Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Nehmen Sie bitte Platz . Die Sitzung ist eröffnet .
Liebe Kolleginnen und Kollegen!
({0})
- Nein, es fängt nicht gut an . - Zunächst begrüße ich Sie
alle herzlich, insbesondere die Kolleginnen und Kollegen, die heute Morgen um kurz nach 2 Uhr noch hier
waren und jetzt schon wieder hier sind .
({1})
Beinahe hätten wir gestern Nacht vor lauter Begeisterung beschlossen, die Tagesordnung für Freitag gleich
mitzuerledigen, was in der überschaubaren Besetzung
vielleicht noch fixer gegangen wäre. Aber wir geben uns
auch heute Mühe, die Tagesordnung so zügig wie eben
möglich abzuwickeln .
Wenn ich mit oder ohne ausdrücklichen Verweis auf
das Vermummungsverbot nun darum bitten darf, diese
sicher gutgemeinte, aber nach unseren Regularien nicht
zulässige Demonstration einzustellen . - Dann können
wir in die Tagesordnung eintreten .
Ich rufe Tagesordnungspunkt 39 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Legislaturbericht Digitale Agenda 2014 bis 2017
Drucksache 18/12130
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss Digitale Agenda ({2})
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 77 Minuten vorgesehen . - Das ist offenkundig unstreitig . Dann können wir so verfahren .
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
zuständigen Bundesministerin Brigitte Zypries .
({3})
Guten Morgen, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Schade eigentlich, dass nur so wenige
Kolleginnen und Kollegen da sind .
({0})
Ich meine, die frühe Uhrzeit heute Morgen und der späte
Sitzungsschluss gestern Abend sind das eine .
({1})
Aber man könnte auch den Eindruck bekommen, dass
dem Kernthema Digitalisierung und damit der Umgestaltung unserer Gesellschaft vielleicht doch nicht von allen
die Priorität und die Bedeutung beigemessen wird, die
sie aber hat; denn die Digitalisierung ist eine der großen
Gestaltungsaufgaben für Wirtschaft, für Wissenschaft,
für Gesellschaft und für Politik .
Ich denke, die Veränderungen, die sich in der Gesellschaft und in der Wirtschaft ergeben, sind in dieser
Legislaturperiode ganz besonders sinnfällig geworden .
Wir haben in den vergangenen vier Jahren dieser Legislaturperiode einen echten Quantensprung erlebt, was
die Digitalisierung vor allen Dingen im wirtschaftlichen
Bereich angeht . Diesen Quantensprung haben wir mit
unserer Digitalen Agenda gestaltet . Dabei hatten wir
drei Kernpunkte: Wachstum und Beschäftigung; Zugang
und Teilhabe, was sich eher auf den gesellschaftlichen
Bereich bezieht; Vertrauen und Sicherheit . Diesen drei
Kategorien entsprechend sind auch die Zuständigkeiten
in der Bundesregierung verteilt . Mein Part hier erhellt
sich leicht, nämlich Wachstum und Beschäftigung . Zu
den anderen Bereichen werden die Kollegen später noch
sprechen .
Ich denke, wir sind einen ganz guten Schritt vorangekommen . Die Tatsache, dass wir heute Digitalisierung als
ganzheitlichen Ansatz betrachten, zeigt für meine Begriffe auch, dass wir in der nächsten Legislaturperiode kein
Digitalministerium brauchen . Es sollte dabei bleiben,
dass jedes Ministerium für die Digitalisierung in seinem
Bereich zuständig ist .
({2})
- Sie haben Ihre Meinung, Herr Kauder, ich habe meine .
Im Moment stehe ich hier am Rednerpult und sage meine
Meinung; dann kommen Sie und sagen Ihre . So ist das .
({3})
Die Digitalisierungsprojekte, für die ein Rahmen gesetzt werden muss - das machen wir ja als Bundesregierung; wir bringen Gesetzgebungsvorhaben auf den Weg,
um zu gestalten -, sollten in den jeweiligen Ministerien
bearbeitet werden . Ein eigenes Ministerium ist für meine
Begriffe also nicht erforderlich .
Lassen Sie mich zu dem kommen, was wir in dieser
Legislaturperiode vor allen Dingen gemacht haben, nämlich die Informierung des deutschen Mittelstandes über
die Veränderungen bei der Digitalisierung . Wir gehen
davon aus, dass die großen Unternehmen wissen, was
auf sie zukommt . Sie sind inzwischen gut unterwegs,
auch was ihre Verbindung zu Start-ups anbelangt . Aber
viele mittelständische Unternehmen haben immer noch
nicht realisiert, dass Digitalisierung bedeuten kann, dass
ihr Geschäftsmodell vielleicht in zwei, drei Jahren nicht
mehr gefragt ist . Alle diejenigen beispielswiese, die heute fräsen, wissen vielleicht nicht, dass es inzwischen im
fabrikmäßigen Maßstab 3-D-Druck für Metalle gibt, der
das Fräsen irgendwann ersetzen wird .
Um diese Informierung geht es uns bei der Errichtung
unserer Mittelstand 4 .0-Kompetenzzentren . Wir haben
bereits 11 in Deutschland aufgebaut . Wir werden weitere 13 eröffnen . An diesen Orten sollen Mittelständler
zusammen mit der IHK, die das mit uns und mit anderen - Fraunhofer-Institute und viele andere sind dabei betreiben, die Möglichkeit bekommen, sich zu informieren: Was kann alles in meinem Geschäftsfeld passieren?
Welche Veränderungen stehen da gegebenenfalls an?
Wie verändert sich die Logistikkette? Wie verändern
sich einzelne Gegenstände, die beim 3-D-Druck herauskommen? Was passiert, wenn die smart werden, wenn
die ihrerseits wieder Daten liefern, und was kann ich
dann damit anfangen? Solche Lernorte sind diese Mittelstand 4 .0-Kompetenzzentren, das Ganze gekoppelt mit
den Unternehmen, die bereit sind, einen Einblick hinter
ihre Türen zu geben. Diese findet man auf der Landkarte der Plattform Industrie 4 .0, die wir eingerichtet haben
und die inzwischen europaweit die größte Plattform für
Industrie 4 .0 und für die Weiterentwicklung ist .
Ich denke, das hat sich ganz gut entwickelt . Aber, meine Damen und Herren, wir müssen ganz klar sehen: An
diesem Thema müssen wir weiterarbeiten . Der digitale
Umbau unserer Wirtschaft wird auch in der nächsten Legislaturperiode das zentrale Thema bleiben .
Was wir dafür auf alle Fälle brauchen, sind mehr Investitionen in Breitband . Wir müssen hier einfach besser
werden . Wenn wir in all den Bereichen, in denen wir es
können und in denen es kommen wird, Anwendungen digitaler Art nutzen wollen, dann brauchen wir ein größeres Breitband . Ich nehme an, Herr Dobrindt wird gleich
dazu noch etwas sagen .
({4})
Das ist auf alle Fälle für meine Begriffe unbedingt notwendig .
Wir müssen auch sehen, dass Start-ups eine erhebliche Rolle spielen; denn unsere deutschen Firmen kommen von der Manufaktur her und haben ihre Produkte
über viele Jahrzehnte immer besser gemacht, bis sie in
den Bereichen Weltmarktführer geworden sind, in denen
sie es heute sind . Deshalb ist es für diese Firmen nicht
einfach, sich plötzlich fragen zu müssen: Wie wäre es eigentlich, wenn ich das digital machen würde? Das funktioniert nicht so gut . Deswegen brauchen wir die Start-ups .
Deswegen haben wir in dieser Legislaturperiode viel für
die Förderung von Start-ups gemacht und sie finanziell
unterstützt, aber nicht nur das, sondern vor allen Dingen haben wir viel für den Netzaufbau getan, damit sich
Start-ups mit etablierter Industrie vernetzen können .
Ich möchte mich beim Bundesverband Deutsche Startups bedanken, mit dem wir in diesen vier Jahren sehr gut
zusammengearbeitet haben und der sich in dem Bereich
sehr professionalisiert hat . Es gibt inzwischen in Berlin
Firmen, die die Zusammenarbeit zwischen Start-ups und
Industrie organisieren . Wir in unserem Ministerium haben verschiedene Start-up-Nights zu unterschiedlichen
Themen gemacht, zuletzt Anfang dieser Woche eine zur
Gesundheit, wo man sehen konnte, wie sich der Gesundheitsmarkt digital weiterentwickelt . Auch das war eine
sehr spannende Veranstaltung . Da müssen wir dranbleiben .
Darüber hinaus müssen wir weiter daran arbeiten, unsere Energiewende digital zu gestalten . Dafür haben wir
mit dem Gesetz zur Digitalisierung der Energiewende
die notwendigen Voraussetzungen geschaffen . Aber das
ist ein Bereich, in dem wir, um energieeffizienter zu sein,
neuere, bessere, andere Geschäftsmodelle brauchen . Das
ist ein wichtiger Punkt .
Ich würde mich freuen, wenn wir es in dieser Legislaturperiode noch schaffen könnten, das WLAN-Gesetz
zu verabschieden . Das ist ein sehr konkretes Projekt, das
unser Haus auf den Weg gebracht hat und das Deutschland in der öffentlichen Wahrnehmung sehr viel nützen
wird, abgesehen davon, dass es für jeden Einzelnen ein
echter Mehrwert ist, wenn er WLAN an öffentlichen Orten nutzen kann .
({5})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Petra Sitte für die
Fraktion Die Linke .
({0})
Danke schön, Herr Präsident . - Guten Morgen, meine
Damen und Herren! Mit der Vorlage des Legislaturberichts Digitale Agenda ruft uns die Bundesregierung in
Erinnerung, dass sie eine digitale Agenda hat .
({0})
Dies in Erinnerung zu rufen, scheint tatsächlich notwendig zu sein; denn viel zu spüren ist davon eigentlich nicht .
Damit will ich nicht sagen, dass sich nicht in verschiedenen Bereichen eine ganze Menge abgespielt hat; aber
manches läuft eher als Trauerspiel . Die Zeiten, in denen
man sich noch auf die Schulter klopfen lassen konnte,
wenn man überhaupt Digitalpolitik gemacht hat, sind
lange vorbei . Es geht darum, wie diese Politik aussehen
soll . Eine Agenda muss deutlich mehr bieten als schöne
Worte und ein Sammelsurium vieler einzelner Projekte,
die sich in diesem Papier wiederfinden.
Wie wenig der vorliegende Bericht mit Strategie zu
tun hat, zeigt sich daran, dass darin beispielsweise zum
Netzwerkdurchsetzungsgesetz nicht ein Wort steht, und
das ist nun wirklich ein gewichtiges Vorhaben . Das wird
auch an dem deutlich, was Frau Ministerin gerade gesagt
hat . Sie weiß nicht, ob Herr Dobrindt zu diesem Thema
redet . Nun mag man das als Kleinigkeit bezeichnen . Aber
es zeigt, dass die Ministerien nebeneinanderher arbeiten,
ohne tatsächlich koordiniert und abgestimmt zu wirken .
({1})
Das heißt, Ihre Digitalisierungspolitik schleppt
sich ein wenig visionslos dahin . Aber in der Mitte von
Schwierigkeiten liegen Möglichkeiten . Lassen Sie mich
die drei Kernziele, die Sie sich selbst gesetzt haben, anhand von Beispielen durchgehen .
Erstens: Wachstum und Beschäftigung; Sie hatten es
gerade erwähnt . Da ist von gutem Arbeiten in der digitalen Welt die Rede . Gekommen ist jetzt erst einmal nur ein
Dialogprozess . Es fehlen nach wie vor konkrete Antworten, etwa auf die Frage: Wie sollen die Gewinne der Digitalisierung später auch den Beschäftigten zugutekommen
können, statt die Lage der Beschäftigten, wie befürchtet
wird und wie Studien zum Teil zeigen, noch prekärer zu
machen? Die Antwort auf diese Frage drängt, weil man
das nicht dem freien Markt überlassen kann, weil wir bei
diesen Themen auch ordnungspolitisch denken müssen
und weil wir dazu eine gemeinsame Grundsatzentscheidung inhaltlicher Art herbeiführen müssen .
Zweitens: Zugang und Teilhabe . Den Zirkus, den Sie
hier in den letzten Jahren zur Störerhaftung bei WLAN
veranstaltet haben, hatten wir gestern Nacht gerade erst
auf der Tagesordnung; ich will da nur auf meine Rede
verweisen . Zur Netzinfrastruktur wird mein Kollege
Herbert Behrens nachher noch etwas sagen; auch das ist
nicht unbedingt ein Ruhmesblatt für die Bundesregierung .
({2})
Ich beschränke mich mit Blick auf Teilhabe auf die
Frage, warum die Reform des Urheberrechts auf halbem
Wege stehen bleibt, obwohl der Koalitionsvertrag mehr
versprochen hat . Jetzt kommen zwar endlich Regelungen
für den Bildungs- und Wissenschaftsbereich; aber diese
Kuh ist noch nicht vom Eis . Ich hoffe, dass Sie bzw . wir
das noch hinbekommen . Aber wir haben nur noch zwei
Sitzungswochen, und mir scheint, dass mit den Verlagen
im Hintergrund eine Menge verhandelt wird .
({3})
Das wäre zumindest ein Baustein der dringend notwendigen Modernisierung . Wir bräuchten zudem eine Reform
des Urhebervertragsrechts, um die Urheber ausdrücklich
besserzustellen, und ein Urheberrecht, das die Nutzungsformen des digitalen Zeitalters konsequent anerkennt .
({4})
- Das habe ich leider nicht verstanden; aber das klären
wir später .
({5})
- Aha, okay .
Drittens: Vertrauen und Sicherheit . Weiter kann die
Schere zwischen Anspruch und Realität wirklich nicht
mehr auseinandergehen als in Ihrem Regierungshandeln .
Auf der einen Seite betonen Sie - völlig zu Recht - die
Bedeutung von IT-Sicherheit und vertraulicher Kommunikation . Auf der anderen Seite soll sie so sicher dann
doch nicht sein, wenn es einem politisch in den Kram
passt . Warum halten Sie also daran fest, dass deutsche
Behörden IT-Sicherheitslücken sammeln können, statt
sie zu schließen? Das wäre doch originäre Aufgabe des
Staates .
({6})
Sogar den Einsatz von Staatstrojanern wollen Sie jetzt
umfassend freigeben. Ich finde diese Entwicklung völlig
absurd .
Dass sich dieser Widerspruch nicht einfach auflösen
lassen wird, zeigt beispielsweise der große Angriff der
Schadsoftware WannaCry vor wenigen Wochen . Das war
der größte je erfolgte Angriff, und zwar unter Verwendung einer Technologie, mit der die NSA eine SicherBundesministerin Brigitte Zypries
heitslücke ausgenutzt hat, die schon vor Jahren hätte geschlossen werden können .
Wie müsste also eine digitale Agenda aussehen, die
ihren Namen verdient?
Zunächst einmal müsste sie den Mut haben, politische
Verantwortung zu tragen . Wir brauchen jetzt Entscheidungen, um die gesellschaftlichen Auswirkungen der Digitalisierung in allen Politikbereichen zu gestalten .
({7})
Sie müsste konsequent die Planung und Koordinierung des Regierungshandelns umfassen, anstatt die teilzuständigen Ministerien - es sind vier bis sechs; man
streitet sich hier - nebeneinander und gegeneinander arbeiten zu lassen .
Für den Bundestag hieße das weiterführend, dass der
Ausschuss Digitale Agenda mehr Verantwortung tragen
müsste . Dieser Ausschuss müsste mit den anderen Ausschüssen auf Augenhöhe arbeiten und demzufolge hier
die Federführung haben . Das wäre ein längst fälliger
Schritt . Vielleicht wird es der erste in der nächsten Legislatur .
Ich danke Ihnen .
({8})
Das Wort erhält nun der Bundesinnenminister Thomas
de Maizière .
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
12 . Mai 2017 wird vielleicht einmal als ein schwarzer
Freitag in die IT-Geschichte eingehen . Mit WannaCry
wurde ein Angriff auf britische Krankenhäuser, auf die
spanische Telefónica, auf das russische Innenministerium, auf den französischen Automobilhersteller Renault
und auf viele andere durchgeführt . Deutschland war mit
Angriffen auf die Deutsche Bahn noch am geringsten betroffen .
Der Angriff hat vielleicht mit dem zu tun, was Sie,
Frau Kollegin Sitte, gesagt haben . Es wurde eine Softwarelücke bei Microsoft ausgenutzt . Das BSI hatte frühzeitig auf diese Lücke hingewiesen und alle Firmen und
Personen unterrichtet, dass es sinnvoll ist, diese Lücke
zu schließen, was mit einem einfachen Software-Update
möglich war . Alle, die das dem Rat des BSI folgend gemacht haben, wurden nicht erfolgreich angegriffen . Ich
finde, das war unsere Aufgabe, und das setzen wir auch
fort .
({0})
Das Beispiel zeigt, dass IT-Sicherheit eine zentrale Erfolgsbedingung für die Digitalisierung der Gesellschaft
ist . Frau Kollegin Zypries hat von Schutz und Vertrauen
gesprochen . Ohne Vertrauen in sichere Systeme werden
wir nicht erfolgreich sein . Das meine ich nicht nur bezogen auf die klassische Abwehr von IT-Angriffen, sondern
auch mit Blick darauf, dass niemand sein Haus intelligent mit Computerprogrammen vernetzen wird, wenn er
Sorge hat, dass der böse Nachbar von außen seine Heizung hochdreht, und niemand das automatisierte Fahren
nutzen wird, wenn er Sorge hat, dass sein Auto von außen angegriffen und er vor einen Baum gefahren wird .
Deswegen ist IT-Sicherheit im klassischen Sinne und
auch für die Entwicklung der digitalen Wirtschaft eine
Erfolgsbedingung, weshalb sie für uns, die Bundesregierung - für alle Teile, aber insbesondere für den Bundesinnenminister -, allerhöchste Priorität hat .
Was haben wir gemacht? Wir haben das IT-Sicherheitsgesetz verabschiedet . Das war das erste Gesetz dieser Art in Europa, und es ist Vorbild für eine europäische
Regelung, die sogenannte NIS-Richtlinie . Darin haben
wir festgelegt: Die Betreiber kritischer Infrastrukturen
müssen ihre IT-Systeme nach staatlichen Vorgaben sicher
betreiben . Wenn sie angegriffen werden, dann haben sie
eine Meldepflicht zu befolgen. Eine solche Meldepflicht
ist peinlich, aber sie ist nötig .
Denn was ist eine kritische Infrastruktur? Eine Infrastruktur ist dann kritisch, wenn es bei ihrem Ausfall kritisch für die Gesellschaft wird . Das trifft nicht auf jedes
kleine Krankenhaus zu, durchaus aber auf große Krankenhäuser . Das trifft nicht auf jeden kleinen Flughafen
zu, wohl aber auf den Frankfurter Flughafen . Das trifft
bezogen auf die Elektrizitätsversorgung nicht auf jedes
kleine Stadtwerk zu, aber auf die Netzknoten, über die
die Elektrizität in Deutschland verteilt wird . In der Verordnung zur Bestimmung Kritischer Infrastrukturen haben wir geregelt, welche Bereiche dazugehören .
Durch all diese Maßnahmen machen wir die kritischen Infrastrukturen in Deutschland zu den sichersten
der Welt, und das ist gut für unseren Standort .
({1})
Wir sorgen dagegen nicht bei den Kleinbetrieben,
den Mittelständlern und den Privaten für einen sicheren
IT-Betrieb . Das ist nämlich deren Aufgabe . Das BSI hilft
aber dabei .
Meine Damen und Herren, aus Zeitgründen will ich
mich nur noch auf einen Punkt konzentrieren: Neben
dem, was wir intern gemacht haben, läuten wir mit dem
neuen BKA-Gesetz nun eine neue IT-Systemarchitektur
für die deutschen Polizeibehörden ein . Mit dem Datenaustauschverbesserungsgesetz haben wir das Asylverfahren in den Griff bekommen . Mit der IT-Konsolidierung
verbessern wir die Systeme in den Behörden selbst . All
das ist selbstverständlich und kommt gut voran .
Ich will einen kritischen Blick auf die digitale Verwaltung werfen, und zwar auf den Umgang der Verwaltung
mit digitalen Angeboten . Da sind wir nicht so schlecht,
im europäischen Vergleich aber nicht gut genug . Das
liegt auch an unserer föderalen Struktur . Die Kommunen machen Angebote, die Länder machen Angebote, der
Bund macht Angebote; sie sind aber nicht miteinander
vernetzt . Deswegen bin ich wirklich sehr glücklich, dass
wir gestern, ohne dass das zu einer großen öffentlichen
Debatte geführt hat, mit der Änderung des Grundgesetzes und mit der Verabschiedung des Onlinezugangsgesetzes im Interesse der Bürgerinnen und Bürger einen
wirklichen Durchbruch bei der Nutzung von Verwaltungsdienstleistungen erreicht haben .
({2})
Was heißt das? Bund, Länder und Kommunen werden verpflichtet, ihre gesamten Dienstleistungen innerhalb von fünf Jahren digital anzubieten . Da kann man
sagen: Das ändert ja nichts an der Zersplitterung . - Wir
werden aber dafür sorgen - das ist Gegenstand dieses
Vorhabens -, dass jede Bürgerin und jeder Bürger alle
Dienstleistungen der Behörden über ein einziges Portal
erreichen kann . Das heißt, egal wo man ist, egal welche
Behörde zuständig ist - das interessiert den Bürger nicht;
das haben wir hier gestern im Zusammenhang mit dem
Kooperationsverbot diskutiert -: Er kann durch einen
einzigen Zugang mit sicherer Identifizierung jede Verwaltungsdienstleistung, wo auch immer die Behörde ihren Sitz hat, wer auch immer zuständig ist, vom Schreibtisch zu Hause oder von unterwegs abwickeln . Das ist ein
wirklicher Durchbruch . Das haben wir in dieser Legislaturperiode in letzter Minute geschafft . Darauf bin ich ein
bisschen stolz .
({3})
Hinzu kommt - das ist ein sehr interessanter Bereich -: Wir schaffen die Möglichkeit, ein sogenanntes
Nutzerkonto einzurichten . Was heißt das? Im Moment
geht Datensparsamkeit wie folgt: Wir sagen dem Träger
des Kindergartens wegen der Gebühren, wie viel Kinder
wir haben und was wir verdienen . Wir sagen dem Staat
und der Universität wegen des Bezuges von BAföG, wie
viel Kinder wir haben und was wir verdienen . Wenn wir
Kindergeld beziehen, sagen wir wegen der Kinderfreibeträge der nächsten staatlichen Behörde, wie viel Kinder
wir haben und was wir verdienen . Das heißt, der Staat
bzw . die Behörden sammeln an zehn Stellen die gleichen
Daten . Das verstehen wir bisher unter Datensparsamkeit .
Ich glaube, die Debatte um das Nutzerkonto wird in
der nächsten Zeit darum gehen, ob Datensparsamkeit
nicht etwas ganz anderes bedeutet, nämlich dass der Bürger dem Staat seine Daten nur ein einziges Mal gibt . Er
sagt ihm dann: Pass auf, ich habe drei Kinder . - Dann
muss der Staat dafür sorgen, dass die Behörden im Rahmen ihrer Zuständigkeit Zugriff auf diese Daten haben
und sie für ihre Aufgabenerledigung verwenden können .
Das ist die Datensparsamkeit der Zukunft . Diesen Weg
gehen wir jetzt .
({4})
Meine Damen und Herren, trotzdem bleibt viel zu tun .
Ich will mich nicht dazu äußern, wie man das am besten
organisiert . Klar ist jedenfalls, dass ein Digitalminister
natürlich nicht für alles zuständig sein kann . Wenn die
Digitalisierung ein neuer Querschnittsbereich ist, wenn
er alle Bereiche betrifft, dann müssen alle Ressorts damit befasst werden und daran arbeiten, ob und wie man
das Ganze besser koordiniert . Darüber kann man lange
streiten .
Richtig ist der Weg der Digitalen Agenda, den wir gegangen sind . Wir legen ein öffentliches Aufgabenbuch
vor und beschreiben, was wir tun wollen . Wir legen Rechenschaft über das ab, was wir erreichen wollen . Das
war ein mutiger, riskanter Weg . Das gemeinsame Ergebnis dieser Koalition kann sich sehen lassen . Aber es bleibt
weiter viel zu tun . Das werden wir erfolgreich angehen .
({5})
Der Kollege Dieter Janecek ist der nächste Redner für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Innenminister! Es ist gut, dass Sie da sind, denn dann kann
man auf Folgendes verweisen: Das Sinnbild dafür, wie
die Einführung einer digitalen Verwaltung erst nicht gemacht und dann verschleppt wird und schließlich nach
ihrer Einführung nicht funktioniert, sind nämlich Sie und
die Regierung der Bundesrepublik Deutschland,
({0})
die das nicht geschafft haben .
({1})
Wir haben die schlechtesten Zahlen in Europa .
Was Sie gerade vorgestellt haben, haben die Österreicher im Jahre 2000 angefangen . Wir haben jetzt das
Jahr 2017 und sollten uns bemühen, auch mit Blick
auf die Kompetenzen endlich eine digitale Verwaltung
durchzusetzen, sodass nicht bis zu 130 analoge Behördengänge nötig sind, wie es heute in Deutschland immer
noch der Fall ist .
Es gibt Länder in Europa, in denen man nur noch für
genau zwei Vorgänge zum Amt muss, und das sind Heirat
und Scheidung . Es ist auch ganz gut, wenn das so bleibt;
denn das ist sicherlich besser als per SMS .
Wir könnten mit diesen Themen ein bisschen weiterkommen . Das haben wir in den letzten Jahren einfach
nicht geschafft . Wir müssen unbedingt beim E-Government vorankommen . Hier haben wir wirklich ein Versagen der Regierung in Deutschland .
({2})
Es gibt so viele Potenziale der Digitalisierung . Wenn
ich mir den Bericht zur Digitalen Agenda ansehe - Frau
Sitte hat es schon angesprochen -, dann stelle ich fest:
Es gibt ein Sammelsurium an verschiedenen Initiativen,
von denen einige gelungen sind - das will ich auch zugestehen -; manche sind mehr gelungen, manche weniger, manche gar nicht, wie das E-Government, aber es
gibt überhaupt keine Zielrichtung . Was ist denn mit dem
zentralen Thema der Nachhaltigkeit und der Ökologisierung?
Warum nutzen wir die Potenziale nicht? Warum reden
wir bei der Mobilität, Herr Dobrindt, nicht endlich darüber, wie wir auch im öffentlichen bzw . auch im ländlichen Raum mehr Fahrzeuge teilen können?
({3})
Wo bleiben denn die Pilotprojekte? Es gibt keine . Wir
kommen nicht voran .
({4})
Wir haben - das sagt die Wirtschaft - ein CO2-Reduktionspotenzial durch digitale Technologien von
20 Prozent . Aber die Rahmenbedingungen werden nicht
gesetzt. Energie und Ressourceneffizienz der Fabriken
sind gleich null . Das sind Themen, die wir vorantreiben
müssten .
Ich komme noch einmal zum Thema Verkehr zurück .
Wir haben ein Personenbeförderungsgesetz von 1936,
das 1984 reformiert wurde . Wir haben immer noch nicht
die Möglichkeit, Dienstleistern in der Fläche zu ermöglichen, Autos zu teilen . Das ist doch auch kein fortschrittliches Denken im Bundesverkehrsministerium .
({5})
Als jemand, der im ländlichen Raum wohnt, sage ich
Ihnen, warum Sie es nicht machen: weil Sie immer noch
vom Auto als Besitz ausgehen . Jeder muss ein Auto besitzen, und keiner darf es teilen . Denn dann könnte es
womöglich weniger Autos geben, und das wäre ja ganz
schlecht für die Verkehrspolitik in Deutschland .
({6})
Beim Thema „Open Data“ - darin können wir Ihnen
zustimmen, Thomas Jarzombek - müssen wir wirklich
schneller vorankommen, um diese Standards in der Wirtschaft, für den IT-Mittelstand, und auch im öffentlichen
Raum zu verankern . Das ist auch eine Chance, Wettbewerbsgleichheit gegenüber den Amerikanern herzustellen . Denn wenn wir uns allein auf deren Systeme verlassen, dann werden wir immer abhängiger .
Jetzt komme ich zum Wettbewerbsrecht . Wir sind in
der Entwicklung jetzt spät dran, wenn es darum geht,
die großen digitalen Plattformen aus den USA und aus
China auch in Europa zu unseren Standards zu zwingen .
Es kann nicht sein, dass wir in Europa nicht das Marktstandortprinzip durchsetzen, sondern die Standards aus
Amerika übernehmen, weil die Systeme aus dem Silicon
Valley kommen .
Deswegen müssen wir mindestens zwei Prinzipien
festlegen . Das eine ist die Datenportabilität . Das heißt,
wenn ich meine Daten bei einem Anbieter habe, dann
muss ich sie auch wieder mitnehmen können . Das zweite
Prinzip ist: Messengerplattformen müssen auch untereinander nutzbar sein . Das geht zurzeit nicht ausreichend .
Auch da müssen wir gesetzlich handeln . An der Stelle ist
mehr Wettbewerb nötig, als es derzeit der Fall ist .
({7})
Stichwort „Breitband“ . Ich komme aus Bayern . Dort
hat die Telekom einen Marktanteil von 80 Prozent . Auch
hier ist der Wettbewerb nicht ausreichend gegeben . Ein
Blick nach Schweden zeigt, wie es dort gemacht wurde:
mit vielen mittelständischen Anbietern vor Ort und einer
soliden Infrastruktur . Die Schweden sind weiter als wir .
Wir haben das Ganze einem Anbieter überlassen, und die
anderen kommen nicht hinterher . Das kann nicht die richtige Strategie sein . Ich weiß, dass Bayern mit bestimmten
Unternehmen sehr stark verflochten ist. Aber das ist nicht
der richtige Weg nach vorne, mit dem wir in der Breitbandversorgung etwas erreichen .
({8})
Wir brauchen also deutlich mehr Mut . Die Bilanz ist
nicht in allen Feldern schlecht, aber sie ist ziemlich mager . Wir sind kein digitales Führungsland . Wir sind im
europaweiten Index sogar vom neunten auf den elften
Platz abgerutscht .
({9})
Das heißt, Deutschland kann deutlich besser werden . Wir
dürfen eines nicht tun, was Sie aber in der wirtschaftspolitischen Debatte oft machen, nämlich den Menschen zu
sagen: Die Datensparsamkeit und der Datenschutz sind
olle Kamellen von gestern; lasst uns das mal beiseiteschieben, dann werden wir ganz erfolgreich sein .
Denn es ist genau umgekehrt: Wenn wir es nicht
schaffen, einen stringenten, guten und modernen Datenschutz zu verankern und die digitale Souveränität für
unsere Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten, dann
werden die Menschen kein Vertrauen haben . Darum geht
es: Die Menschen wollen Vertrauen in die Digitalisierung und auch in das Thema Arbeit 4 .0 haben . Sie wollen
nicht hören, dass sie die niedrigsten Löhne bekommen,
wenn es, zum Beispiel durch Click- und Crowdworking,
sehr viel Wettbewerb gibt, sondern sie wollen Standards
haben, zum Beispiel ein Mindesthonorar, wie wir es im
digitalen Bereich fordern .
({10})
Lassen Sie uns die Digitalisierung gestalten . Lassen
Sie uns ökologisch, nachhaltig, sozial und freiheitlich
nach vorne gehen . Dann wird das klappen . Lassen Sie
uns bitte der Digitalisierung überhaupt einmal eine Richtung geben - dann kommen wir voran -, am besten mit
Grünen in der Bundesregierung ab Herbst 2017 .
Danke .
({11})
Nächster Redner für die SPD ist der Kollege Lars
Klingbeil .
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
will hier zu Beginn sagen: Es ist schon ein besonderer
Moment, wenn wir heute über den Bericht zur Digitalen
Agenda diskutieren . Viele, die hier im Parlament sind,
haben in der letzten Legislatur in der Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ gesessen und
sich erstmals mit der Frage auseinandergesetzt, wie wir
Digitalpolitik hier im Deutschen Bundestag diskutieren .
Die Kommission hatte 34 Mitglieder: 17 Abgeordnete
und 17 Sachverständige . Wir haben drei Jahre gerungen,
um zu einem 2 000 Seiten langen Abschlussbericht zu
kommen, in dem auch empfohlen wurde, dass wir Digitalpolitik zentral hier im Parlament verankern .
Das hat die Große Koalition gemacht . Ich will nicht
ohne Stolz sagen, dass es richtig war, dass wir sowohl
in der Regierung als auch im Parlament einen zentralen
Ort definiert haben, an dem wir Digitalpolitik gestalten.
Vielen Dank an alle, die das in den letzten vier Jahren
getan haben . Es war ein richtiger Schritt, den wir gegangen sind .
({0})
Wenn wir heute nach dreieinhalb Jahren Digitale
Agenda auf die Dinge schauen, dann können wir feststellen: Vieles ist angefangen und vieles ist erledigt
worden . Wir haben in der Digitalen Agenda insgesamt
121 Einzelmaßnahmen . BITKOM, ein Branchenführer
in dem Bereich, hat festgestellt: Es sind gerade einmal
4 Prozent der Vorhaben, die nicht angegangen wurden . Viele Sachen wurden in der Tat erfolgreich abgearbeitet .
Wenn Sie mich als Digitalpolitiker heute fragen, ob es
an vielen Stellen noch besser gegangen wäre, dann sage
ich natürlich Ja . Ich glaube, dass wir in vielen Bereichen
noch besser werden müssen . Aber die Bilanz - das sage
ich hier heute mit Stolz - kann sich sehen lassen .
Ich will einige Bereiche explizit nennen . Ich will zunächst der Ministerin Zypries und ihrem Haus danken,
weil sie es geschafft haben, mit dieser Digitalen Agenda Start-ups in Deutschland zu stärken . Wir sehen, dass
EXIST, ein Gründerprogramm für die Hochschulen, ausgebaut wurde; wir sehen, dass mit INVEST Wagniskapital für Start-ups in stärkerem Umfang zur Verfügung
gestellt wurde und der High-Tech Gründerfonds ausgebaut wurde .
Frau Ministerin, ich will explizit auch Ihre Bemühung
erwähnen, die Sie gerade in den letzten Wochen an den
Tag gelegt haben, als Sie sich mit der Frage auseinandergesetzt haben, wie wir es eigentlich schaffen können,
vor allem junge Frauen bei Unternehmensgründungen
zu unterstützen . Ich halte das für einen ganz wichtigen
Bereich . Wir wollen Sie ermuntern, in dieser Richtung
weiterzumachen . Wir müssen schauen, wie wir gerade
junge Frauen dazu bringen können, dass sie verstärkt
Unternehmen gründen .
({1})
Ein zweiter Punkt, den ich nennen will, ist der Aufbruch, den wir bei der Infrastruktur hinbekommen haben . Ich erinnere mich daran, wie wir damals in den
Koalitionsverhandlungen debattiert haben, ob der Staat
dort eine Verantwortung trägt . Ich sage heute: Ja, es war
richtig, dass wir staatliches Geld in die Hand genommen
haben, um den Breitbandausbau zu stärken . Wir wissen
aber auch, Herr Dobrindt, dass 50 Mbit/s nur ein Zwischenschritt sind und wir es in der nächsten Legislatur
schaffen müssen, die Gigabitgesellschaft zu verankern .
Wir brauchen Glasfaser und Funk . Ich sage hier auch:
Wir müssen es noch in dieser Legislatur schaffen, offene
WLAN-Netze stärker zu ermöglichen . Auch das gehört
dazu . Ich würde mir wünschen, dass wir den Elan des
Innenministers, den wir bei Quellen-TKÜ und Onlinedurchsuchung gerade erlebt haben, in den nächsten zwei
Sitzungswochen auch beim Thema „Offene WLAN-Netze“ erleben, um Infrastruktur zu schaffen .
Der dritte Punkt, den ich ansprechen will, ist die digitale Bildung . Die Kollegin Esken wird gleich noch länger
darauf eingehen . Wir haben es geschafft, mit dem Digitalpakt ein wichtiges Projekt zumindest erst einmal konzeptionell auf den Weg zu bringen . Das ist haushalterisch
nicht hinterlegt, aber wir wissen doch alle, dass gerade
der Bereich der digitalen Bildung in der nächsten Legislatur ein ganz wichtiger wird . Das bedeutet für mich: Das
Kooperationsverbot muss weg . Das bedeutet, Bildungsmaterialien zu digitalisieren, die Schulen besser auszustatten und die Lehrer anders auszubilden, damit wir
endlich einen Aufbruch in der digitalen Bildung haben .
Der vierte Bereich, den ich nennen will, bezieht sich
auf die Veränderungen der Arbeitsmarktpolitik . Frau
Ministerin Nahles hat mit dem Grünbuch und mit dem
Weißbuch zum Thema Arbeiten 4 .0 einen Prozess auf
den Weg gebracht, den ich als vorbildlichen Prozess in
dieser Digitalen Agenda sehe .
({2})
Wir müssen uns als Parlament doch mit der Frage auseinandersetzen, was es für Menschen bedeutet, wenn sie
jeden zweiten, dritten Tag in der Zeitung lesen können,
dass ihr Job bald durch die Digitalisierung wegfällt . Wie
bereiten wir die Menschen also auf den Wandel des Arbeitsmarktes durch die Digitalisierung vor?
Das bedeutet Bildung, Qualifizierung, Ausbildung und
Recht auf Weiterbildung . All diese Dinge werden wir in
der nächsten Legislatur stärken müssen, und Frau Nahles
hat den Auftakt gemacht . Das bedeutet aber auch - ich
will das hier als Projekt nennen; Frau Nahles hat es definiert - das Recht auf mobiles Arbeiten . Es ist doch Wahnsinn, dass Menschen große Strecken zurücklegen, um zu
ihrem Arbeitsplatz zu kommen, obwohl heute die technischen Möglichkeiten vorhanden wären, um Homeoffice und das mobile Arbeiten zu ermöglichen. Es ist zwar
auch richtig, dass wir in diesem Bereich in der jetzigen
Legislatur vorangekommen sind . In der nächsten Legislaturperiode brauchen wir dazu jedoch ein Gesetz
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich nach
einer Legislatur Digitale Agenda noch eine persönliche
Anmerkung machen . Ich mache jetzt seit acht Jahren hier
im Parlament Digitalpolitik. Wir haben, finde ich, in der
Enquete-Kommission und auch jetzt im Ausschuss Digitale Agenda vieles auf den Weg gebracht . Ich habe gerade
versucht, eine kleine Bilanz zu ziehen .
Ich will mich, Thomas Jarzombek, auch bei dir für die
gute Zusammenarbeit bedanken, die wir in diesem Ausschuss hatten. Da ging es um etwas Neues. Ich finde, an
manchen Stellen hat es geruckelt, aber an vielen Stellen
haben wir es doch gut geschafft, immer wieder Motor der
Digitalisierung hier im Parlament zu sein . Wir hätten uns
aber, glaube ich, an vielen Stellen gemeinsam noch mehr
gewünscht .
Im Hinblick auf die nächste Legislaturperiode will ich
hier eines ganz deutlich sagen: Wenn wir nicht begreifen,
wie groß die Umbrüche durch Digitalisierung in den Bereichen Gesundheit, Mobilität, Finanzen, Bildung sind,
wenn wir als Parlament bzw . als Regierung nicht anfangen, diesem Thema einen angemessenen Stellenwert zu
geben, und wenn wir nicht aufhören, uns in Trippelschritten zu bewegen, dann werden wir unsere Chancen verpassen .
Wir haben vor wenigen Tagen einen Bericht in der
Zeitung Die Welt lesen können, dem zu entnehmen war,
dass Deutschland auf dem Gebiet der Digitalisierung einen Rückstand hat, dass wir immer weiter im Ranking
zurückrutschen, weil sich die Wirtschaft nicht auf die
Technologisierung einlässt, weil die Politik hinterherhinkt und weil es in der Bevölkerung Skepsis gibt . Da
haben wir als Politiker auf zwei Gebieten Verantwortung .
Erstens brauchen wir Mut in Deutschland, um die Chancen der Digitalisierung zu ergreifen und die Veränderung
positiv zu begleiten . Zweitens brauchen wir auch eine
Struktur in der Politik, mit der das Thema vorangebracht
wird .
Deswegen bin ich der festen Überzeugung - das ist
meine persönliche Meinung -, dass es nicht zielführend
ist, wenn drei Ministerien für dieses Thema zuständig
sind . Wir brauchen eine Bündelung zentral im Kanzleramt oder in einem Ministerium . Es muss eine Person am
Kabinettstisch sitzen, die immer wieder den Finger in die
Wunde legt und sagt: „Denkt an die Digitalisierung“, und
die versucht, dieses Thema voranzutreiben . Wenn wir das
nicht schaffen, liebe Kolleginnen und Kollegen, verspielen wir Wachstum, Wohlstand und Arbeitsplätze . Darum
sollten wir uns aber kümmern . Das ist die Verantwortung, die wir tragen .
Herzlichen Dank .
({4})
Das Wort erhält nun der Kollege Herbert Behrens für
die Fraktion Die Linke .
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ohne ein stabiles, sicheres und leistungsfähiges Internet
ist heute nichts mehr zu machen . Das wird hier sicherlich
von allen so mitgetragen . Dann hört es aber, glaube ich,
mit den Gemeinsamkeiten auch schon auf . Aber was liegt
näher, als dass man sich wirklich um die dafür notwendige Infrastruktur, also beispielsweise um den Netzausbau
kümmert? Was entdecken wir aber in dem 120-seitigen
Bericht? Das Wort „Netzausbau“ erscheint dort nur zweimal .
({0})
Wir haben wieder - wie vor einem Jahr auch - gehört,
dass es sich um ein Aufgabenheft handelt . Statt Schritt
für Schritt voranzugehen, haben hier drei Ministerien
wieder viele Aktivitäten aneinandergereiht . Wir haben
immer wieder kritisiert - auch heute ist das schon gesagt worden -, dass es kein erkennbares Konzept bzw .
keine Strategie dahinter gibt . Der Minister für Verkehr
und digitale Infrastruktur, die Ministerin für Wirtschaft
und der Minister des Innern stimmen sich bei diesem
Thema offenbar überhaupt nicht ab . Die wichtigen Aufgaben sind nicht beschrieben . Das kommt davon, wenn
sich drei Ministerien quasi auf den Füßen stehen, anstatt
zusammenzuarbeiten .
({1})
Da hilft es auch nicht, zum Ende der Wahlperiode einen
gemeinsamen Bericht vorzulegen . Angesichts der anstehenden Aufgaben, die wir immer wieder formuliert haben, ist dieser Bericht einfach eine Zumutung .
Es bleibt eine extrem wichtige Aufgabe, eine zukunftsfeste Infrastruktur zu schaffen . Wir haben hier im
Bundestag vor einem Jahr schon einmal über das Thema
Glasfaserausbau oder vielmehr über den unzureichenden
Glasfaserausbau debattiert . Damals sprach die Bundesregierung - und zwar nur die Bundesregierung - von
einer hervorragenden Bilanz . Heute, zwölf Monate und
2,3 Milliarden Euro Fördermittel später, gibt es das Gleiche noch einmal, diesmal mit der Überschrift „Legislaturbericht“ . netzpolitik .org, die bekannte NGO, hat einmal einen Artikel überschrieben: „Breitbandausbau: Bald
mehr Strategien als Anschlüsse“ . - Dieser Kommentierung ist nichts hinzuzufügen .
Dabei haben die Ministerin und die Minister erkannt so steht es im Bericht -: „Grundlegende Voraussetzung,
um an den Innovationen des digitalen Wandels teilhaben
zu können, ist eine hochleistungsfähige digitale Infrastruktur .“ Sehr richtig! Aber diese hochleistungsfähige
Infrastruktur gibt es nicht, und sie wird es wahrscheinlich in absehbarer Zeit bei dieser Bundesregierung auch
nicht geben .
Warum? Im September 2016 hat die Bundesnetzagentur - wir alle erinnern uns - die Nahbereiche von
8 000 Hauptverteilern zum allergrößten Teil der Deutschen Telekom überlassen . Diese hat sich im Gegenzug
dazu verpflichtet, die Nahbereiche mit Vectoring-Technik auf Basis von Kupferkabeln zu erschließen . Jetzt, im
März 2017, musste die Bundesnetzagentur einräumen,
dass die Telekom die Angebote an die Konkurrenten
nachbessern musste . Diese hatten geklagt, weil sie keinen gleichberechtigten Zugang zum Endkunden hatten .
Echte Glasfaseranschlüsse machen heute gerade einmal
einen Anteil von 7,1 Prozent aus . Deutschland wird sich
auf Jahre darauf einstellen müssen, Schlusslicht beim
Glasfaserausbau zu sein . Die digitale Politik der Bundesregierung ist grandios gescheitert .
Das Netz muss sicher sein . Mit dem Verschlüsselungsvirus WannaCry wurden vor wenigen Monaten
230 000 Computer in 150 Ländern der Erde infiziert.
Einen ähnlichen Skandal - wenn auch nicht in diesem
Ausmaß - hatten wir bereits vor einem Jahr in Deutschland erlebt . Vor zwei Jahren erklärte der Innenminister:
Deutschland muss der Verschlüsselungsstandort Nummer eins auf der Welt werden . - Doch was passiert? Es
wird eine Zentrale Stelle für Informationstechnik im
Sicherheitsbereich, ZITiS, aufgebaut . Dort sollen Überwachungstechniken entwickelt werden, mit denen unter
anderem Verschlüsselungen geknackt werden sollen . Absurder geht es eigentlich nicht . Aber diese Bundesregierung schafft es mühelos, solche gefährlichen Absurditäten zu produzieren .
({2})
Ein letzter Punkt . Die Kompetenz scheint der Bundesregierung sehr wichtig zu sein . Deshalb gibt es viele
Kompetenzzentren; die Ministerin hat das erwähnt . Bei
30 Kompetenzzentren sollte mindestens eines dabei sein,
mit der die Kompetenz in den Ministerien erhöht wird .
({3})
Nächster Redner ist der Bundesminister Alexander
Dobrindt .
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Tat ist es so, dass
die Substanzrevolution der Digitalisierung einen neuen
Wettbewerb zwischen Unternehmen, einen neuen Wettbewerb zwischen Regionen der Welt und sogar einen
neuen Wettbewerb zwischen den Staaten in der Welt begründet hat . Richtig ist auch der Grundsatz: Wer nicht
komplett digitalisiert, verliert . - Deswegen haben wir uns
die Digitale Agenda als Arbeitsprogramm gegeben . Wir
haben in dieser Legislaturperiode enorm viel geschafft .
Wir sind damit das digitale Leistungszentrum in Europa geworden . Wir wissen, dass wir mit diesem Arbeitsprogramm die Chancen auf höhere Wirtschaftskraft und
gesteigerte Lebensqualität nutzen und uns weiterentwickeln können . Deshalb sind die Vorwürfe, die hier in Teilen formuliert werden, vollkommen absurd .
