Deutsch-Jordanischen Universität .
Durch die Forschungskooperationen wird deutlich
gemacht, wie das Leben in diesen Ländern verbessert
werden kann . Ich denke dabei - das ist ein Forschungsschwerpunkt in Deutschland - an das Thema „Sauberes
Wasser“ . In diesem Bereich sind wir in vielen Staaten
der Welt unterwegs . Das sind alles Möglichkeiten, um
die Lebensbedingungen vor Ort zu verändern und für Generationen Chancen zu schaffen.
Stefan Kaufmann .
Frau Ministerin, wir diskutieren im Rahmen von
Horizon 2020 intensiv über die Frage, wie wir die EU13-Staaten - Sie haben das angesprochen - über Widening Participation teilhaben lassen können . Sie haben in
diesem Zusammenhang auch für die Bundesregierung
gesprochen . Was ist die Strategie der Bundesregierung,
um die Forschungs- und Innovationslücke zu den EU13-Staaten, also den mittel- und osteuropäischen Staaten,
zu schließen?
({0})
Es ist in der Diskussion, im Rahmen der EU dafür
zu werben, diese Lücke zu schließen . Es darf nicht das
Gesetz des Stärkeren gelten . Wir haben bei uns Instrumente geschaffen, die es uns ermöglichen, dass wir zum
Beispiel Forschungsmanager aus diesen Ländern zu uns
einladen, damit sie hier - in Anführungszeichen - „geschult“ werden, um dann gemeinsam mit anderen in größerem Rahmen Projektanträge bei der EU einzureichen .
Es geht also um eine Schulung derer, die in der Lage sein
müssen, Gelder zu akquirieren .
Auch überlegen wir völlig unabhängig davon, ob ein
Instrument wie Spitzencluster, das in Deutschland exzellent funktioniert hat - dies führt auch zu einer Internationalisierung -, in Form eines Spitzenclusterwettbewerbs
auf europäischer Ebene dazu führen würde, dass auch
kleine Partner mit Spezialkenntnissen eingebunden und
dadurch in ihrer Leistungskraft gestärkt werden .
Kollege Gehring .
Vielen Dank, Frau Ministerin . Danke auch, dass wir
den Bericht um 12 .23 Uhr erhalten haben . - Ich habe die
Frage, welche Rolle Forschung und Wissenschaft im Rahmen der G-20-Präsidentschaft und auf dem G-20-Gipfel
in Deutschland spielen werden . Was speisen Sie dort ein?
Damit im Zusammenhang steht auch: Werden Sie denn
den Marshallplan mit Afrika in den Punkten Wissenschaft
und Forschung nachbessern und ergänzen? Das BMZ hat
diese Bereiche offensichtlich gänzlich vergessen. Das
passt nicht zur Strategie der Bundesregierung . Also, einmal eine Frage zu G 20 und einmal zum Marshall plan mit
Afrika: Werden Sie dort tätig oder nicht?
Innerhalb der Bundesregierung versuchen wir immer - ich sage das mit Blick auf die Landnutzungszentren in Afrika oder auf die Gesundheitsnetzwerke in
Subsahara-Afrika -, Wissenschaft und Forschung mit
konkreter Umsetzung zu verbinden . Diese Dinge werden
dann nicht aus unserem Haus finanziert, sondern von der
GIZ oder vom BMZ . Da haben wir die Kooperation in
den letzten Jahren verstärkt . Aber wir haben noch Luft
nach oben, Herr Gehring .
({0})
In dem Marshallplan ist - ich denke, Sie haben die
Orientierung gelesen - vor allen Dingen die Aktivierung
von viel privatem Kapital vorgesehen . Wir müssen also
nicht nur die öffentliche Hand für Entwicklungsprojekte
begeistern .
Diese Linie unterstütze ich sehr, und ich begrüße es,
dass wir dort nicht gegeneinander arbeiten, sondern manches komplementär machen, zum Beispiel wenn wir uns
im Zusammenhang mit Tunesien mit der Frage befassen,
ob wir dort eine Uni oder eine Fachhochschule aufbauen
oder ob wir eher auf berufliche Bildung setzen, und in
welcher Größenordnung wir das angehen . In diesen Fragen versuchen wir, noch besser als in den letzten Jahren
zusammenzuarbeiten .
Was die G 20 angeht, sind die entscheidenden Papiere
zum Beispiel im Bereich globale Gesundheit, etwa zum
Thema Antibiotika, selbstverständlich durch die Gruppe
der Akademien wissenschaftlich erarbeitet worden . Dabei ist die Leopoldina federführend . Wissenschaftlichen
Input gibt es aber auch zum Thema „Bekämpfung des
Hungers“ als einem der wichtigsten Nachhaltigkeitsziele der UN oder zum Thema „Sauberkeit der Meere“ . All
diese Themen sind ohne wissenschaftliche Vorbereitung
und Begleitung nicht denkbar .
Kollege Diaby .
Frau Ministerin, im internationalen Zusammenhang
geht es vor allem um das Thema Solidarität mit Menschen, die geflüchtet sind. Wir sind eines der beliebtesten Länder, wenn es um internationale Mobilität von
erfolgreichen Forscherinnen und Forschern geht . Die
Philipp-Schwartz-Initiative ist eine der erfolgreichsten
Initiativen, die wir momentan in diesem Bereich haben .
Deshalb ist meine Frage: Welche Strategie verfolgt die
Bundesregierung, um diese Initiative zu stärken? Denn
die Nachfrage ist sehr viel größer, als Plätze verfügbar
sind, und die Krisen sind vielfältiger . Deshalb frage ich
Sie nach der Strategie und der zukünftigen Ausrichtung
dieser Initiative und anderen .
Die Philipp-Schwartz-Initiative ist eine kluge Möglichkeit, um Wissenschaftler in bedrohten Ländern zu
unterstützen, und die Arbeitsteilung in der Bundesregierung sieht folgendermaßen aus: Wir finanzieren vor allem Ausgaben in Zusammenhang mit dem Aufenthalt der
Wissenschaftler bei uns, und bei den Instrumenten, die im
Ausland eingesetzt werden, ist das Auswärtige Amt federführend . Ich glaube, dass wir - damit beziehe ich auch
den Außenminister mit ein - gegebenenfalls sehr wohl
in der Lage wären, das auszuweiten bzw . mehr Mittel
zur Verfügung zu stellen . Die Alexander-von- HumboldtStiftung ist gut ausgestattet . Sie hat in den letzten Jahren
hohe Steigerungsraten verzeichnet, und ich kann sie nur
loben: Sie setzt das Geld klug und geschickt ein .
Frau Gohlke .
Vielen Dank . - Die 21 . Sozialerhebung des Deutschen
Studentenwerks, die wir gestern präsentiert bekommen
haben, stellt einen Rückgang der Auslandsmobilität
bei Studierenden höherer Semester fest . Als Barrieren
werden finanzielle Mehrbelastungen, Verlängerung der
Studienzeit und Wegfall von Verdienstmöglichkeiten
genannt . Wie will die Bundesregierung künftig darauf
reagieren, und welche Konsequenzen zieht sie daraus?
Ein Blick auf die Auslandsmobilität zeigt, dass es
durchaus Unterschiede gibt . In der Promotionsphase
zum Beispiel zeigt sich eine größere Zurückhaltung, dafür nimmt sie in der Postdoc-Phase zu . Unterschiede gibt
es auch bei den Studierenden . Wir können nicht in die
Lebensplanung der einzelnen Studierenden eingreifen,
die vielleicht erst einmal ihren Master vor Ort machen
wollen . Durch das Auslands-BAföG und die großzügige Auslegung des Erasmus-Programms wie auch durch
vielfältige internationale Forschungskooperationen ermöglichen wir diesen jungen Leuten, temporär im Ausland zu arbeiten und zu forschen . Wir haben also ein sehr
breites Portfolio an Möglichkeiten, wie wir sie unterstützen können .
Ich glaube - das möchte ich an dieser Stelle noch einmal sagen -, dass wir, was Auslandsmobilität betrifft, inzwischen einen Spitzenplatz einnehmen . Es gab Jahre, in
denen nur wenige Ausland wollten . Jetzt gehen 36 oder
37 Prozent der Studierenden temporär ins Ausland . Das
ist im Vergleich zu den USA oder den Niederlanden ein
sehr hoher Wert . Wir wollen, dass die Zahl weiter zunimmt, aber nicht, indem wir die jungen Menschen zwingen, sondern indem wir attraktive Angebote machen .
Frau Giousouf .
Frau Ministerin, Deutschland befindet sich im internationalen Wettbewerb um die besten Ideen und die
klügsten Köpfe . Wie wollen Sie - Stichwort „Fachkräftemangel“ - diesen Balanceakt zwischen internationaler
Kooperation und unseren eigenen Interessen schaffen?
Internationale Kooperation ist ein wichtiges Mittel,
um die eigene Leistungsfähigkeit zu stärken . Wir versuchen, die weltweit Besten zu den jeweiligen Themenbereichen zu uns zu holen oder mit ihnen gemeinsam zu
arbeiten . Viel Geld für eine exzellente Spitzenforschung
bedeutet auch, dass man internationale Kapazitäten mit
einbeziehen kann und dass man durch diese Kooperationen bzw . durch Forschungsverbünde bessere Ergebnisse
erzielen kann, was aufgrund globaler Herausforderungen
wichtig ist .
Dies kann auch ein wichtiges Instrument sein, um etwas gegen den Fachkräftemangel in Deutschland zu tun .
Ich habe schon mehrfach gesagt: Da wir jetzt einen Spitzenplatz hinsichtlich der Studierenden, die aus aller Welt
zu uns kommen, haben - es sind über 300 000; das gab
es noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik -, plädiere ich dafür, dass wir es wie in den USA handhaben .
Wenn die Studierenden hier in Deutschland fünf Jahre
studiert und beispielsweise einen Ingenieurabschluss
gemacht haben, dann soll sich unsere eigene Wirtschaft
darum bemühen können, dass diese Leute für einige
Zeit - es muss nicht für immer sein - hier in Deutschland
arbeiten . Damit würde die Fachkräftesituation ein Stück
weit entspannt werden . Das ist ein Beispiel . Wir machen
aber noch weitere Schritte, zum Beispiel mit dem Anerkennungsgesetz, um für Deutschland als Arbeitsstandort
zu werben .
Kollege Mutlu .
Danke, Herr Präsident . - Frau Ministerin, ich habe
eine Frage zu der konkreten Lage der sogenannten Exilwissenschaftlerinnen und Exilwissenschaftler aus der
Türkei, die zurzeit in unserem Land leben . Zur internationalen Kooperation gehört auch, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die aufgrund von Bedrohung
der Wissenschaftsfreiheit oder der persönlichen Freiheit
in ihrem Heimatland nicht arbeiten können, in Deutschland eine Chance bekommen, in Sicherheit und Freiheit
zu leben . In diesem Zusammenhang möchte ich gerne
von Ihnen wissen, was die Bundesregierung in den letzten zwölf Monaten konkret getan hat, um drei zentrale
Probleme von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus der Türkei, die in Deutschland Zuflucht gesucht
haben, zu lösen .
Erstens: aufenthaltsrechtlicher Status . Was haben Sie
gemacht, um den unsicheren Status von diesen betroffenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zu beenden? Zweitens: Eine Arbeitsaufnahme in Deutschland
ist oft nicht erlaubt . Was haben Sie getan, damit deren
Lebensunterhalt gesichert ist? Drittens: Was haben Sie
getan, um die Unsicherheit, wie diese Wissenschaftler
ihre Forschungsarbeit in unserem Land fortsetzen können, zu beenden?
Entscheidungen im Zusammenhang mit dem Aufenthaltsrecht müssen die entsprechenden Institutionen im
Einzelfall treffen. Da gibt es keine pauschale Regelung.
Das ist Ihnen so klar wie mir . Wir haben für diejenigen,
die zum Beispiel ein Studium unterbrechen, weil sie die
Türkei verlassen müssen, und in Deutschland weiterstudieren wollen, in den letzten zwölf Monaten und auch
schon davor viele Programme aufgelegt, damit sie bei uns
an den Hochschulen für das Studium in Deutschland fit
gemacht werden können, was Sprache und andere Qualifikationen anbetrifft. Das richtet sich an die Geflüchteten
und auch an die Betroffenen aus der Türkei.
Unsere großen Forschungsinstitutionen haben Programme, die besonders attraktiv sind. Das betrifft die
Max-Planck-Gesellschaft und andere . Sie machen Wissenschaftlern, die schon wissenschaftlich arbeiten, Angebote, ihre Forschungsarbeiten an den Institutionen
in Deutschland temporär weiterzuführen . Das sind ein,
zwei Beispiele dafür, was gemacht wurde, aber der Katalog ist noch umfangreicher .
Kollege Rossmann .
Ich knüpfe an die Frage von Herrn Kaufmann an, was
die europäische Entwicklung angeht . Deutschland ist
stolz darauf, 3 Prozent des Bruttoinlandsproduktes für
Forschung und Entwicklung auszugeben, Griechenland
gibt 0,6 Prozent aus . Unser Eindruck ist, dass die Europäische Kommission die Forschung nicht an die erste
Stelle ihrer Agenda, was das Zukunftsbild Europa 2025
betrifft, setzt. Meine Frage lautet: Teilt die Bundesregierung diese Einschätzung? Was haben Sie als Erklärung
dafür, dass andere Fragen der Europäischen Kommission
wichtiger sind? Was unternimmt die Bundesregierung,
um Forschung und Entwicklung ganz oben auf die Prioritätenliste der Europa-Agenda 2025 zu setzen?
Wir haben in Europa das Ziel, dass bis 2020 jede Nation 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Forschung
und Entwicklung ausgibt . Das ist bei uns natürlich viel
Geld, weil wir ein hohes Bruttoinlandsprodukt haben .
Wir haben große Unterschiede in Europa; Sie haben das
Beispiel Griechenland genannt . Hier greifen zum Beispiel die Strukturfondsmittel, die wir in Europa haben .
Wir haben sie in Deutschland in manchen Bundesländern
genutzt, um zum Beispiel mit EFRE Forschungsstrukturen aufzubauen . Diese Möglichkeit besteht auch dort . Es
liegt aber in der Entscheidung der Länder, ob man die
Mittel für ein Gewerbegebiet oder zum Aufbau von Forschungsstrukturen einsetzt .
Ich bin der Meinung, dass wir gemeinsam dafür kämpfen müssen, dass im Rahmen der Europäischen Union
Forschung und Entwicklung eine höhere Priorität in der
Wahrnehmung haben . Ich erinnere mich an das erste
Juncker- Programm . Da wurde ein Milliardenbetrag aus
dem Programm Horizon 2020 genommen, ausgerechnet aus dem Programm mit der größten Hebelwirkung .
Deswegen engagiere ich mich dafür und werbe auf den
Wegen, die mir offenstehen, und mithilfe der Kanzlerin
dafür, den Blick darauf zu richten, dass für die Zukunft
Europas Forschung das Entscheidende ist . Da sind wir
ganz nahe beieinander .
Herr Kollege Lengsfeld .
Frau Ministerin, ich schließe da unmittelbar an . Beim
Thema „Internationale Kooperation“ geht es ja auch immer um die kontinuierliche Steigerung der Attraktivität
des Innovationsstandortes Deutschland . Als Forschungsund Innovationspolitiker diskutieren wir jetzt sehr intensiv die Einführung einer steuerlichen Forschungs- und
Entwicklungsförderung .
({0})
Wie würden Sie es einschätzen: Würde das die Attraktivität des Innovationsstandorts Deutschland steigern?
Und wenn ja: Wie müssen wir die Förderung ausgestalten, damit die Attraktivitätssteigerung möglichst effektiv
ist?
Steuerliche FuE-Förderung gibt es in verschiedenen
Ländern . Sie ist nicht per se gut oder schlecht . Man macht
sie entweder schlecht wie in Frankreich, wo nämlich die
Projektförderung praktisch auf null reduziert wurde und
nur steuerliche FuE-Förderung gemacht wird, oder man
kann sie auch gut machen .
Wir haben jetzt entschieden: Wir wollen die steuerliche Absetzbarkeit von Forschungs- und Entwicklungsausgaben . Jetzt kommt es darauf an, das so zu gestalten,
dass es für Deutschland passt . Meine Zielsetzung ist,
dass viele kleinere Unternehmen, die bis jetzt nichts
im Bereich FuE tun, weil sie das gar nicht schaffen, dadurch angeregt werden, die Möglichkeiten, die wir über
Fraunhofer- Institute, Fachhochschulen etc . haben, zu
nutzen . Das heißt dann, nicht nur die Absetzbarkeit von
Personalkosten zu ermöglichen, sondern auch dafür zu
sorgen - das ist für mich wichtig -, dass Unternehmen
wie Start-ups, die noch keine Gewinne machen und die
daher von der Absetzbarkeit von bestimmten Kosten
nicht profitieren, gefördert werden.
Ich glaube: Es ist gut, nicht eine Schranke in Form
einer bestimmten Anzahl von Beschäftigten einzuführen,
sondern eine finanzielle Schranke, um die ganze Sache
handhabbar zu machen . Aber ganz entscheidend ist, dass
wir uns die Ausgestaltung von steuerlicher FuE-Förderung in Deutschland genau überlegen . Ansonsten besteht
die Gefahr, dass wir es falsch machen .
({0})
- Sie sind ja gar nicht auf die Idee gekommen, Herr
Gehring .
({1})
Kollegin Hein, bitte .
Vielen Dank, Herr Präsident . - Frau Ministerin, Sie
haben vorhin in Ihrem Eingangsstatement die duale Ausbildung als einen Punkt der internationalen Kooperation
angemahnt, der Ihnen sehr wichtig sei .
Nun wissen wir seit der Kleinen Anfrage der Grünen,
dass im Rahmen dieser internationalen Kooperation zur
dualen Ausbildung nur relativ wenige Ausbildungsplätze entstanden sind und sich einige Länder auch schon
zurückgezogen haben . Das deutet darauf hin, dass die
Passfähigkeit im Hinblick auf die Wirtschaftssysteme der
Länder, die sich bei uns danach erkundigt haben, wie duale Ausbildung geht, offensichtlich doch nicht so groß ist.
Ich frage Sie daher, welche Konsequenzen und welche
Einsichten daraus erwachsen sind . Müssen wir vielleicht
anders vorgehen? Welche anderen Schwerpunkte setzen
Sie, um in der beruflichen Bildung Kooperationen zu befördern?
Man kann keine Pauschalregel machen . Man kann vor
allen Dingen das System, das wir in Deutschland haben,
nicht eins zu eins irgendwohin übertragen . Viele Länder
schauen auf Deutschland: auf unsere geringe Jugendarbeitslosigkeit und auf unsere hohe Wirtschaftskraft . Sie
möchten duale Ausbildung, haben aber zum Teil ganz
andere Vorstellungen .
Beispiel Indien . Der indische Premierminister Modi
wollte flächendeckend in Indien - da geht es gleich um
Hunderte Millionen von Menschen - die schulische Seite
der dualen Ausbildung einführen . Das ist natürlich keine
duale Ausbildung . Deutschland kann vor Ort die Ausbildungsplätze nicht schaffen; das ist nicht unsere Aufgabe.
Aber wir haben zum Beispiel in Indien - ich erläutere das
nur an diesem einzigen Beispiel - einen großen Versuch
gemacht für die Branche der Mechatroniker oder Installateure in Pune . Dort haben wir mit vielen kleinen Unternehmen wirklich einmal duale Ausbildung durchexerziert und gezeigt, wie es in Indien vor Ort funktionieren
kann. Jetzt gibt es den schönen Effekt, dass die Weltbank
der indischen Regierung über 170 Millionen Euro gibt,
damit dieses Element, das im Pilotversuch funktioniert
hat, jetzt in der Fläche in Indien ausprobiert wird .
Frau Lücking-Michel .
Vielen Dank . - Frau Ministerin, ich will ein Thema
ansprechen, das im Bericht breiten Raum einnimmt:
Erasmus+ . Wir haben vor kurzem ein Jubiläum gefeiert und uns über das erfolgreiche Projekt gefreut . Meine
Frage lautet: Was ist aus Ihrer Sicht das Spezifische an
diesem Programm? Und vor allen Dingen: Was kann man
aus den guten Erfahrungen lernen, um es vielleicht in die
Zukunft fortzuschreiben als Programm mit dem jetzigen
Zuschnitt oder mit Blick auf neue Herkunfts- und Zielländer? Kann man es auch auf Austauschprogramme mit
Afrika anwenden?
Da muss man über die Finanzierung nachdenken und
genau wissen, was man will. Für Afrika müssen spezifische Instrumente gefunden werden . Mit Erasmus haben
wir in der Europäischen Union ein Erfolgsprojekt . Über
10 Millionen Menschen haben im Rahmen dieses Programms unterschiedliche europäische Länder kennengelernt . Der Punkt, der mir besonders am Herzen liegt
und wo ich unbedingt Verbesserungsbedarf sehe, ist, die
vorhandenen Mittel für die berufliche Bildung einzusetzen; dafür ist beispielsweise eine verstärkte Werbung erforderlich . Jemand, der beispielsweise Koch oder Bäcker
lernt, sollte die Möglichkeit haben, einen Monat oder sogar ein halbes Jahr in Italien zu verbringen . Das macht
die berufliche Ausbildung attraktiver. Die Gelder sind
vorhanden, werden aber nicht in ausreichendem Maße
genutzt . Das ist ein ganz konkretes Projekt .
Ansonsten müssen wir dafür kämpfen, dass Erasmus
weiterhin attraktiv bleibt . Wir wissen allerdings noch
nicht, wie sich die britische Regierung entscheidet . Im
Moment kann man im Rahmen von Erasmus in Großbritannien ohne Studiengebühren studieren . Wir wissen
aber nicht, ob das so bleibt . Das sind wichtige Punkte .
Die entscheidende Frage lautet: Wie können wir die Attraktivität sichern, auch wenn sich die internationalen
Gegebenheiten verändern?
Frau Walter-Rosenheimer .
Frau Ministerin, die Umsetzung der europäischen
Jugendgarantie war in den vergangenen Jahren immer
wieder von Problemen geprägt . So wurden zum Beispiel
die Mittel für die Beschäftigungsinitiative in geringerem
Umfang abgerufen . Sieht die Bundesregierung da Fehler? Würden Sie das anders aufstellen? Können Sie mir
dazu etwas sagen, bitte?
Dieses Thema beschäftigt die Arbeitsministerin sehr .
Ich kann mich an die Diskussionen hier im Parlament
erinnern, als die Jugendgarantie beschlossen wurde . Damals kamen aus gewissen Richtungen Redebeiträge mit
dem Tenor, das sei viel zu wenig Geld und reiche überhaupt nicht. Aber dann ist der Effekt eingetreten, dass das
Geld nicht genutzt und nicht abgerufen wird . Deshalb
besteht eine Aktivität des Arbeitsministeriums darin, vor
Ort zu unterstützen und zu werben sowie Möglichkeiten zu schaffen, dass die Gelder dort eingesetzt werden.
Dabei spielt aber auch die Frage eine Rolle, ob es nicht
besser ist, dass manches eher in Deutschland passiert als
vor Ort, um die Jugendgarantie langfristig umzusetzen .
Thomas Feist .
Vielen Dank, Frau Ministerin, dass Sie in Ihrer Erklärung auf die berufliche Bildung explizit abgehoben haben. Internationalisierung und berufliche Bildung gehörten vor einigen Jahren noch nicht so selbstverständlich
dazu . Nun haben wir heute im Ausschuss über Forschung
und Innovation und auch darüber diskutiert, inwiefern
Menschen mit einem höheren Berufsabschluss im Rahmen der beruflichen Aus- und Weiterbildung einen wichtigen Beitrag zu Innovationen leisten . Sie haben Ihre Idee
der europäischen Innovationszentren dargelegt . Welche
Rolle müssten dort diejenigen spielen, die in Deutschland beispielsweise als Meister, Techniker und Fachwirte
tätig sind? Wie könnten sich Technologie und Forschung
in diesem Bereich befruchten?
Es ist schwierig, diese Frage zu beantworten, weil wir
uns noch auf dem Weg befinden. Wie kann ein Europäischer Innovationsrat aussehen? Was kann er leisten?
Welche Struktur ist vorstellbar? Dazu hat Kommissar
Moedas im April einen ersten Vorschlag gemacht . Darüber wird nun in den Ausschüssen diskutiert . Der von
Ihnen angesprochene Aspekt, wie sich das zum Beispiel
mit dem Erfahrungswissen der Meister und Meisterinnen
verbinden lässt, ist dort noch kein Thema . Ich greife das
aber gerne als Anregung auf .
Kollege Gehring .
Vielen Dank . - Frau Ministerin, die EU-Kommission
hat am 7 . Juni sehr zum Bedauern von uns Grünen im
Bundestag und im Europäischen Parlament vorgeschlagen, dass im nächsten EU-Haushalt 500 Millionen Euro
jährlich bis 2020 für Militärforschung veranschlagt werden sollen . Die Staats- und Regierungschefs begrüßten
diesen Vorstoß am 22 . und 23 . Juni einhellig . Auch Frau
Merkel ist für diese zusätzlichen Unsummen für die Militärforschung . Nun möchten wir von Ihnen gerne wissen, wie Sie sicherstellen wollen, dass wichtige zivile
Forschungsprojekte nicht unter mehr EU-Geldern für die
Verteidigungsforschung in finanzieller Hinsicht leiden.
Wir jedenfalls sind der Meinung, dass Friedensforschung
und Forschung zugunsten von Konfliktprävention viel
bedeutsamer und wichtiger sind . Wie wollen Sie sicherstellen, dass das nicht zulasten dieser Forschung geht?
Wenn ich es alleine machen könnte, könnte ich gleich
antworten . Ansonsten sage ich: Ich bin sehr dafür, dass
mit 500 Millionen Euro eine militärische Forschung in
Europa etabliert wird . Das halte ich für zwingend notwendig und richtig . Ich würde außerdem die Friedensund Konfliktforschung nicht im Kontrast dazu sehen.
({0})
Wir fördern diese Forschung in meinem Haus sehr intensiv . Ursula von der Leyen und ich haben uns positioniert .
Wir erwarten - das ist zwingend notwendig - eine klare
Abgrenzung der zivilen Forschung von der militärischen
Forschung; sonst kommen wir in riesige Problemlagen .
Horizon 2020 muss ein nichtmilitärisches Programm
bleiben . Wir müssen gemeinsam dafür kämpfen, dass
nicht der bequeme Weg gegangen wird und ein Teil der
Forschungsausgaben dort hineinfließt. Die Gefahr ist
nicht ganz von der Hand zu weisen .
({1})
Kollege Mutlu .
Danke, Herr Präsident . - Ich möchte an meine Frage
von vorhin anknüpfen und fragen: Frau Ministerin, was
hat die Bundesregierung konkret getan im Gespräch mit
dem NATO-Partner und engen Freund Deutschlands Türkei, um sich über die Lage der Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftler, der Akademikerinnen und Akademiker
auszutauschen, insbesondere hinsichtlich der Gefährdung der Freiheit der Lehre und der Wissenschaft und der
Tatsache, dass etliche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die vor circa einem Jahr einen Friedensappell
unterzeichnet haben, fast alle jetzt arbeitslos sind? Viele
von ihnen sind sogar im Gefängnis . Haben Sie diesbezüglich Gespräche mit Ankara und mit Ihrem Konterpart
in der Türkei geführt?
Natürlich habe ich mich sofort, als in der Türkei die
Verfolgung von Wissenschaftlern, die Entlassung von
Dekanen und anderes begannen und wir davon gehört
haben, öffentlich positioniert und klargestellt, wie wichtig Wissenschaftsfreiheit ist und was die Erwartung aus
deutscher Sicht ist . Wir sind mit dem Auswärtigen Amt,
das dort die engsten Beziehungen hat, aber auch mit dem
deutschen Botschafter in der Türkei in Kontakt . Wir haben darüber hinaus direkte Gespräche zum Beispiel mit
dem YÖK-Präsidenten über diese Themen geführt, wobei das nicht - ich glaube, das werden Sie mir bestätigen - sehr einfach war .
Wenn ich jetzt niemanden übersehen habe, gibt es zu
diesem Themenkomplex keine weiteren Fragen mehr .
Dann schließe ich diesen Teil der Regierungsbefragung . - Vielen Dank, Frau Ministerin .
Gibt es Fragen zu anderen Themen der heutigen Kabinettssitzung? - Das ist nicht der Fall .
Gibt es sonstige Fragen an die Bundesregierung? Das ist der Fall . Volker Beck, bitte .
Vielen Dank, Herr Präsident . - Meine Damen und
Herren, ich komme zurück auf eine Frage, die ich der
Bundesregierung schon am 31 . Mai 2017 in der Regierungsbefragung gestellt habe . Es ist eine Frage zu einer
Konferenz im Auswärtigen Amt zur Friedensverantwortung der Religionen . Ich habe nach Herrn Torabi vom
Islamischen Zentrum in Hamburg gefragt, einem regelmäßigen Teilnehmer an den Al-Quds-Demonstrationen .
Staatsminister Michael Roth antwortete damals:
Es war eine Einladung zum Dialog, und dieser Einladung zum Dialog haben viele Folge geleistet, aber
nicht Herr Torabi .
In der taz sagte Herr Torabi am 5 . Juni 2017:
Und es ist wahr, dass ich an dieser Friedenskonferenz teilgenommen habe .
Auf Nachfrage in der letzten Sitzungswoche antwortete mir das Auswärtige Amt:
Bei der eigentlichen Konferenz von 100 Religionsvertretern vom 21 . bis 23 . Mai war Herr Dr . Torabi
nicht präsent .
Der Bild-Zeitung sagte das Auswärtige Amt am
13 . Juni 2017:
Herr Torabi hatte keine Einladung zu dieser Konferenz .
Vor diesem Hintergrund, Herr Roth, frage ich Sie:
Welcher Einladung, die Herr Torabi erhalten hat, hat
Herr Torabi nicht Folge geleistet? Wie bewerten Sie diesen Vorgang?
Die Frage richtet sich natürlich an die Bundesregierung . Möglicherweise kann Staatsminister Roth sie für
dieselbe beantworten . - Bitte schön .
Vielen Dank, Herr Präsident . - Herr Kollege Beck,
ich bin verpflichtet, Fragen aus der Mitte des Deutschen
Bundestages nach bestem Wissen und Gewissen zu beantworten . Ich habe auf Ihre sicherlich nicht ganz spontane Frage in der Regierungsbefragung bestmöglich zu
antworten versucht .
Gestatten Sie mir diesen persönlichen Hinweis: Daher zu insinuieren, dass ich nicht zutreffend geantwortet
hätte, weise ich in aller Schärfe von mir . Ich habe über
mein Haus eine Präzisierung meiner damaligen Antwort
auf Ihre Frage, über die ich ja vorher nicht informiert
worden bin, zu leisten versucht, und ich will jetzt noch
einmal klarstellen, dass die Konferenz zur Friedensverantwortung der Religionen, zu der mein Haus eingeladen
hat, aus zwei Veranstaltungselementen bestand: aus einem öffentlichen Teil, zu dem wir insgesamt 1 000 Gäste
eingeladen haben, und aus einem internen Teil, der sich
an 100 religiöse Führerinnen und Führer aller Weltreligionen richtete . Eine Einladung an Herrn Torabi für den öffentlichen Teil der Veranstaltung wurde ausgesprochen .
Dies sehe ich auch als eine Einladung zum Dialog . Diese
Einladung hat er auch wahrgenommen . Aber es ist keine
Einladung ausgesprochen worden für den internen Teil .
Dies haben wir schon präzisiert . Ich bin dankbar dafür,
dies hier im Bundestag noch einmal so beantworten zu
können .
Zusatzfrage, Herr Beck .
Ich will Sie nicht interpretieren; deshalb will ich es
einfach fragen . Also, hat Herr Torabi eine Einladung
erhalten, der er nicht Folge geleistet hat, wie Sie in der
Antwort gesagt haben? Ich will gar nicht zum Ausdruck
bringen, dass Sie da irgendwie vorsätzlich etwas Falsches gesagt haben; ich möchte bloß wissen: War der
Satz als umfassende Information des Parlaments damals
richtig oder falsch? Hat Herr Torabi eine Einladung erhalten, der er nicht Folge geleistet hat, oder war die Aussage von Ihnen in der Befragung einfach ein Versehen,
was ich vollständig akzeptieren würde? Ich möchte zu
diesem Vorgang bloß endlich eine wahrheitsgemäße Antwort bekommen .
Herr Präsident! Herr Kollege Beck, Sie insinuieren, dass wir nicht wahrheitsgemäß geantwortet haben .
Selbstverständlich haben wir dies getan .
({0})
Ich habe darauf hingewiesen, dass Herr Torabi zu dem öffentlichen Teil der Veranstaltung eine Einladung erhalten
hat. Dieser Einladung zu einer öffentlichen Veranstaltung
hat er Folge geleistet; er hat daran teilgenommen . Eine
Einladung zum Dialog, die sich auf die interne Veranstaltung bezieht, hat Herr Torabi nicht bekommen . Er konnte
einer solchen Einladung überhaupt nicht Folge leisten,
weil er gar nicht eingeladen war .
({1})
Ich finde das jetzt eigentlich hinreichend übersichtlich .
Die nächste Frage hat die Kollegin Dröge .
Vielen Dank, Herr Präsident . - Wir haben in den letzten Tagen den Medien einige handelspolitische Neuigkeiten entnehmen dürfen . Einmal haben die Süddeutsche
Präsident Dr. Norbert Lammert
Zeitung und die Tagesschau über Verhandlungsdokumente zu dem geplanten EU-Japan-Abkommen berichtet .
Zum anderen hat sich Frau Merkel gestern gemeinsam
mit dem amerikanischen Handelsminister, Herrn Ross,
für eine Fortsetzung der Verhandlungen zum geplanten
TTIP-Abkommen ausgesprochen . Aus diesem Grunde
frage ich die Bundesregierung:
Die erste Frage: Über das EU-Japan-Abkommen soll
es auf dem EU-Japan-Gipfel am 6 . Juli eine politische
Einigung geben . Kann die Bundesregierung bestätigen,
dass es bislang keine abgeschlossenen Verhandlungsdokumente zu diesem Abkommen gibt?
Die zweite Frage: Wäre es aus Sicht der Bundesregierung denkbar, ein solches Abkommen ohne Schiedsgerichte - ISDS oder ICS - abzuschließen?
Die dritte Frage: Kann die Bundesregierung darlegen, wie die Gremien zur regulatorischen Kooperation
in diesem EU-Japan-Abkommen ausgestaltet sein sollen? Also: Wer ist in diesen Gremien, und wie sind die
Parlamente an der Fortentwicklung des Vertragstextes
beteiligt?
({0})
Bitte schön, Frau Gleicke .
Liebe Kollegin Dröge, wie heute Vormittag im Ausschuss schon länger vorgetragen, ist es so, dass die Verhandlungen mit Japan noch nicht abgeschlossen sind,
sondern weiterlaufen . Am 6 . Juli soll es eine Einigung
in groben Zügen geben . Verhandlungen sind jedoch auf
jeden Fall bis zum Ende des Jahres angesetzt .
Ob es ein Kapitel zu Schiedsgerichten gibt, ist noch
nicht geklärt . Wir setzen uns als Bundesregierung dafür
ein, dass Investor-Staat-Streitigkeiten durch einen unabhängigen, transparenten Investitionsgerichtshof mit
öffentlich ernannten Richtern und einem Berufungsmechanismus - vergleichbar dem, was wir bei CETA haben - entschieden werden . Das hätte den Vorteil, dass wir
das dann in mehreren Abkommen verabredet hätten .
Ansonsten verweise ich gern auf Ihre 39 Fragen umfassende Kleine Anfrage, die wir am Montag auf 17 Seiten hinlänglich beantwortet haben .
Es gibt noch eine Nachfrage . - Bitte schön .
Vielen Dank . - Ich möchte noch einmal nach den
Gremien fragen, die es nach JEFTA geben soll, weil Sie
das jetzt nicht beantwortet haben, weil das in der Antwort auf die Kleine Anfrage nicht beantwortet wurde und
weil das auch schon in CETA eine offene Frage war. Wer
soll in diesen Gremien sitzen, etwa im Joint Committee,
das nach Vorstellung der Bundesregierung den Vertragstext weiterentwickelt, und welche Kompetenzen sollen
diese Gremien bei der Fortentwicklung des Abkommens
haben? Dazu muss die Bundesregierung ja eine Haltung
haben . Und: Wie sollen die Parlamente, sowohl das Europaparlament als auch der Deutsche Bundestag, bei der
Fortentwicklung des Abkommens eingebunden werden?
Bei CETA entscheidet über diese Fragen jetzt das Bundesverfassungsgericht, weil sie nicht ausreichend geklärt
sind . Das könnten Sie bei JEFTA besser machen, wenn
Sie eine Haltung dazu hätten .
Frau Kollegin Dröge, die Bundesregierung hat eine
Haltung . Die Europäische Union verhandelt mit Japan
dieses Abkommen . Wir nehmen im Rahmen unserer
mitgliedstaatlichen Treffen Einfluss auf diese Verhandlungen . Der Bundestag bekommt die Informationen über
EuDoX. Dort findet man die Dokumente, die dem Parlament regelmäßig zur Verfügung gestellt werden . Es liegt
in der Natur der Sache, dort jetzt noch keine endgültigen
Papiere vorzufinden, da die Verhandlungen noch nicht
abgeschlossen sind . Deswegen können wir Ihre Frage bezüglich der Mechanismen nicht beantworten . Wir halten
Sie gerne über das weitere Verfahren auf dem Laufenden . Es ist nicht der Unwille der Bundesregierung, aber
es gibt noch keine Ergebnisse .
Kollege Lenkert .
Vielen Dank, Herr Präsident . - Es geht um dasselbe
Thema . Wie aus Dokumenten bekannt wurde, ist das
Verhandlungsmandat von 2012 . Die Verhandlungen zwischen Japan und der EU sind weit fortgeschritten, zumindest wenn man den geliebten Dokumenten Glauben
schenken darf . Die Fragen, die mich bewegen, lauten:
Wann beabsichtigt die Bundesregierung, den Deutschen
Bundestag über das Verhandlungsmandat, das der EU
übertragen worden ist, zu informieren? Wie wird den
Bundestagsabgeordneten ermöglicht, Zwischenstände so wie bei TTIP, den Verhandlungen mit den USA - zu
erfahren? Kann die Bundesregierung heute sagen, ob es
ein reines EU-Handelsabkommen - das behauptet die
EU-Kommission - oder ein gemischtes Abkommen ist?
Diese Fragen bewegen mich so wie auch die folgende
Frage: Inwieweit hat die Bundesregierung darauf gedrungen, dass auch Sozial-, Umwelt- sowie Gesundheitsschutzstandards in das Abkommen aufgenommen
werden und nicht nur die Interessen von Investoren verteidigt werden?
Auf Ihre Fragen antworte ich Ihnen gerne . Das Verhandlungsmandat würden wir gerne veröffentlichen.
Unterdessen haben wir auch die EU-Kommission davon
überzeugen können, allerdings liegt noch nicht die Zustimmung aller Mitgliedstaaten vor . Sie wissen, dass das
ein EU-Verhandlungsmandat ist . Aber wir bemühen uns
darum .
Zum Zweiten würde ich Ihnen gerne vorschlagen, so
wie Frau Dröge, in EuDoX nachzusehen . Das ist die Dokumentationssammlung des Deutschen Bundestages, in
der wir den Bundestagsabgeordneten die zur Verfügung
stehenden Informationen immer bereitstellen .
Die Bundesregierung setzt sich bei allen Verhandlungen zu Freihandelsabkommen für ein starkes Nachhaltigkeitskapitel ein . Wir wollen dort zum Beispiel die
Ratifizierung der ILO-Kernarbeitsnormen und auch die
Themen Umweltschutz, Klimaschutz und viele andere
mehr verankern . Das ist unser Ziel . Ob es sich um ein
gemischtes oder ein EU-only-Abkommen handelt, wird
dann zu beantworten sein, wenn uns alle Verhandlungsergebnisse zur Verfügung stehen .
Noch eine Zusatzfrage?
Ja . - In EuDoX sind keine Verhandlungsprotokolle,
keine Dokumente und keine Vertragstexte zu finden.
Insofern fällt es einem Bundestagsabgeordneten ausgesprochen schwer, den Stand nachvollziehen zu können .
Wir sollen aber darüber beschließen .
Die nächste Nachfrage: Haben Sie sich im Rahmen
dieser Verhandlungen zumindest dafür eingesetzt, dass
der kommerzielle Walfang von Japan eingestellt wird?
Oder ist auch das für Sie kein Thema?
Herr Kollege Lenkert, ich habe Ihnen schon gesagt,
dass die Verhandlungen noch nicht abgeschlossen sind
und es daher noch keine entsprechenden Ergebnisse gibt .
Die können sich demzufolge auch nicht in EuDoX befinden . Sie fragten explizit nach Zwischenergebnissen . Da
werden Sie sicher bei EuDoX fündig werden .
({0})
Zur Frage des Walfangs ist ganz klar: Walfang und die
Einfuhr von Walfleisch in die EU sind verboten. Daran
wird auch durch dieses Abkommen nichts geändert . Das
Thema Nachhaltigkeitskapitel habe ich Ihnen eben schon
erläutert .
Kollege Mutlu .
Herr Präsident, ich habe auch eine Frage an die Bundesregierung . Es gibt erneut Medienberichterstattungen
darüber, dass Mitglieder dieses Hauses, also Bundestagsabgeordnete, vom türkischen Geheimdienst in Deutschland ausgespäht werden . Das ist nach Februar bereits das
zweite Mal, dass das veröffentlicht wird. Ich würde gerne von der Bundesregierung wissen, ob seit dem ersten
Vorfall oder den entsprechenden Berichterstattungen und
Nachweisen diesbezüglich Gespräche mit der türkischen
Regierung stattgefunden haben, dass es sich nicht gehört,
Abgeordnete hier oder drüben vom Nachrichtendienst
des jeweiligen Partnerlandes abzuhören oder zu observieren .
Ich nehme einmal an, dass das Innenministerium antworten will . Oder das Außenministerium? Verständigen
Sie sich bitte .
Herr Präsident! Herr Kollege Mutlu, in aller Klarheit:
Ja, das haben wir immer wieder deutlich angesprochen,
haben auch auf die Konsequenzen hingewiesen und unserer größten Sorge darüber Ausdruck verliehen . Dem
kann ich nichts weiter hinzufügen .
({0})
Dann frage ich nach: Welche Konsequenzen ziehen Sie jetzt aus den jüngsten Vorfällen? Was werden
Sie jetzt konkret tun, damit unser Partnerland und der
EU-Beitrittskandidat Türkei Ihren Wünschen endlich
Gehör schenkt?
Eine der Konsequenzen, Herr Präsident, Herr Kollege
Mutlu, ist sicherlich, dass dies alles andere als vertrauensbildend ist und dass das auch die notwendigen Gespräche zwischen Deutschland und der Türkei nicht befördert; das Gegenteil ist eher der Fall . Trotzdem bleiben
wir weiter in dem Dialog, und wir werden dies abermals
in aller Deutlichkeit zur Sprache bringen . Wenn ich von
uns rede, meine ich nicht alleine das Auswärtige Amt,
sondern da beziehe ich natürlich die verschiedenen Ressorts inklusive des Kanzleramtes mit ein .
Weitere Fragen an die Bundesregierung sehe ich nicht .
Ich beende damit die Regierungsbefragung .
Ich rufe Tagesordnungspunkt 2 auf:
Fragestunde
Drucksache 18/12876
Hier werden die Fragen, wie üblich, in der Ihnen bekanntgegebenen Reihenfolge der Ressorts aufgerufen .
Wir beginnen heute mit dem Geschäftsbereich des
Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und
Jugend . Für die Beantwortung steht die Parlamentarische
Staatssekretärin Caren Marks zur Verfügung .
Ich rufe zunächst die Frage 1 der Kollegin Corinna
Rüffer auf:
Warum ist die für die Conterganstiftung zuständige Datenschutzbeauftragte nur für die Geschäftsstelle der Stiftung
zuständig, ausdrücklich aber nicht für andere Organe der Stiftung, wie zum Beispiel Vorstand oder medizinische KommisParl. Staatssekretärin Iris Gleicke
sion, obwohl nach § 4f des Bundesdatenschutzgesetzes für alle
Organe und Bereiche der Stiftung ein interner Datenschutzbeauftragter bestellt sein müsste ({0}),
und wann wird die Bundesregierung diesen Zustand ändern?
Vielen Dank, Herr Präsident . - Liebe Frau Kollegin
Rüffer, gerne beantworte ich Ihre Frage wie folgt: Die für
die beim Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben angesiedelte Geschäftsstelle der Conterganstiftung zuständige Datenschutzbeauftragte ist zugleich Beauftragte für den Datenschutz des BAFzA . Sie
hat dem Vorstand der Conterganstiftung mitgeteilt, dass
sie nur für Angelegenheiten der Geschäftsstelle, nicht
aber für die gesamte Stiftung zuständig ist .
Die Bemühungen des Vorstandes um eine Datenschutzbeauftragte oder einen Datenschutzbeauftragten
für die gesamte Stiftung, sehr geehrte Frau Kollegin, sind
noch nicht abgeschlossen . Für uns, für die Bundesregierung, war es bisher nicht geboten, tätig zu werden, da der
Vorstand der Conterganstiftung sich im Einvernehmen
mit der Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die
Informationsfreiheit aktiv um eine Lösung bemüht . Im
Auftrag des Vorstandes der Stiftung werden zudem derzeit Datenschutzrichtlinien für den Umgang mit Daten
und auch Akten der Conterganstiftung erarbeitet .
Zusatzfrage?
Ja . - Vielen Dank für die Beantwortung der Frage bis
hierhin . Die Bundesbeauftragte für den Datenschutz und
die Informationsfreiheit hat in ihrem 26 . Tätigkeitsbericht vom Mai 2017 - er ist also wenige Wochen alt festgestellt, dass die Conterganstiftung erstens - ich zitiere - „sehr sensible Gesundheitsdaten“ verarbeitet und
dass es zweitens - ich zitiere wiederum - „ungewöhnlich“ ist, dass die Bestellung der Datenschutzbeauftragten „sich nicht auf die ganze Conterganstiftung erstreckte, sondern ausschließlich auf ihre Geschäftsstelle“, nicht
eben auf andere Organe wie den Vorstand . Sie zog daraus
den Schluss, die Stiftung explizit darauf hinzuweisen,
dass die Conterganstiftung einen Datenschutzbeauftragten braucht, der für alle Organe und Bereiche zuständig
ist . Das lässt an Deutlichkeit nichts vermissen . Die Frage
ist: Warum wird das nicht zügig umgesetzt?
Sehr geehrte Frau Kollegin, in Bezug auf Ihre Nachfrage kann ich nur noch einmal unterstreichen: Erstens ist
die Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit da entsprechend eingebunden . Zweitens geht es, wie ich schon ausführte, darum, eine Lösung
für die gesamte Stiftung zu finden, weil es grundsätzlich
als notwendig angesehen wird . Es gibt dafür noch keine Lösung, aber das liegt nicht daran, dass man nicht
willens ist, es schnellstmöglich umzusetzen, sondern
daran - darauf bezieht sich Ihre nächste Frage, die ich
gleich beantworte -, dass man noch kein entsprechendes
Personal gefunden hat .
Ich rufe die Frage 2 der Kollegin Corinna Rüffer auf:
Welche Datenschutzverstöße und -probleme durch die
Conterganstiftung sind der Bundesregierung bekannt, und
was wird sie unternehmen, um Datenschutzverstöße durch die
Conterganstiftung künftig zu verhindern?
Liebe Frau Kollegin Rüffer, Ihre Nachfrage geht im
Prinzip in Ihre zweite Frage über . Uns als Bundesregierung ist sehr wohl bekannt, dass es über die Fragen des
Datenschutzes unterschiedliche Meinungen zwischen
dem Vorstand und einem Stiftungsratsmitglied sowie
zwischen der Stiftung und einer Betroffenen gibt. Die
Meinungsverschiedenheiten werden derzeit vor Gericht
ausgetragen .
Ich will an dieser Stelle deutlich machen, dass derzeit
erstens entsprechende Datenschutzrichtlinien erarbeitet
werden und zweitens die Conterganstiftung so schnell
wie möglich eine Beauftragte für den Datenschutz bekommen soll .
Ich möchte noch darauf hinweisen: Der Stiftungsvorstand hat bei Datenschutzbeauftragten anderer Ministerien nachgefragt, ob die Bereitschaft vorhanden ist, das
Amt der Datenschutzbeauftragten in der Conterganstiftung zu übernehmen; denn dem Vorstand ist natürlich daran gelegen, eine Datenschutzbeauftragte für die gesamte
Stiftung zu bekommen . Leider hat der Stiftungsvorstand
bisher nur Absagen bekommen . Es liegt also nicht daran,
dass der Stiftungsvorstand nicht aktiv ist, sondern daran,
dass es auf Nachfragen bisher leider nur Absagen gegeben hat . Die Juristen der Geschäftsstelle der Conterganstiftung sind leider nicht bereit, die Fortbildungen, die
für dieses Amt notwendig sind, zu beginnen . Ich möchte
deutlich machen, dass es ein ganz aktives Bemühen gibt
und sich alle einig sind, dass eine Datenschutzbeauftragte für die Conterganstiftung notwendig ist . Auch ich hoffe, dass die Stelle schnell besetzt wird .
Frau Rüffer.
Sie sprechen von Meinungsverschiedenheiten . Allen,
die sich mit der Stiftung auskennen, sind diese hinlänglich bekannt, aber sie betreffen nicht nur den Datenschutz.
In diesem Fall ist es so, dass die Bundesdatenschutzbeauftragte in dem genannten Bericht schreibt:
Bei einem Besuch der Conterganstiftung zeigten
sich verschiedene datenschutzrechtliche Probleme,
von denen einige ungewöhnlich … waren .
Nun gehe ich davon aus, dass Sie sich im Ministerium
mit diesen Fällen beschäftigt haben . Vielleicht können
Sie uns etwas zu den Verstößen sagen und dazu, was Sie
Präsident Dr. Norbert Lammert
konkret dagegen zu tun gedenken . Es scheint ja mehr zu
sein als eine Meinungsverschiedenheit zwischen den Akteuren . Ansonsten hätte sich die Datenschutzbeauftragte
nicht in dieser Weise geäußert .
Sehr geehrte Frau Kollegin Rüffer, man kann die Stellungnahme der Datenschutzbeauftragten so bewerten,
wie Sie es getan haben . Man kann sie auch so bewerten,
dass es aufgrund der Einlassungen der Datenschutzbeauftragten notwendig ist, dass die gesamte Stiftung eine
Datenschutzbeauftragte bekommt . Die Personalsuche
wird aktiv angegangen .
Sie stellen für sich fest, dass Verstöße vorliegen . Ich
kann nur wiederholen: Es gibt unterschiedliche Meinungen darüber, ob es sich um Verstöße handelt . Die
Meinungsverschiedenheiten werden derzeit vor Gericht
ausgetragen . Ich bitte um Verständnis, dass ich mich
nicht - so ist es üblich - zu laufenden Gerichtsverhandlungen äußern werde .
Weitere Zusatzfrage .
Dann würde ich mich gerne dazu äußern . In der
102 . Stiftungsratssitzung - das war am 15 . Juni 2016 hat ein Betroffenenvertreter berichtet, dass sämtliche
beantragten und bewilligten spezifischen Bedarfe aller
Conterganopfer unter Angaben des jeweiligen Aktenzeichens und der Schadenspunkte unverschlüsselt und ungesichert per Rundmail an einen größeren Verteiler verschickt wurden . Jetzt würde mich interessieren: Stellen
Sie diesen Fakt infrage? Wenn Sie das nicht tun, dann
ist klar, dass hier offensichtlich ein Problem besteht. Ich
möchte auch wissen: Wie soll das Problem zukünftig gelöst werden?
Gelöst wird es im Prinzip dadurch, dass derzeit Richtlinien zum Umgang mit Daten und Akten innerhalb der
Stiftung erarbeitet werden; das habe ich in der Antwort
auf Ihre erste Frage schon deutlich formuliert . Zum anderen soll eine Datenschutzbeauftragte bestellt werden,
die für die gesamte Stiftung zuständig ist . Die Reibungen
und unterschiedlichen Meinungen zeigen, dass klar geregelt werden muss, wie der Umgang mit sensiblen Daten
gehandhabt wird .
Da es zu diesem Geschäftsbereich keine weiteren Fragen gibt, gehe ich zum nächsten Geschäftsbereich, zum
Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Verkehr
und digitale Infrastruktur, über . Hier übernimmt der Parlamentarische Staatssekretär Herr Ferlemann die Beantwortung der Fragen .
Ich rufe zunächst die Frage 3 des Abgeordneten
Matthias Gastel auf:
Welche Konsequenzen für die Vorbereitung einer neuen
Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung ({0}) zieht
die Bundesregierung aus den Tatsachen, dass das Durchschnittsalter der Eisenbahnbrücken in Deutschland in der
Laufzeit der LuFV I und LuFV II weiter angestiegen ist und
die notwendige Anzahl der zu erneuernden Bahnbrücken für
den Ausschluss eines weiteren Substanzverfalls bei weitem
nicht erreicht wurde ({1}), und auf welche Weise möchte die Bundesregierung angesichts der notwendigerweise steigenden Anzahl von
Baumaßnahmen an den für die Aufrechterhaltung eines verlässlichen Schienenverkehrs sensiblen Ingenieurbauwerken
({2}) die Begrenzung negativer Auswirkungen auf den Schienenverkehr beispielsweise in der LuFV III
steuern?
Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort .
Herzlichen Dank . - Sehr geehrte Frau Präsidentin! Ich
beantworte die Frage wie folgt: Der Bund stellte im Rahmen der Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung auch
für die Eisenbahnüberführungen bedarfsgerecht Bundesmittel für Ersatzinvestitionen zur Verfügung . Der Einsatz
der Mittel ist Aufgabe der DB Netz AG .
