Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie herzlich zur letzten Plenarsitzung in dieser
Woche .
Wir fangen mit dem Zusatzpunkt 12 an:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines
… Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches - Wohnungseinbruchdiebstahl
Drucksache 18/12359
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz ({0})
Innenausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen . - Dagegen höre
ich keinen Widerspruch . Dann können wir so verfahren .
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Bundesminister der Justiz, Heiko Maas .
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Abgeordnete! Im vergangenen Jahr hat die Polizei mehr als
150 000 Wohnungseinbrüche registriert . Vor zehn Jahren
waren es knapp über 100 000 . Diesen massiven Anstieg
von über 50 Prozent in den letzten zehn Jahren kann man
nicht einfach ignorieren .
Auch wenn die Zahlen zuletzt wieder rückläufig sind,
bleibt es dabei: Wohnungseinbrüche sind ein massives
Sicherheitsproblem in Deutschland . Wir wollen die Menschen besser davor schützen; denn Wohnungseinbrüche
haben gravierende Folgen. Die finanziellen Schäden lagen im letzten Jahr bei rund 400 Millionen Euro . Hinzu
kommt der nicht zu unterschätzende ideelle Schaden .
Wenn ein altes Erbstück oder Dateien mit wichtigen persönlichen Daten weg sind, dann geht das weit über den
Verlust hinaus, den man in Euro und Cent beziffern kann.
Noch schlimmer sind - das wissen wir - die psychischen
Folgen . Wer in die Wohnung eines Menschen eindringt,
der dringt in seine absolute Intimsphäre ein . Viele Betroffene bleiben dann mit dem Gefühl zurück, nicht einmal
in den eigenen vier Wänden sicher zu sein .
Wenn es hier der Politik nicht gelingt, den Menschen
mehr Sicherheit zu geben, dann ist das Vertrauen in unseren Staat und vor allen Dingen in den Rechtsstaat massiv
gefährdet . Deshalb müssen wir gegen Einbrecher noch
besser vorgehen . Dies müssen wir in dreierlei Hinsicht
tun . Erstens . Wir müssen die Prävention verbessern .
Zweitens . Wir brauchen eine höhere Aufklärungsquote
bei den begangenen Taten . Drittens . Wir brauchen eine
härtere Bestrafung der überführten Täter .
({0})
Das größte Plus an Sicherheit schaffen wir dann, wenn
es den potenziellen Tätern erst gar nicht gelingt, in eine
Wohnung einzubrechen . Deshalb ist Prävention so wichtig . Wir wollen, dass Wohnungen so gesichert sind, dass
man eben nicht mit ein paar einfachen Kniffen Türen
oder Fenster aushebeln kann . Ein solcher Einbruchschutz
zahlt sich aus . Mehr als 40 Prozent der Einbrüche scheitern an einer guten Sicherung von Türen und Fenstern
oder durch Alarmanlagen . Aber einen guten Einbruchschutz kann sich nicht jeder leisten . Damit die Sicherheit
nicht an fehlendem Geld scheitert, stellt die Kreditanstalt
für Wiederaufbau Zuschüsse zur Finanzierung bereit,
und zwar sowohl für Eigentümer als auch für Mieter . Die
Mittel dafür haben wir in den vergangenen Jahren mit bis
zu 1 500 Euro pro Wohnung deutlich erhöht .
({1})
Deshalb richte ich in dem Zusammenhang an alle Vermieter und alle privaten Eigentümer, vor allen Dingen
aber auch an die großen Wohnungsbaugesellschaften die
Bitte: Sparen Sie nicht an der Sicherheit auf Kosten Ihrer
Mieter . Nutzen Sie die staatliche Förderung . Investieren
Sie, und schützen Sie Ihr Eigentum, vor allen Dingen
aber Ihre Mieterinnen und Mieter noch besser vor Einbrechern .
({2})
Meine Damen und Herren, im vergangenen Jahr lag
das Risiko, nach einem Einbruch bestraft zu werden,
bei nur knapp 17 Prozent . Anders ausgedrückt: Mehr als
80 Prozent aller Einbrecher werden nie gefasst, laufen
frei herum und können weiter ihr Unwesen treiben .
Es ist eine Binsenweisheit der Kriminologie, dass bei
der Entscheidung für eine Straftat das Entdeckungsrisiko eine maßgebliche Rolle spielt . Deshalb ist klar: Wer
in der Zukunft Wohnungseinbrüche verhindern will, der
muss auch die Aufklärungsquote bei Einbrüchen massiv
erhöhen . Das ist eine Aufgabe der Sicherheitsbehörden .
Dafür brauchen sie eine entsprechende Anzahl von Ermittlern, also genügend Personal, aber auch die richtigen
Instrumente . Deshalb ist es gut, dass viele Bundesländer
bereits reagiert haben . Es bleibt dabei: Um aufzuklären
und auch um vorzubeugen, braucht die Polizei bzw . brauchen die Sicherheitsbehörden eine angemessene Ausstattung an Personal und Organisation .
({3})
Die Polizei braucht aber auch die notwendigen Ermittlungsinstrumente, um Taten und Täterstrukturen aufzudecken . Dazu gehört auch ein besserer Einblick in die
Telekommunikation der Täter . Die Polizei soll in Zukunft
abfragen dürfen, wer zu einem bestimmten Zeitpunkt in
einer Funkzelle des Mobilfunknetzes eingeloggt war . Mit
solchen Instrumenten kann die Polizei den Täterkreis
deutlich eingrenzen . Wenn es bereits einen Tatverdächtigen gibt, dann soll sie zukünftig, um den Verdacht zu
überprüfen, auch in Erfahrung bringen dürfen, ob er zum
Zeitpunkt des Einbruchs am Tatort war . Auch die Abfrage von Standortdaten soll künftig möglich werden . Beides sind ganz wichtige Maßnahmen, die unserer Polizei
helfen werden, in Zukunft mehr Einbrüche aufzuklären .
({4})
Meine Damen und Herren, mit dem Gesetzentwurf,
den wir heute vorlegen, wollen wir auch den Strafrahmen anheben . Das Thema Strafverschärfung wird durchaus diskutiert . Die einen meinen, dass den Verbrechern
schon der Garaus gemacht werde, wenn nur das Strafrecht immer weiter verschärft wird . Auf der anderen
Seite steht die Überzeugung, dass scharfe Strafen eines
Rechtsstaates keine Wirkung entfalten . Ich meine, beides
ist in dieser Pauschalität falsch . Nötig ist, genau hinzuschauen, um welche Taten es geht, und vor allen Dingen,
wer die Täter sind .
Bei den Taten, die typischerweise im Affekt geschehen, bei denen die Täter von starken Gefühlen und Überzeugungen oder von einer Sucht getrieben werden, verfehlen hohe Strafen ihre abschreckende Wirkung . Die
Täter handeln so kopflos, dass sie an die Konsequenzen
ihrer Tat überhaupt nicht denken . Wo Taten aber gut geplant werden, da geht es schon um eine rationale Rechnung. In diese fließt dann auf der einen Seite der Profit
aus einer Straftat ein, auf der anderen Seite aber auch das
Entdeckungsrisiko und die Höhe der Strafe .
Beim Wohnungseinbruch zeigt die Kriminalitätsstatistik: Nur 10 Prozent der Täter sind Konsumenten harter
Drogen . Bei 90 Prozent dagegen haben wir es aber eben
offenkundig nicht mit sogenannter Beschaffungskriminalität zu tun, sondern dort stecken, wie die Erkenntnisse
der Polizei zeigen, straff organisierte kriminelle Netzwerke hinter den Taten . Ich denke, gegenüber diesen Tätern sollte der Rechtsstaat sehr deutlich machen: Wer in
eine Privatwohnung einbricht, der begeht ein Verbrechen
und den erwartet in Zukunft eine Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr .
({5})
Meine Damen und Herren, wir brauchen also insgesamt einen klugen Mix aus mehr Prävention, höherer
Aufklärung und auch härteren Strafen . Nur so können
wir mehr Sicherheit schaffen und die Menschen in ihren
eigenen vier Wänden noch besser schützen . Das ist das
Ziel dieses Gesetzes . Wir sind fest davon überzeugt, dass
wir die Ziele mit diesem Gesetz auch erreichen werden .
Herzlichen Dank .
({6})
Frank Tempel ist der nächste Redner für die Fraktion
Die Linke .
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Wir stehen vor einer wichtigen Bundestagswahl . Die Linke setzt jetzt besonders auf soziale Fragen
und die Friedenspolitik, die Grünen haben das Image, für
Umweltfragen zu streiten, die Union setzt im Wahlkampf
traditionell auf die Sicherheitspolitik,
({0})
und die SPD steht für ein kräftiges sozialdemokratisches Sowohl-als-auch, also von allem ein bisschen, aber
nichts so richtig .
({1})
Wenn wir also heute im Bundestag über härtere Strafen für Einbrecher sprechen, dann ist das ein ganz klares
Signal, dass die Bundesregierung noch einmal mit einer
Law-and-Order-Ideologie beim Wähler punkten möchte .
({2})
Doch es stellt sich die Frage, ob immer schärfere Gesetze wirklich für eine kompetente Innenpolitik stehen . Die
Linke hat erhebliche Zweifel daran .
Sie sind es von mir gewohnt, dass ich bei solchen Debatten meine langjährige Erfahrung als Kriminalbeamter
einbringe . Das werde ich auch heute tun, versprochen .
({3})
Aber auch aus meinem ersten Beruf als Schlosser kann
ich einige Erfahrungen einbringen .
({4})
Ich habe gelernt, dass man eben nicht mit einem Hammer auf ein kaputtes Auto einschlagen und dann erwarten
kann, dass das Auto anschließend wieder läuft . Ich muss
schon genau hinschauen, warum das Auto kaputt ist, und
dann bei dem Grund des Übels mit dem richtigen Werkzeug ansetzen .
Bei uns Innenpolitikern geht es nicht um ein kaputtes
Auto, sondern um die innere Sicherheit, um Gefahren und
um Kriminalitätsphänomene . Aber die Innenpolitiker der
Großen Koalition haben einen Hammer, und der nennt
sich Rechtsverschärfungen . Damit schlagen sie auf jedes
Sicherheitsproblem ein, das sich ihnen bietet, oder sie
konstruieren eins . Und jedem, der diesen Hammer nicht
nutzen möchte - das haben wir gerade gehört -, werfen
sie vor, dass er das Problem nicht beheben möchte .
Die Innenpolitik und die Rechtspolitik der Großen
Koalition haben immer das gleiche einfallslose Muster:
hohe Asylbewerberzahlen - Verschärfung der Asylgesetzgebung; mehr extremistische Gefährder - schärfere
Sicherheitsgesetze; Gaffer auf der Autobahn - Strafverschärfung; mehr Wohnungseinbrüche - Strafverschärfung .
Aber halt, diese Logik hat ein kleines Problem . Nach
den jüngsten Zahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik
ist die Zahl der Wohnungseinbrüche eben nicht gestiegen, sondern gesunken .
({5})
Wenn das so ist, warum reden wir dann ausgerechnet
jetzt, kurz vor der Bundestagswahl, von Strafverschärfungen?
({6})
- Weil Wahlkampf ist, richtig .
Es gibt übrigens neben der inneren Sicherheit auch
einige andere Themen . In meiner Heimat Ostthüringen
droht im Jahr 2030 jedem zweiten Rentner die Altersarmut . Sie möchten nicht, dass darüber gesprochen wird;
Sie wollen, dass das Thema Sicherheit den Wahlkampf
bestimmt, und schüren deshalb Ängste, ähnlich wie es
auch die AfD tut .
({7})
Im Osten liegen die Löhne nach wie vor im Durchschnitt 24 Prozent unter denen des Westens .
({8})
Sie wollen nicht, dass darüber diskutiert wird, Sie wollen, dass über Gaffer, Gefährder und Einbrecher gesprochen wird .
({9})
Warum die SPD hier im Bundestag immer wieder den
Wahlkampfhelfer der CDU gibt, weiß ich nicht . Das tut
mir auch leid .
({10})
Helfen wird Ihnen das nicht; denn das Image der Lawand-Order-Partei ist nun einmal von der CDU/CSU besetzt .
({11})
Aber gut, wenn das Thema Sicherheit schon besetzt werden soll, dann schauen wir uns einfach einmal an, wie es
beim Thema Einbruchdiebstähle aussieht .
({12})
Da greife ich jetzt tatsächlich auf meinen Erfahrungsschatz als Kriminalbeamter zurück . Wer sind denn eigentlich diese Einbrecher? Es handelt sich überwiegend
um junge Männer . In sehr vielen Fällen werden sie erst
nach mehreren Einbrüchen ermittelt oder erwischt . Je geringer das Entdeckungsrisiko ist, umso weniger spielt übrigens bei diesen Tätern der mögliche Strafrahmen eine
Rolle . - Herr Maas, da waren Sie einige Male eigentlich
dicht dran . - Gerade bei den Einbruchdiebstählen agieren häufig in Banden organisierte Täter gemeinsam. Sie
spezialisieren sich und sind oft nur mit hohem Ermittlungsaufwand durch die Polizei zu stellen . Einbrecher
können lange unbekannt agieren, weshalb besonders in
diesem Deliktfeld das Strafmaß kaum eine präventive
Rolle spielt .
Die Opfer dieser Einbrecher - auch das ist uns klar erleben oft nicht nur einen materiellen Schaden: Die Täter dringen in ihr intimstes Umfeld ein und hinterlassen
Angst und Unsicherheit .
Was sind nun eigentlich wirklich die Stellschrauben,
mit denen wir - das ist unsere Aufgabe - die Zahl der
Einbrüche reduzieren können? Auf einen Täter kommt in
der Regel eine Vielzahl von Einbrüchen . Es ist für die
Gesamtzahl der Delikte ein wesentlicher Faktor, ob ein
Täter 5, 10 oder 20 Einbrüche verübt, bevor er erwischt
oder ermittelt wird . Bei organisierten Banden ist die Zahl
der verübten Einbrüche im Schnitt noch einmal deutlich
höher, weil sie schwerer gefasst werden können . Kein
Einbrecher wird sein Gewerbe einstellen, weil ihm höhere Strafen drohen . Er fühlt sich ganz einfach nahezu
sicher .
({13})
- Lesen Sie mehr Krimis . Da steht das öfter so .
({14})
Um die Zahl der Einbrüche zu verringern, können wir
die Täter also nicht mit Straferhöhungen abschrecken,
sondern wir müssen sie erwischen bzw . mit anderen Mitteln abschrecken .
({15})
Man spricht übrigens - das sage ich in Richtung der Kollegen von der CSU - auch von gewerbsmäßigem Diebstahl . Wenn Sie ein bisschen mehr Fachliteratur lesen,
dann können Sie die Krimis weglassen .
({16})
Ich fange einmal mit den Stellschrauben an .
Die Ermittlungsarbeit ist langwierig und mit einem
hohen Aufwand verbunden . Ausreichend erfahrene Ermittler können die Handschrift eines Täters lesen, Spuren
auswerten, zu einem Gesamtbild zusammenfügen und so
Tatverdächtige überführen .
Der Personalabbau bei der Polizei hat aber genau hier
seine negativen Spuren hinterlassen .
({17})
Es fehlt in vielen Dienststellen an ausreichend Ermittlern . Zu wenige Beamte müssen zu viele Delikte bearbeiten . Das ist eines der Hauptprobleme, und das muss
korrigiert werden .
({18})
Sehr hilfreich ist es übrigens zudem, wenn es bereits
Tatverdächtige gibt, und es gibt Möglichkeiten, die Voraussetzungen dafür zu verbessern . Die schlaueste Frage
von den Sicherheitsexperten der Union im Innenausschuss war, warum die meisten Einbrüche in der späten
Nacht bzw. am sehr frühen Morgen stattfinden.
({19})
- Ja: Einbrecher wollen keine Zeugen .
({20})
Die Polizei setzt deswegen auf sogenannte Präven-
tivstreifen . Das Ergebnis dieses taktischen Mittels ist,
a) Täter auf frischer Tat zu ertappen - das ist übrigens die
beste Art, Einbruchdiebstähle zu bekämpfen -, b) ver-
dächtige Personen, die sich im Umfeld potenzieller Tat-
orte aufhalten und vielleicht Einbruchswerkzeuge oder
Beutegut mit sich führen, durch Kontrollen zu identi-
fizieren und - nicht zu vergessen - c) eine hohe Polizeipräsenz zur Nachtzeit in Gegenden, die für Einbrecher
interessant sind, zu gewährleisten . Letzteres erhöht das
Entdeckungsrisiko - der Justizminister hat auf diesen
Faktor hingewiesen -, was den Täter tatsächlich von einer Tat abschrecken kann .
Doch da sind wir leider schon wieder beim Thema
Stellenabbau . Ich habe in den letzten Monaten viele Polizeidienststellen von Saarbrücken über Gera bis Cottbus
besucht, und die einstimmige Aussage war: Aufgrund des
Personalabbaus sind diese Präventivstreifen wenig oder
gar nicht mehr möglich . Vielerorts fahren verbliebene
Streifenwagenbesatzungen nur noch von konkretem Auftrag zu konkretem Auftrag . So verringert sich jedoch die
Chance, verdächtige Personen oder Täter auf frischer Tat
festzustellen . Das geringere Entdeckungsrisiko hat dann
eine vielfache Wirkung:
Erstens . Die Bevölkerung registriert die mangelnde
Polizeidichte in der Fläche . Das Gefühl der Unsicherheit
wird noch einmal erhöht, woraus die Bundesregierung
mit diesem Antrag Kapital schlagen möchte .
Zweitens . Die geringere Entdeckungsgefahr senkt zudem die Hemmschwelle der Täter . Sie schlagen dreister
und öfter zu .
Drittens . Ohne durch die Streifentätigkeit der Schutzpolizei festgestellte Tatverdächtige wird die Arbeit der
Ermittler noch einmal schwieriger und langwieriger .
Täter können mehr Einbrüche verüben, ehe sie gestellt
werden .
Um es abzukürzen - meine Redezeit ist gleich um -:
Auch ein besseres technisches Know-how bei der Spurensicherung kann zur schnelleren Ermittlung der Täter
führen . Selbstverständlich gibt es auch soziale Komponenten beim Thema Einbruch .
({21})
Der Justizminister hat richtigerweise gesagt: Häufig wird
vorschnell Beschaffungs- oder Flüchtlingskriminalität
zur Erläuterung von Einbruchszahlen herangezogen . Vergessen wird aber, dass das Armutsrisiko im eigenen Land
ebenfalls ein Faktor bei der Zahl der Eigentumsdelikte
ist .
Wir sehen also: Es gibt konkrete Stellschrauben zur
Verringerung der Eigentumsdelikte . Man darf sie eben
nur nicht in die falsche Richtung drehen . Den großen
Hammer der Rechtsverschärfung brauchen wir nicht .
({22})
Wir dürfen nur nicht durch Einsparungen an der falschen
Stelle, also beim Personal, der Polizei die Handlungsspielräume nehmen .
Danke schön .
({23})
Das Wort erhält nun der Kollege Volker Ullrich für die
CDU/CSU-Fraktion .
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Polizeiliche Kriminalstatistik spricht von
151 000 Fällen von Wohnungseinbrüchen allein im
Jahr 2016 . Auch wenn diese Zahl im Vergleich zum
Jahr 2015 leicht rückläufig ist, so wird in Deutschland
dennoch alle dreieinhalb Minuten in eine Privatwohnung
eingebrochen . Das ist ein Zustand, den wir weder akzeptieren noch billigen dürfen . Wir müssen und wollen die
Menschen in ihren eigenen vier Wänden schützen .
({0})
Wir stehen an der Seite der Menschen, Herr Kollege
Tempel, die sich um ihre Sicherheit in den eigenen vier
Wänden sorgen .
({1})
Dabei geht es nicht allein um materielle Schäden .
Wohnungseinbrüche treffen Menschen tief in ihrem eigenen Sicherheitsgefühl . Sie berühren die Menschen dort,
wo sie am verletzlichsten sind: in ihren eigenen vier Wänden, in ihrem ganz privaten Rückzugsraum . Sie müssen
sich einmal mit Opfern von Wohnungseinbruchdiebstahl
unterhalten, die noch lange nach der Tat ein beklemmendes Gefühl haben und sich nicht trauen, sich schlafen zu
legen, weil sie Angst haben, jemand könnte neben ihrem
Bett stehen . Sie müssen sich einmal mit Menschen unterhalten, deren intimste Gegenstände durchsucht wurden,
die Scham empfinden
({2})
und am Ende sogar aus ihrer Wohnung ausziehen müssen,
weil sie es aus psychologischen Gründen nicht schaffen,
in dieser Wohnung zu bleiben . Wir stehen an der Seite
dieser Opfer und wollen die Freiheit der Menschen, die
in ihrer eigenen Wohnung Opfer von Diebstahl und Raub
geworden sind, wiederherstellen .
({3})
Wer einen Wohnungseinbruch begeht, raubt den Menschen die Freiheit auf ungestörte Privatsphäre . Meine
Damen und Herren, wegen der erschütternden und nachhaltigen Wirkung auf die Opfer und das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung ist aus Gründen des Opferschutzes
eine Reform des Strafrechts geboten .
({4})
Der derzeitige Strafrahmen des Einbruchdiebstahls
geht von sechs Monaten bis zu zehn Jahren, bei minderschweren Fällen von drei Monaten bis zu fünf Jahren .
Aber dieser Strafrahmen spiegelt nicht das Unrecht wider, welches durch den Einbruch in eine Privatwohnung
begangen wird .
({5})
Deswegen wollen und werden wir das ändern . Wir stellen die dauerhaft genutzte Privatwohnung unter einen
besonderen strafrechtlichen Schutz . Durch den neuen
§ 244 Absatz 4 StGB wird der Einbruchdiebstahl in einer
Privatwohnung ein Verbrechenstatbestand, und es wird
auch keinen minderschweren Fall mehr geben . Ich kann
mir bei Wohnungseinbruchdiebstahl auch keine minderschweren Fälle vorstellen .
({6})
Wichtig ist ebenfalls, dass der Wohnungseinbruchdiebstahl auch in den Katalog der Verkehrsdatenabfrage
aufgenommen wird . Es war und ist niemandem so recht
zu erklären, weshalb die Polizei nach einem Wohnungseinbruch Fingerabdrücke nehmen, aber bislang nicht bei
den Telekommunikationsanbietern abfragen darf, wer in
die Funkzelle eingeloggt war . Es darf auch keinen Unterschied machen, ob eine Bande am Werk war - nur in
diesem Fall sind Telekommunikationsüberwachungsmaßnahmen bislang möglich - oder ob der Täter ein Einzelner war .
({7})
Es geht um die Wirkung auf das Opfer . Selbst wenn ein
einzelner Einbrecher unterwegs ist, muss es möglich
sein, auf Funkzellen zurückzugreifen, weil nämlich auch
ein einzelner Einbrecher eine nachhaltige und traumatische Wirkung beim Opfer hervorrufen kann . Deswegen
gebietet der Opferschutz, dass das Instrument der Verkehrsdatenabfrage zum Tragen kommt .
Meine Damen und Herren, in diesem Zusammenhang
ist mir eine Bemerkung wichtig . Nicht nur in Anbetracht
der Wohnungseinbrüche, sondern auch vor dem Hintergrund von vielerlei Bedrohungen unserer Freiheit und
Sicherheit durch Kriminelle und Terroristen will ich festhalten: Es war richtig und geboten, dass wir die Speicherung von Verbindungsdaten beschlossen haben und sie
dieses Jahr in Kraft treten wird .
({8})
Natürlich brauchen wir ein Bündel von Maßnahmen .
Die Prävention ist ebenso wichtig wie eine stärkere strafrechtliche Verfolgung . Es ist deswegen richtig, dass die
KfW Zuschüsse zur Sicherung gegen Wohnungs- und
Hauseinbrüche ausreicht .
({9})
Viele Wohnungseinbrüche bleiben nämlich im Versuchsstadium stecken . Eigenvorsorge und Wachsamkeit sind
ebenso notwendig wie der staatliche Schutz .
Allein im Jahr 2016 sind über 40 000 Förderzuschüsse
ausgereicht worden . Wenn 2016 bereits 44 Prozent der
Einbrüche im Versuchsstadium stecken geblieben sind
und es 2014 erst 40 Prozent waren, dann hängt das vielleicht mit der notwendigen Eigenvorsorge zusammen .
({10})
Deswegen werden wir dieses Programm weiterführen
und fortschreiben .
({11})
Meine Damen und Herren, meine große Sorge gilt
auch der unterschiedlichen Betroffenheit durch Einbruchdiebstahl in den einzelnen Ländern . Das Risiko,
Opfer eines Einbruchsdelikts zu werden, ist abhängig
davon, in welchem Bundesland man seine Wohnung hat .
({12})
In Bayern waren es im letzten Jahr 58 Fälle pro
100 000 Einwohner . In Nordrhein-Westfalen waren es
294 Fälle . In Schleswig-Holstein waren es 269 Fälle .
({13})
Das zeigt ganz klar: Dort, wo die Union den Innenminister stellt und Verantwortung für die innere Sicherheit hat,
({14})
leben die Menschen sicherer und ist die Zahl der Wohnungseinbrüche geringer .
({15})
Wir wollen, dass die Zahl der Wohnungseinbrüche
überall in Deutschland zurückgeht . Das darf nicht nur eine
Absichtserklärung sein, sondern das muss ein verbindliches Ziel der Innenpolitik werden . Die Zahl der Wohnungseinbrüche in Deutschland ist nach wie vor zu hoch .
Die Aufklärungsquote ist zu gering . Wir wollen und werden mit diesem Gesamtpaket von Maßnahmen - mit der
notwendigen Strafrechtsverschärfung, mit der Ausweitung
der Ermittlungsbefugnisse und mit der Fortschreibung des
Präventionsprogramms - dem Einbruch weiterhin den
Kampf ansagen . Dann, meine Damen und Herren, haben
auch die Länder die Pflicht, durch ausreichende Personalbemessung bei der Polizei dafür zu sorgen, dass Fälle aufgedeckt und zur Anklage gebracht werden .
Wenn wir diesen Gesamtkanon von Maßnahmen
durchführen, dann werden wir die Einbruchskriminalität
in diesem Land weiter zurückführen und zugunsten der
Menschen die Sicherheit in diesem Land stärken . Einbrüche konsequenter zu bekämpfen, das ist unser Ziel .
Herzlichen Dank .
({16})
Hans-Christian Ströbele erhält nun das Wort für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
({0})
Danke . - Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und
Kollegen! Einbruchdiebstahl ist in der Tat eine Geißel .
Es ist nicht nur in allen Fällen extrem ärgerlich, sondern
endet für die betroffenen Bürgerinnen und Bürger sehr
häufig in einer Katastrophe, auch in einer familiären Katastrophe. Da gebe ich Ihnen recht: Viele finden in ihrer
eigenen Wohnung ihre Ruhe nicht mehr .
({0})
Wir müssen wieder Zustände erreichen, dass man zu
Recht den englischen Satz sagen kann: My home is my
castle . Da bin ich sicher .
({1})
So gehört sich das .
({2})
Wer anzweifelt, dass die Grünen hinter einer solchen Politik stehen, der handelt infam und leugnet die Tatsachen .
({3})
Es ist uns natürlich ein großes Anliegen, da etwas zu ändern . Die Frage ist nur: Wie?
Herr Maas, Sie haben damit geendet, dass Sie gesagt
haben, Sie müssten den kriminellen Netzwerken das
Handwerk legen .
({4})
In dieser allgemeinen Form kann ich das voll unterschreiben . Nur - das hat auch Herr Ullrich durcheinandergebracht -:
({5})
Dafür brauchen wir kein neues Gesetz .
({6})
Bandendiebstahl ist bereits heute mit einer Mindestfreiheitsstrafe von einem Jahr als Verbrechen strafbar - nach
§ 244 bzw . § 244a StGB .
({7})
- Werfen Sie einen Blick ins Gesetz! Da steht das . - Das
heißt, dafür braucht man das überhaupt nicht .
Es geht nicht um Bandenkriminalität, sondern darum,
dass Einzelpersonen das machen oder Personen das jedenfalls nicht als Bande oder als Netzwerk organisiert
machen . Da - das kann ich Ihnen nur sagen; das ist auch
von Herrn Maas erwähnt worden - ist das Erste und das
Wichtigste, möglichst viele Einbrüche zu verhindern, zu
vermeiden .
({8})
Das kann man am besten dadurch, dass die Wohnungen
gesichert werden, bestmöglich gesichert werden .
({9})
Da kann nicht nur der Einzelne etwas tun, sondern der
Staat kann mit Gesetzen und mit Geld helfen . Beides ist
nicht genügend vorhanden .
({10})
Hier sollten Sie etwas tun und nicht Symbolpolitik machen und versuchen, mit erhöhten Mindeststrafen dagegen vorzugehen .
Ich sage Ihnen: In Berlin und auch in anderen Bundesländern gab es Kampagnen der Kriminalpolizei, mit denen sie die Bürgerinnen und Bürger darüber aufklärten,
was man noch alles tun kann . Ich habe aus schlimmer
Erfahrung in meiner eigenen Wohnung auch zusätzlich
etwas für Sicherheit getan . Man kann ein Stangenschloss
anbringen, man kann die Fenster sichern .
({11})
Man kann, wenn man parterre wohnt, dickere Scheiben
einsetzen . Aber das alles kostet Geld . Geringverdiener
können sich das nicht leisten . Das heißt, der Staat muss
helfen .
({12})
Er muss Geld zur Verfügung stellen . Wenn Sie sagen:
„KfW“, dann fragen Sie einmal: Wie viel Geld steht jetzt
noch zur Verfügung?
({13})
Da sage ich Ihnen: Die Mittel sind ausgeschöpft . Hier
muss Geld zugelegt werden .
({14})
Die Bürgerinnen und Bürger müssen darüber informiert
werden, wo sie Geld bekommen können . Die meisten
wissen das gar nicht .
({15})
Aber Sie können auch gesetzgeberisch etwas machen .
Sie können zum Beispiel die unsinnige Regelung beseitigen, dass Mieter, wenn sie dafür sorgen, dass ihre
Wohnungen sicher werden - zum Beispiel, indem sie ein
Stangenschloss anbringen, das insgesamt gut 1 000 Euro
kosten kann, weil die ganzen Vorrichtungen angebracht
werden müssen -, beim Auszug alles wieder zurückbauen und den ursprünglichen Zustand wiederherstellen
müssen . Völlig unsinnige Geschichte . Sie können auch
die Vermieter verpflichten - das können Sie in die Bauordnung hineinschreiben -, dass zu einer neuen Wohnung auch gehört, dass sie ausreichend gesichert werden
kann . Das muss moderner Standard sein, wenn Wohnungen gebaut werden .
({16})
Dazu machen Sie einmal ein Gesetz . Das können Sie ändern, und da können Sie etwas hineinschreiben .
({17})
- Ja, Landesbauordnungen . Auf Bundesebene können
Sie da auch anfangen .
({18})
Sie kommen immer noch mit dem alten Argument,
das in der Bevölkerung verfangen soll, dass bei höheren
Strafen die Einbrecher das auch lassen; denn sie würden
vorher abwägen, wie viel sie beim Einbruch bekommen .
Wenn die Strafe zu hoch ist, dann lassen sie es . - Das
stimmt nicht . Das stimmt schon in der allgemeinen Form
nicht, das stimmt aber gerade bei Wohnungseinbrüchen
nicht . Vor zwei Jahrzehnten haben Sie schon einmal die
Mindeststrafe verdoppelt . Die Mindeststrafe betrug drei
Monate . Sie haben sie auf sechs Monate erhöht . Es war
völlig ohne Wirkung, weil 95 Prozent der Täter, meistens
Männer, aber auch der Täterinnen diese Erwägung, was
ihnen das an Gefängnis einbringen kann, vorher überhaupt nicht anstellen .
Wenn Ihnen das nicht einleuchtet, dann kommen wir
zu einem zweiten Punkt . Sie können am meisten etwas
gegen Wohnungseinbrüche tun, indem Sie die Aufklärungsquote erhöhen . Das hat Herr Maas auch gesagt .
Aber wie kann man das erreichen? Indem man erstens
die Polizei dazu in die Lage versetzt, mehr vor Ort zu
sein, indem man zweitens den Wohnungsinhabern, Wohnungseigentümern oder -mietern, die Möglichkeit gibt,
sehr viel schneller die Polizei zu erreichen, und indem
man drittens die Polizei, die vor Ort Streife fährt, in die
Lage versetzt, am Tatort möglichst schnell Tatspuren zu
sichern . Das ist heutzutage alles nicht gesichert, weil es
viel zu wenig Kriminalbeamte gibt, die Streife fahren
und schnell zum Tatort kommen .
({19})
Das heißt, hier müssen Sie investieren: bei der Polizei,
bei der technischen Ausstattung der Polizei, bei der Stärke und der Präsenz vor Ort . Da können Sie etwas tun; da
können Sie etwas erreichen . Wenn die Aufklärungsquote
steigt, dann wird die Zahl der Einbrüche zurückgehen .
Deshalb sagen wir: Ihr Weg ist der falsche .
({20})
Wir können uns - dazu sind wir gerne bereit - mit
gutem Rat beteiligen, was man machen kann . Zu Ihrem
Argument: „Wir nehmen die Vorratsdatenspeicherung,
weil wir dann besser aufklären können“, sage ich Ihnen,
Herr Maas: Ich habe noch, als Sie in dieser Frage umgefallen sind, Ihre Versicherung im Ohr: Wir wollen das
nur einführen für Mord, Totschlag, für schlimme Sexualstraftaten und Terrorismus . - Jetzt kommen Sie plötzlich
und ganz nebenher damit und führen das auch für den
Einbruchdiebstahl ein . Das kann nicht wahr sein .
({21})
Genauso ist es falsch, eine Strafmilderung bei minderschweren Fällen abzuschaffen. Das ist Blödsinn; denn
es gibt tatsächlich Fälle, in denen man minder bestrafen
muss .
Ich sage Ihnen: Sie misstrauen den Strafverfolgungsbehörden und den Richtern . Sie wollen sie zwingen, Strafen zu verhängen, die gar nicht angemessen sind, die das
Schuldprinzip verletzen, und da machen wir nicht mit .
({22})
Wir vertrauen den Richtern, dass sie in jedem Einzelfall
zu einem gerechten Urteil kommen, das der Tat angemessen ist .
Insofern sage ich Ihnen: Hören Sie mit diesem Misstrauen auf, das sich darin ausdrückt, dass Sie den Richtern
jede Einzelheit vorschreiben wollen . Geben Sie ihnen
einen weiten Entscheidungsrahmen vor . Damit können
Sie die Bürgerinnen und Bürger wirksam schützen, wenn
Sie zugleich all das berücksichtigen, was im Bereich der
Prävention bitter notwendig ist, was im Hinblick auf eine
bessere Ausstattung der Polizei dringend notwendig ist .
Wenn Sie da etwas tun, haben Sie uns an Ihrer Seite ({23})
gemeinsam im Kampf gegen Einbruchsdiebstähle in
Deutschland .
({24})
Eva Högl hat das Wort für die SPD-Fraktion .
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Einen schönen guten Morgen! Ich beginne mit
einer guten Nachricht: Die Zahl der Wohnungseinbrüche
ist im Jahr 2016 um 10 Prozent gesunken . Das ist erst mal
eine richtig gute Nachricht, und wir sagen: Wir machen
genauso weiter .
({0})
Wir haben 150 000 Einbrüche, wir haben allerdings
auch 40 Millionen Haushalte in Deutschland . Das muss
man in Relation setzen . Ich sage aber auch ganz deutlich,
damit ich nicht missverstanden werde: Jeder einzelne
Einbruch ist einer zu viel .
({1})
Er beeinträchtigt das Sicherheitsgefühl der Bürgerinnen
und Bürger, und dem kann man auch nicht immer mit
Verweis auf Statistiken begegnen .
Wir wissen, dass Wohnungseinbruchdiebstahl ein besonders fieses, unangenehmes Delikt ist. Es geht meistens weniger um den Verlust der Wertsachen oder um den
Wert der gestohlenen Dinge, sondern ganz häufig um Erinnerungen, um Andenken und vor allen Dingen um das
Wissen - und das ist richtig fies -: Jemand war in meiner Wohnung . - Nicht selten geschieht das ja sogar bei
Anwesenheit der Betroffenen, etwa wenn die Einbrüche
nachts erfolgen . Das verursacht nicht nur Unsicherheit
bei denjenigen, bei denen eingebrochen wurde, sondern
auch bei allen in der Nachbarschaft, bei Freunden und
Verwandten - wir kennen das .
Lieber Herr Ströbele, ich habe festgestellt: Wir haben
eine große Gemeinsamkeit bei dem, was wir alles tun
wollen . Wir, die Koalition, haben uns im Koalitionsvertrag darauf verständigt, den Schutz vor Wohnungseinbrüchen zu verbessern, und wir tun das . Ich zähle mal sechs
Maßnahmen auf; denn wir machen nicht nur etwas beim
Strafrecht,
({2})
sondern wir machen noch ganz viel mehr .
Das Erste ist - das ist ganz wichtig - die Aufklärung .
Denn dies ist das große Problem bei Wohnungseinbrüchen: Wir haben eine viel zu niedrige Aufklärungsquote
von nur 17 Prozent . Das heißt vor allen Dingen, wir brauchen mehr Polizei .
({3})
Da sind die Länder gefordert - das wissen wir -; wir sind
aber auch im Gespräch mit unseren Kolleginnen und
Kollegen auf der Landesebene . Die Polizei muss vor Ort
sein
({4})
und die Straftaten schnellstmöglich aufklären .
Zweitens wissen wir, liebe Kolleginnen und Kollegen,
dass es ganz häufig keine Einzeltäter sind, keine BeschafHans-Christian Ströbele
fungskriminalität ist, sondern international operierende
Banden .
({5})
Deswegen haben wir uns dafür engagiert, dass die Koordinierungsstelle im BKA, die für die Verfolgung genau
dieser Straftaten zuständig ist, signifikant besser aufgestellt wird und dort mehr Personal angesiedelt wird .
({6})
Die dritte Maßnahme, liebe Kolleginnen und Kollegen - auch das ist eine Sache der Länder, aber da müssen
wir uns auf Bundesebene engagieren und die Länder unterstützen -: Die Justiz muss deutlich besser ausgestattet
werden . Das gilt für die Staatsanwaltschaften und für die
Strafgerichte . Wir wissen mittlerweile, dass die Justiz
ganz häufig ein Nadelöhr ist: Die Polizei ermittelt, und
dann bleiben die Sachen liegen . Deswegen brauchen wir
eine deutlich besser ausgestattete Justiz,
({7})
damit die Straftaten sofort angeklagt und dann auch bestraft werden können .
Jetzt komme ich zu einem ganz wichtigen Punkt Punkt vier -: die Prävention . Das wissen wir alle: Prävention ist das Allerwichtigste, und da müssen wir noch
viel mehr tun . Wenn wir in der Polizeilichen Kriminalstatistik lesen, dass 40 Prozent der Wohnungseinbrüche
im Versuchsstadium stecken bleiben - in 40 Prozent der
150 000 Fälle handelt es sich um Einbruchsversuche -,
dann wissen wir, dass wir mehr für Prävention machen
müssen .
({8})
Wenn wir bei der Polizei unterwegs sind und uns vor Ort
unterhalten, dann sagen uns ganz viele Polizistinnen und
Polizisten: Wir haben für Prävention zu wenig Zeit, wir
können da nicht genügend in den Kiezen unterwegs sein .
({9})
Der fünfte Punkt ist - Herr Ströbele, da sind wir einer
Meinung - das Thema Eigensicherung . Wir als Koalition haben 50 Millionen Euro für das KfW-Programm zur
Verfügung gestellt, wir haben die Schwellen gesenkt, und
wir haben die Bürgerinnen und Bürger dabei unterstützt,
dass sie sich besser selber sichern können, und zwar Mieterinnen und Mieter genauso wie Eigentümerinnen und
Eigentümer .
({10})
Was wir nicht geschafft haben, was wir aber angehen
müssen, Herr Ströbele, ist genau das, was Sie erwähnt
haben: die Landesbauordnung .
({11})
Ja, das war auch unser Bestreben: Wir wollen die Landesbauordnung so überarbeiten, dass die entsprechenden Maßnahmen schon im Vorhinein, nämlich wenn die
Gebäude gebaut werden, als Vorschrift für Sicherheit in
die Bauordnung eingefügt werden . Wir nehmen uns für
die nächste Legislaturperiode vor, mit unseren Kollegen
noch einmal darüber zu sprechen .
({12})
Der sechste und letzte Punkt, über den wir heute diskutieren, betrifft das Strafrecht. Ja, liebe Kolleginnen und
Kollegen, das gehört auch dazu . Es geht hier nicht um
Symbolik, sondern wir sagen ganz deutlich: Wohnungseinbruchdiebstahl muss hart bestraft werden . Deswegen
legen wir heute den Gesetzentwurf vor . Wir wollen den
Tatbestand, wenn in eine dauerhaft genutzte Wohnung
eingebrochen wird, zum Verbrechen hochstufen und die
Ermittlungsmöglichkeiten der Polizei verbessern .
Es ist ein gutes Paket, das die Koalition vorgelegt hat .
Ich würde mich sehr freuen, wenn wir hier im Bundestag
eine möglichst breite Unterstützung haben und im nächsten Jahr sagen können: Die Zahl der Wohnungseinbrüche
ist noch einmal um 10 Prozent gesunken .