Lieber Herr Janecek, Ihr Hinweis, wir digitalisierten
die Mobilität nicht, ist grundfalsch . Wir sind die Vorreiter
im Bereich des automatisierten Fahrens . Wir entwickeln
den ÖPNV digital weiter . Da Sie das bayerische Freyung
als Beispiel genannt haben,
({0})
sollte Ihnen bekannt sein, dass dort ein ÖPNV on demand entsteht, der weltweit einzigartig ist . In Bad Birnbach werden automatisierte Busse eingesetzt, die die Beförderung revolutionieren . Damit lassen sich gerade im
ländlichen Raum neue Mobilitätskonzepte im digitalen
Bereich anwenden .
Dass Sie hier solche Vorwürfe erheben, verwundert
mich sehr . Noch vor einiger Zeit gehörte ein grundsätzliches Verbot des Glasfaserkabels zu Ihrem Programm .
({1})
Das ist Teil der Wahrheit . Das kann man in Ihren Wahlprogrammen nachlesen . In Ihrem aktuellen Wahlprogramm verlieren Sie kein einziges Wort über automatisiertes Fahren und Start-ups . Zum Breitbandausbau steht
in Ihrem Wahlprogramm:
Der Ausbau von Leerrohren . . . steht dabei im Vordergrund .
Das ist Ihre Digitalpolitik: „Ausbau von Leerrohren“ .
Wir bauen Glasfaser, Sie wollen Leerrohre . Das ist der
Unterschied .
({2})
Herr Minister, darf der Kollege Janecek dazu eine
Zwischenfrage stellen oder eine Bemerkung machen?
Ja, gerne .
Da erwarte ich aber schon mehr Begeisterung bei Ihnen, Herr Dobrindt . Vielen Dank, dass Sie sie trotzdem
zulassen . - Ich möchte einen Hinweis geben: Das Projekt
in Freyung, das Sie angesprochen haben, ist von unserem
Abgeordneten Thomas Gambke initiiert worden . Es ist
schön, dass Sie bei der Präsentation waren . Dieses Projekt ist von den Grünen intensiv vorangetrieben worden .
({0})
Da geht es darum, dass man geteilte Mobilität in einer
ländlichen Region anbietet .
Welche gesetzgeberischen Projekte haben Sie denn
vorangetrieben, beispielsweise im Rahmen des Personenbeförderungsgesetzes, um eine Mobilität des Teilens
auf digitaler Basis überhaupt zu ermöglichen, sodass es
Geschäftsmodelle geben kann, die an ÖPNV-Plattformen
etc . andocken? Welche Projekte sind das konkret?
Herr Janecek, erst einmal: Ihr Widerspruch ist jetzt
schon klar erkennbar . Vorhin haben Sie gesagt: Es gibt
überhaupt nichts in diesem Bereich . Sie haben gar nichts
gemacht . Es gibt nichts Neues . - Jetzt sage ich Ihnen: In
Freyung gibt es das modernste ÖPNV-Projekt der Welt
im digitalen Bereich . Der Bürgermeister von Freyung ist
CSU-Mitglied . Er hat dieses Projekt zusammen mit dem
Berliner Start-up Door2Door entwickelt .
Jetzt werden Sie sagen: Na ja, wahrscheinlich ist irgendwann auch einmal ein Grüner dafür gewesen . - Das
ist nicht die Art der Politik, die man hier betreiben sollte .
Wir müssen mit Schwung und Dynamik in diese neuen
Technologien hineingehen, und wir dürfen nicht wie Sie
erst abstreiten und dann sagen: So ein bisschen waren wir
auch mit dabei .
({0})
Außerdem will ich Ihnen sagen: Wir haben mit unserem Carsharing-Gesetz - weil Sie über die Sharing- und
Plattformtechnologie gesprochen haben - auch hier einen
Meilenstein gesetzt . Sören Bartol war hier an vorderster
Front . Er ist übrigens schon seit vielen Jahren dabei, dieses Thema zu bearbeiten . Ich habe für den Transfer in die
digitale Welt gesorgt . Wir sind heute mit dem, was wir
gesetzgeberisch gemacht haben, in der Lage, den Bereich
der Carsharingmöglichkeiten deutlich zu erweitern . Da
ist in der Tat ein Riesenmarkt . Wir haben an dieser Stelle
zusätzlich alternative Antriebe gefördert . Das heißt, auch
hier sind wir ganz vorne mit dabei .
Lieber Herr Janecek, es würde sich anbieten, dass Sie
sich die Initiativen der Bundesregierung, die im Bereich
Digitale Agenda in dieser Wahlperiode stattgefunden haben, noch einmal direkt vor Augen führen, bevor Sie hier
eine weitere Rede zu diesem Thema halten .
({1})
Dass die Digitalisierung eine technische Dynamik hat,
die mit der üblichen Weiterentwicklung einer Technologie, wie wir sie kennen, nicht vergleichbar ist - deutlich
dynamischer ist -, das ist richtig, und darauf müssen sich
alle einstellen . Darauf muss sich auch die Politik einstellen, auch regulatorisch, auch gesetzgeberisch . Wir können mit unseren bewährten und gewohnten gesetzgeberischen Maßnahmen angesichts dieser neuen Dynamik
oftmals nicht mithalten . Das heißt, auch wir werden uns
daran gewöhnen müssen, deutlich schneller regulatorisch
zu arbeiten, wenn wir die Chancen der Digitalisierung
umsetzen wollen .
Dazu gehört auch, dass wir den Glasfaserausbau zusätzlich beschleunigen . Wir haben mit 4 Milliarden Euro
in dieser Wahlperiode ein Glasfaserprogramm auf den
Weg gebracht, das dazu führt, dass wir dieses Land mit
über 200 000 Kilometer Glasfaser ausbauen . Aktuell ist
dies bereits mit dem dritten Förderaufruf zugesagt . Der
vierte Förderaufruf ist gerade in Vorbereitung . Dadurch
wird eine weitere knappe Milliarde Euro an Fördermitteln in die Kommunen fließen.
Wir haben übrigens mit der Netzallianz Digitales
Deutschland, in der alle innovations- und investitionswilligen Unternehmen gebündelt sind, eine Vereinbarung getroffen, dass aus der Wirtschaft heraus jedes Jahr
8 Milliarden Euro in den Glasfaserausbau, in das schnelle
Breitbandnetz, investiert werden .
Hinzu kommt, dass wir nicht nur das kabelgebundene
schnelle Netz brauchen, sondern wir brauchen auch 5G,
also das schnellste Mobilfunknetz der Welt .
({2})
5G ist Echtzeitkommunikation . Wir sind das erste Land
in Europa, das die nötigen Frequenzen dafür im nächsten Jahr ausschreiben wird und damit auch die Chance
hat, bis zum Jahr 2025 einen flächendeckenden 5G-Echtzeit-Mobilfunknetzausbau zu erreichen . Um dies einmal
in Zahlen zu sagen: Wir haben in dieser Wahlperiode die
Zahl der Glasfaser- und Breitbandanschlüsse um 25 Prozent steigern können, sodass wir in Europa inzwischen
die höchste Dynamik beim Glasfaserausbau und Breitbandausbau haben .
Das automatisierte Fahren wird das nächste zentrale
Projekt bei der Digitalisierung sein . Ob wir mit der Automobilindustrie in Zukunft in der Welt wirtschaftlich erfolgreich sein können, hängt sehr stark davon ab, ob wir
automatisiertes Fahren als Spitzentechnologie umsetzen
können . Wir haben dazu eine ganze Reihe von Maßnahmen ergriffen, zum Beispiel das „Digitale Testfeld Autobahn“ auf der A 9 in Bayern eingerichtet - ein Leuchtturmprojekt weltweit, die einzige Straße auf der Welt, die
eine eigene Intelligenz hat, die eine eigene Sensorik hat,
die Daten erfasst, sodass eine Kommunikation mit den
Fahrzeugen möglich ist . Diese Strecke wird heute von
internationalen Unternehmen, auch ausländischen internationalen Unternehmen, genutzt,
({3})
um die digitalen Techniken, um automatisiertes Fahren
weiterzuentwickeln, einzelne Produkte zu testen - und
das im Realverkehr, nicht auf irgendeinem Testfeld im
abgeschlossenen Raum. Der Test findet im Realverkehr
statt und bietet deswegen optimale Möglichkeiten, diese
Technologien weiterzuentwickeln .
Wir haben es als erstes Land der Welt geschafft - das
meine ich mit „Wir müssen diesen Maßnahmen auch
regulatorisch folgen“ -, ein Gesetz zum automatisierten Fahren zu verabschieden . Wir sind die Ersten, die
es geschafft haben, dass der Computer als Fahrer dem
Menschen als Fahrer rechtlich gleichgestellt wird . Damit
haben wir einen Meilenstein gesetzt, der zurzeit auf der
ganzen Welt beobachtet wird und für den es viele Nachahmer geben wird . Man wird diese regulatorischen Maßnahmen, diese gesetzgeberischen Maßnahmen genau so
umsetzen, wie wir es getan haben .
Die zentrale Frage ist: Wie geht es mit diesen Thematiken weiter? Wie entwickelt man jetzt eine Agenda 2017
plus? Dabei ist die Frage im Raum: Wie organisiert man
hier die Zuständigkeiten in der Regierung, wenn es darum geht, schneller zu werden? Ich betone ausdrücklich,
dass wir mit dem Innenminister und mit der Wirtschaftsministerin exzellent zusammengearbeitet haben . Es war
ein gutes und sehr ergebnisreiches Zusammenwirken an
dieser Stelle; das muss man sagen .
Aber die Tatsache, dass Digitalisierung ein ressortübergreifendes Thema ist, darf uns nicht davon abhalten,
die Kompetenzen zu bündeln . In den 80er-Jahren hat es
die Diskussion gegeben, ob man ein Umweltministerium
einrichtet . Einige haben gesagt: Das ist ressortübergreifend . Jeder muss sich um Umwelt kümmern . Deswegen
braucht man kein eigenes Ministerium . - Meine Damen
und Herren, man hat sich damals aber richtig entschieden
und hat die Kompetenzen für Umwelt in einem Ministerium gebündelt . Deswegen kann ich an der Stelle nur
sagen: Es ist auch richtig, die Kompetenzen für Digitalisierung zukünftig in einem Ministerium zu bündeln .
Herzlichen Dank .
({4})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Tabea Rößner für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
({0})
Schön, dass Sie sich darüber freuen, Herr Kauder . Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es war einmal ein digitales Wunderland namens Deutschland . Dort
hatten alle Menschen schnelles Internet . Ihre digitalen
Verbraucherrechte wurden gewahrt . Alle Alltagsaktivitäten ließen sich unkompliziert und sicher auch online
durchführen . Alle lebten glücklich bis ans Ende ihrer
Tage .
({0})
Genauso märchenhaft liest sich der Legislaturbericht Digitale Agenda: Alles ist schön . Alles ist super .
Im Index für digitale Wettbewerbsfähigkeit dagegen
steht Deutschland nur auf Platz 17 - hinter Australien,
Neuseeland und Österreich . Die Untersuchung hat ergeben, dass es in Deutschland vor allem an der richtigen
Einstellung mangelt, dass die Bereitschaft fehlt, die digitale Transformation auch wirklich anzugehen .
Ich kann Ihnen auch ein Beispiel dafür geben, wo es
an der richtigen Einstellung mangelt . Das ist beim Glasfaserausbau der Fall, Herr Dobrindt. Da befinden wir uns
nämlich noch im Dornröschenschlaf; denn Ihr Bundesbreitbandförderprogramm, das Sie immer präsentieren
und als Erfolg feiern,
({1})
setzt die falschen Anreize .
({2})
Sie haben sich von der Telekom umgarnen lassen und
fördern vor allem Vectoring . Deshalb belegt Deutschland
beim Glasfaserausbau in Europa den vorletzten Platz .
({3})
Das Ärgerliche daran ist: Es wäre so vermeidbar gewesen, meine Damen und Herren .
({4})
Sie rühmen sich ja wie das tapfere Schneiderlein und
schreiben „50 auf einen Streich“ auf Ihre Schärpe . Sie
sind so stolz darauf, dass inzwischen 75 Prozent der
Haushalte Zugang zu 50 Mbit/s haben, dass Sie ein paar
zentrale und wichtige Punkte völlig verschweigen .
Erstens . 50 Mbit/s ist weiß Gott kein ambitioniertes
Ziel, das uns in die digitale Zukunft befördert . Alle wissen es bereits heute: Diese Übertragungsrate wird schon
bald nicht mehr ausreichen . Übrigens, Herr Dobrindt: 5G
geht eben auch nur mit Glasfaser .
({5})
Zweitens . Viele Menschen bekommen gar nicht die
Bandbreite, die die Unternehmen ihnen versprechen . Das
hat ja auch die Untersuchung der Bundesnetzagentur sehr
deutlich gezeigt .
Und drittens sollten die Menschen im ländlichen
Raum ehrlicherweise dann auch gesagt bekommen, dass
sie auf ihre Breitbandanbindung wohl noch lange werden warten müssen . Denn zur Wahrheit gehört, dass der
Ausbau bei den restlichen 25 Prozent der Haushalte besonders schwierig wird und auch sehr lange dauern wird .
Also: Brüsten Sie sich nicht mit einem Ziel, das Sie
nächstes Jahr ganz sicher nicht erreichen werden; denn
das ist den Menschen und den Unternehmen im Land gegenüber keine ehrliche Politik .
Vor diesem Hintergrund musste ich doch sehr schmunzeln, als ich diese Woche erfuhr, dass das kleine Dorf Wacken Schützenhilfe ausgerechnet vom Heavy-Metal-Festival bekommt . Die Festivalleitung hat nämlich Glasfaser
auf dem Festivalgelände verlegen lassen und dazu erklärt, sie sehe das als nachhaltige Investition in die Infrastruktur des Eventstandortes Wacken . Mal ehrlich: Wenn
die Menschen auf einem der größten Open-Air-Festival
Deutschlands eine Internetverbindung haben, von der sie
zu Hause oder in ihrem Betrieb nur träumen können und
die Heavy-Metal-Szene mehr für eine nachhaltige Infrastruktur tut als die Bundesregierung, dann läuft doch hier
etwas verdammt schief .
({6})
Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie werden Ihren eigenen Ansprüchen nicht einmal im Ansatz
gerecht . Auch in anderen Bereichen der Digitalen Agenda ist vieles nicht Gold, was glänzt . Dabei hat die Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“
schon so viele Punkte benannt, die Sie nur fleißig hätten
abarbeiten müssen . Stattdessen verzetteln Sie sich weiter
im Zuständigkeitschaos, und die Bund-Länder-Kommission zur Medienkonvergenz hat leider auch nichts Wegweisendes hervorgebracht .
Das jüngste Urteil zum virtuellen Erbe rund um Facebook-Daten zeigt exemplarisch: Die Unstimmigkeiten
der derzeitigen Gesetzgebung müssen wieder einmal die
Gerichte klären, weil Sie es nämlich verpasst haben, die
richtigen Weichen zu stellen und mit den Ländern zusammen endlich auf die drängenden Fragen unserer Zeit die
notwendigen Antworten zu finden - und das, obwohl viele Leute das immer wieder angemahnt haben .
({7})
Oder nehmen wir das offene WLAN und die Störerhaftung: Fehlanzeige! Das IT-Sicherheitsgesetz - Kollegin Sitte ist darauf eingegangen - ist völlig unzureichend . Oder nehmen wir die Marktmacht von einzelnen
Unternehmen im Netz . Da haben Sie auch nicht den Mut,
etwas zu ändern . Oder nehmen wir das Urheberrecht, das
unsägliche Leistungsschutzrecht, das Sie trotz Ihres Versprechens nicht einmal evaluiert haben . Es ist bezeichnend, dass der Justizminister heute bei dieser Debatte
nicht dabei ist . Das wäre nämlich notwendig .
Ich sage noch ein Reizwort des Jahres, nämlich Netzwerkdurchsetzungsgesetz . Wir sind uns ja in den Grundsätzen einig: Auf strafrechtlich relevante Äußerungen
und gezielte Desinformationskampagnen im Netz müssen wir Antworten finden. Aber mit dem vorliegenden
Gesetz haben Sie ein Papier aus dem Hut gezaubert, das
wiederum mehr Fragen aufwirft, als es beantwortet .
({8})
Kein Wunder: Ohne Abstimmung mit den Ländern,
die doch bereits mit dieser Materie befasst sind und Regulierungskompetenzen haben, soll dieses Gesetz jetzt
im Eiltempo durch den Bundestag gejagt werden . Eine
so grundrechtsrelevante und komplexe Materie hat wirklich eine ernsthafte Befassung verdient . Sie kennen doch
alle die Geschichte von Hase und Igel . Manchmal ist es
besser … Na, Sie wissen schon .
Liebe Bundesregierung, bei Ihrer Digitalen Agenda
mögen Sie sich vieles gewünscht haben . Ich muss Sie
leider auf den Boden der Tatsachen zurückholen . Jetzt ist
es an der Zeit, das Märchenbuch zuzuschlagen und sich
endlich auch den unangenehmen Wahrheiten zu stellen .
Vielen Dank .
({9})
Für die SPD-Fraktion hat die Kollegin Saskia Esken
das Wort .
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte
mich auf zwei für das Gelingen des digitalen Wandels
bedeutende Felder konzentrieren, in denen wir der internationalen Entwicklung schon viel zu lange und nachweislich hinterherhinken: die digitale Bildung und die
digitale Verwaltung .
Die Unterschiede in den digitalen Kompetenzen der
Menschen haben die fatale Tendenz, sich selbst zu verstärken und sich zu einer digitalen Spaltung unserer Gesellschaft auszuweiten . Digitale Bildung gilt deshalb zu
Recht als der Schlüssel zur souveränen Teilhabe an den
Chancen des digitalen Wandels, aber auch zur Bewältigung seiner Herausforderungen, und zwar für alle Menschen .
Im Kompetenzbereich des BMBF brauchte es einen
Auftrag des Parlaments, und die Länder mussten vorlegen, damit die Digitale Agenda Fahrt aufnehmen konnte .
Im Jahr 2016 hat die Kultusministerkonferenz in großer
Offenheit die Strategie „Bildung in der digitalen Welt“
erarbeitet . Ministerin Wanka hat mit dem Digitalpakt ein
Investitionsvorhaben für die digitale Bildung in Höhe
von 5 Milliarden Euro angekündigt
({0})
- nein -, zu dessen Finanzierung sie leider auf die kommende Legislatur verweisen muss .
({1})
- Nein, leider nicht, Herr Kollege Schipanski .
Dass es dennoch gelungen ist, zur Umsetzung Ihrer
Bild-am-Sonntag-Idee Eckpunkte mit den Ländern zu
vereinbaren, ist ein erstaunlicher Erfolg . Es ist ein Erfolg der konzeptionellen Vorarbeit der KMK, und es ist
ein Erfolg der SPD-Fraktion, die mit Ihrer Positionierung
und mit detaillierten Nachfragen darauf gedrungen hat,
das Vorhaben zu präzisieren und voranzutreiben .
({2})
Es wird nun - wieder auf Basis der KMK-Strategie ein gemeinsames Vorgehen möglich, das Schulen bei der
Gestaltung des digitalen Wandels entsprechend unterstützt . Während die Pläne des BMBF über die Einrichtung von WLAN-Hotspots kaum hinausgingen, können
nun auch Server und Lernplattformen finanziert werden,
ja sogar - man höre und staune - Onlinefortbildungsangebote für Lehrkräfte .
({3})
Weil wir anders lernen müssen, um anders zu leben
und anders zu arbeiten, brauchen die Schulen beim Wandel ihrer Pädagogik und Organisation aber auch die Unterstützung und Kooperation außerschulischer Partner .
Das muss gefördert werden . Dazu kommen die Förderung frei zugänglicher digitaler Lernmittel und die Standardisierung und Vernetzung digitaler Lernplattformen .
Dafür wollen wir uns auch in Zukunft einsetzen .
Meine sehr geehrten Damen und Herren, auch bei internationalen Vergleichen zur digitalen Verwaltung müssen wir uns immer wieder vorführen lassen . Der Herr Minister hat es eingeräumt . Auch hier ist er, aber auch sein
Ministerium, leider wenig ambitioniert gewesen
({4})
und hat er sich vom Parlament und insbesondere von der
SPD-Fraktion zum Jagen tragen lassen .
({5})
Bis die Vorhaben Wirkung zeigen, die nun auf den letzten
Metern der Wahlperiode in Angriff genommen werden,
wird leider noch einige Zeit ins Land gehen .
({6})
Die Offenlegung der Daten der Verwaltung birgt innovative Potenziale für Gesellschaft und Wirtschaft - das
kann man in den Studien der Stiftungen, die Ihnen nahestehen, nachlesen -, aber auch für die Verwaltung selbst .
Ein Gesetz für Open Data hat das Innenministerium auf
Drängen der SPD-Fraktion jetzt endlich vorgelegt .
({7})
Der Beitritt Deutschlands zur Open Government Partnership, eine Vereinigung von Ländern zur Entwicklung
von Aktionsplänen für mehr Offenheit und Transparenz
von Regierung und Verwaltung, ist ebenfalls ein wichtiger Schritt . Der Ende Juni vorzulegende Nationale Aktionsplan wird ein umfangreicher Maßnahmenkatalog
werden . Deshalb müssen wir darauf achten, dass für die
Umsetzung die notwendigen Mittel und Strukturen bereitgestellt werden . Schließlich haben sich mit dem gerade gestern beschlossenen Onlinezugangsgesetz in letzter Minute - der Minister hat es eingeräumt - Bund und
Länder zur Digitalisierung ihrer Verwaltungsangebote
verpflichtet und die Bündelung in einem Portalverbund
verabredet . Dienstleistungen der Verwaltung sollen künftig - bis auf wenige Ausnahmen, der Kollege Janecek hat
ein Beispiel genannt - selbstverständlich online und aus
einer Hand angeboten werden .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine sehr geehrten Damen und Herren, die SPD versteht den digitalen
Wandel als zentrale politische Gestaltungsaufgabe . Und
wie jeder technologische Fortschritt muss gerade auch
die Digitalisierung den Menschen dienen und ihr Leben verbessern . Das Gelingen des digitalen Wandels ist
entscheidend für die Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes - das ist richtig - und damit für die Beschäftigung,
aber auch für die gesellschaftliche Entwicklung und für
den Zusammenhalt in Deutschland .
Wir von der SPD-Fraktion wollen deshalb die verschiedenen Punkte der Digitalen Agenda in der Zukunft
noch stärker bündeln und zu einer umfassenden Digitalisierungsstrategie weiterentwickeln .
Vielen Dank .
({8})
Das Wort erhält nun die Kollegin Nadine Schön für
die CDU/CSU-Fraktion .
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! In der Tat
ist in den letzten vier Jahren sehr viel passiert in puncto
Digitalisierung . Was mich ein bisschen verwundert, ist,
dass keiner der vielen Redner, die heute vor mir gesprochen haben, auf die gesellschaftlichen Veränderungen
eingegangen ist .
({0})
In der Gesellschaft hat sich doch sehr viel verändert .
Derzeit wird in der Gesellschaft öffentlich auch über
Themen wie Filterblasen, Echobunker und die Macht
von Algorithmen diskutiert . Auch die Frage, wie die Digitalisierung meinen Arbeitsplatz beeinflusst - verstehe
ich die Maschinen, mit denen ich arbeite, oder verstehen
die mich, und wer hat eigentlich die Gewalt darüber? -,
ist eine elementare Frage, auf die wir als Politik eine Antwort geben müssen . Das Thema Digitalisierung betrifft
und interessiert mittlerweile jeden . Das nehme ich in
meinem Wahlkreis vor Ort wahr . Das Thema treibt jeden
um: Von der Oma bis zum Enkel hat jeder Fragen zum
Thema Digitalisierung . Die Fragen lauten: Welche Kompetenzen muss ich mir aneignen? Wie bewege ich mich
kompetent und souverän in einer digitalen Welt, und was
heißt diese Entwicklung für mich persönlich? - Das sind
elementare Fragen, die wir uns alle stellen .
In den letzten vier Jahren ist sehr viel passiert . Die
Diskussion hat sich ganz entscheidend verändert . Es wird
viel fundamentaler, viel aufgeklärter und viel bewusster
diskutiert . Auch das ist eine Folge der Digitalen Agenda,
die wir als Politik angestoßen haben .
In der Wirtschaft hat sich viel getan . Digitalisierung
bedeutet einen fundamentalen Wandel, und zwar nicht
nur im Sinne einer Prozessoptimierung, sondern sie
bringt auch komplett neue Geschäftsmodelle und komplett neue Wertschöpfungsketten mit sich . Es gibt disruptive Entwicklungen, die ganze Branchen plötzlich
umwälzen . Auch im Start-up-Bereich, wo wir in den
letzten Jahren massiv aufgeholt haben, lautet das große
Schlagwort nicht mehr nur B2C, sondern es geht auch
um die Frage, wie Unternehmen untereinander besser kooperieren können, also B2B, Start-ups und die klassische
Industrie . Es geht um die Frage, wie die Unternehmen
digitalisiert werden können, um Wohlstand und Wertschöpfung in unserem Land zu sichern .
Wir haben neben der wirtschaftlichen und der gesellschaftlichen Debatte natürlich auch eine politische
Debatte . Dazu ist sehr viel gesagt worden . Mit der Digitalen Agenda haben wir ein Gesamtkonzept . Kollege
Klingbeil, für die Digitale Agenda tragen nicht nur drei
Ministerien die Verantwortung . Sie betrifft alle Ressorts .
Es gibt drei federführende Ministerien; aber jedes Ministerium trägt seine Verantwortung . An dieser Stelle möchte ich auf die Debatte heute Morgen eingehen, darauf,
dass gesagt wurde, die SPD-geführten Ministerien hätten
alles ganz toll und richtig gemacht,
({1})
und die CDU-geführten Ministerien hätten nichts gemacht:
({2})
Ganz ehrlich, das nimmt Ihnen doch wirklich keiner ab .
Lassen Sie uns doch gemeinsam dazu stehen, dass wir in
diesen vier Jahren viel erreicht haben .
({3})
Wenn Sie sich einmal anschauen, wo wir die größten
Fortschritte erzielt haben, dann stellen Sie fest, dass das
der Bereich IT-Security ist . Als erstes Land haben wir
eine Cybersicherheitsstrategie . Wir haben als erstes Land
ein IT-Sicherheitsgesetz, das jetzt Vorbild ist für die europäische Richtlinie .
({4})
Wir haben massiv in Forschung investiert . Gerade erst
haben wir ein Helmholtz-Zentrum in meinem Heimatland, im Saarland, gegründet . Im Endausbau wird das die
größte Forschungseinrichtung zur IT-Sicherheit weltweit
sein . Damit sind Maßstäbe gesetzt worden . Die Minister
de Maizière und Wanka - CDU-Minister, wenn Sie es
genau wissen wollen - haben ganz klare Schwerpunkte
gesetzt . Das wird das Land und die Diskussion über das
Thema in den nächsten Jahren komplett verändern .
({5})
Beim Thema Breitbandausbau sind wir ein Riesenstück vorangekommen . Der Minister hat darauf hingewiesen, dass derzeit 4 Milliarden Euro verbuddelt werden . Sie werden vielleicht fragen: Wieso merke ich das
noch nicht bei mir vor Ort? - Na ja, weil die vielen Projekte in den Kommunen gerade erst anlaufen . Die Bagger
rollen . Das Ganze nahm halt eine gewisse Planungszeit
in Anspruch; aber derzeit passiert hier eine ganze Menge, und zwar im Bereich Glasfaser, nicht nur Kupfer . Wir
sollten wirklich ehrlich sein und nicht versuchen, den
Menschen ein X für ein U vorzumachen .
Kollegin Esken, im Bereich der digitalen Bildung haben wir ein Gesamtkonzept entwickelt . Es ist schön, dass
Sie als SPD-Fraktion begrüßen, was Frau Wanka hierzu
mit den Ländern verhandelt hat . Auch das wird Maßstäbe
setzen . Aber ich sage Ihnen: Hier sind auch die Länder
und Kommunen verantwortlich . Bildung ist Länderaufgabe . Die SPD hat in den Ländern an vielen Stellen
Verantwortung getragen, sie hat die Bildungsminister gestellt, und ich kann nicht feststellen, dass in den SPD-geführten Häusern in den Ländern sehr viel passiert ist .
Ich habe gerade einen Koalitionsvertrag zum Thema
Bildung verhandelt . Vorgefunden habe ich ein Konzept
zur digitalen Bildung, das sich rein um das Thema Medienkompetenz gedreht hat . Medienkompetenz ist wahnsinnig wichtig, aber es geht doch darum, die Schüler von
heute fit zu machen und auf das vorzubereiten, was sie in
einer digitalisierten Arbeitswelt erleben .
({6})
Wir müssen sie fit machen für einen digitalisierten Alltag . Dazu braucht es ein technisches Grundverständnis
von dem, was in einer digitalen Welt passiert . Das muss
schon in den Schulen vermittelt werden; denn nur so machen wir unsere Jugend fit für das, was sie auf dem Arbeitsmarkt erwartet .
Wir haben eine ganze Menge geschafft, wir haben
aber auch noch eine ganze Menge zu tun . Das Thema
„Digitaler Staat“ ist erwähnt worden . Wir müssen hier
mehr als Vorbild fungieren .
({7})
Mit der Einführung eines Bürgerkontos, das wir gerade
gestern beschlossen haben, haben wir einen Meilenstein
erreicht . Auch das wurde vom Bundeskanzleramt getragen, gepusht und in die Verhandlungen mit den Ländern
eingebracht . Es ist unsere Aufgabe für die nächsten Jahre, hier einen guten Schritt voranzukommen .
Wir als Politik können die Rahmenbedingungen für
die Themen „Digitaler Staat“, „Digitale Bildung“ und
die Beantwortung der Frage, wie wir weiter dafür sorgen können, dass Start-ups, aber eben auch der klassische
Mittelstand und unsere Industrie wachsen und die digitale Transformation schaffen, setzen . Das tun wir . Deshalb
freue ich mich auf die gemeinsame weitere Arbeit zu diesem wichtigen Themenfeld .
({8})
Der Kollege Reichenbach hat nun das Wort für die
SPD-Fraktion .
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erlauben
Sie mir, heute meinen Beitrag etwas persönlicher und
grundsätzlicher zu gestalten . Mit dem Ende der Legislaturperiode geht für mich auf eigenen Wunsch auch meine
22-jährige Parlamentstätigkeit im Hessischen Landtag
und hier im Deutschen Bundestag zu Ende . Ich war Mitglied im Innenausschuss, stellvertretender Vorsitzender
der Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“, und derzeit bin ich stellvertretender Vorsitzender des neuen Ausschusses Digitale Agenda und kann
daher sagen: Das Thema Digitalisierung hat die letzten
vier Legislaturperioden stark geprägt . Die drei Themen
IT-Sicherheit, kritische Infrastruktur und Schutz der personenbezogenen Daten im Verbraucherschutz habe ich
als Berichterstatter besonders bearbeitet .
Es ist beschrieben worden: Das Thema Digitalisierung
dehnt sich immer weiter in alle Lebensbereiche aus . Für
diesen Prozess und die damit verbundenen Chancen - der
Nadine Schön ({0})
Minister hat es angesprochen - ist ein Punkt entscheidend, und das ist das Thema Vertrauen . Die zwei wesentlichen Pfeiler von Vertrauen sind die Sicherheit und der
Schutz der eigenen personenbezogenen Daten vor Missbrauch oder vor überbordender Ausspähung .
Trotz aller Kritik: Ich glaube schon, dass wir in der
Legislaturperiode, die jetzt abläuft, in beiden Bereichen
wichtige Schritte gemacht haben . Wir haben das IT-Sicherheitsgesetz auf den Weg gebracht, die NIS-Richtlinie
umgesetzt, und wir haben eine ganze Reihe anderer Maßnahmen zur Verbesserung der IT-Sicherheit ergriffen . Im
Zuge der Verhandlungen und mit der Verabschiedung der
Datenschutz-Grundverordnung auf europäischer Ebene
und des Anpassungsgesetzes auf nationaler Ebene haben
wir auch in dem zweiten Bereich einen Meilenstein erreicht . Unternehmen beginnen bereits, diesen Standortvorteil zu nutzen; ich erinnere nur an die deutsche Cloud .
Alle diese Herausforderungen werden uns auch in Zukunft begleiten, wahrscheinlich noch sehr viel stärker .
Von IT und Kommunikation hängt in immer höherem
Maße die Funktionsfähigkeit unserer Gesellschaft ab:
von der Sicherheit von Eigentum und Leib und Leben bis
hin in den privaten Bereich der Bürger . Wenn wir Sicherheit nicht ausreichend garantieren, dann werden von jeder Stelle der Welt dieser Staat, seine Funktionsfähigkeit,
aber auch die Sicherheit jedes Einzelnen angreifbar und
zerstörbar sein . Ich sage allen, die nicht müde werden,
täglich nach schärferen Sicherheitsgesetzen zu rufen:
Hier liegt die eigentliche Herausforderung für den Schutz
und die Sicherheit unserer Bürger .
({1})
Die zweite große Herausforderung liegt in den immer
umfassenderen Daten . Darin liegt eine große Chance,
aber auch ein Potenzial zum Machtmissbrauch . Es werden viele Daten anfallen . Diese beinhalten Details über
die intimsten Bereiche, über unsere Gesundheit und unsere tägliche Lebensführung und selbst über unsere Lebensbiografien. Die Konzentration dieser Daten in den
Händen von wenigen bietet riesige Chancen, aber auch
das Potenzial zum Machtmissbrauch . Der Schutz dieser
Daten ist mit den Fragen verbunden, ob es uns gelingt,
hier ethische Werte und Richtlinien durchzusetzen und
Artikel 1 des Grundgesetzes - den Schutz der Würde des
Menschen - in Zukunft weiterhin zu gewährleisten . Es
wird sich auch die Frage stellen, ob es uns gelingt, die
Werte unserer Demokratie wie Gleichberechtigung und
auch die Teilhabe zu sichern . Wenn wir nicht aufpassen,
dann wird die Spaltung der Gesellschaft auch im digitalen Bereich zu einer Spaltung führen, und zwar zwischen
denen, die die Digitalisierung beherrschen, und denen,
die von der Digitalisierung beherrscht werden . Das ist ein
Thema, das gerade uns Sozialdemokraten umtreibt .
Lassen Sie mich am Schluss Dank sagen . Ich danke
meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Büro . Sie
haben über Jahre hinweg meine Arbeit begleitet und unterstützt . Wir alle wissen, dass wir ohne diese Mitarbeiter
nur wenig zustande bringen würden .
({2})
Ich danke den Kolleginnen und Kollegen in den Ausschusssekretariaten, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der Fraktion und Ihnen allen, meinen Fraktionskolleginnen und -kollegen, aber auch den Kolleginnen
und Kollegen, mit denen ich über die Fraktionsgrenzen
hinweg zusammenarbeiten durfte . Dass dies nicht immer
im Konsens geschehen konnte, liegt im Grundwesen unserer pluralen Demokratie . Mein Dank gilt meinen Wählerinnen und Wählern und den Mitgliedern meiner Partei,
die mich unterstützt haben . Mein ganz besonderer Dank
gilt meiner Frau, die mich in meinem ganzen politischen
Leben - von Juso-Zeiten an - begleitet, unterstützt, aber
auch kritisiert hat .
({3})
Für mich selbst bleibt am Ende der Wunsch, dass man
auch über mich einmal sagen wird: Er hat sich stets redlich bemüht .
({4})
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit .
({5})
Die Aussicht auf dieses Testat, Herr Kollege
Reichenbach, scheint relativ gut zu sein . Jedenfalls wird
das durch die Reaktionen der Kolleginnen und Kollegen
deutlich . Ihnen alle guten Wünsche für die Zukunft .
Nächster Redner ist der Kollege Thomas Jarzombek
für die CDU/CSU-Fraktion .
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, in dieser Debatte wurde schon umfangreich erklärt,
wie viel wir mit der Digitalen Agenda in dieser Legislaturperiode geschafft haben . Ich erinnere nur an die
4,5 Milliarden Euro für das Breitbandförderprogramm,
an die Milliarden für die Start-ups und an unser großes
IT-Sicherheitsgesetz; dazu hat das Kabinett übrigens am
vergangenen Mittwoch den zweiten Korb verabschiedet .
Wir haben in vielen Bereichen geliefert . Der Bundesinnenminister hat im Zusammenhang mit den Bund-Länder-Finanzbeziehungen auch das Thema der einheitlichen
Portalstandards angesprochen . Wir haben in der letzten
Sitzungswoche - mir persönlich war das ein großes Anliegen - endlich das Open-Data-Gesetz verabschiedet .
Heute ist auch der Zeitpunkt, darüber zu reden, was
unsere Aufgabe für die nächste Legislaturperiode sein
wird . Gestern habe ich mich mit einem jungen Familienunternehmer aus der Logistikbranche getroffen . Er hat an
einem schönen Beispiel eine der Herausforderungen beschrieben, vor denen wir stehen . Er hat mir erzählt, dass
er in seiner Firma viele Gabelstapler hat und dass man pro
Gabelstapler vier Leute braucht, um diese durchgehend
zu betreiben . Inzwischen gibt es Gabelstapler, die alleine
fahren können . Er sagte mir, dass das für ihn ein riesiger
Vorteil wäre . Allerdings hat er mehrere Hallen, die miteinander verbunden sind, und zwischen all diesen Hallen
gibt es Tore. Die Berufsgenossenschaft hat die Auflage
gemacht, dass er diese selbstfahrenden Gabelstapler nur
einsetzen darf, wenn er jedes Tor zu einem smarten Tor
umrüstet, damit es mit den Gabelstaplern kommuniziert .
Es könnte nämlich passieren, dass ein Brand entsteht, der
Gabelstapler auf eines der Tore zufährt, nicht versteht,
dass sich dieses Tor gerade schließt, und es so blockiert .
Dadurch könnte der Brand überschlagen . Kostenpunkt
für die Umrüstung: 100 000 Euro . Seine Entscheidung:
Selbstfahrende Gabelstapler setzt er nicht ein .
Dieses Beispiel zeigt ziemlich deutlich die Probleme
auf . Es sind meines Erachtens zwei Probleme . Das eine
ist, dass wir Deutschen nach wie vor extrem gut darin
sind, Prozesse, bevor sie eingeführt werden, so lange zu
denken, bis wir ganz sicher auf Probleme stoßen, die eine
Einführung unmöglich machen . Ich nenne exemplarisch
die Diskussion über die Maschinensteuer nach dem Motto: „Da bald Millionen von Arbeitsplätzen entfallen werden und Maschinen keine Lohnsteuer und keine Einkommensteuer zahlen, müssen wir eine Steuer auf Maschinen
erheben und am besten auch noch ein bedingungsloses
Grundeinkommen einführen .“ Das ist der falsche Weg .
So werden wir keine einzige dieser Maschinen einführen .
Diese Maschinen werden woanders ihren Dienst tun, und
die Arbeitsplätze werden gerade bei uns wegfallen .
Das zweite Problem ist: Wir müssen den Menschen
eine Perspektive aufzeigen, wie es mit ihren Jobs auch
nach der Digitalisierung weitergeht . Das ist ein ganz entscheidender Punkt . Deshalb brauchen wir eine Weiterbildungsrepublik Deutschland . Jeder dieser Gabelstaplerfahrer hat nämlich eine Perspektive, auch wenn er nicht
mehr auf dem Gabelstapler sitzt . Er kann zum Beispiel
Fernfahrer werden . In dem gleichen Gespräch, das ich gerade angesprochen habe, habe ich nämlich erfahren, dass
es einen riesengroßen Mangel an Fernfahrern gibt, dass
es hier ein riesengroßes Nachwuchsproblem gibt . Eine
Weiterqualifizierung ist aber in drei Monaten möglich.
Jeder Mensch in Deutschland braucht für sich persönlich
eine konkrete Weiterbildungsperspektive, und zwar auf
eine Weiterbildung auch auf digitalem Weg . Wir werden
das alles nicht über Präsenzkurse organisieren können .
Das ist aus meiner Sicht ein ganz zentraler Punkt .
Wir müssen beim Thema Digitalisierung auch in die
Schule hinein . Vorhin habe ich es noch nicht genannt:
Die Bundesministerin für Bildung und Forschung hat
den DigitalPakt#D mit 5 Milliarden Euro auf den Weg
gebracht .
Ich habe in dieser Woche in Nordrhein-Westfalen am
Koalitionsvertrag das Kapitel Digitalisierung mitverhandelt .
({0})
- Das ist keine Drohung . - Wir treffen auf ein Bildungssystem, das noch immer so aussieht wie vor 15 Jahren .
Das darf so nicht sein . Die Enquete-Kommission hat
in der letzten Wahlperiode beschlossen, jeder Schüler
und jede Schülerin brauche ein eigenes Tablet . In Nordrhein-Westfalen gab es einmal das tolle Programm „Jedem Kind ein Instrument“ . Denn jedes Kind, das kein
Instrument lernt, kann gar nicht feststellen, ob es musikalisch begabt ist . Jetzt müssen wir in Deutschland das
Programm „Jedem Kind eine Zeile Code“ starten . Denn
ein Kind, das nicht wenigstens auf dem Basisniveau einmal Programmieren gelernt hat, kann nicht nur nicht feststellen, ob es Talent hat, sondern wird vor allem in dieser
Welt von Echokammern, Facebook und all diesen Algorithmen überhaupt nicht begreifen, was mit ihm passiert,
und wird diese Dinge nicht kritisch hinterfragen können .
Wir müssen beim Thema Produktsicherheit eine Menge machen . Die Videokameras, die an jeder Ecke gekauft
werden können und die kaum Sicherheitsstandards erfüllen, sind ein wichtiges Thema . Hierzu haben wir schon
einen Entschließungsantrag ausgearbeitet . Da müssen
wir mit Europa gehen .
Wir müssen auch beim Thema Mobilität neue Wege
gehen . Das Thema Personenbeförderungsrecht wurde
hier schon angesprochen .
Zum Schluss möchte ich den Dank des Kollegen
Klingbeil erwidern und ihm für die gute Zusammenarbeit
in dieser Koalition danken . Ich glaube, in der nächsten
Koalition wird aber noch mehr gehen . Darauf freue ich
mich sehr . Ich bin überzeugt, dass der Ausschuss Digitale Agenda, der bewiesen hat, dass er viel Kompetenz
ins Parlament eingebracht hat, nicht nur fortgeführt wird,
sondern aufgewertet wird . Darauf freue ich mich sehr .
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit .
({1})
Tankred Schipanski von der CDU/CSU-Fraktion erhält nun das Wort .
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die digitale Bilanz dieser Legislaturperiode kann sich sehen
lassen . In allen sieben Handlungsfeldern der Digitalen
Agenda haben wir wichtige Fortschritte gemacht, das
alles begleitet vom jüngsten Bundestagsausschuss, dem
Ausschuss Digitale Agenda .
Meine Vorredner sind schon auf viele Bereiche eingegangen . Ich möchte mich daher auf den Bereich Wissenschaft, Forschung und Bildung konzentrieren . Liebe Frau
Sitte, das ist ein Bereich, wo Sie die Digitale Agenda jeden Tag spüren können . Bildung und Forschung sind der
Schlüssel, um die Potenziale des digitalen Wandels für
die Menschen und für unsere Wirtschaft zu erschließen .
Die beste Antwort auf die Sorge, dass in Zukunft mit
der Digitalisierung bestimmte Arbeitsplätze wegfallen,
ist nicht die Verzweiflung, sondern ist Bildung. Wir wollen erreichen, dass Menschen aller Altersklassen die entsprechend notwendigen Schlüsselkompetenzen erwerben
können .
Nadine Schön und Thomas Jarzombek haben bereits
den sogenannten DigitalPakt#D, die Bund-Länder-VerThomas Jarzombek
einbarung, angesprochen . Der fußt auf einem Koalitionsantrag, liebe Frau Esken, den wir im Bildungs- und
Forschungsausschuss im März 2015 beschlossen und auf
den Weg gebracht haben . Es wurde gesagt, dass der Bund
dafür 5 Milliarden Euro in die Hand nimmt . Gestern gab
es eine Pressekonferenz, auf der die Eckpunkte dieser
Bund-Länder-Vereinbarung vorgestellt wurden . Ich hätte mir gewünscht, dass auch die Länder sagen, wie viel
Geld sie für ihren Kernbereich, ihre Kernaufgabe in die
Hand nehmen . Das machen sie jedoch nicht, sondern sie
verlassen sich bei der Finanzierung einzig und allein wieder einmal auf den Bund .
({0})
Lars Klingbeil hat gesagt, die Kooperation haut nicht
ordentlich hin . Für den Digitalpakt gilt Artikel 91c
Grundgesetz . Eine Grundgesetzänderung ist nicht nötig,
damit hier Bund und Länder ordentlich zusammenarbeiten . Zu dem Vorwurf, warum die 5 Milliarden Euro noch
nicht im Haushalt sind, sage ich: Das Ganze ist noch
nicht etatreif . Erst dann kann man es in den entsprechenden Haushalt einstellen .
Meine Damen und Herren, mit Blick auf den Forschungsbereich erinnere ich an das gerade neu ausgerufene Deutsche Internet-Institut in Berlin, an die Big-Data-Kompetenzzentren in Berlin und Dresden sowie an
verschiedenste Forschungsprogramme, die wir im Bereich des BMBF aufgelegt haben, sei es das Forschungsrahmenprogramm der Bundesregierung zur IT-Sicherheit, sei es der Bereich Industrie 4 .0 - da ist das BMBF
ein absoluter Treiber -, sei es das Forschungsprogramm
mit dem Förderschwerpunkt „Mensch-Technik-Interaktion“, sei es das Forschungsprogramm zur Automatisierung und Vernetzung im Straßenverkehr oder das große
Rahmenprogramm im Bereich der Mikroelektronik .
Ein wichtiges Vorhaben der Digitalen Agenda beraten wir gegenwärtig noch in diesem Hohen Hause .
Daher möchte ich gerne darauf eingehen . Das ist die
Einführung einer Bildungs- und Wissenschaftsschranke
im Urheberrecht . Das ist eine Forderung aus der Enquete-Kommission . Dies wurde bereits genannt . Sie steht
im Koalitionsvertrag, sie steht in der Digitalen Agenda
der Bundesregierung und ist natürlich Auftrag aus dem
Koalitionsausschuss . Ich kann nur festhalten, dass wir
Digitalpolitiker hinter dem vorgelegten Gesetzentwurf
stehen .
({1})
Wir hatten dazu am Montag eine Sachverständigenanhörung im Rechtsausschuss, und zwar mit einem klaren
Ergebnis, nämlich dass wir den vorgelegten Gesetzentwurf brauchen, dass er fortschrittlich ist, dass er ausgewogen ist . Ich halte fest: Wenn wir diesen Gesetzentwurf
nicht mehr auf den Weg bringen, dann werden die digitalen Semesterapparate an den Hochschulen im September
abgeschaltet . Das kann niemand in diesem Hause wollen .
({2})
Der Gesetzentwurf bündelt die gegenwärtig verstreuten und teilweise schwer verständlichen Regelungen,
ordnet sie neu und fasst sie klarer . Des Weiteren führt er
einen ausgewogenen Interessenausgleich zwischen den
Studierenden und der Wissenschaftslandschaft sowie den
Urhebern und Verlegern herbei . Wir diskutieren das ja
gegenwärtig in intensiver Art und Weise .