Herr Gastel .
Das, lieber Herr Staatssekretär, hätte ich jetzt nicht gewusst . Deswegen vielen Dank für diese aufschlussreiche
Information . - Wir haben ja die Situation, dass wir rein
rechnerisch - wenn man einmal von der durchschnittlichen Lebenszeit einer Brücke von 100 Jahren ausgeht
und die Gesamtzahl der Brücken berücksichtigt - pro
Jahr 257 Brücken sanieren bzw . ersetzen müssten . Derzeit ist dies bei nicht einmal der Hälfte der Brücken,
nämlich bei 115, der Fall . Damit ist aber das Ziel nicht
erreichbar, hier tatsächlich nachhaltig eine Verbesserung
der baulichen Substanz herzustellen .
Ich möchte gerne - weil Sie sich ja in der Verhandlung
über die Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung III
befinden - wissen, inwiefern Sie hier bei der Planungskapazität bei der Deutschen Bahn ansetzen wollen . Gibt es
da Kriterien, diese zu bewerten, damit es dann vorangehen kann? Und gibt es die Absicht und auch die Möglichkeit, die Mittel dann so einzusetzen, dass die Deutsche
Bahn ihr Planungspersonal einer Verstetigung der Mittel
anpassen kann?
Herr Kollege, wir befinden uns noch nicht in den
Verhandlungen zu LuFV III . Die werden erst im Herbst
dieses Jahres beginnen . Gleichwohl bereiten wir uns auf
die Verhandlungen zu der neuen Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung vor . Das haben wir in der Weise
gemacht, dass wir im Hinblick auf die künftig notwendige Mittelausstattung der LuFV III sowie auf die daraus
resultierende Bemessung des Bundesbeitrages ein Gutachten in Auftrag gegeben haben, worin auch die sogenannten Eisenbahnüberführungen Bestandteil sind . Das
heißt, wir wissen sehr genau, wie viele Brücken in dem
anstehenden Fünfjahreszeitraum zusätzlich saniert werden sollen und welche Mittel - die man dann in der LuFV
wiederfinden kann - wir dafür aufwenden müssen. Die
Messung erfolgt über die Qualitätskennzahlen .
Im Übrigen läuft die jetzige Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung noch bis einschließlich 2019 . Sie wissen, dass 875 Brücken zu sanieren sind . Ich gehe davon
aus, dass die Bahn diese Qualitätskennzahl auch einhalten wird .
Herr Gastel .
Vielen Dank . - Herr Ferlemann, damit haben Sie mir
schon das Stichwort für meine zweite Nachfrage gegeben . In der derzeit gültigen LuFV II sind 875 Eisenbahnbrücken erfasst . Wir haben aber über 25 000 Brücken . Sie
haben gerade darauf hingewiesen, dass Sie sich in Vorgesprächen befinden. Das heißt, Sie überlegen sich auch
seitens der Bundesregierung: Was muss bei der LuFV III
anders werden? Deswegen schließe ich da die Frage an:
Diskutieren Sie auch darüber, die Anzahl der erfassten
Brücken zu erhöhen und es nicht nur bei den 875 von
insgesamt 25 000 Brücken zu belassen? Beabsichtigen
Sie vielleicht auch, alle Brücken in die LuFV III mit hineinzunehmen?
Ich muss die Frage schon ein bisschen interpretieren,
sonst könnte ich sie gar nicht beantworten . Deswegen
drücke ich es einmal so aus: Wir erfassen alle Brücken,
Herr Gastel, nicht nur die 875 Brücken aus der LuFV II .
Wir haben alle Brücken in dem 34 000 Kilometer umfassenden Netz der DB Netz AG erfasst . Wir überprüfen, in
welchem Zustand sich die einzelnen Brücken befinden.
Das wird in einem festgelegten Abstand für jede einzelne
Brücke gemacht . Daraus ergeben sich Zustandsklassen .
Logischerweise brauchen wir bei den Brücken, die
sich in den Zustandsklassen I oder II befinden, überhaupt
keine weiteren Maßnahmen vorzunehmen . Bei Brücken
in der Zustandsklasse III haben wir in der Regel etwas
größere Überwachungsfristen . Wir gucken lediglich dort
genauer nach, wo die Brücken in ihrem Bestand gefährdet sind . Bei diesen Brücken werden Maßnahmen vorgesehen, und dabei wird wiederum abgeschichtet: Welche
müssen zwingend notwendig in der nächsten Zeit saniert
werden? Wo sind kleinere und wo größere Maßnahmen
notwendig? Das wird dann im Einzelnen festgelegt . Dafür werden auch Mittel hinterlegt . Diese werden über
die Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung zur Verfügung gestellt . Dann kommt es zur Ausführung . Die
nimmt in dem Fall für uns die DB Netz AG vor .
Insofern kennen wir den Zustand der Brücken sehr
genau . Sie kennen ihn übrigens auch sehr genau, weil
Sie mich nach dem Zustand jeder einzelnen Brücke in
Deutschland gefragt haben und Sie von mir bezogen
auf jede Brücke in Deutschland eine explizite Auskunft
bekommen haben . So etwas hat es bisher im Deutschen
Bundestag noch nie gegeben . Sie sollten dankbar sein,
dass wir bereit sind, Ihnen diese Daten zu geben .
Die Frage 4 des Abgeordneten Stephan Kühn wird
schriftlich beantwortet .
Damit leite ich über zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit . Die Parlamentarische Staatssekretärin
Frau Schwarzelühr-Sutter übernimmt die Beantwortung .
Die Frage 5 der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl
wird schriftlich beantwortet .
Ich rufe die Frage 6 der Abgeordneten Rita Stockhofe
auf:
Wann ist mit der Ausschreibung für weitere Labore als das
Senckenberg-Institut für Wolfsgenetik zu rechnen, von denen
der Staatssekretär im Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit Jochen Flasbarth in seinem
Interview mit der taz.die tageszeitung vom 17 . Juni 2017
spricht?
Frau Staatssekretärin .
Rita Schwarzelühr-Sutter, Parl . Staatssekretärin bei
der Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit:
Sehr geehrte Frau Stockhofe, das Senckenberg-Forschungsinstitut, Außenstelle Gelnhausen, ist auf Empfehlung des Ständigen Ausschusses „Arten- und Biotopschutz“ der Länderarbeitsgemeinschaft Naturschutz,
Landschaftspflege und Erholung, kurz LANA genannt,
im Oktober des Jahres 2009 das nationale Referenzzentrum für populationsgenetische Untersuchungen bei Wolf
und Luchs geworden .
Im Interview mit der taz sagte Staatssekretär Flasbarth
wörtlich in Bezug auf die Notwendigkeit, weitere Labore
zu beauftragen:
Wenn die genetische Untersuchung von Rissen ein
Engpass ist, muss man gucken, ob das nicht auch
andere machen können . Darüber reden wir mit den
Ländern .
Derzeit gibt es allerdings keinen Engpass bei der genetischen Bearbeitung von Rissproben . Die reine Bearbeitungszeit liegt bei zehn Werktagen . Daher ist derzeit
eine Beauftragung weiterer Laboratorien im Hinblick
auf populationsgenetische Analysen zum Wolf inklusive
Nutztierrissanalysen nicht erforderlich und auch nicht
geplant .
Frau Stockhofe, haben Sie eine Nachfrage?
Bei welcher Bearbeitungsdauer wäre denn ein „Engpass“ erreicht? Sie haben gerade von einem Durchschnitt
gesprochen . Wir haben Erfahrungsberichte von Praktikern, in denen von einer längeren Zeitspanne gesprochen
wird .
Hat das Senckenberg-Institut festgestellt, dass es sich
bei den eingereichten Proben häufiger um Proben von
Hybriden, also weder Wolf noch Hund, handelte? Andere
Institute, die solche Proben untersucht haben, haben hiervon berichtet und auf ihre Nachfrage beim SenckenbergInstitut eine sehr unfreundliche Antwort erhalten .
Rita Schwarzelühr-Sutter, Parl . Staatssekretärin bei
der Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit:
Das Senckenberg-Institut hat sich natürlich im Laufe
der Zeit weiter darauf eingestellt und die Technik modernisiert . Das ist ein sehr etabliertes Institut . Das Institut
führt Nutztierrissanalysen durch und bestimmt, zu welcher Population die Wölfe gehören . Das SenckenbergInstitut erkennt sicherlich auch, ob es Hybride gibt oder
nicht .
({0})
- Zur Anzahl der gefundenen Hybriden kann ich im Moment keine Auskunft geben .
Ich rufe die Frage 7 des Abgeordneten Oliver
Grundmann auf:
Wodurch qualifiziert sich das Senckenberg-Institut - laut
Bundesregierung ({0}) - als nationales Referenzinstitut für Wolfsgenetik in Deutschland?
Frau Staatssekretärin .
Rita Schwarzelühr-Sutter, Parl . Staatssekretärin bei
der Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit:
Frau Präsidentin! Herr Kollege Grundmann, im Forschungs- und Entwicklungsvorhaben des Bundesamtes
für Naturschutz „Rahmenplan Wolf“ wurde im Jahr 2009
eine konkrete Bewertung von potenziellen Laboren vorgenommen, welche als nationales Referenzzentrum für
genetische Untersuchungen von Großraubtieren infrage
kommen . Hierbei wurde das Aufgabenspektrum sowie
die Fragestellung, die mittels der genetischen Analysen
beantwortet werden sollten, den einzelnen Laboren vorgestellt und um Abgabe eines Angebots gebeten .
Hierbei qualifizierte sich das Senckenberg-Institut
durch die Verwendung von aktuellen Methoden sowie
eine große Erfahrung bei der Bearbeitung von nicht invasiv gesammeltem Probenmaterial . Dies umfasst zum
Beispiel Kot-, Urin- und Haarproben, also nicht nur
Rissproben . Zusätzlich zu der umfangreichen Erfahrung
im Hinblick auf molekulargenetische Methoden konnte
es auch Erfahrungen als Servicedienstleister vorweisen .
Hinzu kam die weithin anerkannte wissenschaftliche Reputation .
Herr Grundmann, möchten Sie eine Nachfrage stellen?
Sehr geehrte Frau Staatssekretärin, vielen Dank für
die Beantwortung der Frage . - In meinem Wahlkreis
häufen sich mittlerweile Wolfssichtungen; wir haben außerdem eine starke Zunahme von Nutztierrissen . Gerade
letzte Woche war in der Zeitung nachzulesen: Die Wölfe
spazieren mittlerweile über die Höfe . In der letzten Woche ist ein Wolf sehr interessiert und neugierig mehrere
Hundert Meter einem Schlepper hinterhergelaufen und
hat überhaupt keine Scheu gezeigt .
Ich habe schon mehrfach von Tierhaltern gehört,
dass ihre Anfragen an das Senckenberg-Institut zur genetischen Bestimmung von Wolfsverdachtsfällen abgelehnt wurden - ganz entgegen Ihrer Beantwortung, die
Sie eben ausgeführt haben . Die Ablehnung erfolgte mit
der Begründung - das kann ich auch zitieren -, dass die
dafür notwendigen Abstimmungen, inklusive Vergabe
neuer Aufträge, Rechnungsadressen und der nicht immer
einfachen Kommunikation, eine erhebliche Mehrarbeit
darstellen und als nicht sinnvoll erachtet werden . - Das
war eine Kommunikation vom Senckenberg-Institut . In
Kurzform dargestellt: Der Aufwand lohnt nicht, es entstehen zu hohe Kosten und eine aufwendige Bürokratie .
Meine Frage: Ist der Bundesregierung bekannt, dass
das Senckenberg-Institut die Annahme von DNA-Proben
verweigert? Und was gedenkt die Bundesregierung zu
unternehmen, damit künftig Anfragen service- und kundenorientiert umfänglich bearbeitet werden?
Rita Schwarzelühr-Sutter, Parl . Staatssekretärin bei
der Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit:
Herr Kollege Grundmann, dieser Vorgang ist uns nicht
bekannt . Wir werden dem nachgehen .
Haben Sie eine zweite Frage? Bitte halten Sie sich an
die Zeit .
Ich habe noch eine Frage zum günstigen Erhaltungszustand der Wolfspopulation, die Sie letztes Mal nicht
ausreichend beantwortet haben . Das Umweltministerium
schreibt, dass eine Neubewertung der Erhaltungspopulation erst im Rahmen der turnusmäßigen EU-Berichtspflicht im Jahr 2019 erfolgen soll. Meine Frage: Hält die
Bundesregierung an einer früheren Bewertung fest bzw .
wird eine Neubewertung als erforderlich angesehen,
wenn wir ein jährliches Wachstum von Wolfspopulationen von mehr als 30 Prozent haben? Ich frage vor allen
Dingen deshalb, weil Wölfe mittlerweile in unmittelbarer
Nähe zu Wohngebieten auftauchen; dort herrscht ein sehr
starkes Annäherungsverhalten vor, und es besteht keine
Scheu mehr .
http://www.taz.de
Rita Schwarzelühr-Sutter, Parl . Staatssekretärin bei
der Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit:
Herr Kollege Grundmann, Stichwort „Monitoring“ .
Es gibt einen Bericht von 2015/2016 über ein Monitoring . Dort ist ganz genau festgelegt, wie die Populationsgröße festgestellt wird . Ich weiß nicht, woher Sie wissen, dass die Wolfspopulation um mehr als 30 Prozent
angewachsen ist; das Verfahren wird beim BfN wissenschaftlich vorgenommen und ausgewertet . Es gibt also
das Wolfs-Monitoring 2015/2016 . Wir sind bei den Vorbereitungen für die Auswertungen des nächsten Monitorings 2016/2017 . Das werden wir natürlich - so wie es
immer war - durchführen .
Im Übrigen darf ich eines noch ergänzen: Sie haben
im Nachgang durchaus noch ausführlich Informationen
zu der Frage, die ich auf Anhieb nicht beantworten konnte, erhalten; das will ich einfach festhalten .
Ich rufe jetzt die Frage 8 des Abgeordneten Albert
Weiler auf:
Mit welchen Laboren arbeitet nach Kenntnis der Bundesregierung das Senckenberg-Institut als nationales Referenzinstitut für Wolfsgenetik in Deutschland zwecks methodischer
Standardisierung der Auswertung von Wolfsspuren zusammen?
Frau Staatssekretärin .
Rita Schwarzelühr-Sutter, Parl . Staatssekretärin bei
der Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit:
Herr Weiler, das Senckenberg-Forschungsinstitut,
Standort Gelnhausen, ist Mitgründer des „CEwolf“-Konsortiums . Dieses Konsortium wurde im Jahr 2014 gegründet und widmet sich der Erforschung der europäischen Wolfspopulation und deren Populations- und
Ausbreitungsdynamik . Seit dem Jahr 2000 breiten sich
Wölfe in Mittel- und Westeuropa weiter aus und besiedeln neue Gebiete, wie etwa Dänemark, Tschechien und
die Niederlande . Durch das Konsortium soll die Vereinheitlichung von Labor- und Auswertungsstandards erreicht werden, um so der Ausbreitungsdynamik des Wolfes Rechnung zu tragen .
Bislang sind vier Mitgliedsländer in diesem Konsortium vertreten . Das ist Dänemark mit dem Department of
Bioscience an der Aarhus University; es ist Deutschland
mit dem Fachgebiet Naturschutzgenetik, SenckenbergForschungsinstitut; es sind die Niederlande mit dem
Animal Ecology Team an der Alterra-Wageningen University und Polen mit dem Institute of Genetics and Biotechnology an der University of Warsaw .
Mittels der Harmonisierung der Labor- und Auswertungsstandards können zukünftig grenzüberschreitende
Individuen sicher den Quellpopulationen zugeordnet
werden . Auch mit zusätzlichen Institutionen sowie Laboren im Ausland wie etwa in Frankreich, Italien oder
der Schweiz werden Proben ausgetauscht und analysiert .
Herr Weiler, wünschen Sie eine Nachfrage?
Ja . - Vielen Dank, Frau Staatssekretärin . Gibt es auch
schon Untersuchungen vom Senckenberg-Forschungsinstitut oder von anderen Instituten, wie man der Wolfspopulation Herr werden will, wenn sie zu groß wird? Ich
weiß, dass die Menschen in meinem Wahlkreis schon
jetzt Bedenken haben, ihre Kinder in den Wald zu schicken, wenn es Wölfe gibt .
({0})
Ich weiß, dass das von dem einen oder anderen belächelt
wird, wie ich sehe, auch von Herrn Lenkert von der Linken . Aber es ist nun einmal so, dass - ich will jetzt nicht
in die Märchenwelt von Rotkäppchen gehen - die Angst
begründet ist . Der Wolf hat eine Rückenhöhe von bis zu
1 Meter, vielleicht sogar noch mehr . Da besteht schon die
Angst, dass man als Kind oder als Erwachsener, insbesondere als Frau, angefallen wird . Gibt es zum zukünftigen Vorgehen schon Vorschläge?
Rita Schwarzelühr-Sutter, Parl . Staatssekretärin bei
der Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit:
Herr Kollege Weiler, wir nehmen die Ängste durchaus ernst . Wir haben darauf reagiert und mit den Ländern
einen runden Tisch eingerichtet . Wir haben die Dokumentations- und Beratungsstelle des Bundes zum Thema
Wolf geschaffen. Wir haben den günstigen Erhaltungszustand noch nicht erreicht . Ich will aber auch festhalten, dass wir in Europa keine Fälle beobachten wie in
Alaska . Der Wolf ist ein wildes Tier, ein Raubtier . Man
muss aber nicht in Panik ausbrechen . Uns liegen bisher
keine Vorfälle mit Wölfen vor . Wenn ein Wolf allerdings
dabei beobachtet wird, wie er im Abfall gräbt, sollte man
ihn vertreiben. Wenn es sich um einen verhaltensauffälligen Wolf handelt, dann kann er trotz Schutz durch die
FFH-Richtlinie der Europäischen Union entfernt werden,
wie es bei MT6, also Problemwolf Kurti, der Fall war .
Ich rufe die Frage 9 des Kollegen Beermann auf:
Liegen der Bundesregierung Informationen vor, durch welche Qualitätsmanagementsysteme das Senckenberg-Institut
für Wolfsgenetik die Qualität seiner DNA-Analysen sicherstellt?
Rita Schwarzelühr-Sutter, Parl . Staatssekretärin bei
der Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit:
Herr Kollege Beermann, auch Sie interessieren sich
für den Wolf . In der genetischen Wildtierforschung gibt
es keine Normierung von Qualitätsmanagementsystemen . Durch die Implementierung von Negativ- sowie
Positivproben in allen Laborschritten und die zusätzliche Amplifizierung von mehreren Replikaten führt das
Senckenberg- Institut ein eigen entwickeltes Kontrollsystem durch .
Speziell die Analyse von Proben mit geringem
DNA-Gehalt wie etwa Rissproben und Kotproben bedarf spezieller räumlicher und arbeitstechnischer Anpassungen, um die Kontaminationsgefahr möglichst gering zu halten . Hierbei spielt die langjährige Erfahrung
des Senckenberg-Instituts eine besondere Rolle . In den
vergangenen Jahren konnten mehr als 10 000 nicht invasiv gesammelte Proben von diversen Wildtieren bearbeitet werden . Hierbei wurde die laborinterne Qualitätssicherung weiterentwickelt . Zusätzliche Ring- sowie
Blindtests werden regelmäßig mit den Mitgliedern des
CEwolf-Konsortiums durchgeführt und die Ergebnisse
protokolliert .
Herr Beermann .
Vielen Dank, Frau Staatssekretärin, für die Beantwortung . - Natürlich interessiere ich mich als Niedersachse für den Wolf . Er ist bei uns aktuell ein großes
Thema, gerade auch in der Landwirtschaft . Mich würde daher interessieren, ob der Bundesregierung möglicherweise bekannt ist, welche molekulare Methodik das
Senckenberg- Institut zur DNA-Analyse von Wolfsspuren bei Nutztierrissen verwendet und ob die DNA durch
andere Labore reproduzierbar ist .
Rita Schwarzelühr-Sutter, Parl . Staatssekretärin bei
der Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit:
Das Senckenberg-Institut ist sehr etabliert und hat international weit über 30 Publikationen auf den Weg gebracht . Ich denke, gerade was die Methode angeht, ist
das Senckenberg-Institut innovativ . Es hat eine neue Methode auf den Weg gebracht, nämlich die Single-Nucleotide-Polymorphismus-Methode . - Das Bundesministerium für Forschung stimmt nickend zu . - Es ist ein
etabliertes, renommiertes Institut, und die Wissenschaftler sind weltweit anerkannt . Insofern ist, glaube ich, bestätigt, dass das Institut eine wertvolle Arbeit verrichtet .
Herr Beermann, wünschen Sie eine zweite Nachfrage? - Nein . Dann hat Frau Keul zu diesem Themenkomplex noch eine Frage .
Frau Staatssekretärin, können Sie sich erklären, warum die Unionsabgeordneten, die vier Jahre lang in der
Fragestunde kaum Fragen gestellt haben, jetzt ein so
intensives Interesse am Wolf zeigen? Halten Sie diese
Angst der Union vor dem Wolf vor dem Hintergrund,
dass es bisher noch keinen Schaden zulasten eines Menschen gegeben hat, während die statistische Wahrscheinlichkeit, durch den Hund eines unverantwortlichen Hundehalters, von denen es in dieser Republik ja genug gibt,
angegriffen und verletzt zu werden und damit zu Schaden
zu kommen, um ein Tausendfaches höher ist, für nachvollziehbar?
({0})
Rita Schwarzelühr-Sutter, Parl . Staatssekretärin bei
der Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit:
Ich will jetzt einmal für meine Kolleginnen und Kollegen insgesamt sprechen . Sie haben sich im Ausschuss für
Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit sehr
intensiv mit dieser Frage beschäftigt . Wir haben auch einen sehr dicken Bericht dazu vorgelegt, weil es natürlich
durchaus Ängste und auch Zielkonflikte mit den Nutztierhaltern gibt . Diese nehmen wir ernst, und deswegen
muss man sich miteinander entsprechend austauschen
und darüber reden, wie weit sich die Populationen in Mitteleuropa weiter ausbreiten .
Es ist natürlich auch wichtig, zu wissen, wie sich die
Anzahl der Rudel entwickelt . Es gibt ganz viele, die genau wissen, wie der Bestand ist . Wie das ermittelt wurde,
weiß man wiederum nicht . Damit meine ich nicht unbedingt die Kollegen . In den Medien - vor allem in den
sozialen Medien - gibt es durchaus ein breites Interesse
daran .
Warum das Interesse genau jetzt so hoch ist? Das würde ich gar nicht in irgendeinen Zusammenhang stellen,
sondern das ist sozusagen die Fortführung unserer letzten
Fragestunde zum Thema Wolf vor ein paar Wochen, und
es wird auch nicht die letzte Fragestunde sein, in der der
Wolf ein Thema ist .
({1})
- Es wird sicherlich auch nicht die letzte für die nächsten
Jahre sein .
Aber für heute . - Wir kommen nun zu einem anderen Geschäftsbereich, nämlich zum Geschäftsbereich
des Bundesministeriums für Bildung und Forschung .
Der Parlamentarische Staatssekretär Stefan Müller übernimmt die Beantwortung .
Ich rufe zunächst die Frage 10 der Abgeordneten
Dr . Daniela De Ridder auf:
In welcher Höhe sind finanzielle Mittel im Bundeshaushalt 2017 für die „EU-Strategie-FH“ sowie „FH-Sozial“ ({0}) hinterlegt, bzw . was sieht das Bundesministerium für Bildung und Forschung für die Folgehaushalte bis
2020 potenziell vor?
Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort .
Frau Präsidentin! Liebe Frau Kollegin De Ridder, ich
beantworte Ihre Frage gerne: Für die Fördermaßnahme
„EU-Strategie-FH“ - und ich möchte gerne ergänzen:
Parl. Staatssekretärin Rita Schwarzelühr-Sutter
und für die Fördermaßnahme „EU-Antrag-FH“ - sind im
Bundeshaushalt ab 2017 folgende Mittel hinterlegt: für
das Jahr 2017 750 000 Euro, für das Jahr 2018 2 200 000
Euro, für das Jahr 2019 1 500 000 Euro und für das Jahr
2020 1 500 000 Euro .
Für die Förderrichtlinie „Lebensqualität durch soziale
Innovationen“ - kurz: „FH-Sozial“ - im Programm „Forschung an Fachhochschulen“ sind im Bundeshaushalt ab
2017 hinterlegt: für 2017 4 Millionen Euro, für 2018
5 Millionen Euro, für 2019 5 Millionen Euro und für
2020 ebenfalls 5 Millionen Euro .
Frau Dr . De Ridder, wünschen Sie eine Nachfrage?
Ja, sehr gerne, Frau Präsidentin . - Vielen Dank für die
Ausführungen, Herr Staatssekretär . Das ist ja ein Programm zur Stärkung der sogenannten SAGE-Fächer, also
der Fächer Soziale Arbeit, Gesundheit und Erziehung .
Wir wissen, dass das im Kontrast zu MINT-Programmen
steht . Ich würde Sie gerne fragen: Wie schätzen Sie das
Volumen an den Fachhochschulen im Vergleich zu den
Förderungen ein, die Sie im MINT-Bereich vornehmen?
Ist das üppig? Ist das weniger üppig? Ist das bescheiden?
Wir haben in den vergangenen Jahren ja gemeinsam
sehr viel Wert darauf gelegt, dass unser Innovationsbegriff sehr breit gefasst ist. Heute Vormittag haben wir im
Ausschuss auch über die Hightech-Strategie gesprochen,
und ich glaube, wir können gemeinsam stolz darauf sein,
Frau Kollegin, dass wir als Koalition in dieser Wahlperiode erreicht haben, dass der Begriff „Innovation“ eben
nicht nur technologisch ausgelegt wird, sondern dass
auch soziale Innovationen darunter verstanden werden .
Das ist ja auch der Grund, weswegen es in diesen Programmen entsprechende Veränderungen gegeben hat .
({0})
Es bleibt dem neuen Deutschen Bundestag aber natürlich unbenommen, hier noch weitere Schwerpunkte zu
setzen .
Ich persönlich bin der Meinung, dass wir bei den
Fächern der Geistes- und Sozialwissenschaften im Vergleich zu den MINT-Fächern durchaus noch weiteres Potenzial haben .
Frau Dr . De Ridder, wünschen Sie eine zweite Nachfrage?
Gerne . Vielen Dank dafür, dass Sie sie zulassen . Sie sehen mich hier, werter Herr Kollege, mit stolzgeschwellter Brust stehen, gerade was die Förderung der
Fachhochschulen insgesamt angeht .
Ich möchte aber gerne dezidiert nachfragen, ob Sie
das auch vor dem Hintergrund der Genderkonzepte so
einordnen . Können Sie einmal sagen, wie sich hier die
eben beschriebenen und finanzierten Programme einordnen lassen? Welche Effekte erwarten Sie in Bezug auf die
Chancengleichheit von Frauen, die gerade in den sogenannten SAGE-Fächern überproportional vertreten sind?
Welche Chancen sehen Sie hier für die Rekrutierung junger Männer für das Studium, aber auch von etablierten
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern für die Professuren in Bezug auf das Genderverhältnis?
Nun glaube ich, dass mit den genannten Fördermaßnahmen - das wissen auch Sie - nicht primär das Ziel
verfolgt wird, besonders die Gendergesichtspunkte herauszuarbeiten, wenngleich einzelne Projekte Genderfragen selbstverständlich mit aufnehmen .
Wir haben gemeinsam vereinbart, den Fokus auf
dieses Thema zu setzen, was wir im Übrigen in dieser
Wahlperiode bereits gemacht haben . Ich glaube, dass das,
wenn ich die Dynamik des Themas richtig einschätze,
für die kommende Wahlperiode ein Handlungsfeld ist, in
dem weitere Schwerpunkte gesetzt werden .
Herr Lenkert wünscht eine Nachfrage zu diesem Thema .
Herr Staatssekretär, vielen Dank für Ihre Ausführungen. - Ich hoffe sehr, dass Sie gerade die Fachhochschulen, die in ländlichen und strukturschwachen Räumen
vertreten sind, deutlich stärker fördern . Als Vergleichsmaßstab nehme ich einmal die Exzellenzinitiative, die
auf wenige Standorte konzentriert ist und die Ihnen mehrere 100 Millionen Euro pro Jahr wert ist . Im Zusammenhang mit den Fachhochschulen reden wir von Beträgen
von 750 000 Euro, 2,2 Millionen Euro und 1,5 Millionen
Euro pro Jahr. Diese Differenzierung ist aus unserer Sicht
nicht nachvollziehbar .
Ich frage Sie deswegen: Haben Sie zumindest in der
mittelfristigen Planung eine deutliche Aufstockung der
Mittel für diese Programme vorgesehen, damit sie annähernd in eine Relation zu dem kommen, was Sie im
Rahmen der Exzellenzinitiative, die natürlich nicht in
den ländlichen Räumen stattfindet, auf wenige Standorte
dauerhaft fixieren?
Herr Kollege Lenkert, Sie sind ja zu klug, um nicht zu
wissen, dass sich die Förderung der Fachhochschulen im
Bereich der Forschung nicht auf 750 000 Euro in einer in einer! - Förderlinie reduzieren lässt . Die Mittel für das
Programm „Forschung an Fachhochschulen“ umfassen,
wenn ich das richtig in Erinnerung habe, 55 Millionen
Euro allein in 2017 . Ich möchte Sie darauf hinweisen,
dass wir in der kommenden Woche die Namen der erParl. Staatssekretär Stefan Müller
folgreichen Hochschulen, die sich für die Förderinitiative
„Innovative Hochschule“ von Bund und Ländern beworben haben und in den nächsten fünf Jahren Fördermittel
bekommen werden, bekannt geben werden .
Wir reden hier über ein Programm, das sich insbesondere an Fachhochschulen sowie kleine und mittlere
Universitäten richtet . Mindestens die Hälfte dessen, was
an Fördermitteln ausbezahlt wird, geht an die Fachhochschulen . Wir reden für die gesamte Initiative in der Summe über eine Größenordnung von 550 Millionen Euro,
Herr Kollege .
Damit rufe ich jetzt die Frage 11 ebenfalls der Abgeordneten Dr . Daniela De Ridder auf:
Warum wird mit „FH-Sozial“ eine in Teilen konkurrierende
Förderlinie zur bereits bestehenden Linie „Soziale Innovationen für Lebensqualität im Alter“ ({0}) aufgelegt, obwohl
nach der Veröffentlichung der Empfehlungen des Wissenschaftsrates von Oktober 2016 das Problem des mangelnden
professoralen Nachwuchses als prioritär anzusehen ist?
Herr Staatssekretär .
Vielen Dank, Frau Präsidentin . - Frau Kollegin
De Ridder, ich möchte Ihnen gerne antworten, dass es
sich bei der Förderlinie „Lebensqualität durch soziale Innovationen“, kurz: „FH-Sozial“, nicht um eine zur
SILQUA-FH konkurrierende Förderlinie handelt .
Die Förderlinie SILQUA-FH wurde 2015/2016 evaluiert, und daraus resultierend wurde als Nachfolgeförderlinie oder -initiative „FH-Sozial“ konzipiert . Selbstverständlich werden im Rahmen der auslaufenden Projekte
aus SILQUA-FH alle bereits bewilligten Projekte bis
zum Abschluss weiter finanziert und gefördert.
Frau Kollegin, wünschen Sie eine Nachfrage?
Ja, sehr gerne . Vielen Dank, dass Sie diese zulassen . In diesem Kontext möchte ich gerne wissen, ob Sie im
Rahmen der angesprochenen Förderung Chancen sehen,
den wissenschaftlichen Nachwuchs an Fachhochschulen
gerade in den eben aufgeführten Fächern der sogenannten SAGE-Disziplinen zu stärken . Hier interessiert mich,
wie Sie diese Linie insgesamt in die Nachwuchsförderung einbetten, die die Bundesregierung für Fachhochschulen - da hätten wir vielleicht ein bisschen mehr tun
können - auflegt.
Frau Kollegin, ich möchte hier keine Konkurrenz
zwischen den Programmen aufmachen, die wir explizit
für soziale Innovationen aufgelegt haben, und der Frage: Wie gehen wir mit der, wie ich finde, berechtigten
Forderung um, Personalgewinnung und -entwicklung
an Fachhochschulen zu unterstützen? Das eine ist für
mich, ehrlich gesagt, unabhängig von dem anderen, weil
wir beides brauchen und weil wir beides machen müssen . Demzufolge möchte ich Ihnen antworten, dass, jedenfalls unabhängig von der Förderung von Forschung
an Fachhochschulen, wir als Ministerium ein Interesse
daran haben, zusammen mit der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz hier voranzukommen .
Am 7 . April hat die GWK beschlossen, Eckpunkte
für ein mögliches Bund-Länder-Programm vorzulegen
bzw . zunächst einmal zu diskutieren . Das wird bei der
nächsten Sitzung der GWK im November 2017 der Fall
sein . Zur Vorbereitung dieser Sitzung wurde auch unter
Zugrundelegung der Analyse der Wissenschaftsratsempfehlungen eine Facharbeitsgruppe zwischen Bund und
Ländern ins Leben gerufen, die derzeit Vorschläge für
die Sitzung der Wissenschaftskonferenz im November
erarbeitet .
Wünschen Sie eine weitere Nachfrage?
Ja, davon würde ich gerne Gebrauch machen . Danke
schon jetzt für die Beantwortung . - Ich würde von Herrn
Staatssekretär Müller gerne wissen, warum es nicht
schon eher gelungen ist, gerade bei den Professuren zwischen Universitäten und Fachhochschulen eine Analogie
zu schaffen. Wir kennen das Problem seit längerem und
wissen, wie sehr und wie hart die Fachhochschulen bei
der Rekrutierung um professoralen Nachwuchs kämpfen .
Insofern wäre ich Ihnen sehr dankbar, wenn Sie noch
einmal kurz zusammenfassen könnten, welche Investitionen in den wissenschaftlichen Nachwuchs bzw . in die
Karrierepfade und -wege einer FH-Professur Sie getätigt
haben . Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie das auch unter
Gendergesichtspunkten deutlich machen könnten .
Frau Kollegin, wir haben uns sowohl zwischen Bund
und Ländern, aber übrigens auch in unserer gemeinsamen Koalition darauf verständigt, dass wir die Frage der
Personalgewinnung und -entwicklung an Fachhochschulen diskutieren, sobald der Wissenschaftsrat zu entsprechenden Empfehlungen kommt . Diese Empfehlungen
liegen inzwischen vor .
Meines Wissens hat es auch zwischen den Regierungsfraktionen eine Verständigung darüber gegeben, dass
man erst ab diesem Zeitpunkt darüber sprechen kann,
dass wir die Vorschläge des Wissenschaftsrates dann prüfen und dass wir, jedenfalls was die Bundesregierung angeht, uns mit den Ländern ins Benehmen setzen, wie wir
unter Berücksichtigung all der Fragen, die auch Sie eben
aufgeworfen haben, damit umgehen .
Ich fürchte, Frau Kollegin, ich muss Sie noch um
Geduld bitten, bis die Bund-Länder-Arbeitsgruppe hier
zu einem Ergebnis kommt und wir im November nach
der GWK-Sitzung auch gemeinsam mit den Ländern zu
einer Verständigung darüber kommen, was Inhalt eines
gemeinsamen Bund-Länder-Programms sein könnte .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit gehen wir
über zum nächsten Geschäftsbereich, dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung . Hier übernimmt der
Parlamentarische Staatssekretär Hans-Joachim Fuchtel
die Beantwortung der Fragen .
Zunächst rufe ich die Frage 12 des Abgeordneten
Kekeritz auf:
Wie schätzt die Bundesregierung die Folgen der von der
Trump-Administration geplanten Aufkündigung des DoddFrank Act hinsichtlich des Abbaus von Konfliktmineralien im
Kongo ein ({0}), und gedenkt die Bundesregierung vor dem Hintergrund
der Misereor-Studie „Globale Energiewirtschaft und Menschenrechte“, die eklatante Menschenrechtsverletzungen und
Umweltzerstörung auch durch deutsche Energieunternehmen
offenlegte ({1}), gesetzliche menschenrechtliche Sorgfaltspflichten einzuführen?
Hans-Joachim Fuchtel, Parl . Staatssekretär beim
Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung:
Der Dodd-Frank Act ist eine US-amerikanische
Rechtsvorschrift, nach der börsennotierte US-Unternehmen gehalten sind, öffentlich darzulegen, ob sie bei
ihrer Produktion Konfliktmaterialien aus Ländern Afrikas benutzen . Diese Vorschrift besteht seit sechs Jahren,
und wir sehen, dass seit der Verabschiedung ein robuster
Trend zu mehr Verantwortung im Rohstoffbereich entlang der gesamten Lieferkette entstanden ist .
Konsequenzen einer temporären Aussetzung bzw .
Aufkündigung dieser Vorschrift für das Engagement
der USA und amerikanischer Unternehmen insbesondere in der Demokratischen Republik Kongo und ihren
Nachbarstaaten zur Einhaltung von Sorgfaltspflichten
sind derzeit noch nicht abzusehen . Es bleibt abzuwarten,
ob und gegebenenfalls wie führende US-Unternehmen,
welche den Dodd-Frank Act und andere internationale
Prozesse aktiv unterstützen, diese Vorschriften freiwillig
weiter anwenden .
Unabhängig davon wurde bekanntlich am 17 . Mai
2017 die neue EU-Verordnung zu Konfliktmineralien
verabschiedet . Die ist davon natürlich unabhängig . Sie
bietet die Basis dafür, dass wir diese Problematik stärker
ins Auge fassen können .
Herr Kekeritz, wünschen Sie eine Nachfrage?
Ja . - Herr Staatssekretär, herzlichen Dank für die Antwort . Vor allen Dingen ist die Botschaft, die Sie mit der
Antwort gegeben haben, sehr positiv . Der Dodd-Frank
Act hat sehr positiv gewirkt. Auch die EU-Konfliktmineralienverordnung wird positiv wirken . Nur, wenn es tatsächlich zur Aufkündigung des Dodd-Frank Acts kommt,
würden positive Entwicklungen rückgängig gemacht .
Die Milizen, die die Gegend verlassen haben, würden
wieder zurückkommen und die Minen wieder besetzen
und ihr Geschäft weiterbetreiben . Deswegen wäre es
nach unserer Meinung sinnvoll, dass die EU-Konfliktmineralienverordnung relativ zügig umgesetzt wird . So,
wie es geplant ist, dauert es noch sehr lange, bis sie Wirkung erzeugt .
Wären Sie als Bundesregierung denn bereit, sich auf
EU-Ebene dafür einzusetzen, dass diese Konfliktmineralienverordnung früher und schneller umgesetzt wird?
Hans-Joachim Fuchtel, Parl . Staatssekretär beim
Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung:
Die Bundesregierung hätte sehr gerne eine kürzere
Übergangsfrist, Herr Kollege . Wir werden das auch unter
dem Gesichtspunkt dieser Entwicklung weiter betreiben .
Wir müssen jedoch anerkennen, dass einige Mitgliedstaaten erst die zuständigen Behörden aufbauen müssen, um
entsprechend mitwirken zu können . Das kostet einfach
Zeit . Unter diesen Gesichtspunkten ist es bei der Anwendung des sogenannten Trilogverfahrens gar nicht so einfach, den bisher gefundenen Kompromiss zwischen dem
Europäischen Parlament, dem Europäischen Rat und der
Europäischen Kommission zu verändern .
Herr Kekeritz, wünschen Sie eine zweite Nachfrage?
Ja. - Grundsätzlich geht es ja um Sorgfaltspflichten. Das ist sicherlich nicht auf Konfliktmineralien beschränkt . Es geht auch um Bergwerke, um Plantagen, um
Fischerei und letztendlich um sämtliche Investitionen,
auch im Textilbereich . Nun hat Minister Müller neulich
deutlich gesagt, dass er sich von der Textilindustrie zum
Teil hinters Licht geführt gefühlt habe . Er werde sich
deshalb verbindliche Regelungen überlegen .
Das ist eine großartige Sache . Er hat hierfür volle
Unterstützung von unserer Seite . Nur, das Problem mit
Herrn Minister Müller ist, dass er oft etwas verkündet,
das aber in keinster Weise mit dem Kabinett abspricht .
Solche Regelungen müssten natürlich auch juristisch
fundiert formuliert werden . Da ist das Justizministerium
verantwortlich, da ist das Wirtschaftsministerium verantwortlich . Sind denn die Aussagen, die Minister Müller
hier öffentlich tätigt, tatsächlich schon im Kabinett abgesprochen? Kann man davon ausgehen, dass das tatsächlich irgendwann zur Kabinettsmeinung wird?
Hans-Joachim Fuchtel, Parl . Staatssekretär beim
Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung:
Herr Kollege, Minister Müller war der Allererste, der
sich auf den Weg gemacht hat, hier überhaupt erst einmal Grundlagen zu schaffen und diese Probleme in Angriff zu nehmen. Wir haben mit dem Textilbündnis auf
freiwilliger Basis immerhin erreicht, dass sich Firmen,
http://www.nytimes.com/aponline/2017/06/07/world/africa/ap-af-africa-conflict-minerals.html?smid=tw-share&_r=0
http://www.nytimes.com/aponline/2017/06/07/world/africa/ap-af-africa-conflict-minerals.html?smid=tw-share&_r=0
http://www.nytimes.com/aponline/2017/06/07/world/africa/ap-af-africa-conflict-minerals.html?smid=tw-share&_r=0
http://www.misereor.de/fileadmin/user_upload/Energie-und-Menschenrechte-Bericht-2017.pdf
http://www.misereor.de/fileadmin/user_upload/Energie-und-Menschenrechte-Bericht-2017.pdf
die circa 45 bis 55 Prozent des Marktanteils im Textilbereich haben, zwischenzeitlich den Prinzipien verpflichtet
haben . Das ist, wenn Sie mir die Bemerkung gestatten,
doch mehr als null .
Es wäre denkbar gewesen, dass das politische Kräfte vor uns begonnen hätten; denn die Probleme gab es
auch schon damals . Daher sollten Sie durchaus dem Minister einen Vertrauensvorschuss geben . Zunächst sollen
diese Maßnahmen freiwillig weitergeführt werden . Wir
müssen dann prüfen, was daraus wird, bevor wir weitere
Aussagen treffen.
Ich komme zur Frage 13 des Kollegen Uwe Kekeritz:
Was genau meint die Bundeskanzlerin Dr . Angela Merkel,
wenn sie die Handelsverträge der EU mit Afrika teilweise als
„unfair“ bzw . „nicht richtig“ bezeichnet ({0}), und welche konkreten Anpassungen in den Handelsbeziehungen der EU mit Afrika will die
Bundesregierung nach der Ankündigung der Bundeskanzlerin
Dr . Angela Merkel, die Handelsbeziehungen auf dem nächsten
EU-Afrika-Gipfel im November dieses Jahres neu verhandeln
zu wollen, erreichen?
Herr Staatssekretär .
Hans-Joachim Fuchtel, Parl . Staatssekretär beim
Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung:
Sie beziehen sich auf die Reuters-Meldung . Ich möchte konkret sagen, dass Frau Bundeskanzlerin Dr . Merkel
sich zweimal geäußert hat . Am 19 . Juni hat sie beim
Civil20-Dialogforum eine Rede gehalten und mit den
Vertretern der Zivilgesellschaft über den anstehenden
G-20-Gipfel in Hamburg diskutiert . Am gleichen Tag hat
die Bundeskanzlerin beim Verbrauchertag des Verbraucherzentrale Bundesverbandes eine Rede gehalten . Ich
gebe Ihnen gern die originalen Redetexte, damit Sie das
nachvollziehen können .
Bei ihren Ausführungen zu den Handelsverträgen
der EU mit Afrika ging es der Kanzlerin darum, auf die
Diskrepanz bei den Rahmenbedingungen für Handel
zwischen den ärmsten Ländern und den sogenannten
Schwellenländern, also den Mitteleinkommensländern,
hinzuweisen . Die Kanzlerin hatte bereits vorher - es ist
also keine ganz so große Neuigkeit an diesem Tag passiert - bei der Afrika-Konferenz am 12 . und 13 . Juni in
Berlin betont, dass die Handelsbeziehungen mit Afrika
fair ausgestaltet werden müssen . „Fair“ bedeutet, dass
Wertschöpfung auch in Afrika stattfindet und dort Jobs
entstehen können .
Sie hat in der weiteren Perspektive dargestellt, dass
diese politischen Fragen in den anstehenden politischen
Prozessen weiter bearbeitet werden müssen: Das ist der
EU-Afrika-Gipfel im November dieses Jahres, und das
ist der Post-Cotonou-Prozess, der, wie Sie auch wissen,
zu weiteren Ergebnissen im Jahr 2020 geführt werden
muss .
Herr Kollege Kekeritz, wünschen Sie hierzu eine
Nachfrage?
Ja . - Herzlichen Dank . - Ich freue mich, wenn Sie mir
die Rede zur Verfügung stellen . Soweit ich informiert
bin, hat sich die Kanzlerin ganz konkret auf die EU-Handelsverträge mit Afrika bezogen . Dabei kann es sich aus
meiner Sicht nur um die sogenannten EPAs handeln, die
2014/2015 auf Brüsseler Ebene abgeschlossen worden
sind und sehr viele Mängel aufweisen . Insofern wäre es
sehr konsequent und sehr gut, wenn die Kanzlerin jetzt
sagt: Da müssen Änderungen vollzogen werden .
Natürlich ist die Zivilgesellschaft C20 im Rahmen der
G-20-Veranstaltung eine interessante Plattform, aber sie
ist keine Plattform, die irgendetwas ändern kann . Ändern
muss man das in Brüssel . Was wird denn ganz konkret
geplant von der Regierung oder von Ihrer Seite aus, um
eine Nachbesserung dieser Verträge zu erreichen?
Hans-Joachim Fuchtel, Parl . Staatssekretär beim
Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung:
Niemand hat je behauptet, dass die EPAs der letzte
Schritt in der Entwicklung der europäisch-afrikanischen
Handelsbeziehungen sind . Wir alle wissen, dass diese
EPAs immer nur bestimmte Räume in Afrika herausgreifen und dass sie auch dort nicht von allen Ländern
in gleichem Maße vorangebracht werden . Das führt automatisch dazu, dass natürlich nicht alles, was man sich
hier vorgenommen hat, schon so in bester Form wirkt .
Daher ist es doch konsequent, dass die Politik weiter
prüft, was getan werden kann und muss, um sowohl in
der Beziehung zwischen Afrika und Europa als auch in
Afrika selbst Verbesserungen zu erreichen .
Ich möchte ein kleines Beispiel nennen . Wir haben
zwar neue Möglichkeiten, dass die Länder Waren nach
Europa ausführen . Wenn aber die Produkte nicht die geforderte Qualität haben oder nicht zertifiziert sind, dann
steht das zwar auf dem Papier, ist aber in der Realität sehr
schwierig . Deswegen ist auch eine der Aufgaben, dass
wir zum Beispiel Zertifizierungsverfahren entwickeln
und entwickeln helfen, damit das, was in den EPAs bis
jetzt auf dem Papier steht, auch in der Praxis stattfinden
kann .
Herr Kekeritz .
Danke schön . - Sie haben richtig gesagt: Es ist konsequent, an diesen Verträgen weiterzuarbeiten . - Meine
Frage war dahin gehend: Was machen Sie denn jetzt ganz
konkret?
Als zweite Frage interessiert mich jetzt, wie Sie mit
den sogenannten Interimsverträgen umgehen, die mit
der Elfenbeinküste und mit Ghana abgeschlossen wurden . Hauptziel dieser EPAs war die regionale IntegratiParl. Staatssekretär Hans-Joachim Fuchtel
on zum Beispiel der ECOWAS . Inzwischen sind Sie so
weit, dass Sie mit einzelnen Ländern, die Sie sich herauspicken, Interims-EPAs abschließen . Damit stören Sie
ganz massiv die regionale Integration dieser Länder . Was
wollen Sie dagegen tun? Und wann stoppen Sie diese Interims-EPAs?
Hans-Joachim Fuchtel, Parl . Staatssekretär beim
Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung:
Es handelt sich ja immer um zwei Seiten, Herr Kollege Kekeritz . Dazu gehört auch ein starker Wille der
betreffenden Länder, die vorankommen und die in den
EPAs vom Grundsatz her formulierten Möglichkeiten
nutzen möchten . Auf diese Art und Weise entstehen Aktivitäten, die von der EU akzeptiert werden . Das kann bei
guter Wirksamkeit dazu beitragen, dass andere merken,
dass solche EPAs insgesamt mehr Qualität haben . Außerdem sollten wir erst einmal abwarten, wie sie wirken;
denn wir reden bisher über Dinge, die wir in ihrer vollen
Ausgestaltung in der Praxis noch gar nicht erlebt haben .
Frau Hänsel .
Danke schön, Frau Präsidentin . - Ich möchte nachhaken, Herr Staatssekretär Fuchtel . Bei Ihren Antworten
ist nicht deutlich geworden, ob die Kanzlerin die Wirtschaftspartnerschaftsabkommen mit Afrika meint, wenn
sie kritisiert, dass es unfaire Verträge gibt . Wenn dem
so ist, dann frage ich Sie: Wieso kommt die Kanzlerin
denn jetzt, am Ende der Legislatur, darauf? Wir diskutieren diese Wirtschaftspartnerschaftsabkommen seit
vier Jahren . Die Kanzlerin hat vor zwei Jahren mit ihrem
Afrikabeauftragten, Herrn Nooke, der diese Abkommen
schon seit Jahren kritisiert, an Diskussionen in unserem
Ausschuss teilgenommen . Ich persönlich habe die Kanzlerin darauf angesprochen, ob sie denn allen Ernstes die
Wirtschaftspartnerschaftsabkommen mit Afrika in dieser
Form verantworten kann, obwohl sie ungerecht sind und
die Fluchtursachen verstärken . Daraufhin sagte sie, nein,
ich würde übertreiben und sie sehe es nicht so . Sie konnte auch nicht verstehen, dass ihr Afrikabeauftragter diese
Abkommen kritisiert .
Wie kommt die Kanzlerin jetzt dazu, die Abkommen
zu kritisieren? Woher kommt der Sinneswandel kurz vor
der Wahl?
Hans-Joachim Fuchtel, Parl . Staatssekretär beim
Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung:
Das hat nichts damit zu tun, dass wir kurz vor der
Wahl stehen .
({0})
Erstens . Es ist ein großes Verdienst der Bundeskanzlerin,
dass sie dafür gesorgt hat, dass Afrika in der Gesamtdiskussion einen ganz neuen Stellenwert bekommen hat .
Zweitens . Wir stehen zu den bisherigen EPAs . Sie
sind für uns Vereinbarungen, die so lange wirken, bis
es Besseres gibt . Es ist gar nicht so leicht, Besseres zu
schaffen, weil die WTO mit ihren 164 Mitgliedstaaten
noch ein Wörtchen mitzureden hat . Deswegen gibt es gar
keinen anderen Weg, als nun - im Herbst findet eine große gemeinsame Konferenz zwischen Afrika und Europa
statt - diese Fragen aufzuwerfen und entsprechend zu
analysieren . Es ist doch nicht verboten, nach Besserem
zu suchen . Auch die Kanzlerin hat den Anspruch, das in
die Diskussion einzubringen .
Ich will nur kurz darauf hinweisen, dass die Fragestunde um 15 .30 Uhr endet .
Herr Movassat hat zu diesem Komplex noch eine
Nachfrage .
Danke . - Herr Staatssekretär, wir freuen uns, dass die
Bundeskanzlerin nach zwölf Jahren Kanzlerschaft die
Kritik an den Handelsabkommen anerkennt und sich für
einen fairen Handel ausspricht . Auch Ihr Minister Müller
hat sich kritisch zu den Handelsabkommen geäußert; das
war in vielen Pressemeldungen zu lesen . Nichtsdestotrotz hat er 2014 die Wirtschaftspartnerschaftsabkommen
mit den westafrikanischen Staaten unterschrieben . Mich
interessiert, ob Herr Müller angesichts seiner aktuellen
Kritik und der Kritik der Kanzlerin diese Abkommen erneut unterschreiben würde, ja oder nein?
Hans-Joachim Fuchtel, Parl . Staatssekretär beim
Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung:
Es geht um einen etwas anderen Sachverhalt als den,
den Sie versuchen darzulegen . Der Sachverhalt ist, dass
die EPAs einen Schritt darstellen, um vor allem den
Schwellenländern die Problematik zu ersparen, plötzlich
unter die Gesamtregularien der WTO zu fallen; das ist
sehr wichtig .
({0})
Aber das blenden Sie in Ihren Überlegungen einfach aus .
Wer solche Fragen stellt, sollte wagen, auch darauf eine
Antwort zu geben .
({1})
Was jetzt geschieht, baut auf dem auf, was bisher geschaffen wurde: Es werden weitere Überlegungen angestellt, die auf etwas Großräumigeres abzielen . Warum
braucht man diese Großräumigkeit? Es ist ganz klar: Solange diese Kleinräumigkeit besteht und der Raum der
Gültigkeit solcher Abkommen nur beschränkt ist, so lange ist es umso schwerer, die Wirtschaft im größeren Umfang nach Afrika zu bekommen; denn die Unternehmer
möchten natürlich einen Wirtschaftsraum von einer gewissen Größe vorfinden, in dem sie ihre Produkte absetzen können . Wenn dieser Raum - auch durch die AusgeUwe Kekeritz
staltung von Zollregelungen - sehr kleinräumig und sehr
disponibel ist, dann ist das eine Riesenerschwernis, um
einen Gesamtimpuls zu geben . Auch das ist ein wichtiges
Argument, wenn man in der jetzigen Zeit diese Fragen
voranbringen will .
Herr Staatssekretär, für die Beantwortung der weiteren Fragen steht Ihnen immer nur eine Minute zur Verfügung, nicht zwei Minuten .
