Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie alle herzlich zur 23. Plenarsitzung des Deutschen Bundestages.
Bevor wir in unsere Tagesordnung eintreten, müssen
wir auch heute noch einige Wahlen durchführen.
Als Mitglied des Kuratoriums Wissenschaftszentrum
Berlin für Sozialforschung schlägt die Fraktion der
CDU/CSU den Kollegen Klaus-Peter Willsch und die
SPD-Fraktion den Kollegen Swen Schulz vor. Sind Sie
damit einverstanden? - Das ist offenkundig der Fall. Damit sind die beiden genannten Kollegen als Mitglieder
des Kuratoriums gewählt.
Die CDU/CSU-Fraktion schlägt für die Wahl der Mitglieder des Beirats bei der Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen
vor, als ordentliches Mitglied die Kollegin Nadine Schön
als Nachfolgerin des Kollegen Bernhard Kaster und als
ihren persönlichen Vertreter anstelle des Kollegen
Dr. Michael Fuchs den Kollegen Patrick Schnieder zu
wählen. Der Kollege Dr. Michael Fuchs soll seinerseits
anstelle der Kollegin Nadine Schön persönlicher Stellvertreter des Kollegen Dr. Joachim Pfeiffer werden. Das
wird Ihnen sicher einleuchten. Schließlich soll die Kollegin Barbara Lanzinger dem Kollegen Karl Holmeier als
neue persönliche Stellvertreterin des Kollegen Dr. Georg
Nüßlein nachfolgen.
Die SPD-Fraktion schlägt für dasselbe Gremium vor,
die Kollegin Waltraud Wolff als ordentliches Mitglied
für den Kollegen Thomas Jurk und als ihren persönlichen Stellvertreter den Kollegen Thomas Jurk anstelle
der Kollegin Michelle Müntefering zu wählen. Die Kollegin Michelle Müntefering soll ihrerseits für den Kollegen Dr. Hans-Joachim Schabedoth neue persönliche
Stellvertreterin des Kollegen Klaus Barthel werden.
Schließlich soll die Kollegin Andrea Wicklein für den
Kollegen Johann Saathoff als neue persönliche Stellvertreterin der Kollegin Dr. Nina Scheer berufen werden.
Sind Sie mit all diesen gerade vorgetragenen Vorschlägen einverstanden? - Ich höre keinen hinreichend
eindeutigen Widerspruch. Damit sind die genannten
Kolleginnen und Kollegen als Mitglieder oder persönliche stellvertretende Mitglieder des Beirats gewählt.
Schließlich schlägt die Fraktion der CDU/CSU vor,
die Kollegin Dr. Claudia Lücking-Michel für den Kollegen Volkmar Klein als neue Schriftführerin zu wählen.
Können Sie sich auch das vorstellen? - Es sieht ganz danach aus. Dann ist die Kollegin Claudia Lücking-Michel
hiermit als neue Schriftführerin gewählt.
Es gibt eine interfraktionelle Vereinbarung, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste
aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Haltung der Bundesregierung zur Verlängerung von Laufzeiten für Atomkraftwerke in
Deutschland
({0})
ZP 2 Abgabe einer Regierungserklärung durch die
Bundeskanzlerin
zum Europäischen Rat am 20./21. März 2014
in Brüssel
ZP 3 Weitere Überweisung im vereinfachten Verfahren
({1})
Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Erleichterung
der Umsetzung der Grundbuchamtsreform in
Baden-Württemberg
Drucksache 18/70
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
ZP 4 Wahl der Mitglieder des Kuratoriums der
„Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden
Europas“
Drucksache 18/845
Präsident Dr. Norbert Lammert
ZP 5 Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Einsetzung eines Untersuchungsausschusses
Drucksache 18/843
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Alexander S. Neu, Wolfgang Gehrcke, Jan
van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Einsetzung einer „Parlamentarischen Kommission zur Überprüfung, Sicherung und
Stärkung der Parlamentsrechte bei der Mandatierung von Auslandseinsätzen der Bundeswehr“
Drucksache 18/839 ({2})
Dabei soll von der Frist für den Beginn der Beratungen, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Die Tagesordnungspunkte 3 und 9 werden abgesetzt.
Darüber hinaus kommt es zu den in der Zusatzpunktliste dargestellten weiteren Änderungen im Ablauf der
heutigen Plenarsitzung.
Ich mache schließlich noch auf nachträgliche Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste
aufmerksam:
Die am 13. März 2014 ({3}) überwiesenen
nachfolgenden Vorlagen sollen zusätzlich dem Ausschuss Digitale Agenda ({4}) zur Mitberatung überwiesen werden:
Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht über die Auswirkungen der §§ 30a
und 42a des Bundesdatenschutzgesetzes
Drucksachen 17/12319, 18/770 Nr. 5
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({5})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss Digitale Agenda
Unterrichtung durch den Bundesbeauftragten für
den Datenschutz und die Informationsfreiheit
Tätigkeitsbericht 2011 und 2012 des Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit
- 24. Tätigkeitsbericht Drucksachen 17/13000, 18/770 Nr. 6
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({6})
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Sportausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Finanzausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
Ausschuss Digitale Agenda
Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({7})
gem. § 56 a der Geschäftsordnung
Technikfolgenabschätzung ({8})
Konzepte der Elektromobilität und deren Bedeutung für Wirtschaft, Gesellschaft und Umwelt
Drucksachen 17/13625, 18/770 Nr. 16
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({9})
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss Digitale Agenda
Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({10})
gem. § 56 a der Geschäftsordnung
Technikfolgenabschätzung ({11})
Zukunft der Automobilindustrie
Drucksachen 17/13672, 18/770 Nr. 17
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({12})
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss Digitale Agenda
Unterrichtung durch die Bundesregierung
Programm zur nachhaltigen Nutzung und
zum Schutz der natürlichen Ressourcen
({13})
Drucksachen 17/8965, 18/770 Nr. 27
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit ({14})
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss Digitale Agenda
Darf ich auch dazu Ihr Einvernehmen feststellen? Das ist ganz offensichtlich der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Wir kommen nun zum Zusatzpunkt 2 unserer Tagesordnung:
Abgabe einer Regierungserklärung durch die
Bundeskanzlerin
zum Europäischen Rat am 20./21. März 2014
in Brüssel
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Die Linke vor
({15})
Präsident Dr. Norbert Lammert
- den die Kanzlerin nicht verlesen wird.
({16})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung 96 Minuten vorgesehen. - Auch dazu stelle ich Einvernehmen fest.
Damit erteile ich nun das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung der Bundeskanzlerin, Frau Dr. Angela
Merkel.
({17})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Auf der Tagesordnung eines
Frühjahrsrates der europäischen Staats- und Regierungschefs steht in der Regel die Frage, wie wir die
Wettbewerbsfähigkeit Europas stärken und damit die
Grundlagen für Wachstum und Beschäftigung verbessern können. Das wird auch dieses Mal so sein, und doch
steht dieser Rat auch wieder ganz im Zeichen anderer
Ereignisse; er steht im Zeichen der Entwicklungen in der
Ukraine.
Die Entwicklungen führen uns nachdrücklich vor Augen, wie verletzbar der Schatz von Frieden in Freiheit in
Europa auch über ein halbes Jahrhundert nach Unterzeichnung der Römischen Verträge ist. Wir hatten geglaubt, dass sich 25 Jahre nach dem Fall der Berliner
Mauer der Friedensauftrag der europäischen Einigungsidee gleichsam umfassend erfüllt habe, und wir haben
schon beinahe vergessen, dass der letzte Krieg auf dem
europäischen Kontinent, dem westlichen Balkan, noch
keine Generation her ist. Es grenzt an ein Wunder, dass
sich viele Völker Europas nach Jahrhunderten des Blutvergießens und den Schlachten vor fast 60 Jahren zu ihrem Glück vereint haben. Wie kostbar dieses Glück ist,
erleben wir gegenwärtig in der Ukraine.
Das sogenannte Referendum am vergangenen Sonntag auf der Krim entsprach weder den Vorgaben der
ukrainischen Verfassung noch den Standards des Völkerrechts.
({0})
Die Stellungnahmen von OSZE und Europarat dazu sind
eindeutig; Russland ist in allen internationalen Organisationen weitgehend isoliert.
Das Ergebnis dieser sogenannten Abstimmung auf
der Krim wird die internationale Völkergemeinschaft
nicht anerkennen. Es handelt sich um einseitige Veränderungen von Grenzen. Die Annahme eines entsprechenden Resolutionsentwurfs im UN-Sicherheitsrat scheiterte, wenig überraschend, am russischen Veto. Dass alle
anderen Sicherheitsratsmitglieder für die Resolution
stimmten oder sich, wie China, enthielten, spricht jedoch
eine deutliche Sprache.
Die Europäische Union hat am vergangenen Montag
beim Rat der Außenminister mit ersten gezielten Sanktionen reagiert und gegenüber 21 Personen, die die territoriale Unversehrtheit, Souveränität und Unabhängigkeit
der Ukraine bedrohen oder unterminieren, Reisebeschränkungen und Vermögenssperren ausgesprochen.
Einen Tag später erfolgten die Anerkennung der sogenannten Unabhängigkeit der Krim durch Russland und
der Vertragsschluss zu einem Beitritt der Krim zur Russischen Föderation, also weitere völkerrechtswidrige
Schritte gegen die Einheit der Ukraine. Sie erfordern die
entschlossene wie geschlossene Antwort Europas und
seiner Partner:
Erstens. Auf dem heute beginnenden Europäischen
Rat werden die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union weitere Sanktionen der von uns vor zwei
Wochen beschlossenen Stufe 2 festlegen. Dazu gehört
eine Ausweitung der Liste von verantwortlichen Personen, gegen die Reisebeschränkungen und Kontensperrungen in Kraft gesetzt werden.
Darüber hinaus werden wir Konsequenzen für die
politischen Beziehungen zwischen der EU und Russland
sowie in den nächsten Tagen auch der G 7 zu Russland
ziehen. Denn es ist doch offenkundig: Solange das politische Umfeld für ein so wichtiges Format wie die G 8,
so wie im Augenblick, nicht gegeben ist, gibt es die G 8
nicht mehr, weder den Gipfel noch das Format als solches.
Ich ergänze: In der Abwägung zwischen notwendigen
Gesprächskontakten einerseits, für die wir uns immer
einsetzen werden, und Formaten, die definitiv ein anderes Umfeld als das jetzige erfordern, auf der anderen
Seite wird die Bundesregierung entscheiden, ob und,
wenn ja, gegebenenfalls in welcher Form deutsch-russische Regierungskonsultationen Ende April stattfinden
werden.
Außerdem wird der EU-Rat heute und morgen auch
deutlich machen, dass wir bei einer weiteren Verschärfung der Lage jederzeit bereit sind, Maßnahmen der dritten Stufe einzusetzen. Dabei wird es ganz ohne Zweifel
auch um wirtschaftliche Sanktionen gehen.
Zweitens. Um eine internationale Kontrolle insbesondere in der Ost- und Südukraine zu ermöglichen, setzt
sich die Bundesregierung für eine starke OSZE-Mission
ein. Der Bundesaußenminister und ich haben in den letzten Tagen zusammen mit vielen anderen, insbesondere
dem Schweizer Vorsitz, sehr viel getan, um den Beschluss zu einer solchen Mission hinzubekommen, aber
die Verhandlungen sind zäh und schwierig. Der Bundesaußenminister hat gestern noch einmal gesagt, binnen
24 Stunden sollte und müsste eine solche Mission zustande kommen. Sie kann nach unserer festen Überzeugung auch zustande kommen. Wir werden auch den heutigen Tag nutzen, um das hinzubekommen. Außerdem
setzen wir uns für die notwendigen Gespräche zwischen
der russischen und der ukrainischen Regierung ein.
Drittens. Deutschland und die Europäische Union
werden die Ukraine mit konkreter Hilfe unterstützen.
Der IWF führt mit Hochdruck Gespräche mit der ukrai1756
nischen Regierung über ein IWF-Programm. Die ersten
Schritte des Hilfsprogramms der EU-Kommission müssen jetzt schnell umgesetzt werden. Wir werden zudem
auf dem heute beginnenden Europäischen Rat den politischen Teil des Assoziationsabkommens mit dem
ukrainischen Ministerpräsidenten unterzeichnen. Dieser politische Teil gibt wichtige Impulse, vor allem für
die Rechtsstaatsentwicklung, und wir geben damit ausdrücklich ein politisches Signal der Solidarität und der
Unterstützung für die Ukraine.
({1})
Meine Damen und Herren, im Lichte der aktuellen
Ereignisse in der Ukraine wird einmal mehr deutlich,
wie kostbar das Werk der europäischen Einigung ist. Daran konnte und kann auch die europäische Staatsschuldenkrise nichts ändern, so groß die Herausforderung
auch war und im Übrigen immer noch ist. Wenn wir
wollen, dass die Europäische Union auch für kommende
Generationen ihr Versprechen von Frieden, Freiheit und
Wohlstand erfüllen kann, dann müssen wir jetzt die Weichen richtig stellen. Wenn wir wollen, dass unser einzigartiges europäisches Wirtschafts- und Sozialmodell auf
Dauer im globalen Wettbewerb erfolgreich ist, dann dürfen wir jetzt in unseren Anstrengungen nicht nachlassen.
Nur eine wirtschaftlich erfolgreiche, wettbewerbsfähige Europäische Union kann ihre Werte und Interessen
in der globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts auch nach
außen selbstbewusst vertreten. Wir werden uns deshalb
beim Europäischen Rat heute und morgen weiter damit
beschäftigen, wie wir unsere Wettbewerbsfähigkeit stärken und damit die Grundlagen für Wachstum und vor allen Dingen Beschäftigung - das ist das zentrale Thema,
mit dem wir uns, insbesondere mit Blick auf die jungen
Menschen, in den nächsten Jahren auseinandersetzen
müssen - verbessern können.
Die Europäische Union tut gut daran, gerade in diesen
Zeiten engagiert daran zu arbeiten, stärker aus der
Staatsschuldenkrise herauszukommen, als wir in sie hineingegangen sind. Wir können auch sagen, dass die
Euro-Zone als Ganzes jetzt, im Frühjahr 2014, nach
schweren Jahren zum ersten Mal die Rezession verlassen
hat. Die Kommission rechnet für 2014 mit einem Wachstum von ungefähr 1,2 Prozent. Das ist etwas mehr, als
noch im Herbst erwartet wurde, aber wir wissen auch:
1,2 Prozent können noch gesteigert werden.
Neben Spanien konnte auch Irland im Dezember sein
Programm erfolgreich beenden. Die Leistung der Iren
verdient unseren großen Respekt. Portugal und Spanien
konnten langjährige Leistungsbilanzdefizite im Jahr
2013 in Überschüsse umwandeln und werden diese in
diesem Jahr noch ausbauen. Portugal hat zum Beispiel
wieder ein Wirtschaftswachstum zu verzeichnen. Auch
die Investoren blicken mit mehr Zuversicht auf die EuroZone, als sie das in den vergangenen Jahren getan haben.
Die Renditen für die Staatsanleihen der besonders von
der Krise betroffenen Mitgliedstaaten sind deutlich gesunken. Für italienische, spanische und irische Anleihen
etwa liegen diese im Umfeld der niedrigsten Stände seit
der Einführung des Euro.
Meine Damen und Herren, das sind gute Nachrichten.
Doch so erfreulich die Fortschritte auf dem Weg zu mehr
Stabilität und Wachstum auch sind: Wir müssen uns
trotzdem im Klaren sein, dass der Aufschwung keineswegs schon gesichert ist. Deshalb müssen wir uns natürlich weiter um die Ursachen der Krise kümmern und
Vorsorge für die Zukunft treffen. Wir haben zu diesem
Zweck in den vergangenen Jahren die wirtschafts- und
finanzpolitischen Überwachungsverfahren innerhalb der
Euro-Zone und innerhalb der Europäischen Union immer weiter verbessert. Ich glaube, wenn wir dieses Instrumentarium schon vor der Krise zur Verfügung gehabt
hätten, dann wäre vieles von dem, was wir durchleben
mussten, so nicht passiert. Umso wichtiger ist es, dass
wir die von uns selbst herausgearbeiteten Verfahren jetzt
auch konsequent anwenden.
Da gibt es das Europäische Semester, das sich in den
letzten vier Jahren etabliert hat. Es ist heute weitreichender und konkreter, als es jemals war. Ich begrüße das;
aber ich glaube, wir dürfen dabei nicht stehen bleiben,
sondern müssen uns gerade in der Euro-Zone in den
nächsten Monaten weiter für die wirtschaftspolitische
Koordinierung in den nationalen Politikbereichen einsetzen. Nur so können wir in einer Kombination aus fiskalischer Solidität und wirtschaftspolitischer Koordinierung
die Architektur der Wirtschafts- und Währungsunion
nachhaltig stärken. Ich habe es in diesem Plenum oft gesagt: Jacques Delors hat schon vor Einführung des Euros
darauf hingewiesen, dass Fiskaldisziplin allein nicht ausreicht, um eine gemeinsame Währung auf Dauer stabil
zu halten.
Wir werden auf diesem Rat eine Bestandsaufnahme
vornehmen und über übergreifende Schwerpunkte des
diesjährigen Europäischen Semesters diskutieren. Es
geht dabei um wachstumsfreundliche Konsolidierung,
Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit, Steigerung von Beschäftigung, vor allem der Jugendbeschäftigung, sowie
Arbeitsmarktreformen.
Es zeigt sich, dass die Reformen, die in vielen Mitgliedstaaten beschlossen wurden, zu wirken beginnen;
aber dennoch gehört zu der augenblicklichen Lage auch
ein Stück Vertrauensvorschuss. Deshalb werben wir für
einen umfassenden Ansatz - Strukturreformen und mehr
Wettbewerbsfähigkeit - und vor allen Dingen dafür, dass
die EU-Institutionen, insbesondere die Kommission, die
notwendigen Voraussetzungen dafür schaffen.
Wir sind alle in der Pflicht. Wir müssen unsere Anstrengungen verstärken. Wir glauben, dass die Ergebnisse der Analysen im Rahmen des makroökonomischen
Ungleichgewichteverfahrens, die von vielen Mitgliedstaaten noch umgesetzt werden müssen, wirklich konsequent umzusetzen sind. Wir begrüßen, dass die Kommission, die sich mit den deutschen Ungleichgewichten
befasst hat, nämlich mit den Leistungsbilanzüberschüssen, deutlich gemacht hat, dass sie nicht schädlich für die
Euro-Zone sind. Das entspricht nach meiner festen
Überzeugung den Tatsachen.
Wichtig ist, dass wir sicherstellen, dass Unternehmen
auch weiterhin in Europa produzieren. Hier haben wir
eine Vielzahl von Herausforderungen zu bestehen. Ich
kann jetzt nicht auf alle Details eingehen, möchte aber
sagen: Es gibt eine ganze Reihe von Bereichen in Europa, bei denen wir Sorge haben müssen, ob wir im weltweiten Wettbewerb wirklich noch führend sind. Wenn
ich mir die gesamte digitale Wirtschaft anschaue, stelle
ich fest, dass wir einen erheblichen Nachholbedarf haben. Deshalb werden wir uns von deutscher Seite sehr
stark dafür einsetzen, dass der digitale Binnenmarkt
möglichst schnell geschaffen wird. Wir wissen, dass wir
Rahmenbedingungen schaffen müssen - in Form von
Forschung und Entwicklung -, und wir wissen, dass wir
etwas tun müssen, um die Bürokratie abzubauen. Deshalb begrüßen wir die Initiative REFIT der Europäischen
Kommission, mit der zum ersten Mal Bürokratie abgebaut wird, und deshalb weisen wir darauf hin, dass alle
Verfahren, die in diesen Zeiten, in denen der weltweite
Wettbewerb wirklich hart ist, die Lage für unsere Unternehmen erschweren, wirklich unterbleiben müssen.
Dazu gehören auch sehr harte Diskussionen über den
Umgang mit der energieintensiven Industrie, die von uns
im Zusammenhang mit der Novelle des ErneuerbareEnergien-Gesetzes und der Frage des Beihilfeverfahrens
jetzt geführt werden, insbesondere vom Bundeswirtschaftsminister. Ich kann nur sagen: Da die Energiepreise in den Vereinigten Staaten von Amerika heute
deutlich niedriger sind als in Europa - um die Hälfte,
zum Teil weniger als die Hälfte -, müssen wir die notwendigen Voraussetzungen dafür schaffen - das muss
uns die Europäische Kommission ermöglichen -, dass
zumindest die Unternehmen, die im internationalen
Wettbewerb stehen und in Europa wettbewerbsfähig
sind, im internationalen Wettbewerb bestehen können.
({2})
Es macht doch keinen Sinn, wenn wir auf der einen Seite
über die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit und
über neue, gute, qualifizierte Arbeitsplätze sprechen und
auf der anderen Seite die Rahmenbedingungen so setzen,
dass die Unternehmen im weltweiten Wettbewerb erkennbar nicht bestehen können. Deshalb hat die Bundesregierung deutlich gemacht, dass sie die EEG-Umlage
insgesamt nicht als Beihilfe sieht. Trotzdem müssen wir
natürlich vorsorglich mit der Kommission verhandeln.
Denn unsere Unternehmen brauchen Investitionssicherheit, und die notwendigen Befreiungsbescheide müssen
im Sommer des Jahres verschickt werden. Ansonsten
werden Investitionen unterbleiben. Die Verhandlungen
sind kompliziert. Ich bitte ganz einfach um breite Unterstützung auch aus diesem Hause.
({3})
Wir werden uns bei diesem Europäischen Rat zudem
dafür einsetzen, dass die EU eine führende Rolle bei der
Bekämpfung der grenzüberschreitenden Steuerhinterziehung einnimmt und jetzt zügig die Erweiterung der Zinsbesteuerungsrichtlinie verabschiedet sowie die Verhandlungen mit den europäischen Drittstaaten entschlossen
voranbringt. Wir haben hier positive Signale aus
Luxemburg, und wir werden schauen, dass wir möglichst schnell vorankommen.
({4})
Meine Damen und Herren, wir sind, glaube ich, in
diesem Hause mit sehr breiter Mehrheit davon überzeugt, dass die Erfordernisse einer starken und wettbewerbsfähigen europäischen Industrie einen ambitionierten Klimaschutz beinhalten, dass sich diese beiden
Dinge also nicht widersprechen, sondern sehr gut in Einklang zu bringen sind. Darum geht es auch in der laufenden Diskussion über die zukünftige Ausrichtung der europäischen Klima- und Energiepolitik. Hier ist der
heutige Europäische Rat, wenn es auch noch keine abschließende Beschlussfassung geben wird, eine wichtige
Etappe. Er ist eine wichtige Etappe, weil es auch um die
internationalen Klimaverhandlungen und die internationale Klimakonferenz am Ende des nächsten Jahres in Paris geht, die wir durch unsere europäischen Beschlüsse
natürlich auch unterstützen wollen.
Die Europäische Kommission hat im Januar dieses
Jahres eine EU-interne Treibhausgasminderung um
40 Prozent bis 2030 gegenüber 1990 und einen Anteil
der erneuerbaren Energien von mindestens 27 Prozent
vorgeschlagen. Diese Vorschläge sind die Basis für unsere Beratungen. Es ist kein Geheimnis, dass wir uns in
einigen Teilen ambitioniertere Vorschläge der Kommission hätten vorstellen können, insbesondere beim Ausbau der erneuerbaren Energien. Aber wir werden vor allen Dingen darum ringen müssen, dass wir zu einer
gemeinsamen Beschlussfassung kommen. Deutschland
setzt sich hier sehr intensiv ein. Wir wollen, dass ein
starkes Signal von Europa ausgeht, um besagte Klimakonferenz in Paris deutlich zu unterstützen. Dass diese
Verhandlungen schwierig werden, auch innerhalb der
Europäischen Union, kann ich Ihnen jetzt schon voraussagen. Aber wir werden dafür werben, dass alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union ihren Beitrag zum
Klimaschutz leisten.
Meine Damen und Herren, wir werden beim Europäischen Rat natürlich auch über die Energieversorgungssicherheit sprechen. Gerade im Zusammenhang mit den
Ereignissen in der Ukraine spielt dieses Thema insbesondere für unsere östlichen Nachbarn eine große Rolle.
Wir müssen mit Nachdruck und Hochdruck an einem europäischen Energiebinnenmarkt arbeiten. Hier sind in
den letzten Jahren, auch durch die Initiativen des EUKommissars Günther Oettinger, vielfältige Verbesserungen erfolgt. Aber unsere Anstrengungen müssen fortgesetzt werden, um unsere Energiebezugsquellen und
Transportwege weiter zu diversifizieren und unsere Importabhängigkeiten weiter zu verringern. Dazu müssen
wir neben den Möglichkeiten des Energieimports auch
die Möglichkeiten der Energieeffizienz ins Auge fassen.
Die Erzeugung von Strom aus erneuerbaren Energien ist
natürlich auch ein Beispiel dafür, wie man unabhängiger
wird.
({5})
Der Netzausbau ist eine zentrale Voraussetzung, das Ziel
eines EU-Energiebinnenmarkts zu verwirklichen; deshalb wird es auch genau darum gehen.
Sie sehen an der Themenstellung - erst recht, wenn
das Thema Ukraine noch hinzukommt -, welch kompak1758
ten Arbeitsauftrag wir in den nächsten 24 Stunden haben. Sie sehen, dass es darum geht, einen Gesamtansatz
einer Wirtschafts-, Industrie-, Energie- und Klimapolitik
hinzubekommen, von dem wir der Überzeugung sind,
dass er die Basis für Wohlstand und mehr Beschäftigung
bilden kann. Wir sind uns allerdings bewusst, dass dies
letztlich nur gelingt, wenn wir unseren Blick auch nach
außen richten, weil wir uns immer mit den Besten in der
Welt messen müssen und demzufolge unsere Wachstumschancen definieren müssen.
Das gilt auch mit Blick auf die Vereinigten Staaten
von Amerika; ich habe auf die Energiepreise hingewiesen. Europa und die USA erwirtschaften gemeinsam fast
die Hälfte der weltweiten Wirtschaftsleistung. Fast ein
Drittel des Welthandels wird über den Atlantik abgewickelt. Wir sind deshalb der tiefen Überzeugung, dass die
Verhandlungen für ein Freihandelsabkommen zwischen
den USA und der EU von den Mitgliedstaaten unterstützt werden müssen und dass wir hier zu einem solchen
Abkommen kommen müssen.
({6})
Meine Damen und Herren, ich kenne all die Vorbehalte. Aber ich glaube, wenn wir nur mit Blick darauf,
was alles schwierig ist, an dieses Thema herangehen,
dann werden wir Folgendes erleben: Die USA werden
mit nahezu allen anderen Regionen dieser Welt Freihandelsabkommen abschließen,
({7})
und auch wir werden mit sehr vielen Regionen dieser
Welt Freihandelsabkommen abschließen. Aber ausgerechnet die beiden führenden Märkte, im Übrigen noch
angesiedelt in erkennbar demokratischen Gesellschaften,
wären nicht in der Lage, miteinander ein Freihandelsabkommen abzuschließen. Wenn das unsere Maßgabe sein
sollte, dann sind wir auf dem Holzweg; das ist meine
tiefe Überzeugung. Das muss zu schaffen sein.
({8})
Aber ich sage auch: Es gibt komplizierte Sachverhalte. Ich nenne nur das Thema Datenschutz. Ich könnte
viele andere Dinge nennen. Wir werden alle Bedenken
ernst nehmen. Lassen Sie uns aber an diese Verhandlungen so herangehen, dass es etwas wird, und lassen Sie
uns nicht Gründe finden, damit es nichts wird. Nur ein
offenes und erfolgreiches Europa kann seine Interessen
und Werte überzeugend vertreten und auch seine Partnerschaften leben.
Darum geht es auch, wenn am 2. und 3. April in Brüssel der EU-Afrika-Gipfel stattfindet. Der Europäische
Rat heute und morgen dient auch der Vorbereitung dieses Treffens. An diesem Treffen werden etwa 80 Staatsund Regierungschefs teilnehmen. Wir wollen natürlich,
dass von diesem Gipfel das Signal einer langfristigen,
verlässlichen Zusammenarbeit mit unserem Nachbarkontinent ausgeht. Das Thema des EU-Afrika-Gipfels
lautet „In Menschen, Wohlstand und Frieden investieren“. Dieses Thema verdeutlicht die Bandbreite unserer
EU-Afrika-Beziehungen, ihre Herausforderungen und
Chancen. Es weist auf die besondere Rolle hin, die
Afrika für Europa spielt.
Wir wollen dieser Verantwortung gerecht werden. Ich
erinnere nur daran, dass wir bis zu den aktuellen Diskussionen über die Ukraine sehr intensiv über die Rolle und
die Situation in Afrika gesprochen haben. Das darf jetzt
nicht aus dem Blick geraten. Wir beobachten ein verstärktes Engagement, zum Beispiel von China, Indien,
Brasilien, auch der Türkei, in Afrika. Das Gipfelthema
betont natürlich nicht nur unsere Partnerschaft, sondern
auch die Eigenverantwortung afrikanischer Staaten, die
Verantwortung für ihren eigenen Wohlstand und ihre Sicherheit. Dazu zählen der Schutz der Menschenrechte,
der Kampf gegen Korruption und der Schutz von Minderheiten; was das angeht, mussten wir in diesen Tagen
leidvolle Erfahrungen machen. Dafür werde ich sehr entschieden werben. Gute Regierungsführung und die energische Bekämpfung der Korruption sind nämlich entscheidende Voraussetzungen für eine erfolgreiche
wirtschaftliche Entwicklung. Mit der wachsenden Transparenz, mit dem global verbreiteten Internet werden
auch in Afrika die Menschen, die Bevölkerung, die Bürgerinnen und Bürger der Länder nicht mehr einfach hinnehmen, dass gute Regierungsführung nicht vorhanden
ist, sondern sie werden dagegen aufbegehren. Wir können das gut verstehen.
({9})
Wir wollen diese gute Regierungsführung im Rahmen
unserer Möglichkeiten weiterhin unterstützen. Ich werde
auch für unsere sogenannte Ertüchtigungsinitiative zur
Befähigung geeigneter afrikanischer Partner der Afrikanischen Union und der Regionalorganisationen zur Wahrung von Frieden und Sicherheit auf dem afrikanischen
Kontinent werben. Wir glauben: Wir müssen Hilfe zur
Selbsthilfe leisten, damit die afrikanischen Länder selber
in der Lage sind, für ihre Sicherheit zu sorgen. Unsere
afrikanischen Partner müssen durch Beratung, Ausbildung und auch durch Ausrüstung in die Lage versetzt
werden, selbst für Stabilität und Sicherheit zu sorgen;
denn Stabilität und Sicherheit sind die Grundvoraussetzungen für die weitere Entwicklung in vielen afrikanischen Staaten.
Die Übernahme von Eigenverantwortung in den Regionen und die Stärkung der Regionalorganisationen und
der Afrikanischen Union, das sind die Ziele, mit denen
wir an die Zusammenarbeit herangehen. Die Europäische Union kann hier noch mehr leisten. Wir werden unseren Verpflichtungen gerecht. Die aktuellen sicherheitspolitischen Herausforderungen kennen Sie: in Mali, am
Horn von Afrika, im Südsudan, in der Zentralafrikanischen Republik. Hier zeigt sich die Bedeutung Europas
als Partner Afrikas. Die Europäische Union engagiert
sich in diesen Krisenherden mit ihren Krisenmanagementkapazitäten oder plant aktuelle Einsätze.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung setzt
sich mit aller Kraft dafür ein, dass die Europäische
Union auch in Zukunft ihr Versprechen von Frieden, von
Freiheit und Wohlstand einhalten kann. Gerade in diesen
Tagen erleben wir, dass dies alles andere als selbstverständlich ist. Gerade in diesen Tagen erleben wir auch,
wie wichtig es ist, dass die Europäische Union immer
wieder zu gemeinsamen Antworten findet. Ich bin überzeugt, dass wir dieses Ziel erreichen können. Deshalb arbeitet die Bundesregierung dafür, und ich bitte um Ihre
Unterstützung.
Herzlichen Dank.
({10})
Ich eröffne die Aussprache.
Das Wort erhält zunächst der Kollege Gregor Gysi für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Bundeskanzlerin, ich finde, Sie hätten lieber unseren Entschließungsantrag vorlesen sollen; das wäre inhaltsreicher gewesen.
({0})
Aber kommen wir zum Ernst der Lage zurück. Ich
sage: Die Lage ist wirklich ernst im Bezug auf die
Ukraine und Russland, aber nicht hoffnungslos. Die
Krim soll nun, unter Bruch des Völkerrechts, Bestandteil
Russlands werden. Das Verfassungsgericht in Russland
hat schon zugestimmt; jetzt werden noch die beiden
Kammern des Parlaments zustimmen. Es ist übrigens
interessant, dass Russland sich keine Gedanken darüber macht, dass dadurch natürlich aufseiten der
Ostukraine, wenn Parlaments- und Präsidentschaftswahlen anstehen, über 1 Million Wählerinnen und
Wähler fehlen - was ja auch Folgen hat. Aber das interessiert Russland nicht.
Wie vorhergesagt, hat sich Putin tatsächlich auf den
Kosovo berufen. Ich bleibe dabei: Die Abtrennung des
Kosovo war ein Bruch des Völkerrechts;
({1})
da können Sie hier über edle Motive erzählen, was Sie
wollen. Soldaten gab es nicht nur auf der Krim, Soldaten
gab es auch im Kosovo. Einen Volksentscheid gab es übrigens nur auf der Krim und nicht im Kosovo.
({2})
Aber ich habe keine Zweifel, dass die Mehrheit der Bewohnerinnen und Bewohner des Kosovo die Abtrennung
wollte. Wir können ebenfalls nicht leugnen, dass auch
eine große Mehrheit der Bevölkerung auf der Krim die
Abtrennung will. Nur ist das für mich - das will ich auch
gleich sagen - kein Grund.
Auf eines möchte ich Sie hinweisen: Aus dem Bruch
des Völkerrechts kann irgendwann im Völkerrecht Gewohnheitsrecht entstehen, und das ist nicht ungefährlich.
Deshalb habe ich Sie damals beim Kosovo so gewarnt.
Ein bedrängter, unterdrückter Bevölkerungsteil - auch
ein Bevölkerungsteil, gegen den Gewalt angewendet
wird -, muss das Recht haben, sein Land zu verlassen aber nicht mit Territorium; das geht nur mit Zustimmung
des Staates, zu dem das Territorium gehört. Diesen
Grundsatz haben Sie im Kosovo gebrochen, und dafür
zahlen wir jetzt.
({3})
Ich weiß, es gibt auch andere völkerrechtliche Auffassungen, sowohl in Bezug auf den Kosovo als auch in
Bezug auf die Krim. Zum Beispiel wird gesagt, dass
Chruschtschow unter Verletzung sowjetischen Rechts
damals die Krim der Ukraine übergeben hat; er war ja
selbst Ukrainer. Ehrlich gesagt, meine Auffassung ist
dies nicht. Ich sage: In beiden Fällen war bzw. ist es völkerrechtlich nicht legitim.
({4})
Der Hinweis auf die ukrainische Verfassung, der von
Ihnen immer kommt - auch von Ihnen, Frau Bundeskanzlerin -, ist nicht besonders glaubwürdig. Sie sagen
auf der einen Seite: Die ukrainische Verfassung verbietet
eine eigene Volksabstimmung auf der Krim ohne Zustimmung der Zentralregierung. - Auf der anderen Seite
interessiert es Sie aber nicht, dass in der ukrainischen
Verfassung steht, dass der Präsident nur mit 75 Prozent
der Stimmen im Parlament abgewählt werden darf - die
nicht zusammenkamen. Also: Entweder die Verfassung
gilt, oder sie gilt nicht.
({5})
Heraus kommt auf jeden Fall eines: dass der Übergangspräsident und die Übergangsregierung nicht legitim sind; daran können Sie nichts ändern. Man kann mit
ihnen trotzdem verhandeln - das bestreite ich nicht -;
aber man muss wissen - und es ihnen sagen -, dass sie
nicht legitim sind.
Wie wird es weitergehen? Ich sage es Ihnen: Letztlich
werden irgendwann, früher oder später, alle Regierungen
irgendwie akzeptieren, dass die Krim zu Russland gehört.
Nun sagen Sie: Man muss Sanktionen beschließen;
denn wenn man keine Sanktionen beschlösse, dann bedeutete das, eine Völkerrechtsverletzung einfach hinzunehmen. Wirklich?
Ich erinnere Sie an ein Beispiel: 1974 besetzten türkische Truppen den Nordteil Zyperns. Das war eindeutig
und unbestritten völkerrechtswidrig. Sie haben damals
nicht eine einzige Sanktion gegen die Türkei beschlossen. Warum nicht? Nur weil die Türkei im Gegensatz zu
Russland in der NATO ist? Warum setzen Sie immer
diese unterschiedlichen Maßstäbe? Warum können wir
nicht mal einheitliche Maßstäbe setzen und anwenden?
({6})
Übrigens: Zypern ist bis heute geteilt.
({7})
Ich sage auch: Sanktionen sind keine Politik, sondern
ein Ersatz dafür. Die USA drängen aber auf Sanktionen,
weil die Antwort Russlands, die darauf erfolgen kann,
nicht die USA, sondern die Europäerinnen und Europäer
und insbesondere die Deutschen treffen würde. Frau
Merkel, Sie sind hier wieder das, was Sie bei der US-Regierung immer sind: Sie sind hörig gegenüber der USRegierung.
Einen kleinen Augenblick, bitte, Herr Gysi. - Ich darf
darum bitten, dass offenkundig etwas länger dauernde
bilaterale Gespräche nicht unmittelbar in der Nähe des
Rednerpultes geführt werden.
({0})
Das sind dieselbe Hörigkeit und dasselbe Duckmäusertum wie bei den millionenfachen Abhöraktionen der
NSA in Deutschland. Sie tun nichts dagegen.
({0})
Es kommt noch etwas hinzu: Die USA planen jetzt
neue Atomwaffen in Deutschland, Herr Kauder. Wir
brauchen aber weder die alten noch neue Atomwaffen.
({1})
Ich sage Ihnen eines: Wenn je von Deutschland aus eine
Atomwaffe von den USA gestartet wird, dann trifft die
Antwort uns und nicht die USA. Der Höhepunkt dabei
ist: Wir sollen uns auch noch mit 20 Prozent an den Kosten beteiligen. Das sind 30 Millionen Euro. Ich frage Sie
wirklich, Frau Bundeskanzlerin, Herr Steinmeier und
Herr Schäuble: Wollen Sie ernsthaft für neue Atombomben der USA in Deutschland auch noch 30 Millionen
Euro bezahlen? Die brauchen wir wirklich dringender
für ganz andere Zwecke.
({2})
Als Sanktionen wurden Kontensperrungen, Einreiseverbote und das Aussetzen der Verhandlungen über Visaerleichterungen und über wirtschaftliche Zusammenarbeit angesprochen. Außerdem soll Russland vom
kommenden G-8-Gipfel ausgeladen werden; das wird
also ein G-7-Gipfel. Daneben wurden weitere politische
Maßnahmen und Wirtschaftssanktionen diskutiert.
Der Bundeswirtschaftsminister hat nun den Export
von Rüstungsgütern nach Russland verboten. Dazu - das
ist die Ausnahme - sagen wir: Das ist richtig. Das hat aber
nichts mit den Sanktionen zu tun, sondern damit, dass Rüstungsexporte unserer Meinung nach generell eingestellt und
verboten werden müssen.
({3})
Dieses Verbot wird die russische Armee allerdings
nicht sehr beeindrucken.
Ich frage Sie schon jetzt: Wie wollen Sie wieder raus
aus den Sanktionen? Wollen Sie sagen, das geschieht,
wenn die Krim wieder bei der Ukraine ist? Wenn das
nicht geschieht: Wollen Sie sie ewig aufrechterhalten?
Ich sehe schon, wie sich das nach einem oder zwei Jahren schleichend wieder auflösen wird.
Ich frage Sie: Gibt es keine andere Chance - auch dafür, auf die Völkerrechtswidrigkeit hinzuweisen? Doch,
die gibt es! Wir müssten umgekehrt herangehen und einmal nicht negativ und nicht in Form von Sanktionen
denken. Wir könnten jetzt doch Verhandlungen mit der
russischen Regierung aufnehmen und sagen: Okay, die
EU und die NATO haben auch Fehler begangen; das
stimmt. - Das kann man doch einräumen; das kostet
doch nichts und wäre eine Selbstverständlichkeit. Weiterhin könnte man den Russen sagen: Sie haben auch
Fehler begangen, und jetzt zeigen wir Ihnen einmal, wie
eine Perspektive für gute Beziehungen mit der EU und
der NATO aussehen könnte und wie wir auch Ihre Sicherheitsinteressen berücksichtigen könnten.
Ich nenne einmal ein Beispiel, nämlich die Raketen in
Polen und Tschechien. Die Russen haben gesagt, das beeinträchtige ihre Sicherheit. Der US-Außenminister hat
daraufhin zum russischen Außenminister gesagt: Wieso
das? Das hat doch gar nichts mit Russland zu tun. - Dieser hat geantwortet: Würden Sie es akzeptieren, wenn
wir Raketen in Mexiko aufstellten und sagten, das habe
nichts mit den USA zu tun? - Natürlich nicht!
Ich sage: Wir müssen anders herangehen, nämlich
eine Perspektive aufzeigen und dann sagen: Das knüpfen
wir aber an die Bedingung, dass diese Art von Politik
aufhört. Sie dürfen jetzt nicht lauter russische Inseln suchen und meinen, sie Russland wieder einverleiben zu
können. - Das wäre doch eine Perspektive. Gehen Sie
doch einmal positiv und nicht nur negativ an die Sache
heran, damit wir endlich ein Europa nicht gegen und
ohne Russland, sondern mit Russland bekommen; denn
sonst wird es auch mit unserer Sicherheit nichts.
({4})
Nun wollen Sie mit der Übergangsregierung der
Ukraine den politischen Teil des Assoziierungsabkommens unterschreiben, mit einer Regierung, die nicht aus
demokratischen Wahlen hervorgegangen ist und der Faschisten angehören. Wenn Sie uns schon angreifen
- Sigmar Gabriel tut das ja auch; das, was ich hier sage,
können Sie ihm einmal bestellen - und uns in die Ecke
der kalten Krieger stellen, was Blödsinn ist - das muss
ich Ihnen einmal ganz klar sagen -, dann hören Sie doch
wenigstens auf den ehemaligen EU-Kommissar und Sozialdemokraten Günter Verheugen. Er sagt, dass es richtige Faschisten und nicht nur irgendwelche Nationalisten
sind. - Das ist ein fataler Tabubruch, und denen wollen
Sie auch noch Geld geben. Ich bitte Sie! Ich finde, eine
deutsche Bundesregierung muss hier ganz andere Maßstäbe setzen.
({5})
Ich meine das auch so. Am 13. März dieses Jahres
habe ich ein Zitat von dem Partei- und Fraktionsvorsitzenden der Swoboda Tjagnibok gebracht.
({6})
Er hat gesagt:
Schnappt euch die Gewehre, bekämpft die Russensäue, die Deutschen, die Judenschweine und andere
Unarten.
Dann haben Sie, Frau Göring-Eckardt, erklärt, das Zitat
sei von 2004. Was wollten Sie denn damit sagen? Meinten Sie, es sei verjährt? Oder wollten Sie damit sagen,
dass er jetzt anders denkt? Entweder haben Sie nicht die
Wahrheit gesagt oder sich zumindest geirrt; denn das Zitat stammt vom Oktober 2012. Lesen Sie das im sozialdemokratischen Vorwärts nach.
Ich würde mit dem Mann kein Wort wechseln, ihm
schon gar nicht einen einzigen Euro übergeben und mit
ihm auch keinen Vertrag schließen.
({7})
Gestern haben Swoboda-Leute den Programmdirektor
des Fernsehens in Kiew zusammengeschlagen und zum
Rücktritt gezwungen, weil er die Rede von Putin dokumentiert hat. Der Hauptschläger ist im Parlament Mitglied des Ausschusses für Pressefreiheit.
Am 9. Februar 1990 hat US-Außenminister Baker zu
Gorbatschow gesagt, die NATO werde sich keinen Inch
nach Osten ausdehnen. Frau Merkel, Sie und ich säßen
heute vielleicht nicht hier im Bundestag, Herr Gauck
wäre vielleicht nicht Bundespräsident, wenn die NATO
diese Zusicherung nicht gegeben hätte. Der Preis von
Gorbatschow für die deutsche Einheit und die Zugehörigkeit ganz Deutschlands zur NATO war der Verzicht
auf die Ostausdehnung der NATO; auch Genscher hatte
das zugesichert. Diese Vereinbarung haben Sie verletzt.
({8})
Im Übrigen hat Gorbatschow vielleicht etwas mehr für
die deutsche Einheit getan als die britische Regierung,
wenn ich daran einmal erinnern darf.
Aus der NATO wurde ein Interventionsbündnis, und
zwölf Staaten des ehemaligen Ostblocks wurden aufgenommen: Tschechien, Polen, Ungarn, Estland, Lettland,
Litauen, Slowakei, Slowenien, Bulgarien, Rumänien,
Albanien und Kroatien.
({9})
- Ich habe nicht bestritten, dass sie beitreten wollten; das
weiß ich. Aber die NATO wollte das auch, sonst wäre
dieser Beitritt nicht zustande gekommen.
({10})
Auf dem NATO-Gipfel in Bukarest 2008 wollten die
USA das NATO-Gebiet auch auf Georgien und die
Ukraine ausdehnen - die wollten das vielleicht auch -,
aber da hat die Bundesregierung Nein gesagt, in den anderen Fällen nicht. Immerhin das haben Sie verhindert.