Einige Presseveröffentlichungen in den letzten Tagen
haben mich fassungslos gemacht, weil sie nicht nur eine
unsägliche Kampagne gegen die Wissenschaftsschranke fahren, sondern weil teilweise auch noch unwahr argumentiert wird . Ich habe gestern in der FAZ von einer
„perfiden Lobbyarbeit der Wissenschaftsverbände“ gelesen . Es ist beleidigend und schmähend, so etwas vorzuwerfen und zu unterstellen .
(Beifall der Abg . Dr . Petra Sitte [DIE
LINKE]
Meine Damen und Herren, der Gesetzentwurf zielt
nicht darauf ab, eine Umsonstkultur zu etablieren . Auch
innerhalb der Schrankenregelungen muss angemessen
vergütet werden . Der Gesetzentwurf zielt vielmehr darauf ab, die bereits existierende, schon jetzt kostenpflichtige Basisversorgung im Allgemeininteresse von Bildung
und Forschung sicherzustellen und zu verbessern . Unsere Studierenden, Lehrenden, Wissenschaftler tragen dazu
bei, die Digitalisierung zum Erfolg zu führen . Unterstützen wir sie dabei!
({3})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Jens Koeppen für die CDU/CSU-Fraktion .
({0})
Vielen Dank . - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Der Legislaturbericht Digitale Agenda 2014
bis 2017 der Bundesregierung ist eine gute Gelegenheit für ein erstes Fazit . Ich möchte es als Vorsitzender
des Ausschusses Digitale Agenda sehr gern ziehen . Der
Ausschuss Digitale Agenda ist der jüngste Ausschuss im
Deutschen Bundestag, er ist der kleinste Ausschuss im
Deutschen Bundestag, und einige sagen, er ist der wichtigste Ausschuss im Deutschen Bundestag, was ich hier
aber nicht weiter bewerten möchte .
Wir haben einen Start hingelegt, der in der Tat etwas
holprig war; da ging es quer durch alle Fraktionen etwas holprig und etwas ideologisch zu . Es ging zum Beispiel darum, ob wir entgegen der Geschäftsordnung, die
wir uns selbst gegeben haben, alle Sitzungen öffentlich
durchführen sollten . Aber ich glaube, das gilt nur für
unseren Start . Wir sind dann sehr schnell zu Pragmatismus gekommen und haben eine professionelle Arbeit an
den Tag gelegt, die dadurch zustande kam - davon bin
zumindest ich fest überzeugt -, dass alle Mitglieder im
Ausschuss eine sehr fundierte Grundlage und sehr großen Sachverstand auf diesem Themengebiet haben und
in anderen wichtigen Bundestagsausschüssen zusätzlich
Mitglied sind . Das hat uns sehr schnell zur Sacharbeit
geführt .
Wir haben von Anfang an den Anspruch gehabt, die
Potenziale der Digitalisierung zu sehen, ohne die üblichen Scheuklappen und ohne Angst, sondern ganz offen .
Wir haben immer gesagt, dass wir die Chancendiskussion in den Vordergrund stellen wollen: Welche Chancen
bietet die Digitalisierung? Wie können wir durch die Digitalisierung das allgemeine Leben in der Gesellschaft
verbessern? Das war unser erster Anspruch .
Unser zweiter Anspruch - er gehört dazu - bestand darin, die Risiken zu erkennen und sie aufzuzeichnen, um
sie letztendlich einzudämmen .
Unser dritter Anspruch war - ihm ist, glaube ich, am
schwierigsten gerecht zu werden -, in Deutschland eine
Regulierung vorzunehmen, die etwas unterstützt und ermöglicht, mit der wir aber nicht von Anfang an alles zu
Tode regulieren; dafür haben wir in Deutschland nämlich
ein sehr großes Talent . Das wollten wir mit auf den Weg
bringen .
Es fanden 90 Ausschusssitzungen statt, und sie dauerten insgesamt über 150 Stunden . Wir haben darüber hinaus 22 öffentliche Anhörungen - ich glaube, das ist ein
ziemlich gutes Ergebnis - mit über 100 externen Sachverständigen durchgeführt; wir haben uns also externen
Sachverstand in den Ausschuss geholt . Ferner wurden
im Rahmen der Selbstbefassung 31 Fachgespräche mit
über 50 Gästen geführt . Wir hatten Vertreter nahezu aller
Ministerien bei uns im Ausschuss, außerdem EU-Kommissare, Vertreter von Initiativen, von vielen Verbänden,
aber auch von Bundesbehörden, zum Beispiel die Bundesdatenschutzbeauftragte oder Vertreter der Bundesnetzagentur .
Es stellt sich die Frage: Hat sich die Einsetzung des
Ausschusses gelohnt? Ich denke, die Antwort ist ein klares Ja . Das Thema ist im Deutschen Bundestag angekommen; das ist das Wichtigste . Alle Ausschüsse haben sich
im Rahmen ihrer Facharbeit mit diesem Thema beschäftigt . Die Vorbehalte, die es bei anderen Kollegen, aber
auch in anderen Ausschüssen anfangs natürlich gab es hieß, jetzt gebe es einen neuen Wettbewerb, und wir
würden den anderen etwas wegnehmen -, sind abgebaut
worden . Jeder Politikbereich hat seine eigenen digitalen
Fragestellungen . Deswegen ist es wichtig, dass wir so gearbeitet haben, wie wir gearbeitet haben .
Ein Ausblick . Was passiert in der nächsten Legislaturperiode und in Zukunft? Ich denke, der Ausschuss
Digitale Agenda ist aus dem Deutschen Bundestag nicht
mehr wegzudenken . Oftmals wurde eine Widerspiegelung angeregt . Wir brauchen eine Widerspiegelung in der
Bundesregierung . Bei bestimmten Themen sollte auch
die Federführung bei unserem Ausschuss liegen . Ob es
einen Digitalminister geben oder ob eine Koordinierung
im Kanzleramt stattfinden sollte, ist mir eigentlich völlig gleich . Aber es muss eine gute Koordinierung sein,
damit die verschiedenen Aspekte dieses Querschnittsthemas gebündelt werden . Wir müssen uns mehr auf die
Nutzbarkeit und das Nutzererlebnis bei der Digitalisierung fokussieren und Dienstleistungen, Service sowie die
Möglichkeiten, die es gibt, mehr als bisher in den Vordergrund rücken . Dazu gehören insbesondere die Lebensverbesserung und ganz eindeutig auch die IT-Sicherheit
gerade bei der kritischen Infrastruktur .
Mein Dank geht an alle Mitglieder des Ausschusses .
Es war eine sehr angenehme, sehr faire - natürlich sind
auch in unserem Ausschuss gelegentlich die Fetzen geflogen; das ist doch ganz klar - und sachbezogene Arbeit . Ich bedanke mich auch bei allen Mitarbeitern in den
Fraktionen und den einzelnen Abgeordnetenbüros . Ich
bedanke mich ebenfalls beim Ausschusssekretariat und
bei der Bundesregierung . Die jeweiligen Minister und
insbesondere die Parlamentarischen Staatssekretäre waren in fast jeder Sitzung da und haben immer Wert darauf
gelegt, dass wir gute Informationen bekommen .
Ich bedanke mich auch für den Welpenschutz, den
wir von den anderen Ausschüssen erhalten haben . Dieser
Welpenschutz ist jetzt aber vorbei .
Es ist keine Frage des Ob, sondern eine Frage des Wie,
wenn es um die Gestaltung der Digitalisierung geht . Wir
müssen Antworten geben, und ich glaube, die Digitalisierung gibt eher Antworten, als dass sie Fragen stellt .
Wir betreten bei der Digitalisierung jeden Tag Neuland . Es gibt Umbrüche, und wir müssen diese nutzen .
Wir setzen uns im Deutschen Bundestag an die Spitze der
Bewegung . Lassen Sie uns etwas Gutes daraus machen!
Der Ausschuss Digitale Agenda ist ein gutes Werkzeug
dafür .
({0})
Ich schließe die Aussprache .
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
der Drucksache 18/12130 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . Hat jemand
Einwände dagegen? - Das ist nicht der Fall . Dann ist die
Überweisung so beschlossen .
Ich rufe den Zusatzpunkt 8 auf:
Eidesleistung der Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Der Herr Bundespräsident hat mir mitgeteilt, dass er
heute gemäß Artikel 64 Absatz 1 des Grundgesetzes für
die Bundesrepublik Deutschland auf Vorschlag der Frau
Bundeskanzlerin die Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Frau Manuela Schwesig,
aus ihrem Amt als Bundesministerin entlassen und Frau
Dr . Katarina Barley zur Bundesministerin für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend ernannt hat .
Nach Artikel 64 Absatz 2 des Grundgesetzes leistet
eine Bundesministerin bei der Amtsübernahme den in
Artikel 56 vorgesehenen Eid . Frau Dr . Barley, ich darf
Sie zur Eidesleistung zu mir bitten .
({0})
Ich bitte Sie, den im Grundgesetz vorgesehenen Eid zu
leisten .
Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des
deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze
des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann
üben werde .
Sie haben den im Grundgesetz vorgesehenen Eid geleistet . Ich darf Ihnen für die Übernahme dieses Amtes
alle guten Wünsche - auch des Hauses - mit auf den Weg
geben . Viel Erfolg .
Vielen Dank .
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, neben den guten
Wünschen für die neue Bundesministerin möchte ich auch
der ausgeschiedenen Ministerin, Manuela Schwesig, den
Dank des Hauses für die geleistete Arbeit aussprechen
und ihr alle guten Wünsche für möglicherweise bevorstehende neue Aufgaben mit auf den Weg geben .
({0})
Vielleicht müssen jetzt nicht alle hier im Plenarsaal
nach vorne zur Gratulation kommen, damit wir in der
Debatte fortfahren können . - Ich darf Sie bitten, wieder
Platz zu nehmen .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 40 auf:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an EUNAVFOR MED Operation SOPHIA
Drucksache 18/12491
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . - Ich höre dazu
keinen Widerspruch . Dann ist so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache . Das Wort hat für die Bundesregierung Bundesminister Sigmar Gabriel .
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir sprechen heute über die Verlängerung des
Mandats der Operation EUNAVFOR MED Sophia . Das
ist zunächst natürlich eine ganz konkrete und spezifische
Frage . Aber ich glaube, dass man sich bei dieser Debatte bewusst sein muss, dass wir uns in einer Zeit fundamentaler Verschiebungen in der Welt befinden, in einer
Zeit, in der alte Gewissheiten in vielerlei Hinsicht nicht
mehr gelten: eskalierende Konflikte, instabile Staaten,
verstärkte Migrationsbewegungen in Richtung Europa,
aber vor allen Dingen auch Migration zwischen armen
Ländern .
Auf der einen Seite gibt es wachsende Unsicherheit .
Auf der anderen Seite stellt sich für uns das Problem,
dass wir nicht mehr so richtig sehen, wer noch als Partner
in der Welt zur Verfügung steht, um solche Herausforderungen menschlich, demokratisch und friedfertig zu lösen . Die gestrige Entscheidung der neuen US-Regierung
unter Donald Trump, sich aus dem Pariser Klimaschutzabkommen zu verabschieden, hat natürlich, wenn es in
den kommenden Jahren dabei bleibt, die dramatische
Konsequenz, dass dadurch ein Grund mehr für Migration, für Flucht, für Krieg und Bürgerkrieg existiert . Es
geht um Wasser, um das bisschen Land in manchen Regionen, auf dem man überhaupt noch etwas anbauen kann .
Deswegen geht es oftmals nicht nur um die klassischen
Gründe für Flucht und Vertreibung, die schlimm genug
sind, sondern auch um sehr langfristige Entwicklungen
wie den Klimawandel, der Menschen die Lebensgrundlage nimmt . Deswegen ist das Verabschieden aus einem
internationalen Klimaschutzabkommen gleichzeitig eine
Abwendung vom Kampf gegen die Ursachen von Flucht,
Vertreibung und Migration. Das ist, finde ich, eine außerordentlich schlimme Entwicklung .
({0})
Das zeigt eben, dass wir selbst mit dem, was wir früher
„den Westen“ genannt haben, bei Themen wie Migration
und deren Ursachen nicht mehr die gleiche Sichtweise
haben und schon gar nicht die gleiche Sprache finden.
Europa - das ist die feste Überzeugung der Bundesregierung - muss sich in Anbetracht dieser Verschiebungen dazu aufraffen, mehr Verantwortung für seine eigene
Sicherheit und für die Gestaltung internationaler Politik
zu übernehmen . Das ist gar nicht so einfach, weil Europa nicht als weltpolitischer Akteur gegründet wurde,
sondern eher nach innen ausgerichtet ist . Wir lernen erst,
dass es eine Aufgabe ist, unsere Ideen zur Zusammenarbeit und zur Inangriffnahme der großen Aufgaben und
Herausforderungen in der Welt stärker als Europäer und
nicht nur als einzelne Mitgliedstaaten vertreten zu müssen . Wir brauchen jetzt mehr denn je ein gemeinsames
und entschlossenes Handeln, um die Herausforderungen
durch instabile Staaten in unserer Nachbarschaft, durch
Flucht und ungesteuerte Migration zu bewältigen .
Zu Beginn dieser Woche hatte ich wesentliche internationale Akteure in diesem Bereich zu Gast: das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, die Internationale
Organisation für Migration, die Internationale Föderation der Gesellschaften vom Roten Kreuz und vom Roten
Halbmond . Alle sagen einhellig: Die Herausforderungen,
die wir durch Flüchtlingsbewegungen und Migration erleben, beginnen erst .
Alle sagen einmütig: Wir werden manchmal auch
den Einsatz militärischer Mittel brauchen, um Schlimmeres zu verhindern . Aber nirgendwo, in keinem Konflikt, werden wir einen Konflikt allein durch militärische
Mittel bewältigen und zur Stabilisierung beitragen . Ganz
im Gegenteil: Nur Investitionen in Krisenprävention, in
Vorbeugung, in die Bekämpfung des Hungers und der
Armut, nur die Schaffung von Perspektiven bieten die
Chance, diese Herausforderung wirklich zu bewältigen .
({1})
240 Millionen Menschen, so sagen die Organisationen, sind weltweit in Bewegung . 65 Millionen davon sind Flüchtlinge . Anders als wir es in Europa und
Deutschland manchmal empfinden, finden 90 Prozent all
dieser Flucht- und Migrationsbewegungen gerade nicht
bei uns, sondern im globalen Süden statt . Das heißt aber
doch nichts anderes, als dass die Hauptlast diejenigen
tragen, die ohnehin schon arm sind und die es ohnehin
schon viel schwerer haben .
Dazu kommen die zersetzenden Auswirkungen des
Handels mit Menschen als Gesellschaftsmodell für kriminelle Organisationen und Schleuser, Korruption,
schlechte Regierungsführung und natürlich auch Terrorismus, Waffen- und Drogenhandel . Skrupellos bringen
Menschenhändler jeden Tag Menschen auf dem Mittelmeer in Lebensgefahr .
Die EUNAVFOR MED Operation Sophia soll - das
ist ihre zentrale Aufgabe - den Schleusern das menschenverachtende Handwerk legen . Die Soldatinnen und Soldaten der Operation, zurzeit auch 100 aus Deutschland,
haben seit Juni 2015 über 38 700 Opfer dieser Kriminellen vor dem Ertrinken bewahrt . Sie haben 416 Schleuserboote versenkt und 112 mutmaßliche Schleuser festgenommen .
Ich weiß, dass es manchmal Diskussionen darüber
gibt, ob wir durch die Operation nicht vielleicht die
Schleuser noch ermutigen, nach dem Motto „Es gibt ja
Leute, die sie retten werden“ . Aber ich glaube, dass man
sich diesen Rettungsaktionen nicht entziehen kann . Fast
40 000 Menschen wurden dort gerettet . Diese so gewaltige Zahl macht deutlich wird, dass die Operation wirklich
nötig ist .
({2})
Im Rahmen der Unterstützung für die Durchsetzung
des Waffenembargos haben allein die deutschen Einheiten 202 Schiffe kontrolliert . Ich möchte daher heute zuerst all jenen danken, die im Mittelmeer Menschen aus
Seenot retten .
({3})
Unser Dank gilt den Frauen und Männern der deutschen Marine, die auf den Schiffen dienen . Mein Dank
gilt aber auch den Freiwilligen der Nichtregierungsorganisationen, den Helferinnen und Helfern auf den Handelsschiffen, und er gilt der europäischen und der italienischen Küstenwache, die täglich im Einsatz sind .
Ich möchte ausdrücklich auch der italienischen Regierung von Premierminister Gentiloni danken . Italien stellt
sichere Häfen für Flüchtlinge und Migranten, und es ist
vor allem ein Zeichen der Mitmenschlichkeit, dass Italien so viele gerettete Menschen aufnimmt .
({4})
Aber dieser Dank darf uns nicht dazu verleiten, zu
glauben, dass das unendlich möglich ist . Die Italienerinnen und Italiener ({5})
- der Kollege Müller ruft völlig zu Recht dazwischen:
„Wir dürfen sie damit nicht alleine lassen“ - bewahren
uns zurzeit davor, dass viele Gerettete nach Deutschland
kommen, weil sie sie nicht durchwinken . Jetzt kann man
sagen: Vielen Dank .
Aber die Steigerung der Zahlen gegenüber denen aus
dem letzten Jahr um inzwischen fast 50 Prozent zeigt,
dass natürlich auch Italien an die Grenze seiner Belastung kommt . Deswegen muss es darum gehen, dass wir
in Europa zu einem fairen Verteilungssystem kommen .
Aber ich glaube nicht, dass uns das gelingt, wenn wir
nicht generell auch an anderen Stellen in Europa besser
zusammenarbeiten .
Ich bin der festen Überzeugung: Nur wenn wir Initiativen für Wachstum und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und der Jugendarbeitslosigkeit in Europa aus
deutscher Sicht und mit anderen starken Ländern der Europäischen Union voranbringen, wenn wir auch anderen
Ländern helfen wie Italien, Frankreich oder Griechenland, wird dort die Bereitschaft wachsen, mit uns in der
Migrationsfrage zusammenzuarbeiten .
Eine Politik, die sich sozusagen der einen Sache verweigert, aber die andere einfordert, wird scheitern, meine Damen und Herren . Nur wenn wir die Politik für ein
stärkeres Wachstum, für Flexibilität der Länder, die sich
auf den Reformweg machen, und für Hilfe für Süd- und
Westeuropa voranbringen, dann werden auch andere bereit sein, mitzumachen . Denn es ist nicht nur Osteuropa,
das sich der Verteilung der Flüchtlinge widersetzt, sondern es sind gerade auch die Länder, die zum alten - in
Anführungsstrichen - „Westeuropa“ gehören und die
Deutschland eher als Hinderer ihrer wirtschaftlichen
Entwicklung wahrnehmen und sich deshalb auch der Zusammenarbeit in der Migrationsfrage sehr verweigern .
Beides gehört zusammen .
({6})
Unmenschlich allerdings ist das zynische Geschäftsmodell der Schleuser . Ein Menschenleben zählt für sie
gar nichts; Hauptsache, die Überfahrt ist bezahlt . Die
Schleuser nutzen die Einnahmen, um die Stabilität in
Libyen zu unterwandern; denn der Zusammenbruch in
Libyen hat ihnen rechtsfreien Raum gelassen . Die Operation, die wir heute hier beschließen, leistet einen unverzichtbaren Beitrag zur Eindämmung der Aktivitäten
und der Aushebelung des Geschäftsmodells der Schleuser; denn wir wollen natürlich nicht, dass Libyen weiter
destabilisiert wird .
Aber die Operation ist nur ein Teil dessen, was wir
mit Blick auf die Lage in Libyen tun und tun müssen .
Wir müssen sie nüchtern betrachten . Die Sicherheitslage
ist instabil . Die Umsetzung des von den Vereinten Nationen vermittelten „Libyschen Politischen Abkommens“
stockt . Präsidialrat und libysche Einheitsregierung sind
weiterhin nicht in der Lage, gesamtstaatlich zu agieren .
Wenn es, wie zuletzt, positive Zeichen gibt, gerät der
Prozess schnell wieder durch gewalttätige Extremisten
unter Druck .
Wir dürfen in dieser Lage nicht zuschauen und abwarten, so schwierig Ergebnisse auch zu erreichen sind .
Wir Europäer müssen uns im Klaren sein: Ein instabiles
Libyen an der Schengen-Außengrenze, wenn sie auch
eine Seegrenze ist, gefährdet uns als Nachbarn direkt und
unmittelbar und birgt die Gefahr, dass das Mittelmeer immer mehr zu einem gigantischen Friedhof wird .
Eine Stabilisierung Libyens und eine Bewältigung des
Flüchtlingsdramas im Mittelmeer können wir übrigens
nur mit einem gemeinsamen europäischen Antritt schaffen . Was in Libyen zu erheblichen Schwierigkeiten führt,
ist, dass dort immer unterschiedliche Länder agieren,
und zwar einerseits die als ehemalige Kolonialstaaten
wahrgenommenen Länder wie Italien und Frankreich,
andererseits wir und andere . Was Libyen braucht, ist ein
gemeinsamer europäischer Antritt und eine gemeinsame
europäische Strategie, aber nicht eine Politik, in der sich
unterschiedliche Länderinteressen widerspiegeln .
({7})
Die langfristigen Ziele der Bundesregierung sind natürlich, mit der EU in Libyen und darüber hinaus in den
Ländern der südlichen Nachbarschaft der Europäischen
Union Stabilität zu fördern, in den Herkunfts- und Transitstaaten der Region staatliche Strukturen, Konfliktlösung und besseres Migrationsmanagement zu unterstützen und die Lebensperspektiven der Menschen in ihren
Heimatländern zu erhalten . Wir sind - das sage ich auch,
weil Gerd Müller hier ist - gemeinsam der Überzeugung,
dass man manchmal Militär braucht, aber nur alles zusammen am Ende Stabilität schafft . Deshalb ist das, was
wir dort gemeinsam machen, gut angelegt .
Bilateral unterstützt Deutschland als einer der größten Geldgeber Libyen . Mit der internationalen Stabilisierungfazilität, die wir initiiert haben, setzen wir konkrete
Projekte in allen Teilen des Landes um . Über den Fonds
kann rasch handfeste Hilfe geleistet werden . Wir unterstützen die Stärkung der Kommunen, die Verbesserung
der Dienstleistungen, wir fördern Versöhnungs- und Mediationsinitiativen; zudem leistet die Bundesregierung
humanitäre Hilfe, um die Not zu lindern .
Die Europäische Union hat eine zivile Mission für
Libyen, die Mission EUBAM Libyen, und ist weiter
dabei, von Tunis aus die Arbeitsgrundlagen zu schaffen . Deutschland und die Europäische Union unterstützen zudem die Mission der Vereinten Nationen unter
Leitung des Sondergesandten Martin Kobler . Darüber
hinaus treibt die Bundesregierung die Umsetzung der
EU-Migrationspartnerschaften voran .
Aber eines müssen wir auch klarmachen: Wir können
bei diesem Zustand vor Ort nicht darüber nachdenken,
externe Auffanglager für Flüchtlinge unter diesen Bedingungen zu organisieren . Wer einmal die Bilder der sogenannten Detention Centres gesehen hat, die nichts anderes als übelste Gefängnisse sind, der versteht, warum ein
Botschafter den politisch nicht ganz richtigen Vergleich
gewählt hat, als er uns vor ein paar Monaten geschrieben
hat, dort herrschten KZ-ähnliche Zustände .
Es muss der internationalen Staatengemeinschaft gelingen, diese Detention Centres unter die Kontrolle der
Vereinten Nationen bei Einhaltung der Standards des
UNHCR zu stellen . Wir müssen im Zweifel auch bereit
sein, dafür Sicherheitskräfte zur Verfügung zu stellen .
Anders kann man das nicht machen .
({8})
Herr Minister, wenn Sie nicht als Minister, sondern als
Abgeordneter hier reden würden, dann müsste ich Ihnen
jetzt ganz dringend empfehlen, zum Schluss zu kommen .
Ich darf Sie darum auch im Interesse der nachfolgenden
Rednerinnen und Redner bitten .
Frau Präsidentin, das müssen Sie auch dem Minister
gegenüber . Deswegen bin ich auch fertig . - Ich glaube,
wir sind uns über das einig, was wir mit der Mission erreichen wollen, aber auch darüber, was gerade mit Blick
auf diese Lager in nächster Zeit dort zu geschehen hat .
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
({0})
Vielen Dank . - Der Kollege Stefan Liebich hat jetzt
das Wort für die Fraktion Die Linke . Bitte schön .
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Lieber Herr Gabriel, Sie haben ja eben am ganz großen
Rad gedreht . Dabei ging es um das neue Europa, um den
Klimawandel, um Hilfe für Kommunen sowie um die
Rettung Ertrinkender . Das ist alles sehr schön, und vielem davon würden wir auch zustimmen . Nur hat das mit
dem, worüber wir heute reden, gar nichts zu tun .
({0})
Sie haben hier einen Antrag gestellt, in dem etwas ganz
anderes steht . Wenn Sie Ertrinkende retten wollten, Herr
Gabriel und Herr Kauder, dann könnten Sie das einfach
machen . Sie könnten Schiffe ins Mittelmeer schicken,
und Sie müssten nicht einmal den Bundestag um Zustimmung bitten . Ich vermute aber, der Bundestag würde dem
sogar zustimmen .
({1})
Was wir hier heute diskutieren, hat einen ganz anderen Grund . Hier liegt ein konkreter Mandatsantrag der
Bundesregierung vor, dass bis zu 1 000 Soldatinnen und
Soldaten in einen bewaffneten Einsatz ins Mittelmeer geschickt werden sollen, und zwar um Flüchtlingsströme
zu beobachten, die libysche Küstenwache auszubilden
und die NATO bei ihrer Operation Sea Guardian zu unterstützen . Nennen wir es beim Namen: Es geht Ihnen
hier mit diesem Antrag gar nicht um Hilfe, es geht um
Flüchtlingsabwehr . Sie sagen das sogar in Ihrer Begründung . In dem Antrag - wir alle haben ihn natürlich aufmerksam gelesen - steht:
Angesichts . . . des hohen Migrationsdrucks auf der
zentralen Mittelmeerroute … haben die Staats- und
Regierungschefs der EU . . . einen Zehn-Punkte-Plan
verabschiedet, der darauf zielt, Ansätze für die Bewältigung der Migrationsproblematik . . . zu entwickeln .
Sie wollen eine weitere Abschottung der Europäischen
Union . Wir wollen das nicht, wir sagen dazu Nein .
({2})
Getroffen haben sich Angela Merkel und ihre Kolleginnen und Kollegen übrigens auf Malta im Mittelmeer,
buchstäblich umgeben von den Leichen Tausender, die
bei ihrer Flucht ertrunken sind .
({3})
- Ja, das müssen Sie sich anhören . - Allein in diesem
Jahr sind 1 720 Männer, Frauen und Kinder - im letzten
Jahr waren es über 5 000 - ertrunken . Und die nahezu
täglich verbreiteten Meldungen - man merkt es hier an
den Reaktionen - sind schon fast eine mörderische Realität geworden . Man vergisst, innezuhalten . Ich möchte
das hier tun . Auch Sie möchte ich bitten, mit mir in einem
Moment der Stille an die Väter, Mütter und Kinder zu
denken, die einfach nur ein besseres Leben wollten und
dieses darüber verloren haben . - Ich danke Ihnen dafür .
Wenn Sie wirklich etwas dagegen tun wollen, wenn
Sie wirklich etwas gegen Schleuser bzw . Kriminelle tun
wollen, Herr Gabriel, die die Not und das Leid der Menschen ausnutzen, um damit Geld zu verdienen - da gebe
ich Ihnen ja recht -, dann gibt es nur einen Weg: Wir
müssen ihnen die Geschäftsgrundlage entziehen . Wir
brauchen legale Einreisemöglichkeiten .
({4})
Einen Kampf „Militär gegen Schleuser“ bei geschlossenen Grenzen können Sie nicht gewinnen . Dieser
Kampf ist aussichtslos . Die Zahlen belegen das . Ja, es
sind einige Schleuser festgenommen und an italienische
Behörden übergeben worden . Im gleichen Zeitraum aber
hat die Zahl derer, die sich auf die Schleuser eingelassen
haben und in diese wackeligen Gummiboote geklettert
sind, nicht abgenommen, sondern zugenommen . Hunderttausende Menschen warten an den Küsten von Libyen auf eine Überfahrt . Und seit Sie mit Ihren Freunden
Erdogan und Orban die Balkanrouten geschlossen haben,
werden es immer mehr . Wenn das irgendwann enden soll,
dann müssen nicht die Flüchtenden, sondern die Fluchtursachen bekämpft werden .
({5})
Sie machen allerdings das Gegenteil . Was ist das für
eine menschenverachtende Politik, Waffen in alle Welt
zu verkaufen und nicht einmal einen Stopp der Lieferungen in Kriegs- und Krisengebiete zu erreichen? Wenn
dann die Opfer dieser Kriege und dieser Gewalt hierherkommen, versuchen wir, sie mit Militär zu stoppen .
Dafür wollen Sie die libysche Küstenwache stärken, die
laut Sea-Watch mutwillig Flüchtlingsboote rammt und
die Flüchtlinge dann ertrinken lässt . Das ist eine Küstenwache, die laut den Vereinten Nationen mit den Schmugglern, die Sie ja angeblich bekämpfen wollen, zusammenarbeitet, um Profit zu machen. Diese Küstenwache
bringt die Menschen in ein Land zurück, in dem sexueller
Missbrauch und Versklavung von Flüchtlingen an der Tagesordnung sind . Genau diese Küstenwache trägt dazu
bei, dass die Menschen in die Detention Center kommen,
die Sie gerade kritisiert haben . Da fragt man sich schon,
was in Ihren Köpfen los ist .
({6})
Machen Sie endlich etwas, was wirklich mutig ist .
Wir müssen die militärische Abschottungslogik beenden . Kein Stacheldraht, keine Mauer aus Stein und keine Mauer aus Militärschiffen wird die millionenfachen
Fluchten beenden . Nur der Einsatz für eine gerechtere,
friedlichere, sozialere Welt und, ja, der Kampf gegen
den Klimawandel sind die richtigen Antworten . Ich weiß
schon: Das sind sehr langfristige Aufgaben . Aber wenn
wir diese nicht anpacken, dann wird es uns nie gelingen .
Das ist der einzige Weg, der funktionieren wird .
({7})
Vielen Dank . - Für die CDU/CSU-Fraktion spricht
jetzt Jürgen Hardt .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Am 30 . Juni 2015 hat die deutsche Marine im Rahmen
von EUNAVFOR MED Operation Sophia mit ihrer
systematischen Beteiligung an der Linderung der extrem bedrückenden Zustände vor der libyschen Küste
begonnen . Vorangegangen waren in den Wochen zuvor
Seenotrettungsoperationen deutscher Schiffe . Angesichts
der hohen Zahl ertrunkener Menschen vor der libyschen
Küste mussten wir etwas tun . Aber wir müssen mehr
tun, als nur Seenotrettungsoperationen durchführen . Wir
müssen auch dem Schleuserunwesen das Handwerk legen . Die Operation hat in den letzten beiden Jahren über
400 Schleuserboote zerstört sowie zahlreiche Schleuser
festgesetzt und den Gerichten zugeführt . Sie hat fast
40 000 Menschen aus Seenot gerettet, allein die deutsche
Marine über 20 000 . Das ist eine beachtliche Zahl . Dafür verdienen die Soldatinnen und Soldaten an Bord der
Schiffe unseren Dank .
({0})
Wir haben zudem den Waffenschmuggel vor der libyschen Küste unterbinden können . Gegenwärtig wird
für den Kampf gegen den Waffenschmuggel der Tender
„Rhein“ eingesetzt . Genau das ist der Grund, warum wir
das Bundestagsmandat brauchen . Wir wollen die Bundeswehr in die Lage versetzen, Schiffe, die im Verdacht
stehen, an Bord Waffen und Munition zu haben, und sich
einer Durchsuchung widersetzen, notfalls unter Anwendung robuster militärischer Mittel zu durchsuchen . Genau deshalb ist dieser Einsatz mandatierungspflichtig.
Wichtig ist ebenfalls, dass wir mit Daten zum Lagebild erheblich beitragen . Die Informationen werden im
Übrigen im europäischen Operation Headquarter zusammengetragen . Diese Operation ist genauso wie andere
Operationen der Europäischen Union ein gutes Beispiel
dafür, dass Europa in diesem Bereich etwas kann . Ich
finde es gut, dass unsere Bundeskanzlerin, aber auch die
Bundesverteidigungsministerin, die französische Verteidigungsministerin und die Europäische Kommission mit
Jean-Claude Juncker als Präsidenten in diesen Wochen
und Monaten konkrete Vorschläge dafür machen, wie Europa seinen Beitrag zu seiner eigenen Sicherheit und zur
Bewältigung globaler Krisen durch eine verstärkte gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik - Stichwort „Verteidigungsunion“ - erhöhen kann . Ich glaube,
dass wir in diesem Jahr einen Quantensprung erleben
werden . Die entsprechenden Instrumente im EU-Vertrag
sind vorhanden . Dann werden solche Operationen wie
EUNAVFOR MED Operation Sophia in einem größeren
Zusammenhang - inklusive parlamentarischer Kontrolle - auf europäischer Ebene durchgeführt werden; das
finde ich sehr gut.
Deutschland ist an diesem Einsatz mit dem Tender
„Rhein“ beteiligt, der von Souda auf Kreta aus operiert .
Ich bin 1985 mit der Fregatte „Augsburg“ in Souda gewesen und hatte gemeinsam mit dem Ortungsoffizier
den Auftrag, die logistische Infrastruktur dieses alten
britischen Kriegshafens zu untersuchen . Wir haben das
damals für höchst überflüssig gehalten. Wir haben nicht
verstanden, warum die deutsche Marine wissen muss, wo
dort Wasser- und Stromanschlüsse sind . Wir haben dann
erlebt, dass in Souda der Minenräumverband der Marine
nach dem ersten Golfkrieg stationiert wurde . Heute ist
daraus eine wichtige Basis für NATO-Schiffe und europäische Schiffe in dieser Region geworden .
Ich möchte noch darauf eingehen, was der Minister
angesprochen hat - dem stimme ich uneingeschränkt
zu -, nämlich dass eine nachhaltige Lösung der Probleme
im Mittelmeerraum und insbesondere vor der libyschen
Küste nur möglich ist, wenn wir unsere zivilen und politischen Möglichkeiten zur Gänze ausschöpfen .
Unser Ziel muss sein, den Staat Libyen in die Lage zu
versetzen, in eigener Verantwortung und unter Wahrung
humanitärer, rechtsstaatlicher Grundsätze diesem Schleuserunwesen Einhalt zu gebieten und den Flüchtlingen in
Libyen eine vorübergehende Heimstätte zu bieten, in der
wir guten Gewissens unsererseits unterstützend tätig sein
können . Die Flüchtlinge in Libyen müssen in Einrichtungen untergebracht sein, in denen sie nicht nur, was die
Hygiene, Essen und Trinken, Gesundheit, sondern auch
was Schule und Bildung für Kinder angeht, vergleichbar
gute Voraussetzungen finden, wie sie in anderen Teilen
der Welt gegeben sind .
Wir müssen den libyschen Flüchtlingen die Möglichkeit geben, herauszufinden, ob es für sie einen legalen
Weg nach Europa geben kann . Wenn das Ergebnis ist,
dass sie legal nicht nach Europa kommen können, dann
müssen wir ihnen zusammen mit ihren Herkunftsländern
Vorschläge machen, wie sie in ihr Land zurückgehen
können, sodass diejenigen, die noch in ihren Heimatländern sind, zum Beispiel in Mali, zum Beispiel in Burkina
Faso, zum Beispiel im Senegal sind, sehen, dass es keinen Sinn macht, einem Schlepper Tausende von Dollar
in die Hand zu drücken, um nach Libyen an die Mittelmeerküste gebracht zu werden, sondern dass man besser
in der Heimat bleibt und darauf vertraut, dass Europa als
Völkergemeinschaft hilft .
({1})
Wir sind von diesem Punkt leider noch sehr weit entfernt . Dem stehen erhebliche Widerstände entgegen . Wir
haben in Libyen gegenwärtig keinen konkreten, verlässlichen Ansprechpartner, weder was die Regierungsseite
noch was die parlamentarische Vertretung angeht . Wir
haben auch im Hinblick auf Polizei und Küstenwache erhebliche Probleme . Deswegen ist es enorm wichtig, dass
wir sehr sorgfältig auswählen, wen wir in dieser Mission, die wir dort gemeinsam mit anderen im Rahmen von
Sophia durchführen, ganz konkret ausbilden . 89 Küstenwachpolizisten sind ausgebildet worden . Jetzt gibt es
einen neuen Lehrgang mit 20 Teilnehmern . Ich glaube,
diese Personen werden auf griechischem Boden auf Herz
und Nieren geprüft, sodass man mit bestem Wissen und
Gewissen sagen kann, dass wir da Menschen ausbilden,
die ihre Verantwortung sauber wahrnehmen .
Wir werden im Auswärtigen Ausschuss in der nächsten Sitzungswoche den Antrag der Bundesregierung auf
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an EUNAVFOR MED Operation Sophia sorgfältig
prüfen . Die Obergrenze bleibt die gleiche . Der Auftrag
bleibt der gleiche . Wir werden die Gelegenheit nutzen,
uns noch einmal intensiver mit den Fortschritten zu beschäftigen . Ich bin zuversichtlich, dass wir dieses Mandat hier in der übernächsten Sitzungswoche verlängern .
Herzlichen Dank .
({2})
Vielen Dank . - Als Nächste spricht Agnieszka
Brugger, Bündnis 90/Die Grünen .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nach
Angaben der Vereinten Nationen war 2016 mit über
5 000 Menschen, die vor den Toren Europas ertrunken
sind, das tödlichste Jahr im Mittelmeer . Wenn der Kollege Liebich hier um einen kurzen Gedenkmoment bittet,
dann ist das, finde ich, eigentlich kein Moment, wo man
quatscht und lacht, liebe Kolleginnen und Kollegen .
({0})
Die Tragödie wäre noch weitaus größer, wenn nicht
Soldatinnen und Soldaten, zivile Seenotrettungsinitiativen und auch Handelsschiffe Zehntausenden von Menschen das Leben gerettet hätten . Ihnen allen kann man
nur von Herzen danken .
({1})
Unter sehr schwierigen, sehr belastenden Bedingungen
zeigen sie mit ihrem selbstlosen Einsatz den humanitären
Geist und die Verantwortung, die viele Mitgliedstaaten
der Europäischen Union mit ihrer Abschreckungs- und
Abschottungspolitik nur allzu oft vermissen lassen . Trotz
der beeindruckenden Rettungsleistung ist auch die Mission EUNAVFOR MED, über die wir heute hier diskutieren, ein Baustein dieser falschen Politik . Nach wie vor
ist die Hauptaufgabe nämlich die gefährliche militärische
Schlepperbekämpfung, und nach wie vor hält die Bundesregierung, halten die europäischen Mitgliedstaaten an
den Plänen fest, sobald es irgendwie geht, auch an Land
dann gegen die Schlepper in Libyen vorzugehen .
Ja, viele Schlepper nutzen die verzweifelte Notlage
der Geflüchteten grausam aus. Wenn man ihnen die Geschäftsgrundlage aber wirklich wirksam entziehen will,
dann braucht es doch nicht militärische Antworten, sondern eher polizeiliche und vor allem aber auch sichere
und legale Fluchtwege .
({2})
Dann soll die Mission auch noch die libysche Küstenwache ausbilden . Es ist immer ein großes Risiko, wenn es
darum geht, in einem Land, in dem politische Kontrolle,
politische Führung fehlen, Sicherheitskräfte auszubilden .
Es gibt doch die Berichte der Nichtregierungsorganisationen, die ganz klar sagen, dass ein Teil der Küstenwache
auch ein Teil des Problems ist und mit den Schleppern
zusammenarbeitet . Dazu hört man von der Bundesregierung nichts . Gerade läuft über die dpa-Ticker, dass Sie
für den nächsten Ausbildungsdurchgang keine verlässlichen Partner für die Ausbildung finden. Das ist doch auch
ein Zeichen dafür, dass der Baustein dieses Mandats alles
andere als unproblematisch ist .
({3})
Als dritte Aufgabe soll die Mission die Aufgabe haben, Waffenschmuggel zu unterbinden . Das ist theoretisch auch sinnvoll, doch wenn einige Mitgliedstaaten
wie Italien ihre eigene Agenda verfolgen, dann ist auch
dieser Auftrag am Ende nicht wirkungsvoll, und sinnlos .
Mit dem neuen Mandat kommt ein vierter Auftrag hinzu: die Kooperation mit der NATO-Mission Sea Guardian, wo man auch sagen muss: Mit Mandatsklarheit hat
das am Ende nicht mehr viel zu tun .
Es ist ein Mandat mit vier problematischen Aufträgen . Erfolgreich ist es vor allem bei einer Aufgabe, die
im Mandat eben nur nebenbei als völkerrechtliche Verpflichtung aufgeführt ist und angesichts der anderen,
problematischen Aufgaben auch in den Hintergrund zu
geraten droht . Ja, über 30 000 Menschen sind aus Seenot gerettet worden . Gemessen am dramatischen Sterben
im Mittelmeer ist das aber zu wenig . Es können und es
müssen mehr Menschen gerettet werden . Dafür bräuchte
es aber eine flächendeckende, eine funktionierende und
vor allem eine langfristig finanzierte europäische Seenotrettung .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist doch schon
beschämend, dass private Seenotrettungsinitiativen
dieses Versagen der Mitgliedstaaten der Europäischen
Union auffangen müssen . Wenn nun aber der Chef von
Frontex, wenn Abgeordnete aus der Union im Bundestag, im Europäischen Parlament den Retterinnen und
Rettern vorwerfen, dass sie das Geschäft der Schlepper
betreiben, dass sie Beihilfe dazu leisten, Menschenleben
zu gefährden, wenn der österreichische Außenminister
Sebastian Kurz gar fordert, dass der NGO-Wahnsinn im
Mittelmeer beendet werden muss, dann ist das mehr als
blanker Zynismus .
({4})
Diese Haltung hat auch nichts mehr mit Menschlichkeit
und mit Verantwortung zu tun; sie ist ethisch und völkerrechtlich hochproblematisch und unhaltbar .
Diese Aussage entbehrt vor allem auch jeder empirischen Grundlage . Es gibt mittlerweile eine Reihe von
wissenschaftlichen Analysen der Zahlen, die glasklar widerlegen, dass es einen solchen Effekt gibt . Zur Lektüre
empfehle ich die jüngste Studie aus Oxford . Die Menschen, die sich hier engagieren, verdienen nicht wahrheitswidrige Beleidigungen und Beschimpfungen, sondern sie verdienen unseren Dank und nochmals unseren
Dank .
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, statt dass die Bundesregierung dieses Mandat endlich ehrlich und kritisch
überprüft und ihre Abschottungspolitik beendet, die ja
auch wirkungslos ist, die die eigenen Ziele nicht erreicht .
Herr Gabriel, wenn Sie das wirklich ernst meinen - mit
vielem, was Sie gesagt haben, haben Sie recht; die Zustände in den Lagern in Libyen sind grauenerregend -,
dann erwarte ich schon von der Bundesregierung, dass
Sie hier nicht nur stehen und schöne Reden halten, sondern dass Sie das auch wahrmachen und im Kabinett
durchsetzen . Es ist Ihr Kollege Thomas de Maizière, der
Innenminister, der immer wieder die Idee mit den Lagern
in Libyen, mit dem Zurückbringen der Flüchtlinge ins
Gespräch bringt . Sorgen Sie dafür, dass damit ein für alle
Mal Schluss ist und dass die Bundesregierung hier eine
klare Haltung hat .
({6})
Sorgen Sie auch dafür, dass die Diskussionen, einen
ähnlich dreckigen Deal wie mit der Türkei zu machen,
endlich vom Tisch kommen, und dafür, dass es bei der
Grenzsicherung keine Kooperation mit Libyen gibt .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es passt einfach
nicht zusammen, hier nur schöne Reden zu halten und
die Toten im Mittelmeer zu beklagen und gleichzeitig
eine solche falsche Politik und solche zynischen Pläne
fortzusetzen . Was es stattdessen braucht, sind legale und
sichere Fluchtwege, eine engagierte Bekämpfung der
Fluchtursachen, vor allem eine effektive zivile europäische Seenotrettung .
Vielen Dank .
({7})
Vielen Dank . - Als Nächstes hat Dr . Reinhard Brandl,
CDU/CSU-Fraktion, das Wort .
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Lassen Sie mich eines vorausschicken: EUNAVFOR
MED Operation Sophia ist eine gute Mission, und wir
werden der Mission nach den Beratungen in den Ausschüssen auch zustimmen .
Aber die Mission zeigt auch das Dilemma, in dem
wir bei der Bekämpfung von illegaler Migration im Mittelmeer stecken . Das Ziel der Mission ist die Bekämpfung der Schleuserkriminalität . Der Erfolg der Mission
ist, dass bis heute 38 000 Menschen aus Seenot gerettet worden sind . Meine Damen und Herren, der bittere
Beigeschmack des Erfolgs ist - das wurde immer wieder
angesprochen -, dass die Schlepper mittlerweile die Rettung mit einkalkulieren und die Flüchtlinge aus Kostengründen mitunter in Boote setzen, die gar nicht geeignet
sind, bis nach Italien zu kommen . Sie kalkulieren also
damit, dass die Flüchtlinge auf dem Weg dorthin gerettet
werden .
Die Lösung, liebe Frau Brugger, ist nicht, die Mission
einzustellen . Das fordern wir auch nicht . Selbst wenn wir
die Mission einstellen würden, würden sich immer noch
Menschen in Boote setzen, würden immer noch Menschen ums Leben kommen .
({0})
Die Lösung dieses Dilemmas kann nur an Land, in Libyen, erfolgen . Wenn es nicht gelingt, in Libyen ein
Mindestmaß an Frieden, an Stabilität, an Sicherheit und
Entwicklung zu gewährleisten, wird sich diese humanitäre Katastrophe, die wir in den Lagern, die wir auf hoher
See erleben, absehbar noch verschlechtern . Wir sehen
das doch an der Entwicklung der Flüchtlingszahlen . In
diesem Jahr sind bereits 54 000 Flüchtlinge aus Libyen
in Italien angekommen - 45 Prozent mehr als im Vorjahr .
Wir wissen, dass es, wenn die Entwicklung im Sommer
so weitergeht, am Ende des Jahres 300 000 sein werden .
Im letzten Jahr waren es 180 000, und wir wissen aus
vielen Schätzungen von IOM und des UNHCR, dass sich
in Libyen noch circa 700 000 bis 1 Million Menschen
aufhalten und auf eine Überfahrt warten . Um dieser Katastrophe etwas entgegenzusetzen, braucht es internationale Hilfe vor Ort in Libyen . Aber die kann nur erfolgen, wenn es zumindest eine Perspektive auf Frieden und
Aussöhnung gibt .
Meine Damen und Herren, da gibt es in den letzten
Wochen durchaus zarte Pflanzen, Signale der Hoffnung,
die wir vernehmen . Die Nachbarstaaten Algerien, Tunesien, Ägypten übernehmen Stück für Stück Verantwortung . Es ist zumindest gelungen, gemeinsame Gespräche
der Konfliktparteien in Abu Dhabi zu organisieren. Ich
weiß auch, dass diese gemeinsamen Gespräche noch lange keinen Frieden bedeuten und noch lange kein tragfähiges Ergebnis darstellen . Aber es ist immerhin besser,
wenn die Konfliktparteien miteinander reden, als wenn
sie nicht miteinander reden würden .