Hans-Joachim Fuchtel, Parl . Staatssekretär beim
Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung:
Ich kann das Lichtsignal hier vorne nicht immer so
gut sehen .
Ach . Das ist schon sehr deutlich . Aber ich habe es ja
deshalb noch einmal gesagt .
Frau Keul hat eine Nachfrage zu dem gleichen Komplex .
Vielen Dank . - Nur eine ganz kurze Frage . Herr
Staatssekretär, was meinen Sie eigentlich mit „Schwellenländern“? Nach meiner Kenntnis befindet sich unter
den ECOWAS-Staaten kein Schwellenland .
Hans-Joachim Fuchtel, Parl . Staatssekretär beim
Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung:
Ich meinte damit Mitteleinkommensländer - wenn Sie
das bitte konkretisiert so zur Kenntnis nehmen wollen .
Jetzt rufe ich Frage 14 des Abgeordneten Niema
Movassat auf:
Zu welchen Schlussfolgerungen kommt der Bundesminister
Dr . Gerd Müller nach der Überprüfung des auch aus deutschen
Haushaltsmitteln finanzierten Africa Agriculture and Trade
Investment Fund ({0}), die er in der Arte-Doku „Konzerne als Retter?“ ({1}) zusagte, hinsichtlich des Modells des Fonds
({2}), und welche möglichen Änderungen der Fondsstrukturen plant die Bundesregierung?
Herr Staatssekretär, bitte .
Hans-Joachim Fuchtel, Parl . Staatssekretär beim
Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung:
Zur Beantwortung dieser Frage haben wir die Dinge
sehr genau untersucht . Wir weichen nicht davon ab, dass
Fonds eine gute Lösung sind, um Problematiken, wie
wir sie hier haben - es geht um Schwierigkeiten, mehr
mittelständisches Wirtschaften nach Afrika zu bringen -,
zu bewältigen . Das ist trotz dieser Überprüfung nach wie
vor unsere Position . Wir sind ferner der Meinung, dass
Luxemburg ein guter Standort ist, und zwar deswegen,
weil dort die notwendigen Grundlagen gegeben sind, um
einen solchen Fonds effektiv zu fahren.
Außerdem sind wir für diese Konstruktionen, weil wir
einfach viel mehr Geld auf den Markt bringen müssen,
um all die Aufgaben anzugehen, die hier anzugehen sind .
Schließlich werden durch die ODA-Quote gerade einmal
15 Prozent des Kapitalzuflusses in die Entwicklungsländer erbracht; 85 Prozent kommen vom Privatsektor .
Wenn dem so ist, muss man Konstruktionen finden,
durch die man diese Entwicklung verstärken kann, wenn
man mehr Geld auf dem Markt haben möchte . Das geschieht mit den vorhandenen Konstruktionen; denn man
muss Lösungen finden, die es für das private Kapital interessant machen, sich dort zu engagieren .
Herr Movassat .
Danke, Herr Staatssekretär . - Ich habe mir angeschaut,
welche Unternehmen im Rahmen des AATIF finanziert
worden sind. Eins der so finanzierten Unternehmen ist
der Finanzinvestor Agrivision . Agrivision hat seinen Sitz
im Steuerparadies Mauritius und ist in Sambia tätig; es
ist kein mittelständisches Unternehmen . Vor kurzem
wurde die Finanzierung von Agrivision in Sambia um
fünf weitere Jahre verlängert . Mich würde jetzt interessieren, warum Agrivision aus Sicht der Bundesregierung
ein Erfolgsmodell ist? Inwiefern werden damit entwicklungspolitische Ziele wie Bekämpfung der Armut, Schaffung von mehr Arbeitsplätzen, Zahlung besserer Löhne
erreicht?
Hans-Joachim Fuchtel, Parl . Staatssekretär beim
Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung:
So etwas wird sehr wohl erreicht . Ich bin auch Aufsichtsratsvorsitzender der DEG, die für den Privatsektor
innerhalb der KfW zuständig ist . Ich kann Ihnen sagen,
dass die Zahl der Arbeitsplätze, die durch solche Konstruktionen geschaffen oder erhalten werden, wodurch in
den Ländern dann auch Steuern gezahlt werden, eine sehr
erfreuliche Entwicklung genommen hat und sich auf eine
Größenordnung zubewegt, die uns veranlassen sollte, all
den Finanzierungsinstrumenten noch mehr Aufmerksamkeit zu geben .
Herr Movassat .
Danke . - Herr Staatssekretär, dass Sie zu dem konkreten Finanzierungsmodell der Agrivision leider keine
Angabe machen konnten, ist bedauerlich . Sie sagen: Es
ist alles sehr erfolgreich . - In der Tat, in dem Eckpunktepapier „Wirtschaftliche Entwicklung Afrikas - Herausforderungen und Optionen“ vom 7 . Juni bezeichnet die
Bundesregierung AATIF als ein innovatives Modell zur
Mobilisierung privaten Kapitals und hebt es als Positivbeispiel hervor, wie Sie es jetzt auch getan haben . Mich
Parl. Staatssekretär Hans-Joachim Fuchtel
http://www.arte.tv/de/videos/059525-000-A/konzerne-als-retter
http://www.arte.tv/de/videos/059525-000-A/konzerne-als-retter
interessiert: Auf welcher Grundlage kommen Sie zu Ihrer Einschätzung? Also: Wurden bestimmte Projekte, die
durch AATIF finanziert werden, evaluiert? Wenn es eine
Evaluation gab: Zu welchem Ergebnis kam diese?
Hans-Joachim Fuchtel, Parl . Staatssekretär beim
Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung:
Die DEG
({0})
- AATIF, der Fonds, hängt mit der DEG zusammen geht grundsätzlich so vor: Überall dort, wo sie an einem
Fonds beteiligt ist, aus dem Unternehmen entwickelt
oder gestützt werden, führt sie Monitoringverfahren
durch und weiß durchaus sehr gut, zeitversetzt, welche
Entwicklung ausgelöst wurde und was dabei herausgekommen ist .
Herr Kekeritz .
Herr Staatssekretär, ich wundere mich jetzt über Ihre
Detailkenntnisse . Im Vertrag steht, dass dieses Projekt
erst im Jahr 2020/21 gemonitort wird . Das heißt, es sind
zehn Jahre, die nicht gemonitort werden . Arbeitsplätze das haben Sie angesprochen - sollen geschaffen werden.
1 600 wurden in Sambia versprochen . Realisiert wurden
208 - immerhin: 208 Arbeitsplätze . In der Kalkulation
vergessen Sie aber immer, zu sagen, wie viele Existenzen
Sie durch diese Landraubprojekte vernichten . Man muss
wissen, dass ungefähr 20 000 Familien dort gelebt haben
und auch leben konnten, was sie jetzt nicht mehr können .
Dazu meine Frage . Es ist bekannt geworden, dass im
Jahr 2016 Zinsen in Höhe von 6,1 Millionen US-Dollar aus Afrika in diesen Fonds nach Luxemburg geflossen sind . Für die gesamte Zeit, also von 2011 bis 2016,
wurden aber nur Dividenden in Höhe von 3,2 Millionen
US-Dollar ausgezahlt . Natürlich ist es so, dass die Privaten höhere Dividendenansprüche haben als die staatlichen Stellen. Aber wie wird eigentlich die Differenz
zwischen Dividendenauszahlung und Zinseinnahmen
verwaltet? Wie werden diese Überschüsse verrechnet?
Oder werden davon Kosten beglichen, die dieser Fonds
hat? Wenn das so ist, dann muss dieser Fonds extrem gut
bezahlte Jobs haben .
Hans-Joachim Fuchtel, Parl . Staatssekretär beim
Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung:
Herr Kollege, das kann ich Ihnen jetzt aus dem Stand
beim besten Willen nicht in jedem Detail beantworten;
({0})
das muss ich Ihnen schriftlich nachliefern, was ich gern
tue . Ich könnte Ihnen jetzt noch die Proportionen zwischen der privaten Seite und der öffentlichen aufzeigen,
aber das tue ich dann auch im Zusammenhang mit meiner schriftlichen Mitteilung .
({1})
Der Staatssekretär hat zugesagt, dass die Antwort
schriftlich nachgeliefert wird .
Damit, liebe Kollegen, verlassen wir diesen Geschäftsbereich und gehen zum Geschäftsbereich der
Bundeskanzlerin und des Bundeskanzleramtes über . Hier
übernimmt die Beantwortung der Fragen die Staatsministerin Professor Monika Grütters .
Ich rufe die Frage 15 der Abgeordneten Tabea Rößner
auf:
Wann wird die Bundesregierung den laut Beschlusslage des
Deutschen Bundestages alle vier Jahre vorzulegenden und seit
dem Jahr 2008 nicht mehr vorgelegten Medien- und Kommunikationsbericht vorlegen, damit noch in dieser Wahlperiode
parlamentarisch über die Situation der Medienlandschaft beraten werden kann, und falls dieser Bericht nicht mehr bis zum
Beginn der parlamentarischen Sommerpause vorgelegt werden kann, was sind die Gründe für den Verzug?
Frau Staatsministerin .
So wie sich eben die grüne Kollegin Keul über das
Unionsinteresse an Wölfen gewundert hat, bin ich ein
bisschen erstaunt darüber, liebe Frau Kollegin Rößner,
dass Sie ausgerechnet die Gelegenheit der letzten Fragestunde dieser Legislaturperiode nutzen, um sich nach
dem Medien- und Kommunikationsbericht der Bundesregierung zu erkundigen, weil Ihre Fraktion bisher wenig
Interesse daran gezeigt hat; zumindest war ein solches
Interesse für mich nicht erkennbar .
({0})
Aber gerade heute, wo das Thema jetzt, um 15 Uhr, auf
der Tagesordnung des Kulturausschusses steht, freue ich
mich natürlich über Ihr hiesiges vorgelagertes Interesse .
Zur Sache: Die Zeitspanne zwischen den Medienberichten variiert stark, und das hat gute Gründe . Der letzte
Bericht stammt aus dem Jahr 2008 . In der 17 . Legislaturperiode hat es die Enquete-Kommission „Internet und
digitale Gesellschaft“ gegeben . Deshalb hat der Bundestag damals auf einen eigenen Medien- und Kommunikationsbericht verzichtet, aber als Ergebnis der EnqueteKommission eine Bund-Länder-Medienkommission zur
Medienkonvergenz eingesetzt . Diese hat von 2015 bis
2016 getagt . Wir hielten es - übrigens in Abstimmung
mit den MdB - für richtig, für inhaltlich ergiebig und aus
Respekt vor den Ergebnissen der Bund-Länder-Kommission zur Medienkonvergenz auch für geboten, den
Medien- und Kommunikationsbericht erst fertigzustellen, wenn die Ergebnisse dieser Kommission vorliegen .
Der Abschlussbericht der Kommission, der schon im
Herbst 2016 vorgelegt wurde und der Leitlinien für die
Weiterentwicklung der Medienordnung in Deutschland
aufzeigt, rechtfertigt meines Erachtens dieses Vorgehen
und erfüllt die hohen Erwartungen, die mit der Einsetzung der Kommission von Bund und Ländern einhergingen . Übrigens war daran Baden-Württemberg - und
damit auch die Grünen - beteiligt .
Wir haben die, wie Sie wissen, erforderliche Ausschreibung für das Gutachten, das wie üblich die wissenschaftliche Basis für den Medien- und Kommunikationsbericht
ist, im Lichte der Ergebnisse der Bund-Länder-Kommission formuliert . Dies haben wir ohne Zeitverlust bewerkstelligt, allerdings wohlwissend, dass die Vorlage mit
dem Ende der Legislaturperiode kollidiert .
Die Bund-Länder-Kommission zur Medienkonvergenz hat übrigens 2015 ihre Arbeit aufgenommen . Es
wäre gut gewesen, im Ausschuss oder auch an dieser
Stelle einmal die Frage zu erörtern: Was erwarten wir
von den Ergebnissen der Kommission für den Bericht?
Frau Kollegin, Sie haben das Wort .
Vielen Dank, Frau Staatsministerin Grütters . Ich halte
Ihre Vorbemerkung vonseiten der Bundesregierung für
nicht angemessen, was ich hier anmerken möchte; denn
schließlich gab es verschiedene Anfragen von verschiedenen Fraktionen, auch von unserer parlamentarischen
Geschäftsführung bereits vor zwei Jahren, wann dieser
Bericht vorgelegt wird . Wir haben in der Obleuterunde
des Kultur- und Medienausschusses seit Anfang des Jahres immer wieder darüber gesprochen - im Übrigen von
Kollegen Ihrer Fraktion -, dass er noch vor der Sommerpause vorliegen und besprochen werden soll . Deshalb
verstehe ich Ihre Vorbemerkung nicht .
Der angemahnte Bericht unterscheidet sich von dem
der Bund-Länder-Kommission zur Medienkonvergenz,
weil es darum geht, eine Bewertung abzugeben über die
zunehmende Medienkonzentration, über die Medienlandschaft, über die Medienvielfalt in diesem Land, was
für unseren demokratisch-freiheitlichen Diskursprozess
und Meinungsbildungsprozess von essenzieller Bedeutung ist . Ich verstehe nicht ganz, warum Sie sich über den
Beschluss des Bundestages, alle vier Jahre einen solchen
Bericht vorzulegen, hinwegsetzen . Daher die Frage: In
welchem Stadium befindet sich der Bericht, und können
nicht bereits fertiggestellte Teile, die über das genannte
Gutachten des Hans-Bredow-Instituts hinausgehen, noch
vorgelegt werden?
Wie gesagt, das von der Bundesregierung beauftragte
wissenschaftliche Gutachten des Hans-Bredow-Institutes
ist die Grundlage . Jetzt wird das Gutachten ausgewertet .
Uns ist dabei wichtig, dass das nicht einseitig durch BKM
geschieht, sondern im Austausch mit Ihnen . Wie Sie wissen, liegt das Gutachten seit April 2017 vor . Wir haben es
am 6 . Juni an den Kulturausschuss gesandt, versehen mit
einer fünfseitigen aus unserer Sicht ersten Auswertung
und politischen Bewertung . Seit dem 27 . Juni, also seit
gestern, ist das Gutachten online .
Wir wollen diese Themen gemeinsam mit dem Bundestag erörtern . Wir können natürlich auch eine einseitige, regierungsseitige politische Bewertung vornehmen .
Das war aber bislang unüblich und soll es auch künftig
sein . Es ist klar: Das fällt in die Diskontinuität dieser Legislaturperiode . Eine gemeinsame Erörterung erscheint
uns aber wichtiger, als allein eine regierungsamtliche
politische Bewertung vorzunehmen . Das ist im Übrigen
auch der Grund, warum das Thema jetzt im Kulturausschuss des Deutschen Bundestages behandelt wird . Die
SPD-Fraktion macht übrigens auch einen Medienpolitischen Dialog dazu; das durfte ich wohl weitersagen .
Die Einordnung des Themas war, denke ich, notwendig . Ich hätte es überhaupt nicht nachvollziehen können,
wenn wir die Ergebnisse der Bund-Länder-Kommission
zur Medienkonvergenz in keiner Weise in diesem Bericht
gewürdigt hätten .
Frau Rößner .
Ich habe die Nachfrage, wann Sie zu der Erkenntnis
gekommen sind, dass Sie diesen Bericht in diesem Jahr
nicht mehr vorlegen, nachdem es in der Vergangenheit
in entsprechenden Antworten immer wieder Vertröstungen gab, dass der Bericht noch kommen wird, und wir im
Kultur- und Medienausschuss fest damit gerechnet haben, den Bericht noch vor der Sommerpause diskutieren
zu können .
Wenn die wissenschaftliche Grundlage erst im April
vorliegt, dann kann sich jeder, der mitreden will, ausrechnen, dass das bis zur Sommerpause nur in dem Maße
geht . Sie haben das Thema auch nicht eher auf die Tagesordnung des Kulturausschusses gesetzt .
({0})
- Ja . Wir haben eine erste fünfseitige Einordnung vorgenommen; die liegt Ihnen seit dem 6 . Juni vor .
({1})
Ich denke, schneller war es nicht möglich .
Ich habe Ihnen im Übrigen die drei großen Themenblöcke genannt, die aus unserer Sicht wichtig sind:
Regulierung sozialer Netzwerke sowie Maßnahmen
gegen Hasskriminalität, zukünftige Aufgabe der öffentlich-rechtlichen Grundversorgung, Sicherung vielfältiger
Angebote von Qualitätsmedien . All das ist dem Ausschuss und seinen Mitgliedern am 6 . Juni auf mehreren
Seiten zugegangen . Wie gesagt, das wissenschaftliche
Gutachten liegt Ihnen auch vor .
({2})
- Wir können den Bericht natürlich auch ohne Einbeziehung des Deutschen Bundestages erstellen . Ich glaube
aber, dass das wesentlich unwürdiger gewesen wäre .
Liebe Kollegin, Ihre Fragen sind damit beantwortet .
Die Frage 16 der Abgeordneten Martina Renner wird
schriftlich beantwortet .
Ich leite dann zum nächsten Geschäftsbereich über,
nämlich zum Geschäftsbereich des Auswärtigen Amts .
Hier übernimmt der Staatsminister Michael Roth die Beantwortung der Fragen .
Die Fragen 17 und 18 des Abgeordneten Özcan Mutlu,
die Frage 19 der Abgeordneten Erika Steinbach und
die Frage 20 des Abgeordneten Andrej Hunko werden
schriftlich beantwortet .
Ich rufe Frage 21 der Abgeordneten Heike Hänsel auf:
Über welche eigenen ({0}) oder
auch im Rahmen der NATO erhaltenen Erkenntnisse verfügt
die Bundesregierung über den Abschuss eines Kampfflugzeuges der syrischen Luftwaffe durch das US-Militär nahe Rakka?
Vielen Dank, Frau Präsidentin . - Frau Kollegin
Hänsel, der Bundesregierung liegen über den Abschuss
eines syrischen Kampfflugzeugs durch die Vereinigten
Staaten von Amerika keine eigenen Erkenntnisse und
auch keine Erkenntnisse im Rahmen der NATO, die wir
möglicherweise erhalten haben könnten, vor . Die Informationen, die uns zur Verfügung stehen, sind jene, zu denen auch Sie Zugang haben. Sie finden sich nämlich in
der auf einer Website veröffentlichten Stellungnahme der
Anti-IS-Koalition .
Die sogenannte Combined Joint Task Force der Operation Inherent Resolve hat sich nach dem Vorfall öffentlich dazu geäußert und Stellung bezogen . Wie gesagt,
Sie können diese Stellungnahme lesen; sie ist relativ
ausführlich . Demnach erfolgte der Abschuss des Kampfjets, nachdem dieser Kampfjet Einheiten der von der Anti-IS-Koalition unterstützten Syrian Democratic Forces
angegriffen haben soll.
Frau Hänsel .
Danke schön . - Herr Staatsminister, die NATO ist ja
mittlerweile Teil der Anti-IS-Koalition . Im Rahmen dessen muss es ja einen Informationsaustausch geben . Die
Bundeswehr hat ja, wie wir alle wissen, bisher Tornados
in Incirlik stationiert - sie werden jetzt nach Jordanien
verlegt -, die Aufklärung betreiben . Insofern möchte ich
nachhaken . Es kann ja wohl nicht der Ernst sein, dass die
Bundesregierung über keine umfassenderen Erkenntnisse verfügt als jene, die auf dieser Website zu finden sind;
es erschreckt mich eigentlich schon .
In diesem Zusammenhang möchte ich festhalten, dass
es dazu widerstreitende Darstellungen gibt . Die syrische
Luftwaffe sagt, dass sie nicht SDF-Kämpfer bombardiert, sondern die IS-Stellung bei al-Rusafa angegriffen
haben . Ist Ihnen darüber etwas bekannt?
Liebe Frau Kollegin Hänsel, Ihre Nachfrage gibt mir
Gelegenheit, klarzustellen, dass die deutschen Tornados
vom 19. bis zum 22. Juni keine Aufklärungsflüge durchgeführt haben . Insofern liegen uns logischerweise keine
eigenen Erkenntnisse vor . Das war auch ein Beitrag zur
Deeskalation . Wir haben die Flugzeuge erst wieder seit
dem 24 . Juni eingesetzt
({0})
- Entschuldigung, seit dem 23 . Juni - und seit dem
24 . Juni auch über dem östlichen Teil Syriens .
Frau Hänsel .
Ich habe noch eine generelle Frage zu dem Abschuss
des syrischen Kampfflugzeugs und auch iranischer Drohnen durch das US-Militär in Syrien . Das ist ja eine äußerst gefährliche Situation und Zuspitzung, zumal die
russische Seite die Kooperation mit den USA aufgekündigt hat . Im Rahmen des Memorandums zur Flugsicherheit soll solchen Vorfällen vorgebeugt und sich umfassend über die Flugbewegungen ausgetauscht werden .
Russland wirft den USA vor, das Memorandum gebrochen zu haben, indem sie den Angriff vorher nicht angekündigt, sondern sofort reagiert haben . Was macht die
Bundesregierung ganz konkret, um eine weitere Zuspitzung in dieser Region - womöglich greifen sich russische und US-amerikanische Kampfflugzeuge gegenseitig
an oder das russische und das US-amerikanische Militär
geraten in eine direkte militärische Auseinandersetzung
mit weitreichenden Folgen - im Rahmen der NATO zu
verhindern?
Frau Kollegin Hänsel, der Zwischenfall zeigt erneut,
wie schwierig und komplex die Lage ist und wie schwierig auch der notwendige Kampf gegen die Terrororganisation „Islamischer Staat“ ist .
Ich will noch einmal klarstellen: Wir führen eine militärische Auseinandersetzung gegen eine Terrororganisation, aber nicht gegen einen Staat und auch nicht gegen
demokratische Kräfte, die in den sogenannten Syrian Democratic Forces zusammengefasst werden .
Sie haben darüber hinaus darauf hingewiesen, dass
Russland infolge des Abschusses des Flugzeuges öffentlich erklärt hat, das sogenannte Deconflicting einzustellen . Wir fühlen uns - und damit meine ich die gesamte
Anti-IS-Koalition - weiterhin dem Prinzip von DeconStaatsministerin Monika Grütters
flicting verpflichtet. Ich habe auch den Eindruck, dass
das nach wie vor im Interesse aller Beteiligten und aller
Parteien ist .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit sind die Fragen zu diesem Geschäftsbereich abgeschlossen .
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern . Hier übernimmt die Beantwortung der Fragen der Parlamentarische Staatssekretär
Dr . Günter Krings .
Die Frage 22 des Kollegen Oliver Krischer wird
schriftlich beantwortet .
Ich rufe die Frage 23 des Kollegen Volker Beck auf:
Welche straf- und dienstrechtlichen Maßnahmen prüft
bzw . ergreift die Bundespolizeidirektion in Pirna im Zusammenhang mit dem an die Öffentlichkeit gelangten Protokoll
der WhatsApp-Gruppe der AfD Sachsen-Anhalt, ausweislich
dessen mindestens ein mutmaßlicher Bundespolizist Äußerungen, die der freiheitlichen demokratischen Ordnung zuwiderlaufen ({0}), getätigt haben soll ({1}),
und inwiefern plant bzw . ergreift die Bundesregierung Maßnahmen, um auf die verfassungswidrigen Äußerungen mutmaßlicher Bundespolizisten, die im Netz veröffentlicht worden sind ({2}),
zu reagieren?
Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort .
Vielen Dank . - Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Lieber Kollege Beck, die Bundespolizeidirektion
Pirna hat unmittelbar nach Bekanntwerden des inkriminierten Chatverlaufs gegen einen Beamten der Bundespolizei wegen möglicher Verstöße gegen die politische
Neutralitäts- und Mäßigungspflicht, gegen die Pflicht
zum Bekenntnis zur und zum Eintreten für die freiheitliche demokratische Grundordnung sowie die Pflicht zu
achtungs- und vertrauensgerechtem Verhalten innerhalb
und außerhalb des Dienstes ein Disziplinarverfahren eingeleitet . In diesem Zusammenhang wird allerdings darauf hingewiesen, dass nach dem bisherigen Stand der
Ermittlungen zu den 221 Seiten umfassenden Protokoll
des WhatsApp-Chatverlaufes unter Beteiligung unterschiedlicher Personen die beispielhaft zitierte Äußerung
„Nach der Machtübernahme Journalisten sieben“ - wir
kennen sie aus der Presse - nicht von diesem Teilnehmer des WhatsApp-Chats stammt, der nach derzeitigen
Erkenntnissen der Bundespolizei angehören könnte .
Über den Einzelfall hinaus bleibt festzuhalten - das ist
mir besonders wichtig, Herr Kollege Beck -, dass weder
die Bundespolizei noch das innerhalb der Bundesregierung für die Bundespolizei zuständige Bundesinnenministerium verfassungswidrige Äußerungen oder Verstöße
gegen die politische Neutralitäts- und Mäßigungspflicht
oder andere Pflichtverstöße ihrer Beamten tolerieren.
Werden mögliche Verstöße bekannt, so werden - wie
auch dieser Einzelfall zeigt - aufgrund sofort aufgenommener Ermittlungen etwaige disziplinarrechtliche Maßnahmen geprüft und gegebenenfalls Disziplinarverfahren
eingeleitet . Weiter gehende Maßnahmen der Strafverfolgung obliegen den zuständigen Strafverfolgungsbehörden .
Herr Beck .
Können Sie denn eine Aussage darüber treffen, wem
diese Aussage zuzuordnen ist?
Im wiederstand sind wir schon lange alle, aber wir
haben uns bis jetzt klein und unauffällig gemacht,
vor allem um uns und unsere familien und soziale
Kontakte zu schützen . . . Aber es wird sich zunehmend ändern und irgendwann nicht mehr so weitergehen . Ich hab schon lange keine lust mehr mich zu
verstecken!
Dasselbe gilt für die Äußerung, die Sie teilweise zitiert haben und die ja nach dem „sieben“ wie folgt weiter
geht: „Chefs sofort entlassen, volksfeindliche Medien
verbieten“ . Diese Äußerung ist von der Intention her ausdrücklich darauf ausgerichtet, die freiheitlich-demokratische Grundordnung, zu der die freie Presse gehört, zu
untergraben .
Wird das Bundespolizisten zugeordnet oder welchen
anderen Personen, die sich ja auch in dem Chat befanden? Man muss ja fragen: Hätten die das nicht aus dienstlichen Gründen melden bzw . anzeigen müssen? Denn
hier besteht doch schon die Gefahr, dass das auf Strafbzw . Gewalttaten ausgerichtet ist .
Herr Staatssekretär .
Also, wir können bisher nur bestätigen, dass es sich
um einen Bundespolizisten - das betrifft den Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern - handeln
könnte oder wahrscheinlich handelt . Ich will das mit aller Vorsicht formulieren . Gegen den gibt es ein Disziplinarverfahren . Ich kenne jetzt nicht den gesamten Chatverlauf und kann nicht alle Äußerungen hier auswendig
zuordnen . Deshalb kann ich nicht sagen, ob auch das Äußerungen von ihm sind . Das mag sein; ich kann das jetzt
nicht nachvollziehen . Jedenfalls wird all das dezidiert im
Disziplinarverfahren eine Rolle spielen . Wir nehmen diesen Sachverhalt nicht leicht .
Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie das nachreichen
könnten .
Ich habe noch eine Nachfrage . Der gesamte Chatverlauf liegt ja jetzt den Behörden vor . Weil auch der Vorsitzende der sachsen-anhaltinischen AfD, Poggenburg,
Mitglied dieser Chatgruppe war, möchte ich fragen, ob
das nicht ein Grund ist, zu überprüfen, ob nicht zumindest Gliederungen der AfD vom Bundesamt für VerfasStaatsminister Michael Roth
http://www.morgenpost.de/politik/article2l0986363/Bundespolizei-prueft-nach-AfD-Leak-Konsequenzen-fuer-Beamte.html
http://www.morgenpost.de/politik/article2l0986363/Bundespolizei-prueft-nach-AfD-Leak-Konsequenzen-fuer-Beamte.html
http://www.morgenpost.de/politik/article2l0986363/Bundespolizei-prueft-nach-AfD-Leak-Konsequenzen-fuer-Beamte.html
https://twitter.com/LarsWienand
https://linksunten.indymedia.org/de/node/215841
sungsschutz nach dem geltenden Recht beobachtet werden müssten .
Es geht jetzt erst einmal um dieses Disziplinarverfahren . Natürlich kann ich nicht ausschließen - das will
ich auch gar nicht -, dass daraus weitere Erkenntnisse
gewonnen und Schlussfolgerungen gezogen werden können . Zum jetzigen Zeitpunkt würde ich es für verfrüht
halten, damit sofort Maßnahmen des Verfassungsschutzes zu verbinden . Aber natürlich muss man diese Erkenntnisse - wie vieles andere auch - auswerten und
schauen, ob weitere Konsequenzen zu ziehen sind .
({0})
Dann rufe ich jetzt die Frage 24 auf, ebenfalls vom
Kollegen Beck:
Welche Schlussfolgerungen und Konsequenzen zieht die
Bundesregierung aus den ({0})Drohungen im Zusammenhang mit der Eröffnung der liberalen Moschee in Berlin ({1}), und welche Auswirkungen hat es nach ihrer
Auffassung, dass die Eröffnung dieser Moschee fälschlicherweise mit der Gülen-Bewegung in Zusammenhang gebracht
wurde, auf die Beziehungen zu der türkischen Regierung sowie den der türkischen Regierung rechtlich oder faktisch zugeordneten Stellen in Deutschland, insbesondere der DITIB
({2})?
Herr Staatssekretär .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber
Herr Kollege Beck, die Bundesregierung verfolgt die Reaktionen auf die Eröffnung der Ibn-Rushd-Goethe-Moschee in Berlin natürlich sehr aufmerksam. Das betrifft
sowohl die nationalen als auch die internationalen Reaktionen, die uns bekannt geworden sind . Für die Durchführung von gegebenenfalls erforderlichen Gefährdetenansprachen bzw . Sensibilisierungsgesprächen sowie für
die Ergreifung gegebenenfalls erforderlicher polizeilicher Schutzmaßnahmen sind natürlich originär die Länder, also hier das Land Berlin, zuständig .
Sie wissen das wahrscheinlich; ich betone es aber
noch einmal für die Kollegen: Die Sprecher des Auswärtigen Amtes und unseres Ministeriums, des BMI, haben
am vergangenen Freitag in der Pressekonferenz der Bundesregierung in Reaktion insbesondere auf Stellungnahmen der staatlichen türkischen Religionsbehörde Diyanet und auch der staatlichen ägyptischen sogenannten
Fatwah-Behörde Dar al-Ifta in aller Klarheit Äußerungen zurückgewiesen, die offensichtlich darauf abzielen,
Menschen in Deutschland das Recht zur freien Ausübung
ihrer Religionsfreiheit abzusprechen bzw . das Recht auf
freie Meinungsäußerung einzuschränken .
Deutschland ist ein Staat, der weltanschaulich und religiös neutral ist und in dem das Grundrecht der individuellen und kollektiven Religionsfreiheit gilt . Religiöse
Gemeinschaften haben das Recht, ihre Angelegenheiten
selbst zu bestimmen . Insbesondere Äußerungen, die diese Rechte infrage stellen oder gar geeignet sein könnten,
den öffentlichen Frieden zu stören, sind nicht hinnehmbar . Es wurde angekündigt, dies im Rahmen der bilateralen Beziehungen mit den betroffenen Staaten zur Sprache
zu bringen .
Herr Beck .
Dieser Vorgang bietet erheblichen Anlass zur Sorge,
zum einen, weil türkische Medien fälschlicherweise
behauptet haben, ein gewisser Herr Karakoyun von der
Stiftung Dialog und Bildung - das ist eine Gülen-nahe
Organisation - habe mit dieser Moschee etwas zu tun
und dieser daraufhin mehrere Morddrohungen erhalten hat . Das zeigt, dass man wieder versucht, alles in
die Gülen-Ecke zu schieben, obwohl diese Moschee
vollkommen unverdächtig ist . Zum anderen darf man
natürlich auch nicht einen Gülen-Anhänger mit Morddrohungen überziehen . Deshalb möchte ich wissen: Wie
schätzen Sie die Sicherheitslage sowohl für die liberale
Moschee als auch von Mitgliedern der Stiftung Dialog
und Bildung ein, die ein ganz anderes Islamverständnis
haben, als es bei dieser liberalen Moschee der Fall ist?
Lieber Kollege Beck, ich habe ja gesagt, dass wir das
sehr ernst nehmen, was unseren Zuständigkeitsbereich
anbelangt . Wir würden aber, glaube ich, nicht fachgerecht handeln, wenn wir die konkrete Gefährdungseinschätzung vor Ort den Berliner Behörden abnehmen
würden . Das müssen die Berliner Behörden tun . Ich habe
auch keinen Grund, anzunehmen, dass sie das bei beiden
Sachverhalten nicht in aller Sorgfältigkeit und Ernsthaftigkeit tun .
Dann noch eine eher religionspolitische Frage . Die
vier Verbände im Koordinierungsrat für Muslime sind
auch Teil der Deutschen Islam Konferenz . Diese Verbände haben jeweils sicher ein anderes Verständnis vom
Islam als Frau Ates . Es ist beiden Seiten gleichermaßen
unbenommen, ihre Religion so unterschiedlich zu interpretieren, wie wir das auch im Christentum und im Judentum zu tun pflegen.
({0})
Aber wäre es nicht überlegenswert, diese Verbände
durch eine Anregung des Bundesinnenministers dazu zu
bekommen, sich gemeinsam vor die Pluralität zu stellen
und zu sagen: „Unabhängig davon, für wie islamisch wir
das halten, ist das von der Religionsfreiheit gedeckt . So,
wie wir unser konservatives Verständnis von der RechtsVolker Beck ({1})
http://www.welt.de/vermischtes/article165722820/Morddrohungen-wegen-Eroeffnung-von-liberaler-Moschee-in-Berlin.html
http://www.welt.de/vermischtes/article165722820/Morddrohungen-wegen-Eroeffnung-von-liberaler-Moschee-in-Berlin.html
http://www.welt.de/vermischtes/article165722820/Morddrohungen-wegen-Eroeffnung-von-liberaler-Moschee-in-Berlin.html
ordnung respektiert wissen wollen, verlangen wir, dass
auch andere Verständnisse respektiert werden“? Wir reden hier über Morddrohungen und über Äußerungen von
Diyanet, die ja zum Beispiel die Aufsichtsbehörde der
DITIB ist .
Kollege Beck, eine Bemerkung zum Schluss: DITIB
jedenfalls hat sich hierzu nicht geäußert . Das ist vielleicht einer der wenigen positiven Punkte, die man in
letzter Zeit über DITIB berichten konnte .
({0})
Sie haben zunächst einmal vollkommen recht: Als Innenministerium ist es uns ein Anliegen - das haben wir
über diesen Fall hinaus gezeigt -, diese Verbände zusammenzubringen und sie zu gemeinsamen Äußerungen zu
bewegen, sich auch abzugrenzen von Äußerungen, die
nicht mit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung
übereinstimmen und nicht auf der Akzeptanz der Religionsfreiheit basieren . Das wäre an dieser Stelle sicher
auch ein Ansatz .
Zum Thema Diyanet will ich ganz klar sagen: Der
Äußerung, die die Grundlage Ihrer Frage bildet, liegt offenbar ein vollkommen anderes Verständnis von Religionsfreiheit und Rechtsstaatlichkeit zugrunde . Man darf
dieses Verständnis äußern . Das ist aber nicht das gemeinhin europäische Verständnis von Religionsfreiheit und
Rechtsstaatlichkeit .
({1})
- Ich werde diese Anregung ins Haus mitnehmen . Wir
werden schauen, in welcher Form wir diesen Fall weiterverfolgen .
({2})
Ich rufe die Frage 25 der Kollegin Tabea Rößner auf:
Unter welchen Umständen kann die Einreisesperre bei einer trotz Ausbildungsduldung erfolgten Abschiebung aufgehoben werden, und wie kann es der abgeschobenen Armenierin
Marine Nikoghosyan ermöglicht werden, ihre Ausbildung
in Mainz fortzusetzen ({0})?
Herr Staatssekretär .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau
Kollegin, ich muss Ihnen sagen: Die Entscheidung über
die Aufhebung oder Verkürzung einer Einreisesperre,
worum es bei diesem ganz konkreten Fall geht, liegt allein bei der zuständigen Ausländerbehörde .
Ich weise darauf hin, dass der von Ihnen zitierte Sachverhalt aus unserer Sicht eine Reihe ungeklärter Fragen
aufweist, zu denen aktuell ein Verfahren vor dem Oberverwaltungsgericht Koblenz anhängig ist . Von hier aus
ist es uns daher leider nicht möglich, alle Einzelheiten
des Falles abschließend juristisch zu bewerten .
Frau Rößner .
Wir haben gehört, dass das kein Einzelfall ist und so
etwas öfter vorkommt . Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber haben natürlich ein Interesse daran, dass diejenigen,
die sie ausbilden, bleiben können und es eine Sicherheit
gibt . Was unternimmt denn die Bundesregierung, damit
es nicht zu Abschiebungen während der Ausbildung
kommt, und wie steht die Bundesregierung zu einer Verlängerung der Duldung auf fünf Jahre, also während der
Ausbildungszeit und darüber hinaus?
Frau Kollegin, ich habe das vorhin so betont, weil Sie
einen konkreten Fall genannt haben . Wenn ich mich im
Einzelnen dazu äußern soll, will ich dabei nicht in diesen Rechtsstreit eingreifen . Uns liegen einfach nicht alle
Fakten vor . Ich habe Informationen - das sage ich mit
aller Vorsicht -, dass in diesem Fall ein Problem darin bestand, dass das Bleiberecht wegen einer Ausbildung zwar
gewollt war, die Ausbildung, jedenfalls die ursprüngliche, aber abgebrochen worden ist, was eine weitere Verkomplizierung darstellt . Ich will gar nicht abschließend
bewerten, ob es trotzdem eine Möglichkeit gibt .
Ich will nur sagen: Was die Bundesregierung machen
kann und auch macht, ist, dem Deutschen Bundestag Gesetzentwürfe vorzulegen . Er hat Folgendes verabschiedet: Nach § 11 Absatz 4 des Aufenthaltsgesetzes gibt
es grundsätzlich Möglichkeiten - danach haben Sie gefragt -, Einreisesperren zu verkürzen . In § 17 des Aufenthaltsgesetzes wird eine Ausbildung als mögliche Voraussetzung für ein Visum angesehen . Das liegt aber immer
im pflichtgemäßen Ermessen der örtlichen Ausländerbehörde, zum Teil auch der Bundesagentur für Arbeit .
Frau Rößner .
Eine konkrete Nachfrage: Wenn ich abgeschoben worden bin und mich im Ausland befinde und es eine Einreisesperre gibt, unter welchen Umständen kann ich diese
umgehen, um zurückzukommen? Alle Beteiligten wollen
ja, dass die Ausbildung fortgesetzt wird .
Volker Beck ({0})
http://www.allgemeine-zeitung.de/politik/rheinland-pfalz/neue-fragen-im-fall-der-nach-armenien-abgeschobenen-marine-nikoghosyan_17917975.htm
http://www.allgemeine-zeitung.de/politik/rheinland-pfalz/neue-fragen-im-fall-der-nach-armenien-abgeschobenen-marine-nikoghosyan_17917975.htm
http://www.allgemeine-zeitung.de/politik/rheinland-pfalz/neue-fragen-im-fall-der-nach-armenien-abgeschobenen-marine-nikoghosyan_17917975.htm
http://www.allgemeine-zeitung.de/politik/rheinland-pfalz/mainz-kreuznach-armenierin-ministerium-abschiebung-ministerium_17927000.htm
http://www.allgemeine-zeitung.de/politik/rheinland-pfalz/mainz-kreuznach-armenierin-ministerium-abschiebung-ministerium_17927000.htm
http://www.allgemeine-zeitung.de/politik/rheinland-pfalz/mainz-kreuznach-armenierin-ministerium-abschiebung-ministerium_17927000.htm
Ich will noch einmal betonen, dass ich mich nicht zu
dem Fall äußern möchte .
Generell gibt es natürlich nicht die Möglichkeit,
Einreisesperren zu umgehen . Ich weiß nicht, ob es sie
faktisch gibt, aber als Vertreter des Bundesinnenministeriums würde ich dringend davon abraten, geltendes
Recht, das der Deutsche Bundestag beschlossen hat und
worüber Sie alle mehrheitlich abgestimmt haben, zu
umgehen . Aber es gibt die Möglichkeit, Einreisesperren
zu verkürzen. Das wiederum steht im pflichtgemäßen
Ermessen der Behörde . Dazu gibt es bestimmte Anforderungen, die ich im Einzelfall jetzt nicht nennen kann .
Diese Möglichkeiten sieht das Gesetz natürlich vor, wie
ein Blick in § 11 des Aufenthaltsgesetzes zeigt .
Die Fragen 26 und 27 der Kollegin Ulla Jelpke aus
diesem Geschäftsbereich werden schriftlich beantwortet .
Damit kommen wir zu Frage 28 der Kollegin Luise
Amtsberg, die ich aber nicht sehe .
({0})
Daher wird verfahren, wie in der Geschäftsordnung vorgesehen .
({1})
Das gilt dann auch für die Frage 29 der Kollegin Luise
Amtsberg .
Damit kommen wir zu Frage 30 des Abgeordneten
Hans-Christian Ströbele:
Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung zu der ({2})Kontaktperson des Attentäters Anis Amri, welche er in den letzten Wochen vor seinem Attentat durch intensive Kommunikation etwa in Chats im Detail hierzu anleitete,
vor allem zu Identität und Aufenthalt dieser Person Ende 2016
sowie zu dessen etwaiger Tötung durch den US-Bombenangriff am 18./19. Januar 2017 in Libyen, und wie trug das Bundesamt für Verfassungsschutz seit dem Jahr 2015 zur Beobachtung und möglichen Sistierung des Gefährders Anis Amri,
insbesondere durch ({3})
pflichtgemäße Koordinierung und „zentrale Auswertung“ der
Erkenntnisse über dessen bundesländerübergreifende Aktivitäten, bei?
Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort .
Vielen Dank . - Dass Frau Amtsberg nicht da ist, bedaure ich ausdrücklich, aber in der letzten Sitzungswoche
habe ich für vieles Verständnis; das ist eine anspruchsvolle letzte Sitzungswoche . Grüßen Sie sie herzlich .
({0})
Ich wende mich jetzt aber Herrn Ströbele zu . Es ist
wahrscheinlich die letzte Frage von Ihnen, die ich hier
in der Fragestunde beantworten darf . Wir haben schon
mehrfach die Gelegenheit gehabt . Ich fürchte, dass ich
auch diesmal nicht zu Ihrer vollumfänglichen Zufriedenheit antworten kann, weil Sie, wie so oft, neuralgische
und sensible Themen ansprechen .
Ich darf Ihre Frage wie folgt beantworten: Die Auswertung der Kommunikation des Anis Amri und die
Identität seiner Kontaktpersonen sind Gegenstand laufender Ermittlungen . Deshalb müssen Auskünfte zum
ersten Teil Ihrer eigentlich zweiteiligen Fragestellung leider unterbleiben . Trotz der grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Pflicht, Informationsansprüche des Deutschen Bundestages zu erfüllen, tritt hier nach sorgfältiger
Abwägung der betroffenen Belange im Einzelfall das
Informationsinteresse des Parlaments hinter das berechtigte Geheimhaltungsinteresse zurück . Eine Auskunft zu
Erkenntnissen aus dem Ermittlungsverfahren würde konkret weiter gehende Ermittlungsmaßnahmen erschweren
oder gar vereiteln, weshalb aus dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit folgt, dass hier das betroffene Interesse der
Allgemeinheit an der Gewährleistung einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege und Strafverfolgung Vorrang
vor dem Informationsinteresse hat .
Vielleicht kann ich Sie mit dem Hinweis auf die Strafrechtspflege eher überzeugen als mit meinen Versuchen,
Ihnen in anderen Zusammenhängen die Arbeit der Nachrichtendienste als schutzwürdig nahezubringen .
Ich würde gerne zum zweiten Teil Ihrer Frage ausführen, dass im Rahmen der gesetzlichen Aufgabenerfüllung des BfV, des Bundesamts für Verfassungsschutz,
die Person Amri seit Bekanntwerden Anfang 2016 durch
das BfV bearbeitet, Erkenntnisse zu Amri be- und ausgewertet sowie im Rahmen des GTAZ erörtert wurden .
Dabei weise ich erneut darauf hin, dass der Fall Amri von
Beginn an durch die Polizeibehörden der Länder Nordrhein-Westfalen und Berlin federführend bearbeitet wurde . Die wesentlichen Erkenntnisse sind damit durch die
Strafverfolgungsbehörden erhoben worden . Eine eigene
Überwachung Amris durch das BfV mit nachrichtendienstlichen Mitteln fand zu keiner Zeit statt .
Herr Ströbele .
Herr Staatssekretär, das war ja nicht sehr nett .
Aber leider notwendig .
Den ersten Teil Ihrer Antwort kann ich schon fast auswendig, weil der immer gleichlautend ist .
Ich habe ein bisschen variiert heute .
Ein bisschen variiert war es nicht .
Ich frage Sie noch einmal ganz konkret; denn wenn
das in der Zeitung steht, hat doch der Abgeordnete das
Bedürfnis, zu erfahren, ob da was dran ist, gerade in einem so wichtigen Fall wie Amri . Am 21 . Juni 2017 steht
in der Welt sogar der Kampfname: Abu Baraa al-Iraqi .
Das soll der Chatpartner, der Telefonpartner von Amri
in Libyen gewesen sein . Wir wissen ja, dass bei Amri
libysche Telefonnummern festgestellt worden sind, bei
denen er sich gemeldet und darum gebeten hat, ihm Hinweise zu geben, wie er einen Anschlag durchführen kann .
Könnte das diese Person sein, bzw . gibt es - ich sage es
noch einmal allgemeiner - überhaupt eine Person, die inzwischen ermittelt ist, mit der er Anschlagspläne in Syrien erörtert hat?
Herr Staatssekretär .
Ja, Frau Präsidentin . - Ich habe eben ausgeführt, dass
es sich um laufende Ermittlungen handelt. Offenbar lesen
wir auch nicht dieselben Zeitungen . Ich hätte Sie eher für
eine andere Zeitung in Verdacht gehabt. Aber offenbar lesen Sie die Welt ausführlicher und intensiver, als ich das
tue . Ich kenne diesen Artikel nicht . Ich will auch nicht
ausschließen, dass dort Namen genannt worden sind .
Aber es ist immer noch etwas anderes, ob eine Zeitung,
aus welchen Quellen auch immer, bestimmte angebliche
Informationen oder Behauptungen niederschreibt oder
ob ich hier etwas dementiere oder bestätige, also ob sozusagen regierungsamtlich etwas verlautbart wird . Das hat
nach wie vor Konsequenzen für laufende Ermittlungen,
die ich bitte sehr ernst zu nehmen . Es geht hier auch um
den Schutz der Strafrechtspflege.
Liebe Kollegen, es tut mir leid, aber ich muss die Fragestunde an dieser Stelle beenden .
({0})
- Herr Ströbele, Sie können Ihre Frage noch stellen .
Dann frage ich Sie nach einer zweiten Person, und
zwar heißt die Ben Ammar . Das ist die Person, die - öffentlich bekannt, auch in offiziellen Berichten stehend mit Herrn Amri kurz vor dem schrecklichen Anschlag
in Berlin abends zusammen in einer Kneipe gewesen ist
und gegessen hat . Diese Person ist dann festgenommen
und nach Tunesien abgeschoben worden, sodass man von
ihr keine Informationen mehr bekommen kann . Können
Sie sagen, welche Verdachtsmomente zu dieser Person,
deren Name auch offiziell bekannt gegeben worden ist,
im Fall Amri bestehen?
Ich kann die ganzen Fakten, Frau Präsidentin, jetzt
nicht im Detail berichten . Aber ich kann versprechen,
dass wir das nachliefern, wenn Sie dazu konkrete Nachfragen haben . Ich kann aus meiner Erinnerung heraus
nur sagen, dass natürlich eine Abschiebung erfolgt ist,
aber erst nachdem sich die Sicherheitsbehörden mit dieser Person beschäftigt hatten . Die Abschiebung hat also
nicht dazu geführt, dass keine Erkenntnisse erlangt werden konnten, die man sonst hätte erlangen können . Erst
haben die Sicherheitsbehörden ihre Arbeit gemacht, und
dann wurde entschieden, ihn abzuschieben . Das ist übrigens auch die Politik der Bundesregierung: dass wir die
Menschen, die wir für Gefährder, für gefährlich halten
und die keinen Aufenthaltsstatus haben, lieber nicht in
unserem Land haben wollen .
Wenn Sie dazu noch konkrete Fragen haben, bin ich
gerne bereit, dem noch einmal nachzugehen . Ich lade Sie
ein, mir das noch einmal schriftlich zu geben .
({0})
- Wir haben noch den ganzen Sommer . Seien Sie im Übrigen weiterhin meiner Wertschätzung versichert .
({1})
- Das hoffe ich doch.
({2})
Kollege Ströbele, wir haben jetzt noch drei Minuten .
Sie müssten mir sagen, ob Sie zu Ihrer nächsten Frage - Europarechtswidrigkeit der Vorratsspeicherung von
Verkehrs- und Standortdaten - lieber eine schriftliche
Antwort haben wollen oder ob Sie die Frage mündlich
beantwortet haben möchten .
Dazu hätte ich gerne eine schriftliche Antwort, obwohl ich den Medien entnommen habe - man soll sich
ja immer gut in den Medien informieren -, dass offenbar meinem Wunsch, den ich in dieser Frage geäußert
habe, nämlich die Vorratsdatenspeicherung mindestens
auszusetzen, inzwischen stattgegeben worden ist . Wenn
mir das noch offiziell bestätigt wird, wäre ich sehr zufrieden . - Danke sehr .
Dann rufe ich den Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz auf . - Herr
Staatssekretär Lange .
Frau Präsidentin, ich kann nach unserer Geschäftsordnung nur auf die schriftlich eingereichte Frage des Kollegen antworten .
({0})
Dann rufe ich jetzt die Frage 31 des Kollegen Ströbele
auf:
Welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung aus dem
Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Münster vom 22 . Juni
2017 ({0}), wonach die auf Initiative der Bundesregierung im Dezember 2015 durch die Koalitionsmehrheit
im Bundestag beschlossene und ab dem 1 . Juli 2017 in Kraft
tretende Pflicht von Telekomanbietern gemäß § 113b TKG
zur pauschalen, anlasslosen Vorratsspeicherung von Verkehrsund Standortdaten ihrer Nutzer europarechtswidrig sei, nämlich die EU-Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation 2002/58/EG vom 12 . Juli 2002 verletze, und wird die
Bundesregierung nun jene Gesetzespflicht wenigstens rasch
aussetzen lassen oder - wie vom Provider-Branchenverband
eco verlangt - mit „einer Grundsatzentscheidung … die Vorratsdatenspeicherung endgültig … stoppen“, damit die Unternehmen kein „europarechts- und verfassungswidriges Gesetz
umsetzen … müssen und damit Gelder in Millionenhöhe in
den Sand … setzen“ ({1})?
Ich will die Frage gerne beantworten . Wenn es dazu
eine Nachfrage geben sollte, werde ich auch die gerne
beantworten .
Aber zunächst einmal zu Ihrer Frage . Ich beantworte die Frage wie folgt: Die zitierte Entscheidung des
Oberverwaltungsgerichts Münster ist am vergangenen
Donnerstag in einem Eilverfahren ergangen . Die Bundesregierung wird zunächst die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts in der Hauptsache und die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in der Hauptsache
über die dort gegen das Gesetz anhängigen Klagen abwarten . In diesem Zusammenhang weist die Bundesregierung darauf hin, dass das Bundesverfassungsgericht
bereits zwei Eilanträge zu dem Gesetz abgelehnt hat .
Herr Ströbele, haben Sie dazu eine Nachfrage?
Also stimmt es nicht, dass die Bundesregierung veranlasst hat, dass die Vorratsdatenspeicherung so lange nicht
praktiziert wird? Das soll die Regierung beschlossen haben .
Herr Staatssekretär .
Herr Kollege Ströbele, Ihre Nachfrage beantworte ich
wie folgt: Für die Durchsetzung der Speicherpflicht ist
die Bundesnetzagentur zuständig . Hierbei handelt es sich
um eine nachgeordnete Behörde des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie . Sie sprechen die heute
auf der Homepage der Bundesnetzagentur veröffentlichte
Presseerklärung an . In dieser Presseerklärung der nachgeordneten Behörde des Bundeswirtschaftsministeriums
heißt es - ich darf zwei Sätze daraus zitieren -:
Aufgrund dieser Entscheidung und ihrer über den
Einzelfall hinausgehenden Begründung sieht die
Bundesnetzagentur bis zum rechtskräftigen Abschluss eines Hauptsacheverfahrens von Anordnungen und sonstigen Maßnahmen zur Durchsetzung
der in § 113b TKG geregelten Speicherverpflichtungen gegenüber allen verpflichteten Unternehmen
ab . Bis dahin werden auch keine Bußgeldverfahren
wegen einer nicht erfolgten Umsetzung gegen die
verpflichteten Unternehmen eingeleitet.
So weit aus der Presseerklärung der Bundesnetzagentur .
Damit ist die Fragestunde beendet . - Die Fragen, die
jetzt nicht beantwortet werden können, werden schriftlich beantwortet .
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 18:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Lebenslagen in Deutschland - Fünfter Armuts- und Reichtumsbericht
Drucksache 18/11980
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Vereinbart ist eine Debattenzeit von 60 Minuten . - Sie
sind damit einverstanden .
Einen Moment, bitte . Wenn ich das einmal so sagen darf:
Wir haben hier ein kleines Chaos .
Ich eröffne die Aussprache. Die Bundesministerin für
Arbeit und Soziales, Frau Nahles, eröffnet die Debatte. Frau Nahles, Sie haben das Wort .