Putin sagte auf dem Gipfel in Bukarest wörtlich Folgendes - ich zitiere -:
Das Entstehen eines mächtigen Militärblocks an
unseren Grenzen würde in Russland als direkte Bedrohung der Sicherheit unseres Landes betrachtet
werden.
Warum wurde daran nicht gedacht, warum von vornherein das Gezerre um die Ukraine, entweder zur EU
oder zu Russland? Nie wurde begriffen, dass die Ukraine
eine Brücke zwischen der EU und Russland sein muss.
({11})
Jetzt sage ich Ihnen ganz schnell die Lösungen.
Erstens. Lassen Sie den Unsinn mit den Sanktionen.
Eine neue Spirale und weitere Zuspitzungen bringen
nichts. China macht da nicht mit; das ist für Russland
viel wichtiger. Sie müssen diese Sanktionen eines Tages
sowieso wieder zurücknehmen. Das wird eher peinlich.
Zweitens. Keine Abkommen und Verträge mit dieser
Übergangsregierung, sondern Unterstützung bei der Vorbereitung und Beobachtung demokratischer Wahlen in
der Ukraine. Erst dann, mit legitimer Regierung und
ohne Faschisten, können Verhandlungen geführt werden.
({12})
Drittens. Die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine muss
ausgeschlossen werden.
Viertens. Der Status der Ukraine als Brücke zwischen
EU und Russland ginge auch mit einer Perspektive der
Mitgliedschaft der Ukraine in der EU, wenn sie auch mit
Russland ausgehandelt ist und wir insgesamt eine Zusammenarbeit vereinbaren können.
Fünftens. Russland bleibt aufgefordert, auf weitere
militärische Drohungen und Androhungen, erst recht auf
die Anwendung von Gewalt, in der Ukraine und anderswo zu verzichten und die Ukraine als souveränen
Staat anzuerkennen. Das muss mit einer klaren, positiven Perspektive der Beziehungen zu Russland seitens
der EU und seitens Deutschlands verbunden sein,
({13})
und zwar mit Russland als Bestandteil Europas und nicht
außen vor.
Sechstens. Faschistische Organisationen und Parteien
sowie paramilitärische Einheiten und andere illegale bewaffnete Formationen in der Ukraine sind aufzulösen.
Das staatliche Gewaltmonopol muss durchgesetzt werden. Darauf müssen Sie bestehen, bevor Sie ihnen einen
einzigen Euro überweisen oder Verträge mit ihnen abschließen.
({14})
Für die SPD-Fraktion erhält nun der Kollege Thomas
Oppermann das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Niemand
zweifelt daran, dass sich dieser Gipfel neben den wichtigen wachstums- und wirtschaftspolitischen Fragen mit
einer der schwersten Krisen befassen muss, die es in den
letzten Jahrzehnten auf unserem Kontinent gegeben hat.
Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg hat in Europa ein Staat eigenmächtig seine Grenzen neu definiert
und einen Teil des Gebietes eines anderen Staates unter
Verstoß gegen das Völkerrecht annektiert. Das zeigt,
dass die europäische Friedensordnung alles andere als
selbstverständlich ist, und es zeigt, dass wir jetzt alles
dafür tun müssen, dass wir nicht in die Denkmuster und
Handlungsstrukturen des Kalten Kriegs zurückfallen.
Dieser Konflikt darf nicht weiter eskalieren.
({0})
Deshalb bin ich froh, dass die Bundeskanzlerin und
der Bundesaußenminister so entschieden und so besonnen agieren. Ihrer Umsicht und ihrem klaren Kurs ist es
zu verdanken, dass das Blutvergießen auf dem Maidan
gestoppt werden konnte und dass die Gewalt in der
Ukraine nicht weiter ausgeufert ist. Dafür möchte ich Ihnen im Namen der SPD-Fraktion ganz herzlich danken.
({1})
In seiner Rede am Dienstag hat Wladimir Putin die
Russen als „das größte geteilte Volk der Welt“ bezeichnet. Damit bezieht er sich ganz offensichtlich auf die
russischen Minderheiten in den Nachfolgestaaten der
Sowjetunion. Wenn sich hinter diesen Worten aber eine
neue Putin-Doktrin nach dem Motto „Überall wo Russen
leben, ist auch Russland“ verbergen sollte, dann verhieße das nichts Gutes.
({2})
Denn das liefe auf ein automatisches Interventionsrecht
hinaus, sobald Wladimir Putin die Interessen im Ausland
lebender Russen bedroht sieht. Ein solches Recht gibt es
nicht, meine Damen und Herren. Ein solches Recht kann
es gar nicht geben.
({3})
Wladimir Putins Rede war aber auch ambivalent. Er
sucht förmlich nach Argumenten, um das Referendum
auf der Krim und die anschließende Annexion durch
Russland zu rechtfertigen. Überzeugend war das nicht.
Unsere Haltung ist eindeutig: Die faktische Besetzung,
das eilige Referendum und die Annexion der Krim sind
nach Auffassung der internationalen Staatengemeinschaft klar verfassungswidrig; sie sind völkerrechtswidrig, und sie sind politisch brandgefährlich.
({4})
Deshalb ist es richtig, dass die Bundesregierung das Ergebnis des Referendums und die Annexion nicht anerkennt.
Das Referendum verstößt gegen ukrainisches Verfassungsrecht. Weder die alte noch die neue Verfassung erlauben ein Referendum in einem Landesteil ohne Berücksichtigung der Interessen des Zentralstaates. Im
Übrigen hat das Referendum unter der Bedingung einer
Besatzung und mit der klaren Absicht Russlands stattgefunden, sich die Krim einzuverleiben, und dies, obwohl
Russland in Verträgen mehrfach die bestehenden Grenzen und die politische Unabhängigkeit der Ukraine zugesichert hat: im Budapester Memorandum von 1994 wie
auch im bilateralen Vertrag von 1997.
Insbesondere der Bruch des Budapester Memorandums ist verheerend, weil es der Ukraine explizite
Sicherheitsgarantien im Gegenzug für die Rückgabe ihrer Atomwaffen gab.
({5})
Russland war einer der Signatarstaaten. Wie wollen wir
jemals wieder einen Staat zum Verzicht auf seine Nuklearwaffen bewegen, wenn solche Garantien das Papier
nicht wert sind, auf dem sie geschrieben sind?
({6})
Wladimir Putin praktiziert das Recht des Stärkeren.
Er nutzt seine militärische Übermacht für die Einverleibung eines fremden Staatsgebietes. Die Annexion ist
eindeutig völkerrechtswidrig. Das sieht auch der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen so, und Sie ja auch, Herr
Gysi. Aber wenn Sie dann den Völkerrechtsbruch, der
dort begangen worden ist, mit Hinweis auf tatsächliche
oder angebliche Völkerrechtsverstöße durch andere relativieren, dann finde ich das allerdings unerträglich. Das
zeigt, dass Ihre Kritik nicht ernst gemeint ist.
({7})
Große Sorge bereitet auch Russlands Begründung für
dieses Vorgehen. Es beruft sich auf den Willen der auf
der Krim lebenden russischen Bevölkerung und geriert
sich damit als deren Schutzmacht. Dass Grenzen unter
Berufung auf den Schutz von Minderheitenrechten und
auf ethnische Gesichtspunkte neu gezogen werden, ist
nicht akzeptabel. Das internationale Recht stellt dafür
angemessenere Mittel zur Verfügung. Eigentlich sollte
gerade Russland wissen, welche Folgen sein bisheriges
Vorgehen für einen Vielvölkerstaat haben kann. Die dortigen Ethnien werden die Entwicklung auf der Krim sehr
genau beobachten und sich hierauf berufen. Wladimir
Putin, spätestens aber sein Nachfolger, wird mit den
Geistern, die er rief, fertig werden müssen.
({8})
Deshalb können wir nicht einfach zur Tagesordnung
übergehen. Wir können nicht sagen: Das Völkerrecht
und die Souveränität der Ukraine sind uns egal.
Die jetzt verhängten Sanktionen sind eindeutig und
angemessen. Wir reden nicht über Sanktionen, wie sie
vor 20 Jahren in Form umfassender Handelsembargos
verhängt worden sind, unter denen vor allem die Zivilbevölkerung leiden musste; das kann nicht unser Ziel sein.
Wir reden heute über sogenannte Smart Sanctions, die
sich ganz gezielt gegen einzelne Entscheidungsträger
richten. Die jetzigen Sanktionen auf der Stufe 2 nehmen
die russische Bevölkerung nicht in Mithaftung für das
Handeln ihrer politischen Führung. Aber sie können ein
sehr wirkungsvolles Instrument sein, wenn sie sich gegen politische Entscheidungsträger und oligarchische
Eliten dieses Landes richten. Deshalb begrüßen wir
diese Schritte.
({9})
Herr Kollege Oppermann, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Hänsel?
Ja, bitte.
Danke schön, Herr Präsident. - Herr Oppermann, Sie
haben gerade darüber gesprochen, wie man mit Völkerrechtsbruch umgeht. Die SPD war in der Regierung, als
der Irakkrieg von den USA begonnen wurde, ein völkerrechtswidriger Krieg mit Lügen begründet. Auch Angela
Merkel hat sich damals für eine Beteiligung der Bundesrepublik eingesetzt. Wie sind Sie denn mit diesem Völkerrechtsbruch umgegangen, und welche Sanktionen haben Sie gegen die USA und ihre Koalition der Willigen
wegen dieses massiven Völkerrechtsbruchs beschlossen,
der Hundertausende Tote zur Folge hatte? Der Irak ist
bis heute ein zerschlagenes Land. Meine Frage lautet:
Welche Sanktionen gibt es? Welche Konsequenzen haben diejenigen, die für diesen völkerrechtswidrigen
Krieg verantwortlich sind, zu tragen?
({0})
Ich denke, Sie werden noch in Erinnerung haben, dass
Bundeskanzler Schröder und die damalige rot-grüne
Mehrheit des Deutschen Bundestages diesen Krieg eindeutig verurteilt und eine Teilnahme an diesem Krieg
verweigert haben
({0})
und dafür eine sehr kritische und schwierige Phase in
den Beziehungen zu unserem wichtigsten Bündnispartner in Kauf genommen haben.
({1})
Im Übrigen haben wir keine Sanktionen verhängt, weil
die amerikanischen Militärs nach meiner Kenntnis keine
Gebiete des Irak annektiert oder dauerhaft besetzt haben.
Inzwischen sind die Truppen abgezogen, und das ist
auch gut so.
({2})
Ich will zu den Sanktionen Folgendes sagen: Es muss
klar sein, dass dann, wenn Russland nicht einlenkt und
weitere Teile der Ukraine bedroht, weitere Maßnahmen
unausweichlich sind. Wir sind uns bewusst, dass Sanktionen auch eine Gefahr für die eigene Wirtschaft darstellen können. Niemand wünscht sich das. Dennoch ist
es richtig, dass die Option schärferer Sanktionen auf
dem Tisch bleibt. Ich bin dem BDI-Präsidenten, Ulrich
Grillo, für seine klaren Worte vom vergangenen Freitag
dankbar. Er hat zwar seine Vorbehalte gegen Wirtschaftssanktionen offen angesprochen, aber zugleich
klargemacht, dass das Völkerrecht über allem steht und
dass Wirtschaftssanktionen eine Frage der Politik sind.
Dass führende Vertreter der deutschen Wirtschaft so verantwortungsvoll argumentieren und die Einhaltung und
Durchsetzung internationalen Rechts über ihre eigenen
wirtschaftlichen Interessen stellen, ist sehr gut und ein
verantwortungsvolles Zeichen.
({3})
Gerade deshalb kommt der Politik an dieser Stelle
eine besondere Verantwortung zu. Staatliche Sanktionen,
seien sie wirtschaftlicher Natur oder nicht, müssen so
ausgestaltet sein, dass sie diplomatische Lösungen nicht
behindern. Es darf keinen Automatismus zu einer Sanktionsspirale geben. Für eine politische Bearbeitung des
Konflikts mit Russland darf es niemals zu spät sein.
({4})
Im Übrigen müssen wir selbstverständlich bedenken,
dass Russland auch in Zukunft als internationaler Verhandlungspartner gebraucht wird. Es gibt Konfliktherde
wie den anhaltenden Bürgerkrieg in Syrien oder die
Atomverhandlungen mit dem Iran, die ohne Mitwirkung
Russlands kaum zu lösen sind.
Das vorrangige Ziel muss es jetzt sein, die weitere
Destabilisierung der Ukraine im Osten und im Süden zu
verhindern. Die Gefahr einer militärischen Konfrontation zwischen russischen und ukrainischen Streitkräften
besteht nach wie vor. Gestern hat es die ersten Toten gegeben. Wladimir Putin hat am Dienstag erklärt: Wir wollen keine Teilung der Ukraine; wir brauchen das nicht.
({5})
Wir werden ihn beim Wort nehmen. Deshalb ist es
richtig, dass jetzt auf Vorschlag der Bundesregierung
eine OSZE-Beobachtermission prüfen soll, ob es Aktivitäten im Süden und Osten der Ukraine gibt, die zu einer
Destabilisierung führen können. Eine solche Mission
könnte einen Wiedereinstieg in einen politischen Prozess
ermöglichen. Ich hoffe sehr, dass das gelingt.
({6})
Wir haben aber auch klare Forderungen an die ukrainische Regierung, auch wenn sie es im Augenblick sehr
schwer hat. Sie muss die Rechte aller nationalen Minderheiten achten und aktiv schützen. Niemand darf sich in
der Ukraine als Bürger zweiter Klasse fühlen.
({7})
Ich bin deshalb froh, dass das geplante Sprachengesetz
gestoppt wurde. Es hat unnötig Ängste geschürt und die
Spannungen verschärft.
Weiterhin muss die Regierung die militanten Gruppen
entwaffnen und das staatliche Gewaltmonopol durchsetzen. Antisemitismus und Rechtsextremismus dürfen in
der neuen Ordnung der Ukraine keinen Platz haben.
({8})
Rechtsextremes und nationalistisches Denken wollen
wir nicht in Europa, nicht in Deutschland und auch nicht
in der Ukraine.
({9})
Schließlich muss die ukrainische Regierung die Arbeit an einer neuen Verfassung, wie das in der Verständigung vom Februar vorgesehen war, vorantreiben, und sie
muss die Verbrechen auf dem Maidan lückenlos aufklären.
Ich will zum Schluss noch etwas zu den angekündigten Hilfen der EU und des IWF sagen. Ich begrüße sehr,
dass diese Hilfen jetzt auf den Weg gebracht werden.
Aber die Programme haben eine ganz entscheidende Voraussetzung: Das Geld muss für den Aufbau des Landes
und für öffentliche Aufgaben eingesetzt werden.
({10})
Es darf nicht in den privaten Taschen korrupter Machteliten verschwinden. Die Menschen in der Ukraine wollen, dass die Korruption endlich aufhört in diesem Land.
({11})
Wenn die Ukraine am Freitag den politischen Teil des
EU-Assoziierungsabkommens unterschreibt, dann verpflichtet sie sich zur Einhaltung von mehr Rechtsstaatlichkeit. Das ist richtig; denn nur eine rechtsstaatliche
und demokratische Ukraine wird stark genug sein, die
Herausforderungen der nächsten Tage, Wochen und Monate zu bewältigen.
Die Vorschläge zur Regelung des Konflikts liegen auf
dem Tisch. Jetzt ist es an Russland, auf diese Vorschläge
einzugehen. Jetzt geht es darum, den politischen Dialog
wieder in Gang zu bringen. Ich wünsche der Bundeskanzlerin und dem Außenminister auf dem jetzt anstehenden Gipfel eine glückliche Hand für die ganz sicher
nicht einfachen Verhandlungen.
Vielen Dank.
({12})
Anton Hofreiter ist der nächste Redner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Frau Bundeskanzlerin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine mutige Bürgerbewegung hat in der Ukraine eine Regierung gestürzt,
die für Korruption und Unfreiheit stand. Ein Teil der
Menschen, die das gemacht haben, hat dafür einen extrem hohen Preis bezahlt, den höchsten Preis, den man
sich vorstellen kann; denn diese Menschen haben mit ihrem Leben dafür bezahlt. Das verdient unsere Solidarität
und unsere Unterstützung.
({0})
Die Menschen in der Ukraine haben es verdient, dass
alle anderen Länder um sie herum ihre demokratischen
Entscheidungen achten, dass alle anderen Länder um sie
herum darauf achten, in welche Richtung sich die
Ukraine entwickeln will, und dass sie darauf achten, dass
die Ukraine kein geostrategisches Spielfeld ist, das man
in die eine oder andere Richtung zerren kann. Das ist
von großer Bedeutung.
({1})
Die russische Regierung tritt mit der Annexion der
Krim das Völkerrecht mit Füßen. Hier herrscht nicht das
Recht, sondern das Unrecht des Stärkeren. Für jeden,
dem an friedlichen Konfliktlösungen gelegen ist, dem an
Abrüstung gelegen ist, der dafür kämpft, dass es in der
Welt weniger Atomwaffen gibt, ist diese Entwicklung
ganz besonders bitter. Denn die Ukraine war eines der
ersten Länder, die freiwillig auf Atomwaffen verzichtet
haben. Dafür gab es eine Reihe von Garantiestaaten. Einer dieser Garantiestaaten war Russland.
({2})
Insofern geht es hier nicht nur um das Völkerrecht als
solches; vielmehr hat Russland explizit die Unabhängigkeit, die Freiheit und die territoriale Integrität der
Ukraine garantiert. Bei allem Streit, ob das russische
Vorgehen völkerrechtswidrig war, ist das ein ganz klarer
Bruch dieses Vertrages. Das muss jeden ganz besonders
hart treffen, der wirklich für friedliche Lösungen eintritt.
Es muss besonders scharf verurteilt werden, was Russland da gemacht hat.
({3})
Es ist wichtig, dass es Europa gelingt, mit einer Stimme
zu sprechen. Es ist wichtig, dass wir auf die russische
Regierung einwirken - sowohl diplomatisch als auch
wirtschaftlich -, dass sie ihren Kurs ändert.
So wichtig es ist, dass man da einwirkt und entsprechend Druck ausübt: Wir wissen andererseits, dass niemandem daran gelegen sein kann, dass es zu einer weiteren Eskalation kommt. Die Situation ist brandgefährlich.
Es gab bereits erste Tote. Umstritten ist, was die Ursache
dafür war. Eine zentrale Aufgabe der europäischen Außenpolitik ist es, eine weitere Eskalation auf der Krim zu
verhindern. Jeder Schritt, den wir tun, muss deeskalierend wirken. Deshalb sind Reaktionen, die nervös oder
hysterisch wirken, falsch. Schnellschüsse, auch solche
politischer Natur, können am Ende Menschenleben kosten. Folglich ist es wichtig, dass wir klug und abgewogen reagieren.
({4})
Wir Grüne unterstützen den Dreistufenplan der EU.
Wir Grüne sind fest davon überzeugt, dass das Zünden
der zweiten Stufe richtig war. Jetzt sagen viele: Das hilft
alles nichts. Putin ist mit der Annexion der Krim vorgeprescht. Das beeindruckt die russische Regierung überhaupt nicht. - Aber besonnene Reaktionen sind in einer
so schwierigen Krise klug. Will denn irgendjemand fordern, dass man auf Putin’sches Großmaulheldentum mit
gleicher Münze reagiert? Das ist doch keine europäische
Art der Politikgestaltung.
({5})
Aber man muss sich klarmachen, dass Putin und die
russische Regierung trotzdem unbeirrt an ihrem Kurs
festhalten. Deshalb ist es wichtig, weitere Schritte zu erwägen, wie man auf die russische Regierung erfolgreich
einwirken kann.
Einen ersten kleinen Schritt gab es bereits: Der Export eines Gefechtsübungszentrums wurde abgesagt.
Aber das reicht nicht. Schauen wir uns an, wie viele
Waffen allein Deutschland nach Russland exportiert hat:
2011 für 140 Millionen Euro, 2012 für 40 Millionen
Euro. Damit muss jetzt Schluss sein. Wir brauchen ein
Waffenembargo in Richtung Russland.
({6})
Schluss sein muss auch mit dem achselzuckenden Darüber-Hinweggehen, dass Investoren, Oligarchen aus
Russland - zum Teil steckt Gazprom dahinter, zum Teil
stecken andere Putin-nahe Investoren dahinter - in großem Umfang Energieinfrastruktur, offensichtlich sogar
zu überhöhten Preisen, ausgerechnet jetzt in Deutschland aufkaufen. Die Regierung tut so, als wenn sie da
machtlos wäre. Erstens stimmt das nicht, und zweitens
ist es jetzt an der Zeit, das Außenwirtschaftsgesetz zu
benutzen und dafür zu sorgen, dass das Erpressungspotenzial nicht noch höher wird. Das heißt: Stoppen Sie
diese Art von Politik!
({7})
Es ist allerdings auch von großer Bedeutung, dass wir
von Energieimporten insgesamt unabhängiger werden.
Deshalb ist es schlichtweg falsch, was die Bundesregierung gerade macht: Sie würgt die Energiewende ab, sie
stoppt die Energiewende.
({8})
Es ist grundfalsch, in welche Richtung sich die Klimapolitik auf EU-Ebene gerade bewegt, nämlich dahin,
Klimaziele abzuschwächen, so zu tun, als wenn die Klimakatastrophe nicht stattfinden würde. Selbst wenn Ihnen der Klimaschutz und das Überleben zukünftiger Generationen nicht so wichtig sind:
({9})
Sie müssten doch wenigstens erkennen, dass es wichtig
wäre, wie sich anhand dieser Krise zeigt, von Importen
fossiler Rohstoffe unabhängiger zu werden.
({10})
Wenn Sie zum EU-Gipfel gehen: Sorgen Sie dafür,
dass es wieder eine koordinierte Energiepolitik gibt!
Frau Merkel, Sie haben selber davon gesprochen, dass
wir einen Energiebinnenmarkt brauchen, dass wir eine
koordinierte Energiepolitik brauchen. Und was machen
Sie? Sie machen das Gegenteil! Früher gab es vernünftige Ziele - sie waren zwar schwach, aber immerhin vorhanden - für den Ausbau erneuerbarer Energien auf EUEbene für die einzelnen Länder. Sie haben zugelassen,
dass das gestrichen wurde. Was soll denn das Ganze?
Wohin wollen Sie denn damit kommen? Am Ende wird
Frankreich wieder auf Atom setzen, wird Großbritannien
auf Atom setzen; andere Staaten - wie Polen - setzen
stark auf fossile Energieträger. Das erhöht doch nur die
Abhängigkeit von Importen aus Krisenländern. Auch
Uran muss importiert werden. Steinkohle muss weitgehend importiert werden. Selbst bei Erdöl ist Russland einer der größten Exportstaaten, auch für uns. Schon allein
aus Unabhängigkeitsgründen, aus Klimaschutzgründen:
Ändern Sie Ihren Kurs!
Aber auch aus Wettbewerbsgründen sollten Sie Ihren
Kurs ändern. Sie haben viel von der Wettbewerbsfähigkeit gesprochen. Wenn die südlichen Krisenstaaten die
Möglichkeit hätten, Energie selbst zu erzeugen - Europa
importiert für 500 Milliarden Euro fossile Energieträger -, dann hätten sie eine ausgeglichene Handelsbilanz.
Es genügt nicht, von Wettbewerbsfähigkeit zu sprechen;
man muss dafür sorgen, dass diese Staaten eine Perspektive haben. Eine Perspektive ist der Green New Deal,
eine Perspektive sind erneuerbare Energien, und eine
Perspektive ist Energieunabhängigkeit; denn das stärkt
die lokale Wirtschaftskraft.
({11})
Frau Merkel, ändern Sie Ihren Kurs in Bezug auf die
europäische Politik, was Banken angeht, was erneuer1766
bare Energien angeht, was Klimaschutz angeht! Dann
hätten Sie eine Chance, dass von den Zielen, von denen
Sie hier gesprochen haben, auch in der Realität etwas
umgesetzt werden kann.
Danke.
({12})
Volker Kauder ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Wir haben uns das Jahr 2014 beim Start etwas anders
vorgestellt, als es jetzt in Wirklichkeit ist. Wir haben in
diesem Jahr vor, Termine zum Gedenken an Ereignisse
wahrzunehmen, die wir in unserer Zeit nie mehr erleben
wollen. Ein Termin in diesem Jahr ist beispielsweise der
Beginn des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren. Wir sagen
in diesem Jahr: In diesen 100 Jahren haben wir gelernt,
dass Konflikte nicht mehr militärisch bzw. mit Kriegen
zu lösen sind. Die Antwort auf das, was wir im Ersten
und Zweiten Weltkrieg erlebt haben, war, dass nicht das
Recht des Stärkeren gelten darf, sondern dass das Recht
das Starke in der Welt sein muss.
({0})
Entsprechend wurde auch in der Charta der Vereinten
Nationen formuliert.
Jetzt erleben wir auf einmal, dass in Russland ganz
anders argumentiert wird. Wenn wir in Europa nicht unsere Lektion gelernt hätten, würde von der konkreten Situation, wenn wir auf die Instrumente der letzten
100 Jahre zurückgriffen, wieder eine große Kriegsgefahr
ausgehen. Dass Friede herrscht, hat nichts mit Russland
zu tun, sondern mit Europa, meine sehr verehrten Damen
und Herren.
({1})
Deshalb ist es richtig, was die Bundesregierung, insbesondere die Bundeskanzlerin und der Bundesaußenminister, in den letzten Wochen gemacht haben. Ich kann
nur sagen: Die Regierungserklärung der Bundeskanzlerin am letzten Donnerstag hat gezeigt, dass der überwiegende Teil dieses Hauses, mal von den Linken abgesehen, genau hinter dieser Politik steht. Ich bin dankbar,
dass wir eine so klare Position im Deutschen Bundestag
haben.
({2})
Der Respekt, Frau Bundeskanzlerin, Herr Bundesaußenminister, kommt nicht nur aus dem Bundestag,
sondern auch aus der Breite der Bevölkerung und - der
Kollege Oppermann hat es angesprochen - aus der deutschen Wirtschaft. Nicht nur der Präsident des BDI sagt
das, sondern auch Präsident Schweitzer hat gestern auf
der großen Tagung der Industrie- und Handelskammern
in Deutschland unter Beifall erklärt, dass der Kurs der
Bundesregierung in Ordnung sei.
({3})
Wirtschaftssanktionen könnten natürlich auch für sie
schmerzhaft sein; aber nichts sei schmerzhafter, als der
Willkür ausgeliefert zu sein. Deshalb müsse man sich
hinter das Recht stellen. Auch das sei ein wichtiger Aspekt für Investitionen unserer deutschen Wirtschaft.
({4})
Wir sind der Wirtschaft außerordentlich dankbar für dieses Verständnis.
Wir haben natürlich auch darauf zu achten - darauf
hat die Bundesregierung mehrfach hingewiesen -, dass
wir in dieser konkreten Situation Europa zusammenhalten. Nichts wäre schlimmer, als wenn Putin auch noch
den Erfolg hätte, dass wir uns in Europa über die notwendigen Maßnahmen zerstreiten. Deswegen wird auf
dem europäischen Gipfel, der heute beginnt, sehr viel
abhängen von der Botschaft: Wir in Europa stehen zusammen. - Es könnte insbesondere auch eine Botschaft
sein, dass dieses Europa bei allen Schwierigkeiten, die
wir haben - ich komme nachher noch kurz darauf zu
sprechen -, für uns nicht nur eine Veranstaltung von
Euro und Cent ist, sondern dass dieses Europa für uns
auch eine Werte-, eine Schicksalsgemeinschaft und einen Garant für Friedenssicherung darstellt, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({5})
Dieses Europa hat ganz offenkundig eine enorme Anziehungskraft. Es gibt viel mehr, die zu Europa wollen,
als wir uns im Augenblick vorstellen können in Europa
verkraften zu können. So war es auch nach dem Fall von
Mauer und Stacheldraht, als sich die Länder und Menschen in neuer Freiheit überlegt haben, wohin sie sich
orientieren wollen.
Jetzt muss ich die linke Seite, Herr Gysi, an Folgendes erinnern: Es ist doch unbestritten, auch bei Ihnen,
dass es nach internationalem Recht ein Selbstbestimmungsrecht der Völker und ein Selbstbestimmungsrecht
der Menschen gibt. Dieses Selbstbestimmungsrecht
kann auch nicht von Russland eingegrenzt werden.
Wenn sich Länder, die zu Europa gehören, für die Europäische Union frei entscheiden, dann kann dies von keinem anderen Land sanktioniert werden. Wo kommen wir
sonst hin in dieser Welt, meine sehr verehrten Damen
und Herren?
({6})
Es war nicht Europa, sondern es waren Bulgarien,
Rumänien, Polen und die baltischen Staaten, die ihre Zukunft nicht nach Osten zugewandt gesehen haben, sondern zur Europäischen Union.
({7})
Vielleicht sollte den jetzigen Machthabern in Russland
ein bisschen zu denken geben, warum die einen attraktiv
und die anderen weniger attraktiv sind.
({8})
Trotz dieses Rechtsbruchs, den wir so nennen müssen
und nicht unbeantwortet lassen dürfen, ist klar, dass die
notwendigen Maßnahmen mit Augenmaß getroffen werden müssen. Das haben die Europäische Union und die
Bundesregierung bisher auch gezeigt.
Ich bin mir nicht sicher, ob der jetzige Zustand das
Ende der Entwicklung bedeutet. Deshalb müssen wir die
weitere Entwicklung sehr aufmerksam verfolgen. Klar
ist auch, dass wir die Ukraine nicht nur finanziell unterstützen müssen, sondern dass wir sie auch beraten und
ihr helfen müssen, in dieser schwierigen Situation mehr
Stabilität zu gewinnen und - Sie haben völlig recht, Herr
Kollege Oppermann - eine Regierung zu bilden, die
auch demokratischen und rechtsstaatlichen Werten, die
wir in Europa haben, entspricht. Das alles muss auf den
Weg gebracht werden - eine Herkulesaufgabe.
Als wir die Große Koalition gebildet haben, hat niemand daran gedacht, dass wir wieder einmal - wie bei
den letzten Regierungen - große Herausforderungen und
Aufgaben bekommen, an die wir zunächst einmal gar
nicht gedacht haben. Bei der Lösung dieser Aufgaben
- davon bin ich hundertprozentig überzeugt - wird sich
auch diese Koalition bewähren müssen, und sie wird
sich bewähren.
({9})
Der bevorstehende europäische Gipfel steht aber auch
unter der Frage: Wie können Wettbewerbsfähigkeit und
wirtschaftliche Stärke in Europa hergestellt, wiedergewonnen und auch weiterverfolgt werden? Ich bin außerordentlich dankbar dafür, dass sich die Kommission in
ihren letzten Stellungnahmen klar und deutlich dahin gehend positioniert hat, dass die Stärke Deutschlands keine
Schwäche Europas bedeutet. Ganz im Gegenteil: Wenn
ich daran denke, was wir für Europa finanziell leisten, so
macht es keinen Sinn, die Starken schwach zu machen,
sondern es macht nur Sinn, die Schwachen stark zu machen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({10})
Deshalb ist der Weg, Wettbewerbsfähigkeit in Europa
herzustellen, richtig. Dass dieser Weg, der durchaus umstritten war und bei dem es andere Vorstellungen gab,
richtig ist, zeigt sich - die Bundeskanzlerin hat es bereits
angesprochen -, wenn wir die Entwicklungen in Irland,
Portugal und Spanien sehen.
({11})
Es war völlig richtig, Anstrengungen zu verlangen
und Reformmaßnahmen umzusetzen. Wir in Deutschland als wirtschaftlich stärkste und federführende Kraft
in Europa müssen bei allem, was wir tun, immer vor Augen haben, dass wir Verantwortung dafür tragen, dass die
Reformfähigkeit in Europa nicht nachlässt. Wir müssen
mit unserer Regierungsarbeit gute Beispiele setzen und
immer darauf achten, Dinge, die wir in Bezug auf
Europa eigentlich richtig machen könnten, nicht falsch
zu machen.
({12})
Das gilt auch für die Energiepolitik. Wir müssen dafür
sorgen, dass wir auf unserem Weg, Industriestaat und erneuerbare Energien erfolgreich miteinander zu verbinden, weiter vorankommen.
Herr Hofreiter, ich kann Ihnen nur raten, dass Sie sich
einmal genau anschauen, was die Bundesregierung im
Bereich der erneuerbaren Energien wirklich macht.
({13})
Selten habe ich einen führenden Politiker einer Fraktion
so mit seiner Argumentation danebenliegend erlebt wie
Sie gerade an diesem Rednerpult.
({14})
Es geht darum, dass wir die erneuerbaren Energien
voranbringen. Dazu, Herr Hofreiter - hören Sie gut zu -,
können und müssen Sie einen Beitrag leisten. Wenn jemand dabei ist, den Ausbau der erneuerbaren Energien
zu erschweren und zu problematisieren,
({15})
dann ist es der eine oder andere Hinweis auch aus grün
regierten Bundesländern, die wir im Bundesrat für den
Ausbau der erneuerbaren Energien brauchen. Leisten Sie
Ihren Beitrag bei diesem Thema also nicht durch Blockieren, sondern durch Mitmachen! Wir werden in den
nächsten Wochen und Monaten sehen, ob Sie das tun.
({16})
- Sie sollten sich einmal um Ihren Verein kümmern. Um
unseren können wir uns schon allein kümmern. Dafür
brauchen wir Sie nicht; das kann ich Ihnen sagen.
({17})
Natürlich müssen wir in der Übergangsphase, in der
wir die erneuerbaren Energien fest verankern wollen, die
Wettbewerbsfähigkeit von strom- und energieintensiven
Firmen erhalten. Deswegen bin ich der Bundesregierung
außerordentlich dankbar dafür, dass sie so intensiv mit
der Europäischen Kommission verhandelt. Die Europäi1768
sche Kommission riskiert nicht nur die Wettbewerbsfähigkeit von einzelnen Branchen bei uns in Deutschland.
Was viel schlimmer wiegt und den Einsatz der Bundesregierung umso notwendiger macht, ist, dass mit dem
Kurs der Europäischen Kommission der Weg in die erneuerbaren Energien in ganz Europa erschwert wird. Wir
wollen nicht mehr Kernkraft in Frankreich. Aber dann
muss der Weg der Unterstützung der Implementierung
der erneuerbaren Energien in Deutschland auch weiter
beschritten werden. Dazu kann ich die Europäische
Kommission nur auffordern.
({18})
Wenn Länder in Europa, die sich auf den Weg machen, die erneuerbaren Energien stärker auszubauen, von
der Europäischen Kommission den Hinweis bekommen,
dass dies wettbewerbsschädigend sein kann, dann ist
dies verheerend. Deswegen muss dieser Weg gemeinsam
mit der Europäischen Kommission angegangen werden.
Die Kommission trägt Verantwortung für Wachstum und
nicht für Stillstand in Europa.
({19})
Ein letzter Hinweis. Neben der Situation in der
Ukraine und der Wettbewerbsfähigkeit in Europa ist das
Thema Afrika ein weiterer Schwerpunkt. Die Bundesregierung - das habe ich jetzt gesehen, Herr Bundesaußenminister - trifft sich in diesen Tagen mit den Zuständigen
({20})
- oder hat sich getroffen -, um ein Afrika-Konzept zu
entwickeln. Wir werden es sicher sehr bald in den Fraktionen vorgelegt bekommen und beraten. Ich halte dies
auch für notwendig. Die Bevölkerung Afrikas wächst
schneller als die Bevölkerung Asiens. Wir haben in
Afrika 1 Milliarde Menschen, und diese Zahl wird sich
sehr rasch weiter vergrößern. Afrika ist wahrscheinlich
der jüngste Kontinent überhaupt, und junge Menschen
verlangen nach einer Perspektive, und dies auch zu
Recht. Wenn wir nicht alle dazu beitragen, dass in Afrika
eine Perspektive für junge Menschen entsteht, dann werden die starken Jungen dorthin gehen, wo sie sich eine
Perspektive versprechen, und die schwächeren zurückbleiben. Dies wird den Kontinent insgesamt nicht stärken.
Insofern haben wir eine Verantwortung, in Afrika für
mehr Wachstum und Zukunftschancen zu sorgen. Das
wird nur gehen, indem wir die Menschen in Afrika ernst
nehmen, indem wir fragen, was sie wollen, und nicht nur
von außen einwirken, indem wir die Kräfte in Afrika
stärken, sowohl die Kräfte in der Wirtschaft als auch die
Kräfte, die für staatliche Ordnung und Sicherheit sorgen.
Deswegen ist der Weg, den die Bundesregierung geht,
genau richtig. Sie sagt: Wir schicken Ausbilder und Berater nach Afrika, die helfen, die dortigen Strukturen zu
stärken. Frau von der Leyen und Herr Bundesaußenminister, genau dies ist der Weg in Afrika: keine Interventionstruppen einzusetzen, sondern Hilfsangebote zu
machen und Unterstützungsmaßnahmen umzusetzen.
Auf diesem Weg wünsche ich uns allen viel Erfolg.
Die Kraft Europas, der Europäischen Union - Friede,
Wirtschaft, Stabilität, Zukunftschancen - brauchen wir
jetzt in der Diskussion über die Ukraine und Russland.
Diese Kraft muss auch wirken, wenn entsprechende
Möglichkeiten in Afrika genutzt werden sollen. Ich
glaube, dass wir eine Menge Aufgaben vor uns haben.
Wenn das ganze Haus - da habe ich bei der einen oder
anderen Frage meine Zweifel - oder der größte Teil dieses Hauses hinter diesem Konzept steht,
({21})
dann wird das gut für unser Land und für die Welt sein.
Herzlichen Dank.
({22})
Ich erteile das Wort nun dem Kollegen Norbert
Spinrath für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Die Bundesregierung
und der überwiegende Teil dieses Hauses haben klare
Botschaften zur Situation in der Ukraine gesendet: Die
Unabhängigkeitserklärung der Krim in der vergangenen
Woche und das dann folgende Referendum verstoßen
gegen die Verfassung der Ukraine; das Ergebnis und dessen Folgen dürfen von der internationalen Staatengemeinschaft keinesfalls anerkannt werden.
({0})
Die perfide eingeleitete Annexion der Krim durch Russland verstößt gegen das Völkerrecht.
Der russische Staatspräsident Putin hat mit seiner
Rede am vergangenen Dienstag in Moskau Öl ins Feuer
gegossen und stellt den in den letzten 25 Jahren nach
dem Zerreißen des Eisernen Vorhangs gewachsenen Zusammenhalt Europas auf eine Art und Weise infrage, die
wir längst überwunden zu haben glaubten. Ja, er löst damit Verunsicherung, gar Angst in vielen Staaten Osteuropas aus, in denen viele russischstämmige Bürger leben.
Die Europäische Union hat in Reaktion darauf Sanktionen beschlossen, die Russland dazu bringen sollen, an
den Verhandlungstisch zurückzukehren. Zur Notwendigkeit von Sanktionen hat mein Fraktionsvorsitzender,
Thomas Oppermann, alles gesagt; ich unterstütze das
nachdrücklich. Beim heutigen EU-Gipfel gilt es auch,
den politischen Teil des Assoziierungsabkommens mit
der Ukraine zu unterschreiben und ein Hilfspaket der
Europäischen Union und des IWF für die Ukraine auf
den Weg zu bringen. Dies darf aber keinesfalls, liebe
Kolleginnen und Kollegen, zu einer Entweder-oder-Entscheidung führen. Vielmehr muss der Ukraine die Option eines Sowohl-als-auch erhalten bleiben, also die
Option einer Zusammenarbeit mit der Europäischen
Union und mit Russland.
({1})
Das Hilfspaket trägt in erheblichem Maße zur Stabilisierung der Situation in der Ukraine bei. Die Ukraine
darf nicht allein gelassen werden. Die Reste an staatlicher Ordnung dort dürfen nicht aufgrund von Zahlungsunfähigkeit zusammenbrechen. Die wirtschaftliche
Grundlage für das Leben der Menschen muss erhalten
bleiben. Genau dieselbe Bevölkerung, die sich monatelang in überwiegend friedlichen Protesten ihren Weg zur
Freiheit und Souveränität erkämpfen wollte, darf in der
Ukraine nicht zum wirtschaftlichen Opfer werden.
({2})
Die Auszahlungen des Hilfspakets müssen an eindeutige Bedingungen geknüpft werden. Das heißt für mich
insbesondere, dass die Konditionen des von den Außenministern des Weimarer Dreiecks vermittelten Abkommens vom 21. Februar schnellstmöglich eingelöst
werden müssen: Entwaffnung von Milizen, Präsidentschaftswahlen am 25. Mai, Bildung einer Übergangsregierung der nationalen Einheit und vor allen Dingen eine
zügige Verfassungsreform. Aus meiner Sicht müssen daran anschließend ganz schnell Neuwahlen des Parlaments durchgeführt werden. Daneben ist es unerlässlich,
die Verwaltung neu aufzubauen, und zwar basierend auf
den Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit, und die überbordende Korruption zu bekämpfen.
Die Inkraftsetzung des politischen Teils des Assoziierungsabkommens zwischen der EU und der Ukraine ist
kein zwingender Bestandteil der Hilfsangebote. Dennoch ist es ein notwendiges Fundament, weil sie auf
Rechtsstaatlichkeit verpflichtet, Reformpakete auferlegt
werden können und Vertrauen geschaffen werden kann.
Ich sage aber auch ganz deutlich: Zur Stabilisierung der
maroden Staatsfinanzen der Ukraine müssen auch diejenigen herangezogen werden, die in den letzten Jahren
auf mehr als fragwürdige Weise, auf kriminelle Weise,
das Volk geschädigt und rechtswidrig Vermögen angehäuft und außer Landes geschafft haben.
({3})
In der Ukraine bedarf es dringend Reformen, die diese
hemmungslose Selbstbedienung und das ungeheuerliche
Ausmaß an Korruption in Zukunft verhindern. Die rücksichtslose Ausbeutung des Volkes war nicht unmittelbarer Auslöser, aber Beweggrund für die Protestbewegung
auf dem Maidan.
Wir sollten alles daransetzen, den Reformprozess in
der Ukraine zu begleiten und zu unterstützen. Die Verhältnisse müssen sich grundlegend ändern, ansonsten
werden sich die Menschen irgendwann wieder auf den
Weg machen, nämlich zum Maidan. Das sollte auch
Russland zu denken geben. Die gestiegenen Popularitätswerte des Staatspräsidenten werden schnell verblassen. Russland muss nun wieder zum politischen Dialog
und zur Diplomatie zurückkehren, idealerweise in einer
internationalen Kontaktgruppe. Noch sind die Korridore
dafür offen.
Zum Schluss gebe ich zu bedenken, liebe Kolleginnen
und Kollegen: Wenn die Menschen in Russland mit der
Zeit erkennen, dass sich ihre Regierung international ins
Abseits manövriert und isoliert hat, dann werden auch
sie sich mehr und mehr Fragen stellen. Die Menschen in
Russland werden sich nicht nur politisch, sondern auch
wirtschaftlich als Opfer sehen. Sie werden merken, dass
ihnen die bisherige Politik schadet. Eine solche Zuspitzung kann nicht im Interesse der russischen Regierung,
erst recht nicht im Interesse der Menschen sein. Mit einer solchen Zuspitzung läuft Russland Gefahr, dass vielleicht auch seine Bürger eines Tages zu ihrem eigenen
Maidan aufbrechen, dem Roten Platz in Moskau.
({4})
Marieluise Beck ist die nächste Rednerin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
möchte zunächst den verehrten Josef Zissels begrüßen,
der unsere Debatte auf der Tribüne verfolgt.
({0})
Er kommt aus der Ukraine und ist Vorsitzender des
Euro-Asian Jewish Congress und damit Vertreter des
Dachverbandes von etwa 300 jüdischen Gemeinden.
Ich möchte zu Beginn meiner Rede an den Satz anknüpfen, Herr Spinrath, mit dem Sie geendet haben. Es
geht um die Furcht von Präsident Putin, dass sich die Ereignisse auf dem Maidan eines Tages auch auf dem Roten Platz abspielen könnten. Wie werden in den kommenden Wochen und Monaten vermutlich erleben, dass
alle russischen Demokraten, die in der russischen Zivilgesellschaft arbeiten, einem zunehmenden Druck ausgesetzt sind, weil genau diese Furcht die Politik im Kreml
mitbestimmt. Wir müssen doch ehrlich feststellen, dass
wir alle fassungslos sind, mit welcher Kaltblütigkeit ein
Schritt vor den anderen gesetzt worden ist, während wir
immer wieder diplomatische Angebote unterbreitet
haben. Es gab verschiedene Kompromissangebote, verschiedene Treffen und Gespräche - es gab Gespräche
mit Lawrow, und die Kanzlerin hat mit Putin telefoniert -;
trotzdem gab es gar keine Möglichkeit, Putin von diesem
dramatischen Völkerrechtsbruch und einer Annexion,
die es seit 1945 in Europa nicht mehr gegeben hat, abzubringen.
({1})
Ich möchte gerne noch einmal daran erinnern: Zu der
Östlichen Partnerschaft wurde Russland eingeladen.
Hier, in diesem Haus, haben wir über Jahre hinweg gesagt, dass wir eine strategische Partnerschaft mit Russ1770
Marieluise Beck ({2})
land wollen. Wir haben von der Modernisierungspartnerschaft gesprochen, die wir mit Russland eingehen
wollten.