Wir können das auch unterstützen - Bundesminister
Gabriel hat es vorhin angesprochen -, indem wir als Europäer eine konsistente Politik gegenüber diesen Ländern
verfolgen und nicht jeder differenziert seine eigenen Interessen verfolgt . Wir müssen vor allem verhindern, dass
in Libyen ein Stellvertreterkrieg entsteht . Was wir auch
erkennen, ist, dass zum Beispiel Ägypten oder Russland,
wenn sie auf der Seite des Generals Haftar stehen, ihre
eigene Politik verfolgen . Erst wenn ein StellvertreterAgnieszka Brugger
krieg verhindert werden kann, kann die Hilfe, die Minister Müller fordert, nämlich UNHCR-Standards auch
in den Flüchtlingslagern in Libyen durchzusetzen, wirkungsvoll einsetzen .
Dass die Politik der Migrationspartnerschaften wirkt,
sieht man am Beispiel Niger . Niger war eines der Haupttransitländer der Flüchtlinge . Im letzten Jahr sind nach
Schätzungen von IOM über 300 000 Flüchtlinge durch
Niger in Richtung Libyen gegangen .
({1})
Wir haben in diesem Jahr durch die Zusammenarbeit mit
der EU erreicht, dass es nur noch wenige Zehntausend
sind, die durch Niger gegangen sind .
({2})
Das heißt, die Hilfe wirkt . Diese Hilfe müssen wir fortsetzen - in den Nachbarländern und sobald als möglich
auch in Libyen selbst .
({3})
Das ist der richtige Ansatz . EUNAVFOR MED ist ein
wichtiger Baustein, aber es ist nicht die Lösung . Den
Soldaten, die für uns diesen Auftrag erfüllen, rufe ich zu:
Wir danken euch für euren Einsatz, für euer Engagement,
für euren Dienst!
Meine Damen und Herren, wir werden nach intensiven und konstruktiven Beratungen in den nächsten Wochen voraussichtlich dieses Mandat auch verlängern, und
ich bitte dafür schon jetzt um Ihre Zustimmung .
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit .
({4})
Vielen Dank . - Jetzt hat Volker Mosblech für die
CDU/CSU-Fraktion das Wort . Bitte schön .
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Libyen - das
ist ein volatiler Brandherd in direkter Nachbarschaft zu
Europa und Deutschland; Libyen - das ist ein Land, in
dem unterschiedlichste Gruppierungen, Stämme und
Warlords um Macht, Geld und Einfluss kämpfen; Libyen - das ist die libysche Bevölkerung, die unter den
Kämpfen und der Mangelversorgung am stärksten leidet .
Ausgehend von diesem Konfliktfeld debattieren wir
heute über die Verlängerung der EUNAVFOR MED
Operation Sophia . Wir alle wissen, dass Sophia keine
Musterlösung für die eben skizzierten Probleme in Libyen sein kann und auch nicht den Anspruch darauf erhebt .
EUNAVFOR MED gliedert sich als ein Mosaikstein in
den langwierigen Prozess der Stabilisierung des Landes
ein, den wir gemeinsam in der EU vorantreiben .
Die Entscheidung für einen militärischen Einsatz auf
hoher See war in Anbetracht der schwierigen Lage vor
Ort notwendig . Die militärischen Kräfte der EUNAVFOR
MED Operation Sophia entfalten allein durch ihre Anwesenheit eine abschreckende Wirkung; nicht Abschreckung - wie es die Linke kolportiert - von Flüchtlingen,
sondern von Schleppernetzwerken und Waffenschmugglern .
({0})
Auch benötigt man diesen bewaffneten Einsatz, um
die illegale Einfuhr von Waffen nach Libyen aktiv zu
unterbinden . Zivile Fähren, wie von den Linken gefordert, hätten wohl schlecht das Anfang Mai von Tender
„Rhein“ aufgebrachte, mit zahlreichen Waffen beladene
Motorboot stoppen können . Ein Boot, das mit Maschinengewehren, Mörsern, Panzerabwehrwaffen und haufenweise Munition beladen ist, kann man nun einmal
nicht mit freundlichem Zureden und bemalten Protestplakaten stoppen . Hierfür benötigen wir ein robustes
Mandat . Unsere top ausgebildeten Soldatinnen und Soldaten kooperieren mit unseren internationalen Partnern .
EUNAVFOR MED operiert dabei vor der Küste Libyens
in einem klar definierten Handlungsrahmen, um Waffenschmuggel nach Libyen zu verhindern, Schleuseraktivitäten zu unterbinden sowie bei der Ausbildung der
libyschen Küstenwache behilflich zu sein. In allen drei
genannten Bereichen konnten wir seit Beginn der Operation wichtige Erfolge verzeichnen und erste Grundsteine
für eine funktionierende libysche Küstenwache legen .
Neben dem offiziellen Aufgabenspektrum erfüllen
unsere Männer und Frauen in Uniform auch eine weitere, enorm wichtige Aufgabe wie die Seenotrettung . Bis
Mitte Mai konnten dank EUNAVFOR MED über 38 Personen aus dem Wasser gerettet werden . Mein ganz spezieller Dank gilt unseren Soldatinnen und Soldaten vor der
libyschen Küste, die unter größten Anstrengungen ihren
Dienst leisten und sich darüber hinaus für die Rettung
von in Seenot geratenen Menschen einsetzen .
({1})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, militärische
Lösungen stehen niemals für sich alleine, sondern betten sich in einen umfassenden Ansatz ein . Libyen wird
sich nicht schlagartig aufgrund von Marineschiffen vor
der Küste stabilisieren, aber wir leisten unseren Beitrag
und unsere Hilfe dort, wo wir sie leisten können, wo sie
von der libyschen Einheitsregierung gebraucht wird . Natürlich müssen wir auch langfristige Ziele angehen, das
Bildungssystem und die Gesundheitsversorgung verbessern, einen funktionierenden Rechtsstaat aufbauen, die
Zivilgesellschaft stärken und eine Versöhnung der konkurrierenden Konfliktparteien anstreben. Das sind alles
Punkte, die wir in unseren umfassenden Ansatz bereits
berücksichtigen . Mit uns wird das unter der kompetenten
Leitung von Martin Kobler mit Versöhnungs- und Mediationsinitiativen und finanziellen Mitteln für humanitäre Hilfe und Wiederaufbau in Libyen gelingen . Aber
ein Land, in dem Sicherheit an vielen Orten ein FremdDr. Reinhard Brandl
wort ist, in dem die öffentliche Ordnung in der Hand von
teils fragwürdigen Milizen liegt, in dem mehr Waffen als
Menschen sind und in dem kriminelle Schmugglernetzwerke grassieren, braucht eine robuste Unterstützung
und militärische Hilfe zur Selbsthilfe .
Unsere Bundeskanzlerin hat erst kürzlich deutlich gemacht, dass wir in Zusammenarbeit mit unseren europäischen Partnern mehr Verantwortung für unsere eigene
Sicherheit übernehmen müssen, dass die EU enger zusammenrücken muss, um die anstehenden Aufgaben in
unserer direkten Nachbarschaft erfolgreich zu meistern .
Minister Gabriel hat gerade einiges dazu gesagt .
Wie ich eingangs sagte, sind Libyen, der gesamte
Maghreb und Nordafrika direkte Nachbarn von Europa .
Somit liegt es in unser aller Interesse, dort unterstützend
und stabilisierend zu wirken mit den notwendigen und
erbetenen Fähigkeiten, die unser Land und die Europäische Union zu bieten haben . Die CDU/CSU stellt sich
dieser Verantwortung und unterstützt die Verlängerung
der EUNAVFOR MED Operation Sophia .
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche trotz
des ernsten Themas ein frohes Pfingstfest.
({2})
Vielen Dank . - Damit ist die Aussprache beendet .
Die Fraktionen haben sich darauf verständigt, dass
die Vorlage auf Drucksache 18/12491 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen wird .
Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall .
Dann ist so beschlossen .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 41 auf:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der „United Nations Interim Force in Lebanon“ ({0})
Drucksache 18/12492
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({1})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen . - Ich höre auch
hierzu keinen Widerspruch . Dann ist so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache . Das Wort hat Achim Post,
SPD-Fraktion .
({2})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nach dieser Debatte über den Bundeswehreinsatz im
Mittelmeer habe ich mich gefragt: Wie oft haben wir
in diesem Hause, in diesem Plenarsaal schon über die
schwierige ja dramatische Lage im Nahen und Mittleren
Osten geredet, wie oft über den nicht enden wollenden
Krieg in Syrien, über den Krieg im Jemen, über den
Machtkampf zwischen Iran und Saudi-Arabien, über die
Lage in Israel und Palästina, wo Verhandlungen, wo ein
Frieden weiter entfernt ist als in den letzten Jahren, sogar Jahrzehnten? Wie oft haben wir darüber geredet, was
unsere, was Deutschlands Fähigkeiten, Möglichkeiten,
Einflussmöglichkeiten sind? Und wie oft haben wir in
diesem Zusammenhang auch darüber geredet, dass wir in
manchen, in vielen Fragen hilflos und ohnmächtig sind?
Vielleicht ist es deshalb gut, dass wir heute über den
Libanon reden, über ein Land, bei dem wir etwas tun
können, bei dem wir etwas tun und bei dem wir weiter
etwas tun müssen, liebe Kolleginnen und Kollegen . Der
Libanon ist ein kleines Land, das vor vielen Herausforderungen steht . Diese Herausforderungen sind sicherheitspolitischer Natur, ökonomischer Natur, sozialer Natur
und humanitärer Natur . Auch wenn es nach monatelanger
Blockade jetzt eine neue Regierung gibt, bleibt die Lage
fragil . Sie ist weit entfernt von einem nachhaltigen Frieden . Ich glaube, wir sind uns alle einig, dass es bemerkenswert ist, dass der Libanon in dieser Situation noch
nicht zusammengebrochen, noch nicht auseinandergefallen ist . Wer hilft dabei? Die UN-Mission UNIFIL . Sie ist
aus Sicht meiner Fraktion ein unersetzlicher Stabilitätsanker, liebe Kolleginnen und Kollegen .
({0})
Heute geht es um ebendiese Mission . Es geht um
die Beteiligung deutscher Soldatinnen und Soldaten am
UNIFIL-Flottenverband . Das Mandat soll um ein weiteres Jahr verlängert werden, bis zum 30 . Juni 2018 . Für
meine Fraktion kann ich eindeutig sagen: Wir befürworten das Mandat . Ich will Ihnen dafür drei gute Gründe
nennen:
Der erste Grund . UNIFIL ist ein Garant für den Waffenstillstand . Seit fast 40 Jahren engagieren sich die UN
im Libanon . Immer wieder wurde und wird so der Ausbruch kriegerischer Handlungen oder gar eines Krieges
zwischen dem Libanon und Israel verhindert . Die Wahrheit ist doch: Der Waffenstillstand bleibt fragil . Deswegen lautet die erste Frage, die wir uns stellen müssen,
wenn wir über UNIFIL reden: Wollen wir die Waffenruhe zwischen Israel und dem Libanon aufs Spiel setzen, ja oder nein? Ich bin mir sicher, dass die übergroße
Mehrheit dieses Hauses das nicht will; denn UNIFIL ist
ein wichtiger Stabilitätsanker, nicht nur für den Libanon,
sondern auch für die gesamte Region .
Die Bedrohung durch ISIS und durch al-Qaida wächst .
Der Libanon steht innen- und außerpolitisch unter enormem Druck . Die UN unterstützen UNIFIL . Gemeinsam
verhindern sie, so gut es geht, das Überschwappen des
Syrien-Konfliktes. UNIFIL stabilisiert nicht nur die syrisch-libanesische Grenze, sondern indirekt auch die libanesisch-israelische Grenze . Damit sorgt UNIFIL auch
für die Sicherheit Israels .
({1})
Das ist die erste Komponente von UNIFIL .
Die zweite Komponente betrifft die See . Diese Aufgabe besteht vor allem in der Aufklärung und Überwachung des Seegebietes, der seewärtigen Sicherung der
libanesischen Küste und der nachhaltigen Hilfe für die
libanesischen Streitkräfte . Die Bundesrepublik beteiligt
sich seit 2006 mit der deutschen Marine am Flottenverband . Seit 2006 unterstützen deutsche Soldatinnen und
Soldaten mit großem Engagement und hoher Kompetenz
die libanesischen Streitkräfte . Dafür gebührt ihnen der
Dank von uns allen .
({2})
Die Fähigkeiten der libanesischen Marine haben sich
verbessert, aber es fehlen weiterhin seetüchtige und einsatzbereite Einheiten . Deshalb sollten wir unser Engagement fortsetzen .
Das bringt mich zu einem zweiten Grund für UNIFIL .
UNIFIL ist auch ein klares politisches Bekenntnis . Mit
unserer Beteiligung unterstützen und stärken wir die Vereinten Nationen . Deshalb lautet die zweite Frage: Wollen
wir uns jetzt von dem politischen Bekenntnis verabschieden? Ich hielte das für unverantwortlich . Es ist wichtig,
dass wir als internationale Gemeinschaft zusammenhalten, gerade in Zeiten, in denen die USA überlegen, ob
sie, wie im Haushaltsausschuss der Vereinten Nationen
angekündigt, massive finanzielle Einschnitte vornehmen
wollen . Die Verhandlungen darüber sind nicht zu Ende .
Deshalb ist es umso wichtiger, dass wir unser Engagement fortsetzen - für Prävention, für Kooperation und für
nachhaltigen Frieden .
({3})
Der dritte Grund für die Fortsetzung des Mandats ist
der Drei-Parteien-Mechanismus . UNIFIL bietet eine einzigartige Plattform für den direkten Austausch zwischen
Israel und dem Libanon . Die UN sind Streitschlichter
und Vermittler zugleich . Auch deswegen ist UNIFIL unentbehrlich . Deshalb lautet die dritte Frage: Dürfen wir
riskieren, dass der Gesprächsfaden abreißt? Die Antwort
lautet: Nein, liebe Kolleginnen und Kollegen, das dürfen
wir nicht . Im Gegenteil: Es gilt, unsere humanitäre Hilfe
zu verstetigen und gegebenenfalls zu erhöhen . Seit 2012
hat Deutschland insgesamt über 750 Millionen Euro zur
Verfügung gestellt . An dieser nachhaltigen Hilfe sollten
wir festhalten .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein zusätzliches Argument ist: Der Libanon und Israel schätzen das deutsche
Engagement . Sie bitten uns um Hilfe, und wir sollten ihnen diese Hilfe nicht verweigern .
({4})
Zusammengefasst: Alleine kann der Libanon nicht
gegen alle Herausforderungen ankämpfen . Es ist unsere
Verantwortung, den Libanon zu unterstützen, und zwar
zur Bekämpfung des Terrorismus und zur Stabilisierung
der Region . Letztendlich ist dies zu unserem eigenen
Nutzen . Der Generalsekretär der Vereinten Nationen,
António Guterres, hat recht: Wir dürfen den Libanon
nicht alleinlassen . Wir müssen weiter zur Stabilisierung
des Landes beitragen . - Ich bin mir sicher, dass der Deutsche Bundestag seiner Verantwortung gerecht werden
wird .
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit .
({5})
Vielen Dank . - Für die Linken hat jetzt Wolfgang
Gehrcke das Wort .
({0})
Danke sehr, Frau Präsidentin . - Ich möchte mit Fragen beginnen: Was müsste Deutschland eigentlich tun,
um zu erreichen, lieber Kollege Post, was du angesprochen hast, nämlich dass es nicht nur im Libanon einen
Waffenstillstand gibt - was schon wichtig ist -, sondern
auch in Syrien? Was müsste Deutschland tun, um den
UNO-Vermittler de Mistura besser zu unterstützen? Was
müsste Deutschland in dieser Region tun, um Israel deutlich zu machen, dass es sich als Teil des Nahen Ostens
verstehen muss, damit aus einem Waffenstillstand ein
Friedensschluss werden kann? - Ich möchte Ihnen dazu
einige Vorschläge unterbreiten .
Wir waren immer für Waffenstillstand . Ich war zu der
Zeit, als dort der Krieg tobte, in Beirut und habe die Raketen- und Bombenanschläge nicht nur gesehen, sondern
auch gespürt . Die Hetze gegen die UNO, sie sei unfähig,
ist nur ein Kaschieren des Zustands, dass der UNO nicht
die entsprechenden Mittel zur Verfügung gestellt werden .
Das muss man ändern . Ich bin dafür, die UNO und die
Vermittlungsbemühungen der UNO zu stärken,
({0})
aber nicht militärisch . Meine Sorge war immer, dass
Deutschland seine politischen Möglichkeiten kleiner
macht, wenn wir auf Militär setzen und militärisch agieren . Ich mache Ihnen einen Vorschlag - die sozialdemokratischen Kollegen können vielleicht einmal darüber
nachdenken -: Wäre es nicht ein erster Schritt, zu sagen: „Wir werden uns kategorisch dafür einsetzen, dass
Deutschland sich an keinerlei Waffenlieferungen in den
Nahen Osten beteiligt, und überall eine nichtmilitärische
Lösung befördern“? Ich will kurz einige Punkte ansprechen .
Wieso bauen wir die Waffenlieferungen nach Saudi-Arabien weiter auf und nicht ab? Sie kritisieren zu
Recht den amerikanischen Präsidenten; Sie finden das
alles furchtbar und unanständig . Gleichzeitig müsste dies
aber Anlass zur Selbstkritik sein, wie sich unser Land gegenüber Saudi-Arabien, einer Kopf-ab-Diktatur, verhält .
Warum vermeiden Sie das?
({1})
Achim Post ({2})
Müssten wir nicht völlig klar sagen, dass das Leasing
bewaffneter Drohnen aus Israel, die Stationierung dieser
Drohnen und die Ausbildung der sogenannten Piloten
in Israel eine Katastrophe ist? Man muss mit Israel darüber reden, dass sie an ihren Grenzen mehr Sicherheit
erhalten, wenn sie mit den Palästinensern zu einer Regelung kommen und es eine Zwei-Staaten-Lösung gibt . Die
Chance auf eine Zwei-Staaten-Lösung ist geringer, wenn
Deutschland Waffen liefert . Deutschland liefert überallhin Waffen .
Meinen Sie nicht, dass wir gemeinsam dafür sorgen
müssen, dass die AWACS-Flugzeuge nicht mehr in Syrien eingesetzt werden? Sie sollten nicht nur aus der Türkei
abgezogen werden, sondern dieser Einsatz sollte generell
beendet werden . Und glauben Sie nicht, dass wir darüber
reden sollten, keine atomwaffenfähigen U-Boote mehr
an Israel zu liefern und zu verkaufen? Mit solch einer
Politik würden wir im Nahen Osten einen ganz anderen
Weg gehen .
Zu diesen Entscheidungen war die Bundesregierung
nie fähig und bereit . Sie hat immer auf eine militärische
Lösung gesetzt; das haben wir immer kritisiert . Deswegen sagen wir - wir wissen, dass dies eine schwierige
Entscheidung wäre -: Der Krieg in Israel und die Lage
im Libanon machen einen Waffenstillstand unter dem
Dach der Vereinten Nationen notwendig . Das bedeutet
nicht, dass sich Deutschland militärisch daran beteiligen
muss . Deswegen werden wir Nein sagen . Daran hat sich
nichts geändert . Ich biete Ihnen aber an - daran haben
wir ein großes Interesse -, mit Ihnen und allen anderen
über Fragen eines nichtmilitärischen Agierens im Nahen
Osten zu diskutieren .
Danke .
({3})
Vielen Dank . - Jetzt hat die Bundesregierung das
Wort . Es spricht der Parlamentarische Staatssekretär
Dr . Ralf Brauksiepe . Bitte schön .
({0})
Vielen Dank . - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Wir haben soeben über die Operation Sophia debattiert . Es ist deutlich geworden, dass die Situation in Libyen einen Krisenherd in der Region darstellt .
Wir sehen täglich das Leid der syrischen Bevölkerung
und die unzähligen Flüchtlinge, die das schreckliche Regime und der Bürgerkrieg dort auslösen . Es ist gerade vor
diesem Hintergrund überhaupt nicht selbstverständlich,
dass wir im Libanon, in diesem dicht besiedelten sehr
kleinräumigen Gebiet, seit Jahren eine Situation haben,
die vergleichsweise stabil ist . Das hat etwas mit der internationalen Gemeinschaft und ihrem Engagement zu
tun und damit, dass wir anerkannter und geachteter Teil
dieses internationalen Engagements sind .
({0})
Die Mission UNIFIL mit derzeit rund 11 000 Soldatinnen und Soldaten aus 40 Staaten ist ein besonders
wichtiger Stabilitätsfaktor im Nahen und Mittleren Osten, gerade in dieser Region . Mit dieser Mission unterstützen wir seit vielen Jahren die Friedensentwicklung
des Libanon . Sie ist bereits seit dem Jahr 1978 dort aktiv .
Es ist ihr auch zu verdanken, dass im Libanon positive
politische Entwicklungen zu verzeichnen sind . Die Wahl
von Michel Aoun zum neuen libanesischen Präsidenten
nach einer langen Periode des Vakuums an dieser Stelle
und die sich anschließende Regierungsbildung sind ein
gutes jüngeres Beispiel dafür .
Die Mission UNIFIL und ihre substanzielle Verstärkung bereits im Jahr 2006 haben hierzu einen wichtigen
Beitrag geleistet . Aber wir dürfen uns nicht täuschen lassen: Der Libanon ist weiterhin keineswegs eine Insel der
Stabilität . Er ist ein Land, das natürlich auch von anderen
Krisenfaktoren in der Region massiv betroffen ist, insbesondere durch den Krieg in Syrien, durch die Terrororganisationen IS und al-Qaida und auch dadurch, dass die
Hisbollah im Süden des Landes agiert und sich auf syrischem Boden militärisch zugunsten Assads engagiert .
All dies sind ernsthafte Herausforderungen für Frieden
und Stabilität im Libanon . Die vergleichsweise stabile
Situation dort ist alles andere als selbstverständlich .
Wir sollten auch nicht vergessen, dass derzeit nahezu
2 Millionen Flüchtlinge in diesem Land leben, das selbst
lediglich rund 6 Millionen Einwohner umfasst . Der libanesische Staat ist damit verständlicherweise an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit gelangt .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, unser Engagement
im Rahmen von UNIFIL ist weiter gefordert und in der
Region auch ausdrücklich erwünscht . Ich will in Erinnerung rufen, dass sich Libanon und Israel offiziell nach
wie vor im Kriegszustand befinden. UNIFIL bleibt deswegen ein ganz wichtiger Rahmen auch zum Austausch
zwischen diesen beiden Nachbarländern, deren friedliches Zusammenleben auch für uns so wichtig ist .
Seit dem Jahr 2006 beteiligen wir uns mit der Bundeswehr an der Marinekomponente von UNIFIL . Ziel
unseres Einsatzes ist und bleibt die Befähigung der libanesischen Marine zum Schutz ihrer eigenen Seegrenzen .
Darunter fällt die Unterstützung bei der Seeraumüberwachung genauso wie die Ausbildung der libanesischen
Marine . Deutschland stellt derzeit eine Korvette und hält
rund 120 Soldatinnen und Soldaten im Einsatz . Die bisher geltende Obergrenze von 300 Soldatinnen und Soldaten soll bestehen bleiben . Damit wird es uns auch im
nächsten Jahr möglich sein, ohne Einschränkungen auf
dem bereits Erreichten aufzubauen und weiterhin unseren wichtigen Beitrag zu dieser Mission zu leisten .
Unsere Beteiligung an UNIFIL ist eingebettet in das
ganzheitliche Engagement der Bundesregierung für den
Libanon und die Region . Das knüpft auch an das an, was
wir schon im Zusammenhang mit der Mission Sophia
heute Morgen diskutiert haben und worauf der Bundesaußenminister und der Bundesentwicklungshilfeminister
schon hingewiesen haben . Es ist klar und unbestreitbar:
Wir werden uns ganzheitlich beteiligen, nicht nur mit
Soldatinnen und Soldaten . Unser Ansatz umfasst politiWolfgang Gehrcke
sche, entwicklungspolitische und natürlich sozioökonomische Maßnahmen in der Region .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen uns
für den Einsatz unserer Soldatinnen und Soldaten nicht
zu entschuldigen . Ich sage das nicht rechtfertigend . Es
bedarf all dieser Komponenten, und dazu gehört auch die
Komponente der Soldatinnen und Soldaten . Wir können
stolz sein auf ihren Einsatz; wir können ihnen dankbar
sein für den Einsatz, den sie leisten . Sie sind Teil eines
ganzheitlichen Ansatzes, ein wichtiger Teil, keiner, den
wir verstecken müssten . Es ist ein Einsatz, der in der Region gewünscht wird und um dessen Fortsetzung ich Sie
herzlich bitte .
Danke schön .
({1})
Vielen Dank . - Jetzt hat Omid Nouripour für Bündnis 90/Die Grünen das Wort .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
Bundeswehr beteiligt sich seit 2006 an UNIFIL . Bereits
seit 2006 stimmt meine Fraktion diesem Einsatz stets mit
großer Mehrheit zu, auch deswegen, weil die Beteiligung
an UNIFIL eine der Bedingungen für den Waffenstillstand war . Dies zu erwähnen, hat der Kollege Gehrcke
gerade leider versäumt .
({0})
Es ist, wie gerade schon erwähnt wurde, ein Einsatz,
der von beiden Konfliktparteien erwünscht ist. Dieser
Umstand ist gerade bei einer VN-Mission nicht selbstverständlich. Wir sehen gerade bei ganz vielen Konflikten, allen voran dem Konflikt in Syrien, dass es dort keine gemeinsame Macht gibt, die sich in die Mitte stellt .
Deshalb ist es gut, dass es UNIFIL gibt, gerade auch,
weil die Konfliktparteien das wollen.
({1})
UNIFIL hat zwei Aufgaben . Die eine Aufgabe umfasst
die Überwachung des Friedens, im Falle der Bundeswehr
im maritimen Bereich . Die zweite Aufgabe betrifft die
Ausbildung der Streitkräfte . Das ist für den Libanon gerade angesichts der schwachen Staatlichkeit ganz wichtig . In einem so konfessionalisierten Land braucht es eine
staatliche Institution, die überkonfessionell Vertrauen genießt . Das sind die Streitkräfte . Deshalb ist es gut, dass
wir dort helfen .
Seit der Erteilung des letzten Mandats haben sich zwei
Dinge im Libanon massiv geändert . Das eine ist, dass
es endlich eine Regierung gibt . Zweieinhalb Jahre und
45 Wahlgänge hat es gedauert, bis sie einen Präsidenten
hatten . Man kann über den Präsidenten und die Art und
Weise der Regierungsbildung vieles sagen, aber richtig
ist, dass es jetzt endlich so etwas wie Staatlichkeit gibt .
Diese Staatlichkeit braucht Unterstützung, damit sie das
Land weiterhin stabilisieren kann . Das Zweite, was sich
im Libanon geändert hat, ist, dass die Konflikte zwischen
Hisbollah und Israel gerade durch das aggressive Vorgehen der Hisbollah auf der Seite von Assad in Syrien massiv zugenommen haben und die Spannungen größer werden . Diese beiden Gründe sind aus unserer Sicht weitere
Bestärkungen dafür, dass man diesen Einsatz fortsetzen
muss . Deshalb kann ich bereits an dieser Stelle sagen,
dass wir dem Einsatz mit großer Mehrheit zustimmen
werden .
Wenn wir über Stabilität sprechen - der Herr Staatssekretär hat gerade von ganzheitlichen Ansätze gesprochen -, dann will ich noch einiges über Libanon sagen,
die achtzigst kleinste Volkswirtschaft der Welt mit einer
Rate bei der Flüchtlingsaufnahme, die es weltweit nicht
noch einmal gibt .
Libanon braucht ganz dringend unsere Unterstützung;
das ist hier an vielen Stellen gesagt worden . Wir sind gerade in einer besonders dramatischen Situation, weil der
US-Präsident angekündigt hat und es auch so in seinem
Budgetentwurf verschriftlicht, dass die Vereinigten Staaten von Amerika massiv Geld streichen werden bei den
UN-Hilfsorganisationen, beim UNHCR, dem Flüchtlingswerk, genauso wie beim Welternährungsprogramm .
Das ist sehr dramatisch, insbesondere für Libanon . Man
muss darüber nachdenken, wie man das auffängt . Aber
man muss selbstverständlich auch mit den Amerikanern
darüber reden, was das bedeutet .
Ich erwähne das an dieser Stelle, weil es gerade in der
Union einige Leute gibt, die wie selbstverständlich sagen: Na ja, dann geben wir 2 Prozent für Militär aus; das
ist unsere internationale Verpflichtung, das bringt mehr
Sicherheit und beruhigt den amerikanischen Präsidenten . - Das ist so nicht richtig . Wir müssen den Amerikanern erklären, dass genau hier die richtigen Ausgaben für
Sicherheit ansetzen .
({2})
Nicht Geld zu verbrennen in ineffizienten Beschaffungsstrukturen bringt mehr Sicherheit, sondern Geld auszugeben für diejenigen, die in den Lagern sitzen und dringend
Hilfe brauchen . Das ist der größte Beitrag, den wir zur
Stabilität im Libanon leisten können .
({3})
Schauen Sie sich einmal die Situation gerade in den
kleineren Kommunen vor Ort an! Schauen Sie sich an,
welche Konflikte es um die Verteilung von Ressourcen
wie Strom und Wasser gibt . Es gibt Städte und Dörfer
mit drei oder vier Unterrichtsschichten: Vormittags werden die libanesischen Kinder in Französisch unterrichtet, nachmittags in drei Schichten die syrischen Kinder
in arabischer Sprache . Das zeigt, dass Libanon wirklich
jede Hilfe brauchen kann . Im Übrigen müssen wir weg
von der humanitären Hilfe . Wir müssen stattdessen dauerhafte Strukturen im Gesundheitsbereich und eine vernünftige Infrastruktur schaffen . Wir müssen mehr investieren . Beim Libanon wird es nicht mehr um humanitäre
Hilfe gehen, sondern um Entwicklungszusammenarbeit .
Auch hier gilt es, Geld richtig zu investieren, um Stabilität zu erreichen .
({4})
Vielen Dank . - Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist Florian Hahn, CDU/CSU-Fraktion .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der kleine und gesellschaftlich offene Libanon war schon
immer Spielball regionaler Mächte und der Interessen einiger westlicher Staaten . Seit bereits mehr als zehn Jahren ist er Schauplatz eines Kräftemessens um die neue
Machtbalance in der Region . Die Operation UNIFIL hat
einen wesentlichen und wichtigen Anteil daran, dass der
Libanon noch nicht im Chaos versunken ist und dass es
der syrische Bürgerkrieg bisher nicht geschafft hat, in das
Land überzuschwappen .
UNIFIL setzt ein Zeichen im von Krieg und Zerstörung, von Not und Elend geprägten Nahen Osten . Die
Mission macht Hoffnung, weil sie zeigt, wie durch nachhaltige praktische Zusammenarbeit über Jahre Kompetenzen und Sicherheit aufgebaut werden . Die Operation
UNIFIL dient der Begleitung der Waffenruhe zwischen
Libanon und Israel, unterstützt die libanesische Regierung bei der Grenzsicherung und hilft beim Kampf gegen
den Waffenschmuggel, und dies - wir haben es bereits
gehört - mit vollem Erfolg: Der Waffenschmuggel über
See ist praktisch zum Erliegen gekommen .
Der deutsche Beitrag dient neben der Beteiligung
an der maritimen Taskforce mit der Korvette „Braunschweig“ im Schwerpunkt dem Ausbau der Fähigkeiten
der libanesischen Marine . Auch bilateral engagiert sich
Deutschland bei Ausbildung, Ausstattung und beim Aufbau der maritimen Streitkräfte zur Überwachung der Seegrenzen .
Neben der Unterstützung der Marine sollen in diesem
Jahr weitere Projekte im Rahmen der deutschen Ertüchtigungsinitiative im Libanon umgesetzt werden . Der
Fokus liegt auf der Stärkung der Kapazitäten der libanesischen Armee zur Sicherung der Grenzen mit Syrien .
Wir müssen die Fähigkeiten der libanesischen Marine
so ausbauen, dass sie in der Lage ist, die südliche Küste
selbstständig zu überwachen .
Aber wie helfen wir darüber hinaus? Herr Gehrcke hat
es so dargestellt, als wenn wir hier nur militärisch unterwegs wären . Nein, Herr Gehrcke, das stimmt nicht . Sie
haben das, denke ich, wissentlich und ganz bewusst unter
den Tisch fallen lassen, weil Sie einen anderen Eindruck
erzeugen wollen . Die Beteiligung an UNIFIL ist nur ein
Teil eines umfassenden Engagements für den Libanon .
Deutschland ist einer der größten bilateralen Geldgeber .
Kooperationsschwerpunkte sind die Versorgung der palästinensischen Flüchtlingscamps, die Schul- und die
berufliche Bildung sowie die Nahrungsmittelsicherheit.
Seit 2012 hat das Entwicklungshilfeministerium dafür
590 Millionen Euro zur Verfügung gestellt . Das libanesische Bildungsprogramm RACE wurde seit 2014 mit über
142 Millionen Euro unterstützt . So konnte allein in den
Jahren 2016 und in diesem Jahr, 2017, für über 200 000
syrische Kinder der Schulbesuch gesichert werden .
Ich denke, dass wir diesen wichtigen Baustein bei der
Hilfe für den Libanon und bei der Hilfe, die Stabilität im
Libanon zu erhalten, brauchen . Daher ist es richtig, heute
zuzustimmen . Wir sollten entsprechend beraten .
Lassen Sie mich abschließend auf eines hinweisen:
Die deutsche Marine leistet nicht nur im Rahmen von
UNIFIL-Missionen einen hervorragenden Beitrag, sondern sie ist seit Jahren in einer ganzen Reihe von weiteren
Einsätzen gefordert . Sie operiert an der Belastungsgrenze und liefert dabei hervorragende Arbeit ab . Mein Dank
gilt deshalb den Soldatinnen und Soldaten, die fernab der
Heimat für ein Stück mehr Sicherheit und Stabilität in
dieser Region kämpfen .
({0})
Ich sage ganz ehrlich, Herr Kollege Nouripour: Ich
finde es gut, dass Sie dieses Mandat unterstützen und dass
Sie sich für den Einsatz unserer Soldatinnen und Soldaten ausgesprochen haben . Aber Sie können nicht auf der
einen Seite sagen, dass Sie sich für die Soldatinnen und
Soldaten in solch wichtigen Missionen einsetzen und auf
der anderen Seite weniger Geld für die Ausrüstung und
Ausbildung ausgeben wollen .
({1})
Nein, damit unsere Soldatinnen und Soldaten auch diesen Einsatz bestmöglich bestreiten können, brauchen wir
zusätzliche Investitionen in unsere Truppe .
({2})
Wenn die Bundeswehr sagt: „Wir dienen Deutschland“, dann sollten wir öfter sagen: Wir danken euch .
Herzlichen Dank .
({3})
Vielen Dank . - Damit ist die Aussprache beendet .
Die Vorlage auf Drucksache 18/12492 soll nach einer
interfraktionellen Vereinbarung an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden . Sind
Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall .
Dann ist so beschlossen .
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 42 a bis 42 c sowie
den Zusatzpunkt 9 auf:
42 . a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja Kipping, Sabine Zimmermann
({0}), Matthias W . Birkwald, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Programm für soziale Gerechtigkeit Konsequenzen aus dem Fünften Armutsund Reichtumsbericht
Drucksache 18/11796
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({2})
zu dem Antrag der Abgeordneten Norbert
Müller ({3}), Sabine Zimmermann
({4}), Sigrid Hupach, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion DIE LINKE
Kinder und Familien von Armut befrei-
en - Aktionsplan gegen Kinderarmut
Drucksachen 18/10628, 18/12454
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({5})
zu dem Antrag der Abgeordneten Norbert
Müller ({6}), Sigrid Hupach, Nicole
Gohlke, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE
Kinderrechte umfassend stärken
Drucksachen 18/6042, 18/11886 Buchstabe a
ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr . Wolfgang Strengmann-Kuhn, Kerstin
Andreae, Beate Müller-Gemmeke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Teilhabe statt Armut - Alle Menschen am
Wohlstand beteiligen
Drucksache 18/12557
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({7})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit
Interfraktionell wurde vereinbart, für die Aussprache
38 Minuten vorzusehen . Sind Sie damit einverstanden? Ich sehe allgemeines Nicken . Dann ist so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache . Das Wort für die Fraktion
Die Linke hat die Kollegin Sabine Zimmermann .
({8})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Die Union will in
dieser Wahlperiode gar nicht erst über den Armuts- und
Reichtumsbericht im Plenum diskutieren . Frau Merkel
sagt: Deutschland geht es gut .
({0})
Eine Diskussion über Armut passt da natürlich nicht
in Ihr Bild, Kolleginnen und Kollegen von der Union;
das ist völlig klar . Dabei ist die zunehmende Armut in
Deutschland eines der größten Probleme, das endlich angegangen werden muss .
({1})
Wenn Millionen Menschen in Armut leben, obwohl sie
arbeiten, können Sie doch nicht einfach wegschauen . Das
ist verantwortungslos von der Politik bzw . von Ihnen .
({2})
Ich bin seit 27 Jahren im Bereich der Arbeitsmarktund Sozialpolitik tätig, und ich habe schon viele Reformen mitgemacht, aber die Agenda 2010 - das muss ich
Ihnen ehrlich sagen - hat sehr viel Armut in unser Land
gebracht . Das kann man täglich sehen . Ich stelle fest, dass
die Menschen immer weniger Geld in der Tasche haben,
weil sie immer mehr bezahlen müssen für Energie, Wasser, Bus, Bahn, Bildung, Gesundheit und Pflege. Und Sie
stellen sich hier hin und erzählen den Bürgerinnen und
Bürgern, was für ein Jobwunder Sie bewirkt haben . Den
Preis für Ihr Jobwunder zahlen die Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer mit den niedrigen Löhnen, Menschen,
die zwei oder drei Jobs haben, Langzeiterwerbslose, die
nicht wissen, wie sie mit den Almosen über die Runden
kommen sollen .
Ich nenne Ihnen einmal die Zahlen, die Sie nie hören
wollen - das sind keine Zahlen der Linken, sondern Zahlen des BMAS, die wir angefragt haben -: Jeder zehnte
Beschäftigte ist heutzutage armutsgefährdet . 2,7 Millionen Menschen sind mittlerweile auf einen Zweitjob angewiesen . 1 Million Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter bekommen 50 Prozent weniger als die Stammbelegschaft .
6,4 Millionen Menschen sind im Hartz-IV-System gefangen . 1,7 Millionen Kinder wachsen in Armut auf . Zum
Thema Altersarmut: 2,7 Millionen über 65-Jährige sind
von Armut bedroht . Mittlerweile haben wir in Deutschland 1 000 Tafeln mit über 2 000 Ausgabestellen . - Und
Sie wollen nicht über Armut reden? Das ist Zynismus
pur .
({3})
Meine Damen und Herren von SPD, Bündnis 90/Die
Grünen und CDU/CSU - die FDP ist vier Jahre lang
nicht vermisst worden -, Ihre Agenda 2010 hat die Lohnspirale nach unten in Gang gesetzt, und die kann nicht
aufgehalten werden . Die Armut in diesem Land nimmt
zu . Sie kann sich nicht verstecken . Man kann sie auch
nicht wegdiskutieren . Wer sich dieser Diskussion nicht
stellt, der entzieht sich der Verantwortung für eines der
größten Probleme in unserem Land .
({4})
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
Ausgerechnet Altkanzler Schröder hat letztes Jahr den
Ludwig-Erhard-Preis für seine Arbeitsmarktreform bekommen . Diese Reform hat den Sozialstaat so geschliffen, dass er nicht mehr vor Armut schützt . Das ist das
Ergebnis Ihrer Reform, und das wird die Linke nie akzeptieren .
({5})
Meine Damen und Herren der SPD, ich muss Ihnen
ehrlich sagen: Es lohnt sich nicht, an der Agenda 2010
herumzudoktern . Sie müssen an den Kern der Agenda
gehen, und der Kern ist der Niedriglohnbereich . Der
muss bekämpft werden .
({6})
Sie haben dafür gesorgt, dass jede Arbeit zumutbar ist .
Qualifikationen sind nichts mehr wert, weil jede Arbeit
angenommen werden muss, egal zu welchen Bedingungen . Arbeiten rund um die Uhr und zu jedem Lohn ist angesagt, und das ist unsozial und spaltet die Gesellschaft .
({7})
Die Bürgerinnen und Bürger brauchen mehr Geld in
der Tasche . Das ist doch der Punkt .
({8})
Wenn sie mehr Geld in der Tasche haben, Kollege Bartke,
dann können sie auch mehr kaufen, und wenn sie mehr
kaufen können, dann muss mehr produziert werden, und
wenn mehr produziert wird, dann entstehen mehr Arbeitsplätze . Das ist der Kreislauf, an den Sie sich einmal
halten sollten .
({9})
Selbst unsere Nachbarn Frankreich und Belgien haben
sich bei der EU beschwert, weil Deutschland einen so
großen Niedriglohnsektor hat und sie damit einen Wettbewerbsnachteil haben .
({10})
- Hören Sie mir bitte zu!
Nach dem neuen Armuts- und Reichtumsbericht haben 40 Prozent der Erwerbstätigen weniger Einkommen
als 1999 . Das ist doch das Problem; darum müssen Sie
sich einmal kümmern . Im Gegensatz dazu hat sich die
Konzentration des Vermögens in Deutschland stärker
ausgeprägt . Die oberen 10 Prozent besitzen 60 Prozent
des Vermögens, während die untere Hälfte nur 1 Prozent
besitzt . Das sagt doch schon alles . Diese Entwicklung ist
pervers und asozial, und die Linke sagt: Die Umverteilung von unten nach oben muss endlich umgekehrt werden .
({11})
Es darf auch nicht sein, dass die Interessen der Reichen
in der Politik stärker vertreten werden als die Interessen
der Armen . Dieses Ergebnis der Studie hat die Bundesregierung in diesem Bericht einfach verschleiert .
Meine Damen und Herren, Einkommensreichtum
bedeutet ein hohes Maß an Gestaltungs- und Verwirklichungschancen . Das gilt aber auch andersherum: Armut
an Einkommen und Vermögen bedeutet, dass das eigene Leben nicht gestaltet werden kann . Es bedeutet, dass
man seinen Wohnsitz nicht frei wählen kann, weil die
Mieten überall steigen . Es bedeutet, dass man sich nicht
kleiden kann, wie man möchte . Es bedeutet, dass man
von sozialen Aktivitäten wie dem Besuch eines Kinos
oder eines Tierparks ausgeschlossen ist, weil man kein
Geld hat, und es bedeutet, dass man seinen Kindern nicht
das geben kann, was sie brauchen . Tun Sie endlich, was
das Grundgesetz mit dem Sozialstaatsgebot von Ihnen
verlangt! Tun Sie endlich etwas gegen die Spaltung der
Gesellschaft, meine Damen und Herren! Lesen Sie endlich einmal den Armuts- und Reichtumsbericht! Dann
bekommen Sie vielleicht eine Vorstellung davon, wie es
den Menschen geht, die in unserem Land kein Geld haben .
({12})
Vielen Dank . - Jetzt spricht Paul Lehrieder für die
CDU/CSU-Fraktion .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Ich freue mich, dass wir auch in dieser Woche eine Debatte über die Zukunft unseres Landes
führen, über unsere Kinder . Kinder brauchen Verlässlichkeit und Zuwendung in der Familie und in ihrem Umfeld .
({0})
Sie haben keinen Einfluss darauf, ob sie in einem Brennpunktviertel zur Welt kommen oder bei wohlhabenden
Eltern aufwachsen .
Leider ist unbestritten, dass es auch in unserem Land
Kinder gibt, die von Armut betroffen sind . Kinder aus
armen Familien haben oftmals keine echten Chancen auf
gleichberechtigte Teilhabe . Im Unterschied zu Erwachsenen haben sie selbst zudem kaum Möglichkeiten, ihre
Lage zu verbessern bzw. Einfluss auf ihre Lage zu nehmen . Frühe Armut prägt die Betroffenen von klein auf
und bleibt oft ein Leben lang bestehen . Es gibt sogar sogenannte vererbte Armut .
Arme Kinder wachsen sozial isolierter auf, haben
häufiger gesundheitliche Beschwerden und häufiger Probleme auf ihrem Bildungsweg als Gleichaltrige ohne finanzielle Sorgen . Obwohl Deutschland zu den reichsten
Ländern der Erde zählt, hat sich die Armutsrisikoquote
hierzulande erhöht, und zwar von 12 bis 14 Prozent auf
16 Prozent . Dazu muss man wissen: Die Armutsrisikoquote bezieht sich auf 60 Prozent des MedianeinkomSabine Zimmermann ({1})
mens . Wenn das Medianeinkommen durch Lohnsteigerungen wächst, kann man auch mit einem etwas höheren
Einkommen weiterhin von Armut bedroht sein .
({2})
- Herr Birkwald, stellen Sie eine Frage . Dann habe ich
mehr Zeit . - Laut den Zahlen des fünften Armuts- und
Reichtumsberichts sind alleinerziehende Mütter und Väter nach wie vor besonders von Armut betroffen, unter ihnen vor allem diejenigen ohne berufliche Qualifizierung.
Zwar ist der Anteil der Personen, die von erheblichen
materiellen Einbußen betroffen sind - Herr Birkwald, Sie
müssen zuhören -, zwischen 2013 und 2015 von 5,4 auf
4,4 Prozent zurückgegangen . Dennoch sind Armut und
soziale Ausgrenzung gerade von Kindern und Jugendlichen aus unserer Sicht mit einer Politik auf der Basis
eines christlichen Verständnisses nur schwer vereinbar .
Daher wollen wir allen Kindern und Jugendlichen faire Startchancen und optimale Entwicklungs- und Entfaltungsmöglichkeiten bieten . Das geht zum einen über eine
Beschäftigung der Eltern, mit der sie vernünftig verdienen, und zum anderen über Hilfen für die Kinder und für
die Familien .
Die Familien in unserem Land werden mit unzähligen
familienpolitischen Leistungen unterstützt, die Eltern ein
solides Auskommen sichern und Kinderarmut bekämpfen sollen, beispielsweise durch das Kindergeld, den
Kinderfreibetrag, den Ausbildungsfreibetrag, den Entlastungsbetrag für Alleinerziehende, welche die Steuerlast
senken können . Alleinerziehende und ihre Kinder sollen
darüber hinaus durch die Ausweitung beim Unterhaltsvorschuss besser unterstützt werden; das Gesetz, das wir
gestern im Rahmen der Verfassungsreform auf den Weg
gebracht haben .
Künftig soll der Unterhaltsvorschuss bis zum 18 . Lebensjahr gezahlt werden . Die maximale Bezugsdauer von
72 Monaten wird ab nächsten Monat entfallen . Mit dem
Kinderzuschlag werden Eltern im Niedrigeinkommensbereich unterstützt, die im ergänzenden ALG-II-Bezug
überdurchschnittlich oft vertreten sind . Er wurde im letzten Jahr um 20 Euro erhöht und liegt seit dem 1 . Januar
2017 bei maximal 170 Euro . Auch Kinderbetreuungskosten wirken sich steuermindernd aus .