({1})
http://bit.ly/2rVus57
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen
und Kollegen! Es hat ein paar Tage gedauert, bis der Armuts- und Reichtumsbericht fertig war . Warum sollten
wir also nicht auch an dieser Stelle eine kleine Verzögerung haben?
Deutschland geht es gut . Wir haben ein über Jahre
anhaltendes Wachstum, wir haben solide Haushalte von
Staat und Sozialversicherungen, wir haben eine Rekordbeschäftigung, und die Arbeitslosigkeit ist auf dem niedrigsten Stand seit Jahrzehnten .
({0})
Wir können uns also über gute Zahlen freuen, und ich
finde, das sollten wir auch tun.
({1})
Allerdings gibt es eben auch noch eine differenziertere Sicht; denn dass die Löhne im unteren Bereich von
der Mitte abgekoppelt sind und real stagnieren, dass hohe
Vermögen immer weniger durch eigene Leistung gebildet werden, sondern vererbt oder geschenkt sind und dass
Aufstiege immer seltener werden, ist eben auch gesellschaftliche Realität .
({2})
Ich meine, auch dazu muss die Bundesregierung Stellung
beziehen, und das tun wir mit diesem Armuts- und Reichtumsbericht .
Wir können es uns als Bundesregierung auch nicht
vorstellen, dass wir das auslagern und an Experten delegieren . Das ist eine eminent politische Frage .
({3})
Daher ist und bleibt der Armuts- und Reichtumsbericht
wichtig, und zwar als Bericht der Regierung .
({4})
Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich hervorheben,
dass wir die Forschung dazu in einem sehr transparenten
Verfahren ausgewertet haben . Alles, was wir gemacht haben, haben wir öffentlich zugänglich gemacht. Studien,
Indikatoren, Ergebnisse: Alles liegt offen, nichts ist unter
Verschluss . Jeder kann darauf zugreifen . Das macht eine
informierte und fundierte Debatte in der Gesellschaft
überhaupt erst möglich .
Was sind nun die Schlussfolgerungen, die ich aus einem differenzierten Bericht ziehen will, der weder alles
schwarzmalt noch die Situation beschönigt? Mein zentraler Befund ist: Für viele Menschen sind die Versprechen der sozialen Marktwirtschaft brüchig geworden .
Trotz bester Arbeitsmarktsituation entsteht bei vielen
Menschen der Eindruck, dass die Schere zwischen Arm
und Reich weiter auseinandergeht .
({5})
Die Berichterstattung über riesige Managergehälter auf
der einen und vermeintlich zu erwartende Altersarmut
auf der anderen Seite trägt mit dazu bei .
Es gibt aber auch ganz reale Anknüpfungspunkte, zum
Beispiel die Tatsache, dass trotz der guten Wirtschaftslage die Löhne in den unteren Lohngruppen im langfristigen Vergleich real sogar gesunken sind; bei den unteren
40 Prozent der Löhne ist das der Fall . Oder ein anderer
Punkt ist die Tatsache, dass in den letzten Jahren vor allem Jüngere stark von Leiharbeit und befristeter Beschäftigung betroffen gewesen sind. Damit ist unmittelbar unser Verständnis von Armut angesprochen .
Wir, die Bundesregierung, nutzen ganz klar einen relativen Armutsbegriff, der darauf abstellt, was in der Mitte
der Gesellschaft normal ist .
({6})
In der öffentlichen Debatte wird häufig verkürzt auf Einkommensarmut geschaut, oder es werden ausschließlich
Armutsrisikoquoten bemüht . Wir als Bundesregierung
versuchen, einen relativen Armutsbericht zu etablieren .
Selbstverständlich: Einkommen, insbesondere Erwerbseinkommen, sind zentrale Voraussetzung, ein
normales Leben zu führen . Aber ein gleich hohes Einkommen kann für zwei Personen völlig unterschiedliche
Teilhabechancen zur Folge haben . Ich will es einmal beschreiben: Welche Bildung habe ich? Bin ich nur kurzfristig in einem bestimmten Bereich oder über viele Jahre
in einem Niedriglohnbereich tätig? All das macht einen
Riesenunterschied in der Antwort auf die Frage: Wie sind
die Teilhabechancen eines Menschen?
Jede und jeder weiß und erlebt es doch selbst: Nicht
das Erreichen von Mindeststandards bestimmt, ob Menschen das Gefühl haben, am gesellschaftlichen Leben
gerecht teilhaben zu können, am Wohlstand, den wir in
unserem Land gemeinsam erwirtschaften; ob Menschen
das Gefühl haben, voranzukommen, sozial aufsteigen zu
können, wenn sie sich anstrengen . Menschen sehen, wie
es anderen geht . Sie vergleichen sich; das ist eine ganz
normale menschliche Regung . Sie fühlen sich integriert
oder ausgegrenzt . Es geht um die Relation, um die Beziehung zu anderen, zur Gesellschaft .
Aufgrund meiner begrenzten Redezeit möchte ich
einen Punkt herausgreifen: die Kinderarmut . Die wichtigste Maßnahme zum Abbau der Kinderarmut ist die
Beschäftigung der Eltern . In Familien, in denen kein
Elternteil beschäftigt ist, liegt das Armutsrisiko der Kinder bei über 60 Prozent . Schon bei einem Elternteil in
Vollzeit sinkt diese Quote auf 15 Prozent . Arbeiten beide,
liegt das Risiko bei 3 Prozent, unterhalb der allgemeinen
Armutsrisikoquote .
Was jetzt gerade wichtig ist, ist der Blick auf Alleinerziehende . Damit diese einer Erwerbstätigkeit überhaupt
nachgehen können, brauchen wir weitere Verbesserungen bei der Kinderbetreuung .
({7})
Ich spreche hier ausdrücklich das Thema Betreuung in
Randzeiten an . 26 Prozent der deutschen Beschäftigten
arbeiten zwischen 18 und 23 Uhr . Nun muss man einmal
gucken, wie die Öffnungszeiten von Kitas und Schulen
sind. Von diesen Arbeitszeiten betroffen sind viele Berufe
im Bereich Handel, aber auch in der Altenpflege.
Wir haben nachgefragt: Was stellen sich Alleinerziehende vor? Was sind das für Berufe? Sind das typische
Frauenberufe? Die Antwort war: Ja, das sind Berufe im
Handel und in der Pflege; das können sie sich vorstellen.
Dann gucken Sie sich die Arbeitszeit in diesen Bereichen
und die Möglichkeiten der Betreuung für Kinder an .
Dann erkennen wir an dieser Stelle ein entscheidendes
Problem .
Wir können also etwas verändern . Das sollte uns anspornen, weiterhin alles für eine hohe Beschäftigung,
gute Löhne und eine gute Vermittlung zu tun, damit die
Eltern in Arbeit und die Kinder raus aus der Armut kommen . Das ist ein ganz zentraler Punkt .
({8})
Wir müssen in gute Betreuung investieren, gerade auch,
wie ich sagte, in Randzeiten, auch nach der Kitazeit .
Meine Tochter wird jetzt eingeschult . Damit ist die Betreuung auf einmal schwieriger geworden . Das ist genau
das, was wir überall in Deutschland erleben: Es geht also
auch um Ganztagsschulen .
Wir müssen auch dafür sorgen, dass Alleinerziehende
nicht in Niedriglohnjobs, vor allem auch in Minijobs und
Teilzeitjobs, stecken bleiben, da diese kein eigenständiges Einkommen ermöglichen, von dem man außerhalb
der Armutszone leben kann . Das haben wir mit der Forderung nach einem Recht auf Rückkehr in Vollzeit zu befördern versucht, was leider nicht gelungen ist .
({9})
Wir müssen uns um einen Pakt für anständige Löhne
bemühen . Ich hatte dazu für den 19 . Juni dieses Jahres zu
einem Spitzengespräch mit allen relevanten Gruppen in
der Gesellschaft eingeladen . Bei allen Unterschieden, die
dabei deutlich geworden sind, waren wir uns sehr einig,
dass es tatsächlich wichtig und richtig war, in dieser Legislaturperiode den Mindestlohn einzuführen . Aber der
Mindestlohn ist kein guter Lohn . Der Mindestlohn reicht,
über ein ganzes Leben betrachtet, nicht für ein gutes Einkommen bzw . eine gute Rente .
({10})
Deswegen müssen wir genau da ansetzen und dafür
Sorge tragen, dass die Tarifstrukturen gestärkt werden
und auch im Dienstleistungsbereich, gerade in der Arbeit von Mensch zu Mensch, wo die Löhne besonders
schlecht sind, im Logistikbereich und in verschiedenen
anderen Bereichen und Branchen anständige Löhne gezahlt werden .
({11})
Hier hat übrigens jeder Verantwortung, zuallererst natürlich die Tarifpartner, die Sozialpartner, aber eben auch
Kirchen - im Bereich Pflege - oder die Zivilgesellschaft
und nicht zuletzt die Politik . Ich denke, es gibt noch viel
zu tun .
Wir haben in dieser Legislatur sehr viel geschafft - dafür möchte ich mich bedanken; das ist heute meine letzte
Rede an dieser Stelle in dieser Legislatur -, aber es ist
noch genug zu tun . Wenn es dafür eines Beweises bedurft
hätte, dann ist das der Armuts- und Reichtumsbericht .
Vielen Dank .
({12})
Das Wort hat die Kollegin Katja Kipping für die Fraktion Die Linke .
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir diskutieren heute über den Armuts- und Reichtumsbericht .
Die CDU/CSU-Fraktion hat ursprünglich gar nicht vorgehabt, diesen Bericht hier im Bundestag zu behandeln .
({0})
Erst die gezielte Nachfrage des linken Rentenexperten
Matthias W. Birkwald in einer öffentlichen Anhörung hat
Bewegung in die Sache gebracht . Hier zeigt sich wieder
einmal: Links wirkt .
({1})
Laut diesem Bericht leben hierzulande 13 Millionen
Menschen in Armut; das ist jeder Sechste . Die Zahl der
Menschen in verfestigter Armut - das heißt über viele
Jahre hinweg - hat sich verdoppelt . Auch das gehört zur
Bilanz der Regierung Merkel .
Inzwischen wissen wir - der Bericht bestätigt das
auch -: Es geht ein Riss durch die Gesellschaft . Denn je
ärmer die Menschen sind und je geringer das Einkommen in einem Viertel ist, desto geringer sind die politische Teilhabe und die Wahlbeteiligung .
({2})
Das heißt, die soziale Spaltung gefährdet die Demokratie. Auch deshalb werden wir uns niemals damit abfinden, dass Menschen hierzulande in Armut leben müssen .
({3})
Armut wird auch am gesellschaftlichen Standard gemessen . Armut bedeutet aber auch ganz konkret, wenn
der Kühlschrank kaputtgeht, nicht zu wissen, wie man
einen neuen finanzieren soll. Armut bedeutet, wenn am
Ende des Geldes leider oft noch viel vom Monat übrig
ist . Armut bedeutet, dass, wenn ein runder Familiengeburtstag in einer anderen Stadt stattfindet, manche überlegen müssen: Kann ich mir überhaupt das Fahrgeld und
ein kleines Geschenk leisten, oder muss ich mit irgendwelchen vorgetäuschten Ausreden absagen?
Armut bedeutet für Millionen Eltern in diesem Land,
im Sommer den Kindern erklären zu müssen, dass man
sich den Besuch im Schwimmbad eigentlich gar nicht
oder wenn, dann nur ganz selten leisten kann . Versuchen
Sie einmal, das einem Kind zu erklären, wenn die Kitafreunde alle dort hingehen .
19,9 Prozent der Familien mit Kindern in diesem
Land, also jeder Fünfte, kann sich nicht einmal eine Woche Familienurlaub leisten . Das heißt, wenn die Kinder
nach den Ferien alle wieder in der Schule zusammenkommen und von ihrem Urlaub berichten, haben diese
Kinder keine Geschichte beizusteuern . Auch das ist eine
Form von Armut und Ausgrenzung, mit der ich mich niemals abfinden werde.
({4})
Ich bin überzeugt: Kinderarmut erschwert den Start
ins Leben . Deswegen müssen wir jedes Kind und jeden
Jugendlichen vor Armut schützen . Deswegen machen
wir mit einem breiten Bündnis Druck für eine Kindergrundsicherung in Höhe von rund 570 Euro . Denn jedes
Kind hat das Recht auf einen guten Start ins Leben .
({5})
Leider werden auch die Bildungschancen vom Einkommensstatus der Eltern beeinflusst. Der Armutsbericht
macht das ganz deutlich . Aus den armen Haushalten geht
gerade einmal jedes vierte Kind aufs Gymnasium, aus
nichtarmen Haushalten immerhin jedes zweite .
Nun ist mir als Mutter einer Tochter bewusst: Nicht
jedes Kind muss aufs Gymnasium gehen . Auch ein anderer Schulabschluss mit einer anschließenden Berufsausbildung kann eine tolle Ausbildung sein. Aber ich finde,
es ist ungerecht, wenn der Bildungsweg durch das Portemonnaie und den Kontostand der Eltern vorgeprägt wird .
Das muss sich ändern .
({6})
Um dies zu ändern, brauchen wir Kitas und Schulen,
in denen die Erzieher und Lehrkräfte für die einzelnen
Kinder Zeit haben, auch für die, die vom Elternhaus nicht
so viel Bildungskapital mitbringen . Um das zu ändern,
brauchen wir schlichtweg längeres gemeinsames Lernen .
({7})
Der Armuts- und Reichtumsbericht hat auch
Schwächen, zum Beispiel, wenn behauptet wird, der
Hartz-IV-Regelsatz würde das soziokulturelle Existenzminium abdecken . Hier widerspricht die Linke ganz
entschieden . Der Hartz-IV-Regelsatz ist immer wieder
von allen Vorgängerregierungen gezielt kleingerechnet
worden, leider unter Schwarz-Rot . Wir Linke sagen ganz
klar: Der Regelsatz für einen Erwachsenen müsste mindestens 150 Euro höher ausfallen .
({8})
Wer nun meint: „Hartz IV sind nur die anderen; das
hat nichts mit meinem Leben zu tun“, der irrt . Denn
Hartz IV befördert Existenzängste und Abstiegsängste .
Wer Angst hat, der sagt eher Ja zu niedrigen Löhnen oder
zu ungesunden Arbeitszeiten . Wer Angst hat, ist weniger bereit, zu teilen . Deswegen fällt der lange Schatten
von Hartz IV bereits jetzt auf die gesamte Gesellschaft .
Auch deswegen werden wir immer sagen: Dieses System gehört abgeschafft. Wir wollen es durch gute Arbeit
und eine sanktionsfreie Mindestsicherung in Höhe von
1 050 Euro ersetzen .
({9})
Der Bericht heißt Armuts- und Reichtumsbericht .
Ich finde es gut, dass der Bericht versucht, einmal die
Situation der Hochvermögenden zu beschreiben und
mehr Licht in deren Situation zu bringen . Zwei Drittel
der Hochvermögenden geben an, dass für ihren Reichtum auch Schenkungen und Erbschaften relevant waren,
also sicherlich eher Schenkungen innerhalb der Familie .
Rufen wir uns in Erinnerung: Die Kinder, die in armen
Familien geboren werden, haben geringere Chancen, auf
ein Gymnasium zu gehen . Der Lebensweg wird also ganz
stark davon geprägt, in welche Familien Kinder hineingeboren werden .
Frau Klatten und ihr Bruder, die Erben des BMW-Aktienpakets, sind auf der Sonnenseite geboren worden . Sie
bekommen pro Jahr, ohne einen Finger krumm machen
zu müssen, 1 Milliarde Euro allein durch das Aktienpaket. Ich finde, hier müssen wir über eine ordentliche Millionärssteuer Ausgleich schaffen.
({10})
Ich komme zum Schluss . Auch deswegen ist es so
ärgerlich, dass man beim Thema Reichtumsbesteuerung
die SPD so zum Jagen tragen muss . Wir brauchen die
Einnahmen aus einer Vermögensteuer, damit wir mehr
Geld in Bildungsgerechtigkeit stecken können . Die Probleme von Armut und von Bildungsungerechtigkeit sind
so groß, dass wir nicht einfach so weitermachen können
wie bisher . Die Menschen hierzulande brauchen einen
Aufbruch hin zur Sanktionsfreiheit, hin zu einer Gesellschaft, die frei von Armut ist, und hin zu sozialer Gerechtigkeit für alle .
Vielen Dank .
({11})
Das Wort hat der Kollege Kai Whittaker für die CDU/
CSU-Fraktion .
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kollegen! Das Ziel des Armuts- und Reichtumsberichts ist es, dass wir die Lebenslagen von Millionen von Menschen in Deutschland besprechen. Ich finde, insbesondere die Menschen, die in
Armut leben, hätten es verdient, dass wir sie besonders
in den Blick nehmen; denn sie haben keine Lobby, und
sie hoffen darauf, dass wir als Politiker ihnen zuhören
und ihre Situation verstehen, wissend, vor welchen Herausforderungen sie stehen, und wir ihnen mit unseren
Konzepten helfen .
Aber, Frau Kollegin Kipping, stattdessen haben Sie
sich mal wieder dafür entschieden, eine billige Dreigroschenoper aufzuführen .
({0})
Im ersten Akt rücken Sie das Land nahe an den sozialen
Abgrund .
({1})
Im zweiten Akt werfen Sie der Regierung Untätigkeit
vor, und im dritten Akt kommen Sie mit Lösungskonzepten um die Ecke, die niemandem, insbesondere nicht
den Armen, helfen . Ich weiß nicht, wie ich das bezeichnen soll, ob es eine Tragödie oder eine Komödie ist . Ich
fürchte bloß, dass das, was Sie hier aufführen, nicht einmal drei Groschen wert ist .
({2})
Ich habe Verständnis dafür, wenn Sie die soziale Ungerechtigkeit in diesem Land anprangern, wenn Sie die
Spaltung unseres Landes beklagen . Das ist Ihr Geschäftsmodell . Darauf basiert Ihr politisches Modell . Ohne
Armut hätten Sie keinen politischen Auftrag in diesem
Land .
({3})
Aber die Fakten sprechen eine andere Sprache . Ich
weiß, dass Sie das nicht gerne hören . Aber ich kann Ihnen
das nicht ersparen . Fakt ist, dass wir 4 Millionen Menschen seit 2005 mehr in Arbeit haben .
({4})
Fakt ist: Im Berichtszeitraum dieses Armuts- und
Reichtumsberichts sind die Löhne stärker gestiegen als
die Einkommen aus Vermögen und Unternehmen .
({5})
Fakt ist, dass die Mittelschicht in Deutschland nicht
schrumpft, sondern nach wie vor zwei von drei Deutschen ihr angehören . Fakt ist, dass die Zahl der Langzeitarbeitslosen, seitdem wir regieren, halbiert worden ist .
Fakt ist, dass die Einkommen zwischen der reicheren und
der ärmeren Hälfte in Deutschland seit zehn Jahren stabil
gleich verteilt sind. Fakt ist, dass der Gini-Koeffizient,
ein internationales Maß,
({6})
in ganz Deutschland seit 2005 konstant um die 0,3 liegt .
Das ist einer der niedrigsten Werte, den es in der OECD
gibt .
({7})
Fakt ist, dass die absolute Armut in diesem Land um
circa 20 Prozent in den letzten zwei Jahren gesunken ist .
Fakt ist, dass seit 2005 die Zahl der sogenannten Working
Poor, also derer, die von ihrem Gehalt nicht leben können, konstant niedrig ist .
({8})
Fakt ist, dass die Zahl der SGB-II-Empfänger seit
Einführung um fast 20 Prozent zurückgegangen ist . Und
Fakt ist, dass über 70 Prozent der Menschen in diesem
Land sagen, ihnen ginge es noch nie so gut wie heute .
({9})
Genau deshalb funktioniert diese Ungerechtigkeitsdebatte nicht . Ihre Wirklichkeit existiert nur hier in diesem
Plenum . In Deutschland sieht es wesentlich besser aus,
als Sie es wahrhaben wollen .
({10})
Ich möchte in diesem Punkt auch einige Worte an
die SPD richten: Ihre innere Zerrissenheit macht mich
manchmal schon fassungslos . Sie müssen sich entscheiden: Entweder Sie sind stolz auf diese Entwicklungen,
die wir gemeinsam in dieser Bundesregierung erreicht
haben;
({11})
dann hören Sie aber im Wahlkampf bitte mit dieser Jammerei auf . Oder Sie beklagen wortreich diese angeblichen Ungerechtigkeiten . Aber dann haben Sie eine Mitschuld daran . Dann gehören Sie in die Opposition und
nicht ins Kanzleramt .
({12})
Ihr Problem ist auch, dass Sie alles sehr statisch sehen .
({13})
Die Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaft enthält
zur Einkommensungleichheit Folgendes - ich zitiere -:
Es liegt nahe, „dass die Alterszusammensetzung eine
entscheidende Rolle für Ungleichheitsanalysen spielt .
Insbesondere bei der Interpretation jährlicher Einkommensungleichheit im Bevölkerungsquerschnitt sollte
dies beachtet werden: Die Ungleichheit ist in einer Gesellschaft mit relativ vielen älteren Erwerbstätigen höher
als in einer Gesellschaft mit vielen 30-Jährigen .“
Herr Kollege Whittaker, gestatten Sie eine Frage oder
Bemerkung aus den Reihen Ihres Koalitionspartners?
({0})
Wer genau?
({0})
- Herr Rosemann, auf diese Gelegenheit habe ich vier
Jahre lang warten müssen .
({1})
Herr Whittaker, vielen Dank, dass Sie die Zwischenfrage gestatten . - Wenn ich gewusst hätte, dass Sie so
scharf darauf sind, dass ich Ihnen eine Zwischenfrage
stelle, hätte ich das bestimmt früher gemacht . Aber ich
verspreche Ihnen: In der nächsten Legislaturperiode stelle ich Ihnen früher eine Zwischenfrage .
Ich würde Ihnen gern zwei Fragen stellen . Die erste
Frage lautet: Herr Whittaker, sind Sie vielleicht auch der
Auffassung, dass es die Aufgabe verantwortungsvoller
Politik ist, dass wir einerseits auf die Dinge, die wir geleistet haben, stolz sind und auch immer wieder deutlich
machen, wo die Erfolge von politischem Handeln liegen,
dass wir auf der anderen Seite immer aufgerufen sind,
nicht blauäugig durch diese Welt zu laufen, sondern dort,
wo es Probleme gibt, diese zu erkennen, zu benennen
und nach Lösungen zu suchen,
({0})
anstatt sich nur auf den Lorbeeren der Vergangenheit auszuruhen?
({1})
Eine zweite Frage möchte ich Ihnen stellen, nachdem
Sie die Erfolge seit 2005 hier aufgezählt haben, die anscheinend wundersamerweise dadurch entstanden sind,
dass Frau Dr . Merkel zur Bundeskanzlerin gewählt worden ist .
({2})
Können Sie mir eigentlich mal erklären, welchen Beitrag
Frau Dr . Merkel und die von ihr geführten Bundesregierungen sowie die CDU/CSU eigentlich dazu geleistet haben, nachdem 16 Jahre lang Reformen in diesem Land
durch die Regierung von CDU/CSU und FDP verschlafen worden sind und die großen Reformen am Arbeitsmarkt und in den Sozialsystemen in den sieben Jahren
von Rot-Grün durch Gerhard Schröder und seine Bundesregierung vorgenommen worden sind?
({3})
Erklären Sie mir und diesem Hohen Haus doch mal, welchen Anteil denn Sie und Ihre Fraktion daran haben und
welchen Beitrag Sie geleistet haben .
Herr Kollege .
Herr Kollege Rosemann, ich bin ja schon fast überrascht über so eine Frage . Denn wenn ich die Geschichtsschreibung richtig in Erinnerung habe, war es nicht die
schwarz-gelbe Bundesregierung von 1994 bis 1998, die
Reformen verschlafen hat, sondern eine rot-grüne Mehrheit im Bundesrat hat sämtliche Sozialreformen und
andere Reformen, die wir im Bundestag vorhatten, blockiert .
Das ist genau der Unterschied, den wir damals unter Ihrer Bundesregierung gemacht haben, als Sie die
Agenda 2010 eingeführt haben . Wir haben die Partei
hintangestellt und die Verantwortung für dieses Land
übernommen und im Bundesrat zugestimmt, damit die
Agenda 2010 durchgeht .
({0})
Mit Blick auf diese Bundesregierung sind wir offensichtlich die einzige regierungstragende Fraktion, die
dieses Erbe noch verteidigt .
({1})
Ich komme gerade von einer Podiumsdiskussion mit Ihrer Ministerpräsidentin Dreyer, die gut und gerne das gesamte Hartz-IV-System abschaffen möchte.
({2})
Ich sehe nicht, dass die SPD noch zu der Reform steht,
die Sie eben lobpreisend dargestellt haben .
Helfen Sie mir auf die Sprünge, Herr Rosemann, wie
die erste Frage, die Sie gestellt haben, lautete?
({3})
Ich bitte um Unterstützung, indem die erste Frage
noch einmal kurz umrissen wird .
Ist es denn nicht Aufgabe verantwortungsvoller Politik, sich nicht nur auf den Lorbeeren der Vergangenheit
auszuruhen und die eigenen Erfolge abzufeiern, sondern
immer wieder auch zu schauen, wo Probleme bestehen,
sie zu benennen und dann Lösungen aufzuzeichnen?
Richtig, Herr Rosemann, damit habe ich überhaupt
kein Problem . Ich muss Sie da nur um etwas Geduld bitten; denn das kommt am Ende meiner Rede .
({0})
Also, Deutschland - da war ich stehen geblieben - ist
ein Land, das schneller altert . Und es ist ganz klar: Ältere
Menschen verdienen mehr als jüngere . Deshalb können
Sie die heutige Situation nicht mit der Situation von vor
20 oder 30 Jahren vergleichen, wenn Sie Ungleichheit
bewerten wollen .
Ich finde auch, dass Sie unredlich vorgehen. Sie unterschlagen beispielsweise die Bedeutung der gesetzlichen Rentenversicherung bei der Vermögensbetrachtung .
Wenn man sich die vielen Vermögensungleichheitsstudien anschaut, dann stellt man fest, dass die gesetzliche
Rente nicht berücksichtigt wird . Würde man das tun,
dann würde man feststellen, dass 40 Prozent des deutschen Gesamtvermögens in der gesetzlichen Rentenversicherung sind . Obwohl Sie sonst die gesetzliche Rentenversicherung hier immer hochhalten, unterschlagen Sie
deren Stellenwert in diesem Punkt .
({1})
Wenn man die gesetzliche Rentenversicherung einbezieht, dann sinkt der Gini-Koeffizient um ein Drittel.
Aber ich weiß, dass nach Ihrem Dafürhalten die Union
an allem schuld ist . Das ist ein beliebtes Spiel .
Ich rate nur, einen Blick in den Haushalt zu werfen .
Dort haben wir in dieser Legislaturperiode den Anteil der
Ausgaben für Soziales von 53 auf 56 Prozent gesteigert .
Das sind immerhin 16 Milliarden Euro pro Jahr zusätzlich . Was haben wir damit gemacht? Der Bund bezahlt
nun für die Betriebskosten der Kitas über 6 Milliarden
Euro . Der Bund hat einen Rechtsanspruch auf frühkindliche Bildung geschaffen. Der Bund hat die Bildungsausgaben um die Hälfte gesteigert . Der Bund hat das BAföG
erhöht . Der Bund hat 20 Milliarden Euro für den Hochschulpakt lockergemacht. Der Bund hat die berufliche
Weiterbildung insbesondere für Ältere und Langzeitarbeitslose gestärkt . Die Reallöhne sind überproportional
gestiegen, insbesondere bei Geringqualifizierten, Teilzeitbeschäftigten und Frauen . Der Bund hat die Rente
verbessert, insbesondere die Erwerbsminderungsrente .
Das haben wir sogar zweimal in dieser Legislaturperiode
gemacht .
({2})
Der Bund hat den Unterhaltsvorschuss für Alleinerziehende ausgeweitet .
Sie können der Bundesregierung nun vorwerfen, dass
nicht jeden Tag die Sonne über Deutschland scheint .
Aber im Bereich „Arbeit und Soziales“ sowie für Alleinerziehende und Geringqualifizierte haben wir mehr gemacht als jede Bundesregierung zuvor seit der deutschen
Wiedervereinigung .
({3})
Wir brauchen definitiv keine Belehrungen darüber,
wie Wohlstand in diesem Land funktioniert . Wir können
Wohlstand sehr wohl .
({4})
Unser Ziel ist deshalb klar . Es geht nicht um das Verteilen von Almosen . Die Würde des Menschen bemisst
sich nicht nach der Höhe des Sozialtransfers, sondern danach, ob er mit seiner eigenen Hände Arbeit sein Leben
bestreiten und auf den eigenen Beinen stehen kann . Das
ist unser Anspruch als Christdemokraten .
({5})
Auch Ihre Schlussfolgerung, dass wir in Deutschland mehr Umverteilung brauchen, ist falsch . Sie wollen Hartz IV erhöhen, die Sanktionen abschaffen und das
Rentenniveau allgemein steigern . Sie vergessen zum einen, dass die Umverteilung schon sehr gut funktioniert .
Die oberen 10 Prozent sorgen für mehr als die Hälfte des
gesamten Steueraufkommens .
({6})
Die untere Hälfte trägt nur zu 7 Prozent zum Steueraufkommen bei .
({7})
Zum anderen ist den Armen mit Ihren Vorschlägen
nicht geholfen . Auf die sollten Sie einmal Ihren Blick
richten . Nehmen wir nur einmal alleinerziehende Frauen,
bei denen die Armutsquote am höchsten ist . Was nutzt
diesen Frauen ein höherer Hartz-IV-Satz, wenn sie keinen Anspruch auf einen Ganztagsplatz in der Kita oder
der Grundschule haben?
({8})
Was nutzt Menschen ohne Berufsabschluss ein höherer
Hartz-IV-Satz, wenn sie in einem Hochtechnologieland
wie Deutschland keine Chance haben, einen Berufsabschluss zu erwerben? Was nutzt Migranten ein höherer
Hartz-IV-Satz, wenn es keine Sprachkurse gibt und sie
kein Deutsch lernen können?
({9})
Was nutzt Langzeitarbeitslosen ein höherer Hartz-IVSatz, wenn wir uns um sie nicht intensiver kümmern?
({10})
Was nutzt insbesondere Kindern aus Hartz-IV-Familien - die Ministerin hat das angesprochen - ein höherer
Hartz-IV-Satz, wenn ihnen nicht vorgelebt wird, wie man
seinen Lebensunterhalt durch Arbeit bestreitet?
({11})
Nebenbei bemerkt, liebe Kollegen von der SPD, auch
ein höheres Rentenniveau hilft den Gruppen, die von Armut betroffen sind, nicht.
({12})
Ich zitiere die Forscher der Bertelsmann-Studie:
Die Stabilisierung des Rentenniveaus bei 46 Prozent zielt nicht direkt auf Haushalte an der Armutsschwelle ab .
({13})
Es bekümmert mich schon, dass Sie da nicht die Armen
in diesem Land im Blick haben . Unser Ziel ist ganz klar:
Wir orientieren uns am Menschen . Unser oberstes Ziel
bleibt, die Wirtschaft auf Kurs zu halten . Arbeit ist - die
Ministerin hat da recht - das beste Mittel, um Armut zu
bekämpfen .
Wir brauchen keine unnötigen Steuererhöhungsdebatten, die die Leute verunsichern, sondern wir müssen die
Steuern senken, insbesondere für die Familien .
({14})
Wir brauchen eine Ganztagsbetreuung auch in Grundschulen . Wir müssen alles dafür tun, dass die Menschen
von ihrem Geld wieder etwas aufbauen können, dass sie
ihr eigenes Häuschen kaufen können, dass sie Vermögen
ansparen können .
({15})
Wir sind wild dazu entschlossen, das Versprechen von
Ludwig Erhard einzuhalten, dass Wohlstand für alle in
diesem Land möglich ist . Deshalb wollen wir auch - an
diesem Ziel halten wir fest - das Ziel der Vollbeschäftigung in den Blick nehmen . Dazu brauchen wir Anreize für lebenslange Weiterbildung . Das heißt auch, dass
wir gerade im Bereich der Langzeitarbeitslosen dringend
eine bessere und engere Betreuung brauchen . Wir müssen konsequent auf Sprachkurse setzen und Ausbildungsberufe in den Vordergrund stellen .
Insofern ziehen wir als Union frohen Mutes in den
Wahlkampf . Ich glaube, die Alternativen liegen deutlich
auf dem Tisch .
({16})
Wir wollen, dass sich die Menschen hocharbeiten können . Wir wollen, dass sie ein freies und selbstbestimmtes
Leben führen können . Wir wollen Chancen und Möglichkeiten für die Menschen eröffnen, damit sie sagen können: Die Union steht für ein Deutschland, in dem wir gut
und gerne leben .
Herzlichen Dank .
({17})
Das Wort hat der Kollege Dr . Wolfgang StrengmannKuhn für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Helmut Kohl hat einmal gesagt: Wichtig ist, was am
Ende rauskommt . ({0})
Was am Ende rauskommt, das steht hier in diesem Armuts- und Reichtumsbericht . Sie können noch so viel
darauf verweisen, was die Bundesregierung alles gemacht hat - fleißig waren Sie, ja -: Hier steht aber drin,
was rausgekommen ist, und zwar, wenn es um Armut in
Deutschland geht . Wir können uns die Zahlen einmal anschauen: Die Armutsquote ist trotz guter ökonomischer
Situation in diesem Land gestiegen .
({1})
Meine Kollegin Katja Kipping hat die Zahl eben schon
einmal genannt: 13 Millionen Menschen in Deutschland
leben in Armut . 13 Millionen Menschen in Deutschland
leben auf Hartz-IV-Niveau oder sogar darunter . Die
Zahlen müssen Sie sich einmal anschauen und das zur
Kenntnis nehmen . 2,5 Millionen Kinder in Deutschland
leben in Armut; das ist jedes fünfte Kind .
({2})
Das ist angesichts der ökonomischen Lage ein Skandal,
und der gehört beendet .
({3})
Sie haben gesagt, Ihr Ziel sei es, dass man von seiner
Hände Arbeit leben kann . Wenn man sich die vorliegenden Zahlen anschaut, stellt man fest: Es ist viel schlimmer geworden . Die Zahl derjenigen, die trotz Erwerbstätigkeit in Armut leben, also der Working Poor, ist deutlich
angestiegen, seit die CDU regiert . Es sind mittlerweile
über 9 Prozent . Das klingt erstmal nicht viel . Aber 9 Prozent von 43 Millionen Menschen bedeutet, dass 4 Millionen Erwerbstätige von ihrer Hände Arbeit nicht leben
können . Auch das ist ein Skandal, der beendet gehört .
({4})
Wir haben eben gehört, wie hoch die Armutsquote bei
denjenigen ist, bei denen eine Person Vollzeit erwerbstätig ist: Da beträgt die Armutsquote 15 Prozent . Das heißt,
bei jeder sechsten Familie, in der eine Person Vollzeit
erwerbstätig ist, reicht das Einkommen nicht aus . Auch
das müssen wir angehen und beenden . Diese Situation
ist also alles andere als dazu geeignet, sie schönzureden .
Wir haben ein Ungleichheitsniveau, das auf Rekordmaß liegt und trotz guter ökonomischer Situation nicht
gesunken ist . Wir haben jetzt schon seit weit über zehn
Jahren ein Rekordmaß an Armut auf weitgehend konstantem Niveau . Es ist der CDU-geführten Regierung in
den fast acht Jahren, in denen sie zusammen mit der SPD
regiert hat, nicht gelungen, diese Armutsquote zu senken .
Wir müssen uns aber daranmachen, die Armutsquote in
Deutschland zu senken .
({5})
Wir haben hier ja sogar im Rahmen der sogenannten
SDGs, der Nachhaltigkeitsziele, die auch für Deutschland gelten, gemeinsam beschlossen, dass wir bis 2030
die Armut in Deutschland halbieren wollen . Das steht da
drin . Da sind Sie aber keinen Zentimeter vorangekommen . Deswegen ist dieser Armuts- und Reichtumsbericht
eigentlich einmal ein Anlass, darüber zu diskutieren, wie
wir Armut in Deutschland senken wollen . Wir als Grüne
haben dazu Vorschläge gemacht . Ich will nur drei Punkte
herauspicken, weil ich relativ wenig Zeit habe .
Das Erste ist: Wir brauchen eine Grundsicherung, die
tatsächlich vor Armut schützt ({6})
nicht mit Regelsätzen, für deren Ermittlung die Vergleichsgruppe arme Menschen sind und wobei das Ergebnis noch um 25 Prozent heruntergerechnet wird .
Das kann nicht vor Armut schützen . Wir brauchen eine
Grundsicherung, die tatsächlich bei den Menschen ankommt, die unbürokratisch ist, die vereinfacht ist, die
nicht mit solchen Hürden versehen ist, wie wir sie jetzt
haben . Die sogenannte Rechtsvereinfachung, die im letzten Jahr von der Großen Koalition verabschiedet worden
ist, war ein Rohrkrepierer . Sie hat nichts genützt . Wir
brauchen eine einfache Grundsicherung .
({7})
Und wir brauchen eine Grundsicherung, die ohne Sanktionen ist .
({8})
Denn das Existenzminimum ist ein Grundrecht; so hat
uns das Bundesverfassungsgericht gesagt .
Punkt zwei: Kinderarmut . Ich habe gesagt: 2,5 Millionen Kinder in Armut . Das muss für uns Mahnung sein,
endlich da ranzugehen . Wir brauchen eine Kindergrundsicherung, die endlich die Ungerechtigkeit beseitigt, dass
Menschen mit hohem Einkommen - wie wir Bundestagsabgeordnete - für ihre Kinder mehr bekommen als Leute,
die Kindergeld erhalten .
({9})
Wir brauchen eine Kindergrundsicherung in der Größenordnung von 300 Euro pro Monat, einkommensunabhängig . Für die Einkommensschwachen reicht das nicht aus .
Für sie brauchen wir einen Kindergeldbonus - so nennen
wir Grünen das -, der zusammen mit dem Kindergeld
oder der Kindergrundsicherung ausgezahlt wird, damit
bei Menschen mit geringem Einkommen das Existenzminimum der Kinder unbürokratisch gedeckt wird . Das
wären Maßnahmen, mit denen wir Kinderarmut effektiv
verringern könnten .
({10})
Der dritte Punkt betrifft die Rente. Die Altersarmut
steigt an . Die Altersgruppe der Rentner ist diejenige, in
der die Armutsquoten am stärksten steigen .
({11})
Es ist zwar so, dass bei ihnen die Altersarmutsquote nur
durchschnittlich ist, aber sie war lange Zeit unterdurchschnittlich, und sie steigt stark an . Es ist - Sie haben den
demografischen Wandel angesprochen - eine größer werdende Gruppe, die Angst vor Altersarmut greift um sich,
und auch die faktische Altersarmut erhöht sich . Gehen
Sie doch mal raus auf die Straße, und schauen sich an,
wie viele alte Menschen in den Mülleimern nach Pfandflaschen suchen!
({12})
Es sind zunehmend auch Leute, die nicht obdachlos sind,
sondern die ordentlich gekleidet sind, bei denen aber
ganz offensichtlich die Rente einfach zu gering ist.
Deswegen geht unser Vorschlag in die Richtung: Die
Rente muss zum Leben reichen - die Rente! -,
({13})
und zwar ohne Bedürftigkeitsprüfung . Wenn man in der
Rentenversicherung versichert war, muss am Ende eine
Garantierente herauskommen, die über dem Grundsicherungsniveau liegt
({14})
und bei der eben nicht auf Bedürftigkeit geprüft wird wie
beim Modell der Linken oder beim SPD-Modell . Wir
wollen eine solche Rente ohne Bedürftigkeitsprüfung,
für die das Ersparte nicht offengelegt werden muss, für
die nicht der Partner oder die Partnerin gefragt werden
muss, sondern bei der betriebliche Altersvorsorge und
private Altersvorsorge obendrauf kommt . Das erhöht die
Akzeptanz der Rentenversicherung und ist ein Riegel vor
steigender Altersarmut .
({15})
Ich will in den letzten paar Sekunden noch einen
wichtigen Punkt ansprechen . Ich habe eben schon gesagt:
Wenn man mal rausgeht, bemerkt man die Menschen, die
auf der Straße leben müssen . Falls Sie mit der U-Bahn
fahren, sehen Sie: An der Friedrichstraße sitzen immer
die gleichen Leute . - Die Bundesregierung hat es nicht
mal geschafft, dazu eine Statistik zu veröffentlichen.
({16})
Das kommt zu den Zahlen, die im Armuts- und Reichtumsbericht stehen, noch dazu . Diese Menschen sind in
den 15 Prozent, den 13 Millionen, noch gar nicht enthalten .
({17})
Es sind in etwa 300 000 . Das ist keine amtliche Statistik,
sondern das sind Schätzungen von Wohnungsloseninitiativen . Auch das ist noch ein wichtiger Punkt für den
nächsten Armuts- und Reichtumsbericht: Wir brauchen
dazu ordentliche Zahlen .
Wir brauchen aber natürlich auch Maßnahmen . Wir
brauchen ein nationales Programm gegen Obdachlosigkeit; denn es ist eine Schande, dass bei uns Menschen
auf der Straße leben müssen . Das müssen wir verhindern;
denn auch Wohnen ist ein Grundrecht .
({18})
Es gibt noch viel mehr, was zu tun ist; das haben wir
in einem Antrag beschrieben . Ich habe jetzt vor allen
Dingen über finanzielle Leistungen geredet, die das Existenzminimum absichern . Aber wir brauchen natürlich
noch mehr . Wir brauchen einen inklusiven Arbeitsmarkt .
Wir brauchen inklusive Bildung .
({19})
Wir brauchen einen sozialen Arbeitsmarkt für Langzeitarbeitslose . Wir brauchen ein Gesundheitssystem, mit
dem alle vernünftig abgesichert sind . Wir müssen beim
Wohnen mehr machen, damit Wohnen nicht zu Armut
führt . All das passiert bei der Großen Koalition viel zu
wenig . Wir sehen: Die Armut sinkt nicht . Deswegen ist
es wichtig, in den nächsten Wochen und Monaten vor der
Bundestagswahl darüber zu streiten, wer die besseren
Konzepte hat, um Armut in Deutschland tatsächlich zu
verringern .
Vielen Dank .
({20})
Das Wort hat die Kollegin Daniela Kolbe für die
SPD-Fraktion .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Ich will in meiner Rede zum Armuts- und
Reichtumsbericht mit viel Positivem beginnen .
({0})
Ich freue mich zunächst einmal, dass dieser Tagesordnungspunkt heute, trotz pickepackevoller Tagesordnung,
doch zu einer sehr prominenten Zeit mit aufgesetzt und
ausreichend Redezeit vorgesehen wurde . Klar, wir könnten noch viel mehr Zeit damit füllen . Auf alle Fälle wird
das aber dem Thema gerecht . Darüber freue ich mich
sehr .
({1})
Dieser Armuts- und Reichtumsbericht unterliegt nicht
der Diskontinuität, das heißt, auch nach den Wahlen ist
er noch aktuell .
({2})
Viele Erkenntnisse aus diesem Bericht gehören in den
nächsten Koalitionsvertrag . Wir als SPD-Fraktion werden uns dafür einsetzen, dass viele der Erkenntnisse dort
einfließen.
({3})
Wenn man mit den Menschen spricht, die an der Entstehung des Berichts beteiligt waren, nimmt man zudem
eine große Zufriedenheit wahr . Überall wird die Transparenz gelobt, die Beteiligung gelobt, die Website gelobt,
in der man jede Studie, jede Zahl findet. Ich will dieses
Lob auch Andrea Nahles und ihrem Haus aussprechen .
Es war eine harte, eine intensive, vor allem eine gute und
transparente Arbeit, die da geleistet worden ist .
({4})
Ich stimme auch zu, dass es sich auszahlt, dass es sich
um einen Regierungsbericht handelt . Bei aller Kritik ist
das immer eine Abwägungsfrage, aber kaum ein Bericht
hat eine so große Prominenz und Öffentlichkeit wie unser Armuts- und Reichtumsbericht . Das liegt auch daran, dass darüber, wenn es einmal Unstimmigkeiten in
der Regierung gibt, öffentlich verhandelt wird und dass
Ministerinnen und Minister diesen Bericht vorstellen und
hinter diesem Bericht stehen. Ich finde, das sollte so bleiben .
({5})
Das war es jetzt aber mit der unumwundenen Freude
und Zufriedenheit . Wenn ich in diesen Bericht schaue,
dann stelle ich fest: Sein Inhalt lädt eher zu Nachdenklichkeit ein und fordert heraus, und zwar zum Handeln .
Bei aller Freude über die guten Arbeitsmarktzahlen - und
die Freude gehört dazu -: Die Schere zwischen Arm und
Reich ist in unserem Land zu weit auseinandergegangen .
Ja, sie mag nicht weiter auseinandergehen, aber sie ist
zu weit auseinander. Ich finde, das muss man zunächst
einmal offen ansprechen.
Herr Whittaker, es liegt auf dem Tisch, dass wir sehr
unterschiedliche Ansätze haben, mit dem Thema Armut
und Reichtum umzugehen . Sie versuchen, mit doch sehr
kruden Ansätzen zu erklären, warum die Schere so weit
auseinander ist und warum das okay ist .
({6})
Wir sagen: Nein, wir wollen das ändern . Wir wollen zu
einer anderen Verteilung in diesem Land kommen .
({7})
Sie umschiffen das Thema Kinderarmut und wollen am
liebsten nicht darüber reden .
({8})
Wir sagen: Wir müssen genau hinschauen, wie es den
Kindern in unserem Land geht . Jedes Kind, das in Armut
aufwächst, ist ein Kind zu viel .
({9})
Auch deshalb, weil es uns um Verteilungsgerechtigkeit geht, haben wir ein gutes und ausgewogenes Steuerkonzept vorgelegt . Das stellen wir zur Wahl, und die
Menschen werden im September auch darüber abstimmen, ob kleine und mittlere Einkommen entlastet werden, ob Familien entlastet werden und ob höhere und
höchste Einkommen stärker belastet werden . Das ist ein
richtiger Schritt hin zu mehr Verteilungsgerechtigkeit .
({10})
Wer den Bericht und die Studien liest, stellt auch fest:
Wir haben eine Herausforderung im Bereich der atypischen Beschäftigung . Wenn man sich die Zahlen und
Kohorten ansieht, dann stellt man fest, dass die jüngeren
Menschen regelhaft beim Berufseinstieg mit Befristungen konfrontiert sind; das ist offenbar mittlerweile normal . Wir sagen: Das ist nicht normal . Wir wollen, dass
unbefristete Beschäftigung der Regelfall ist . Deswegen
bedauern wir es, dass die sachgrundlose Befristung in
dieser Legislatur nicht abgeschafft werden konnte. Aber
wir haben uns fest vorgenommen, die sachgrundlose Befristung nach der Wahl abzuschaffen.
({11})
Herr Whittaker, es geht natürlich nicht nur um die
Höhe von Sozialleistungen . Darin sind wir uns einig . Es
muss auch um Integrationskurse gehen und um Teilhabe
für Langzeitarbeitslose . Aber an einer Stelle widerspreche ich Ihnen komplett, nämlich im Bereich der Altersarmut . Wir laufen hier sehenden Auges in ein massives
Problem hinein . Das hat auch mit der Höhe von Sozialleistungen zu tun .
({12})
Ich habe vor kurzem eine Friseurin aus meinem Wahlkreis kennengelernt, die 51 Jahre lang Haare geschnitten
hat und auf ihrem Rentenkonto 20 Rentenpunkte angesammelt hat . Sie bekommt 650 Euro Rente .
({13})
Wenn sie in den nächsten Monaten in Rente geht, kommen wir mit einer Lösung vielleicht zu spät . Vielleicht
wäre es gut gewesen, wenn schon diese Regierung hier
etwas Vernünftiges hinbekommen hätte, ganz konkret für
diese Menschen .
({14})
Natürlich müssen wir, weil es um eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe geht, Steuergelder in die Hand nehmen, um dieses Thema anzugehen . Das heißt, wir brauchen eine Solidarrente für Menschen, die jahrzehntelang
gearbeitet haben - besser heute als morgen, so schnell
wie möglich .
({15})
650 Seiten haben wir hier vorgelegt bekommen, und
es gibt schon viele Ideen, was alles im sechsten Armutsund Reichtumsbericht, der hoffentlich kommen wird und
ein guter und spannender Bericht sein wird, drinstehen
soll; es wird kaum ein weniger dicker Bericht sein . Ich
finde, es sind 650 Seiten Argumente für sozialdemokratische Politik, für eine Politik für mehr Gerechtigkeit . In
diesem Sinne: Wir Sozialdemokraten nehmen uns diesen
guten Bericht zu Herzen, nehmen ihn mit und wollen
versuchen, viele Anregungen daraus in reale Politik umzusetzen .
Vielen Dank fürs Zuhören .
({16})
Das Wort hat der Kollege Matthias W . Birkwald für
die Fraktion Die Linke .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Zwischen 2002 und 2013 stieg die Zahl der EinDaniela Kolbe
kommensmillionärinnen und -millionäre von 9 462 auf
17 400, und seit Jahren senken Union und SPD die Steuern auf große Vermögen, auf hohe Einkommen und Gewinne . Herr Schäuble lässt zu, dass sich Amazon, IKEA
und andere große Konzerne notorisch davor drücken,
Steuern zu zahlen .
({0})
Millionen Euro fließen so jedes Jahr in die Kassen der
Unternehmen und die Geldbeutel der Reichen . Gleichzeitig heben Sie den Regelsatz für Menschen, die von
Hartz IV oder von der Grundsicherung im Alter leben
müssen, nur um mickrige 5 Euro an . Das ist ungerecht
und schlicht eine Frechheit .
({1})
Ihr Fünfter Armuts- und Reichtumsbericht zeigt
deutlich: Von 1995 bis 2014 ist die Armutsquote, Herr
Whittaker, drastisch gestiegen, und die soziale Ungleichheit hat deutlich zugenommen . Auf Deutsch - Faktencheck -: Die Reichen wurden immer reicher, und die Armen immer zahlreicher . - Darum wollte die CDU/CSU
wohl so lange wie möglich vermeiden, dass wir heute
hier im Plenum über den Bericht debattieren . Kein Wunder: Ihr Bericht beschreibt manches, aber er drückt sich
um die Kritik .
Meine Damen und Herren, Armut und Reichtum nehmen gleichermaßen zu oder, wie es der renommierte Kölner Armutsforscher Christoph Butterwegge ausdrückt:
„Während die einen nach oben fahren, fahren die anderen
nach unten .“ Professor Butterwegge nennt das Paternoster-Effekt.
Meine Damen und Herren von der Koalition, es wäre
gut, wenn Sie diesen Paternoster-Effekt kritisierten. Das
tun Sie aber nicht . Im Gegenteil: Sie ignorieren, dass hier
in Deutschland, in der viertgrößten Volkswirtschaft der
Welt, das oberste Prozent der Einkommensbeziehenden
über 400 000 Euro im Jahr hat und gleichzeitig immer
mehr Menschen in Mülltonnen nach leeren Flaschen
wühlen müssen, weil sie zu arm sind . Das können Sie,
Herr Whittaker, übrigens auch hier im Regierungsviertel
sehen . Wir Linken sagen: Das ist beschämend, und das
muss unbedingt ein Ende haben .
({2})
Ihr Armuts- und Reichtumsbericht zeigt uns einen
Teil der beschämenden Zustände von heute, zum Beispiel, dass immer mehr Menschen auf die Grundsicherung im Alter, also auf das Rentner-Hartz-IV, angewiesen
sind, und zwar absolut und relativ . Aber Ihr Bericht verschweigt, dass nach den Zahlen der Europäischen Union
schon heute 2,7 Millionen Menschen in unserer reichen
Gesellschaft in Altersarmut leben . In keiner Altersgruppe wächst die Armut so schnell wie bei den Seniorinnen
und Senioren; Kollege Strengmann-Kuhn hat es schon
gesagt .
Meine Damen und Herren, die vorgestern erschienene
Studie von Bertelsmann-Stiftung und DIW zur Altersarmut schaut in die Zukunft . Die Zukunft wird noch düsterer werden . Wenn wir jetzt nicht handeln,
({3})
dann wird sich die Anzahl der armen Rentnerinnen und
Rentner in Ostdeutschland bis 2030 verdoppeln, dann
wird bis 2030 im Osten jeder Dritte im Alter in Armut
leben müssen, in Deutschland jeder Fünfte . Mit anderen
Worten: In wenigen Jahren werden 20 Prozent der älteren Menschen in Deutschland in Armut leben . Besonders
gefährdet sind heute und in Zukunft alleinstehende Frauen . Besonders gefährdet sind Langzeiterwerbslose sowie
Migrantinnen und Migranten . Ich frage Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union: Wann wachen Sie
eigentlich endlich einmal auf?
({4})
Meine Damen und Herren, in der Bertelsmann-Studie
heißt es - Zitat -:
Es lässt sich aber festhalten, dass eine Abschaffung
der Abschläge
- bei Erwerbsminderungsrenten zu einer deutlichen Reduktion der Altersarmut für
die betroffene Gruppe führen würde.
Das fordern die Linke, Gewerkschaften, Sozialverbände und Bündnis 90/Die Grünen, und bis 2013 forderte
das auch die SPD . Aber genau das machen Sie nicht . Sie
lassen die heutigen Erwerbsminderungsrentnerinnen und
-rentner im Regen stehen . Sie bestrafen Menschen, die
zu krank zum Arbeiten sind, weiter mit systemwidrigen
Abschlägen . Niemand wird freiwillig krank . Ich fordere
Sie auf: Schaffen Sie die Abschläge für Erwerbsminderungsrentnerinnen und -rentner ab,
({5})
für die 1,8 Millionen, die schon heute im Schnitt nur
711 Euro erhalten, und für die, die künftig auf so eine
Rente angewiesen sein werden! Das muss doch drin sein .