Herzlichen Dank .
({13})
Das Wort erhält nun der Kollege Jan-Marco Luczak
für die CDU/CSU-Fraktion .
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und
Kollegen! Ich habe neun Minuten Redezeit .
({0})
In diesen neun Minuten wird irgendwo in unserem Land
dreimal eingebrochen . Wir debattieren hier 60 Minuten
lang über das Thema Wohnungseinbruchdiebstahl . In
diesen 60 Minuten, in dieser einen einzigen Stunde, wird
fast 20-mal irgendwo in Deutschland in eine Privatwohnung eingebrochen . Alle dreieinhalb Minuten passiert in
Deutschland ein Einbruch . Wir haben es gehört: 2016
gab es in Deutschland 150 000 Einbrüche .
Der Wohnungseinbruchdiebstahl ist ein Massenphänomen . An vielen Orten geht es überhaupt nicht mehr
darum, ob eingebrochen wird, sondern es ist nur noch
die Frage, wann eingebrochen wird . Wir als Union sagen:
Das ist nicht akzeptabel, da müssen wir ran . Wir müssen
dafür sorgen, dass sich die Menschen in ihren eigenen
vier Wänden, in ihrem Zuhause, in das sie sich zurückDr. Eva Högl
ziehen wollen, sicher fühlen . Der Staat und damit wir als
Gesetzgeber sind in der Pflicht, das zu gewährleisten.
({1})
Ja, es besteht großer Handlungsbedarf . Dabei geht es
uns gar nicht so sehr um die materiellen Schäden, obwohl
die materiellen Schäden sehr hoch sind; damit wir uns
nicht missverstehen . Jahr für Jahr werden durch Einbrüche Schäden in Höhe von 400 Millionen Euro verursacht .
Das ist schlimm genug . Für manche Opfer ist es sogar
existenzbedrohend, gerade wenn sie zum Beispiel nicht
versichert sind .
Aber viel schlimmer als die materiellen Schäden ist,
dass die Opfer durch den Einbruch oftmals traumatisiert
werden. Es ist ein tiefer Eingriff in die Privatsphäre, ein
tiefer Eingriff in die Intimsphäre. Man muss sich das
vorstellen: Da werden Schränke durchsucht, etwa die
Unterwäsche wird durchwühlt, und persönliche Gegenstände werden zerstört . Manche Opfer müssen sogar ihre
Wohnung wechseln, weil sie sagen: Hier fühle ich mich
einfach nicht mehr zu Hause . Ich fühle mich hier nicht
mehr sicher . Ich traue mich nicht mehr, abends schlafen
zu gehen . - Diese gravierenden psychologischen Folgen
des Eindringens in die Privat- und Intimsphäre sind nicht
etwas Abstraktes, sondern etwas ganz Konkretes . Lassen
Sie mich das an einem Beispiel festmachen .
Bei meinem Nachbarn ist schon fünfmal eingebrochen
worden . Fünfmal! Jetzt kann man sich vorstellen, wie er
sich fühlt, vor allen Dingen, wie seine Frau sich fühlt . Er
überlegt ernsthaft, ob er sein Haus verkauft und irgendwo
anders hinzieht . Er hat schon alles aufgerüstet, was nur
möglich ist: eine Alarmanlage usw . Trotzdem wird immer wieder eingebrochen . Er hat Angst . Wir alle kennen
das aus unserem Bekannten- und Freundeskreis .
Wir als Union sagen: Wir müssen Einbrüche verhindern. Ich finde es zynisch, wenn hier gesagt wird: Na ja,
wir haben doch jetzt 10 Prozent weniger Einbrüche . Jeder Einbruch ist einer zu viel . Hinter jeder Zahl steht
doch ein Mensch, steht ein Schicksal . Deswegen müssen
wir die Zahlen deutlich senken .
({2})
Um das zu erreichen, brauchen wir in der Tat einen
Dreiklang: Wir brauchen eine bessere personelle und
materielle Ausstattung von Polizei und Justiz, um Einbrecher effektiver verfolgen zu können. Natürlich brauchen wir auch Abschreckung durch härtere Strafen . Wir
müssen den Strafermittlungsbehörden mehr Befugnisse
geben . Schließlich müssen wir mehr für Prävention tun,
um Einbrüche zu verhindern .
Gerade der letzte Punkt - das ist angesprochen worden - hat in den letzten Jahren erheblich an Bedeutung
gewonnen . Der Anteil der vollendeten Einbruchsfälle ist
glücklicherweise gesunken . Fast die Hälfte aller Einbrüche bleibt mittlerweile im Versuchsstadium stecken . Da
greifen die mechanischen Sicherungen, da sind die Türen
und die Fenster gesichert . Die Einbrecher, die natürlich
Angst haben, entdeckt zu werden, wenn es zu lange dauert, kommen dann nicht rein .
Herr Kollege Luczak, darf der Kollege Ströbele eine
Zwischenfrage stellen?
Selbstverständlich . Sehr gerne .
Ich will mich mit Ihnen zusammentun . Ich will gar
nichts Böses - diesmal .
({0})
Herr Kollege, wir alle sind für Prävention . Das erste Problem ist, dass viele Bürgerinnen und Bürger nicht
wissen, was man damit erreichen kann . Sie haben zu
Recht auf die 40 Prozent der Fälle hingewiesen, die im
Versuchsstadium stecken blieben . Das zweite Problem
ist, dass viele häufig das Geld dafür nicht haben, weil
Prävention viel Geld kostet .
Wir alle haben in den nächsten Monaten viele Wahlveranstaltungen . Können wir uns vielleicht darauf verständigen, dass wir auf jeder unserer Wahlveranstaltungen fünf Minuten lang die Bürgerinnen und Bürger
informieren? Anstatt sie in Angst und Schrecken zu versetzen, indem wir ihnen sagen: „Alle Einbrecher kommen jetzt mindestens ein Jahr ins Gefängnis“, was ja
nicht stimmt, könnten wir stattdessen sagen: Liebe Bürgerinnen und Bürger, ihr könnt die und die Maßnahmen
treffen, und wenn ihr das nicht alleine bezahlen könnt,
weil ihr vielleicht Geringverdiener seid, dann könnt ihr
euch an die und die Stelle, die und die Telefonnummer
wenden, um Geld dafür zu bekommen . - Machen wir das
doch einmal gemeinsam .
({1})
Lieber Kollege Ströbele, ich weiß nicht, wie Sie Ihre
Wahlkreisarbeit machen . Ich jedenfalls habe genau das
im Rahmen meiner Wahlkreisarbeit schon gemacht . Ich
habe gemeinsam mit dem Landeskriminalamt, mit der
örtlichen Polizeidirektion und mit dem Grundeigentümerverband zusammen zu einer Veranstaltung eingeladen, in der ich auf die Möglichkeiten zum Einbruchschutz hingewiesen habe . Diese Veranstaltung war sehr
gut besucht und ist sehr gut angekommen .
Ich will ein Weiteres sagen: Natürlich wollen die Leute wissen, wo sie etwas machen können . Wir als Staat
machen ja eine ganze Menge . Wir haben das staatliche
Zuschussprogramm, die Förderung über die KfW, erheblich aufgestockt und die Schwelle für Zuschüsse gesenkt .
({0})
Wir haben also wirklich sehr viel gemacht .
Die Leute wollen aber wissen: Was macht der Staat
darüber hinaus? Die wollen doch auch wissen, dass die
Einbrecher hinter Schloss und Riegel gebracht werden .
({1})
Deswegen müssen wir beides tun: Prävention einerseits;
andererseits müssen wir uns aber auch den Strafrahmen
anschauen . Dieser Gesetzentwurf zeigt, dass wir genau
das tun, lieber Herr Kollege .
({2})
Das Zuschussprogramm, das ich genannt habe, wirkt .
Das ist vernünftig, und das müssen wir auch fortführen .
Ich will aber auch sagen: Wir dürfen uns als Staat selbstverständlich nicht aus der Verantwortung stehlen . Es
kann nicht angehen, dass wir nur sagen: Liebe Bürger,
nehmt mal Geld in die Hand, wir bezuschussen das zwar,
aber letztlich müsst ihr eure Wohnung selbst sichern . Dafür seid ihr verantwortlich . - Das geht nicht .
Deswegen ist es ganz wichtig, dass wir auch die anderen beiden Punkte aus dem Dreiklang angehen . Wir müssen zum einen die personelle und materielle Ausstattung
von Polizei und Justiz - da ist vieles Ländersache - verbessern . Da haben wir als Bund eine ganze Menge gemacht . Wir haben unsere Sicherheitsbehörden personell
viel besser ausgestattet . Wir haben einen enormen Aufwuchs an Stellen, auch um die organisierte Kriminalität
bekämpfen zu können .
Zum anderen müssen wir uns aber auch - jetzt kommen wir zu dem Gesetzentwurf - den strafrechtlichen
Regelungsrahmen angucken . Wir müssen die Täter abschrecken und die Ermittlungsbefugnisse ausbauen . Wir
als Union wollen - das haben wir hier schon gehört - den
Wohnungseinbruch, der momentan ein bloßes Vergehen
mit einer Mindeststrafe von sechs Monaten ist und bei
dem es auch einen minderschweren Fall gibt, angesichts
der gravierenden Folgen, die ein Wohnungseinbruch für
die Opfer hat, als das bestrafen, was es wirklich ist, nämlich als Verbrechen; denn eine Bestrafung als Vergehen
ist dem Unrechtsgehalt dieser Taten nicht angemessen .
Deswegen erhöhen wir den Strafrahmen auf eine Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren . Es wird
keinen minderschweren Fall mehr geben .
Das machen wir auch, weil wir als Gesetzgeber ein
deutliches Signal an die Strafjustiz aussenden wollen,
Wohnungseinbrüche zukünftig generell härter zu bestrafen . Lieber Kollege Ströbele, das hat überhaupt gar
nichts mit Misstrauen gegenüber der Strafjustiz zu tun,
überhaupt nichts .
({3})
Aber wir sehen uns natürlich die Verurteilungen und den
Strafrahmen an, und wenn wir feststellen, dass die Strafen in der Regel am unteren Ende des Strafmaßes angesiedelt sind, dann müssen wir als Gesetzgeber reagieren .
({4})
Das hat etwas mit Gewaltenteilung zu tun . Wir als Gesetzgeber sagen, was wir als besonders strafwürdig ansehen . Wir in der Union und der Koalition sagen gemeinsam: Wohnungseinbruchdiebstahl ist ein Verbrechen; das
müssen wir härter bestrafen .
({5})
Herr Ströbele, Sie haben gesagt, das alles würde nicht
helfen, davon würde niemand abgeschreckt . In einer
Strafrechtsvorlesung im ersten Semester habe ich beim
Thema Strafzwecke gehört - das ist schon ein paar Tage
her; ich kann mich aber noch ganz gut daran erinnern -,
dass es auch so etwas wie eine negative Generalprävention gibt . Dabei geht es um Fragen der Abschreckung .
Auch wenn Sie mir an dieser Stelle nicht folgen wollen,
dann müssen Sie doch wenigstens sehen - Sie sind ein
guter Jurist, Herr Kollege, Sie wissen das doch -, dass
es ganz konkrete weitere Konsequenzen hat, wenn wir
den Wohnungseinbruchdiebstahl zu einem Verbrechen
hochstufen .
Das führt nämlich zum Beispiel dazu, dass schon die
Verabredung zu einem Wohnungseinbruchdiebstahl oder
die versuchte Anstiftung zukünftig strafbar ist . Das ist
vorher nicht der Fall gewesen . Eine solche Hochstufung
hat auch ganz konkrete strafprozessuale Auswirkungen .
Zukünftig wird es nicht mehr möglich sein, ein solches
Strafermittlungsverfahren mit einem Strafbefehl zu beenden oder wegen Geringfügigkeit einzustellen, weil es
sich um einen Verbrechenstatbestand handelt . Das sind
ganz konkrete Auswirkungen der Höherstufung zu einem
Verbrechen . Wir sagen: Ja, hier ertüchtigen wir die Strafjustiz, mehr machen zu können . Deswegen ist es richtig,
dass wir zukünftig Wohnungseinbruchdiebstahl als Verbrechen bestrafen .
({6})
Natürlich geht es hier auch um Ermittlungsbefugnisse .
Der beste Fall ist immer noch, dass der Einbruch überhaupt nicht stattfindet. Deswegen müssen wir uns genau
anschauen, wie die Taten begangen werden . Wir stellen
fest: Natürlich sind es Einzeltäter, gegen die wir hier vorgehen müssen, aber es sind auch vielfach Täter aus der
organisierten Kriminalität . Diese werden immer etwas
beschönigend als „mobile Tätergruppen“ bezeichnet,
tatsächlich sind das fahrende Einbrecherbanden, die auf
Diebeszüge gehen und oftmals ganze Straßenzüge ausrauben . Die Objekte werden vorher observiert, es wird
geschaut, wann die Bewohner nicht da sind .
({7})
Da müssen wir ran . Wir müssen die organisierten Strukturen aufdecken .
Deswegen ist es ganz wichtig, dass wir an die gespeicherten Telekommunikationsdaten herankommen .
({8})
Mit diesem Gesetz wollen wir den Katalog in § 100g
StPO anpassen und den Wohnungseinbruchdiebstahl
ausdrücklich in diesen Katalog aufnehmen . Das wird
zukünftig dazu beitragen, die Aufklärungsquote zu erhöhen . Die Aufklärungsquote liegt momentan bei etwas
über 16 Prozent . Das ist viel zu wenig . Das müssen wir
ändern . Wir müssen das Risiko, entdeckt zu werden, für
die Täter erhöhen . Dann werden sich viele überlegen, ob
sie zukünftig noch einbrechen . Das machen wir genau
mit diesem Gesetz .
({9})
Zukünftig wird - das Thema ist hier schon angesprochen worden - Funkzellenüberwachung möglich sein .
Wir werden zukünftig auch auf die Standortdaten zurückgreifen können .
({10})
Hier bekommt die Polizei, hier bekommen die Staatsanwaltschaften mehr Mittel in der Hand, um die Sicherheit
der Bürger zu gewährleisten . Das ist also völlig richtig .
Ich glaube, dass mit diesem Gesetz insgesamt ein
richtiger Ansatz verfolgt wird . Wir machen etwas beim
Strafrahmen, wir machen etwas für die Abschreckung,
wir verbessern die strafprozessualen Möglichkeiten und
geben Polizei und Justiz das Rüstzeug, Täter tatsächlich
zu überführen .
Was wir im parlamentarischen Verfahren tun müssen,
ist in der Tat, Wertungswidersprüche, die es noch gibt,
aufzulösen . Ich denke zum Beispiel an den Bandendiebstahl . Hier wäre bei Einbruchdiebstahl die Einstufung als
minderschwerer Fall möglich. Da klafft in der Tat etwas
auseinander, wenn wir sagen, bei Einzeltätern zählt das
nicht als minderschwerer Fall, beim Bandendiebstahl
aber schon . Das passt nicht zusammen .
({11})
Auch beim Bandendiebstahl darf es in der logischen
Konsequenz keinen minderschweren Fall geben . Dahin
müssen wir kommen .
({12})
Das werden wir im parlamentarischen Verfahren machen .
Wir als Union sind auf der Seite der Bürger, wenn es
um ihre Sicherheit geht . Dafür werden wir in den kommenden Wochen sorgen .
Vielen Dank .
({13})
Nächster Redner ist der Kollege Johannes Fechner für
die SPD-Fraktion .
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Auch ich will
aus der Polizeilichen Kriminalstatistik zitieren . Wir haben uns gefreut, dass die Zahl der Einbrüche um 10 Prozent zurückgegangen ist . Aber es kam noch immer zu
150 000 Einbrüchen im Jahr 2016 . Das ist zu viel, liebe
Kolleginnen und Kollegen . Die Bürgerinnen und Bürger
fordern zu Recht vom Staat mehr Schutz vor Wohnungseinbrüchen . Deshalb ist es für uns ein ganz wichtiges
Anliegen, die Wohnungseinbrüche zu bekämpfen, damit
sich die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland sicherer
fühlen .
({0})
Dazu gehört zunächst, dafür zu sorgen, dass gerade
auch im ländlichen Raum mehr Polizeipräsenz stattfindet . In meinem Heimatland Baden-Württemberg ist das
leider oft nicht der Fall . Da haben wir gerade in der Fläche zu wenige Polizeistellen und deshalb zu wenig Polizeipräsenz,
({1})
und das gerade an den Wochenenden und in den Abendstunden, also genau zu den Zeiten, zu denen die Einbrüche stattfinden. Da müssen wir für mehr Polizeipräsenz
sorgen . Das ist eine wichtige Aufgabe für alle Bundesländer . Daraus sollten wir keine Wahlkampfnummer machen .
({2})
Wir müssen natürlich vor allem auf Prävention setzen .
Es ist belegt, dass Einbrecher von ihrem Einbruchsversuch ablassen, wenn sie nicht innerhalb einer halben Minute in die Wohnung gelangen . Deshalb ist es entscheidend, dass wir das Förderprogramm, das wir bei der KfW
aufgelegt haben, noch weiter ausbauen .
({3})
Wir können uns hier nicht aus der Verantwortung stehlen und sagen: Die Bürger sollen alleine für die Sicherheit sorgen . Wir sollten Einbruchschutz also fördern . Ich
finde, wir sollten den Zuschuss von 10 Prozent der Investitionssumme auf 20 Prozent erhöhen . Dann können
auch Mieter, dann können auch Geringverdiener, also der
Personenkreis, den Sie, Kollege Tempel, angesprochen
haben, für ihre Sicherheit sorgen . Alle Bürger haben ein
Recht auf Sicherheit . Deswegen sollten wir durch dieses
Förderprogramm dafür sorgen, dass alle Bürger diesen
Zuschuss erhalten, und zwar mindestens 20 Prozent der
Investitionssumme .
({4})
An dieser Stelle einen großen Dank an die Kreditanstalt für Wiederaufbau, die dieses Programm hervorragend umsetzt . Herr Kollege Ströbele, zu der Informationsveranstaltung in meinem Wahlkreis ist sogar ein
Mitarbeiter der KfW gekommen . Das hing, nebenbei
gesagt, vielleicht auch damit zusammen, dass bei dem
zuständigen Abteilungsleiter der KfW im April zweimal
eingebrochen wurde . Also auch vor diesem Hintergrund
ist die KfW bei diesem Thema sehr engagiert . Daher
spreche ich ihr an dieser Stelle ein Lob aus .
({5})
Dass die Prävention funktioniert, zeigt die Entwicklung bei den Autodiebstählen . Es gab im Jahre 1993 über
100 000 Autodiebstähle und Einbrüche in Autos . Diese
Zahl hat sich auf 19 000 im letzten Jahr reduziert . Das
zeigt, dass sich die Investitionen der Autoindustrie in
bessere Sicherungstechniken, also Wegfahrsperren, bessere Schlösser usw ., gelohnt haben . Die entscheidende
Stellschraube, um Einbrüche zu verhindern, ist die Prävention . Daher sollten wir die besten Mechanismen zum
Einbruchschutz fördern .
({6})
Ich will hier ausdrücklich festhalten, dass mir alle
Polizeibeamten, mit denen ich über die Täterkreise gesprochen habe, bestätigt haben, dass Asylbewerber oder
Flüchtlinge in den seltensten Fällen die Täter sind . Das
macht es nicht besser, das macht die Einbrüche selbstverständlich nicht ungeschehen . Aber die Tatsache, dass es
überwiegend osteuropäische Banden sind und eben nicht
Flüchtlinge, möchte ich hier ausdrücklich festhalten .
({7})
Diese leider noch hohe Zahl an Wohnungseinbrüchen
geht nicht auf das Konto von Flüchtlingen und Asylbewerbern .
Sie sehen also: Wir haben eine ganze Menge gegen
Wohnungseinbrüche getan . Das müssen wir auch; denn
die Einbrüche traumatisieren die Opfer . Oft ist es nicht
der Verlust von Geld oder von Gegenständen, was die
Opfer am meisten belastet, sondern das Gefühl der Unsicherheit, das Gefühl, dass jemand in die eigenen vier
Wände, in die Intimsphäre eingedrungen ist .
Angesichts der Tatsache, dass nicht einmal 20 Prozent
der Einbrüche aufgeklärt werden, finde ich es richtig,
dass wir mit Regelungen auch im Strafgesetzbuch und in
der Strafprozessordnung Maßnahmen gegen Wohnungseinbrüche ergreifen .
({8})
Wir erhöhen mit diesem Gesetzentwurf den Mindeststrafrahmen für Wohnungseinbruchdiebstahl auf ein Jahr .
Wir schaffen auch den minderschweren Fall ab. Das sind
ohne Zweifel drastische Strafverschärfungen . Ich glaube,
wir brauchen sie, um die hohe Zahl der Wohnungseinbrüche zu senken . Solche Strafen werden abschrecken
und dazu beitragen, dass es weniger Wohnungseinbrüche
gibt .
Ich komme zum Schluss . Uns in der SPD-Fraktion ist
es wichtig, dass wir die Sorgen der Bürger hinsichtlich
Kriminalität ernst nehmen, dass wir handeln und dass wir
effektiv genau die Maßnahmen ergreifen, die tatsächlich
gegen Wohnungseinbruch helfen . Wir sollten deshalb
diesem Gesetzentwurf zustimmen und auch dafür sorgen,
dass wir die Mittel für das Zuschussprogramm bei der
KfW erhöhen . Ich bin gespannt, ob die Union die Mittel
bewilligen wird .
Vielen Dank .
({9})
Letzter Redner zu dem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Patrick Sensburg für die CDU/CSU-Fraktion .
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, wir in diesem Haus sind uns einig, dass
die Situation bei Einbrüchen in private Wohnungen in
Deutschland einen Grad erreicht hat, der nicht mehr akzeptabel ist .
({0})
Wir als CDU/CSU wollen zusammen mit der SPD, aber
auch mit der Bundesregierung etwas dagegen machen,
und wir machen auch etwas .
Während ich die Debatte heute verfolgt habe, meine
Damen und Herren der Linken und der Grünen, wurde
mir klar: Sie machen nichts . Sie machen einen Abwehrkampf . Sie ignorieren diese Situation . Sie tun nichts . Sie
wollen sich auch nicht daran beteiligen, etwas zu tun . Sie
diskutieren nur . Es kann nicht sein, dass man Menschen
in dieser Situation alleine lässt . Es ist ein trauriges Bild,
dass Sie sich überhaupt nicht an der Diskussion positiv
beteiligen .
({1})
- Ich lege Ihnen das gleich dar .
Wir machen einen Dreiklang . Als Erstes stärken wir
die Polizei vor Ort, und zwar mit den richtigen Instrumenten . Das ist wichtig .
({2})
Der zweite Punkt ist Prävention . Wir stärken die Menschen dabei, etwas zu tun, sodass sie ihre privaten Wohnungen sichern können .
({3})
Der dritte Punkt ist: Wir verändern auch das Strafrecht .
Es muss ein klares Zeichen geben: Angesichts der
Vielzahl dieser Delikte und der Tatsache, dass sich die
Ausführung dieser Taten verändert hat, muss man im
Strafrecht die richtigen Werte hinsichtlich der Höhe des
Strafrahmens einziehen . Es muss auch die Konsequenzen
geben, die Kollege Luczak, glaube ich, gerade sehr präzise ausgeführt hat .
({4})
Kommen wir zum ersten Punkt: Stärkung der Möglichkeiten, die die Bürgerinnen und Bürger haben . Es ist
richtig und gut, dass wir bei der KfW mehr Geld einstellen, damit die Bürgerinnen und Bürger ihre Wohnungen
sichern können . Da ist noch viel möglich .
({5})
Das werden wir gemeinsam machen . Es wäre schön,
wenn Sie wenigstens das unterstützen würden .
Der zweite Punkt ist: Wir möchten, dass die Polizei
vor Ort präsent ist und die nötigen Mittel hat . Wenn Sie,
Herr Ströbele, diese Auffassung teilen, dann wundert es
mich, dass Sie in der Debatte zum Schutz von Vollstreckungsbeamten argumentiert haben, das brauche man
gar nicht . Die Kollegin Mihalic hat damals gesagt, die
Diskussion sei überflüssig. Sie wollen Polizeibeamte vor
Ort nicht schützen . Ihre Argumentation an dieser Stelle
ist verlogen und falsch!
({6})
Jetzt geht es um die Instrumente . Natürlich ist es richtig, dass wir in einer vernetzten Welt mit immer mehr
Banden, die organisiert in Wohnungen einbrechen, die
Güter verschieben, teilweise ins Ausland, schauen müssen, wie die Kommunikation läuft . Deswegen ist es gut,
dass sich der Justizminister nicht nur für die Vorratsdatenspeicherung eingesetzt hat, sondern sich auch für die
Erfassung und retrograde Recherche dieser Daten einsetzt .
({7})
Ich freue mich übrigens, dass beim Thema Quellen-TKÜ
ein weiterer Fortschritt erreicht werden konnte. Ich finde,
dass wir zur Bekämpfung der Kriminalität in Zeiten moderner Kommunikationsmittel gute Schritte gehen . Das
machen wir, und das machen wir auch, damit sich Bürgerinnen und Bürger in ihren Wohnungen wieder sicher
fühlen können .
({8})
Drittens, das Strafrecht . Wir stellen fest, dass sich
die Art und Weise der Deliktausführung massiv verändert hat . Ich glaube, Sie gehen noch von dem Bild des
Ede aus, der mit seinem Rucksack um die Wohnungen
schleicht und fast ehrenvoll versucht, einzubrechen .
({9})
Schauen Sie sich doch einmal die Deliktausführung an Herr Tempel, Sie müssten es doch wissen -: Mit hoher
Brutalität, mit hoher Gewalt wird in Wohnungen eingedrungen . Wenn die Bewohner nachts zu Hause sind und
aufwachen, dann wird massiv gegen sie vorgegangen .
({10})
Wenn sich dann jemand in der Wohnung später nicht
mehr wohlfühlt, dann kann man das wohl verstehen .
({11})
Wer angesichts dessen, dass sich die Ausführung der Delikte so verändert hat, am Strafmaß nichts ändern will,
der schützt nicht die Bürger, der macht die Augen zu vor
denjenigen, die von diesen Straftaten hart betroffen sind.
Herr Tempel, Sie rufen gerade so vehement dazwischen . Zu Ihrem Fall mit dem Rentner: Sie können ja
gerne über alle Themen diskutieren, auch über die Leistungen für Pensionäre und Rentner . Das ist aber nicht Gegenstand der jetzigen Debatte . Dass Sie für den Rentner
nichts tun wollen, wenn in seine Wohnung eingebrochen
wird, ist schändlich . Dass Sie ihn alleine lassen und im
Grunde nichts tun wollen, ist traurig .
({12})
Wir tun etwas . Wir wollen, dass die Menschen in unserem Land geschützt werden . Deswegen dieser richtige
Dreiklang: erstens Polizei stärken, mit Präsenz vor Ort
und den notwendigen Mitteln, zweitens Sicherung der
eigenen Wohnung, dafür Fördermittel bereitstellen, und
drittens im Strafrecht den Strafrahmen erhöhen . Das ist
ein Zeichen in die Gesellschaft, dass wir etwas tun, und
ein Zeichen für diejenigen, die Straftaten begehen, dass
wir es ihnen nicht durchgehen lassen . Wohnungseinbrüche sind für uns ein No-Go . Deswegen tun wir etwas .
Unterstützen Sie uns doch wenigstens ein bisschen dabei .
Danke schön .
({13})
Nun möchte der Kollege Tempel eine Kurzintervention machen . - Bitte schön .
Dem Kollegen ist offensichtlich ein Irrtum unterlaufen; vielleicht ist er während meiner Rede etwas eingenickt . Er sagte, dass wir nichts für den Rentner tun wollen, der Angst vor Einbrüchen hat . Ich habe im zweiten
Teil meiner Rede - ungefähr bei Minute vier, fünf, wenn
Sie nachlesen wollen - gesagt, dass es von der Bevölkerung wahrgenommen wird, wenn die Polizeidichte deutlich zurückgeht, und dass das das Unsicherheitsgefühl
deutlich erhöht. Auch dass die Polizei häufig zu spät vor
Ort ist, kam in meiner Rede vor . Das ist für den Rentner
in meiner Region, bei dem eh nicht viel zu holen ist, der
aber selbstverständlich Angst vor Wohnungseinbrüchen
hat, sehr problematisch . Er kann nicht in einer Luxuswohngegend leben, wo man sich private Sicherheitsdienste leisten kann . Er ist tatsächlich darauf angewiesen,
dass die Polizei rechtzeitig vor Ort ist . Das habe ich in
meiner Rede ausgeführt .
Ich möchte Herrn Sensburg noch auf Folgendes hinweisen: Zu wenig Polizeidichte ist für den Bürger ein
Problem . Wenn in einer Region, in einem Landkreis
nachts nur noch drei Streifenwagen unterwegs sind, wovon ein Auto zu einem Unfall und ein anderes bei einer
Familienstreitigkeit ist, weil jemand seine Frau schlägt,
dann sind fast alle Streifenwagen im Einsatz . Das ist gerade für den Rentner in meiner Region ein Problem . Das
war Bestandteil meiner Rede . Wir haben lediglich ein
Mittel stark angegriffen, nämlich das Mittel der Strafverschärfung . Ansonsten habe ich mehrere Stellschrauben
benannt, an denen man tatsächlich zur Bekämpfung von
Einbruchskriminalität drehen kann . Da ist die CDU bei
weitem nicht alleine .
({0})
Kurze Erwiderung, Herr Kollege Sensburg .
Erster Punkt . Ganz herzlichen Dank für den Hinweis .
Hier sind wir uns sogar einig: Die Polizeidichte vor Ort
muss gesteigert werden . Genau die gleiche Situation wie
Sie erlebe auch ich in meinem Wahlkreis .
Ich möchte es auch noch einmal betonen: Es ist schön,
dass Sie von den Linken eine höhere Polizeidichte, also
mehr Polizei, fordern . Diesen Zustand hätte ich mir vor
vier, fünf Jahren nicht träumen lassen . Es ist wunderbar,
dass die Linke eine höhere Polizeidichte vor Ort fordert .
Unterstützen Sie uns dabei; das ist auch unsere Forderung . - Danke schön .
({0})
Zweiter Punkt . Diskutieren Sie einmal mit den Menschen vor Ort darüber - mit dem Rentner in seiner Wohnung, mit den Menschen an der Theke -, wie sie über
das Thema Einbruchsdiebstähle denken . An erster Stelle
wird ein höheres Strafmaß gefordert und gesagt: Lasst es
denen so nicht durchgehen . An zweiter Stelle wird gesagt: Helft uns dabei, unsere Wohnungen zu sichern .
Wenn Sie in den Gesetzentwurf schauen, dann sehen
Sie, dass von diesem Gesetzentwurf und der Förderung
über die KfW genau diejenigen profitieren, die ein geringes Einkommen haben, eben nicht in den Luxusgegenden leben und ihre Wohnungen sichern wollen .
({1})
Unterstützen Sie also unseren Gesetzentwurf! Genau das,
was Sie fordern, steht darin .
Ich glaube, es ist ein guter Gesetzentwurf . Wenn Sie
das, was Sie gerade gesagt haben, wirklich ernst meinen,
dann können Sie in den Beratungen ja zustimmen .
Danke schön .
({2})
Für die Klärung der offenkundig noch bestehenden
Meinungsverschiedenheiten besteht ja jede Gelegenheit,
wenn nun beschlossen wird, diesen Gesetzentwurf auf
dem üblichen Wege im Ausschussverfahren weiter zu
beraten . Von den Fraktionen wird die Überweisung des
Gesetzentwurfs auf der Drucksache 18/12359 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
gen . Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall .
Dann ist die Überweisung so beschlossen .
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 38 a und 38 b
auf:
a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken ({0})
Drucksache 18/12356
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz ({1})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
Ausschuss Digitale Agenda
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr . Konstantin von Notz, Renate Künast, Tabea
Rößner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Transparenz und Recht im Netz - Maßnahmen gegen Hasskommentare, „Fake News“
und Missbrauch von „Social Bots“
Drucksache 18/11856
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz ({2})
Ausschuss für Kultur und Medien
Ausschuss Digitale Agenda
Auch für diese Aussprache sind 60 Minuten vorgesehen. - Das ist auch offenkundig unstreitig. Also verfahren wir so .
Ich eröffne die Aussprache und erteile wiederum dem
Bundesjustizminister das Wort .
({3})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sie alle kennen die furchtbaren Beispiele von Mordaufrufen, Bedrohungen und hasserfüllten Postings, die es
in den sogenannten sozialen Netzwerken gibt . Wenn sich
die Nutzer dann bei ihren Plattformbetreibern beschweren, bekommen viele zu oft die Antwort: Das verstößt
nicht gegen unsere Gemeinschaftsstandards, und deshalb
wird es nicht gelöscht .
Viele von Ihnen kennen auch aus eigener Erfahrung
Beleidigungen und Bedrohungen im Netz . Wir alle sind
es gewohnt, im Kreuzfeuer von Debatten zu stehen - und
wir werden im Übrigen auch gut beschützt . Ich mache
mir viel mehr Sorgen um all diejenigen Bürgerinnen und
Bürger, die ansonsten im Netz unterwegs sind: um den
freiwilligen Flüchtlingshelfer, der beleidigt und eingeschüchtert wird, um die ehrenamtlichen Kommunalpolitiker, die beschimpft und bedroht werden, um die Jugendlichen, die im Netz in krimineller Weise gemobbt
werden .
Hasskriminalität beschädigt unser Zusammenleben,
unsere Debattenkultur und letztlich auch die Meinungsfreiheit . Wenn strafbare Bedrohungen und Einschüchterungen im Internet nicht entfernt werden, dann werden
sich viele Bürgerinnen und Bürger aus der Onlinediskussion zurückziehen .
Zur Klarstellung: Es geht bei unserem Gesetzentwurf
darum, dass Äußerungen, die gegen Strafgesetze verstoßen, aus dem Netz gelöscht werden . Es geht um Mordaufrufe, es geht um Aufrufe, Flüchtlingsheime anzuzünden
oder andere Gewalttaten zu begehen, es geht um Bedrohungen und Beleidigungen, es geht um Volksverhetzung,
und es geht um die Auschwitz-Lüge . Kurzum: Es geht
um Straftaten; es geht um Äußerungen, die nicht mehr
von der Meinungsfreiheit gedeckt, sondern ganz einfach
strafbar sind .
({0})
All solche Äußerungen sind kein Ausdruck der Meinungsfreiheit, sondern ganz im Gegenteil Angriffe auf
die Meinungsfreiheit . Damit sollen Andersdenkende eingeschüchtert und mundtot gemacht werden . Damit sollen
eine rhetorische Dominanz und ein Klima der Angst geschaffen werden. Wir müssen und wollen uns mit diesem
Gesetz auch um die Meinungsfreiheit derer kümmern,
die schon längst im Internet mundtot gemacht worden
sind . Das soll nicht so bleiben .
({1})
Die größte Gefahr für die Meinungsfreiheit ist ein Zustand, in dem ohne Konsequenzen bedroht, beleidigt und
eingeschüchtert werden darf . Dieser Hass und diese Hetze im Netz sind die wahren Feinde der Meinungsfreiheit .
({2})
Meine Damen und Herren, ich weiß, dass wir uns mit
diesen Regelungen im Gesetz in einem grundrechtssensiblen Bereich bewegen . Deshalb kommt es nicht unerwartet, dass viel über diesen Gesetzentwurf diskutiert
wird und dass es auch Kritik gibt . Damit will ich mich
einmal auseinandersetzen .
Da wird der Vorwurf erhoben, wir würden die Rechtsdurchsetzung auf Private verlagern . Hierzu kann ich nur
sagen: Wir verlagern gar nichts . Wir sorgen vielmehr
durch Compliance-Regeln dafür, dass bereits bestehende Verpflichtungen der sozialen Netzwerke endlich auch
eingehalten werden . Bereits auf der Grundlage des geltenden Rechts, der E-Commerce-Richtlinie, dürfen soziale Netzwerke nach einer konkreten Beschwerde strafbare Inhalte nicht ignorieren, sondern sie müssen handeln .
({3})
Wenn sie das nicht tun, dann können sie sich auch
nicht mehr auf ihr Haftungsprivileg beziehen, und das
hat Konsequenzen zur Folge . Deshalb wundert mich
dieser Punkt der Kritik ganz besonders; er hat mit dem
Gesetzentwurf überhaupt nichts zu tun . Denn das sind
Regelungen, die es schon längst gibt, und zwar in der
E-Commerce-Richtlinie und bei uns im Telemediengesetz . Wer sich jetzt darüber aufregt, der hätte sich auch in
den letzten Jahren schon darüber aufregen müssen . Aber
mit diesem Gesetzentwurf hat das gar nichts zu tun .
({4})
Ganz im Gegenteil: Den Maßstab dafür, was erlaubt
ist und was nicht, legt nicht Facebook oder irgendein
anderes soziales Netzwerk fest . Maßstab bleiben einzig
und allein die Strafgesetze, und die Gerichte entscheiden
nach diesen Gesetzen, was strafbar ist und was nicht .
Meine Damen und Herren, in der Diskussion und den
Stellungnahmen, die es gegeben hat, wird auch die Gefahr beschworen, dieser Gesetzentwurf könnte das sogenannte Overblocking befördern . Das bedeutet, dass die
Plattformbetreiber einfach alles löschen, nur damit sie einer einzelnen Geldbuße entgehen können . Das kann nur
ein Missverständnis sein, oder es ist gewollt, dass man
das nicht versteht . Die Bußgelder, die der Gesetzentwurf
vorsieht, drohen einem Unternehmen nicht, wenn es einen einzelnen Tweet oder Kommentar nicht gelöscht hat .
Es geht gar nicht um Einzelfälle .
Präsident Dr. Norbert Lammert
Bußgelder drohen nur dann, wenn es ein systematisches Versagen der Netzwerke gibt, wenn also überhaupt
kein effektives Beschwerde- und Löschungsverfahren
besteht . Außerdem werden nur schuldhafte Verstöße geahndet . Wenn die Strafbarkeit eines Posts nicht erkennbar ist, dann wird das auch nicht zu einem Bußgeld führen können .
Im Übrigen verstehe ich bei diesem Thema eines überhaupt nicht: Das Geschäftsmodell der sozialen Netzwerke beruht doch gerade darauf, möglichst viel zu kommunizieren . Schon aus wirtschaftlichen Interessen werden
sie deshalb das alles sehr genau prüfen . Die bisherige
Praxis zeigt jedoch das Gegenteil: Es wird nicht zu viel
gelöscht, sondern es wird leider viel zu wenig gelöscht .
Wenn ein Unternehmen meldet, wie es Facebook gerade getan hat, dass der Gewinn verdoppelt wurde, dann
muss ich sagen, meine Damen und Herren: Ich sehe nicht
ein, dass strafbare Inhalte im Netz stehen bleiben sollen,
damit Facebook und Co kein zusätzliches Geld dafür ausgeben müssen, Mordaufrufe aus ihren Seiten zu tilgen .
({5})
Deshalb glaube ich, dass wir heute an einem Scheideweg stehen: Nehmen wir weiter hin, dass die digitale
Revolution den Rechtsstaat und unsere demokratische
Kultur massiv infrage stellen kann? Oder machen wir
endlich ernst mit dem Anspruch, dass auch das Internet
kein rechtsfreier Raum ist und dass auch online nicht erlaubt ist, was offline verboten ist?
Meine Damen und Herren, das Recht ist der Garant
unserer Freiheit, auch der Meinungsfreiheit . Sorgen wir
dafür, dass das auch im Netz endlich von allen beachtet
wird . Sorgen wir endlich dafür, dass Mordaufrufe, Volksverhetzung und Bedrohungen so schnell wie möglich aus
dem Internet verschwinden . Nur dann bleibt die Meinungsfreiheit für alle wirklich gesichert .
Schönen Dank .
({6})
Petra Sitte erhält nun das Wort für die Fraktion Die
Linke .
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! So wie ein
Zitronenfalter eben keine Zitronen faltet, setzt ein Netzwerkdurchsetzungsgesetz eben keine Netzwerke durch .
So viel ist schon einmal klar .
({0})
Die Frage aber, was hier tatsächlich von wem und
wem gegenüber durchgesetzt wird, sollten wir an dieser Stelle im Hinterkopf behalten . Wie wir schon hören
konnten, soll es um die Durchsetzung von Recht und Gesetz gegenüber den großen sozialen Netzwerken gehen .
Das ist - so viel sei hier vorausgeschickt - ein durchaus
berechtigtes Anliegen .
({1})
Facebook, Twitter und Co haben sich in der Vergangenheit oft genug viel zu wenig kooperativ gezeigt, insbesondere dann, wenn es um die Bekämpfung von rechtswidriger Hassrede, um Hetze und Belästigung ging . Aber
der nun eingebrachte Gesetzentwurf - das wissen wir
schon jetzt - wird neue Probleme schaffen, vor allem
deshalb, weil er die Durchsetzung am Ende doch wiederum in Hände legt, in die sie nicht gehört; darin sind wir
uns mit Sicherheit einig .
Die Herausforderung, vor der wir stehen, ist die: Eine
kleine Anzahl großer kommerzieller Plattformen monopolisiert eine Form der Kommunikation, die wir aus unserem Leben nicht mehr wegdenken wollen . Das führt
dann dazu, dass elementare Regeln über Inhalte nicht
mehr gesellschaftlich ausgehandelt, sondern in Privatunternehmen einseitig festgelegt werden . Ein Beispiel sind
die berüchtigten Gemeinschaftsstandards von Facebook,
nach denen weibliche Brustwarzen ganz offensichtlich
ein größeres Problem als Nazipropaganda darstellen . Auf
diese bzw . ähnliche Herausforderungen brauchen wir in
der Tat eine ordnungspolitische Antwort .