Doch nicht allein die materielle Absicherung, sondern
auch das Lebensumfeld und die Bildungsmöglichkeiten
sind entscheidende Parameter für die Entwicklung von
Kindern . Der Zugang zu Bildung und Ausbildung sowie die soziale und kulturelle Teilhabe spielen bei der
Bekämpfung von Kinderarmut eine besondere Rolle . Je
höher der Bildungsgrad, desto eher sind die Menschen in
der Lage, für sich und ihre Familien selbst zu sorgen und
Armut durch Erwerbstätigkeit zu überwinden . Beschäftigung und mehr Bildung sind die Schlüssel zur Armutsvermeidung, meine sehr verehrten Damen und Herren .
Das wichtigste Mittel gegen Kinderarmut ist daher nach wie vor, die Eltern in Arbeit zu bringen; Herr
Birkwald, ich hatte bereits zu Beginn darauf hingewiesen .
({3})
- Mit ordentlichem Lohn . Auch das habe ich schon gesagt . Frau Zimmermann, danke, dass Sie mir so genau
zuhören . - Die Eltern brauchen Anreize für die Aufnahme von Arbeit, die entsprechende Infrastruktur und mehr
Chancen auf dem Arbeitsmarkt . Auch dank meiner langjährigen Tätigkeit im Ausschuss für Arbeit und Soziales
weiß ich, dass wir diesbezüglich schon weitreichende
Schritte unternommen und gute Erfolge vorzuweisen
haben . Mein geschätzter Kollege Professor Dr . Matthias
Zimmer wird dies als nächster Redner nach mir ausführlicher darlegen .
Zu einer guten Arbeits- und Beschäftigungspolitik gehört zwingend die Vereinbarkeit von Familie und Beruf .
Eltern können nur dann beruhigt zur Arbeit gehen, wenn
sie die Kinder in guten Händen wissen . Auch da haben
wir beispielsweise erst vor drei Wochen mit 100 000
neuen Kitaplätzen und 1,2 Milliarden Euro Investitionen gemeinsam mit den Kommunen und Ländern richtungsweisende Weichenstellungen vorgenommen . Ich
bedanke mich auch bei den Kolleginnen und Kollegen
unseres Koalitionspartners dafür, dass wir dort wieder an
der Spitze der Bewegung waren und den Familien ein
weiteres Hilfspaket zur Verfügung stellen konnten .
Dem aktuellen Fortschrittsindex des Bundesfamilienministeriums zufolge ist die Arbeitswelt in Deutschland
in den vergangenen Jahren insgesamt familienfreundlicher geworden . Zu den Fortschritten gehört neben der
Zunahme familienfreundlicher Maßnahmen in den Unternehmen wie der Arbeitszeitverkürzung und -flexibilisierung auch ein Anstieg der Betreuungsquoten bei den
unter dreijährigen Kindern .
Der Kitaausbau trägt entscheidend zu einer neuen
Qualität der Vereinbarung von Familie und Beruf bei .
Ja, es ist richtig: Als wir den Kitaausbau begonnen haben, sind wir von einer Nachfragequote von zunächst
32 Prozent, dann 35 Prozent und schließlich 38 Prozent
ausgegangen; mittlerweile sind wir bei einer Nachfragequote von 42 Prozent . Hier schafft das Angebot wieder
Nachfrage, und wir werden auch in den nächsten Jahren
aufpassen müssen, dass wir den Familien rechtzeitig ausreichende Kitaplätze anbieten können .
Mit dem Gesetz zum weiteren quantitativen und qualitativen Ausbau der Kindertagesbetreuung wurde das
Investitionsprogramm „Kinderbetreuungsfinanzierung“
2017 bis 2020 auf den Weg gebracht . Ich habe bereits
auf die 1,2 Milliarden Euro Investitionen hingewiesen,
die wir vor drei Wochen auf den Weg gebracht haben .
Wir sind dabei, den Familien zu ermöglichen, aus eigener
Kraft Kita, Familie und Beruf zu vereinbaren .
Wir haben Arbeitsplätze geschaffen und haben mittlerweile die besten Beschäftigungszahlen seit 26 Jahren:
weniger als 2,5 Millionen Arbeitslose .
({4})
- Dass Sie das zum Schnaufen bringt, verstehe ich, Frau
Zimmermann .
Frau Präsidentin, ich sehe, dass die Lampe blinkt . Ich
muss einen Zettel drauflegen. - Wir haben weniger als
halb so viele Arbeitslose wie zu der Zeit, als ich in den
Deutschen Bundestag einziehen durfte; das war 2005 .
Ich glaube, so viel hat die Große Koalition, die unionsgeführte Regierung, in den letzten Jahren nicht falsch
gemacht .
Ich bitte Sie, uns auf unserem weiteren Weg zwar
kritisch, aber doch zu begleiten . Reden Sie Deutschland
nicht schlechter, als es ist! Ich wünsche Ihnen auf jeden
Fall auch an den kommenden Pfingstfeiertagen den Heiligen Geist, dass Sie bessere Anträge schreiben können,
Frau Zimmermann .
Danke schön .
({5})
Vielen Dank . - Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt
Dr . Wolfgang Strengmann-Kuhn das Wort .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
({0})
Der mittlerweile vorliegende Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung mit seinen über 600 Seiten
ist eine Bilanz von zwölf Jahren Regierung unter Unionsführung . Man muss sagen: Es ist ein Armutszeugnis;
denn Armut und Ungleichheit sind auf einem Rekordniveau, und das alles trotz guter ökonomischer Rahmenbedingungen . Wie gesagt, es ist ein Armutszeugnis .
({1})
Man darf dabei nicht vergessen: In diesen zwölf Jahren hat auch die SPD mitregiert . Das heißt, es ist auch
ein Armutszeugnis für die SPD . Man muss angesichts
aktueller Umfrageergebnisse und Wahlerfolge der FDP
auch noch einmal daran erinnern: Vier Jahre lang war
auch Schwarz-Gelb an der Regierung . In dieser Zeit ist,
vorsichtig formuliert, nichts besser geworden, sondern
eher schlechter .
Die Zahlen liegen jetzt auf dem Tisch, und sie lassen
sich nicht schönreden, auch wenn das von Vertretern der
Regierungsfraktionen und der Regierung immer wieder
versucht wird . Es ist auch bezeichnend, dass heute zu
dem Armutsbericht zwei Anträge von den Linken und
den Grünen zu Konsequenzen aus den Ergebnissen vorliegen . Armut ist für Sie in der Großen Koalition schlicht
kein Thema .
({2})
Aber Armut ist ein zentrales Gerechtigkeitsproblem .
Das Niveau von Armut und sozialer Ungleichheit ist in
Deutschland so hoch, dass der soziale Zusammenhalt in
Deutschland ernsthaft gefährdet ist . Deswegen ist jetzt
endlich Handeln angesagt .
({3})
Wir Grünen haben dazu in den letzten Jahren immer
wieder Konzepte vorgelegt, die wir jetzt in unserem Antrag noch einmal gebündelt haben . Wir wollen, dass aus
armen Menschen nichtarme Menschen werden . Wir wollen soziale Teilhabe für alle, und zwar selbstbestimmte
Teilhabe für alle . Wir wollen eine inklusive Gesellschaft .
Dazu gehört auch, dass wir untere und mittlere Einkommen entlasten, vor allem Familien .
Wir haben das in unserem Antrag in elf Bereiche mit
vielen Unterpunkten untergliedert, die ich jetzt nicht alle
detailliert vortragen kann . Ich nenne aber die wichtigsten
Punkte .
Wir brauchen gute Arbeit und müssen die prekäre Beschäftigung eindämmen . Wir brauchen insbesondere für
diejenigen mit den größten Schwierigkeiten wie Langzeitarbeitslose und Geflüchtete Zugang zum Arbeitsmarkt .
Wir brauchen Zugang zu guter Bildung für alle, ein
inklusives Bildungssystem . Wir brauchen bezahlbaren
Wohnraum; das ist eines der zentralen Probleme in den
Städten . Wir brauchen Zugang zu Gesundheitsleistungen
für alle; dazu haben wir vielfältige Maßnahmen in unserem Antrag aufgeführt .
Wir brauchen aber auch finanzielle Leistungen; denn
ein Mindestmaß an Einkommen ist notwendig, um am
gesellschaftlichen Leben teilhaben zu können .
({4})
Das Bundesverfassungsgericht - das muss immer wieder betont werden - sagt, dass ein menschenwürdiges
Existenzminimum ein Grundrecht sei . Wir Grüne wollen
dieses Existenzminimum in allen Lebenslagen und Lebensphasen gewähren, und zwar möglichst unbürokratisch und, wo es geht, auch ohne Bedürftigkeitsprüfung .
Zentral ist das grüne Familienbudget mit einer Kindergrundsicherung, die das jetzige System der Familienförderung aus Ehegattensplitting, Kinderfreibeträgen und
Kindergeld ersetzt; denn wir wollen, dass die Förderung
bei den Kindern ankommt . Wir wollen die Kinder in den
Mittelpunkt der Familienförderung stellen .
({5})
Wir brauchen einen Kindergeldbonus; denn wir wollen, dass das sächliche Existenzminimum tatsächlich für
alle Kinder im unteren Einkommensbereich garantiert
wird . Wir wollen nicht, dass wie bisher mit dem Kinderzuschlag das Geld in der Verwaltung, in der Bürokratie
hängenbleibt, sondern es soll bei den Kindern ankommen .
({6})
Weiterhin machen wir Vorschläge zur Rente . Die Garantierente soll gewährleisten, dass Menschen, die lange
in die Rentenversicherung eingezahlt haben, eine Rente
bekommen, die über dem Grundsicherungsniveau liegt .
Auch das soll ohne Bedürftigkeitsprüfung geschehen .
Das wäre eine echte Rente . Wir sind die einzigen, die
eine echte Garantierente vorschlagen .
({7})
Auch die soll ohne Bedürftigkeitsprüfung gewährt werden, nicht nach dem Modell der Linken, bei dem man einen Antrag stellen muss, man sein Vermögen offenlegen
muss und man angeben muss, wie groß die Wohnung ist,
in der man wohnt; bei diesem Modell werden alle zusätzlichen Einkommen angerechnet .
({8})
Das ist keine Rente, genauso wenig wie die Solidarrente der SPD . Wir brauchen vielmehr eine Garantierente,
ohne dass die Menschen zum Sozialamt gehen und ihre
Einkommens- und Vermögensverhältnisse offenlegen
müssen .
({9})
Wir brauchen am Ende natürlich eine gute, bürokratiefreie Grundsicherung .
Schließlich darf man, wenn man über Armut redet,
über Reichtum nicht schweigen . Wir brauchen wieder
die Einführung der Vermögensteuer und andere Maßnahmen, damit sich die Reichen wieder ausreichend an den
öffentlichen Ausgaben beteiligen .
Da meine Redezeit jetzt fast zu Ende ist, will ich nur
noch eine wichtige Gruppe erwähnen, die sonst fast gar
nicht vorkommt und auch im Armuts- und Reichtumsbericht nur am Rande erwähnt wird, nämlich die Obdachlosen in Deutschland . Sie tauchen im Zusammenhang mit
den Zahlen im Armuts- und Reichtumsbericht, die schon
genannt worden sind, gar nicht auf, weil diese Zahlen auf
Umfragen basieren, bei denen die Obdachlosen nicht erfasst werden . Wir müssen endlich vernünftige Zahlen beschaffen und ein Maßnahmenpaket gegen Obdachlosigkeit in Deutschland beschließen; denn das sind wirklich
die Ärmsten in Deutschland .
Wir dürfen uns nicht an die Obdachlosigkeit gewöhnen, aber auch nicht an die 2,5 Millionen armen Kinder,
nicht an die 4 Millionen armen Erwerbstätigen und nicht
an die steigende Altersarmut . Wir müssen jetzt endlich
handeln . Es geht um den sozialen Zusammenhalt .
({10})
Vielen Dank . - Für die SPD-Fraktion hat jetzt Daniela
Kolbe das Wort .
({0})
Liebe Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen und
Kollegen! Gestern hat dieses Hohe Haus mit einer Zweidrittelmehrheit das Grundgesetz an verschiedenen Stellen geändert . Es gibt auch in der Bevölkerung eine satte
Zweidrittelmehrheit . Die betrifft allerdings eine ganz andere Frage, nämlich die Frage, ob die Schere zwischen
Arm und Reich in Deutschland zu weit aufgegangen ist .
71 Prozent in Westdeutschland und sogar 77 Prozent in
Ostdeutschland haben genau das Gefühl: Die Schere ist
zu weit aufgegangen .
({0})
Dahinter steckt ein massives Ungerechtigkeitsgefühl:
Man hat das Gefühl, dass es in Deutschland nicht mehr
um Leistung geht, dass es denjenigen gibt, der Millionenboni erhält, egal welche Leistungen er erbracht hat, und
es diejenige gibt, die den ganzen Tag an der Kasse steht
und Regale einräumt, am Ende des Monats aber trotzdem
immer wieder im Dispo ist .
Es gibt Kinder, die - es sei ihnen gegönnt - sprichwörtlich mit dem goldenen Löffel im Mund geboren
werden, die eine Nanny haben, Geigenunterricht bekommen und eine Bibliothek im eigenen Haus haben, und es
gibt die Kinder, die in problematischen Stadtvierteln, in
denen noch mehr arme Kinder leben, geboren werden,
die womöglich ohne Frühstück in die Schule geschickt
werden .
({1})
Auch die Weltbank, die OECD und andere Organisationen schreiben es Deutschland ins Stammbuch: Die
ungleiche Verteilung von Vermögen und Einkommen in
Deutschland ist so frappierend, dass das nicht nur ein soziales Problem, sondern auch ein ökonomisches Problem
ist . Deutschland verspielt durch diese ungleiche Verteilung Wirtschaftschancen . Ergo reden wir hier nicht nur
über ein Gefühl der Bevölkerung, sondern über die Realität . Die Schere zwischen Arm und Reich in Deutschland
ist zu weit aufgegangen .
({2})
Das heißt auch: Es ist viel zu tun . Gute Politik beginnt
beim Realisieren und Annehmen der Wahrheit .
Zum Armuts- und Reichtumsbericht gab es Studien .
Aus einer wurde in dem von Frau Nahles ursprünglich
vorgelegten Entwurf wie folgt zitiert:
Die Wahrscheinlichkeit für eine Politikveränderung
ist wesentlich höher, wenn diese Politikveränderung
von einer großen Anzahl von Menschen mit höherem Einkommen unterstützt wird .
Liebe CDUler und CSUler, wenn Sie sich über das
Gefühl vieler Menschen wundern, die das Gefühl haben,
sie könnten nichts bewegen - das schlägt einem manchmal auch als Aggression entgegen -, möchte ich Ihnen
eine kleine Leseempfehlung geben . Sie bezieht sich
auf die Studie von Armin Schäfer . Ich bitte darum, die
Hauptaussagen solcher Studien in Zukunft nicht im Bericht zu löschen . Die komplette Studie - da ist der Ministerin zu danken, die hier einen sehr transparenten Prozess
durchgeführt hat - findet man im Internet unter www .
armuts-und-reichtumsbericht .de . Unter „Service“ und
„Studien“ ist es der oberste Eintrag . Ich empfehle Ihnen,
es zu lesen . Ich empfehle dem gesamten Haus, sich diese Studie anzusehen; denn in dieser Studie versteckt ist
auch ein Hinweis darauf, warum die Verteilung so weit
auseinandergegangen ist . Das ist so, weil in der Vergangenheit eben auch in den Bereichen Arbeitsmarkt und Finanzpolitik tendenziell eine Politik gemacht worden ist,
die den höheren Einkommen zupasskam . Die Bezieher
solcher Einkommen haben diese Politik befürwortet . Damit ist die ungleiche Verteilung in Deutschland durchaus
weiter vorangetrieben worden . Mich hat das nachdenklich gemacht . Es sollte uns alle nachdenklich machen .
({3})
Aber wir haben viel vor . Wir werden über Steuern
sprechen müssen . Das werden wir intensiv im Wahlkampf tun . Deswegen werde ich dazu jetzt nichts weiter ausführen . Im Armuts- und Reichtumsbericht ist aber
auch Ermutigendes zu sehen . Die Kinderarmut ist dort
geringer, wo die Eltern arbeiten gehen . Und wir haben
sehr viel dafür getan, dass Eltern in gute Arbeit kommen .
Wir haben den Mindestlohn eingeführt und die Tarifbindung gestärkt . Wir haben die Vereinbarkeit von Familie
und Beruf vorangebracht . Auch ist nicht alles so schwarz,
wie es die Linke gerne malt, wenn es um den Arbeitsmarkt geht .
({4})
Es bleibt aber noch viel zu tun . Ich nenne die Stichworte
„Leiharbeit“ und „Langzeiterwerbslose“ . Auch da werden wir - das werden wir im Wahlkampf ansprechen - in
einer künftigen Regierung für mehr Gerechtigkeit sorgen .
({5})
Vielen Dank fürs Zuhören .
({6})
Vielen Dank . - Jetzt hat der eben schon angekündigte
Professor Dr . Matthias Zimmer das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion .
({0})
Herzlichen Dank, Frau Präsidentin, auch für die
freundliche, gleich doppelte Ankündigung . - Liebe Frau
Kollegin Kolbe, man hatte bei Ihnen streckenweise den
Eindruck, Sie würden nicht dieser Koalition angehören .
Dabei hat die Bundesregierung, die von dieser Koalition getragen wird, auch mit der Arbeitsministerin Andrea
Nahles Vorzügliches geleistet. Ich finde, das sollten wir
auch einmal anerkennen .
({0})
Meine Damen und Herren, ich will den Armuts- und
Reichtumsbericht einmal nutzen, um die Rituale der dadurch ausgelösten Verteilungsdebatten infrage zu stellen .
Ich frage: Wie können wir langfristig sicherstellen, dass
unsere Gesellschaft nicht auseinanderfällt? Hier sollten
wir, so finde ich, die Frage von Leistungs-, Teilhabe- und
Verteilungsgerechtigkeit auf die Umwälzungen unserer
Arbeitswelt beziehen .
Ich will drei Herausforderungen skizzieren .
Die erste Herausforderung sehe ich in der Bilanz
der sogenannten vierten industriellen Revolution . Das
Weltwirtschaftsforum geht davon aus, dass durch diese
industrielle Revolution zwar neue Arbeitsplätze geschaffen werden, dies aber bei weitem nicht ausreicht, um die
Arbeitsplätze zu kompensieren, die verloren gehen . Ich
finde, wir sollten uns Folgendes überlegen: Wenn es Arbeit ist, die bei uns Sozialsysteme finanziert, und wenn
es Maschinen sind, die die Arbeit ersetzen, sollten dann
nicht Maschinen herangezogen werden, unsere Sozialsysteme mitzufinanzieren? Müssen wir über eine Maschinensteuer nachdenken? Ich finde, nachdenken ist nie
falsch, und Frageverbote darf es nicht geben .
({1})
Darüber hinaus: Es kann doch nicht klug sein, wenn
wir nur noch Produzenten haben, aber keine Konsumenten mehr, die Produkte nachfragen . Es hilft also keinem,
wenn wir die Nachfrage durch Freisetzung von Arbeitskräften systematisch schwächen, auch wenn es betriebswirtschaftlich sinnvoll sein mag . Aber die Summe betriebswirtschaftlicher Rationalitäten mündet eben nicht
in ein wirtschaftliches Gemeinwohl .
({2})
Eine zweite Herausforderung sehe ich in der möglichen Zerfaserung der Arbeitswelt . Karl Marx hat in der
Deutschen Ideologie das Reich der Freiheit einmal konkretisiert als die Möglichkeit, morgens zu jagen, mittags
zu fischen, abends Viehzucht zu treiben und nach dem
Essen zu kritisieren, ohne jemals Jäger, Fischer, Hirte
oder Kritiker zu werden . Eine wahrhaft noble Vision!
Wir müssen uns aber heute eher der Gefahr erwehren,
dass in absehbarer Zeit durch Internetplattformen ein Arbeitnehmer morgens Buchhaltung macht, mittags Sekretariatsaufgaben erledigt, abends Pflegedienste leistet und
nach dem Essen die Akquise der Aufträge für den Folgetag macht, ohne jemals Buchhalter, Bürofachkraft oder
Pfleger zu sein, weil man eigentlich soloselbstständig ist
und die soziale Absicherung in weite Ferne gerückt ist .
Das Reich der Freiheit wäre damit ebenso in weite Ferne
gerückt wie verlässliche soziale Perspektiven . Das wäre
das Aufkommen eines digitalen Prekariats, unfähig, sich
als Gemeinschaft zu organisieren, zerfasert sowohl in der
Arbeit als auch in der Arbeitsorganisation, die endgültige
Reduktion des Einzelnen auf einen Kostenfaktor .
http://www.armuts-und-reichtumsbericht.de
http://www.armuts-und-reichtumsbericht.de
Man muss ja die Vision von Marx nicht teilen . Aber
der Sumpf der bloßen Notwendigkeit, der sich hier als
Gefahr auftut, entspricht auch nicht unserem Menschenbild als christliche Demokraten . Zugegeben, eine düstere
Vision . Aber schon heute tun wir ja so, als ob das Heil
aller Arbeitnehmer darin liege, über Arbeit 4 .0 mehr Flexibilität zu haben, örtlich und zeitlich . Das halte ich für
zu kurz gegriffen . Ein Zugewinn an Flexibilität ist nicht
gleichzusetzen mit einem Zugewinn an Autonomie oder
gar an Emanzipation .
({3})
Die dritte Herausforderung: die Organisation lebenslangen und übergreifenden Lernens . Der Schlüssel zur
Befreiung aus materieller Deprivation liegt in der Bildung . Da sind Schulen und Hochschulen ebenso gefragt
wie Betriebe und die Sozialpartner . Ich vermute, dass
hier langfristig diejenigen Bildungssysteme im Vorteil
sind, die inklusiv angelegt sind und Bildungschancen
nicht von der Finanzkraft der Eltern abhängig machen .
({4})
Wahr ist allerdings auch: Die bloße Ausbildung von Fertigkeiten zur Verstetigung von Berufsperspektiven im
Besonderen und des wirtschaftlichen Wachstums im Allgemeinen mag zwar notwendig sein, ist aber nicht hinreichend für ein gutes Leben . Wer seinen Lebenszweck
ausschließlich in Formen des Geldverdienens und einem
zweckfreien Hedonismus sieht, trägt zu Formen geistiger
und spiritueller Armut bei, die eine Gesellschaft ebenso
schädigen können wie materielle Armut .
({5})
Deswegen: Bei allem Verständnis für MINT-Fächer, unser Leben bereichern eher diejenigen Fächer, die uns die
Möglichkeit der Reflexion auf uns selbst geben.
({6})
Die Zukunft, schrieb Rilke einmal, tritt in uns ein, „um
sich in uns zu verwandeln, lange bevor sie geschieht .“
Das ist unsere Chance, unsere Wirtschaft nach dem Bild
von uns in uns zu gestalten und damit auch maßgeblich
die Berichterstattung über Armut und Reichtum in den
nächsten Jahren schon jetzt zu schreiben, bevor sie geschrieben wird .
({7})
Vielen Dank . - Jetzt hat Ulrike Bahr für die SPD-Fraktion das Wort .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und
Kolleginnen! Kinderarmut ist ein Thema, das niemanden
von uns kaltlässt . Arme Kinder sind Kinder mit reduzierten Chancen; denn zur materiellen Armut kommen in
vielen Fällen Bildungsferne und leider oft auch gesundheitliche Probleme . Da ist die Politik gefragt . Da müssen
wir handeln; keine Frage . Darum bin ich froh, dass die
Kollegen und Kolleginnen von der Linken mit ihren Anträgen die Kinder stärker in den Fokus rücken .
Aber wo ist der Hebel, um armen Kindern die besten Chancen zu eröffnen? Mehr Geld ist immer gut; aber
jeder Euro an direkten Transferzahlungen kostet große
Summen und entfaltet erst einmal begrenzte Wirkung .
Eine massive Entlastung für die von Armut besonders bedrohte Gruppe der Alleinerziehenden haben wir übrigens
gerade mit der Ausweitung beim Unterhaltsvorschuss beschlossen . Ich meine, eine hervorragende Prävention gegen Armut für Kinder und Eltern sind beitragsfreie Kitas .
Es ist nicht einzusehen, dass alle Bildungseinrichtungen
bis hin zur Hochschule gebührenfrei sind, nur die wichtigste Grundbildung und Erziehung nicht .
({0})
Natürlich können Eltern im Hartz-IV-Bezug von Gebühren freigestellt werden; aber auch Kinder von Eltern mit
niedrigem und mittlerem Einkommen würden enorm
profitieren. Von den Eltern mit hohem Einkommen holt
man sich das Geld noch besser über Steuern wieder zurück .
({1})
Statt über Steuersenkungen zu diskutieren, sollten wir
mit diesen Steuereinnahmen gute Kitas und natürlich
auch gute Schulen stärken .
({2})
Wichtig ist vor allem, dass Kinder ohne langwierige
Anträge und bürokratische Hürden eine Kita besuchen
können . Genau das ist es, was arme Familien davon abhält, ihre Kinder dort anzumelden .
({3})
Gemischte Kitas mit einem guten Bildungsangebot für
Kinder aus allen sozialen Schichten leisten einen nachhaltigen Beitrag für mehr gesellschaftlichen Zusammenhalt und sind ein Schlüssel zur Teilhabe für alle Kinder .
Gleichzeitig erhalten die Eltern damit die nötigen zeitlichen Freiräume, um sich Arbeit zu suchen, sich weiterzubilden, um sich Beratung und Unterstützung zu holen .
Mit dieser Aufgabe darf der Bund die Länder und
Kommunen natürlich nicht alleinlassen . Mit dem Sondervermögen „Kinderbetreuungsausbau“ haben wir im
Bund schon viel bewegt, um die Investitionen in neue
Kitaplätze zu stemmen . Mit einem Kitaqualitätsgesetz
bekäme der Bund auch die Möglichkeit, inhaltliche Arbeit mitzufinanzieren. Das geschieht bereits erfolgreich
in Modellprojekten wie dem Bundesprogramm „SprachKitas“ .
Armut hat noch weitere - oft gut versteckte - Gesichter . Arm sind auch die Kinder von Inhaftierten und vielfach auch die Kinder mit psychisch kranken Eltern, die
über ihre Probleme oft gar nicht sprechen können - aus
Scham, aus Angst vor weiterer Ausgrenzung . Dazu kommen oft auch noch finanzielle Probleme und Eltern, die
staatlichen Hilfsangeboten vielleicht mit Misstrauen beDr. Matthias Zimmer
gegnen . Ich bin froh, dass wir in dieser Wahlperiode wenigstens noch erste Schritte unternehmen können, um für
diese Kinder systematisch Hilfsangebote zu entwickeln .
Einen interfraktionellen Antrag zu Hilfen für Kinder von
psychisch Kranken werden wir in der nächsten Sitzungswoche beschließen .
({4})
- Danke sehr .
Armut ist immer auch im Kontext von Wohnquartieren, ländlichen wie städtischen Räumen zu sehen . Darum
ist es wichtig und richtig, wenn wir in der Kinder- und
Jugendhilfe sozialräumliche Angebote ausbauen, wenn
wir niedrigschwellige Beratung und auch ombudsschaftliche Vertretung stärken . Die Vorschläge dazu liegen
auf dem Tisch; denn Hilfe zur Selbstermächtigung Empow erment - ist der beste langfristige Weg hinaus aus
der Armut und weg aus der Abhängigkeit von staatlichen
Transferzahlungen .
({5})
Nicht zuletzt sollten wir endlich Kinderrechte ins
Grundgesetz aufnehmen .
({6})
Ich bedauere sehr, dass sich die Große Koalition dazu
in dieser Wahlperiode nicht hat aufschwingen können .
Natürlich sind Kinder Menschen und stehen schon jetzt
unter dem Schutz des Grundgesetzes . Ja, Deutschland hat
auch die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen
unterschrieben. Darin verpflichten sich alle Unterzeichner auf klar definierte Kinderrechte. Dennoch: Ein Bekenntnis in der Verfassung zum besonderen Schutz für
Kinder, zu ihrem Recht auf Beteiligung, zur Chancengerechtigkeit und zur Verpflichtung des Staats auf das
Kindeswohl würde zumindest mittelfristig Wirkung entfalten; davon bin ich überzeugt .
Auch an dem simplen Satz „Männer und Frauen sind
gleichberechtigt“ arbeiten wir uns noch immer ab; aber
wir nähern uns der Gleichstellung immer mehr an . Diese
Sogwirkung wünsche ich mir auch für die Kinderrechte
und den Kampf gegen Kinderarmut .
Ich danke Ihnen .
({7})
Vielen Dank . - Jetzt hat Eckhard Pols, CDU/
CSU-Fraktion, das Wort .
({0})
Vielen Dank . - Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Wir debattieren heute nicht nur über den Armutsund Reichtumsbericht, sondern auch - Frau Bahr hat es
am Ende ihrer Rede gesagt - über den Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Kinderrechte umfassend
stärken“ . Sie beziehen sich da auf die Rechte, die in der
UN-Kinderrechtskonvention verbrieft sind und die damit
unbestritten auch für unser Land gelten . Frau Bahr, ich
möchte in meiner Rede gern auf Ihre letzten Ausführungen antworten und darlegen, wie wir, die Unionsfraktion,
das sehen .
Es geht um die wichtigen Rechte der Kinder auf freie
Meinungsäußerung, auf Schutz vor Gewalt und Krieg,
auf gesundes Aufwachsen, aber auch auf Spiel, Freizeit
und Ruhe; ich will nur einige nennen . Ich denke, wir sind
hier im Hohen Hause nicht weit voneinander entfernt,
was die Wertschätzung und den Wunsch nach Stärkung
der Kinderrechte angeht . Zweifelsfrei sind es die Kinder,
die unseren Schutz besonders brauchen .
Bei aller Einigkeit in der Einstellung zu Kinderrechten gibt es jedoch auch Dinge, die uns, also die Regierungsfraktionen, und die Opposition im Detail trennen .
Das ist vor allem die Frage der praktischen Umsetzung:
Welche Wege wollen wir einschlagen, um eine Stärkung
der Kinder und ihrer unveräußerlichen Rechte zu erreichen? Im Grunde lässt sich die immer wiederkehrende
Debatte auf zwei Fragen zuspitzen: Werden die Kinderrechte wirklich stärker wahrgenommen und wirken sie
stärker, wenn sie im Grundgesetz stehen? Und: Werden
sie besser geachtet, wenn das Amt eines Bundeskinderbeauftragten eingerichtet wird? Ihr Antrag greift beide
Forderungen auf und fügt dem potenziellen Amt eines
Bundeskinderbeauftragten auch gleich weitere Anforderungen, Aufgaben und Strukturen hinzu . Akteneinsichtsrecht, Anhörungsrecht, Amtshilferecht, Einführung eines
Kinder- und Jugendbeirats werden gefordert .
Nun ist es im Kreis der Familienpolitiker ein offenes
Geheimnis, dass ich einer Stärkung der Kinderrechte, in
welcher Form auch immer, sehr offen gegenüberstehe .
Für mich ist bei allen Optionen, die hier im Raum stehen, entscheidend, dass wir am Ende eine substanzielle
Verbesserung für Kinder und deren Interessen erreichen,
was ich übrigens zum 25-jährigen Jubiläum der UN-Kinderrechtskonvention an gleicher Stelle schon dargelegt
habe .
Es muss daher die Frage geklärt werden, ob die Einrichtung einer neuen Bundesstelle für die Anliegen von
Kindern hilfreich ist oder ob hinderliche Doppelstrukturen zu bestehenden Institutionen und Organen geschaffen
würden . Auch muss geklärt werden, ob nicht Verbesserungen an bestehenden Organisationen sinnvoller sind,
um eine Aufwertung von Kinderrechten zu erreichen .
Unabhängig von den angesprochenen Fragen wurde vor einiger Zeit bereits eine wichtige Stärkung von
Kinderrechten vorgenommen . Die Monitoringstelle für
Kinderrechte hat ihre Arbeit aufgenommen und sich etabliert . Sie ist beim Deutschen Institut für Menschenrechte angesiedelt und ist ein aus Bundesmitteln geförderter
sehr kompetenter Ansprechpartner, meine Damen und
Herren . Daraus wird deutlich: Es ist einiges in Bewegung
im Bereich der Kinderrechte - anders als es uns die Opposition immer gern glauben machen möchte .
({0})
Erlauben Sie mir an dieser Stelle noch einen Hinweis
zu der durchaus symbolisch wertvollen und für mich
auch - das zu sagen, sei mir gestattet - charmanten Idee,
Kinderrechte im Grundgesetz zu verankern . Diese Diskussion führen wir - Frau Bahr hat es angesprochen schon seit mehreren Jahren . Es wird immer so getan,
als seien Kinder bezogen auf das Grundgesetz rechtlose
Wesen . Dabei ist es unstrittig, dass sie auch Träger von
Grundrechten sind und weit mehr als Objekte von Schutz
und Fürsorge .
Bereits vor der Geburt genießen sie den Schutz des
Lebens und der Menschenwürde . Nach ihrer Geburt sind
sie Träger aller Grundrechte . Über Artikel 6 Absatz 2
Satz 2 unseres Grundgesetzes besteht ein Anspruch auf
staatlichen Schutz bei Gefährdung des Kindeswohls . Darüber hinaus benennt das deutsche Familienrecht nach
dem Bürgerlichen Gesetzbuch und das Kinder- und Jugendhilferecht nach dem SGB VIII Kinder klar als Träger
eigener Rechte . Es bedarf keiner Nennung von Kindern
als Subjekte im Text der Verfassung .
Ich möchte noch einmal auf den Bundeskinderbeauftragten zurückkommen, und zwar bezüglich der gesellschaftlichen Teilhabe von Kindern und Jugendlichen . Ich
habe es im Ausschuss oft angesprochen und möchte es als
aktiver Kommunalpolitiker wiederholen: Dass ein Kinderbeauftragter die Partizipation von Kindern stärkt, mag
im ersten Moment sehr schön klingen, aber nur im ersten
Moment . Gerade im Bereich der Beteiligungsrechte liegt
ein Großteil der Zuständigkeiten nicht auf der Bundesebene . Partizipation von Kindern fängt für mich überall
dort an, wo die Lebenswelten von Kindern berührt sind .
Das ist in der Familie, in den Kitas, in Schulen, in Sportvereinen, im direkten örtlichen Umfeld der Fall . Genau
an diesen Orten gibt es bereits wunderbare Beispiele für
die Einbindung und Beteiligung von Jugendlichen und
von Kindern .
Meine Redezeit ist jetzt leider um, sonst könnte ich
Ihnen noch einige Beispiele nennen . Meine Damen und
Herren, unsere Aufgabe als Bundespolitiker ist immer,
den nötigen Rahmen zu schaffen . Dabei ist es wichtig,
vom Ziel her zu denken und nicht in ideologisch eingefahrenen Strukturen, liebe Kollegen der Linken .
Vielen Dank. Ich wünsche schöne Pfingsten.
({1})
Vielen Dank . - Jetzt hat Kerstin Griese für die
SPD-Fraktion das Wort .
({0})
Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich beginne mit einem Zitat des Generalsekretärs
des Deutschen Caritasverbandes, Georg Cremer, den wir
in dieser Woche verabschiedet haben . Er hat in einem Interview auf die Frage nach wachsender Ungleichheit in
Deutschland geantwortet - ich zitiere mit Erlaubnis der
Frau Präsidentin -:
… es ist ein Unterschied, ob man feststellt, dass
die Ungleichheit zugenommen hat, aber wir seit
2005 eine einigermaßen stabile Lage haben, oder
ob behauptet wird, die Zustände verschlimmerten
sich kontinuierlich . Mit immer neuen Superlativen
versetzt man die Mittelschicht in Panik . Und das ist
politisch kontraproduktiv .
Ich sage das, weil ich diese besonnene Haltung gut finde . Ich danke auch ausdrücklich dem Kollegen Matthias
Zimmer dafür . Denn wenn man dauerskandalisiert und
immer behauptet, dass alles in Armut versinkt, dass die
Welt untergeht,
({0})
dann verliert man den Blick für die echten Probleme und
den Blick dafür, wo man ansetzen muss, um Armut zu
bekämpfen .
({1})
Der Armuts- und Reichtumsbericht tut das in sehr
sachlicher Klarheit und schlägt deshalb auch konkrete politische Maßnahmen vor, wo man ansetzen muss .
Wenn ich sage: „Es ist kontraproduktiv, dauerzuskandalisieren“, dann heißt das nicht, die Probleme nicht zu
erkennen und nicht nach guten Lösungen zu suchen, sondern dann heißt das, genauer hinzusehen .
({2})
Genauer hinzusehen, heißt, dass jedes einzelne Kind, das
in Armut lebt, dass jeder Mensch, der trotz eines arbeitssamen Lebens im Alter Grundsicherung beziehen muss,
uns aufrütteln muss, uns zum Nachdenken bringen muss,
und dass jeder, der lange aus dem Arbeitsleben ausgeschlossen bleibt und am Rand der Gesellschaft lebt, ein
Recht hat, in die Mitte der Gesellschaft zurückzukehren .
Um bei den Ursachen anzusetzen, ist es gerade so
wichtig, Kinderarmut zu bekämpfen . Dazu gibt es eine
höchst interessante Zahl im Armuts- und Reichtumsbericht: Das Armutsrisiko von Kindern liegt bei 64 Prozent, wenn keiner der Eltern arbeitet . Wenn ein Elternteil in Vollzeit arbeitet, sinkt das Armutsrisiko schon auf
15 Prozent, wenn beide Eltern in Vollzeit arbeiten, auf
3 Prozent .
({3})
Es ist also wichtig, dass wir die Eltern in Arbeit bringen,
dass wir vor allem für Alleinerziehende noch mehr tun,
passgenaue Unterstützungsangebote schaffen, damit Arbeit und Kinderbetreuung vereinbar sind . Genau da hat
die SPD schon viel durchgesetzt, und da wollen wir noch
mehr erreichen .
({4})
- Vieles auch gemeinsam, Herr Kollege .
Ja, wir haben die niedrigste Arbeitslosigkeit seit
26 Jahren . Ja, wir haben Maßnahmen für LangzeitarEckhard Pols
beitslose eingeführt, aber zu wenige . Ja, wir haben eine
sehr gute wirtschaftliche Lage, aber - auch das zeigt der
Bericht - das reicht nicht aus; denn es geht eben nicht
immer sozial gerecht zu . Genau da müssen wir ansetzen .
Das wollen wir ändern .
({5})
Die Gefahr von Altersarmut betrifft nur etwa 3 Prozent . 3 Prozent der über 65-Jährigen bekommen Grundsicherung .
({6})
In der Gesamtbevölkerung sind es 9,3 Prozent, bei Kindern noch viel mehr . Deshalb geht es darum, dass wir
gerade da ansetzen . Gestern haben wir hier in diesem
Haus die Verbesserung der Erwerbsminderungsrenten
beschlossen . Das ist richtig; denn damit setzen wir bei
denen an, die Unterstützung brauchen . Andrea Nahles
hat ein gutes Gesamtkonzept zur Alterssicherung vorgelegt, das vorsieht, dass Selbstständige in die Rentenversicherung einbezogen werden sollen . Und auch das setzt
an der richtigen Stelle an: Gerade die Selbstständigen mit
geringem Einkommen, die keine eigenen Versorgungswerke haben, sind besonders gefährdet, im Alter in Armut zu fallen . Insofern setzen wir da genau an der richtigen Stelle an .
({7})
So ist das auch mit der gesetzlichen Solidarrente, die
wir fordern . Ein arbeitsreiches Leben soll ohne Gang
zum Sozialamt enden . Ein Rentenniveau, das 10 Prozent
oberhalb des durchschnittlichen regionalen Grundsicherungsbedarfes liegt, soll mindestens herauskommen .
Das, was wir vorhaben, ist: mehr öffentlich geförderte
Beschäftigung, ein Arbeitslosengeld Q, mehr Qualifizierung . Das sind die richtigen Schritte, die man bei genauer
Analyse, aber eben nicht bei Dauerskandalisierung herausfinden kann.
Noch ein letztes Wort zum Thema „Reichtum in
Deutschland“ .
Aber wirklich ein letztes Wort .
Genau . - Es ist lobenswert, dass dieser Bericht zum
ersten Mal auch den Reichtum genauer untersucht und
zeigt: Die wirklich großen Vermögen in Deutschland
werden vererbt .
({0})
Die wirklich großen Vermögen sind leistungslos erworben . Da stellt sich die Frage nach dem sozialen Ausgleich .
Ich finde, der richtige Schritt ist: Wir müssen mehr tun
für die Menschen in den niedrigen Lohnbereichen . Da
muss es besser werden . Da brauchen wir bessere Löhne . Es ist Zeit für mehr Gerechtigkeit . Wir haben gute
Vorschläge dafür . Gerechtigkeit bedeutet auch soziale
Sicherheit . Daran arbeiten wir, und dafür werden wir mit
aller Kraft kämpfen .
({1})
Vielen Dank . - Das war ein wunderbares Beispiel dafür, wie lange ein letztes Wort sein kann . Wenn das alle
so machten, dann würden wir gar nicht mehr fertig .
Ich schließe die Aussprache .
Wir kommen zu den Abstimmungen; wir haben mehrere .
Zunächst stimmen wir über den Tagesordnungspunkt 42 a und den Zusatzpunkt 9 ab . Hier haben sich
die Fraktionen darauf geeinigt, die Vorlagen auf den
Drucksachen 18/11796 und 18/12557 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen . Ich sehe, Sie sind damit einverstanden . Dann sind die
Überweisungen so beschlossen .
Wir kommen zur Abstimmung über den Tagesordnungspunkt 42 b . Hier handelt es sich um die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Kinder und Familien von Armut befreien - Aktionsplan gegen Kinderarmut“ . Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/12454, den Antrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 18/10628 abzulehnen . Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die
Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen .
Wir stimmen über den Tagesordnungspunkt 42 c ab .
Hierbei handelt es sich um die Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel
„Kinderrechte umfassend stärken“ . Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 18/11886, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/6042 abzulehnen . Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen .
Herzlichen Dank für diese Abstimmungen .
Ich rufe Tagesordnungspunkt 43 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
25 Jahre Europäische Charta der Regionaloder Minderheitensprachen - Gemeinsamer
Auftrag
Drucksache 18/12542 ({0})
Interfraktionell wurden für diese Aussprache 38 Minuten vorgesehen . - Ich höre von Ihrer Seite keinen Widerspruch . Dann ist so beschlossen . - Ich darf Sie bitten,
die Plätze einzunehmen .
Ich eröffne die Aussprache . Das Wort hat für die CDU/
CSU-Fraktion Hartmut Koschyk .
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist gut, dass wir heute einen Antrag beraten, der eine
breite Mehrheit im Deutschen Bundestag genießt, der
von den Koalitionsfraktionen eingebracht worden ist und
der auch die Zustimmung von Bündnis 90/Die Grünen
findet. Wir haben in dieser Woche bei dem traditionellen Gespräch zwischen den autochthonen Minderheiten
in Deutschland und der Sprechergruppe der Niederdeutschen mit dem Innenausschuss unter Vorsitz von Herrn
Kollegen Heveling auch Zustimmung der Fraktion Die
Linke angekündigt bekommen .
({0})
Es ist gut, dass Minderheitenpolitik in Deutschland für
die vier autochthonen Minderheiten und die Sprechergruppe der Niederdeutschen kein Thema von Parteienstreit ist .
Es ist schön, Frau Präsidentin - ich sage das sicher
auch mit Ihrer Genehmigung -, dass es Bundestagsverwaltung und alle Fraktionen im Bundestag ermöglicht
haben, dass heute Vertreter aller autochthonen Minderheiten in Deutschland, der Sprechergruppe der Niederdeutschen und der europäischen Dachorganisation im
Bereich der Minderheitenpolitik, der Föderalistischen
Union Europäischer Nationalitäten, von der Besuchertribüne des Deutschen Bundestages diese Debatte verfolgen können . Das ist gelebte politische Partizipation von
Minderheiten in Deutschland im Hinblick auf die für sie
zu führenden Debatten .
({1})
Aufhänger für unseren heutigen Antrag und die Debatte ist der 25 . Jahrestag der Verabschiedung der Charta
der Regional- oder Minderheitensprachen, die auf der
Ebene des Europarates vor 25 Jahren zur Zeichnung aufgelegt worden ist . 25 Mitgliedstaaten des Europarates
haben die Charta inzwischen ratifiziert. Die Bundesrepublik Deutschland gehörte zu den Ländern, die sie ganz
schnell gezeichnet und ratifiziert haben. Diese Charta
bildet gemeinsam mit dem Rahmenübereinkommen zum
Schutz nationaler Minderheiten das wichtigste Werteund Rechtsgerüst zum Schutz autochthoner Minderheiten und ihrer Sprachen in Europa .
In dem Antrag, den wir heute dem Deutschen Bundestag zur Befassung vorlegen, ist formuliert, was im Bereich der Minderheitenpolitik in Deutschland in diesen
25 Jahren und davor erreicht wurde . Aber - und dafür
bin ich sehr dankbar - wir ruhen uns auf dem Erreichten
nicht aus, sondern wir formulieren Aufträge für die Zukunft; denn in der Minderheitenpolitik - jeder, der sich
damit beschäftigt, weiß das - ist Stillstand Rückschritt .
Wir müssen deshalb die Erfordernisse eines modernen
Minderheitenrechts immer an die Erfordernisse der modernen Lebenswirklichkeit anpassen .
Als wir in dieser Woche mit dem beratenden Ausschuss für die Angelegenheiten des sorbischen Volkes
die aktuellen Anliegen des sorbischen Volkes diskutiert
haben, ist uns allen, den Kolleginnen und Kollegen im
Bundestag und den Ländervertretern, von den Vertretern
des sorbischen Volkes sehr plastisch deutlich gemacht
worden, dass die Veränderungen in der Wirtschafts- und
Infrastruktur wie die Veränderungen beim Braunkohleabbau in den Hauptwohngebieten des sorbischen Volkes
in Brandenburg große Auswirkungen auf die Zukunftschancen der jungen Generation dort haben .
Wenn ich mir die Situation unserer vier autochthonen
Minderheiten und der Sprechergruppe der Niederdeutschen anschaue, muss ich sagen: Wir haben viel erreicht;
aber es bleibt auch in Zukunft noch viel zu tun .
Ich danke vor allen Dingen den Kolleginnen und Kollegen des Deutschen Bundestages, die in den beratenden
Ausschüssen für die Dänen, für die Sorben, für die Friesen, für die Sinti und Roma und für die Sprechergruppe
der Niederdeutschen engagierte Parlamentsarbeit leisten .
Ich danke dem Parlament, dass es in den letzten Jahren
die Ansätze in den verschiedenen Haushalten für die autochthonen Minderheiten und die Sprechergruppe der
Niederdeutschen über die jeweiligen Regierungsansätze
hinaus erhöht hat . Es ist gut für die Minderheitenpolitik,
Rückenwind aus dem Parlament und keinen Gegenwind
zu bekommen .