({6})
Meine Damen und Herren, wir müssen endlich dafür
sorgen, dass in unserem reichen Land niemand mehr in
Armut lebt und dass niemand mehr von gesellschaftlicher Teilhabe ausgeschlossen wird . Ob Kino oder Theater, ob gesundes Essen, Tickets für Busse und Bahnen,
ein Schulranzen oder ein Kaffee oder ein Bier mit Freundinnen und Freunden: Das alles muss auch von armen
Menschen bezahlt werden können . Deshalb sagt die Linke: Niemand soll in unserer Gesellschaft von weniger als
1 050 Euro im Monat leben müssen - keine Alleinerziehende, kein Erwerbsloser, kein Erwerbsminderungsrentner und keine Rentnerin . Warum 1 050 Euro? Nun, weil
das DIW festgestellt hat, dass alle Einpersonenhaushalte,
die weniger als 1 050 Euro zur Verfügung haben, schlicht
arm sind .
Und darum sage ich Ihnen ganz zum Schluss: Hören
Sie endlich auf, die Armut wegzudefinieren! Allen, die
behaupten, die relative Armutsgrenze von 60 Prozent des
Durchschnittseinkommens, also 1 050 Euro für einen
Single, sei nur eine relative Größe,
Kollege Birkwald .
- die zwar die Spreizung der Einkommen zeige, aber
nicht die absolute Armut,
({0})
sage ich zum Schluss: Es geht nicht nur darum, die absolute Armut mit Sozialhilfe zu bekämpfen, es geht nicht
nur darum, Elend zu bekämpfen, sondern es geht auch
darum, alle Menschen in Würde an unserer Gesellschaft
teilhaben zu lassen .
Danke schön .
({1})
Der Kollege Stephan Stracke hat für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort .
({0})
Grüß Gott, Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich bin Ihnen dankbar, lieber Herr Kollege Birkwald,
dass Sie die Bertelsmann-Studie, die vor kurzem veröffentlicht wurde, erwähnt haben . Das gibt Gelegenheit,
diese herauszugreifen und zu beleuchten .
Zum einen: Grundsicherung im Alter zu erhalten, ist
nicht gleichzusetzen mit Altersarmut, sondern die Grundsicherung ist zunächst einmal ein Instrument, um vor Altersarmut zu schützen . Das ist das Entscheidende in dem
Bereich .
({0})
Dazu haben wir sie im Jahr 2003 eingeführt . Verschämte
Altersarmut wollten wir dadurch beseitigen, und das ist
uns auch in großem Maße gelungen .
({1})
Kollege Stracke, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Birkwald?
Ja, geht ja gut los . Herr Kollege Birkwald, bitte schön .
Vielen Dank, Frau Präsidentin, vielen Dank, Kollege
Stracke, dass Sie die Frage zulassen .
Zunächst einmal wollen wir festhalten: Auf den Seiten 549 ff. Ihres Armuts- und Reichtumsberichtes sind
vier Institute genannt, die eine Armutsquote messen, und
da sind auch die Armutsquoten für Rentnerinnen und
Rentner und Pensionäre ausgewiesen . Ich sage Ihnen:
Bei allen vier Instituten sind die Zahlen zwischen 1995
und 2014 deutlich gestiegen, und bei drei von vier Instituten liegen die Armutsquoten von Rentnern mit 17 Prozent, 15,9 Prozent oder 20,2 Prozent signifikant über den
Armutsquoten aller .
Jetzt kommt meine Frage: Meinen Sie wirklich, dass
man bei einem bundesweit einheitlichen durchschnittlichen Bruttogesamtbedarf - so heißt der Fachbegriff - bei
der Grundsicherung im Alter von 804 Euro nicht von
Armut reden kann? 804 Euro! Davon müssen die Menschen alles bezahlen: Essen, Trinken, Miete, Heizung,
Strom, Warmwasser und auch noch das, was wir hier gesellschaftliche Teilhabe nennen . Die Menschen draußen
nennen es Kaffee, Wasser, Bier, Theater, Kino, Oper oder
von mir aus auch Schwarzwälder Kirschtorte . Das kann
man nicht von 804 Euro bezahlen . Diese Menschen sind
arm . Sehen Sie das nicht genauso?
({0})
Lieber Herr Kollege Birkwald, das Instrument der
Grundsicherung im Alter soll wie sämtliche Grundsicherungssysteme Menschen ja gerade dann schützen, wenn
sie in die genannte Situation kommen . Deswegen gibt es
vonseiten des Staates entsprechende Unterstützungssysteme wie eben die Grundsicherung im Alter, die gerade
vor Altersarmut schützen soll .
({0})
Genau deswegen haben wir dieses Instrument geschaffen .
Die Armut betrifft im Übrigen ältere Menschen weitaus weniger als Menschen, die noch im Erwerbsleben
stehen . Das zeigen auch die Berichte auf, die uns vorliegen . Die Bezieher kleinerer Renten sind im Regelfall
auch nicht auf Grundsicherung angewiesen . Vielmehr
gilt: Altersarmut ist in der Regel nicht das Thema, sie ist
vielmehr die relativ seltene Ausnahme .
({1})
So ist es: Altersarmut ist die relativ seltene Ausnahme .
({2})
Ich will Ihnen, weil hier alle sehr aufgeregt sind, dafür einmal ein Beispiel nennen . Bei jemandem, der eine
gesetzliche Rente von weniger als 600 Euro bezieht, würden Sie davon ausgehen, dass er in der Grundsicherung
ist. Tatsächlich befinden sich aber nur 6 Prozent unserer
Rentnerinnen und Rentner in der Grundsicherung . Das
zeigt doch, dass Altersarmut Gott sei Dank in dieser GeMatthias W. Birkwald
sellschaft nicht die Regel ist, sondern die relativ seltene Ausnahme . Wir sollten uns aber natürlich auch daran
messen lassen, das zu verbessern, meine sehr geehrten
Damen und Herren .
({3})
Ich nehme die Wortmeldung des Herrn Kollegen
Birkwald zum Thema Bertelsmann-Studie auf . Die beste
Politik für ein gutes Leben in Deutschland ist natürlich
eine gute Arbeitsmarktpolitik bzw . eine gute Bildungspolitik . Und Altersarmut lässt sich eben am sinnvollsten
präventiv durch sichere und ordentlich bezahlte Beschäftigung bekämpfen . Dafür haben wir in dieser Wahlperiode - auch mit dem Mindestlohn, mit der Stärkung der
Sozialpartnerschaft und mit vielem mehr - eine Menge
getan . Es geht vor allem darum, Reparaturmaßnahmen zu
vermeiden . Diese sind nämlich nicht vordringlich .
Jetzt geht es darum, dass wir beim Arbeitsmarkt auch
darauf achten, den Rahmen weiterhin hochzuhalten . Wir
sollten keine Steuererhöhungen machen, wie es jetzt beispielsweise die SPD vorgeschlagen hat, sondern ganz im
Gegenteil: Jetzt ist Zeit für Steuerentlastungen für alle .
({4})
Und dafür ist auch der entsprechende Rahmen vorhanden, meine sehr verehrten Damen und Herren .
({5})
Seit 2005 sind - der Kollege hatte bereits darauf hingewiesen - die Arbeitnehmerentgelte stärker als die Gewinneinkommen gestiegen . Auch die Reallöhne sind im
Übrigen spürbar gestiegen .
Die Ministerin hat darauf hingewiesen, dass die gemessen am Gehalt unteren 40 Prozent der Beschäftigten
2015 real weniger verdient haben als Mitte der 90er-Jahre . Auch da lohnt es sich, einen genauen Blick auf die
Zahlen zu werfen . Tatsache ist, dass diese Senkungen
und Einbußen im Reallohnbereich im Zeitraum zwischen
1993 und 2007 stattgefunden haben, also zu einer Zeit, in
der im Wesentlichen die SPD regierte . Seit 2009 sind die
Reallöhne kräftig gestiegen .
({6})
Das zeigt: Politik muss man richtig machen . Und wir
vonseiten der Union tun das auch .
Erstmals seit dem Jahr 1993 ist die Zahl der Langzeitarbeitslosen unter die Marke von 1 Million gesunken .
Auch dazu können wir sagen: In diesem Bereich haben
wir richtig gehandelt .
Ja, es ist unser gemeinsames Ziel, die Altersarmut von
Rentnerinnen und Rentnern zu verhindern . Auch in diesem Zusammenhang ist ein Blick auf die Rentensteigerungen gut: In den letzten zehn Jahren sind die Renten
in Westdeutschland um 15,9 Prozent und im Osten sogar
um 24,1 Prozent gestiegen .
({7})
Das heißt, die Renten sind gut gestiegen . Trotz eines um
6,4 Prozent gesunkenen Rentenniveaus haben wir in Ostdeutschland eine Rentensteigerung um 24,1 Prozent . Das
zeigt: Auch hier ist die Situation anders, als es in diesem
Land oft behauptet wird .
({8})
Die Renten steigen, und das ist gut . Das kommt bei den
Rentnerinnen und Rentnern in diesem Land an .
({9})
Altersarmut sollten wir am besten zielgenau bekämpfen; darauf habe ich bereits hingewiesen . Drei Viertel derer, die ab Erreichen der Regelaltersgrenze Grundsicherung im Alter beziehen, waren unmittelbar vor Eintritt
in das Rentenalter bereits Empfänger von Grundsicherungsleistungen, sei es ALG II, Erwerbsminderungsrente
oder Sozialhilfe . Das bedeutet: Die Ursachen liegen offensichtlich weit vor dem Renteneintritt .
Deswegen müssen wir bei diesen Themen sehr zielgenau arbeiten . Ich meine den Übergang von Schule in
Beruf sowie die betriebliche Weiterbildung . Außerdem
müssen wir die gesamten Bedarfsgemeinschaften verstärkt in den Blick nehmen . In Bayern gibt es ein hervorragendes, funktionierendes Modellprojekt - Tandem -,
bei dem zusammen mit den Kommunen versucht wird,
die gesamte Bedarfsgemeinschaft in den Blick zu nehmen und gute Lösungswege aufzuzeigen . Genau diese
Ansätze sollten wir verstetigen .
Herr Birkwald, Sie haben sich im Zusammenhang mit
der Bertelsmann-Studie zwar auf die Erwerbsgeminderten bezogen - da haben wir in dieser Legislaturperiode viel getan -, Sie haben aber ausgeblendet, dass ein
höheres Rentenniveau für alle, was vor allem Sie, aber
auch die SPD fordern, kein taugliches Mittel zur Vermeidung von Altersarmut ist . Das ist der entscheidende
Befund der Bertelsmann-Studie in diesem Bereich . Das
hätte einen symbolischen Wert, wäre aber Politik mit der
Gießkanne. So kann man Altersarmut nicht treffsicher
bekämpfen . Außerdem kostet das unglaublich viel: Die
kumulierten Kosten dafür beliefen sich auf mindestens
100 Milliarden Euro .
Schauen wir uns einmal die 530 000 Menschen, die
Grundsicherung im Alter beziehen, an: 25 Prozent davon
haben keinerlei Rentenansprüche, und 40 Prozent beziehen eine Rente von unter 400 Euro .
({10})
Diese Menschen haben nichts, aber auch gar nichts von
den Rentenplänen von Martin Schulz .
({11})
Tatsächlich würden diejenigen profitieren, die lange gearbeitet haben und gut verdient haben . Aber die haben in
der Regel nichts mit Altersarmut zu tun .
({12})
Ich würde sagen: Die Vorschläge gehen am Thema vorbei . Das ist nichts anderes als bei der Rente mit 63 .
({13})
Auch zu den Vorschlägen zur Solidarrente, die hier unterbreitet wurden, lautet der Befund der Bertelsmann-Stiftung: Nicht zielführend .
({14})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Zahlen lügen nicht: Deutschland geht es so gut wie nie . Die
Wirtschaft brummt, und die Löhne steigen . Die Zahl der
sozialversicherungspflichtig Beschäftigten hat sich insgesamt um 6 Millionen erhöht . Besonders erfreulich ist,
dass sich die Zahl der Arbeitslosen halbiert hat, die Zahl
der jugendlichen Arbeitslosen sogar um 60 Prozent . Die
Einkommensungleichheit hat seit 2005 nicht mehr zugenommen. Die Vermögensungleichheit ist rückläufig, und
die Mittelschicht ist stabil . Vor allem wichtig ist: Menschen, die die Unterstützung des Staates brauchen, erhalten sie . Soziale Transferleistungen wie Arbeitslosengeld II, Sozialhilfe und Grundsicherung im Alter senken
das Armutsrisiko für die Menschen . Das ist der zentrale
Befund des Fünften Armuts- und Reichtumsberichts . Das
heißt, der Sozialstaat in Deutschland wirkt .
({15})
Das Volumen der sozialen Leistungen in Deutschland
liegt mittlerweile bei über 888 Milliarden Euro pro Jahr .
Die Sozialausgaben des Bundes sind von rund 145 Milliarden Euro im Jahr 2013 auf über 170 Milliarden Euro in
diesem Jahr gestiegen .
Jetzt hat das Bundeskabinett den Bundeshaushalt für
2018 und die Finanzplanung bis 2021 beschlossen . Hierbei sieht man eine weitere Steigerung der Sozialausgaben: 2021 werden diese bei 186 Milliarden Euro liegen .
Das heißt, von den Gesamtausgaben des Bundes fließen
über 52 Prozent in den Bereich des Sozialen . Das zeigt:
Wir sind ein leistungsfähiger Sozialstaat in all diesen Bereichen .
Entscheidend ist auch: In den letzten zwölf Jahren, in
denen die Union regiert hat, haben wir alle wirtschaftlichen Prognosen immer wieder nach oben korrigiert das sei all denjenigen gesagt, die sich auf die Prognosen
verlassen . Wenn man sich die Prognosen anschaut, stellt
man fest, dass wir beim Beitragssatz deutlich besser sind .
Wir haben beispielsweise ein deutlich besseres Rentenniveau; das steigt nämlich wieder . Eine gute Wirtschaftspolitik ist letztendlich eine gute Sozialpolitik . Daran wollen
wir unter Führung der Christlich-Sozialen Union und unter Führung der CDU festhalten .
In diesem Sinne freue ich mich darauf, dass wir uns
um eine Vertragsverlängerung für die nächste Wahlperiode bemühen, damit wir erneut eine unionsgeführte Bundesregierung stellen können, die die besseren Konzepte
für Deutschland hat .
Ein herzliches Dankeschön .
({16})
Der Kollege Markus Kurth hat für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort .
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Herr Stracke, angesichts dessen, was Sie gerade abgeliefert haben, frage ich mich wirklich: Machen Sie das
eigentlich absichtlich, um sozusagen alles zu vernebeln
und die Leute zu verwirren, oder glauben Sie das, was
Sie da erzählt haben, wirklich?
({0})
Es ist doch nicht zu fassen, dass Sie nach vier Jahren
im Ausschuss für Arbeit und Soziales immer noch nicht
den Unterschied kennen zwischen dem Existenzminimum, das die Grundsicherung darstellt, und der Armutsschwelle, die oberhalb des Existenzminimums liegt .
({1})
Das ist das kleine Einmaleins des Sozialpolitikers .
Ich muss wirklich sagen: Dass Sie Altersarmut hier
zum Randphänomen erklären, zeigt, dass Sie nicht einen
Blick in diesen Bericht geworfen haben; dort können Sie
doch alles nachlesen . Die Altersarmutsrisikoquote steigt
seit Jahren an . Tatsächlich war vor mehreren Jahren Altersarmut im Vergleich zu Kinderarmut eher nachrangig .
Aber die Entwicklung ist dramatisch, und sie ist rasant .
Wenn Sie davon reden, dass Altersarmut zielgerichtet
bekämpften werden soll, dann müssen Sie sich auch der
Erwerbssituation von Frauen zuwenden .
({2})
Denn das zeigt die Bertelsmann-Studie ganz deutlich:
Gerade alleinstehende und/oder alleinerziehende Frauen haben aktuell in der Erwerbsphase und - noch sehr
viel schlimmer - in Zukunft ein wirklich exorbitantes
Armutsrisiko . Ich will nicht mit zu vielen Zahlen herumwerfen, aber das will ich doch einmal aus dieser Studie zitieren: Es wird damit gerechnet, dass im Jahr 2030
mehr als die Hälfe der alleinstehenden Frauen arm sein
wird und sogar 28 Prozent von ihnen Grundsicherung beStephan Stracke
ziehen werden . Das ist etwas, was einem wirklich einen
Schrecken einjagen kann .
({3})
Wenn wir uns den Hintergrund anschauen, sehen
wir, dass 90 Prozent der Alleinerziehenden Frauen sind .
80 Prozent aller Teilzeitbeschäftigten sind weiblich . Wir
haben die geschlechtsspezifische Lohnlücke, und wir haben die schlechte Bezahlung von Frauenberufen . Das erklärt die dramatischen Aussichten auf das Jahr 2030 und
darüber hinaus .
In diesem Zusammenhang haben wir als Bündnis 90/
Die Grünen - die Kollegin Brigitte Pothmer und andere gute Vorschläge vorgelegt . Erst heute haben wir im Ausschuss wieder das Rückkehrrecht in Vollzeit beraten Fehlanzeige bei der Großen Koalition . Wir haben erst
heute im Ausschuss wieder - abgelehnt von der Großen
Koalition - ein Arbeitszeitwahlrecht im Vollzeitkorridor
beraten, was eine gerechtere Aufteilung der Arbeitszeit
zwischen den Geschlechtern ermöglichen würde . Und
wir haben Vorschläge zur Garantierente vorgelegt, die
wesentlich niedrigschwelliger ist als die sogenannte Solidarrente und von der zu 85 Prozent Frauen profitieren
würden .
Wenn Sie also zielgerichtete Vorschläge suchen,
schauen Sie ins Wahlprogramm und in die Beschlüsse
von Bündnis 90/Die Grünen .
Vielen Dank .
({4})
Das Wort hat die Kollegin Dagmar Schmidt für die
SPD-Fraktion .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Fünfte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung
hat es erneut gezeigt - und ich bin froh darüber, dass das
Thema heute von so prominenter Seite vorgetragen wurde -: In unserem Land gibt es viel zu viele arme Kinder,
und diese armen Kinder haben es besonders schwer, vor
allem dann, wenn es um ihre Teilhabe und Bildungschancen geht .
Arme Kinder haben es schwer, weil es in Deutschland
immer noch so ist, dass die Herkunft und nicht Intelligenz und Fleiß eines Kindes über seine Zukunft entscheiden . Arme Kinder haben es schwer, weil ihre Familien
oftmals besonders problembeladen sind - durch Existenz- und Zukunftsängste, Hoffnungslosigkeit und häufig
das Gefühl der Überforderung, gerade bei der Erziehung
der Kinder .
Um eines klarzustellen: Arme Eltern lieben ihre Kinder genauso wie alle anderen Eltern . Sie wollen genau
wie alle anderen Eltern das Beste für ihre Kinder . Und
arme Kinder werden genauso klug, neugierig, lernbereit
und offen geboren wie alle anderen Kinder auch, und sie
werden mit den gleichen Rechten auf ein gutes Leben
geboren .
({0})
Aber es werden ihnen schon früh dicke Steine in den Weg
gelegt, und es ist unsere Aufgabe, diese dicken Steine
wegzuräumen . Alle Kinder brauchen eine ausreichende
Existenzsicherung und gleichen Zugang zu Bildung und
sozialer Teilhabe .
({1})
Wir haben schon vieles getan . Unser Sozialstaat verbessert durch Kinder- und Familienleistungen die Situation von Kindern deutlich . Unser Kindergeld beträgt aktuell mehr als 190 Euro . Der Kinderzuschlag wurde um
30 Euro auf 170 Euro pro Kind und Monat erhöht . Durch
die Reform des Unterhaltsvorschusses gilt in wenigen
Tagen, dass dieser unbegrenzt bis zum 18 . Lebensjahr eines Kindes gewährt wird und bis zu 268 Euro pro Monat
betragen kann .
Um die Eltern in gute Arbeit zu bringen, haben wir
ebenfalls vieles getan: mit der Hilfe für langzeitarbeitslose Eltern, der Möglichkeit, eine Ausbildung zu machen
und dabei Grundsicherungsleistungen zu bekommen,
({2})
und den deutlichen Verbesserungen bei der Kinderbetreuung . Wir haben allein 2,2 Milliarden Euro in den
Betreuungsausbau investiert und uns mit 6 Milliarden
Euro an den Kitabetriebskosten beteiligt . Wir haben die
frühkindliche Sprachentwicklung in den Kitas gefördert
sowie die Ausweitung der Betreuungszeiten und die Kindertagespflege unterstützt. Das alles kann sich wirklich
sehen lassen .
({3})
Eltern in Arbeit zu bringen, ist wichtig; aber es reicht
nicht aus . Wir müssen Politik für Kinder auch vom Kind
aus denken . Da gibt es noch viel zu tun . Bei alledem, was
wir tun, müssen das Kindeswohl und das Recht auf gleiche Chancen und Möglichkeiten im Mittelpunkt stehen .
Wir brauchen eine eigenständige Existenzsicherung .
Die Frage der fairen Berechnung des Existenzminimums
für Kinder muss wieder auf die Tagesordnung . Wir brauchen Ganztagsschulen, Schulen, die es nicht notwendig
machen, dass Eltern bei den Hausaufgaben helfen können müssen .
({4})
Wir wollen die Kinder nicht vergessen, die nicht in
ihrer Ursprungsfamilie bleiben können, und auch die Familien, die Pflegekinder bei sich aufnehmen, mit ihnen
eine eigene Familie gründen und ihnen Sicherheit und
Geborgenheit geben . Diese Familien und diese Kinder
müssen wir besonders schützen .
({5})
Jedes Kind ist uns gleich viel wert, und niemand darf
wegen seiner Kinder arm werden . Deswegen werden wir
ein gerechteres Kindergeld einführen und dies mit dem
Kinderzuschlag als Regelleistung zusammenführen . Wir
werden die Rechte von Kindern und Familien im Kinderund Jugendhilfegesetz stärken und die Kommunen bei
der Umsetzung unterstützen . Wir werden mit einem Umgangsmehrbedarf und mehr Teilzeitausbildung die Situation für Alleinerziehende erleichtern . Und wir werden die
Kitagebühren abschaffen und einen Rechtsanspruch auf
Ganztagsbetreuung im Grundschulalter einführen .
({6})
Kinder sind unsere Zukunft . Wer zu geizig ist, in diese
Zukunft zu investieren, wer es scheut, dafür zu sorgen,
dass alle Kinder die gleichen Chancen auf ein gutes Leben haben, und wer mehr als 6 Milliarden Euro Brennelementesteuer für die Energiekonzerne aus dem Haushalt
zaubert, aber das Geld nicht hatte, als es um das Bildungs- und Teilhabepaket ging und um die Frage, ob man
die Nachhilfe für arme Kinder finanziert, die die Chance
und das Potenzial haben, in der Schule aufzusteigen, den
kann man am 24 . September aus dem Kanzleramt und
dem Finanzministerium abwählen .
In diesem Sinne: Glück auf!
({7})
Das Wort hat die Kollegin Dr . Kristina Schröder für
die CDU/CSU-Fraktion .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn es um Armut und Reichtum geht, dann gibt es eine
Aussage, die in der Debatte so allgegenwärtig ist, dass
sie eigentlich schon gar nicht mehr richtig auffällt: Die
Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auseinander . - Wenn Sie das sagen, dann ernten Sie in jeder
Podiumsdiskussion und in jeder Talkshow Nicken und
Betroffenheit. Praktisch niemand fragt aber, ob das empirisch überhaupt stimmt .
({0})
Zwar hatte sich in Deutschland die Einkommensungleichheit zwischen Ende der 90er-Jahre und 2005 merklich erhöht, wie in den meisten anderen Industrienationen
auch, seitdem aber nicht mehr . Die verfügbaren Realeinkommen der oberen 10 Prozent sind in diesem Zeitraum
weniger stark gestiegen als die der unteren 10 Prozent .
Auch der Gini-Koeffizient, das internationale sozialwissenschaftliche Maß zur Messung von Ungleichheit,
spricht eine andere Sprache .
Betrachtet man nur die Markteinkommen, also das,
was vor Steuern und Abgaben verdient wird, dann liegt
Deutschland unter den 28 EU-Ländern in der Tat im oberen Mittelfeld . Die Markteinkommen sind in Deutschland also ungleicher verteilt als in der Mehrzahl der
EU-Länder . Anders ist es aber bei der Betrachtung der
Nettoeinkommen, also dem, was nach Steuern und Abgaben herauskommt . Unter den 28 EU-Ländern gibt es nur
8, deren Nettoeinkommen deutlich gleicher verteilt sind
als die Nettoeinkommen in Deutschland . Wir liegen hier
also eindeutig unter dem EU-Schnitt, und daran hat sich
in den letzten Jahren auch nichts geändert .
({1})
Das heißt also, die staatliche Umverteilung wirkt .
Die Steuergesetzgebung, die wir maßgeblich hier in
diesem Haus machen, sorgt dafür, dass Wohlhabende in
Deutschland auch viel Steuern zahlen . Die wohlhabendsten 10 Prozent unserer Einkommensteuerpflichtigen zahlen 55 Prozent der Einkommensteuer. Damit finanzieren
sie maßgeblich unser soziales Netz, das weltweit zu den
stärksten gehört .
({2})
Daher habe ich, ehrlich gesagt, auch nie verstanden,
warum der Bericht, den wir heute diskutieren, Armutsund Reichtumsbericht heißt . Armut und Reichtum werden also in einem Atemzug genannt . Armut ist ein Übel,
das reduziert werden muss . Darauf können wir uns sofort
verständigen . Aber auch Reichtum? Ist Reichtum wirklich ein Übel, das reduziert werden sollte?
({3})
Ich bin der Überzeugung - und die Union auch -, dass
ein Land froh sein kann, wenn in ihm viele gut verdienende Menschen leben, wenn dort zum Beispiel auch
Menschen leben, die den Mut und das Geschick zum Unternehmertum haben; denn genau diese Menschen finanzieren maßgeblich den Wohlstand und das soziale Netz
unseres Landes .
({4})
Im Übrigen haben auch die Armen nichts davon, wenn
man den Wohlhabenden einfach etwas nimmt, nur um
mehr Gleichheit herzustellen .
({5})
Ich möchte auch noch eine Bemerkung als ehemalige
Familienministerin machen .
({6})
Wir hören in der Debatte immer wieder, dass es zur Bekämpfung von Armut wichtig sei, dass die Menschen
durchgehende Erwerbsbiografien möglichst in Vollzeit
haben . Es stimmt ja auch: Jeder, der arbeiten will, sollte
auch arbeiten können . Ich sehe es allerdings mit einer gewissen Sorge, dass sich die Erwartungshaltung, mit möglichst wenigen Unterbrechungen und möglichst Vollzeit
zu arbeiten, immer stärker auch an Mütter sehr kleiner
Kinder richtet . Das wird immer wieder auch von der Politik befeuert . Andere Lebensentwürfe werden gerne als
Dagmar Schmidt ({7})
überholtes Rollenmodell verunglimpft, oder den Müttern
wird attestiert, wie ein kleines Dummchen in die Teilzeitfalle getappt zu sein .
({8})
Auch die Pläne von SPD, Grünen und Linken, nach der
Bundestagswahl das Ehegattensplitting abzuschaffen, um
dieses Lebensmodell für breite Schichten unerschwinglich zu machen, gehen in genau diese Richtung .
Ich denke, ein so wohlhabendes Land wie Deutschland muss es sich leisten können, jungen Familien finanziell zu ermöglichen, dass einer der Elternteile eine Zeit
lang zu Hause bleibt, um sich um die Betreuung der Kinder zu kümmern .
({9})
Wer will, soll sehr früh wieder einsteigen können . Dafür
braucht er bestmögliche Krippen und Kitas . Wer aber die
Betreuung in den ersten Lebensjahren komplett zu Hause
organisieren möchte, der muss das genauso können .
({10})
Solchen Familien dürfen weder durch die Abschaffung
des Ehegattensplittings finanziell die Daumenschrauben
angelegt werden,
({11})
noch hat der Staat das Recht, sie anmaßend zu belehren,
sie lebten ein veraltetes Rollenmodell . Solche Familien
verdienen genauso unseren Respekt und unsere Unterstützung .
({12})
Liebe Kolleginnen und Kollegen gerade auch von der
Opposition und von unserem geschätzten Koalitionspartner, Sie haben sich gerade ein bisschen aufgeregt . Vielleicht ist es daher für Sie eine gute Nachricht, dass dies
meine letzte Rede als Bundestagsabgeordnete ist . Ich
verstehe unser Parlament, ich verstehe dieses Rednerpult
hier als den Ort der weltanschaulichen Auseinandersetzungen in Deutschland .
({13})
Hier bekennen die einen, dass sie sich letztlich eher der
Gleichheit verpflichtet fühlen, und die anderen, dass es
ihnen im Kern um die Freiheit geht . Das ist das Wesen
des Politischen .
Das sind genau die Wertaxiome, die Max Weber beschrieben hat, zu denen sich jeder von uns hier an diesem
Rednerpult bekennen kann und damit vor seine Wähler
treten muss . Wenn diese Wertaxiome, die in diesem Haus
von uns vertreten werden, sehr unterschiedlich sind, dann
ist es gut so;
({14})
denn dann hat der Wähler eine Wahl .
Gefährlich für unsere parlamentarische Demokratie
wird es nur, wenn so getan wird, als ließen sich diese
letzten Wertaxiome irgendwie objektiv herleiten, sei es
als vermeintlicher gemeiner Wille des Volkes im Sinne
Rousseaus, sei es als technisches Erfordernis, sei es als
vermeintlich zwingender Verlauf der Geschichte . All
diese Versuche, das moralisch Richtige objektiv zu begründen, verbrämen immer nur den subjektiven Willen
desjenigen, der das versucht .
Hier im Parlament entscheiden wir nach einem anderen Modus: nach Mehrheit . Damit erheben wir nicht
den Anspruch auf Wahrheit, sondern den wesentlich bescheideneren Anspruch auf Geltung . Dafür brauchen wir
weiter - vielleicht auch etwas breiter als in der zu Ende
gehenden Legislaturperiode - die weltanschauliche Debatte hier in diesem Haus . Dass ich daran 15 Jahre lang
mitwirken durfte, das war mir eine Ehre .
({15})
Mit diesem letzten Redebeitrag und diesem Applaus
endet auch dieser Tagesordnungspunkt . - Kollegin
Schröder, alles Gute für Sie .
Ich schließe die Aussprache . Interfraktionell wird
Überweisung der Vorlage auf Drucksache 18/11980 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor-
geschlagen . Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall . Dann ist die Überweisung so beschlossen .
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b auf:
a) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und SPD
Östliche Partnerschaft der Europäischen
Union entschlossen gestalten und konsequent
fortsetzen
Drucksache 18/12942
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, Christine
Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Östliche Partnerschaft für Frieden und Zusammenarbeit in ganz Europa nutzen
Drucksache 18/12937
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . - Ich höre keinen Widerspruch . Dann ist so beschlossen .
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die uns jetzt
verlassen müssen
({0})
Dr. Kristina Schröder ({1})
- oder wollen -, dies so zu tun, dass wir trotzdem die
Aussprache eröffnen und den Rednerinnen und Rednern
auch folgen können .
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Franz Thönnes für die SPD-Fraktion .
({2})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Europäische Union ist das größte Friedensprojekt
des 20 . Jahrhunderts auf unserem Kontinent . Generationen wie die meine konnten erstmalig auf deutschem
Boden über so eine lange Phase ohne Krieg leben und
aufwachsen . Das ist ein politischer Erfolg, der uns immer wieder mahnen muss, sich für die Stabilität und die
Weiterentwicklung der Europäischen Union einzusetzen .
Politik für ein starkes und einiges Europa ist aktive Friedenspolitik .
({0})
Die Wurzeln für die Östliche Partnerschaft der Europäischen Union liegen in Artikel 8 ihres Vertragswerks .
Dieser verpflichtet, besondere Beziehungen zu den
Nachbarn der EU zu entwickeln, „um einen Raum des
Wohlstandes und der guten Nachbarschaft zu schaffen,
der auf den Werten der Union aufbaut und sich durch
enge, friedliche Beziehungen auf der Grundlage der Zusammenarbeit auszeichnet“ .
Integriert ist sie in die europäische Nachbarschaftspolitik, die mit dazu beitragen soll, dass ein stabiles und
prosperierendes Umfeld von Nachbarstaaten rund um die
Europäische Union entstehen soll . Dazu sollen Hilfen für
Transformation, Modernisierung und Demokratisierung
gegeben werden, ohne eine Beitrittsperspektive zu beinhalten . Es ging und geht hier um die Länder Armenien, Aserbaidschan, Belarus, Georgien, Moldau und die
Ukraine .
Die unabhängig gewordenen postsowjetischen Länder
verfügen erfreulicherweise über differenziert ausgeprägte zivilgesellschaftliche Bewegungen sowie Reformkräfte . Gleichzeitig zeichnen sie sich ebenso dadurch aus,
dass in Bezug auf die notwendigen Transformationsprozesse unterschiedliche, aber doch gewisse starke Beharrungsvermögen existieren . So gibt es partiell mangelnden politischen Willen, die Reform anzugehen . Zu sehr
sind manche Gesellschaften durch ihre geschichtliche
Entwicklung immer noch von egozentrischen Geschäftsund Machtinteressen beeinflusst, und zu gering sind die
Kapazitäten zur Konsens- und Kompromissfindung, zur
Schaffung von Demokratie und zur Versöhnung ausgeprägt .
Es bestehen unterschiedliche außenpolitische Ziele,
und wahrscheinlich war es auch ein Fehler seitens der
EU, am Anfang eine Politik des „One size fits all“ - also
ein Maß passt für alle - zu praktizieren .
({1})
Während die westliche Staatengemeinschaft nach dem
Fall des Eisernen Vorhangs und nach der Pariser Charta
von festen Grenzen in Europa ausging, betrachteten die
Regierenden in Russland diese Bereiche als ihre Einflusssphäre. Das führte zunehmend zu den Spannungen
und Auseinandersetzungen, die wir heute erleben .
In Brüssel und der politischen Klasse scheint einiges
an Realitäten bei der Östlichen Partnerschaft ausgeblendet worden zu sein . Die Länder der Östlichen Partnerschaft sind nicht nur die Nachbarn Europas; sie sind auch
die Nachbarn Russlands, und Russland ist Europas größter Nachbar .
Wer gute Nachbarschaft will, hat dies bei der Entwicklung und Umsetzung der Östlichen Partnerschaft zu
berücksichtigen . Das gilt umgekehrt aber auch für das
Selbstbestimmungsrecht der freigewordenen Völker und
Staaten .
Was sind diese Realitäten? Da ist einmal die hohe Zahl
der Gastarbeiter aus den sechs Partnerschaftsländern in
Russland . Je nach Land handelt es sich dabei um 200 000
bis über 2 Millionen Menschen, die mit einem erheblichen Teil ihrer Rücküberweisungen in ihre Heimatländer
zu deren Bruttoinlandsprodukt und Wirtschaftsleistung
beitragen. Häufig ist Russland zentraler Handelspartner.
Manchmal sind nicht zu unterschätzende Investitionen
von Firmen in Schlüsselindustrien in diesen Ländern
vorhanden .
Hinzu kommen ungelöste Konflikte wie zwischen
Armenien und Aserbaidschan um die Region Berg-Karabach, in Georgien mit Abchasien und Südossetien,
in Moldau mit Transnistrien und im Osten der Ukraine
sowie mit der Krim . Auch gilt es die unterschiedliche
Präsenz von 1 400 über 8 000 bis zu 10 000 russischen
Soldaten in einigen dieser Länder zu sehen .
Armenien und Belarus sind inzwischen Mitglied der
Eurasischen Wirtschaftsunion . Aserbaidschan hat einen
derartigen Beitritt abgelehnt, will aber auch kein Assoziierungsabkommen mit der EU .
Belarus dagegen betont ein Interesse an einem Rahmenvertrag mit der EU. Bisherige Treffen und Verabredungen zu einzelnen Reformprozessen im Wahlrecht
und bei den Menschenrechten sind ohne größeren Erfolg
geblieben . Die Frühjahrsproteste, die in Belarus gegen
das sogenannte Schmarotzergesetz stattgefunden haben,
sind mit Repressionen beantwortet worden . Nach wie
vor werden Todesurteile vollstreckt, sodass es erneut von
dieser Stelle aus gilt, Staatspräsident Lukaschenko zuzurufen: Entfernen Sie die Todesstrafe aus Ihren Gesetzen!
Nehmen Sie Abstand von dieser Unmenschlichkeit inmitten Europas!
({2})
Georgien, Moldau und die Ukraine haben inzwischen
Assoziierungsabkommen mit einer vertieften und umfassenden Freihandelszone mit der EU geschlossen . Inzwischen gilt auch die Visaliberalisierung .
Vizepräsidentin Petra Pau
Georgien scheint bei Wahlen, Pressefreiheit, Minderheitenrechten und bei der demokratischen Konsolidierung auf einem guten Weg zu sein . Pragmatisch stabilisiert es die Handelsbeziehungen mit Russland und führt
den humanitären Dialog .
Moldau wurde durch einen 1 Milliarde Euro schweren
Bankenskandal 2014 erheblich erschüttert . Hinzu kommt
eine politische Elite, die sich zum europäischen Reformkurs bekennt, es jedoch an konkreter Umsetzung mangeln lässt und eher Einzelinteressen bedient . Dann ist das
Land von einem proeuropäischen Kurs der Regierung gekennzeichnet und einem Kurs des mit knapper Mehrheit
gewählten Staatspräsidenten, der eher die Kooperation
mit Russland sucht und Moldau zu einem unabhängigen,
neutralen Land mit guten Beziehungen zu Ost und West
machen will .
In der Ukraine hat die Revolution der Würde vom
Frühjahr 2014 zu einer politischen und gesellschaftlichen Neuorientierung geführt . Die völkerrechtswidrige
Krim-Annexion und die russische Unterstützung der
Separatisten im Donbass verschlechtern aber die Bedingungen für die Reformarbeit erheblich . Die politischen
Kräfte sind gezwungen, viele Prozesse gleichzeitig zu
bewältigen . Dazu gehören die Reformschritte im Banken- und Energiesektor, im Justizwesen, beim Abbau der
Schattenwirtschaft, bei Renten und Steuern sowie bei
der Intensivierung der Bekämpfung der Korruption . Sie
müssen konsequent zu Ende gebracht werden und dürfen
nicht im Gestrüpp von Oligarcheninteressen und Korruption am Ende stecken bleiben .
Die Visaliberalisierung, die eingeführt wurde, sollte
Mut machen, am Reformkurs festzuhalten . Aber ich will
angesichts von Überlegungen, die Visapflicht für russische Staatsbürger einzuführen, schon sagen, dass ich das
aus Sicherheitsinteressen verstehen kann . Aber, ich glaube, man sollte ernsthaft darüber nachdenken, ob es nicht
besser ist, wenn die Menschen die gegenseitigen Realitäten in den Ländern sehen und begreifen können und nicht
auf Fake News und Propaganda hereinfallen . Ich glaube
auch, dass es gut wäre, wenn keine neuen Mauern, auch
keine virtuellen, in Europa aufgebaut würden .
({3})
Nach der erfolgten stärkeren Öffnung ist es nicht gut,
wenn es zu neuer Abschottung kommt . Diese Realitäten
bedingen die Umsetzung der Politik der guten Nachbarschaft, der Östlichen Partnerschaft in Europa . Wenn wir
heute darüber sprechen, wie Europa weiter stabilisiert
werden kann, dann ist es notwendig, dass wir die Brückenfunktionen, die die osteuropäischen Länder einnehmen können, gerade vielleicht auch Armenien und Belarus, für ein stabiles, großes Gemeinwesen nutzen können .
Die Minsker Abkommen haben viele Länder unterzeichnet; insofern kann man von einem gemeinsamen
humanitären Raum in Europa auf der Basis der Prinzipien der OSZE sprechen . Dies sollten wir nutzen, um eine
Verzahnung mit der „One Belt, One Road“-Strategie von
China herbeizuführen; wir sollten nicht neue Spaltungen
organisieren . Es darf nicht zu einer Blockbildung zwischen Europäischer Union und Eurasischer Union kommen, sondern Zusammenarbeit muss eigentlich unser
Ziel sein .
({4})
Gerade deshalb brauchen wir eine offensive Nutzung
aller Möglichkeiten des Dialogs, auch des Dialogs bei
der Umsetzung der Minsker Abkommen . Wir müssen
verlorengegangenes Vertrauen wieder zurückgewinnen .
Meiner Ansicht nach sollten die Zivilgesellschaften
hüben wie drüben in diesen Prozess viel stärker einbezogen werden als bisher .
Was wir allerdings als Letztes brauchen, ist ein globaler Rüstungswettlauf . Das Geld, das dafür ausgegeben
wird, ist besser in Bildung, Forschung und Friedensarbeit
zu investieren .
({5})
Politik der Östlichen Partnerschaft muss immer das
Interesse haben, die Ziele von Prosperität, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in einem geordneten Rahmen
von Entspannung und Sicherheit, am besten in einer
gemeinsamen Sicherheitsarchitektur, zu gestalten . Auch
gilt es, die Sozialpartner über den sozialen Dialog einzubeziehen, wenn es darum geht, die großen Transformationen vorzunehmen; denn der äußere Friede nützt wenig,
wenn der innere, der soziale Friede aufgrund der Transformationen aufs Spiel gesetzt wird .
Werte Kolleginnen und Kollegen, mit Marieluise
Beck, Karl-Georg Wellmann, Wolfgang Gehrcke, Gernot
Erler, mit diesen geschätzten Kolleginnen und Kollegen
aus dem Auswärtigen Ausschuss verlässt jetzt ein Großteil an osteuropäischer Expertise das Parlament . Zu früh
sind unsere Kollegen Andreas Schockenhoff und Philipp
Mißfelder von uns gegangen . Ich denke gern an die Arbeit mit Philipp Mißfelder und unsere gemeinsamen
Versuche, zu einer Visaliberalisierung mit Russland zu
kommen, zurück .
({6})
Ich bin auch immer noch davon überzeugt: Vielleicht
wäre es heute sogar eine gute Idee, diese Arbeit offensiv
fortzusetzen, damit die Menschen davor bewahrt werden, auf Fake News, auf Propaganda und neu aufgebaute
Feindbilder hereinzufallen, damit sie die Realitäten auf
beiden Seiten sehen und erkennen können . Ich glaube,
dass das der beste Schutz dagegen ist, dass sich Menschen zunehmend voneinander entfremden und sich damit auch Nationen entfremden .
({7})
Außenpolitik wird durch die internationale Arbeit des
Deutschen Bundestages beeinflusst. Vier Legislaturperioden durfte ich die sehr aktive Parlamentariergruppe des
Nordens führen, die Deutsch-Nordische ParlamentariFranz Thönnes
ergruppe, aber ebenso auch die Delegationen des Deutschen Bundestages in der Ostseeparlamentarierkonferenz - und das in großartiger gemeinsamer Kollegialität .
In meiner letzten Rede im Deutschen Bundestag heute denke ich nach 23 Jahren parlamentarischer Arbeit,
auch als Parlamentarischer Staatssekretär, zuerst an meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, denen ich danken
will: hier in den Büros in Berlin, aber auch im Wahlkreisbüro, in der Fraktion, in den Ministerien, im Deutschen
Bundestag - von Saaldienern und Verwaltung, über den
Raum- und Pförtnerservice bis hin zu den Fahrern, die
unser Leben stets in guten Händen hatten . Natürlich gebührt ein großer Dank auch meiner Frau für ihre Unterstützung in dieser Zeit .
Danke sage ich allen Kolleginnen und Kollegen im
Parlament, in den Ausschüssen für das Diskutieren, Streiten und Ringen um den richtigen Weg - inhaltlich klar,
manchmal in Übereinstimmung, manchmal kontrovers,
aber immer menschlich und - wie sollte es anders sein im
Auswärtigen Ausschuss - friedliche Lösungen suchend .
Das alles macht es immer wieder möglich, dass das
kollegiale Du nicht nur auf Mitglieder der eigenen Fraktion beschränkt bleibt . Damit ist klar: Der Umgang im
Parlament hängt nicht so sehr von unseren unterschiedlichen Parteimitgliedschaften ab, sondern im Kern eigentlich von unseren Charakteren, mit denen wir hier versammelt sind .
Im Norden sagt man Tschüs, und von Island bis Finnland ruft man sich zu: Bless! Ha det bra! Vi ses! Hej då!
Heippa!
Achten Sie auf sich, bleiben Sie gesund!
({8})
Achten Sie auf sich . - Das Wort hat Andrej Hunko für
die Fraktion Die Linke .
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir reden heute über die Östliche Partnerschaft der Europäischen Union anlässlich des Gipfels, der im November
stattfinden wird. Zur Östlichen Partnerschaft liegen ein
Antrag auch der CDU/CSU und ein Antrag der Linken
vor .
Ich erinnere mich sehr gut, wie wir hier vor gut zwei
Jahren die drei Assoziierungsabkommen mit der Ukraine, Georgien und Moldawien diskutiert haben . Wir haben
als Linke dagegengestimmt, Sie haben zugestimmt . Das
war eine Inszenierung, eine Veranstaltung mit den Botschaftern dieser Länder, mit den Parlamentspräsidenten .
Es war eine Feierstimmung .
Wenn ich das mit dem jetzt vorliegenden Antrag der
Großen Koalition vergleiche, muss ich sagen: Hier ist
doch sehr viel Realismus eingekehrt, und hier ist auch
ein Stück weit Selbstkritik eingekehrt . Das begrüßen wir
als Linke außerordentlich .
({0})
Die Östliche Partnerschaft mit den Ländern Moldawien, Ukraine, Georgien, Belarus, Aserbaidschan und Armenien hatte aus meiner Sicht zum Ziel, diese Länder in
den Einflussbereich der Europäischen Union zu bringen.
Ziel war nicht, eine Beitrittsperspektive zu eröffnen, sondern, diese Länder insbesondere durch Assoziierungsabkommen an die Europäische Union heranzuführen . Diese
Assoziierungsabkommen waren im Kern Freihandelsabkommen, die zum Beispiel auf Absenkung der Zölle und
Liberalisierung der Dienstleistungen abzielten . Das war
ein Grund, warum wir diese Abkommen kritisch gesehen
haben .
Ein weiterer und vielleicht wichtigerer Grund war,
dass diese Abkommen die betreffenden Länder, insbesondere die Ukraine und Moldawien, vor die Alternative
„EU oder Russland“ gestellt und damit ein Stück weit
zerrissen haben . In der Ukraine war 2013 etwa die Hälfte
der Bevölkerung dagegen und eher prorussisch orientiert .
({1})
Auch in Moldawien gab es eine leichte Mehrheit für die
prorussische Orientierung . Das hat die Länder natürlich
vor große Probleme gestellt . In der Ukraine kam es zu
Protesten, den blutigen Unruhen auf dem Maidan und
schließlich zum verfassungswidrigen Sturz des Präsidenten Janukowytsch . Das ist auch auf die Konzeption der
Östlichen Partnerschaft zurückzuführen . Das ist sicherlich nicht der einzige Faktor . Auch die NATO-Osterweiterung spielte hier eine sehr große Rolle .
({2})
Ich bin sehr froh, dass Sie in Ihrem Antrag - kritisch
rückblickend - schreiben:
Bei kritischer Bilanzierung der zurückliegenden
Jahre zeigt sich, dass das erklärte Ziel der ÖP, den
östlichen Nachbarstaaten der EU . . . Möglichkeiten
zu eröffnen, sich zu einer stabilen und wirtschaftlich
prosperierenden Umgebung zu entwickeln, bisher
nicht oder nur in Ansätzen erreicht wurde .
Oder um es deutlicher zu formulieren: Die Politik der
Östlichen Partnerschaft der Europäischen Union ist ein
Scherbenhaufen . Das wird inzwischen hinter vorgehaltener Hand so ausgedrückt . Im vorliegenden Antrag der
Koalition wird es etwas besser umschrieben .
Wir brauchen aus unserer Sicht eine Neuausrichtung
der Östlichen Partnerschaft . Sie muss sich an einer Kooperation mit den sogenannten Zwischenländern, aber
auch mit Russland orientieren . Bei dieser Kooperation
sollten keine neoliberalen Freihandelskriterien, sondern
die wirtschaftliche und die soziale Entwicklung im Vordergrund stehen .
({3})
Sie schreiben mit Blick auf den Gipfel, der im kommenden November stattfinden und für die Zukunft der
Ostpolitik wichtig sein wird - ich zitiere Ihre Forderungen an die Bundesregierung -, „sich dafür einzusetzen,
dass im Rahmen der Weiterentwicklung der ÖP-Politik
der EU die bestehenden ökonomischen sowie gesellschaftlichen Verflechtungen zu den jeweiligen Nachbarn
stärker als bisher berücksichtigt werden . Die Nachbarn
der EU sind auch Russlands Nachbarn .“ Das können wir
nur ausdrücklich unterstützen . Wir hätten uns gewünscht,
dass das schon vor einigen Jahren so formuliert worden
wäre .
({4})
Ich werde nicht zu allen Punkten etwas sagen . Nur
noch so viel: Wir brauchen eine Neuausrichtung . Wir haben eine Reihe konkreter Vorschläge in unserem Antrag
gemacht . Der Antrag der Koalition geht, verglichen mit
dem, was bisher gesagt wurde, in die richtige Richtung .
Es gibt allerdings viele Punkte, die wir kritisch sehen .
Deswegen können wir ihm nicht zustimmen . Ich bitte Sie
daher, dem Antrag der Linken zuzustimmen .
Vielen Dank .
({5})
Das Wort hat der Kollege Dr . Christoph Bergner für
die CDU/CSU-Fraktion .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Hunko, auch ich erinnere mich an die Situation am
26 . März 2015, als wir die Assoziierungsverträge mit
Georgien, Ukraine und der Republik Moldau hier ratifizierten. Ich habe es weniger als eine besondere Feierstimmung in Erinnerung; vielmehr standen wir alle unter
dem Eindruck der Euromaidan-Bewegung, der Revolution der Würde, im Jahre zuvor, der Annexion der Krim
durch Russland und der hybriden Kriegsführung Russlands in der Ostukraine . Dies hat dieser Diskussion eine
besondere Spannung gegeben und hat uns alle auch zu
besonderen Emotionen herausgefordert, Emotionen, die
zum einen zum Ausdruck brachten: „Wir stehen zur souveränen Entscheidung dieser unserer Nachbarstaaten der
EU, ihren eigenen Weg zu gehen und dabei das Leitbild
der europäischen Nachbarschaftspolitik als Orientierungsrahmen zu nehmen“, und zum anderen: Wir sind
bereit zur Solidarität angesichts immenser Probleme, mit
denen sie sich auseinanderzusetzen hatten .
({0})
Ich hatte mir damals bei dieser Debatte eigentlich vorgenommen, dass wir uns im Verlauf der Legislatur mit
jedem dieser Länder in einer eigenen Parlamentsdebatte
darüber auseinandersetzen, wie der Stand ist und wie die
Probleme aussehen . Das ist leider nicht möglich gewesen .
Nun haben wir einen Sammelantrag vorgelegt,
({1})
der zwangsläufig unterschiedliche Aspekte miteinander
vereinigen muss, der aber gleichwohl die Gelegenheit
gibt, die Grundsatzfragen, die damit verbunden sind, zu
erörtern .
({2})
Nur um für mich eine Bilanz zu ziehen: Herr Hunko,
die Politik der Östlichen Partnerschaft ist nicht gescheitert. Mir scheint, als ob Sie ein bisschen den Begriff der
Nachbarschaft mit dem Begriff des Vasallentums verwechseln .
({3})
Sie sprechen von Einflussbereichen. Wir sprechen von
Nachbarschaft, bei der das gemeinsame, staatenübergreifende Interesse und das staatenübergreifende Gemeinwohl gesucht werden . Das ist das Prinzip der EU . Wenn
Sie Europapolitiker sein wollen, sollten Sie sich mit diesen Prinzipien auseinandersetzen .
({4})
Wir unterstützen deshalb mit diesem Antrag ausdrücklich die Kontinuität und Fortsetzung der Politik der Östlichen Partnerschaft . Wir unterstützen auch das Bemühen
der Kommission, neben den Assoziierungsländern für
Weißrussland, Armenien und Aserbaidschan spezifische
Formate der Kooperation zu finden. Wir hoffen, dass auf
dem Gipfel der Östlichen Partnerschaft am 24 . November dieses Jahres die mühsam getroffene Vereinbarung
mit Armenien unterzeichnet und nachfolgend auch ratifiziert werden kann.
Da dies die letzte Rede ist, die ich von diesem Pult
aus halten darf, möchte ich sie gerne dafür nutzen, um
über diese Frage mit Ihnen aus meiner persönlichen
Sicht nachzudenken, die eigentlich die gesamte Politik
der Östlichen Partnerschaft überschattet und die das Hintergrundproblem dieser Partnerschaftspolitik ausmacht:
Das ist die Entfremdung Russlands von Europa, und das
ist der offene Versuch Russlands, die Länder, die sich in
der östlichen Nachbarschaft der Europäischen Union befinden, mit hybrider Kriegsführung zu stören.
Wo können die Ursachen liegen? Als ich vor 27 Jahren, im Herbst 1990, erstmals für ein Abgeordnetenmandat kandidierte und in den Landtag von Sachsen-Anhalt
gewählt wurde, gab es viel unmittelbaren Anlass zu politischer Zuversicht: Der Eiserne Vorhang war gefallen,
die Ära der Blockkonfrontation schien überwunden, die
staatliche Einheit Deutschlands war gerade wiederhergeAndrej Hunko
stellt . Auch international hing, wenn man es so nennen
darf, der politische Himmel voller Geigen .