({2})
Eine ausführliche Berichtspflicht für die sozialen
Netzwerke und bußgeldbewehrte Vorgaben für die Beschwerdebearbeitung sind durchaus keine falschen
Ansätze . Aber das Problem mit den Vorgaben, die Sie
hier machen, ist, dass die Plattformen selbst die rechtliche Einordnung überantwortet bekommen . Das ist keine Durchsetzung gegenüber den Netzwerken, sondern
durch die Netzwerke . Eine Plattform wird dann innerhalb
kürzester Zeit selbst entscheiden müssen, ob ein Inhalt
rechtswidrig ist .
Das kann aber durchaus auch eine komplizierte Abwägungsfrage sein . Wenn die unterlassene Löschung sanktioniert wird, ein zu Unrecht gelöschter Inhalt aber nicht,
dann kann man sich relativ leicht ausrechnen, wohin das
führen wird . Dann werden eben auch legale Inhalte im
großen Stil gelöscht werden . Bei Plattformen, die ein
faktisches Monopol innehaben, kann uns das eben ganz
und gar nicht egal sein . Wir haben andere Fälle sogenannter Kollateralschäden längst erlebt .
Dazu kommt eine neue Verpflichtung im Telemediengesetz, Bestandsdaten auch bei zivilrechtlichen Ansprüchen herauszugeben . Das war bislang nicht der Fall . So
eröffnet man nicht nur der Abmahnindustrie ein neues
Betätigungsfeld . Bei der Bekämpfung von Hate Speech
könnte der Schuss sogar nach hinten losgehen . Viel Fantasie gehört nämlich nicht dazu, um sich vorzustellen,
dass derartige Möglichkeiten auch zur Einschüchterung,
wie Sie es ja selbst gesagt haben, missbraucht werden,
etwa bei Aktivismus gegen Rechtsextreme .
Insgesamt merkt man dem Gesetzentwurf sehr wohl
die Temperatur der beim Stricken verwendeten Nadeln
deutlich an . Die Aufzählung der Straftatbestände mutet
willkürlich an . Zuletzt wurde sie noch um die Verbreitung pornografischer Schriften erweitert, obwohl die
Zielsetzung angeblich die Bekämpfung von Hasskriminalität ist . Infolgedessen dürfen wir nun der mit heißen
Nadeln gestrickten und notdürftig geflickten Begründung
des Gesetzes die durchaus interessante Information entnehmen, dass der Grund für die Wahl des Anwendungsbereiches des Gesetzes der Anwendungsbereich des Gesetzes sei . Welche Plattformen nun konkret vom Gesetz
betroffen sein werden - ausweislich des Entwurfs sollen
es etwa zehn sein -, kann uns die Bundesregierung auch
auf direkte Frage nicht mitteilen .
Einige sehen auch verfassungs- und europarechtliche
Probleme . Ob nun zur Recht oder nicht: Es ist jedenfalls
schwer, zu glauben, dass die Vereinbarkeit mit angemessener Gründlichkeit geprüft wurde . Es ist der Bedeutung
des Themas aber nicht angemessen, hier auf den letzten
Metern der Wahlperiode einen eilig heruntergeschriebenen Gesetzentwurf vorzulegen, um Handlungsfähigkeit
zu demonstrieren, vor allem dann nicht, wenn die Konsequenzen offensichtlich so wenig bedacht wurden. Nicht
ohne Grund hat sich ein breites Bündnis - von BITKOM
bis hin zur Amadeu-Antonio-Stiftung, das ist keineswegs
eine klassische Kombination - gebildet, das eine Deklaration der Meinungsfreiheit vertritt und sich ausdrücklich
gegen diesen Gesetzentwurf ausgesprochen hat und die
Einrichtung eines runden Tisches fordert .
({3})
Die Koalition wäre also durchaus gut beraten, die
Kritik ernst zu nehmen und sich auf eine umfassendere
Diskussion einzulassen . Die Debatte krankt auch daran,
dass das Netzwerkdurchsetzungsgesetz gewissermaßen
als Allheilmittel gegen Hate Speech und Fake News verkauft wird . Dadurch haben wir wieder das Problem, dass
die Menschen glauben, dass etwas durch die Politik gelöst wird, was sich aber im Leben und in der Praxis ganz
anders darstellt . Das kann nicht sein .
({4})
Selbst wenn alle unsere Kritikpunkte zu diesem Gesetzentwurf umgesetzt würden, hätten wir es mit einer breiten
gesellschaftlichen Debatte darüber zu tun, wie Kommunikation bzw . die Kultur der Kommunikation in diesem
Land gestaltet werden kann . Die damit zusammenhängenden gesellschaftlichen Probleme lassen sich nicht mit
einer besseren Durchsetzbarkeit des Strafrechts lösen,
ebenso wenig mit einer Ausweitung des Strafrechts an
dieser Stelle. Ich bezweifle, dass sich der Begriff „Fake
News“ rechtlich sauber definieren lässt und dass sich alles, was völlig zu Recht als Hate Speech verurteilt werden kann, rechtlich sanktionieren lässt . Das ändert nichts
daran, dass wir als Gesellschaft diese Probleme benennen müssen; da haben Sie völlig Recht, Herr Maas . Diese
Debatte muss geführt werden .
({5})
Politisch müssen wir uns noch weit mehr mit der
Rechtsdurchsetzung befassen .
({6})
Dabei geht es um Medienkompetenz, politische Bildung,
zivilgesellschaftliches Engagement, die Strukturkrise
des Journalismus, Geldflüsse über Werbenetzwerke und
grundsätzlich um den ordnungspolitischen Umgang mit
der neuen Plattformwirtschaft .
({7})
Diese Diskussion muss in der Breite geführt werden . Dafür sollten wir uns in der kommenden Wahlperiode Zeit
nehmen .
Den Gesetzentwurf in der vorliegenden Form zu verabschieden, halten wir für einen Fehler . Ein noch größerer Fehler wäre, nur das zu tun und zu glauben, das Problem sei damit weitestgehend gelöst . Das ist mitnichten
der Fall .
Danke .
({8})
Elisabeth Winkelmeier-Becker ist die nächste Rednerin für die CDU/CSU-Fraktion .
({0})
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Im digitalen Zeitalter
kann jeder ganz einfach mit seinem Smartphone die ganze Weltöffentlichkeit erreichen, kann seinen Hass, seine
Hetze gegen Andersdenkende, Anderslebende, Andersgläubige und politische Minderheiten in die ganze Welt
hinausposten, kann jedem den Tod wünschen, Vergleiche
mit niederen Tieren ziehen und sich mit seinen Taten
brüsten, wie zuletzt der Kindermörder aus Herne . Er kann
sich aber auch an seinem Arzt rächen, dem er vielleicht
auf einer Plattform zur Bewertung von Ärzten etwas einstellt, was nicht der Wahrheit entspricht . Damit müssen
die Betroffenen dann umgehen. Was das mit ihnen machen kann, hat in dieser Woche eine Studie zum Cybermobbing dargelegt . Jugendliche leiden extrem darunter .
Man ist dem ausgeliefert . Man ist in seinen Grundrechten
und insbesondere in seinem Persönlichkeitsrecht zutiefst
verletzt und betroffen.
Auf der anderen Seite löscht Facebook Einträge, zum
Beispiel den Text des ehemaligen Radiomoderators
Domian, der sich kritisch zur katholischen Kirche geäußert hatte; das passte Facebook nicht . Auch die ganze
Seite des Islamkritikers Imad Karim war zunächst weg .
Mittlerweile ist sie wieder da . Aber zuerst hat Facebook
sie gelöscht .
Das sind zwei Beispiele, bei denen die Nutzer dieser
Plattform in ihren Grundrechten betroffen sind, wo aber
auch die Grundrechte aufeinandertreffen: auf der einen
Seite das Grundrecht der Meinungsfreiheit, auf der anderen Seite das Grundrecht auf Schutz der Persönlichkeit .
Dabei geht es um eine Anzahl von Fällen, die es sehr
schwer bis unmöglich macht, alle mit der Gründlichkeit
eines individuellen Gerichtsverfahrens zu klären . In vielen Fällen - da wären wir uns alle hier sehr schnell eiDr. Petra Sitte
nig - sind die Dinge eindeutig . Es gibt aber eben auch ein
paar Fälle, deren Abgrenzung schwierig ist . Das alles geschieht vor dem Hintergrund, dass Eile geboten ist; denn
jeder Post wird schnell weitergeklickt und gespeichert
und ist damit uneinholbar in der Welt . Das ist also eine
ziemlich schwierige Ausgangskonstellation, bei der sich
Grundrechte auf beiden Seiten konträr gegenüberstehen .
Für uns ist klar: Hier besteht Handlungsbedarf . Das,
was sich im Moment im Netz an Hass und Hetze abspielt,
ist unerträglich . Das müssen wir unbedingt bekämpfen
und eindämmen .
({0})
Ausgangspunkt ist die große Zahl eindeutig rechtswidriger Äußerungen im Netz .
Der vorliegende Vorschlag sieht ein Beschwerdemanagement vor, ändert im Übrigen aber an der materiellen
Rechtslage nichts in Bezug darauf, was zur Meinungsfreiheit gehört, was man sagen darf und wo die Grenze überschritten ist . An der bewusst weiten Grenze bzw .
dem bewusst weiten Rahmen, den wir in Deutschland
dem Grundrecht der Meinungsfreiheit einräumen, ist
überhaupt nichts zu ändern . Trotzdem ist aber auch jetzt
schon klar, dass Meinungsfreiheit nicht uneingeschränkt
gilt, sondern dass es auch Grenzen gibt, nämlich dann,
wenn es um eine strafbare Beleidigung, Verleumdung
und Volksverhetzung geht . All das wird durch das hier
vorliegende Gesetz nicht geändert .
Noch etwas anderes wird nicht geändert . Auch jetzt
schon ist die Plattform für die Rechtsverletzungen, die
dort passieren, mitverantwortlich . Dabei gelten die
Grundsätze der Störerhaftung des deutschen Zivilrechts .
Zum Beispiel gilt sie für Zeitungen . Auch diese müssen
bereits jetzt prüfen, ob redaktionelle Texte oder Leserbriefe diesen Maßstäben gerecht werden . Wenn das nicht
der Fall ist, dürfen sie auch in einer Zeitung nicht veröffentlicht werden . Auch an dieser Stelle haben wir also
schon ein Prüfungsrecht und eine Prüfungspflicht durch
eine private Stelle, nämlich die Zeitung .
Was in der analogen Welt gilt, muss nun in die digitale
Welt übertragen werden . Leider ist es so, dass viele Internetplattformen dem nicht nachkommen . Uns liegen dazu
ja Zahlen vor . Bei Facebook waren es 46 Prozent der
Meldungen, die eindeutig kritikwürdig waren, worauf
aber nicht entsprechend reagiert wurde . Bei Twitter war
es sogar nur 1 Prozent . Es beginnt damit, dass die Betroffenen keine zustellungsfähige Adresse finden. Selbst
dann, wenn es gemeldet werden konnte, passiert lange
Zeit gar nichts . Das können wir so nicht stehenlassen .
Leider haben wir hier schon sehr viel Zeit mit runden
Tischen und freiwilligen Appellen, die nichts gebracht
haben, vertan . Leider stehen wir jetzt hier unter einem
erheblichen Zeitdruck, gegen Ende der Legislaturperiode noch etwas Vernünftiges auf die Beine zu bekommen
und das auch noch mit dem Notifizierungsverfahren in
Brüssel abzustimmen . Wir hätten uns sicherlich einen
großen Gefallen getan, wenn wir das deutlich früher in
Angriff genommen hätten. Leider ist ein entsprechender
Vorschlag nicht früher aus dem Ministerium gekommen .
Wir haben nun einen Vorschlag vorliegen, der eine
schnelle Prüfung verlangt . Innerhalb von 24 Stunden
muss reagiert werden, bei schwierigen Fällen innerhalb
von einer Woche . Das alles geschieht unter der Aufsicht
des Bundesamtes für Justiz, welches aber nur das Verfahren prüft . Man muss hier auch noch einmal klarstellen:
Es gibt hier keine inhaltliche Kontrolle . Wenn ein Bußgeld auf die Behauptung der Rechtswidrigkeit gestützt
werden soll, dann brauchen wir ein Vorentscheidungsverfahren bei Gericht, das dann mit der entsprechenden
Expertise und Legitimation entscheidet .
Nun gibt es von beiden Seiten ja schon heftige Kritik .
Im Bundesrat gibt es bereits eine Initiative aus dem Lande Bremen, mit der das Gesetz verschärft werden soll . Im
Rechtsausschuss des Bundesrates haben auch alle Länder
zugestimmt, dass vor allem der Anwendungsbereich erweitert wird . Dabei geht es zum Beispiel um kompromittierende Bilder und um Aufrufe zu erheblichen Straftaten . Das ist ja bisher noch gar nicht erfasst . Außer Bayern
und Sachsen haben alle zugestimmt, sodass sozusagen
alle Parteien dabei vertreten sind, wenn gefordert wird,
dass wir das Gesetz verschärfen .
Auf der anderen Seite gibt es die heftige Kritik wegen
der Sorge, dass hier eine Zensur stattfinde. Es gibt auch
diejenigen - das ist besonders schön -, die zuerst gesagt
haben: „Es kommt viel zu spät; es ist viel zu lasch“, jetzt
sich aber um 180 Grad gedreht haben und nun von angeblicher Zensur sprechen . Dazu ist zu sagen: Man kann
eben nicht beides haben .
Wir müssen uns aber die ehrliche Kritik von beiden
Seiten anschauen und überlegen, wie wir das aufnehmen
können . Was können wir noch verbessern? Ein guter
Ausweg könnte sein, bei dieser Kontrolle dem Unternehmen selbst weniger Einfluss einzuräumen, weniger
Staat einzubringen und dafür mehr pluralistisch organisierte Selbstkontrolle vorzusehen . Ich glaube, es würde
sich lohnen - der Vorschlag ist schon gemacht worden -,
wenn wir uns das Verfahren der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft bei der Alterseinstufung von
Filmen - Stichwort Jugendschutz - anschauen . Ein solches Verfahren könnte mehr Akzeptanz und mehr Vertrauen der Betroffenen auf beiden Seiten ermöglichen.
Wenn das ein Weg ist, sollten wir diese Chance nutzen .
({1})
Ich möchte kurz einen weiteren Punkt ansprechen .
Wir brauchen dann, wenn die weiten Grenzen der Meinungsfreiheit überschritten worden sind, auch Möglichkeiten, die Urheber von Hass und Hetze persönlich zur
Verantwortung zu ziehen . Dafür brauchen wir einen Auskunftsanspruch gegenüber dem Plattformbetreiber, also
die Möglichkeit, die Identität des Betreffenden aufzudecken . Hier ist jetzt die Rechtsgrundlage vorgesehen, dass
der Plattformbetreiber die Angaben herausgeben darf .
Wir müssen aber noch einen Schritt weitergehen und den
Auskunftsanspruch, den die Rechtsprechung bisher nur
aufgrund von Treu und Glauben einräumt, ganz klar normieren und regeln .
Es geht nicht um die Abschaffung von Anonymität
und Pseudonymität, auch wenn ich eigentlich der Meinung bin, dass wir uns im freien Austausch der MeiElisabeth Winkelmeier-Becker
nungen mit offenem Visier begegnen sollten. Jedenfalls
muss aber Anonymität dann ein Ende bzw . eine Grenze haben, wenn es um krasse Rechtsverletzungen geht .
Dann müssen die Opfer die Möglichkeit haben, diese Daten zu bekommen . Sonst sind sie letztendlich schutzlos
gestellt . Das kann nicht das Ergebnis sein . Gerade der
Schutzmantel der Anonymität hat oft dazu beigetragen,
dass die Hemmschwelle für Hass und Hetze im Netz so
gesunken ist . Das Wissen, dass die Anonymität im Fall
des Falles auch einmal aufgehoben werden kann, kann
schon heilsam wirken .
({2})
Wie gesagt, es ist schade, dass wir erst so spät in diese Beratungen hineingehen . Ich denke, wir müssen mit
der notwendigen Gründlichkeit herangehen, weil es die
Sache wert ist . Wir müssen den Opfern helfen, ohne die
Meinungsfreiheit einzuschränken .
Danke schön .
({3})
Nächster Redner ist der Kollege Konstantin von Notz
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich zitiere: „Heil Kanacke! Es wird Zeit das Auschwitz, Buchenwald u .a . den Betrieb wieder aufnehmen! Da gehört
Ihr Drecks türken nähmlich hin . Ab durch den Schornstein …“ Zitat Ende . Den Rest dieses Zitats erspare ich
diesem Hohen Haus .
Solch hasserfüllte Kommentare fallen eben nicht nur
auf der Straße heutzutage, sondern auch im Netz . Das
eben Zitierte galt unserem Kollegen Özcan Mutlu . Aber
genauso wie er werden täglich viele Menschen in diesem
Land unerträglich beleidigt, bedroht und verleumdet .
Solche krassen Rechtsverletzungen sind nicht nur
eine Zumutung für die Betroffenen, sie sind, hunderttausendfach ausgesprochen, gepostet und geteilt, auch eine
gravierende Gefahr für unsere freiheitliche Demokratie,
wenn sie folgenlos bleiben .
({0})
Es verbindet uns hier alle, dass wir das nicht hinnehmen
wollen, liebe Kolleginnen und Kollegen .
({1})
- „Aber“, Herr Grosse-Brömer, Herr Maas: diese Eintracht! Das kommt doch nicht zustande, indem Sie eine
ganze Legislaturperiode nichts tun, talken, aussitzen und
dann hier in der letzten Kurve dieser Legislatur mit so einem wüsten Gesetz um die Ecke kommen . Da kann man
auch gleich wieder gehen, genau .
({2})
Sie legen hier heute etwas vor, was die Probleme nicht
löst. Sie schaffen viele neue Probleme. Das ist jetzt nicht
eine krude Oppositionsmeinung, sondern das sagen Ihnen der Deutsche Richterbund, Vertreter der Wirtschaft,
die Journalistenverbände, die NGOs . Kritik ist selten so
einhellig und so breit wie in diesem Fall . Ihr Netzwerkdurchsetzungsgesetz, Herr Kauder und Herr Maas, ist
selbst eine Gefahr für die Meinungsfreiheit in unserer
freiheitlichen Demokratie .
({3})
Zitat:
Das . . . ist ein Schnellschuss, das Justizministerium
agiert hier nicht als Wahrer der Bürgerrechte, sondern verbietet, was es nicht versteht .
Wer hat das gesagt? Die Staatssekretärin Dorothee
Bär .
({4})
- Ich komme gleich zum Kollegen Klingbeil . - Thomas
Jarzombek beklagt zu Recht, dass dieser Entwurf viele
zweifeln lässt, wie es Herr Maas denn nun mit der Meinungsfreiheit hält . Er sagt - Zitat -:
Das Ergebnis . . . ist leider kein Belegstück für gute
. . . Handwerkskunst . Substanzielle Teile fehlen: Die
Kennzeichnungspflicht für Social Bots ...
Der geschätzte Kollege Klingbeil sagt zu diesem Gesetz:
({5})
Eine Privatisierung der Rechtsdurchsetzung darf es
nicht geben .
Recht hat er, meine Damen und Herren .
({6})
So was, Herr Maas, kommt dabei raus, wenn man noch
nicht einmal die Stellungnahmen abwartet, sondern das
Ganze in einem Facebook-Stream raushaut und verkündet; das ist ja unfassbar .
({7})
Ja, wir müssen die großen Anbieter hart in die Pflicht
nehmen . Aber wir dürfen sie eben nicht in eine Richterrolle drängen . Es ist eben nicht egal, ob zu viel oder
zu wenig gelöscht wird . Es braucht klare Regeln und
Sanktionen für ein rasches, aber eben auch sorgfältiges
Verfahren .
({8})
Schwierige Fälle, Herr Maas, gehören eben - wie im analogen Leben - am Ende vor Gericht geklärt .
({9})
Nach dem Entwurf, den Sie hier vorlegen, kann jeder
zu Facebook gehen, um die Identität einer missliebigen
Person zu erfahren, Frau Kollegin Winkelmeier-Becker .
Da haben Sie noch nicht einmal einen ordentlichen
Richtervorbehalt vorgesehen . Hier droht nicht nur ein
schleichender Zensureffekt, sondern auch die digitale
Bloßstellung und Gefährdung, übrigens auch für alle Kritikerinnen und Kritiker von der AfD und von Erdogan .
Auch sie sind von dieser Auskunftspflicht berührt, und
das ist ein Problem .
({10})
Schließlich: Wir brauchen ein effektives und verhältnismäßiges Notice-and-Take-down, das die Meinungsfreiheit achtet . Unsere Justiz kann das . Wir müssen sie
dafür stark machen .
Außerdem müssen wir uns mit den sozialen Medien
und gesellschaftspolitischen Ursachen für Hate und Fake
auseinandersetzen . Unsere Zivilgesellschaft kann das .
Wir müssen sie aber einbinden . Beides tun Sie nicht, und
das ist zu wenig .
Vielen Dank .
({11})
Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Johannes
Fechner das Wort .
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Zu den positiven Errungenschaften des Internets gehört, dass Millionen Menschen miteinander in Kontakt treten können .
Aber die Schattenseite ist, dass es auch unendlich viele
Möglichkeiten gibt, Hassbotschaften, Beleidigungen und
Straftaten millionenfach zu verbreiten . Weil es nach der
heutigen Rechtslage so unendlich schwierig ist, gegen
diese Hassbotschaften im Netz vorzugehen, brauchen wir
eine Regulierung . Soziale Netzwerke dürfen kein rechtsfreier Raum sein, in dem gemobbt, beleidigt wird oder in
dem zu Straftaten oder gar zum Mord aufgerufen wird .
Auch in sozialen Netzwerken muss Recht und Gesetz
gelten, und dem dient dieses Gesetz .
({0})
Es ist schon komisch, Herr von Notz, dass Sie sagen,
die Bundesregierung kommt erst auf den letzten Drücker .
Selber haben Sie Ihren Antrag aber erst im April 2017
eingebracht .
({1})
Wenn ich mir Ihren Antrag anschaue, stelle ich einmal
mehr fest, dass Sie keinen konkreten Gesetzesvorschlag
machen, dass Sie keine ausformulierten Vorschläge machen, wie es die SPD zu Oppositionszeiten gemacht hat,
sondern Sie bringen lose Aufforderungen, schwammig
formuliert .
({2})
Wir handeln . Wir legen ganz konkrete Gesetzentwürfe
vor, die den Bürgerinnen und Bürgern helfen werden,
Herr von Notz .
({3})
Wir machen das, weil wir von Einrichtungen wie etwa
jugendschutz .net wissen, dass bei YouTube, Twitter oder
auch Facebook - YouTube muss ich ausnehmen; dort hat
es sich gebessert ({4})
- bei den Grünen bricht schon Panik aus ({5})
bzw . bei Twitter oder Facebook nicht freiwillig gelöscht
wird und wir nicht auf die Freiwilligkeit dieser Unternehmen setzen können. Ich finde, wenn Unternehmen
Milliardengewinne machen, dann können wir ihnen auch
zumuten, dass sie Rechtsanwälte beschäftigen oder eine
juristische Abteilung aufbauen, um dafür zu sorgen, dass
Lügen und Straftaten im Netz nicht verbreitet werden,
liebe Kolleginnen und Kollegen .
Dabei ist wichtig, zu wissen: Schon heute gibt es
Unterlassungsansprüche . Daran ändern wir mit diesem
Gesetz nichts, sondern wir sorgen dafür, dass diese Ansprüche tatsächlich durchgesetzt werden können . Die
wichtigste Regelung ist dabei, dass wir für die Unternehmen die Pflicht einführen, in Deutschland eine Zustellperson zu benennen, also eine Person, an die Zivilrechtsklagen, Unterlassungsklagen oder auch strafrechtliche
Verfügungen der Ermittlungsbehörden zugestellt werDr. Konstantin von Notz
http://www.jugendschutz.net/
den können . Wir müssen dafür sorgen, dass die Opfer in
Deutschland ihre Rechte durchsetzen können .
({6})
Es ist wichtig, eines klarzustellen: Es geht nicht darum, die Unternehmen zu verpflichten, zu bewerten, ob
sie Löschungen vornehmen müssen oder nicht . Es ist
ausdrücklich geregelt, dass eine Bußgeldbehörde, bevor
sie ein Bußgeld verhängt, eine Gerichtsentscheidung
einholen muss, ob ein Inhalt rechtswidrig ist oder nicht .
Deswegen kann von einer Privatisierung, die auch wir
selbstverständlich nicht wollen, überhaupt keine Rede
sein, liebe Kolleginnen und Kollegen .
({7})
Der entscheidende Punkt ist, dass die Sanktion, das Bußgeld kommt, wenn kein systematisches Beschwerdemanagement, kein taugliches Verfahren zur Löschung von
rechtswidrigen Inhalten vorhanden ist .
Ja, auch wir achten ganz genau darauf, dass dieses
Gesetz klar und präzise formuliert ist . Wir haben schon
einige Änderungen in der Gesetzesbegründung vorgenommen .
({8})
Wir haben den Anwendungsbereich präzisiert . Jetzt
ist klar, dass Maildienste wie GMX oder Web .de, Bewertungsportale oder Berufsportale wie LinkedIn oder
XING nicht unter dieses Gesetz fallen .
({9})
Wir stehen dem Vorschlag, das auch im Gesetzestext zu
ändern, offen gegenüber. Das können wir gerne beraten.
Wenn dort entsprechende Regelungen erforderlich sind,
dann machen wir das zur Klarstellung gerne .
Ein weiter Punkt ist uns wichtig: Einen Auskunftsanspruch darf es nur geben, wenn ein Gericht dies anordnet .
({10})
Bestandsdaten dürfen nur dann herausgegeben werden,
wenn eine Rechtsverletzung vorliegt, wenn also eine der
Straftaten begangen wurde, die wir im Gesetz abschließend und genau normiert haben .
({11})
Auch das ist eine Änderung, auf die wir uns schon verständigt haben und die wir in den Gesetzestext einfügen
wollen .
({12})
Das ist für uns in der SPD ein ganz wichtiger Punkt .
Sie sehen: Wir haben schon eine ganze Menge Kritikpunkte aufgenommen . Für uns gilt, dass im Zweifel für
die Meinungsfreiheit zu entscheiden ist . Es darf bei den
sozialen Netzwerken nicht die Situation eintreten, dass
diese - quasi in vorauseilendem Gehorsam - im Zweifel aus Angst vor einer harten Sanktion zurückschrecken
und einen Inhalt deshalb löschen . Genau das wollen wir
nicht . Deswegen haben wir eine klare Regelung ins Gesetz aufgenommen .
Sie sehen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Die SPD
setzt sich dafür ein, dass für die Opfer von Straftaten und
Verleumdungen in der digitalen Welt die gleichen Rechte wie in der analogen Welt gelten . Dazu brauchen wir
ein Gesetz . Wir wollen dieses Gesetz . Wir sind bereit, in
den Beratungen die eine oder andere Präzisierung vorzunehmen, möglicherweise auch im Gesetzestext . Darüber,
dass wir dieses Thema behandeln müssen, und zwar noch
in dieser Legislaturperiode, sollten wir uns aber alle einig
sein . Es wird viel zu viel Hass und Hetze im Internet verbreitet . Dagegen müssen wir vorgehen .
Vielen Dank .
({13})
Dr . Stefan Heck erhält das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion .
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Gesetzentwurf, den wir heute in erster Lesung
im Deutschen Bundestag behandeln, hat schon, bevor er
uns hier erreicht hat, eine ungewöhnlich breite Debatte
in der Öffentlichkeit ausgelöst. Ich glaube, wir sind gut
beraten, die Einwände, die uns aus vielen Teilen der Gesellschaft erreichen, ernst zu nehmen und sie sorgfältig
abzuwägen .
({0})
Wenn man die Reden hier aufmerksam verfolgt hat von Frau Sitte bis zu Herrn von Notz und die Reden aus
den Reihen der Koalition -, dann kann man feststellen:
In der Bestandsaufnahme sind wir uns zunächst einmal
einig . Die derzeitige Praxis ist jedenfalls unbefriedigend .
Viele soziale Medien haben sich zu Räumen entwickelt,
in denen das Gesetz und das Recht, das unbestritten gilt,
derzeit keine Anwendung finden. Dort wird gehetzt, dort
wird beleidigt, und dort wird Hass verbreitet, häufig unter dem Deckmantel der Anonymität, meist jedenfalls
ohne irgendeine Konsequenz für die Täter .
Dabei haben die Betreiber von sozialen Medien ein
Privileg . Anders als zum Beispiel Presseverlage haften
sie nicht in vollem Umfang für die Inhalte, die über sie
verbreitet werden . Das Telemediengesetz verlangt lediglich, dass rechtswidrige Inhalte unmittelbar gelöscht
werden, sobald der Betreiber von ihnen Kenntnis erlangt .
Unsere ernüchternde Erkenntnis heute ist, dass viele
Plattformen dieser Forderung überhaupt nicht nachkommen . Auf der Strecke bleiben dann die Nutzerinnen und
die Nutzer, die sich ehrverletzenden Angriffen völlig hilflos ausgesetzt fühlen .
Wenn man sich damit beschäftigt, dann erfährt man:
Es ist ein komplizierter Prozess, bis selbst eindeutig
rechtswidrige Aussagen entfernt werden . Die Meldeportale sind zu kompliziert, das Verfahren ist undurchsichtig, und häufig gibt es niemanden, der am Ende als
Ansprechpartner erreichbar ist . Hier entsteht der fatale
Eindruck, dass strafbares Verhalten völlig sanktionslos
hingenommen wird . Ich bin der festen Überzeugung:
Diesen Zustand dürfen wir als Staat und als Gesetzgeber
nicht länger dulden .
({1})
Der Gesetzentwurf sieht verschiedene Maßnahmen
vor - wir haben es eben schon erfahren -: Es soll eine Berichtspflicht zum Umgang mit strafbaren Inhalten geben.
Es soll die Verpflichtung zu einem wirksamen Beschwerdemanagement geben . Es soll einen Auskunftsanspruch
der Opfer zu den Bestandsdaten der Täter geben . Und es
soll eine Bußgeldandrohung in empfindlicher Höhe bei
Pflichtverstößen geben. Ich glaube, all das ist ein dringend notwendiges Signal; es ist ein Schritt in die richtige
Richtung .
Gleichwohl - auch das will ich offen ansprechen - sehen wir bei einigen zentralen Punkten noch erheblichen
Beratungsbedarf .
({2})
Ich bin nicht sicher, ob die Löschverpflichtung, die die
sozialen Netzwerke in völliger Eigenregie umsetzen
sollen, wirklich der Weisheit letzter Schluss ist . Wir haben - Frau Kollegin Winkelmeier-Becker hat es angesprochen - schon in verschiedenen Bereichen des Medienrechts die Einbeziehung von neutralen und allgemein
anerkannten Akteuren . Das könnten wir uns hier auch
sehr gut vorstellen .
Für uns als Fraktion ist ein Punkt ganz wichtig: Wir
müssen einen Mechanismus finden, der rechtswidrige Inhalte zielgenau erkennt und ebenso zielgenau beseitigt,
ohne dass durch eine zu weit gehende Löschpraxis sozusagen in vorauseilendem Gehorsam die Meinungsfreiheit
eingeschränkt wird .
({3})
Wir stehen jetzt vor intensiven Beratungen . Zur Wahrheit gehört: Herr Minister, es wäre gut gewesen, wenn
Sie dieses Gesetz schon sehr viel früher vorgelegt hätten
und wir für die Beratungen erheblich mehr Zeit gehabt
hätten .
({4})
Für uns gilt: Gründlichkeit geht vor Schnelligkeit . Aber
wir wollen dieses Gesetzesvorhaben innerhalb der nächsten Sitzungswochen zu einem guten Abschluss bringen .
Es geht hier um sehr grundsätzliche Fragen: Wie schützen wir die Wahrhaftigkeit in der öffentlichen Debatte?
Wie kann sich der Rechtsstaat im digitalen Raum behaupten? Vor allem: Wie können wir Nutzerinnen und
Nutzer wirksam vor Straftaten schützen?
Herzlichen Dank .
({5})
Das Wort erhält die Kollegin Renate Künast für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will gar
nicht alles wiederholen, weil ich es eigentlich auch hasse,
die Sätze, die im Netz oft fallen, wiederholen zu müssen .
Es ärgert auch mich immer wieder, was da systematisch
passiert - ich habe das selber erlebt -: Nicht nur der Hass .
Ich habe das selber erlebt, dass ein Generalstaatsanwalt
den Satz „Von Ihnen würde ich gern ein Enthauptungsvideo sehen“ dann nicht als Beleidigung bezeichnet .
Ich sage: Wie kann man einen Menschen noch stärker
herabwürdigen? Ich habe erlebt, wie es ist, wenn einem
Falsch zitate, Fake News angehängt werden, und wie lange man braucht, um die wieder zu löschen . Deshalb sage
ich, sagen wir: Ja, da muss etwas getan werden . Es muss
etwas getan werden, damit das, was heute schon im Telemediengesetz deutsches Recht ist, auch umgesetzt wird,
meine Damen und Herren .
({0})
Das heißt aber noch nicht, dass es genau so getan
werden muss, wie es jetzt vorgesehen ist . Sie bekommen
Gegenwind - ich habe Ihren Zwischenruf gar nicht ganz
verstanden; aber ich brauche mich da auch gar nicht zu
scheuen; wir als Grüne sind schon die ganze Legislaturperiode in dieser Geschichte unterwegs -, Gegenwind
von allen Seiten: von der Union, von der SPD, vom
Journalistenverband, vom Richterbund, von Rechtswissenschaftlern und, und, und . Meine Damen und Herren,
das sollte Ihnen eigentlich zu denken geben. Ich finde
das Verfahren nicht angemessen, wie Sie es gemacht
haben: Wir bringen mal ein Gesetz ein, das eigentlich
vom Minister geschrieben ist; aber es kommt nicht als
Regierungsentwurf, sondern als Fraktionsentwurf, weil
man den Bundesrat und seine Äußerungsfristen umgehen
will . Das alleine ist vom Verfahren her schon nicht angemessen .
({1})
Obwohl, wir sehen natürlich auch, wie groß dieser
Hass ist und dass er von einigen Organisationen systematisch mit politischen Absichten betrieben wird, um den
Diskurs nach ganz weit rechts zu schieben .
Man muss sich ja fast schon dafür schämen, dass manche Journalistinnen und Journalisten auch meinen, Political Correctness sei etwas Falsches . Wenn man also die
Würde achtet und Menschen nicht diskriminiert, dann
soll man sich schon schämen . So weit ist der Diskurs
schon gekommen, meine Damen und Herren .
({2})
Das macht mir auch Angst, und nicht nur Hate Speech
und Fake News .
Fakt ist: Wir reden über die Durchsetzung geltenden
Rechts, über die Löschung rechtswidriger Inhalte . Ich
meine, die Koalition hat die Chance verpasst, alle Interessen und Rechte der Betroffenen bzw. die Zuständigkeiten - auch der Länder - hier miteinander zu koordinieren .
Vergessen wir nicht: Für Jugendschutz, für Presse, für
Medien sind die Bundesländer zuständig . Für die Schaffung neuer Staatsanwaltschafts- und Richterstellen sind
übrigens auch die Justizbehörden der Länder zuständig .
Man sieht ja: Der Bundesrat wundert sich schon .
Ich will ein paar Punkte zu dem Notice-and-Takedown-Verfahren sagen, das ja auch schon Pflicht ist und
von dem auch wir sagen: So geht es nicht . Ich selber
versuche, ich glaube, seit anderthalb Jahren, zu Arvato
durchzudringen, die ja im Auftrag von Facebook tätig
sind . Ich bin bisher dort nicht durchgekommen . Es wird
mir immer angekündigt, ich käme da hin . Man fragt sich
also: Was haben die zu verbergen? Arbeiten die gar nicht
so gut? - Also: Es ist etwas zu tun . Und: Dieses Verfahren muss besser werden .
Aber warum soll es eine Parallelstruktur zum Telemediengesetz geben, meine Damen und Herren? Warum löschen und sperren? Warum unbestimmte Rechtsbegriffe?
Wie sollen sie konkret ausgelegt werden? Ich weiß - Herr
Fechner, Sie haben es gesagt -: Es soll noch nachgebessert werden . - Aber jetzt komme ich mal zum Verfahren .
Was ist das für ein Verfahren, in dem nach anderthalb
oder zwei Jahren mit runden Tischen, Zwischenberichten und allem im allerletzten Augenblick dem Bundestag
etwas vorgelegt wird? In Klammern: Es ist ja auch noch
die Notifizierung der Europäischen Union zu beachten.
Also: Wenn wir auf neue und gute Ideen kommen, dann
könnten wir das Gesetz nicht entsprechend verbessern,
weil wir dann ein neues Notifizierungsverfahren einleiten müssten . Das ist doch eine Engführung des parlamentarischen Prozesses - und das angesichts der Tatsache,
dass da Grundrechte tangiert werden . Ich halte das für
kein gutes Verfahren .
({3})
Grundrechte werden tangiert, was die Meinungsfreiheit betrifft, und natürlich auch, das Eigentumsrecht,
was die Betriebe betrifft. Wir wissen nicht, für wen es
gelten soll . Welche 2 Millionen Nutzer, User sind denn
gemeint? Die Löschfristen sind einseitig gemacht . Das
heißt, für den Fall, dass eine Löschung falsch war, sehen
Sie kein Verfahren vor, um den betreffenden Inhalt wieder einzustellen . Es ist in der Demokratie ja auch möglich, dass das einmal passieren kann . Sie reden über einen Richtervorbehalt beim Drittauskunftsanspruch, aber
er steht gar nicht im Gesetz .
Ich meine, es gibt dringenden Beratungsbedarf und
Änderungsbedarf bei diesem Entwurf, was die Fristen,
den Anwendungsbereich, fälschlich gelöschte Inhalte angeht . Wir müssen die Debatte erweitern und müssen uns
um Prävention, Medienkompetenzen, Bildung kümmern,
weil wir allein mit dem Strafgesetzbuch und dem Ordungswidrigkeitengesetz das, was hier gesellschaftlich
passiert, nicht lösen können . Dafür brauchen wir Zeit .
Die wollen wir auch haben . Die nehmen Sie sich nicht,
obwohl es um Grundrechte geht . Deshalb unsere Kritik
an Ihrem Entwurf .
({4})
Das Wort erhält nun der Kollege Lars Klingbeil für die
SPD-Fraktion .
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als
Frau Künast Ministerin gewesen ist, muss es so gewesen
sein, dass alle Kabinettsvorlagen von der Grünenfraktion
eins zu eins im Parlament durchgewunken wurden . Ich
glaube, die Große Koalition kann mit vollem Stolz sagen:
Wir reden noch einmal über das, was aus dem Kabinett
kommt, und gucken uns genau an, ob man nachbessert .
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir reden hier über
einen Bereich, der sehr sensibel ist . Ich glaube auch, dass
bei vielen von uns in den letzten Monaten Erkenntnisse
gereift sind . Wir alle sind uns der Verantwortung angesichts des Themenbereichs bewusst, über den wir heute
sprechen . Es geht um Meinungsfreiheit, es geht um die
Verantwortung, die der Staat, die wir als Parlamentarier
tragen . Es geht um die Frage, ob wir es als Politik schaffen, diejenigen zu schützen, die von Hass und Hetze im
Internet betroffen sind. Facebook ist heute quasi so etwas
wie ein öffentlicher Raum. Es geht heute hier auch um
die Frage, ob der Staat dort Handlungsfähigkeit beweisen
kann .
Ich will Ihnen sagen, liebe Kolleginnen und Kollegen,
dass seit Beginn der Diskussion vieles passiert ist: Wir
sehen eine gestiegene Sensibilität in der Bevölkerung .
Wir diskutieren viel, nicht nur über offensichtliche Strafrechtsverletzungen, sondern auch über einen anderen
Punkt, über das, was wir als Fake News bezeichnen, und
die Frage, wie wir damit umgehen .
Facebook kommt in Bewegung . Wir sehen, dass dort
mehr Personen eingestellt werden, die löschen sollen .
Wir sehen auch, dass Facebook anfängt, mit Journalisten
zusammenzuarbeiten und genau zu gucken, was eigentlich wahr ist und wo falsche Dinge verbreitet werden .
Für die SPD-Fraktion kann ich sagen - das ist für
uns völlig klar -: Es geht, wenn wir über all diese Dinge
reden, nicht nur um Gesetze; es geht auch um digitale
Kompetenzen . Es geht um die Frage: Wie stärken wir
eigentlich diejenigen, die im Internet dagegenhalten? Es
geht um die Frage: Wie können wir Fakten viel besser
herausstellen?
Heute reden wir konkret über das Netzwerkdurchsetzungsgesetz . Ich kann für die SPD-Fraktion hier zusagen: Wir werden die vielen Bedenken, die gerade im
öffentlichen Raum stehen, in den parlamentarischen Beratungen ernst nehmen . Wir werden zuhören, wir werden
uns die Dinge anhören, und wir werden dann sicherlich
nach einer gründlichen Debatte dazu kommen, dass wir
an vielen Stellen Änderungen an diesem Gesetzentwurf
vornehmen .