Bei den Themen, die vor uns liegen, brauchen wir die
Unterstützung des Bundestages . Wir müssen aber auch
eng mit unseren Bundesländern zusammenarbeiten; denn
die Verpflichtungen, die Deutschland eingegangen ist,
sind in unserem föderalen Staatsaufbau Verpflichtungen,
die Bund und Länder gemeinsam erfüllen müssen . Ich
will nicht verhehlen, dass es da auch Sorgen gibt - Sorgen, die wir versuchen müssen im Bundestag anzugehen,
Sorgen, die wir gemeinsam mit den Ländern angehen
müssen .
Ich finde es sehr gut, dass die beiden innenpolitischen
Sprecher der Koalitionsfraktionen in einer Anhörung
deutlich gemacht haben - dafür danke ich Stephan Mayer
und Burkhard Lischka -, dass es gute Gründe gibt, beim
Deutschen Bundestag auch ein Expertenkomitee für Fragen des Antiziganismus einzurichten . Es wäre gut, wenn
aus dem Deutschen Bundestag heraus eine Willenserklärung erfolgen würde, dass eine solche Kommission, die
auch von allen autochthonen Minderheiten im Minderheitenrat unterstützt wird, in der nächsten Legislaturperiode beim Deutschen Bundestag eingerichtet wird .
({2})
Ich will auch die Sorge nicht verhehlen - wir hören
zwar gute Worte -, ob die Länder Niedersachsen, Bremen, Hamburg und Schleswig-Holstein, nachdem sie
dem Institut für niederdeutsche Sprache quasi die Auflösung anheimgestellt haben, etwas Gutes und Zukunftsweisendes für die künftige Beschäftigung mit der niederdeutschen Sprache errichten wollen . Die Botschaft höre
ich wohl, allein mir fehlt der Glaube . Es wird auch eine
Aufgabe des Bundestages sein, dies zu begleiten .
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
Auf Bundesebene werden wir übrigens sicherstellen,
dass für den Bundesrat für Niederdeutsch wie für die anerkannten Minderheiten ein Minderheitensekretariat, ein
Sekretariat für die niederdeutsche Sprache, geschaffen
wird . Haushaltsmäßig haben wir schon vorgesorgt . Ich
meine, es macht Sinn, dass dieses Sekretariat wie das
Minderheitensekretariat in Berlin angesiedelt wird .
({3})
Zum Schluss, liebe Kolleginnen und Kollegen, möchte ich Sie bitten, eine Initiative zu unterstützen, die echten europäischen Bürgersinn zum Ausdruck bringt: das
Minderheitenschutzpaket . Dieses wurde im Hinblick auf
die Registrierung der Europäischen Bürgerinitiative für
die Minderheiten in Europa ein Stück weit gegen den
Willen der Kommission durchgesetzt . Die vergangene
Kommission hat sie nicht zugelassen . Daraufhin haben
die Initiatoren erfolgreich vor dem EuGH geklagt . Die
jetzige Kommission hat sie zugelassen .
({4})
Ich habe heute früh das Maßnahmenpaket der Europäischen Bürgerinitiative für mehr Minderheitenschutz
in Europa unterzeichnet . Ich lade alle Kolleginnen und
Kollegen des Deutschen Bundestages ein, es mir gleichzutun . Damit setzen wir das Signal, dass wir mehr und
besseren Minderheitenschutz in Europa wollen als eine
der besten Formen von Friedens-, Versöhnungs- und Verständigungspolitik .
Und jetzt kommen Sie aber bitte zum Schluss .
Ich schaue, Frau Präsidentin, auf die Zeit und komme
in meiner letzten Rede vor dem Deutschen Bundestag
zum Schluss .
Okay .
Das zeigt, wie wichtig es ist, dass Parlament, Regierung, Bund und Länder, aber auch Zivilgesellschaft in
Deutschland auch in Zukunft gute Minderheitenpolitik
für die Minderheiten in unserem Land, aber auch in Europa leisten .
Herzlichen Dank .
({0})
Vielen Dank . - Ich darf die nachfolgenden Rednerinnen und Redner bitten, sich an die Redezeiten zu halten .
Wir haben noch eine ganze Menge an Tagesordnungspunkten .
Jetzt hat Herbert Behrens für die Linke das Wort .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sprache hat etwas mit Heimat zu tun, Sprache hat etwas
mit Identität zu tun . Das gilt insbesondere für Minderheitensprachen . Hier ist es wichtig, dass sich Gruppen
treffen können, um sich in ihrer Muttersprache, in ihrer
Ursprungssprache zu verständigen . Das gilt für schon
lange hier lebende Minderheiten, das gilt nicht weniger
auch für Zugewanderte . Es geht darum, dass Identitäten
erhalten werden können und es den Menschen erlaubt
sein soll, sich in ihrer Sprache zu unterhalten, und das
öffentlich und zu jeder Zeit .
({0})
Wir unterstützen deshalb den Ansatz, der im vorliegenden Antrag enthalten ist . Es geht darum, Minderheitensprachen zu fördern; denn sonst droht ein Verlust an
Identität und es fehlen auch ein Stück weit die kulturellen
Wurzeln, die mit Sprache und Habitus zu tun haben . Wir
wissen zwar viel über die Welt, aber manchmal wissen
wir herzlich wenig über Nachbarschaft . Ich glaube, es erdet Menschen, es verwurzelt Menschen, wenn sie mehr
über sich, über ihr Umfeld, über ihre Herkunft wissen .
Wir begrüßen Initiativen zum Schutz von Minderheiten und von Regionalsprachen der Minderheiten . Darum
ist es gut, dass in dem vorliegenden Antrag aufgezeigt
wird, wie die Bundesländer damit umgehen und welche
guten Initiativen es da gibt . In Brandenburg gibt es den
Maßnahmenplan für Niedersorbisch und Niederdeutsch,
in Westdeutschland gibt es diverse Vereinbarungen zum
Erhalt der dort vorkommenden Minderheitensprachen .
Thüringen ist in dem Antrag nicht aufgeführt . Dort gibt
es jetzt eine Vereinbarung mit dem Zentralrat Deutscher
Sinti und Roma . Ich glaube, das ist eine gute Vereinbarung .
({1})
Wir stellen fest: In den Landesregierungen, an denen
wir beteiligt sind, handelt die Linke im Sinne der Sprachenminderheiten . Insofern - ich habe es per Einwurf
schon gesagt - finde ich es bedauerlich, dass die Linksfraktion den vorliegenden Antrag nicht mitzeichnen sollte . Es wäre, glaube ich - die Kollegin Ulla Jelpke hatte
bereits im Ausschuss darauf hingewiesen -, gut gewesen,
wenn es einen gemeinsamen Antrag gegeben hätte .
({2})
Trotzdem unterstützen wir den vorliegenden Antrag: als
Abgeordnete, als Bürgerinnen und Bürger und auch als
Partei . Ein Hinweis jedoch, vielleicht für die nächste
Wahlperiode: Dieser Antrag gehört eigentlich nicht an
das Ende, sondern an den Anfang einer Wahlperiode .
({3})
Denn dann können wir die Umsetzung von Beschlüssen auch kontrollieren und vielleicht nachsteuern, wenn
manches nicht auf den Weg gebracht worden ist .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir schätzen unsere
Vielfalt und unsere kulturellen Identitäten . Darum schützen wir Minderheiten - hier schon lange lebende und
dazukommende - und auch die Minderheitensprachen .
Wenn Sie erlauben, Frau Präsidentin - wir sollten ja nicht
nur über Minderheitensprachen sprechen, sondern vielleicht auch in Minderheitensprachen -, will ik versöken,
so’n poor Wöör ok in Plattdüütsch to seggen .
({4})
Spraak is Heimat, Spraak hett wat mit Identität to
doon, wi weet, wo wi herkaamt, un wi köönt kieken, wo
wi henwüllt . Wenn dat nich mööglich is, denn verleert
wi wat, denn verleert wi ok en gesellschaftlichen
Tosamenhang . Ik glööv, Spraken - un ok Plattdüütsch un
annere Minderheitenspraken - köönt so eniges maken .
({5})
Denn is goot, dat dat düssen Andrag gifft . Dor steiht
en Menge in, wat wi maken wüllt mit Minderheiten un
wat wi mit ehr Spraken maken wüllt . Ik heff wat vertellt
ut Brandenborg, de hebbt wat maakt för Neddersorbisch
un Nedderdüütsch . Un in Thüringen gifft dat ok en
Vereinbarung mit den Zentralrat vun Sinti un Roma .
Wi as Linke finnt dat wichtig, dat wi mit us Spraak wat
maakt un ok versöökt, dat hier in’t Plenum to bringen,
ok wenn wi nich ganz so kommod dormit sünd . Wi wüllt
geern den Andrag, de hier vörliggt, mit unterstützen .
Wi maakt dat nu mit de Afstimmung, wi hebbt dat nich
daardör maken kunnt, dat wi mit op den Andrag opstaht .
Wi wüllt ok in de nächste Wahlperiode dor wat to maken .
Dorum is dat wichtig, dat wi an’n Anfang vun de nächste
Wahlperiode so’n Andrag op’n Disch kriegt . Denn köönt
wi ok kontrollieren, ob dor wat ut worrn is . Un wenn
dat nich umsett worrn is, dat wi noch mal mit en egen
Andrag dor achterangahn köönt .
Leve Kolleginnen un Kollegen, wi finnt dat goot, dat
hier in Düütschland so’n Vielfalt vun Spraken un vun
Minderheiten sünd . Wi wüllt dat schützen . Wi wüllt dat
geern ok in de Tokunft so holen: Wi wüllt Minderheiten
schützen, wi wüllt ehr Spraak schützen . Un denn köönt
wi ok en gode Gesellschaft opboen, wo all ehren Platz
hebbt .
Besten Dank .
({6})
Vielen Dank . - Jetzt hat die Kollegin Karin EversMeyer für die SPD-Fraktion das Wort .
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Leve Plattsnackers! „Dat Plattdüütsche
kummt vun’t Hart, dat Hoochdüütsche ut’n Kopp“, so
seggt man to Huus bi us .
Mi freit dat, dat ik mien letzte Reed vondagen in Platt
snacken kann . Un mi vun Harten bi jo, miene Kollegen
in den Düütschen Bunnestag, för dat gode Mit’nanner
bedanken kann .
({0})
Ik kann nu al seggen: Dat weer en gode Tiet!
Leve Froenslüüd, leve Mannslüüd! Börgerrechte
speelt in us Land un ok in Europa en grote Rull . Un dat
is ok goot so . Dor höört mit to, dat de lüttjen Spraken
un Kulturen, de dat in Düütschland al alltiet geven hett,
schützt warrt .
Ik seh, de een oder annere maakt sik hier Sorgen üm
dem Stenografischen Deenst.
({1})
Also, wi hebbt dorför sorgt, ik hebb dorför sorgt, dat
de rechte Utfertigung denn ok al bi de liggt, denn is dat
Wark nich so stuur .
Also: För den Schutz sorgt de Rahmkuntrakt för den
Schutz vun natschonale Minderheiten un de Europäische
Charta vun de Regional- un Minderheitenspraken .
25 Johr is dat nu her, dat de Europaraat de
Sprakencharta opleggt hett . 1998 hett ok Düütschland de
Charta ünnerschreven . Allens, wat an Förderung för de
Regional- un Minderheitenspraken in Düütschland löppt,
hebbt wi de Charta to verdanken . De Bunnslänner sünd vunwegen de „Kulturhoheit“ - dorför tostännig, dat de
Charta ok würklich överall ümsett warrt .
Mit sien Ünnerschrift hett Düütschland toseggt: Ja, wi
wüllt de Spraken vun de natschonalen Minderheiten Stütt
un Stöhn geven . - Dat is dat Däänsche, dat Noord- un dat
Saterfreesche, dat Nedder- un dat Obersorbische un ok dat
Romanes . Aver dat gellt genauso för de Regionalspraak
Nedderdüütsch .
Dat eenmal in de Legislatur hier in den Bunnesdag
de Minderheitenspraken - in Englisch nöömt man dat ja
neudeutsch sotoseggen „Native Speaker“ - hier ok mal
snacken köönt,
({2})
so as ehr dat Muul wussen is, dat hebbt wi ok de Charta
to verdanken .
Ik snack Nedderdüütsch oder, as wi bi mi to Huus
seggt, Platt . Platt is nich, so as vele dat meent, een
Dialekt . Plattdüütsch is de ole Spraak vun de Hanse .
Dorüm warrt dat vandagen noch in acht Bunneslänner
snackt . Tohuus is de nedderdüütsche Spraak in Bremen,
Hamborg, Mekelnborg-Vörpommern, Neddersassen un
Schleswig-Holsteen un denn noch in de nöördlichen Dele
vun NRW, Sassen-Anholt un Brannenborg .
Mit de Annahm vun die Charta hebbt de Länner nu över
Grenzen hinweg toseggt - dat is ja nich immer so ganz
eenfach -, se wüllt wat för den Bestand vun de Spraak
doon . De Länner Schleswig-Holsteen, Neddersassen,
Bremen un Hamborg hebbt düssen Opdrag an dat Institut
för nedderdüütsche Spraak geven . Wi seggt jümmer
INS dorto, dat is körter . Wi Plattdüütschen sünd nich so
ümständlich .
In dat INS hebbt sik de Plattsnackers tohoopdaan . Se
hebbt sik al 1972 as Vereen grünnt . De Vereen maakt
gode, wichtige Arbeit, kümmert sik üm de Spraak, üm
de Minschen, de Platt snackt . He sammelt un bringt wat
in Gang bi Kultur un Literatur, bringt de Plattsnackers
in Nettwarken tohoop un hett immer en Oog dor op, dat
de Spraak nu ok noch bi de jungen Minschen ankümmt .
De nich bit INS organisierten Plattdüütschen - de
Theater, Verene, Verbänn un Hoochscholen in all de
Bunnslänner - hebbt bannig gau begrepen, dat se, wenn
se överhaupt wat dörsetten wüllt för ehre Spraak in
Düütschland un Europa, denn över de Grenzen weg mit
een Stimm snacken mööt . Dat maakt nu de Bunnsraat för
Nedderdüütsch . Dat sünd allens Ehrenamtlers, de nipp
un nau henkiekt, wat de Sprakencharta ok ümsett warrt
un wo dat nu woll haken deit . Un dat maakt se vör allen
Dingen op de Bunns- un Europaebene . Dat is veel Arbeit
un enigs veel to veel för Ehrenamtlers .
De Verbänn vun de natschonalen Minderheiten gung
dat nich anners . De kunnen ehre Arbeit ok nich mehr
ehrenamtlich leisten . So is 2005 för de natschonalen
Minderheiten ein Sekretariat inricht worrn . Düt
Minderheitensekretariat kann sik nu aver nich för de
Plattdüütschen insetten . Dat is bit vandagen en würklich
groten Nadeel för de Plattsnackers . Un dat wüllt wi mit
usen Andrag in de Reeg bringen .
({3})
Denn de meisten Plattsnackers höört ja to kene natschonale
Minderheit to . Dorüm is Plattdüütsch utgerekent ok keen
Minderheitenspraak . Un dat gifft deswegen auch keen
hauptamtliche Steed för se .
Leve Froenslüüd, leve Mannslüüd, 25 Johr gifft dat de
Sprakencharta, un dat hett so’n aktive Sprakenpolitik seggt wi in Needüütsch - in Gang sett . Trotzdem is dat
mit use Regionalspraak wieter bargdal gahn . Immer
weniger Minschen snackt platt . 1984 hebbt noch ungefähr
6 Millionen Minschen Platt snack . De letzte grote
Ümfraag vun dat Institut för nedderdüütsche Spraak vun
2016 seggt: Nu sünd dat blots noch 2,5 Millionen . - Dat
heet, in man blots een Generatschoon hett sik de Tahl
vun de Plattsnackers so goot as halbeert . De Ümfraag
seggt ok: Bi Schoolkinner kummt de Spraak meist gor
nich mehr an .
Aver een gode Naricht heff ik doch: De Lüüd möögt
Platt . Se verlangt ok, dat mehr för use Regionalspraak
maakt warrn müss, un dat verlangt se in all de acht
Länner, wo Platt snackt warrt .
Dor passt dat överhaupt nich in’t Bild - Herr Koschyk
hett dat al seggt -, dat de Länner Bremen, Hamborg,
Neddersassen un Schleswig-Holsteen den Verdrag för
dat Institut för nedderdüütsche Spraak opkünnigt hebbt,
({4})
un dat in en Tiet, wo wi för us Spraak Ideen bruukt,
wo ok in’n Kinnergoorn un in de School vunwegen de
Tweesprakigkeit - ik denk dor blots an Schoolböker wat in Gang sett warrn mütt, över Lännergrenzen weg .
Denn Spraak maakt doch vör Grenzen nich Halt .
De Plattsnackers hebbt sik gegen de Kündigung
wehrt, jüst so as de Bunnsraat för Nedderdüütsch . Mi
hebbt vele Minschen schreven, dat se sehr untofreden mit
de Kündigung sünd . De Lüüd fraagt sik, wo se vun 2018
an mit all ehr Fragen üm dat Plattdüütsche hen schüllt .
Wer övernimmt in Tokunft de Arbeit vun’t INS un för
de Plattdüütschen? Wer is tostännig för de Regerungen,
för de Expertenkommissionen vun den Europarat? Wer
unterstützt nu de plattdüütschen Bühnen, Initiativen
un Bürgerverene mit Rat un Tat? Wer maakt denn de
wissenschaftliche Arbeit? - Op düsse Fragen mööt de
Länner so gau as mööglich Antwort geven . So richtig
veel för de Regionalspraken hebbt de Länner ja noch nie
maakt . Schleswig-Holsteen is en beten dorvun utnahmen .
Besünners de Tosammenarbeit ünner de Länner hett
selten klappt . Ik weet to’n Bispill vun en Wettbewerb vun
Schooljungen un -deerns, de is vun Schleswig-Holsteen
wunnen worrn, aver Neddersassen hett dat Priesgeld nich
betahlen wullt, wiel de Neddersassen ehr Geld blots för
Neddersassen utgeevt - mütt man sik mal vörstellen .
({5})
So süht de Realität vunwegen de Tosammenarbeit
twüschen de Länner ut .
Um de Länner so’n beten op’t Peerd to setten un
de Plattdüütschen in ehr Nootlaag to helpen, hett sik
de Beraten Utschuss en Plaan vörleggen laten un de
Bunnslänner hebbt en Koordinerungssteed anreegt;
aver dor is nich veel bi rutsuert, egens weer dat en beten
ärmlich . An düsse Steed much ik mi aver bi Se, Herr
Koschyk, vun Harten för ehr Engagement bedanken .
Herr Koschyk, blots mit Ehre Hölp hebbt wi tosamen mit
den Beratenden Utschuss noch en beten wat henkregen .
Leve Froenslüüd un Mannslüüd, de ehrenamtliche
Arbeit, also de Arbeit vun den Bunnsraat un de NGOs,
mütt ünnerstützt warrn . Deswegen seggt de Koalition
ok in düssen Andrag, de Regionalspraak Nedderdüütsch
kriggt genauso as de Minderheiten tokünftig en
Nedderdüütschsekretariat in Berlin .
({6})
Dat Sekretariat schall den Bunnsraat för Nedderdüütsch
bi sien spraakpolitische Arbeit to Hand gahn . Dormit
hett de Bund sien Plicht un Schuldigkeit för dat
Nedderdüütsche daan .
De grote Wunsch vun de Plattsnackers is nu, dat ok de
Länner sik besinnt - mööglichst all acht tosamen -, dat
de de Verplichtungen vun de Charta erfüllt un dat Institut
för nedderdüütsche Spraak dorbi nich vergeet .
Velen Dank un atschüss . Laat jo dat gootgahn!
({7})
Vielen Dank, Frau Kollegin Evers-Meyer . - Wenn ich
das zwischendrin einmal sagen darf: Meine Bewunderung, meine Hochachtung gilt unseren Stenografen, die
hier Höchstleistung vollbringen .
({0})
Jetzt hat das Wort der Kollege Cem Özdemir für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
unserem Land gibt es mehrere Minderheitensprachen:
Dänisch in drei Varianten in Schleswig-Holstein, Obersorbisch in Sachsen, Niedersorbisch in Brandenburg,
Nordfriesisch in Schleswig-Holstein, Saterfriesisch in
Niedersachsen, Romanes und schließlich die Regionalsprache Niederdeutsch oder Platt unter anderem in Bremen, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Schleswig-Holstein und im Deutschen Bundestag .
({0})
Um es klar zu sagen: Keine dieser Sprachen ist eine
ausländische Sprache . Sie sind Teil unseres Kulturerbes
und damit einheimische Sprachen .
({1})
Deshalb muss man die Übergriffe beispielsweise gegenüber der sorbischen Bevölkerung in Form von Übermalen sorbischer Ortsschilder, Hassgruppen auf Facebook,
gewalttätigen Attacken rechter Schläger auf sorbische
Jugendliche deutlich ansprechen und unmissverständlich
verurteilen .
({2})
Das sorbische Leben in der Lausitz ist seit dem frühen Mittelalter, also seit über 1 400 Jahren, belegt, viel
länger als jede deutsche Präsenz in diesen Landstrichen .
Deshalb ist es absolut widerlich, wenn Angehörige dieser
Volksgruppe nun in ihrem eigenen Land von Rassisten
als Fremde angefeindet werden . Auch das darf niemanden von uns kaltlassen .
({3})
Mich freut es sehr, dass hier alle große Anhänger der
Sorben sind . Dann können wir diese Debatte doch gleich
zum Anlass nehmen, für die letzten Dörfer der Sorben in
der Niederlausitz, die gerade vom Tagebau bedroht sind,
etwas zu tun und zu sagen: Diese Dörfer erhalten wir . Denn das Dorf kann man nicht von der Sprache trennen,
meine Damen und Herren .
({4})
Genauso wenig wegschauen dürfen wir beim Antiziganismus in unserem Land, bei der Diskriminierung
beim Wohnen, bei Bildung, Arbeit und Gesundheit . Auch
da gib es schon lange die Forderung, dass wir, so ähnlich wie beim Antisemitismus, einen unabhängigen Expertenkreis einsetzen, der sich mit dem Antiziganismus
beschäftigt . Ich will lobend erwähnen, dass das Land Baden-Württemberg, mein Heimatland, mit den Roma und
Sinti einen Staatsvertrag geschlossen hat, in dem auch
drinsteht, dass es die gemeinsame Heimat ist .
({5})
Das gibt mir, wenn Sie gestatten, die Gelegenheit, einen persönlichen Bezug in die Debatte einzubringen und
den zweiten Teil meiner Rede in einer meiner zwei Muttersprachen fortzusetzen, nämlich auf Schwäbisch .
({6})
Im Gegensatz zu dem, was viele, wenn sie meinen Namen das erschte Mal hören, glaubet, waren die erschten
Worte, die ich im Kreißsaal von Bad Urach im Herzen
der Schwäbischen Alb gehört hab, keineswegs Türkisch;
({7})
denn meine Mutter war damals mit anderen Dingen beschäftigt, nämlich damit, mich auf die Welt zu bringen .
Es waren schwäbische Worte, die ich das erschte Mal in
meinem Leben im Kreißsaal der Stadt Bad Urach gehört
hab . Ich gebe zu: Die Erinnerung verblasst im Alter etwas, wie das halt manchmal so isch .
({8})
Ich will das zum Anlass nehmen, zu sagen, dass der
Richard Sennett uns nich umsonschd dran erinnert hat in
seinem großartigen Buch Der flexible Mensch: Eine der
unbeabsichtigten Folge’ vom moderne Kapitalismus, des
isch die Sehnsucht der Menschen nach Verwurzelung .
Deshalb koscht du Heimat doch gar ’et vom Dialekt
trenne; des g’hert z’samme . Heimat und Dialekt, das ist
ois für ons, und es wär gut, wenn m’r des älle miteinander so sehet und au unterstützet .
({9})
Ich fend, ’s isch endlich Zeit, dass m’r aufheret mit
dem Irrsinn - i hab des no erlebt in meiner Schul, von
Lehrerinne’ und Lehrer und manchmal auch von Erwachsene -, dass m’r Kändr de Dialekt austreibe will .
Des miass m’r stoppe! Kändr sollet Dialekt schwätze . Da
fällt näam’rd en Zacke aus d’r Krone, liebe Kolleginnen
und Kollege’ .
({10})
Ich will uns alle au ermutige’ . Ich sag des au selbstkritisch . I ertapp mi doch selb’r d’rbei, dass i oft gnug
omswitch, wie m’r heitzutag so schee sagt, auf des offizielle Deutsch . Es fällt au uns Politiker koin Zacke aus der
Krone - na wer’n mer vielleicht au wieder besser verstande von die Leut -, wenn m’r so schwätzet, wie ons
d’r Schnabel gewachse isch . Des schad’ ons net - ganz
im Gegeteil, liebe Kolleginnen und Kollege’ .
({11})
I will a Brück baue zur andre Muttersprach, die i
au hab: das Türkische . Mir hat das oglaublich g’holfe, zu sehe, dass au Deutsche a Problem hen mit ihrer
Sproch, wenn sie vom Schwäbische ins Hochdeutsche
rumswitche müsset . Meiner Mutter goht’s heit no so: Die
hat a Mischung aus Schwäbisch und Türkisch . I woiß net,
wie das g’nannt wird . Also, des schadet au nix, wenn m’r
de Flüchtlinge helfet, dass se Deutsch lernet, aber gerne
au, wenn se wellet, die Mundart lernet . Au des g’hert für
mi zu r’a gute Integrationspolitik dazu .
({12})
Etzt will i eahne zum Schluss was sage, was no koiner hier g’sagt hat: Des isch au gut für d’Außepolitik .
Wenn wir Regionalsprache, wenn wir Minderheitensprache pfleget, sin m’r doch viel glaubwürdiger, wenn m’r
der Türkei saget: „Ganget anderschd om mit Kurdisch“,
wenn m’r de Chinese saget: „Ganget anderschd om mit
Uigurisch .“ - Du bischd glaubwürdig, wenn du des,
was du de andere verzählscht, bei dir im eigene Land
machschd . Also ganget m’r da mit gutem Beispiel voran .
I hab als Politiker noch en persönliche Grund, warum
i Mundart klasse fend . Wenn i jetzt hier zum Beispiel en
Kollege begrüße tät: „Ja, was machschd du alt’s Arschloch da?“ - Auf Schwäbisch isch des total nett .
({13})
- Wirklich, wirklich! - Wenn i des etzt allerdings auf
Hochdeutsch g’sagt hätt, hätt i a Rüge kriagt . Also, der
Joschka Fischer hat damals einen Fehler gemacht . Der
hätt’s auf Schwäbisch sage solle, dann wär nix passiert .
In diesem Sinne: Danke .
({14})
Nächster Redner ist der Kollege Ingo Gädechens für
die Fraktion der CDU/CSU .
({0})
Mien leev Präsident! Leev Kolleginnen un Kollegen!
Froens- un Mannslüüd op de Tribün! Veel Johr is
dat al her, dat ik hier in’n Saal mal so schöön as hüüt
Plattdüütsch höört heff . Dormals stünn hier an’t Pult
mien Kolleeg Wolfgang Börnsen ut den nöördlichsten
Wahlkreis vun Düütschland an de Grenz to de dänisch
Naverslüüd .
Ich heff noch dat Bild - un dat is ja nu al en
poormal ansnackt worrn - ok vun de Gesichter von uns
Schrieverslüüd hier in’t Parmlament vör Ogen . Aver wi
mööt dat Skript - dat ganz to Beruhigung vun jo all vörher afgeven . Un ik glööv, se schrievt dor so’n lütt
beten bla, bla, bla, weil se dat, glööv ik, gor nich verstaht,
wat hier an’t Pult snackt warrt .
Villicht fraagt ok de een oder anner: „Hebbt de dor
in’n Düütschen Bundesdag nix anneres to doon?“, un
villicht hebbt se sogor Recht . Aver wenn ik an so manch
annere Debatten torüch denken do, wat dor so an anner
Themen mennicheen rümbraselt un gesabbelt wird - un
manchmal is dor en Barg dumm Tüüch mit bi -, denn is
dat woll gor nich verkehrt, an en Spraak to erinnern, de
siet 1999 as Kulturerbe ünner Schutz steiht . Plattdüütsch
is de eenzige vun 20, de as Regionalspraak annerkannt is .
Ik bün en echten Holsteiner Jung . Mien Heimat liggt
an de Ostsee, un dor gifft dat so smucke Ostseebäder as
Timmdörper Strand, Scharbeutz, Grömz, Hiligenhaben,
Wittenhüser Strand, un ik sülvst wahn op de Insel
Fehmarn . Wi hebbt en wunnerbore Landschaft in uns
Holsteener Schweiz üm Malente bet hen to uns Kreisund Rosenstadt Eutin . Dor in de Kreisverwaltung gifft
dat de en oder anner Amtsstuuv, dort steiht an de Döör:
Ik snack Platt .
Ok uns Kreispräsident un Landrat geevt sik bannig
Möhg, bi de Traditionverbände Platt to snacken .
Un dormit dat beter flutscht, hett de Kreis sogar en
Plattdütschbeopdragten: Heiner Evers . He is en ganz
groten Verfechter för de plattdüütsche Spraak . Un wenn
de Schrievers un de een oder anner hier in’n Saal nich
allens verstaht, denn hebbt wi in dat World Wide Web
de Sied „Platt för Plietsche“ . Dor gifft dat sogor en
Wöörbook, un Se köönt allens wonnerbor nalesen un
översetten .
Mien Daams un Heren, wi nehmt dat Eernst mit de
Pleeg - aver dat is ok en groot Aggewars . Wie heet
dat so schöön op Hoochdüütsch: „Was Hänschen nicht
lernt, lernt Hans nimmermehr .“ Schall heten: Wi mööt
bi de Kinner anfangen . - Ok dat geiet an mach School
ganz goot, un mit dat Lehren vun plattdüütsch Leder un
Gedichte, aver ok mit plattdüütsch Theater . De Lütten
hebbt dorbi meist en bannig Vergnögen .
Pleegt warrt Plattdüütsch ok in de Schüttenvereen un
in de Gillen . Dorvon heff ik in mien Heimatwahlkreis
en ganzen Barg . Ik kann ehr gor nich all optellen; aver
anfungen över de Börgercompanie op Fehmarn vun
1494 - dor bün ik Hauptmann ({0})
gifft dat vele ole Gillen, de hebbt sik meist in ene Tiet
en Opdrag geven, sik ünnereenanner to verteidigen, as
dormals noch Schergen un düstere Gestalten dörch de
Lande trocken, um den een oder annern to beklauen .
Gillen un Broderschaften würen grünnt, dormit de een
för den annern insteiht .
Dat is nich oolt un konservativ, dat is hoochmodern:
Een för den annern instahn, Heimat, Sraak, Kultur
un Tradition bewohren - dat is nich oolt, dat is man
hoochaktuell . Junge Gillbröder un -süstern leevt dat to’n
Bispeel in de groot Börgergill vun Hiligenhaben, in de
Groot Eutiner Schüttengill, in de Niestätter Schüttengill,
in de Grömzer Börgergill un ok in de öllst Gill vun ganz
Düütschland, in Oldenborg bi de St . Johannes Doden- un
Schüttengill vun 1192 .
Ik nutz mal de Gelegenheit: En hartlichen
Glückwunsch geiht hüüt ut den Düütschen Bundesdag
an de Oldenborger Gill, de in dit Johr dat 825 Jubiläum
fiern warrt.
({1})
Ik frei mi all op den Kommers, op den Umtoch
dörch de ganze Stadt, op dat bunte Drieven in de
Zeltgemeinschaften, wenn wi, as in all de annern Johrn,
op den Vagel scheten warrt . - Op düssen Vagel warrt nich
schaten, Herr Präsident .
Wenn wi all tohoop en Spraak nich starven laten wüllt,
gifft dat veel to doon . An all mien Landlüüd in Bremen,
Hamborg, Schleswig-Holsteen, in Neddersassen, in
Meckelnborg-Vörpommern, man ok in dat nöördliche
Nordrhein-Westfalen segg ik: Leve Lüüd, snackt mal
wedder Platt .
({2})
Uns Radiosender vun den Noorddüütschen Rundfunk
segg ik: Dat mütt veel mehr plattdüütsche Sendungen
geven as nur Hör mal ‘n beten to.
Ji all hebbt mi en beten tohöört . Velen, velen Dank för
de Aufmerksamkeit .
({3})
Vielen Dank ebenso, lieber Kollege Gädechens . - Jetzt
hat zum Abschluss in dieser Aussprache die Kollegin
Maria Michalk für die Fraktion der CDU/CSU das Wort .
({0})
Česćeny knjez prezident! Sehr verehrter Herr
Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Und bei uns zu Hause
heißt das: Lubi bratřa a lube sotry! Witajće k nam!
Před 25 lětami je so Europska charta za regionalne
a mjeńšinowe rěče předpołožiła. Mjeztym su 25 statow
tutu podpisali. Němski stat běše jedyn z prěnich. Tak su w
Němskej rěče awtochtonych mjeńšinow a delnjoněmčina
jako regionalne rěče připóznate. Serbska rěč wězo k
tomu słuša.
Meine Damen und Herren, so klingt es auf Sorbisch,
({0})
wenn ich die gesetzliche Grundlage für unsere heutige
Debatte in meiner Muttersprache erkläre . Ich spreche
heute hier zum dritten Mal an diesem Pult in sorbischer
Sprache . Deshalb will ich mich ausdrücklich auch bei
Herrn Koschyk schon an dieser Stelle bedanken, der
durch seine hervorragende, engagierte Arbeit unter anderem dazu - aber auch vieles andere mehr - beigetragen
hat .
({1})
Rěč je kluč k wutrobam. Das heißt auf Deutsch: Die
Sprache ist der Schlüssel zu den Herzen . So praji, zo je
rěč najwažniši grat politikarjow. Man sagt, die Sprache ist
das wichtigste Werkzeug für uns Politiker . Aber für jeden
Menschen ist die Muttersprache das Wichtigste, weil es
Heimat ist . Ob er es nun selbst zugibt oder nicht - da bin
ich mit dem Kollegen Özdemir ganz einer Meinung -, es
ist Heimat. Za kóždeho čłowjeka je maćeršćina domizna,
hač wón to připóznaje abo nic.
Wir Sorben in der Oberlausitz und in der
Niederlausitz - hier wählen wir auch die Bezeichnung
Wenden - setzen auf die Bekenntnisfreiheit . Sie selbst
entscheiden, ob sie sorbisch bzw . wendisch sind oder
nicht . Auf Niedersorbisch heißt dieser Satz - und es ist
ein Unterschied zwischen diesen beiden Sprachen -: Wy
rozsuźijośo sami, lěc sćo serbska abo serbski abo nic. Wir
als sorbisches bzw . wendisches Volk haben uns niemals
über ein Territorium definiert, sondern immer über die
Kulturautonomie . Deshalb sind für uns die Sprache und
die Kultur von existenzieller Bedeutung, wie für jedes
andere Volk auch .
A tohodla smy na to pokazani, zo so w dwurěčnym
rumje našeje Łužicy serbšćina wězo doma w swójbach,
w cyrkwi a wosebje tež w zjawnej towaršnosći wužiwa a
rěči. Za to smy sej w 25 lětach dobry koncept nadźěłali,
po kotrymž w našich žłobikach, našich pěstowarnjach
a tež w našich šulach młodźi ludźo serbsce wuknu.
Das heißt jetzt: Wir sind darauf angewiesen, dass im
zweisprachigen Siedlungsgebiet unserer Lausitz Sorbisch
natürlich zu Hause in den Familien, in den Kirchen und
vor allem aber auch in der Öffentlichkeit gesprochen
und genutzt wird . Dafür haben wir uns in 25 Jahren eine
gute Grundlage, ein gutes Konzept erarbeitet, nach dem
in den Kinderkrippen, in den Kindergärten und auch in
den Schulen unsere Kinder Sorbisch lernen und damit
zweisprachig aufwachsen . Ich füge an dieser Stelle hinzu:
Wenn Sie alle etwas gegen die Demenzerkrankung eine große Gefahr für uns, weil sich das Lebensalter
der Gesellschaft stark erhöht - tun wollen: Lernen Sie
Sorbisch .
({2})
In der Sächsischen Verfassung und auch in der
Brandenburgischen Verfassung ist festgeschrieben, dass
der deutsch-sorbische Charakter des Siedlungsgebietes
der sorbischen Volksgruppe zu erhalten ist. Němskoserbski charakter sydlenskeho teritorija serbskeje
narodnosće ma so zdźeržeć. Tohodla mamy dwurěčne
tafle a smy tež na to pokazani, zo so wone korektnje pisaja.
Und deshalb sind wir auf zweisprachige Beschilderungen
an Straßen und auch auf Plätzen angewiesen . Nur bei
Autobahnschildern haben wir noch Nachholebedarf . Tu
mamy na zwjazkowej runinje hišće tójšto dźěła.
({3})
Dass ich heute hier in meiner Muttersprache sprechen
kann, ist ein starkes Signal; das will ich ausdrücklich sagen .
({4})
Und dass die Bundesförderung für die Stiftung für das
sorbische Volk auf sicheren Füßen steht, das ist auch ein
starkes Signal. Zusätzlich stehen finanzielle Mittel für
die Digitalisierung unserer Sprache bereit, und das zeigt:
Tradition und Fortschritt gehören zusammen . Das sind
zwei Seiten ein und derselben Medaille. Nětko pak dyrbi
so hišće Europska komisija sylnišo z mjeńšinowymi
naležnosćemi zaběrać. Zo by so to poradźiło, hromadźimy
runje jedyn million podpismow . Das war in Sorbisch der
Aufruf, den Herr Koschyk mit dem Plakat gezeigt hat .
Nětko chcych ja hišće rjec, zo je wažne, zo stykam
do susodnych krajow jako wobstatk našeje dźěławosće a wosebje tež we wobłuku Domowinskeho dźěła wulki wuznam přiměrimy. Das heißt, die Domowina
als die Sprecherin unseres Volkes koordiniert viele
engagierte Initiativen in unserer breiten, vielfältigen
kulturellen Arbeit. Aber sie pflegt auch ganz intensiv
Kontakte zu unseren Nachbarn, vor allen Dingen zu
unseren slawischen Nachbarn . Und diese Kontakte sind
ausgesprochen wichtig .
To podšmórnje, kajki wuznam serbšćina runje w
zwisku z našimi słowjanskimi susodami ma. Wer das
erleben will, den lade ich schon jetzt ein, in 14 Tagen in
die Lausitz zu kommen . Wir werden ein internationales
Folklorefestival haben, und dann können Sie die
Sorben in all ihrer Kunst, in ihrer breiten Gesangsund musikalischen Freude und vor allen Dingen in
ihrer Trachtenvielfalt und in den Kontakten zu allen
Minderheiten und Sprachgruppen der Welt kulturell
erleben . Kultur ist international . Sie versteht alles . Bitte
kommen Sie!
({5})
Sym přeswědčena, zo je serbska rěč wohrožena.
Tohodla dyrbimy za to wjele činić. Ale sym tež
přeswědčena, zo njebudźe so serbska rěč zhubić. Ich bin
überzeugt: Auch wenn die sorbische Sprache bedroht ist,
sie wird nicht vergehen. Přeju sej, zo tež w přichodnym
zwjazkowym sejmje serbska rěč zaklinči, byrnjež tu sama
hižo njebudu. Ich wünsche mir, dass auch im nächsten
Deutschen Bundestag die sorbische Sprache erklingt,
auch wenn ich selbst dann nicht mehr dabei sein werde .
Erlernen kann es jeder .
Und deshalb wünsche ich Ihnen jetzt ein gesegnetes
Pfingstfest. Žohnowane swjatki!
Wutrobny dźak. Herzlichen Dank.
({6})
Danke, liebe Kollegin Maria Michalk . - Ich möchte
noch eine Anmerkung machen . Es war für die Sitzungsleitung außerordentlich angenehm, diese Debatte zu leiten . Das zeigt, dass die Wertschätzung von Regional- und
Minderheitensprachen nichts mit babylonischer Sprachverwirrung zu tun hat, sondern viel mit gemeinsamem
Verständnis, Respekt, Wohlwollen und Harmonie . Danke
schön!
({0})
Jetzt kommen wir zur Abstimmung über den Antrag
der Fraktionen von CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die
Grünen auf der Drucksache 18/12542 ({1}) mit dem Titel
„25 Jahre Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen - Gemeinsamer Auftrag“ . Wer für diesen Antrag stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen . Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Niemand .
Damit ist der Antrag einstimmig mit allen Stimmen dieses Hohen Hauses angenommen .
({2})
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 44 a und 44 b auf:
a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Aktionsplan der Bundesregierung zur Umsetzung von Resolution 1325 zu Frauen, Frieden,
Sicherheit des Sicherheitsrats der Vereinten
Nationen für den Zeitraum 2017 bis 2020
Drucksache 18/10853
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({3})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-
lung
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Umsetzungsbericht zum Aktionsplan der
Bundesregierung zur Umsetzung von Resolution 1325 des Sicherheitsrats der Vereinten
Nationen für den Zeitraum 2013 bis 2016
Drucksache 18/10852
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({4})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . - Widerspruch
erhebt sich keiner . Dann ist das so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin Frau Staatsministerin Professor Dr . Maria Böhmer
für die Bundesregierung das Wort .
({5})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben eben, glaube ich, eine begeisternde Sprachreise erlebt . Jetzt darf ich Sie zu einem anderen, einem
außenpolitischen Thema mitnehmen . Die globale Studie
der Vereinten Nationen über die Umsetzung der Resolution 1325 kommt zu einem eindeutigen Fazit: Je größer
der Einfluss von Frauen auf einen Friedensprozess ist,
desto nachhaltiger ist der Frieden. Ich finde, das darf uns
hoffnungsvoll stimmen .
({0})
Frauen sind Trägerinnen politischer Prozesse, sie sind
Motor einer nachhaltigen Entwicklung, vorausgesetzt,
sie haben die Möglichkeit, am Verhandlungstisch Platz
zu nehmen . Ich will ein Beispiel aus der jüngsten Zeit
dafür bringen .
Der kolumbianische Friedensvertrag ist weltweit der
erste Friedensvertrag, der die Rechte von Frauen prominent integriert . Zahlreiche Frauenorganisationen waren
an der Entstehung dieses Friedensvertrags beteiligt . Expertinnen und Experten wurden zum Thema sexuelle Gewalt angehört . Vor allen Dingen wurden entsprechende
Folgerungen gezogen . Man kann zu diesem Friedensvertrag sagen: Das ist ein historischer Erfolg gewesen .
Der Grund, warum ich von einem historischen Erfolg
spreche, liegt darin, dass bisher nur jede 25 . Unterschrift
unter einem Friedensvertrag von einer Frau geleistet
wurde . Zwischen 1992 und 2011 waren nur 9 Prozent der
Verhandelnden in offiziellen Friedensprozessen Frauen.
Das ist ein ernüchterndes Ergebnis . Auch 17 Jahre nach
Verabschiedung der grundlegenden Resolution 1325
sind wir noch weit davon entfernt, dass Frauen weltweit
gleichberechtigt am Erhalt von Frieden und Sicherheit
mitwirken . Damit bleibt ein großes Potenzial ungenutzt .
Das heißt, es ist uns ein Ansporn, noch mehr Anstrengungen zu unternehmen, um die Rechte von Frauen auch
weltweit durchzusetzen; denn Frauenrechte sind Menschenrechte .
({1})
Für die Bundesregierung heißt das ganz klar: Wir werden uns weiter mit allem Nachdruck für den verbesserten
Schutz von Frauen und Mädchen vor sexueller Gewalt
in bewaffneten Konflikten engagieren. Wir werden uns
weiterhin auf allen Ebenen für die verstärkte Beteiligung
von Frauen in Friedensprozessen einsetzen .
Was ist nun neu an diesem zweiten Aktionsplan? Wir
haben dem Austausch mit zivilgesellschaftlichen Organisationen einen hohen Stellenwert gegeben; denn diese
zivilgesellschaftlichen Organisationen und gerade die
Frauen, die sich dort mit ihrer Expertise und ihren Partnernetzwerken einsetzen, leisten einen entscheidenden
Beitrag zur Umsetzung der Agenda „Frauen, Frieden und
Sicherheit“ in Deutschland und weltweit . Dafür möchte
ich allen einen sehr herzlichen Dank sagen .
({2})
Der Umsetzungsbericht zum ersten Aktionsplan für
den Zeitraum 2013 bis 2016 zeigt: Die Bundesregierung
hat erhebliche Ressourcen für den Schutz und die Förderung der Rechte von Frauen und Mädchen in Krisen und
Konflikten eingesetzt.
Ich will hier ein Beispiel für Deutschland bringen . Wir
schulen Personal von Polizei und Bundeswehr und aus
dem zivilen Bereich, das für Einsätze in Krisengebieten
vorgesehen ist . Das ist eine neue Weichenstellung .
Wir setzen uns dafür ein, den Frauenanteil in internationalen Organisationen zu stärken . Ein für mich sehr
begeisterndes Beispiel ist auch das African Women Leaders Network . Von deutscher Seite aus unterstützen wir
ein Projekt von UN Women in Kooperation mit der Afrikanischen Union . Dabei geht es darum, ein Netzwerk
politisch aktiver afrikanischer Frauen in Führungspositionen aufzubauen . Warum tun wir das? Das Ziel ist, dass
Frauen stärker an nationalen Wahlprozessen teilhaben .
Denn wir sind davon überzeugt, dass dies den gesellschaftlichen Prozess voranbringt . Ich glaube, man kann
solche Ansätze mit Fug und Recht als richtungsweisend
bezeichnen . Wir wollen sie weiter ausbauen .
({3})
Die Umsetzung der Resolution 1325 ist auch ganz im
Sinne der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung .
Das sagt sich aus heutiger Sicht so leicht daher . Ich selbst
habe die Verhandlungen in New York führen können . Es
war ein harter Kampf, ein Ziel durchzusetzen, von dem
ich überzeugt war, dass es heute selbstverständlich sein
wird, nämlich Geschlechtergerechtigkeit und Selbstbestimmung für Frauen und Mädchen als eigenes SDGZiel zu verankern . Hier war es extrem hilfreich, dass sich
die vielen Frauenorganisationen eingebracht haben . Wir
wussten alle ganz genau: Jetzt gilt es, jetzt müssen wir
Farbe bekennen, und jetzt müssen wir unsere Netzwerke
nutzen . Denn zwischen Geschlechtergleichstellung, dem
Schutz der Menschenrechte, nachhaltiger Entwicklung
und der Wahrung von Frieden und Sicherheit - darum
ging es - besteht ein ganz enger Zusammenhang . Ich
glaube, das muss in die Köpfe gebracht werden . Das Bewusstsein dafür muss geschärft werden . Deshalb war die
Verankerung bei den SDGs so wichtig .