({5})
Alle Mitgliedstaaten der KSZE von Vancouver bis
Wladiwostok waren sich damals einig über das Leitbild
ihrer zukünftigen Entwicklung: Demokratie, Pluralismus, Rechtsstaat, Marktwirtschaft, offene Gesellschaft.
Das ist alles nachzulesen in der Charta von Paris für ein
neues Europa.
Die reale Situation, die wir heute - abgesehen von den
baltischen Staaten - auf dem Gebiet der früheren Sowjetunion finden, ist leider eine andere. Es stellt sich die
Frage: Wo liegen die Ursachen? Das Leitbild der Charta
von Paris war mit der Notwendigkeit von staatlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Transformationen
verbunden . Diese Transformationen waren für alle die
Staaten, die sich früher einmal „sozialistisch“ nannten,
nicht einfach zu leisten . Die Transformation verlief widersprüchlich, konfliktreich, und sie war schwierig. Außer im Baltikum ist sie auf dem Gebiet der früheren Sowjetunion gescheitert, und es lohnt sich, dieses Scheitern
im Zusammenhang mit der Östlichen Partnerschaft noch
einmal aufzugreifen und darüber nachzudenken .
Es beginnt mit dem Zerfall der Sowjetunion - für
Putin die größte geopolitische Katastrophe des 20 . Jahrhunderts . Es ist aber bei genauerem Hinschauen ein Ergebnis der eingetretenen Freiheit . Was Jahrhunderte mit
Gewalt zusammengehalten wurde, brach auseinander,
nachdem die Gewalt weg war und Freiheit Einzug halten
konnte . Dennoch waren die nach dem Zerfall notwendigen Transformationsprozesse mit vielfältigen Irritationen
und strukturellen Verwerfungen verbunden . Sie wurden
zu einer Hypothek der Transformation für den postsowjetischen Raum .
Der zweite Punkt: gescheiterte Privatisierungen . Es
ist hier nicht die Zeit, über die Privatisierungsmodelle
der früheren Sowjetunion zu reden; sie haben in die Oligarchenwirtschaft geführt, die Nährboden von Korruption und Vetternwirtschaft wurde .
Der dritte Punkt: interne Konflikte wie der Tschetschenien-Konflikt, die autoritäre Machteliten insbesondere in Russland stärkten .
Der vierte Punkt . Die Aufarbeitung der totalitären
Vergangenheit blieb auf der Strecke - mit dem Ergebnis,
dass die Leitbilder des Herbstes 1990 auch an den Resten
der totalitären Strukturen der Vergangenheit scheiterten .
Wir haben also prekäre gesellschaftliche und wirtschaftliche Situationen . Wladimir Putin hat diese prekären Situationen durch Macht und Totalitarismus zu
stabilisieren versucht, und er hat damit ein neues Werteverständnis entwickelt, das sich bedauerlicherweise
von den Grundsätzen der Charta von Paris unterscheidet .
Aber wir könnten respektvoll mit diesem anderen Werteverständnis umgehen, wenn nicht ein anderer Punkt
wichtig würde: Mit Blick auf die anderen postsowjetischen Staaten, die sich dem Werteverständnis der Europäischen Union, dem Werteverständnis der Charta von
Paris verschreiben wollen, wird gefürchtet, sie könnten
für Russland falsche Vorbilder geben . Deshalb haben wir
diesen bedauerlichen und unsäglichen Einfluss, den wir
im Ukraine-Konflikt so schmerzlich erleben müssen.
({6})
Kollege Bergner, bei allem Verständnis für die Situation, dass das für Sie die letzte Gelegenheit ist, sich von
diesem Platz aus einzumischen, muss ich Sie jetzt bitten,
zum Schluss zu kommen .
Frau Präsidentin, ich folge Ihrem Hinweis . - Ich will
mich herzlich bedanken . Ich will mich bedanken für die
Möglichkeiten der Debatte und der Auseinandersetzung,
für viele Gelegenheiten, zu lernen, die ich im Parlament,
im Deutschen Bundestag, während der 15 Jahre gefunden habe . Ich möchte mich bedanken bei meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern . Ich möchte mich bedanken
bei meiner Frau und meiner Familie . Es war für mich
eine sehr wertvolle Zeit . Ich wünsche Ihnen alles Gute
für die Zukunft . Halten Sie Europa zusammen, und versuchen Sie, Verständnis für die Probleme des Ostens zu
bewahren!
Herzlichen Dank .
({0})
In dieser Woche ist es manchmal eine undankbare
Aufgabe, hier vorn zu sitzen .
Das Wort hat die Kollegin Marieluise Beck für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Eine kleine Vorbemerkung, die man bei uns
im Westen immer wieder betonen muss, auch bei unseren
Leuten, wenn wir über Europa sprechen: Die Europäische Union wird häufig gleichgesetzt mit Europa, aber
Europa ist größer .
({0})
Ich möchte einmal an den Artikel 49 des EU-Vertrages
erinnern, der sagt:
Jeder europäische Staat, der die in Artikel 2 genannten Werte achtet und sich für ihre Förderung
einsetzt, kann beantragen, Mitglied der Union zu
werden .
Das ist der Grundsatz der Europäischen Union . Es
ist nicht davon die Rede, dass wir Pläne und Programme machen, um Länder, europäische Länder draußen zu
halten .
({1})
1945 wurde Europa auf der Krim geteilt. Ich empfinde es als schmerzlich, dass die große historische Chance
nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und die Überwindung dieser langandauernden Teilung vielleicht nicht
ausreichend genutzt worden ist . Die Charta von Paris sie wurde eben schon erwähnt - hatte die historische Vision eines wieder vollständigen europäischen Kontinents
aufgenommen . Ihr Kern muss uns heute wie 1990 leiten,
nämlich die Selbstverpflichtung der Staaten auf Freiheit
und Demokratie und das souveräne Recht, Herr Hunko,
über die eigene Zukunft zu entscheiden . Das heißt natürlich auch Bündnisfreiheit. Doch das Denken in Einflusssphären kehrte in die europäische Politik zurück, übrigens nicht nur mit der Annexion der Krim und dem Krieg
gegen die Ukraine . Auch im Westen schleicht sich dieses
Denken in unzulässiger Weise wieder ein . Stimmen im
Westen formulieren das so: Hätte man einen Assoziationsvertrag nicht vorher mit Moskau glattziehen müssen?
Müssen wir nicht deutlich eine EU-Perspektive für die
Länder im Osten ausschließen, um den Kreml nicht zu
reizen? Muss nicht dringend Georgien und der Ukraine
die Neutralität verordnet werden, um Russlands imperialen Amputationsschmerz zu lindern? Auch der Begriff
von der Brückenfunktion ist ziemlich heikel, weil auch
er eine Zuweisung vornimmt, die uns hier nicht zusteht .
({2})
Der Historiker Timothy Snyder hat hier in Berlin in
der vergangenen Woche eindrucksvoll auf die dunklen
Seiten der deutsch-russischen Geschichte hingewiesen .
Deutschland und Russland waren lange Zeit Hegemonialmächte in Europa, die ihre kolonialen Interessen innerhalb Europas verfolgt haben . Die Länder zwischen diesen
beiden Imperien wurden dabei zum Opfer dieser imperialen Politik . Was bedeutet das, wenn wir in Deutschland
über die Östliche Partnerschaft sprechen?
Erstens . Eine Achse Berlin-Moskau, mag sie noch so
wohlmeinend sein, ist historisch unstatthaft und führt zu
berechtigtem Unbehagen der Länder zwischen uns . Sie
verletzt zudem die von uns reklamierten Werte der OSZE
wie Selbstbestimmung, Souveränität und freie Bündniswahl .
Zweitens . Eine direkte Versorgungslinie zwischen
Russland und Deutschland wie Nord Stream 2, die im
Krisenfall die Zwischenländer umgehen könnte, ist mehr
als ein harmloses wirtschaftliches Projekt . Es zeugt von
unzureichender Auseinandersetzung mit der Geschichte,
({3})
den beunruhigten Blick der östlichen Nachbarn als Hysterie abzutun .
Drittens . Der Dialog mit Russland muss immer mit
Blick auf diese sogenannten Zwischenländer geführt
werden, die sich erst spät aus der Neokolonialumklammerung der Sowjetunion befreien konnten . Diese Länder
bezahlten mit ihrer Freiheit für den Zweiten Weltkrieg,
der von Deutschland zu verantworten ist .
In Ihrem Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen,
steht viel Gutes, aber die notwendige Klarheit, dass eine
deutsche Ostpolitik sich fest auf dem Boden dieses historischen Wissens bewegen muss, wird durch allzu viele
Worte verschleiert . Könnte es sein, dass sich hinter den
wortreichen, langatmigen und oft technokratisch formulierten Selbstverständlichkeiten eine politische Differenz
in der Koalition verbirgt?
({4})
Mit dem Brexit bekommt Deutschland eine noch stärkere Rolle innerhalb der Europäischen Union . Wir sollten
mit dieser Rolle sehr bewusst und sehr vorsichtig umgehen, immer mit Blick auf die historische Verantwortung
für ebendiese Zwischenländer, die ein hohes Maß an Vorsicht, Umsicht und Besonnenheit verdient haben .
Europa bedeutet auch Russland, und ich würde mir
wünschen, dass wir den Tag erleben, an dem Europa so
weit zusammengewachsen ist, dass auch Russland dazugehört - aber ohne jegliche imperiale Ansprüche . Denn
die Europäische Union bedeutet Gleichheit aller, egal
wie klein oder wie groß - das ist der Gedanke der Europäischen Union .
Schönen Dank .
({5})
Das Wort hat der Kollege Karl-Georg Wellmann für
die CDU/CSU-Fraktion .
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Präsidentin ist schon gequält, weil es heute so viele letzte
Reden gibt - meine auch . Insofern will ich mal mit etwas
Positivem anfangen. Ich kann definitiv letzte Zweifel zerstreuen: Die Funktionsfähigkeit des Deutschen Bundestages ist durch das Ausscheiden von Christoph Bergner,
von Franz Thönnes, von Gernot Erler, von Marieluise
Beck und von mir nicht beeinträchtigt .
({0})
Insofern kann ich alle beruhigen .
Ich will diese Gelegenheit nutzen, um mich bei allen
Kollegen für die gute Zusammenarbeit zu bedanken .
Anders, als mancher draußen glaubt, ist die parlamentarische Arbeit vor allem im Ausschuss keine Arena für
parteipolitisches Gezänk oder für Grabenkämpfe . Ich
habe die Arbeit als außerordentlich sachlich, gelegentlich
sogar sachkundig erlebt .
({1})
Es gab einen breiten Konsens, was die wesentlichen Prinzipien unserer Außenpolitik angeht: das Verhältnis zu Israel, die Westbindung, die europäische Integration, seit
Willy Brandt und Egon Bahr auch der Ausgleich mit dem
Osten, mit Russland .
Marieluise Beck ({2})
Ich bedanke mich auch beim Genossen Gehrcke, der
sich gelegentlich an diesem Konsens abgearbeitet hat .
Wolfgang Gehrcke, du wirst weiter für die Herbeiführung des Staatssozialismus arbeiten; das ist in Ordnung .
({3})
Es ist besser, du machst das hier, als wenn du zu Hause
deine Frau nervst . Der Staatssozialismus wird nicht kommen, aber das ist in Ordnung .
({4})
Damit wären wir beim heutigen Thema: Östliche Partnerschaft . Gerade in dieser Woche und bei diesem Thema
muss man an den alten Kohl und seine Begründung erinnern, warum wir damals, nach dem Zusammenbruch der
Sowjetunion, den östlichen Staaten eine europäische Perspektive gegeben haben . Er hat gesagt: Die europäische
Systematik ist die beste Gewähr für Frieden, Sicherheit
und Wohlstand . - Weil alles andere nur Armut, Unsicherheit und Instabilität erzeugt, müssen wir den östlichen
Staaten eine europäische Perspektive geben . Es ist im
ureigenen deutschen Interesse, dass Polen, die baltischen
und all die anderen Staaten Mitglied der europäischen
Familie werden und dass es keine Zwischenzonen gibt .
Nun gibt es die Länder der Östlichen Partnerschaft,
die bisher draußen geblieben sind . Es gibt die Ukraine,
mit der es eine Assoziierung gibt; aber die Ukraine ist
noch nicht über den Berg . Die geopolitischen und vor allem sozialen Folgen wären fatal, wenn der europäische
Weg der Ukraine scheiterte .
({5})
Deshalb bedarf es aller Anstrengungen, damit die Ukraine den Weg in die europäische Normalität schafft. Ich
wünsche mir dabei manchmal mehr Realitätssinn und
dass wir weniger Luftschlösser bauen, etwas weniger die
Dinge schönreden und anderen gegenüber etwas weniger
Wertepädagogik betreiben .
({6})
Bitte nicht wieder „Am deutschen Wesen mag die Welt
genesen“! Übrigens gilt das in der Tat auch für Nord
Stream 2 .
Wir brauchen mehr Mut, sonst geht das schief . Bei
Griechenland haben wir gezeigt, dass es vielleicht gehen
kann, wenn wir uns anstrengen . Das politische Kunststück besteht darin, das alles mit Russland zu besprechen,
damit dort die alten Ängste und Gelüste nicht wieder aufkommen . Auch hier erinnere ich an den alten Kohl, der
immer gesagt hat: Man muss die Sorgen und Probleme
der anderen, des Gegenübers, mitdenken . - Ich habe den
Eindruck, dass dies in den letzten zehn Jahren nicht wirklich vollständig gelungen ist . Deshalb müssen wir weiter intensiv an diesem Thema arbeiten . Das spricht die
russische Außenpolitik übrigens in keiner Weise frei . Die
russische Westpolitik ist bei Licht betrachtet grandios
gescheitert, aber das ist nichts, was bei uns Genugtuung
hervorrufen kann .
Vergesst mir Osteuropa nicht! Denkt an die Worte des
klugen Karl Schlögel, der gesagt hat: Die Mitte Europas
ist nach Osten gerückt . - Das hat politische und kulturelle Konsequenzen . Ich habe den Eindruck: Manch einer
bei uns hat das noch nicht so richtig verstanden .
Es gibt so viele Konflikte draußen in der Welt, aber
Deutschland ist keine Weltmacht . Nicht nur Warschau,
Vilnius und Riga sind europäische Metropolen, sondern
auch Moskau, Kiew und Minsk . Diese Städte sind Teil
Europas . Sie liegen sozusagen politisch in unserem Vorgarten . Sie dürfen nicht in den Windschatten der großen
Probleme und Krisen geraten; ich denke an den in Brand
gesteckten Nahen Osten, die Flüchtlingskrise, den Brexit
und an den amerikanischen Präsidenten . Das ist das, was
ich denen, die hier weitermachen, mit auf den Weg geben
möchte .
Ich kündige übrigens an, dass ich auch außerhalb des
Mandats weiterhin in Osteuropa aktiv sein werde, selbst
wenn der eine oder die andere das als Bedrohung empfinden mag . Es würde mich freuen, wenn wir uns gelegentlich begegnen und austauschen würden .
Ich danke ein letztes Mal dafür, dass Sie mir zugehört
haben .
Vielen Dank .
({7})
Der Kollege Dr . Bernd Fabritius hat für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der vorletzte Gipfel der Östlichen Partnerschaft im November 2013 endete mit der überraschenden Nichtunterzeichnung des Assoziierungsabkommens durch den
damaligen ukrainischen Präsidenten Janukowytsch . Das
löste letztlich die Massenproteste auf dem Maidan aus .
Der letzte Gipfel im Mai 2015 markierte noch eine Zeit
des Übergangs für die künftige Ausgestaltung der Östlichen Partnerschaft, die erst mit der Neuausrichtung der
Nachbarschaftspolitik Ende desselben Jahres langsam
zu Ende ging . Es ist deswegen ganz besonders wichtig,
dass die Europäische Union mit klaren Grundsätzen und
realistischen Angeboten in den nächsten Gipfel der Östlichen Partnerschaft im November 2017 geht . Der vorliegende Antrag ist diesem Ziel unbedingt dienlich . Ich
danke ganz besonders unserem Kollegen Dr . Christoph
Bergner für die engagierte Arbeit, auch bei der Erarbeitung dieses Antrags .
({0})
Wir müssen uns vor Augen halten, dass sich die Lage
der Europäischen Union der Jahre 2008/2009, also der
Jahre, in denen die Östliche Partnerschaft erdacht und
dann ins Leben gerufen wurde, grundlegend geändert
hat . Das gilt gerade in der Östlichen Nachbarschaft . Eine
wesentliche Veränderung stellt die Bedrohung der Partnerländer von außen durch russische HegemonialansprüKarl-Georg Wellmann
che dar . Eine Neuausrichtung der Östlichen Partnerschaft
war nach der Annexion der Krim und dem Beginn des
Krieges um die Ostukraine unausweichlich . Und, Herr
Kollege Hunko, dass Sie die Polarisierung durch Russland nun gerade der Europäischen Union vorwerfen,
ist gediegen abwegig . Sie, Herr Kollege, verfolgen offenkundig die Breschnew-Doktrin, und die ist mit dem
Selbstbestimmungsrecht der Völker gar nicht vereinbar .
({1})
Zahlreiche Krisen stellen den europäischen Gemeinschaftsgeist auf ganz harte Proben . Vor der Euro- und vor
der Flüchtlingskrise hatten antieuropäische Kräfte in den
jeweiligen Ländern wesentlich weniger Ansätze für ihre
destruktiven Botschaften . Wir müssen uns eingestehen,
dass die derzeitige Situation diesen antieuropäischen
Kräften in die Hände spielt .
Die Europäische Nachbarschaftspolitik und die Östliche Partnerschaft gründen auf der Überzeugung, dass
stabile Nachbarschaftsbeziehungen nur auf einem gemeinsamen Wertefundament bestehen können . Über diese Wertegrundlage scheint sich die EU aber selbst uneinig zu sein . Das erschwert die Unterbreitung von aus
sich heraus überzeugenden Angeboten an die Länder der
Östlichen Partnerschaft .
Mit Großbritannien will erstmals ein Mitglied die Union verlassen . Einige östliche Mitgliedsländer haben sich
in Krisensituationen, als es etwa um die Umverteilung
von Flüchtlingen ging, ganz offensichtlich von anderen
Wertevorstellungen leiten lassen und unsere Position
als Bevormundung wahrgenommen . Mindestens genauso wichtig wie die im vorliegenden Antrag formulierte
entschlossene Fortsetzung der Östlichen Partnerschaft ist
daher die Konsolidierung der gemeinsamen Wertevorstellungen in Europa .
Handlungsdefizite gibt es auch in den Ländern der
Östlichen Partnerschaft . Dort müssen endlich konsequent Reformen vorangetrieben und klare Wertepositionierungen in die eigene Zivilgesellschaft hinein transportiert werden . Die Korruptionsbekämpfung in der Ukraine
geht weiterhin nur schleppend voran . Der Kurs der Republik Moldau ist seit der Wahl des dezidiert prorussischen
Kandidaten Dodon zum Präsidenten mehr als unklar .
Auch dort ist die Rechtsstaatlichkeit durch Korruption
und Vetternwirtschaft längst geschädigt .
Aus dem Gesagten ergeben sich für mich zwei wesentliche Schlussfolgerungen .
Erstens sollten die Maßnahmen zur Unterstützung der
Zivilgesellschaft in den Ländern der Östlichen Partnerschaft ausgeweitet werden . Starke Zivilgesellschaften
sind der Motor für den notwendigen Reformdruck . Es
sind daher gerade die Bevölkerungen dieser Länder der
Östlichen Partnerschaft, die spürbare Ergebnisse der Annäherungspolitik selbst erfahren müssen .
Zweitens sollten wir bei künftigen Maßnahmen stärker als bisher eine Konditionalität vereinbaren . Wenn
angestrebte Reformen nicht im notwendigen Maße umgesetzt werden, dann müssen auch weitere Annäherungsschritte ausgesetzt werden .
({2})
Meine Damen und Herren, mit dem Fokus auf die Zivilgesellschaft und mit einer stärkeren Konditionalität
hinsichtlich der vereinbarten Reformen und einer vertieften Zusammenarbeit kann und wird die Östliche Partnerschaft ein wirksames Instrument der Europäischen Nachbarschaftspolitik sein und bleiben .
Danke .
({3})
Ich schließe die Aussprache .
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 18/12942 mit dem Titel „Östliche Partnerschaft der
Europäischen Union entschlossen gestalten und konsequent fortsetzen“ . Wer stimmt für den Antrag? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Antrag ist mit
den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktionen Die Linke und
Bündnis 90/Die Grünen angenommen .
Tagesordnungspunkt 3 b . Abstimmung über den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/12937
mit dem Titel „Östliche Partnerschaft für Frieden und
Zusammenarbeit in ganz Europa nutzen“ . Wer stimmt
für den Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke abgelehnt .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des 1. Untersuchungsausschusses nach
Artikel 44 des Grundgesetzes
Drucksache 18/12850
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen . - Ich höre keinen Widerspruch . Dann ist so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Professor Dr . Patrick Sensburg für die CDU/CSU-Fraktion .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Frage, ob Edward Snowden den Friedensnobelpreis
verdient hat oder ob er in Amerika wegen Landesverrats
in einer Gefängniszelle sitzen sollte, kann ich nicht beantworten .
({0})
Aber Edward Snowden hat uns eine Debatte gebracht,
die ohne ihn, die ohne seine Veröffentlichungen im Sommer 2013 nicht entstanden wäre, die wichtig ist, wichtig
für uns alle . Es geht um das Thema Privatheit, um die
Frage: Wie gehen wir mit unseren Daten um? Es geht
aber auch um die Frage: Wie geht zum Beispiel die mittelständische Wirtschaft mit ihren Daten, ihren Erkenntnissen, ihrem Know-how um? Von daher ist es gut, dass
wir seit Sommer 2013 diese Diskussion führen .
Als im Sommer 2013 die Neuigkeiten über die Ticker,
über die Bildschirme liefen, gab es die intensivste Diskussion, auch hier bei uns in Deutschland: mit Anfragen
im Deutschen Bundestag und einer hitzigen Debatte . Es
war nachvollziehbar und logisch, dass auch der aktuelle
Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses zum Gegenstand
hatte .
({1})
Im März 2014, nach einer intensiven Debatte über die
Reichweite des Beschlusses zur Einsetzung des Untersuchungsausschusses, ist dieser Einsetzungsbeschluss gefasst worden . Der Untersuchungsausschuss nahm kurze
Zeit später seine Arbeit auf . Am Anfang wurde es gleich
etwas strittig, beim ersten Beweisbeschluss, Z-1, mit der
Ladung des Zeugen Edward Snowden . Das wurde konsensual mit den Stimmen aller Fraktionen beschlossen .
Danach wurde fast dreieinhalb Jahre lang intensiv,
aber auch weitestgehend sehr konsensual zusammengearbeitet . Es ist unheimlich viel herausgekommen . Das
sieht man am Abschlussbericht . Dieser Abschlussbericht
hat im Feststellungsteil etwa 1 300 Seiten, die konsensual
beschlossen worden sind . Ein großer Teil der Erkenntnisse ist also gemeinsam herausgearbeitet worden . Die
meisten Beweisbeschlüsse sind gemeinsam gestellt worden . Im Großen und Ganzen war das also, auch wenn der
Eindruck draußen manchmal ein anderer war, eine gute
Zusammenarbeit .
Die Zahl der durchgeführten Sitzungen beläuft sich
auf insgesamt 153 Sitzungen, davon 62 Sitzungen mit
Beweisaufnahmen durch Zeugenvernehmungen und
72 Beratungssitzungen . 89 Zeugen wurden vernommen . Die Dauer der Zeugenvernehmungen beläuft sich
auf insgesamt 581 Stunden und 21 Minuten . Daran sieht
man, glaube ich, wie intensiv und hart dieser Untersuchungsausschuss gearbeitet hat . Sachverständigengutachten wurden eingeholt und Sachverständige angehört:
37 Sachverständigengutachten wurden eingeholt, und
32 Sachverständige wurden in insgesamt 32 Stunden
und 3 Minuten angehört . Die Zahl der Akten, die dieser
Untersuchungsausschuss zu bewältigen hatte, beläuft
sich bis zum Schluss auf 2 401 Akten, dick gefüllt mit
Informationen der Bundesregierung und der Nachrichtendienste, Sachverständigengutachten etc . 561 dieser
Akten sind eingestuft als VS-NfD und höher . Das war
also eine intensive Arbeit .
Als Abschlussbericht werden 1 822 Seiten vorgelegt,
von denen man sagen muss: Dieser Abschlussbericht
des Untersuchungsausschusses enthält, wie ausländische
Nachrichtendienste bei uns spionieren, wie sie uns ausforschen und wie der Bundesnachrichtendienst und unsere anderen Dienste mit ihnen zusammenarbeiten; er enthält die Erkenntnisse dieses Untersuchungsausschusses .
({2})
Es ist gut, dass der Untersuchungsausschuss jetzt seinen Abschlussbericht vorlegt . Ergänzend zu diesen Seiten kommen hinzu die Stellungnahmen zum rechtlichen
Gehör der Zeugen und weitere Materialien, die dem Bericht angefügt werden . Das, was dieser Untersuchungsausschuss vollbracht hat, ist wirklich eine Leistung, und
diese in einem wirklich nicht leichten Umfeld . Dass es
zum Schluss noch die eine oder andere Diskussion gegeben hat, ist schade, weil viele der Erkenntnisse wirklich
gemeinsam erarbeitet worden sind .
Der Untersuchungsausschuss - das ist zumindest
meine Bewertung - ist von einem NSA-Untersuchungsausschuss ein bisschen zu einem BND-Untersuchungsausschuss geworden . Das mag damit zusammenhängen,
dass Dokumente, dass Akten von einem der Five Eyes,
wozu die USA mit dem Nachrichtendienst NSA gehören,
aber auch Großbritannien, Kanada, Neuseeland und Australien, schwerer zu bekommen sind . Die amerikanischen
Stellen und Behörden haben sich noch relativ kooperativ
gezeigt, während es uns weitestgehend gar nicht möglich
war, an Dokumente der Briten heranzukommen . Ich bedauere das sehr . Ich hätte mir gewünscht, dass man in Europa gemeinsam über Dinge diskutieren kann . Weil wir
einen europäischen Rechtsraum und eine europäische
Rechtsprechung zur Vorratsdatenspeicherung haben,
hätte ich mir gewünscht, dass man auch bei Nachrichtendiensten einen gewissen gemeinsamen Konsens erreichen kann . Deswegen wäre mir der Dialog, gerade mit
den Briten, wichtig gewesen; aber der hat weitestgehend
leider nicht stattgefunden .
Der Dialog wäre aber auch wichtig gewesen, weil
dieser Untersuchungsausschuss technische und organisatorische Mängel, Versäumnisse und Fehler beim Bundesnachrichtendienst festgestellt hat . Das hat die Bundesregierung bestätigt, das hat in Zeugenaussagen auch
der damalige Präsident des Bundesnachrichtendienstes,
Herr Schindler, bestätigt .
So muss man sagen: Ein Hauptthema dieses Untersuchungsausschusses ist das ganze Themenfeld der Selektoren, der Suchbegriffe geworden. Es hat beim Einsatz
dieser Suchbegriffe Fehler gegeben - Stichwort: nichtakzeptable Steuerung von Suchbegriffen. Von daher: Es
sind Mängel aufgetreten, die so nicht haltbar waren . Es
gab weitere Versäumnisse: fehlende Dateianordnung
im Bundesnachrichtendienst, die mangelnde bzw . nicht
stattgefundene Kommunikation von der Ebene der Unterabteilung hin zum Präsidenten des Bundesnachrichtendienstes und eine Nicht-Inkenntnissetzung des Bundeskanzleramtes . All diese Dinge müssen abgestellt
werden .
Es ist aufgrund der Erkenntnisse dieses Untersuchungsausschusses aber auch reagiert worden . Deswegen ist es gut, dass es bereits laufend Reformen gegeben
hat, beispielsweise zum Bundesnachrichtendienstgesetz .
Uns haben die Sachverständigen gesagt, dass bei der
Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung die gesetzlichen
Grundlagen des BND-Gesetzes nicht ausreichend sind,
und dieses Parlament hat reagiert: Es hat eine BND-Reform vorgelegt - mit rechtlichen Grundlagen für die
Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung und mit klaren
Regelungen, wer die anordnen muss . Damit haben wir
demnächst schriftliche Anordnungen des BND-Präsidenten, die auch im Kanzleramt bestätigt werden müssen .
Damit haben wir die Verantwortlichkeiten, die wir in den
Untersuchungsausschüssen ja immer suchen . Wer hat
davon gewusst? Dann haben wir die schriftliche Bestätigung .
Es ist ein gutes Gesetz, was sich übrigens in anderen
Ländern in Europa so nicht findet. Ich halte dieses Gesetz
für einen Nachrichtendienst für vorbildlich, auch in der
europäischen und internationalen Diskussion .
({3})
Wir haben festgestellt, dass die parlamentarische Kontrolle verbessert werden muss . Herr Ströbele, Sie haben
ja oft gefragt: Wie sieht das aus? - Waren Sie nicht lange
im Parlamentarischen Kontrollgremium? Hätten Sie das
nicht wissen müssen? Aber wenn Sie die Informationen
nicht kriegen, können Sie es ja gar nicht wissen .
({4})
Deswegen haben wir gesagt: Wir müssen das Parlamentarische Kontrollgremium stärken . Wir müssen ihm
eigene Kompetenzen zubilligen, auch mit einem Stab
von Personen, die kontinuierlich recherchieren können . Deswegen ist die Erweiterung des Kontrollgremiumgesetzes so wichtig gewesen. Es eröffnet uns viel bessere
Möglichkeiten der parlamentarischen Kontrolle .
Der neue BND-Präsident wird sich auch die Abteilung TA, Technische Aufklärung, genau anschauen müssen, um zu klären, warum es diese Versäumnisse gegeben hat . Aber wir müssen den Bundesnachrichtendienst
personell und finanziell auch so aufstellen, dass er seine
Arbeit machen kann .
Wir sind zwar am Ende dieses Untersuchungsausschusses, aber die Kontrolle muss weitergehen . Deswegen waren diese Reformen so wichtig . Aber es werden
nicht die letzten Reformen bleiben . Wir bewegen uns in
einer digitalen Welt und werden die Kompetenzen unserer Dienste kontinuierlich ausbauen müssen . Deshalb
muss auch die Verantwortung der Kontrolle ausgebaut
und im Hinblick auf eine digitale Welt verändert werden .
Das sind Aufgaben, die uns in Zukunft weiter bewegen
und weiter zu Diskussionen führen werden .
Ich möchte zum Abschluss für die Zusammenarbeit
danken . Die überwiegende Arbeit - ich wiederhole das verlief im Konsens; wir haben viele Punkte kollegial beschlossen . Deswegen danke ich zuerst den Kolleginnen
und Kollegen im Untersuchungsausschuss für die Teilnahme an den langen Sitzungen . Teilweise haben wir
donnerstags bis 24 Uhr in Zeugenvernehmungen zusammengesessen . Das war intensive Arbeit, die uns aber hoffentlich auch ein bisschen näher zusammengebracht hat .
Ich danke den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der
Fraktionen und der Abgeordneten, die eine Vielzahl der
Akten gelesen haben und teilweise wirklich jede Passage
wiedergeben konnten, und vielen in der Bundestagsverwaltung, insbesondere dem Stenografischen Dienst, der
die Sitzungen bis in die Nacht immer protokolliert hat .
Ich danke den Vertretern der Bundesregierung, deren
Interessen sich oft von unseren unterschieden - dort bestand ein Geheimhaltungsinteresse, bei uns das grundrechtlich zugesicherte Aufklärungsinteresse . Wir haben
es aber zum Beispiel beim Thema Schwärzungen geschafft, uns, auch wenn es lange gedauert hat, zu einigen . Bei der Übergabe des Berichtes an den Bundestagspräsidenten hat er darauf hingewiesen: Das müssen wir
in Zukunft besser machen und eine Art Clearingstelle
einrichten, damit das Recht der Untersuchungsausschüsse besser verwirklicht werden kann und uns das Thema
Schwärzungen nicht immer wieder belastet .
Last, but not least: Besonderer Dank dem Sekretariat
des Untersuchungsausschusses für die viele Arbeit, so
einen Bericht aus 2 400 Akten und vielen Zeugenvernehmungen zustande zu bringen! Das war wirklich gut .
({5})
Ich wünsche uns abschließend, dass wir erkennen,
dass wir unsere Nachrichtendienste brauchen, dass sie
sich aber im Rahmen von Recht und Gesetz, von den Gesetzen, die wir beschlossen haben, bewegen müssen, dass
wir sie in einer digitalen Welt mit den richtigen rechtlichen Instrumenten ausstatten müssen, personell und finanziell gut, dass aber dadurch dann das Gleichgewicht
von Privatheit und Sicherheit gewahrt werden kann .
Wenn dazu dieser Untersuchungsausschuss in fast dreieinhalb Jahren beigetragen hat, dann haben sich der ganze Aufwand und die Arbeit wirklich gelohnt . Ich glaube
das, und ich danke für die gute Zusammenarbeit .
({6})
Das Wort hat die Kollegin Martina Renner für die
Fraktion Die Linke .
({0})
Frau Präsidentin! Geehrte Kolleginnen und Kollegen!
Der NSA-Untersuchungsausschuss war richtig, er war
wichtig, und er war erfolgreich, obwohl einige wirklich
alles darangesetzt haben, die Arbeit zu behindern: sinnfreie Schwärzungen, beeinflusste Zeugen, Drohungen
und manches, was sich nur im Geheimen abspielte .
Und doch kam vieles heraus . Milliarden Daten unbescholtener Bürger und Bürgerinnen flossen an die NSA.
Der BND war willfähriger Helfer der US-Spionage in
Europa und übernahm unhinterfragt Millionen von Suchbegriffen, die die NSA ihm übergab. Er stand der NSA
in nichts nach und hörte auch selbst Presse, ZivilgesellDr. Patrick Sensburg
schaft und Parlamente ab . Vermutlich tut er das noch
heute .
Das Parlamentarische Kontrollgremium und die
G 10-Kommission wurden ignoriert und belogen . Das
belegen die Feststellungen zu den Operationen „Eikonal“ und „Glotaic“ . Die Bundesregierung trägt Mitverantwortung an den vielen Drohnentoten im geheimen
Krieg . Ohne die Duldung der US-Basis Ramstein könnten die Drohnen nicht fliegen. 900 zivile Opfer, darunter
200 Kinder, Angst und Schrecken in den betroffenen Regionen - Deutschland darf nicht länger Baustein im geheimen Krieg sein . Frau Merkel, schließen Sie Ramstein!
({0})
Die Arbeit des Untersuchungsausschusses hat Verantwortlichkeiten aufgedeckt . Hartmut Pauland, der ehemalige Leiter der Abteilung „Technische Aufklärung“
im BND, genießt die Sonne Floridas, obwohl er für den
Bruch des Fernmeldegeheimnisses in unzähligen Fällen
die Verantwortung trägt .
({1})
Günter Heiß, im Kanzleramt zuständig für die Nichtkontrolle der Nachrichtendienste, wurde ebenfalls nicht
belangt . Staatssekretär Fritsche hat dafür gesorgt, dass
das Parlament möglichst nicht stört, wenn Dienste illegal
überwachen . Die Entdeckung der rechtswidrigen NSAund BND-Selektoren konnte er jedoch nicht verhindern .
Doch verantwortlich ist auch die Bundeskanzlerin .
Abhören unter Freunden, das ging 2013, als ihr Handy
abgehört wurde, und das geht bis heute . Sie hätten es wissen müssen, Frau Merkel; doch Sie lassen sich von den
Geheimdiensten auf der Nase herumtanzen . Richtige,
zielführende Konsequenzen - bis heute keine .
Der BND ist aktiver Teil der globalen Überwachungsarchitektur der Geheimdienste . Er liefert Kontaktlisten,
Gesichtserkennung, persönliche Vorlieben, politische
Einstellungen - nicht nur von Terroristen, sondern von
uns allen . Selbst die Telekom äußerte Zweifel, als der
BND im Inland ihre Kabel anzapfte . Doch das Kanzleramt sprang in die Bresche und schrieb der Telekom einen
Brief - alles sei in Ordnung . Meine Vorstellung von einem funktionierenden Rechtsstaat ist das nicht .
({2})
Aufzuklären bleibt, ob diese illegale Praxis bis heute
andauert und der Abgriff an den Kabeln unter Beteiligung
der NSA unter den neuen Operationsnamen „Wharpdrive“ und „Emerald“ fortgesetzt wird .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Klagen von
Menschen, die sich gegen die illegalen Machenschaften
der Dienste wehren, machen Hoffnung. Für diese Menschen haben wir Verantwortung . Sie verdienen es, dass
wir rechtsfreie Räume im BND schließen, dass wir uns
nicht länger mit Lügen abspeisen lassen und dass wir
uns nicht den Interessen der Geheimdienste beugen . Wir
sind dazu bereit . Die Regierung stellt sich weiter vor die
Dienste und tritt die Rechte der Opposition mit Füßen .
Das hat sie dieser Tage wieder unter Beweis gestellt .
Noch nie hat ein Ausschussvorsitzender so selbstherrlich
und willkürlich versucht, die Opposition in einem Untersuchungsausschuss zum Schweigen zu bringen .
({3})
Ein Wort an die SPD: Ihre Heuchelei ist unübertroffen.
({4})
Während Sie drei Jahre lang in jedes Mikrofon sprachen,
wie wichtig Ihnen die Aufklärung sei, haben Sie in unseren Beratungssitzungen hinter verschlossenen Türen
jedes Mal mit die Hand für die Vertuschung gehoben .
({5})
Als Opposition und als Linke haben wir uns in diesem
Ausschuss stellvertretend für das Parlament gegen die
Geheimdienste und die Regierung behauptet . Das konnten wir mit Unterstützung der mutigen Whistleblower,
der engagierten Zivilgesellschaft und kompetenter Journalisten und Journalistinnen . Wir danken deshalb Edward
Snowden, Brandon Bryant und Chelsea Manning .
({6})
Wir danken den Bürgern, den Datenschützern und
Datenschützerinnen, dem Chaos Computer Club und
den vielen anderen, die auf den unbequemen Stühlen die
Sitzungen mitverfolgt haben . Mit ihnen teilen wir die
Überzeugung, dass Freiheit und Demokratie nicht von
Geheimdiensten verteidigt werden müssen, sondern gegen sie .
Danke schön .
({7})
Vielen Dank . - Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der
Kollege Christian Flisek .
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren Kolleginnen und Kollegen! Als der Untersuchungsausschuss eingesetzt worden ist - ich kann mich
noch sehr gut daran erinnern -, hatten wir unsere ersten Pressekontakte . Man hat mich damals gefragt: Herr
Flisek, sind Sie eigentlich der Überzeugung, dass dieser
Ausschuss irgendetwas herausfinden kann? Dieser Ausschuss ist doch von Anfang dazu verurteilt, erfolglos zu
sein .
Heute wird der Abschlussbericht vorgelegt, und wir
haben wieder viele Pressetermine . Jetzt ist die Fragestellung schon etwas anders . Ich wurde gefragt: Herr Flisek,
was, glauben Sie denn, ist der größte Erfolg dieses Ausschusses? Diese Frage insinuiert schon einmal zweierlei:
erstens, dass er überhaupt erfolgreich war, und zweitens,
dass es im Zweifel auch mehrere Erfolge gab, von denen
einige die größeren sein können . Ich bin der Überzeugung, dass wir mit dieser Ausschussarbeit sehr viele Erfolge hatten .
Ich will Ihnen auch sagen, was ich für den größten
Erfolg halte . Ich glaube, dass dieser Ausschuss das sehr
pikante Thema „nachrichtendienstliche Operationen und
Kooperationen“ mit einer Transparenz verhandelt hat,
die im internationalen Maßstab eigentlich einzigartig ist .
Kein Ausschuss - ich würde mich vielleicht sogar trauen, zu sagen: bisher auch kein anderes Gremium dieses
Hauses - ist so tief in die Arbeit von SIGINT - Signals
Intelligence, elektronische Kommunikationsüberwachung - vorgedrungen wie dieser Ausschuss . Man könnte vielleicht sogar eine historische Anleihe finden und
sagen, dass es seit den Untersuchungen des sogenannten
Church Committee im US-Senat Mitte der 1970er-Jahre
weltweit keine so offene und schonungslose Untersuchung nachrichtendienstlicher Tätigkeit gab .
Meine Damen und Herren, der Ausschuss hat gemeinsam - gemeinsam - nicht nur meterweise geheime und
streng geheime Unterlagen gesichtet, sondern wir haben
auch Zeugen gehört - bis hinunter auf die operativ tätige Sachbearbeiterebene in den Nachrichtendiensten . In
öffentlicher Sitzung wurden auch nachrichtendienstliche
Methoden erörtert, die bis dato nur Eingeweihte kannten .
Eines muss man auch sagen - diejenigen, die schon
öfters mit Untersuchungsausschüssen zu Nachrichtendiensten zu tun hatten, wissen das -: Nachrichtendienstliche Erkenntnisse in Untersuchungsausschüssen zu
gewinnen, ist für Abgeordnete oft Schwerstarbeit . So
ist es auch in diesem Ausschuss gewesen . Die Bundesregierung hat es uns nicht immer leicht gemacht . Ich habe
das Verhältnis zur Bundesregierung einmal als ein sportliches Verhältnis bezeichnet . Aber zum Sport gehört auch
Fairness, und so war es auch hier, zwar nicht immer, aber
in weiten Teilen; das muss ich auch sagen .
Trotz der freundlichen Zusicherung vonseiten der
Bundesregierung, man werde im Parlament alles offenlegen, taten sich in der Praxis dennoch schwarze Löcher
und viele formale Hürden auf . Ich erwähne hier nur
einmal Verschlusssachenanweisungen, Geheimschutzabkommen, Aussagegenehmigungen. All diese Begriffe
haben uns über viele Sitzungen hinweg gequält, Begriffe,
die umschreiben, dass wir etwas nicht erfahren können
oder sollen . Am Ende ist natürlich auch der Umstand,
dass im Kanzleramt selbst Dinge nicht bekannt waren,
die das Kanzleramt als Aufsichtsbehörde eigentlich hätte
wissen müssen, als schwarzes Loch zu bezeichnen .
Die SPD hatte in diesem Ausschuss sicherlich keine
leichte, aber doch eine ambitionierte Position . Wir hatten
es mit einem Koalitionspartner zu tun, mit dem wir über
weite Strecken fair und gut zusammengearbeitet haben,
der aber auch - das muss ich sagen; das hätte ich mir
gewünscht - manchmal etwas mehr Initiative hätte zeigen können, um auch die heißen Eisen unseres Einsetzungsauftrages anzupacken . Vorrangig ging es der Union
teilweise doch nur darum, die eigenen Minister und vor
allen Dingen die Bundeskanzlerin aus der Schusslinie zu
halten und die Sicherheitsbehörden nicht zu verärgern .
„Der Laden läuft ja irgendwie . Bitte nicht stören!“, das
war die Devise .
Andererseits hatten wir es mit einer Opposition zu
tun, die an substanzieller Aufklärung nur in Maßen interessiert war . Man arbeitete ergebnisorientiert, aber leider stand das Ergebnis allzu oft schon vorher fest, meine
Damen und Herren . Solange man BND-Zusammenarbeit
mit anderen Nachrichtendiensten insgesamt als Teufelszeug abtut, kommen wir, glaube ich, nicht wirklich weiter .
({0})
„Man sollte so nicht arbeiten“, das möchte ich Ihnen zurufen, weil ein solches Arbeiten das Vertrauen in unsere
Sicherheitsbehörden untergräbt .
({1})
Die Linke hat in ihrem Parteiprogramm die Forderung
stehen, die Nachrichtendienste abzuschaffen. Das ist allerdings in diesen Zeiten ein fatales Zeichen . Wir sollten
uns bemühen, kein Wasser auf die Mühlen solcher Forderungen zu gießen .
({2})
Für uns als SPD steht fest: Wir brauchen gerade in diesen
Zeiten Nachrichtendienste zur Gewährleistung unserer
Sicherheit . Wir brauchen Dienste, die international kooperieren .
({3})
Für uns steht aber auch fest, dass solche Dienste nur auf
der Grundlage klarer rechtsstaatlicher Regeln arbeiten
können und dass ihnen auch Grenzen aufgezeigt werden
müssen . Damit dies durchgesetzt werden kann - wir haben keine Gerichte, die so etwas kontrollieren -, bedarf
es einer effizienten parlamentarischen Kontrolle. Nur
dann schaffen wir Legitimation. Nur mit Legitimation ist
so etwas wie ein Nachrichtendienst in einer Demokratie
und in einem Rechtsstaat überhaupt denkbar .
Wir - da bin ich stolz auf meine Fraktion - haben es
uns nicht leicht gemacht . Wir haben es, denke ich, auch
der Regierung nicht leicht gemacht . Die SPD hat mit ihrer Arbeit fortwährend und nachhaltig auf Aufklärung
gedrängt und auf Transparenz gepocht . Mit Hunderten
Beweisanträgen und Zeugenvernehmungen bis tief in die
Nacht haben insgesamt alle Fraktionen nach und nach
Dinge aufgedeckt, die die Bundesregierung mit Sicherheit lieber für sich behalten hätte .
Die Kooperation mit US-Diensten ist hier zu erwähnen, die ohne eine ausreichende Rechtsgrundlage erfolgt
ist . Uns allen schallt noch die Weltraumtheorie im Ohr .
Teilweise wurden hier abstruse Rechtsansichten vorgebracht, um die Anwendung deutschen Rechts auszuhebeln . Auch die Verwendung unzulässiger Selektoren
im NSA-Portfolio und im eigenen Portfolio haben wir
aufgedeckt . Das Bundeskanzleramt hat erst durch unsere
Arbeit davon erfahren; darauf können wir stolz sein . Wir
haben eklatante Organisationsmängel beim BND festgestellt: von der Spitze bis hin zur letzten Außenstelle .
Meine Damen und Herren, ich muss es auch sagen:
Politisch betrachtet hat das Bundeskanzleramt - ich sage
hier: auch die Bundeskanzlerin - bei der Bewältigung
der NSA-Affäre versagt. Wer moralisch auf einem hohen Ross reitet und fröhlich davon trällert, Abhören unter
Freunden ginge gar nicht, aber gleichzeitig eine Haltung
an den Tag legt, die deutlich macht: „Am liebsten möchte ich von diesen Themen überhaupt nichts wissen“, wer
sich bei diesen Themen einmauert, wer sich von allen
Informationsflüssen sozusagen abschneidet - wir haben
selbst nach acht Stunden Vernehmung der Bundeskanzlerin nicht herausfinden können, was sie mit diesem Satz
meint -, der zeigt deutlich, dass im System etwas nicht
funktioniert .
Meine Damen und Herren, ein Kanzleramtsminister,
der unbesonnen und nebulös von einem No-Spy-Abkommen schwadroniert und die NSA-Affäre für abgeschlossen und beendet erklärt, bevor sie überhaupt losgegangen ist, der leistet keinen Beitrag zur Aufklärung, ebenso
wenig wie der Präsident des Bundesverfassungsschutzes,
der sich hoffnungslos in die These verrannt hat, Edward
Snowden sei ein Moskauer Agent gewesen . Kein Wunder
bei einer Spionageabwehr, die im Kalten Krieg stecken
geblieben ist . Ich glaube, das sind existenzielle Themen,
die uns auch in der nächsten Legislaturperiode werden
beschäftigen müssen .
({4})
Meine Damen und Herren, ich möchte aber auch deutlich sagen: Der BND ist keine kriminelle Organisation,
der die Daten braver Bürger an die maßlosen Datenstaubsauger aus dem Ausland verhökert . Nein, der BND ist
eine normale Behörde mit einem besonderen Auftrag .
Dort arbeiten ganz normale Menschen, die ihren Job machen, die ihren Job gut machen wollen, die sich an Gesetze halten und auch an ihre Pensionen denken; das muss
man mal einfach auch so sagen .
({5})
Deswegen konnten wir in unserer Arbeit den behaupteten millionenfachen Grundrechtsbruch, begangen an
deutschen Staatsbürgern durch deutsche Dienste, nicht
feststellen . Es gab allerdings auch Einzelfälle, und jeder
Einzelfall zählt . Wir werden bei der parlamentarischen
Kontrolle unser Augenmerk darauf richten müssen, damit es in Zukunft nicht mehr zu diesen Einzelfällen kommen wird .
Ich möchte noch ein Wort zu den Internetfirmen sagen - Google und Co -, die sich durch ein Schweigekartell einer offenen Auseinandersetzung entzogen haben. Ich finde, dass das ein ganz schräges Licht auf diese
Unternehmen wirft, und sie müssen selber wissen, wie
sie damit umgehen . Unsere Aufgabe als Parlamentarier
ist es, in einer solchen Debatte offen anzusprechen, dass
dies kein Umgang mit einem deutschen Parlament ist .
({6})
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum
Schluss eines sagen: Ich finde es nicht gut, dass Herr
Sensburg, der Vorsitzende des Ausschusses, schon vor
dieser Debatte und dem Abschlussbericht ein Buch veröffentlicht hat, in dem er viele Dinge vorwegnimmt und
in dem er in einer Weise - das kann Ihre Meinung sein;
die gestehe ich Ihnen zu - auf Zeugen dieses Ausschusses
eingeht, die in Teilen ein Diskreditieren ist. Ich finde es
auch nicht gut, dass Sie selber damit werben, dass das aus
den Akten des Untersuchungsausschusses sei . Ich sage
ganz offen: Das ist, finde ich, kein guter kollegialer parlamentarischer Stil . Ich richte das auch an Sie: Überlegen
Sie sich das bitte einmal . Ich fände es gut, wenn andere in
Zukunft von solchen Maßnahmen Abstand nehmen .
Mein Fazit ist: Dreieinhalb anstrengende Jahre in diesem Ausschuss - jede Minute - haben sich gelohnt . Ich
danke allen Kollegen für die trotz allen Dissenses faire
Zusammenarbeit .
Herzlichen Dank .
({7})
Vielen Dank . - Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt Hans-Christian Ströbele das Wort .
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Es ist
einfach wahr: Edward Snowden hat recht . Wir haben in
dem Untersuchungsausschuss belegt: Nicht nur in den
USA und weltweit, sondern auch in Deutschland hat die
NSA massenhaft und anlasslos Datenausspähung betrieben,
({0})
und zwar millionenfach: in Deutschland, von Deutschland aus, und betroffen waren auch deutsche Staatsbürger .
Insoweit hat sich in vollem Umfange bewahrheitet,
was Edward Snowden gesagt hat . Diese massenhafte Datenüberwachung war nicht nur in den USA ein Verstoß
gegen die Verfassung, sondern sie war auch in Deutschland ohne jede rechtliche Grundlage, und sie verstieß gegen das Grundgesetz .
({1})
Sie verstieß gegen Grundrechte, die hier in Deutschland
gelten .
Und wer trägt die Verantwortung dafür? Die politische
Verantwortung dafür trägt das Kanzleramt . Das Kanzleramt hat in der Kette der Aufsicht versagt . Das Kanzleramt
wusste, was „Eikonal“ ist . Das Kanzleramt wusste, was
der BND treibt . Das Kanzleramt hat das alles gedeckt .
Der schlimmste Augenblick in meinem Aktenstudium,
in der jahrelangen Aufklärungsarbeit, war, als ich lesen
musste, dass der BND selber der Auffassung war, dass
das, was er dort treibt, auf gar keinen Fall dem deutschen
Parlament und dem dafür berufenen Parlamentarischen
Kontrollgremium mitgeteilt werden darf . Schlimmer
geht es nicht .
({2})
Das war die Katastrophe, die der BND selbst befürchtete . Schon da hätte man eigentlich aufhören können .
Schon daraus ergibt sich, dass selbst der BND der Auffassung gewesen ist: Er tut unrecht . So einfach ist das .
({3})
Falsch war auch, was die Gewaltigen in den USA bis
hin zum Präsidenten immer wieder beteuert haben: Wir
halten uns in Deutschland an Recht und Gesetz . - Das
ist nicht richtig . Auch das wusste der BND . Das wussten die Verantwortlichen des BND, die in die USA gefahren sind, und das wusste auch das Kanzleramt . Denn
wo steht im deutschen Gesetz geschrieben, dass das
Handy der Kanzlerin abgehört werden darf? Wo steht
im deutschen Gesetz geschrieben, dass beispielsweise Markus R . in Deutschland spionieren und selbst den
Bundesnachrichtendienst ausspionieren darf? Dafür ist er
zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt worden . Welchen Beweis brauchten Sie noch dafür, dass die
NSA-Gewaltigen bzw . Geheimdienstgewaltigen in den
USA die Unwahrheit sagen?
Wenn Herr Clapper, der Anführer der Geheimdienste
in den USA, vor dem US-Kongress gelogen und das anschließend sogar zugegeben hat, dann können Sie doch
nicht nach Deutschland zurückkommen und sagen: „Die
NSA sagt, sie richtet sich nach deutschem Recht und Gesetz“, wenn Sie es besser wissen . Sie haben die deutsche
Bevölkerung irregeführt .
({4})
Sie haben die deutsche Bevölkerung auch hinsichtlich des Militärstützpunkts Ramstein irregeführt . Selbstverständlich war auch der Bundesregierung aus vielen
Zeitungsmeldungen und auch aus Informationen aus den
Diensten selber - davon gehe ich aus - bekannt, dass von
Ramstein die Killerdrohnen zwar nicht losfliegen und
auch nicht von dort direkt gesteuert werden, sie aber über
Ramstein gesteuert worden sind . Sie haben zu all den
Fragen, die aus dem deutschen Parlament dazu gestellt
wurden, immer die Unwahrheit gesagt . Sie haben gesagt:
Dem ist nicht so . Die USA haben uns versichert, dass
das nicht stimmt . - Der Untersuchungsausschuss konnte ganz zum Abschluss klären, dass diese Aussage nicht
stimmt, dass sehr wohl über Ramstein - damit macht sich
Deutschland mitschuldig - die Drohnenangriffe in Afrika
gesteuert werden .