Es geht, liebe Kolleginnen und Kollegen, um Schnelligkeit, weil die Legislatur bald zu Ende ist . Ich will hier
aber auch sagen: Es geht auch um Gründlichkeit, und
beide Dinge werden wir nicht gegeneinander ausspielen .
Herr Kollege Klingbeil, darf Frau Rößner eine Zwischenfrage stellen?
Sehr gerne .
Vielen Dank, Herr Präsident . - Danke, Kollege
Klingbeil, dass ich eine Frage stellen darf . Nun gab es
ja am Anfang der Legislaturperiode das große Ansinnen
der Großen Koalition, eine Bund-Länder-Kommission
zur Regelung im Medienbereich auf den Weg zu bringen . Da gab es auch eine Arbeitsgemeinschaft Plattformregulierung und eine Arbeitsgemeinschaft Intermediäre .
Jetzt hat die Kommission aber leider ihre Arbeit schon
abgeschlossen, es gibt einen Bericht, aber genau diese
Thematik ist darin nicht enthalten . Insofern verstehe ich
nicht ganz, warum jetzt auf die Schnelle dieses Gesetz
durchgeboxt werden soll, ohne dass die Länder miteinbezogen worden sind, obwohl man dort ein Gremium hatte, in dem man intensiv diskutiert und sich Sachverstand
geholt hat . Das verstehe ich nicht . Vielleicht können Sie
es mir erklären .
Liebe Kollegin Rößner, es ist doch in der Tat so - das
wissen Sie als Mitglied der damaligen Enquete-Kommission und als eine Kollegin, die auch viel in diesem
Bereich unterwegs ist -, dass es digitale Entwicklungen
gibt, die uns manchmal angesichts ihrer Geschwindigkeit
herausfordern . Sie haben zu Recht festgestellt: Wir hätten dieses Thema in der Bund-Länder-Kommission diskutieren sollen . - Wir haben es da leider nicht getan . Das
Parlament war ja nicht direkt beteiligt . Aber es gibt jetzt
diese Herausforderung, und wir müssen diese Herausforderung annehmen .
Für mich wäre es der falsche Weg, nur weil die Legislatur kurz vor dem Ende steht, jetzt zu sagen: Wir
ignorieren diese Probleme und diskutieren es hier im
Parlament nicht . ({0})
Wir müssen uns mit den Fragen, die unsere Gesellschaft
beschäftigen, auseinandersetzen, und das tut die Große
Koalition an dieser Stelle . Ich habe gerade, als Sie sich
gemeldet haben, gesagt: Es geht um Gründlichkeit, und
es geht um Schnelligkeit . Beides lässt sich nach unserer
Meinung nicht gegeneinander ausspielen .
Herr Präsident, ich will in meiner Rede fortfahren . Ich will vier Punkte nennen, die für die SPD bei den Verhandlungen in der Koalition und hier im Parlament sehr
wichtig sein werden .
Das Erste ist, dass der Gesetzentwurf eine Ausweitung
der Auskunftsansprüche ohne Richtervorbehalt vorsieht .
Das ist für uns eine rote Linie, die in diesem Fall überschritten wurde . Wir sagen: Der Richtervorbehalt muss
rein, und wir brauchen eine Beschränkung des Auskunftsanspruchs auf einen engen Kreis von Straftaten .
Der zweite Punkt sind die Bußgelder . Wir wollen diesen Punkt im Gesetzestext konkretisieren, um deutlich zu
machen: Es geht nicht um den einzelnen Post und die
Frage, ob eine soziale Plattform damit falsch umgeht,
sondern um das Vorhalten eines effektiven Beschwerdemanagements . Wir wollen erreichen, dass das im Gesetz
deutlicher wird .
Der dritte Punkt ist, dass wir eine Klarstellung brauchen, welche Plattformen von diesem Gesetz betroffen
sind und welche nicht .
Der vierte Punkt ist - auch das kann ich hier für die
SPD-Fraktion sagen -: Wir wollen die Möglichkeit der
regulierten Selbstregulierung in den Verhandlungen hier
im Parlament offen und ehrlich prüfen.
Das waren vier Punkte, die uns sehr wichtig sind . Ich
will noch einmal sagen: Es ist für mich eine Selbstverständlichkeit, dass wir als Parlamentarier schauen, wie
wir selbst bei guten Gesetzen noch nachbessern können .
Dann will ich aber jetzt am Ende etwas ansprechen,
was mich schon irritiert . Es gibt vonseiten der Union viel
Kritik, Kritik am Minister und an dem, was das Kabinett
vorgelegt hat . Ich hätte mir gewünscht, dass heute hier
im Parlament diejenigen aus den Reihen der Union sprechen, deren Kritik am Gesetz man sonst nur auf Spiegel
Online nachlesen kann .
({1})
Da fordert Herr Kauder Herrn Maas auf, das Gesetz
schneller auf den Weg zu bringen und es härter zu machen .
({2})
Dann kommt seine Stellvertreterin Nadine Schön und
sagt: Das darf alles nicht so schnell gehen, und das ist
doch alles viel zu hart . - Herr Jarzombek schlägt vor,
eine quasi-staatliche Behörde einzurichten . Dorothee
Bär, die als Staatssekretärin ihren Minister im Kabinett
anscheinend schlecht beraten lässt, sagt, sie lehne dieses Gesetz ab . Dieses Hin und Her in der Union wird es
schwierig machen, in den kommenden Wochen über alle
diese Punkte zu beraten .
({3})
Ich hätte mir gewünscht, dass die Digitalpolitiker heute
zu Wort kommen . Dann hätten wir die Kritik nicht nur
bei Spiegel Online gelesen, sondern auch einmal hier im
Parlament gehört .
({4})
Herr Klingbeil, bevor Ihre Redezeit zu Ende ist: Wollen Sie noch eine Zwischenfrage zulassen?
Ja, gerne .
Gut . Deswegen hatte ich Sie jetzt unterbrochen .
Dann habe ich auch mehr Zeit zur Verfügung . Das ist
doch gut .
Frau Schön, bitte .
Lieber Kollege Klingbeil, Sie haben mich direkt angesprochen . Darf ich Sie darauf aufmerksam machen, dass
die Unionsfraktion in dieser Frage immer eine einheitliche Meinung hatte?
({0})
Das ist in unserem Positionspapier nachzulesen, das wir
als Gesamtfraktion im Januar verabschiedet haben . Darin
haben wir alle Punkte, die heute kritisiert werden, aufgegriffen, nämlich: Wer prüft eigentlich? Gibt es Verfahren der regulierten Selbstregulierung? Wer ist überhaupt
betroffen von einem solchen Gesetz? - Das stand schon
in unserem Positionspapier . Deswegen wäre es schön
gewesen, wenn das zuständige Ministerium die Positionspapiere - Ihre Fraktion hat ja auch eines vorgelegt als Grundlage für das Gesetz herangezogen hätte . Dann
müssten wir viele Diskussionen heute nicht führen .
Ich freue mich sehr, wenn Sie sagen, dass für Sie das
Thema „regulierte Selbstregulierung“ wichtig ist . Sie teilen unsere Kritik an vielen Stellen . Frau WinkelmeierBecker hat in ihrer Rede auch Punkte aufgegriffen.
Hansjörg Durz wird für die AG Digitale Agenda sprechen . Wir haben ein völlig konsistentes Meinungsbild
innerhalb der CDU/CSU-Fraktion .
({1})
Wir sind aber auch offen für Anregungen von außen; denn
wir sind uns einig, dass es ein sehr komplexes und schwieriges Gesetz ist . Wir alle sind gut beraten, wenn wir auch
Experten und diejenigen, die mit dem Thema „regulierte
Selbstregulierung“ schon Erfahrungen haben, hören und
ihre Meinung in unsere Beratungen einbeziehen .
Ich möchte die Kritik wiederholen, dass es sehr schade
ist, dass die Beratungszeit so kurz ist . Wir hätten uns für
dieses Gesetz einfach mehr Zeit gewünscht . Aber es ist
schön, zu hören, dass die SPD-Fraktion bei vielen Punkten unserer Meinung ist . Deshalb sollten wir die Zeit nutzen, das Gesetz zu einem guten Gesetz zu machen .
({2})
Herr Klingbeil, bitte .
Ich freue mich darüber, dass sich beim geschätzten
Koalitionspartner bei diesem Thema endlich Einigkeit
andeutet . Ich will noch einmal die für uns wichtigsten
vier Punkte nennen: Richtervorbehalt beim Auskunftsanspruch, Bußgelder konkretisieren, deutliche Klarstellung, welche Netzwerke betroffen sind, und Prüfung der
regulierten Selbstregulierung . Wenn Herr Durz, der nach
mir sprechen wird, sagt: „Wir machen an alle vier Themen einen Haken“, dann würde das im Hinblick auf die
Berichterstattergespräche schon einiges erleichtern .
Vielen Dank fürs -
Herr Klingbeil, Stopp! Sie haben noch eine Sekunde
Redezeit .
({0})
- Ja, bei manchen ist eine Sekunde ziemlich lang, liebe
Kolleginnen und Kollegen . - Wollen Sie noch eine Zusatzfrage von Herrn von Notz zulassen?
Ja, klar . Gerne .
Gut .
Vielen Dank, Frau Präsidentin . - Vielen Dank, Herr
Kollege Klingbeil . Nach den Selbstgesprächen der Großen Koalition muss ich doch eine Nachfrage stellen,
({0})
weil ich da etwas nicht verstehe . Wenn es in der Union
eine einheitliche Linie gibt, wie verstehen Sie denn dann
die Äußerungen der Kollegen Bär und Jarzombek? Also
ich nehme eine große Lücke zwischen den Aussagen von
Herrn Kauder, der jetzt leider nicht mehr da ist, und denen der beiden Kollegen wahr . Gibt es eine sozialdemokratische Erklärtheorie, wie es zu diesem Delta kommen
kann?
({1})
Ich bin ausgebildeter Sozialwissenschaftler und kein
Sozialpädagoge .
({0})
Insofern kann ich nicht weiterhelfen . Ich habe aber wahrgenommen - und das ist ein wichtiges Signal -, dass die
Union dabei ist, sich auf konkrete Punkte zu einigen, die
wir in die Berichterstattergespräche einfließen lassen
können . Das wäre für uns wichtig, damit wir das Gesetz
in dieser Legislatur noch gründlich beraten und zum Abschluss bringen können .
({1})
Vielen Dank, Lars Klingbeil . - Schönen guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Letzter Redner in
dieser lebendigen Debatte: Hansjörg Durz für die CDU/
CSU-Fraktion .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Soziale Medien bieten großartige Möglichkeiten und Chancen der Kommunikation und sind heute wesentlicher
Bestandteil unseres öffentlichen Diskurses. Sie haben
sich in den vergangenen Jahren extrem dynamisch weiterentwickelt und haben eine enorme Reichweite . Beispielsweise wird Facebook von 1,9 Milliarden Menschen
weltweit genutzt . In Deutschland nutzen das Netzwerk
etwa 25 Millionen Menschen jeden Monat .
Mit dieser Entwicklung geht eine spürbare Veränderung des öffentlichen Diskurses im Netz sowie in der Gesellschaft insgesamt einher . Neben all den positiven Aspekten sehen wir leider zunehmend auch Beleidigungen,
Hass, Diskriminierungen, Aufrufe zur Hetze, ja, sogar
Mord . In den letzten Wochen und Monaten sind immer
wieder Videos von Gewalttaten auf Internetplattformen
veröffentlicht worden, so schlimm, dass man sie gar
nicht beschreiben will. Nach der Veröffentlichung eines
Mordvideos auf Facebook hat Mark Zuckerberg kürzlich
Konsequenzen zugesagt und die Einstellung von Tausenden zusätzlichen Mitarbeitern angekündigt, die löschen
sollen .
Bereits heute müssen - wir haben das mehrfach gehört - soziale Netzwerke rechtswidrige Inhalte löschen,
wenn sie Kenntnis davon erlangen . Die Diensteanbieter
kommen dieser Löschpflicht zwar grundsätzlich nach,
allerdings nicht in dem erforderlichen Umfang und vor
allem oft viel zu spät . Dabei spielt der Faktor Zeit eine
ganz entscheidende Rolle . Auch wenn rechtswidrige Inhalte relativ zeitnah gelöscht werden, haben bis dahin
möglicherweise Hunderttausende Menschen die Inhalte
gesehen, kopiert und weiterverbreitet . Empirische Daten belegen, dass trotz der rechtlichen Verpflichtung oft
zu wenig passiert und rechtswidrige Inhalte zu lange im
Netz verbleiben .
Aus diesem Grund hat Justizminister Maas zunächst
das Gespräch mit den Diensteanbietern gesucht . Es wurden runde Tische organisiert und sogar eine Taskforce
eingerichtet. Die Bemühungen, über die Selbstverpflichtung der Anbieter eine Verbesserung zu erreichen, haben
aber nicht den dringend notwendigen Erfolg gebracht .
Es kam zwar Bewegung in die Diskussion . Der Druck,
zu handeln, wurde erhöht; aber bislang ist viel zu wenig
passiert .
Als Unionsfraktion haben wir uns intensiv mit der
Entwicklung von und auf sozialen Medien auseinandergesetzt . Wir haben einen Fraktionskongress zum Thema
„Hassrede und Fake News“ veranstaltet,
({0})
mit Wissenschaftlern und Experten diskutiert und anschließend ein Positionspapier entwickelt . Wir sehen,
dass wir der Entwicklung nicht nur, aber auch mithilfe
gesetzlicher Regelungen begegnen müssen . Das Positionspapier ist für uns Grundlage dafür . Es steht seit dem
Fraktionskongress im Januar dieses Jahres . Von Volker
Kauder bis Thomas Jarzombek und Nadine Schön waren
alle anwesend . Alle tragen dieses Positionspapier mit .
Das ist unsere Grundlage . Da besteht Einigkeit in der
Union .
({1})
Mit der gesetzlichen Regelung verfolgen wir das
klare Ziel, wirksame Verfahren zu implementieren, um
strafrechtlich relevante Inhalte zu identifizieren und die
Rechtsdurchsetzung zu stärken . Es gilt aber auch, die
oftmals schwierige Abwägung zwischen Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsrechten sicherzustellen und sehr
genau darauf zu achten, dass die Regelung keine Eigendynamik zulasten der Meinungsfreiheit auslöst . Ein Löschen auf Vorrat darf und wird es mit uns nicht geben .
Ich möchte drei Punkte aus dem vorliegenden Gesetzentwurf herausgreifen und die Frage stellen, ob die grundsätzlich gute Absicht des Gesetzentwurfs tatsächlich zu
einem guten Ergebnis führt . Der Kollege Klingbeil wird
einige Punkte erkennen, bei denen auch er Änderungsbedarf angemeldet hat .
Erstens . Sehen wir uns den Anwendungsbereich an .
Wen betrifft das Gesetz? In § 1 steht:
Dieses Gesetz gilt für Telemediendienstanbieter, die
mit Gewinnerzielungsabsicht Plattformen im InterDr. Konstantin von Notz
net betreiben, die es Nutzern ermöglichen, beliebige
Inhalte mit anderen Nutzern auszutauschen, zu teilen oder der Öffentlichkeit zugänglich zu machen …
Ausgenommen sind soziale Netzwerke im Inland mit weniger als 2 Millionen Nutzern .
Nach dieser Definition wären zunächst sehr viele Plattformen eingeschlossen . Zwar wurde der Anwendungsbereich in der Begründung näher definiert, es stellt sich
aber die Frage, ob dies ausreichend ist und nicht einer
Klarstellung in § 1 bedarf . Ich meine schon . In der Begründung wird ausgeführt, dass mit dem Gesetz maximal
zehn soziale Netzwerke erfasst werden sollen . Es muss
aber eindeutig klargestellt sein, dass wir nicht beispielsweise E-Mail-Dienste oder Bewertungsportale oder auch
innovative Geschäftsmodelle von Start-ups durch unverhältnismäßige Auflagen verhindern bzw. unmöglich machen . In diesem Zusammenhang müssen wir auch über
den Schwellenwert von 2 Millionen Nutzern sprechen .
Es gibt Plattformen, die, je nach Definition, möglicherweise keine 2 Millionen Nutzer in Deutschland haben,
aber durchaus gesellschaftlich relevant sind . Also, ich
denke, eine Konkretisierung des Anwendungsbereichs
ist zwingend erforderlich .
Der zweite Themenbereich, den ich herausgreifen
möchte, sind die Qualitätsstandards . Im Gesetz werden
vollkommen zu Recht Standards zum Umgang mit Beschwerden eingeführt, Standards aus dem Land und in
dem Land, in dem die Dienste angeboten werden . Es ist
absolut richtig, den Plattformen Qualitätsstandards abzuverlangen . Das ist auch ein zentraler Ansatz des Entwurfs. Er umfasst die verpflichtende Einführung eines
Beschwerdemanagements, regelmäßige Berichtspflichten, die Verhängung von Bußgeldern bei Verstößen gegen
die Berichtspflichten und bei Fehlen eines Beschwerdemanagements . Insbesondere halten wir die in § 5 geforderte Benennung eines inländischen Zustellungsbevollmächtigten für zwingend notwendig . Dies sind absolut
sinnvolle Maßnahmen, übrigens alles Punkte unseres Positionspapiers. Diese Maßnahmen schaffen Transparenz
und führen einen Mechanismus ein, wie mit Beschwerden umgegangen werden muss .
Drittens . Die meistdiskutierte und zentrale Frage ist:
Wer entscheidet, was gelöscht wird und nach welchen
Kriterien? Wie bereits erwähnt, sind Plattformen auch
heute schon verpflichtet, rechtswidrige Inhalte zu löschen, wenn sie Kenntnis davon haben . Dies geschieht
bisher nach unternehmensinternen Kriterien auf eine intransparente Art und Weise . Bereits diese bisherige Praxis ist zu hinterfragen . Wollen wir tatsächlich den Unternehmen die alleinige Entscheidung darüber überlassen,
welche Inhalte gelöscht werden und welche nicht? Ich
meine, nein . Wir brauchen einen rechtsstaatlichen Mechanismus, der einer Entscheidung über die Löschung
oder den Verbleib eines Inhalts vorgeschaltet werden
muss, einen Mechanismus, der sicherstellt, dass die nicht
eindeutig rechtswidrigen Inhalte einer sorgfältigen rechtlichen Prüfung unterzogen werden . Er würde darüber
hinaus für Rechtssicherheit aufseiten der Betreiber und
Nutzer sorgen und einer unverhältnismäßigen Löschpraxis vorbeugen .
({2})
Aus dem Bereich des Jugendmedienschutzes kennen
wir das Modell der Beschwerdestellen, die sehr erfolgreich mit der Justiz zusammenarbeiten . Dieses Modell
der regulierten Selbstregulierung, das von allen Rednern
der Union bisher genannt wurde, kann ein Vorbild sein;
denn dies würde bedeuten, dass nicht die Plattformbetreiber entscheiden, sondern eine vom Staat kontrollierte und von den Unternehmen finanzierte Instanz. Diese
prüft alle kritischen Sachverhalte mit geschultem Personal nach klaren Kriterien . Über solch ein Modell müssen
wir im parlamentarischen Verfahren reden .
({3})
Ob ein Inhalt rechtswidrig ist oder nicht, das liegt in
vielen Fällen klar auf der Hand . In mindestens so vielen
Fällen können sich aber hervorragende Juristen stundenlang streiten und am Ende zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen kommen . Die Grenze zwischen der Meinungsfreiheit und der Verletzung von Persönlichkeitsrechten
ist oft fließend und bedarf einer eingehenden fachlichen
Prüfung .
Die Intention des Gesetzes ist absolut richtig: Wir
wollen und müssen eine Verbesserung bei der Rechtsdurchsetzung erreichen . Was rechtswidrig ist, muss aus
dem Netz verschwinden, so schnell wie möglich . Opfern
von Hasskriminalität und anderen strafbaren Inhalten
muss zu ihrem Recht verholfen werden . Ein Löschen auf
Vorrat darf und wird es mit uns aber nicht geben .
Vielen Dank .
({4})
Vielen Dank, Kollege Durz . - Damit schließe ich die
Aussprache .
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/12356 und 18/11856 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . - Sie sind damit einverstanden . Dann sind die Überweisungen so beschlossen .
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die Plätze zu
wechseln bzw . Platz zu nehmen .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 39 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Marieluise Beck ({0}), Annalena Baerbock,
Dr . Franziska Brantner, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Historische Verantwortung Deutschlands für
die Ukraine
Drucksache 18/10042
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss
Bevor ich die Aussprache eröffne, möchte ich im Namen aller Kolleginnen und Kollegen einige Gäste auf der
Tribüne recht herzlich begrüßen . Ich begrüße den Botschafter der Ukraine sowie Vertreter und Vertreterinnen
der Botschaften von Israel, Belarus, Polen, Litauen, Lettland und Estland . Seien Sie uns herzlich willkommen!
({1})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . - Ich höre und
sehe keinen Widerspruch . Dann ist das so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache und gebe Marieluise Beck
das Wort für Bündnis 90/Die Grünen .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Mich freut, dass so viele mittel- und osteuropäische Vertretungen an dieser Debatte teilnehmen; denn wir führen
hier eine europäische Debatte .
In diesem März wurde die deutsch-ukrainische Schriftstellerin Natascha Wodin mit dem Preis der Leipziger
Buchmesse ausgezeichnet . Natascha Wodins Eltern wurden als Zwangsarbeiter nach Deutschland verschleppt .
Ihre Mutter beging Selbstmord . Die Mutter kam, wie
Natascha Wodin heute weiß, aus Mariupol . Auch wer in
Yad Vashem in das Kindermausoleum geht, begegnet der
Ukraine . Von den unzähligen jüdischen Kindern, deren
Namen dort verlesen werden, stammt ein großer Teil aus
der Ukraine .
Der Angriff auf Polen am 1. September 1939 und der
deutsche Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion gehören zum politischen Gedächtnis Deutschlands . Doch
es war nicht nur das heutige Russland, das diesen Vernichtungskrieg erlitten hat . Die Territorien, auf denen
sich dieser Vernichtungskrieg abgespielt hat, heißen heute Polen, Litauen, Lettland, Estland, Belarus, Russland
und eben auch Ukraine . In diesen Gebieten fanden die
Ausmerzung der jüdischen Bevölkerung und der gnadenlose Krieg gegen die slawische Zivilbevölkerung statt .
Timothy Snyder zeigt uns in seinem Bloodlands, dass
es diese Territorien zwischen Berlin und Moskau waren,
die unter dem totalitären Wahn des 20 . Jahrhunderts besonders zu leiden hatten . Seit 1941 wüteten Wehrmacht
und SS unter der jüdischen und slawischen Bevölkerung,
die zuvor schon den Bürgerkrieg, den Holodomor und
Stalins Terror erlitten hatte . In der Roten Armee kämpften unter anderem Millionen ukrainische Soldaten . Sie
spielten eine maßgebliche Rolle bei der Befreiung des
Vernichtungslagers Auschwitz .
Die Kreml-Propaganda erweckt heute systematisch
den Eindruck, der deutsche Angriffskrieg sei allein gegen Russland geführt worden . Mehr noch: Die Ukraine
wird in dieser Lesart vom Opfer des Vernichtungskrieges pauschal zum Nazikollaborateur umgedeutet . Als vor
drei Jahren Millionen von Ukrainern für Unabhängigkeit
und Freiheit auf die Straße gingen, wurde insinuiert, diese Proteste seien stark getrieben von Bandera-Faschisten
und Antisemiten . Leider traf das auch bei uns in Deutschland auf fruchtbaren Boden .
Der Respekt vor den Millionen Opfern in den Zwischenländern verlangt von uns einen neuen Blick auf diesen Teil der Geschichte . Dazu gehört auch die Tatsache,
dass mit dem Hitler-Stalin-Pakt die beiden totalitären
Systeme für lange Zeit halbe-halbe machten, ganz in der
Tradition der monarchischen Imperien in Jahrhunderten
zuvor; wir alle haben in der Schule etwas von den polnischen Teilungen gehört . Diese Erfahrung ist tief im kollektiven Gedächtnis Polens und der baltischen Republiken verankert . Deshalb reagieren sie bis heute allergisch
auf jede Neuauflage einer Achse Berlin-Moskau.
Historische Verantwortung ist nicht gleichzusetzen
mit Schuld . Aber Scham über das, was der deutsche Stiefel auf ukrainischem Boden angerichtet hat, sollten wir
empfinden.
({0})
Wenn Geschichte etwas bedeutet, dann die Verpflichtung, der Ukraine heute in ihrem Streben nach Freiheit
und Würde zur Seite zu stehen . Ja, wir haben auch eine
historische Bürde gegenüber Russland abzutragen . Es
kann hier nicht darum gehen, das eine gegen das andere
auszuspielen . Dennoch dürfen die Zwischenländer nicht
erneut zur Verhandlungsmasse mit dem Kreml gemacht
werden, schon gar nicht aus Berlin .
({1})
In Jalta wurde Europa gegen den Willen der Osteuropäer geteilt . Europa endet aber nicht an den Grenzen
des Baltikums und Polens . Die Mittel-Osteuropäer zahlten für diesen Weltkrieg mit ihrer Freiheit . Sie zählen zu
Recht auf unsere Unterstützung, wenn sie dem freiheitlichen Europa angehören wollen .
({2})
Noch ein Wort zur Ukraine, weil ich weiß, dass hier
die Frage aufgeworfen wird: Warum dieser Schwerpunkt
auf die Ukraine? Wenn ich die Ukraine so hervorhebe,
dann weil es das einzige Land in diesen Bloodlands ist,
in dem gegenwärtig Krieg geführt wird . Auf der Tribüne
sitzen Frauen und Mütter von Soldaten, die im Donbass
verschwunden sind .
Nicht nur der Vernichtungskrieg tobte auf dem Boden
der Zwischenländer; es gab auch die systematische Verschleppung von Menschen als Zwangsarbeiter . Das traf
besonders die Ukraine . Historiker gehen davon aus, dass
zwei Drittel der sogenannten Ostarbeiter aus der Ukraine
stammten . Sie haben bei unseren Großeltern und Eltern
auf Bauernhöfen, in Familienbetrieben, in Fabriken gearbeitet, oft unter entsetzlichen Bedingungen . Es ist an
der Zeit, auch diesen Teil der Geschichte in den Blick zu
nehmen. Ich hoffe, dass der Deutsche Bundestag diese
Debatte weiter verfolgen wird, dass es nicht die erste und
letzte war .
Schönen Dank .
({3})
Vizepräsidentin Claudia Roth
Vielen Dank, Marieluise Beck . - Nächster Redner:
Dr . Christoph Bergner für die CDU/CSU-Fraktion .
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der vorliegende Antrag appelliert an die historisch-moralische
Verantwortung Deutschlands gegenüber der Ukraine .
Wir nehmen diesen Appell, verehrte Frau Kollegin Beck,
sehr ernst . Die Gräuel während des von Deutschland
ausgehenden rassistisch motivierten Okkupationskrieges
und der barbarische Zivilisationsbruch in Polen, im Baltikum, in der Ukraine, in Belarus und Russland, in der
Region, die Timothy Snyder, wie Sie schon sagten, als
Bloodlands bezeichnete, wo antisemitischer und antislawischer Rassismus furchtbares Leid verursachte, werden
im Antrag eindrücklich beschrieben .
Es gibt mehrere Anlässe, die historische Erinnerung
an diese Ereignisse in unserem Parlament zu thematisieren . Ein für mich besonders wichtiger Bezug war der
75 . Gedenktag des Massakers in der Schlucht von Babi
Jar im September letzten Jahres . Eine wichtige Botschaft,
mit der ich dieses Gedenken verbinden möchte, finde ich
in der Rede des damaligen Bundespräsidenten Joachim
Gauck, die er zu diesem Anlass in Kiew gehalten hat: In
dem Maß, in dem es uns gelingen wird, dem Gedächtnis
Raum zu geben, „wird auch das gemeinsame Erinnern
möglich sein, das wir brauchen, dringend brauchen, weil
die Geschichte, um die es geht, eine gemeinsame ist“ .
Weiter sagte er:
Antworten auf unsere Fragen werden wir nur gemeinsam finden. Dies ist kein Plädoyer für die
Verwischung von Verantwortlichkeiten, sondern
vielmehr für eine grenzübergreifende, gemeinsame
Forschung, für eine Forschung, die neuerlich modischen Versuchungen widersteht, die Wahrheit durch
das Prisma der Nation zu suchen .
Diese Worte des Bundespräsidenten machen deutlich: Wir Deutsche müssen uns der Verantwortung bewusst bleiben, die auf Deutschland als Rechtsnachfolger
der Dritten Reiches lastet . Wir sind in einer besonderen
Pflicht, Lehren aus der Geschichte zu ziehen. Wir sollten
Formen der Aufarbeitung suchen, die im Sinne nachhaltiger Aussöhnung gemeinschaftlich vollzogen werden
können . Das gilt nicht nur für die Bloodlands im Allgemeinen, sondern besonders für die Ukraine, gerade angesichts der gewaltigen Herausforderungen, die die Gesellschaft dieses Landes gegenwärtig zu bewältigen hat .
Ich möchte in diesem Zusammenhang ausdrücklich
die Einrichtung der Deutsch-Ukrainischen Historikerkommission begrüßen, die 2015 erfolgte . Im April 2016
haben Frank-Walter Steinmeier und sein damaliger ukrainischer Kollege Pawlo Klimkin die Schirmherrschaft
über die Kommission übernommen . Seit März 2016 wird
die Kommission mit Mitteln der Auswärtigen Kulturund Bildungspolitik finanziert. Zwei Aspekte sehe ich als
zentrale Aufgaben dieser Kommission an: die Arbeit am
gegenseitigen Verstehen und die gemeinsame Aufarbeitung der totalitären Vergangenheit .
Zum gegenseitigen Verstehen . Selbst die Historikerzunft muss eingestehen, sich in der Vergangenheit zu
wenig mit der ukrainischen Geschichte als eigenständige
Geschichte beschäftigt zu haben . Der renommierte deutsche Historiker Karl Schlögel hat das neulich in einem
selbstkritischen Ausruf eingestanden - Zitat -:
Ich musste feststellen, dass man sich ein Leben lang
mit dem östlichen Europa, mit Russland und der
Sow jetunion beschäftigen konnte, ohne eine genauere Kenntnis von der Ukraine zu besitzen . . .
Das betreffe nicht nur ihn, sondern auch manche andere
seiner Zunft, die so spät zu dieser Einsicht kamen . - Wollen wir den Ukrainern auf dem Weg zu einem souveränen
und modernen Staat helfen, so müssen wir die Hintergründe verstehen, die diese Gesellschaft geformt haben,
bevor wir vorschnelle Schlüsse ziehen .
Zum zweiten Aspekt . Es gehört zu meiner Grundüberzeugung, dass der Übergang zu demokratischen Gesellschaften im postsowjetischen Raum insbesondere dort
nicht gelungen ist, wo es keine echte Aufarbeitung der
totalitären Vergangenheit gab . Das schließt die Aufarbeitung der totalitären Ära des Stalinismus ein . Kern und
Ziel unserer gemeinsamen Vergangenheitsbewältigung
ist die umfassende Aufarbeitung der totalitären Vergangenheit . In seiner letzten Publikation Black Earth erweitert Timothy Snyder sein Konzept der Bloodlands um die
These, dass dem Zivilisationsbruch im Einflussbereich
beider totalitären Regime - Hitlers und Stalins - eine
systematische Vernichtung von Staat und Recht voranging .
Damit komme ich zu den Schlussfolgerungen . Wir haben eine historisch-moralische Verpflichtung, die Ukraine am europäischen Friedenswerk zu beteiligen .
({0})
Wir müssen zur Hilfe bereit sein, wenn es darum geht,
das Land zu stabilisieren, seine Institutionen zu stärken
und dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit zur Geltung zu
verhelfen . Der vorgegebene Rahmen ist zurzeit das europäische Nachbarschaftskonzept sowie zahlreiche bilaterale Kooperationen, die den Assoziierungsprozess der
Ukraine flankieren. Ich habe nicht die Zeit, alle Aktivitäten aufzuführen, die beispielsweise im Rahmen des
Haushaltes des Auswärtigen Amtes in der Auswärtigen
Kultur- und Bildungspolitik erfolgen .
Wir wollen ein Zeichen für die Aufarbeitung des totalitären Zeitalters des 20 . Jahrhunderts auf der Grundlage
europäischer Werte setzen und einige Defizite auf diesem
Gebiet ausräumen . Die ukrainische Emanzipationsbewegung spätestens seit dem Maidan gibt uns dafür einen
guten Anlass . Die Menschen, die in den Februartagen
2014 ihr Leben für die europäische Idee lassen mussten,
verpflichten uns dazu.
2012 erhielt die Europäische Union den Friedensnobelpreis . Ich bitte noch einmal, sich die Begründung
für die Verleihung dieses Friedensnobelpreises deutlich
zu machen, damit sichtbar wird, dass die Europäische
Union das sichtbarste und denkbar beste Produkt gemeinsamer Kriegsfolgenaufarbeitung ist . Deshalb ist es
so ungeheuer wichtig, dass wir unsere nationale historisch-moralische Verpflichtung, die wir gegenüber der
Ukraine, aber auch gegenüber den anderen Bloodlands
haben, in unsere europäische Politik einbinden, dass wir
die Hand zur Nachbarschaft ausstrecken und Perspektiven setzen und dass wir bereit sind, bei den gleichen Verpflichtungen, die wir gegenüber Russland haben, uns vor
faulen Kompromissen zu bewahren .
Denn es ist zwar bedauerlich, aber wir haben uns damit auseinanderzusetzen -
Denken Sie an Ihre Redezeit, bitte .
- letzter Satz, Frau Präsidentin -: Die gegenwärtige
russische Politik sieht in einem erfolgreichen ukrainischen Weg eine Herausforderung oder gar eine Gefahr
für das eigene totalitäre Konzept . Dem dürfen wir im Interesse der gemeinsamen europäischen Werte nicht nachgeben .
Vielen Dank .
({0})
Vielen Dank, Dr . Bergner . - Nächster Redner: Andrej
Hunko für die Linke .
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir
sprechen heute über den Antrag der Grünen „Historische
Verantwortung Deutschlands für die Ukraine“ . Die Linke
sagt ganz klar: Ja, es gibt eine historische Verantwortung
Deutschlands gegenüber der Ukraine, aber auch gegenüber den anderen Ländern,
({0})
gegenüber Russland, Belarus, Polen und dem Baltikum .
Die historische Verantwortung ergibt sich in erster
Linie aus dem ungeheuerlichsten Eroberungs-, Versklavungs- und Vernichtungskrieg, den die moderne Geschichte kennt und dem schätzungsweise 27 Millionen
damalige Sowjetbürger zum Opfer gefallen sind, darunter neben Millionen Russen auch viele Ukrainer .
Die Erinnerung an dieses Menschheitsverbrechen ist
meines Erachtens viel zu wenig ausgeprägt . Die wichtigste Lehre sollte es sein, alles zu tun, um im Osten gegenüber der Ukraine und gegenüber Russland eine Politik des Friedens und des Ausgleichs zu entwickeln . Das
wäre historische Verantwortung .
({1})
Aber davon sind wir meilenweit entfernt, und das wissen Sie . Schlimmer ist: Mit der NATO-Osterweiterung,
der Durchsetzung des EU-Ukraine-Assoziierungsabkommens und der Unterstützung des verfassungswidrigen Umsturzes im Februar 2014, aber auch durch die
entsprechenden russischen Reaktionen auf der Krim und
im Donbass wurde die historisch tief zerrissene Ukraine
weiter polarisiert .
Bis heute werden die Maidan-Proteste und der folgende Umsturz - das haben wir eben gehört - von der
Bundesregierung und auch von den Grünen glorifiziert,
obwohl es dort eine starke Hegemonie rechtsnationalistischer Kräfte gab, die sich auf den Nazikollaborateur
Bandera bezogen . Sein Bild war überlebensgroß auf dem
Maidan zu sehen . Militante Gruppen, die sich auf ihn beziehen, spielten in dieser Entwicklung eine Schlüsselrolle . Hier wäre es historisch verantwortungsvoll gewesen,
zu differenzieren, anstatt diese Bewegung, die natürlich
nicht nur aus Nazis bestand - das ist klar -, sie spielten
aber eine große Rolle, einseitig zu protegieren bis hin
zum Besuch des damaligen Außenministers Westerwelle .
Die historische Rolle Banderas und seiner Organisation Ukrainischer Nationalisten wird im Antrag der Grünen trotz einiger Auslassungen beschrieben . Gleichzeitig wird beklagt - das haben wir eben gehört -, Bandera
diene der russischen Propaganda als Verkörperung eines
ukrainischen Faschismus . Was denn sonst? Bandera und
seine Organisation waren glühende Antisemiten sowie
Polen- und Russenhasser und an Massakern beteiligt, die
Tausende Zivilisten das Leben gekostet haben .
Als Bandera erstmals im Jahre 2010 vom damaligen
Präsidenten Juschtschenko zum „Helden der Ukraine“
erklärt wurde, protestierten nicht nur Russland, sondern
auch Polen, das EU-Parlament, mehrere jüdische Organisationen sowie natürlich auch zahlreiche Ukrainer gegen
diese Entscheidung . Deutsche historische Verantwortung
wäre es, diese Kollaboration der OUN, der Organisation
Ukrainischer Nationalisten, mit den Nazis aufzuarbeiten
und sich ganz unzweideutig von Kräften in dieser Tradition zu distanzieren .
({2})
Wie sieht die Lage heute in der Ukraine aus? Darüber
wurde gar nicht gesprochen . Vor wenigen Tagen wurden
fast alle russischen sozialen Netzwerke in der Ukraine
durch einen Erlass von Poroschenko gesperrt - da wäre
sicherlich selbst Erdogan vor Neid erblasst -, darunter
zum Beispiel das soziale Netzwerk VKontakte, dessen
Verbreitungsgrad in der Ukraine mit dem von Facebook
in Deutschland vergleichbar ist, und die Suchmaschine
Yandex. Diese Sperrung wurde zu allem Überfluss von
der NATO begrüßt . Ich habe heute Morgen noch einmal
bei der NATO nachgefragt: Die NATO unterstützt diese
Sperrung. Ich finde das unerträglich. Frau Beck, das hat
doch nichts mit dem Streben nach Freiheit zu tun, wie Sie
es hier erzählen .
({3})
Ebenfalls vor einigen Tagen wurde der 25-jährige
Denis Kindrat von einem Gericht in Lwiw zu zweinhalb
Jahren Gefängnis verurteilt, weil er in den sozialen Netzwerken Lenin-Zitate gepostet hatte . Wo leben wir denn?
({4})
Grundlage dafür ist ein Gesetz, das sogenannte Antikommunisierungsgesetz, das die Venedig-Kommission des
Europarates sehr deutlich kritisiert hat . Hier wäre statt
Schönrederei ein deutliches Wort der Bundesregierung
oder auch dieses Parlamentes zu erwarten gewesen .
({5})
Ich will zusammenfassen: Die Ukraine und vor allen Dingen die Bevölkerung in der Ukraine werden als
Frontstaat in einem neuen Kalten Krieg keine Zukunft
haben . Die Bevölkerung der Ukraine ist ebenso wie die
anderen sogenannten Zwischenvölker, die Sie genannt
haben, mehr denn je darauf angewiesen, dass es zur Entspannung kommt, dass es zu einem Ausgleich zwischen
Ost und West kommt, dass es zu einem guten Verhältnis
zu allen Nachbarn kommt . Dafür tritt die Linke ein .
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit .
({6})
Vielen Dank, Kollege Hunko . - Nächste Rednerin:
Dr . Ute Finckh-Krämer für die SPD-Fraktion .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer oben auf den Tribünen! Ich erkenne genau wie alle Vorredner die historische Verantwortung für die Ukraine und die anderen von
Deutschland besetzten Territorien der ehemaligen Sowjetunion uneingeschränkt an und möchte daran erinnern,
dass deutsche Nichtregierungsorganisationen wie Aktion Sühnezeichen Friedensdienste in diesen Territorien
schon vor dem Ende der Sowjetunion aktiv waren .
Ich selber bin mehr zufällig 1983 nicht in Babi Jar, wo
ASF schon damals aktiv war, sondern in Chatyn gewesen . Ich bin mit einer anderen kirchlichen Gruppe noch
zu Zeiten der Sowjetunion in Leningrad gewesen und
habe dort das beeindruckende Hungermuseum besucht .
Egal an welchem Gedenkort man gewesen ist, es lässt
einen nicht wieder los . Ein solcher Besuch gibt einem
eine Vorstellung davon, was diese Länder Fürchterliches
durchgemacht haben .
({0})
Die Konsequenz darf nicht nur sein, zu überlegen,
wie wir der historischen Verantwortung gerecht werden
können . Vielmehr müssen wir - dieser Punkt wurde noch
nicht genannt - jeder Schlussstrichdebatte, jeder Debatte, die zum Ziel hat, unsere historische Verantwortung
zu relativieren, entschieden entgegentreten, und zwar
in unserer gesamten Gesellschaft und nicht nur hier im
Bundestag .
({1})
Die entscheidende Frage lautet, was daraus für unsere Zusammenarbeit mit den mittel- und osteuropäischen Staaten folgt, sowohl mit denen, die damals zum
Warschauer Pakt gehört haben, als auch mit denen, die
einst zur Sowjetunion gehört haben . Es gibt historische
Erfahrungen, auf die wir aufbauen können, nämlich die
Erfahrungen mit der deutschen Teilung . Die Situation im
Verhältnis der Ukraine zu Russland ähnelt derjenigen,
die wir zwischen 1949 und 1989 in Deutschland hatten .