Vizepräsident Johannes Singhammer
Dazu gehört auch, dass wir der sexuellen Gewalt in
bewaffneten Konflikten wirklich Einhalt gebieten. Denn
immer wieder benutzen Konfliktparteien und Terrorgruppen - ich erinnere hier an den „Islamischen Staat“
und an Boko Haram - Vergewaltigungen und Zwangsverheiratungen gezielt als Mittel der Kriegsführung . Wir
haben den Aufschrei erlebt - es gab ihn zu Recht -, als
die abscheulichen Verbrechen an den Jesidinnen und
den nigerianischen Schülerinnen geschahen . Sie haben
die Welt aufgerüttelt . Doch es darf nicht bei dem Aufruf
„Bring back our girls“ bleiben . Die meisten dieser grausamen Taten bleiben ungesühnt, die Täter ungestraft . Das
können wir nicht länger hinnehmen . Die Täter müssen
für schwerste Menschenrechtsverletzungen und für mutmaßliche Kriegsverbrechen zur Verantwortung gezogen
werden . Dafür werden wir uns einsetzen .
({4})
Der Schutz von Mädchen und Frauen sowie die Stärkung der Rechte von Frauen lassen uns nicht ruhen . Unsere Erfahrungen wollen wir weltweit mit anderen Frauen teilen . Wir wollen sie ermutigen und befähigen, sich
aktiv einzubringen und Verantwortung beim Schaffen
von Frieden, beim Wiederaufbau und bei der gleichberechtigten Mitgestaltung der Gesellschaft - auch nach
Beendigung von Konflikten - zu übernehmen. Dass
Frauen, wenn sie sich vernetzen, viel bewegen und Dinge zum Positiven verändern können, habe ich persönlich
hier und weltweit immer wieder erfahren . Ich habe das
auch gerne mit vorangebracht .
Nach 27 Jahren im Deutschen Bundestag ist das heute meine letzte Rede . Ich erinnere mich an meine erste
Bundestagsrede . Sie fand auch an einem Freitag vor einem Feiertagswochenende statt . Damals ging es um die
Lebenssituation von Frauen in Deutschland . Heute geht
es um die Lebenssituation und die Rechte von Frauen
weltweit . In diesen 27 Jahren - das können wir, glaube
ich, alle festhalten - hat sich für Frauen in unserem Land
viel verändert . Es muss sich aber noch weltweit viel für
Frauen verändern . Sich dafür einzusetzen, dazu möchte
ich Sie alle ermutigen .
Ich habe gerne und mit Leidenschaft für die Rechte
der Frauen, aber auch für unsere politischen Ziele hier
gekämpft . Ich gestehe Ihnen: Ich werde zeitlebens mit
Leib und Seele Bundestagsabgeordnete bleiben, auch
wenn ich diesem Hohen Hause nicht mehr angehöre .
Ich bin wirklich dankbar für die vielfältigen Aufgaben
und Funktionen, die ich wahrnehmen durfte . Damit habe
ich die Chance erhalten, Politik zu gestalten und etwas zu
bewegen . Dazu gehörte, so manches Mal heftig zu streiten . Aber wir haben gelernt: Streit in der Politik hat etwas Klärendes . Schließlich geht es um die beste Lösung .
Umso mehr habe ich mich gefreut, wenn wir am Ende
eines Streits ein Resultat erzielt haben .
Ich habe auch gelernt, dass es sich lohnt, am Ball zu
bleiben . Man erreicht manches Ergebnis nicht im ersten
Anlauf . Manchmal sind mehrere Anläufe notwendig .
Umso wichtiger ist dann, dass es Kolleginnen und Kollegen gibt, auf die man setzen kann . Was mich hier immer
wieder beeindruckt hat, ist die kollegiale und freundschaftliche Zusammenarbeit . Das, was uns über alle Partei- und Fraktionsgrenzen hinweg zusammengeführt hat,
ist das Eintreten für unsere Demokratie .
In diesem Sinne möchte ich allen einen sehr herzlichen
Dank für die gute und freundschaftliche Zusammenarbeit
sagen . Ich wünsche Ihnen allen und denen, die neu hinzukommen, allzeit eine glückliche Hand und alles Gute,
wenn Sie in Zukunft Entscheidungen über die Geschicke
unseres Landes treffen .
Herzlichen Dank .
({5})
Liebe Kollegin Böhmer, Sie haben nun sieben Legislaturperioden dem Hohen Hause angehört, und zwar in
vielen wichtigen und herausragenden Ämtern, in dieser
Legislaturperiode als Staatsministerin im Auswärtigen
Amt . Ich möchte Ihnen dafür nicht nur in meinem Namen, sondern auch im Namen des ganzen Hauses Hochachtung und Dank aussprechen . Herzlichen Dank!
({0})
Wir fahren fort . Ich gebe der Kollegin Kathrin Vogler
für die Fraktion Die Linke das Wort .
({1})
Vielen Dank, Herr Präsident . - Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Frau Staatsministerin, ich möchte Ihnen auch
im Namen meiner Fraktion alles Gute für Ihren weiteren
Lebensweg wünschen und auch, dass Sie noch viele Gelegenheiten haben, weitere Fortschritte für die Frauen in
diesem Land und weltweit zu beobachten .
Das, worüber wir heute diskutieren, sollte es, wenn es
nach der schwarz-gelben Koalition und der letzten Bundesregierung gegangen wäre, eigentlich gar nicht geben .
Sie haben uns jahrelang erklärt, ein nationaler Aktionsplan zum Schutz von Frauen und Mädchen in Gewaltkonflikten sei gar nicht nötig. Dann plötzlich, kurz vor
Ende der letzten Legislaturperiode, gab es ihn doch: den
Aktionsplan zur UN-Resolution 1325 . Die Begründung
lautete - wenn ich das einmal flapsig und kurz zusammenfassen darf -, man glaube zwar noch immer nicht,
dass ein solcher Aktionsplan nötig sei, dass man es aber
leid sei, sich ständig der öffentlich vorgebrachten Forderung erwehren zu müssen, und dass es daher einfacher
sei, einmal etwas aufzuschreiben . Das war natürlich ein
Lob für uns, die Opposition, aber vor allem für die vielen Organisationen der Frauen-, Friedens- und Entwicklungsbewegungen, die der Bundesregierung damals ordentlich Zunder gegeben haben . Dafür möchte ich mich
bedanken .
({0})
Allerdings wirkte dieser Aktionsplan dann auch eher
beliebig, von Unwilligkeit geprägt . Der Umsetzungsbericht krankt daran, dass es sich um ein buntes Sammelsurium vieler einzelner Initiativen der Bundesregierung
und der Zivilgesellschaft handelt . Aber auf die Frage,
was eigentlich gut funktioniert hat und was nicht, wo die
Bundesregierung noch Verbesserungsbedarf sieht, was
wirklich gewirkt hat, gibt er leider kaum eine Antwort .
Ohne eine solche Bestandsaufnahme fehlt natürlich die
Grundlage für die Neuauflage. Es gibt keine Beschreibung des Istzustands, keine klaren Ziele und keine Indikatoren . Eine Hilfsorganisation, die auf der Grundlage
eines solchen Umsetzungsberichts einen so nachlässig
ausgearbeiteten Projektantrag beim Auswärtigen Amt
oder beim Entwicklungshilfeministerium stellen würde,
bekäme von der Bundesregierung vermutlich keinen einzigen Cent .
Apropos Geld: Auch der neue Aktionsplan ist weder
finanziell noch personell untersetzt. Dabei hat doch die
OSZE in ihrer Studie über die nationalen 1325-Aktionspläne betont, dass fehlende Ressourcen einer der Hauptgründe für die geringen Fortschritte bei der Umsetzung
sind . Meine Damen und Herren von der Koalition, die
Belange von Frauen im Zusammenhang mit Gewaltkonflikten und der Kampf gegen geschlechtsspezifische und
sexualisierte Gewalt dürfen keine Orchideenthemen sein,
die nur dann bearbeitet werden, wenn gerade nichts anderes anliegt. Sie brauchen Ressourcen - personelle, finanzielle -, und sie müssen auch stetig sein .
({1})
Frau Böhmer hat es gesagt: Wir müssen am Ball bleiben .
Etwas, wo ich persönlich am Ball bleiben möchte,
weil es mir wichtig ist, ist der unbewaffnete Schutz von
Zivilistinnen in Kriegen . Die globale Studie der UN, die
Global Study, die auch Sie schon erwähnt haben, betont,
dass unbewaffnetes, ziviles Peacekeeping durch speziell
ausgebildete Friedensfachkräfte sich als besonders effektiv für den Schutz von Frauen und Kindern in Gewaltkonflikten erwiesen hat. Ich finde, die Bundesregierung
sollte das endlich einmal zur Kenntnis nehmen und Konsequenzen ziehen, anstatt ihr Mantra vom angeblichen
Nutzen militärischer Interventionen wieder und wieder
zu beten .
({2})
Zum Schluss muss ich Sie auch noch fragen, wie ernst
Sie eigentlich Ihre eigenen Ansprüche nehmen . Der neue
Aktionsplan betont - das ist auch richtig -, dass die Umsetzung der Agenda „Frauen, Frieden und Sicherheit“
eine Querschnittsaufgabe ist . Aber auf den mehr als
140 Seiten des Weißbuchs wird sie nur flüchtig erwähnt.
In der Zukunftscharta des Entwicklungsministeriums
taucht sie gar nicht auf . Kann es sein, dass Sie Angst haben vor den Verpflichtungen, die sich aus der Verabschiedung dieser Agenda ergeben würden? Wenn Sie wirklich
die Ursachen von Gewalt gegen Frauen angehen wollten,
dann müssten wir viel stärker über Prävention reden, und
dann wird es nämlich unbequem; denn dann müssten wir
uns fragen, ob die Politik dieser Bundesregierung in allen
Ressorts wirklich auf die Verhütung von Kriegen angelegt ist .
({3})
Am deutlichsten wird dieser Widerspruch bei der aktuellen Rüstungsexportpolitik dieser Bundesregierung .
Um ein Beispiel zu nennen: Saudi-Arabien führt im Jemen einen blutigen Krieg, unter dem die Zivilbevölkerung, insbesondere die Kinder und die Frauen, leiden .
Die schreckliche Not der über 3 Millionen Flüchtlinge
ist für uns kaum vorstellbar . Viele Familien sehen sich
inzwischen gezwungen, ihre minderjährigen Kinder
zwangszuverheiraten, um mit der Mitgift das Essen für
die anderen Familienmitglieder bezahlen zu können . Das
ist die brutale Wirklichkeit des Krieges, und dieser Krieg
wird auch mit deutschen Waffen geführt, mit Waffen, die
mit Genehmigung der Bundesregierung an das saudische
Unrechtsregime geliefert wurden . Prävention müsste
doch zumindest bedeuten, den Rüstungsexport in solche
Staaten wie Saudi-Arabien konsequent und komplett zu
beenden, und zwar sofort .
({4})
Das, meine Damen und Herren, ist Ihre Verantwortung
gegenüber den Töchtern und den Müttern im Jemen und
anderswo .
({5})
Für die Fraktion der SPD spricht jetzt die Kollegin
Gabriela Heinrich .
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Gäste! Täglich sehen wir in den Nachrichten schreckliche Bilder; täglich hören wir furchtbare
Geschichten aus vielen verschiedenen Regionen dieser
Welt . Es wird gebombt, geschossen, verschleppt und zerstört - und vergewaltigt . Sexuelle Gewalt wird gezielt als
Kriegsstrategie eingesetzt, um die Bevölkerung zu demütigen und um Sozialstrukturen zu zerstören . Frauen und
Mädchen sind meist nicht direkt an bewaffneten Konflikten beteiligt; aber sie sind nicht weniger von Leid betroffen . Die Liste der Gräueltaten sexueller und sexualisierter Gewalt ist sehr lang: systematische Vergewaltigung,
sexuelle Folter, Verkauf als Sexsklavinnen, Missbrauch,
Ermordung nach Vergewaltigung, Zwangsverheiratung,
Verschleppung .
Gewalt gegen Frauen und Mädchen - sexuelle Gewalt
gegen Frauen und Mädchen - ist ein Thema der UN-Resolution 1325 . Die Bundesregierung hat jetzt den zweiten
nationalen Aktionsplan zu dieser Resolution vorgelegt .
Er beschreibt die Ansätze der Bundesregierung für die
nächsten drei Jahre . Ich bin sehr froh, dass wir heute diese Diskussion hier führen können . Leider war es nicht
möglich, zu diesem Thema einen Antrag des Menschenrechtsausschusses einzubringen .
Welche Problemstellungen finden wir bei diesem
Thema? Es ist immer noch ein Tabu, das aber durch die
Beachtung des unfassbaren Leids der Jesidinnen ein bisschen aufgebrochen wurde . Unzählige von ihnen wurden
Opfer systematischer sexueller Gewalt durch den IS . Die
Berichte und das mutige Engagement einiger noch sehr
junger jesidischer Frauen haben eine sehr hohe internationale Aufmerksamkeit erhalten . Aber was ist mit den
Frauen aktuell, zum Beispiel im Südsudan?
Häufig werden Frauen und Mädchen, die sexuelle Gewalt erlebt haben, für das verantwortlich gemacht, was
ihnen angetan wurde . Hochtraumatisiert und im Intimsten verletzt, werden sie häufig von ihren Familien und
Gemeinschaften ausgestoßen . Wenn sie aufgrund einer
Vergewaltigung schwanger werden, gilt das als große
Schande . Die ausgestoßene Frau muss dann alleine das
Kind ihres Vergewaltigers großziehen, und das Trauma
überträgt sich auf die nächste Generation .
Aber wissen Sie, was wirklich den Begriff „Schande“
verdient? Wenn UN-Blauhelme vergewaltigen! Auch
dieser Problematik müssen wir uns stellen .
({0})
Ich bin froh, dass auch dieser Punkt deutlich im Aktionsplan aufgeführt ist .
Die Bundesregierung muss sich noch sehr viel mehr
für die Sensibilisierung einsetzen und alle am Konflikt
Beteiligten mit einbeziehen - auch und natürlich gerade die Jungen und die Männer . Wie im Aktionsplan angesprochen, spielen unsere Auslandsvertretungen dabei
eine wichtige Rolle: Gerade in diesem hochsensiblen
Feld ist die Zusammenarbeit mit der Zivilbevölkerung
elementar, und dafür braucht es Ressourcen . Noch sind
unsere Auslandsvertretungen hier sehr unterschiedlich
aufgestellt . Gezielte Schulungen und zusätzliches weibliches Personal könnten eine stärkere Sensibilisierung
bewirken .
Die Tabuisierung führt im Weiteren dazu, dass sexuelle
Gewalttaten in Konflikten häufig nicht verfolgt werden;
Frau Dr . Böhmer, Sie haben es bereits angesprochen . In
vielen Ländern, in denen eine Aufarbeitung durch Strafverfolgung stattfindet, kommen die Täter trotzdem nur
sehr selten vor Gericht . Meist wird behauptet, man könne
es nicht beweisen . Im letzten Jahr wurde das Verfahren
vor dem Internationalen Strafgerichtshof gegen Ahmad
al-Mahdi aufgenommen . Al-Mahdi ist ein Kriegsverbrecher, der in Mali an der Misshandlung etlicher Frauen
beteiligt gewesen sein soll . Trotzdem wurde er lediglich
wegen der Zerstörung von Weltkulturerbe angeklagt .
Versuchen Sie sich vorzustellen, welche Botschaft hiermit verbunden ist . Wiegt die Zerstörung von Kulturerbe
schwerer als die Zerstörung von Frauen?
Die Bundesregierung muss sich - wie es wörtlich im
Aktionsplan steht - auf allen Ebenen für eine gerechte
Strafverfolgung einsetzen, auch als Vorbedingung für
Versöhnung .
Und wenn wir über Gewalt gegen Frauen in Konflikten sprechen, dann kommen wir natürlich unweigerlich
auch zu den Frauen, die bei uns Schutz suchen . „Aufarbeitung“ ist hier das Stichwort, aber auch „Sicherheit für
geflüchtete Frauen in unseren Unterkünften“.
Es geht jetzt darum, den Aktionsplan umzusetzen und zwar in allen Ressorts - und mit genügend Finanzmitteln . Wir müssen und wir werden das auch in der
kommenden Legislatur auf der Agenda behalten . Wir
werden uns dafür einsetzen, dass Frauen vor sexueller
Gewalt besser geschützt werden und dass die Täter nicht
straflos bleiben.
Vielen Dank .
({1})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr . Franziska
Brantner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Wir beraten heute den zweiten Aktionsplan
der Bundesregierung zur Umsetzung der UN-Resolution 1325 „Frauen, Frieden und Sicherheit“, und gleichzeitig diskutieren wir den Umsetzungsbericht zum ersten
Aktionsplan . Man sollte meinen, dass man einen Umsetzungsbericht diskutiert, bevor man den nächsten Aktionsplan verabschiedet,
({0})
damit man die Empfehlungen, die daraus resultieren,
noch einarbeiten und das Ganze voranbringen kann . Dass
das nicht geschehen ist, ist ein Fehler . Das zeigt, dass wir
das nicht richtig haben angehen können .
Ich möchte ein paar Kritikpunkte anbringen, die ursächlich dafür sind, dass der Aktionsplan aus der Sicht
unserer Fraktion wahrscheinlich nicht wirklich ein Aktionsplan, sondern eher ein Absichtsplan ist .
Erstens . Es fehlt das Geld . Das hat Frau Vogler gesagt;
das haben auch Sie gerade gesagt .
({1})
Es gibt keine Hausnummern in diesem Aktionsplan . Es
gibt keinen Topf für die Ziele . Es gibt gar nichts, und
das ist ein großer Fehler . Alle zivilgesellschaftlichen Akteure und Akteurinnen haben eingefordert: Wir brauchen
Geld . - Es gibt keine Gleichberechtigung für umsonst .
Die Beteiligung von Frauen muss uns das wert sein .
Es ist schade, dass wir in diesem Aktionsplan dafür gar
nichts haben .
({2})
Zweitens ist der Plan unkonkret, ohne Indikatoren .
Eine klare Forderung aus der Zivilgesellschaft war: Wir
brauchen Indikatoren, anhand deren wir uns nachher
gemeinsam davon überzeugen können, dass der Aktionsplan umgesetzt wird . Wir müssen wissen: Was haben
wir erreicht? Was haben wir nicht erreicht? Dazu gibt es
übrigens von der OSZE auch gute Anleitungen, wie man
einen Indikatorenplan machen kann . Das ist alles schon
ausgearbeitet . Das hätte die Bundesregierung übernehGabriela Heinrich
men können . Aber leider ist das Ganze zu unkonkret .
In dieser Unpräzision ist das kein Plan, nicht einmal ein
Plänchen, sondern auch hier nur eine Absichtserklärung .
({3})
Ein Bereich, in dem das besonders deutlich wird, ist
die Verteidigungspolitik; Sie haben es auch schon angesprochen: Wir haben in allen Mandaten, die wir hier
als Bundestag in den letzten Jahren verabschiedet haben,
nicht einen Bezug zur Resolution 1325 - nicht in einem
Mandat . Dabei geht es doch in diesen Mandaten genau
darum, was unsere Soldatinnen und Soldaten im Ausland machen, nämlich Frauen zu schützen . Warum steht
in diesem Aktionsplan nicht drin, dass in Zukunft kein
einziges Mandat mehr durch dieses Haus hier gehen darf,
wenn es nicht einen Bezug zur Resolution 1325 enthält?
({4})
Das wäre mal ein echter Plan, ein echtes Ziel .
({5})
- Sie schauen da immer genau hin, welchen Mandaten
wir zustimmen und welchen nicht . Manchen stimmen
wir zu, manchen nicht . Aber auf jeden Fall ist die Forderung nach einem Bezug zur Resolution 1325 eine extrem
wichtige .
Drittens . Wenn man sich die Kohärenz anschaut, dann
stellt man fest - ich knüpfe jetzt an den Aspekt der Rüstungsexportpolitik an, der vorhin schon genannt wurde -:
Rüstungsexporte wirken in vielen Ländern als Brandbeschleuniger, und es wäre eigentlich notwendig, hier stärker auf die Situation von Frauen zu schauen . Es gibt den
Arms Trade Treaty . Der wurde 2014 verabschiedet . Den
hat auch Deutschland mitgezeichnet . Artikel 7 Punkt 4
nennt als explizites Kriterium für den Nichtexport von
Waffen, dass diese in den Ländern zu geschlechtsspezifischer Gewalt beitragen. In diesem Artikel wird geschlechtsspezifische Gewalt als Ausschlusskriterium für
Exporte von Rüstungsgütern genannt . Diesen Artikel haben wir mit unterschrieben . Der wird aber noch nicht einmal aufgeführt; der ist überhaupt nicht mehr Teil dessen,
was wir uns vornehmen . Das ist eigentlich unmöglich .
Das müsste dringend korrigiert werden .
({6})
Ich sage Ihnen: Es geht auch anders . Schauen Sie sich
mal die schwedische Außenministerin Margot Wallström
an . Die hat Waffenexporte nach Saudi-Arabien aufgrund
dieses Artikels abgelehnt . Sie hat gesagt: Dort werden
diese Waffen auch für geschlechtsspezifische Gewalt genutzt . - Deswegen hat sie gesagt: Keine Exporte mehr in
dieses Land . - Ich bin mal gespannt, wann sich der erste
Minister traut, mit dieser Begründung Rüstungsexporte
abzulehnen .
({7})
Viertens . Frauen haben es auch bei uns mittlerweile
schwer, wenn sie als Geflüchtete gekommen sind.
({8})
Auch nicht alle Unterkünfte sind bei uns so, dass diese
Frauen vor Gewalt geschützt sind; das wissen wir . Das
haben wir schon zigfach diskutiert . Auch das gehört zur
Resolution 1325 . Wir brauchen endlich bundesweit verbindliche Kriterien und mehr Unterstützung . Darüber
hinausgedacht: Wo sieht die Bundesregierung eigentlich
diese Frauen als Akteurinnen für Frieden, wenn sie zurückkommen?
({9})
Wo wird denn Diaspora aufgebaut? Wo werden sie denn
unterstützt, um dort ihren Beitrag zu leisten? Wo fangen
wir hier schon an, diese Frauen einzubeziehen? Fehlanzeige!
Letzter Punkt . Die Zeiten werden ja nicht besser . Wir
haben Trump . Alle haben jetzt darüber geredet, dass er
das Klimaabkommen aufgekündigt hat . Aber worüber
wir nicht diskutieren, ist, dass er das Budget für den Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen, den UNFPA,
auf null gesetzt hat . Da werden Gelder gekürzt, auf null
gesetzt, die Frauen dabei helfen sollen, selber zu entscheiden, wann sie Kinder bekommen und ob sie Kinder bekommen . Aufklärung, Verhütungsmittel: Das ist
so zentral, wenn wir Frauen stärken wollen . Und genau
diese Gelder werden auf null gestellt . Da vermisse ich
den Aufschrei .
({10})
Eigentlich müsste die Bundesregierung sagen: Das finanzieren wir jetzt . Da springen wir ein . Für die Lücke,
die Trump bezüglich der Frauenrechte bei den Vereinten
Nationen reißt, stehen wir jetzt ein . Wir lassen Trump
nicht weltweit die Frauenrechte zurückschrauben . Dafür
kämpfen wir . Das ist Resolution 1325 . - Das fände ich
mutig . Vielleicht macht es ja die nächste Regierung .
({11})
Die Kollegin Dr . Ute Finckh-Krämer spricht als
Nächste für die Fraktion der SPD .
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer oben auf den Tribünen!
Krieg wird fast immer von Männern gemacht . Beim Frieden ist es wichtig, dass die Frauen einbezogen werden .
Das ist etwas, was sich historisch belegen lässt . Daher
gibt es die UN-Resolution 1325, die am 31 . Oktober
2000 vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen beschlossen wurde .
Diese Resolution benennt drei zentrale Prinzipien . Ich
möchte zunächst einmal auf das Prinzip eingehen, über
das wir bisher noch nicht diskutiert haben, nämlich die
Prävention; denn im Krieg stirbt nicht nur als Erstes die
Wahrheit, sondern als Zweites sterben die Menschenrechte und damit auch die Frauenrechte . In jeder von
Krieg, von Bürgerkrieg gefährdeten Gesellschaft stehen
Frauenrechte unter Druck, sind Frauen nicht mehr in der
Lage, ihre elementaren Rechte wahrzunehmen . Insofern
ist Prävention ein ganz wichtiger Teil dessen, was wir zur
Umsetzung der UN-Resolution 1325 brauchen .
Wichtig ist auch - das hat diese Resolution bewirkt -,
dass die Frauenfriedensgruppen und die Friedens- und
Menschenrechtsgruppen, die nicht nur Menschenrechte
allgemein, sondern speziell auch Frauenrechte im Blick
haben, einen Anknüpfungspunkt haben, um darauf zu
verweisen, wie viele Frauen es gibt, die sich für den Frieden und damit auch dafür einsetzen, dass es gar nicht erst
zum Krieg kommt .
Im Jahr 2003 hat sich auf internationaler Ebene eine
Gruppe gebildet. Sie hat Biografien von 1 000 Frauen
zusammengestellt und gesagt: Es gibt 1 000 Frauen, die
den Friedensnobelpreis verdient hätten . - Sie hat vorgeschlagen, dass diese 1 000 Frauen im Jahr 2005 den
Friedensnobelpreis gemeinsam bekommen . Diesen Vorschlag hat das Nobelpreiskomitee nicht übernommen .
Inzwischen haben aber zwei oder drei Frauen entweder
den Friedensnobelpreis oder den sogenannten Alternativen Nobelpreis erhalten . Die Aufmerksamkeit für diese
1 000 Frauen war sowohl in den Ländern, in denen sie
leben - es sind viele Konflikt- und Krisenländer dabei -,
als auch international sehr groß . Ich bin deswegen froh,
dass sich die Zivilgesellschaft da etwas vorgenommen
und umgesetzt hat, was Regierungen nicht so gut können
oder was nicht auf deren Agenda steht .
({0})
Eine indirekte Folge der UN-Resolution 1325 war,
dass mit Geldern des Auswärtigen Amtes im letzten Jahr
in Berlin der Global Peacebuilder Summit veranstaltet
wurde . Es wurden 30 Friedensexpertinnen und -experten,
Friedensstifterinnen und -stifter nach Paretz eingeladen .
Von diesen 30 Eingeladenen waren 15 Frauen, weil inzwischen das Bewusstsein vorhanden ist, wie groß nicht
nur das Potenzial von Frauen als Friedensstifterinnen,
sondern auch wie wichtig das Friedenshandeln von Frauen ist .
Als Unterausschuss Zivile Krisenprävention hatten
wir die Möglichkeit, mit den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Global Peacebuilder Summit zu sprechen .
Bei diesem Gespräch haben wir gemerkt, dass ein anderes Projekt, das wir uns als Unterausschuss vorgenommen haben, nämlich das Projekt einer Ausstellung über
Friedenshandeln, damit verknüpft war . Diejenigen, die
diese Ausstellung - sie wird übrigens am 19 . Juni im
Paul-Löbe-Haus eröffnet und dauert zwei Wochen - vorbereiten sollen, waren dabei, als wir mit den Peacebuildern aus den verschiedensten Ländern gesprochen haben . Unter den teilnehmenden Ländern waren auch harte
Konfliktländer vertreten wie Afghanistan und Pakistan,
aber auch Länder wie Indien oder Kenia, bei denen es
auch darum geht, präventiv tätig zu werden . Es werden
sicher einige der Interviews mit den Friedensstifterinnen
und Friedensstiftern in der Ausstellung geführt werden .
Insofern ist es nicht nur wichtig, das Papier, also den
Bericht und damit den neuen Aktionsplan, zu beurteilen,
sondern auch zu schauen, was durch die Bundesregierung indirekt gefördert wird . Es lohnt sich, die Liste der
Projekte anzusehen, die in dem Bericht über die Jahre 2013 bis 2016 genannt werden, auch wenn es nur eine
Aufzählung ist . Es sind wichtige und interessante Projekte dabei . Ich hoffe, dass wir den Umsetzungsbericht
zum Aktionsplan für die Jahre 2017 bis 2020 so bekommen, dass wir ihn vor einem dritten Aktionsplan, der für
die Jahre 2021 bis 2024 erstellt werden soll, diskutieren
können und wir dann in einen Prozess kommen, in dem
aus dem Umsetzungsbericht Folgerungen für den jeweils
nächsten Aktionsplan gezogen werden .
Das ist etwas, was alle von uns, die für den nächsten
Bundestag antreten, mitnehmen sollten . Ich hoffe, dass
wir auch in der nächsten Legislaturperiode im Unterausschuss Zivile Krisenprävention interfraktionell so konstruktiv zusammenarbeiten können, wie wir das bisher
getan haben, und auch die vielen am Umsetzungsbericht
und am Aktionsplan beteiligten Ressorts genauso gut zusammenarbeiten werden wie in dieser Legislaturperiode .
Danke schön .
({1})
Für die CDU/CSU spricht als Nächste die Kollegin
Elisabeth Motschmann .
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe, sehr vereinzelte männliche Kollegen! Ich freue mich über jeden
Einzelnen, der hier ist . Meine Damen und Herren auf den
Tribünen! Ich möchte heute beginnen mit einem Zitat
von Mahatma Gandhi, dem großen Friedens- und Freiheitskämpfer aus Indien . Er hat gesagt:
Im Kampf gegen den Krieg sollten die Frauen die
Führerinnen sein . Es ist die ihnen gemäße Aufgabe .
Liebe Kolleginnen, es ist die uns gemäße Aufgabe .
({0})
Das möchte ich gerne als Überschrift über meine kurze
Rede stellen .
Wir sind uns sicher einig, dass, wenn es um Krieg und
Frieden geht, nach wie vor viel zu wenige Frauen an den
Verhandlungstischen sitzen . Das müsste sich wirklich
langsam ändern . Das Zitat von Gandhi ist hundert Jahre
alt, und wir sind Lichtjahre von dieser Einsicht und der
Verwirklichung entfernt .
Deshalb ist es gut, dass wir sowohl den Umsetzungsbericht als auch den Aktionsplan der Bundesregierung
haben - beide betrachten die Resolution 1325, einmal
rückblickend, einmal in die Zukunft gerichtet -, um auf
dieser Basis zu überlegen, was wir daran ändern können,
dass so wenige Frauen - das ist das einzige Thema meiner Rede - an den Verhandlungstischen vertreten sind .
Vielleicht müssen wir Frauen uns selber viel stärker
konzentrieren auf die wirklich wichtigen Themen - Krieg
und Frieden sind ja ein wichtiges Thema - und dürfen
uns nicht verlieren in teilweise albernen Formulierungen
der gendergerechten Sprache . Es bringt uns nicht weiter,
wenn wir alles sprachlich feminisieren,
({1})
sondern wir müssen uns auf das Wesentliche konzentrieren .
Ich habe gesagt, wir, die Frauen, sitzen nicht an den
Verhandlungstischen . Das betrachte ich jetzt einmal etwas genauer: Uns wurde eine Reihe von Prozentzahlen
und Zahlen vorgelegt; aber die täuschen . Wenn wir uns
die Beteiligung von Frauen in internationalen Gremien
anschauen, und zwar in allen Gremien, in denen es um
Frieden oder Krieg geht, und dabei alle bei den Vereinten Nationen beschäftigten Frauen einbeziehen, auch die
unteren Dienstgrade, dann sieht es relativ gut aus . Aber
wer sitzt denn in den Führungsetagen? Wer sitzt denn an
den Verhandlungstischen? Dort sieht es ganz anders aus .
Damit wir nicht nur auf andere blicken, blicken wir
nun einmal auf uns selber . Ich denke, dass Frauen ein unglaubliches diplomatisches Geschick haben . Wenn das so
ist, müssten wir unter unseren Botschaftern eine Vielzahl
von Frauen haben . Ich habe selbst durchgezählt - da verlasse ich mich nicht auf andere; das können Sie nachzählen -: 154 deutsche Auslandsvertretungen sind besetzt,
davon 21 mit Frauen . - Na toll! Das kann nun wirklich
noch besser werden . Das kann nicht nur, sondern muss
besser werden .
({2})
Interessant ist Folgendes: Wenn man beim Auswärtigen Amt anfragt, wie viele Frauen Botschafterinnen sind,
dann werden die Generalvertretungen gleich mit einbezogen, um auf eine etwas höhere Zahl zu kommen, nämlich auf 28 .
({3})
Aber das hilft uns nicht weiter . Wenn wir uns allein die
Zahl der Ständigen Vertreter in internationalen Organisationen anschauen, die aus Deutschland kommen, dann
stellen wir fest: Es gibt 13, und davon sind 2 Frauen . Man
sieht: Da ist noch viel Luft nach oben, meine Damen und
Herren .
({4})
Ich sage aber auch kritisch: Wenn es in den Medien
um Krieg und Frieden, um Außenpolitik und um Sicherheitspolitik geht: Wen fragen denn unsere Journalisten?
Sie fragen immer die gleichen Herren; die ich alle liebe
und alle schätze .
({5})
Aber der Blick der Medienvertreter ist ziemlich verengt .
Sie beziehen weder in den Talkshows noch morgens im
Deutschlandfunk die Stimme der Frauen ein, die sich
mit diesen Themen beschäftigen . Und ich meine nicht
nur Außenpolitikerinnen und Verteidigungspolitikerinnen . Vielmehr könnte man die vielen hoch kompetenten
Frauen in den Thinktanks, in den Stiftungen und vielen
Organisationen einbeziehen, aber leider bezieht man sie
nicht ein .
Helmut Kohl - ich muss leider zum Ende kommen hat schon vor über 30 Jahren gesagt: Das Engagement
der Frauen brauchen wir in Zukunft nötiger denn je bei
der Bewältigung der vor uns liegenden Aufgaben auf unserem Weg zu mehr Verständigung in der Welt . - Wir haben schon einen langen Weg hinter uns, wir haben einen
weiten Weg vor uns, wenn es um die Beteiligung von
Frauen an außenpolitischem Nachdenken und an der Beantwortung von drängenden Fragen geht .
Lassen Sie mich am Ende sagen: Vielleicht müssen
wir Frauen uns selbst offensiver und stärker in die Themen einmischen; denn wenn so wenig Frauen in den
Auswärtigen Ausschuss gehen, dann ist das ja nicht die
Schuld der Männer, sondern das liegt auch am Wahlverhalten von Frauen am Beginn einer Legislatur .
Das ist eine herzliche Einladung . Wir Frauen müssen
offensiver sein . Die Männer müssen noch mehr verstehen, dass wir in der Diplomatie mindestens so gut, aber
eigentlich besser sind .
({6})
Wir machen gerne mit, und zwar mit hoher Kompetenz .
Wir sollten fraktionsübergreifend zusammenhalten . Ich
bin dabei .
Vielen Dank .
({7})
Zum Abschluss dieser Aussprache hat die Kollegin
Julia Obermeier das Wort für die CDU/CSU .
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Der Friedensnobelpreis wird seit 1901 jährlich
verliehen . In dieser Zeit haben aber nur 16 Frauen den
wichtigsten internationalen Friedenspreis erhalten, zuletzt 2014 das pakistanische Mädchen Malala Yousafzai .
Sie hatte sich gegen das Bildungsverbot der Taliban für
Frauen ausgesprochen und sich für das Recht aller Kinder auf Bildung starkgemacht . Einen brutalen Anschlag
der Taliban, die ihr in den Kopf schossen, hat sie nur
knapp überlebt . Heute setzt sie sich für ihre Ziele als
UN-Friedensbotschafterin ein . Malala ist ein positives
Beispiel dafür, wie Frauen erfolgreich für Frieden und
Sicherheit arbeiten .
Frauen und Mädchen bilden fast die Hälfte der
Menschheit . Doch wie das Leben von Malala in Pakistan zeigt: Frauen werden noch immer häufig in vielen
Bereichen benachteiligt . Dabei können Frauen wichtige
Beiträge leisten, gerade in den Bereichen Frieden und Sicherheit. Bei der Lösung von Krisen und Konflikten ist
die Beteiligung von Frauen erwiesenermaßen von großer Bedeutung . Sitzen sie bei Friedensgesprächen mit
am Tisch, sind die Verhandlungsergebnisse nachhaltiger .
Frauen setzen ihren Schwerpunkt häufig auf zivile Konflikt- und Friedenslösungen und bringen aufgrund ihrer
persönlichen Erfahrungen andere Themen ein wie beispielsweise Gesundheits- und Bildungsfragen . Vielfalt
ermöglicht dauerhaften Frieden!
Die im Jahr 2000 verabschiedete UN-Resolution 1325
„Frauen, Frieden, Sicherheit“ setzt hier an . In ihr wird
gefordert, dass Frauen verstärkt in die politischen Prozesse der Konfliktvorbeugung und -bewältigung und der
Friedenssicherung eingebunden werden .
Daher begrüße ich es, dass die Bundesregierung in
den vergangenen vier Jahren einen ersten Aktionsplan
zur Umsetzung der Resolution 1325 aufgelegt hat . Das
Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung und das Auswärtige Amt haben eine
große Zahl an Maßnahmen gefördert . Viele Projekte widmen sich der Aufgabe, Frauen in den politischen Wiederaufbau in Nachkonfliktgesellschaften einzubeziehen und
damit weiteren Konflikten vorzubeugen. Beispielsweise
in Libyen werden Frauen einerseits dazu befähigt, eine
Rolle in politischen Prozessen zu übernehmen, und andererseits, sich für ihre Rechte ein- und diese durchzusetzen . Ein weiteres Beispiel stammt aus Tunesien . Dort
wurden Entscheidungsträgerinnen dabei unterstützt, andere Frauen für Politik zu begeistern .
Selbst aktiv für mehr Sicherheit zu sorgen, ist der
Fokus von weiteren Maßnahmen des Aktionsplans . In
15 Staaten im südlichen Afrika werden in regionalen
Peacekeeping-Training-Centern Frauen besonders gefördert und vernetzt . Der Frauenanteil bei dieser Ausbildung liegt mittlerweile bei über 30 Prozent . Ein weiteres
Beispiel: Im Irak wird Frauen geholfen, sich am Aufbau
einer bürgernahen, zivilen Polizei zu beteiligen . Zudem
dienen etliche Projekte dazu, Frauen eine eigene Stimme
zu geben . In Ägypten werden hierzu Journalistinnen in
speziellen Schulungen ausgebildet .
Auf Grundlage des Aktionsplans hat die Bundesregierung zwischen 2013 und 2016 fast 200 Maßnahmen
ergriffen . Diese machen deutlich: Frauen sind wichtige
politische Akteure . Sie haben eine eigene Stimme - sowohl in der öffentlichen als auch in der politischen Diskussion . Frauen sind nicht nur schutzbedürftig, sondern
sie können auch andere schützen und Frieden stiften . Die
vielen Konflikte auf der ganzen Welt können nicht dauerhaft friedlich beigelegt werden, ohne die Frauen, ohne
die Hälfte der Menschheit einzubinden . Daher müssen
wir auch zukünftig die gleichberechtigte Teilhabe von
Frauen fördern: bei der Vorbeugung und der Beilegung
von Konflikten sowie beim Wiederaufbau und bei der
Friedensschaffung .
Der zweite Aktionsplan der Bundesregierung für den
Zeitraum 2017 bis 2020 entwickelt den ersten fort . Er ist
wichtig; denn wir brauchen Frauen für mehr Frieden und
Sicherheit auf unserer Welt .
Nicht nur das Beispiel der UN-Friedensbotschafterin
Malala zeigt: Frauen leisten einen wichtigen Beitrag für
den Frieden, und zwar überall auf dem Globus . Dabei
wollen wir sie auch weiterhin unterstützen .
Vielen Dank .
({0})
Damit schließe ich die Aussprache .
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 18/10853 sowie 18/10852 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . - Widerspruch gegen diesen Vorschlag sehe ich keinen . Dann sind die Überweisungen so beschlossen .
Damit kommen wir zum letzten Tagesordnungspunkt
am heutigen Tag, den Tagesordnungspunkt 45, den ich
hiermit aufrufe:
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr . Harald Terpe, Lisa Paus, Katja Dörner,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Cannabiskontrollgesetzes ({0})
Drucksache 18/4204
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({1})
Drucksache 18/12476
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 38 Minuten vorgesehen . - Widerspruch
dagegen sehe ich keinen . Dann ist das somit beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin das Wort der Kollegin Emmi Zeulner für die Fraktion der CDU/CSU .
({2})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Als Erstes möchte ich sagen: Ich persönlich
bedaure es, dass mein geschätzter Kollege Harald Terpe
hier jetzt nicht seine letzte Rede halten wird . Es ist wohl
dem Wahlkampf geschuldet, dass der Parteivorsitzende
zu diesem Tagesordnungspunkt spricht .
({0})
Dies bedaure ich sehr . Aber Sie als Grüne kämpfen gerade, und das ist anzuerkennen .
({1})
Wir beraten heute abschließend - zumindest für diese Legislaturperiode - den Entwurf eines Cannabiskontrollgesetzes in zweiter und dritter Lesung . Ich kann
feststellen: Der Entwurf wurde trotz der Diskussion nicht
weiterentwickelt, und es wurden keine unserer Bedenken
aufgenommen . Gerade in der heutigen Debatte zeigt sich
deshalb, dass Sie, liebe Kollegen von Bündnis 90/Die
Grünen, die Ignoranz, die Sie uns immer wieder vorwerfen, selbst an den Tag legen; sonst hätten Sie sich die
Mühe gemacht, an Ihrem Gesetzentwurf etwas zu ändern .
Sie fordern weiter den legalen Besitz von bis zu
30 Gramm Cannabis und den Eigenanbau von bis zu drei
Cannabispflanzen. Ich habe immer wieder betont, dass
diese Mengen einfach viel zu hoch sind .
({2})
Ich finde es weiterhin richtig, über eine bundeseinheitliche Regelung zur Eigenbedarfsmenge bei Cannabis zu
diskutieren . Selbstverständlich sollte dafür der bundesweit niedrigste Wert genommen werden; denn wozu die
jetzt tolerierten Höchstmengen führen, sehen wir gerade
in Berlin im Görlitzer Park .
Schon in der letzten Rede habe ich gefordert, dass der
Görlitzer Park wieder den Familien gehören muss und
nicht irgendwelchen Kleindealern, die nicht belangt werden . Die Dealer tragen nämlich die tolerierte Menge am
Mann, während das größere Versteck, aus dem sie sich
immer wieder neu bedienen, angeblich keinem gehört .
({3})
Dass die rot-rot-grüne Regierung in Berlin vor der Kriminalität einfach kapituliert
({4})
und statt Polizisten Sozialarbeiter einsetzt, ist eine Frechheit gegenüber den Menschen in Berlin .
({5})
Sie gehen in Ihrem Gesetzentwurf noch einen Schritt
weiter: Für die Abgabe von Cannabis an Minderjährige
wollen Sie die Strafgrenzen im Gegensatz zum jetzigen
Betäubungsmittelrecht sogar herabsetzen . Damit machen
Sie es den Kleindealern noch einfacher . In Ihrem Vorschlag dann aber zu schreiben, den Jugendschutz besonders im Blick zu haben,
({6})
ist einfach nur lächerlich;
({7})
denn natürlich hätte man bei 30 Gramm den Spielraum,
etwas weiterzugeben - gerade an Jugendliche, für die
Cannabis selbstverständlich weiterhin nicht legal zugänglich wäre .
({8})
Jugendschutz und das Öffnen eines Marktes für eine
Droge passen für mich nicht zusammen; es funktioniert
im Allgemeinen auch nicht .
({9})
Das zeigen vier Fakten aus einer Studie zur Legalisierung von Cannabis in Colorado ganz deutlich .
({10})
Erstens . Der Cannabiskonsum bei Minderjährigen ist
dort um 20 Prozent angestiegen, obwohl diesen kein legaler Zugang gewährt wurde . Ihr hochgelobter Rückgang
des Konsums - gerade haben Sie diesen wieder als Folge
einer Legalisierung angesprochen - ist hiermit widerlegt .
Zweitens . Die Zahl der tödlichen Verkehrsunfälle unter dem Einfluss von Cannabis in Colorado ist von 71 im
Jahr 2013 auf 115 Fälle im Jahr 2015 gestiegen, also um
gut 60 Prozent .
Drittens . Die Zahl der Krankenhausaufenthalte, die mit
Cannabis im Zusammenhang stehen, ist von 6 715 Fällen
im Jahr 2012 auf unglaubliche 11 439 Fälle im Jahr 2014
angestiegen, also um 70 Prozent .
Viertens . Auch die Zahl der Notfälle wegen Kindern,
die sich an Cannabisprodukten vergiftet haben, ist seit
der Legalisierung deutlich angestiegen . So hat sich die
Zahl der Kinder unter neun Jahren, die Cannabis oral zu
sich genommen haben, mehr als verdoppelt .
Der entscheidende Schritt, der in Colorado offensichtlich fehlt, muss sein, Minderjährige wirksam zu schützen, um so dem Schutzauftrag, der uns gegeben wurde,
tatsächlich nachzukommen .
({11})
Neue Studien zeigen, dass nicht nur die ersten fünf bis
sechs Lebensjahre besonders prägend sind, sondern vor
allem der Zeitraum zwischen 15 und 20 Jahren für die
Gehirnentwicklung besonders entscheidend ist: In dieser
Zeitspanne findet eine Reorganisation des Gehirns statt,
während der die Jugendlichen für schädliche Umwelteinflüsse besonders anfällig sind.
Cannabis, THC, erhöht das Risiko einer Psychose um
das Siebenfache .
({12})
In der Fachambulanz für Suchterkrankungen in München
haben fast 60 Prozent der Patienten die Hauptdiagnose
Cannabisstörung . Solche Zahlen - ob sie aus Colorado
oder aus Deutschland kommen - können wir gerade als
Gesundheitspolitiker nicht einfach ignorieren .
({13})
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist meiner Ansicht
nach, dass finanzielle Gründe niemals die Basis für ein
Weniger an Gesundheitsschutz und eine Legalisierung
sein dürfen; denn wenn man so denkt, dann müssten
wir - überspitzt gesagt - bei der Strafbarkeit ziemlich
vieler Taten ansetzen, deren Durchsetzung den Steuerzahler täglich Zigtausende Euro kostet .
({14})
Die Kosten für einen Gefängnisinsassen betragen täglich
durchschnittlich 92 Euro . Überlegen Sie einmal, welche
Einsparungen wir machen würden, wenn wir zum Beispiel Wohnungseinbrüche legalisieren würden . Dann
gäbe es Tausende Einbrecher weniger im Gefängnis und
Millionen mehr im Topf . Das kann doch wohl nicht Ihr
Ernst sein .
({15})
Ihr Vorwurf - das ist genauso tiefste Mottenkiste -, wir
würden jeden, der 5 Gramm Cannabis bei sich hat, auf
das Schlimmste kriminalisieren, entbehrt jeder Grundlage . Wir haben ein sehr ausdifferenziertes Strafrechtssystem, das sich besonders durch die Individualentscheidung auszeichnet . Einzelfallentscheidung bedeutet eben
nicht - wie man gerne verstanden werden möchte -, dass
der Einzelne willkürlich anders als der andere behandelt
wird,
({16})
sondern es bedeutet, dass man sich den Einzelfall mit allen Facetten anschaut . Natürlich wird jemand, der bereits
Vorstrafen hat und auffällig wurde, anders behandelt als
jemand, der zum ersten Mal auffällig geworden ist .
Für mich sind deshalb in der Drogenpolitik andere
Punkte zentral . Wir müssen uns mehr für die Substitution einsetzen . Wir haben bereits in dieser Wahlperiode
viele wichtige Maßnahmen getroffen, um den Substituierenden den Weg in einen weitgehend normalen Alltag zu
erleichtern . Doch wir haben noch so viel Bedarf an den
Schnittstellen .