Ein letzter Satz . Herr Pofalla in Person und die Bundesregierung haben sich im August 2013 die günstigen Voraussetzungen für den Wahlkampf und für die
Wahl 2013 erschlichen . Herr Pofalla hat getäuscht und
getrickst .
({5})
Er hat der deutschen Bevölkerung erklärt, es sei alles gut,
es sei alles vom Tisch . Ein No-Spy-Abkommen sei angeboten worden .
Nichts davon war wahr . Das Weiße Haus hat drei Monate später gesagt: Von einem No-Spy-Abkommen war
nie die Rede . - Das hat die deutsche Regierung, das hat
Herr Pofalla erfunden . Wie wären die Wahlen 2013 ausgegangen, wenn all das, was wir jetzt wissen und was in
dem dicken Bericht steht, bekannt geworden wäre? Ich
bin der Auffassung: Damit haben Sie die Wählerinnen
und Wähler und die deutsche Öffentlichkeit irregeführt.
Das darf nie wieder passieren . Daraus müssen Schlussfolgerungen gezogen werden .
({6})
Herr Kollege Ströbele, danke schön . - Für die CDU/
CSU-Fraktion hat jetzt Nina Warken das Wort .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Dieser Untersuchungsausschuss war ein Erfolg . Der
Ausschuss war schon alleine deshalb ein Erfolg, weil
er die Gesellschaft für die vielen Herausforderungen im
digitalen Zeitalter sensibilisiert hat . Das Spannungsfeld
zwischen dem Schutz der Privatsphäre des Einzelnen und
der doch so notwendigen Tätigkeit der Sicherheitsbehörden wurde selten so intensiv in der Gesellschaft diskutiert . Er war aber auch ein Erfolg, weil wir bestehende
organisatorische Defizite erkennen und abstellen konnten
und weil wir im Ergebnis nicht nur die parlamentarische
Kontrolle, sondern auch die Sicherheit unserer Bürger
gestärkt haben .
Die innere Sicherheit in einer freiheitlichen Gesellschaft zu gewährleisten, ist schon immer ein Kernanliegen von CDU und CSU gewesen . Deshalb war für uns
auch ganz klar, dass dort, wo Fehler geschehen sind, auch
die gebotenen Konsequenzen gezogen werden müssen .
Aber Konsequenzen ziehen bedeutet für uns eben nicht,
Nachrichtendienste pauschal zu diffamieren oder sogar
abschaffen zu wollen, sondern Konsequenzen ziehen bedeutet für uns, Fehler zu beheben und gemeinsam daran
zu arbeiten, dass sie sich nicht wiederholen .
({0})
Deshalb war es richtig und wichtig, dass etwa im
BND die Weisungslage zur Fernmeldeaufklärung konkretisiert wurde, dass Arbeitsabläufe verbessert wurden
und dass wir als Deutscher Bundestag mit der Reform
des BND-Gesetzes die gesetzlichen Grundlagen verbessert haben .
Europa und Deutschland stehen im Fokus des internationalen Terrorismus . Das Letzte, was wir zurzeit brauchen können, ist eine politisch motivierte Kampagne
gegen unsere Sicherheitsbehörden . Nein, wir müssen gemeinsam mit unseren internationalen Freunden und Partnern geschlossen gegen diejenigen vorgehen, die unsere
freiheitlichen Gesellschaften zerstören wollen .
({1})
Mit „Freunden und Partnern“ meine ich ausdrücklich
nicht nur unsere europäischen Nachbarn, sondern auch
ganz bewusst die USA. Denn bei allen politischen Differenzen, die wir manchmal haben, und bei allem, was in
letzter Zeit aus dem Weißen Haus getwittert wird, sollten
wir eines nicht vergessen: Unser Gegner befindet sich
nicht jenseits des Atlantiks, sondern unsere gemeinsamen
Gegner sind all jene, die unsere Freiheit und Sicherheit
angreifen, und diese Gegner können wir nur gemeinsam
bezwingen .
({2})
Bei aller gebotenen Kritik an der NSA und ihren Aktivitäten dürfen wir Maß und Mitte nicht verlieren . Ja, es
gab Fehler . Und ja, die Tätigkeit der NSA entspricht in
Art und Umfang nicht dem, was wir uns für unsere Dienste wünschen . Aber lassen Sie uns ehrlich sein: Dank der
Hilfe amerikanischer Sicherheitsbehörden konnten wir
bereits mehr als einmal Schlimmeres in unserem Land
verhindern .
Deswegen finde ich bedauerlich, dass manche Medien
nur zu gern Spekulationen verbreitet haben, die sich zwar
gut verkauft haben, von denen wir aber heute längst wissen, dass sie mit der Realität nicht viel zu tun haben . So
wurde etwa in der ursprünglichen Berichterstattung über
die Snowden-Dokumente mehrfach unterstellt - heute
wurde es von Kollegen wiederholt -, die Bundesregierung leite monatliche mehrere 100 Millionen Metadaten
über deutsche Staatsbürger an die NSA weiter . Heute
wissen wir, dass es sich dabei um Metadaten handelt, die
der BND im Rahmen des Antiterrorkampfes und zum
Schutz unserer Soldaten in Afghanistan erhoben hat .
({3})
Es wurde auch behauptet, das Bundesamt für Verfassungsschutz beteilige sich mit dem Programm XKeyscore an einer weltweiten Datensammlung der NSA .
Mittlerweile wissen wir, dass es einen solchen Austausch
nie gegeben hat . Das Bundesamt benutzte das Programm
lediglich testweise und nur zur rein internen Auswertung
von Daten, die völlig rechtmäßig erhoben wurden .
({4})
Nicht weniger unangebracht erscheint mir im Übrigen, dass Teile der Opposition, wie es hier gerade wieder
deutlich wird, vor allem Kolleginnen und Kollegen, die
ich noch nicht im Ausschuss gesehen habe - daher weiß
ich auch nicht, woher man sich da so sicher sein kann -,
bei diesem Spiel mitspielen und der Bundesregierung
wiederholt Rechts- und Verfassungsbruch vorgeworfen
haben . Ich kann nur davor warnen, mit solchen staatstragenden Begriffen leichtfertig umzugehen. Ebenso wenig
wurde auch die Aufklärung durch die Bundesregierung
hintertrieben, wie es immer wieder hier heißt .
Tatsache ist: Noch nie hat es in der fast 70-jährigen
Geschichte dieses Hauses einen Untersuchungsausschuss
gegeben, der dermaßen umfassende und tiefe Einblicke
in die Tätigkeit der Nachrichtendienste erhalten hat wie
der unsere . Knapp 90 Zeugen, vom BND-Sachbearbeiter bis hin zur Bundeskanzlerin, wurden gehört . Ganze
Regalwände teils streng geheimer Akten waren ein wohl
beispielloses Aufgebot an Beweismitteln . An diesen Fakten kann man auch dann nicht vorbeireden, wenn man
die Ergebnisse der Beweisaufnahme unterschiedlich bewertet .
({5})
Tatsache ist eben auch, dass Grüne und Linke sowohl
vor dem Bundesgerichtshof als auch vor dem Bundesverfassungsgericht mit allen ihren Klagen gescheitert sind .
Liebe Kollegen, eines möchte ich auch noch erwähnen: Wir dürfen bei allem politischen Streit nicht vergessen, dass in unseren Sicherheitsbehörden Zigtausende
Mitarbeiter unter schwierigen Bedingungen hervorragende Arbeit leisten, um uns alle und unser freiheitliches
Gemeinwesen zu schützen . Politische Auseinandersetzungen gehören in den politischen Raum, gehören hierher in den Deutschen Bundestag und sollten nicht im
Rahmen von Zeugenvernehmungen auf dem Rücken von
einzelnen Sachbearbeitern ausgetragen werden, wie es
leider oft stattgefunden hat .
Kommen wir zum Thema Snowden . Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir als Koalition, die CDU, die CSU,
aber auch die SPD, haben uns dafür eingesetzt, dass
Edward Snowden dem Ausschuss seine Sicht der Dinge
darlegen kann . Wir haben Herrn Snowden zum Beispiel
angeboten, dass wir ihn per Videokonferenz zu uns in den
Ausschuss schalten, damit er uns von seinen Erkenntnissen berichten kann . Herr Snowden hat das abgelehnt,
obwohl er das in den vergangenen Monaten und Jahren
dutzendfach bei Tagungen und Kongressen gemacht hat .
Wir haben Herrn Snowden angeboten, dass wir ihn
in Moskau besuchen und uns dort mit ihm austauschen .
Auch das hat Herr Snowden abgelehnt, obwohl er - das
muss man sich auf der Zunge zergehen lassen - sogar
die Gastgeber amerikanischer Comedyshows in Moskau
empfangen und ihnen dort Interviews gegeben hat . Sich
dann hinzustellen, wie es die Opposition getan hat und
auch heute wieder tut, und der Bundesregierung zu unterstellen, sie wolle eine Vernehmung Snowdens hintertreiben, ist eine absurde Verdrehung der Tatsachen .
({6}) - Dr . Konstantin
von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hat
sie systematisch hintertrieben! Systematisch
hintertrieben!)
Wir haben immer gesagt: Vernehmung? Ja, aber nicht
um jeden Preis . - Den Preis hat Herr Snowden selbst genannt, nämlich politisches Asyl oder zumindest AbschieNina Warken
beschutz . Diesen Preis konnten und wollten wir nicht
zahlen .
({7})
Das Staatswohl, die Sicherheitsinteressen und auch die
außenpolitischen Beziehungen obliegen nicht nur der
Bundesregierung, sondern auch uns als Parlament . Deswegen haben wir das Vorgehen der Bundesregierung mitgetragen und gesagt: Um jeden Preis wollen wir Herrn
Snowden nicht hören, wenn er schon alle unsere Angebote ablehnt .
Das, was einige Kollegen zum Thema No-Spy-Abkommen geäußert haben, ist ebenfalls eine Verdrehung
der Tatsachen . Der Untersuchungsausschuss hat gezeigt,
dass im Sommer 2013 auf allen Ebenen intensive Verhandlungen zum No-Spy-Abkommen geführt wurden .
Wenn jetzt behauptet wird, die Bundesregierung habe
das deutsche Volk bewusst darüber getäuscht, dann ist
das schlicht eine Unverschämtheit .
({8})
Es empfiehlt sich, in den Protokollen der Ausschusssitzungen nachzulesen . Der Zeuge und damalige Außenminister Frank-Walter Steinmeier sagte in seiner Vernehmung deutlich: „Nein, die Verhandlungen waren keine
Erfindung. Die haben stattgefunden; das ist gar keine
Frage .“ Das muss man in allen Fraktionen zur Kenntnis
nehmen . Es gab keine Nebelkerze im Wahlkampf .
({9})
Frau Kollegin, denken Sie an die Zeit .
Zu den sonstigen Anwürfen, die die Kollegen hier vorgebracht haben, verweise ich gerne auf den gemeinsamen Bewertungsteil der Koalitionsfraktionen . Dort kann
man vieles nachlesen und sehen, dass sich die Kollegin
Renner und der Kollege Ströbele eher in einer Märchenstunde oder in einem anderen Untersuchungsausschuss
befunden haben .
({0})
Als Deutscher Bundestag nehmen wir den Schutz der
Grundrechte sehr ernst . Gerade deshalb haben wir im
vergangenen Jahr die parlamentarische Kontrolle unserer Nachrichtendienste deutlich verstärkt . Ich bin sehr
zuversichtlich, dass wir da eine gute Grundlage für die
zukünftige Arbeit geschaffen haben.
({1})
Frau Kollegin Warken, ich darf Sie bitten, zum Schluss
zu kommen .
Diese Reform umzusetzen und mit Leben zu erfüllen,
dazu darf ich Sie herzlich einladen .
Vielen Dank .
({0})
Ich darf noch einmal alle Kolleginnen und Kollegen
darum bitten, sich an die vereinbarte Redezeit zu halten .
({0})
- Wir können das aufrechnen; das sähe aber schlecht für
euch aus .
Für die Fraktion Die Linke redet jetzt der Kollege
Dr . André Hahn .
({1})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich habe leider nicht genug Redezeit, um den
ganzen Unfug zu korrigieren, den Frau Warken eben gesagt hat . Fakt ist: Ohne diesen Untersuchungsausschuss
hätte die Öffentlichkeit nie erfahren, dass nicht nur die
NSA, sondern auch der BND in nennenswerten Größenordnungen europäische Partner und Verbündete ausspioniert hat. Ich verweise diesbezüglich auf die öffentliche
Erklärung des Parlamentarischen Kontrollgremiums
vom 16 . Dezember 2015 . Wenn darin davon gesprochen
wird, dass lediglich bei einem Drittel der vom Kontrollgremium untersuchten Selektoren, also der zu Abhörzwecken verwendeten Suchbegriffe, die beim BND
im Einsatz waren, ein klarer Bezug zum Auftragsprofil
der Bundesregierung erkennbar war, dann bedeutet das
zugleich, dass rund zwei Drittel, also mehrere Tausend
Suchbegriffe, mindestens umstritten und unverhältnismäßig - viele davon auch klar rechtswidrig - waren . In
den Abhöranlagen des BND liefen zu Hoch-Zeiten mehr
als 13 Millionen Suchbegriffe der NSA, also Namen, Telefonnummern, E-Mail-Adressen usw . Dass es so viele
Terroristen oder Waffenschieber gibt, glaubt wohl nicht
einmal die Bundeskanzlerin .
({0})
Aufgrund der Geheimhaltungsregeln darf ich zum
Umfang und zu den konkret Betroffenen der Abhörmaßnahmen leider nichts Konkretes sagen . Aber ich wiederNina Warken
hole meine Frage an die Bundesregierung, ob es überhaupt ein Land in der Europäischen Union gibt, dessen
Regierung der BND nicht ausspioniert hat . Hier ist über
Jahre hinweg vieles völlig aus dem Ruder gelaufen . Ich
bedauere sehr, dass auch das neue BND-Gesetz dieser
Entwicklung keinen klaren Riegel vorgeschoben hat .
({1})
Massive Kritik an der Arbeit des BND kam übrigens
nicht nur von der Opposition, sondern auch von der Bundesdatenschutzbeauftragten . Der entsprechende Bericht
ist bis heute als Geheim eingestuft, jedoch auf netzpolitik .org nachzulesen .
Völlig unzureichend sind die personellen Konsequenzen aus dem NSA/BND-Skandal . Koalition und Bundesregierung haben sich am Ende darauf geeinigt, dass es
zwei Schuldige für die gesamte Misere gibt, nämlich den
ehemaligen BND-Präsidenten Schindler und den früheren Kanzleramtschef Pofalla . Das ist sehr praktisch und
bequem; denn beide sind nicht mehr im Amt . Schuld am
offenkundigen Versagen haben aber viel mehr Zuständige, die ihrer Kontrollpflicht nicht einmal ansatzweise nachgekommen sind. Dies betrifft insbesondere die
Dienst- und Fachaufsicht im Bundeskanzleramt . Dort
sitzen alle Leute noch auf ihren Posten, angefangen von
der Kanzlerin über den Staatssekretär bis zum Abteilungsleiter, obwohl sie sträflich versagt haben. Hier muss
es dringend Veränderungen geben, spätestens nach der
anstehenden Bundestagswahl .
({2})
Noch eine letzte Bemerkung . Ich bin jetzt seit 23 Jahren Abgeordneter, zunächst im Landtag, jetzt im Bundestag . Mehr als elf Jahre davon war ich in diversen Untersuchungsausschüssen tätig und habe dort vieles erlebt .
Noch nie jedoch hatte ich einen Ausschussvorsitzenden
wie Patrick Sensburg, einen Mann, der derart arrogant
und ignorant agiert, der sich über demokratische Gepflogenheiten hinwegsetzt und Oppositionsrechte missachtet,
({3})
der vor dem Abschlussbericht in einem Buch aus Akten
berichtet und Zeugen verunglimpft . Ein solcher Mann
sollte nie wieder einen Ausschuss in diesem Haus leiten
dürfen .
Herzlichen Dank .
({4})
Für die SPD-Fraktion hat jetzt Susanne Mittag das
Wort .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren!
Nach nunmehr dreieinhalb Jahren kommen wir heute mit
dieser Debatte - sie ist ja schon richtig schwungvoll zum Abschluss des Untersuchungsausschusses . Auch
wenn die letzten Meldungen aus dem Ausschuss etwas
konfliktreich waren, so haben wir doch insgesamt - es ist
schon erwähnt worden - über 581 Stunden, die der Ausschuss getagt hat, zusammengearbeitet, und zwar ziemlich gut und manchmal sogar sehr gut; nicht dass das in
Vergessenheit gerät .
({0})
- Danke .
Bei allen unterschiedlichen Sichtweisen und Bewertungen war unser Ziel immer, aufzuklären, auch wenn
sich die Vorgehensweise manchmal unterschied . Aber am
Ende muss man sagen: Wir haben mehr über die Arbeit
unserer Nachrichtendienste erfahren als über die Arbeit
der Five Eyes . Dies gilt besonders für den Namensgeber des Ausschusses - diesen Namen konnten wir leider
nicht mehr ändern; er hatte sich schon geprägt - oder den
britischen Geheimdienst . Dort gab es regierungsseitig so
gut wie gar keinen Willen zur Zusammenarbeit .
Ebenfalls keine Kooperationsbereitschaft zeigten in
diesem Zusammenhang allerdings die angeblich sehr kooperativen Firmen wie Facebook, Apple, Microsoft oder
Google . Es sollte die Frage geklärt werden, in welchem
Rahmen sie den US-Geheimdiensten zuarbeiten oder
sogenannte Backdoors zur Verfügung stellen . Nachdem
wir die Vorstandsvorsitzenden dieser Firmen als Zeugen
vor den Ausschuss geladen hatten, wurden die Zusagen
zum Erscheinen immer vager . Zum Schluss wollten sie
nur noch einem gemeinsamen, unter Ausschluss der
Öffentlichkeit stattfindenden einstündigen Informationsgespräch zustimmen . Das ist aber keine verwertbare
Zeu gen aussage, das ist ein Kaffeekränzchen, und darauf
haben wir verzichtet .
({1})
Wir können als Untersuchungsausschuss ausländische
Zeugen leider nicht zu einer Aussage in Deutschland
zwingen oder herzitieren; aber jeder kann jetzt seine eigenen Schlüsse daraus ziehen, was das zu bedeuten hat .
Doch zurück zu unseren Diensten . Eine der großen
Überraschungen war hierbei für uns, dass der sogenannte
360-Grad-Blick der Spionageabwehr, der sich verfestigt
hatte, bis zu den Snowden-Veröffentlichungen so gut wie
gar nicht praktiziert wurde . Russland, China und noch einige andere einschlägige Länder standen bis vor kurzem
mit weitem Abstand im Zentrum der Arbeit der zuständigen Abteilung; das ist auch völlig richtig und soll überhaupt nicht geändert werden . Aber für den Rest der Welt,
circa 155 Staaten, war nur ein einziges Referat zuständig .
Das heißt, nur wenige Mitarbeiter warfen ein Auge auf
die Aktivitäten unserer Partner, auch aus den sogenannten Five-Eyes-Staaten . Das bedeutet für die Praxis, dass
sich kaum jemand aktiv um Aufklärung bemühen konnte, sondern dass man sich darauf beschränkte, Hinweisen Dritter, anderer Bundesbehörden oder ausländischer
Partner auf verdächtige Aktivitäten nachzugehen . Das
war aber bei der Personaldecke nur begrenzt möglich .
Der ehemalige Präsident des BND, Herr Schindler, hat
recht eindrücklich geschildert, dass auch die NachrichDr. André Hahn
http://www.netzpolitik.org
http://www.netzpolitik.org
tendienste befreundeter Staaten ihre eigenen nationalen
Interessen verfolgen . Sie sind keine Freunde, sondern
Partner, und auch auf die muss ein wachsames Auge geworfen werden; das war allen klar . Ich sage extra: Allen
war das die ganze Zeit klar .
Ein weiteres Problem im BND, das immer wieder
auftauchte, waren eklatante Mängel bei den Dienst- und
Meldewegen . Das hört sich ein bisschen dröge an, ist
aber ziemlich wichtig . Teilweise hatten wir den Eindruck, dass es eine gläserne Decke gibt, durch die Informationen nach oben überhaupt nicht durchdringen . Als
zum Beispiel Sachbearbeiter richtigerweise erkannten,
dass NSA-Selektoren problematisch sind, versickerte
die Warnung in der Hierarchie, zwar nicht ungehört, aber
ohne Konsequenzen . Die Information gelangte wohl nie
bis zur Hausleitung und schon gar nicht ins zuständige
Kanzleramt . Umgekehrt fragten aber auch Kanzleramt
oder Minister niemals proaktiv nach . Das hätte aber zur
Dienst- und Fachaufsicht gehört, auch auf diesen Entscheidungsebenen .
({2})
Deutlich wurde weiter, dass es bei den NSA-Selektoren oft an einer Dokumentation über deren Herkunft
und Zweck fehlte . Auch die Datenübermittlung an andere Nachrichtendienste wurde nicht ausreichend dokumentiert . Bei entsprechenden Nachfragen in der Zeit
des Untersuchungsausschusses wurde von der NSA eine
große Anzahl der Selektoren kommentarlos zurückgezogen - erst in der Zeit des Untersuchungsausschusses!
Die rechtlichen Voraussetzungen fehlten offenbar. Kaum
vorstellbar ist, dass der Abteilungsleiter und der Präsident des BND erst durch den Beweisbeschluss des Untersuchungsausschusses im März 2015 über umfangreiche Deaktivierungen problematischer NSA-Selektoren
informiert wurden . Das ist ein klassischer Fall fehlender
Kultur, zu remonstrieren .
Offenbar wurde die Möglichkeit, dass das bekannt
wird und in einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss landet, nicht ansatzweise in Betracht gezogen .
Dabei geht es nicht um die Schuldfrage bei Sachbearbeitern, sondern um den Führungsstil und die Gesamtverantwortlichkeit der Leitungsebene des BND . Immer
wieder hörten wir die Aussage von Zeugen, dass sie den
Eindruck hatten, dass Hinweise und Problemmeldungen
offenbar nicht gewollt waren bzw. dass nach Hinweisen
nichts passierte . Dieses Abschotten von Problemlagen
setzte sich über alle Führungsebenen hinweg bis ins
Kanzleramt fort .
Bei sich abrupt ändernden Weltlagen, sich rasant entwickelnden technischen Möglichkeiten und neuen Bedrohungen sind eine schnelle Anpassung und Reaktion
des BND und anderer Behörden unter Beachtung von
Grundrechten jedoch von entscheidender Bedeutung für
unsere Sicherheit . Das Potenzial zur Aufgabenerfüllung
ist da . Im Bereich der Struktur und der sogenannten Unternehmenskultur gibt es da aber noch richtig viel Luft
nach oben .
Herzlichen Dank .
({3})
Vielen Dank . - Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt
Dr . Konstantin von Notz das Wort .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Was wir als
Untersuchungsausschuss betrachtet haben, war ein Ausschnitt, ein Ausschnitt dessen, was deutsche Dienste machen, ein Ausschnitt dessen, was international passiert .
Man muss sich schon sehr dumm stellen, wenn man nicht
erkennen können will: Was in Bad Aibling und in Frankfurt auf der Glasfaser passiert, der Abgriff von Milliarden
Verkehrsdaten und Inhaltsdaten, passiert an Dutzenden,
vielleicht an Hunderten anderer Kabelansätze weltweit
durch die Five Eyes . Was, bitte schön, soll das anderes
sein als anlasslose Massenüberwachung, meine Damen
und Herren?
({0})
Dass Sie das hier heute noch schönzureden versuchen,
Frau Kollegin Warken, zeigt, dass die Große Koalition
bei dem sensiblen Thema „Privatsphäre in der digitalen
Welt“
({1})
nicht Teil der Lösung, sondern leider Teil des Problems
ist .
({2})
Der BND und frühere Bundesregierungen haben sich
rechtswidrig verhalten . Sie haben massiv gegen die Verfassung, nämlich gegen Artikel 10, verstoßen . Sie haben
illegale Datenbanken errichtet und diese genutzt . Sie haben die Schutzpflicht des Staates gegenüber den Bürgern
und den deutschen Unternehmen verletzt . Sie haben systematisch die parlamentarische Kontrolle hintergangen .
Das alles sind keine Kavaliersdelikte, sondern schwerwiegende Verstöße . Sie wurden nicht fahrlässig, sondern
vorsätzlich begangen . Denn die Akten zeigen: Es gab
durchaus intern, auch im BND und auch im Bundeskanzleramt, sehr kritische Stimmen, die aber einfach ignoriert
wurden .
({3})
So viel wir hier an diesem Tag auch kritisieren, will ich
an dieser Stelle mit Blick auf diese kritischen Stimmen
einmal klipp und klar sagen: Herzlichen Dank denjenigen, die die Bedenken vorgetragen haben!
({4})
Die Bedenken wurden nur leider vom Tisch gewischt .
Ihre „Alles ist gut“-Attitüde, die hier latent rüberkommt, ist gänzlich fehl am Platz; das will ich an einem
Beispiel deutlich machen, nämlich am Bericht der Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit . Die Datenschutzbeauftragte als zuständige
Kontrollbehörde hat nach Snowden den BND geprüft,
mehrere Monate gegen massivste Widerstände . Sie hat
einen verheerenden Bericht geschrieben: Verfassungsverstöße, illegale Datenbanken, grobe Rechtswidrigkeiten - alles allein in Bad Aibling . Die großkoalitionäre
Bundesregierung hat sich nicht entblödet, diesen Bericht
einfach als Geheim einzustufen und ihn bis heute zu
igno rieren, statt diese Dinge anzunehmen und zu sagen:
Wir haben verstanden, wir korrigieren . - So geht es nicht
in einem Rechtsstaat, liebe Kolleginnen und Kollegen .
({5})
Der Ausschuss war wichtig, und er hat sich gelohnt .
Snowdens Veröffentlichungen haben sich - der Kollege Ströbele hat das gesagt - vollumfänglich bestätigt .
Wir haben aufgeklärt, dass der BND Teil der globalen
Massenüberwachungsmaschinerie ist . Auch das hochproblematische Geschäft mit den Selektoren wäre mit
all seinen rechtlichen Problemen niemandem außerhalb
des Dienstes bekannt, hätte unser Ausschuss nicht so gut
gearbeitet .
Ihr Trostpflaster, liebe Große Koalition, die vermeintlich bahnrechende Reform des BND-Gesetzes, ist nichts
anderes als der klägliche Versuch der nachträglichen
Legalisierung der abgründigen Praxis der Fernmeldeaufklärung und des Ausspähens unter Freunden der letzten
Jahre .
({6})
Diese Reform ist offenkundig verfassungswidrig und legalisiert genau das, von dem Sie sagen, dass es nie stattgefunden hat, nämlich die anlasslose Massendatenerfassung . Das wird nicht durchtragen . Ich sage Ihnen, Herr
Fritsche: So ist der nächste Skandal vorprogrammiert .
({7})
Ich komme zum Schluss . Demokratien zeichnen sich
dadurch aus, dass Parlamente Fehlentwicklungen korrigieren . Diese Korrektur sind Sie unserem Land bis heute
schuldig . Dabei geht es um nicht mehr und nicht weniger
als die Privatsphäre und die Vertraulichkeit der Kommunikation im digitalen Raum . Die Debatte hat Edward
Snowden angestoßen, wir haben sie weiter vorangebracht, aber sie ist noch lange nicht zu Ende .
Ganz herzlichen Dank .
({8})
Vielen Dank . - Für die CDU/CSU-Fraktion spricht
jetzt der Kollege Tankred Schipanski .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Konstantin von Notz, zunächst einmal will ich
mich gegen den Begriff verwahren, dass wir als Große
Koalition „entblödet“ sind in Bezug auf den Bericht der
Datenschutzbeauftragten .
({0})
Man kann juristische Sachverhalte unterschiedlich einschätzen . Man hat dazu auch unterschiedliche juristische
Auffassungen. Das haben wir in der Tat; aber das hat
nichts mit „entblödet“ zu tun .
({1})
Das Nächste sind die Vorwürfe von Herrn Hahn gegenüber dem Ausschussvorsitzenden .
({2})
Das finde ich unmöglich, und das ist überhaupt nicht richtig . Es war eine neutrale und angemessene Ausschussleitung über viele Jahre . Lieber Patrick, vielen Dank dafür .
({3})
Ich möchte zunächst auf das Verfahren eingehen . In
der letzten Legislatur war ich im NSU-Untersuchungsausschuss . Ich muss sagen: Es gab dort einen gemeinsamen Aufklärungswillen, eine ganze Menge Kollegialität,
einstimmige Beschlüsse, konstruktive Zeugenvernehmungen . Das habe ich in diesem Ausschuss ein ganzes
Stück vermisst .
({4})
Bei der ersten Sitzung dieses Ausschusses wurde
schnell klar, dass ein konstruktives und strukturiertes Zusammenwirken von Opposition und Koalition nicht gewollt ist . Von Anfang an war es Konfrontation, Misstrauen, Verschwörung aufseiten der Opposition, angeheizt
durch diverse Veröffentlichungen nicht nur via Zeitungen und Zeitschriften, sondern auch via Buchveröffentlichungen wie Geheimer Krieg oder Der NSA-Komplex,
allesamt Veröffentlichungen, welche die Snowden-Veröffentlichungen ungeprüft zur Grundlage ihrer Berichterstattung gemacht haben . Das ist im Übrigen ein ganz
klarer Verstoß gegen die journalistische Sorgfaltspflicht,
lieber Herr Ströbele .
({5})
Diesen Denkfehler machte die Mehrheit der Ausschussmitglieder nicht. Wir hinterfragten veröffentlichte
Skizzen und Papiere nach Plausibilität . Wir nutzten verschiedene Arten von Beweismitteln, ob Zeugen, Sachverständige, Urkunden . Dabei gab es immer eine intensive
Zusammenarbeit mit der Bundesregierung . Eine Blockadehaltung konnte ich nicht feststellen . Wenn man Material von Diensten haben will - das haben Sie auch schon in
anderen Untersuchungsausschüssen erlebt -, dann wird
bei eingestuftem Material selbstverständlich geschwärzt .
Wir haben festgestellt, dass die in den Snowden-DokuDr. Konstantin von Notz
menten beschriebenen Methoden und Programme wie
Tempora und Prism nach Expertenmeinung zwar grundsätzlich technisch nachvollziehbar sind . Aber ihre Funktionalität konnten wir aufgrund des fragmentarischen
Charakters der Dokumente nicht als seriös bewerten .
Der Vorwurf der Wirtschaftsspionage wurde ausgeräumt .
Der Vorwurf des Ringtausches wurde ausgeräumt . Der
Vorwurf, der hier im Raum stand, das No-Spy-Abkommen habe es nie gegeben, wurde ausgeräumt . Der Vorwurf eines geheimen Krieges wurde ausgeräumt .
({6})
Die Kollegin Warken hat auf die falsche Berichterstattung des Spiegel mit den 500 Millionen Metadaten im
Jahr 2013 hingewiesen . Sie haben es richtiggestellt, Frau
Kollegin Warken . Ich kann nur sagen: Der Spiegel war
nicht das einzige Medium, das hier nicht korrekt berichtet hat .
({7})
Meine Damen und Herren, das alles sind Fakten, die
wir aufgeklärt haben, und Fakten sind keine Skandale .
Aber bis zur letzten Minute - wir erleben das heute wird von Linken und Grünen nur skandalisiert . Sinn und
Zweck eines Untersuchungsausschusses ist es aber nicht,
sich in Parallelwelten zurückzuziehen, Verschwörungstheorien aufzubauen und grundsätzlich allen Leuten zu
misstrauen . Sinn und Zweck war es, die Vorwürfe von
Edward Snowden zu prüfen . Insbesondere der Vorwurf
der massenhaften, anlasslosen Überwachung deutscher
Staatsbürger durch Nachrichtendienste der sogenannten
Five Eyes war und ist falsch .
({8})
Gleiches gilt für die behauptete massenhafte, anlasslose
Überwachung durch den BND . Auch die Zusammenarbeit des BND mit anderen Nachrichtendiensten auf Basis
einer Rechtsgrundlage ist zulässig und geboten und ist
kein Skandal . Ich bin erschrocken, dass Linke und Grüne
ganz bewusst fehlinterpretieren und verzerren und so gemeinsam mit manchen Medienvertretern die Menschen
bewusst in die Irre führen,
({9})
verunsichern und Misstrauen säen . Das erleben wir auch
heute wieder in dieser Debatte .
Nachrichtendienste haben eine wichtige Aufgabe
in unserem Interesse, nämlich die Gewährleistung von
Sicherheit . Wir sollten die Nachrichtendienste dabei
unterstützen und ihnen gerade in Zeiten terroristischer
Bedrohungen die notwendigen politischen Rahmenbedingungen geben .
Mich hat insbesondere der Umgang mit eingestuftem
Material besorgt, das ständige Durchstechen, insbesondere auch bei der Problematik der Selektoren . Hier war
es kein Skandal, eine unabhängige sachverständige Vertrauensperson einzuführen . Das hatten wir in ähnlicher
Art und Weise bereits im NSU-Ausschuss; es war das
sogenannte Auge des Ausschusses .
Nina Warken hat auf die Posse um die Snowden-Ladung hingewiesen . Wir waren bereit, den Zeugen zu hören . Der Zeuge hat den Ausschuss missachtet . Er ist nicht
gekommen .
({10})
Er lässt sich auf die CeBIT und überallhin schalten, nur
mit uns wollte er nicht sprechen .
Lieber Konstantin von Notz, dem Geschrei von Linken und Grünen bezogen auf mutmaßliche Rechtswidrigkeit in dem Zusammenhang haben das Bundesverfassungsgericht und der BGH eine ganz klare Absage erteilt .
Viermal hat die Opposition vor den höchsten deutschen
Gerichten verloren . Die Drohgebärden nach dem Motto „Wir gehen nach Karlsruhe, alles rechtswidrig, alles
schlimm“ sind pure Show, um Aufmerksamkeit zu erlangen, und bedeuten eine nicht gerechtfertigte Skandalisierung .
({11})
Ich will Sie ermuntern, diesen Bericht zu lesen . Ich
möchte Sie ermutigen, weiterhin die Balance zwischen
Freiheit und Sicherheit zu wahren . Ich möchte zum Abschluss auch Danke sagen an die Mitarbeiter unserer
Nachrichtendienste, die eine gute Arbeit im Interesse einer hohen Sicherheit leisten .
({12})
Vielen Dank .
({13})
Vielen Dank . - Für die SPD-Fraktion hat jetzt Jens
Zimmermann das Wort .
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nach der
Rede meines Vorredners könnte man den Eindruck gewinnen: Alles super, alles dufte! Der Ausschuss hat gut
gearbeitet . Wir haben vor allem herausbekommen, dass
alles richtig gemacht wurde und nichts passiert ist . Warum eigentlich die ganze Aufregung?
({0})
Ich glaube, das wäre ein falscher Eindruck . Wir haben
viel gearbeitet, wir haben viel aufgeklärt, aber wir haben
auch festgestellt, dass nicht alles gut gelaufen ist .
Was man an der Rede merken kann, ist, dass uns in der
Ausschussarbeit bisher ein Aspekt gefehlt hat, nämlich
nachempfinden zu können, wie das so war im SpätsomTankred Schipanski
mer 2013, wie die Atmosphäre ist, wenn eine solche Krise auftaucht, während man mitten im Wahlkampf ist . In
dieser Woche haben wir das, glaube ich, gut spüren können . Insofern will ich einmal auf die politische Dimension unserer Arbeit eingehen .
Da ist die Aussage der Kanzlerin, die wir immer wieder gehört haben: „Abhören unter Freunden, das geht gar
nicht“, und da ist die Frage, was da eigentlich so gelaufen
ist . Wir haben es heute in der Debatte schon gehört: Wir
haben auch herausgefunden, dass es eine Strategie ist, die
politisch Verantwortlichen nach Möglichkeit gar nicht
erst zu informieren; denn was man nicht weiß, macht
einen nicht heiß . Am Ende kann man dann glaubhaft dementieren, irgendetwas gewusst zu haben . Das ist aber
keine effektive Kontrolle der Geheimdienste. Wenn wir
der Meinung sind, dass wir in Deutschland Nachrichtendienste benötigen - und wir sind dieser Meinung -, dann
müssen wir auch der politischen Kontrolle nachkommen .
({1})
Ich denke an eine denkwürdige Ausschusssitzung,
zu der der damalige Kanzleramtschef Pofalla als Zeuge
geladen war, der seine Zeit vor allem damit verbrachte,
Mitglieder des Ausschusses von vorne bis hinten zu beschimpfen, aber nicht wirklich zur Aufklärung beitragen
konnte .
({2})
- Ja, das Protokoll hebe ich mir auf, Herr Kollege; denn
das ist wirklich ein Beispiel dafür, wie man es nicht
macht .
({3})
Der Volksmund sagt: „Hunde, die bellen, beißen
nicht“; aber Herrn Pofalla haben wir irgendwie auf dem
falschen Fuß erwischt . Ich erinnere an eine andere denkwürdige Sitzung im PKGr in der Wahlkampfzeit, nach
der sich Herr Pofalla hingestellt und den ganzen Skandal
für beendet erklärt hatte . Jetzt stellen wir vier Jahre später hier im Deutschen Bundestag fest, dass es doch einen
Skandal gab .
({4})
Das ist die politische Dimension dieses Untersuchungsausschusses, die sich nicht einfach so vom Tisch wischen
lässt, wie Sie das eben versucht haben .
({5})
Wir als SPD - und das wiederhole ich gerne - ziehen folgende politische Lehre aus den Vorkommnissen:
Wenn wir zu dem Ergebnis kommen, dass wir Nachrichtendienste brauchen, um unser Land zu schützen, dann
ist es Aufgabe des Parlaments und Aufgabe der Regierung, die Nachrichtendienste effektiv zu kontrollieren.
Das müssen wir dem kommenden Deutschen Bundestag
und der kommenden Bundesregierung mit auf den Weg
geben .
Vielen Dank .
({6})
Vielen Dank . - Nächster Redner ist Dr . Tim Ostermann
für die CDU/CSU-Fraktion .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zum Abschluss
der Arbeit des 1 . Untersuchungsausschusses ist viel
Staub aufgewirbelt worden, auch in der heutigen Debatte . Wir sollten aber den Blick auf die erzielten Ergebnisse
richten und uns diesen Blick nicht vernebeln lassen . Darum möchte ich mich bei meinen Ausführungen als elfter
und letzter Redner auf einige Maßnahmen konzentrieren,
die der Ausschuss empfiehlt bzw. überwiegend schon angestoßen hat .
Als Konsequenz aus der Arbeit des Untersuchungsausschusses fand eine intensive Auseinandersetzung über
technische, personelle und rechtliche Rahmenbedingungen für die Arbeit unserer Nachrichtendienste statt . Die
Koalition hat umfassende Reformen beschlossen, vor
allem die des Bundesnachrichtendienstgesetzes . Ich
will noch einmal daran erinnern: Bis zum Inkrafttreten
der Novelle gab es keine gesetzliche Spezialregelung
für die Überwachung der Telekommunikation von Ausländern im Ausland durch den BND . Jetzt ist auch gesetzlich geklärt, dass dem BND eine Erhebung solcher
Daten unter bestimmten Voraussetzungen gestattet ist:
Die Erhebung muss verhältnismäßig sein und dem Auftragsprofil der Bundesregierung entsprechen. Für Suchbegriffe mit EU-Bezug gelten hohe Hürden. BND-Spitze und Bundeskanzleramt werden in die Verantwortung
genommen . Für alle Erhebungen ist eine Anordnung des
Bundeskanzleramtes notwendig, und diese Anordnungen
müssen dann auch noch von einem neu eingerichteten
Kontrollgremium, dem sogenannten Unabhängigen Gremium, genehmigt werden .
Mit der Reform wurde auch für die Mitarbeiter des
Bundesnachrichtendienstes Rechtssicherheit geschaffen.
Mir ist wichtig, zu sagen: Die Mitarbeiter der Nachrichtendienste sind ein ganz entscheidender Faktor . Ohne
Frage: Es gab gerade beim BND Fehlverhalten, das abgestellt werden musste und auch abgestellt wurde . Dies
rechtfertigt aber nicht, die Mitarbeiter unserer Nachrichtendienste in ein bestimmtes Licht zu rücken . Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir als Union stehen hinter unseren Nachrichtendiensten und ihren Mitarbeitern; denn
wir sind für die schwierige Arbeit, die sie für uns alle
leisten, außerordentlich dankbar .
({0})
Die Spionageabwehr wurde neu ausgerichtet . Eine
Privilegierung von bestimmten Nachrichtendiensten findet nicht mehr statt . Wir schauen nun grundsätzlich allen auf die Finger . Zur Wahrheit gehört allerdings auch,
dass die personelle Aufstockung zwar erfolgt ist, sie aber
vermutlich nicht ausreichen wird, um dauerhaft einen
360-Grad-Blick zu gewährleisten . Wenn wir dies wünschen - und ich nehme an, das wünschen wir uns alle -,
brauchen wir wohl eine weitere Aufstockung . Angesichts
der derzeit noch begrenzten Ressourcen liegen daher die
Schwerpunkte der Spionageabwehr weiterhin nicht bei
den Five-Eyes-Staaten; die Schwerpunkte liegen vielmehr bei Russland, China, Nordkorea, der Türkei, dem
Iran und anderen Staaten des Nahen und Mittleren Ostens, und das ist auch richtig so, liebe Kolleginnen und
Kollegen .
({1})
Ausspähen unter Freunden ist höchst problematisch .
Ausspähaktivitäten von nicht befreundeten Staaten bringen aber weit höhere Risiken mit sich .
({2})
Darum wird uns vonseiten der Opposition ein schiefes
Bild präsentiert, wenn mit dem Finger vor allem in Richtung der USA und der anderen Five-Eyes-Staaten gezeigt
wird . Die Aktivitäten der von mir eben genannten Staaten müssen uns weitaus größere Sorgen bereiten .
Zuletzt möchte ich erwähnen, dass die Koalition auch
die parlamentarische Kontrolle effektiver gemacht hat.
Das Parlamentarische Kontrollgremium wird durch einen Ständigen Bevollmächtigten und einen entsprechenden administrativen Unterbau gestärkt . Wir sind davon
überzeugt, dass die Kontrollarbeit des Gremiums durch
diese qualifizierte Zuarbeit - und jetzt zitiere ich den Abschlussbericht - „aktiver, systematischer und schlagkräftiger“ wird .
Ich finde, wir haben aus der Aufklärungsarbeit des
Untersuchungsausschusses die richtigen Schlüsse gezogen . Wir haben die notwendigen Reformen unserer
Nachrichtendienste durchgesetzt . Daneben haben wir
auch die Kontrolle der Dienste reformiert . Und wir haben die Gefahren in den Blick genommen, die durch Spionageaktivitäten für Staat, Wirtschaft und Gesellschaft
entstehen . Gleichzeitig sind wir der Dämonisierung der
Nachrichtendienste durch die Opposition durch eine konsequente, aber an der Sache orientierte Aufarbeitung entgegengetreten .
({3})
Alles in allem ist das ein Ergebnis, mit dem man zufrieden sein kann . Und wir, die Union - das darf ich abschließend sagen -, sind mit dem Ergebnis zufrieden .
Herzlichen Dank .
({4})
Vielen Dank . - Damit schließe ich die Aussprache .
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des 1 . Untersuchungsausschusses auf
Druck sache 18/12850. Der Ausschuss empfiehlt, den Bericht zur Kenntnis zu nehmen . Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist bei Enthaltung
der Fraktion Die Linke angenommen .
Ich rufe auf den Tagesordnungspunkt 5:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Agnieszka Brugger, Katja Keul, Dr . Tobias
Lindner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Rüstungsexporte endlich reduzieren - Frieden, Sicherheit und Menschenrechte bei den
Entscheidungen stärken
Drucksache 18/12825
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen . Gibt es dagegen
Widerspruch? - Ich sehe, das ist nicht der Fall .
Dann darf ich Sie bitten, die Plätze einzunehmen .
Ich eröffne die Aussprache, und das Wort hat Katja
Keul für Bündnis 90/Die Grünen .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Kriegswaffenexporte in Spannungsgebiete gefährden die deutschen Sicherheitsinteressen und befördern die Eskalation bewaffneter Konflikte. Die Grundsätze der Bundesregierung sind nicht geeignet, diese zu
unterbinden . Ich will Ihnen dies anhand von drei aktuellen Beispielen vor Augen führen .
Erstes Beispiel: Als wir in der letzten Legislatur den
geplanten Export der Kriegsschiffe der Firma Lürssen an
Saudi-Arabien kritisierten, haben CDU und FDP immer
abgewiegelt . Das seien doch nur harmlose Patrouillenboote, die zur Küstenwache eingesetzt würden . Heute
sterben Tausende von Menschen - vor allem Kinder und
Alte - im Jemen an Hunger und Cholera, weil Saudi-Arabien das Land nicht nur bombardiert, sondern auch von
der Seeseite her blockiert, sodass keine Medikamente und
Lebensmittel die Menschen mehr erreichen . Die Lage ist
unerträglich, und sie belegt, dass das Genscher-Zitat „Alles was schwimmt, geht“ falsch ist .
({0})
Die Kriegsschiffe wurden in dieser Legislatur genehmigt,
und zwar von Wirtschaftsminister Gabriel, der angetreten
war, Rüstungsexporte restriktiver zu handhaben .
Das zweite Beispiel ist Katar . Seit Wochen erleben
wir eine Eskalation zwischen den Staaten der Arabischen
Halbinsel mit der totalen Blockade von Katar durch die
Nachbarländer, die ja nach Presseberichten sogar eine Invasion der Halbinsel planten .
Außenminister Gabriel warnt vor einem Krieg in der
Region. Als wir ihn aber vor zwei Jahren aufforderten, die
Genehmigung für 62 Leopard-Kampfpanzer nach dem
Kriegswaffenkontrollgesetz zu widerrufen, die SchwarzGelb vor der Bundestagswahl 2013 noch schnell erteilt
hatte, weigerte er sich . Er begründete dies damals ausdrücklich nicht mit drohenden SchadensersatzansprüDr. Tim Ostermann
chen der Rüstungsindustrie, sondern ausschließlich mit
der sicherheitspolitischen Lage . Da kann man mal sehen,
wie schnell sich die Sicherheitslage ändern kann .
({1})
Um ein Haar hätten sich letzte Woche saudische Kriegsschiffe, made by Lürssen, und katarische Panzer, made
by Krauss-Maffei Wegmann, gegenübergestanden. Einmal mehr ist bewiesen: Deutsches Kriegsgerät hat in
Drittstaaten nichts zu suchen .
({2})
Aber auch innerhalb des NATO-Bündnisses gibt es
gefährliche Entwicklungen, weshalb auch die Türkei
deutsche Panzer immer nur mit Auflagen bekommen hat.
Nun will Erdogan endlich eigene Panzer bauen, die er
nach Gutdünken auch gegen die eigene Bevölkerung einsetzen kann . Dafür braucht er Geld und technische Unterstützung . Beides bekommt er: das Geld aus Katar und
die technische Unterstützung von Rheinmetall . Die Bundesregierung meint, das ginge sie alles nichts an, weil
Rheinmetall weder Schrauben noch Blaupausen exportiert, sondern nur eigenes Personal . Und tatsächlich hat
das deutsche Kontrollregime da eine Lücke, so groß wie
ein Scheunentor .
Wir Grüne fordern ein Rüstungsexportkontrollgesetz;
dieses muss auch Dienstleistungen im Rüstungs- und
Entwicklungsbereich erfassen .
({3})
Der Export von sensiblem Know-how kann nicht allen
Ernstes unreguliert bleiben . Gabriel hat zwar immerhin
eine Kommission eingesetzt, doch auf ein Rüstungskontrollgesetz warten wir immer noch . Als Wirtschaftsminister hat er unsere Forderung unterstützt, die Zuständigkeit
für Rüstungsexporte auf das Auswärtige Amt zu verlagern . Unterstützt er das als Außenminister eigentlich immer noch? Man hört dazu gar nichts mehr . Stattdessen
fordert er jetzt, dass künftig bei einzelnen Genehmigungen Parlamentsbeschlüsse gefasst werden . Aber so einfach entlassen wir die Exekutive und den Minister selbst
nicht aus der Verantwortung .
({4})
Wir wollen die Menschenrechtslage zum gesetzlichen
Kriterium erheben, und wir wollen eine gesetzliche Begründungspflicht für Rüstungsexporte. Die Exekutive
soll sich gegenüber dem Parlament und im Ernstfall auch
gegenüber einem Gericht rechtfertigen . Die über Jahre
gestreckte Dreiteilung des Verfahrens in Vorbescheid,
Genehmigung nach dem Kriegswaffenkontrollgesetz und
Genehmigung nach dem Außenwirtschaftsgesetz verschleiert die Verantwortlichkeiten nach dem Motto: Den
Letzten beißen die Hunde .
Wir wollen nicht nur die gesetzlichen Grundlagen verschärfen und ein Verbandsklagerecht einführen, sondern
auch ein parlamentarisches Kontrollgremium einsetzen,
das frühzeitig über anstehende Genehmigungen informiert wird und dazu Stellung nehmen kann . Kriegswaffenexporte in Drittstaaten dürfen nicht länger die Regel
bleiben; denn sie destabilisieren ganze Regionen und gefährden damit auch deutsche Sicherheitsinteressen . Wer
auch immer die nächste Bundesregierung stellen will,
muss hier regulierend eingreifen - in unser aller Interesse .
Vielen Dank .
({5})
Vielen Dank . - Für die CDU/CSU-Fraktion spricht
jetzt der Kollege Klaus-Peter Willsch .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kollegin von den Grünen,
wenn wir auf diese Legislaturperiode zurückschauen,
({0})
müssen wir doch feststellen, dass wir wirklich keinen
Mangel an Diskussionen über Rüstungsexporte und Rüstungskontrolle in diesem Hause hatten . Durch das neue
Regularium, das diese Koalition vereinbart hat - mit Vorabinformationen, mit vorgezogenen Berichten -, haben
wir eine große Dichte an Debatten . Über den gleichen
Panzer wird drei Mal gesprochen, sodass das Publikum
wahrscheinlich langsam gelangweilt ist .
({1})
Sie versuchen, hier so zu tun, als ob Sie bereit seien,
Verantwortung in der Welt zu übernehmen; Sie machen
sich aber einen schlanken Fuß, wenn es ernst wird . Das
ist das Problem, das Sie haben .
({2})
Sie wollen das weiter theoretisieren und diskutieren . Das
führt uns aber kein Stück weiter .
({3})
Sie tun systematisch so - Herr van Aken wird gleich
die Fortsetzung dazu liefern -, als ob es in Deutschland
Waffen quasi auf dem Flohmarkt zu kaufen gäbe. Sie
wissen, dass das reguliert ist .
({4})
Im Wesentlichen herrscht außenpolitisch breites Einvernehmen . Schon zu Zeiten der rot-grünen Regierung unter
Fischer und Schröder wurden die Grundlagen festgelegt,
auf denen noch heute weitgehend gearbeitet wird . Hier
sind keine Hasardeure am Werk .
Wenn man in der Welt helfen will und wenn man deutsche Sicherheitsinteressen in der Welt sichern will,
({5})
dann muss man Ländern, die nicht in der Lage sind, ihre
Grenzen zu schützen, unter Umständen helfen, zum Beispiel einen Küstenschutz aufzubauen . Genau das haben
wir im Fall der Küstenschutzboote getan .
({6})
Natürlich können sich die Dinge ändern . Deswegen
gibt es ein enges Monitoring der Bereiche, in die Waffen
ausnahmsweise geliefert werden; Sie wissen sehr wohl,
dass das nur „ausnahmsweise“ geschieht . Aber natürlich
gibt es immer Entwicklungen, die man nicht hundertprozentig vorhersehen kann . Vielleicht wird Ihnen das ein
bisschen bewusster, nachdem ich Ihnen Folgendes gesagt
habe: Dieser Tage wurde ein Urteil im Fall Srebrenica gesprochen . 1995: Massaker von Srebrenica, die serbischen
Aggressionskriege Milosevic’ gegen seinen Nachbarn .
({7})
Da sind wir mit Blauhelmen und ohne richtige Bewaffnung reingegangen; da waren wir nicht massiv genug .
Das Gleiche hätten wir schon vorher machen müssen in
Kroatien beim Massaker von Vukovar .
({8})
Ich sage Ihnen das noch einmal: Sie wollen mit allgemeinen Erklärungen Ihre Wohlfühlatmosphäre, dass Sie
die Friedensretter in der Welt sind, erhalten .
({9})
Aber die Welt ist nun mal so, wie sie ist . Da muss man
gegebenenfalls die Fähigkeiten verstärken, damit robust
vorgegangen werden kann .
({10})
Das gilt für uns, wenn wir daran denken, wie unsere vitalen Interessen in der Welt gesichert werden, das gilt aber
auch für die konkrete Einsatzsituation .
Ich weiß noch - das hat mir gut gefallen -, dass Cem
Özdemir damals - da haben wir mitten in die Krise hineingeliefert - gesagt hat: Mit den MILAN-Abwehrraketen an die Kurden, an die Peschmerga haben wir den
einzig wirksamen Gegenpool zum IS und zu al-Qaida
aufgebaut . - Damals hat sogar Ihr Parteivorsitzender die
Erkenntnis gehabt, dass man denen wahrscheinlich nicht
mit dem Stuhlkreis beikommt . Manchmal ist es so, dass
man nicht mit dem Stuhlkreis beikommt .
In so einer Situation muss man dann helfen . Keinem
der Freiheitskämpfer, die sich dort dem IS entgegengestellt haben, hätte es geholfen, Ihre wohlfeilen Worte
hier anzuhören . Im Zweifelsfalle zählt die Tat . Hören
Sie bitte damit auf, in den Diskussionen, die Sie immer
wieder führen, den Eindruck zu erwecken, dass hier sehr
freihändig mit Waffenexporten umgegangen wird.