Ich weiß, dass dieser Außenminister in dieser Legislaturperiode wirklich etwas anderes vorhatte als das, was
er jetzt gestalten muss; er wollte die Beziehungen zu
Russland vertiefen. Wir müssen uns fragen: Stimmt die
Prämisse, mit der wir in den vergangenen Jahren Politik
gemacht haben, noch? Sind Putin und der Kreml wirklich noch an einer engen Zusammenarbeit mit dem Westen interessiert? Wollen Putin und der Kreml gemeinsam
nach Möglichkeiten suchen, russische Interessen mit unseren Interessen zu verknüpfen? Oder ist Putin nicht inzwischen in einer anderen Welt, in der geostrategisch gedacht wird, in der Öl und Gas als Machtinstrumente
betrachtet werden,
({3})
in der es auf unsere Ansprache gar keine Antwort gibt,
weil die Gedankenwelt eine vollkommen andere ist?
Das beunruhigt nicht nur uns hier im Westen, sondern
das beunruhigt auch solche Länder wie Belarus und Kasachstan. Kasachstan hat eine große russische Minderheit im Norden seines Landes. Der Satz, dass dort, wo
russische Bürger sind, auch russische Interessen sind,
verunsichert ein Land wie Kasachstan, das zukünftig
Mitglied der Eurasischen Union sein soll, zutiefst.
({4})
Dieser Vertrauensbruch geht unendlich tief, und er wird
auf lange Sicht Russland schaden. Dabei blutet mir das
Herz für die russischen Bürgerinnen und Bürger,
({5})
die unsere Freunde sind; denn wir wollen mit ihnen
gemeinsam das europäische Haus gestalten, wie
Gorbatschow es einst gesagt hat.
({6})
Zur Ukraine: Ich hoffe, dass Putin als Nächstes nicht
einen Schritt in Richtung Ostukraine unternimmt. Was
wir jetzt tun müssen, ist Festigkeit zu zeigen, dass wir
das nicht akzeptieren werden, und wir müssen die
Ukraine mit allem, was uns zur Verfügung steht, stabilisieren. Die Ukraine muss faktisch einen neuen Staat aufbauen. Sie braucht rechtsstaatliche Institutionen und eine
effektive Verwaltung. Sie muss ein Staat werden, der mit
der Krake der Korruption fertig wird. Janukowitsch hat
faktisch ein insolventes Land hinterlassen. Wir brauchen
jetzt eine entschiedene Politik. Wir müssen diejenigen
stabilisieren, die die schwierige Aufgabe übernommen
haben, dieses Land aus der Krise herauszuführen. Das ist
unsere wichtigste Aufgabe, und wir werden sie in Europa gemeinsam schultern.
Schönen Dank.
({7})
Das Wort erhält nun der Kollege Hans-Peter Friedrich
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Dieser Gipfel wird beherrscht von der Krise in
der Ukraine. Volker Kauder hat es richtig gesagt: Diese
Frage berührt im Grunde den Kern des europäischen Gedankens. Kern des europäischen Gedankens war es von
Anfang an - das galt schon in den 50er-, 60er- und 70erJahren -, in und für Europa eine dauerhafte Friedensordnung zu schaffen. Alle Konstruktionen, auch die ökonomischer Art, von der Montanunion bis zum heutigen
Binnenmarkt, dienten nur einem Ziel, nämlich der Absicherung dieses Kerngedankens.
Im Laufe der Jahre ist das Ziel der Friedenssicherung
in Europa als Kerngedanke der Europäischen Union verloren gegangen, weil viele geglaubt haben, dieses Ziel
sei selbstverständlich, sei bereits erreicht. Wir stellen
nun fest, dass das ein großer Irrtum ist. Eine stabile Friedensordnung in Europa ist und bleibt eine Daueraufgabe.
Sie muss immer wieder gefestigt werden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Europa
bzw. die EU steht heute genauso auf dem Prüfstand wie
in der Schulden- und Finanzkrise 2008/2009, und zwar
hinsichtlich ihrer Handlungsfähigkeit und hinsichtlich
ihrer Glaubwürdigkeit. Ich glaube, dass bei diesem Gipfel und in den nächsten Wochen das wichtigste Ziel
überhaupt ist, Europa geschlossen zu halten. Das ist eine
schwierige Aufgabe, die auf die Führer Europas und der
EU zukommt, insbesondere auf unsere Bundeskanzlerin.
Denn in den 28 Mitgliedstaaten der EU ist nicht nur die
geografische und ökonomische Situation sehr unterschiedlich, sondern auch die historische Situation. Außerdem haben sie sehr unterschiedliche Befindlichkeiten, insbesondere was den Umgang mit Russland angeht.
In diesen Wochen entscheidet sich, ob die Europäische
Union für unsere Partner, für unsere Gegner, aber auch
für unsere Bürger eine außenpolitische Größe oder nur
ein aufgeblasener Bürokratenhaufen ist. Das ist die zentrale Frage, die in den nächsten Wochen beantwortet
werden wird.
({0})
Der russische Präsident Putin hat Völkerrecht gebrochen, er hat Verträge und Abkommen über den Haufen
geworfen, und er hat den Geist des sowjetischen Imperialismus des letzten Jahrhunderts wiederbelebt.
({1})
Die Weltgemeinschaft, die Wertegemeinschaft und die
Europäische Union können nicht zur Tagesordnung
übergehen. Der Sicherheitsrat - dafür können wir alle,
Dr. Hans-Peter Friedrich ({2})
glaube ich, sehr dankbar sein - hat Russland isoliert. Bei
der Abstimmung über die Anerkennung des Referendums haben 13 der 15 Staaten mit Nein gestimmt; China
hat sich enthalten, und nur Russland hat isoliert und einsam dagegen gestimmt. Das war eine gute und richtige
Antwort. Das zeigt, dass Russland allein dasteht.
({3})
Ich glaube, dass der Dreistufenplan eine richtige Antwort ist, insbesondere weil er auf jeder Stufe die Möglichkeit zum Dialog lässt. Kollege Oppermann hat es
richtig gesagt: Es muss eine Spirale der Sanktionen vermieden werden. - Ich glaube, das wird durch diesen
Dreistufenplan erreicht. Das ist wichtig.
Den Putin-Freunden, insbesondere unserem Altkanzler Gerhard Schröder, sei gesagt: Gerhard Schröders
Argumentation, Putin habe Einkreisungsängste, ist geradezu grotesk. Putin hat überhaupt keine Ängste, sondern
Putin versucht kaltblütig, seine machtpolitischen Spielräume auszunutzen. Es liegt an uns, diese Spielräume
entsprechend einzuengen. Es ist geradezu grotesk, zu behaupten, Europa habe Putin zu dem, was er jetzt macht,
provoziert.
Die Bundeskanzlerin war es, die an diesem Pult mehrfach gesagt hat: Wir wollen nicht, dass sich die Staaten
der Östlichen Partnerschaft in einem Entweder-oder für
Russland oder die Europäische Union entscheiden müssen. - Nein, wir wollen, dass die Staaten der Östlichen
Partnerschaft eine Brücke zwischen der EU und Russland darstellen; das ist das Entscheidende. Ich sage allen
Russenverstehern in diesem Land
({4})
- die in Wahrheit ja nur geschäftliche Interessen im
Blick haben -: Wenn wir zulassen, dass Putin das Völkerrecht und Abkommen bricht, dann werden wir auch
nicht verhindern, dass er eines Tages, wenn es ihm passt,
die westlichen Investoren enteignet; das muss jeder wissen.
({5})
Wenn wir das Recht jetzt nicht durchsetzen, wird es auch
in der Zukunft nicht gelten.
({6})
Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren, die
Antwort muss viel langfristiger und viel grundsätzlicher
sein. Es ist an der Zeit, dass wir unser weltpolitisches
Koordinatensystem in Deutschland und in Europa wieder zurechtrücken. Seit 20 Jahren glauben wir, dass wir
permanent, alljährlich die Friedensdividende kassieren
können. Die Wahrheit aber ist eine andere. Wer es riskiert, sich von Staaten, die unsere Werte von Freiheit
und Demokratie nicht teilen, abhängig zu machen, gefährdet sein eigenes Wertefundament und wird erpressbar. Deswegen danke ich unserer Bundeskanzlerin ganz
herzlich, dass sie im Hinblick auf die Ukraine-Krise den
Schulterschluss mit Präsident Obama gefunden hat.
({7})
Ich danke Ihnen, Herr Außenminister, sehr verehrter
Herr Steinmeier, dass Sie in Washington deutlich gemacht haben, wie eng das Band der Freundschaft zwischen Europa
({8})
und den Vereinigten Staaten von Amerika ist. Dafür
herzlichen Dank. Ich glaube, das ist der richtige Weg.
({9})
Es wird höchste Zeit, dass wir bei allen politischen
Weichenstellungen - in der Sicherheitspolitik, in der Außenpolitik wie in der Wirtschaftspolitik - Abhängigkeiten von Staaten vermeiden, die nicht unseren Vorstellungen von Freiheit und Demokratie entsprechen und die
nichts damit zu tun haben. Andernfalls werden wir erpressbar, andernfalls gefährden wir unsere außenpolitische Handlungsfähigkeit, andernfalls gefährden wir unser eigenes Wertesystem.
Bei diesem europäischen Gipfel stehen zwei wichtige
Punkte auf der Tagesordnung, nämlich die industrielle
Wettbewerbsfähigkeit und die Energiepolitik. Diese
zwei Punkte hängen unmittelbar zusammen. Die EU
wird nicht dadurch wettbewerbsfähig, dass sich irgendwelche schlauen Kommissare, Räte oder Bürokraten
schlaue Programme ausdenken, sondern sie wird dadurch wettbewerbsfähig, dass wir Unternehmern und Investoren, Menschen, die etwas tun wollen, Rahmenbedingungen zur Verfügung stellen, die sie nicht zu
Verlierern auf den internationalen Märkten machen.
Deswegen ist es wichtig, dass wir auch in der Energiepolitik die Weichen richtig stellen. Energie ist der Lebenssaft der deutschen und der europäischen Wirtschaft,
überhaupt jeder Volkswirtschaft. Die Kommission muss
wissen: Wenn sie die energieintensive Industrie in
Deutschland plattmacht, schädigt sie die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft insgesamt.
({10})
Die EU braucht Gestaltungswettbewerb und keine
zentralistischen Fünfjahrespläne von Räten, Etatisten
und Bürokraten.
({11})
Ich wünsche mir, dass der Geist von Ludwig Erhard
über ganz Europa weht. Das ist mein Wunsch für die
nächsten Jahre. Dann wird Europa auch erfolgreich sein.
Seit Jahren reden wir in der Energiepolitik zu Recht
über Klimaschutzziele und technologische Machbarkeit.
Aber es wird Zeit, dass wir auch darüber reden, wie wir
in der Energiepolitik unabhängig von nichtdemokratischen Staaten werden können. Wer das in den letzten
Dr. Hans-Peter Friedrich ({12})
Jahren thematisiert hat, ist als Ewiggestriger, der nicht
begriffen hat, was alles global, frei und offen ist, gebrandmarkt worden. Die Wahrheit ist, dass wir uns abhängig gemacht haben von Staaten, die nicht unserem
Wertefundament entsprechen. Ich habe für unsere polnischen Freunde jedes Verständnis, wenn sie sagen: Lieber
nutzen wir unsere eigenen Kohlereserven, als dass wir
uns noch mehr von Russland abhängig machen. - Ich
kann das begreifen. Das ist eine richtige Argumentation.
({13})
Unabhängigkeit vom Ausland, von nichtdemokratischen Staaten in der Energie-, in der Ernährungs- und in
der Technologiepolitik ist ein entscheidender Punkt, den
wir zum Kernpunkt der Politik in Europa machen sollten. Die Wettbewerbsfähigkeit Europas ist erreichbar,
wenn wir die Vielfalt Europas als Chance und nicht als
Belastung begreifen, wenn wir begreifen, dass der Gestaltungswettbewerb von 28 Akteuren etwas Positives ist
und die Vielfalt am Ende dazu führen wird, dass wir
beim Ringen um die beste Lösung auch die beste Lösung
erhalten werden. Wenn Deutschland entschieden hat,
eine Energiewende herbeizuführen, dann werden uns die
anderen folgen, wenn wir bei dieser Energiewende erfolgreich sind. Wenn andere in anderen Bereichen erfolgreicher sind als wir, werden wir ihnen folgen. Das ist
die Idee des Gestaltungswettbewerbs in Europa, dem
Raum gegeben werden muss.
Ich bin ganz sicher: Wenn sich Europa auch in dieser
Krise auf seine Prinzipien - auf Freiheit, auf Demokratie
der westlichen Wertegemeinschaft, auf Vielfalt, auf
Wettbewerb, auf Subsidiarität - besinnt, dann wird es
auch aus dieser Krise gestärkt hervorgehen.
Vielen Dank.
({14})
Ich erteile das Wort der Kollegin Gabriele Groneberg
für die SPD-Fraktion.
({0})
Vielen Dank. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! In der
Tat wird bei der anstehenden Tagung des Europäischen
Rates die Lage in der Ukraine in der Diskussion alles
überlagern. Dennoch stehen weitere wichtige Themen
auf der Tagesordnung.
Der Rat hat in diesen schwierigen Tagen die Aufgabe,
Ziele festzulegen, die die Grundlagen für nationale Reformprogramme und die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der Mitgliedsländer bilden sollen, um so die
Grundlagen für Wachstum und Beschäftigung zu sichern. Das hört sich alles gut an. Das ist aber natürlich
alles nicht möglich, ohne letztendlich die Ziele für die
Klima- und Energiepolitik der EU im Zeitraum 2020 bis
2030 zu sichern. Das ist Voraussetzung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Gegensatz zur
vorherigen Bundesregierung gehen wir bei diesem
Thema einig und stark in die Gespräche: Wir gehen einig
in die Gespräche, weil wir einen Wirtschaftsminister und
eine Umweltministerin haben, die sich zur Energiewende bekennen und, ganz wichtig, an einem Strang ziehen und sich nicht gegenseitig behindern, wie es in der
Vorgängerregierung der Fall war.
({0})
Wir wollen einen weiteren Ausbau der erneuerbaren
Energien, und wir werden das EEG europarechtskonform weiterentwickeln. Das ist unbestritten eine schwierige Aufgabe, aber eine vernünftige Lösung muss uns
gelingen; schließlich hängen bei uns in Deutschland
ganz viele Arbeitsplätze davon ab. Letztendlich wird unsere wirtschaftliche Entwicklung davon auch bestimmt
werden.
Wir gehen stark in die Gespräche, weil wir uns im
Koalitionsvertrag eindeutig positioniert haben. Ich will
diese Passage vor allen Dingen für Herrn Hofreiter, der
jetzt leider nicht da ist, noch einmal zitieren:
Wir bekräftigen unseren Willen, die internationalen
und nationalen Ziele zum Schutz des Klimas einzuhalten, uns in der Europäischen Union für 2030 für
ambitionierte Ziele auf der Grundlage der weltweiten langfristigen Ziele für 2050 einzusetzen, und
wir werden uns auch international für ambitionierte
Klimaschutzziele und verbindliche Vereinbarungen
engagieren.
Wir wissen, dass Deutschland eine Vorreiterrolle hat,
und wir werden sie auch nutzen. Wie bereits erwähnt,
setzen wir uns selbstverständlich für einen weiteren Ausbau der erneuerbaren Energien ein und haben dabei
durchaus die Kosteneffizienz und die Wirtschaftlichkeit
insgesamt im Blick.
Die Koalition will einen wirksamen Emissionshandel auf europäischer Ebene. An dieser Stelle gibt es
- die Kritik wird zu Recht geübt - durchaus großen
Handlungsbedarf. Es wird eine große Aufgabe auch
der nächsten Tage sein, hier Pflöcke einzuschlagen.
Der Dialog mit der Europäischen Kommission und
den Mitgliedstaaten darüber, wie diesen Zielen dienende
Förderbedingungen europarechtskonform weiterentwickelt werden können, ist eine zentrale Aufgabe dieses
Wirtschaftsministers. Ich bin davon überzeugt, Sigmar
Gabriel wird diese Aufgabe meistern.
({1})
Wir bekennen uns ebenso eindeutig zu dem Ziel der
Steigerung der Energieeffizienz. Ich würde dazu gerne
noch mehr ausführen, nur, leider fehlt mir die Zeit. Aber
ich will noch einmal, auch wenn er nicht da ist, auf den
Herrn Kollegen Hofreiter eingehen: Ich bin wirklich enttäuscht von seiner Analyse, mit der er unterstellt, die
Klimaschutzziele seien der EU bzw. dem Europäischen
Rat unwichtig und würden überhaupt nicht berücksichGabriele Groneberg
tigt werden. Das ist meiner Ansicht nach voll daneben,
ist polemisch, ist unsachlich. Herr Hofreiter müsste wissen, dass die Ziele der EU in diesem Bereich schon lange
festliegen. Er selber bzw. seine Fraktion hat sie in der
Vergangenheit mit geprägt.
Es ist richtig: Nicht alle unsere Ziele stoßen in der EU
auf helle Begeisterung. Es gibt durchaus Kritiker in den
Ländern des Südens und des Ostens, für die angesichts
hoher Arbeitslosigkeit eine zielführende Beschäftigungspolitik und sozialpolitische Fragen im Vordergrund stehen, ebenso wie die Versorgungssicherheit im
Bereich Energie und das Preisniveau.
Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, gilt doch:
Wenn wir es in Deutschland nicht schaffen, die Menschen bei der Energiewende mitzunehmen und gleichzeitig die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft zu sichern, wenn wir es nicht schaffen, die Energiewende
sicher, sauber und bezahlbar hinzubekommen, dann werden wir - da können wir uns noch so viele Ziele setzen
und noch so viele schöne Papiere schreiben - scheitern.
Deshalb empfehle ich Ihnen allen in diesem Hause, diese
Verhandlungen zu unterstützen. Die Abgeordneten der
CDU/CSU und der SPD werden dies tun. Wir erwarten
von unserer Bundesregierung vollen Einsatz auf der Basis der Formulierungen unseres Koalitionsvertrages. Der
Auftrag, den dieses Haus der deutschen Delegation mitgibt, ist klar.
Frau Kollegin!
Ja, sehr geehrter Herr Präsident, ich komme zum
Ende. - Wir sollten auf jeden Fall aus diesem Hause Rückendeckung für die anstehenden Verhandlungen geben.
Vielen Dank.
({0})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege
Michael Stübgen das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir reden im
Abstand von einer Woche das zweite Mal - diesmal im
Zusammenhang mit dem kommenden Europäischen
Rat - im Wesentlichen über ein Thema, nämlich die
Krise in der Ukraine.
Die Ereignisse dort vollziehen sich mit einer enormen
Geschwindigkeit. Mir fällt dazu nur ein Begriff aus dem
Kalten Krieg ein: Hinsichtlich der „Eskalationsdominanz“ hat Putin eindeutig die Nase vorn. Russland bestimmt die Agenda und setzt die Fakten, und der Westen
ist scheinbar schwach und läuft den Ereignissen lediglich hinterher. Die diplomatischen Kanäle zwischen der
EU und Russland waren selten so schlecht und so dünn
wie heute.
Für die Analyse der jetzigen Situation sind mir zwei
Punkte besonders wichtig:
Erstens. Ich fange bei uns selber an; denn wenn man
sich nicht mit den eigenen Fehlern beschäftigt, dann
lernt man nichts. - Bei einer solchen diplomatischen Katastrophe wie der jetzigen zwischen der Europäischen
Union, der Ukraine und Russland sind nie nur auf der einen Seite Fehler gemacht worden, nein, dann sind immer
- das ist auch hier der Fall - auf beiden Seiten, also auch
auf unserer Seite, der Seite des Westens, Fehler gemacht
worden.
Meine Einschätzung ist, dass die Europäische Union
mit ihrer Politik zur Ukraine und den Assoziierungsverhandlungen nicht das notwendige Augenmaß gewahrt
hat. Die Europäische Union hat die geopolitische
Sprengkraft der Ukraine-Frage gerade für Russland und
auch die fundamentalen innenpolitischen Konflikte in
der Ukraine evident unterschätzt. Dies kann man nicht
einfach mit einem Assoziierungsvertrag, in Vilnius unterschrieben, übertünchen; denn darunter bleiben die
Konflikte bestehen.
Zweitens. Auf der anderen Seite ist auch klar: Der
scheinbare Vorteil, den Russland jetzt hat, steht auch nur
auf tönernen Füßen. Natürlich unterstützt im Moment
eine demokratische Mehrheit auf der Krim und auch in
Russland die Politik Putins - auch gegenüber der Krim jubelnd und euphorisch. Euphorie hat aber eine Eigenart:
Sie ist niemals und nirgends nachhaltig.
({0})
Die Menschen auf der Krim und in Russland werden
sehr bald wieder auf den Boden der Tatsachen zurückfallen, und dieser Boden ist sowohl auf der Krim als auch
in Russland hart und unkomfortabel.
Russland hat - und das seit Jahren wachsend enorme wirtschaftliche und soziale Probleme, die auch
jederzeit Sprengkraft in diesem Land erzeugen können.
Eines ist eindeutig: Russland braucht in der Wirtschaftsund Finanzpolitik den Westen. Das weiß Putin im Übrigen genauso, wie es eine Tatsache ist.
Weil ich aus Zeitgründen nicht intensiv darauf eingehen kann, möchte ich nur kurz sagen, dass ich die jetzige
Krisenreaktion bei aller Kritik - auch an der EU-Diplomatie in den letzten Jahren - grundsätzlich für richtig
halte. Sie wird von mir unterstützt.
Es ist wichtig, dass wir der Ukraine kurzfristig helfen,
um den drohenden Staatsbankrott abzuwenden, und es
ist richtig, dass wir die Assoziierung vorantreiben - auch
mit dem Signal der Unterschrift morgen. Es ist aber auch
richtig, obwohl das auch in der EU kritisiert wird, dass
die Bundesregierung sich hinsichtlich der Sanktionen
zwar klar bekennt, aber auch zurückhaltend agiert.
Ich bin der festen Überzeugung - es ist für mich besonders wichtig, das zu sagen -, dass der Schlüssel für
gegenwärtiges Handeln und für die Möglichkeit, einen
Prozess der Krisenlösung in diesem Ukraine-Konflikt zu
beginnen - es geht noch längst nicht darum, ihn abzuschließen; das wird Jahre dauern -, in der Ukraine, in
Kiew, liegt.
Das sind die harten Fakten: Die Ukraine hat eine der
schwächsten Wirtschaftsentwicklungen in ganz Osteuropa. Sie hat notwendige Reformen immer wieder aufgeschoben, die Rechtsstaatlichkeit steht infrage, und die
Korruption ist völlig frei - bis in höchste Regierungskreise hinein.
Die Ukraine ist auch ein multiethnisches Land. Neben
sehr vielen Minderheiten hat sie - das kommt erschwerend hinzu - zwei fast gleich starke Bevölkerungsgruppen: zum einen russischstämmige Ukrainer und zum
anderen Ukrainer, die in den Siedlungsräumen überwiegend auch noch getrennt leben.
Die Kluft zwischen diesen beiden Bevölkerungsgruppen ist in den letzten Jahren wesentlich größer geworden. Nachhaltig kann die Ukraine aber nur leben, wenn
diese Kluft geringer wird und es Brücken über diese
Kluft gibt.
Kollege Stübgen, darf Ihnen die Kollegin Beck eine
Zwischenfrage stellen?
Bitte, gerne.
Lieber Herr Kollege Stübgen, die Frage, die Sie eben
formuliert haben, diese faktische Zweigeteiltheit der
Ukraine, spielt in unserer Debatte eine große Rolle. Ich
bin nun sehr viel in der Ukraine gewesen und habe mit
Vertretern von Nichtregierungsorganisationen, Parlamentariern und vielen anderen gesprochen und immer
wieder diese Frage gestellt. Es ist mir immer wieder gesagt worden - übrigens hat uns das gestern auch Josef
Zissels im Ausschuss wieder gesagt -: Die Linien zwischen diesen Gruppen verlaufen quer durchs Land. Sind
Sie bereit, das zur Kenntnis zu nehmen?
Maidan-Demonstrationen hat es in 50 Städten der
Ukraine gegeben, auch in Charkiw, auch in Donezk.
Diese Demonstrationen waren dort schwächer, auch weil
die Repression dort größer war und weil es dort eine größere Nähe zu Russland als in der Westukraine gibt.
Aber: Die Linien verlaufen quer und nicht längs entlang
des Dnepr. Es ist auf dem Maidan mehr Russisch als
Ukrainisch gesprochen worden. Ich möchte Sie bitten,
das zur Kenntnis zu nehmen. Wir sollten dieser Frage
gemeinsam stärker nachgehen, statt einer möglichen
Desinformation aufzusitzen, die Vorbereitung für eine
gewollte Teilung des Landes sein könnte.
({0})
Sehr verehrte Frau Kollegin, herzlichen Dank für Ihre
Zwischenfrage. - Sie gibt mir die Gelegenheit, ein mögliches Missverständnis richtigzustellen. Aufgrund der
Kürze meiner Redezeit wollte ich darauf nicht weiter
eingehen. Was Sie gesagt haben, stimmt grundsätzlich;
das ist richtig. Es stimmt allerdings auch, dass die Siedlungsräume in der Ukraine auch schon ziemlich getrennt
sind. Und es ist so, dass es einen asymmetrischen Konflikt zwischen russischstämmiger Bevölkerung und der
ukrainischen Bevölkerung gibt. Dieser Konflikt hat
- auch Sie wissen das mit Sicherheit sehr genau - historische Gründe, die ich hier nicht alle anführen kann.
Für mich ist Folgendes wichtig: Wir konnten in den
letzten Jahren beobachten, dass bei Wahlen entweder die
Bevölkerung der Westukraine - Sie wissen, dass ich das
so genau nicht meine - eher die Regierung stellte oder,
wenn es kippte, die andere Seite die Regierung übernommen hat. Jedes Mal, wenn eine Gruppe die Regierung hatte, hat sie alles dafür getan, um die andere
Gruppe zu schwächen. Auf diesen Punkt will ich hinaus:
Wenn ein Land so kompliziert strukturiert ist - dafür
kann die Ukraine nichts; das hat historische Gründe -,
dann hat dieses Land nur eine Chance, nämlich zu versuchen, diese Gräben zu überwinden. - Herzlichen Dank.
Das war meine Antwort.
Ich glaube, es ist richtig, nachhaltig zu fordern, dass
in der Ukraine neben der notwendigen Präsidentschaftswahl am 25. Mai - wir wissen allerdings, dass die dann
stattfindenden Wahlkämpfe wie in jedem anderen demokratischen Land der Welt nicht unbedingt deeskalierend
wirken werden - sehr bald auch der Verfassungsprozess,
also die Neubestimmung einer Verfassung bzw. die Reform der vorhandenen Verfassung, einschließlich grundlegender Wirtschafts- und Sozialreformen, begonnen
werden muss.
Ich halte das für absolut notwendig. Es ist so, dass ich
im Moment in der Ukraine - das ist verständlich, weil
der Druck auf die Politiker in der Ukraine enorm hoch
ist - dafür zu wenig Ansätze finde. So wichtig es ist,
dass wir die Ukraine unterstützen, so wichtig ist es auch,
dass die europäische Politik, aber auch die Bundesregierung und wir als Deutscher Bundestag die Ukraine dazu
drängen und dabei unterstützen, ihr Land zu reformieren,
sodass es nachhaltig lebensfähig werden kann. Dann besteht zum Beispiel auch die Chance, dass die KrimFrage auf lange Sicht ganz anders gestellt wird, als das
bisher der Fall ist.
Ich will mit Folgendem schließen: Für mich hat fast
kein anderer Satz so entscheidend gewirkt - bis 1990
und danach - wie der alte Art. 23 des Grundgesetzes von
1949, den wir 1990 aufheben konnten. Mit Deutschland
hat es sich ähnlich wie jetzt mit der Ukraine verhalten,
dass sich nämlich Deutschland erst einmal ohne die ostdeutschen Länder strukturiert und den Anspruch auf eine
Wiedervereinigung nie aufgegeben hat. Nach Jahrzehnten konnte dieser Anspruch erfüllt werden. Auch das
könnte für den Umgang der Ukraine mit der Krim innerhalb dieses Verfassungsprozesses beispielgebend sein.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Vielen Dank. - Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der
Kollege Christian Petry.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Neben dem wichtigen Thema Ukraine und der
Krise dort hat der EU-Gipfel auch noch die Stärkung des
Wirtschaftsraums Europa, die Finanzwirtschaft und
Afrika zum Thema. Die Krise in den südlichen Ländern,
die Währungs-, Wirtschafts- und auch Sozialkrise, hat
uns gezeigt, dass Deutschland einen wesentlichen Beitrag zur Stabilität leisten kann und ein Motor in diesem
Bereich ist.
Wichtig ist dabei, dass die Regulierung der Finanzmärkte gelingt. Der europäische Fiskalpakt ist rechtens.
Die Rechte des Parlaments sind einzuhalten. Wir haben
ein Europäisches Semester und eine bessere Abstimmung der Haushalts- und Wirtschaftspolitik der Nationalstaaten. Dazu gibt es auch ein Nationales Reformprogramm 2014, das uns im Entwurf vorgelegt wurde.
Vertrauen in die Euro-Zone zu schaffen, ist dabei das
Ziel, und Deutschland ist hier sehr gut aufgestellt: gute
Daten beim Arbeitsmarkt, stabile Haushaltslage, Verbesserungen in der Bildung, eine starke Wirtschaft und ein
guter Weg in der Umwelt- und Energiepolitik. Auch in
den Stellungnahmen des DGB werden uns gute Noten
gegeben. Das sieht schon etwas anders aus als in den
Vorjahren. Hier wirkt bereits die Große Koalition. Ich
glaube, darauf können wir stolz sein.
({0})
Lediglich hinsichtlich der makroökonomischen Lage
wird Kritik geübt. Die Exporte - das muss in diesem Zusammenhang genannt werden - müssen beibehalten werden. Sie sichern Arbeit. Deshalb gilt es, die Binnenentwicklung zu stärken: gute Lohnentwicklung, gute Löhne
für gute Arbeit, und es müssen Anreize für inländisches
Kapital, nicht zu sparen, sondern zu investieren - Sigmar
Gabriel hat dies im Ausschuss angesprochen - gegeben
werden.
Die Importe müssen gestärkt werden, bei uns liegt ein
Importdefizit vor. Das kann aber nur dadurch behoben
werden, dass sich die anderen Volkswirtschaften entsprechend stabilisieren, die Produktion steigern und den industriellen Teil, der in Deutschland stark geblieben ist,
wieder stärken. Dann können wir dort wieder einkaufen.
Das stärkt unsere Importquote und wird die Leistungsbilanz ausgleichen. Hier werden wir auf europäischer
Ebene wirken müssen. Auch das ist ein Thema des Gipfels: eine vernünftige Industriepolitik in Europa.
Des Weiteren gilt es, die Finanzmärkte weiter zu regulieren. Die Bankenunion wird kommen, und sie wird
auch kommen müssen. Die Bankenabgabe kommt. In
diesem Zusammenhang ist auch die Stärkung der Gläubigerhaftung ein wichtiges Feld. Das haben wir immer
gefordert. Das wird eingeführt werden; das ist gut so.
({1})
Insgesamt wird Deutschland dadurch attraktiver, auch
was den Finanzmarkt betrifft. Vielleicht gelingt es, Kapital aus dem Ausland wieder zurück nach Deutschland zu
bringen. Ich meine nicht das von Herrn Hoeneß. Es gibt
auch noch andere, die im Ausland sind und dann vielleicht wieder in Deutschland am Finanzmarkt investieren. Ich glaube, das ist sehr lohnenswert.
Der Gipfel befasst sich auch mit Afrika. Ich glaube,
dass es wichtig ist, eine Entwicklung auf Augenhöhe, in
Partnerschaft, zu betreiben, dass wir den Stolz der afrikanischen Länder respektieren und Bereitschaft zeigen
sollten, im Bereich Ausbildung und auf anderen Gebieten zu helfen. Ich halte es für zentral und sehr wichtig,
dass wir dies in Partnerschaft und auf Augenhöhe machen. Das wünsche ich mir von der Bundesrepublik
Deutschland. Ich bin mir sicher, dass dies so gelingen
wird.
({2})
Kolleginnen und Kollegen, es ist unsere Aufgabe, Europa weiter voranzubringen; es ist unsere Aufgabe, Freiheit und Wohlstand in Europa zu sichern; es ist unsere
Aufgabe, dafür zu sorgen, dass wir auch weiterhin ein
weltoffenes, tolerantes Europa haben. Lassen Sie uns
dies gemeinsam tun.
Vielen Dank.
({3})
Vielen Dank. - Das Wort hat jetzt der Kollege
Manfred Grund, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Man kann in Deutschland russisches Staatsfernsehen empfangen, und die russischen
Staatsmedien sind mit Büros in Deutschland vertreten.
Deshalb ist es nicht unbedingt notwendig, Herr Kollege
Gysi, dass Sie in jeder Sitzungswoche als Lautsprecher
der russischen Staatsmedien auftreten.
({0})
Mit der Übernahme der Argumentation dieser Medien
begeben Sie sich auf Schmierseife, und zwar mit beiden
Füßen.
Ich fange mit dem ersten Punkt an. Sie sprechen von
der Weiterentwicklung des Völkerrechts und davon, dass
aus Rechtsbruch auch Gewohnheitsrecht entstehen kann.
Ich möchte ein solches Gewohnheitsrecht nicht haben.
2008 wurden Abchasien und Südossetien aus Georgien
herausgerissen. Im März dieses Jahres wurde die Krim
herausgerissen. Wer ist als Nächstes dran: Odessa oder
Donezk?
({1})
Ich möchte diese Art der Weiterentwicklung des Völkerrechts nicht haben.
({2})
Im Jahre 2008 hat Präsident Putin auf einer internationalen Konferenz in Bukarest gesagt: Die Ukraine ist gar
kein richtiger Staat. - Das steht in der Tradition der
Breschnew-Doktrin der eingeschränkten Souveränität
sozialistischer Länder. Eingeschränkte Souveränität bedeutet: Das, was Russland - damals der Sowjetunion nutzt, wird gemacht. Alle anderen Staaten werden in ihren Grenzen - zumal es ja auch russischer Boden gewesen sein kann - infrage gestellt. - Frau Kollegin Beck
hat zu Recht auf Kasachstan hingewiesen. Wir wissen
um die Ängste im Baltikum, in Polen oder in Transnistrien, der Republik Moldau. Auch hier träfe eine solche
Argumentation zu. Also: Sie begeben sich wirklich auf
Schmierseife.
({3})
Selbstbestimmung ist immer dann gut, wenn sie Russland nutzt, wie zum Beispiel bei der Abstimmung auf
der Krim. Selbstbestimmung der Balten, deren Staaten
aus der ehemaligen Sowjetunion hervorgegangen sind
und die sich unter den NATO-Schutzschirm gestellt haben, weil sie Angst vor einem wiedererstarkenden Russland hatten, wäre nicht möglich; denn - so ist Ihre Argumentation - zwischen Gorbatschow und Kohl ist ja
etwas anderes vereinbart worden.
Herr Kollege Grund, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Gehrcke?
Bitte zum Schluss. Oder er kann dann eine Kurzintervention machen. - Das kann er aushalten.
Zum Schluss.
Die Bundesrepublik Deutschland und die Sowjetunion haben möglicherweise eine Vereinbarung getroffen. Aber die Sowjetunion hat sich verflüchtigt. Übrig
geblieben ist nicht Russland als Nachfolgestaat, sondern
es sind souveräne Staaten wie im Baltikum, die ein
Recht auf eine eigene Zukunft haben. Also: Ihre Interpretation des Selbstbestimmungsrechts ist problematisch.
({0})
Zweitens, die Legitimität der Übergangsregierung.
Die Übergangsregierung in Kiew basiert auf einer Vereinbarung, die zwischen Janukowitsch, drei europäischen Außenministern und einem Vertreter Russlands
am 21. Februar getroffen wurde.
({1})
Am 22. Februar war Janukowitsch weg. Er hatte sich
aus dem Staub gemacht und seine Koffer nachweislich
schon drei Tage zuvor gepackt. Die Legitimität bezieht
sich also auf diese geschlossene Vereinbarung und
Art. 111 der geltenden ukrainischen Verfassung.
({2})
Die Übergangsregierung repräsentiert übrigens im Gegensatz zu dem, was hier gelegentlich verbreitet wird,
die ukrainische Bevölkerung und auch die Regionen der
Ukraine, weil viele Abgeordnete der Partei der Regionen
heute im Parlament aufseiten der Regierung sind und damit die politischen Lager, aber auch die Regionen - der
Süden und der Osten der Ukraine - im Parlament vertreten sind.
({3})
Drittens, zum Vorwurf des Faschismus und des Antisemitismus. Ich will mit dem Vorwurf des Antisemitismus beginnen. Es ist richtig, dass in der jetzigen Regierung mehrere Minister und ein stellvertretender
Ministerpräsident mit jüdischen Wurzeln vertreten sind.
Es ist weiterhin richtig, dass drei der von der Übergangsregierung neu eingesetzten Gouverneure jüdischer Herkunft sind, unter anderem der Gouverneur von Dnipropetrowsk, Kolomoiyski, der der Leiter der jüdischen
Gemeinden in der Ukraine und Vorsitzender des Europäischen Rates der Jüdischen Gemeinden ist.
({4})
Zum Vorwurf des Faschismus. Ja, Vertreter von Swoboda und andere Vertreter des Rechten Sektors sind unappetitliche Gesellen. Mit denen wollen wir alle nicht
gesehen werden; das ist völlig richtig.
({5})
Aber deswegen ist die ukrainische Regierung nicht faschistisch.
({6})
Vielmehr unternimmt sie den Versuch, alle Gesellschaftsteile zu repräsentieren.
Jetzt will ich eines sagen: Der Faschismusvorwurf
wurde und wird immer erhoben, wenn er der Sowjetunion bzw. Russland nutzt. Ich erinnere an den Faschismusvorwurf im Zusammenhang mit dem 17. Juni 1953
in der DDR. „Faschistische Umtriebe“ mussten damals
angeblich mit sowjetischen Panzern gestoppt werden.
Dieselbe Argumentation lässt sich im Zusammenhang
mit den Ereignissen 1956 in Ungarn und der Niederschlagung des Prager Frühlings 1967 finden. Heute verwendet Russland dieselbe Argumentation, um sich die
Krim anzueignen und möglicherweise einen Vorwand
für den Einmarsch in Odessa oder Charkiw zu haben.
Also, Herr Kollege Gysi, gehen Sie weg von dieser verlogenen Argumentation. Sie haben es gar nicht nötig.
({7})
Ich will neben der Ukraine auf zwei Länder hinweisen, die dringend unsere Unterstützung brauchen, europäische Unterstützung und Unterstützung aus Deutschland, einmal auf Georgien und zum anderen auf die
Republik Moldau. Beide werden im Spätsommer das mit
der Europäischen Union ausgehandelte Assoziationsabkommen unterzeichnen. Beide stehen bereits jetzt unter
massivem russischen Druck, mit dem das verhindert
werden soll. Das heißt, wir müssen uns diesen beiden
Ländern viel stärker zuwenden und ihnen nach Möglichkeit eine europäische Perspektive bieten.
Zum Abschluss. Unsere Hand ist zur Kooperation
ausgestreckt. Wir wollen nicht hoffen, dass Konfrontation die nächsten Jahre bestimmt. Ich will mit einem
ukrainischen Sprichwort schließen, das heißt: Wenn die
Fahnen wehen, rutscht der Verstand in die Trompete. Ich hoffe, dass in Moskau der Verstand nicht gänzlich in
die Trompete gerutscht ist und dass wir zur Normalität
und zur Diplomatie zurückkehren können.
Vielen Dank.
({8})
Vielen Dank. - Als letzter Redner in dieser Debatte
spricht für die CDU/CSU-Fraktion Klaus-Peter Willsch.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kollegen! Ich danke Manfred Grund für
diese richtige historische Einordnung. Ich will Herrn
Gysi auch noch einmal ein bisschen auf die Sprünge helfen.
({0})
Sie stellen gerne Bezüge zum Gebiet des früheren Jugoslawien her. Auch ich sehe da Parallelen; denn Milosevic
hat dort alle Staaten in seinem Umfeld mit Aggressionskriegen überzogen, weil er gesagt hat: Da ist irgendwo
ein Serbe, und deshalb ist das serbisches Territorium. Sie haben das vielleicht nicht mitbekommen, weil Sie
damals in Belgrad waren und Milosevic das Händchen
gehalten haben, statt auf der richtigen Seite zu stehen.
Sie scheinen nichts aus der Geschichte gelernt zu haben.
({1})
Die Beziehungen zwischen Russland und Deutschland, zwischen Deutschen und Russen, zwischen den
Menschen der beiden Länder, sind eng. Wir hatten hier
in Berlin die Ausstellung „Russen und Deutsche:
Tausend Jahre Kunst, Geschichte und Kultur“ im letzten
und vorletzten Jahr. Das war ein Publikumsmagnet.
Viele Menschen haben die Ausstellung besucht. Sie war
ein Beitrag zum Russland-Jahr in Deutschland und zum
Deutschland-Jahr in Russland.
Gleichwohl müssen wir leider erkennen, dass Konflikte und Denkmuster, die wir schon überwunden glaubten, wieder aufbrechen oder wieder sichtbar werden.
Man kann vieles persönlich für nicht richtig halten, aber
trotzdem entschuldigen oder nachvollziehen. Man kann
versuchen, die Welt durch die Augen des anderen zu sehen, und das haben wir auch oft getan. Aber mit dem,
was in den letzten Tagen und Wochen auf der Krim passiert ist, ist Moskau mehr als nur einen Schritt zu weit
gegangen. Das ist nicht hinnehmbar.
Was können wir tun? Ein Übergehen zur Tagesordnung ist nicht möglich. Wir alle hoffen, dass die ersten
Stufen der von der EU ergriffenen Sanktionsmaßnahmen
hinreichen. Aber auch sie werden nur gelingen, wenn
wir an unserer Entschlossenheit, im Zweifelsfall auch
weiter zu gehen, wirtschaftliche Sanktionen ernsthaft in
Betracht zu ziehen, keinen Zweifel lassen. Dazu gehört,
dass wir uns unserer energiepolitischen Abhängigkeit
bewusst sind, wenn wir darüber reden, und dass auch die
andere Seite weiß, dass wir uns dieser Abhängigkeit bewusst sind. Deshalb bin ich auch führenden Wirtschaftsvertretern dankbar, die deutlich gemacht haben: Völkerrecht bleibt Völkerrecht, und es darf nicht darüber
hinweggegangen werden.
Eine aktuelle Studie der Stiftung Wissenschaft und
Politik, die ich Ihnen wirklich zur Lektüre empfehle
- sie ist hervorragend -, zeigt das hohe Destabilisierungspotenzial bezüglich der Versorgung mit Gas und Öl
auf. Russland ist Europas Energielieferant Nummer eins.
30 Prozent des in der EU benötigten Gases kommen von
dort, beim Öl sind es 35 Prozent. Auf Deutschland bezogen sind die Werte noch etwas höher.
Aber natürlich sind wir auch gegenseitig voneinander
abhängig. Die Talfahrt des Rubel-Kurses zum Euro in
den letzten Wochen von 1: 40 auf 1: 50 zeigt schon, dass
sich auch die russische Wirtschaft nicht so leicht eine
Eiszeit erlauben kann. Moskau kann nicht ignorieren,
dass sich der russische Haushalt zu etwa 55 Prozent aus
Erlösen von Gas- und Ölgeschäften speist.
Herrn Hofreiter, der jetzt wieder bei uns ist,
({2})
möchte ich zurufen, dass ich sehr wohl nachvollziehen
kann, wenn er die Frage aufwirft, ob es angesichts dieser
Analyse richtig ist, im Bereich der Gasversorgung eine
vertikale Integration zuzulassen. Wir sind bei der Versorgung abhängig, und nun sollen wir auch noch unseren
strategischen Speicher in einen Einflussbereich geben, in
den er nach meinem Dafürhalten nicht gehört. Deutschland hat knapp ein Viertel der 100 Milliarden Kubikmeter Gasspeicherkapazität. Deshalb muss darüber
nachgedacht werden, ob der Deal zwischen BASF/
Wintershall und Gazprom richtig ist, ob der Verkauf von
Dea durch RWE richtig ist.
Wenn man über dieses Thema geostrategisch nachdenkt, muss man sich aber auch überlegen, ob der überhastete Ausstieg aus der Kernenergie richtig ist.
({3})
Kernenergie ist nämlich auch geeignet, Abhängigkeit zu
verringern.
({4})
Wenn man offen geostrategisch diskutieren will, muss
man sich darüber Gedanken machen, ob es richtig ist,
leichtfertig auf eigene Energiegewinnungsmöglichkeiten
wie Fracking zu verzichten. Wenn wir schon über die
Frage einer unabhängigen Energieversorgung reden wollen, dann machen wir das bitte auf breiter Grundlage und
verhängen keine Denkverbote.
Noch einige Gedanken zur Zukunft in der Ukraine.
Wichtig wird sein, dass wir darauf achten, dass
Rechtsstaatlichkeit herrscht. Manfred Grund hat es angesprochen: Es darf nicht eine Oligarchenclique durch eine
andere ersetzt werden. Wenn sich der IWF jetzt Gedanken über die Zahlungsfähigkeit der Ukraine macht, dann
wird es wichtig sein, dass dort ein Bail-in bezüglich
Oligarchenvermögen stattfindet. Das meiste von diesem
Vermögen ist nämlich dem Volk geraubt worden.
({5})
Früher war es Volkseigentum, und irgendwelche Personen haben es sich in der Transformationszeit unter den
Nagel gerissen.
Wo wir gerade beim IWF sind: noch ein Gedanke zur
Situation im Euro-Raum, ohne jetzt Grundsatzdebatten
anzufangen.
Aber bitte einen kurzen Gedanken.