Es gibt viele verwandtschaftliche Beziehungen zwischen
den Menschen, die in der Ukraine leben, und den Menschen, die in Russland leben . Nach den Zahlen, die ich
kenne, hat ein Drittel der ukrainischen Bevölkerung Verwandte in Russland . Umgekehrt ist es ähnlich . Ob die
russischsprachigen sozialen Netzwerke in der Ukraine
noch zugänglich sind, betrifft nicht nur die Pressefreiheit,
sondern auch die Frage, ob Europa diese Kontakte, wie
sie auf ähnliche Weise zwischen der Bundesrepublik und
der DDR bestanden, erhalten und so eine Kommunikation zwischen diesen beiden Ländern auf der persönlichen
Ebene ermöglichen will .
({2})
Genauso wichtig ist die Rolle, die Deutschland im
Geiste der Entspannungspolitik von Willy Brandt, der
nicht nur einen Ausgleich mit der Sowjetunion, sondern auch mit Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei gesucht hat, spielen kann . Was müssen wir tun, um
gutnachbarschaftliche Beziehungen zwischen den ehemaligen Sowjetrepubliken zu schaffen? Wie können wir
die anderen Länder einbeziehen, wenn es etwa um die
Demokratisierung in der Ukraine und die Weiterentwicklung der ukrainischen Verfassung geht .
Aus meiner Sicht war Folgendes ein sehr guter Ansatz: Damals, als die Gewalt auf dem Maidan eskalierte, ist der deutsche Außenminister zusammen mit dem
französischen und dem polnischen Außenminister nach
Kiew gefahren, um zu einer Gewaltdeeskalation beizutragen . Damit haben ein Staat, der im Zweiten Weltkrieg aufseiten der Sowjetunion gekämpft hat, ein Staat,
der besonders gelitten hat und ein Nachbar der Ukraine ist - ich meine Polen -, und Deutschland gemeinsam
Verantwortung für den europäischen Nachbarn Ukraine
übernommen. Das Normandieformat, das geschaffen
wurde, um zu versuchen, den Bürgerkrieg mit russischer
Einmischung in der Ostukraine zu deeskalieren, hat sich
als tragfähig erwiesen . Polen ist zwar nicht Mitglied dieser Verhandlungsgruppe, wird aber von Deutschland und
Frankreich eng eingebunden .
({3})
Insofern bedeutet Verantwortung zu übernehmen,
alles zu tun, um den Bürgerkrieg in der Ostukraine zu
beenden . Dabei geht es um die Beteiligung DeutschAndrej Hunko
lands an der Monitoring Mission und an immer neuen
Vorschlägen, wie man zu einer Deeskalation bzw . zu einem Waffenstillstand, der Voraussetzung für einen Friedensprozess ist, kommen kann . Es geht aber auch um die
ständigen Bemühungen um die Östliche Partnerschaft
mit allen Staaten, die sich als ehemalige Sowjetrepubliken zu Europa zählen und bis auf Belarus Mitglieder
des Europarates sind . Mit diesen Staaten unterhalten wir
enge Beziehungen und wollen das auch weiter tun . Dazu
gehören Städtepartnerschaften, und dazu gehört die gemeinsame Arbeit im Europarat . Weiter gehören dazu zivilgesellschaftliche - zum Beispiel kulturelle - Kontakte .
Damit werden wir, glaube ich, unserer Verantwortung so
gut gerecht, wie wir es angesichts der unvergleichlichen
Verbrechen des Zweiten Weltkrieges nur tun können .
Danke schön .
({4})
Vielen Dank, Ute Finckh-Krämer . - Nächste Rednerin
ist Elisabeth Motschmann für die CDU/CSU-Fraktion .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich beginne mit einem Zitat von Roman Herzog:
Europäische Identität bedingt die Herausbildung eines europäischen Gedächtnisses, das das Gemeinsame an Verantwortung ins Bewusstsein hebt .
Genau darum muss es gehen: um ein europäisches Gedächtnis und um gemeinsame Verantwortung .
Die ganze Tragik des NS-Vernichtungskrieges, aber
auch die stalinistischen Gräueltaten in Osteuropa - insbesondere in der Ukraine - sind bisher viel zu wenig im
europäischen Gedächtnis verankert bzw . in der deutschen
Öffentlichkeit bekannt. Deshalb ist es gut, dass der Antrag
der Grünen mit der notwendigen Aufarbeitung beginnt
und die historische Verantwortung Deutschlands hervorhebt . Mein ausdrücklicher Dank geht an Marieluise
Beck, meine Bremer Kollegin . Ich danke ihr dafür, dass
sie das hier vorgelegt hat .
({0})
Leider bezieht sich der Antrag - das wurde vielfach
erwähnt - jedoch isoliert auf die Ukraine . Andere osteuropäische Länder, zum Beispiel Polen, die baltischen
Staaten und Belarus, fehlen . Wir müssen aber festhalten:
Nirgendwo wurde der NS-Vernichtungskrieg so brutal
geführt wie in der Ukraine . Stellvertretend für die systematische Ermordung osteuropäischer Juden steht - auch
das wurde erwähnt - die Schlucht von Babi Jar . Hier
wurden innerhalb von 36 Stunden 33 761 Juden ermordet . Kinder wurden auf die Leichenberge geworfen und
lebendig begraben, um Munition zu sparen . Eine Steigerung der Grausamkeiten gibt es nicht, liebe Kolleginnen
und Kollegen . Dies darf sich nun wirklich nie wiederholen .
({1})
Heute befindet sich die Ukraine wegen der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim und der kriegerischen
Auseinandersetzung mit Russland im Donbass erneut in
einer äußerst kritischen Situation . Täglich sterben Soldaten und Zivilisten . Wieder ist die Ukraine Opfer . Diesmal
sind es die Machtinteressen Putins und sein Expansionswille, die das Land in eine tiefe Krise gestürzt haben .
Hier setzt unsere, aber auch die europäische Verantwortung ein .
({2})
- Ja, Sie sind Putinversteher und Russlandversteher . Deshalb sehen Sie das anders .
({3})
- Sie müssen es einfach ertragen, dass hier gesagt wird,
was im Augenblick in der Ukraine wieder an Unrecht
und Leid durch das russische System bzw . durch Putin
produziert wird .
({4})
In dem Antrag wird die Bundesregierung aufgefordert,
sich durch Bildungsarbeit und Kulturprojekte für eine Erinnerungskultur einzusetzen . Dies geschieht - das wurde
eben auch erwähnt - auf vielfältige Weise . Allerdings
müssen wir sagen: Der Blick zurück in die Geschichte
ist nur der eine Teil unserer Verantwortung . Der andere
Teil ist der Blick nach vorne . Das bedeutet, dass wir die
Ukraine bei ihren Bemühungen auf dem Weg zu einem
demokratischen Rechtsstaat unterstützen . Dieser Weg ist
schwer und weit . Demokratische Kräfte ringen mit den
Kräften, die verharren und alte Strukturen beibehalten
wollen . Dennoch sind erste Erfolge sichtbar . Vieles steht
noch aus: die Einrichtung von Korruptionsgerichten,
weitere Privatisierungen, die Justizreform, die bessere
Bezahlung der Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes. Die
Ukraine hat ein Umsetzungsproblem . Mit anderen Worten: Es fehlt noch ein Mindestmaß an politischer Kultur .
Dennoch: Die Maidan-Revolution - ich komme zum
Schluss, Frau Präsidentin - darf nicht umsonst gewesen
sein . Wir müssen der russischen Propaganda entgegentreten, die den Maidan als Werk militanter Rechtsextremisten diffamiert. Das kann nicht richtig sein. Wer immer
sich in die große Zahl der friedliebenden Demonstranten
eingeschleust hat ({5})
der Maidan war keine Bewegung von Rechtsextremisten .
({6})
Ich komme zum Schluss . Ich wollte so gerne noch
auf die vielfältigen Kulturprojekte, die wir dort verwirklichen, eingehen . Ich schließe damit, dass ich an dieser
Stelle ganz ausdrücklich unserer Bundeskanzlerin dafür
danken möchte, dass sie sich in unglaublich guter Weise
dafür einsetzt, dass das Abkommen von Minsk eingehalten wird, dass der Konflikt beigelegt wird, dass die Sanktionen eingehalten werden,
({7})
und dass sie viele Gespräche, Verhandlungen und Telefonate mit Putin - das ist schwer - geführt hat . Herzlichen
Dank, Angela Merkel .
({8})
Vielen Dank, Elisabeth Motschmann . - Nächster Redner: Dr . Fritz Felgentreu für die SPD-Fraktion .
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Nad
Bab’im Jarom pamjatnikow net“, „über Babi Jar, da steht
keinerlei Denkmal“ - dieser berühmte Stoßseufzer am
Anfang von Jewgenij Jewtuschenkos monolithischem
Gedicht über das Massaker an den Kiewer Juden im
Herbst 1941 wirkt auf mich ein bisschen wie eine abschließende Verdichtung vieler Beweggründe für Ihren
Antrag, liebe Frau Beck . Im übertragenen Sinne kann
dieser Ort, der als denkmalsloser in die Weltliteratur
eingegangen ist, für das Verhältnis immer noch zu vieler Deutscher zur Ukraine stehen . Der Ukraine scheint
gleichsam die Landmarke, das Erkennungsmerkmal, zu
fehlen . Es fällt zu vielen von uns immer noch schwer,
neben dem gewaltigen Russland, das so großen Raum im
kollektiven Bewusstsein in Anspruch nimmt, die Ukraine überhaupt als europäisches Land mit eigener Identität
und eigener Geschichte angemessen wahrzunehmen .
({0})
Darauf hat sie aber einen Anspruch, sowohl aus eigenem Recht als auch aus einer historischen Verantwortung
Deutschlands heraus . Es ist ein Verdienst des Antrags der
Grünen, diesen Anspruch zu begründen .
Die junge Generation, die bereits in einer unabhängigen Ukraine aufgewachsen ist, sieht sich mit unzähligen
Herausforderungen und Problemen konfrontiert . Es handelt sich dabei nicht nur, aber auch um Spätfolgen historischer Katastrophen, für die Deutschland einen großen
Teil der Verantwortung trägt . Zweimal hat Deutschland
auf ukrainischem Boden zerstörerisch Krieg geführt, ein
weiteres Mal brachte der Vormarsch der sowjetischen Armeen große Verwüstungen mit sich .
Dass der Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion
auf dem Boden der Ukraine ausgekämpft wurde, ist eine
Tatsache, die wir uns manchmal nicht genügend bewusst
machen .
({1})
Die Erschütterungen und inneren Konflikte, die diese
Kriege ausgelöst, und die Opfer, die sie gekostet haben,
zeichnet der vorliegende Antrag nach . Sie haben der
Ukraine ihren Stempel aufgedrückt . Ihre Nachwirkungen
sind bis heute spürbar .
Das Anliegen des Antrags und die einzige Forderung,
die er erhebt, erscheinen mir daher durchaus sinnvoll und
berechtigt . Die SPD-Fraktion wird aber den Antrag dennoch so, wie wir ihn heute lesen, nicht beschließen können . Gestatten Sie mir, drei Gründe dafür auszuführen .
Erstens bedarf eine Positionsbestimmung des Deutschen Bundestages in einer so wichtigen Frage einer gemeinsamen Anstrengung aller Fraktionen, die dazu bereit
sind .
({2})
Der Antrag einer einzigen Fraktion ist dafür doch eine zu
schmale Grundlage . Bisher haben Grüne, SPD und Union nicht zu einer gemeinsamen Haltung gefunden,
({3})
und mit der Fraktion der Linken dürfte sie gar nicht erreichbar sein .
Ob die Ausschussberatungen noch Fortschritte bringen werden, müssen wir ausloten .
Herr Felgentreu, erlauben Sie eine Zwischenfrage
oder eine Bemerkung von Frau Beck?
Ja bitte, gern .
Verehrter Herr Kollege, dieser Antrag war im September des vergangenen Jahres fertig . Ich habe über Monate
hinweg - das können die Kollegen von der SPD und von
der CDU/CSU bestätigen - darum geworben und gebeten, dass wir gemeinsam an diesem Antrag arbeiten, um
ihn gemeinsam einbringen zu können . Ich habe mit der
Einbringung gewartet bis November 2016, um ebendiese
Gelegenheit zu geben, daran zu arbeiten . Ich habe dann
weiterhin bis in die Fraktionsspitzen hinein trotz des Ärgers mit den Kollegen fast bis zu dem Punkt, an dem ich
dachte: „Ich nerve meine Kollegen“, immer wieder darum gebeten: Lasst uns gemeinsam etwas machen .
Vielleicht können wir das Ganze voranbringen . Wir
werden noch eine Debatte zur Östlichen Partnerschaft
haben . Ich lade beide Fraktionen dazu ein, an diesem
Antrag in der von Ihnen gewünschten Weise zu arbeiten .
Wir könnten ihn dann zu dieser Debatte über die Östliche
Partnerschaft gemeinsam einbringen . Es besteht bei uns
jede Offenheit für Ergänzungen und Veränderungen.
({0})
Das ist vielleicht ein ganz gutes Stichwort . Ich bin ja
kein Mitglied des Auswärtigen Ausschusses, wie Sie wissen, und ich bin deswegen nur aus zweiter Hand über die
Abstimmungsprozesse informiert, die im Hintergrund im
Laufe der letzten zwölf Monate stattgefunden haben .
({0})
Ich meine mich aber zu erinnern, dass ursprünglich ein
Problem im Umgang mit dem Vorschlag der Grünen darin lag, dass er eigentlich auf eine Stellungnahme zum
Jahrestag des Massakers von Babi Jar im vergangenen
Jahr ausgerichtet und dass der Beratungszeitraum relativ
kurz war .
Andererseits gab es zumindest bisher von grüner Seite
keine große Bereitschaft, den historischen Blickwinkel,
den sie einnehmen, um eine Perspektive auf die Gegenwart zu ergänzen .
({1})
Es ist schwierig gewesen, eine Abstimmung vorzunehmen; so habe ich es zumindest verstanden .
({2})
Herr Felgentreu, erlauben Sie eine Zwischenfrage
oder Bemerkung von Niels Annen?
Er möchte dazu wohl eine Stellungnahme abgeben .
Bitte schön .
Vielen Dank, Herr Kollege . - Ich glaube, wir müssen
das hier schon ein bisschen klarstellen .
Eben .
Es ist in der Tat richtig: Der Antragstext von Frau
Beck lag seit langem vor . Aber was Frau Beck hier nicht
erwähnt, ist, dass vonseiten der Koalitionsfraktionen
ebenfalls die Bereitschaft vorlag, darüber zu diskutieren .
Sie wissen, wir haben einen Koalitionsvertrag geschlossen . Normalerweise beschließen wir als Koalitionsfraktionen in diesem Parlament die Anträge, die wir gemeinsam in den Bundestag einbringen . Das heißt, es gab ein
großes Entgegenkommen . Aber wir wollten gemeinsam,
dass wir uns nicht - ich sage das in Anführungszeichen „nur“ über die Ukraine unterhalten, sondern dass wir einen gemeinsamen Antrag zu unserer Politik, was die Östliche Partnerschaft angeht, auf den Weg bringen - auch
aus dem Grund, den der Kollege Felgentreu hier gerade
vorgetragen hat: dass geschichtspolitische Beschlüsse
des Parlamentes einer großen gesellschaftlichen Debatte
bedürfen .
Das heißt, die Bereitschaft der Koalitionsfraktionen,
Impulse des grünen Antrags aufzunehmen, ist immer da
gewesen, ist aber von der sehr geschätzten Kollegin Beck
stets abgelehnt worden, weil sie, was ihr gutes Recht und
das Recht der Grünenfraktion ist, darauf bestanden hat,
einen Antrag - in Anführungszeichen - „nur“ zur Ukraine zu verabschieden .
Deswegen werden Sie sich, wenn Sie sich den Entwurf
des Antrags zur Östlichen Partnerschaft, den wir einbringen werden, anschauen, selber davon überzeugen können, dass wir einen Schwerpunkt auf die Ukraine legen,
dass wir dort auch historische Bezüge formulieren, aber
hier eben ganz explizit keinen geschichtspolitischen Antrag einbringen wollen . Insofern werden wir natürlich in
den Ausschussberatungen darüber miteinander sprechen .
Aber ich finde, wir müssen hier schon bei der Wahrheit
bleiben . Das heißt, dass die Dialogbereitschaft vonseiten
unserer Fraktion immer gegeben gewesen ist . Deswegen
sollte man das hier in einer Debatte, die wir angemessen
miteinander führen wollen, richtigstellen .
Vielen Dank .
Vielen Dank, lieber Kollege Annen . - Frau Beck, ich
bitte um Verständnis: Ich glaube, wir sollten hier jetzt
nicht die Ausschussdebatte vorwegnehmen . Für eine solche Debatte ist ja der Ausschuss da . So wie es der Kollege Annen hier eben dargestellt hat, so ist die Kommunikationssituation zumindest auch bei mir angekommen .
Das habe ich auch zur Grundlage meiner Ausführungen
hier gemacht, die noch ein bisschen weitergehen sollen .
Auf genau diese Punkte werde ich noch eingehen .
Wie ich eben gesagt habe: Neben einer Positionsbestimmung, die sich der historischen Verantwortung
stellt - davon bin ich fest überzeugt -, brauchen wir auch
den Blick auf die Gegenwart . Ohne ihn kommen wir nicht
aus. Ich finde, das, was Ute Finckh-Krämer gesagt hat,
zeigt deutlich, warum das so ist und dass das unbedingt
in eine solche Positionsbestimmung des Deutschen Bundestages hineingehört . Anteilig wird dieser Blick jetzt in
einem umfassenden Antrag zur Weiterentwicklung der
Östlichen Partnerschaft von den Koalitionsfraktionen
Marieluise Beck ({0})
vorbereitet . Ich würde mich freuen, wenn es gelänge,
beide Perspektiven, die historische und die aktuelle, zusammenzuführen .
Wir brauchen tatsächlich ein noch genaueres Nachdenken darüber, wodurch sich die deutsche Haltung
gegenüber der Ukraine in Abgrenzung von ihren Nachbarstaaten eigentlich auszeichnet . Entweder tun wir das,
oder wir müssen mindestens Weißrussland, wahrscheinlich aber auch die Moldau und einige andere Staaten in
eine breiter angelegte Positionsbestimmung einbeziehen;
denn fast alles, was wir zur deutschen Verantwortung
gegenüber der Ukraine formulieren, wäre ähnlich oder
gleich auch über Weißrussland zu sagen . Damit wird die
Aufgabe, eine Haltung und Richtung festzulegen, noch
komplexer, als sie sowieso schon ist; denn bei aller Ähnlichkeit der historischen Erfahrungen sehen wir in der
Gegenwart beider Länder doch sehr große Unterschiede .
Die SPD-Fraktion wird deshalb, wie eben deutlich geworden ist, die Initiative der Grünen bei der Beratung im
Ausschuss konstruktiv würdigen . Ich traue diesem Parlament zu, etwas Gutes daraus erwachsen zu lassen . Aber
es könnte sich am Ende in einer ganz anderen Gestalt
präsentieren, als wir heute absehen können .
Vielen Dank .
({1})
Vielen Dank, Dr . Felgentreu . - Letzter Redner in dieser Debatte: Dr . Hans-Peter Uhl für die CDU/CSU-Fraktion .
({0})
Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und
Kollegen! Die Unionsfraktion - das vorab - versteht
Ihr Anliegen, Frau Beck, bzw . das Anliegen der Grünen
durchaus . Wir sind auch bereit - das waren wir auch zuvor schon -, dem Anliegen Ihres Antrags in dem ihm gebührenden größeren Rahmen der bereits erwähnten Östlichen Partnerschaft nachzukommen und eine möglichst
breite Übereinstimmung im Umgang mit den Themen zu
finden, über die ich jetzt kurz sprechen möchte.
Bei der Lektüre Ihres Antrags, Frau Beck, erfasst uns
wieder einmal das Erschrecken und Entsetzen über den
menschenverachtenden Rassismus, die nationalsozialistische Ideologie und die enthemmte und mörderische
Durchsetzung dieses ganz abstrusen Gedankengebäudes . Diese Debatte über die historische Verantwortung
Deutschlands für die Ukraine bietet eine gute Gelegenheit, wichtige Fragen zu stellen .
Wie wird die Ukraine in Deutschland wahrgenommen? Die so lange gewohnte Wahrnehmung der Ukraine als Teil der Sowjetunion hindert bisweilen daran, sich
der historischen Identität als Grundlage eines souveränen
Staates bewusst zu sein, eines Staates mit eigener Geschichte, mit eigener Sprache, mit eigenen Sitten und
Bräuchen sowie - das ist wichtig - einer kulturell auf
Europa ausgerichteten Bevölkerung .
({0})
Was wissen wir in Deutschland über die Masseninhaftierungen und Massenhinrichtungen der ukrainischen
Schriftsteller, Publizisten und Künstler in den 20er- und
30er-Jahren, die sogenannte erschossene Renaissance in
der Ukraine? Was wissen wir über den Holodomor,
({1})
den millionenfachen Völkermord Stalins durch gewolltes
Verhungernlassen in den Jahren 1932/1933? Was wissen
wir über die massiv unterdrückte Dissidentenbewegung
in der Ukraine in den 60er-Jahren? Was wissen wir über
die studentische „Revolution auf dem Granit“ - so wird
sie genannt - auf dem Kiewer Maidan im Oktober 1990?
Die historische Verantwortung Deutschlands für die
Ukraine besteht auch darin, das Wissen über die Ukraine
in Deutschland zu vertiefen .
({2})
Erst nach dem Euromaidan 2014 wurde die erste
Deutsch-Ukrainische Historikerkommission gegründet das wurde bereits erwähnt -, und erst im vergangenen
Jahr hat das Zentrum für Osteuropa- und internationale
Studien seine Arbeit aufgenommen .
Ja, es ist die Aufgabe dieses Deutschen Bundestages,
der historischen Wahrheit zum Durchbruch zu verhelfen .
Das friedliche Zusammenleben der Völker, die Versöhnung einer Nation mit sich selbst und mit ihren Nachbarn
setzt die wahrheitsgetreue Aufarbeitung der Geschichte
voraus . Die Interpretation der Ereignisse im Einzelnen
und ihre historische Einordnung sind aber nicht Aufgabe des Staates . Wir lehnen eine ukrainische Staatsgeschichtsschreibung ebenso ab wie die bekannte sowjetische Interpretation der Geschichte; wir lehnen beides
gleichermaßen ab . Stattdessen ist es die Aufgabe von
Historikern, die geschichtlichen Abläufe wissenschaftlich, wahrheitsgetreu darzustellen .
Durch die Annexion der Krim und das aktive Einmischen im Osten der Ukraine hat Russland die territoriale
Integrität der Ukraine verletzt und internationale Verträge wie das Budapester Memorandum und die Schlussakte von Helsinki gebrochen . Das ist unsere feste Überzeugung; dies muss immer wieder erwähnt werden . Mit
einer Desinformationskampagne und der propagandistischen Geschichtsinterpretation versucht Russland nun,
die Ukraine weiter zu schwächen und sie als gescheiterten Staat darzustellen .
Wir sind uns in diesem Hause bewusst, dass es im
Konflikt zwischen der Ukraine und Russland nicht um
eine kurzfristige Krise geht . Es geht um die Deutungshoheit und künftige Bestimmung historischer Diskurse in
ganz Europa, in denen auch Platz sein muss für die ukrainische Sicht der Dinge . Das Bekenntnis zur territorialen
Integrität und unsere Hilfe bei den Transformations- und
Demokratisierungsprozessen in der Ukraine dürfen deshalb nicht auf einem Opferdiskurs allein begründet werden .
Unsere Unterstützung der Ukraine bedarf auch nicht
der Sonderbegründung einer zusätzlichen historischen
Verantwortung . Nur weil wir wissen, welche Verantwortung wir haben und wie die Dinge sich in den letzten Jahren entwickelt haben, wollen wir den Antrag unterstützen
und ihn im größeren Kontext der Östlichen Partnerschaft
behandeln . Wir sind noch einige Sitzungswochen beieinander, Frau Kollegin Beck, Sie und ich und die restlichen Kollegen .
({3})
In dieser Zeit werden wir versuchen, diesen Gedanken
von Ihnen, Frau Beck, in würdiger und korrekter Form
weiterzuentwickeln . Es geht um eine Weiterentwicklung,
die die Ukraine nicht nur als Opfer Nazideutschlands, als
Opfer Russlands sieht, sondern die der kulturellen und
historischen Souveränität der Ukraine gerecht wird . Das
ist unser Anliegen .
({4})
Vielen Dank, Hans-Peter Uhl . - Damit schließe ich die
Aussprache .
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf
Drucksache 18/10042 an den Auswärtigen Ausschuss zu
überweisen . - Sie sind damit einverstanden . Dann ist die
Überweisung so beschlossen . Vielen herzlichen Dank .
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 40 a bis 40 d auf:
a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes ({0})
Drucksache 18/12357
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
b) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Ausschluss verfassungsfeindlicher
Parteien von der Parteienfinanzierung
Drucksache 18/12358
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({2})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
c) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Grundgesetzes zum Zweck des Ausschlusses
extremistischer Parteien von der Parteienfinanzierung
Drucksache 18/12100
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({3})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
d) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Begleitgesetzes zum Gesetz zur
Änderung des Grundgesetzes zum Zweck des
Ausschlusses extremistischer Parteien von der
Parteienfinanzierung
Drucksache 18/12101
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({4})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . - Ich höre dazu
keinen Widerspruch . Dann ist das so beschlossen .
Ich bitte alle Kolleginnen und Kollegen, ihre Gespräche an einem anderen Ort fortzusetzen . Vorher rufe ich
den Kollegen Brandt nicht auf; er will ja, dass man ihm
zuhört .
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Helmut
Brandt für die CDU/CSU-Fraktion .
({5})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Besten Dank, dass Sie
mir so Gehör verschafft haben. - Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauer und Zuschauerinnen! Im Zusammenhang mit dem jüngsten Urteil des
Bundesverfassungsgerichts in Sachen Parteiverbot wies
der Präsident des Verfassungsgerichtes in seiner mündlichen Urteilsbegründung die Politik auf die Möglichkeit
gesetzlicher Reaktionen unterhalb eines Parteiverbotes hin . Zwar lehnten die Karlsruher Richter mit ihrem
Urteil vom 17 . Januar den auf ein Verbot der NPD gerichteten Antrag des Bundesrates als unbegründet ab,
allerdings ließ das Gericht auch keinen Zweifel daran,
dass es sich bei der NPD um eine verfassungsfeindliche
Partei handelt, aber in Anerkennung der besonders hohen Hürden, die das Grundgesetz vorgibt und die durch
die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für
Menschenrechte noch präzisiert wurden, geht jedenfalls
nach Auffassung des Verfassungsgerichts von der NPD
derzeit keine Gefahr aus, diese Ziele auch umzusetzen .
Dieses Ergebnis ist bei Beibehaltung der jetzigen
Rechtslage unbefriedigend . Niemand kann verstehen,
dass wir mit Steuermitteln als verfassungsfeindlich identifizierte Parteien auch noch unterstützen. Deswegen
wollen wir den Anstoß, den uns das Bundesverfassungsgericht gegeben hat, gesetzgeberisch aufgreifen und als
„Minus“ gegenüber einem Parteiverbot die Rechte und
Privilegien verfassungsrechtlicher Parteien einschränken .
({0})
Hierzu gehören die Teilhabe an der staatlichen Teilfinanzierung nach § 18 des Parteiengesetzes, aber auch
indirekte Förderungen . So sind Parteien etwa von der
Pflicht zur Entrichtung von Körperschaftsteuer befreit,
private Personen, die einer Partei Zuwendungen zukommen lassen, werden einkommensteuerrechtlich günstiger
gestellt . Das bedingt natürlich auch geringere Steuereinnahmen, also auf diesem Wege eine mittelbare Förderung
dieser Parteien .
Deshalb stellt sich vielen und mir die Frage: Wie
kommt unser Staat dazu, eine verfassungsfeindliche Partei, die unseren Staat, unsere Demokratie, die Rechtsstaatlichkeit abschaffen will, dabei auch noch finanziell
zu unterstützen? Dieser Zustand ist in meinen Augen eine
Pervertierung des Sinns und Zwecks der staatlichen Parteienfinanzierung.
({1})
Die Hinweise, die uns das Gericht sowohl in der
mündlichen wie auch später in der schriftlichen Urteilsbegründung gegeben hat, haben uns diese Möglichkeiten
eröffnet. Wir wollen deshalb Artikel 21 des Grundgesetzes verändern . Dabei ist uns bewusst, dass wir natürlich
zum einen die Initiative des Bundesrates verfolgen, zum
anderen aber auch berücksichtigen wollen und müssen,
dass Parteien nach unserem Grundgesetz auch eine besondere Bedeutung haben und es nicht so einfach ist, in
dieser Weise vorzugehen . Aber die Überprüfung, die in
Zukunft ermöglichen wird, Parteien die staatliche Finanzierung zu entziehen, muss daher auch nach unserer Auffassung - insofern unterscheiden wir uns etwas von der
Initiative des Bundesrates - vom Bundesverfassungsgericht durchgeführt werden - ich sagte es vorhin schon -,
als „Minus“ gegenüber dem Parteiverbot .
Die Voraussetzungen für einen solchen Ausschluss
sind deshalb auch ähnlich hoch wie bei einem Parteiverbot . Auch hier muss die verfassungsfeindliche Absicht
einer Partei festgestellt werden . Anders als beim Parteiverbot kommt es allerdings nicht darauf an, ob die betreffende Partei auch über das Potenzial verfügt, ihre Ziele
durchzusetzen .
Für den Ausschluss einer Partei von der staatlichen
Teilfinanzierung und der steuerlichen Begünstigung
gelten damit etwas geringere Voraussetzungen als für
ein Parteiverbot . Um Kritikern ihre Argumente vorweg
schon zu nehmen, haben wir das Für und Wider dieses
Gesetzvorhabens abgewogen und die Bedenken berücksichtigt. Nach meiner und nach unserer Auffassung verbindet doch letztlich alle demokratischen Parteien ein
Grundkonsens, dem das Wertesystem unseres Grundgesetzes und das Bekenntnis zu unserem demokratischen
Rechtsstaat zugrunde liegt . Dies ist auch vom Grundgesetzgeber so gewollt . Dies unterscheidet demokratische
Parteien aber in einem zentralen Punkt von extremistischen Parteien, wie es die NPD ist . Genau deshalb sehe
ich im Fall von Parteien, deren erklärtes Ziel ist, unsere
Demokratie abzuschaffen, die von uns vorgenommene
und beabsichtigte Aktion unterhalb der Schwelle eines
Parteiverbotes und den mit dem Ausschluss von der Parteienfinanzierung verbundenen Eingriff in die Chancengleichheit als gerechtfertigt und geboten an .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine Demokratie das wissen wir alle - muss falsche Lehren und grobe
Dummheiten aushalten können . Die Auseinandersetzung
mit unterschiedlichen Meinungen und die Gleichwertigkeit von Meinungen sind das Wesensmerkmal der Demokratie . Klar ist aber ebenso, dass wir extremistisches
Gedankengut durch den Geldentzug nicht ausmerzen
können . Eine Streichung von Geldern kann leider weder
Dummheit noch eine menschenverachtende Ideologie
verhindern . Die Politik, aber auch die Gesellschaft stehen hier weiter in der Verantwortung, sich mit solchen
Parteien auseinanderzusetzen . Eine wehrhafte Demokratie darf es aber auch nicht einfach hinnehmen, dass die
Grundprinzipien der Verfassung mit ihren eigenen Mitteln untergraben werden .
Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin . Ich bitte
Sie alle: Lassen Sie uns mit diesem Gesetz ein deutliches
Zeichen gegen extremistische Parteien setzen .
Besten Dank .
({2})
Vielen Dank, Helmut Brandt . - Nächste Rednerin:
Ulla Jelpke für die Linke .
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der vorliegende Gesetzentwurf soll dafür sorgen, dass rassistische, antisemitische, demokratiefeindliche Parteien keine Steuergelder mehr erhalten .
({0})
Ich möchte gleich zu Beginn sagen: Die Linke unterstützt
voll und ganz das Ansinnen, neofaschistischen Parteien
den Geldhahn abzudrehen; denn es darf nicht sein, dass
Antisemitismus und rassistische Hetze mit Steuergeldern
finanziert werden.
({1})
Meine Damen und Herren, es muss uns klar sein: Jahr
für Jahr erhält die NPD ungefähr 1 Million Euro an Parteienfinanzierung. In den letzten zehn Jahren waren es
genau 14,5 Millionen Euro. Diese Gelder fließen in den
Aufbau des Parteiapparats, in Nazikonzerte, in Strukturen für braune Kameradschaften, die gewalttätig sind .
Man muss hier wirklich ganz deutlich sagen, dass staatliche Gelder eigentlich dafür hergegeben werden, neofaschistische Strukturen in Deutschland handlungsfähig zu
machen . Damit muss endlich Schluss sein .
({2})
Das Bundesverfassungsgericht hat im NPD-Verfahren
zwar festgestellt, dass die NPD verfassungswidrig ist . Es
hat dennoch kein Verbot erlassen, weil der NPD nach Ansicht des Gerichtes die Möglichkeit zur Umsetzung ihrer
Ziele fehlt . Ich will für meine Fraktion ganz deutlich sagen: Wir hätten uns gewünscht, dass es ein klares Verbot
einer Partei gibt, die sich in die Tradition der NSDAP
stellt und menschenverachtende Positionen der NSDAP
weiterhin vertritt . Das ist nicht geschehen . Deswegen
nehmen wir gerne den Hinweis des Bundesverfassungsgerichts auf, dass man unterhalb des förmlichen Verbots
gegen die NPD vorgehen kann, indem man die Parteienfinanzierung infrage stellt.
({3})
Zweifellos - das muss man hier sehr deutlich sagen - ist der Ausschluss von der Parteienfinanzierung ein
schwerwiegender Eingriff in die Chancengleichheit. Zu
Recht sagt man umgangssprachlich, es handele sich hier
um ein „kleines Parteienverbot“ . Ich bin sehr erleichtert - Kollege Brandt hat es eben gesagt -, dass man von
dem ursprünglichen Vorschlag, hier im Hause darüber zu
entscheiden, ob eine Partei keine Staatsgelder mehr bekommt, abgerückt ist und jetzt ganz klar sagt, dass das
Bundesverfassungsgericht darüber entscheiden soll .
({4})
Denn bei allem Respekt: Ich meine, dass solche Eingriffe
in die Chancengleichheit einer Partei nicht von Mitgliedern einer konkurrierenden Partei vorgenommen werden
sollten . Deswegen ist die Instanz des Bundesverfassungsgerichts genau die richtige .
({5})
Im Entwurf wird außerdem geregelt, dass die betroffenen Parteien alle vier Jahre eine Überprüfung beantragen
können . Das halten wir für sehr richtig . Das muss jeder
Partei zugebilligt werden; obwohl ich, ehrlich gesagt,
nicht glaube, dass die NPD ihre Grundauffassung ändert.
Nichtsdestotrotz ist die Regelung wichtig .
Wir sehen ein weiteres Problem . In der anstehenden
Anhörung wird sicherlich deutlich, was in den vorliegenden Gesetzentwürfen noch nicht geregelt ist . Es geht
um das Problem der V-Leute vom Verfassungsschutz . Ich
will noch einmal daran erinnern: Das NPD-Verbotsverfahren 2003 ist gescheitert, weil V-Leute in der Partei als
Geheimdienstspitzel tätig waren, was im Grunde genommen dazu geführt hat, dass man nicht mehr klar wusste:
Was war eine staatliche Aktivität, was war eine NPD-Aktivität? Das hat in den letzten Verfahren zu großer Besorgnis geführt und immer wieder Fragen aufgeworfen .
Deswegen denke ich, dass eine entsprechende Regelung
in die vorliegenden Gesetzentwürfe einfließen müsste.
Die Neonazis können zum Beispiel sehr leicht damit
argumentieren, es seien staatliche Spitzel gewesen, die
das Parteiprogramm der NPD geschrieben hätten oder
die möglicherweise gewalttätig gegenüber Flüchtlingen
geworden sind .
Ich sage es noch einmal: V-Leute innerhalb der NPD
nutzen überhaupt nichts . Das haben wir immer wieder
betont . Sie müssen endlich aus allen Ebenen abgezogen
werden . Dann werden wir auch Erfolg haben, der NPD
die Parteifinanzierung zu entziehen.
({6})
Meine Damen und Herren, in der Tat ist richtig: Rassismus ist kein Monopol der NPD, sondern es gibt auch
Kräfte wie die AfD, die im Moment den Rassismus in
Teilen der Gesellschaft vorantreiben . Aber Herr Brandt,
ich möchte auch Ihrer Partei sagen: Mit manchen Gesetzen zur Flüchtlingspolitik, die Sie hier eingebracht haben,
({7})
haben auch Sie die Stimmung für Rassismus in diesem
Land leider sehr erhöht .
({8})
Ja, das muss man einfach so sagen . Angesichts dessen,
was wir gestern beschlossen haben, müssen Sie sich an
die eigene Nase fassen, wenn es darum geht, Rassismus
in unserem Land zu bekämpfen .
({9})
Ich hoffe jedenfalls sehr, liebe Kollegen, dass wir die
Gesetzentwürfe noch vor der Sommerpause über die
Bühne bringen, damit man solchen Parteien wirklich das
Wasser abgräbt .
Ich danke Ihnen .
({10})
Vielen Dank, Ulla Jelpke . - Nächste Rednerin: Dr . Eva
Högl für die SPD-Fraktion .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! In unserer Demokratie haben Feinde der Demokratie keinen Platz . Das ist eine wichtige Lehre aus
unserer deutschen Geschichte . Deswegen haben wir eine
sogenannte wehrhafte Demokratie . Das heißt: Meinungsfreiheit, politische Vielfalt, Streitkultur, Chancengleichheit und auch Parteienprivileg . Aber das heißt auch, dass
wir klare Regeln dafür brauchen, wenn die Grenzen überschritten sind . Wenn Feinde der Demokratie die Demokratie abschaffen wollen oder sie mit Füßen treten, dann
sehen wir nicht tatenlos zu, sondern handeln .
({0})
Artikel 21 des Grundgesetzes ist ein Ausdruck unserer
wehrhaften Demokratie . Ich sage es ganz deutlich: Die
SPD hätte es sich gewünscht, wenn das Bundesverfassungsgericht die NPD verboten hätte . Das wäre ein ganz
wichtiger Beitrag zum Engagement gegen Rassismus,
Rechtsextremismus und Menschenfeindlichkeit gewesen .
({1})
Ich bin sehr dankbar, dass der Bundesrat ein exzellent vorbereitetes und wunderbar organisiertes Verfahren
beim Bundesverfassungsgericht eingeleitet hat . Ich fand
und finde es immer noch peinlich, dass der Deutsche
Bundestag und die Bundesregierung sich diesem Verfahren nicht angeschlossen haben .
({2})
Wir wissen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Ein
Parteiverbot löst nicht alle Probleme, die wir mit Verfassungsfeinden haben, aber ein Parteiverbot ist ein ganz
wichtiger Baustein . Deswegen - ich sagte es schon - ist
es schade, dass das Bundesverfassungsgericht die NPD
nicht verboten hat . Das Bundesverfassungsgericht hat
gesagt, die NPD sei nicht gefährlich genug, sie sei unbedeutend .
Das Bundesverfassungsgericht hat aber ausdrücklich
festgestellt, dass die NPD verfassungsfeindlich ist . Es
hat uns in der Urteilsverkündung einen ganz wichtigen
Hinweis gegeben - uns hier, dem Gesetzgeber -, nämlich
dass wir bei der Finanzierung von verfassungsfeindlichen Parteien etwas tun können . Deswegen bringen wir
heute ein entsprechendes Gesetz und die Grundgesetzänderung auf den Weg .
Die Hinweise des Bundesverfassungsgerichts greifen
wir gerne auf . Wir wissen aus unseren Gesprächen, liebe
Kolleginnen und Kollegen: Das, was Bürgerinnen und
Bürger am meisten empört, ist doch - das haben alle bisher schon ausgeführt -, dass verfassungsfeindliche Parteien auch noch Staatsgelder bekommen . Das stößt auf
Unverständnis und ist nicht zu rechtfertigen . Allein die
NPD - nur ein Beispiel - hat in den Jahren 2014, 2015
und 2016 jeweils über 1 Million Euro aus staatlichen
Kassen bekommen. Das ist nicht hinnehmbar. Sie finanziert damit eine menschenverachtende Hetze . Das wollen
wir beenden, und das machen wir jetzt auch .
({3})
Der Bundesrat hat am 10 . März 2017 eine exzellente
Vorlage beschlossen . Ich danke auch dem Land Niedersachsen für die tolle Initiative . Noch im Gerichtssaal des
Bundesverfassungsgerichts wurde gesagt: Das gehen wir
an, das bringen wir jetzt auf den Weg . - Der Gesetzentwurf entspricht genau dem, was im Bundesrat schon diskutiert wurde .