Schauen Sie sich die Berichte der Fachleute an, lesen
Sie den SIPRI-Bericht, schauen Sie sich an, wie hoch
unser Anteil am Handel in der Welt ist und wie klein er
dagegen im Rüstungsbereich ist, weil wir zurückhaltend
sind in unserer Exportpolitik,
({11})
schauen Sie sich die Wirklichkeit an, und versuchen Sie,
sie zur Kenntnis zu nehmen .
Wir wollen, dass unsere Soldaten in hochgefährlichen
Situationen erfolgreich unsere Freiheit und unsere Interessen verteidigen .
({12})
Dazu müssen sie mit bestem Gerät ausgestattet sein .
({13})
Wenn wir ein gutes Gerät haben, das auch andere haben
wollen, und wir das nach sorgfältiger Prüfung dorthin
verkaufen, ist das eine logische und richtige Politik; das
wollen wir gerne so weitermachen .
({14})
Deshalb werden wir, liebe Frau Keul, Ihren Antrag ablehnen . Wir können uns dem nicht anschließen, sondern
machen weiter eine verantwortungsbewusste, an unseren
Interessen, an den Interessen der betroffenen Völker orientierte Politik, die Sicherheitsinteressen nicht aus den
Augen verliert, sondern die Sicherheit von uns, unseren
Verbündeten, von befreundeten und nützlichen Nationen,
die uns bei Aufgaben helfen, im Blick behält .
({15})
Wir tun weiterhin das, was wir für richtig halten .
({16})
Das wird hier jedes Mal diskutiert; wir rechtfertigen das
alles . Aber hören Sie auf, den Eindruck zu erwecken, als
ob es keine parlamentarische Kontrolle gäbe . Der Antrag
ist völlig überflüssig.
Vielen Dank .
({17})
Vielen Dank . - Für die Linke spricht jetzt Jan van
Aken .
({0})
Frau Präsidentin, ehe die Uhr anfängt, zu laufen, habe
ich eine Frage: Darf Herr Jung eigentlich hier sitzen?
Ist es mit der Geschäftsordnung vereinbar, dass jemand,
der in seinem neuen Job Aufsichtsrat in der Rüstungsschmiede ist, an einer Debatte teilnehmen kann, bei der
es um Rüstungsexporte geht? Ich kenne mich mit der Geschäftsordnung nicht so genau aus .
Dann würde ich Ihnen empfehlen, sie zu studieren . Jeder Abgeordnete darf hier in diesem Saal Platz nehmen;
wer nicht Abgeordneter ist, nicht .
Ich finde es falsch, aber dann ist es so. - Ich finde es
auch deswegen falsch, weil mir in den letzten Tagen immer ein Bild vor Augen kommt, das mich überhaupt nicht
mehr loslässt: Ich stelle mir vor, dass, wenn der Konflikt
zwischen Saudi-Arabien und Katar weiter eskaliert, es
tatsächlich zum Krieg kommt, und dass es dann deutsche
Kampfbomber sind, die deutsche Leopard-Panzer bombardieren .
Herr van Aken, darf ich Sie kurz unterbrechen, auch
nach Geschäftsordnung? Der Kollege Willsch hätte gerne die Gelegenheit, Ihnen eine Frage zu stellen oder eine
Zwischenbemerkung zu machen .
Ja .
Bitte schön .
Herr van Aken, wären Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass der Kollege Jung erst nach Ende seines Mandates eine neue Beschäftigung annehmen wird? Sind Sie
vielleicht so freundlich - Sie hören ja auch auf -, uns zu
sagen, bei wem Sie jetzt anfangen zu arbeiten, damit wir
überprüfen können, ob auch Sie vielleicht irgendwelche
Interessenkonflikte haben?
Ich habe das, glaube ich, sehr präzise ausgedrückt:
Sein neuer Job ist Aufsichtsrat bei Rheinmetall . Das ist
eine Waffenschmiede, der größte deutsche Rüstungshersteller . Ich habe nicht gesagt, dass er da schon angefangen hat . Aber er weiß, dass er diesen Job schon hat . Er
weiß, dass er mit den deutschen Waffenexporten sehr viel
Geld verdienen wird . Trotzdem setzt er sich hierhin und
hat die Chuzpe, an so einer Debatte teilzunehmen . Ich
finde das einfach falsch.
Zu meinem Job kann ich Ihnen sagen: Ich werde ein
Jahr als freier Mitarbeiter für NGOs arbeiten .
({0})
Ich hoffe, dass mir eine Organisation, zum Beispiel
Greenpeace, oder eine Stiftung im nächsten Jahr den einen oder anderen Job gibt . Das habe ich vorher auch gemacht; ich war drei Jahre bei Greenpeace International .
Deswegen kann ich Ihnen schon an dieser Stelle sagen:
Ich bin vielleicht das letzte Mal im Bundestag, aber Sie
sind mich nicht los .
({1})
Um zurückzukommen zu Saudi-Arabien und Katar:
Es waren deutsche Waffenschmieden, die beide Seiten
gleichzeitig bis an die Zähne bewaffnet haben. In den
letzten Jahren wurden Waffenexporte in diese beiden
Länder in Höhe von 6 Milliarden Euro genehmigt . Wenn
Sie von der CDU/CSU oder auch von der SPD jetzt sagen, das hätten Sie doch nicht ahnen können, als Sie das
genehmigt haben, dann kann ich Ihnen nur sagen: Das
hätten Sie nicht nur ahnen können, Sie hätten es wissen
können. Denn Waffen werden gekauft, um Kriege zu führen, aus keinem anderen Grund .
({2})
Wissen Sie, ich sitze jetzt seit acht Jahren im Bundestag und habe mir von Anfang an vorgenommen, die
Folgen der deutschen Waffenexporte zu dokumentieren.
Seit acht Jahren schauen wir immer, wenn irgendwo auf
der Welt geschossen wird, ob nicht auch deutsche Waffen
mit dabei sind . Wir schauen uns die verwackelten Al-Jazeera-Videos, die Medienberichte und die Fotos an, und
in fast jedem einzelnen Fall sind wir fündig geworden .
In fast jedem einzelnen Fall waren deutsche Waffen mit
dabei .
Ich habe fünf Beispiele mitgebracht:
In Mexiko schießen staatliche Sicherheitskräfte mit
deutschen G36-Sturmgewehren auf Studierende . Sie alle
erinnern noch den Fall der verschwundenen 43 Studierenden, die brutal ermordet worden sind .
Nehmen wir Syrien . Ich selbst habe im Norden Syriens das Abschussrohr einer MILAN-Rakete gefunden,
die zur Hälfte in Deutschland produziert wird . Damit haben die Menschenfeinde vom sogenannten „Islamischen
Staat“ gekämpft - mit deutschen Waffen auf syrischem
Boden. Ich jedenfalls finde diese Vorstellung grauenvoll.
({3})
Nehmen wir die Türkei . Wir alle haben die Bilder gesehen, wie die Türkei in Syrien einmarschiert ist, eine
ganze Kolonne von deutschen Leopard-Panzern fuhr mit .
Und dann gab es diese Bilder - Herr Jung, Leopard ist
doch Ihr Modell -, wie islamistische Kämpfer von Ahrar al-Scham vor den deutschen Panzern posieren . Ahrar
al-Scham gilt hier in Deutschland als Terrororganisation .
Die Türkei kämpft mit denen gemeinsam gegen die Kurden in Syrien mit deutschen Panzern. Ich finde das falsch.
({4})
Nehmen wir Saudi-Arabien; dazu ist eben schon viel
gesagt worden . Saudi-Arabien bombardiert den Jemen
gerade zurück in die Steinzeit . Das tun sie auch mit deutschen Kampfflugzeugen, und das tun sie auch mit Bomben, die von der deutschen Waffenschmiede Rheinmetall
in Italien produziert worden sind . Die werden in Sanaa,
in der Hauptstadt, gefunden, und wenn sie nicht explodieren, dann kann man sehen: direkt aus der Rheinmetall-Fabrik auf Sardinien nach Saudi-Arabien geliefert
und im Krieg im Jemen eingesetzt . Das ist ein schmutziges Geschäft, das Sie zu verantworten haben, Herr Jung .
({5})
Dann gibt es natürlich noch die Waffenlieferungen an
die Peschmerga im Nordirak. Die Waffen wurden den
Peschmerga geschenkt, damit sie die Jesiden beschützen .
Jetzt sehen wir die Bilder, wie genau diese Peschmerga
mit genau diesen deutschen Waffen die Jesiden angreifen, statt sie zu verteidigen .
Ich sage Ihnen: Waffenlieferungen gehen immer nach
hinten los .
({6})
Das waren nur ein paar Beispiele; ich könnte Ihnen
noch Dutzende weitere aufzählen und Ihnen viele Bilder zeigen . Denn seit Jahrzehnten exportiert Deutschland
Waffen in alle Welt, und seit Jahrzehnten wird überall auf
der Welt mit diesen Waffen getötet.
Wenn ich in die Reihen von SPD und Union schaue,
frage ich mich eigentlich jedes Mal, wenn ich hier stehe,
ob irgendwer von Ihnen eigentlich ein schlechtes Gewissen hat .
({7})
- Nein, Sie beide saßen in all den Jahren an den Hebeln
der Macht . - Es sind Ihre Exporte, die Sie zu verantworten haben . Aber die gute Nachricht ist: Sie können sie
auch stoppen . Wer auch immer im September die Wahl
gewinnt, wer auch immer in der nächsten Legislaturperiode die Koalition stellt, hat die Möglichkeit, endlich das
zu machen, was 83 Prozent der Menschen in Deutschland
wollen: Stoppen Sie endlich die Waffenexporte!
({8})
Das Dringendste - das wissen Sie auch, und damit
komme ich zum Schluss - ist natürlich das Verbot von
Kleinwaffenexporten ohne jede Ausnahme. Das sind einfach die mörderischsten aller Waffen. Ich verstehe bis
heute nicht, warum Sie sich bisher dazu nicht durchringen können .
Aber Sie kommen zum Schluss .
Das habe ich gerade gesagt, und das tue ich jetzt
auch . - Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Deutschland überhaupt keine Waffen exportieren sollte.
({0})
Und wissen Sie was? Das werden wir auch gewinnen einfach weil es richtig ist .
({1})
Für die SPD-Fraktion hat jetzt Ulrich Hampel das
Wort .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Antrag der Grünen mit dem Titel „Rüstungsexporte
endlich reduzieren“ eröffnet mir die Gelegenheit, einmal
darzulegen, wie die SPD - auch gemeinsam mit den Grünen, sehr geehrte Frau Keul - eine restriktive und transparente Rüstungsexportpolitik auf den Weg gebracht
hat . Es war schließlich die rot-grüne Koalition, die im
Jahre 2000 die Politischen Grundsätze der Bundesregierung für den Export von Kriegswaffen und sonstigen
Rüstungsgütern neu formuliert hat . Seitdem wird der Beachtung der Menschenrechte besonderes Gewicht beigemessen .
Wir haben dort gemeinsam verankert, dass die Bundesregierung jährlich einen Rüstungsexportbericht vorzulegen hat . Sigmar Gabriel hat zu Beginn der Legislaturperiode darüber hinaus dafür gesorgt, dass zusätzlich
zum jährlichen Rüstungsexportbericht ein halbjährlicher
Bericht vorzulegen ist . Zudem werden die abschließenden Genehmigungsentscheidungen des Bundessicherheitsrates offengelegt und innerhalb von zwei Wochen
dem Bundestag zugeleitet .
Das alles sind Maßnahmen, die die Transparenz von
exportkontrollpolitischen Entscheidungen der Bundesregierung erhöhen .
Gemeinsam mit dem Kriegswaffenkontrollgesetz,
dem Außenwirtschaftsgesetz, der Außenwirtschaftsverordnung, dem Gemeinsamen Standpunkt des Rates der
EU und dem Vertrag über den Waffenhandel, ATT, haben wir heute einen rechtlichen Rahmen, der eine gute
Grundlage für Genehmigungen bzw . Ablehnungen im
Einzelfall und nach sorgfältiger Prüfung unter Einbeziehung der außen- und sicherheitspolitischen Erwägungen
bietet .
Ich sage bewusst: Wir haben eine gute Grundlage .
Denn es ist natürlich der Anspruch meiner Fraktion, fortlaufend zu prüfen, ob die Mechanismen für eine restriktive und transparente Rüstungsexportpolitik verbessert
werden können . Der damalige Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel hat in seiner Amtszeit hierzu einen
Konsultationsprozess zur Zukunft der RüstungsexportJan van Aken
politik initiiert . In diesem Prozess wurde das System
der Rüstungsexportkontrolle in Deutschland insgesamt
in den Blick genommen und eine breite Diskussion mit
Vertretern der Kirchen, der Zivilgesellschaft, der Industrie, der Gewerkschaften, der Forschungseinrichtungen
und der Rechtswissenschaften geführt . Derzeit werden
die Ergebnisse der Diskussion ausgewertet .
Ich halte es nicht für ausgeschlossen, dass als Ergebnis des Konsultationsprozesses die Forderung nach einem Rüstungsexportgesetz steht, wie wir es im Übrigen
auch in unserem Wahlprogramm fordern .
({0})
In den weltweiten Konflikten werden die meisten Opfer durch den Einsatz von kleinen und leichten Waffen
verursacht . Deshalb haben wir in dieser Legislaturperiode unser besonderes Augenmerk auf die Reduzierung der
Kleinwaffenexporte an Drittländer und die Einführung
von Post-Shipment-Kontrollen gelegt .
Die neuen deutschen Kleinwaffengrundsätze vom
18 . Mai 2015 sind ein richtungsweisender Leitfaden für
eine restriktivere Handhabung von Rüstungsexportanfragen bezüglich Kleinwaffen. Mit diesen Grundsätzen
nimmt Deutschland eine führende Rolle ein .
Laut dem Rüstungsexportbericht für 2016 belief sich
der Gesamtwert der Exporte von Kleinwaffen an Drittländer auf 16,4 Millionen Euro . 2013 lag dieser Wert
noch bei 42,23 Millionen Euro . Das ist ein deutlicher
Rückgang, der eindeutig auf das SPD-geführte Wirtschaftsressort zurückzuführen ist .
({1})
Das reicht uns aber nicht . Wir wollen ein Verbot von
Kleinwaffenexporten an Drittländer.
({2})
Diese Forderung haben wir in unserem Wahlprogramm
verankert, und mit dieser Forderung werden wir in den
nächsten Monaten auch in die politische Auseinandersetzung gehen .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die SPD steht für
eine transparente und restriktive Rüstungsexportpolitik .
Wir haben dafür gesorgt, dass die exzessive Rüstungsexportpolitik der schwarz-gelben Vorgängerregierung beendet wurde und die Exporte - insbesondere von Kleinwaffen - deutlich zurückgegangen sind.
({3})
Wir gehen mit der Forderung nach einem Verbot von
Kleinwaffenexporten an Drittländer, einer gesetzlichen
Fixierung der Politischen Grundsätze und damit einer
stärkeren Beteiligung des Bundestages in den Bundestagswahlkampf .
Die Grünen wollen in ihrem vorliegenden Antrag, den
wir im Übrigen ablehnen werden, dagegen auch in Zukunft Kleinwaffenexporte an Drittstaaten erlauben, sofern diese nach Beurteilung der außen- und sicherheitspolitischen Gesichtspunkte durch die Bundesregierung
begründet sind . Liebe Kolleginnen und Kollegen der
Grünen, da sind wir schon ein Stückchen weiter .
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit .
({4})
Vielen Dank . - Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist Julia Obermeier, CDU/CSU-Fraktion .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wenn man den Antrag der Grünen liest, bekommt man fast den Eindruck, Sie kennen die SIPRI-Studie nicht; denn die schwedischen Friedensforscher stellen fest: Im globalen Vergleich sind die Rüstungsexporte
Deutschlands in den vergangenen vier Jahren um 36 Prozent zurückgegangen,
({0})
obwohl das weltweite Rüstungsexportvolumen insgesamt um 8,4 Prozent zugenommen hat .
Deutschland hat sogar den größten Rückgang der Exporte unter den 20 größten Exporteuren zu verzeichnen .
({1})
Der Anteil deutscher Exporte auf dem Rüstungsmarkt
ist von 9,4 Prozent auf 5,6 Prozent gesunken . Sie sehen
also: Die Rüstungsexportpolitik der Bundesregierung ist
bereits sehr restriktiv und äußerst zurückhaltend . Es wird
vergleichsweise wenig an Rüstungsgütern exportiert .
Und jede Ausfuhr wird im Einzelfall sorgfältig geprüft .
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung informiert das Parlament transparent über die Genehmigungsentscheidungen des Bundessicherheitsrates in regelmäßig erscheinenden Berichten . Wer allerdings beim
Lesen dieser Berichte pauschal auf die Höhe der Summe
zeigt und „Skandal“ ruft, der macht es sich zu einfach .
Das Finanzvolumen allein spiegelt noch nicht wider, wie
restriktiv die Entscheidungen des Bundessicherheitsrates
sind .
Schauen wir uns einmal die Exporte der ersten vier
Monate im Jahr 2017 an . Fast zwei Drittel der gesamten Genehmigungswerte für Drittländer entfallen auf die
Ausfuhr einer Fregatte nach Algerien . Eine Fregatte mit
entsprechender Ausstattung zum Küstenschutz Algeriens
im Rahmen der Modernisierung der örtlichen Küstenwache schlägt mit 1,31 Milliarden Euro zu Buche . Das
aber jetzt den 59 Millionen Euro für Gewehre, Maschinenpistolen, Munition und Kleinwaffen, die 2004 unter
Rot-Grün an Saudi-Arabien exportiert wurden, gegenüberzustellen, wäre ein Vergleich von Äpfeln mit Birnen .
Wenn man also die Entscheidungen der jeweiligen
Bundesregierung bewertet, dann darf man das nicht allein von der Summe abhängig machen, sondern es gilt
immer, den kritischen Blick auf den jeweiligen Einzelfall
zu richten . Dass auch die aktuelle Bundesregierung jeden
Einzelfall kritisch prüft, sieht man zum Beispiel daran,
dass seit Anfang 2006 bereits elf Rüstungsexporte in die
Türkei abgelehnt wurden .
Frau Kollegin Obermeier, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Keul?
Nein, ich möchte lieber fortfahren .
({0})
Denn es gelten nach wie vor die strengen Exportrichtlinien aus der Zeit der rot-grünen Koalition .
Die Grünen kritisieren in ihrem Antrag auch die Zusammenarbeit der deutschen Wehrtechnik mit türkischen
Unternehmen . Die Türkei ist seit 1952 Mitglied der
NATO . Waren es nicht die Grünen, die über viele Jahre
und sogar noch bis vor kurzem für einen EU-Beitritt der
Türkei geworben haben?
({1})
Ja, die Entwicklungen in der Türkei sind überaus besorgniserregend .
({2})
Ja, in der Frage von Rüstungsexporten haben wir generell eine große Verantwortung für Frieden, Sicherheit und
Stabilität in der Welt . Aber wir haben auch eine große
Verantwortung für die Sicherheit unserer Soldatinnen
und Soldaten der Bundeswehr .
({3})
Wenn wir hier im Hohen Haus entscheiden, unsere
Männer und Frauen in Auslandseinsätze zu schicken,
dann müssen wir auch für ihren Schutz Sorge tragen .
Solange unsere Bundeswehr in NATO-Missionen wie im
Kosovo oder in Afghanistan gemeinsam mit türkischen
Kameraden Seite an Seite im Einsatz ist, so lange gilt es,
bei jeder Exportanfrage aus der Türkei den Blick auch
auf die Sicherheit unserer Soldatinnen und Soldaten der
Bundeswehr zu richten .
Auch wenn ich das nach der heutigen Sitzung des Verteidigungsausschusses leider nicht mehr für alle Teile der
Koalition sagen kann: Für die CDU/CSU-Fraktion und
für mich persönlich hat der Schutz unserer Soldatinnen
und Soldaten oberste Priorität . Deshalb werden wir Ihren
Antrag ablehnen .
Vielen Dank .
({4})
Vielen Dank . - Wir kommen damit zu dem Antrag
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/12825 .
({0})
- Die war nicht angemeldet .
({1})
Dann jetzt Frau Kollegin Keul .
Vielen Dank . - Ich entschuldige mich, dass ich diese Debatte noch verlängere, aber so viele falsche Fakten
kann ich nicht einfach unkommentiert stehen lassen . - Es
ist völlig richtig, dass es nicht allein auf den Gesamtwert
in Euro ankommt, sondern man auch sehen muss, was
wohin geliefert wird; und das haben wir immer im Blick .
Der Gesamtwert für 2016 ist nach dem jetzigen Bericht in der Tat nur der zweithöchste seit 2011 . Aber
schauen wir doch einmal konkret, was besonders gefährlich ist - das sind die Kriegswaffen -, und schauen wir,
wo die hingehen .
Die tatsächliche Ausfuhr von Kriegswaffen in 2016
erreicht die historisch einmalige - die höchste jemals erreichte - Summe von 2,5 Milliarden Euro .
Dann müssen wir uns noch fragen, wohin die Ausfuhren gegangen sind . Eigentlich sollten sie in der Regel nur
in NATO- und EU-Staaten gehen und nur im Ausnahmefall an Drittstaaten . Dass dieses Verhältnis sich Jahr
für Jahr umdreht, haben wir immer kritisiert . Jetzt haben
wir den einmaligen Rekordwert, dass 92,5 Prozent der
Exporte an Drittstaaten gehen, und nur 184 Millionen
Euro - das sind gerade einmal 7,5 Prozent - gehen an
NATO- bzw. EU-Staaten. Wenn wir differenzieren wollen, dann können wir das gerne tun . Aber die beiden letztgenannten Werte sind die höchsten Werte, die in diesen
Bereichen jemals erzielt wurden, und zwar im Jahr 2016 .
({0})
Vielen Dank, Frau Kollegin . - Frau Kollegin
Obermeier möchte nicht antworten .
({0})
Dann kommen wir jetzt zu dem Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Rüstungsexporte
endlich reduzieren - Frieden, Sicherheit und Menschenrechte bei den Entscheidungen stärken“ auf Drucksache 18/12825 . Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
wünscht Abstimmung in der Sache . Die Fraktionen der
CDU/CSU und der SPD wünschen Überweisung an den
Ausschuss für Wirtschaft und Energie . Wir haben dazu
eine ständige Übung; nach der stimmen wir zuerst über
den Antrag auf Ausschussüberweisung ab . Wer stimmt
für die beantragte Überweisung? - Das ist die Koalition .
Wer stimmt dagegen? - Das ist die Opposition . Wer entJulia Obermeier
hält sich? - Niemand . Damit ist die Ausschussüberweisung beschlossen .
({1})
Damit stimmen wir heute über den Antrag auf Drucksa-
che 18/12825 nicht in der Sache ab .
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Harald Weinberg, Pia Zimmermann, Sabine
Zimmermann ({2}), weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE
Solidarische Gesundheits- und Pflegeversiche-
rung einführen
Drucksache 18/12939
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Gesundheit
({3}) zu dem Antrag der Abgeordneten Harald Weinberg, Pia Zimmermann, Sabine
Zimmermann ({4}), weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE
Solidarische und gerechte Finanzierung von
Gesundheit und Pflege
Drucksachen 18/11722, 18/12932
Auch hier wurde zwischen den Fraktionen vereinbart,
dass für die Aussprache 25 Minuten vorgesehen werden
sollen . - Ich sehe dazu keine weiteren Vorschläge . Dann
ist so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat für die Fraktion Die Linke Kathrin Vogler .
({5})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Wir sind jetzt am Ende der Legislaturperiode,
und die Große Koalition hat eine ganze Menge Gesetze
in der Gesundheitspolitik beschließen lassen .
({0})
Da ist es Zeit, dass man sich einmal fragt: Was fehlt eigentlich? Dazu muss ich Ihnen sagen, meine Damen und
Herren: Meiner Ansicht nach fehlt dringend ein Gerechtigkeitsstärkungsgesetz .
({1})
Denn viele Menschen haben das Gefühl, dass es im Gesundheitswesen in unserem Land nicht ganz gerecht zugeht .
Nicht gerecht ist es zum Beispiel, wenn ich als gesetzlich Versicherte länger auf einen Facharzttermin oder
eine Behandlung warten muss als jemand, der privat versichert ist .
({2})
Nicht gerecht ist es auch, wenn Menschen mit niedrigem und mittlerem Einkommen einen höheren Anteil
dieses Einkommens für die Krankenversicherung aufwenden müssen als Menschen mit einem hohen oder mit
höchsten Einkommen .
Und, meine Damen und Herren, zutiefst ungerecht ist
es, wenn Kranke durch Zuzahlungen für ihr Kranksein
bestraft werden - in der Apotheke, im Krankenhaus, in
der Reha oder beim Zahnersatz .
Ich bekam letztens einen Brief von einem Rentner
aus Finsterwalde . Er sollte für einen notwendigen Zahnersatz, den er braucht, um wieder ordentlich essen zu
können, 3 200 Euro zuzahlen . Bei 800 Euro Rente vollkommen illusorisch! Für mich heißt Solidarität, dass
Schwache sich darauf verlassen können, dass Starke für
sie einstehen, dass Kranke sich darauf verlassen können,
dass sie im Fall von Krankheit und Pflegebedarf nicht
arm werden . Da müssen wir doch wieder hinkommen .
({3})
Wir als Linke sagen: Eine solidarische, eine gerechte
und eine nachhaltige Finanzierung unseres Gesundheitswesens ist möglich . Und wir sagen Ihnen auch, wie . Wir
fordern eine solidarische Gesundheits- und Pflegeversicherung . Wie sieht die aus? Alle Menschen in Deutschland werden Mitglied der gesetzlichen Kranken- und
Pflegeversicherung.
({4})
Der Beitrag bemisst sich nach dem Einkommen, und
zwar nach allen Einkommen, nicht nur nach Einkommen
aus Erwerbsarbeit . Er bemisst sich auch nicht nur an Einkommen unterhalb von 4 350 Euro . Und die Arbeitgeber
und die Rentenkassen übernehmen wieder die Hälfte .
Wir stellen also die Parität wieder her .
({5})
Damit könnten wir den Krankenkassenbeitrag um fast
ein Drittel senken . 90 Prozent der Menschen in diesem
Land hätten mehr Geld in der Tasche, eine Supermarktkassiererin zum Beispiel am Ende des Jahres ungefähr
440 Euro mehr. In der Pflegeversicherung könnten wir
die Mehreinnahmen für bessere Leistungen nutzen .
({6})
Menschen mit Pflegebedarf und ihre Angehörigen müssen wir entlasten, und wir müssen bessere Bedingungen
für Pflegekräfte in diesem Land schaffen.
({7})
Wir könnten in der Krankenversicherung alle Zuzahlungen abschaffen und auch zum Beispiel die Kosten
für Brillen und Zahnersatz wieder erstatten lassen . Das
würde dem Rentner in Finsterwalde unglaublich helfen
und auch vielen anderen Menschen in diesem Land . Wir
würden endlich die unerträgliche Situation beenden, dass
immer mehr kleine Selbstständige in diesem Land nicht
in der Lage sind, ihren Krankenversicherungsbeitrag aufVizepräsidentin Ulla Schmidt
zubringen, dass sie sich verschulden oder dass sie keinen
Anspruch mehr auf vollständige Leistungen haben .
All das könnten wir beenden; denn wir sind der Auffassung: Niemand soll in diesem reichen Land Angst
haben, durch Krankheit oder durch Pflegebedarf in Existenznot zu geraten . Das ist unsere Vorstellung von Solidarität . So geht Gerechtigkeit .
({8})
Vielen Dank . - Für die CDU/CSU spricht jetzt die
Kollegin Maria Michalk .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ja - wir haben es gerade wieder gehört; Frau Vogler hat
es vorgetragen -, Kern der beiden Anträge der Linken ist
es, auf alle Einkommen Beiträge zu erheben,
({0})
keine Beitragsbemessungsgrenze vorzusehen .
({1})
Außerdem steht darin: Private Krankenkassen werden
abgeschafft,
({2})
Parität muss wiederkehren, Zuzahlungen fallen weg, Ziel
ist eine Einwohnerversicherung .
({3})
Ihre Bürgerversicherung, die Sie jetzt beschrieben haben, klingt herrlich, klingt wirklich verlockend .
({4})
- Sie ist nicht gut . Dabei gibt es ganz viele Fallstricke .
Die werde ich jetzt aufzählen . - Wir jedenfalls wollen
diese sogenannte Einheitsversicherung nicht . Das erinnert uns an den Sozialismus . Der Sozialismus lässt grüßen .
({5})
Sie wissen ganz genau, dass dahinter auch nicht die
Mehrheit in unserem Land steht, weder die Versicherten
noch die Leistungserbringer . Das haben in der Anhörung
ganz deutlich die Stellungnahmen, die zu Ihren Anträgen
gekommen sind, gezeigt .
({6})
Dennoch setzen wir uns mit Ihren Argumenten auseinander . Liebe Frau Vogler, Sie sind eine nette Kollegin,
aber wir müssen uns mit Ihren Argumenten auseinandersetzen . Deshalb die erste Frage von mir: Was hat denn
unser jetziges System eigentlich bewirkt? Wo stehen wir
denn? Das dürfen Sie ja hier nicht so einfach wegwischen .
Deutschland hat im internationalen Vergleich ein sehr
leistungsstarkes, eigentlich das leistungsstärkste Gesundheitssystem . 85 Prozent der Menschen in unserem Land
sind sehr zufrieden . Das heißt nicht, dass es nicht Einzelbeispiele gibt, bei denen man nachbessern muss . Darauf
komme ich gleich zu sprechen .
Jedenfalls haben wir einen hohen Standard . Alle haben den Zugang - flächendeckend - zu einer guten Krankenhausversorgung sowie zu einer Versorgung mit Haus-,
Fach- und Zahnärzten sowie mit Angehörigen weiterer
Berufe aus dem Gesundheitswesen . Wir haben einen internationalen Spitzenplatz und schnellen Zugang für jeden zu allen Innovationen . Da wird niemand aussortiert .
({7})
Wenn er zum Beispiel in eine Notfallbehandlung kommt,
bekommt er komplett das gesamte Spektrum, das zur
Verfügung steht . Die Zugangshürden sind nämlich sehr
gering . Das ist nicht einfach so wegzuwischen . Jeder
Bürger ist auch versichert, und jedem wird geholfen . Wir
haben de facto, wenn Sie so wollen,
({8})
nach meinem Verständnis von Bürgerversicherung diese
schon . Denn jeder Bürger bekommt die Leistung, die er
braucht .
({9})
Damit das so bleibt, haben wir in dieser Wahlperiode - das haben Sie anerkannt - viele Schritte vollzogen,
die aus Sicht der Bürgerschaft wirklich wichtig sind, und
genau auf die Bedingungen reagiert, die sich in unserer
Gesellschaft vollziehen, nämlich auf die demografische
Entwicklung, den medizinischen Fortschritt, den wir alle
wünschen, und viele andere Dinge . Die Rahmenbedingungen haben wir tatsächlich verbessert .
Klar: Wir bekämpfen vor Ort immer wieder Situationen . Wir sind uns einig, dass es durchaus Fälle gibt, in
denen eine Hausarztpraxis auf dem Land nicht neu- oder
wiederbesetzt werden kann . Dafür haben wir die Möglichkeit für MVZ geschaffen. Die Kassenärztlichen Vereinigungen geben Unterstützung . Wir haben das Medizinstudium reformiert . Jetzt kommt es darauf an, dass wir
das alles umsetzen . Deshalb glaube ich, dass wir in dieser
Wahlperiode genau die richtigen Akzente gesetzt haben .
({10})
Bitte nehmen Sie zur Kenntnis - jetzt sage ich ein
paar Zahlen -, dass im ersten Quartal des laufenden Jahres 2017 durch die Rahmenbedingungen, die wir in unserem Land haben, das GKV-System stabil ist . Wir haben
einen Überschuss von 612 Millionen Euro, 58,2 Milliarden Euro Einnahmen, 57,6 Milliarden Euro Ausgaben .
Die Steigerung der Einnahmen um 4,2 Prozent liegt höher als die der Ausgaben mit 3,9 Prozent .
({11})
Das können Sie nicht wegwischen . Klar sind das vorläufige Zahlen. Aber die Finanzreserven der Krankenkassen - das kann man auch nicht wegwischen - stiegen auf
16,7 Milliarden Euro . Und im Gesundheitsfonds haben
wir eine Reserve in Höhe von 9,1 Milliarden Euro . Deshalb sage ich Ihnen: Unser Gesundheitswesen steht auf
sehr stabilen Füßen .
({12})
Man muss auch einmal erwähnen: Die Wertschöpfung
durch die deutsche Gesundheitswirtschaft bezogen auf
das BIP - Sie alle wissen, dass wir ganz viele Gesundheitsbetriebe haben, die übrigens fast 7 Millionen Arbeitsplätze sichern - liegt bei 12 Prozent . Im Vergleich zu
anderen Branchen ist das enorm . Des Weiteren sage ich
Ihnen auch: Die Gesundheitswirtschaft hat einen Anteil
an den gesamtdeutschen Exporten von 8,2 Prozent . Was
heißt das? Das bedeutet, dass unsere Produkte und unsere Innovationen im Grunde genommen auch in anderen
Ländern sehr gewünscht sind . Das ist doch ein Beweis,
dass wir hier gut gewirtschaftet haben .
Man könnte sich zweitens fragen: Wenn wir so gut finanziell dastehen - das haben Sie ja richtigerweise auch
gefragt -, warum geben wir nicht mehr aus? Unsere Antwort: Bitte keine Experimente! Wir haben die Einheitsversicherung vor 25 Jahren abgeschafft und haben auch
noch in Erinnerung, was das alles bewirkt hat . Ich gehe
jetzt beispielhaft auf vier Einzelpunkte ein .
Die Lohnnebenkosten sind stabil . Sie für die Unternehmen kalkulierbar zu halten, ist ein echtes Wirtschaftsthema, das aber auch uns Gesundheitspolitiker interessiert. Denn wenn die Wirtschaft floriert, haben wir mehr
Beitragseinnahmen in unserem Krankenversicherungssystem . Diesen Zusammenhang müssen wir als Gesundheitspolitiker sehen . Ich weiß, dass Sie das nicht sehen;
wir tun das aber . Vor diesem Hintergrund müssen wir die
Rahmenbedingungen für wirtschaftliche Tätigkeit in unserem Land ausgewogen halten .
Zweiter Punkt . Das duale Versicherungssystem aus
GKV und PKV, das Sie abschaffen wollen,
({13})
ist ein echter Innovationsfaktor, weil der Wettbewerb
zwischen beiden Systemen bewirkt, dass sie sich miteinander vergleichen . Dadurch entsteht ein aktueller Leistungskatalog für Versorgungs- und Therapieangebote .
Wenn ein System vorlegt, gerät das andere in Verzug und
umgekehrt . Sie befruchten sich also gegenseitig .
({14})
Die Vergleichbarkeit nutzt auch den Versicherten; denn
wenn es keine Vergleichbarkeit gäbe, wäre der Leistungskatalog der GKV vornehmlich auf die Grundversorgung
beschränkt . Erst so kämen wir zu einer Zweiklassenmedizin; das führte nämlich vielleicht dazu, dass sich nur
die Gutbetuchten eine Zusatzversicherung leisten können, um sich weitere Leistungen zu kaufen . Das duale
Versicherungssystem liegt also im Sinne der Versicherten
und stellt kein Problem dar, sondern wirkt als stabilisierender Faktor .
Auf die verfassungsrechtlichen Aspekte Ihres Vorschlags will ich erst gar nicht eingehen . Ich habe noch
keine Berechnung gesehen, die Ihre Behauptung, die Sie
gerade aufgestellt haben, belegt, dass, wenn alle den gleichen Beitrag zahlen und wir eine Einheitskasse haben,
die Beiträge wirklich sinken und Mehrausgaben getätigt
werden können . Eine solche Berechnung haben Sie nicht
vorgelegt .
({15})
Die IGel-Studie hat außerdem bewiesen, dass neben einem erneuten Aufbau von Bürokratie viele Arbeitsplätze
verloren gehen würden .
({16})
Drittens. Zur Parität, die Sie abschaffen wollen,
({17})
sage ich Folgendes: Dahinter steht die Befürchtung,
dass sich der kassenindividuelle Zusatzbeitrag für Arbeitnehmer exorbitant entwickeln wird . Im Sommer vor
einem Jahr wurde prophezeit, dass der durchschnittliche
Zusatzbeitrag von 1,1 Prozent exorbitant steigen wird .
Verrückte Zahlen waren in der Welt . In Wahrheit ist der
Beitrag stabil geblieben . Natürlich müssen die einzelnen
Kassen individuell reagieren . Aber im Grunde genommen ergibt sich aus dem vorhandenen Prinzip, dass der
Schätzerkreis die wirtschaftliche Situation bewertet und
darauf basierende Empfehlungen ausspricht, verbunden
mit der Autonomie der Krankenkassen ein gutes System,
was auch mehr Transparenz für die Versicherten ermöglicht .
Als vierten Punkt nenne ich die Bemessungsgrenze .
Ja, das ist ein Thema . Richtig ist die Feststellung, dass
der derzeitige Mindestbeitrag für Selbstständige zu überprüfen ist . Wir wissen, dass manche durch die derzeitige
Regelung überfordert sind . Sie dürfen aber nicht verkennen, dass wir eine Regelung beschlossen haben, die analog zum Lohnsteuerausgleich - die Vorläufigkeit der
Beiträge regelt . Das ist eine echte Erleichterung . Über
die Bemessungsgrenze werden wir aber in der nächsten
Legislaturperiode tatsächlich noch einmal diskutieren
müssen . Wo soll eigentlich diese Grenze liegen? Auf null
können wir sie nicht senken . Die Anhörung hat gezeigt,
dass es viele Vorschläge gibt und die Spanne von 400 bis
zu 1 200 Euro reicht . Wir müssen nur darauf achten, dass
bei den freiwillig gesetzlich Versicherten im Vergleich zu
den Solo-Selbstständigen in der privaten Versicherung
keine neuen Widersprüche auftreten . Das ist mir wichtig .
Man könnte jetzt die Frage stellen: Wo besteht eigentlich Änderungsbedarf? Diese Frage stelle ich jetzt nicht .
Wir sagen nämlich: Unser System ist in Ordnung . Wir
müssen auf aktuelle Entwicklungen maßvoll reagieren,
Anpassungen vornehmen und dürfen nicht das Kind mit
dem Bade ausschütten, wie Sie es vorhaben . Wir würden
uns sonst an der kommenden Generation versündigen;
und das geht mit der Union überhaupt nicht .
({18})
Die künftige Generation ist von nun an mein Thema .
Das war meine letzte Rede im Deutschen Bundestag . Ich
werde mich der künftigen Generation mehr widmen . Ich
bedanke mich bei allen, die mich in all den Jahren im Gesundheitsausschuss, aber auch in den anderen Ausschüssen begleitet haben . Es war eine sehr konstruktive und
arbeitsintensive Zeit . Sie alle waren nette Kollegen, und
ich werde Sie in guter Erinnerung behalten . Ich wünsche
allen, die erneut kandidieren, viel Erfolg . Vor allen Dingen möchte ich mich bei meiner Arbeitsgruppe bedanken, bei den Mitarbeitern im Ministerium und natürlich
bei den Mitarbeitern hier im Haus .
Frau Präsidentin, wenn ich das noch sagen darf: Sie
waren die Erste, der ich als junge Abgeordnete eine
schriftliche Frage zu Versorgungslücken in der ambulanten Versorgung - Sie waren damals Gesundheitsministerin - gestellt habe . Dass ich meine letzte Rede jetzt unter Ihrem Vorsitz halten darf, ist ein gutes Omen . Danke
schön . Wir kommen vorwärts .
Vielen Dank .
({19})
Vielen Dank, Frau Kollegin, auch im Namen des gesamten Hauses für Ihr Engagement in all den Jahren . Ich
gehe natürlich davon aus, dass meine Antwort Sie damals
sehr zufrieden gestellt hat . Ich freue mich auch, dass ich
Ihnen jetzt hier für alle Abgeordneten alles Gute für den
weiteren Lebensweg und hoffentlich ein bisschen mehr
Zeit für das, was Ihnen Spaß macht, wünschen kann .
Herzlichen Dank!
({0})
Für Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt Maria KleinSchmeink .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine liebe Namensvetterin Maria Michalk, auch von meiner Seite ein herzliches Dankeschön für die Zusammenarbeit . In unseren
Funktionen als gesundheitspolitische Sprecherinnen haben wir zusammen zum Schluss durchaus einiges interfraktionell zustande gebracht . Es gab also nicht nur den
politischen Streit, sondern tatsächlich auch Zusammenarbeit, und dafür bedanke ich mich . Ich möchte Ihnen
alles Gute für Ihren weiteren Weg wünschen .
({0})
Kommen wir nun zum politischen Streit . Dazu muss
ich vorweg sagen: Wir haben zehn Minuten hören können, wie Sie die Vorzüge des deutschen Gesundheitssystems beschworen und zu Recht auch beschrieben haben .
Ja, es ist so: Heute kann jeder unabhängig von seinem
Einkommen sicher sein, dass er Zugang zu einer guten
gesundheitlichen Versorgung hat . Nicht immer ist alles
schon gut; aber im Wesentlichen ist es eine verlässliche
Versorgung, und zwar auf hohem Niveau, und das, Frau
Michalk, ist tatsächlich Resultat der gesetzlichen Krankenversicherung, die auf dem Prinzip der Solidarität beruht und genau diese gute Versorgung möglich macht .
({1})
Knapp 90 Prozent der Bevölkerung sind gesetzlich
versichert . Alle Umfragen zeigen, dass sie sehr zufrieden
sind mit dieser Versicherung . Nur knapp 10 Prozent sind
privat versichert, und davon sind wiederum auch noch
fast die Hälfte Beamte . Wer also den Systemwettbewerb
zwischen privater und gesetzlicher Krankenversicherung
als Geheimnis der guten Versorgung in Deutschland beschwört, der liegt daneben .
({2})
Im Gegenteil: Die gute Versorgung ist gerade ein Resultat der solidarischen Finanzierung in der gesetzlichen
Krankenversicherung .
({3})
Wenn wir darüber reden, dann müssen wir natürlich
auch darüber reden, dass das Nebeneinander von gesetzlicher und privater Krankenversicherung in der Tat nicht
förderlich ist für ein gutes System .
({4})
Es ist nicht nur eine Gerechtigkeitsfrage, sondern es ist
auch eine Versorgungfrage .
({5})
Deshalb ist es so wichtig, dass wir aus Gerechtigkeitsgründen, aber auch aus Versorgungsgründen da endlich
zu einer Weiterentwicklung unseres Gesundheitssystems
und der Finanzierung unserer Gesundheits- und Pflegekosten kommen .
({6})
Das ist doch der eigentliche Punkt .
Wer sagt: „Es ist doch alles gut; dann lass uns doch
alles so lassen, wie es ist“, der begreift eben nicht, dass
nichts so bleibt, wenn wir uns den Veränderungen und
den Herausforderungen nicht stellen . Gerade deshalb ist
es wichtig, dass wir an diese Baustelle gehen .
({7})
Insofern kann man ganz klar sagen: Wir haben ein gemeinsames Ziel mit den Linken und auch mit der SPD,
nämlich dass wir die solidarische Kranken- und Pflegeversicherung weiterentwickeln hin zu einem integrierten
Krankenversicherungssystem, in dem es eben nicht mehr
das Nebeneinander von gesetzlicher und privater Versicherung gibt . Es hat wichtige Vorteile, wenn wir dieses
Thema anpacken .
Das hat einmal den Vorteil, dass wir auch in Zukunft
tatsächlich eine nachhaltige und verlässliche Finanzierung zustande bringen . Die Zeiten, in denen Rückstellungen und der Aufbau von Rücklagen möglich waren,
sind bald vorbei, und dann müssen wir uns fragen: Sind
wir wirklich für die Herausforderungen der Zukunft gerüstet? Wir meinen, nein; vielmehr brauchen wir endlich
eine Erweiterung der Einnahmebasis für die gesetzliche
Krankenversicherung und auch für die Pflegeversicherung, indem wir alle Einkommensgruppen und alle Bevölkerungsgruppen einbeziehen .
({8})
Es ist doch ein Witz, dass nun ausgerechnet diese
besonders gute Versorgung und Finanzierung nur von
den kleinen Einkommen und den mittleren Einkommen
gestemmt werden muss und nicht von den hohen Einkommen, gerade nicht von den Bevölkerungs- und Berufsgruppen, die viel verdienen, die eigentlich viel mehr
beitragen können, aber trotzdem von diesem guten System profitieren. Deshalb müssen wir dieses Thema angehen .
({9})
Aber wir müssen es auch aus Versorgungsgründen angehen . Wir müssen feststellen, dass es heute gerade im
ländlichen Raum immer schwieriger wird, die fachärztliche Versorgung sicherzustellen . Das hat damit zu tun,
dass wir Fehlanreize im System haben . Ein Fehlanreiz
ist, dass sich Fachärzte genau da niederlassen, wo viele
Privatversicherte sind, weil man für die Behandlung von
Privatversicherten mehr Honorar erhält . Aufgrund dieses Fehlanreizes wird sich die Versorgung im ländlichen
Raum, in den strukturschwachen Räumen in Zukunft
ganz schwierig gestalten . Deshalb müssen wir gegensteuern
({10})
und dafür sorgen, dass dieses unsolidarische, aber auch
unsinnige Nebeneinander von gesetzlicher und privater
Krankenversicherung abgelöst wird .
Das war jetzt ein schönes Schlusswort, Frau KleinSchmeink .
Ansonsten werbe ich dafür, dass wir morgen diese
Diskussion engagiert fortsetzen . Dann werden wir nämlich über den Antrag der Grünen zur Bürgerversicherung
reden . Einen Nachteil haben die Anträge der Linken nun
wirklich: Sie schießen über das Ziel hinaus . Eine Abschaffung der Beitragsbemessungsgrenze in der Form,
wie Sie das fordern, wird verfassungsrechtlich nicht bestehen . Sie beschädigen mit solch überzogenen Forderungen unser eigentlich gemeinsames Projekt .
Das ist jetzt aber das letzte Wort .
Da wünsche ich mir auch bei Ihnen noch einmal viel
Nachdenken .
Danke schön für Ihr Zuhören .
({0})
Danke . - Jetzt hat Helga Kühn-Mengel für die
SPD-Fraktion das Wort .
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Besucherinnen und Besucher! Frau
Kollegin Michalk, wir sind zwar Koalitionspartner, aber
ein bisschen kritisch kommentieren muss ich das schon .
Wir haben ein sehr gutes Gesundheitssystem, aber ich
glaube nicht, dass wir an der Spitze liegen . Andere Länder
sind in Sachen Qualität und auch bei der Lebenserwartung weiter als wir . Wir investieren sehr viel in unser System, aber nicht überall sind - trotz aller Anstrengungen,
die wir unternommen haben - die Resultate entsprechend .
Wenn Sie sagen: „Wir haben viele Reserven und Innovationen“, dann dazu Folgendes: Die Reserven sind in
den letzten Jahren nicht zuletzt durch die hinter mir sitzende Präsidentin in Zeiten, als sie noch Gesundheitsministerin war, angelegt worden, und dafür hat sie sehr viel
Kritik bekommen . Innovationen - das Stichwort ist auch
gefallen - verbinde ich, liebe Kolleginnen und Kollegen,
mit dem System der gesetzlichen Krankenversicherung .
({0})
Kein System hat so viel für Qualität, für Patientenschutz
und für Innovation getan wie das gesetzliche . Hier muss
man bei der Wahrheit bleiben .
Es wird seit vielen Jahren diskutiert, ob es sinnvoll
ist - Kollegin Klein-Schmeink erwähnte es -, zwei Versicherungssysteme nebeneinander vorzuhalten . Ein Versicherungssystem mit einer Vollversicherung auch im privaten Bereich gibt es nur bei uns . Die Niederlande haben
ihres vor einiger Zeit abgeschafft, und zwar, so kann man
sagen, mit gutem Erfolg und großer Akzeptanz .
Die Bürgerversicherung ist deshalb ein Thema, weil
wir im Zusammenhang mit dem Gesundheitssystem immer über die Finanzierung, über Strukturen, über VerMaria Klein-Schmeink
sorgung, über Gerechtigkeit und nicht zuletzt auch über
Zukunftsfähigkeit reden müssen . Es gab in den letzten
Jahren auch Entscheidungen, die vielleicht, wie die Mediziner immer sagen, suboptimal waren, die nämlich unter dem Vorwand getroffen wurden, das System für die
Zukunft abzufedern . Das führte nicht nur zur Einführung
bzw . Erhöhung von Zuzahlungen und zur Ausgliederung
von Leistungen, sondern auch zu einem Sonderbeitrag
für die Versicherten in Höhe von 0,9 Prozentpunkten .
Mit dem GKV-Finanzierungsgesetz im Jahr 2010 wurde
der Arbeitgeberbeitrag schließlich bei 7,3 Prozent festgeschrieben .
Was bedeutet diese Festschreibung? Alle Gesetze, die
wir hier in dieser Legislatur erarbeitet und beschlossen
haben, sind wirklich gute Instrumente . Aber die höheren
Kosten, die sich daraus ergeben, werden nur noch von
den gesetzlich Versicherten finanziert. Ich nenne einige
Beispiele: die Verbesserung in der ambulanten und stationären Versorgung, die strukturellen, finanziellen und
personellen Verbesserungen in der Pflege, die Verbesserung in der Prävention . Also, die weniger Einkommensstarken zahlen die Gesundheitsförderung und die
Verbesserungen bei der Behandlung gesundheitlicher
Beeinträchtigungen ganz allein .
Die Verbesserung in der Hospizarbeit, das E-HealthGesetz, die Überprüfung der Qualität, die wir Gott sei
Dank auf den Weg gebracht haben, Innovationsfonds,
Versorgungsforschung - das alles sind wichtige Sachen,
die in den kommenden Jahren zu weiter steigenden Belastungen führen werden . Nicht nur die Einseitigkeit wird
als ungerecht empfunden, sondern auch die Tatsache davon bin ich wie die gesamte SPD fest überzeugt -,
dass unter diesen Umständen für die Arbeitgeber keine
Motivation besteht, gute Strukturen im Gesundheitssystem weiter zu verbessern, auf die Qualität zu achten oder
Beitragssätze stabil zu halten .
({1})
Deswegen sagen auch wir: Das Ziel ist die paritätische Bürgerversicherung . Parität bedeutet, Arbeitgeber
und Versicherte sollen den gleichen Anteil am Versicherungsbeitrag zahlen . Im Übrigen muss man sagen, dass
eine Erhöhung des Arbeitgeberanteils von jetzt 7,3 Prozent auf paritätische 7,85 Prozent nicht den Untergang
des Landes bewirken würde . Es gibt dazu ganz eindeutige
Zahlen . Eine Handwerkerstunde kostet im Durchschnitt
56,73 Euro . Hier würde die Parität zu einer Erhöhung von
8 Cent führen . Das hat nicht die deutsche Sozialdemokratie berechnet, sondern die Handwerkskammer in der
Region Stuttgart . Das sind wirklich interessante Zahlen .
Die Höhe der Beitragsbemessungsgrenze ist immer
wieder in der Diskussion . Sie ist in der Krankenversicherung deutlich niedriger als in der Rentenversicherung .
Deswegen sagen wir: Es wäre ein Zeichen von Gerechtigkeit, hier moderat anzugleichen . Das würde viel bringen und auch dazu führen, dass wieder mehr Menschen
eine bessere Versorgung erleben . Es wird als ungerecht
empfunden, dass nur bis zu dieser Beitragsbemessungsgrenze, die bei 4 237,50 Euro liegt, verbeitragt wird . Diejenigen, die darüber hinaus verdienen, also die mit den
starken Schultern, zahlen relativ gesehen weniger . Das
kann man ändern .
({2})
Ökonomisch gesehen ist das Nebeneinander von privater und gesetzlicher Krankenversicherung nicht begründbar . Ich sage immer: Die Privatversicherten können
auch Leistungen ausschließen und sich sozusagen die
Rosinen herauspicken; Cherry Picking heißt das .
({3})
- Natürlich machen die das . Ich kann Ihnen viele Briefe
zeigen . Man muss sich auch einmal anschauen, was dort
überflüssigerweise an Eingriffen erfolgt.
Wenn die private Versicherung nicht so gut ist wie die
gesetzliche, fragt man sich: Warum muss sie es geben?
Wenn sie wirklich besser ist, muss man fragen: Warum
haben es die anderen nicht auch?
({4})
Vielen Dank . - Ich weiß nicht, ob das heute - es schien
schon letzte Woche der Fall zu sein - Ihre endgültig letzte
Rede war, Frau Kühn-Mengel . Von dieser Stelle herzlichen Dank für Ihr Engagement .
({0})
Wir kommen dann zur Abstimmung über den Antrag
der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/12939 mit
dem Titel „Solidarische Gesundheits- und Pflegeversicherung einführen“ . Wer stimmt für diesen Antrag? - Die
Linke . Wer stimmt dagegen? - Die Koalition . Wer enthält sich? - Die Grünen . Damit ist der Antrag abgelehnt .
Damit kommen wir zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit zu
dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Solidarische und gerechte Finanzierung von Gesundheit und
Pflege“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/12932, den Antrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/11722 abzulehnen . Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen angenommen .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das war eben nicht
nur die letzte Rede von Frau Kühn-Mengel, sondern auch
die letzte Rede der heutigen Debatte . Damit sind wir am
Schluss der heutigen Tagesordnung angekommen .
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 29 . Juni 2017, 9 Uhr,
ein .
Die Sitzung ist geschlossen . Ich wünsche Ihnen noch
einen angenehmen Abend .