Einen kurzen Gedanken. - Wir haben es mit sinkenden Renditen bei Staatsanleihen zu tun, wobei offenbleibt, ob das auf eine wirkliche Verbesserung der Situation oder auf die in meinen Augen unrechtmäßige
Zusage, notfalls unbegrenzt Staatsanleihen zu kaufen,
zurückzuführen ist. Egal wie es ist: Entscheidend ist,
dass die Spielräume, die durch eine geringere Verschuldung bedingt sind, nicht, wie bei der Einführung des
Euro, genutzt werden, um munter die Verschuldung zu
erhöhen, sondern dass sie genutzt werden, um Strukturreformen anzugehen und Defizitquoten zu senken. Davon sind wir leider noch ein großes Stück entfernt. Ich
bitte die Troika und die Bundesregierung darauf zu achten, dass in der richtigen Richtung agiert wird und neue
Spielräume genutzt werden.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Wir müssen leider feststellen, dass die Schuldenstände dort allen kraftvollen Beschlüssen zum Trotz weiter steigen. Wir müssen uns mit diesem Thema weiterhin
sehr sorgsam beschäftigen.
Frau Präsidentin, ich danke für Ihre Geduld. Sie haben mir eine Minute Redezeit mehr gegeben. Das ehrt
Sie
({0})
und macht mir Freude, weil ich so noch meine letzten
Gedanken vortragen konnte.
Vielen Dank.
({1})
Okay. Ich mache sehr gerne Freude. - Das Wort zu einer Kurzintervention zum Beitrag des Kollegen Grund
hat jetzt Dr. Wolfgang Gehrcke.
({0})
Frau Präsidentin, es steht mir nicht zu, Sie irgendwie
zu korrigieren. Wenn Sie den „Dr.“ zurücknehmen könnten! Ich möchte nicht dort landen, wo andere gelandet
sind. Ich habe keinen Doktortitel und möchte auch nicht
so angesprochen werden.
Das werde ich machen. Aber die Schriftführerin, Ihre
Fraktionskollegin, war so beeindruckt von Ihnen, dass
sie meinte, Sie hätten den Doktortitel.
Das rührt mich natürlich tief. - Ich wollte eigentlich
eine Zwischenfrage zum Beitrag des Kollegen Grund
stellen. Er hat sie leider nicht zugelassen. Deswegen
möchte ich eine Kurzintervention vorbringen.
Ich verstehe nicht, Kollege Grund, warum Sie das,
was Gregor Gysi hier ausgeführt hat, so verzerrt widergespiegelt haben. Ich wiederhole, was unsere Gedanken
sind: Gregor Gysi möchte das Argument ausschließen
- ich teile das völlig -, dass es ein völkerrechtliches Gewohnheitsrecht gibt. Es wurde das Argument geäußert,
dass mit dem Kosovo-Einsatz ein neues Gewohnheitsrecht geschaffen worden ist. Wir wollen nicht, dass ein
sogenanntes Gewohnheitsrecht konstruiert wird, das erlaubt, dass in andere Staaten eingegriffen wird.
({0})
Wir wollen, dass völkerrechtlich festgeschrieben
wird, dass Trennungen nur im Rahmen von friedlichen
Vereinbarungen zwischen allen Partnern möglich sind.
Vielleicht kommt es Ihnen komisch vor, wenn ich frage,
ob man nicht gerade die jetzige Situation nutzen muss,
um in Europa über Konferenzen, über Arbeitsgruppen,
auch über gemeinsame Arbeitsgruppen mit Russland
und anderen Staaten, zu einer Erneuerung des Völkerrechts auf der Grundlage der Charta der Vereinten Nationen zu kommen. Das ist dringend notwendig. Wir
wollen geschriebenes Völkerrecht, das für alle gleichermaßen gilt und gegen alle gleichermaßen durchgesetzt
wird. Das wollen wir erreichen. Das bedeutet, dass man
erst einmal selbstkritisch an die Dinge herangehen muss.
Das war der Anstoß, den Gregor Gysi geben wollte.
({1})
Ich verstehe nicht, warum man einen so einfachen Gedanken nicht einmal konstruktiv aufnehmen kann.
({2})
Wenn mir noch ein polemischer Satz gestattet ist, und
zwar zu Ihrem schönen Bild von dem Verstand, der in
die Trompete rutscht: Wenn man mit dem Finger auf andere zeigt, zeigen auch immer Finger auf einen selbst zurück. Schauen Sie einmal in die Trompete hinein, um zu
sehen, wessen Verstand Sie dort finden!
({3})
Vielen Dank. - Herr Kollege Grund.
Ich schaue zuerst in die Geschäftsordnung und stelle
fest, dass wir nicht nur eine Weiterentwicklung des Völkerrechts haben, sondern auch eine Weiterentwicklung
der Geschäftsordnung. Eine Kurzintervention kann sich
immer nur auf den Redebeitrag beziehen, der unmittelbar zuvor gehalten worden ist; es darf nicht noch ein anderer Redner dazwischen gewesen sein. Aber wir wollen
jetzt darüber hinwegschauen.
({0})
Herr Kollege Gehrcke, wer die Situation seinerzeit im
Kosovo mit der Situation jetzt auf der Krim vergleicht,
der vergleicht Äpfel mit Birnen; das ist etwas fundamental anderes. Im Kosovo hat es einen Völkermord gegeben. Der Auftrag der Völkergemeinschaft an die Vereinten Nationen ist, Völkermord zu verhindern und alle
Möglichkeiten, alle juristischen und alle diplomatischen
Möglichkeiten, zu nutzen, um Völkermord aufzuhalten.
({1})
Srebrenica war schon passiert. Ich nenne auch Vukovar.
({2})
Die Resolution ist immer wieder am Veto Russlands im
Sicherheitsrat der Vereinten Nationen gescheitert,
({3})
sodass es zur Beendigung des Völkermords keine andere
Möglichkeit mehr gegeben hat, als so vorzugehen, wie
vorgegangen worden ist.
Nun zur Krim. Alle Argumente, die für die Annexion
der Krim vorgetragen worden sind - Bedrohung der russischen Minderheit; es sei sogar schon jemand umgekommen; die Sprache dürfe nicht mehr gesprochen werden -,
({4})
waren aus der Luft gegriffen und hatten überhaupt nichts
mit der Wirklichkeit zu tun. Alles das, was man mit der
ukrainischen Regierung hätte aushandeln können - Autonomiestatus der Krim etwa -, ist einfach ausgeschlagen worden. Es sind vollendete Tatsachen geschaffen
worden. Es ist etwas herausgeschnitten worden. Vollendete Tatsachen! Annexion! Ein Teil eines Landes wurde
einem anderen Land angegliedert. Das ist mit der Situation im Kosovo seinerzeit überhaupt nicht zu vergleichen. Ich bitte Sie und die Kollegen der Linken, diese
Argumentation nicht zu wiederholen, weil sie nicht trägt.
({5})
Vielen Dank.
Herr Kollege Grund, der Kollege Gehrcke war von
Ihnen so beeindruckt, dass er der irrigen Auffassung war,
dass Sie ihm das Wort erteilen dürfen. Das war mir entgangen. Deshalb wollte ich den Fehler korrigieren und
habe eine Ausnahme von der Geschäftsordnung gemacht.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/853. Wer
stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Keine. Damit ist dieser Antrag gegen die Stimmen der Linken abgelehnt worden.
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Beratung der Unterrichtung durch den Wehrbeauftragten
Jahresbericht 2013 ({1})
Drucksache 18/300
Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({2})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 96 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie jetzt ganz
schnell die Plätze wechseln, dann könnte ich die Aussprache auch eröffnen. - Ich eröffne die Aussprache.
Das Wort hat der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages, Hellmut Königshaus.
({3})
Hellmut Königshaus, Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages:
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren Abgeordnete! Es ist bemerkenswert, dass sich
das Hohe Haus schon so kurz nach der abschließenden
Beratung des Jahresberichts 2012 mit dem Jahresbericht
2013 befasst. Das ist ein wirklich gutes Signal an die
Soldatinnen und Soldaten und auch an ihre Familien. Es
zeigt, dass die Abgeordneten des Deutschen Bundestages nicht nur Belastungen beschließen, sondern sich
auch mit den Folgen für die Truppe, für die Soldatinnen
und Soldaten, übrigens auch für die Zivilbeschäftigten,
befassen wollen. Es gibt eine ganze Reihe von Herausforderungen, denen sich die Angehörigen der Bundeswehr stellen müssen. Deshalb ist das besonders wichtig.
({4})
Die Herausforderungen, meine Damen und Herren,
sind immens. Das schlägt sich auch in den Eingaben, die
uns erreichen, immer wieder nieder. Mit knapp
5 100 Zuschriften erreicht die Eingabenquote im Berichtsjahr einen absoluten Höchststand, gemessen an der
Kopfzahl der Soldatinnen und Soldaten. Gegenstand der
Eingaben waren schwerpunktmäßig Probleme in den Bereichen Personalführung, Ausbildung, Einsatz, Betreuung und Versorgung der Soldatinnen und Soldaten und
ihrer Familien. Übrigens, damit nicht der Eindruck entsteht, das alles seien nur Sonderentwicklungen wegen
der Frage der Beihilfebearbeitung: Auch in den ersten
beiden Monaten dieses Jahres hat sich diese Quote auf
dem gleichen hohen Niveau bewegt wie im vorangegangenen Jahr. Ich glaube, das sollte schon Anlass sein, die
angekündigte Evaluierung der Neuausrichtung umgehend anzugehen, um den eingeschlagenen Kurs der Umstrukturierung der Streitkräfte zum Erfolg zu führen.
Das Berichtsjahr 2013 war für unsere Soldatinnen
und Soldaten ein Jahr des Umbruchs. Die Neuausrichtung der Bundeswehr stellte die neue Struktur neben die
bisherige. In der Praxis bedeutete das: Trotz erheblicher
Reduzierung des Personals mussten beide Strukturen unter der vollen Belastung der Einsätze ausgefüllt werden.
Hinzu kam die Verunsicherung vieler Soldatinnen und
Soldaten und ihrer Familien, aber auch vieler Zivilbeschäftigter über die Frage, ob, wo und in welcher Verwendung sie künftig ihren Platz in der sogenannten
neuen Bundeswehr finden werden.
Ich erwähne übrigens die Zivilbeschäftigten an dieser
Stelle, weil die Verlagerung von Zuständigkeiten der
Bundeswehrverwaltung in die Bereiche der Innen- und
Finanzverwaltung zu massiven Verzögerungen bei der
Bearbeitung der Beihilfe- und Versorgungsanträge führte
und darüber hinaus auch verfassungsrechtliche Fragen
zur zukünftigen parlamentarischen Kontrolle dieser Bereiche aufwirft, die sich aus meiner Sicht bisher noch
nicht abschließend beantworten lassen. Ich will nicht
über die Frage reden, ob die besonderen Rechte des Verteidigungsausschusses durch diese Verlagerung berührt
sind; das wird sicherlich das Parlament selbst beantworten. Rechte des Wehrbeauftragten sind allerdings sehr
wohl betroffen; denn insbesondere Auskunfts- und Besuchsrechte hat er nur unmittelbar gegenüber Dienststellen aus dem Bereich der Bundesministerin der Verteidigung.
Im Bereich der Streitkräfte gibt der Verlauf der Neuausrichtung durchaus noch immer Anlass zur Sorge, zu
der Sorge nämlich, dass eine nachhaltige Verbesserung
der Einsatzfähigkeit, Finanzierung und Attraktivität der
Streitkräfte nicht erreicht werden kann, wenn nicht nachgesteuert wird. Trotz der bisher erfolgten Umstrukturierung steht die Bundeswehr mit den laufenden Einsätzen
personell und materiell nach wie vor an den Grenzen
ihrer Leistungsfähigkeit. Operativer Bedarf und strukturelle Ausplanung klaffen auf absehbare Zeit weiter deutlich auseinander. Der Jahresbericht geht darauf ausführlich ein.
Ich nenne in diesem Zusammenhang hier nur einige
besonders kritische Bereiche wie den Lufttransport und
den Luftumschlag, die Flughafenfeuerwehr, den Flugverkehrskontrolldienst sowie die Flugberatung bei der
Luftwaffe. In der Marine ist es ein offenes Geheimnis,
dass die Besatzungen der Schiffe und Boote im Einsatz
nur unter Rückgriff auf die letzten Reserven auch in Stäben und Dienststellen zusammengestellt werden können.
Auch im Heer reicht das verfügbare Personal nicht aus,
um Einsatzkontingente unter Berücksichtigung des
Grundsatzes „4 Monate Einsatz, 20 Monate Inlandsdienst“ wirklich verlässlich abbilden zu können. Das
Prinzip „Breite vor Tiefe“ ist angesichts dieser Situation
meines Erachtens zu überprüfen. In der jetzigen Form
führt es zur Überlastung insbesondere der einsatzrelevanten Bereiche. Es bedarf daher einer Korrektur. Die
für dieses Jahr vorgesehene Evaluierung der Neuausrichtung wird dies erweisen und bietet auch eine gute Grundlage und Gelegenheit dafür.
Wehrbeauftragter Hellmut Königshaus
Ein besonderer Schwerpunkt liegt auch in diesem
Jahr beim Thema „Vereinbarkeit von Familie und
Dienst“. Jenseits aller Entbehrungen, die der Beruf des
Soldaten unvermeidbar mit sich bringt, muss der Dienst
so gestaltet werden, dass er auch ein befriedigendes Familienleben zulässt. Dazu bedarf es natürlich mehr als
bloßer Bekenntnisse, so unter anderem auch der Bereitschaft, zusätzliche finanzielle Mittel für diese Aufgaben
zur Verfügung zu stellen. Ich bin froh, dass Sie, Frau
Bundesministerin, die Verbesserung der Vereinbarkeit
von Familie und Dienst zu einem Schwerpunkt Ihrer Arbeit machen wollen. Dieses Signal ist bei den Soldatinnen und Soldaten und vor allem bei ihren Familien gut
angekommen. Sie erwarten nun allerdings, dass Verbesserungen in diesem Bereich unmittelbar und konkret
spürbar werden. Ich hoffe, Frau Ministerin von der
Leyen, dass Sie auf diesem Gebiet tatsächlich klare Linie halten.
Ein wesentliches Thema war im vergangenen Jahr die
Situation der Frauen in der Bundeswehr. Beunruhigende
Meldungen über sexuelle Übergriffe haben deren Situation stärker in das Blickfeld gerückt. Jenseits der gravierenden Fälle, über die in den Medien berichtet wurde,
klagten zahlreiche Soldatinnen über frauenspezifische
Diskriminierung. Sie bestätigten damit die inzwischen
veröffentlichte Studie „Truppenbild ohne Dame?“. Im
Gespräch mit Betroffenen wurde deutlich, dass oftmals
Hemmungen bestehen, Mobbing, sexuelle Belästigungen oder sogar sexuelle Übergriffe zu melden. - Das hat
übrigens dazu geführt, dass auch bei mir ein falscher
Eindruck entstanden ist. Manche meiner Stellungnahmen würde ich heute so nicht mehr abgeben. - Dies
wurde im Gespräch, aber auch aufgrund der Diskussion
in der Öffentlichkeit deutlich. Als Gründe für die Zurückhaltung, dies zu melden, wurde vorwiegend die
Furcht vor negativen Auswirkungen auf die eigene Beurteilung und mögliche Laufbahnnachteile genannt. Alle
Vorgesetzten bleiben daher aufgefordert, frauenfeindlichen Tendenzen konsequent entgegenzutreten und verlorenes Vertrauen in ein kameradschaftliches Miteinander
zurückzugewinnen.
({5})
Meine Damen und Herren, die Auswirkungen der
Veränderungen durch die Neuausrichtung brachten es
mit sich, dass die Personalführung noch stärker ins
Blickfeld geriet; das versteht sich von selbst. Aber auch
die rechtlichen Rahmenbedingungen brachten erhebliche
Veränderungen. Bei den Auswahlverfahren zur Übernahme von Soldatinnen und Soldaten in das Dienstverhältnis einer Berufssoldatin bzw. eines Berufssoldaten
wurden Geburtsjahrgänge bisher immer getrennt betrachtet. Das hat das Bundesverwaltungsgericht in einer
Grundsatzentscheidung zu Recht als unzulässig verworfen, weil Eigenleistung und Befähigung nicht unbedingt
im Zusammenhang mit Jahrgängen zu sehen sind. Es
gibt auch Menschen älterer Jahrgänge, die durchaus eine
Leistungsfähigkeit erbringen, die bei Jüngeren vergeblich gesucht wird.
({6})
Für Offiziere wurde diese Gerichtsentscheidung im
Auswahlverfahren 2013 bereits berücksichtigt. Das Auswahlverfahren für Feldwebel dagegen wurde im Berichtsjahr zunächst ausgesetzt und auf das laufende Jahr
verschoben. Das ist bei den betroffenen Bewerbern
nachvollziehbar auf Unverständnis gestoßen. Je mehr
sich das Auswahlverfahren verzögert, desto größer ist
die Gefahr, dass sich die besten Bewerberinnen und Bewerber beruflich bereits anderweitig orientiert haben
oder dass sie persönliche Nachteile erfahren, auch wenn
sie in der Bundeswehr bleiben.
Schwer tut sich die Bundeswehr auch mit der Umsetzung der europäischen Arbeitszeitrichtlinie. Schon bei
den zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern konnte
der Ausgleich für mehr geleisteten Dienst personell nicht
oder nur schwer kompensiert werden, sodass einzelne
Arbeitsbereiche vorübergehend stillgelegt werden mussten, etwa die Flughafenfeuerwehr. Dem Grunde nach gilt
die Arbeitszeitrichtlinie nach meiner Auffassung auch
für Soldatinnen und Soldaten, sodass eine Umsetzung in
diesem Bereich unausweichlich ist. Es macht keinen
Sinn, davor die Augen zu verschließen. Je eher sich die
Bundeswehr, aber auch das Parlament mit den personellen und finanziellen Folgen einer entsprechenden Umsetzung beschäftigt, desto besser wird darauf reagiert
werden können. Ich sage auch - ich weiß nicht, ob Herr
Kampeter heute anwesend ist -: Kostenneutralität steht
dabei nicht in Aussicht.
Ein letztes Stichwort: Sanitätsdienst. Erhebliche Sorgen bereitet nach wie vor die sanitätsdienstliche Versorgung. Ohne einen massiven Rückgriff auf zivile Kapazitäten ist die Versorgung heute nicht mehr sicherzustellen.
Deshalb gibt es eine immer engere Kooperation zwischen zivilen und militärischen Bereichen. Allerdings
darf dabei der militärische Versorgungsauftrag nach meiner Auffassung nicht aus dem Blick verloren werden.
Ich habe den Eindruck, dass vielfach die Fragen der
Wirtschaftlichkeit den eigentlichen Daseinszweck des
Sanitätsdienstes mehr und mehr überlagern. Das darf
nicht sein.
Ich sehe, dass ich meine Zeit schon überschritten
habe, und möchte Ihnen an dieser Stelle für Ihre Aufmerksamkeit danken. Aber wenn Sie erlauben, Frau Präsidentin, möchte ich noch einen besonderen Dank an
meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter richten, die
wirklich Großartiges geleistet haben. Wir hatten nicht
nur eine hohe Zahl von Eingaben, sondern eben auch
sehr komplizierte und konkrete Fragen zu klären. Diese
Arbeit ist auf großartige Art und Weise geleistet worden.
Das Gleiche gilt natürlich für unsere Ansprechpartner in
den Ministerien, in den militärischen Organisationen
und auch im Parlament. Wenn Sie erlauben, richte ich an
dieser Stelle meine Grüße auch an alle Soldatinnen und
Soldaten im Einsatz. Nochmals ganz herzlichen Dank!
Vielen Dank.
({7})
Vielen Dank, Herr Kollege Königshaus. - Ich habe
Ihnen die Zeit für diesen Dank gerne gewährt. Bevor ich
der nächsten Rednerin das Wort erteile, möchte ich Ihnen und Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Namen des ganzen Hauses für die Vorlage des Jahresberichts 2013 ganz herzlich danken.
({0})
Das Wort hat jetzt die Bundesministerin Dr. Ursula
von der Leyen.
({1})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr
Königshaus! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bevor
wir in die Debatte eintreten, möchte ich vorwegstellen,
dass der Jahresbericht des Wehrbeauftragten 2013 wie
jeder Jahresbericht ein Ergebnis langer Recherchen, vieler Mühen und verantwortlicher Bewertung ist. Deshalb,
Herr Königshaus, möchte auch ich Ihnen und Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für diesen Einsatz danken. Wir alle wissen aus der Erfahrung der vergangenen
Jahre - ich merke es auch jetzt im neuen Amt -, dass Ihnen die Belange der Soldatinnen und Soldaten wirklich
ein Herzensanliegen sind. Ich danke für diesen Einsatz.
({0})
In Ihrem aktuellen Bericht werden naturgemäß Mängel genannt. Es werden aber auch Lösungsvorschläge
unterbreitet und Verbesserungsvorschläge nicht verschwiegen. Auch dafür möchte ich ausdrücklich danken.
Ich möchte auf einige Themenbereiche des Berichts
eingehen. Haben Sie Verständnis dafür, dass ich nicht alles abarbeiten kann. Ich möchte vor allen Dingen die
beiden wichtigsten Punkte ansprechen. Das sind einerseits die Auslandseinsätze und andererseits die Attraktivität der Bundeswehr nach innen; denn zwischen diesen
beiden großen Komponenten spielt sich das zentrale
Thema, nämlich die Herausforderung, die eine doppelte
ist, ab.
Sie haben eben schon ganz richtig skizziert, Herr
Königshaus, dass die Bundeswehr einer Doppelbelastung ausgesetzt ist. Auf der einen Seite steht die Reform,
die Neuausrichtung, die noch lange nicht abgeschlossen
ist; wir stecken mittendrin. Das bedeutet für viele: Umstrukturierungen, Standortverlagerungen, neue Zuständigkeiten, Unsicherheit auch in Bezug auf die Fragen,
wie es weitergeht, wie die neue Kapazität aussieht und
wann sie aufgebaut ist. Auf der anderen Seite stehen die
Auslandseinsätze. Wir wissen alle, dass die Welt nicht
stillsteht und Einsätze hinzukommen, so wie im letzten
Jahr im Hinblick auf die Türkei und Mali. Diese Doppelbelastung - Neuausrichtung und Auslandseinsätze - verlangt von den Angehörigen der Bundeswehr viel Geduld
und Verständnis. Sie verlangt aber auch vonseiten des
Ministeriums und der Leitungsebene viel Verständnis für
die besondere Situation der Soldatinnen und Soldaten.
Es bedarf immer Ideen und Bemühungen für jede Art
von Verbesserung und kluger Planung, damit wir in dieser besonderen Situation das Beste für die Soldatinnen
und Soldaten ermöglichen.
Bei Auslandseinsätzen besteht die grundsätzliche Regel 4/20, die alle kennen, also im Grundsatz 4 Monate
Einsatz und 20 Monate der Vor- und Nachbereitung sowie der Regeneration. Tatsache ist aber, dass wir das
nicht immer einhalten.
({1})
Bei der großen Mehrheit der Einsätze, bei weit mehr als
75 Prozent, funktioniert das. Aber in bestimmten Teilen
der Truppe, vor allen Dingen, wenn Spezialisierung und
hohe Qualifizierung gefordert sind, spüren wir den Mangel an Personal und vor allem den Fachkräftemangel,
den in Bezug auf genau diese Komponenten inzwischen
auch die deutsche Wirtschaft und der deutsche Mittelstand spüren.
Das moderne Gesicht der veränderten Bundeswehr
beinhaltet, dass wir Einsätze niemals alleine, sondern
immer unter dem Dach der Vereinten Nationen, der EU
oder der NATO leisten, also mit geteilten Fähigkeiten
und immer im vernetzten Ansatz. Der Einsatz des Militärs ist die Ultima Ratio. Wir wissen: Es gibt keine Entwicklung ohne Sicherheit. Es gibt aber eben auch keine
Sicherheit ohne Entwicklung.
Das bedeutet für uns nach innen, dass zwar in den
verschiedenen Bereichen eine Grundausstattung da sein
muss, aber wir uns zunehmend auf unsere Stärken konzentrieren sollten, die auch immer stärker von den Bündnispartnern nachgefragt werden. Die Komponenten sind
eben benannt worden. Da ist das weite Thema der Luftunterstützung, da ist die Logistik, da ist das breite Feld
der Ausbildung, und zwar nicht nur der militärischen
Ausbildung, sondern auch der Ausbildung im Hinblick
auf Fertigkeiten bis hin zu Pionierspezialwissen. Da geht
es aber auch um die Frage der wertegebundenen Führung - wie führe ich eine Armee innerhalb demokratischer Strukturen, wissend, dass Militär keine Politik
macht, sondern eine dienende Funktion hat? - und um
das große Thema der medizinischen Versorgung und der
Sanität.
Ich habe eben die Schlüsselqualifikationen nicht abschließend aufgeführt, aber die dominierenden genannt; ich
habe angeführt, wo die Hauptprobleme liegen. Es geht um
die beruflichen Fähigkeiten von Technikern, Flugzeugprüfern, Spezialpionieren, aber eben auch von ärztlichem Personal. Dort ist die Bundeswehr besonders nachgefragt und
wird die Belastung - da dürfen wir uns nichts vormachen weiterhin hoch sein, gerade im Vergleich zu anderen Truppenteilen, in denen die Regel „4 Monate Einsatz, 20 Monate zu Hause“ gut funktioniert. Das wird ein Dauerthema
bleiben; denn wir konkurrieren nicht nur innerhalb der
Bündnisse um diese Fähigkeiten, die immer wieder nachgefragt werden, sondern auch mit der gesamten Wirtschaft.
Das betrifft die Berufe der Ärztinnen und Ärzte, der IT-Spezialisten sowie technische Felder; Sie kennen sie alle. Das
sind genau die Bereiche, in denen die Wirtschaft inzwischen den Fachkräftemangel spürt; alle stehen bei diesen
Fähigkeiten in Konkurrenz. Das bedeutet für uns: Wir
müssen bei den Lösungen flexibler und kreativer werden.
Die Bundeswehr bietet inzwischen ein Splittingmodell an - man würde das in der Wirtschaft wahrscheinlich Jobsharing nennen -: Einsatzdienstposten werden
von zwei Soldatinnen oder Soldaten besetzt. Dadurch
kann die Einsatzdauer flexibler und kürzer gestaltet werden. Die Luftwaffe hat ein entsprechendes Projekt und
macht damit gute Erfahrungen. Wir werden das ganz sicher ausbauen. Eines ist aber auch klar: Mit Flexibilisierung
allein ist es nicht getan; denn viele Arbeitgeber fragen, wie
ich eben geschildert habe, diese Schlüsselqualifikationen
nach. Wir müssen also als Arbeitgeber die richtigen Antworten geben.
Die Bundeswehr hat als Arbeitgeber zwei große Stärken: Erstens. Sie bietet einen sicheren Arbeitsplatz; es
gibt keine feindlichen Übernahmen oder Konzernrestrukturierungen, um in der Wirtschaftssprache zu sprechen.
({2})
Zweitens. Die Bundeswehr hat eine außergewöhnlich
verlässliche Personalentwicklung wie kaum ein anderer
Arbeitgeber. - Das sind die großen Stärken.
Sie muss sich andererseits bei den Themen viel breiter aufstellen, die sich hinter dem Begriff „Vereinbarkeit
von Dienst und Familie“ verbergen: flexible Arbeitszeitmodelle, selbstverständlich die Umsetzung der EU-Arbeitszeitrichtlinie - wenn die Hochleistungsmedizin das
geschafft hat, wenn andere kritische Berufe das geschafft
haben, dann muss das auch die Bundeswehr schaffen -,
mobiles Arbeiten - damit meine ich physisch unabhängiges, IT-gestütztes Arbeiten - und das Mitdenken von
Kindern und Eltern, die gepflegt werden müssen. Das
möchte ich nicht nur auf Soldatinnen reduziert sehen; es
betrifft genauso elementar die Soldaten, die selbstverständlich gute Väter für ihre Kinder sein wollen. Vielleicht hat nicht jede Soldatin oder jeder Soldat Kinder;
aber sie alle haben Eltern. In einer Gesellschaft im demografischen Wandel kommt dieses Thema mit großer
Geschwindigkeit auf uns zu. Wir müssen darauf Antworten geben; sonst werden wir nicht mehr das Personal halten können, das wir halten wollen.
({3})
Herr Königshaus, Sie sprachen das Thema „Truppenbild ohne Dame“ an, also die Stellung der Frauen in der
Bundeswehr. Ich glaube, etwas mehr als zehn Jahre nach
der Öffnung der Bundeswehr für Frauen - am Anfang
stand sicherlich auch das Interesse am Neuen und Ungewöhnlichen im Raum - kommt jetzt die Phase, in der
man die Konkurrenz spürt; das ist eine Selbstverständlichkeit. Ich finde es in dieser Zeit ganz wichtig, dieses
Thema offen anzusprechen und zu debattieren und die
Truppe im Hinblick auf ihre Sprache und ihre Umgangsformen zu sensibilisieren. Es dürfen keine Nachteile daraus entstehen, dass man dies zum Thema macht. Hier
bedarf es ganz klar der Führung, die deutlich machen
muss, dass das Thematisieren keinen Nachteil bedeutet.
Diskriminierung oder Belästigung sind keine Tabuthemen. Man muss sich nicht in die Ecke stellen und schämen, wenn man sie anspricht. Im Gegenteil: Indem man
sie aufs Tapet bringt, kann man die Wurzel des Übels
finden und damit eine Veränderung des Verhaltens in der
Truppe herbeiführen.
({4})
Ein weiterer Punkt, der mir in Bezug auf das Thema
„attraktiver Arbeitgeber“ wichtig ist, ist das Thema Verwendungsaufbaumodelle. Schon allein der Begriff ist etwas starr und sicherlich auch überfrachtet. Ich habe eben
darauf hingewiesen, dass die sehr verlässliche Personalplanung eine große Stärke der Bundeswehr ist. Aber es
ist eher so, dass sich die Soldatinnen und Soldaten nach
der Personalplanung richten müssen. Ich hingegen
glaube, dass wir lernen müssen, vom Soldaten, von der
Soldatin her zu denken und die Planung an deren Lebenswirklichkeit anzupassen. Ein Beispiel wäre, die Verwendungslaufbahnen regional zu organisieren, damit
man nicht mehr von Pontius zu Pilatus reisen muss, um
eine Verwendungslaufbahn zu absolvieren. Vielmehr
sollte es den Soldatinnen und Soldaten ermöglicht werden, die Verwendung in der Region zu realisieren, in der
sie ihren Lebensmittelpunkt, ihre Familie haben. Bei der
Planung muss man vom Menschen her denken und nicht
umgekehrt. In Ihrem Jahresbericht schreiben Sie, Herr
Königshaus, dass die Attraktivität eine Überlebensfrage
der Bundeswehr sei. Ich stimme Ihnen ausdrücklich zu.
Ich möchte meinen Blick kurz auf das Thema „Werbung von Nachwuchs bei der Bundeswehr“ richten. Die
Ausgangslage ist sehr gut. Für 2014 konnten wir bis
heute, also 9 Monate vor Ende des Jahres, bereits
54 Prozent aller verfügbaren Stellen für Soldatinnen und
Soldaten auf Zeit besetzen. Das ist ausgezeichnet. Auch
die Qualifikationen stimmen. 70 Prozent der Bewerberinnen und Bewerber haben mindestens die mittlere
Reife. Mehr als zwei Drittel - das finde ich ganz klasse bringen eine abgeschlossene Berufsausbildung mit. Es
bewerben sich also bereits qualifizierte Leute bei der
Bundeswehr. Das ist hocherfreulich. Genau da müssen
wir weitermachen.
Ich möchte zum Schluss einen Aspekt herausgreifen,
der wenig Beachtung findet, aber ein Kleinod innerhalb
der Bundeswehr ist, und zwar das Thema „Bildung und
Qualifikation“. Die Bundeswehr ist ein bedeutender Bildungs- und Ausbildungsträger in unserem Land, sowohl
im militärischen als auch im zivilen Bereich. Wir können
auf einer vielfältigen Bildungs- und Qualifizierungslandschaft aufbauen, die im Vergleich zu anderen Arbeitgebern einzigartig ist. Mit diesem Pfund müssen wir wuchern. Das betrifft die Themen Berufsausbildung,
fachliche Fort- und Weiterbildung und akademischer
Abschluss. Ich will Ihnen hierzu zwei Zahlen nennen.
Allein 5 000 Soldatinnen und Soldaten nehmen zurzeit
an 500 unterschiedlichen Maßnahmen auf Gesellenebene oder auf Meisterebene teil. Allein 4 500 Studentinnen und Studenten werden in 55 unterschiedlichen Studiengängen ausgebildet, um ihren Masterabschluss zu
machen. Die Bundeswehr bildet gewissermaßen eine
ganze Ausbildungs- und Universitätslandschaft im Kleinen ab. Das ist ein riesiger Marktvorteil, den wir weiter
ausbauen wollen.
Ich möchte noch einige Bereiche kurz antippen, in denen wir besser werden können; wir haben zwar den
Marktvorteil, aber den wollen wir auch behalten. Soldatinnen und Soldaten erwerben im Dienst viele Kompetenzen und Qualifikationen. Warum zertifizieren wir
diese nicht für den Zivilberuf? Erhält man ein Zertifikat
über das, was man bei der Bundeswehr gelernt hat, dann
eröffnen sich im Anschluss beim Übergang in den zivilen Beruf viel größere Chancen auf dem Arbeitsmarkt.
Mit Blick auf unseren Binnenarbeitsmarkt fragt man
sich: Warum nutzen wir solche Zertifikate nicht viel stärker bei Soldatinnen und Soldaten auf Zeit, um sie in jene
zivile Berufe zu übernehmen, in denen genau ihre Qualifikation nachgefragt wird? Die Bildungseinrichtungen,
die ich eben genannt habe, sind vom Feinsten. Wieso
öffnen wir sie eigentlich nicht für alle Angehörigen der
Bundeswehr? Lebenslanges Lernen und Aufstiegsqualifizierung sind die Schlüsselkompetenzen, die eine Gesellschaft im demografischen Wandel braucht. Die Bundeswehr braucht sie genauso.
Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Wir haben in der
Bundeswehr alle Möglichkeiten. Nutzen wir sie!
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank. - Das Wort hat Christine Buchholz,
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Herr Königshaus! Meine Damen
und Herren! Der Jahresbericht 2013 des Wehrbeauftragten verdeutlicht vor allen Dingen eines: Wenn Frau von
der Leyen sagt, der Mensch müsse im Mittelpunkt stehen - das haben Sie zumindest zum Ende Ihrer Rede gesagt -, dann hat das mit der Realität in der Bundeswehr
allzu oft nichts zu tun. Umgerechnet auf die Personalstärke haben 2013 mehr Soldaten als je zuvor über Missstände geklagt. Das ist eine schallende Ohrfeige für den
abgetretenen Verteidigungsminister de Maizière. Ich
füge hinzu: Die ersten Initiativen von Frau von der
Leyen lassen Zweifel aufkommen, dass sich an diesem
Zustand etwas ändern wird.
({0})
Die Bundeswehr ist keine Verteidigungsarmee mehr.
Sie wird zu einer global agierenden Interventionsarmee
ausgebaut. Allein im Berichtsjahr 2013 kamen Einsätze
im Senegal, in Mali und in der Türkei hinzu. Dabei wird
nicht nur die Mehrheit unserer Bevölkerung ignoriert,
({1})
die diese Einsätze zu Recht ablehnt. Der gesamte Umbau
der Bundeswehr wird sogar auf dem Rücken der Soldatinnen und Soldaten und ihrer Familien ausgetragen. Das
ist die Realität, die einem ins Auge springt, wenn man
den Bericht des Wehrbeauftragten liest.
({2})
Frau von der Leyen, Sie haben von einem „sicheren
Arbeitsplatz“ bei der Bundeswehr gesprochen. Erstmalig
seit zwei Jahren ist wieder ein Soldat in einem Feuergefecht in Afghanistan gestorben. Das ist tragisch.
Schlimm ist auch, wenn Soldatinnen und Soldaten mit
psychischen Störungen und traumatisiert nach Hause zurückkehren. Es geht um Depressionen, um Alkoholabhängigkeit und um PTBS, Posttraumatische Belastungsstörungen. 2006 wurden 83 Soldaten mit PTBS in
Bundeswehrkrankenhäusern behandelt, 2013 waren es
laut Bericht bereits 1 500 - Tendenz: stark zunehmend.
Dazu kommen jene, die privat in Therapie sind, und jene
Fälle, die gar nicht erkannt werden. Selbst das zur Bundeswehr gehörende Psychotraumazentrum in Berlin geht
davon aus, dass ein Viertel der Soldatinnen und Soldaten, die zurückkommen, unter einsatzbedingten psychischen Störungen leidet.
Es ist traurig, aber 15 Jahre systematische Ausrichtung der Bundeswehr auf internationale Einsätze haben
PTBS zu einer in Deutschland verbreiteten Krankheit
gemacht. Insgesamt waren allein in Afghanistan 160 000
deutsche Soldaten im Einsatz. Es gibt heute kaum einen
Ort in Deutschland, in dem keine Familien leben, die davon betroffen sind. PTBS-Kranke leiden zum Beispiel
unter Schlaflosigkeit. Schlüsselreize wie Hitze oder
Rauch, die an die traumatisierenden Erfahrungen im
Krieg erinnern, können Wutattacken auslösen. Kinder,
Freunde, Partnerinnen und Partner, sie alle bekommen
tagtäglich die Auswirkungen zu spüren. Die Scheidungsraten bei Heimkehrern liegen in einzelnen Einheiten bei
bis zu 80 Prozent. Der NATO-Einsatz in Afghanistan hat
Zehntausenden Afghanen das Leben gekostet; aber dieser Krieg macht auch Soldaten und ihre Familien krank.
Dieses Problem muss endlich in all seiner Schärfe anerkannt werden.
({3})
Das Problem wird sich verstärken, wenn Ende des
Jahres eine größere Zahl aus Afghanistan zurückkehrt;
denn aus der Erfahrung vergangener Kriege weiß man,
dass viele psychische Erkrankungen erst später auftauchen. Aber was macht die Bundesregierung? Sie verschärft das Problem weiter. Sie verweigert sich einer
ehrlichen Bilanz von zwölf Jahren Krieg in Afghanistan.
Sie hält weiter über 3 000 Soldatinnen und Soldaten in
Afghanistan. Von einem echten Abzug kann keine Rede
sein. Die Bedrohungslage im Norden wird teilweise immer noch als erheblich eingeschätzt; trotzdem wird das
immer wieder vom Tisch gewischt.
Der nächste Bundeswehreinsatz in einem Bürgerkriegsland steht vor der Tür. Heute noch wird im Bundestag über die Entsendung von Soldaten nach Mogadischu in Somalia diskutiert.
({4})
Wer im Bundestag solche Entsendungsbeschlüsse fällt,
ist mitverantwortlich für die Traumatisierten von morgen. Hören Sie endlich auf damit!
({5})
Man sollte meinen, die psychisch erkrankten Soldaten
würden nach ihrer Heimkehr wenigstens vernünftig behandelt. Das ist aber beileibe nicht der Fall. Im Bericht
wird das Einsatz-Weiterverwendungsgesetz erwähnt. Es
verpflichtet die Bundeswehr seit 2012, Soldaten ab einem einsatzbedingten Schädigungsgrad von 30 Prozent
weiterzubeschäftigen. Erkrankte bekommen somit eine
berufliche Perspektive, können eine Therapie machen
oder eine weitere Ausbildung. Das ist eine Verbesserung.
Doch das Problem liegt in der Umsetzung. Viele Verfahren landen vor dem Gericht, weil die Bundeswehr die
Ansprüche einfach nicht anerkennen will. Viele Soldaten
mit PTBS müssen mit der Bundeswehr erst mühsam um
jedes Detail ringen. Das ist unwürdig.
({6})
Noch schwieriger ist es für die Soldatinnen und Soldaten, bei denen die psychischen Störungen erst nach
dem Ausscheiden aus dem aktiven Dienst auftreten. Für
sie - ich zitiere den Wehrbeauftragten - „bietet der
Dienstherr … lediglich Informationen und Kontaktadressen in Merkblättern über das Internet an.“ Merkblätter im Internet zu PTBS - meine Damen und Herren,
das ist zynisch.
({7})
Herr Königshaus stellt dazu nüchtern fest, dieses Angebot genüge nicht der Fürsorgepflicht des Dienstherrn.
Das ist richtig. Man bekommt den Eindruck, es gehe darum, den Soldaten den Weg zu einer Therapie zu erschweren, um die Folgekosten der Einsätze zu minimieren. Ich sage: Hier geht es um das Schicksal von
Menschen, von Familien. Dafür muss Geld bereitstehen
und nicht für immer neue Waffensysteme.
({8})
Dieses Bild zieht sich durch den Jahresbericht des
Wehrbeauftragten. Hier ein paar Schlaglichter: Sanitätsärztliche und medizinische Betreuung weisen - Zitat „erhebliche Mängel“ auf. Dienstposten der Bundeswehr,
an die Eingaben bei Missständen gerichtet werden können, sind - Zitat - „in weiten Bereichen“ nicht besetzt.
Darüber hinaus ist die Bundeswehr nicht bereit, Dienstposten auszuschreiben, um das Problem der Familientrennung durch Standortversetzungen zu reduzieren.
Bei der Beihilfe gibt es einen Rückstau von 60 000
Anträgen. Beihilfeberechtigte mussten bei Arzt- und Behandlungskosten in Vorleistung treten, in einzelnen Fällen mit Summen in Höhe von 20 000 Euro. Das trifft vor
allen Dingen die, die besonders auf die Fürsorgepflicht
des Dienstherrn angewiesen sind: chronisch Kranke oder
Krebspatienten. Der Wehrbeauftragte schreibt:
Ein Petent berichtete weinend am Telefon, er habe
bereits seine Kinder um Geld bitten müssen und ihnen nichts zum Geburtstag schenken können. Auch
wurde nach Angabe von Petenten auf notwendige
Arztbesuche verzichtet, aus Angst, die Kosten nicht
begleichen zu können.
Nein, meine Damen und Herren, bei der Bundeswehr
stehen nicht die Menschen im Mittelpunkt, sondern die
geostrategischen Interessen Deutschlands. Das ist die
Wahrheit.
({9})
Was einen so maßlos ärgert, ist, wie hier mit zweierlei
Maß gemessen wird: 60 000 Soldatinnen und Soldaten
warten auf Geld, das ihnen zusteht. Doch der Rüstungsbetrieb MTU bekam im Dezember letzten Jahres mal
eben 55 Millionen Euro per Eilüberweisung aus dem
Verteidigungsministerium, ohne dass, wie vorgeschrieben, der Bundestag konsultiert wurde. Wofür erhielt
MTU 55 Millionen Euro? Für Eurofighter-Triebwerke,
die nie gebaut wurden; denn die Kosten für den Eurofighter sind derart explodiert, dass die Bestellung reduziert werden musste. Nun kommt auch noch Airbus und
will 900 Millionen Euro für dieselben nie gebauten
Eurofighter haben. Ich sage: Das Geld, das so bei der
Aufrüstung verpulvert wird, fehlt im Land für Kitas,
Krankenhäuser und die Versorgung der Soldatinnen und
Soldaten.
({10})
Bei dieser Gelegenheit, meine Damen und Herren,
muss ich noch zwei aktuelle Themen ansprechen.
({11})
Der erste Punkt betrifft die nächste Aufrüstungsrunde.
Das Bundesverteidigungsministerium hat im Januar dieses Jahres einen weiteren wichtigen Auftrag erteilt, um
den Weg zur Beschaffung der US-Drohne Predator B
freizumachen. Nicht, dass die Abgeordneten im Verteidigungsausschuss darüber informiert worden wären - erst
aus dem Spiegel haben sie davon erfahren.
({12})
Dann schob das Ministerium hastig eine Erklärung nach.
Frau von der Leyen, wo ist Ihre Initiative für Transparenz geblieben?
Um es klar zu sagen: Diese Drohne wird Unmengen
an Geld verschlingen, das an anderer Stelle dringend gebraucht würde. Es handelt sich bei dem Typ um eine
Drohne, die bis zu 1 300 Kilogramm an Raketen tragen
und abschießen kann. Mit anderen Worten: Offensichtlich werden hier die Weichen für die Beschaffung von
Kampfdrohnen gestellt, auch wenn es offiziell noch
heißt, der Auftrag würde keinerlei Vorentscheidung zur
Beschaffung von Kampfdrohnen sein. Ich bin gespannt,
ob die SPD ihrer Ankündigung aus den Koalitionsverhandlungen Taten folgen lässt. Bitte tun Sie das! Denn
wir können keine Kampfdrohnen gebrauchen.
({13})
Diese Drohnen haben auch nichts mit dem Schutz der eigenen Soldatinnen und Soldaten zu tun, wie manche behaupten,
({14})
sondern ausschließlich mit der Fähigkeit, selbst an zukünftigen Drohnenkriegen teilzunehmen. Das lehnt die
Linke entschieden ab.
({15})
Der zweite Punkt ist der Parlamentsvorbehalt für
Auslandseinsätze, den die Union aufweichen möchte.
Frau Nahles hat in den Koalitionsverhandlungen wörtlich gesagt: „Am Parlamentsvorbehalt wird nicht gerüttelt.“ Aber warum stimmen Sie dann der Einsetzung einer Kommission zu, die genau das zum Inhalt hat?
Offenbar ist die SPD ganz einverstanden damit, Parlamentsrechte einzuschränken, um Auslandseinsätze im
Rahmen von Bündnisverpflichtungen zu erleichtern.