Wir schaffen die Möglichkeit, die öffentliche Parteienfinanzierung zu entziehen, wenn eine Partei verfassungsfeindlich ist . Wir haben die identischen Antragsteller wie beim Parteiverbot: Bundesrat, Bundesregierung
und Bundestag . Es entscheidet das Bundesverfassungsgericht, und das ist auch richtig . Nur das Bundesverfassungsgericht kann darüber entscheiden. Wir schaffen
zum einen die zusätzliche Möglichkeit, die Parteienfinanzierung zu entziehen, und zum anderen kann dieser
Antrag auch hilfsweise zu einem Verbotsverfahren gestellt werden . Das ist ein gutes Regularium . Die Parteien
bekommen die Chance, nach vier Jahren überprüfen zu
lassen, ob sie immer noch verfassungsfeindlich sind, und
das gegebenenfalls feststellen lassen .
Man hätte sich vorstellen können, noch weiter zu gehen, zum Beispiel Parteien von der Nutzung von Sendezeiten oder der Nutzung öffentlicher Gebäude auszuschließen . Aber wir haben uns aus guten Gründen
entschieden, die Chancengleichheit nicht vollständig zu
reduzieren, sondern den Parteien die Möglichkeit zu lassen, auf einen guten Weg zurückzukehren .
Der Gesetzentwurf und die Grundgesetzänderung, die
wir vorlegen, sind ausgewogen und zwingend, um unsere
Demokratie weiter stark und wehrhaft zu halten . Ich sage
es ganz deutlich: Wir schaffen keine „Lex NPD“; denn
dieses Gesetz gilt für alle Parteien, die nicht auf dem Boden unseres Grundgesetzes stehen und sich gegen unsere
Verfassung wenden .
Natürlich wissen wir hier im Deutschen Bundestag das sage ich an dieser Stelle noch einmal ganz deutlich -:
Dies ist ein Baustein unseres Engagements gegen Extremisten in unserer Gesellschaft . Wir müssen uns weiterhin
mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln, mit allen
Möglichkeiten, mit Prävention, politischer Bildung, Polizei, Justiz und Verfassungsschutz - auch der gehört dazu;
da sind wir hier ja nicht immer derselben Auffassung -,
gegen die Feinde der Demokratie engagieren, um unsere
Demokratie zu stärken .
Ich wünsche mir ehrlich gesagt eine große Zustimmung im Deutschen Bundestag . Ich würde mich sehr
freuen, wenn auch die beiden Oppositionsfraktionen
diesen Vorschlägen zustimmen und wir hier gemeinsam
sagen: Wir stärken unsere wehrhafte Demokratie .
Herzlichen Dank .
({4})
Vielen Dank, Eva Högl . - Nächste Rednerin in der
Debatte: Britta Haßelmann für Bündnis 90/Die Grünen .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Gemeinsam eintreten für unsere liberale Demokratie, für unsere Grundrechte - darum geht es auch
uns, wenn wir über die Gefahren des Rechtsextremismus
und des erstarkten Rechtspopulismus in unserem Land
diskutieren . Das besorgt uns ebenso wie viele Bürgerinnen und Bürger .
Aber das, was Sie heute hier vorlegen, Herr Brandt
und Frau Högl, ist aus meiner Sicht und aus Sicht meiner
Fraktion nicht durchdacht .
({0})
Zweimal sind wir mit einem NPD-Verbotsverfahren vor
dem Bundesverfassungsgericht gescheitert . Jedes Mal
konnte sich die NPD nach Abschluss des Verfahrens öfDr. Eva Högl
fentlich als Partei präsentieren und sagen: Seht ihr? Die
sind gescheitert, wir als Partei sind nach wie vor eine
Kraft in diesem Land . - Beim letzten Mal war die Auffassung des Gerichts sinngemäß: Die NPD ist eine Partei
von Verfassungsfeinden, die unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung abschaffen will - das sehen wir
auch so -, aber sie ist zu schwach auf der Brust . - Ein
Blick ins Land zeigt: Die NPD ist ein jämmerlicher Verein mit einer brandgefährlichen Ideologie . Das müssen
wir immer wieder deutlich machen, immer wieder sagen
und die politische Auseinandersetzung suchen .
({1})
Bei den Bundestagswahlen erhält die NPD regelmäßig um 1 Prozent der Stimmen . Ich will in aller Klarheit sagen: Jede einzelne Stimme für diese Partei ist eine
Stimme zu viel . Aufgrund der geltenden Rechtslage zur
Parteienfinanzierung hat die NPD 2015 deshalb 1,3 Millionen Euro erhalten . Auch jeder einzelne Euro an diese
Partei ist ein Euro zu viel . Der Rassismus, der Antisemitismus, die menschenverachtende Politik und Ideologie
dieser Partei, der NPD, sind brandgefährlich . Daran besteht überhaupt kein Zweifel .
({2})
Meine Damen und Herren, diesem Problem versucht
die Koalition jetzt mit einer symbolischen Grundgesetzänderung beizukommen,
({3})
symbolisch deshalb, weil Sie meinen, man streiche das
Geld und damit habe sich ein Teil des Problems erledigt .
({4})
Wir alle wissen aber doch, dass das nicht der Fall ist . Das
Problem der rechten Gewalt, des Alltagsrassismus, des
Antisemitismus, der von Gruppen ausgeht, der von dieser
NPD ausgeht, lässt sich doch damit nicht lösen .
({5})
Das sind aus meiner Sicht vermeintlich einfache Antworten auf höchst komplexe gesellschaftliche Fragen .
Diese Probleme müssen wir mit vielen anderen Mitteln
bekämpfen, als den Weg über die Parteienfinanzierung
zu gehen .
({6})
Es ist heute zwar erst die erste Lesung dieses Gesetzentwurfs, aber Maas und de Maizière als federführende Minister, auch Oppermann als Vorsitzender der
SPD-Fraktion haben deutlich gemacht, dass man dieses
Vorhaben in aller Eile noch kurz durch diesen Bundestag bringen wolle . Dabei handelt es sich aber doch um
eine Grundgesetzänderung und betrifft damit einen sehr
sensiblen Bereich, über den wir hier diskutieren . Hier
gilt Sorgfalt vor Schnellschuss . Es bleiben noch drei Sitzungswochen in dieser Legislaturperiode . Mit den Prinzipien des Grundgesetzes und der Demokratie müssen
wir doch souverän und seriös umgehen . Eine Grundgesetzänderung, eine Verfassungsänderung wie diese darf
nicht übereilt beraten werden .
({7})
Ein unsauberes Vorgehen, meine Damen und Herren,
das wieder gerichtlich scheitern wird,
({8})
nutzt am Ende nur den Verfassungsfeinden von der NPD
und niemand anderem . Das darf nicht passieren .
({9})
Wenn Zweifel bestehen - die gibt es doch -, dann muss
man auf die große Brisanz dieses Unterfangens, das Sie
hier planen, hinweisen . Ansonsten spielt das Populisten
und Antidemokraten nur in die Hände .
Mit dem Vorschlag, den Sie hier machen, gibt es im
Kern ein Problem . Damit, die Steuerbegünstigung bei
Parteispenden für verfassungsfeindliche Parteien wegfallen zu lassen, begibt man sich in ein sehr schwieriges
Fahrwasser;
({10})
denn mit solchen Sanktionen trifft man nicht nur die Partei selbst, sondern auch die Grundrechte der Unterstützerinnen und Unterstützer . Darin liegt ein großes verfassungsrechtliches Problem .
({11})
- Das wissen Sie ganz genau . Darüber zerbrechen wir
uns auch den Kopf, Herr Lischka, ganz im Gegensatz zu
Ihnen .
({12})
Die Tinte war noch nicht ganz getrocknet und das Urteil noch nicht einmal veröffentlicht, da haben Sie schon
angekündigt, es über den Weg der Parteienfinanzierung
zu versuchen .
({13})
Meine große Sorge und die unserer Fraktion ist, dass Sie
ein drittes Mal scheitern .
({14})
Sie tun so, als würde aufgrund dieser Gesetzesänderung
etwas passieren .
({15})
Nein, es passiert gar nichts . Sie werden möglicherweise
wieder vor das Verfassungsgericht müssen, weil Sie eine
Verfassungsänderung vornehmen .
({16})
Wenn man sich auf diesen Weg begibt, muss man doch
eigentlich seine ganze Energie darauf verwenden .
({17})
Ich bitte Sie um mehr Sorgfalt . Keine Hektik, keinen
Schnellschuss, sondern treffen Sie eine sorgfältige Abwägung angesichts dieses sensiblen Rechtsbereiches .
Zeitgleich muss der Kampf gegen rechts, gegen
Rechtsextremismus, gegen Verfassungsfeinde doch politisch geführt werden .
({18})
Wir müssen viel mehr Geld investieren zur Unterstützung der Zivilgesellschaft,
({19})
der vielen engagierten Vereine und Institutionen, die im
Bereich des Rechtsextremismus und im Kampf dagegen
tätig sind .
Denken Sie bitte an Ihre Redezeit .
Darum geht es . Meine Damen und Herren, deshalb
möchten wir Sie eindringlich bitten, hier Sorgfalt vor
Schnellschuss walten zu lassen .
Jetzt aber!
Sonst landen wir wieder vor dem Verfassungsgericht .
({0})
Das wäre schrecklich; denn dann würde sich diese Partei,
gegen die wir alle kämpfen wollen, wieder feiern .
({1})
Es ist ja was los hier im Haus . - Der nächste Redner:
Dr . Tim Ostermann für die CDU/CSU-Fraktion .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir haben es
schon gehört: Ausgangspunkt dieses Gesetzgebungsvorhabens ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichts im
NPD-Verbotsverfahren . In seinem Urteil stellt das Gericht unmissverständlich fest, dass die NPD verfassungswidrig ist, weil sie gegen die Menschenwürde verstößt,
weil sie die Demokratie und den Rechtsstaat bekämpft
und weil sie wesensverwandt mit dem Nationalsozialismus ist . Diese Feststellung machen fast 50 Seiten des Urteils aus . Dennoch wurde, wie wir alle wissen, der Antrag
auf Verbot der NPD zurückgewiesen mit der Begründung,
die NPD sei bedeutungslos, die NPD sei - zum Glück eine Partei ohne Aussicht auf politischen Erfolg . Dieser
ist aber für die Durchsetzung der verfassungsfeindlichen
Ziele erforderlich .
Das Bundesverfassungsgericht hat erkannt, dass das
Ergebnis des Verfahrens etwas unbefriedigend ist . Eine
Partei wird als verfassungsfeindlich eingestuft, kann ihr
Treiben aber trotzdem uneingeschränkt fortsetzen . Bisher gilt nun einmal das Alles-oder-nichts-Prinzip . Darum
hat der Senat dankenswerterweise auf Handlungsmöglichkeiten für gestufte Sanktionen gegenüber Parteien
mit verfassungsfeindlicher Zielsetzung aufmerksam gemacht .
Wenn man an mögliche Sanktionen denkt, kommt
man sehr schnell auf die Idee, verfassungsfeindlichen
Parteien die finanzielle Unterstützung des Staates zu
entziehen . Das Gericht merkte in seinem Urteil an, dass
der Entzug der staatlichen Parteienfinanzierung nach der
geltenden Verfassungslage ausgeschlossen sei . Daher
bestehe für Sanktionen unterhalb der Ebene des Parteienverbots kein Raum, solange der verfassungsändernde
Gesetzgeber keine abweichenden Regelungen trifft. Das
ist schon ein sehr deutlicher Hinweis . Um ganz sicher zu
gehen, hat Gerichtspräsident Voßkuhle dieses Thema bei
der Urteilsverkündung aufgegriffen.
Bundestag und Bundesrat haben zugehört und das Urteil genau gelesen .
({0})
Schnell war klar: Dieser Hinweis soll auch umgesetzt
werden. Auch, aber nicht nur für die Öffentlichkeit ist
es schlichtweg nicht nachvollziehbar, wenn eine Partei,
deren Verfassungsfeindlichkeit vom Verfassungsgericht
festgestellt worden ist, durch den Staat, den sie abschaffen will, alimentiert wird .
({1})
Steuergelder dürfen nicht in die Hände von Verfassungsfeinden geraten . Auch dies gehört zur wehrhaften Demokratie .
({2})
Zwar werden es glücklicherweise immer weniger Bürger, die der NPD bei Wahlen ihre Stimme geben, aber es
sind immer noch zu viele .
({3})
Jede Stimme verschafft der NPD einen Zuschuss aus dem
Steuersäckel: 1,1 bis 1,4 Millionen Euro pro Jahr . Wir
sagen: Jeder Cent für die NPD ist ein Cent zu viel .
({4})
Darum ist das Ziel seit längerem klar . Nur der Weg war
fraglich . Wie setzt man dies gesetzgeberisch um? Natürlich ist das - hier muss ich denjenigen, die das kritisiert
haben, recht geben - juristisch ambitioniert . Wir wollen
nun durch eine Änderung des Grundgesetzes unterhalb
eines Verbots eine geeignete und vor allem rechtlich unangreifbare Maßnahme schaffen. Für diese Maßnahme
kommt es nicht darauf an, ob die verfassungsfeindliche
Partei mit der Abschaffung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung Erfolg haben kann . Eine gegen unsere Verfassung gerichtete Zielsetzung genügt hierfür . Es
ist übrigens egal, ob diese gegen die Verfassung gerichtete Zielsetzung von rechts oder von links kommt, Frau
Kollegin Jelpke .
({5})
Wir müssen gegen beides vorgehen . Da muss die wehrhafte Demokratie ihre Wehrhaftigkeit zeigen .
({6})
Es ist auch richtig, dass das Verfassungsgericht über
eine solche Maßnahme entscheiden soll . Denn schon der
Schein, dass ein politischer Mitbewerber einem Konkurrenten die Grundlage für seine Existenz entziehen könnte, sollte vermieden werden . Darum ist es sachgerecht,
unmittelbar das Bundesverfassungsgericht entscheiden
zu lassen .
Bundestag und Bundesrat haben zwar die gleiche
Zielsetzung, aber es gibt dennoch zwei Gesetzesinitiativen; das ist nicht ungewöhnlich . Die von den Koalitionsfraktionen eingebrachten Gesetzentwürfe sind mit denen des Bundesrates im Wesentlichen inhaltsgleich . Die
Formulierungen der Koalitionsfraktionen - das meinen
jedenfalls wir - sind vielleicht an der einen oder anderen
Stelle noch etwas präziser .
Vor allem enthält das Begleitgesetz der Koalition alle
erforderlichen steuerrechtlichen Folgeänderungen . Denn
der Staat fördert die Tätigkeit von Parteien auch indirekt:
Parteien sind zum Beispiel von der Pflicht zur Entrichtung der Körperschaftsteuer befreit, und Privatpersonen,
die einer Partei Geld zuwenden, haben eine Abzugsmöglichkeit bei der Einkommensteuer . Dies fördert mittelbar
die jeweilige Partei . Deshalb ist es wichtig und richtig,
dass in einem solchen Fall die steuerrechtlichen Privilegien wegfallen . Das sieht auch der Bundesrat so . Aber
gerade an dieser Stelle ist der Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen etwas umfassender .
Ein weiterer Unterschied zwischen diesen beiden Initiativen ist die Länge der Frist, nach deren Ablauf die
sanktionierte Partei eine Überprüfung verlangen kann .
Der Bundesrat schlägt eine Frist von zwei Jahren vor, wir
als Koalition halten eine Frist von vier Jahren für angemessen . Dass es überhaupt eine Überprüfungsfrist geben
soll, ist sinnvoll; denn schließlich muss es auch aus verfassungsrechtlichen Gründen eine Chance auf Läuterung
geben .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, trotz der kleinen
Unterschiede zwischen den beiden Gesetzesinitiativen
möchte ich abschließend mit Blick auf die Bundesratsbank betonen: Es besteht eine große Übereinstimmung
mit dem Bundesrat im Ziel: kein Cent vom Staat für die
NPD und für andere verfassungsfeindliche Parteien .
Herzlichen Dank .
({7})
Vielen Dank, Tim Ostermann . - Ich begrüße recht
herzlich Boris Pistorius, den Minister für Inneres und
Sport des Landes Niedersachsen . Oje, dann brauchen
Sie morgen Nachmittag starke Nerven - es geht um Fußball -, ich auch als Augsburg-Fan . Boris Pistorius redet
jetzt für den Bundesrat .
({0})
Boris Pistorius, Minister ({1}):
Sehr geehrte Frau Präsidentin, starke Nerven brauchen
morgen sicherlich viele der Anwesenden hier . - Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vor
den Senatswahlen in Berlin im Jahre 2011 hingen in
der Stadt 22 000 Wahlplakate der NPD mit dem Slogan
„Gas geben“ . Darauf war ihr damaliger Vorsitzender auf
einem Motorrad abgebildet . Diese Plakate hingen unter anderem auch am Holocaust-Mahnmal und vor dem
Jüdischen Museum. Für einen billigen Werbeeffekt und
dreckige Lacher aus der braunen Ecke hatte die NPD die
Opfer des Holocaust wieder einmal verhöhnt . Diese im
krassen Gegensatz zu den Grundwerten unserer Demokratie und unseres Grundgesetzes stehende Partei hatte
sich wie schon so oft davor und danach als Partei des
Hasses und der Hetze in der Tradition der Nazis entblößt,
ohne jede Scham und ohne jede Moral .
Finanziert wurde diese abscheuliche Plakataktion
auch aus den Steuergeldern der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland . Nach dem Parteiengesetz erhalten
nun einmal alle Parteien je nach Stimmenanteil bei den
verschiedenen Parlamentswahlen staatliche Mittel zur
Finanzierung ihrer Wahlkampfkosten und damit eben
auch die NPD . Damit Sie mich nicht falsch verstehen:
Diese gesetzliche Regelung hat zweifellos ihre Berechtigung . Auch kleineren demokratischen Parteien - dass
die NPD ziemlich klein ist, hat gerade erst das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe festgestellt - muss es
im Sinne eines fairen Wettbewerbs ermöglicht werden,
Wahlkampf zu machen . Die Programmatik, das Auftreten und die Rhetorik von Politikerinnen und Politikern
der NPD zeigen jedoch unübersehbar eindeutige Parallelen zur NS-Ideologie eines völkischen Nationalismus,
die nichts, aber auch gar nichts mit dem Modell unserer
freiheitlichen Demokratie am Hut hat, in der wir leben .
Gleichzeitig beschönigen oder verherrlichen sie eines
der grausamsten Verbrechen der deutschen Geschichte,
den Holocaust . Deshalb war es richtig, dass der Bundesrat 2013 das NPD-Verbotsverfahren erneut auf den Weg
gebracht hat,
({2})
leider ohne die Unterstützung des Deutschen Bundestages .
Mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom
17 . Januar wurde die NPD zwar nicht verboten, das Gericht hat aber unmissverständlich festgestellt: Die NPD
ist verfassungsfeindlich . Ich zitiere:
Ihre Ziele und das Verhalten ihrer Anhänger verstoßen gegen die Menschenwürde und den Kern des
Demokratieprinzips .
Die Unantastbarkeit der Menschenwürde ist das Herz
unseres Grundgesetzes . Plakate wie 2011 im Berliner
Wahlkampf belegen: Die NPD missachtet die Menschenwürde, ja sie verachtet sie . Alles, was nicht in ihrem Sinne deutsch ist, ist ihr zuwider .
Dankenswerterweise hat das Bundesverfassungsgericht erstmals die rote Linie unmissverständlich definiert,
die von keiner Partei überschritten werden darf, wenn
sie sich nicht der Gefahr aussetzen will, als verfassungsfeindlich eingestuft und verboten zu werden .
Es hat nur deshalb nicht für ein Parteiverbot gereicht,
weil die NPD schlicht zu bedeutungslos geworden ist .
({3})
Was für ein Pyrrhussieg für diese Partei! Was für ein
vernichtendes Urteil, dass es nur aufgrund der eigenen
gegenwärtigen Irrelevanz nicht zum Verbot gereicht hat!
Trotz dieser höchstrichterlich attestierten Verfassungsfeindlichkeit bei gleichzeitiger Bedeutungslosigkeit erhält die NPD weiterhin Steuergelder, unter anderem, um ihre Wahlkampfkosten erstattet zu bekommen .
Ich finde es unerträglich, dass eine Partei, die unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung und damit unser
Staatssystem ablehnt, von diesem auch noch Unterstützung erhält .
({4})
Wie soll ich zum Beispiel einem Jugendlichen oder einem Erstwähler klarmachen, dass ausgerechnet diejenigen, die unsere Demokratie abschaffen wollen, aus Steuergeldern mitfinanziert werden?
Aus diesem Grund und vielen anderen Gründen war
es auch so wichtig, sofort nach dem Karlsruher Richterspruch zu handeln .
({5})
Wir haben bei der Urteilsverkündung aufmerksam zugehört und nachgelesen .
({6})
Das Bundesverfassungsgericht hat uns nämlich in seinem Urteil den Hinweis gegeben - das war geradezu
ein Wink mit dem Zaunpfahl -, dass aufgrund der festgestellten Verfassungsfeindlichkeit der Ausschluss der
NPD aus der Parteienfinanzierung durch eine Grundgesetzänderung möglich sei .
Wir haben diesen Ball in Niedersachsen sofort aufgenommen und uns mit einer Bundesratsinitiative für
eine entsprechende Grundgesetzänderung auf den Weg
gemacht . Es wäre ein wichtiges und starkes demokratisches Signal, wenn der Bundestag nur wenige Monate
nach dem Urteil aus Karlsruhe diesen historischen Schritt
gehen und eine klare Grenze für alle extremistischen Parteien ziehen würde .
({7})
Das Parlament gäbe damit ein starkes Signal für unsere
wehrhafte Demokratie und gegen die abgewrackte Naziideologie der NPD ab .
Diese Grundgesetzänderung würde - anders als gelegentlich kritisiert - keinesfalls zu einer Einschüchterung
von politischen Konkurrenten führen. Sie betrifft schließlich ganz klar nur solche Parteien, die eindeutig höchstrichterlich als verfassungsfeindlich eingestuft wurden .
Alle Parteien, die sich im Kern zu unserer demokratischen Verfassung bekennen, werden davon in keiner
Weise betroffen sein.
Das ist eben keine Symbolik, und niemand, der sich
für dieses Gesetz einsetzt, glaubt ernsthaft daran, dass
damit das Problem des Rechtsextremismus gelöst sei .
Nein, das ist nur ein Baustein im gemeinsamen Kampf
gegen Rechtsextremismus und Rassismus .
({8})
Ich würde mich sehr freuen - und ich bin hier zuversichtlich -, wenn nach den nun folgenden Ausschussberatungen alle Parteien in diesem Hohen Haus dieser
wichtigen Änderung des Grundgesetzes sowie des Begleitgesetzes zustimmen würden . Schließlich hat auch
der Bundesrat dieser Initiative einstimmig zugestimmt,
das heißt unter Zustimmung aller 16 Bundesländer, also
auch derjenigen, in denen die Grünen mitregieren .
({9})
Minister Boris Pistorius ({10})
Wer Volksverhetzung betreibt, tritt die Grundrechte in
unserer Verfassung mit Füßen . Wer die Menschenwürde
missachtet, stellt sich außerhalb unserer Gesellschaft .
Wer unsere freiheitlich-demokratischen Werte und die
Wesenselemente unseres Grundgesetzes ablehnt und bekämpft, wer damit Feind unserer Verfassung ist, der darf
keine staatliche Unterstützung mehr bekommen, um seine Hassbotschaften zu verbreiten .
Vielen Dank .
({11})
Vielen Dank, Boris Pistorius . - Der letzte Redner
in dieser Debatte: Alexander Hoffmann für die CDU/
CSU-Fraktion .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Kollegin Jelpke, ich will es einfach einmal ganz
undiplomatisch rüberbringen: Ich fand Ihre Randbemerkung in Richtung Union unerträglich, und ich will Ihnen
sagen: Für die Partei, die als Nachfolgepartei der SED
hier sitzt, für die Partei der Steinewerfer,
({0})
ist das ein starkes Stück gewesen .
({1})
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Voraussetzung für Demokratie ist Freiheit . Diese Freiheit macht die Demokratie am
Ende des Tages auch wieder verletzlich, weil gerade diese Freiheit unter Umständen genau das Risiko erzeugt,
dass sie ausgenutzt wird, um die Demokratie oder die
verfassungsrechtliche Ordnung abzuschaffen.
Parteien sind in einer Demokratie unentbehrlich . Sie
geben politische Orientierung . Sie geben eine politische
Richtung, und sie wollen den Menschen die Möglichkeit geben, eine politische Heimat zu finden und sich
politisch auszurichten . Deswegen ist es letztendlich eine
Gratwanderung, einerseits die Parteienvielfalt zu ermöglichen, aber andererseits dann von staatlicher Seite Grenzen zu setzen .
Die Grenzen sind bei den Voraussetzungen für ein Parteienverbot definiert. Nach Artikel 21 Absatz 2 Grundgesetz kann das Bundesverfassungsgericht eine Partei auf
Antrag dann verbieten, wenn die Partei „nach ihren Zielen oder dem Verhalten ihrer Anhänger“ darauf ausgeht,
„die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen“ .
Bislang ist die Streichung der Parteienfinanzierung
erst nach diesem Verbot möglich . Am 17 . Januar 2017
ist das Verbotsverfahren an sich gescheitert . Das Bundesverfassungsgericht hat anerkannt, dass die NPD zwar
verfassungsfeindliche Ziele verfolgt, aber die Strukturen
und die Größe der Partei zu gering sind, um davon auszugehen, dass sie darauf ausgerichtet ist - wie es Artikel 21
Absatz 2 Grundgesetz fordert; das heißt sozusagen, dass
es von der Wirksamkeit her ausreicht -, die verfassungsrechtliche Grundordnung zu beseitigen .
Wenn man diese Entscheidung zum ersten Mal liest,
schluckt man zunächst einmal . Man wundert sich auch
ein Stück weit; denn entweder ist eine Partei verfassungsfeindlich, oder sie ist es nicht . Wenn sie verfassungsfeindlich ist, dann muss als Konsequenz zwingend
das Verbot folgen . Dennoch ist dies eine Entscheidung
im Sinne des neuen Artikels 21 Absatz 4 Grundgesetz,
was bei dieser unglaublich sensiblen Frage selbstverständlich unentbehrlich ist .
Der zweite Punkt, der ein bisschen Bauchschmerzen
macht, ist - auch da muss man ehrlich sein -: Wie lange
muss man denn warten? Muss man tatsächlich so lange
warten, bis eine Partei Struktur und Größe hat, um dann
letztlich größeren Schaden anzurichten? Dabei denkt
man schon ein wenig an die Vergangenheit; denn genau
diese Fehleinschätzung gab es schon einmal .
Heute kann ich dieser Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sehr viel mehr abgewinnen . Denn
das Verfassungsgericht hat uns Zwischentöne aufgezeigt,
nämlich die Möglichkeit des Ausschlusses der Parteienfinanzierung und des Ausschlusses von steuerlichen Privilegien als Vorstufe, und damit meiner Meinung nach
letztlich das Parteienverbot neu als Ultima Ratio definiert .
Ich glaube, wir tun gut daran, wenn wir heute fraktionsübergreifend das ganz klare Signal setzen, dass wir
gemeinsam unsere Demokratie schützen wollen . Es kann
nicht sein, dass eine Partei mit staatlichen Mitteln finanziert wird und gleichzeitig das Ziel verfolgt, die verfassungsrechtliche Ordnung dieses Staates auf den Kopf zu
stellen bzw . zu beseitigen .
({2})
Wir wollen - auch diese Bemerkung kann ich mir
nach Ihrer Rede, Frau Kollegin Haßelmann, die mich
durchaus in Erstaunen versetzt hat, nicht verkneifen - die
Demokratie mit Gesetzen schützen statt mit Stuhlkreisen,
wie Sie es offensichtlich wollen.
({3})
Ich freue mich auf die weitere Beratung und bedanke
mich für Ihre Aufmerksamkeit .
({4})
Vielen Dank, Alexander Hoffmann. - Dann schließe
ich die Aussprache .
Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 18/12357, 18/12358, 18/12100
Minister Boris Pistorius ({0})
und 18/12101 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse vorgeschlagen . Gibt es anderweitige Vorschläge? - Die gibt es nicht . Sie beschäftigen sich ja auch
gerade mit anderen Fragen . Dann sind die Überweisungen so beschlossen .
Ich bitte, jetzt die Plätze einzunehmen .
({1})
- Tschüss, Herr Kauder .
({2})
- Hoffentlich nicht! Ich bin deswegen schon ganz fertig.
({3})
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 41 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Stadtentwicklungsbericht der Bundesregierung 2016
Drucksache 18/11975
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit ({4})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss Digitale Agenda
Hierzu liegen ein Entschließungsantrag der Fraktionen
der CDU/CSU und der SPD sowie ein Entschließungsantrag von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor .
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . - Weil Sie das ja
vereinbart haben, gibt es dazu keinen Widerspruch .
Dann eröffne ich die Aussprache und gebe das
Wort der Parlamentarischen Staatssekretärin Frau Rita
Schwarzelühr-Sutter für die Bundesregierung .
({5})
Rita Schwarzelühr-Sutter, Parl . Staatssekretärin bei
der Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit:
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Stadtentwicklungsbericht der Bundesregierung 2016 zeigt:
Unsere Städte und Kommunen stehen vor großen Herausforderungen . Deutschlands Bevölkerung ist zwischen
2010 und 2015 um 3 Millionen Menschen gewachsen,
die zu uns gezogen sind . Auch die Städte wachsen - das
ist ein Megatrend -: Mehr als 1 Million Menschen sind
zwischen 2014 und 2015 in die Städte gezogen . Gleichzeitig kämpft die Mehrheit der Kommunen im ländlichen
Raum mit der Stagnation oder sogar mit dem Rückgang
der Bevölkerung . Hinzu kommen auch die Herausforderungen des Klimawandels . Natürlich wollen wir das
2-Grad-Ziel erreichen . Zusätzlich muss der wirtschaftliche Strukturwandel bewältigt werden .
Wir brauchen also, um diese Herausforderungen zu
bewältigen, mehr bezahlbare Wohnungen . Wir müssen
Verdrängung und Polarisierung verhindern, damit der soziale Zusammenhalt unserer Gesellschaft nicht gefährdet
wird . Unsere Städte sollen weiterhin attraktive Lebensorte aller sozialen Schichten bleiben . Wir müssen CO2
einsparen, sowohl im Gebäude- als auch im Verkehrsbereich. Wir brauchen auch mehr Grünflächen, einerseits
zur Erholung, andererseits auch zur Abkühlung . Schließlich sorgen Grünflächen in den Städten für gute Luft.
Das sind große Aufgaben . Unsere Städte und Gemeinden haben mit der Bundesregierung einen verlässlichen
und starken Partner an ihrer Seite . Für uns hat die Förderung der Städte eine große wirtschaftliche, soziale und
kulturelle Bedeutung . Deshalb investieren wir mit der
nationalen Stadtentwicklungspolitik massiv in die Kommunen . Wir unterstützen sie bei ihrer nachhaltigen Entwicklung und lösen so vor Ort eine Impulswirkung aus .
Die Förderung für die Städte ist so hoch wie noch nie .
3,4 Milliarden Euro gibt der Bund in dieser Legislaturperiode an Städtebaufördermitteln aus . Also, mehr geht
fast gar nicht mehr - es geht immer noch ein bisschen
mehr -: Das sind 1,4 Milliarden Euro mehr als unter der
letzten Bundesregierung . Allein 2017 investieren wir
790 Millionen Euro in die Städtebauförderung .
({6})
Ich will einen besonderen Punkt herausgreifen . Bei
den Mitteln für das Programm „Soziale Stadt“ haben
wir mit 40 Millionen Euro begonnen und liegen jetzt
bei 190 Millionen Euro . Ich glaube, das spricht für sich .
Dazu kommt die Verdreifachung der Förderung für den
sozialen Wohnungsbau auf 1,5 Milliarden Euro . Wir unterstützen also die Städte in ihrem Engagement für mehr
Attraktivität und mehr Lebensqualität . Wir fördern auch
den sozialen Zusammenhalt in unserer Gesellschaft .
Das sind echte Investitionen in die Zukunft unseres
Landes . Das ist gut angelegtes Geld . Wir stoßen mit jedem Euro Städtebauförderung 7 Euro an Investitionen
von öffentlichen und privaten Investoren an. Hoffentlich
haben vergangenen Samstag ganz viele von ihnen am
Tag der Städtebauförderung vor Ort erleben können, wie
erfolgreich diese Politik vor Ort ist, wie Bürgerbeteiligung funktioniert und wie wieder attraktive Städte und
Kommunen entstehen . Allein für das Jahr 2017 wurden
somit 12 Milliarden Euro an Investitionen ausgelöst .
Von diesen Zukunftsinvestitionen profitieren die Bürgerinnen und Bürger im ganzen Land; denn wir investieren im ganzen Land, sowohl in die großen Städte als auch
in ländliche Regionen, in große und kleine Gemeinden .
Wir unterstützen sowohl wachsende als auch schrumpfende Kommunen . Wir lassen Städte und Gemeinden in
den ländlichen Regionen nicht zurück .
Ein Blick auf die Städtebauförderung seit 1971 zeigt,
wie viel Geld in den ländlichen Raum und wie viel in
den städtischen Raum geht . Dabei stellt man fest, dass
47 Prozent der Mittel in den ländlichen Raum fließen.
Bei genauerer Betrachtung wird klar, dass diese Summe
überproportional hoch ist, weil in den ländlichen Räumen
Vizepräsidentin Claudia Roth
weniger Menschen wohnen . Das macht deutlich: Wir
nehmen alle mit . Wir wollen, dass die Wertschöpfung in
den ländlichen Regionen entsprechend vorangeht .
Das zeigt, wie flexibel, anpassungsfähig und erfolgreich die verschiedenen Initiativen und Programme der
Bundesregierung sind . Wir wollen starke, schöne, grüne, nachhaltige und kulturell lebendige Städte, in denen
sich Menschen wohlfühlen und gerne und gut leben . Die
Bundesregierung investiert deshalb auch künftig in diese
Entwicklung .
Da meine Uhr schon blinkt, möchte ich mich jetzt ausdrücklich bei den Koalitionsfraktionen bedanken, auch
für den Entschließungsantrag . Ja, wir wollen auch in Zukunft die Städtebauförderung zumindest auf dem bisherigen Niveau fortführen und den Kommunen - ob groß
oder klein - eine gute und sichere Zukunft bieten .
Herzlichen Dank .
({7})
Als nächste Rednerin hat Caren Lay für die Fraktion
Die Linke das Wort .
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Mit dem vorliegenden Stadtentwicklungsbericht
und dem Entschließungsantrag der Koalition stellt sich
die Bundesregierung bzw . die Koalition weitgehend ein
positives Zeugnis aus .
({0})
Das hat mich ziemlich überrascht . Sie werden verstehen,
dass viele Bürgerinnen und Bürger, aber auch wir als
Linke einen anderen Eindruck von der Entwicklung unserer Städte haben und uns mehr Selbstkritik gewünscht
hätten .
({1})
So richtig und wichtig die Stadtumbau- und die Stadtentwicklungsprogramme sind: Welche Situation haben
wir denn in den Städten? Ganze Stadtteile kippen . Der
soziale Zusammenhalt ist in vielen Städten gefährdet .
Mieterinnen und Mieter werden verdrängt. Grünflächen
müssen Büroanlagen weichen . Das ist doch die Realität
in vielen Städten . Darüber können wir nicht hinwegsehen .
({2})
Ich möchte mit der aus unserer Sicht entscheidenden
Frage, der Wohnungsfrage, beginnen . Es ist leider so,
dass bezahlbar zu wohnen nicht mehr selbstverständlich
ist . Für viele Menschen ist das inzwischen zu einer existenziellen Frage geworden . Der Neubau, der vor allem
von der Union immer wieder propagiert wird, kann es
allein nicht richten . Ja, wir brauchen mehr Wohnungen .
Aber vor allen Dingen brauchen wir mehr bezahlbare
Wohnungen . Ich hätte mich gefreut, wenn der Bericht,
über den wir heute diskutieren, die kritischen Analysen
der letzten Monate beinhaltet hätte, die zum Beispiel zu
dem Ergebnis gekommen sind, dass in den 20 größten
deutschen Städten die Häuser, die neu gebaut wurden,
nur zu 5 Prozent überhaupt noch für den Durchschnittsverdiener bezahlbar sind .
({3})
Das heißt, es wird zwar gebaut, aber nur im hochpreisigen Segment . Es wird für Besserverdienende gebaut . Das
ist wirklich nicht akzeptabel .
({4})
Der Bericht kommt an einigen Stellen zu richtigen
Analysen . Die entscheidende Frage lautet natürlich, welche Konsequenzen die Regierung daraus zieht . Ein richtiges Analyseergebnis sind zum Beispiel die hohen bzw .
zu hohen Grundstücks- und Bodenpreise . Ja, das ist ein
Problem . Das ist sogar eines der zentralen Probleme . Das
ist aber auch das Ergebnis von zwei Jahrzehnten Privatisierungspolitik . Bedauerlich ist, dass die Regierung aus
dieser Analyse nicht die richtigen Schlüsse zieht; denn
noch immer werden die vielen Flächen und Wohnungen
des Bundes zu Höchstpreisen verkauft . Das heißt: Der
Bund spekuliert mit . Der Bund selbst treibt die Preise in
die Höhe . - Das müssen wir endlich ändern .
({5})
Ich finde es bedauerlich, dass der soziale Aspekt der
Stadtentwicklung insgesamt zu kurz kommt . Es sind ja
schließlich vorwiegend Menschen mit niedrigem Einkommen überproportional von Luft- und Lärmbelastungen sowie vom Mangel an Grünflächen betroffen. Von
den gut 100 Seiten des Berichts wird gerade einmal eine
Seite für den sozialen Wohnungsbau verwendet . Es ist
zwar richtig erkannt, dass hier zu wenig gebaut wird .
Aber trotz mehr Neubaumaßnahmen beläuft sich das
Minus auf 25 000 Sozialwohnungen jährlich, die aus der
Bindung fallen . Das ist nicht akzeptabel . Den Niedergang des sozialen Wohnungsbaus müssen wir stoppen .
({6})
Ich freue mich, dass die Regierung selbstkritisch feststellt, dass die Mietpreisbremse so, wie sie gemacht wurde, nicht funktioniert . Aber auch daraus werden keine
Konsequenzen gezogen . Es sieht ja wirklich alles danach
aus, dass es in dieser Legislaturperiode keine Nachbesserung bei der Mietpreisbremse mehr geben wird . Das ist
nicht akzeptabel . Wir müssen die Mietpreisbremse endParl. Staatssekretärin Rita Schwarzelühr-Sutter
lich nachschärfen, damit die Menschen vor Mietenexplosion und Verdrängung geschützt werden .
({7})
Im Bericht finden sich leider eine paar gravierende
Fehleinschätzungen, zum Beispiel, dass das bestehende Recht dazu beitrage, die Verdrängung der Bewohner
aus ihren Wohnungen weitgehend zu vermeiden, oder
auch, dass sich zeitlich begrenzte Mietpreis- und Belegungsbindungen bewährt hätten . Das ist eine gravierende
Fehleinschätzung, die wir als Linke so nicht akzeptieren
können .
({8})
Meine Damen und Herren, wir als Fraktion Die Linke - das gilt auch für mich persönlich - unterstützen die
Zusammenlegung sowie auch die Aufstockung der Programme „Stadtumbau Ost“ und „Stadtumbau West“ . Klar
ist natürlich auch: Diese Zusammenlegung darf finanziell
nicht zulasten des Ostens gehen . In meinem Wahlkreis
liegt eine Stadt wie Hoyerswerda . Deswegen sagen wir
als Linke: Es wird auch zukünftig Unterstützung bei Abrissvorhaben geben müssen . Allerdings kann das nicht
länger gewissermaßen das Leitbild der Stadtumbaupolitik sein . Davon müssen wir wegkommen . Wir brauchen
Investitionen in altersgerechten Umbau, wir brauchen
Investitionen in Modernisierung,
({9})
und wir brauchen auch Investitionen, um die wunderschöne Altbausubstanz von Städten zu retten . Damit
zeigen wir, dass wir sie wertschätzen . Denken wir an
Görlitz, denken wir an Meißen . Das sind aber Städte,
die häufig den kommunalen Eigenanteil nicht aufbringen
können . Hier sind einfach mehr Unterstützungsmaßnahmen erforderlich .
({10})
Meine Damen und Herren, zu guter Letzt begrüßen
auch wir als Linke die Förderung von Stadtgrün . Einige
von uns waren ja heute bei den Kleingärtnern . Wir als
Linke unterstützen die Forderung, die dort erhoben wurde, dass nämlich die Infrastrukturprogramme des Bundes
auch für das Kleingartenwesen genutzt werden können .
Ich hoffe, wir werden sie gemeinsam unterstützen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit . Vielen
Dank .
({11})
Artur Auernhammer hat als nächster Redner das Wort
für die CDU/CSU-Fraktion .
({0})
Geschätzte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn wir den Stadtentwicklungsbericht der Bundesregierung diskutieren, sollten wir auch einmal die Gelegenheit nutzen, all den Menschen zu danken, die in den
Städten und Gemeinden ehrenamtlich tätig sind, und
zwar nicht nur speziell für ihre eigenen kurzfristigen
Anliegen in einer Bürgerinitiative, sondern ehrenamtlich
als Gemeinderat, als Stadtrat, Ortssprecher oder Bürgermeister Verantwortung übernehmen . Auch diesen Menschen sollten wir bei der Diskussion über den Stadtentwicklungsbericht herzlich danken .