({17})
Denn gerade die Menschen, die sich entschließen, den
Suchtweg zu verlassen, müssen wir auffangen und ihnen
zur Seite stehen . Besonders bei der Substitution im Strafvollzug müssen wir dahin gehend nachbessern . Vor allem
nach einer Entlassung gibt es viele Todes- und Vergiftungsfälle . Das ist nicht tragbar . Wir werden uns dafür
einsetzen, dass wir auch in anderen Ländern Modellvorhaben wie in Niedersachsen bekommen . Hier wird in Zusammenarbeit mit Substitutionsärzten acht Wochen vor
der Entlassung mit der Behandlung begonnen und diese
dann nahtlos nach der Entlassung weitergeführt . Da sehe
ich Handlungsbedarf .
Eines ist mir besonders wichtig: Wir müssen Lösungen finden, wie wir diejenigen stärken, die Nein zu Drogen sagen, damit sie den Mut haben, sich in einer Gruppe
zu behaupten, selbst wenn der Druck von anderen sehr
groß ist .
({18})
Aber das Wichtigste ist: Im Bereich der Anwendung
von Cannabis als Medizin müssen die Krankenkassen
das, was der Gesetzgeber ihnen aufgetragen hat, ausführen . Sie dürfen Patienten die Erstattung der Kosten von
Cannabis nicht ohne schwerwiegende Gründe verweigern .
({19})
Wir hören, dass die Krankenkassen hier sehr restriktiv
verfahren . Wir werden das genau beobachten und, wenn
das so ist, nicht hinnehmen . Denn dieses Gesetz „Cannabis als Medizin“ war von Anfang an dazu gedacht, die
Patienten zu entlasten und keine neuen Hürden aufzubauen . An diesem Ziel halten wir weiterhin fest . Wenn die
Krankenkassen auch zukünftig den gesetzgeberischen
Willen ignorieren, müssen wir selbstverständlich den
Genehmigungsvorbehalt überdenken .
({20})
Das sind nur drei der zentralen Punkte, die ich als prioritär ansehe, prioritär vor der Legalisierung einer weiteren Droge .
Wenn ich Ihren Gesetzentwurf mit einer Note versehen müsste, dann würde ich eine Vier minus geben .
({21})
Und ein Fleißsternchen hätten Sie sich auch nicht verdient, denn Sie haben gar nichts geändert . Ihr Entwurf
überzeugt mich deshalb weiterhin nicht . Deswegen lehnen wir als Unionsfraktion den Gesetzentwurf selbstverständlich ab .
Vielen Dank .
({22})
Nächster Redner ist der Kollege Frank Tempel für die
Fraktion Die Linke .
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Zum Ende dieser Legislatur möchte auch
ich beim Thema Drogenpolitik etwas grundsätzlicher
werden .
({0})
Sie wissen, dass mein Blickwinkel durch die Arbeit
als Kriminalbeamter in der Bekämpfung der Rauschgiftkriminalität geprägt wurde . Doch auch viele Suchtmediziner, Streetworker und betroffene Konsumenten haben
mich mit ihren Argumenten bestärkt . Aber in den politischen Debatten zur Drogenpolitik sind auch heute noch
viele Reden von Vorurteilen und falschen Begrifflichkeiten geprägt .
({1})
Wir reden zum Beispiel ausdrücklich nicht davon, Drogen, auch nicht Cannabis, freizugeben . Die Linke redet
von einer durchdachten Regulierung auf legaler Basis .
Das gilt auch für die Grünen mit ihrem hier vorgelegten
Gesetzentwurf .
({2})
Das ist etwas ganz anderes als eine Freigabe, meine Damen und Herren; denn das beinhaltet Regeln, die es auf
dem Schwarzmarkt nicht gibt .
Regulierung heißt, man kann Festlegungen treffen:
zum Wirkstoffgehalt, zur Zusammensetzung der Inhaltsstoffe, zum Jugendschutz, zu den erlaubten Mengen usw .
Aus den Reihen der Union wird ja häufig beklagt, Cannabis habe heute einen höheren Wirkstoffgehalt und sei
deswegen gefährlicher .
Herr Kollege Tempel, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Zeulner?
({0})
Oh, das ist meine erste Zwischenfrage nach siebeneinhalb Jahren . Daher gestatte ich sie natürlich .
({0})
Geschätzter Kollege, Sie sagen ja immer, es gehe Ihnen nicht um eine pauschale Legalisierung, sondern um
eine Regulierung . Aber das passt nicht zu dem Gesetzentwurf, den Sie eingebracht haben . Da haben Sie nämlich für Ihre Partei formuliert:
Wir treten . . . für eine rationale und humane Drogenpolitik ein, was eine Entkriminalisierung des Drogenkonsums und langfristig eine Legalisierung aller
Drogen beinhaltet .
({0})
Dazu würde ich natürlich gerne eine Aussage von Ihnen
hören; denn das ist nicht das, was Sie gerade gesagt haben .
({1})
Doch, das ist es . Da steht ja nicht „Freigabe“, sondern
„Legalisierung“ . Legalisierung kann sehr viel Verschiedenes sein .
({0})
Ich kann Ihnen da das Buch von Professor Heino Stöver
von der Universität Frankfurt empfehlen, der eine ganze Menge entsprechender Möglichkeiten vorgestellt hat .
Wir haben hier im Plenum übrigens mehrfach, auch in
Anträgen, unsere Vorstellungen klar regulierter Varianten
vorgestellt . In der letzten Legislatur haben wir einen Vorschlag zum Cannabiskontrollgesetz gemacht . In dieser
Legislatur ging es uns darum, den Besitz und Erwerb geringer Mengen dieser Substanzen zu entkriminalisieren
({1})
und Modellprojekte in den Bundesländern, wie zum Beispiel von Bremen beabsichtigt, zu genehmigen . Das ist
also ein sehr vorsichtiger, sehr langsamer Einstieg,
({2})
der uns ermöglicht, zu evaluieren, wie sich eine solche
legale Variante auswirkt . Das alles ist sehr viel kleinteiliger .
Was Sie eben nicht zitiert haben, ist, dass wir immer
auch von Langfristigkeit sprechen .
({3})
Das heißt, dass hier vom Gesetzgeber ein sehr vorsichtiger, intelligenter Weg zu wählen ist, immer begleitet
durch eine Evaluierung .
({4})
Auch eine solche Evaluierung haben wir in dieser Legislatur gemeinsam mit den Grünen vorgeschlagen, indem
wir gesagt haben: Lassen Sie uns gemeinsam und ergebnisoffen das Drogenstrafrecht evaluieren . - Sie sagen,
es hilft . Wir sagen, es hilft nicht . Auch diesen Vorschlag
haben wir gemacht . Das ist etwas ganz anderes als eine
pauschale Freigabe .
({5})
Sie befürchten, wie gesagt, dass Cannabis heute viel
gefährlicher ist, weil der Wirkstoffgehalt höher ist . Auf
dem Schwarzmarkt gibt es keine Regularien im Hinblick
auf den Wirkstoff . Illegalisierte Drogen werden so noch
gefährlicher, als sie aufgrund ihrer Grundsubstanz per se
schon sind . Aus den Reihen der Union wird auch gerne
behauptet, dass Cannabiskonsumenten den Drang haben,
immer stärkeren Stoff zu nehmen . Das ist ganz einfach
nicht wahr . Wenn Sie Ihren Alkoholkonsum mit einem
Glas Wein oder Bier begonnen haben, landen Sie auch
nicht zwangsläufig beim hochprozentigen Schnaps, zumindest die meisten nicht . Wenn Cannabiskonsumenten
die Möglichkeit bekommen, geringer dosiertes Cannabis
zu wählen, werden nicht alle, aber doch viele genau dies
tun . Darum sollte es uns gehen: Wir wollen die Gefahren
und Schäden durch Drogenkonsum in unserem Land zumindest verringern . Das ist doch das Ziel einer vernünftigen Gesundheitspolitik .
({6})
Bei den Schäden, die durch den Drogenkonsum entstehen, denkt natürlich jeder an die Zahl der Drogentoten . Gut, reine Cannabiskonsumenten gehören nicht
dazu, aber zunehmend Konsumenten sogenannter Legal
Highs . Sie wissen, dass zwei Drittel dieser Produkte, also
synthetische Kräutermischungen usw ., auf synthetischen
Cannabinoiden beruhen . Viele Konsumenten wollen
ganz einfach das Cannabisverbot umgehen . Da, wo der
Verfolgungsdruck für die Konsumenten am größten ist,
nämlich in Bayern, ist auch das Problem mit synthetischen Cannabinoiden am stärksten, übrigens inklusive
der Todeszahlen .
Sie wissen auch, dass Legal Highs in Holland, wo der
Besitz von natürlichem Cannabis geduldet wird, kaum
verbreitet sind . Wenn Sie heute dem Entwurf eines Cannabiskontrollgesetzes der Grünen zustimmen würden,
könnten Sie den Bedarf an synthetischen Cannabinoiden
deutlich senken und damit auch die Zahl der Drogentoten
in Deutschland reduzieren .
({7})
Die Union beklagt gern - das haben wir gerade gehört;
Sie haben das angesprochen - die schlimmen Zustände
durch illegale Dealer in bekannten Szenen wie im Görlitzer Park . Ja, Drogendealer haben gegenwärtig das Monopol auf diese sehr riskanten Substanzen und profitieren
von dem Verbot . Deswegen sollen legale Varianten angeboten werden, um den Dealern diesen Markt zu nehmen .
Als jemand, der mehrere Drogendealer als Beschuldigte
in Strafverfahren vernommen hat, kann ich Ihnen sagen:
Drogen sind per se einfach zu gefährlich, als dass man sie
diesen Dealern, denen die Gesundheit und das Alter ihrer
Kunden egal ist, durch Illegalisierung überlassen darf .
({8})
Ich will nur kurz ein Beispiel außerhalb des Themas
Cannabis anreißen, das das Problem noch einmal verdeutlicht: Aus dem einst legalen Pervitin wurde nach
dem Verbot die heutige Droge Crystal Meth, die sehr viel
stärker, sehr viel brutaler, unberechenbarer und tödlicher
ist . Das passiert mit Drogen, wenn sie nicht mehr staatlich reguliert werden .
({9})
Drogen sind einfach zu gefährlich, um sie einem
Schwarzmarkt zu überlassen .
({10})
Viele Fachleute und Organisationen haben das schon
lange erkannt und warnen uns hier vor der Anwendung
des Strafrechts . Wir haben das Thema gerade durch Ihre
Frage aufgegriffen . Sie hatten in dieser Legislaturperiode
die Chance, den Sinn und die Wirksamkeit des Drogenstrafrechts zu überprüfen . Sie haben das abgelehnt . Sie
haben davor gekniffen und wollten die Ergebnisse nicht
hören .
Wir haben vorgeschlagen, das auf den Prüfstand zu
stellen . Sie wollen weiter eine Drogenpolitik, die auf
Law and Order setzt, statt sich auf einen akzeptierenden
Ansatz einzulassen, auf eine Orientierung auf Schadensminimierung, wie das zum Beispiel auch die Deutsche
Hauptstelle für Suchtfragen, die Deutsche AIDS-Hilfe
usw . empfehlen .
Deswegen bitte ich Sie: Bewegen Sie sich anhand wissenschaftlicher Erkenntnisse und nicht anhand von Vorurteilen und alten Begrifflichkeiten.
({11})
Begraben Sie Ihre Vorurteile, wie Sie es bei der medizinischen Verwendung von Cannabis ja auch getan haben .
Hier hat sich in dieser Legislatur gezeigt, dass man durch
einen entsprechenden Dialog mit Ihnen und mit den KolFrank Tempel
legen von der SPD - mit denen sogar ein bisschen mehr zusammenarbeiten und zu Ergebnissen kommen kann .
Sie haben das Thema aufgegriffen . Ich möchte die Bitte ganz zum Schluss wiederholen, weil es bei dem hier
gemeinsam beschlossenen Gesetz zur Verwendung von
Cannabis als Medizin in der Praxis leider an allen Ecken
und Enden hakt: Hören Sie den Patienten zu! - Das Leid
dieser Patienten ist sehr groß . Das greifen wir auch auf,
und ich möchte abschließend noch einmal positiv erwähnen, dass das unser gemeinsames Anliegen war . In der
Praxis funktioniert das momentan aber nicht . Hier könnten wir zeigen, dass alle vier Fraktionen auch durchaus
gemeinsam zu guten Ergebnissen kommen können .
({12})
Das Wort hat jetzt der Kollege Burkhard Blienert für
die Fraktion der SPD .
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Heute ist in dieser
Legislaturperiode tatsächlich das Finale der Diskussion
bzw . Debatte um Cannabis . Wir haben in den letzten vier
Jahren an vielen Stellen, anhand vieler Anträge und in
vielen Diskussionsrunden mal mehr, mal weniger heftig
gestritten . Wir haben uns einmal an einem Freitagmorgen gemeinsam den Görlitzer Park angeschaut . Es waren
sachliche und leidenschaftliche Debatten, bei denen ich
tatsächlich auch eine Menge gelernt habe .
Deshalb möchte ich zu Beginn erst einmal Danke an
Herrn Tempel und Herrn Terpe sagen . Herr Terpe, Sie haben gestern Ihre letzte Rede hier gehalten; ich habe sie
gehört . Ich hätte Sie heute gerne auch noch einmal zu
dieser Frage gehört . Danke aber auch an Emmi Zeulner
für die Debatten, die wir geführt haben, in denen wir bisher aber leider eben nicht auf einen gemeinsamen Nenner
gekommen sind . Aber das kann ja noch werden .
Im Ausschuss habe ich deutlich gemacht, dass ich den
Gesetzentwurf der Grünen für die sachliche Debatte sehr
begrüßt habe: solide Arbeit, gut recherchiert, viele gute
und richtige Punkte zum Thema „Neue Wege in der Cannabispolitik“ .
({0})
Eines ist klar: Die realitätsferne Drogenpolitik in
Deutschland ist gescheitert . Sie hat mit der Lebenswirklichkeit der Menschen nichts mehr zu tun und greift mit
ihren strafrechtlichen Maßnahmen überhaupt nicht - eher
im Gegenteil . Statt wirksam die organisierte Kriminalität
und das illegale Geld anzugreifen und an die eigentlichen
Täter heranzugehen, werden Bürgerinnen und Bürger ins
Visier genommen . Das sagen uns die alarmierenden Zahlen doch eindeutig .
Hochrechnungen und Schätzungen, wie viel im Moment konsumiert wird, sind immer schwierig . Man geht
davon aus, dass in Deutschland circa 2 000 Tonnen Cannabis pro Jahr konsumiert werden .
Herr Kollege Blienert, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Sorge?
Bitte schön .
Herr Kollege Blienert, wir haben in der Sache ja sehr
kontrovers gestritten . Sie sagen jetzt, Sie würden ja gerne, dürfen aber nicht so richtig . Sie verbiegen sich hier
ein bisschen und loben den Entwurf der Grünen . Das
kann ich aus Ihrer Sicht nachvollziehen .
Mir stellt sich hier eine Frage, die ich Ihnen auch stellen möchte . In der medialen Berichterstattung der letzten
Wochen - der rot-rot-grüne Senat hier in Berlin und der
Görlitzer Park sind angesprochen worden - sieht man
dann solche Überschriften wie: Rot-rot-grüner Senat
macht Dealer froh!
({0})
Das heißt, dass sich die Dealer im Görlitzer Park über die
Politik des Senats freuen . Meine Kollegin Emmi Zeulner
hat angesprochen, dass die tolerierte Höchstmenge heraufgesetzt werden soll .
Wie wollen Sie denn den Bürgern, den Familien, die
im Görlitzer Park jeden Tag unterwegs sind, erklären,
dass wir den Cannabiskonsum legalisieren?
({1})
Ihr Argument ist, dass wir dann dem Schwarzmarkt die
Grundlage entziehen .
({2})
Glauben Sie denn ernsthaft, dass mit einer nachhaltigen
Legalisierung die Probleme gelöst werden können?
({3})
Glauben Sie weiterhin ernsthaft, dass dann das Problem
im Görlitzer Park in der Form, wie wir es momentan haben, gelöst wird?
({4})
Das, was Sie hier erzählen, ist absolut nicht nachvollziehbar .
({5})
Lieber Herr Kollege, ich möchte Ihnen gerne mit zwei
Punkten antworten . Der erste Punkt ist: Ich habe auch
andere Überschriften in Zeitungen und Zeitschriften geFrank Tempel
lesen, in denen genau das Gegenteil von dem stand, was
Sie gerade aufgezählt haben . Würden wir uns daran orientieren, könnten wir immer eine muntere Debatte über
die Schlagzeilen mit den größten Buchstaben führen .
Eine solche Debatte will ich nicht .
({0})
Mein zweiter Punkt . Wir glauben nicht nur, sondern
wir wissen aufgrund von Untersuchungen, dass genau
diese Gespräche erfolgreich sind . Wenn man die Sache
mit der Legalisierung und die Wirkungskette, die damit verbunden ist, erklärt, dann nimmt man ganz viele
Menschen mit und bewegt sich wirklich in der Lebenswirklichkeit der Menschen, die mit dem Problem zu tun
haben .
({1})
- Darauf komme ich gleich zu sprechen .
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei einem Konsum
von angenommenen 2 000 Tonnen Cannabis und einem
angenommenen Preis von circa 10 Euro pro Gramm reden wir über circa 20 Milliarden Euro, die im Jahr nur
durch Cannabis umgesetzt werden; Schwarzgeld, welches natürlich unversteuert nicht wohltätigen Zwecken
wie Steuern oder anderen Sachen zugutekommt, sondern
eher für unsaubere Geschäfte genutzt wird . Wir wissen
doch: International ist der Drogenhandel der Motor des
Terrors .
({3})
Das Geld aus dem Handel mit Cannabis ist dafür der wesentliche Treibstoff .
Ich möchte jetzt zum Thema „Konsum von Cannabis“ kommen . Auch da bitte ich Sie, einige Zahlen zu
registrieren, die man nicht vernachlässigen kann und
die auch mit der jetzigen Politik nicht verhindert werden . Laut Drogenbericht 2016 der Beauftragten haben
im Jahr 2015 6,6 Prozent aller Jugendlichen zwischen
12 und 17 Jahren Cannabis konsumiert . Die Deutsche
Hauptstelle für Suchtfragen, für deren Zusammenarbeit
in den letzten vier Jahren ich mich ganz herzlich bedanke, schrieb in einer Stellungnahme: „Die Lebenszeitprävalenz Erwachsener ({4}) in Deutschland
liegt bei circa 23,2 % .“ Grob geschätzt: Jeder vierte Erwachsene hat in seinem Leben schon einmal Cannabis
konsumiert . Gucken wir einmal genauer hin: In den letzten zwölf Monaten waren es 2,3 Millionen erwachsene
Menschen in Deutschland und innerhalb des letzten Monats circa 1,2 Millionen .
({5})
Wenn es das Ziel der deutschen Drogen- und Suchtpolitik sein soll, ein Leben in einer drogenfreien Gesellschaft ohne Sucht und Krankheit zu erreichen, dann ist
das Instrument der jetzigen Drogenpolitik völlig gescheitert .
({6})
Wenn es das Ziel sein soll, dass wir in einer Gesellschaft
leben, in der Schäden durch Konsum verhindert und reduziert werden sollen sowie den Konsumenten Hilfe und
Unterstützung für ein selbstbestimmtes und eigenverantwortliches Leben gegeben werden sollen, dann ist die
jetzige Drogenpolitik nicht nur kontraproduktiv, sondern
ebenfalls gescheitert .
({7})
Jugendschutz? Verbraucherschutz? Fehlanzeige! Das
sind die Fakten . Deshalb ist es richtig, dass wir Antworten auf die Frage geben müssen: Wie sieht es denn mit
anderen Konzepten aus?
Ich habe in der letzten Debatte zu Herrn Tempel gesagt: Die Cannabispflanze auf dem Balkon kann aus meiner Sicht noch nicht die richtige Antwort auf die Forderungen nach mehr Jugendschutz und Verbraucherschutz
sein .
({8})
Die Idee einer weitgehenden Legalisierung des Anbaus
und Konsums, den ich eher verfolge, setzt auf einen regulierten und kontrollierten Ansatz . Das möchte ich an
dieser Stelle gerne betonen .
Auch die Akzeptanz des Besitzes in der Größe einer
Jahresernte bzw . einer Höchstgrenze von 30 Gramm pro
Einkauf sehe ich skeptisch . Über solche Details muss
man mit Experten diskutieren und die Grundrichtung eines Gesetzentwurfes nachschärfen . Die Anhörungen der
letzten Jahre bestätigen dies auch . Nahezu alle Experten
fordern von uns, in Fragen der Drogenpolitik umzudenken . Allein eine Seite des Hauses verweigert sich noch .
Die Union verschließt sich nach wie vor den Argumenten . Sie nimmt eine Blockadehaltung ein . Im Koalitionsvertrag ist dazu leider nichts vereinbart worden . Wir hörten in dieser Wahlperiode immer ein striktes Nein . Das ist
nicht vorwärtsweisend .
Vordergründig geht es um die Grenzen zwischen „verboten“ und „erlaubt“, zwischen akzeptiertem Drogenkonsum und Genuss, der nur geduldet wird . Es geht nicht
um die Abwägung in der Sache, sondern um die reine
Lehre . Was derzeit gilt, wird nicht geändert .
({9})
Mir jedoch geht es um die Frage, welche Rolle der
Staat gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern im Kern
hat . Können der Staat und die Gesellschaft die Menschen
ausreichend schützen, ohne allein auf Repression und
Strafe zu setzen, sondern auch auf Verantwortung und
Mündigkeit? So verstehen wir nämlich den Staat: nicht
als Obrigkeitsstaat, sondern im Sinne der Teilhabe, Mitgestaltung und Verantwortung .
({10})
Es geht wie immer im Kern darum, den Menschen ein
selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen, mit aller staatlichen Unterstützung für ein gesundes und stabiles Leben .
Deswegen ist die Frage von Drogenkonsum und -missbrauch für mich keine Frage des Strafrechts, sondern eine
Frage der Gesundheitspolitik und der Sozialpolitik .
({11})
Das Strafrecht kommt dann zum Zuge, wenn es um
die damit verbundene Kriminalität geht . Wir lassen es
zurzeit zu, dass eine organisierte Kriminalität existiert,
die sich aus Schwarzgeld, Gewalt und anderen Straftaten
im Zusammenhang mit dem Handel und dem Verkauf
nährt . Daher ist es aus meiner Sicht wichtig, dass wir die
Konsumenten durch einen gesicherten Zugang besser
schützen . Denn wir sehen: Durch ein Verbot fördern wir
letztlich Kriminalität, Gewalt und rechtsfreie Räume .
Ich bin erfreut darüber, dass sich jenseits der Union
gerade in den letzten Jahren viele auf den Weg gemacht
haben, über andere Wege nachzudenken . Viele Stellungnahmen, zum Beispiel von den Wohlfahrtsverbänden wie
dem Paritätischen Wohlfahrtsverband, der Arbeiterwohlfahrt und der schon zitierten Deutschen Hauptstelle für
Suchtfragen, haben den Ansatz einer kontrollierten und
regulierten Abgabe aufgegriffen und betont, dass Modellprojekte notwendig sind, um Erfahrungen zu sammeln . Sie haben gesagt, dass das Betäubungsmittelgesetz
unbedingt auf den Prüfstand gehört . Wir hören auch aus
den Ländern und Kommunen, dass sie bereit sind, neue
Wege zu gehen . Berlin, Bremen, Düsseldorf, ja sogar
Münster würden gerne ein entsprechendes Modellprojekt
durchführen .
({12})
Das Problem ist: Die Drogenbeauftragte blockiert gerade all diese Versuche .
({13})
Sie verweigert den Kommunen, entsprechende Modellprojekte durchzuführen .
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wir werden
uns auch in der kommenden Legislaturperiode mit diesem Thema beschäftigen müssen . Ich wünsche mir, dass
wir uns in dieser Frage um drei wesentliche Dinge kümmern .
Das Erste ist, Modellprojekte zuzulassen, damit wir
Erfahrungen sammeln können in der regulierten und kontrollierten Abgabe . Das Zweite ist, das Betäubungsmittelgesetz auf den Prüfstand zu stellen und die notwendige
Entkriminalisierung vorzunehmen .
Das Dritte ist: Wir werden uns um eine Reform des
Cannabisgesetzes - Cannabis als Medizin - kümmern
müssen, weil wir zurzeit einige Schwierigkeiten bei der
konkreten Umsetzung haben . Auch das muss, wenn es
nicht jetzt schon untergesetzlich geregelt werden kann,
in der nächsten Legislaturperiode in Angriff genommen
werden .
({14})
Frau Mortler, ich weiß nicht, ob Sie gleich noch reden werden, aber Sie sind jedenfalls anwesend . Ich weiß
nicht, ob ich es an Ihrer Stelle besser gemacht hätte, aber
das käme vielleicht auf einen Versuch in der nächsten Legislaturperiode an .
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit .
({15})
Jetzt spricht der Kollege Cem Özdemir für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Polizei wendet einen großen Teil ihres Personals für die
Verfolgung der Drogenkriminalität auf, verbunden mit
vielen Ermittlungs- und noch mehr Schreibtischstunden .
58 Prozent dieser Arbeit landen später im Mülleimer . Das
sind die deutschen Cannabisdelikte . Sie werden von den
Staatsanwaltschaften oder Gerichten größtenteils eingestellt .
Welcher Irrsinn und welche große Verschwendung ist
das für die Polizisten und die polizeiliche Motivation?
Ich glaube, niemand arbeitet gerne für den Mülleimer .
Warum quälen wir dann unsere Polizisten weiter mit einem sinnlosen Gesetz, das wir endlich abschaffen sollten?
({0})
164 000 Cannabisdelikte - ich sage es nochmals, damit es jeder hört: 164 000 Cannabisdelikte - stellen eine
Beschäftigungstherapie für Polizisten dar, die bei der Bekämpfung von Einbruchsdelikten und Ähnlichem fehlen .
Auch da kann ich Ihnen nur sagen: Wenn Sie nicht auf
meine Fraktion hören, dann hören Sie doch auf die Polizei, hören Sie auf die Kriminologen, hören Sie auf die
Justiz, hören Sie auf die Experten, die etwas von dem
Thema verstehen und uns Recht geben .
({1})
Ich zitiere gerne einmal stellvertretend André Schulz,
({2})
den Vorsitzenden des Bundes Deutscher Kriminalbeamter:
Noch nie gab es so viele Drogenkonsumenten wie
heute und das trotz eines kompletten Drogen-Verbotes .
Frau Zeulner, Sie haben vorhin den Görlitzer Park angesprochen .
({3})
Ich wohne mit meiner Frau und meinen zwei Kindern
nicht so weit weg davon . Ich kann Ihnen nur sagen: Die
Nulltoleranzpolitik des CDU-Innensenators in Berlin,
die Politik von Herrn Henkel ist gescheitert .
({4})
Fragen Sie doch einmal die Dealer, welche Politik besser
für sie war, unsere Politik oder die des Vorgängers .
Ich glaube, es ist höchste Eisenbahn, dass wir die
Ideologie im Papierkorb der Geschichte versenken und
uns endlich um einen wirkungsvollen Jugendschutz
kümmern . Der gehört nämlich auf die Tagesordnung .
({5})
Auf die Tagesordnung gehört auch, zur Kenntnis zu
nehmen, dass 2,5 Millionen Menschen Cannabis konsumieren . Das ist eine Realität . Das haben wir heute schon
ein paarmal gehört . Der Konsum ist durch die Verbotspolitik eben nicht zurückgegangen . Wir sind uns doch
alle einig hier . Ich freue mich, dass bei einem Satz immer
Einigkeit herrschte, nämlich dass wir aufpassen müssen,
dass wir die Gefahren von Cannabis nicht verharmlosen .
Deshalb muss man auch deutlich machen: Wir brauchen
ein Cannabisverbot für Minderjährige . Elternverbände, Psychiater und Ärztevereinigungen warnen doch zu
Recht vor den Risiken für Jugendliche .
Aber jetzt hören Sie einmal aufmerksam zu, was sie
auch sagen . Sie warnen auch vor den Folgen von Alkoholkonsum . Da sind wir eben anders . Wir drehen unsere
Hand nicht um bei Gefahren für Jugendliche . Für uns
gibt es nicht größere und kleinere Gefahren, sondern für
uns gibt es Gefahren für Jugendliche - und das sehen wir
ganz ohne Ideologie .
({6})
Herr Präsident, es gibt eine Zwischenfrage .
Ich entnehme Ihrer Armbewegung und Ihrem Hinweis, dass Sie diese Frage zulassen .
So ist es .
({0})
Ich frage mich, warum Sie dann das Strafmaß für die
Weitergabe von Drogen an Jugendliche senken . In Ihrem
Gesetzentwurf wird das Strafmaß gesenkt . Im jetzigen
Betäubungsmittelgesetz ist das Strafmaß höher .
({0})
Ich verstehe Ihre Aussage, dass Sie die Jugendlichen besser schützen wollen, nicht, wenn Sie für die Dealer und
die Personen, die die Drogen an Jugendliche weitergeben, das Strafmaß senken .
({1})
Frau Kollegin, ich biete Ihnen gerne an, dass wir uns
die Szene im Görlitzer Park und am Kottbusser Tor ganz
ohne Kameras und ohne Journalisten anschauen, einmal
zuhören und mit den Leuten reden . Dann fragen wir einmal gemeinsam, ob die Drogendealer nach dem Personalausweis fragen . Dann fragen wir gemeinsam, ob die
Drogendealer eine Packungsbeilage mitgeben, wenn sie
ihren Kunden das Zeug verkaufen .
({0})
Wir fragen dann einmal gemeinsam, ob die Drogendealer beispielsweise mit dem Verbraucherschutz vorher
das Zeug getestet haben . Dann fragen wir gemeinsam,
welche Gesundheitsgefahren davon ausgehen . Dann fragen wir einmal gemeinsam, ob die Szenen dort getrennt
sind, ob diejenigen, die die weichen Drogen verkaufen,
nicht auch dieselben sind, die die harten Drogen verkaufen .
({1})
Ihr Argument von der Einstiegsdroge wird doch genau durch das, was Sie sagen, bestätigt . Nur wenn Sie
die Szenen trennen, indem Sie endlich dazu beitragen,
dass es ein Cannabiskontrollgesetz gibt und Erwachsene,
die Cannabis konsumieren wollen, von den Jugendlichen
getrennt werden, dann bekommen Sie einen wirkungsvollen Jugendschutz .
({2})
Wir wollen den Jugendschutz, Sie verhindern den Jugendschutz doch gerade, Frau Kollegin .
({3})
Mein Angebot war übrigens ernst gemeint . Das war
nicht dem Wahlkampf geschuldet . Ich glaube wirklich,
dass ein großes Problem bei dem Thema die mangelnde
Sachkenntnis ist . Es hilft uns, glaube ich, wenn man sich
ausführlich mit diesem Thema beschäftigt .
({4})
In unserem Entwurf zum Cannabiskontrollgesetz
sprechen wir gerade nicht von einem unkontrollierten
Verkauf, sondern wir reden von einer mengenmäßigen
Begrenzung . Ich habe Ihnen aufmerksam zugehört . Sie
haben die drei Pflanzen erwähnt und gesagt, Ihnen gefalle das nicht . Reden wir von mir aus über die Mengen,
aber hören wir endlich auf, hier ideologisch zu diskutieren .
({5})
Wir brauchen ein umfassendes Gesetz, das Jugendschutz, Verbraucherschutz und Suchtprävention regelt .
Volljährige Konsumenten - um die geht es hier; das kann
man gar nicht oft genug sagen - dürfen nicht weiter kriminalisiert werden . Die Strafverfolgungsbehörden müssen im Umkehrschluss entsprechend entlastet werden .
Wenn Sie auch da nicht auf uns hören, so reden Sie
doch einmal mit den Kolleginnen und Kollegen Parlamentariern und Politikern in anderen Ländern . Ich meine,
es ist doch kein Zufall, dass in immer mehr Ländern man muss doch einmal hinhören, warum das so ist - gesagt wird: Gerade wegen des Jugendschutzes müssen wir
die bisherige Politik auf den Prüfstand stellen . Jüngst ist
noch Justin Trudeau aus Kanada zu den bekannten Beispielen hinzugekommen . Er argumentiert ausdrücklich
mit dem Jugendschutz, indem er sagt: Wir wollen den
Drogenmarkt schwächen, wir wollen es den Dealern
schwerer machen. Ich finde, er hat recht. Auf ihn sollten
wir da hören, liebe Kolleginnen und Kollegen .
({6})
In den Debatten der vergangenen Jahre haben Sie
uns - gerade wenn es um Umweltschutz ging - sehr gerne gesagt, wir sollten die Bürgerinnen und Bürger, was
deren Freiheit angeht, nicht gängeln . Ich will Sie jetzt
einmal fragen: Mit welchem Recht verbieten wir hart
arbeitenden erwachsenen deutschen Staatsbürgern einen
entspannten Feierabendjoint auf der heimischen Terrasse
oder auf dem heimischen Balkon?
({7})
Mit welchem Recht mischen wir uns in das Privatleben
von Millionen erwachsenen Cannabiskonsumenten ein,
die nichts anderes wollen als einfach ihre Ruhe? Sie
schlagen ihre Frauen nicht, sie bringen niemanden um .
Nach Ihrer Logik wird - das haben wir über Jahrzehnte
hinweg übrigens auch in diesem Hause gemacht - der
Alkoholkonsum verharmlost . Dagegen kriminalisieren
wir die anderen Drogen . Das versteht doch kein normaler
Mensch in diesem Land mehr .
({8})
Ich komme zum Schluss . Ich bedanke mich dafür,
dass sich bei der Schmerztherapie etwas getan hat . Mit
dem Thema Cannabis habe ich aufgrund eines Videos
ein bisschen zu tun gehabt . Ich habe viele Menschen mit
schrecklichsten Schmerzen - mit Gehirntumoren usw . getroffen . Es ist gut, dass wir uns da bewegt haben . Ich
will aber auch sagen: Dass man es davor nicht gemacht
hat, war auch nichts anderes als eine Art von unterlassener Hilfeleistung .
({9})
Jetzt sind Sie den ersten Schritt gegangen . Dann gehen
Sie doch bitte auch den zweiten Schritt und räumen Sie
auch da ideologischen Müll zur Seite .
Danke sehr .
({10})
Zum Abschluss dieser Aussprache hat der Kollege
Dr . Georg Kippels, CDU/CSU-Fraktion, das Wort .
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist schon wirklich erstaunlich, am Freitagnachmittag
um fast 15 Uhr noch so viel Leben bzw . Lebhaftigkeit
in einer Debatte vorzufinden; aber ganz offensichtlich ist
das Thema Cannabis durchaus geeignet, noch einmal so
richtig den ideologischen Boxring aufzubauen und einen
intensiven Schlagabtausch vorzunehmen .
Bei der letzten Debatte 2015 war ich noch nicht Vollmitglied im Ausschuss für Gesundheit . Deshalb habe ich
mir zur Einstimmung einmal das Protokoll angeguckt .
Schon damals ließen die Herzhaftigkeit, der Wortreichtum und natürlich die Emotionalität nichts zu wünschen
übrig . Offenbar haben zwei Jahre der politischen Debatte
auch nicht dazu beigetragen, dass eine Sachlichkeit einkehren konnte . Das ist eigentlich schade . Es ist schon
allein deshalb schade, weil hier mindestens ein Vorwurf
bzw . Vorurteil unverändert sehr intensiv in den Gesprächsbeiträgen der Kollegen von den Grünen und auch
von den Linken immer wieder geäußert wird . Auch Herr
Kollege Blienert - er ist anscheinend schon weg - konnte
es sich nicht ganz verkneifen, den Eindruck zu erwecken,
als ob abgesehen von der CDU/CSU alle zukunftsfähig
mit dem Thema Cannabis umgehen könnten .
({0})
Weit gefehlt, liebe Kolleginnen und Kollegen . Wenn man
sich lediglich in irgendeiner Form vermeintlich einem
Megatrend anschließt, hat das nichts mit Zukunftsorientierung zu tun . Vor allen Dingen hat es auch nicht automatisch etwas mit Verantwortungsbewusstsein zu tun .
Wenn man die energischen Einsätze des Kollegen
Özdemir erleben darf, dann gewinnt man den Eindruck,
dass der gesellschaftliche Friede auf der Kippe steht,
wenn wir nicht morgen jedem den Feierabendjoint ermöglichen . Und man hat den Eindruck, dass wir in die
höchstpersönliche Sphäre der Menschen eingreifen, sie
gewissermaßen auf der Grundlage des Grundgesetzes
vergewaltigen und ihnen jede Form der persönlichen
Entspannung oder Beruhigung streitig machen wollten .
Das Gegenteil ist aber der Fall .
Wir haben uns ja in den letzten zwei Jahren, was das
Ergebnis anbelangt, einstimmig sehr konstruktiv, vor
allen Dingen aber auch sehr sachlich mit dieser Materie auseinandergesetzt . Sie haben das zum Schluss - zu
Recht - gelobt, Herr Kollege Özdemir . Auch die Parlamentarische Staatssekretärin Ingrid Fischbach hat in der
Schlussdebatte im Januar dieses Jahres ausdrücklich hervorgehoben, dass die Diskussion in hohem Maße sachlich und qualitativ hochwertig geführt wurde und dass
wir dann zu einem vernünftigen und der Sache angemessenen Ergebnis gekommen sind .
Da in der aktuellen Diskussion - das ist das eigentlich
Störende und Irritierende - immer wieder eine intensive
kriminologische Betrachtung vorgenommen wird - hin
und wieder zu Recht - und in großem Umfang der Hinweis auf die Gesundheit eine Rolle spielt, möchte ich
darauf hinweisen: Federführend hat sich in der Tat der
Ausschuss für Gesundheit mit diesem Thema befasst .
Die gesamte kriminologische Debatte hätte vielleicht ein
bisschen mehr im Ausschuss für Recht geführt werden
sollen; das wäre gerechtfertigt gewesen .
Sehr geehrter Kollege Tempel, Sie haben aus Sicht eines Kriminalbeamten auf Ihre beruflichen Erfahrungen
im Umgang mit Beschuldigten verwiesen . Ich war in
meinem Wahlkreis, dem Rhein-Erft-Kreis, der Luftlinie
ungefähr 50 Kilometer von der holländischen Grenze
entfernt ist, als Jurist 25 Jahre auch im Bereich der Strafverteidigung tätig . Mir ist daher das von Ihnen angeführte Tatbestandsbild durchaus nicht unbekannt gewesen,
vor allem der Fall, dass der eine oder andere Jugendliche am Sonntagnachmittag im Überschwang der Gefühle
einen kleinen Ausflug in die Beneluxstaaten und insbesondere nach Holland gemacht und dann im Coffeeshop
dringend die Notwendigkeit gesehen hat, einen Test zu
machen . Das führt in der Tat zu nachhaltigen Problemstellungen und Verwirrungen . Aber meine Erfahrungen
vor allen Dingen mit der Jugendgerichtsbarkeit sind die,
dass der Erziehungs- und der Präventivgesichtspunkt
beim Jugendstrafrecht erfolgreich berücksichtigt werden, gerade dann, wenn im Rahmen der Auflagen des Jugendstrafrechts eine Teilnahme an einer Drogenberatung
angeordnet wird . Das ist genau das, was wir letztendlich
wünschen, nämlich eine verantwortungsvolle Auseinandersetzung im Rahmen des Jugendschutzes .
({1})
Kollege Kippels, der Kollege Tempel möchte eine
Zwischenfrage stellen .
Herr Kollege, Sie hatten eigentlich eben ausreichend
Gelegenheit .
({0})
Wenn es unbedingt sein muss, werde ich Ihre Frage in
aller Kürze beantworten . - Bitte, gern .
({1})
Ich werde die drei Minuten nicht ausschöpfen . - Da Sie
gesagt haben, dass Sie aus Ihren Erfahrungen als Jurist
schöpfen: Ihnen ist sicherlich bekannt, dass mehr als die
Hälfte aller Strafrechtsprofessoren in Deutschland, also
derjenigen, die sich mit dem Strafrecht befassen, genau
das untersucht und eine Resolution an uns Bundestagsabgeordnete geschrieben haben, in der sie aus juristischer
Sicht genau dargelegt haben, dass die Verhältnismäßigkeit, also die drei Punkte „geeignet“, „erforderlich“ und
„angemessen“, nicht gegeben ist und dass die präventive
Wirkung des Drogenstrafrechts nicht nachgewiesen ist,
sondern eine Legende ist . Haben Sie davon Kenntnis genommen, und, wenn ja, wie bewerten Sie das als Jurist?
({0})
Herr Kollege Tempel, das bewerte ich mit einer Standardantwort aller Juristen: Zwei Juristen, drei Meinungen!
({0})
Es gibt hier kein Mehrheitsprinzip: Insofern beeindruckt
mich ein Votum von 50 Prozent der auf diesem Sektor tätigen Professoren nicht besonders . Schließlich haben sich
die restlichen 50 Prozent - aus welchen Gründen auch
immer - teilweise gar nicht geäußert . Vielleicht wollten
Sie sich mehr ihrer akademischen Tätigkeit widmen . Die
von Ihnen zitierten Aussagen sind mir jedenfalls bekannt .
({1})
Wenn Sie gestatten, möchte ich zum Thema Jugendschutz zurückkommen . Ich möchte zu dieser Tageszeit
schon fast verzweifelt zwei, drei Bemerkungen zu dem
Konstrukt des Gesetzes machen, und zwar gerade unter
dem Aspekt des Jugendschutzes . § 4 enthält den Hinweis
auf den Jugendschutz, während § 5 die Bestimmungen
enthält, wie die Maßnahmen angewendet werden sollen . Was mich letztendlich dazu gebracht hat, an diesem
Konstrukt zu zweifeln, ist die Tatsache, dass es häufig
zu Situationen kommen wird, in der der volljährige Bruder oder die volljährige Schwester dem Ihrer Vorstellung
nach vollkommen freigegebenen oder legalisierten - die
Wahl der Begrifflichkeit ist egal - Anbau von Cannabis
nachgehen, während das minderjährige Geschwisterkind
in eine Erprobungsphase kommt . Wie will man in einer
solchen Situation einen effektiven Schutz gewährleisten?
Trägt man nicht auf diese Art und Weise ein Problem in
Familien und erzeugt so einen gewissen Rechtfertigungsdruck?
({2})
Das Ganze ist sicherlich überlegenswert . Aber solche
Konstellationen müssen in letzter Konsequenz betrachtet
werden . Ich glaube, dass Ihr Gesetzentwurf noch nicht
ausgewogen ist .
Ein weiterer Punkt . An dieser Stelle möchte ich auf
die Strafvorschriften nach § 42 Cannabiskontrollgesetz
hinweisen: Wir müssen bei Verstößen natürlich zu einer
Sanktionierung kommen . Insofern ist das eine spannende Debatte zum Gesamtvorwurf der Kriminalisierung in
diesem Bereich; denn es könnte rein theoretisch so sein,
dass unter diese Strafvorschriften der eine oder andere
Familienangehörige fällt, weil er nicht in ausreichendem
Maße den Vorschriften gefolgt ist .
Letzten Endes - das ist eigentlich mein Kernbedenken bei der Situation, mit der wir uns hier und heute auseinandersetzen -: Wenn ich mir die enormen Vorgaben
nach § 22 und § 23 Cannabiskontrollgesetz anschaue,
dann bin ich schon der Meinung, dass wir hier wirklich
zu hohe bürokratische Hürden aufbauen würden, die dem
Grundgedanken des Jugendschutzes aus rein pragmatischen Gründen leider nicht gerecht werden .
Herr Kollege Kippels, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Terpe?
Nein, an dieser Stelle, ehrlich gesagt, nicht mehr . Ich
möchte gerne zum Ende kommen, Herr Präsident .
Wir haben uns mit diesen Vorgaben intensiv auseinandergesetzt . Im Moment beherrscht die Diskussion noch
die Ideologie . Sollten wir voraussichtlich in der nächsten Wahlperiode zur Sachlichkeit zurückkehren, sind alle
Diskussionen erlaubt . Heute führen sie nicht zum Erfolg,
und deshalb bleiben wir - ideologiefrei - bei der Ablehnung dieses Gesetzes .
Ich danke Ihnen recht herzlich für Ihre Aufmerksamkeit .
({0})
Der Kollege Terpe hat jetzt die Gelegenheit zu einer kurzen - Kurzintervention .
Vielen Dank, Herr Präsident, dass ich eine Kurzintervention vortragen kann . - Ich wollte dem Kollegen
Georg Kippels eigentlich dafür danken, dass er jetzt zumindest mündlich einmal einen Vorschlag gemacht hat,
wie man unseren Entwurf eines Cannabiskontrollgesetzes modifizieren und vielleicht auch verbessern kann. Ich
teile die Befürchtung gar nicht, dass in den Familien mit
dieser Frage nicht verantwortungsvoll umgegangen wird .
Ich denke, dass sich die Situation bei Cannabis in den
Familien überhaupt nicht anders als bei Alkohol darstellt .
({0})
Als Familienvater von sechs Kindern habe ich ausreichend Erfahrung sammeln können, was man in den Familien mit den Kindern verantwortungsvoll machen kann .
Das ist niemals Gegenstand einer parlamentarischen Diskussion . Das ist sozusagen die Freiheit, die man in der
Familie wahrnehmen kann . Aber natürlich müsste man
ausschließen, dass Familienangehörige in eine Strafsituation kommen; da bin ich der gleichen Meinung . Darüber haben wir im Übrigen bei anderen Themen ebenfalls
häufiger diskutiert.
Meine Schlussbemerkung ist: Ich habe eigentlich vermisst, dass sich die CDU/CSU konstruktiv mit unserem
Entwurf eines Cannabiskontrollgesetzes auseinandersetzt . Schriftliches habe ich jedenfalls nie gesehen . Änderungsanträge sind auch nicht vorgelegt worden .
({1})
- „Wo sind sie?“ - Insofern denke ich, das ist etwas, was
man in der nächsten Legislaturperiode nachholen kann,
wenn man gegenüber der Sache konstruktiv eingestellt
ist .
({2})
Herr Kollege Kippels, Sie haben die Gelegenheit, zu
erwidern .
Ich will zusammenfassend sagen: In der Tat, da ist
noch erheblicher Gesamtnachjustierungsbedarf . Er bedarf aber sicherlich auch eines ideologisch anderen Anlaufs .
({0})
Das sehen wir jedenfalls so . Deshalb: Die nächste Wahlperiode gibt alle Möglichkeiten, mit diesem Thema verantwortungsvoll umzugehen .
Herzlichen Dank .
({1})
Damit schließe ich die Aussprache .
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen eingebrachten Einwurf eines
Cannabiskontrollgesetzes . Der Ausschuss für Gesundheit
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/12476, den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf der Drucksache 18/4204 abzulehnen . Ich bitte jetzt diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen . - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von CDU/CSU
und SPD gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen und der Fraktion Die Linke abgelehnt . Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere
Beratung .
Wir sind am Schluss unserer heutigen Tagesordnung
angelangt .
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 21 . Juni 2017, 13 Uhr, ein .
Ich wünsche Ihnen allen ein frohes Pfingstfest. Die
Sitzung ist geschlossen .