Aber auch wenn es um den Einsatz von Soldaten in
NATO-Stäben, den Einsatz von AWACS-Flugzeugen
oder den Einsatz von Spezialkräften geht: Wir wollen
nicht weniger, sondern mehr Parlamentsrechte.
({16})
Ganz nebenbei: Im Interesse von Soldaten und Soldatinnen ist das auch; denn wenn Auslandseinsätze nicht
mandatiert werden, hat das Folgen für die soziale Versorgung von Soldatinnen und Soldaten. Zudem greifen
manche private Lebensversicherungen nur, wenn ein
Einsatz mandatiert ist. Aber auch hier das gleiche Bild:
Die Große Koalition will die Hürden für Auslandseinsätze senken, aber die sozialen Interessen der Soldatenfamilien sind das Letzte, woran Sie denken.
({17})
Frau von der Leyen, Ihr positives Bild hat Kratzer bekommen. Auch wenn Sie über die Bildung, dieses
Kleinod, reden, hinterlässt das mehr Fragezeichen als
Ausrufungszeichen. Es besteht eine riesige Kluft zwischen der Realität und dem, was die Bundeswehr in ihrer
Imagekampagne jungen Leuten verspricht. Wenn wir
schauen, was der Bericht zu den Themen Bildung und
Ausbildung sagt, dann lesen wir über die Unzufriedenheit mit der Beförderungssituation in der Bundeswehr.
Wie sieht es also mit den Karrierechancen aus? Zahlreiche Soldatinnen und Soldaten beklagen, dass sie unzutreffende oder gar keine Dienstzeugnisse erhalten haben.
Zudem werden organisatorische und fachliche Mängel
im Bereich der zivilberuflichen Aus- und Weiterbildung
beklagt.
Anstatt millionenschwere Imagekampagnen zu bezahlen und die Bundeswehr in Schulen zu schicken, sollten Sie das Geld besser für soziale Belange ausgeben.
Aber für die Linke ist das Wichtigste: Beenden Sie die
Auslandseinsätze! Holen Sie die Soldatinnen und Soldaten nach Hause, besser heute als morgen, und schicken
Sie sie nicht in neue Einsätze!
Vielen Dank.
({18})
Für die SPD-Fraktion spricht jetzt Kollegin Heidtrud
Henn.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr
Wehrbeauftragter! Sehr geehrte Frau Ministerin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Medien haben nach der
Übergabe des 55. Jahresberichtes des Wehrbeauftragten
an den Bundestagspräsidenten vor allem die Nachricht
verbreitet, noch nie seien so viele Eingaben beim Wehrbeauftragten eingegangen wie im Berichtszeitraum
2013. Ich freue mich nicht über die aufgezeigten Probleme. Ich danke aber allen Soldatinnen und Soldaten,
die die Mühe und den Mut auf sich genommen haben
und auf Schwierigkeiten aufmerksam gemacht haben.
Ihr Recht auf Anrufung des Wehrbeauftragten ist ein hohes Gut, auf das sich die Soldatinnen und Soldaten verlassen können. Gleich zu Beginn möchte ich deshalb betonen, dass dafür Sorge getragen werden muss, dass
Petenten keine Angst vor einer Benachteiligung durch
die Anrufung des Wehrbeauftragten haben.
({0})
Sehr geehrter Herr Königshaus, Ihnen und Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern danke ich dafür, dass Sie
sich um jeden einzelnen Menschen hinter der Zahl von
insgesamt 5 095 Eingaben gekümmert haben, und auch
dafür, dass Sie sich bei Ihren zahlreichen Besuchen ein
eigenes Bild von der Lage der Truppe machen.
({1})
Danke, dass Sie den Soldatinnen und Soldaten dienen,
deren Anwalt sind und dass Sie uns die parlamentarische
Kontrolle der Streitkräfte möglich machen.
Dass Sie und Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
Eingaben nicht zügig bearbeiten konnten, weil zuständige Dienstposten nicht besetzt waren, ist nicht zu akzeptieren. Hier sind wir Parlamentarier gefragt. Auf die
versprochene Abhilfe müssen Sie sich verlassen können.
In Ihrem Vorwort, Herr Königshaus, danken Sie den
20 000 Soldatinnen und Soldaten und Reservisten für
deren Leistung bei der Bekämpfung des Hochwassers.
Dem schließen wir uns an. Diese Leistung für die Bürgerinnen und Bürger, gemeinsam mit den zivilen Kräften,
darf nicht vergessen werden. Sie hat ganz konkret die
Leistungsbereitschaft und Leistungsfähigkeit der Bundeswehr gezeigt.
Sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter, Sie können sich
darauf verlassen: Wir werden Ihren Bericht und die Stellungnahmen des Verteidigungsministeriums dazu sehr
aufmerksam lesen, prüfen und gemeinsam mit Ihnen,
den Verbänden und allen Beteiligten nach Verbesserungen und Lösungen suchen.
Es ist beeindruckend, dass sich viele Betroffene auf
die neue Situation eingestellt und eingelassen haben. Die
von Ihnen beschriebenen Umbrüche durch die Neuausrichtung der Bundeswehr und deren zukünftiger Struktur
werden in diesem Jahr evaluiert werden. Klar ist: Wir
haben noch viel zu tun auf dem Weg zur neuen Bundeswehr.
Wir sind wegen der Aussetzung der Wehrpflicht darauf angewiesen, dass junge Menschen zur Bundeswehr
finden. Junge Menschen sind kritisch bei der Wahl des
Berufes, und der soldatische Dienst verlangt Mühe und
Einsatz. In unserem Koalitionsvertrag haben wir versprochen, die Attraktivitätsoffensive für die Streitkräfte
voranzutreiben. Hier helfen keine kosmetischen Maßnahmen, hier nutzt, um eines der Fallbeispiele aus dem
Bericht des Wehrbeauftragten aufzugreifen, kein neuer
Anstrich auf einer verschimmelten Wand. Ohne eine
gute Ausstattung insgesamt kann die Bundeswehr nicht
attraktiv sein. Hier wollen und werden wir anpacken.
Eine gute Bundeswehr braucht eine gute Infrastruktur.
Das kostet Geld - freilich -, und das Geld muss sinnvoll
verteilt werden.
Kostenlos ist allerdings ein ordentlicher Umgangston.
Wenn es hier zu Fehlverhalten von Vorgesetzten kommt,
ist das nicht akzeptabel,
({2})
schon gar nicht in einer Bundeswehr, die auf Freiwillige
angewiesen ist. Es ist schlimm, wenn wegen schlechten
Führungsverhaltens junge Soldatinnen und Soldaten der
Bundeswehr den Rücken kehren. Ein attraktiver Arbeitgeber schätzt und unterstützt die Männer und Frauen, die
für ihn arbeiten.
Die „neue Bundeswehr“ braucht natürlich Frauen.
Die gewinnen wir nicht, wenn Diskriminierung, Sexismus, Mobbing und sexuelle Belästigung nicht mit allem
Nachdruck bekämpft werden. Von einem modernen Arbeitgeber Bundeswehr dürfen Frauen zu Recht einen anderen Umgang erwarten. Es ist eigentlich kaum zu glauben, dass Soldatinnen mit Nachnamen angesprochen
werden, während Soldaten mit Dienstgrad und Nachnamen angesprochen werden. Das ist keine Nachlässigkeit,
sondern eine unerträgliche Form der Abwertung. Bei einem guten Arbeitgeber hat das nichts zu suchen.
({3})
Es ist bedauerlich, dass wir überhaupt darüber reden
müssen; aber hier muss die Bundeswehr besser werden,
wenn sie gut bleiben will.
Auslandseinsätze wird es auch zukünftig geben. Die
besondere Belastung für Soldaten und Angehörige ist
uns bewusst. Es muss alles dafür getan werden, dass mit
genügend Personal zu häufige Einsätze verhindert werden und ausreichend lange Erholungsphasen zur Verfügung stehen. Wir schulden unseren Soldatinnen und Soldaten neben bestmöglicher Ausrüstung auch eine
optimale Planbarkeit ihrer Einsätze.
Der Sanitätsdienst - er nimmt einen großen Teil des
Berichtes ein - ist, finde ich, selbst ein Patient. Dem hohen Anspruch kann die Bundeswehr nur gerecht werden,
wenn die notwendigen Dienstposten besetzt sind. Ärztliches und nichtärztliches Sanitätspersonal leisten einen
wichtigen Dienst. Dieser muss sich zunächst an der Versorgung der Soldatinnen und Soldaten orientieren. Wer
krank ist, wer verwundet ist, muss sich darauf konzentrieren können, gesund zu werden. Dafür muss alles getan werden; auch das sind wir unseren Soldatinnen und
Soldaten schuldig.
Es ist ein Fortschritt, dass über Posttraumatische Belastungsstörungen mittlerweile offen gesprochen wird.
Der Wehrbeauftragte berichtet von insgesamt 1 500
- davon 200 neuen - Fällen. Da ehemalige Zeitsoldaten
nicht erfasst werden, weil sie sich in zivilen Einrichtungen behandeln lassen, haben wir kein genaues Bild vom
Leid der Einsatzrückkehrenden und deren Angehörigen.
Über die Ansprüche ausgeschiedener Soldatinnen und
Soldaten und die Einsatz- und Beschädigtenversorgung
müssen wir intensiv beraten. Wer dem Land dient, muss
erwarten können, dass er aufgefangen wird, wenn er
krank an Körper und Seele wird.
({4})
Herr Königshaus, ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie
in Ihrem Bericht die Arbeit der Militärseelsorge so anerkennend erwähnen. Militärseelsorge wirkt nicht nur in
Zeiten größter Not. Sie leistet mit ihren großen Angeboten zwischen Freizeitaktivitäten, ethischer Orientierung,
theologischem Diskurs und Unterstützung im Einsatz
ebenfalls einen wichtigen Beitrag für einen attraktiven
Arbeitgeber Bundeswehr.
({5})
Es ist wichtig, dass sich die Soldatinnen und Soldaten
Militärgeistlichen anvertrauen können. Ich bin froh darüber, dass der Wehrbeauftragte keine Beschwerden im
Hinblick auf die Einhaltung religiöser Gebote und Feiertage zu verzeichnen hat. Die Sicherung der freien Religionsausübung ist grundgesetzlich gesichert.
Wer die Besonderheiten eines Einsatzes nicht kennt
und nicht selbst erlebt hat, kann nur schwer den soldatischen Dienst verstehen. Verständnis ist aber die erste Voraussetzung für den Dienst am Nächsten. Darum ist die
Militärseelsorge unverzichtbar. Das gilt nicht nur für den
Einsatz, sondern auch für die Einsatznachsorge und
dann, wenn die Angehörigen die Einsatzfolgen nicht
richtig einordnen können. Neben der ärztlichen Versorgung ist die Sorge um die Seele ein ganz wesentlicher
Teil, der zur Genesung beiträgt.
Ich bin dafür, dass es neben dem christlichen Angebot
auch Anlaufstellen für Angehörige anderer Religionen
gibt. Der Wunsch danach ist nachvollziehbar, und diesem Wunsch sollte Rechnung getragen werden. Es sollte
niemand, der geistlichen Beistand wünscht, alleingelassen werden - auch nicht bei der Bundeswehr.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich werbe dafür,
Standorte zu besuchen, mit Soldatinnen und Soldaten zu
sprechen und auch das Gespräch mit der Militärseelsorge zu suchen. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass
Not beten lehrt. Das Wichtigste im Leben sind deshalb
lebendige und herzliche Begegnungen mit Menschen,
damit die Seele nicht verkümmert und die kranke Seele
genesen kann. Das gilt nicht nur für die Angehörigen der
Bundeswehr, das gilt für uns alle.
({6})
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit und Gottes Segen.
({7})
Vielen Dank. - Das Wort hat Doris Wagner, Bündnis 90/
Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau
Ministerin! Werter Herr Königshaus! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich war vor 14 Tagen in Afghanistan,
und ich muss Ihnen sagen: Durch Kabul zu fahren, ist
schon ein sehr spezielles Erlebnis. Mit einer kiloschweren Sicherheitsweste und mit bewaffnetem Begleitschutz
im Konvoi durch die Stadt, ständiger Funkkontakt zwischen den Fahrzeugen mit Anweisungen und Hinweisen
auf Gefahrenquellen und auf der Straße bewaffnete
Männer: Das hat mir noch einmal ganz klar vor Augen
geführt, dass Soldatin oder Soldat zu sein eben kein normaler Beruf ist; denn sie setzen sich in ihren Einsätzen
in unserem Auftrag besonderen Gefahren für Leib und
Leben aus.
Deshalb lese ich den Wehrbericht, für den ich Herrn
Königshaus heute auch noch einmal danken möchte, mit
anderen Augen, und deshalb haben Sie, Frau Ministerin,
eine spezielle Verantwortung und Fürsorgepflicht für
diese Soldatinnen und Soldaten. Dieser Verantwortung
und der Pflicht zur Fürsorge wird die Bundesregierung
derzeit bei weitem nicht gerecht.
Verantwortung und Fürsorge: Das bedeutet, wir müssen alles tun, damit die Soldatinnen und Soldaten optimal ausgerüstet und vorbereitet in den Einsatz gehen.
Doch der Wehrbericht zeigt: Die Realität sieht anders
aus. Während die Soldatinnen und Soldaten in den Auslandseinsätzen inzwischen über eine gute Ausrüstung
verfügen, herrscht in den Kasernen in Deutschland Mangel. Da müssen Maschinengewehre von anderen Truppenteilen ausgeliehen werden, oder unmittelbar vor dem
Einsatz wird kurzfristig mit Panzern trainiert, die zentral
über ein „Verfügbarkeitsmanagement“ entliehen werden,
damit sich die Soldatinnen und Soldaten überhaupt auf
den Einsatz vorbereiten können.
Auf diese Weise möchte die Bundesregierung haushalterische Disziplin üben, aber ich glaube, die Grundausrüstung ist dafür denkbar ungeeignet; denn wer seine
Soldatinnen und Soldaten unzureichend vorbereitet in
gefährliche Einsätze schickt, handelt fahrlässig und verantwortungslos.
({0})
Verantwortung und Fürsorge: Das bedeutet auch, dafür zu sorgen, dass unsere Soldatinnen und Soldaten bei
der Erfüllung ihrer Aufgaben keinen unnötigen Schaden
nehmen. Doch mittlerweile müssen wir fast froh sein,
wenn sie zu Hause ihren alltäglichen Dienst gesund und
unbeschadet überstehen. Der Grund dafür liegt in der unglücklichen Personalpolitik Ihrer Amtsvorgänger, Frau
von der Leyen.
Unsere Streitkräfte verfügen mittlerweile nicht mehr
über ausreichend Personal, um die eigenen Kasernen
und Flughäfen effektiv zu sichern. In Seedorf konnte ein
Unbekannter unbehelligt auf das Gelände vordringen
und über 30 000 Schuss Munition entwenden. Dem
Wehrbericht zufolge wurden in den letzten Jahren in
zahlreichen Liegenschaften der Bundeswehr Radmuttern
an Fahrzeugen gelöst, und im Juli 2013 kam es sogar zu
einem Brandanschlag. Es ist also nur noch eine Frage
der Zeit, bis die ersten Soldatinnen und Soldaten durch
Sabotageakte zu Schaden kommen.
Wir haben es schon gehört: Schlecht steht es auch um
die medizinische Versorgung der Streitkräfte. Auch hier
gilt: Der Mangel an Personal hat mittlerweile gravierende Folgen. Bei den Sanitätsoffizieren fehlten 2013
mehr als 400 Ärztinnen und Ärzte, die vor allem für die
Notfallversorgung im Einsatz unerlässlich sind. Aus Personalmangel müssen in manchen Bundeswehrkrankenhäusern ganze Stationen geschlossen werden, sodass die
Soldatinnen und Soldaten für Behandlungen teilweise
weite Reisen auf sich nehmen müssen. Wer sich im
Dienst etwa eine schwere Brandverletzung zuzieht, der
kann zwar in das Krankenhaus nach Koblenz fahren und
dort hervorragende Gerätschaften zur Behandlung seiner
Verletzung besichtigen, optimal geholfen kann aber
nicht werden, weil es kein Personal mehr gibt, das sich
auf Schwerstbrandverletzungen spezialisiert hat. Eine
solche Situation ist völlig inakzeptabel. So können wir
nicht mit Menschen umgehen, die in unserem Auftrag
ihre Gesundheit aufs Spiel setzen.
Frau Ministerin, Sie haben bei Ihrer Rede auf der
Münchner Sicherheitskonferenz von der Verantwortung
gesprochen, die Deutschland bei der Lösung internationaler Krisen übernehmen muss. Ich finde, Sie sollten erst
einmal Ihrer Verantwortung für unsere Soldatinnen und
Soldaten gerecht werden. Beheben Sie den eklatanten
Personalmangel, der sich als Thema wie ein roter Faden
durch den ganzen Wehrbericht zieht! Überprüfen Sie das
Tempo der Streitkräftereduzierung!
Ich freue mich, dass ich Ihre Worte so deuten kann,
dass Sie darüber nachdenken, ob Truppenverbände wirklich über Standorte von der Ostsee bis zu den Alpen verteilt werden müssen. Aber ich bitte Sie: Fangen Sie unverzüglich an, die Bundeswehr zu einem attraktiven und
familienfreundlichen Arbeitgeber umzugestalten, wie
Sie es Anfang des Jahres immer wieder versprochen haben! Nur so werden Sie den Nachwuchs gewinnen, den
die Bundeswehr so dringend braucht.
Damit, meine Damen und Herren, komme ich zu meinem letzten Punkt. Ein junger Mensch, der sich entscheidet, Soldat oder Soldatin zu werden, muss darauf vertrauen können, dass sein Dienstherr verantwortungsvoll
mit ihm umgeht. Er muss darauf vertrauen können, dass
er im Falle einer Verletzung umfassende Hilfe und Fürsorge erfährt. Leider versagt die Bundeswehr ausgerechnet in diesem Punkt kläglich, wie ich in mehreren Gesprächen mit Betroffenen erfahren habe.
Bis in die 80er-Jahre hinein waren Angehörige der
Bundeswehr und der NVA gesundheitsschädlicher Strahlung an nicht abgeschirmten Radargeräten ausgesetzt.
Viele von ihnen sind in der Folge schwer erkrankt.
Trotzdem verweigert die Bundeswehr zahlreichen Betroffenen bis heute eine angemessene Entschädigung,
indem sie nur Krebserkrankungen oder Katarakte als
radartypische Folgeerkrankungen anerkennt. Die Betroffenen können in der Regel sehr plausibel darlegen,
welch hohen Strahlenbelastungen sie ausgesetzt waren.
Dennoch verbarrikadiert sich die Bundeswehrverwaltung hinter geschätzten oder fehlerhaft und viel zu spät
ermittelten Werten, weil es keine Aufzeichnungen aus
den 60er-Jahren gibt. Geht dann doch einmal ein Gerichtsverfahren zugunsten der betroffenen Soldaten aus,
legt die Bundesrepublik regelmäßig Revision ein. Die
Folge ist: Die Prozesse ziehen sich manchmal über Jahrzehnte hin. Ein hochbetagter früherer Soldat darf häufig
von Glück sagen, wenn er das Urteil überhaupt noch erlebt.
Dieses Verhalten, Frau Ministerin, ist schäbig. Es widerspricht aber auch den ureigensten Interessen der Bundeswehr. Weshalb sollte jemand - ich komme zum
Schluss Frau Präsidentin - schwören, für unseren Staat
seine Gesundheit und sein Leben einzusetzen, wenn dieser Staat offenbar nicht gewillt ist, im Schadensfall seiner Fürsorgepflicht nachzukommen? Deshalb mein dringender Appell: Hören Sie auf, mit den Geschädigten
kleinlich über Strahlenmengen zu debattieren! Die geschädigten Soldaten haben ihren Teil des Vertrages erfüllt. Jetzt sind Sie an der Reihe!
Vielen Dank.
({1})
Vielen Dank. - Das Wort hat jetzt die Kollegin Anita
Schäfer, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Wehrbeauftragter! Im Namen der
CDU/CSU-Bundestagsfraktion möchte ich Ihnen und all
Ihren Mitarbeitern danken, die an der Erstellung des differenzierten und interessanten Jahresberichts 2013 beteiligt waren. Er zeigt vor allem, dass große Reformvorhaben häufig mit Unsicherheit der Betroffenen verbunden
sind, was sich in den gesteigerten Zahlen von Eingaben
der Soldatinnen und Soldaten im Berichtszeitraum ausdrückt.
Umso wichtiger ist es, dass mit der jetzigen Bundeswehrreform eine stabile Struktur erreicht wird, mit der
die Truppe jetzigen und zukünftigen Herausforderungen
begegnen kann, damit es nicht in ein paar Jahren wieder
zur Reform der Reform kommen muss.
Meine Damen und Herren, mehr als einmal haben wir
in den vergangenen Jahrzehnten erlebt, dass sich die
Konstanten der Sicherheitspolitik quasi über Nacht geändert haben. Dazu gehört der Zusammenbruch der
kommunistischen Planwirtschaft und des Warschauer
Paktes mit all seinen Folgen, einschließlich der deutschen Wiedervereinigung und des Zerfalls der Sowjetunion. Dazu gehören auch die Anschläge vom 11. September 2001, und dazu gehören schließlich das aktuelle
russische Vorgehen auf der Krim und die Ungewissheit
über die staatliche Integrität der Ukraine.
Ich glaube ausdrücklich nicht, dass wir in eine neue
Ost-West-Konfrontation zurückfallen werden. Es gibt
derzeit keinen Grund, beispielsweise die Wehrpflicht
wieder einzuführen, wie ich es diese Woche schon gelesen habe.
Allerdings müssen wir die Besorgnis unserer östlichen Partner ernst nehmen, die an Russland oder die
Ukraine grenzen und die teilweise - wie die baltischen
Staaten - selbst russische Bevölkerungsteile haben. Der
Kernzweck der NATO als Sicherheitsbündnis gegen Bedrohungen in Europa gewinnt damit erheblich an Bedeutung.
Lieber Herr Königshaus, es erweist sich als richtig,
dass wir bei der Bundeswehrreform den Grundsatz
„Breite vor Tiefe“ verfolgt haben. Wir leisten weiterhin
einen Beitrag zur internationalen Krisenbewältigung, der
der Bedeutung Deutschlands in Europa und der Weltgemeinschaft entspricht. Aber die Bundeswehr muss auch
Anlehnungspartner in der Bündnisverteidigung für unsere kleineren Nachbarn sein, die eben nicht mehr das
volle Spektrum militärischer Fähigkeiten darstellen können und mit denen wir künftig noch enger kooperieren
wollen, wie mit den Niederlanden und Polen. Insofern ist
die jetzige Struktur glücklicherweise zukunftssicher,
weil sie nicht nur den internationalen Einsätzen, sondern
auch weiterhin der Bündnisverteidigung Rechnung trägt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Strukturen sind das
eine. Aber erst Personal und Ausrüstung füllen sie aus.
Neue sicherheitspolitische Voraussetzungen haben auch
immer wieder neue Anforderungen an die Ausstattung
der Soldaten gestellt. So haben zurückliegende Berichte
des Wehrbeauftragten besonders für den Einsatz in
Afghanistan mehrfach explizit das Fehlen geschützter
Fahrzeuge hervorgehoben. Die wiederholte Befassung
im Parlament hat wesentlich zur Schließung dieser Lücken beigetragen.
({0})
Diese Beschaffungen behalten unabhängig von der Art
künftiger Einsätze ihren Wert. Das gilt auch für neue
Technologien, über die wir vor dem Hintergrund bisheriger Erfahrungen diskutiert haben, wie beispielsweise bewaffnete Drohnen, die ich schon in meiner letzten Rede
an dieser Stelle erwähnt habe.
Gleichzeitig zeigen die Sorgen unserer osteuropäischen Partner, dass klassische Systeme wie der Eurofighter und der Kampfhubschrauber Tiger eben nicht
veraltet sind. Sie haben vielmehr trotz aller Kritik an langer Entwicklung und hohen Kosten ihre Berechtigung,
weil sie der gemeinsamen Verteidigungsfähigkeit und
Verteidigungsbereitschaft in Europa dienen. Auch hier
Anita Schäfer ({1})
gilt aber: Die Massenheere des Kalten Krieges werden
nicht mehr gebraucht.
Es ist richtig, dass unter anderen Bedingungen geschlossene Beschaffungsverträge neu gehandelt werden.
Ich begrüße es auch außerordentlich, Frau Ministerin
von der Leyen, dass Sie die von Ihrem Amtsvorgänger
begonnene Neuordnung des Beschaffungswesens so
energisch fortsetzen. Gerade das regelmäßige Auftauchen neuer Herausforderungen in den letzten Jahren
zeigt doch, dass wir uns zeitlich und finanziell aus dem
Ruder laufende Projekte weniger denn je leisten können.
Vielleicht zeigen die aktuellen Entwicklungen noch
den einen oder anderen Bedarf auf. Ich denke dabei zum
Beispiel an den Bereich der bodengebundenen Flugabwehr, wo der Einsatz bisheriger Systeme zu stagnieren
scheint. Modernste Ausstattung für alle Bereiche bleibt
unabdingbare Voraussetzung für die Auftragserfüllung
der Bundeswehr; denn nur so kann sie ihre Rolle als Anlehnungspartner für unsere Nachbarn bei der Gewährleistung der Sicherheit im Bündnis erfüllen.
Das Wichtigste in der Bundeswehr sind und bleiben
aber die Menschen. Wir haben in den vergangenen Jahren viel zur Steigerung der Attraktivität des Dienstes in
der Bundeswehr getan. Dazu gehören materielle Verbesserungen wie die Zulagen für ärztliche Dienste, Piloten,
Minentaucher und Soldaten mit besonderer zeitlicher
Belastung. Wir entwickeln einerseits die Nachwuchswerbung und andererseits Fortbildungsangebote und Berufsförderung weiter; die Frau Ministerin hat das vorhin
angesprochen. Besonders wichtig ist aber, die Vereinbarkeit von Familie und Dienst weiter zu verbessern.
Ich bin besonders froh, dass nunmehr die Einrichtung
von Betriebskindergärten an Bundeswehrstandorten mit
besonderem Bedarf in Gang kommt.
({2})
Das gilt insbesondere für die Standorte mit Bundeswehrkrankenhäusern und die Universität der Bundeswehr in
München. Mit Ausnahme des Bundeswehrkrankenhauses Berlin, wo die Planungen noch laufen, werden alle
Kindergärten voraussichtlich binnen Jahresfrist in Betrieb gehen. Allein für die Baumaßnahmen geben wir
über 5 Millionen Euro aus. Hinzu kommen Belegrechte
in vorhandenen Betreuungseinrichtungen wie etwa im
Fall der Sanitätsakademie in München. Mit Stand Februar sind bereits 317 Eltern-Kind-Arbeitszimmer realisiert worden. Insgesamt wird es diese an rund 200 Standorten geben. Ergänzt wird das durch Verbesserungen bei
der Kinderbetreuung während der Aus- und Fortbildung,
der Unterstützung bei der Ferienbetreuung sowie der
Notfallbetreuung nicht nur von Kindern, sondern auch
von pflegebedürftigen Angehörigen.
Im Hinblick auf die Problematik pendelnder Soldaten
soll neben der dauerhaften Möglichkeit der Wahl zwischen Trennungsgeld und Umzugskostenvergütung die
Wohnungsfürsorge optimiert werden, um sowohl den
Pendlern als auch umzugswilligen Familien bei der Suche nach geeigneten Wohnungen besser zu helfen. Gerade in diesem Punkt gibt es sicherlich noch Raum für
weitere Verbesserungen. Nach der Ankündigung von
Ministerin von der Leyen, das Thema der Attraktivität
zu einem Schwerpunkt zu machen, bin ich aber zuversichtlich, dass es diese auch geben wird.
Der Wehrbeauftragte hat in seinem Bericht bedauert,
dass die Folgestudie des Zentrums für Militärgeschichte
und Sozialwissenschaften der Bundeswehr zum Stand
der Integration von weiblichen Soldaten noch nicht vorlag. Beim Verfassen dieser Zeilen konnte er noch nicht
wissen, dass dies noch vor der Vorstellung des Jahresberichts geschehen würde. Über die Studie Truppenbild
ohne Dame? ist vor allem unter zwei Schlagzeilen berichtet worden: erstens dass sich die Einstellung männlicher Soldaten zu Frauen in der Bundeswehr gegenüber
der Vorgängerstudie von 2005 verschlechtert hat und
zweitens dass 55 Prozent der Soldatinnen schon sexuell
belästigt worden seien. Diesen Punkten hat auch der
Wehrbeauftragte breiten Raum eingeräumt.
Beim Durchlesen der Studie ergibt sich allerdings ein
differenzierteres Bild, als eine Schlagzeile vermitteln
kann. Zunächst einmal: Mittlerweile beträgt der Anteil
weiblicher Soldaten in der Bundeswehr rund 10 Prozent,
was bereits ein großer Erfolg des Integrationsprozesses
ist. 13 Jahre nach Öffnung aller Laufbahnen erreichen
Frauen nun auch die entsprechenden höheren Dienstgrade. Das BMVg scheint sich zwar mit dem Wehrbeauftragten einig zu sein, dass es etwa bei A-15-Stellen
im Sanitätsdienst, der für Frauen schon früher zugänglich war, noch Nachholbedarf gibt. Aktuell gibt es aber
bereits den zweiten weiblichen Generalarzt. Wenn man
sich die notwendigen Beförderungszeiten ansieht, dann
stellt man fest, dass Anfang des nächsten Jahrzehnts
auch mit den ersten Frauen im Generalsrang zu rechnen
ist, die seit 2001 die Karriereleiter im Truppendienst erklettert haben. - Das vorweg.
Nun zu den Ergebnissen der Studie. Es ist in der Tat
so, dass die Einstellung männlicher Soldaten gegenüber
den militärischen Leistungen von Frauen kritischer ist
als noch 2005. Gleichzeitig bewerten sie aber den gemeinsamen Dienst beider Geschlechter in der Bundeswehr insgesamt besser, und die Angst vor Problemen hat
sich verringert.
Interessant ist auch, dass weniger Soldaten Probleme
mit der Effektivität in ihren eigenen Einheiten sehen.
Der Leiter der Studie hat mir dazu erläutert, dass die Kritik sowohl auf eigenem Erleben als auch auf Hörensagen
beruhe. Echte Probleme mit körperlicher Leistungsfähigkeit muss man dabei sicherlich ernst nehmen, weil
die Leistung jedes Einzelnen lebenswichtig für die gesamte Einheit sein kann. Ich denke, es wäre einmal interessant, nachzuforschen, wie sich die Kritik auf Kampfund Unterstützungseinheiten verteilt. In Ersteren kommt
es auf körperliche Leistung besonders an. Allerdings
entscheiden sich auch nur vergleichsweise wenige
Frauen für diese Verwendungen. In Unterstützungseinheiten ist es eher umgekehrt. Es ist also durchaus möglich, dass sich die Kritik vor allem an einigen wenigen
Negativbeispielen festmacht, während Soldaten in Einheiten mit höheren Frauenanteilen aus eigener Erfahrung
Anita Schäfer ({3})
keine Probleme mit der Effektivität sehen. Das wäre
doch vielleicht einmal eine Frage für die nächste Studie.
Noch überraschender fand ich die einzelnen Ergebnisse zum Thema sexuelle Belästigung. Zunächst einmal: Dass sich die Fallzahlen nicht groß vom Rest der
Gesellschaft unterscheiden, kann nicht zufriedenstellen.
Hier muss die Bundeswehr tatsächlich einmal besser
sein als der Rest der Gesellschaft; denn abgesehen von
allen rechtlichen Vorschriften und grundsätzlichen Regeln allgemeinen Anstands gilt hier noch zusätzlich die
Pflicht zur Kameradschaft. Der kameradschaftliche Umgang zwischen allen Soldatinnen und Soldaten unter
Achtung der Würde des Einzelnen ist immer wieder einzufordern und umzusetzen.
({4})
Ich betone: zwischen allen Soldatinnen und Soldaten,
weil sexuelle Belästigung laut der Studie eben nicht nur
ein Problem zwischen, sondern auch innerhalb der Geschlechter ist. Das gilt sowohl bei Männern als auch bei
Frauen, gerade für die Kategorie tatsächlicher sexueller
Nötigung. Diese Kategorie umfasst aber gegenüber anzüglichen Bemerkungen und Ähnlichem glücklicherweise nur eine sehr geringe Zahl von Fällen, sodass die
Verteilung nicht unbedingt aussagekräftig ist. Auch hier
sollte meiner Meinung nach der Hintergrund genauer erforscht werden.
Meine Damen und Herren, und dennoch bleibt es dabei: Selbst wenn die Bundeswehr als Spiegelbild der Gesellschaft auch deren Schattenseiten wiedergibt, ist sie
besser, als gängige Stereotypen glauben machen wollen.
Ihre Soldatinnen und Soldaten leisten einen unverzichtbaren Dienst für die Sicherheit Deutschlands im Bündnis. In Krisenzeiten wie jetzt wird es uns wieder bewusst, wie wichtig die Sicherheit ist und für wie
selbstverständlich wir das im Herzen eines friedlichen,
geeinten Europas in den letzten Jahren gehalten haben.
Aber Sicherheit ist nicht selbstverständlich, sondern
muss immer wieder erarbeitet werden. Deswegen danke
ich allen Männern und Frauen der Bundeswehr, die diesen Dienst jeden Tag an vielen Standorten im In- und
Ausland für uns leisten.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Vielen Dank. - Das Wort hat Dr. Tobias Lindner,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist Ihnen,
Herr Wehrbeauftragter Königshaus, und Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in dieser Debatte zu Recht für
die Vorlage dieses Berichts viel gedankt worden, ich will
aber in diesen Dank noch einen weiteren Aspekt einschließen. Wenn man darüber nachdenkt, was der
Markenkern einer Parlamentsarmee ist, dann wird man
sicherlich als einen Aspekt die Parlamentsbeteiligung
bei Auslandseinsätzen benennen,
({0})
aber genauso solche Debatten wie diese heute, Debatten,
bei denen uns in Form eines Berichts an Beispielfällen
vor Augen gehalten wird, was in der Truppe tatsächlich
passiert, was gut läuft, aber auch, was nicht gut läuft,
und Debatten, bei denen wir uns als Parlamentarier - Sie
sich als Koalition, wir uns als Opposition - mit unseren
Vorstellungen und Programmen natürlich fragen müssen: Was sind unsere Erwartungen an die Bundeswehr,
wo haben wir vielleicht falsche Erwartungen, wo haben
wir vielleicht Fehler gemacht bei Strukturen, bei finanzieller Ausstattung und bei anderen Aspekten? Insofern,
liebe Kolleginnen und Kollegen, ist es gut, dass wir hier
in diesem Hohen Hause nicht nur über Auslandseinsätze
der Bundeswehr und über Aspekte der Militärpolitik reden, sondern eben auch über den Zustand der Bundeswehr an sich. Allein deswegen hat diese Debatte einen
Wert.
({1})
Ich möchte in diesem Zusammenhang zu drei Aspekte kommen - sie wurden teilweise schon angesprochen -:
Der erste Aspekt betrifft das Thema Überwachung.
Erst jüngst gab es einen eklatanten Fall von Munitionsdiebstahl; über ihn haben wir auch gestern im Verteidigungsausschuss diskutiert. Herr Königshaus, wenn man
in Ihrem Bericht nach dem Komplex Bewachung sucht,
dann findet man Informationen über Anschläge auf Bundeswehrfahrzeuge, auf Fahrzeuge von Soldatinnen und
Soldaten und nicht zuletzt über den leider geglückten
Versuch des Eindringens eines Mannes in ein Flugzeug
der Flugbereitschaft. All diese Beispiele machen deutlich, dass wir offensichtlich ein Problem mit der Bewachung von Bundeswehrliegenschaften haben. Ich will
hinzufügen: ein ernsthaftes Problem.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich sprach schon
von Munition, von Waffen, von Kriegsgerät, das in Bundeswehrliegenschaften naturgemäß lagert. Die Bundeswehr wird alles dafür tun müssen, dass die Soldatinnen
und Soldaten, ihre Angehörigen, aber auch die Bevölkerung durch eine bessere Bewachung vor einem Missbrauch dieses Materials geschützt werden. Die besten
Empfehlungen von Kommissionen über Bewachungsmaßnahmen helfen gar nichts, wenn diese, wie auf dem
Kasernengelände in Seedorf geschehen - wir haben dies
gestern erfahren -, nicht umgesetzt werden. Dann bleibt
natürlich die Frage offen, warum diese Empfehlungen
nicht umgesetzt worden sind, zumal uns das Ministerium
versichert hat, dass Mittel dafür vorhanden gewesen
sind.
Ich will auf den zweiten Aspekt zu sprechen kommen.
Frau von der Leyen, Ihr Vorgänger, Thomas de Maizière,
hat mit der Neuausrichtung der Bundeswehr den Weg
„Breite vor Tiefe“ eingeschlagen. Der Wehrbeauftragte
ist darauf eingegangen. Mit „Breite vor Tiefe“ meint er,
ein möglichst breites Fähigkeitsspektrum bei einer eher
geringen Durchhaltefähigkeit vorrätig zu halten.
Obwohl die Neuausrichtung der Bundeswehr noch
nicht am Ende ist, lesen wir schon jetzt im Bericht des
Wehrbeauftragten, dass nicht nur Material an die Grenzen seiner Belastbarkeit gerät, sondern auch die Soldatinnen und Soldaten. Sie, Frau von der Leyen, sprachen
vorhin über „4/20“, über das Modell, dass sich Soldatinnen und Soldaten nach maximal 4 Monaten Auslandseinsatz 20 Monate in Deutschland regenerieren können.
Es ist erschreckend, wenn im Bericht des Wehrbeauftragten zu lesen ist, dass das Personalmanagementsystem der Bundeswehr eben nicht in der Lage ist, die Einsatzbelastung von Soldatinnen und Soldaten zu erfassen.
Das ist ein Punkt, der schleunigst geändert werden muss.
({3})
Dritter Aspekt. Hier ist auch über Ausrüstung gesprochen worden. Frau Kollegin Schäfer, Sie sind hier auf
viele Ausrüstungsfragen eingegangen. Wenn wir einen
Blick in den kürzlich vorgestellten zweiten Regierungsentwurf zum Haushalt 2014 werfen und uns die mittelfristige Finanzplanung anschauen, dann lesen wir eben
auch, dass wir in der Finanzplanung eine Bugwelle voller fehlgeschlagener oder zumindest problembehafteter
Beschaffungsprojekte vor uns herschieben, dass es da
eben alles andere als gut ist. Deswegen haben Sie ja
Konsequenzen gezogen, Frau von der Leyen. Meine
Sorge ist, dass diese Bugwelle von Pleiten, Pech und
Pannen, die da nach vorne rollt, in Zukunft auch dazu
führen kann, dass Geld für notwendige Maßnahmen
fehlt. Auch deshalb ist es notwendig, dass wir uns alle
gemeinsam und jeder für sich Beschaffungsvorhaben
kritisch anschauen.
({4})
Ich möchte zum Schluss kommen. Wir sehen an dem
heute debattierten Bericht des Wehrbeauftragten nicht
nur klar und deutlich, dass auf der Truppe, was die Neuausrichtung, was Veränderungen betrifft, Druck liegt,
sondern auch, dass wir viele Fragezeichen hinter Strukturentscheidungen setzen müssen, die mit der Neuausrichtung angegangen werden sollen. Deswegen - das
will ich abschließend sagen - ist nicht nur eine Evaluation der Neuausrichtung der Bundeswehr dringend notwendig, sondern auch und vor allem das Ziehen von
Rückschlüssen aus dieser, gegebenenfalls das Umsetzen
von Veränderungen.
Ich danke Ihnen.
({5})
Vielen Dank. - Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der
Kollege Dirk Vöpel.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei den
Debatten zum Jahresbericht des Wehrbeauftragten des
Deutschen Bundestages können wir in diesem Hohen
Hause auf eine mittlerweile lange und beeindruckende
Tradition von mehr als fünf Jahrzehnten zurückblicken.
Seit 1959 war der Jahresbericht immer wieder Anlass für
grundsätzliche Auseinandersetzungen über den Zustand
und die Zukunftsperspektiven der Großorganisation
Bundeswehr. Ich freue mich deshalb sehr, dass ich heute
zu diesem traditionsreichen Tagesordnungspunkt reden
darf.
Sehr geehrter Herr Königshaus, als inhaltlicher Quereinsteiger in Sachen Bundeswehr war mir bereits Ihr
Jahresbericht 2012 eine große Hilfe. Er hat mir innerhalb
kurzer Zeit einen ersten fundierten Einstieg in die aktuellen Themen und Probleme ermöglicht, die unsere Soldatinnen und Soldaten bewegen. Auch der vorliegende Bericht zum Jahr 2013 macht keine Ausnahme, was die
Hilfestellung angeht. Für alle, die Verantwortung für die
Angehörigen unserer Bundeswehr tragen, ist er eine Informationsquelle von hohem Wert.
Vorbildlich finde ich vor allem auch, dass der Bericht
sprachlich an keiner Stelle vor der Komplexität der geschilderten Sachverhalte kapituliert. Er bleibt stets klar,
präzise und verständlich. Auch hierfür, sehr geehrter
Herr Königshaus, möchte ich mich bei Ihnen und Ihren
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ganz herzlich bedanken.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Bericht des
Wehrbeauftragten für das Jahr 2013 dokumentiert einen
deutlichen Anstieg der Zahl der Eingaben gegenüber
dem Vorjahr - und das bei einem gleichzeitigen Rückgang der durchschnittlichen Personalstärke um knapp
7 Prozent. Betrachtet man nun die Entwicklung der Eingabezahlen als eine Art Pulsmesser, dann kann man nur
zu einem Schluss kommen: Die Bundeswehr befindet
sich zurzeit in heftigem Stress. Aber kann das angesichts
einer so ehrgeizigen und schwierigen Reform, wie sie
der Bundeswehr in diesen Jahren abgefordert wird, wirklich verwundern? Mir kommt das Unternehmen Strukturreform manchmal wie der Versuch vor, einem Viermaster auf hoher See und unter vollen Segeln einen
neuen Rumpf zu zimmern, und das aus Bordmitteln.
({1})
2013 hat die heiße Phase bei der Umsetzung der Reform begonnen. Die neuen Strukturen wachsen auf, aber
die alten Aufgaben sind noch längst nicht vollständig abgewickelt. Das muss bei vielen Betroffenen zwangsläufig zu Enttäuschung, Verärgerung und dem Gefühl der
Überlastung führen. Ganz klar ist aber auch: Viele dieser
Probleme werden sich in einigen Jahren gar nicht mehr
stellen, weil sie unvermeidbare, aber vorübergehende
Begleiterscheinungen dieses Transformationsprozesses
sind. Dazu kommt, dass unsere Soldatinnen und Soldaten schon von Berufs wegen ein hohes Maß an AnpasDirk Vöpel
sungsfähigkeit und an Anpassungsbereitschaft mitbringen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der vorliegende Bericht beschäftigt sich über weite Strecken mit den Ausund Nebenwirkungen der strukturellen Veränderungen
bei der Bundeswehr. Wir sollten uns aber davor hüten,
die Reform als Daueralibi oder Standardausrede zu akzeptieren. Der Wehrbeauftragte listet auch eine ganze
Reihe von Problemen auf, deren Ursachen wenig bis gar
nichts mit den neuen Strukturen zu tun haben. Sehr viel
mehr geht es da um Fehler, Versäumnisse, Schludrigkeiten und leider auch mangelnde Kommunikationsbereitschaft.
So etwas ist zum Beispiel bei der Auslagerung der
Beihilfebearbeitung für aktive Soldaten und Versorgungsempfänger von der Bundeswehrverwaltung in den
Bereich des Innen- bzw. Finanzministeriums passiert.
Statt der angekündigten Synergieeffekte stellte sich zunächst das reine Chaos ein, mit einem am Ende geradezu
monströsen Bearbeitungsstau von zeitweise 60 000 Beihilfeanträgen, und das vor allem auch deshalb, weil man
schlicht versäumt hatte, die Betroffenen über die Änderung
der Zuständigkeit zu informieren. Schon der rechtzeitige
Versand einer simplen Mitteilung mit dem Hinweis auf Namen und Telefonnummern der neuen Sachbearbeiter hätte
hier von vornherein mächtig Dampf aus dem Kessel genommen. Ich finde, das ist völlig überflüssiger und vermeidbarer Ärger, von den zum Teil enormen finanziellen
Belastungen - davon wurde vorhin schon gesprochen ganz zu schweigen.
Aber auch bestehende Verfahrensabläufe, die ganz offensichtlich weder sach- noch zielgerecht sind, sorgen
für Unverständnis. Da schickt die Bundeswehr zur Vorbereitung der Active-Fence-Mission im Dezember 2012
ein Vorerkundungsteam in die Türkei. Dieses schätzt
dann auch gewissenhaft den voraussichtlichen Bedarf an
Einsatzgütern für die Hauptmission ab. Das löst nur leider keinerlei Bereitstellungsaktivitäten aus, weil nach
dem gültigen Verfahren diese Bedarfsanforderungen
nicht von der Vorerkundung, sondern erst vom Kontingent gemeldet werden können. Die logische Folge ist die
verspätete Bereitstellung der benötigten Einsatzgüter. Da
frage ich mich schon: Warum lässt man so ein Verfahren
in Kraft? Hier könnte doch ohne großen Aufwand eine
sachgemäße Neuregelung erfolgen, die weder zusätzliches Geld noch Personal erfordert.