({0})
Die Frau Staatssekretärin hat es bereits erwähnt: Der
Zustrom in die großen Städte hält nach wie vor an - mit
all seinen Auswirkungen und Herausforderungen . Das
gilt gerade hier für Berlin mit seinen bald 4 Millionen
Einwohnern, aber auch für die anderen Ballungsräume,
sei es das Ruhrgebiet oder auch München . Das hat natürlich zur Folge, dass in diesen Ballungszentren der
Flächenbedarf und die Immobilienpreise steigen . Auch
darauf sollten wir kritisch schauen .
Das führt aber auch zu Herausforderungen für die Städte, was die Infrastruktur anbelangt . Da sind Investitionen
notwendig . Es muss da gehandelt werden . In dem Zusammenhang nenne ich nur das Stichwort „S-Bahn-Ausbau“ . Nein, ich erwähne jetzt nicht den Flughafenbau
in Berlin; das tue ich hier nicht . Wir müssen also dafür
sorgen, dass der öffentliche Personennahverkehr in den
Städten weiterhin funktioniert, mehr ausgebaut wird und
besser wird .
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Städtebauförderung, die wir vornehmen, ist eine sehr gute
Förderung . Wir haben hier sehr viel Geld in die Hand genommen . Ja, ich weiß, dass wir vielleicht noch den einen
oder anderen Euro mehr in die Hand nehmen können;
denn diese Städtebauförderung wirkt auch in den ländlichen Raum hinein . Sie bewirkt nicht nur etwas in den
großen Städten, sondern auch in den mittleren und kleinen Städten . Das ist von daher eine gute Investition . Wir
können da aber - wir sind uns in dieser Hinsicht, glaube
ich, einig - noch mehr machen .
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es wird
immer über das Grün in der Stadt diskutiert . Wir sollten Anstrengungen unternehmen und etwas auf den Weg
bringen, was die Flächen angeht, die in den Städten vorhanden sind . Wenn ich richtig informiert bin, sind in den
deutschen Städten circa 100 000 Hektar unbebaut . Diese
Flächen sollten wir ökologisch hochwertig ausgestalten
und im Sinne von Grün in der Stadt ökologisch aufwerten . Solche Flächen sollten im Blick auf saubere Luft
in der Stadt ausgeweitet werden . Ich glaube, da haben
wir noch sehr viel Nachholbedarf . Den haben wir auch,
wenn es - darüber wird ja diskutiert - um ökologische
Ausgleichsflächen geht. Eine hochwertige grüne Fläche
in der Stadt ist wichtiger, als wenn eine Stadt irgendwo
ganz weit draußen im ländlichen Raum irgendwelche
Ausgleichsmaßnahmen durchführt .
({1})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, gerade in
den Städten diskutieren wir oft im Zusammenhang mit
dem Thema „Grün in der Stadt“: Was macht der Bauhof?
Was macht die öffentliche Planung? - Aber Grün in der
Stadt beruht auch sehr viel auf Privatinitiative . Privatinitiative beginnt auf dem Balkon, man findet sie aber vor
allem - das ist bereits angesprochen worden - bei unseren Kleingärtnern . Wir haben in Deutschland 1 Million
Kleingartenanlagen . In diesen 1 Million Kleingartenanlagen haben 4,5 Millionen Menschen ihr Zuhause, die Anlagen dienen der Freizeitgestaltung, und die Menschen
leisten damit einen großartigen Beitrag zur Sauberkeit
der Luft und zur Biodiversität in den Städten . Auch das
sollten wir - ich glaube, da sind wir uns überfraktionell
einig - in der Zukunft stärker fördern .
({2})
Wenn wir über die Lebensbedingungen in den Städten
sprechen - die Kollegin hat gerade Brennpunkte in den
Städten aufgezeigt -, dann müssen wir auch den Themenkomplex „Innere Sicherheit in den Städten“ ansprechen .
Da haben wir, glaube ich, vielleicht in der einen oder
anderen Region in Deutschland noch Nachholbedarf, da
müssen wir vielleicht in der einen oder anderen Region
noch stärker hinschauen . Da müssen wir vielleicht auch
unsere Sicherheitsorgane noch mehr stärken und besser
unterstützen, damit auch die Menschen, die in den Städten leben - darunter sind viele ältere Menschen - ein sicheres und gutes Wohngefühl in ihren Städten haben .
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die beste Möglichkeit, den Zustrom in die Ballungsräume zu
verringern, damit dort keine Brennpunkte entstehen, ist
immer noch ein starker, ein weit entwickelter ländlicher
Raum . Sorgen wir gemeinsam dafür, dass auch die Menschen im ländlichen Raum eine Zukunftsperspektive haben!
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit .
({3})
Christian Kühn von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat als nächster Redner das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Der Architekt Jan Gehl hat kürzlich in einem
Interview mit einer deutschen Tageszeitung gesagt: „Es
geht darum, Städte im menschlichen Maßstab zu gestalten .“ Ich glaube, das beschreibt sehr gut die Zukunftsaufgabe, vor der wir heute bei der Stadtentwicklung stehen .
Wir befinden uns in einer Phase der Stadterweiterung und
des Stadtumbaus .
Wenn ich nun in diesen Stadtentwicklungsbericht
schaue, dann kann ich viele positive Entwicklungen sehen . Aber wenn ich in unsere Städte schaue, dann gilt
nicht mehr die schöne Sprache des Berichts der Bundesregierung, sondern da treffen wir auf Realität. Da ist es
eben so, dass nicht das menschliche Maß gilt, sondern oft
ganz andere Kriterien .
Herr Auernhammer, Sie haben völlig recht: Beim Thema „saubere Luft in der Stadt“ haben wir Nachholbedarf .
Ich bin sehr froh, dass das jemand aus der Unionsfraktion
endlich erkennt .
({0})
Denn die Feinstaubbelastung und die Stickoxidbelastung
in unseren Städten sind untragbar . Hier gilt leider nicht
das menschliche Maß, sondern das Maß von VW und anderen Konzernen . Ich sage Ihnen: Hier muss das menschliche Maß wieder gelten - bei der Stadtentwicklung und
gerade bei dem Thema „saubere Luft“ .
({1})
Nehmen wir die Aufgabe des Klimaschutzes . Sie, Frau
Schwarzelühr-Sutter, sind ja auch für den Klimaschutz
zuständig und haben es beschrieben . Ich kann es nicht so
positiv sehen, was wir da im Augenblick hinbekommen .
Die Sanierungsrate im Gebäudebereich liegt immer noch
bei 0,7 Prozent . Damit werden wir die Klimaschutzziele
von Paris krachend verfehlen . Wir investieren eben nicht
in die Wärmewende . Ich glaube, hier hat die Große Koalition nach wie vor eine Leerstelle . Es ist ihnen nicht
gelungen, Klimaschutz, Bauen und Stadtentwicklung
miteinander zu verbinden . Hier muss endlich wieder ein
Klimaschutzmaß, ein ökologisches Maß, ein menschliches Maß gelten, anstatt diejenigen zu schonen, die eigentlich hier investieren sollten .
({2})
Schauen wir uns unsere Wohnungsmärkte an: Es ist,
glaube ich, offenkundig, dass wir hier ein dickes Problem
haben . Minus 50 000 Sozialwohnungen Jahr für Jahr,
Mietenexplosion in ganz Deutschland . In Berlin sind die
Mieten innerhalb eines Jahres um 1 Euro pro Quadratmeter gestiegen; das zerreißt die Stadtgesellschaft . Deswegen sage ich Ihnen: Wir werden dafür sorgen, dass auf
den Wohnungsmärkten wieder das menschliche Maß gilt
und nicht das Maß der Spekulanten .
({3})
Wir Grünen wollen in dieser Phase der Stadterweiterung und des Stadtumbaus investieren . Wir wollen die
Städtebauförderung auf dem jetzigen Niveau verstetigen .
Wir werden auch in der nächsten Legislaturperiode sehr
genau darauf achten, dass es bei der Städtebauförderung
nicht wieder Rückschritte gibt . Vielmehr müssen wir hier
mehr tun, als wir es in dieser Legislaturperiode getan haben, gerade bei der Frage des Klimaschutzes .
Deswegen setzen wir uns seit Anfang dieser Legislaturperiode für ein Quartierssanierungskonzept ein,
für ein Städtebauförderprogramm bei der energetischen
Quartierssanierung, damit die Kommunen in die Lage
versetzt werden, ihre Quartiere zu sanieren, und hier vorankommen . Da haben sie eine Leerstelle . Das werden
wir immer wieder betonen, und wir werden weiter entsprechende Anträge stellen . Ich glaube, ohne die Städtebauförderung wirklich auf den Klimaschutz auszurichArtur Auernhammer
ten, werden wir an dieser Stelle in unseren Städten nicht
weiterkommen .
Das menschliche Maß muss auch in der Verkehrspolitik wieder gelten; ich habe es im Zusammenhang mit der
sauberen Luft angesprochen. Ich finde, wir brauchen aber
auch mehr Investitionen in den öffentlichen Nahverkehr.
Wenn ich mir anschaue, wie unterfinanziert im Augenblick Schieneninfrastrukturprojekte in Kommunen sind,
wie viele Projekte da gegeneinander konkurrieren - wir
wissen jetzt schon, dass wir in dieser Phase der Stadterweiterung, in der wir die Ballungszentren mit Mittel- und
Kleinstädten verbinden müssen, mit den 330 Millionen
Euro, deren Bereitstellung vereinbart ist, überhaupt nicht
hinkommen -, dann ist vollkommen klar: Hier reicht
das Geld nicht aus . Hier braucht es endlich Grüne in der
Verantwortung - auch hier im Bund -, damit es bei der
Schiene und damit auch bei der Stadtentwicklung vorangeht .
({4})
Ja, wir brauchen eine funktionierende Mietpreisbremse, sonst werden wir die angespannten Wohnungsmärkte
nicht in den Griff bekommen. Ich meine, da muss sich die
Union endlich einmal ehrlich machen . Sie von der Union haben es versprochen, und Sie haben Ihr Versprechen
einfach gebrochen; denn diese Mietpreisbremse funktioniert nicht .
Wir brauchen eine neue Wohnungsgemeinnützigkeit;
damit investieren wir in das menschliche Maß in unseren
Städten . Dazu haben wir gestern sehr lange gesprochen .
Ich sage Ihnen: Damit wird es uns gelingen, die Wohnungsmärkte auf Dauer fitzumachen hinsichtlich bezahlbaren Wohnraums . So können wir breiten Schichten, die
sich selbst nicht mit Wohnraum versorgen können, in Zukunft eine Wohnung aus dem Pool des gemeinnützigen
Wohnungsbaus anbieten .
Ich höre von der Union immer wieder, dass das Thema
„urbanes Grün“ in ganz vielen Reden sehr betont wird .
Ich bin da sehr bei Ihnen, dass das ein ganz wichtiges
Infrastrukturthema ist . Herr Auernhammer, Herr Wegner,
ich glaube Ihnen sehr, dass Sie persönlich da hinterher
sind . Aber wenn ich mir die Debatte in Baden-Württemberg zur dortigen Landesbauordnung anschaue, dann
stelle ich fest:
({5})
Es geht darum, dass Sie gegen jede Regelung kämpfen,
die etwa mehr Dachbegrünung oder mehr Fassadengrün
bedeutet . Da widersprechen Sie sich einfach . Da sind Sie
einfach maximal scheinheilig . Hier auf Bundesebene predigen Sie das urbane Grün; aber in den Ländern kämpfen
Sie gegen jede Bauregelung, die eine entsprechende Planung vorsieht . Das passt nicht zusammen . Hier sollten
Sie sich wirklich einmal ehrlich machen .
({6})
Zum Schluss . Wir können hier gemeinsam das Hohelied auf die Kleingärten singen . Ich glaube, wir haben
dazu heute Morgen eine sehr gute Veranstaltung gehabt .
Aber wir müssen gerade für die Kleingärtner in Berlin und in anderen Städten unsere Liegenschaftspolitik
ändern; denn ganz viele dieser Kleingartensiedlungen
liegen mittlerweile doch in Gebieten, wo die Liegenschaftspolitik des Bundes greift . Deswegen müssen wir
unbedingt das Gesetz über die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben ändern; denn sonst werden diese Kleingartenanlagen an Spekulanten verscherbelt, anstatt dass
man in urbanes Grün investiert und diese Kleingartenanlagen für breite Bevölkerungsschichten öffnet. Hier muss
die Union nacharbeiten .
({7})
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen .
Lassen Sie uns gemeinsam in das menschliche Maß
investieren . Wir Grünen sind bereit dazu, bei der Stadtentwicklung noch einen draufzulegen . Ich glaube, diese
Bundesregierung muss noch deutlich nacharbeiten .
Danke schön .
({0})
Sören Bartol hat als nächster Redner für die SPD-Fraktion das Wort .
({0})
Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Stadtentwicklungsbericht macht für mich eins
deutlich: Unsere Stadtentwicklungspolitik ist vielseitig,
flexibel und auch zielgerichtet. Die Städtebauprogramme
setzen genau dort an, wo wir immer Nachbesserungsbedarf gesehen haben .
Diese Programme sind ebenso wie unser Land vielfältig . Es gibt Orte, an denen der Druck auf den Wohnungsmarkt immens ist, und die Verdreifachung der Mittel für
den sozialen Wohnungsbau ist deshalb unser großer Erfolg der letzten Legislaturperiode . Noch einmal ein Dank
an Barbara Hendricks!
({0})
Diese Mittel sind sozusagen die Hardware . Sie versetzen
Länder, Städte und Gemeinden in die Lage, den Wohnungsmarkt nicht allein dem Markt zu überlassen .
Wir müssen und wollen aber auch dort ansetzen, wo
Lebenschancen und Lebensqualität in Gefahr sind, weil
Menschen aus der einen Stadt weggehen und es dafür
in einer anderen Stadt oder Region eng und teurer wird .
Für vergleichbare Lebensverhältnisse müssen wir hier im
Bundestag ressortübergreifend und vernetzt denken und
auch arbeiten . Kommunalpolitiker und -politikerinnen
tun das üblicherweise . Sie wissen, dass das Vorhandensein bzw. die Qualität einer Schule häufig das entscheiChristian Kühn ({1})
dende Kriterium dafür ist, ob eine Familie überhaupt an
einem Ort ankommt bzw . dort bleibt, dass Arbeitsplätze
bzw . deren Erreichbarkeit darüber entscheiden, ob man
einen Ort verlassen muss . Kurz: Bildung und Mobilität
sind die zwei Bereiche, in denen auch im Bericht die
höchsten Investitionsbedarfe gesehen werden .
In einem Ort ist es die Qualität der Schulen, in einem
anderen die Anbindung an die nächstgrößere Stadt, oder
es gibt Probleme mit sogenannten Schrottimmobilien .
Wir brauchen daher in den erfolgreichen Städtebauprogrammen noch mehr Flexibilität und Kontinuität, damit
das, was auf den Weg gebracht wurde, seine Wirkung
voll und auf lange Sicht entfalten kann . Deshalb fordern
wir in unserem Entschließungsantrag die Fortschreibung
auf dem jetzigen Niveau, und wir wollen die Fortführung
des Investitionspakts „Soziale Integration im Quartier“
prüfen .
Aber dabei möchte ich es nicht belassen . Der Bericht
drückt es so aus:
. . . unzureichende Erfolge weist die notwendige Bündelung von investiven Maßnahmen mit nicht-investiven sozialen Maßnahmen in Kooperation mit anderen Ressorts auf .
Für mich heißt das, wir brauchen nicht nur städtebauliche Investitionen, sondern wir müssen diese auch noch
stärker als bisher durch nichtinvestive ergänzen . Im richtigen Leben ist damit Personal gemeint, also Menschen .
Durch sie müssen wir Bildung, Verkehr, Verbraucherschutz, Gesundheitsberatung, Pflege, Berufsberatung
noch besser vor Ort verzahnen . Unsere Bauministerin hat
das erkannt und die ressortübergreifende Strategie und
den Investitionspakt „Soziale Integration im Quartier“ so
gut ausgestattet, dass damit investitionsbegleitend Integrationsmanager finanziert werden können, die sich um
die Vernetzung mit den Stadtteilen und um die vorhandenen Angebote, eben auch an Schulen, kümmern .
Dass wir die Schulen stärken müssen, übrigens auch
als Bund, haben wir verstanden - ein Unionskollege in
herausragender Position leider immer noch nicht . Wir
sollten sie auch durch die Städtebauprogramme stärken . Dort, wo am meisten Unterstützung notwendig ist,
sollten die besten Schulen sein . Das sind sie dann, wenn
Pädagoginnen und Pädagogen in den Nachbarschaften,
unterstützt durch Vereine, Hilfsangebote, Beratung und
Ganztagsbetreuung, für Kinder und Eltern da sein können .
Der Erfolg der Städtebauprogramme, die den neuen
Herausforderungen laufend angepasst wurden, würde damit fortgeschrieben. Ich finde, das muss auch weiterhin
unser Ziel bleiben . So vielfältig, wie unsere Städte und
Gemeinden sind, so kreativ müssen auch die Städtebauprogramme und unsere Bürgermeisterinnen und Bürgermeister sein können .
Vielen Dank .
({2})
Kai Wegner hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-Fraktion .
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit mehreren
Jahren erleben wir nunmehr eine Renaissance der Städte
in unserem Land . Städte wachsen und sind echte Anziehungsmagneten für viele Menschen . Frau Lay, das Bild,
das Sie von unseren Städten im Allgemeinen gezeichnet
haben, ist so nicht richtig; denn sonst müsste man sich ja
die Frage stellen, warum so viele Menschen in die Städte
drängen . Sie tun das ja nicht nur, weil sie es müssen, sondern auch, weil sie es wollen, Frau Lay . Dabei will ich
die Herausforderungen, die wir in den Städten haben, gar
nicht kleinreden .
({0})
- Dass wir die Städte nicht kaputtreden sollten, auch
wenn wir in den Städten vor Herausforderungen stehen .
({1})
- Das Bild, das Ihre Kollegin von unseren Städten gezeichnet hat, habe zumindest ich so wahrgenommen .
({2})
Ja, es ist richtig: Wir stehen vor vielen Herausforderungen in unserem Land, auch und gerade in den Städten .
Bezahlbares Wohnen, gesellschaftlicher Zusammenhalt,
Sicherheit, Sauberkeit, klimagerechter Umbau - all das
sind Dinge, die wir intensiv vorantreiben müssen . Deshalb begrüße ich ausdrücklich, dass der aktuelle Stadtentwicklungsbericht der Bundesregierung die Trends und
die Treiber der Stadtentwicklung in Deutschland identifiziert . Hier möchte ich Ihnen, Frau Ministerin Hendricks,
ganz herzlich für die gute Vorlage aus Ihrem Hause danken .
({3})
Eine tragende Säule der Stadtentwicklungspolitik ist
zweifelsohne die Städtebauförderung . In dieser Wahlperiode haben wir die Mittel der Städtebauförderung von
zunächst 450 Millionen Euro auf zuletzt 790 Millionen
Euro nahezu verdoppelt. Ich finde, das ist ein großer Erfolg dieser Koalition, meine Damen und Herren .
({4})
Passend hierzu fand am Sonnabend letzter Woche zum
dritten Mal der bundesweite Tag der Städtebauförderung
statt . Wir wie auch alle Bürgerinnen und Bürger hatten
in diesem Rahmen die Gelegenheit, die erfolgreiche
Umsetzung der Städtebauförderung in den Städten und
Gemeinden zu erleben. Ich finde es gut, dass es diesen
bundesweiten Aktionstag gibt . Wie viele andere KolleSören Bartol
ginnen und Kollegen war auch ich in meinem Wahlkreis,
in Berlin-Spandau, unterwegs, um mich vor Ort über die
zahlreichen guten Projekte zu informieren . So war ich
zum Beispiel im Falkenhagener Feld . Das ist eine große
Wohnsiedlung der 60er-Jahre . Es war einmal mehr interessant, zu sehen, wie dort das Wohnumfeld qualifiziert
wird und wie soziale und Versorgungsinfrastruktur gestärkt werden .
Meine Damen und Herren, die Aufwertung im Falkenhagener Feld wird auch über das Programm „Stadtumbau West“ durchgeführt . Vor diesem Hintergrund - das
möchte ich an dieser Stelle zumindest einmal sagen - irritiert es mich immer wieder, wenn ich vom Ministerium
zumindest gefühlt eine recht einseitige Konzentration auf
das Programm „Soziale Stadt“ erlebe . Angesichts dessen, dass wir gerade bei den Stadtumbauprogrammen das
größte Programmvolumen bei der Städtebauförderung
haben - sogar mit steigender Tendenz -, und angesichts
der Erfolge des Stadtumbaus sollten wir auch und gerade
diese Programme immer wieder erwähnen, liebe Kolleginnen und Kollegen .
({5})
Die Programme „Stadtumbau Ost“ und „Stadtumbau
West“ legen wir jetzt zu einem bundesweiten Stadtumbauprogramm zusammen . Ich begrüße das sehr . Wir
müssen natürlich aufpassen, dass hier am Ende niemand
verliert . Aber das zeigt einmal mehr, dass die Herausforderungen, die wir sowohl im Westen als auch im Osten
unseres Landes haben, sich mittlerweile angeglichen haben . Das zeigt zudem, dass wir die deutsche Einheit weiter vollenden, auch mit dieser Zusammenlegung .
Für uns ist klar, dass es im Rahmen der Städtebauförderung nicht nur die Programme zum Stadtumbau
und das Programm „Soziale Stadt“ gibt; vielmehr gibt
es vielfältige Programme . Die Gesamtstruktur der Städtebauförderung mit ihren verschiedenen Herausforderungen ist wichtig .
Ja, es treten auch immer wieder neue Herausforderungen auf, die wir dann auch sehen und annehmen . Ich
möchte ausdrücklich unserem Koalitionspartner danken,
dass es uns als Union gelungen ist, das Programm „Zukunft Stadtgrün“ neu aufzulegen . Wir haben lange dafür
geworben . Ich glaube, städtisches Grün ist ein ganz zentraler Baustein für lebenswerte Städte und Gemeinden .
Wir sagen in unserem Entschließungsantrag, dass wir das
in einem eigenen Programm fördern und das zukünftig
sogar verstetigen wollen . Ich glaube, auch das ist wichtig
für lebenswerte Städte und Gemeinden in unserem Land,
liebe Kolleginnen und Kollegen .
Ein weiteres Förderprogramm der Städtebauförderung, das wir in dieser Legislaturperiode neu aufgelegt
haben, möchte ich ausdrücklich erwähnen . Das ist das
Programm „Nationale Projekte des Städtebaus“ . Wir treiben hier echte Leuchtturmprojekte voran . Die Vorhaben,
die wir in diesem Programm fördern, sind beispielgebend
für die Stadtentwicklung in Deutschland . Auch deshalb
wollen wir unbedingt an diesem neuen Programm festhalten .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Städte sind seit jeher
Orte der Freiheit und des Wandels . Städte sind nie fertig
gebaut, sondern entwickeln sich immer weiter . Auch das
macht ihre Attraktivität aus . Natürlich gehört zu einer
guten Stadtentwicklungspolitik auch, Perspektiven für
den Wohnungsbau neu aufzuzeigen . Ich bin der Bundesregierung und der Koalition für die Verdreifachung der
Mittel für den sozialen Wohnungsbau dankbar . Ich danke
auch Frau Hendricks dafür . Aber, liebe Kolleginnen und
Kollegen, ich danke vor allem unserem Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble dafür, dass wir in diesem
Haushalt so viele Mittel für den sozialen Wohnraum zur
Verfügung stellen können .
({6})
Aber wenn ich mitansehen muss, wie Rot-Rot-Grün in
meiner Heimatstadt Berlin
({7})
- darauf komme ich gleich, Herr Kühn - 5 000 neue Wohnungen auf der Elisabeth-Aue in Pankow mit einem Federstrich vom Tisch fegt, wie Nachverdichtungen verhindert werden, wie die Bausenatorin ein Projekt nach dem
anderen auf Eis legt, wie selbst der Regierende Bürgermeister Michael Müller diese Klientelpolitik öffentlich
kritisiert, dann kann ich nur sagen: Was Rot-Rot-Grün in
Berlin veranstaltet, ist das Gegenteil von guter Stadtentwicklungspolitik, liebe Kolleginnen und Kollegen .
({8})
Vor diesem Hintergrund, lieber Herr Kühn, entbehrt es
übrigens nicht einer gewissen Komik, wenn ausgerechnet
die grüne Bundestagsfraktion in ihrem Entschließungsantrag zum Stadtentwicklungsbericht fordert, mal eben
1 Million zusätzliche günstige Wohnungen zu schaffen.
Hier im Bundestag hehre Forderungen aufzustellen, aber
vor Ort - für Berlin habe ich es gerade geschildert - sich
vor der Verantwortung zu drücken,
({9})
das ist eine Doppelmoral, die wir Ihnen nicht durchgehen
lassen werden, Herr Kühn .
({10})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen die
Städte mehr denn je als Motor für Nachhaltigkeit, Innovation und Wachstum . Die Herausforderungen, vor
denen wir stehen, gerade in den Bereichen Wirtschaft,
Demografie, Soziales, Sicherheit, Klima und Umwelt
sind groß . Wir werden sie nur in und mit unseren Städten
erfolgreich bewältigen können .
Kurzum: Ein starkes Deutschland gibt es nur mit starken Städten . Starke Städte gibt es nur mit einer guten
Stadtentwicklungspolitik und mit der Städtebauförderung als tragende Säule . Das machen wir als Koalition in
unserem Entschließungsantrag deutlich . Daher bitte ich
Sie um Unterstützung für unseren Entschließungsantrag .
Herzlichen Dank .
({11})
Michael Groß hat als nächster Redner das Wort für die
SPD-Fraktion .
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte an dieser
Stelle den Parlamentariern, insbesondere den Haushältern, dafür danken, dass wir genügend Mittel für die
Städtebauförderung bekommen haben .
({0})
- Das ist Demokratie, genau . - Der nächste Dank neben
dem Dank für die Ministerin sowie für die Parlamentarische Staatssekretärin gilt den Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern aus dem BMUB, weil dort konkrete Arbeit
geleistet wird für die Städtebauförderung, für die Programme „Soziale Stadt“, „Stadtumbau West“ und „Stadtumbau Ost“ . Herzlichen Dank an Sie, dass die letzten
dreieinhalb Jahre so gut gelaufen sind .
({1})
Das Spielfeld für bezahlbares Wohnen, gutes Leben
und Solidarität in den Städten sowie die Antwort auf
die Frage: „Wie können Menschen selbstbestimmt leben, aufwachsen und so alt werden, wie sie es sich wünschen?“, ist die Stadt . Wir haben als Große Koalition in
diesen dreieinhalb Jahren die Städte mit 25 Milliarden
Euro entlastet . Das reicht bei weitem nicht . Wir wissen,
dass sie die Liegenschaftspolitik unbedingt verbessern
müssen und dass sie die Bodenspekulation beenden
müssen . Dafür brauchen sie natürlich Geld . Dieses Geld
haben wir ihnen zur Verfügung gestellt, aber es ist bei
weitem nicht ausreichend .
Nordrhein-Westfalen hat durch eine Tochtergesellschaft des Landes NRW und der Deutschen Bahn AG
ein treuhänderisches Modell auf den Weg gebracht, um
Grundstücke anzukaufen, zu entwickeln und den Städten
nachher zur Verfügung zu stellen .
({2})
Das hat dazu geführt, dass sich die Bodenpreise nicht so
entwickelt haben, dass Wohnen nicht mehr bezahlbar ist .
Ich glaube, solche Modelle müssen wir auch auf der Ebene des Bundes entwickeln . Wir müssen an revolvierende
Bodenfonds, an die Gemeinwohlorientierung denken .
({3})
Wir Sozialdemokraten sagen, dass wir diejenigen belohnen müssen, die dafür sorgen, dass Wohnen bezahlbar
bleibt, die sich aber auch im Stadtteil engagieren .
Aus meiner Region kann ich Ihnen sagen: Die Mittel
des Stadtumbaus sind sehr gut angelegt . Wir hatten Quartiere, in denen 30 Prozent Leerstand war; die Ladenzentren waren leergezogen, die Menschen konnten sich auf
den freien Plätzen nicht treffen. Es gab keine oder kaum
Spielplätze, viele waren verwahrlost . Es gab keine Arbeit
im Quartier . Aber gerade die Mittel des „Stadtumbaus
West“ und der „Sozialen Stadt“ haben dafür gesorgt, dass
wir auch hier Wertschöpfung betrieben haben, Arbeitsplätze generiert haben, dass wir Umweltgerechtigkeit
mit dem Thema Bauen, Ökonomie und Soziales versöhnt
haben . Es sind Nachbarschaftsparks entstanden . Es sind
Treffpunkte entstanden. Schulen haben sich geöffnet.
Das wollen die Menschen . Das Wichtigste ist: Es sind
Beteiligungsprozesse entstanden . Die Menschen haben
mitbestimmen können, wie sie leben wollen, haben Demokratie erlebt und haben erlebt, dass sie Einfluss nehmen können .
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen
und Kollegen, das ist ein Prozess, den wir als Sozialdemokraten weiter unterstützen müssen und wollen . So entsteht eine soziale Stadt für gutes Leben .
Glück auf!
({4})
Als letzter Redner in der Debatte spricht Volkmar
Vogel für die CDU/CSU-Fraktion .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit dem heute
vorliegenden Stadtentwicklungsbericht beleuchten wir
die Siedlungsstrukturen in ihrer Gesamtheit . Man kann
zu Recht sagen: Wenn wir vom Stadtentwicklungsbericht
sprechen, sprechen wir sowohl von den großen Städten
als auch von den kleinen Städten und Gemeinden .
Das Ergebnis, Frau Staatssekretärin, auch wenn es uns
vor neue Herausforderungen stellt, kann sich durchaus
sehen lassen . Man kann mit Fug und Recht sagen, dass
wir auf dem richtigen Weg sind, aber nur, weil wir auch
gemeinsam arbeiten . Das ist keine Aufgabe, die wir als
Bund allein erledigen können, sondern es ist eine Aufgabe, der wir uns als Bund gemeinsam mit den Ländern und
Kommunen stellen und die wir anpacken müssen .
Eines der wichtigsten Instrumente ist natürlich die
Städtebauförderung . Der Abruf der Städtebaufördermittel zeigt uns, dass wir auf dem richtigen Weg sind . Der
Dank gilt allen Akteuren, die daran beteiligt waren . Das
sind sowohl unsere kommunalen Unternehmen und die
Genossenschaften als auch die vielen privaten Investoren und Selbstnutzer, die dazu beitragen, dass wir hier
im Großen und Ganzen - bei allen Problemen, die wir zu
lösen haben - doch auf einem richtigen Weg sind . Unser
Ziel - wir dürfen es nicht aus den Augen verlieren - sind
natürlich lebenswerte, bezahlbare Wohnungen, aber auch
das dazugehörige Umfeld in den Städten, in den KommuKai Wegner
nen und auf dem flachen Land. Es wurde viel zur Mittelausstattung gesagt; ich kann mich dem nur anschließen .
Ich möchte insofern den Blick in die Zukunft richten .
Wir haben das auch mit unserem Entschließungsantrag
gemacht . Ich bitte die Kollegen der Opposition, sich
unserem Antrag anzuschließen und uns zu unterstützen .
Die Voraussetzungen in der Zukunft werden sein: demografischer Wandel - es werden die wachsenden und die
schrumpfenden Städte in unserem Lande sein, denen wir
helfen müssen -, die Binnenwanderung, aber auch der
Zuzug von außen, nicht zuletzt der Klimawandel, der in
den Städten, aber auch auf dem flachen Land ein Problem ist .
Meine sehr verehrten Damen und Herren, mit den
Stadtumbauprogrammen, die wir sehr gut ausgestattet haben und jetzt zu einem gemeinsamen Programm zusammenlegen, reagieren wir genau darauf . Ich kann Ihnen
sagen - auch Ihnen, Frau Lay, weil Sie es angesprochen
haben -: Wir achten sehr darauf, dass die Sonderförderbedingungen für die ostdeutschen Bundesländer beim
Abriss erhalten bleiben . Gleichzeitig lassen wir Kommunen in anderen Bundesländern, die in schwierigen finanziellen Lagen sind, diese Unterstützung angedeihen . Das
ist, denke ich, mehr als gerecht .
Im Übrigen möchte ich, weil wir hier auch die Frage
der Bildung im Blick hatten, sagen: Mit den Stadtumbauprogrammen ist es möglich - das ist auch unser Ziel -,
nicht nur für einen reinen Abriss, sondern insbesondere
auch für die Aufwertung und Umgestaltung der Quartiere
zu sorgen . Dazu gehören auch Schulen . Es gab in Thüringen unter der CDU-Regierung ein sehr gutes Schulsanierungsprogramm, über das - auch im Rahmen des Stadtumbaus - Schulen umgestaltet und an die Bedürfnisse
angepasst wurden, sodass sie heute hervorragende Lehrbedingungen bieten . Das ist sicherlich ein gutes Beispiel
für die Kollegen in anderen Bundesländern .
Meine sehr verehrten Damen und Herren, auch beim
Stadtgrün spielt der Stadtumbau mit hinein, aber es gibt
dafür auch ein eigenes Programm: „Zukunft Stadtgrün“ .
Ich muss sagen: Hier gibt es noch enormes Potenzial . Ich
finde es bedauerlich, dass wir in dieser Legislatur nicht
dazu gekommen sind, die Kompensationsverordnung zu
ändern .
Liebe Kollegen von den Grünen, das ist auch ein Appell an Sie: Wir sollten, wenn es darum geht, Ersatz und
Ausgleich für Flächeninanspruchnahme zu schaffen, darüber nachdenken, entsprechende Möglichkeiten auch
in den Städten, in Siedlungsstrukturen zu eröffnen. Die
Kleingärtner geben uns dafür das beste Beispiel: Sie
schaffen in ihren Anlagen teilweise Reservate, in denen sich die Tierwelt und die Pflanzenwelt entwickeln
können . Das ist durchaus auch in den Städten möglich .
Machen wir uns nichts vor: Jeder Stadtkämmerer stöhnt
über die Kosten des Stadtgrüns . Mit den entsprechenden
Mitteln würden wir auch die städtischen Kassen entlasten . Das ist ein Punkt, dessen wir uns auf jeden Fall annehmen sollten .
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn wir
über Wohnungsbau reden, geht es immer auch um eine
soziale Frage . Die Frage der sozialen Gerechtigkeit ist
immer dann am besten gelöst, wenn wir es vielen Menschen ermöglichen, eigenen Wohnraum zu schaffen, der
ihnen gehört und über den sie verfügen können .
({0})
Da sind es vor allen Dingen die Familien, die Schwellenhaushalte, die es schwer haben, zu Wohnungseigentum zu kommen . Denen müssen wir helfen, zum Beispiel
durch steuerliche Abschreibungsmöglichkeiten .
({1})
Steuerlich abschreiben kann aber nicht jeder . Deswegen
ist unser Ziel - daran sollten wir arbeiten -, die Wohnungsbauprämie zu verändern, damit hier neue Möglichkeiten entstehen .
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch über die Frage
der Grunderwerbsteuer, die sehr ins Gewicht fällt, wenn
es darum geht, Wohneigentum zu erwerben, sollte man
nachdenken. Ich finde es nicht richtig, dass sie zum Beispiel in Thüringen auf 6,5 Prozent erhöht worden ist . In
Sachsen liegt sie nach wie vor bei 3,5 Prozent . Auf diese
Art und Weise sorgt Sachsen dafür, dass Wohneigentum
gebildet werden kann .
({3})
Damit nicht nur über die Städtebauförderung gesprochen wird, möchte ich abschließend sagen: Es ist wichtig,
dass wir die Veränderungen nicht nur in die Metropolen
und die großen Städte tragen - es ist uns gelungen, die
Baunutzungsverordnung zu ändern und das sogenannte
Urbane Gebiet zu schaffen -, sondern auch in die kleinen Städte und Gemeinden, damit das Leben auch dort
lebenswert bleibt, damit es nicht nur Schlafdörfer sind,
sondern sich dort auch Gewerbe entwickeln kann und
Menschen vielleicht gar nicht mehr in die großen Städte ziehen, weil sie ihr Daheim in einem Dorf, in einer
kleinen Stadt finden. Das ist das, was Deutschland stark
macht .
Daran müssen wir weiter arbeiten . Dazu rufe ich Sie
alle auf . Machen Sie mit der Zustimmung zu unserem
Antrag den ersten Schritt . Alles Weitere folgt in der
nächsten Legislaturperiode .
Danke schön .
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit schließe ich
die Aussprache, und wir kommen zu den Abstimmungen .
Volkmar Vogel ({0})
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/11975 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen . Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall . Dann ist die Überweisung
so beschlossen .
Wir kommen nun zur Abstimmung über die Entschlie-
ßungsanträge . Interfraktionell ist vereinbart, über die
Entschließungsanträge, abweichend von der Geschäfts-
ordnung, sofort abzustimmen . Sind Sie damit einverstan-
den? - Das ist der Fall . Dann verfahren wir so .
Zuerst stimmen wir über den Entschließungsantrag
der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf der Drucksa-
che 18/12395 ab . Wer stimmt für diesen Entschließungs-
antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Da-
mit ist dieser Entschließungsantrag mit den Stimmen der
Koalition gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei
Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ange-
nommen .
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Ent-
schließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
auf Drucksache 18/12396 . Wer stimmt diesem Entschlie-
ßungsantrag zu? - Wer stimmt dagegen? - Enthält sich
jemand? - Damit ist dieser Entschließungsantrag mit den
Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposi-
tion abgelehnt .
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 42 a und 42 b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({1}) zu dem Antrag der Abgeordne-
ten Jutta Krellmann, Klaus Ernst, Matthias W .
Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Frakti-
on DIE LINKE
Verordnung gegen Stress in der Arbeitswelt
erlassen
Drucksachen 18/10892, 18/11221
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({2})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Jutta
Krellmann, Klaus Ernst, Herbert Behrens,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Wochenhöchstarbeitszeit begrenzen und
Arbeitsstress reduzieren
- zu dem Antrag der Abgeordneten Beate
Müller-Gemmeke, Brigitte Pothmer, Kerstin
Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Mehr Zeitsouveränität - Damit Arbeit gut
ins Leben passt
Drucksachen 18/8724, 18/8241, 18/12055
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . - Ich höre keinen Widerspruch . Dann ist das so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat
Michael Gerdes für die SPD-Fraktion das Wort .
({3})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seit
knapp zwei Wochen liegt die Standortbestimmung der
Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin
zur psychischen Gesundheit in der Arbeitswelt auf dem
Tisch . Wir müssen festhalten, dass sich arbeitsbedingter
Stress negativ auf die Gesundheit von Erwerbstätigen
auswirkt . Die Zahlen derer, die aufgrund psychischer Erkrankungen am Arbeitsplatz fehlen oder eine Erwerbsminderungsrente beantragen, sprechen leider für sich .
({0})
Wir sollten dringend über Gegenmaßnahmen nachdenken, wenn wir vermeiden wollen, dass sich psychische
Leiden aufgrund von Arbeit ausbreiten und gegebenenfalls ein Fall für die Berufskrankheiten-Liste werden .
Anknüpfend an die lange Tradition des Arbeitsschutzes in Deutschland sind wir gut beraten, unsere Vorschriften an die Arbeitswelt 4 .0 anzupassen . Technischer
und psychosozialer Arbeitsschutz müssen stärker miteinander verknüpft werden . Am Beispiel betrachtet: Das
Messen von übermäßigen Geräuschen und zu schwachen
Lichtquellen in Büroräumen reicht allein nicht mehr aus .
Wohlbefinden in der digitalisierten Arbeitswelt hängt
mehr und mehr davon ab, ob wir Zeitdruck haben oder ob
wir beispielsweise von permanent eingehenden E-Mails
gestört werden . Bisher hat sich der Arbeitsschutz auf
den Betrieb bzw . den Arbeitsort konzentriert . Moderner
Arbeitsschutz muss auch den Feierabend in den Blick
nehmen . Die Studien sagen uns nämlich, dass es darauf
ankommt, wie gut wir von der Arbeit abschalten können .
Es liegt nun an uns und an den Sozialpartnern, die
10 Empfehlungen der BAuA politisch zu bewerten und
Konsequenzen daraus zu ziehen . Das wird wohl angesichts der zu Ende gehenden Legislaturperiode noch
einige Zeit dauern . Trotzdem möchte ich eines vorwegnehmen: Die SPD-Fraktion ist von der Idee einer Anti-Stress-Verordnung überzeugt . Entscheidend dabei ist:
Psychische Belastungen im Erwerbsleben müssen raus
aus der Tabuzone .
({1})
Vielerorts werden stressbedingte Arbeitsausfälle und
Unfälle unterschätzt . Wir dürfen arbeitsbedingten Stress
nicht mit einem herausfordernden Arbeitsalltag verwechseln. Umgekehrt finde ich es auch wichtig, Arbeit positiv
zu besetzen .
({2})
Arbeit ist kein grundsätzlicher Stressfaktor . Arbeit
schafft materielle und immaterielle Werte, die uns Menschen guttun .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Stress heißt, mit
etwas nicht fertig zu werden . Stress am Arbeitsplatz
entsteht durch eine psychische Überlastung . Das empVizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn
findet jeder Mensch anders. Die gute Nachricht ist, dass
wir Stress bewältigen können, wenn wir den Menschen
die richtigen Mittel zur Verfügung stellen . Dazu gehört
zum Beispiel auch eine Gefährdungsbeurteilung, in der
danach gefragt wird, ob jemand genügend Zeit für die
Erledigung seiner Arbeit hat und ausreichend Wissen für
die jeweilige Aufgabe hat .