Die Bürgerinnen und Bürger erwarten völlig zu Recht
von ihren Abgeordneten einen gewissenhaften und zurückhaltenden Umgang mit Steuergeldern. Aber man
muss auch immer aufpassen, dass man nicht am falschen
Ende spart. So kann etwa die verlässliche Möglichkeit
zur regelmäßigen und bezahlbaren Kontaktaufnahme mit
der Heimat mittels Telefon und Internet in ihrer Bedeutung für die diensttuenden Männer und Frauen in den
Auslandseinsätzen gar nicht überschätzt werden.
({2})
Es ist deshalb sehr zu begrüßen, dass das Bundesministerium der Verteidigung eine völlige Kostenfreistellung
für die Soldatinnen und Soldaten im Rahmen des Folgevertrages ab 2015 in Aussicht stellt. Bedauerlicherweise
ist bei der Marine für die Fregatten der Bremen-Klasse
wegen der geplanten Außerdienststellungen eine Installation der notwendigen Technik aus Kostengründen jedoch nicht mehr vorgesehen. Nun muss man wissen,
dass sich diese Außerdienststellungen noch über das
nächste halbe Jahrzehnt bis 2019 hinziehen werden. Vor
diesem Hintergrund frage ich mich schon, ob Sparsamkeit immer das oberste Gebot sein muss oder ob nicht
die Pflicht zur Fürsorge für die Soldatinnen und Soldaten
in Fällen wie diesem eine andere Prioritätensetzung gebietet.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, gestatten Sie mir
eine letzte Bemerkung: Mit dem Aussetzen der Wehrpflicht und dem Übergang zur Freiwilligenarmee haben
die Prinzipien der Inneren Führung keineswegs an Bedeutung verloren. Im Gegenteil: Nie waren sie so wertvoll und wichtig wie heute. Wir sollten alle Versuche,
diesen Wesens- und Markenkern der Bundeswehr auszuhöhlen, schon im Ansatz geschlossen parieren. Wir sollten die Innere Führung als das betrachten, was sie nach
meiner festen Überzeugung tatsächlich ist: ein echtes
Weltkulturerbe der Streitkräfte des freien, friedliebenden
und demokratischen Deutschlands.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Vielen Dank. Das war Ihre erste Rede hier im Deutschen Bundestag. Ich gratuliere Ihnen im Namen des
Hauses ganz herzlich dazu.
({0})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Julia Bartz, CDU/
CSU-Fraktion.
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen
und Kollegen! Eine hochmotivierte Truppe, professionelles Selbstverständnis und effektive Organisationsstrukturen - so habe ich die Bundeswehr im In- und
Ausland erlebt. Im deutlichen Gegensatz dazu steht der
Jahresbericht des Wehrbeauftragten, der oft als reiner
Mangelbericht gelesen wird. Das Bild, das in einigen
Medien gezeichnet wird, ist viel zu kritisch und kurzsichtig. Mir ist bewusst, dass es derzeit vermehrt Kritik
und Beschwerden aus der Truppe gibt. Es ist auch gut,
dass wir darüber in diesem Hause sprechen. Aber ich
möchte auch darauf hinweisen, dass sich die Bundeswehr momentan in einer Umbruchphase befindet. Die
Auslandseinsätze und die Strukturreform sind Ursachen
für zahlreiche Beschwerden. Wenn man sich aber die
Eingaben im Einzelnen anschaut, stellt man sich an der
einen oder anderen Stelle die Frage: Hätte so manches
Problem nicht auch auf einem kürzeren Dienstweg geklärt werden können? Es gibt verschiedene Möglichkeiten, wie man mit Problemen umgeht.
Die erste Möglichkeit - dieser Weg ist der naheliegende überhaupt -: Man sucht das Gespräch mit der oder
dem Vorgesetzten. Zahlreiche Vorgesetzte in der Bundeswehr sind treffliche Beispiele für gute Personalführung. Da könnte sich so mancher zivile Arbeitgeber eine
Scheibe abschneiden. Die Möglichkeit, direkt mit dem
Vorgesetzten oder der Vorgesetzten zu sprechen, steht allen offen und darf keine negativen Folgen haben.
Die zweite Möglichkeit ist: Man wendet sich an die
Vertrauenspersonen. Die Vertrauenspersonen sind als
unabhängige Hilfen für die Frauen und Männer der
Truppe da und können vermittelnd tätig werden.
Als dritter und weiterführender Schritt hat jede Soldatin und jeder Soldat das Recht, eine förmliche Beschwerde einzureichen.
Erst an vierter und letzter Stelle würde ich die Möglichkeit einer Eingabe an den Wehrbeauftragten sehen,
falls die anderen Schritte nicht erfolgreich waren. Ich betone das hier, weil sich offenbar nicht alle Petenten bewusst sind, dass ihre Eingabe an den Wehrbeauftragten
eine öffentliche Angelegenheit ist. So manche sind überrascht, wenn sie am nächsten Tag von ihrem Vorgesetzten auf ihre Eingabe angesprochen werden. Damit Sie
mich nicht falsch verstehen: Die Institution des Wehrbeauftragten ist zu Recht in unserem Grundgesetz verankert. Er gibt den Soldatinnen und Soldaten die Möglichkeit, ihre Anliegen an übergeordneter Stelle vorzutragen.
Der jährliche Bericht des Wehrbeauftragten gibt uns im
Parlament einen wertvollen Einblick in die Sorgen und
Nöte der Soldatinnen und Soldaten. Er zeigt uns auch
Verbesserungsmöglichkeiten auf. Ich sage aber auch:
Ein Schwert, das zu oft genutzt wird, verliert an Schärfe.
Das liegt weder in unserem Interesse noch im Interesse
der Soldatinnen und Soldaten.
Die derzeitige Beschwerdeflut kann kein Dauerzustand sein. Ich denke, darüber sind wir uns alle in diesem
Haus einig. Ich habe vollstes Vertrauen in unsere Verteidigungsministerin, dass sie die Strukturreform so sozialverträglich wie nur möglich umsetzen wird und dabei
immer auch die Menschen in der Uniform ganz fest im
Blick haben wird.
({0})
Der Aspekt des Menschlichen spielt gerade im Hinblick auf traumatische Erfahrungen in Auslandseinsätzen eine ganz besondere Rolle. Dieser Herausforderung
müssen wir uns als Bundestag, aber auch als Gesellschaft verstärkt zuwenden. Wie dem Bericht zu entnehmen ist, hat die Zahl der Einsatzteilnehmer mit seelischen Verwundungen zugenommen. Wir bauen deshalb
die bereits gute medizinische Versorgung noch weiter
aus, um diejenigen aufzufangen, die unsere Hilfe benötigen. Neue Screeningverfahren helfen, einsatzbedingte
psychische Störungen frühzeitig zu erkennen. An circa
80 Standorten haben sich psychosoziale Netzwerke
etabliert, wo Ärzte, Psychologen, Sozialarbeiter und
Militärseelsorger gemeinsam Hilfe anbieten. Die Angehörigen werden zunehmend in die Therapieangebote eingebunden. Auch die Sporttherapie nach Einsatzbeendigung zeigt Erfolge. Vielen Soldatinnen und Soldaten
konnte bereits geholfen werden. Nun gilt es, dieses
Angebot noch auszubauen und die Qualität weiter zu
steigern. Das Ziel ist ganz klar: Allen hilfsbedürftigen
Soldatinnen und Soldaten sollte die bestmögliche Versorgung zur Verfügung gestellt werden.
Die Militärseelsorge leistet an dieser Stelle einen ganz
wichtigen Beitrag. Im In- und Ausland können sich die
Soldatinnen und Soldaten auf die Hilfe der Militärseelsorge verlassen. Mein ganz besonderer Dank gilt allen
Seelsorgern, die am Auslandseinsatz teilnehmen und
dort Ansprechpartner in allen Lebenslagen sind.
({1})
Sie geben den Soldatinnen und Soldaten Rückhalt und
Beistand. Die Oasen sind ein wichtiger Rückzugsort im
harten Alltag im Einsatz.
Auch die daheimgebliebenen Angehörigen finden bei
der Militärseelsorge ein offenes Ohr. Diese Unterstützung ist besonders dann hilfreich, wenn sich psychische
Belastungen nach den Auslandseinsätzen auf die gesamte Familie auswirken. Hier sehe ich vor allem bei der
gemeinsamen therapeutischen Betreuung noch weitere
Verbesserungsmöglichkeiten. Das Ziel ist klar: Wir lassen die Familien der Soldatinnen und Soldaten nicht allein.
Der Truppenbesuch in Afghanistan vor zwei Wochen
hat mir vor Augen geführt, welch herausragende Leistung unsere Frauen und Männer in Uniform bei dieser
und anderen Missionen erbringen. Ein schmerzlicher
Moment der Reise war die Gedenkminute am Ehrenhain
für die gefallenen Soldaten. Mein tiefes Mitgefühl gilt
ihren Angehörigen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns bei
all unseren Entscheidungen, seien es Reformen oder
Auslandseinsätze, eines immer fest im Blick haben: die
Menschen in Uniform.
Danke.
({2})
Danke, Frau Kollegin. - Einen schönen guten Tag allen von meiner Seite! Der nächste Redner ist Dr. Fritz
Felgentreu für die SPD.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Königshaus! Wer meiner Generation angehört und in der Bundesrepublik aufgewachsen ist, der erinnert sich zumeist noch ganz gut an Soldaten im
Straßenbild, und zwar nicht nur an Soldaten auf Fahrzeugen in natooliv und mit einem Y-Nummernschild,
sondern auch an Grundwehrdienstleistende, die oft irgendwo unterwegs waren, sich abends amüsieren wollDr. Fritz Felgentreu
ten oder freitags auf der Heimreise die Bahnhöfe belagerten.
({0})
Wenn Kinder und Jugendliche sie provozieren wollten
und den einen oder anderen dummen Spruch brachten,
dann bekamen sie gerne zur Antwort: Lach du nur! Dein
Stahlhelm ist schon gepresst.
({1})
- Wir erinnern uns an solche Sprüche, nicht?
({2})
Diese Art von Soldatenhumor gehörte zu einer Bundeswehr ohne ernsthafte Nachwuchssorgen. Die Wehrpflicht sorgte nicht nur für ausreichende Mannschaftszahlen, sondern sie füllte auch die Reihen der Zeit- und
Berufssoldaten immer wieder auf; denn es gab immer
auch Grundwehrdienstleistende, die sich für die Bundeswehr begeistern konnten und dabeigeblieben sind. Der
Bericht des Wehrbeauftragten 2013 ist eine Momentaufnahme aus einer Bundeswehr, für die die Nachwuchsgewinnung zu einer existenziellen Zukunftsfrage geworden
ist.
In den Medien - Frau Bartz hat es angesprochen - ist
viel darüber diskutiert worden, dass den Wehrbeauftragten 2013 die relativ höchste Zahl an Eingaben erreicht
hat. Diese Entwicklung belegt meines Erachtens vor allem zwei Dinge:
Erstens. Die Institution des Wehrbeauftragten hat die
Neuausrichtung der Bundeswehr schadlos überstanden.
Ganz offensichtlich brauchen Zeit- und Berufssoldaten
diesen Ombudsmann nicht weniger dringend als Grundwehrdienstleistende. Sie bringen ihm auch das gleiche
Vertrauen entgegen. Das ist Ihr Verdienst, lieber Herr
Königshaus, und dafür gebührt Ihnen Dank.
({3})
Zweitens. Die Befürchtung vieler Soldatinnen und
Soldaten, eine Eingabe könne ihnen im Dienstalltag
schaden, scheint jedenfalls nicht in höherem Maße abschreckend zu wirken als früher. Auch das ist eine erfreuliche Entwicklung. Insofern beschreibt die hohe
Zahl der Eingaben nicht das Kernproblem dieses Berichts.
Hellhörig müssen wir an anderen Stellen werden. Ich
möchte ein Beispiel nennen: Zur Sicherheitslage im Inland berichtet der Wehrbeauftragte, dass Soldaten ihn bei
Truppenbesuchen vermehrt auf Probleme bei der Bewachung von Liegenschaften angesprochen hätten.
({4})
Sie klagten darüber, dass die Anzahl militärischer Wachen immer mehr ausgedünnt würde und die Wachbelastung nicht zu bewältigen sei. Wie zur Bestätigung beschäftigt sich der Verteidigungsausschuss gerade mit
einem Vorfall in der militärisch bewachten Kaserne in
Seedorf, aus der vor einiger Zeit in den frühen Morgenstunden völlig unbemerkt 35 000 Schuss Munition abtransportiert worden sind. Diesen Vorfall, meine Damen
und Herren, müssen wir unter dem Begriff der strukturellen Überforderung einordnen, der im Bericht des
Wehrbeauftragten im Zusammenhang mit den Auslandseinsätzen der Bundeswehr verwendet wird.
Im Bereich des hochspezialisierten Personals dokumentiert der Bericht das Problem detailliert: Die Flugverkehrskontrolle hat 20 Prozent zu wenig Personal, bei
den Flugberaterfeldwebeln fehlt ebenfalls ein Fünftel, in
Frankfurt sogar fast die Hälfte, und von den 30 Luftumschlagfeldwebeln, die die Bundeswehr für den Dienst im
Ausland braucht, hat sie acht. Eine Hubschrauberstaffel
der Marineflieger muss nach sechsmonatiger Pause wieder in den viermonatigen Auslandseinsatz, anstatt sich,
wie vorgesehen, 20 Monate regenerieren zu können, und
betrachtet das schon als Fortschritt. An zwei Standorten
im Inland wurde der Flugbetrieb ausgesetzt, weil das zivile Personal Freizeitausgleich für seine Überstunden
nehmen musste. Die Liste ließe sich fortsetzen; andere
Redner und Rednerinnen haben das heute bereits getan.
Das alles, meine Damen und Herren, wäre trotzdem
kein Grund zu vertiefter Besorgnis, wenn es nur einige
wenige Spezialqualifikationen beträfe; diese Lücken ließen sich sicherlich schließen. Aber so ist es eben nicht.
Offenbar kann die Bundeswehr die 20-monatigen Ruhepausen zwischen Auslandseinsätzen für viele Einheiten
nicht gewährleisten. Das Beispiel der Wachsoldaten
zeigt, dass die strukturelle Überforderung längst auch im
Alltag des Truppendienstes angekommen ist, mit möglicherweise verhängnisvollen Folgen: Die 35 000 Schuss
Munition aus Seedorf sind bis heute nicht wieder aufgetaucht. Es muss wahrscheinlich unsere zweitbeste Hoffnung sein, dass es dabei bleibt.
Meine Damen und Herren, es gibt für die Personalprobleme der Bundeswehr auch gar keine einfache Lösung. Im Gegenteil: Gerade die Vorschläge, die der
Wehrbeauftragte macht, um den Dienst in der Bundeswehr familienfreundlicher und attraktiver zu gestalten
- Frau Ministerin ist darauf eingegangen -, laufen auf
neue Engpässe hinaus. Vor allem die Freistellung für Betreuungsaufgaben - zum Beispiel der Vorschlag, die Betreuung von Kindern unter drei Jahren als grundsätzlichen Einsatzhinderungsgrund festzuschreiben - ist zwar
vollkommen richtig; aber sie wird natürlich dazu führen,
dass gut ausgebildetes Personal dort fehlt, wo es gebraucht wird.
Der Bericht des Wehrbeauftragten beschreibt eine
Bundeswehr, die sich unter einer zu kurzen Decke zu
wärmen versucht. Unter den Bedingungen des Bevölkerungsrückgangs soll sie sich als Berufsarmee neu ausrichten, ihre Fähigkeiten erhalten und ausbauen und dabei so attraktive Arbeitsplätze vorhalten, dass für alle
Aufgaben ausreichend Personal und Ressourcen vorhanden sind. 2013 ist das offenkundig noch nicht oder zumindest nicht so gelungen, dass das Ergebnis den selbstgesteckten Erwartungen gerecht wird.
Meine Damen und Herren, wir sollten den Bericht
dennoch nicht so lesen, als sei die Bundeswehr nicht imstande, ihre Aufgaben zu erfüllen; dazu ist sie bis heute
immer imstande gewesen. Auch hat der Grundsatz
„Breite vor Tiefe“ automatisch eine im Konzept bereits
angelegte Begrenzung der Durchhaltefähigkeit zur
Folge, die durch andere Maßnahmen, durch Bündnisergänzungen, ausgeglichen werden soll; das ist ein Teil
dieses Konzepts. Und schließlich liegt es in der Natur
der Sache, dass der Bericht eines Wehrbeauftragten nicht
die positiven Beispiele in den Vordergrund stellt.
Deutlich wird aber auch, dass die Bundeswehr
- und damit dieses Parlament - im Laufe der 18. Legislaturperiode grundsätzliche Fragen wird beantworten müssen. Wenn wir, wie wir es ja alle wollen, daran
festhalten, dass es keine Reform der Reform geben soll,
dann werden wir den Nachwuchs für die 185 000 militärischen und die 55 000 zivilen Dienstposten der Bundeswehr dort suchen und abholen müssen, wo er ist. Nur
wenn es gelingt, Jugendliche aller Herkünfte und Begabungen frühzeitig an die Möglichkeit einer militärischen
Karriere heranzuführen, werden wir die Soldatinnen und
Soldaten ausbilden können, die die Bundeswehr braucht.
({5})
Deswegen sollten wir überdenken, ob es der richtige
Weg ist, die Zahl der zivilen Ausbildungsplätze, die die
Bundeswehr anbietet - derzeit sind es 5 000 -, so weit
zu reduzieren, dass wir nur noch für den eigenen Bedarf
ausbilden. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass wir
junge Menschen, die zunächst im zivilen Bereich ausgebildet worden sind, hinterher in den weiterführenden
Dienst der Bundeswehr übernehmen, aber möglicherweise nicht in dem Beruf, in dem wir sie ausgebildet haben, sondern als Soldatinnen und Soldaten. Auch das
sollte im Hinblick auf die Rekrutierungsdebatte und die
Nachwuchsdebatte eine Überlegung wert sein. Denn wer
glaubt, der Arbeitgeber Bundeswehr werde unter den
Bedingungen des demografischen Wandels in der Konkurrenz um talentierte junge Menschen mühelos gegen
den öffentlichen Dienst und die Wirtschaft bestehen können, ohne sich in vielen Bereichen neu zu erfinden, den
belehrt der vorliegende Bericht des Wehrbeauftragten eines Besseren. Das ist die Botschaft, die wir für die weitere Arbeit und die weitere Planung aus diesem Bericht
mitnehmen sollten.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Das Wort hat für die
CDU/CSU-Fraktion Gisela Manderla.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr
Wehrbeauftragter! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Als
klar wurde, dass ich meinen parlamentarischen Arbeitsschwerpunkt künftig im Verteidigungsausschuss haben
würde und ich erstmalig darüber nachgedacht habe, worum es mir dort gehen soll, war meine Entscheidung
schnell klar: Die Soldaten und Soldatinnen in unseren
Streitkräften sollen und müssen im Mittelpunkt unseres
und meines Handelns stehen.
({0})
Denn wer sich heutzutage in unserer durchzivilisierten
Gesellschaft für den Dienst in der Bundeswehr entscheidet und damit auch für die unterschiedlichen Strapazen
und Belastungen, private wie persönliche Entbehrungen,
lange Trennungszeiten von der Familie und vieles mehr,
der hat die umfassende Unterstützung dieses Hauses verdient, ja sogar ein Anrecht darauf, liebe Kolleginnen und
Kollegen.
Das Anrecht muss meines Erachtens für drei Bereiche
gelten: erstens für die materielle Ausstattung und Ausrüstung unserer Soldaten und Soldatinnen, zweitens für
eine tiefgreifende Verankerung der Streitkräfte in der
Mitte unserer Gesellschaft und drittens für den Schutz
unserer Soldatinnen und Soldaten bzw. die Gewährleistung ihrer Grundrechte nach innen wie nach außen. Insbesondere für den dritten Punkt, den Schutz unserer Soldaten und Soldatinnen, zeichnet der Wehrbeauftragte des
Deutschen Bundestages verantwortlich. Ihnen, sehr geehrter Herr Königshaus, gebührt ebenso wie Ihren Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen unser ausdrücklicher Dank
für Ihre wichtige Arbeit.
({1})
Dies ist nun für mich der erste Jahresbericht des
Wehrbeauftragten, dem ich mich widme, und ich muss
sagen: Ich habe Schatten, aber auch viel Licht gesehen.
Licht habe ich insofern gesehen, als ich bei einer Eingabequote von 27,7 auf je 1 000 Soldaten erkennen kann,
dass in der Bundeswehr offenkundig eine Menge gut und
richtig läuft, und das, obwohl sich unsere Streitkräfte in
einem tiefgreifenden Wandel befinden und sich aufgrund
der neuen Herausforderungen, denen sich Deutschland
gegenübersieht, umfassend neu ausrichten müssen.
Das deckt sich auch mit meinen ersten Erfahrungen,
die ich in den Gesprächen mit unseren Soldaten im Inland, aber auch in den Einsatzgebieten im Ausland gemacht habe. Ich habe dort in erster Linie nämlich eine
hohe Opfer- und Leistungsbereitschaft gesehen, engagierte Männer und Frauen, die sich bewusst für den
Dienst in den Streitkräften entschieden haben und sehr
gut um die besonderen Herausforderungen wissen, denen man sich zu stellen hat, wenn man sich bei der Bundeswehr verpflichtet. Deren Leistungsbereitschaft und
deren Willen, sich einzubringen, müssen wir aktiv flankieren und unterstützen.
({2})
All denjenigen, die da draußen tagtäglich einen außerordentlich guten Dienst leisten, danke ich an dieser Stelle
ausdrücklich für ihren großartigen Einsatz.
({3})
Man muss auch festhalten, dass auf Defizite durchaus
reagiert wurde. Die Einbindung naher Angehöriger in
die Nachsorge, die Einrichtung der sogenannten Härtefall-Stiftung wie auch der gesamte Bereich der Militärseelsorge, wie es meine Kollegen und Kolleginnen
bereits ausgeführt haben, sind durchweg positive Instrumente, um die Soldaten und Soldatinnen bei auftretenden Problemen zu unterstützen.
Kommen wir nun zum Schatten. Lassen Sie es mich
ganz deutlich sagen: Bestimmte im Jahresbericht dargestellte Sachverhalte sind nicht hinnehmbar. Ich will das
hier klipp und klar sagen. Meine Kollegin Schäfer hat
beispielsweise die Integration von Frauen in die Streitkräfte thematisiert. Belästigungen und erst recht Übergriffe sind absolut inakzeptabel. Hier müssen wir künftig
noch genauer hinsehen.
({4})
Exemplarisch seien hier aber auch die zum Teil viel zu
lange Bearbeitungsdauer von Anträgen, eine bisweilen
unzureichende, wenn nicht gar unnütze Beratung in den
Karrierecentern sowie wiederkehrende Probleme im Zusammenhang mit der Besoldung genannt. Wenn sich die
Bundeswehr als attraktiver Arbeitgeber gegen die freie
Wirtschaft durchsetzen möchte, muss in diesen Bereichen dringend nachgebessert werden.
Unsere Ministerin hat nach meinem Dafürhalten die
gegenwärtigen Defizite aufgedeckt und die nötigen
Schritte bereits veranlasst. Ihnen, liebe Frau Ministerin
von der Leyen, möchte ich an dieser Stelle ausdrücklich
für Ihren Einsatz danken.
({5})
Für die Umsetzung des Maßnahmenpakets zur Steigerung der Attraktivität des Dienstes in der Bundeswehr
sei Ihnen unsere Unterstützung gewiss.
Meine Damen und Herren, insbesondere vor dem
Hintergrund sich ändernder Einsatzszenarien und eines
Wandels der Rolle Deutschlands in der Welt ist der Umbau der Bundeswehr von einer Wehrpflicht- zu einer
Freiwilligenarmee eine besonders anspruchsvolle Aufgabe. Dieser Umbau steht - das will ich hier in aller
Deutlichkeit festhalten - in seiner gesamtgesellschaftlichen Bedeutung der Energiewende oder der Reform des
Rentensystems in nichts nach. Der Jahresbericht wirkt
dabei als eine Art Mikroskop, durch welches wir einen
Blick auf die Situation unseres wichtigsten Gutes bekommen, nämlich die Situation unserer Soldaten und
Soldatinnen. Wir werden deren Wohl genau im Auge behalten, ohne aber die Leistungsfähigkeit unserer Streitkräfte aufs Spiel zu setzen; denn eines muss klar sein:
Die Bundeswehr kann und wird nie ein ziviler Arbeitgeber sein. Es gilt also, den Spagat zwischen modernem
Soldatentum und zivilgesellschaftlichen bzw. privaten
Ansprüchen zu schaffen. Dafür stehen wir ein.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich weiß, dass das
Präsidium sehr großen Wert darauf legt, dass die einzelnen Plenarreden pünktlich beendet werden. Deshalb
danke ich Ihnen ganz herzlich für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Vielen herzlichen Dank, liebe Kollegin, für die tatkräftige Unterstützung, aber Sie hätten noch 45 Sekunden Redezeit gehabt. Das ist jetzt aber gar nicht so wichtig. Wichtig ist, dass das ganze Haus Ihnen zu Ihrer
ersten Rede gratuliert.
({0})
Ich wünsche Ihnen viel Erfolg bei Ihrer weiteren Arbeit
in einem sehr wichtigen Bereich.
Damit ist die Aussprache beendet.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/300 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Elisabeth Scharfenberg, Kordula Schulz-Asche,
Ulle Schauws, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Geburtshilfe heute und in Zukunft sichern Haftpflichtproblematik bei Hebammen und
anderen Gesundheitsberufen entschlossen anpacken
Drucksache 18/850
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({1})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. - Ich höre und
sehe keinen Widerspruch. Dann ist auch das so beschlossen.
Ich gebe das Wort zur Eröffnung der Debatte
Elisabeth Scharfenberg für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Minister! In den letzten Jahren
haben wir sehr viele besorgte Zuschriften zur Situation
der Hebammen erhalten. Grund dafür sind die gestiegenen Haftpflichtprämien, die die Existenz der Hebammen
bedrohen. Sie sehen sich nicht mehr in der Lage, ihren
Beruf auszuüben. Diese Brandbriefe bekamen wir nicht
nur von Hebammen, sondern aus allen Teilen der Bevölkerung, sehr häufig von Familien, die sich Sorgen gemacht haben, dass sie ihr Kind nicht so zur Welt bringen
können, wie sie sich das wünschen, zum Beispiel zu
Hause oder in einem Geburtshaus.
({0})
Meine Damen und Herren, wenn wir heute über die
Haftpflichtversicherung der Hebammen und der Geburtshelfer reden, dann sprechen wir nicht über dröge
Versicherungsmathematik. Nein, wir reden darüber, ob
werdende Eltern frei entscheiden können, wo und wie
sie ihr Kind zur Welt bringen. Die Zeit drängt. Deswegen ist die Bundesregierung jetzt gefordert, endlich etwas zu tun.
({1})
Verständnisvolle Worte an die Hebammen zu richten, ist
das eine, Herr Minister. Sie umzusetzen, ist das andere.
Seit 2003 steigen die Beiträge, die vor allem freiberufliche Hebammen für ihre Haftpflichtversicherung
zahlen müssen, über alle Maßen. Ich will hier einmal
ganz deutlich werden: Im Jahr 2003 musste eine freiberuflich tätige Hebamme rund 500 Euro pro Jahr für ihre
Haftpflichtversicherung bezahlen. Im Juli 2010 waren es
rund 3 700 Euro. Das entspricht einer Steigerung um
über 700 Prozent. Und das geht so weiter. In diesem Jahr
sollen die Prämien bis auf 5 000 Euro steigen.
({2})
Zudem ist kaum noch ein privates Versicherungsunternehmen überhaupt bereit, Haftpflichtversicherungen für
den Bereich der Geburtshilfe anzubieten. Nun will in
diesem Jahr auch noch einer der letzten verbliebenen
Anbieter abspringen.
({3})
Schon jetzt steigen immer mehr Hebammen aus der
Geburtshilfe aus, und immer mehr Geburtshäuser schließen. In strukturschwachen Gebieten ist die Geburtshilfe
auch in Krankenhäusern gefährdet. Dort schließen Geburtsabteilungen, oder es schließt gleich das ganze Krankenhaus. Meine Damen und Herren, die Wahlfreiheit
werdender Eltern ist damit schon heute massiv eingeschränkt. Es muss jetzt etwas passieren.
({4})
Das Problem, das wir heute debattieren, ist nicht erst
seit gestern bekannt. Die Herren Gesundheitsminister
Rösler und Bahr haben dieses Thema weniger als halbherzig angefasst - und das ist freundlich formuliert.
({5})
Jetzt sind Sie gefragt, Herr Minister Gröhe. Sie müssen sehr kurzfristig - mit „sehr kurzfristig“ meine ich
sofort - auf die gesetzlichen Krankenkassen einwirken,
damit diese mit den Hebammenverbänden in neue Vergütungsverhandlungen gehen. Freiberufliche Hebammen müssen in der Lage sein, von ihren Honoraren die
Haftpflichtprämien zu bezahlen. Herr Gröhe, Sie müssen
- auch das sofort - mit den privaten Versicherungsunternehmen reden, damit diese auch weiterhin Haftpflichtversicherungen anbieten; das haben Sie im Gesundheitsausschuss angekündigt, und Sie werden ja auch gleich zu
diesem Thema reden. Ich sage Ihnen ehrlich: Ich nehme
Sie beim Wort. Ich bin auf Ihre Taten gespannt. Auch die
Hebammen werden heute sehr interessiert zuhören; auch
sie sind auf die Ergebnisse gespannt.
Dadurch wird das Problem allerdings kurzfristig nicht
gelöst. Diese Maßnahmen - das Reden mit den Hebammenverbänden, mit den Versicherern, mit den Krankenkassen - verschaffen uns allenfalls ein bisschen Zeit. Die
Prämien werden weiterhin steigen. Deswegen braucht es
einen weiteren Schritt, um die Versicherungsbeiträge
real zu senken.
({6})
Auch das müssen wir noch in diesem Jahr in Angriff
nehmen. Im Kern gibt es hier zwei Möglichkeiten: Die
erste Möglichkeit ist ein Haftungsfonds. Das heißt, die
Versicherungsunternehmen kommen nur noch bis zu einer festgelegten Obergrenze für Schäden auf; darüber
übernimmt dann der Haftungsfonds die Kosten. Die
zweite Möglichkeit ist: Man begrenzt die Summen, die
sich die Sozialleistungsträger, zum Beispiel die Kranken- oder Rentenversicherung, im Schadensfall von den
Versicherungsunternehmen zurückholen können; hier
sprechen wir dann von der Regressbeschränkung.
Beide Modelle - das wissen wir - sind nicht perfekt.
Aber sie können zumindest für einige Zeit die Situation
der Hebammen und damit der Geburtshilfe etwas entspannen. Diese Zeit brauchen wir, um eine grundlegende
Reform umzusetzen. Wir als Grüne sagen, dass wir eine
Berufshaftpflicht für alle Gesundheitsberufe brauchen.
({7})
Nicht nur die Hebammen, nein, alle Gesundheitsberufe
ächzen unter den steigenden Haftpflichtprämien. Die
Prinzipien der gesetzlichen Unfallversicherung könnten
ein Vorbild für eine gesetzliche Berufshaftpflicht sein.
Das, Herr Minister, sollte die Bundesregierung ganz
dringend und schnell untersuchen, damit wir bald ein
tragfähiges und nachhaltiges System auf die Beine stellen.
({8})
Herr Minister, die Hebammen und die Eltern haben
nun schon sehr lange gehört, wie kompliziert ihr Problem ist; das stimmt. Aber Sie hatten nun auch lange genug Zeit, eine Lösung zu finden.
({9})
Sie müssen jetzt auch eine Entscheidung treffen; denn
Zeit haben die Hebammen nicht mehr.
({10})
Ich sage noch einmal ganz klar: Wir reden hier nicht
über Zahlen. Wir reden hier über das Überleben des Berufsstandes der Hebamme. Wir reden über die Wahlfreiheit der werdenden Mütter und Eltern beim existenziellsElisabeth Scharfenberg
ten Ereignis ihres Lebens, nämlich bei der Geburt ihres
Kindes.
Vielen Dank.
({11})
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Das Wort hat für die
Bundesregierung Minister Hermann Gröhe.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beschäftigen uns heute mit einem Thema, das sehr viele in diesem
Haus - das weiß ich aus einer Fülle von Briefen - sehr
intensiv umtreibt.
({0})
Nicht nur die Mitglieder der Berufsgruppe selbst - da
haben Sie völlig recht -, sondern auch viele Mütter und
Väter fragen, wie wir angesichts der Sorgen der Hebammen in unserem Land Sicherheit schaffen. Ich sage sehr
deutlich: Das Bekenntnis des Koalitionsvertrages, eine
ortsnahe Geburtshilfe und eine angemessene Vergütung
der Hebammen in unserem Land sicherzustellen, ist
nicht nur ein Arbeitsauftrag der Koalition, sondern mir
auch ein persönliches Herzensanliegen. Ich werde Ihnen
hier gerne über die Dinge, die wir bereits getan haben
und weiter tun werden, Auskunft geben.
({1})
Die Arbeit der Hebammen ist unverzichtbar. Sie haben nicht nur Wertschätzung und eine angemessene Vergütung, sondern vor allem Sicherheit im Hinblick auf die
Zukunft ihrer Berufstätigkeit verdient. Sie sprachen vom
einschneidendsten und schönsten Erleben, das Familien
mit der fachlich versierten und menschlichen Zuwendung von Hebammen verbinden: der Geburt eines Kindes. Das zeigt sich ja auch an der großen Sympathie, auf
die die Aktionen der Hebammen bei der Bevölkerung in
unserem Land stoßen.
Sie haben die beiden Entwicklungen, die Sorgen bereiten, angesprochen: die Steigerung der Haftpflichtprämien einerseits, eine Entwicklung der letzten Jahre, in
der Tat, und den Ausstieg eines großen Versicherungsunternehmens aus dem Gruppentarif eines deutschen Hebammenverbandes andererseits, eine Entwicklung der
letzten Woche, die eine weitere Verschärfung bedeutet.
Ihr Antrag betont dabei zu Recht - das will ich ausdrücklich sagen -, dass der Anstieg der Haftpflichtprämie nicht auf einer Zunahme der Schadensfälle beruht.
Unsere Hebammen in Deutschland leisten eine herausragende Arbeit. Fehler passieren sehr selten. Aber gleichzeitig gebietet es die Wahrheit, darüber zu reden, dass
wir bei der Haftpflicht über die Haftung für Fehler reden. Ich glaube, wir brauchen im Gesundheitsbereich, in
der Pflege, im Krankenhaus, bei den Hebammen eine
Bereitschaft, darüber in einer Weise zu reden, die weder
fragwürdig dramatisiert, ja eine ganze Berufsgruppe auf
die Anklagebank setzt, noch bei den Betroffenen den
Eindruck erweckt, wir würden geradezu Probleme unter
den Teppich kehren.
Wir reden darüber, dass Menschen auch in hochanspruchsvollen Tätigkeiten Fehler machen, einen Ausdruck, den Ihr Antrag vielleicht nicht durch Zufall meidet, wie er überhaupt in dieser Debatte häufig vermieden
wird, und dass diese Fehler schwerste Folgen für andere
Menschen haben können. Ich finde es gut, dass Sie in
Ihrem Antrag - auch das will ich sagen - der Haltung,
den Schadensersatz zu begrenzen, entgegentreten, die es
ja mitunter auch in der öffentlichen Debatte gibt. Dann
würden wir Familien in dramatischen Situationen im
Stich lassen. Das kann kein Weg sein.
({2})
Sie fragen: Was ist getan worden? Der Gesetzgeber
hat 2011 gehandelt: Wir haben im Gesetz klargestellt,
dass zum 1. Januar 2012 die gesetzlichen Krankenversicherungen den Hebammen die Kosten der Berufsausübung - die Haftpflichtversicherung ist in der Gesetzesbegründung ausdrücklich genannt - angemessen
vergüten. Dies ist umgesetzt worden in Vereinbarungen
der Hebammenverbände mit den gesetzlichen Krankenversicherungen und hat erhebliche Erhöhungen der Vergütung zur Folge gehabt.
Ich hatte ein intensives Gespräch mit allen deutschen
Hebammenverbänden. Kritisiert wird, dass diese angemessene Berücksichtigung der Haftpflichtprämie in der
Vergütung sich erst ab einer bestimmten Anzahl betreuter Geburten auswirkt. Dies ist eine Herausforderung.
Zugleich sprechen Sie in Ihrem Antrag die Frage an, ob
es nicht aus Gründen der Qualitätssicherung - es geht
um die Sicherheit der Frauen - notwendig sein sollte, innerhalb eines festgelegten Zeitraums eine bestimmte
Anzahl von Geburten betreut zu haben. Das muss im Rahmen der entsprechenden Qualitätsrichtlinien der Selbstverwaltung festgelegt werden. Es zeigt aber ein Spannungsverhältnis auf: Mindestanzahl, gleichsam um
Erfahrung zu sichern, und ortsnahes Angebot auch im
ländlichen Raum müssen in eine vernünftige Balance gebracht werden.
Sie haben die Regierung aufgefordert, mit der Versicherungswirtschaft und mit den Krankenkassen zu sprechen. Ich muss Ihnen sagen: Das geschieht in hoher Intensität seit Wochen.
({3})
Ich empfinde Ihren Antrag daher als Ermutigung, weiter
intensiv zu verhandeln, bis wir ein Ergebnis erreicht haben. Das ist selbstverständlich, und das sage ich zu.
Wir haben die Versicherungswirtschaft und die Krankenkassen in einer interministeriellen Arbeitsgruppe, die
im letzten Jahr in Folge des Bürgerdialogs der Bundes1800
kanzlerin eingerichtet wurde, eingebunden. Wir werden
im April den Abschlussbericht, der auch zu den verschiedenen Modellen, die Sie hier erwähnt haben, Stellung nehmen wird, vorstellen.
Wir haben die Versicherungswirtschaft unmissverständlich wissen lassen, dass wir ein überzeugendes Angebot erwarten. Ich habe keinen Zweifel daran, dass man
sich dort der Verantwortung bewusst ist. Wir brauchen
dringend einen - besser: mehrere - Gruppenhaftpflichttarife, die entsprechend unterbreitet werden. Da zur
Stunde diese Verhandlungen laufen, fordere ich auch
von dieser Stelle alle Beteiligten - die Hebammenverbände, die beteiligten Makler, die Versicherungswirtschaft - auf, zügig abzuschließen.
({4})
Wir haben selbstverständlich auch mit den Krankenversicherungen geredet. Dort ist man sich des Auftrags
aufgrund der gesetzlichen Präzisierung, hier die entsprechenden Kosten zu übernehmen, bewusst. Wir haben
sehr darauf gedrungen, dass, wenn es zu einer Tarifsteigerung kommt, diese auch zeitnah umgesetzt wird, damit es nicht durch Verzögerungen zu Verunsicherung
kommt. Wir werden auch die Frage zu erörtern haben,
welche Staffelung vertretbar ist, um gerade auch bei einer niedrigen Anzahl betreuter Geburten ein auskömmliches Einkommen sicherzustellen.
Meine Damen, meine Herren, Sie fordern weitergehende Alternativen. Ich will ausdrücklich sagen: Das
bisherige System von privatwirtschaftlicher Haftpflichtversicherung und Kostenübernahme durch die Krankenkasse steht in einer schweren Bewährungsprobe.
({5})
Ich bin in der Tat der Überzeugung, dass die Hebammen
- das haben wir in den Gesprächen zugesagt, und das
werden Sie auch in dem Abschlussbericht finden - einen
Anspruch haben, dass wir Alternativmodelle umfassend
prüfen.
Sie fordern uns in Ihrem Antrag auf, zeitnah einen
Gesetzentwurf vorzulegen, schreiben aber selbst, dass
wir die verfassungsrechtliche Zulässigkeit prüfen sollen.
Das weist darauf hin, wie kompliziert es ist, wenn mit einem Haftungsfonds oder einem Regressverzicht bzw. einer Regressbegrenzung der rechtsstaatlich gebotene
Zusammenhang von Schadensverursachung und Übernahme der Haftung begrenzt oder vollständig aufgehoben werden soll. Das ist mit dem Justizministerium und
mit dem Arbeitsministerium - soweit es die Rentenversicherung angeht - in dieser interministeriellen Arbeitsgruppe intensiv erörtert worden. Ich habe sowohl mit
Kollegin Nahles wie mit Kollegen Maas noch einmal darüber gesprochen.
Wir prüfen dies - das sage ich ausdrücklich zu -, ich
halte es aber noch nicht für ausgemacht - auch da
schulde ich Ihnen die Klarheit -, dass ein Systemwechsel wirklich zu einer Verbesserung führt. Das von Ihnen
vorgeschlagene Modell, sich langfristig an der Unfallversicherung zu orientieren, ist von der Unfallversicherung selbst als untaugliches Instrument zur Begrenzung
der Prämien bezeichnet worden, weil es natürlich auch
bei der Umsetzung der Idee, alle Berufsgruppen zusammenzufassen, eine Zuordnung der Prämienhöhe zum Risiko geben muss. Eine solche kennt auch die Unfallversicherung. Deswegen ist auch bei diesem Modell noch
lange nicht ausgemacht, ob der von Ihnen angestrebte
Erfolg eintrifft.
Ich glaube, wir brauchen sehr kurzfristig eine Verabredung im System, neue Gruppentarife und eine klare
Ansage der Krankenversicherung, die Kosten zu tragen.
Wir sagen Ihnen zu, die verschiedenen Modelle zeitnah,
aber gründlich - den ersten Bericht erhalten Sie noch im
April - zu prüfen.
Sie können sich darauf verlassen, dass wir mit ganzer
Kraft daran arbeiten, den Hebammen in unserem Land
die Sorgen um ihre berufliche Zukunft zu nehmen. Das
sind wir ihnen aufgrund ihrer unverzichtbaren Arbeit
weiß Gott schuldig.
Vielen Dank.
({6})
Vielen Dank, Hermann Gröhe. - Für die Linke hat
Birgit Wöllert das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Heute sage ich ausdrücklich auch: Liebe Gäste!
Sie werden gleich hören, warum ich mich heute auch an
Sie wende.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die
Grünen, erst einmal vielen Dank für diesen Antrag. Wir
haben vor, einen ähnlichen Antrag zu stellen. Sie sind
uns etwas zuvorgekommen.
({0})
Das ist aber nicht so schlimm. Wir wollten noch die Antwort auf unsere Kleine Anfrage an die Bundesregierung
zur wirtschaftlichen Lage der Hebammen und Entbindungspfleger abwarten. Ich gehe davon aus, dass die
Antwort dann in unsere gemeinsame Lösungsfindung
einfließen kann.
({1})
Ich denke, dass es einen großen Konsens geben wird,
diesen Antrag im Ausschuss zu diskutieren, und es gibt
sicher auch einen Konsens, eine Lösung finden zu wollen.
Allerdings - auch das muss ich sagen - ist das Problem so neu auch wieder nicht; denn es beschäftigt und
bewegt uns und ganz viele Menschen in diesem Land
schon seit längerem. Das gilt übrigens nicht nur für Eltern, sondern in hoher Zahl auch für Großeltern. Ich
kann hier für mich sprechen. Ich möchte, dass auch alle
meine Enkelkinder dann meine Urenkel sicher auf die
Welt bringen können. Die Voraussetzungen und die entBirgit Wöllert
sprechenden politischen Rahmenbedingungen dafür haben wir jetzt hier zu schaffen.
({2})
Jetzt kommt mein Appell an Sie, liebe Gäste: Seit
gestern gibt es im Internet eine öffentliche Petition mit
der Nummer 50667 und dem Titel „Gesundheitsfachberufe - Sicherstellung der flächendeckenden, wohnortnahen Versorgung mit Hebammenhilfe“. Die Mitzeichnungsfrist läuft vom 19. März 2014 bis zum 16. April
2014. Kommen in diesem Zeitraum 50 000 Unterschriften oder Mitzeichnungen über das Internet zustande,
dann wird der Petitionsausschuss eine öffentliche Sitzung zu dieser Thematik durchführen.
({3})
Bis heute sind es bereits 27 500 Unterschriften. Das ändert sich stündlich.
({4})
Stündlich erfolgen mehr als 1 000 Mitzeichnungen im
Internet,
({5})
und ich fordere Sie auf, dazu beizutragen, dass die geforderte Zahl deutlich überschritten wird. Sie alle haben das
mit in der Hand.
({6})
Ich möchte mich an dieser Stelle auch noch einmal
bei der Initiatorin, Frau Schmuck aus Ingolstadt, recht
herzlich bedanken.
Schon vor rund vier Jahren hat meine Fraktion, Die
Linke, hier einen ähnlichen Antrag wie heute Bündnis 90/Die Grünen eingebracht, und zwar mit dem Titel
„Versorgung durch Hebammen und Entbindungspfleger
sicherstellen“. Das heißt, mindestens seit diesem Zeitpunkt beschäftigt uns diese Frage. Die Hebammen waren damals nämlich in der gleichen miesen Situation.
2010 stellte die Linke fest, dass nur noch 30 Prozent
der Hebammen und Entbindungspfleger von ihrem Beruf leben können. Wie sieht es jetzt, vier Jahre später,
aus? Nach Presseangaben, die wir alle reichlich verfolgen können, lagen die Stundenlöhne einer freiberuflichen Hebamme oder eines Entbindungshelfers zwischen
2011 und 2014 bei durchschnittlich 7,50 Euro bis
8,50 Euro. Angemessener Verdienst für diese verantwortungsvolle Tätigkeit sieht wohl anders aus.
({7})
Für ein so reiches Land wie Deutschland ist es einfach nur beschämend, wie wir mit den Menschen umgehen, die unserer Zukunft - so nennen wir unsere Kinder
so schön vollmundig - auf die Welt helfen. Ich denke,
Herr Minister, da tragen Sie eine Verantwortung. Aus
Steuermitteln werden im Bereich Gesundheit vor allem
versicherungsfremde Leistungen bezahlt. Vielleicht sollten Sie einmal überlegen, dass von den 3 Milliarden
Euro, die sich der Finanzminister zurückholen möchte,
ein winziger Teil in zweistelliger Millionenhöhe ausreichen würde, um das Problem schnell zu lösen.
({8})
2010 schlug die Linke vor, in einem Treffen zwischen
dem Spitzenverband Bund der Krankenkassen und dem
Hebammenverband deutliche Vergütungserhöhungen zu
vereinbaren und auch die steigenden Haftpflichtprämien
abzusichern. Ich muss sagen: Wenigstens die Übernahme der steigenden Haftpflichtprämien - Sie haben
das vorhin angeführt - hat geklappt. Seit 2012 werden
diese Kosten von den gesetzlichen Krankenversicherungen übernommen.
Anders dagegen sieht es mit der Gesamtvergütung der
Hebammen aus; denn sie ist immer noch nicht auskömmlich, wie ich das schon sagte. Zur Hebammentätigkeit gehört eben noch viel mehr, als Kinder auf die Welt
zu holen. Hebammentätigkeit - so haben wir es uns von
den Hebammen erklären lassen - ist vor allem auch die
Betreuung der Mütter vor und nach der Geburt, und zwar
über einen längeren Zeitraum. Ich denke, das müssen wir
uns auch etwas kosten lassen.
({9})
2010 stellte die Linke fest: Eine flächendeckende Versorgung mit Geburts- und Hebammenhilfe ist gefährdet. - Vorige Woche, also vier Jahre später, wurde im
Bundesrat ein Entschließungsantrag zum gleichen
Thema behandelt. So ein langer Zeitraum ist beschämend. Was hat sich eigentlich in diesen vier Jahren getan? Machen Sie es besser als Ihr Kollege von der FDP!
({10})
Zur Situation in meiner Heimatregion Cottbus-SpreeNeiße kann ich sagen: Dort gab es 2004 noch insgesamt
vier Entbindungsstationen. Entbindungsstationen gibt es
jetzt nur noch in Cottbus und Forst, womit ihre Zahl auf
zwei abgesenkt worden ist. In Spremberg haben wir deshalb aus der Not eine Tugend gemacht und 2005 ein
Geburtshaus am Krankenhaus gegründet. Die dort freiberuflich tätigen Hebammen haben eine verantwortungsvolle Arbeit. Die Menschen aus Spremberg und der
Region nehmen diese Einrichtung gut an. Aber die Hebammen sind jetzt schon wieder in einer Notsituation. Da
haben wir sie gefälligst herauszuholen.
({11})
Es ist für junge Leute nicht attraktiv, einen Beruf mit
solchen Aussichten zu ergreifen. Ein Beispiel ebenfalls
aus Brandenburg: Nur im Carl-Thiem-Klinikum in Cottbus gibt es hierzu alle drei Jahre einen Ausbildungslehrgang mit 17 Plätzen. Diese 17 Plätze sind seit 2007 noch
nie vollständig belegt gewesen.
({12})
So viel zur Motivation für junge Leute.
Während wir in unserem Antrag 2010 noch konstatierten, dass die Gründe für diese Entwicklung unklar
seien, wissen wir heute: Es gibt Gründe für die Steigerung der Prämien. Deshalb ist es richtig, zügig nach einer Neuordnung der Berufshaftpflicht für Gesundheitsberufe zu sorgen.
({13})
Dabei ist zu berücksichtigen, dass Fachgebiete und Tätigkeiten mit einem hohen Haftungsrisiko nicht zwingend zu hohen Prämien führen müssen; denn im Interesse der Daseinsvorsorge brauchen wir sowohl die
risikostärkeren als auch die risikoärmeren Gesundheitsleistungen für unsere Bevölkerung. Deshalb sind jetzt
die verschiedenen Modelle im Gespräch.
Ich freue mich auf eine konstruktive Diskussion mit
einem möglichst schnellen und langfristig haltbaren Ergebnis.
Danke.
({14})
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Das Wort hat für die
SPD-Fraktion Dr. Karl Lauterbach.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Kritik, dass sich in der schwarz-gelben
Koalition im Bereich der Hebammenversorgung nicht
viel bewegt hat, habe ich selbst in der letzten Legislaturperiode vorgetragen. Aber diese Kritik ist heute schlicht
und ergreifend unfair.
({0})
Denn wir haben gemeinsam in den Koalitionsvertrag
aufgenommen, die Hebammenversorgung sicherzustellen, und wir, Herr Gröhe, die Unionsfraktion und meine
Fraktion, haben die Arbeit daran sofort aufgenommen
und das auch kommuniziert. Wir sind sofort mit den
Hebammenverbänden in Gespräche getreten, mit den
kleinen Verbänden wie mit den großen. Wir haben mit
einzelnen Repräsentanten der Hebammen gesprochen.
Noch während der Koalitionsverhandlungen habe ich
Teile der Petition entgegengenommen. Wir kommunizieren ständig Zwischenergebnisse. Ich frage daher: Ist es
nicht so, dass hier auch ein bisschen Populismus betrieben wird, wodurch bei den Hebammen der Eindruck entsteht, wir würden nichts tun, derweil wir mit voller Kraft
an diesem Thema arbeiten?
({1})
Ich sage auch in aller Klarheit: Das Problem ist nicht
so simpel zu lösen, indem man einen Antrag einbringt,
in dem - seien wir doch ehrlich miteinander - so gut wie
nichts steht.
({2})
Darin steht nur, dass wir für dieses große Problem eine
Lösung finden müssen. Herzlichen Glückwunsch! Das
wissen wir seit vier Jahren, meine sehr verehrten Damen
und Herren.
({3})
Zunächst einmal ist es so: Wir haben in Deutschland
eine gute Versorgung mit Hebammen.
({4})
Das Kernproblem liegt darin, dass es derzeit eine kleine
Gruppe von Hebammen gibt, für die die Versicherungsprämie nicht bezahlbar ist. Das sind im Wesentlichen die
freiberuflichen Hebammen. 10 Prozent der Hebammen
arbeitet ausschließlich freiberuflich. Diese Hebammen
betreuen im Durchschnitt 18 Geburten pro Jahr. Die
Hälfte betreut weniger als zehn Geburten pro Jahr. Die
Versicherungsprämie beträgt aber 5 000 Euro pro Jahr.
Das ist ungerecht; denn es entspricht einem Betrag von
500 Euro pro Geburt. Dass das nicht funktionieren kann,
ist uns klar. Daran ändert die Verlagerung derselben Versicherung zu einem anderen Versicherungsträger - ob
Unfallversicherung oder Rentenversicherung - mit einem einzigen Anbieter überhaupt nichts.
({5})
Die Frage ist, wie hoch die Kosten der Versicherung
mit Blick auf die Zahl der Geburten sind. Wir arbeiten
fieberhaft an einer guten und rechtssicheren Lösung. Das
ist viel komplizierter, als Sie es in populistischer Art und
Weise erscheinen lassen.
({6})
Wir lehnen eine Lösung mit einer Schadensbegrenzung - darin stimme ich Minister Gröhe und meinen
Vorrednern zu -, die zulasten der Kinder und Eltern geht,
kategorisch ab.
({7})
Das ist mit uns nicht zu machen.
({8})
Die Deckungssumme im Gruppenvertrag für die
Hebammen beträgt derzeit 6 Millionen Euro. Diese
Deckungssumme wollen wir nicht reduzieren, egal wie
die Lösung aussieht. 1,5 Prozent der Schäden machen
50 Prozent der gesamten Schadenssumme aus. All diese
Schäden sind teurer als 1,5 Millionen Euro pro Kind. Für
diese schweren Fälle brauchen wir eine Lösung, aber
keine populistische,
({9})
sondern eine Lösung, die rechtlich trägt - auch verfassungsrechtlich - und die bezahlbar ist,
({10})
sowohl von den Geburtshäusern als auch insbesondere
von den Hebammen, die nur wenige Geburten begleiten.
({11})
In dem jetzigen System ist es sogar so, dass Hebammen, die viele Geburten betreuen, einen Gewinn
machen, weil die durchschnittlichen Kosten pro Geburt
für die Abdeckung der Versicherung bei jemandem, der
100 Geburten pro Jahr begleitet, die tatsächlichen
Kosten der Versicherung übersteigt. Daher ist der Ehrlichkeit halber und zur Vermeidung von Populismus
auch darauf hinzuweisen, dass es innerhalb der Hebammenverbände Unstimmigkeiten darüber gibt, wie das
Problem zu lösen ist. Denn das jetzige System funktioniert für einige Hebammengruppen sehr gut. Sie wollen
eine Lösung innerhalb dieser Logik. Andere Gruppen
kommen zu kurz. Für die Gruppen, die zu kurz kommen,
brauchen wir eine Lösung. Dafür treten wir an.
Wir brauchen zudem dringend - damit bin ich bei einem Punkt, der bei allem, was wir bisher angesprochen
haben, viel zu kurz gekommen ist - eine Qualitätsstudie,
aus der hervorgeht, wie gut unsere Hebammenversorgung eigentlich ist, wie stark die Qualität davon abhängt,
wie und wo die Geburt erfolgt und ob es einen Zusammenhang zur Zahl der Geburten gibt. Das alles ist in
Deutschland nicht bekannt. Aus meiner Sicht ist es fahrlässig, nur eine Versicherungslösung zu fordern, ohne
sich für die Qualität der Versorgung zu interessieren.
({12})
Die Beseitigung dieser Informationsdefizite sind wir den
Kindern und den Eltern schuldig. Daher werden wir eine
Lösung finden, die auf einer Untersuchung der Qualität
der Hebammenversorgung und der Geburtshilfe in
Deutschland basiert.
({13})
Wir wollen eine zeitnahe Lösung. Die Lösung soll
sicher, insbesondere rechtssicher sein. Sie soll die Kosten gerecht verteilen. Wir wollen - dazu bekennen sich
die SPD und die Große Koalition klipp und klar - die
Vielfalt der Geburtsmöglichkeiten erhalten. Wir wollen
die Hausgeburt, die Klinikgeburt und die Beleggeburt
genauso wie Geburten in Geburtshäusern. Die Vielfalt
soll erhalten werden, genauso wie die unterschiedlichen
Möglichkeiten, als Hebamme zu arbeiten. Wir wollen
die rein freiberuflich tätige Hebamme, die Beleghebamme, die Klinikhebamme genauso wie die Hebamme,
deren Arbeit eine Mischform darstellt. Wir wollen diese
ganze Vielfalt erhalten. Dann ist aber ein Schnellschuss,
wie ihn - bei allem Respekt - der vorliegende grobe Antrag darstellt, nicht möglich.
({14})
Wir arbeiten seit Wochen an diesem Thema. Wir
haben gerade die Anhörung der Verbände ausgewertet.
Die Lösungen, die wir derzeit erarbeiten, werden rechtlich und inhaltlich geprüft. Wir brauchen noch ein paar
Wochen. Aber dann legen wir etwas vor, was in den letzten Jahren nicht zustande gekommen ist. Wir brauchen
aber Geduld. Wir wollen die Qualität verbessern. Wir
wollen zudem die Hebammenversorgung auf dem Land
ausbauen. Es geht nicht nur um Erhalt. Auf dem Land
gibt es großflächige Versorgungsdefizite. Diese wollen
wir beheben.
Verbesserung der Qualität sowie Sicherstellung der
Versorgung auf dem Land und der Vielfalt sind unsere
Ziele. Für eine entsprechende Lösung brauchen wir noch
ein paar Wochen. Aber wir arbeiten fieberhaft daran. Ich
bitte um das notwendige Vertrauen. Bitte hetzen Sie die
Hebammen nicht auf!
({15})
Kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Lauterbach.
Ich komme zum Schluss. - Es darf nicht der Eindruck
entstehen, dass wir dieses Thema nicht ernst nehmen.
Das tun wir sehr wohl. Das ist für uns eine Herzensangelegenheit.
Vielen Dank.
({0})
Danke, Herr Kollege. - Nächste Rednerin ist Kordula
Schulz-Asche für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Kollege Dr. Lauterbach, ich möchte mit Nachdruck
Ihren Vorwurf zurückweisen, unser Antrag sei populistisch.
({0})
Ich verbitte mir auch Ihren Vorwurf, wir würden Lösungen zulasten der Eltern und ihrer betroffenen Kinder vorschlagen.
({1})
Ich verbitte mir diesen Vorwurf und fordere Sie ausdrücklich auf, zu der sachlichen Ebene zurückzukehren,
die heute dankenswerterweise der Gesundheitsminister,
Herr Gröhe, beschritten hat.
({2})
Sie haben über die letzte Legislaturperiode geredet.
Aber das Problem, das heute auf der Tagesordnung steht,
nämlich die steigenden Haftpflichtversicherungsprämien
für Hebammen, ist viel älter. Sie waren schon einmal an
einer Großen Koalition beteiligt und hätten agieren können. Die Haftpflichtversicherungsprämien für Hebammen haben sich in den letzten zehn Jahren vervielfacht.
Es ist daher billig, dass Sie nur auf die letzte Legislaturperiode zurückschauen und denjenigen, die konkrete
Vorschläge machen, Aktionismus vorwerfen.
({3})
Wir sind nun in einer Situation, wo schnell gehandelt
werden muss; denn wenn nicht schnell gehandelt wird,
dann bedeutet das, dass sich das Problem dadurch löst,
dass alle freiberuflich tätigen Hebammen ihre Arbeit
aufgeben werden. Das kann nicht im Interesse einer guten Geburtshilfe in Deutschland liegen.
({4})
Lassen Sie mich angesichts der heutigen Diskussion
einen Dank an die Hebammen aussprechen, die nicht
erst seit gestern, sondern schon seit Jahren mit zunehmend einfallsreicheren Aktionen auf ihre Situation hinweisen. Dazu gehört auch diese Petition. Herzlichen
Dank an die Hebammen, die immer wieder bereit waren,
auf dieses Problem hinzuweisen, und nicht aufgegeben
haben.
({5})
Aber es geht nicht nur um den Beruf der Hebammen,
sondern es geht auch um die gesellschaftliche Grundfrage: Haben Eltern in unserem Land die Wahlfreiheit,
({6})
in welcher Art und Weise sie Kinder auf die Welt bringen wollen?
({7})
Die Wahlfreiheit der Eltern ist ein hohes Gut. Dazu gehört die Hausgeburt, dazu gehört die Geburt im Geburtshaus, und dazu gehört die Geburt in der Klinik. Das ist
das, was heute entschieden wird; denn wenn die Geburt
im Geburtshaus und die Hausgeburt wegfallen, dann gibt
es keine Wahlfreiheit mehr.
({8})
Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Weiler von der CDU/CSU-Fraktion?
Ich beantworte sie gleich; denn ich habe sie schon gehört. Es geht um die Frage, was jetzt konkret zu tun ist.
Lassen Sie ihn doch die Frage stellen, Frau Kollegin.
Gut, dann lasse ich ihn sie stellen.
Herr Weiler, Ihre Frage bitte.
Ich habe nur eine kurze Bitte. Ich beschäftige mich
seit dem Eintritt in den Bundestag - ich bin hier neu mit dem Thema Hebammen. Ich war selber in den Geburtshäusern. Ich habe Ihrer Kollegin Anja Siegesmund
aus Thüringen vor längerem einen Brief geschrieben und
um eine konstruktive Zusammenarbeit gebeten; denn
auch ich als CDU-Mitglied bin an einer Lösung interessiert.
Es wäre sehr schön, wenn Sie mir weiterhelfen könnten, dass meine Frage nach der Möglichkeit einer konstruktiven Zusammenarbeit beantwortet wird.
Danke schön.
Ich antworte gerne auf die Bemerkung. Selbstverständlich werde ich Ihre Bitte weitergeben. Vielleicht
wird in dem Antwortschreiben einiges von dem stehen,
was ich gleich sage.
Es stellt sich jetzt die Frage: Was ist zu tun? Ich
glaube, dass es verschiedene Ebenen gibt. Wir müssen
zum einen kurzfristig handeln. Herzlichen Dank, Herr
Minister Gröhe, dass Sie darauf eingegangen sind; denn
die Krankenkassen und die Berufshaftpflichtversicherungen müssen doch ihrer gesellschaftlichen Verantwortung in ihrem Bereich nachkommen und den Beruf der
Hebamme kurzfristig finanziell absichern. Wir brauchen
zum anderen mittelfristige Lösungen, wie das im
Zusammenhang mit dem Haftungsfonds oder anderen
Lösungen diskutiert wurde. Wir brauchen ferner eine
Berufshaftpflicht für alle Gesundheitsberufe, wie es hier
besprochen wurde. Natürlich brauchen wir eine regelmäßige Bestandsaufnahme, die zeigt, ob die flächendeckende und gute geburtshilfliche Versorgung in Deutschland gesichert ist.
({0})
Frau Kollegin, ich bitte Sie: Sie müssen zum Ende Ihrer Rede kommen.
Das mache ich auch. - Das sollte unser Ziel sein: eine
flächendeckende, gute Versorgung in der Geburtshilfe.
Ich freue mich auf die Zusammenarbeit und die Diskussion unseres Antrags.
Danke schön.
({0})
Danke, Frau Kollegin. - Nächster Redner ist Kollege
Dr. Roy Kühne für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr
Minister Gröhe! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr
geehrte Damen und Herren! Ich denke, dieses Thema
heute ist mit Blick auf die Zukunft ganz besonders wichtig.
Die Hebammen und Entbindungspfleger in Deutschland leisten eine hervorragende Arbeit. Diese Leistungen
werden überhaupt nicht infrage gestellt. Ihre Zuwendungen und ihre Leistungen in der Vorsorge und in der
Wochenbettbetreuung sind für Schwangere und junge
Eltern von besonderer Bedeutung. Die Geburtshilfe der
freiberuflichen Hebammen ermöglicht vielen Schwangeren die freie Wahl ihres Entbindungsortes. Das ist wichtig. Dies gilt aber nicht nur für Hausgeburten oder die
Entbindung in einem Geburtshaus, sondern auch für die
Betreuung durch sogenannte Beleghebammen in Krankenhäusern selber.
Das Betreuungsangebot der Hebammen trägt in erheblichem Maße dazu bei, dass Schwangerschaften einen positiven Verlauf haben. Ich glaube, das ist uns allen
wichtig. Darüber hinaus bietet es werdenden Müttern
und Vätern Zeit und Raum, sich mit der Problematik zu
beschäftigen, in Kursen zu erlernen, mit welchen Aktionen und Reaktionen sie zu rechnen haben. Sie können
sich damit theoretisch auseinandersetzen, um sich auf
die Aufgabe als Eltern ausreichend vorzubereiten.
Ängste der Frauen vor der Geburtssituation können in
ruhiger, eventuell häuslicher Atmosphäre ausreichend besprochen und durch das Erlernen von geburtserleichternden
Techniken sogar abgebaut werden. In der Wochenbettbetreuung - das heißt in der Zeit nach der Geburt - können
aufkommende Probleme im neuen Familienalltag, die
durchaus Stress bedeuten können, direkt in einer Eins-zueins-Betreuung gelöst werden.
Viele von Ihnen können sich vielleicht noch daran erinnern, wie sie sich als junge Eltern in der Zeit nach der
Geburt fühlten. Manchmal sind diese Zeiten geprägt von
Angst - Angst davor, mit der Aufgabe Kindesbetreuung
überfordert zu sein, oder davor, für kleine Aufgaben des
alltäglichen Lebens keine Lösung zu finden. Ich glaube,
viele junge Eltern wissen, was ich damit meine. Auch
meine Frau und ich waren froh, vor, während und nach
der Geburt unserer Kinder eine Hebamme an unserer
Seite zu haben. Aber dennoch, Frau Wöllert, sage ich
ganz offen: Ich bin ganz klar gegen Polemik bei diesem
Thema. Ich bin ganz klar gegen gefühlsduselige Petitionen.
({0})
Ich glaube, das ist nicht im Interesse der Mütter und Väter und nicht im Interesse der Hebammen. Die Hebammen haben Sachlichkeit verdient; Herr Lauterbach und
Herr Minister Gröhe haben es angesprochen.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Regierungskoalition weiß um die Wichtigkeit und die Leistungen der
Hebammen. Es ist notwendig, dass Hebammen flächendeckende Angebote für junge Familien machen. Deshalb
ist im Koalitionsvertrag ganz klar festgeschrieben, die
Versorgung mit Geburtshilfe sicherzustellen sowie für
eine angemessene - da stimme ich Ihnen völlig zu - Vergütung zu sorgen. Herr Minister Gröhe und viele Mitglieder der Regierungskoalition haben in den letzten Tagen viele konstruktive Gespräche mit den Hebammen
geführt. Dadurch ist viel Klarheit geschaffen worden,
worin die Brisanz dieses Themas liegt.
Die aktuelle Situation der Hebammen in Deutschland
ist natürlich von dem Problem der gestiegenen Haftpflichtprämien stark geprägt. Eine kostendeckende und
auskömmliche Tätigkeit ist momentan zugegebenermaßen schwer möglich. Aber man muss auch sagen, dass in
Anbetracht dieser Tatsache bereits Veränderungen der
Vergütungsstrukturen stattfanden. Das von der schwarzgelben Koalition 2012 verabschiedete GKV-Versorgungsstrukturgesetz beinhaltet positive Änderungen. In
§ 134 a Abs. 1 Satz 3 werden die Kostensteigerungen für
die freiberuflichen Hebammen berücksichtigt.
({2})
Das wurde bereits mehrmals gesagt. Darunter fallen
auch die steigenden Haftpflichtprämien. Das GKV-System beteiligt sich an diesen Kosten. In den letzten Jahren
ergaben sich daraus Vergütungssteigerungen im zweistelligen Bereich. Zudem wird aktuell pro Hausgeburt
ein Ausgleich von 200 Euro für die steigenden Versicherungsprämien gezahlt.
Nichtsdestotrotz muss über die derzeitige Lage der
Hebammen in Deutschland intensiv diskutiert werden,
und das tun wir auch. Aus diesem Grund gab es innerhalb der interministeriellen Arbeitsgruppe intensive
Gespräche mit allen beteiligten Gruppen. Diese gingen über die Haftpflichtproblematik hinaus und tangierten - es wurde schon angesprochen - ebenfalls
Themen wie die Ausbildung und Weiterbildung von
Hebammen und natürlich die Qualitätssicherung in
der Geburtshilfe.
Meine Damen und Herren, ich glaube, wir alle sind
uns einig: Die Qualität der Versorgung hat im Gesundheitswesen höchste Priorität. Das müssen wir als Bundesregierung den werdenden Müttern und Vätern immer
wieder sagen.
({3})
Wenn wir aber über Qualität und Qualitätssicherung
reden, brauchen wir Daten. Ich fordere alle beteiligten
Seiten auf, die Datenlage zügig zu verbessern. Wir brauchen dies, damit die Argumentationsgrundlage für Diskussionen in der Zukunft geschaffen ist. Ich möchte eine
Diskussion aufgrund von Fakten führen.
Wie Herr Minister Gröhe bereits angesprochen hat,
wird der erste Bericht der Arbeitsgruppe im Verlauf des
Aprils erwartet. Ich erwarte von der Arbeitsgruppe ganz
konkrete Vorschläge, und ich glaube, die werden wir
auch bekommen. Ausgehend von dieser Grundlage müssen dann weiter gehende Diskussionen geführt werden.
Ich betone mit Blick auf die Interessen der Hebammen:
Wir brauchen eine sehr zeitnahe Umsetzung von konkreten Maßnahmen, damit den Hebammen in Deutschland
ein ganz klares Signal gesendet wird.
Meine Damen und Herren, ich bin mir sicher, dass in
diesem Haus bei diesem Thema Einigkeit zu zwei Punkten herrscht:
Erstens. Die ambulante Versorgung durch Hebammen
in Deutschland soll flächendeckend erhalten werden.
Zweitens. Es geht - das ist für mich als Vater und
auch für die Damen und Herren, die oben auf der Tribüne sitzen, sehr wichtig - um die Gesundheit von Mutter und Kind. Das sollten wir bei dieser ganzen Diskussion nicht vergessen.
({4})
Auch die Koalition weiß um die Dringlichkeit dieser
Maßnahmen. Gerade deshalb müssen diese Maßnahmen
rechtlich abgesichert und nachhaltig sein. Keinem ist mit
einem überhasteten Antrag geholfen, der fordert, diese
gesamtgesellschaftliche Aufgabe mit Schnellschüssen
abzuhandeln.
({5})
Wir brauchen harte Fakten. Warten Sie also bitte den Bericht der Arbeitsgruppe ab, damit wir tragfähige langfristige Lösungen finden - im Interesse von werdenden
Müttern und Vätern.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Vielen Dank, Herr Kollege Kühne. - Das Wort hat
Bettina Müller für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Protestaktionen der Hebammen wegen der Berufshaftpflicht begleiten uns nun schon einige Jahre. Wir erleben heute nicht die erste Debatte in dieser Sache, und
nicht zum ersten Mal solidarisieren sich die Mitbürgerinnen und Mitbürger berechtigterweise mit dem Anliegen
der Berufsverbände. Die Empörung ist verständlich. Der
drohende Ausstieg des letzten Versicherers zwingt zum
Handeln, und es wird auch gehandelt. Der Minister und
Karl Lauterbach haben geschildert, dass alle Beteiligten
ressortübergreifend an Lösungsmöglichkeiten arbeiten.
SPD und Union haben das im Koalitionsvertrag vereinbart. Der Bundesrat hat eine Entschließung verabschiedet. Heute liegt uns ein Antrag der Grünen vor. Das
ist ein wichtiges Signal an die Hebammen: Es wird bereits intensiv und gemeinsam nach Lösungen gesucht.
({0})
Mir ist es aber auch wichtig, heute noch eine andere
Botschaft auszusenden, nämlich die, dass in Deutschland
die Geburtshilfe insgesamt nicht in Gefahr ist. Weder
steht ein Berufszweig vor dem Aus, noch werden
Schwangere alleingelassen. Auch das Wahlrecht wollen
wir nicht zur Disposition stellen. So emotional das
Thema auch ist, meine sehr verehrten Damen und Herren: Wir alle sollten uns um eine Versachlichung der Debatte bemühen.
({1})
Zur sachlichen Darstellung gehört, dass in Deutschland fast alle Geburten, nämlich 98 Prozent, in einem
Krankenhaus erfolgen. Nur etwa 2 Prozent der Frauen
entscheiden sich für eine außerklinische Geburt, zu
Hause oder in einem Geburtshaus.
({2})
Um diese Geburten kümmern sich bundesweit circa
3 500 freiberufliche von insgesamt 21 000 Hebammen.
Die Zahlen des IGES von 2012 zeigen: Im Krankenhaus werden etwa 20 Prozent der Geburten von Freiberuflichen betreut, die dort als Beleghebammen arbeiten.
Viele Beleghebammen begleiten zusätzlich auch Hausgeburten und kommen mit den Zuschlägen der Kassen
für die Prämien gerade so über die Runden; das ist schon
dargestellt worden. Existenzbedrohend ist die Situation
natürlich für die Hebammen, die ausschließlich im außerklinischen Bereich arbeiten.
Es steht also nicht die gesamte Geburtshilfe infrage,
meine sehr verehrten Damen und Herren, sondern es
geht um ein Problem der Berufshaftpflicht für einen Teil
der Hebammen und bei einem kleinen Teil der Geburten.
Aber ganz klar ist: Dieses Problem muss dringend gelöst
werden. Die Hebammen sollen sich nicht länger von einer Vereinbarung mit den Krankenkassen zur anderen
hangeln müssen. Auch die Versicherungswirtschaft darf
sich nicht aus der Verantwortung stehlen.
({3})
Der Antrag der Grünen geht insofern in die richtige
Richtung, als eine langfristige Neuordnung der Berufshaftpflicht für die Gesundheitsberufe gefordert wird.
Aber über diese Überlegungen besteht ohnehin Konsens
zwischen allen Akteuren.
({4})
Wir müssen jedoch auch die langfristigen Perspektiven für die Geburtshilfe sehr viel mehr in den Fokus rücken. Mit Blick auf die Trends und Herausforderungen
in der Gesundheitsversorgung ist die Haftpflicht letztlich
nur ein Thema unter vielen, wenn auch ein drängendes.
Der Blick auf andere wichtige Fragestellungen darf hierdurch jedoch nicht verstellt werden.
Die Geburtshilfe in der Fläche, im unterversorgten
ländlichen Raum, muss auch bei weiter sinkenden Geburtenzahlen sichergestellt sein. Das gilt für Geburten
im Krankenhaus ebenso wie für Hausgeburten.
({5})
Die Geburtshilfe ist aber auch hier nur Teil einer Debatte
um künftige Versorgungsstrukturen und damit Teil eines
ohnehin notwendigen Gesamtkonzeptes.
Die hohe Anzahl der Entbindungen durch Beleghebammen ist ein Beispiel, wie Krankenhäuser schon jetzt
mit Sparzwängen umgehen: Geburtsstationen werden abgebaut, Leistungen werden outgesourct und an Beleghebammen abgegeben. Natürlich garantieren Beleghebammen
das Wahlrecht der Frauen, sich - völlig zu Recht - eine
Hebamme ihres Vertrauens auszusuchen. Aber mir als Sozialdemokratin wäre es natürlich schon lieber, diese Hebammen hätten dann eine ordentlich bezahlte Festanstellung
und eine vom Krankenhaus bezahlte Haftpflichtversicherung und kein prekäres, freiberufliches Arbeitsverhältnis,
mit dem sie kaum über die Runden kommen.
({6})
Im Rahmen der ärztlichen Versorgung beginnt ja gerade eine kritische Diskussion über die Freiberuflichkeit.
Warum sollten wir dann ausgerechnet bei Hebammen
den umgekehrten Weg einschlagen? Natürlich müssen
wir zunächst für die freiberuflichen Hebammen in der
ambulanten Versorgung nach einer nachhaltigen Lösung
suchen. Sie müssen in künftige demografiefeste Versorgungsstrukturen eingebunden und auskömmlich vergütet
werden.
Die notwendige Lösung der Haftpflichtproblematik,
liebe Kolleginnen und Kollegen, kann allerdings nur der
Startschuss für eine weiter gehende Debatte sein. Damit
wird sich die SPD in den nächsten drei Jahren intensiv
beschäftigen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Vielen Dank, Frau Kollegin Müller. - Nächster Redner in der Debatte ist Erich Irlstorfer - ich hoffe, ich
habe es einigermaßen bayerisch ausgesprochen - für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Wir besprechen heute einen Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen zur aktuellen Debatte über Hebammen. Das heutige Thema ist seit Wochen Gegenstand
breiter gesellschaftlicher Diskussionen.
In den vergangenen Jahren sind die Kosten für die
Haftpflichtversicherung der Hebammen drastisch gestiegen. Sie haben sich in zehn Jahren nahezu verzehnfacht.
Die Prämien liegen aktuell bei 4 000 bis 5 000 Euro pro
Jahr. Angestellte Hebammen sowie solche, die keine Geburtshilfe leisten, sind von den Kostensteigerungen nicht
betroffen.
Grund für die Kostensteigerungen sind die hohen
Summen, die inzwischen vor Gerichten für Geburtsschäden erstritten werden. Anders als von einigen angenommen - das möchte ich in dieser Diskussion betonen -,
hat sich die Höhe der Haftpflichtprämien nicht aufgrund
einer Zunahme von Hebammenfehlern erhöht. Dank des
medizinischen Fortschritts können Menschen mit Behinderungen in der Folge solcher Fehler mit ihren Beeinträchtigungen deutlich länger als früher leben. Daher
sind die Schadensersatzsummen deutlich angestiegen.
Als Union haben wir die Situation der Hebammen
auch weiterhin im Blick. Die zuvor schon mehrfach angesprochene Arbeitsgruppe unter Beteiligung der Hebammenverbände wurde einberufen, um sämtliche
wichtigen Aspekte der Hebammenversorgung näher
zu untersuchen. Zur Klärung der Problematik ist auch
- ich glaube, das ist wichtig - der Gesamtverband der
Deutschen Versicherungswirtschaft mit einbezogen
worden. Der Abschlussbericht dieser Arbeitsgruppe
befindet sich gerade in der Abstimmung mit den Hebammenverbänden und wird demnächst veröffentlicht;
der Herr Minister hat es gesagt.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, es ist aus
meiner Sicht wichtig, diese Debatte auf Grundlage von
Daten und Fakten zu führen. Fakt ist eine Explosion der
Haftpflichtprämien für - nach Angaben des Deutschen
Hebammenverbandes - etwa 3 500 freiberufliche Hebammen sowie der Ausstieg der Nürnberger Versicherung
aus der Hebammenversicherung. Dies könnte nicht nur
zu einer Bedrohung dieses Berufsstandes, sondern damit
auch zu Versorgungsproblemen in der Geburtshilfe führen.
Richtig ist aber auch: Wenn immer weniger freiberufliche Hebammen Geburtshilfe anbieten können, wird in
Zukunft das Recht auf Wahlfreiheit des Geburtsortes
nicht mehr gewährleistet sein.
({0})
Schon jetzt gibt es sowohl in den städtischen Ballungsräumen als auch in dünner besiedelten Gebieten Engpässe in der Versorgung durch freiberufliche Hebammen.
Richtig, meine sehr geehrten Damen und Herren, ist
aber auch: Ein Großteil der Freiberuflerinnen hat sich
längst auf die Vor- und Nachsorge spezialisiert. Die
Zahl der Hausgeburten ist eher gering. Die Zahl der
Kinder, die in Deutschland außerhalb von Kliniken geboren werden, liegt seit Jahren zwischen rund 10 000
und 12 500 Kindern; diese Zahlen sind für mich nicht
unerheblich, aber so sind die Zahlen. Die meisten
Frauen, die ein Kind erwarten - das darf man nicht verschweigen -, gehen aus Sicherheitsgründen zur Geburt
lieber in ein Krankenhaus.
({1})
Als Abgeordneter der CSU vertrete ich die Ansicht,
dass es auch in Zukunft die freie Entscheidung einer
werdenden Mutter bleiben muss, ob sie zu Hause, in einem Geburtshaus oder in einem Krankenhaus entbinden
möchte.
({2})
In allen genannten Bereichen muss die Qualität der Versorgung gewährleistet bleiben. Eine moderne Gesundheitspolitik geht vom Lebensanfang bis zum Lebensende. Auch vor diesem Hintergrund muss sie sich an der
Qualitätsfrage orientieren.
({3})
Verschiedene medizinische Studien zeigen, dass
Hausgeburten gefährlicher ablaufen können - ich sage
bewusst: können - als Geburten in Kliniken. Viele
Hausgeburten enden im Krankenhaus. Hier ist eine umfassende Beratung der werdenden Eltern absolut notwendig. Auch muss über mögliche Konsequenzen in
Haftungsfragen diskutiert werden, wenn sich Eltern freiwillig und bewusst für diese Form der Geburt entscheiden.
Für uns als CDU/CSU-Fraktion ist klar: Die Versorgung in der Fläche im Bereich der Geburtshilfe muss gewährleistet bleiben. Zugleich stehen wir dazu, dass Hebammen angemessen vergütet werden müssen und die
Haftpflichtproblematik endlich gelöst wird.
Lassen Sie uns aber bitte den Bericht der Arbeitsgruppe abwarten. Nur so kann eine zielgerichtete Diskussion auf der Grundlage von Fakten geführt werden.
Sich vor Kenntnis sämtlicher Aspekte über eine bestimmte Fragestellung zu unterhalten, kann nicht Sinn
der Sache sein.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, zum Schluss:
Zum Teil sind die im Antrag der Grünen geforderten
Punkte, wie die Abbildung der Kostensteigerungen in
der Vergütung, bereits umgesetzt worden, andere werden
derzeit noch in den jeweiligen Institutionen diskutiert.
Aber ich sage auch: Alle Beteiligten und Betroffenen
brauchen dauerhaft tragfähige und finanzierbare Lösungen. Das ist notwendig. Deshalb glaube ich, dass es richtig ist, wenn dem vorliegenden Antrag heute nicht zugestimmt wird.
Herzlichen Dank.
({4})
Vielen Dank, Herr Kollege. Das ganze Haus gratuliert
Ihnen von Herzen zu Ihrer ersten Rede zu einem sehr
schönen Thema.
({0})
Wir wünschen Ihnen viel Erfolg bei Ihrer weiteren Arbeit im Deutschen Bundestag.
Nächste Rednerin ist Marina Kermer von der SPDFraktion.
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrten Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, das
Thema der heutigen Debatte beschäftigt uns nun schon
seit Jahren. Bisher wurde keine langfristig tragbare Lösung gefunden. Das ist auf Dauer weder für die Hebammen noch für die werdenden Mütter haltbar. Deshalb
werden wir das ändern. Das hat Minister Gröhe bereits
erklärt, und ich habe keinen Zweifel daran, dass uns das
gelingt.
({0})
Über die nunmehr abzuwartenden Modellvorschläge
werden wir dann mit Sicherheit sachlich reden. Bis dahin kann man nur ein paar der Annahmen aus dem heute
vorliegenden Antrag diskutieren und die eine oder andere Behauptung geraderücken.
Wir wissen: Hebammen leisten unverzichtbare Arbeit
vor, bei und immer stärker auch nach der Geburt; verstärkt auch für Frauen, die stationär entbunden haben.
Durch die kürzere Verweildauer im Krankenhaus nach
einer Entbindung wird die fachliche Nachsorge zu Hause
immer wichtiger.
Dazu kommen gesellschaftliche Faktoren. Den klassischen Familienverband gibt es immer seltener und damit
auch weniger direkte Hilfe und Unterstützung durch Familienangehörige. Hebammen sind vor Ort, bei den Familien und können besonders nach der Geburt erste
Warnzeichen der Überforderung erkennen und die Familien direkt unterstützen.
({1})
Wenn wir uns klar dazu bekennen, dass wir die Arbeit
der Hebammen wollen, müssen wir die Rahmenbedingungen so gestalten, dass sie ihre Arbeit verantworMarina Kermer
tungsvoll ausführen und davon auch leben können. Ich
denke, darin sind wir uns alle im Hause einig.
({2})
Uneinig sind wir uns bei der Bewertung der gegenwärtigen Versorgungslage. Der überwiegende Teil der
Geburten findet in Krankenhäusern statt. Nur rund
1,7 Prozent der Geburten erfolgen nicht stationär. In den
Krankenhäusern gab es laut Statistischem Bundesamt im
Jahr 2012 circa 888 Fachabteilungen für Frauenheilkunde und Geburtshilfe mit rund 33 400 Betten. Der
Nutzungsgrad der Betten lag bei 58,1 Prozent. Damit arbeiten die Krankenhäuser noch nicht an ihrer Kapazitätsgrenze. Ich finde es nicht richtig, Ängste zu schüren;
denn wir gehen nicht sehenden Auges in eine Unterversorgung bei der Geburtshilfe.
({3})
Was die Erreichbarkeit von Krankenhäusern mit Geburtshilfe angeht, wurde im IGES-Gutachten festgestellt: Für die Mehrheit der Frauen, nämlich für 88 Prozent, sind Krankenhäuser mit einer Entfernung von unter
10 Kilometern zu erreichen. Auch das spricht für eine
gute stationäre Versorgung. Richtig ist: Es gibt gerade in
ländlichen Räumen Regionen, die nicht optimal durch
stationäre Angebote versorgt sind. Hier müssen wir ansetzen. Denn die Wahlfreiheit zwischen stationärer und
nichtstationärer Entbindung setzt voraus, dass sich ein
Krankenhaus im Notfall in Reichweite befindet.
({4})
Darüber hinaus kommen bei 20 Prozent der geplanten
außerklinischen Geburten die Kinder doch im Krankenhaus zur Welt.
Ein Gedanke fehlt im vorliegenden Antrag völlig:
Das bloße Vorhandensein einer Versorgungseinrichtung
garantiert nicht automatisch eine qualitativ gute Versorgung, so wie das bloße Vorhandensein von Hebammen
noch keine sichere Geburt garantiert.
Wir haben das Thema „flächendeckende Versorgung
und Qualität“ in den Koalitionsvertrag aufgenommen.
Deshalb möchte ich an dieser Stelle daran erinnern, worum es uns primär geht. Es geht nicht nur um Haftpflichtversicherungsprämien und die Frage, ob und wie
lange sich die Ausübung des Berufs der Hebamme finanziell rechnet. Es geht um Menschenleben - um das der
Kinder und der Mütter.
({5})
Ja, die Entscheidung für eine Hebamme ist eine extrem emotionale Entscheidung. Nach einer langen, oft
sehnsüchtig erwarteten Schwangerschaft steht der Geburtstermin bevor. Neben der Vorfreude auf das Baby
gibt es auch Sorge und Angst im Hinblick darauf, dass
die Geburt für Mutter und Kind hoffentlich gut verlaufen
wird. Genau dann hat man die wichtige Entscheidung
über die Art der Entbindung zu treffen, und zwar für sich
und das Kind. Deshalb sollten die werdenden Eltern wissen, welche Hebamme wie viele Geburten mit welchen
Erfolgen oder Komplikationen aufweisen kann, bevor
sie sich entscheiden - entscheiden für eine stationäre
oder außerstationäre Entbindung, mit der Hebamme des
Vertrauens in der Klinik, im Geburtshaus oder in der vertrauten familiären Atmosphäre.
Vielen Dank.
({6})
Vielen Dank, Kollegin Kermer. Auch für Sie vom
ganzen Haus Beifall für Ihre erste Rede.
({0})
Wir wünschen Ihnen von Herzen eine gute Arbeit hier
im Deutschen Bundestag.
Nächste und abschließende Rednerin in dieser Debatte ist Dr. Katja Leikert für die CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Ich freue mich sehr, dass ich meine erste
Rede im Deutschen Bundestag zu dem wichtigen Thema
der Hebammen halten darf.
Es gibt wohl wenige so bedeutsame Veränderungen
im Leben wie die Geburt eines Kindes, und es ist für die
Eltern gut, in dieser Situation auf die Hilfe der Hebammen setzen zu können. Es ist noch gar nicht so lange her,
da war ich selbst sehr dankbar, dass ich den Beistand von
Hebammen hatte. Meine Kinder sind jetzt vier und sechs
Jahre alt, und ich erinnere mich noch genau, wie wichtig
mir die Unterstützung durch meine Hebamme war. Hebammen geben uns die Sicherheit, die wir brauchen, um
in die Elternrolle hineinzuwachsen.
({0})
Wir von der CDU/CSU wissen, wovon wir reden. Ich
habe mir einmal erlaubt, nachzuzählen: Allein unsere
Fraktion kommt auf 524 Kinder; das sind 1,7 Kinder pro
Abgeordnetem.
({1})
Und wir reden nicht nur, wir handeln auch; Minister
Gröhe hat das ausgeführt.
({2})
Jetzt würde ich ja gerne eine Nachfrage stellen; ich
lasse es aber, Frau Kollegin.
Wie ist das in Nordrhein-Westfalen, wo Rot-Grün regiert? Hier wurde 2012 ein Runder Tisch Geburtshilfe
angekündigt; erst in diesem Jahr hat der Runde Tisch
zum ersten Mal getagt.
({0})
Anders als die lautstarken Stimmen der Grünen - wie
wir sie eben gehört haben - es dargestellt haben, haben
wir in der letzten Legislatur den Stellenwert von Hebammen insgesamt erheblich verbessert.
({1})
Gerade was die Unterstützung von zumeist jungen Familien in schwierigen Lebenslagen betrifft, war es eine sehr
wichtige Entscheidung der christlich-liberalen Koalition,
das Modell der Familienhebammen einzuführen. Es ist
kein Zufall, den Kinderschutz mit den Hebammen zu
verknüpfen, da die Hebammen ganz eng an den Eltern
dran sind und sich Zugänge erschließen, die offizielle
Behörden so gar nicht aufbauen können.
({2})
Die Familienhebammen haben eine Brückenfunktion
und leisten dadurch einen wichtigen Beitrag zum Wohle
der Kleinsten.
Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen, ich
möchte an dieser Stelle Hermann Gröhe ganz ausdrücklich dafür danken, dass er sich so kurz nach seiner Nominierung als Minister des Themas der Haftpflichtproblematik engagiert angenommen hat.
({3})
Wir haben es eben schon mehrmals gehört: Gerade die
enorm gestiegenen Prämien der Berufshaftpflicht für die
freiberuflichen Hebammen - es ist wichtig, da zu differenzieren - in der Geburtshilfe sind zu einer existenzbedrohenden Belastung geworden.
Ich denke, von der heutigen Debatte geht ein klares
Signal an die Hebammen aus: Wir werden dafür sorgen,
dass zukünftig jede Hebamme eine bezahlbare Versicherung erhält. Es ist jetzt wichtig, dass der bereits angesprochene interministerielle Bericht schnell vorgelegt
wird und schnell Lösungen angeboten werden. Ich sage
aber auch, dass die Selbstverwaltung und insbesondere
die Versicherungen aufgefordert sind, sich konstruktiv
an der Lösung des Problems zu beteiligen und ihre gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen.
Darüber hinaus haben wir bereits im Koalitionsvertrag ein klares Bekenntnis zum Erhalt der flächendeckenden Hebammenversorgung abgelegt. Insofern können sich die Hebammen darauf verlassen, dass eine
Regelung in ihrem Sinne - und damit natürlich auch im
Sinne aller Eltern - gefunden wird.
Abschließend möchte ich gerne noch einen Punkt ansprechen - es ist ein eher frauenpolitischer Punkt -: Ich
finde es ganz großartig, dass die Hebammen ihre politischen Forderungen hier in Berlin so klar zur Sprache gebracht haben. Es gibt wohl keinen Abgeordneten und
keine Abgeordnete, der oder die bisher keinen Brief von
den Hebammen erhalten hat.