Mir ist klar, dass wir als Gesetzgeber gesunde Arbeitsprozesse nicht bis ins kleineste Detail gestalten und
regeln können . Wir benötigen praxistaugliche Ansätze
direkt im Betrieb .
({3})
Einerseits ist das Zusammenspiel zwischen Arbeitgebern
und Arbeitnehmern sowie unter Kolleginnen und Kollegen gefragt . Andererseits müssen sich die gesetzlich vorgesehenen Akteure des Arbeitsschutzes stärker auf die
psychischen Belastungen am Arbeitsplatz fokussieren .
Hier kommen auch strukturelle Fragen auf uns zu: Haben wir ausreichend Betriebsärzte und Arbeitsmediziner?
Wie bilden wir Arbeitsschutzakteure weiter? Wie bringen
wir das neue Arbeitsschutzwissen besser in die Betriebe?
Gibt es ausreichend Kontrollen?
Mir geht es nicht darum, Sanktionen auszusprechen .
Gerade in kleinen und mittleren Unternehmen fehlt es
schließlich nicht an der Bereitschaft zur Fürsorge, sondern es mangelt eher an technischen, finanziellen und
personellen Ressourcen . Sie brauchen externe Hilfen .
({4})
Ziel muss sein, dass weitaus mehr Betriebe als bisher
die notwendige Gefährdungsbeurteilung durchführen,
und zwar nicht für den Aktenschrank, sondern um herauszufinden, welche Maßnahmen die körperliche und
mentale Gesundheit des Arbeitnehmers schützen . Die
Gefahr der Überregulierung durch eine eigenständige
Verordnung zur psychischen Gesundheit sehe ich momentan nicht . Wir brauchen Verbindlichkeit und Konkretisierung .
Psychosoziale Risiken am Arbeitsplatz - das ist für
viele ein diffuses und abstraktes Thema. Was meinen wir
denn eigentlich? Welche Risiken gibt es konkret? Worauf
müssen Arbeitgeber und Arbeitnehmer achten? Im Rahmen der Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie
wurden bereits gute Empfehlungen zur Umsetzung der
Gefährdungsbeurteilung bei psychischer Belastung zusammengetragen . Hiermit müssen wir in die Fläche .
Gute Praktiken beim Sicherheits- und Gesundheitsschutzmanagement in den Unternehmen bedeuten nicht
nur Aufwand, sondern geben auch erkennbare Vorteile:
Eine gesunde und motivierte Belegschaft ist produktiv .
Sie ermöglicht es den Unternehmen, wettbewerbsfähig
und innovativ zu bleiben . Wer gesunde Mitarbeiter hat,
hält wertvolle Qualifikationen und Berufserfahrung im
Unternehmen .
Geringere Fehlzeiten und Krankenstände bedeuten
weniger Kosten infolge von Erwerbsunfähigkeit . Wir
müssen also gemeinsam mit den Unternehmen darauf
abzielen, Erwerbstätige vor Berufsunfähigkeit zu bewahren . Das Gesundheitsmanagement der Betriebe und
die Eingliederung nach langer Krankheit sind daher eine
große Herausforderung . Ohne Prävention wird es vor
dem Hintergrund der älter werdenden Gesellschaft nicht
gehen .
Wir brauchen eine neue Regelung, eine Regelung, die
den Namen Anti-Stress-Verordnung trägt .
({5})
Das würde der Bedeutung der mentalen Gesundheit in
der modernen Arbeitswelt Rechnung tragen .
Herzlichen Dank und Glück auf!
({6})
Sie sind vorbildlich in der Zeit geblieben . Wenn alle
nachfolgenden Kollegen sich daran halten, wäre das sehr
schön . - Jutta Krellmann hat als nächste Rednerin das
Wort .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Noch nie waren die Zahlen so dramatisch wie im Moment - wir haben das gerade gehört -:
Jeder dritte Arbeitnehmer leidet dauerhaft unter Stress;
die Fehltage wegen psychischer Belastungen und Erkrankungen haben sich seit 1997 verdreifacht, und die
Hälfte aller krankheitsbedingten Frühverrentungen geht
auf psychische Erkrankungen zurück . Druck und Angst
gehören mittlerweile leider bei vielen Beschäftigten zum
Arbeitsalltag .
Es ist höchste Zeit für eine Anti-Stress-Verordnung, und die wöchentliche Höchstarbeitszeit muss auf
40 Stunden begrenzt werden,
({0})
ob für Ingenieure, Bankkauffrauen, Köchinnen, den Verkäufer oder die Verkäuferin . Aufgrund meiner langjährigen Erfahrung als Gewerkschaftssekretärin kann ich
sagen: Es war noch nie so schlimm wie heute . Die Beschäftigten müssen endlich mitbestimmen können, wenn
es um die Gestaltung ihrer Arbeit geht .
Ich frage mich, wie Sie als Abgeordnete der regierungstragenden Fraktionen diese Zustände mit ihrem
sozialen Gewissen vereinbaren können, ohne irgendetwas zu tun . Die Zahlen sind eine arbeitsmarkt- und gesundheitspolitische Bankrotterklärung . Sie haben beim
Schutz der Beschäftigten kläglich versagt .
({1})
Schlimmer noch: Sie haben mit Ihrer Agenda der
Deregulierung und Flexibilisierung maßgeblich dazu
beigetragen, dass die Menschen in den Betrieben krank
werden . Statt sich um die Menschen zu kümmern, kneifen Sie vor den Arbeitgebern und nehmen Krankheit und
Fehlzeiten in Kauf . Die Anti-Stress-Verordnung würde
Beschäftigten und Arbeitgebern zeigen, was gegen psychische Belastung konkret getan werden muss . Das ist ja
wohl nicht zu viel verlangt .
({2})
Beim Arbeitsschutz funktioniert das ja auch .
Wenn über 90 Prozent der deutschen Unternehmer angeben, sich nur mit Arbeits- und Gesundheitsschutz zu
befassen, weil sie eine gesetzliche Vorschrift und Vorgabe dafür haben, dann sage ich: Wenn das wirklich so ist
und wenn die Arbeitgeber das wollen, dann müssen sie
das bekommen, und dann müssen wir etwas beschließen,
um eine Anti-Stress-Verordnung anzustoßen .
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn bei der aktuellen Beschäftigtenbefragung der IG Metall Hunderttausende angeben, dass die 35-Stunden-Woche ihre
Wunscharbeitszeit ist, dann kann die Politik das nicht
ignorieren . Die Gewerkschaften verhandeln die Arbeitszeit, aber den Rahmen setzen wir; das macht es zu einem
klaren Handlungsauftrag für dieses Haus . Sie von der
Bundesregierung zwingen den Beschäftigten, ohne mit
der Wimper zu zucken, immer mehr Flexibilität auf und
durchlöchern das Arbeitszeitgesetz .
({4})
- Ja, gucken Sie sich doch einmal an, wie viele Ausnahmeregelungen es im Zuge der letzten Jahre schon jetzt im
Arbeitszeitgesetz gibt . Diese sind nicht mit der Opposition auf den Weg gebracht worden, sondern in der Regel
mit Beteiligung der SPD .
({5})
Ich sage: Wenn Flexibilität, dann aber nur in den
Grenzen einer wöchentlichen Höchstarbeitszeit von
40 Stunden .
({6})
Alles andere ist eine gesundheitspolitische Amokfahrt .
Nur so können wir garantieren, dass die einen nicht wegen zu viel Arbeit krank werden und die anderen nicht
krank werden wegen zu wenig oder gar keiner Arbeit .
Arbeit muss im Sinne der Beschäftigten gestaltet und Arbeitszeit umverteilt werden . Dafür steht die Linke .
({7})
Liebe Abgeordnete der SPD, ich frage mich, ob Sie
sich noch gut an die letzte Legislaturperiode erinnern .
({8})
Es ist eben ein bisschen durchgeschienen . In der letzten
Legislaturperiode hatten Sie einen Antrag mit dem Titel
„Arbeitsfähigkeit von Beschäftigten erhalten - Psychische Belastungen in der Arbeitswelt reduzieren“ eingebracht . Für diesen Antrag haben Sie viel Lob bekommen .
Das war ein gelungener Entwurf für eine Anti-Stress-Verordnung .
({9})
Ich bin sicher: Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer werden ganz genau hinschauen, was Sie gerade in
dem Zusammenhang tun werden .
({10})
Wer von sozialer Gerechtigkeit redet und dann nicht zugreift, wenn sie um die Ecke kommt, der hat an der Stelle
seinen Vertretungsanspruch verwirkt .
({11})
Sollten Sie hier nicht zustimmen, dann zeigt das, dass
die Linke die einzige Partei ist, die die Interessen der Beschäftigten in den Betrieben vertritt .
({12})
Als nächster Redner hat Uwe Lagosky von der CDU/
CSU-Fraktion das Wort .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir reden heute sowohl über die Frage der Zeitsouveränität, die im
Antrag von Bündnis 90/Die Grünen entsprechend aufgeführt ist, als auch über Stress in der Arbeitswelt, worüber
wir gerade etwas gehört haben .
({0})
Ich möchte mich aber dennoch, genauso wie mein
Kollege von der SPD, auf den Arbeitsschutz fokussieren . Das Thema Arbeitsschutz ist heute angesichts des
Wandels in der Arbeitswelt genauso interessant wie vor
40 Jahren bei der Einführung des Arbeitssicherheitsgesetzes . Dabei geht es heute längst nicht mehr um die
klassischen industriellen Themen des Arbeitsschutzes,
sondern vermehrt um die Bewahrung der psychischen
Gesundheit der Beschäftigten .
Psychische Erkrankungen - da ist die Betrachtung
der Wirklichkeit tatsächlich angebracht - verursachen
aktuell 15 Prozent der Arbeitsunfähigkeitstage und stellen mittlerweile die häufigste Ursache für Frühverrentung dar . Auf circa 29 Milliarden Euro belaufen sich die
Krankheitskosten von psychischen Erkrankungen .
({1})
Die deutliche Zunahme der Arbeitsunfähigkeitstage aufgrund psychischer Erkrankungen spiegelt sich zudem in
den zunehmenden Produktivitätsausfällen wider .
Sie als Opposition weisen also nicht zu Unrecht auf
diese Situation hin . Was Sie allerdings nicht betrachten
und völlig ignorieren, ist der aktuelle Diskurs im Bereich
des Arbeitsschutzes . Deutschland ist mit der Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie bestehend aus
Bund, Ländern und der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung gut aufgestellt . Zusammen mit den Sozialpartnern wird hier der Schutz der Gesundheit bei arbeitsbedingter psychischer Belastung vorangetrieben .
Um Gesundheitsstörungen und psychische Erkrankungen im Betrieb zu vermeiden, unterstützt das Arbeitsprogramm Psyche die Unternehmen bei der Gestaltung
der Arbeitsbedingungen. Das Programm qualifiziert zudem betriebliche und überbetriebliche Akteure im Arbeits- und Gesundheitsschutz zum Thema psychische
Gesundheit und gibt Empfehlungen zur Umsetzung der
Gefährdungsbeurteilungen .
({2})
Diese Maßnahmen werden durch Handlungshilfen für
Betriebe, zum Beispiel durch das Projekt „psyGA“ oder
auch durch die Initiative Neue Qualität der Arbeit, flankiert .
Darüber hinaus wurde in dieser Legislaturperiode jetzt beantworte ich Ihre Frage, Frau Müller-Gemmeke,
was die Politik macht - die Frage psychischer Belastungen in der Arbeitsstättenverordnung konkretisiert . In das
Gesundheitsförderungs- und Präventionsstärkungsgesetz
wurden psychische Belastungen ausdrücklich mit aufgenommen . Dies führt zu verbesserten Leistungen der
Krankenversicherungen .
({3})
Besonders verweisen möchte ich an dieser Stelle auf
die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin .
Sie stellte vor exakt zwei Wochen - das ist schon angesprochen worden - ihre Langzeitstudie zur psychischen
Gesundheit in der Arbeitswelt vor . Ziel der Studie war
es, psychische Belastungen am Arbeitsplatz zu untersuchen und daraus Handlungsempfehlungen für den Arbeitsschutz zu geben . Wir haben nun eine umfassende
wissenschaftliche Standortbestimmung über psychische
Belastungsfaktoren in der Arbeitswelt . Stressfaktoren
wie zu lange Arbeitszeit, schlechte Führung, mangelnde
Ruhezeiten oder zu hohe Arbeitsbelastungen können die
psychische Gesundheit der Beschäftigten beeinträchtigen . In den meisten Fällen gehen diese Stressfaktoren
miteinander einher und führen in der Häufung zu psychischen Belastungen .
Dabei erweist sich die Arbeitszeit in den wissenschaftlichen Studien durchgängig als Schlüsselfaktor in ihrer
Wirkung auf die Gesundheit . Die erwähnten Risiken
werden allerdings im bestehenden Rechtsrahmen klar adressiert und eingeschränkt . Dies ist unter anderem im Arbeitszeitgesetz deutlich zu sehen . Darauf weist die BAuA
auch hin . Sie schreibt:
Für die Arbeitszeitdauer sind . . . Schwellenwerte,
deren langfristige Überschreitung bzw . Nichtbeachtung eine gesundheitliche Beeinträchtigung zur Folge haben können, im Arbeitszeitgesetz festgelegt .
({4})
Dies betrifft konkret den Umfang der Wochenarbeitszeit, die tägliche Arbeitszeit sowie die Länge
der Ruhezeit .
Weiter führt die BAuA aus, dass die Befundlage zu
den Zusammenhängen von Arbeitszeit und Gesundheit
dafür spricht, dass die vorhandenen gesetzlichen Vorgaben aus arbeitswissenschaftlicher Sicht unabhängig von
der Arbeitstätigkeit sinnvoll sind .
Bei allem, was wir vor dem Hintergrund der Arbeitswelt 4 .0 möglicherweise am Arbeitszeitgesetz verändern
wollen, sollte man sich die Schutzfunktionen dieses Gesetzes immer wieder vor Augen halten . Das gilt für Ihre
Anträge und für alles, was dazu noch vorgelegt werden
mag .
Sie sehen, wir haben heute bereits ausreichend strenge
Arbeitsschutzgesetze . Allerdings werden diese nicht immer konsequent umgesetzt . Gefährdungsbeurteilungen
müssen häufiger durchgeführt werden. Hier sind in erster
Linie die Bundesländer in der Pflicht und angehalten, ihren Kontrollpflichten nachzukommen. Dafür braucht es
möglicherweise hier und da mehr Personal bei den Aufsichtsdiensten der Länder .
Eine Anti-Stress-Verordnung würde daher nur den
Rechtsrahmen der bestehenden Gesetze ändern, aber
nicht die Sensibilität für dieses Thema in den Unternehmen erhöhen .
({5})
Es geht darum, mit den Akteuren des Arbeitsschutzes in
den Unternehmen für das Thema Arbeitsschutz zu sensibilisieren .
({6})
Ich habe gesehen, dass die Präsidentin mir ein Zeichen
gibt, und komme daher zum Schluss .
Insbesondere kommt es darauf an, dass die Sozialpartner und die Kolleginnen und Kollegen des institutionellen Arbeitsschutzes in den Betrieben daran arbeiten . Ich bin daher froh, dass wir auf der Grundlage des
BAuA-Berichts jetzt einen Dialogprozess erleben, der
die psychische Gesundheit in der Arbeitswelt auf eine
richtige Basis stellt . Auf dieser Basis werden wir arbeiten . Deshalb lehnen wir Ihre Anträge heute ab .
Herzlichen Dank und ein schönes Wochenende .
({7})
Als nächste Rednerin hat Beate Müller-Gemmeke für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Bereits unter Schwarz-Gelb haben wir
das Thema „psychische Belastungen“ heftig diskutiert
und Maßnahmen gefordert, im Übrigen auch die SPD .
Die damals für dieses Thema zuständige Ministerin von
der Leyen hat eine entsprechende Studie auf den Weg gebracht . Erst jetzt liegen die Ergebnisse vor . Diese zeigen:
Es besteht - wenig überraschend - Handlungsbedarf . Das dauert einfach alles zu lange . Sie, die Regierungsfraktionen, haben sich bei diesem Thema untätig durch
diese Legislaturperiode gemogelt . Das ist nicht akzeptabel .
({0})
Die Arbeitswelt hat sich verdichtet und beschleunigt .
Das wissen wir schon lange . Wer mehr, unregelmäßig
oder nicht planbar arbeitet, dem fehlen Erholungszeiten .
Häufig ist die Personaldecke zu dünn. Über 50 Prozent
der Beschäftigten sind bei der Arbeit gehetzt . Steigende
Arbeitsintensität, hohe Leistungsanforderungen - wer
diesem Stress ausgeliefert ist, wer das Gefühl hat, die
Arbeit nicht zu schaffen, dessen Selbstwertgefühl wird
brüchig . Das Arbeitsleben macht Tempo, und das schon
seit vielen Jahren . Den Beschäftigten geht deswegen zunehmend die Puste aus . Sie, die Regierungsfraktionen,
hätten darauf schon lange reagieren müssen .
({1})
Die Arbeitgeber müssen sensibilisiert werden . Das
kommt nicht von alleine, Herr Lagosky . Sie müssen
wissen, wann und wie Stress entsteht und - vor allem wie dieser Stress vermieden werden kann . Das Arbeitsschutzgesetz muss also durch eine Verordnung konkretisiert werden . Deshalb werden wir heute dem Antrag
zustimmen; denn nur so bekommen die Arbeitgeber und
die Betriebsräte ein Werkzeug an die Hand, mit dem sie
Lösungen gegen Stress, ständige Erreichbarkeit und Arbeitsverdichtung entwickeln können . Das ist dringend
notwendig; denn es geht immerhin um die Gesundheit
der Beschäftigten .
({2})
Ein Aspekt ist uns Grünen dabei besonders wichtig,
und zwar die Arbeitszeit . Auch die Studie - es wurde
schon gesagt - „Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt“ von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin bezeichnet Länge, Lage und Flexibilität der
Arbeitszeit als relevant für die Gesundheit von Beschäftigten . Als positiv wird beurteilt, wenn die Beschäftigten auf die Gestaltung ihrer Arbeitszeit Einfluss nehmen
können . Die Beschäftigten brauchen also Zeitsouveränität . Genau das fordern wir in unserem heute vorliegenden
Antrag . Damit besteht ein Zusammenhang: Wenn die Arbeitszeit beweglicher wird, dann sind die Beschäftigten
weniger gestresst und weniger gehetzt . Vor allem wünschen sich die Menschen, insbesondere die Frauen, mehr
Zeitsouveränität, damit ihre Arbeit besser ins eigene Leben passt .
({3})
Die Linke fordert das mit ihrem Antrag, aber anders als
wir Grüne . Sie wollen ja die Wochenhöchstarbeitszeit auf
40 Stunden absenken . Das lehnen wir ab .
({4})
Mehr Zeitsouveränität für die Beschäftigten funktioniert
eben nicht in einem engen und starren Rahmen . Die Beschäftigten brauchen die Freiheit, in einer Woche ein
bisschen mehr arbeiten zu können, um dann in einer anderen Woche mehr frei zu haben . Natürlich brauchen die
Beschäftigten Schutz; denn wir wollen ja Zeitsouveränität ermöglichen und grenzenlose Arbeit verhindern . Dafür reicht das Arbeitszeitgesetz aber so, wie es heute ist .
Wir Grünen haben dafür andere Forderungen . Wir
wollen, dass die Beschäftigten mehr Mitspracherecht bei
der Arbeitszeit erhalten; denn auch so wird Stress reduziert. Weil die Beschäftigten häufig mit ihrem Arbeitsumfang nicht zufrieden sind, wollen wir „Vollzeit“ als
flexiblen Arbeitszeitkorridor zwischen 30 und 40 Stunden neu definieren und - ganz wichtig - durch ein Rückkehrrecht ergänzen . Auf das Rückkehrrecht warten wir in
dieser Legislaturperiode ja noch immer .
Einige wollen wegen der Kinder gerne etwas später
anfangen, andere brauchen einen freien Nachmittag für
die alten Eltern, und wieder andere wünschen sich einen Tag Homeoffice, um sich die Fahrtzeit ins Büro zu
ersparen . Deshalb sollen die Beschäftigten auch mehr
Mitspracherechte bekommen, wenn es darum geht, wann
und wo sie arbeiten . So entsteht Zeitsouveränität, und sie
ist bitter nötig; denn Arbeitszeit ist Lebenszeit .
Heute liegen verschiedene Vorschläge dafür auf dem
Tisch, den Stress in der Arbeitswelt zu reduzieren . Die
Opposition hat Konzepte entwickelt, nimmt das Thema
also ernst . Sie, die Regierungsfraktionen, haben das Thema vier Jahre lang ganz einfach verschleppt . So werden
Sie Ihrer Verantwortung für die Gesundheit der Beschäftigten nicht gerecht .
Vielen Dank .
({5})
Als nächster Redner hat Dr . Martin Rosemann von der
SPD-Fraktion das Wort .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zur Einordnung dieser Debatte will ich ein paar allgemeine Bemerkungen voranstellen .
Ich finde immer noch: Für die allermeisten Menschen
in unserem Land ist es wirklich besser, wenn sie Arbeit
haben, als wenn sie keine Arbeit haben .
({0})
Das hat damit zu tun, dass Arbeit die Grundlage für unseren Wohlstand ist, dass Arbeit materielle und soziale Sicherheit für jeden Einzelnen ermöglicht und dass Arbeit
ein Stück weit auch Selbstverwirklichung bedeutet . Deswegen ist Arbeit für jeden Einzelnen und jede Einzelne,
aber auch für die Gesellschaft insgesamt wichtig .
Klar ist: Unsere Arbeitswelt ist im Wandel . Dieser
Wandel vollzieht sich im Zuge der Digitalisierung immer schneller, und das stellt uns vor Herausforderungen .
Auch in den letzten Jahren und Jahrzehnten gab es Veränderungen in der Arbeitswelt, die mit einer Verdichtung
der Arbeitsbelastung und tatsächlich mit mehr Stress verbunden waren .
Die Kolleginnen und Kollegen, die vor mir gesprochen haben, haben schon darauf hingewiesen: Die Zahl
der psychischen Erkrankungen hat zugenommen . Besonders alarmierend ist, dass der Grund für den Zugang
in die Erwerbsminderungsrente zunehmend psychische
Erkrankungen sind . Seit 1993 ist der Anteil sehr stark
gestiegen .
({1})
1993 waren 15 Prozent derjenigen, die in die Erwerbsminderungsrente gegangen sind, psychisch erkrankt,
2015 betrug der Anteil sage und schreibe 43 Prozent .
Damit sind sie mittlerweile die größte Krankheitsgruppe
unter den Neuzugängen in die Erwerbsminderungsrente .
Natürlich kann das die Politik und uns alle nicht kaltlassen . Deswegen sind wir hier auch alle in der Verantwortung .
Ich glaube, das Wichtigste, was wir in dieser Debatte
sagen müssen, wenn wir über ein so zentrales Thema am
Freitagnachmittag um 14 Uhr diskutieren, ist - das sage
ich mit Blick auf alle, die hier im Saal sind, also auch auf
die Besucher auf den Tribünen -: Es ist für uns alle entscheidend, dass wir psychische Erkrankungen in dieser
Gesellschaft endlich enttabuisieren, damit sie rechtzeitig
angegangen werden können .
({2})
Dazu gehört, dass wir Prävention und Rehabilitation viel
stärker in Verbindung mit dem Arbeitsplatz sehen . Genau
hier haben wir in dieser Legislaturperiode angesetzt . Es
kann doch nicht die Rede davon sein, wir hätten nichts
getan .
Mit dem sogenannten Flexirentengesetz
({3})
und dem Bundesteilhabegesetz haben wir Prävention und
Rehabilitation an unterschiedlichen Stellen gestärkt, und
gerade mit Blick auf psychische Erkrankungen haben wir
Modellvorhaben gestartet und für diese Modellvorhaben
mehr Mittel im Bereich der Arbeitsverwaltung, der Jobcenter und der Rentenversicherung bereitgestellt . Das,
was dabei an guten Praktiken herauskommt, müssen wir
in den kommenden Jahren auch dauerhaft umsetzen .
({4})
Was wir auch im Blick haben, liebe Kolleginnen und
Kollegen, ist das betriebliche Eingliederungsmanagement, wenn jemand nach langer Krankheit an den Arbeitsplatz zurückkehrt und die Betriebe ihn wieder in den
Arbeitsprozess eingliedern sollen . Das ist eine wichtige
Aufgabe, die neben dem Arbeitgeber auch die Kolleginnen und Kollegen bzw . das ganze Team angeht und bei
der es wichtig ist, dass die Betroffenen nach der Rückkehr tatsächlich wieder ihren Arbeitsplatz erhalten .
Das Hauptproblem ist, dass das betriebliche Eingliederungsmanagement gerade in Klein- und Kleinstbetrieben wenig bekannt ist und die Unternehmen nicht
wissen, wie sie so etwas umsetzen können . Deswegen
haben wir die Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation dazu gebracht, eine Empfehlung dazu abzugeben
und Mindeststandards vorzuschlagen, die dann auch in
Klein- und Kleinstbetrieben umgesetzt werden können .
({5})
Hinter all dem steht die Vorstellung, dass wir - der Staat,
die Gesellschaft und die Sozialversicherungen - die Beschäftigten während des Arbeitslebens sehr viel stärker
als bisher beraten, begleiten und unterstützen müssen .
Wichtig ist aber mit Sicherheit noch ein zweites Thema, nämlich das Thema Arbeitszeit . Ich stimme vielem
zu, was Beate Müller-Gemmeke dazu gesagt hat . Die
Arbeitszeitwünsche der Beschäftigten weichen in hohem
Maße von den tatsächlich gearbeiteten Arbeitszeiten ab .
Das gilt übrigens nicht nur für Frauen, sondern auch für
Männer . Wenn wir da zu mehr Flexibilität kommen wollen, dann muss sie nicht nur für die Frauen, sondern auch
für die Männer gelten .
({6})
Sonst kriegen wir nämlich nicht beides zusammen . Wir
bekommen es nämlich nicht hin, dass Frauen ihre Arbeitszeit gegenüber der Zeit im privaten Bereich erhöhen, wenn wir nicht gleichzeitig den Männern mehr Zeit
für den privaten Bereich ermöglichen, indem sie weniger
arbeiten .
Genau an der Stelle setzen wir mit den Maßnahmen
an, die wir in dieser Wahlperiode auf den Weg gebracht
haben . Das Elterngeld Plus beispielsweise macht für
Eltern von kleinen Kindern Teilzeitbeschäftigung attraktiver und ermöglicht einen längeren Bezug des Elterngelds, wenn man sich das partnerschaftlich teilt . Da
wollen wir nicht stehen bleiben .
({7})
- Ja, das Rückkehrrecht ist ein gutes Stichwort . Wir wollen das Rückkehrrecht auf Vollzeit bzw . die befristete
Teilzeit . Das wird - das sage ich deutlich - von der rechten Seite dieses Hauses blockiert .
({8})
Wir wollen noch mehr - Andrea Nahles hat es auch im
Weißbuch Arbeiten 4 .0 deutlich gemacht -: Wir wollen
die starre Trennung von Vollzeit und Teilzeit aufgeben
und durch Wahlarbeitszeitmodelle zu einer flexibleren
Form von Vollzeit kommen . Andrea Nahles will gemeinsam mit den Tarifpartnern flexible Arbeitszeitmodelle
umsetzen, indem sie Öffnungsklauseln in den Tarifverträgen vorschlägt,
({9})
die zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern unter bestimmten Qualitätsstandards vereinbart werden .
Herr Kollege, Sie müssen jetzt sehr zügig zum Schluss
kommen .
Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss . - Insgesamt geht es um mehr Zeitsouveränität und vor allem um
eine größere Flexibilität, die auch und insbesondere den
Beschäftigten und ihren Bedürfnissen nutzt .
({0})
Als nächste Rednerin hat Christel Voßbeck-Kayser für
die CDU/CSU-Fraktion das Wort .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auf die Arbeit schimpft man nur so lange, bis man keine
mehr hat .
({0})
Deshalb möchte ich, bevor ich auf die Anträge eingehe, Kollegen der Linken und der Grünen, erst einmal
etwas Grundsätzliches zum Thema Arbeit sagen . Kollege
Rosemann hat es eben in seiner Rede schon ausgeführt:
Arbeit gehört seit jeher zu unserem Leben . Damit gehen
viele Eigenschaften einher, und man sollte es nicht glauben: Der überwiegende Teil der Menschen in Deutschland geht sogar gerne jeden Morgen zur Arbeit .
({1})
Und wer organisiert in Deutschland erfolgreiche Arbeit? Die Sozialpartner - das ist mehrfach ausgeführt
worden - in den einzelnen Branchen . Sie vereinbaren
ihre gemeinsamen Ziele . Sie wollen unsere Unternehmen
wettbewerbsfähig halten und Erfolge erzielen . Denn das
ist die Voraussetzung dafür, dass wir Wachstum und Beschäftigung haben .
({2})
Richtig ist: Die Anforderungen an die Arbeitswelt und
in der Arbeitswelt haben sich mit der Digitalisierung, der
Arbeitswelt 4 .0, verändert und somit auch die Anforderungen an die Arbeitgeber und Arbeitnehmer . Aber auch
die veränderten Familienstrukturen und damit einhergehend der Wandel der Ansprüche und Anforderungen machen Anpassungen bei der Arbeitszeit notwendig .
({3})
Unsere Wirtschaft und die Sozialpartner in den Unternehmen reagieren darauf . Ihre Zusammenarbeit funktioniert ohne staatliche Regelungen .
({4})
So treffen zum Beispiel viele inhabergeführte Familienunternehmen bei mir in der Region in Südwestfalen
schon seit längerem Vereinbarungen in Bezug auf flexible Arbeitszeiten . Das gelingt ihnen hervorragend . Dabei werden die Anforderungen und Bedürfnissen beider
Seiten, die der Arbeitnehmer und die der Arbeitgeber,
berücksichtigt .
Die öffentliche Anhörung im Ausschuss für Arbeit und
Soziales im März dieses Jahres hat bestätigt, dass der
Wunsch nach flexiblen Arbeitszeiten stark ausgeprägt ist.
Deshalb sagen wir ganz klar: Wir suchen die Lösungen
auf betrieblicher und auf überbetrieblicher Ebene, bevor
wir Gesetze verschärfen und damit Reglementierungen
auf den Weg bringen .
({5})
Am Montag dieser Woche fand ein Arbeitnehmerkongress der CDU/CSU-Fraktion statt . Auch da wurde
deutlich: Es geht um bedarfsgerechte und individuelle
Lösungen in den einzelnen Branchen .
({6})
Die Sozialpartner fordern zu Recht, ihnen hierbei Vertrauen zu schenken und das Ganze weniger zu reglementieren . Ich sehe es als unsere Aufgabe in der Politik an,
dass wir einen guten Rechtsrahmen schaffen. Der Kollege Rosemann hat das gesagt; da sind wir einer Meinung .
Es geht um begleitende Hilfen, Prävention und RehabiDr. Martin Rosemann
litation . Wir haben das Präventionsgesetz auf den Weg
gebracht. Auch darin sind flankierende Hilfen vorgesehen . Es gibt das Arbeitsschutzgesetz, in dem in § 5 die
Anforderungen an einen sicheren, gesunden und guten
Arbeitsplatz geregelt sind .
({7})
Ich gebe Ihnen ja recht, dass wir die Belastungsformen, die heute durch eine beschleunigte und sich verändernde Arbeitswelt entstehen, nicht aus dem Blick
verlieren dürfen . Aber Ihre Forderungen, darauf mit kürzeren Arbeitszeiten und einer Umverteilung der Arbeit
zu reagieren, gehen an der Realität vorbei . Sie gehen an
der Realität der deutschen Wirtschaft und der deutschen
Arbeitswelt sowie an den Bedürfnissen der Arbeitnehmer
und Arbeitnehmerinnen vorbei .
({8})
Darauf weisen verschiedene Studien hin . Was ist mit
der Sechsten Europäischen Erhebung über die Arbeitsbedingungen? In den Ergebnissen für Deutschland heißt es:
Drei Viertel der Beschäftigten sind mit ihrer Arbeitszeit
und mit ihren Arbeitsbedingungen zufrieden, und ein Teil
ist sogar sehr zufrieden .
({9})
Was das Thema - noch einmal kurz am Ende - „Arbeitsbelastung und Stress“ angeht: Jeder Mensch hat
doch ein eigenes Empfinden und beurteilt Anforderungen und Belastungen unterschiedlich . Stress ist subjektiv
und wird von jedem anders bewertet . Ja, ich gebe Ihnen
recht, dass die Zahl der psychischen Erkrankungen steigt .
Hierauf müssen wir reagieren . Darauf ist der Kollege
Lagosky in seiner Rede ausführlich eingegangen .
Wir sind uns einig, dass es im Interesse aller liegt,
dass sowohl die psychische Gesundheit am Arbeitsplatz
als auch die allgemeine Arbeitsfähigkeit zu fördern und
zu erhalten sind . Wir sehen uns mit den bereits installierten Maßnahmen auf einem richtigen Weg und werden
diesen angestoßenen Prozess mit weiteren Maßnahmen
fortsetzen .
({10})
Vielen Dank .
({11})
Als letzter Redner in der Aussprache hat Stephan
Stracke für die CDU/CSU das Wort .
({0})
Grüß Gott, Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen! Im Kern geht es bei dieser
Debatte um das Thema „Flexibilität, Arbeitszeit,
({0})
Zeitsouveränität und Schutz vor Überlastungen“ .
Die Digitalisierung hat sicherlich erhebliche Auswirkungen auf die Arbeitswelt . Das meiste davon können
wir in der Schärfe noch gar nicht abbilden . Aber Unternehmen können in der digitalen Arbeitswelt von räumlich und zeitlich flexiblen Wertschöpfungsprozessen profitieren. Für Arbeitnehmer bieten sich große Chancen auf
mehr selbstbestimmtes Arbeiten .
({1})
Es geht letztlich um die Vereinbarkeit von Familie und
Beruf . Mehr Zeit- und Ortssouveränität sowie lebensphasenorientiertes Arbeiten sind hier die Stichworte .
Die entscheidende Frage lautet, wie es uns gelingen
kann, den Zugewinn an Flexibilität verantwortungsvoll
zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer aufzuteilen .
Dabei sehen wir die Frage als zentral an, wie wir das
organisieren . Hier sind letztendlich die Betriebe und die
Sozialpartner gefragt . Es ist ihre ureigene Aufgabe, den
Gewinn an Flexibilität in der digitalen Arbeitswelt zum
Wohle der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie
der Unternehmen in der Praxis zu gestalten .
({2})
Deswegen ist es immer gut, das Geschehen vor Ort im
Blick zu behalten und die Tarifautonomie zu wahren . Wir
brauchen in unserer Arbeitswelt weiß Gott kein starres
Korsett von staatlicher Seite . Diese Kritik richtet sich
gleichermaßen gegen die Vorschläge der Bundesarbeitsministerin zur Anpassung des Arbeitsrechts im Rahmen
des Weißbuchs 4 .0 . Ein Trommelfeuer aus punktuellen
gesetzlichen Maßnahmen hilft nicht weiter . Wir sprechen
uns für betriebliche und tarifliche Vereinbarungen aus,
um passgenaue Lösungen zu finden.
({3})
Ich habe zu Beginn gesagt, dass es um einen Interessenausgleich geht . Es gibt sicherlich große Unterschiede .
Deswegen möchte ich noch etwas zum Rückkehrrecht
bei Teilzeitbeschäftigung sagen . Dabei müssen wir im
Blick behalten, dass wir Planungssicherheit für die Unternehmen brauchen . Wir dürfen insbesondere kleine
Unternehmen nicht überfordern . Es ist gerade für sie
überlebenswichtig, dass ein konstanter Betriebsablauf
gewährleistet wird . Flexibilität und Arbeitsvolumen sind
nun einmal untrennbar miteinander verbunden . Deswegen ist es unsere Leitlinie, die Belange der Arbeitgeber
auf der einen Seite und die Belange der ArbeitnehmerinChristel Voßbeck-Kayser
nen und Arbeitnehmer auf der anderen Seite angemessen
in Einklang zu bringen .
({4})
Der Vorschlag der Bundesarbeitsministerin geht in weiten Teilen über das hinaus und stellt eine unverhältnismäßige Belastung dar . Flexibilität ist ein Maßanzug, der
sowohl den Unternehmen als auch den Mitarbeiterinnen
und Mitarbeitern passen muss . - Nun hat der Kollege
Kurth - Ihr Einverständnis vorausgesetzt, Frau Präsidentin - das Wort .
Aber ich bitte, es kurz zu machen .
Vielen Dank, dass Sie die Frage zulassen . - Ich kann
es kurz machen . Herr Stracke, Sie haben davon gesprochen, was für die kleinen Unternehmen wichtig ist, zum
Beispiel Kontinuität . Stimmen Sie mir dann zu, dass
das Allerwichtigste für die Unternehmen ist, dass ihre
Arbeitskräfte gesund bleiben, dass sie nicht dauerhaft
ausfallen und dass sie nicht innerlich kündigen, kurzum:
dass sie keinem Stress, der gesundheitsschädlich ist, am
Arbeitsplatz ausgesetzt sind?
({0})
Sehr geehrter Herr Kurth, natürlich liegt es im Interesse der Unternehmen, dass es ihren Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmern gut geht; das ist doch selbstverständlich . Das liegt im ureigenen Interesse der Arbeitgeber .
Deshalb lehnen wir beispielsweise eine Antistressverordnung ab .
({0})
Wir haben in diesem Bereich zwei Entwicklungen zu
verzeichnen, Herr Kurth . Zum einen werden im Zuge
der Digitalisierung einfache und ständig wiederkehrende
Tätigkeiten automatisiert . Das nimmt Belastungen weg .
Das sehen Sie schon daran, dass Unternehmen solche
Entwicklungen zum Wohle ihrer Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter aufgreifen . Zum anderen müssen wir im
Blick behalten: Mehr Flexibilität bedeutet auch mehr
Eigenverantwortung für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer . Wir müssen darüber diskutieren, wie wir hier
etwas hinbekommen können . - Herr Kurth, bitte schön,
Sie können sich wieder hinsetzen .
In diesem Sinne haben wir schon vieles im Bereich
Stress getan . Wir brauchen Wege, die dazu dienen, die
Eigenverantwortung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu stärken . Unser Arbeitsschutzsystem ist insgesamt gut aufgestellt und gestaltet die Arbeitswelt sicher
und gesund . Das Prinzip der Gefährdungsbeurteilung ist
hier tragend .
({1})
Wir müssen achtsam sein, wenn es um Entwicklungen
auf den neuen Handlungsfeldern geht .
Vor diesem Hintergrund haben wir uns als Koalition
auf den Weg gemacht, Frau Müller-Gemmeke, die Entwicklung neuer Präventionskonzepte und betrieblicher
Gestaltungslösungen bei psychischer Belastung in enger Zusammenarbeit mit den Trägern der Gemeinsamen
Deutschen Arbeitsschutzstrategie voranzutreiben . Genau
das passiert derzeit . Auch die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin hat ihr Gutachten vorgestellt .
Jetzt entsteht ein neuer Dialogprozess, in dessen Rahmen
wir das erörtern bzw . vertieft diskutieren wollen .
All das zeigt, dass bereits viel geschieht . Wir brauchen
vor allem eine vorausschauende ganzheitliche Planung in
den Betrieben, was den Umgang mit psychischen Belastungsfaktoren angeht . Dabei ist es sicherlich nicht der
Königsweg, immer nur nach neuen gesetzlichen Regelungen bzw . Verordnungen zu rufen, sondern wir brauchen vor allem passgenaue betriebliche Lösungen . Genau darauf zielen wir ab .
Wir brauchen keine gesetzgeberischen Schnellschüsse, wie sie im Rahmen der jetzt vorgelegten Anträge gefordert werden .
Ich sage ein herzliches Dankeschön und wünsche Ihnen ein schönes Wochenende .
({2})
So weit sind wir aber noch nicht, weil wir jetzt noch
eine ganze Reihe von Abstimmungen haben . Ich bitte die
Kollegen und Kolleginnen, so lange sitzen zu bleiben .
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel
„Verordnung gegen Stress in der Arbeitswelt erlassen“ .
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 18/11221, den Antrag der Fraktion Die
Linke auf Drucksache 18/10892 abzulehnen . Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Damit ist diese Beschlussempfehlung mit den
Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen worden .
Wir kommen jetzt zum Tagesordnungspunkt 42 b .
Dabei geht es um die Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales auf
Drucksache 18/12055. Der Ausschuss empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrages der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/8724 mit dem Titel „Wochenhöchstarbeitszeit
begrenzen und Arbeitsstress reduzieren“ . Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Damit ist diese Beschlussempfehlung mit den Stimmen
der Koalition und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
gegen die Stimmen der Linken angenommen worden .
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/8241 mit
dem Titel „Mehr Zeitsouveränität - Damit Arbeit gut ins
Leben passt“ . Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthält sich jemand?
Damit ist auch diese Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalition bei Enthaltung der Fraktion Die Linke
und gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen angenommen worden .
Damit, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind wir am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung .
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 31 . Mai 2017, 13 .00 Uhr, ein .
Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende . Die Sitzung ist geschlossen .