Am Freitag - das wissen Sie alle - ist der Equal Pay
Day. Dabei geht es um die Entlohnung in klassischen
Frauenberufen. Gerade die finanzielle Würdigung der
Arbeit rund um die Geburtshilfe sollte in einem Land,
das seit Jahren über Kindermangel debattiert, eine
Selbstverständlichkeit sein.
({4})
Und es ist richtig, dass auch die Vergütung von Hebammenleistungen in der freiberuflichen Geburtshilfe in den
letzten Jahren verbessert wurde.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie
mich zum Schluss noch einmal unsere Anliegen zusammenfassen. Wir setzen uns für eine flächendeckende
Versorgung im Bereich der Geburtshilfe ein, wir wollen
die Wahlfreiheit von Eltern sicherstellen, aber auch an
ihre damit verbundene Verantwortung appellieren, wir
setzen uns für eine angemessene Vergütung der Hebammen ein, und wir sorgen schnellstmöglich für eine befriedigende Lösung in der Haftpflichtfrage.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({5})
Vielen Dank, Kollegin Leikert. Das Haus gratuliert
Ihnen zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag.
({0})
Zu Ihrer Anregung. Sie haben von 1,7 Kindern pro
CDU/CSU-Abgeordneten gesprochen. Vielleicht lassen
wir den Wissenschaftlichen Dienst checken, wie das bei
den anderen Fraktionen aussieht. Dann wissen wir, ob
dort auch gearbeitet wird.
({1})
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/850 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen; Herr Kollege
Irlstorfer, es wird heute also nicht abgestimmt, sondern
überwiesen. Sind Sie damit einverstanden? - Ja, Sie sind
einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlos-
sen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 19 a bis 19 e sowie
Zusatzpunkt 3 auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Vorschlag für einen Beschluss des Rates zur Aufhebung des Beschlusses 2007/124/EG,
Euratom des Rates
Drucksache 18/824
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({2})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Vizepräsidentin Claudia Roth
b) Erste Beratung des von der Fraktion DIE LINKE
eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur
Änderung des Grundgesetzes
({3})
Drucksache 18/838
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung ({4})
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Jelpke, Matthias W. Birkwald, Jan Korte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Renten für Leistungsberechtigte des GhettoRentengesetzes ab dem Jahr 1997 nachträglich auszahlen
Drucksache 18/636
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({5})
Innenausschuss
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Herbert
Behrens, Sabine Leidig, Thomas Lutze, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Keine Einführung einer Pkw-Maut in
Deutschland
Drucksache 18/806
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur ({6})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Haushaltsauschuss
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Maria
Klein-Schmeink, Elisabeth Scharfenberg,
Kordula Schulz-Asche, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Das psychiatrische Entgeltsystem überarbeiten und das Versorgungssystem qualitativ
weiterentwickeln
Drucksache 18/849
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
ZP 3 Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Erleichterung
der Umsetzung der Grundbuchamtsreform in
Baden-Württemberg
Drucksache 18/70
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a bis 20 i auf.
Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen,
zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 20 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 8. April 2013 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und
der Republik Östlich des Uruguay über Soziale Sicherheit
Drucksache 18/272
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({7})
Drucksache 18/864
Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/864,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/272 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, um ihr Handzeichen.
- Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung von allen Fraktionen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 20 b:
Beratung der Beschlussempfehlungen und Berichte des Ausschusses für Wirtschaft und Energie ({8})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Joachim
Pfeiffer, Hansjörg Durz, Axel Knoerig, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Wolfgang Tiefensee,
Lars Klingbeil, Matthias Ilgen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Technologie-, Innovations- und Gründungsstandort Deutschland stärken - Potenziale
der Digitalen Wirtschaft für Wachstum und
nachhaltige Beschäftigung ausschöpfen und
digitale Infrastruktur ausbauen
Drucksachen 18/764 ({9}), 18/872
- zu dem Antrag der Abgeordneten Halina
Wawzyniak, Herbert Behrens, Dr. Petra Sitte,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Digitale Gründungen unterstützen - Zukunftsfähige Rahmenbedingungen für die digitale Wirtschaft schaffen
Drucksachen 18/771, 18/873
Wir stimmen zunächst über die Beschlussempfehlung
des Ausschusses für Wirtschaft und Energie zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD mit dem
Titel „Technologie-, Innovations- und Gründungsstand1812
Vizepräsidentin Claudia Roth
ort Deutschland stärken - Potenziale der Digitalen Wirtschaft für Wachstum und nachhaltige Beschäftigung ausschöpfen und digitale Infrastruktur ausbauen“ ab. Der
Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 18/872, den Antrag der Fraktionen der
CDU/CSU und SPD auf Drucksache 18/764 ({10}) anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Fraktionen
von CDU/CSU und SPD angenommen, bei Ablehnung
der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen.
({11})
- Das war, glaube ich, ein spaßiger Zwischenruf.
Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Energie zu dem Antrag der
Fraktion Die Linke mit dem Titel „Digitale Gründungen
unterstützen - Zukunftsfähige Rahmenbedingungen für
die digitale Wirtschaft schaffen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/873, den Antrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 18/771 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der CDU/CSU- und der SPD-Fraktion bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen und Neinstimmen
der Linken angenommen.
Tagesordnungspunkt 20 c bis 20 i. Wir kommen zu
den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Liebe Besucher auf der Tribüne, es tut mir leid, aber
ich kann Ihnen das jetzt nicht im Einzelnen erklären. Sie
werden nun erleben, wie im Rahmen des Petitionsverfahrens abgestimmt wird.
Tagesordnungspunkt 20 c:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({12})
Sammelübersicht 21 zu Petitionen
Drucksache 18/785
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist die Sammelübersicht 21 angenommen.
Tagesordnungspunkt 20 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({13})
Sammelübersicht 22 zu Petitionen
Drucksache 18/786
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 22 ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordungspunkt 20 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({14})
Sammelübersicht 23 zu Petitionen
Drucksache 18/787
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist die Sammelübersicht 23 mit den
Stimmen von CDU/CSU- und SPD-Fraktion bei Gegenstimmen der Linken und Enthaltung von Bündnis 90/Die
Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 20 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({15})
Sammelübersicht 24 zu Petitionen
Drucksache 18/788
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 24 ist mit den Stimmen aller Fraktionen angenommen.
Tagesordnungspunkt 20 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({16})
Sammelübersicht 25 zu Petitionen
Drucksache 18/789
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist die Sammelübersicht 25 mit den
Stimmen der CDU/CSU-Fraktion, der SPD-Fraktion und
der Linken bei Neinstimmen von Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 20 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({17})
Sammelübersicht 26 zu Petitionen
Drucksache 18/790
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist die Sammelübersicht 26 bei Zustimmung von CDU/CSU- und SPD-Fraktion, Neinstimmen von Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der
Linken angenommen.
Tagesordnungspunkt 20 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({18})
Sammelübersicht 27 zu Petitionen
Drucksache 18/791
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist die Sammelübersicht 27 mit den
Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion
bei Neinstimmen von Bündnis 90/Die Grünen und der
Linken angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 4 auf:
Wahl der Mitglieder des Kuratoriums der
„Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden
Europas“
Drucksache 18/845
Dazu liegt ein Wahlvorschlag der Fraktionen der
CDU/CSU, der SPD, der Linken und des Bündnisses 90/
Die Grünen auf Drucksache 18/845 vor. Wer stimmt für
Vizepräsidentin Claudia Roth
diesen Wahlvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Damit ist der Wahlvorschlag von allen
Mitgliedern hier im Hohen Haus einstimmig angenommen.
Interfraktionell ist vereinbart, die heutige Tagesordnung um die Beratung von zwei Beschlussempfehlungen des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung zu zwei Anträgen auf Genehmigung
zur Fortsetzung eines Strafverfahrens zu erweitern und
diese jetzt als Zusatzpunkte 7 und 8 aufzurufen. Sind Sie
damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so
beschlossen.
Somit rufe ich jetzt die Zusatzpunkte 7 und 8 auf:
ZP 7 Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({19})
Antrag auf Genehmigung zur Fortführung eines Strafverfahrens in der 18. Wahlperiode
Drucksache 18/876
ZP 8 Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({20})
Antrag auf Genehmigung zur Fortführung eines Strafverfahrens in der 18. Wahlperiode
Drucksache 18/877
Bevor wir zur Abstimmung über die beiden soeben
genannten Beschlussempfehlungen kommen, erteile ich
nach § 31 der Geschäftsordnung Katja Kipping für die
Linke das Wort.
Frau Präsidentin! Ich möchte eine persönliche Erklärung abgeben, warum ich gegen die hier vorliegenden
Beschlussvorlagen stimmen werde; das ist für mich eine
sehr persönliche Angelegenheit.
Sie von der Union, den Grünen und der SPD haben im
Ausschuss der Aufhebung der Immunität von Caren Lay
und Michael Leutert zugestimmt. Sie behandeln das als
eine rein formale Angelegenheit; vielleicht haben Sie damit, rein formalistisch gesehen, auch recht. Aber hier
handelt es sich eben nicht um eine formale Angelegenheit. Das, was wir in Dresden jahrelang am 13. Februar
erleben mussten, war alles andere als eine Formalie.
({0})
Jahrelang habe ich mich als Dresdnerin geschämt, weil
meine Heimatstadt am 13. Februar zum Gebiet für den
europaweit größten Naziaufmarsch wurde. Jahrelang
mussten wir erleben, wie die Nazis das stille Gedenken
der Dresdner für ihre Form von braunem Geschichtsrevisionismus missbraucht haben.
({1})
Wie Sie wissen, haben wir immer Gegenaktionen
durchgeführt, Kundgebungen mit Kerzen. Sie waren natürlich symbolisch wichtig. Aber sie wirkten angesichts
der Fackelzüge der braunen Brut, die ungehindert durch
die Dresdner Innenstadt gezogen ist, verdammt hilflos.
Vor diesem Hintergrund war ich froh, als sich endlich ein
breites Bündnis gefunden hat, das gesagt hat: Das müssen wir ändern! - Tausende, ja Zehntausende haben sich
entschieden: Wir stellen uns den Nazis friedlich, aber
entschieden in den Weg.
({2})
Darunter waren auch Caren, Micha, ich und viele weitere Abgeordnete aus unterschiedlichen Fraktionen.
({3})
- Ja, auch aus anderen Parteien.
Wenn man wusste, wie sich die braune Gewalt in
Sachsen ausgeweitet hat, und wenn man, wie ich, erlebt
hat, wie diese braune Brut ungehindert durch die Dresdner Innenstadt zog, dann konnte man sich an diesem Tag
nicht hinter Formalien verstecken. Da gab es einfach etwas, das größer war. In mir hat alles gerufen: Hier musst
du deinem Gewissen folgen! Hier musst du Gesicht zeigen! Hier kannst du nicht fragen, ob wirklich jede Sitzblockade genehmigt ist! - Ich bin froh, dass viele so gedacht haben.
({4})
Die vielen haben dabei viel auf sich genommen. Es war
an diesem Tag verdammt kalt. An vielen Kreuzungen
gab es keine Toilette. Eine drückende Blase, kalte Füße das war das Mindeste, was man in Kauf genommen hat.
({5})
Heute geht es um die Aufhebung der Immunität von
Caren Lay und Michael Leutert. Da ich mit beiden auf
derselben Kreuzung war, weiß ich, dass auch andere Abgeordnete, auch Abgeordnete anderer Fraktionen, dort
waren. Natürlich steht die Frage im Raum: Warum geht
es heute nur um die Aufhebung der Immunität dieser
beiden? Die Antwort ist ganz einfach: Es war ein NPDAnwalt, der sich im Nachhinein Zeitungsfotos angeschaut hat, um willkürlich Strafanzeige gegen bekannte
Gesichter zu erheben. Es war also ein Anwalt jener Nazipartei, deren Vertreter im Sächsischen Landtag vom
„Bomben-Holocaust“ gesprochen und damit eines der
schlimmsten Menschheitsverbrechen der Geschichte
verharmlost haben.
Können Sie sich vorstellen, wie das in den Ohren der
Jüdischen Gemeinde klingt? Wir hatten in Dresden einst
eine sehr reiche jüdische Gemeinde mit 5 000 Mitgliedern. Nur 41 davon haben den Holocaust in Dresden
überlebt. Sie müssen sich heute Hohn und Spott von den
Nazis gefallen lassen, und deren Anwalt erstattet jetzt
eine Strafanzeige. Ich finde, mit solchen Nazianwälten
darf man sich nicht gemein machen!
({6})
- Ja, Sie schütteln den Kopf, weil Sie das offensichtlich
immer noch als eine Formalie behandeln.
Ich sage Ihnen: Teile der sächsischen Justiz und der
sächsischen Polizei sehen das offensichtlich anders als
ich. Sie sind verdammt eifrig, wenn es darum geht, die
antifaschistische Zivilcourage zu kriminalisieren. Reden
wir über den Fall von Pfarrer König: Das Verfahren
musste inzwischen eingestellt werden, weil man festgestellt hat, dass die Polizei entlastende Beweise einfach
unterschlagen hat, und weil man festgestellt hat, dass
einseitig ermittelt worden ist. Einem jungen Familienvater drohen jahrelange Haftstrafen. Flächendeckend wurden die Telefone Zehntausender Leute einfach überwacht. Gleichzeitig versagt ebenjener sächsische
Sicherheitsapparat, wenn es darum geht, Opfer von brauner Gewalt zu schützen.
Sie alle haben sicherlich von dem jungen Paar in Hoyerswerda gehört. Die beiden sind bekennende Antifaschisten. Nazis sind in ihre Wohnung eingebrochen und
haben der Frau sogar eine Vergewaltigung angedroht.
Die sächsischen Sicherheitsbehörden wussten nichts zu
deren Schutz zu tun. Sie mussten umziehen, mussten die
Stadt verlassen.
({7})
Wenn ich den Eifer bei der Verfolgung und Kriminalisierung von antifaschistischer Zivilcourage und das jämmerliche Versagen, wenn es um den Schutz der Opfer
brauner Gewalt geht, gegenüberstelle, muss ich sagen:
Dafür fehlen mir jegliche zivilisierten Worte. Das finde
ich beschämend und peinlich.
({8})
Ich komme zum Schluss. Die heutige Immunitätsaufhebung ist nur ein Mosaikstein in diesem größeren Gebilde. Deswegen stimme ich dagegen. Als Dresdnerin
und Demokratin sage ich: Danke schön! Ein Danke an
all jene, die trotz Schikane und klirrender Kälte mit dazu
beigetragen haben, dass der europaweit größte Naziaufmarsch in Dresden Geschichte wird. Auch in Zukunft
muss gelten: Kein Fußbreit den Nazis!
Danke schön.
({9})
Danke, Frau Kollegin. - Um das noch einmal klarzustellen: Das war eine Erklärung nach § 31 unserer Geschäftsordnung. Den Eindruck, der möglicherweise entstanden ist, dass sich diejenigen, die dem Antrag
zustimmen, mit den Anliegen von Nazianwälten gemein
machen, weise ich zurück.
({0})
Das Wort hat nach § 31 Abs. 1 der Geschäftsordnung
der Kollege Wadephul.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir hatten eigentlich vereinbart, hierzu nicht zu
sprechen. Dennoch möchte ich nun als Vorsitzender des
Ausschusses in aller Kürze das aufnehmen, was die Frau
Präsidentin gesagt hat.
Wir haben in dieser Wahlperiode, uns dabei auf umfängliche Erörterungen in der vergangenen Wahlperiode
stützend, in unserem Ausschuss unter einer intensiven
Teilnahme aller Beteiligten eine Entscheidung getroffen.
Unter rein immunitätsrechtlichen Gesichtspunkten hatten wir die Frage zu entscheiden, ob wir der Durchführung des entsprechenden Verfahrens zustimmen, ja oder
nein. Weil es unsere Arbeit diskreditieren würde, kann
ich nicht akzeptieren, dass Sie uns im Ansatz unterstellen, damit eine politische Meinungsäußerung zu verbinden, die irgendein Mitglied des Ausschusses auch nur in
die Nähe von faschistischen Umtrieben bringen könnte.
Ich kann auch nicht akzeptieren, dass Sie ein Verfahren,
was sich dieses Hohe Haus auf der Grundlage des
Grundrechtsschutzes der Immunität gegeben hat, als formalistisch diskreditieren. Formalien haben in einem
Rechtsstaat ihren Sinn und ihren Zweck. Sie zu erfüllen,
ist manchmal nicht leicht. Unabhängig davon sollten wir
den Konsens der Demokraten gerade bei der Bekämpfung von faschistischen Umtrieben nicht infrage stellen.
Ich würde es für sinnvoll halten, wenn entsprechende
Auseinandersetzungen, auch über die Frage der Demonstration dort in Dresden, in einem anderen Rahmen als
diesem geführt würden, wenn die Mitglieder dieses Ausschusses, die sich die Sache nicht leicht gemacht haben,
nicht in dieser Art und Weise angegriffen werden würden.
Herzlichen Dank.
({0})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Das Wort zu einer Erklärung zur Abstimmung nach § 31 Abs. 1 der Geschäftsordnung hat Britta Haßelmann für Bündnis 90/
Die Grünen.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Da ich an der Abstimmung mitgewirkt habe, darf ich, glaube ich, im Gegensatz zu Ihnen, Frau Kipping, hier auch eine persönliche Erklärung abgeben. Sie nutzen ja anscheinend das
Forum, um eine politische Erklärung abzugeben und vor
allen Dingen um alle, die Ihre Auffassung nicht teilen,
zu diskreditieren und hinsichtlich der Neonazi-Aufmärsche in Dresden in eine Ecke zu stellen, die völlig inakzeptabel ist.
({0})
Es gibt keinen Grund dafür. Sie wissen genauso gut
wie ich, wie Monika Lazar, wie viele andere von uns, die
mit anderen Leuten zusammen in Dresden auf der Straße
gestanden haben,
({1})
dass es wichtig ist, Zivilcourage zu zeigen. Sie machen
aber wieder den Fehler, zu verwechseln, dass es hier um
ein Verfahren in einer Immunitätssache geht und nicht
darum, zu beurteilen, ob man Nazis in Deutschland
Raum gibt oder nicht.
({2})
Es gibt über 200 Ermittlungsverfahren, über 200 Menschen mussten sich der Justiz gegenüber verantworten.
({3})
Woher leiten Sie eigentlich das Recht ab, dass zwei von
Ihnen, zwei von uns aus dem Deutschen Bundestag, sich
durch Nichtaufhebung ihrer Immunität einem solchen
Verfahren entziehen können sollen?
({4})
Zivilcourage bedeutet nicht, dass wir ein Privileg gegenüber anderen Bürgerinnen und Bürgern haben, wenn
es um Ermittlungen geht.
({5})
Wann verstehen Sie das? Ich habe es einfach satt, wenn
Zivilcourage wie eine Monstranz vor uns hergetragen
wird. Ich schätze wahnsinnig viele Leute, die sich engagieren, die dafür auch Sachen in Kauf nehmen, die verdammt schwer auszuhalten sind; aber nichts rechtfertigt,
wenn man als Abgeordneter glaubt, anders behandelt
werden zu können
({6})
als jede Bürgerin und jeder Bürger in diesem Land.
({7})
Ich muss dann auch mit diesen Folgen rechnen und kann
doch, verdammt noch mal, dann nicht darauf hoffen,
dass, weil ich den Status einer Abgeordneten habe, das,
was für andere gilt, für mich nicht gilt. Das finde ich
wirklich problematisch an der Frage. Das ist ein Fall aus
der 17. Wahlperiode. Ich will mich in der Sache dazu gar
nicht äußern;
({8})
das ist hier nicht der Ort dafür. Sie wissen, dass das ein
internes Verfahren ist. Ich bin neu in diesem Ausschuss.
Ich habe extra Akteneinsicht genommen. Ich kann nicht
verstehen, wieso Sie einem solchen Verfahren an der
Stelle widersprechen.
({9})
Danke, Frau Kollegin.
Zur Erklärung: In diesem Verfahren sind keine Zwischenbemerkungen bzw. Zwischenfragen möglich. Deswegen konnte ich der Bitte von Christian Ströbele nicht
entsprechen.
Aber der Kollege Dr. Gysi hat, wenn er will - das ist
mir gerade angekündigt worden -, nach § 31 Abs. 1 der
Geschäftsordnung die Möglichkeit, eine Erklärung zur
Abstimmung abzugeben.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ganz
kurz: Im Fall André Hahn, den die gleiche Angelegenheit betrifft, haben SPD und Grüne im Sächsischen
Landtag gegen die Aufhebung der Immunität gestimmt.
({0})
Jetzt sage ich etwas zu Ihrem Argument, weil es mich
ärgert, wenn Sie sagen, es geht um Privilegien für zwei
Leute im Unterschied zu anderen. Ganz im Gegenteil,
wenn der Bundestag in diesem Falle sagte: „Wir heben
die Immunität nicht auf“, hätten wir allen anderen geholfen. Das wäre entscheidend gewesen.
Danke.
({1})
Es gibt jetzt eine ganze Reihe von persönlichen Erklärungen, die nach unseren Regeln zu gewähren sind.
Dürfte ich einmal ganz kurz die Parlamentarischen Geschäftsführer zu mir bitten?
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich weiß, das ist ein
hochemotionales Thema; aber die Parlamentarischen
Geschäftsführerinnen und Geschäftsführer haben sich
darauf geeinigt, vorzuschlagen, dass diejenigen, die sich
jetzt noch für eine Erklärung zur Abstimmung gemeldet
haben, diese Erklärung bitte schriftlich einbringen,
({1})
weil wir sonst eine riesenlange Debatte bekommen und
ich nicht weiß, wo ich anfangen und wo ich aufhören
soll. Ich bitte, das anzunehmen.
({2})
Vizepräsidentin Claudia Roth
Christian Ströbele, bitte.
({3})
Frau Präsidentin, ich bin damit nicht einverstanden.
({0})
In der Geschäftsordnung steht, dass man eine persönliche Erklärung abgeben kann. Sie können höchstens sagen: nach der Abstimmung. Ich rede auch gerne nach der
Abstimmung, wenn Sie das wünschen. Aber dass wir
überhaupt nichts dazu sagen können, ist ein ernstes Problem hier. Ich möchte mich auch dazu äußern.
({1})
Es geht hier nicht um Stunden, sondern vielleicht um
zehn Minuten, die das hier länger dauert.
Nein, es geht nicht um zehn Minuten, sondern um
sehr viel mehr, weil sich noch sehr viele Kollegen gemeldet hätten.
({0})
Es ist nicht so, dass Sie gar nichts sagen dürfen, sondern ich habe die große Bitte, dass Sie Ihre Erklärungen,
wie bei anderen Abstimmungen auch, schriftlich abgeben.
({1})
Ich bitte Sie sehr, dem zuzustimmen, was die Geschäfts-
führer und Geschäftsführerinnen jetzt vereinbart haben,
weil das Instrument sonst dazu führt, dass uns die Zeit
ein bisschen aus dem Ruder läuft. Sind Sie einverstan-
den? - Vielen Dank.
Ich bitte Christian Ströbele und alle anderen, ihre Er-
klärungen zur Abstimmung schriftlich abzugeben.1)
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die zwei Be-
schlussempfehlungen.
Der Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Ge-
schäftsordnung empfiehlt in seinen Beschlussempfeh-
lungen auf den Drucksachen 18/876 und 18/877, die Ge-
nehmigungen zur Fortführung von Strafverfahren in der
18. Wahlperiode zu erteilen.
Zusatzpunkt 7. Wer stimmt für die Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 18/876? - Wer stimmt dagegen? -
Wer enthält sich? - Damit ist die Beschlussempfehlung
mit Stimmen der Fraktionen von CDU/CSU, SPD und
Bündnis 90/Die Grünen bei Ablehnung der Linken, eini-
1) Anlage 2
ger Kolleginnen und Kollegen der SPD und einer Kollegin sowie eines Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen
angenommen.
Ich bedanke mich für Ihr Einsehen, Ihre Erklärungen
schriftlich abzugeben, weil wir sonst tatsächlich außerhalb unseres Zeitrahmens gekommen wären.
({2})
Zusatzpunkt 8. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/877? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Damit ist die Beschlussempfehlung
mit den Stimmen der Fraktionen von CDU/CSU, SPD
und Bündnis 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der Linken angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Einsetzung eines Untersuchungsausschusses
Drucksache 18/843
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Dr. Patrick
Sensburg für die CDU/CSU das Wort.
({3})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich hoffe, dass wir nach dieser doch sehr aufgeheizten Debatte wieder zur Sache zurückkommen,
diesen Sachgegenstand, der genauso viel Brisanz bietet,
gemeinschaftlich, gemeinsam debattieren und den Untersuchungsausschuss einsetzen können.
Ich glaube, dass wir am Anfang einer Zeit sind, in der
wir auf der einen Seite realisieren, dass uns die neuen
Medien - auch das Internet - unheimliche Chancen bieten, während wir auf der anderen Seite aber auch erkennen müssen, dass der Bereich der neuen Medien - das
gilt auch für das Internet - kein schrankenloser, unreglementierter Raum sein darf und auch Staaten und große
Unternehmen Regeln und Schranken brauchen.
({0})
Ich bin sehr glücklich, dass wir uns über alle Fraktionen
hinweg einig sind, einen Untersuchungsausschuss einzusetzen, und dass wir schon nach der Debatte am 13. Februar erkannt haben, dass die verdachtsunabhängige
massenhafte Erfassung und Auswertung von Daten deutscher Bürger und Unternehmen nicht hinnehmbar sind.
({1})
Auf den Einwurf der Kollegin Wawzyniak vom
13. Februar möchte ich kurz eingehen. Ihr Einwurf war,
ob das auch gilt, wenn staatliche Institutionen in
Deutschland das so handhaben würden. Das sehe ich genauso. Gerade vor dem Hintergrund dessen, was wir in
den letzten Tagen hören mussten, muss ich sagen: Das
gilt auch für deutsche Behörden. Ich glaube, das wird sicherlich einer der Prüfungspunkte des Untersuchungsausschusses werden.
Nach den Beratungen im Geschäftsordnungsausschuss, in denen wir aus zwei Anträgen einen entwickelt
haben, bin ich sehr zuversichtlich, dass wir auch in Zukunft gemeinschaftlich unseren Prüfauftrag, unseren Untersuchungsauftrag wahrnehmen werden.
Bei der personellen Ausgestaltung des Untersuchungsausschusses mit acht Mitgliedern kommen zwei
Kernpunkte zum Vorschein. Der erste Punkt ist: Da wir
in den nächsten Wochen und Monaten intensiv mit Daten und Informationen zu tun haben werden, die den
Diensten zuzuordnen und als Geheim einzustufen sind,
ist es richtig, dieses Gremium nicht zu groß werden zu
lassen. Es mit acht Mitgliedern des Deutschen Bundestages zu besetzen, war, glaube ich, eine kluge Entscheidung.
Der zweite Punkt. In der Besetzung mit acht Mitgliedern spiegelt sich eine weitere kluge Entscheidung wider. Es gibt den Fraktionen der Opposition die Möglichkeit, alle Rechte der Opposition wahrzunehmen; denn
mit den zwei Mitgliedern, die sie stellt, wird das Quorum von 25 Prozent der Mitglieder erfüllt. Damit kann
sie alle im Grundgesetz verbürgten Rechte wahrnehmen.
Das ist ein guter Kompromiss, den wir in der Vorbereitung im Geschäftsordnungsausschuss getroffen haben.
Das zeigt nach meiner Meinung die Gemeinschaftlichkeit in diesem Untersuchungsausschuss: Wir wollen
dieses Thema gemeinsam bearbeiten und nicht gegeneinander.
({2})
Wir haben das im Untersuchungsausschuss zum NSU
sehr gut gemacht. Ich hoffe, dass wir im Geist guter Zusammenarbeit auch in diesem Untersuchungsausschuss
arbeiten können.
Natürlich stellen Untersuchungsausschüsse grundsätzlich das klassische Recht der Opposition dar, die Regierung zu kritisieren und Fehler und Versäumnisse der
Regierung aufzuzeigen. Mir scheint, dass dies bei diesem Untersuchungsausschuss nicht vordringlich ist und
nicht im Vordergrund stehen sollte. Ich glaube, die Aufgabe ist deutlich größer, wenn man rekapituliert und in
der Rückschau betrachtet, was wir in den letzten Wochen
und Monaten erlebt und gehört haben.
Von daher haben sich die Prüfaufträge, die sich in
dem Einsetzungsbeschluss widerspiegeln, daran zu messen. Wir haben in einem ersten Prüfblock formuliert: Es
muss klar werden, was die Staaten der „Five Eyes“ im
Rahmen von Programmen entwickelt haben, sei es
Prism, sei es Tempora, sei es XKeyscore und alle anderen Programme, bis hin zu Mystic, von dem wir in den
letzten Tagen gehört haben. Wir müssen genau hinschauen: „Was gibt es? Was wird dort gemacht?“, damit
wir uns erst einmal einen deutlichen Überblick verschaffen können.
Wenn ich mir vor Augen führe, was in den letzten
zwei oder drei Tagen bekannt geworden ist, wenn ich zudem aus verschiedenen Quellen erfahre, dass nicht nur
die USA Mitschnitte von Telefonaten speichern, sondern
vielleicht auch andere Länder, dann meine ich, dass wir
überlegen sollten: Wenn sich im Laufe des Untersuchungsausschusses Erkenntnisse ergeben, die es nahe legen, den Prüfungsauftrag, den Untersuchungsauftrag zu
erweitern, sollten wir das tun, nicht im Alleingang, sondern im Konsens aller Fraktionen.
({3})
Wir haben schon in der Debatte am 13. Februar ganz
klar darauf hingewiesen, dass wir eine massenhafte und
verdachtsunabhängige Erfassung und Speicherung personenbezogener Daten ablehnen, und haben dies auch
unter Punkt I.1 in den Prüfauftrag unseres Antrags aufgenommen. Ich glaube, die Reichweite des Antrags ist in
den einzelnen Prüfpunkten gut definiert. Ich gehe jetzt
nicht auf die einzelnen Prüfpunkte ein, aber ich glaube,
dass sie die wesentlichen Punkte aus beiden ursprünglich
eingebrachten Anträgen widerspiegeln.
Ich glaube, dass wir in einem zweiten Prüfungskomplex untersuchen müssen, welche Stellen der Bundesregierung, Bedienstete des Bundes oder Mitglieder des
Deutschen Bundestages und des Bundesrates in den Fokus von Ausspähung gekommen sind. Im Gegenzug
werden wir auch fragen, ob es möglicherweise eine Beteiligung von deutschen Institutionen und deutschen Behörden gab.
Wir werden in einem dritten Prüfungskomplex darauf
eingehen, welche Schlussfolgerungen sich aus den Erkenntnissen ziehen lassen. Darauf liegt meiner Meinung
nach das Hauptaugenmerk dieses Untersuchungsausschusses. Es kann nicht unsere einzige Aufgabe sein, zu untersuchen, was passiert ist. Das wird sicherlich einen breiten Teil in Anspruch nehmen. Aber dann müssen wir
auch aus den Erkenntnissen Schlüsse ziehen. Ich glaube,
hierbei sollte unser Hauptaugenmerk darauf liegen: Wie
kann das Recht auf informationelle Selbstbestimmung,
auf Integrität der Kommunikation, auf vertrauliche Kommunikation, gewährleistet werden? Welche Schlussfolgerungen und Lösungsvorschläge können wir als Deutscher
Bundestag aus den dann vorhandenen Erkenntnissen ziehen?
Wenn wir diesen dritten Schritt auslassen, dann wird
der Untersuchungsausschuss ein zahnloser Tiger. Wenn
wir aber Ergebnisse präsentieren und in einem dritten
Schritt Schlussfolgerungen aus unseren Erkenntnissen
ziehen und aufzeigen, was wir aus unserer nationalen,
deutschen Sicht verändern wollen, kann das, glaube ich,
vorbildhaft für andere Länder sein.
({4})
Das wird uns aber nur dann gelingen, wenn die acht
Mitglieder des Untersuchungsausschusses gemeinsam
an einem Strang ziehen. Wenn wir uns in Klein-Klein
und in Detailkritik an der Bundesregierung oder an früheren Bundesregierungen verlieren, an denen fast alle
Fraktionen in diesem Hause außer der Linken beteiligt
waren, dann werden wir, glaube ich, dieser großen Aufgabe nicht gerecht.
({5})
Wenn wir unseren Blick, der vielleicht ideologisch
geprägt ist, nur auf unsere nationalen Dienste richten,
dann werden wir den Blick zu sehr fokussieren und werden der großen Aufgabe nicht gerecht. Ich glaube, dass
wir an einem Strang ziehen sollten und die Chance haben, mit diesem Untersuchungsausschuss weit über
Deutschland hinaus im Sinne von Datensicherheit, Datenschutz, Schutz von Bürgerinnen und Bürgern, aber
auch von Unternehmen und Institutionen Akzente zu setzen.
Diese große Aufgabe können wir leisten. Deswegen
ist es auch so wichtig, dass wir am heutigen Tage zeigen,
dass wir gemeinsam in diesem Haus den Untersuchungsausschuss wollen, dass wir uns nicht in der ersten Debatte zerhakeln und in Klein-Klein verheddern, sondern
dass wir zeigen: Wir sind entschlossen, den Untersuchungsausschuss zu einem Ergebnis zu bringen. Das gelingt uns zusammen, und darauf freue ich mich in den
nächsten Monaten gemeinsam mit Ihnen.
Danke schön.
({6})
Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist Martina Renner,
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen! Sehen Sie es mir nach: Ich bin immer noch etwas aufgewühlt von der vorangegangenen
Debatte. Ich denke, wenn wir die Verteidigung von
Grundrechten und Demokratie wirklich ernst nehmen
- darum geht es auch in Dresden: diese Werte gegen die
Neonazis zu verteidigen -,
({0})
dann hätten wir die Debatte aushalten und uns noch weiter die Argumente anhören müssen. Ich fand das in diesem Sinne keinen guten demokratischen und parlamentarischen Stil.
({1})
Ich finde, gerade wenn wir bei der Einsetzung des
Untersuchungsausschusses in vielen Punkten Gemeinsamkeiten feststellen, sollten wir noch einmal reflektieren, ob die Art und Weise, wie die Debatte eben abgelaufen ist, dem Gegenstand, um den es geht, tatsächlich
angemessen war.
({2})
Jetzt komme ich zu dem Thema, über das wir heute
reden wollen: dem gemeinsamen Einsetzungsantrag aller
Fraktionen. Es ist fast ein Jahr her, dass wir alle durch
die mutigen Enthüllungen von Edward Snowden erfahren haben, wie umfassend wir durch US-amerikanische
Geheimdienste und ihre Partner in Deutschland überwacht werden. Diese Überwachung betrifft tatsächlich
uns alle, jeden Bürger, jede Bürgerin, uns alle hier im
Saal, nicht nur die Kanzlerin und den Innenminister. Es
ist ein Thema, das alle angeht. Deswegen ist es gut, dass
endlich auch bestimmte Teile der Großen Koalition den
Umfang und den Skandal dieser Überwachung insoweit
festgestellt haben, als sie jetzt zu dem Ergebnis gekommen sind, dass wir mit einem gemeinsamen Untersuchungsauftrag diese Überwachung aufklären wollen. Es
ist eine einmalige Chance zur Aufarbeitung und ein gutes Zeichen, das wir fraktionsübergreifend Grundrechtsverletzungen als gemeinsame parlamentarische Aufklärungsaufgabe begreifen.
Wir wollen die Arbeit US-amerikanischer und britischer Dienste sowie die ihrer engsten Partner untersuchen; so haben wir es formuliert. Wir sollten uns nicht
von den Beteuerungen beruhigen lassen, dass nur sogenannte Metadaten, also Verbindungsdaten, gespeichert
wurden und keine Gesprächsinhalte; denn wir wissen,
dass gerade anhand der Verbindungsdaten exakte Profile
der Nutzer erstellt werden können. Jeder kann sich einmal vorstellen, wie viel über ihn ausgesagt wird, wenn
klar ist, wen er früh morgens oder spät abends anruft,
welche Internetseiten er aufruft oder wem er eine E-Mail
schickt.
Wir fragen auch: Wie kooperieren dabei die ausländischen Geheimdienste mit den deutschen Partnerdiensten? Auch wenn die deutschen Spitzelzentralen nicht
über dieselben technischen Möglichkeiten verfügen,
müssen wir das Bundesamt für Verfassungsschutz, den
BND und den MAD unter die Lupe nehmen; denn sie
alle arbeiten aller Wahrscheinlichkeit nach nach derselben Religion der Totalüberwachung. Für einen Geheimdienst heißt es beim Sammeln von Informationen hüben
wie drüben des großen Teiches: Mehr ist immer besser.
- Diese Geheimdienstphilosophie muss nicht nur untersucht werden, sondern muss im Sinne des Grundrechtschutzes auch beendet werden.
({3})
Wir nehmen den BND und das BfV dabei in den Blick,
weil wir als Linke fest davon ausgehen, dass der große
Bruder einen kleinen Bruder hat und beide Hand in Hand
arbeiten, zum Beispiel durch den Ringtausch. Wir werden untersuchen, ob beispielsweise die NSA oder der
britische Geheimdienst dem BND dort hilft, wo dieser
nicht zugreifen dürfte, Freundschaftsdienste sozusagen.
Wir glauben, dass die Bundesregierungen aller Farbkombinationen in den letzten Jahren von dieser Praxis
gegebenenfalls wussten und vielleicht auch profitiert haben. Dabei müssen wir uns noch einmal vor Augen führen,
wann die Zusammenarbeit zwischen der NSA und den
deutschen Stellen intensiviert wurde, nämlich weit vor dem
11. September 2001, basierend auf einer Vereinbarung zur
engeren Zusammenarbeit zwischen den US-Geheimdiensten und den bundesdeutschen Nachrichtendiensten durch
den damaligen Kanzleramtschef Frank-Walter Steinmeier.
Wir werden - so ist es jedenfalls Wille meiner Fraktion Herrn Steinmeier im Ausschuss danach fragen, was er da
im Einzelnen abgesprochen hat und warum er diese Zusammenarbeit so forciert hat.
({4})
- Und wir wollen die Vereinbarung sehen. Sehr richtig,
Herr Kollege Ströbele!
Der Untersuchungszeitraum beginnt daher aus guten
Gründen schon im Frühjahr des Jahres 2001 und endet
erst heute. Zudem werden wir dafür sorgen, dass weitere
Behörden und Institutionen des Bundes einbezogen werden: Nachrichtendienste, das Bundesamt für Sicherheit
in der Informationstechnik und selbstverständlich die
Bundesregierung.
Es geht um die Zukunft unserer Grundrechte in einer
digitalisierten Welt. Es geht um die Frage, ob die Daten
und die Datenspuren schutzlos sind, Geheimdiensten
und privaten Unternehmen zur Kontrolle, zur kommerziellen Nutzung, zur Überwachung und letztendlich auch
zur Manipulation ausgeliefert bleiben oder eben nicht.
Deshalb ist es für uns alleroberstes Ziel, dass der Untersuchungsausschuss so transparent und öffentlich wie
möglich tagen und arbeiten wird. Das ist ein Versprechen, das wir heute hier geben müssen.
({5})
Wir werden alles in unseren Kräften Stehende tun, jedem
Versuch entgegenzutreten, aus einem öffentlich tagenden
Ausschuss eine geheim tagende parlamentarische Kontrollkommission light oder 2 zu machen. Die Durchdringung unserer digitalen Welt durch Dienste, ihre Helfer
und Auftraggeber ist nicht mit geheimen Methoden aufzuklären und schon gar nicht zu kontrollieren.
Wir wollen, dass derjenige, der uns allen die Augen
geöffnet hat, Herr Snowden, vor dem Ausschuss aussagen kann in einer Form, die ihn nicht selbst gefährdet.
Edward Snowden ist der Fachmann für jeden bisher
veröffentlichten Satz. Wir alle wissen aber, dass dafür
Voraussetzungen geschaffen werden müssen, die nicht
einfach sein werden. Sicherheit, Auslieferungs- und Entführungsschutz sind die Stichworte. Es wäre nicht das
erste Flugzeug, das von den USA zur Landung gezwungen würde. Ich denke, das ist eine sehr ernste Aufgabe
für den Ausschuss.
Dass die abgehörten Institutionen, zum Beispiel auch
die Regierung, selbst den Weg zur Totalüberwachung
geebnet haben, davon müssen wir ausgehen. Die Bundesregierungen haben selbst aktiv die Massenerfassung
von Daten vorangetrieben, auch gegen den Widerstand
einer kritischen Öffentlichkeit und der inner- und außerparlamentarischen Opposition. Herr Dr. Sensburg, unsere Kritik ist nicht klein-klein, sondern an dieser Stelle
fundamental.
({6})
Denken wir nur an den permanenten Austausch von
Fluggastdaten zwischen der EU und den USA, die Bankbewegungsdaten im SWIFT-Verfahren oder die vielen
weiteren internationalen Abkommen, die diesen Datentransfer erst legalisiert haben. In den Diensten läuft es
nach dem Motto: Von allem, was für den US-amerikanischen Freund gesammelt wird, profitieren wir auch
selbst, und das wollen wir möglicherweise auch dann
selbst haben.
Die Bürger haben ein Recht darauf, zu erfahren, wie
umfassend die Überwachung und Kontrolle derzeit ist,
nicht nur in der Vergangenheit war, damit sie selbst und
wir als Parlament Maßnahmen ergreifen können, um die
digitalen Grundrechte zu schützen, wie es das Grundgesetz gebietet; denn unsere Demokratie ist durch ein
System totaler Überwachung und Kontrolle in Gefahr.
Das ist tatsächlich eine große Aufgabe für diesen Untersuchungsausschuss.
({7})
Vielen Dank. - Für die SPD-Fraktion hat jetzt Dr. Eva
Högl das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Meine letzte Rede an dieser Stelle zu
diesem Thema habe ich damit begonnen, dass ich meiner
Enttäuschung Ausdruck verliehen habe, dass es bisher
nicht gelungen war, in dieser Frage an einem Strang zu
ziehen. Jetzt können Sie sich vorstellen, dass ich mich
heute umso mehr freue,
({0})
und zwar richtig toll, dass wir es gemeinsam geschafft
haben, aus den zwei unterschiedlichen Anträgen der
Opposition und der Koalitionsfraktionen nach dieser
zunächst so verfahren anmutenden Situation einen gemeinsamen Antrag zu machen, dass wir es also doch
noch zum Guten gewendet haben und jetzt gemeinsam
den Auftrag des NSA-Untersuchungsausschusses beschließen. Das ist ein echter Erfolg. Darüber freue ich
mich.
({1})
Mein Dank gilt ganz besonders all denjenigen, die
dazu beigetragen haben, dass es gelungen ist, diesen gemeinsamen Antrag zu formulieren. Das ist ein wirklich
gutes Zeichen. Wir als SPD haben nie einen Hehl daraus
gemacht, dass wir ein gemeinsames Vorgehen bei diesem so wichtigen Thema NSA für das einzig richtige
halten, und zwar deshalb, weil wir der Ansicht sind, dass
wir nicht nur gegenüber der Bundesregierung, sondern
auch gegenüber den Nachrichtendiensten ganz klar und
deutlich machen müssen, dass hier im Bundestag keine
Partikularinteressen verfolgt werden, sondern dass wir
hier unser gemeinsames Kontrollinteresse, das genuine
Kontrollinteresse des Deutschen Bundestages, des gesamten Parlamentes, wahrnehmen. Das ist ein ganz starkes Signal in Richtung der Bundesregierung und in
Richtung der Nachrichtendienste.
Das zeigt auch, dass wir als Parlamentarierinnen und
Parlamentarier dazugelernt haben; denn wir haben mit
dem guten Beispiel des NSU-Untersuchungsausschusses
deutlich gemacht, dass wir als Untersuchungsausschuss
stärker sind, wenn wir das gemeinsam beschließen und
gemeinsam arbeiten. Wir zeigen auch beim Thema NSA,
dass es um die Wahrung der Grund- und Menschenrechte geht. Das ist keine Kleinigkeit. Die liegt uns hier
gemeinsam am Herzen. Deswegen dieser starke Untersuchungsauftrag.
Ich freue mich auch darüber, dass wir die verfassungsrechtlichen Probleme - die hatte ich das letzte Mal
dargestellt -, die wir mit dem ursprünglichen Antrag der
Opposition hatten, jetzt gemeinsam beseitigt haben und
einen rundum verfassungskonformen und, wie wir
denken, wasserdichten Untersuchungsauftrag formuliert
haben.
Liebe Frau Renner und liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, ich kann gut verstehen, dass Sie
jetzt die besonders hartnäckige Oppositionsarbeit
hervorheben. Frau Renner, da muss ich aber eine kleine
Bemerkung machen. Ich will die Einigkeit hier nicht
trüben, aber wir müssen bei der Wahrheit bleiben; das
gehört dazu. Sie haben in einer Presseerklärung den Eindruck erweckt, dass die Koalitionsfraktionen nicht von
Anfang an die mögliche Beteiligung deutscher Nachrichtendienste oder der Bundesregierung an den Aktivitäten der NSA in den Blick nehmen wollten. Das stimmt
nicht. Das entbehrt jeder Grundlage.
({2})
Um das festzustellen, können sie noch einmal in unseren
ursprünglichen Antrag hineinschauen; da haben wir das
Thema „mögliche Beteiligung deutscher Nachrichtendienste“ hineingeschrieben. Das wollten wir von Anfang
an. Das ist ein zentrales Thema, und deswegen wollten
wir das immer. Es geht in diesem Untersuchungsausschuss darum, die Verantwortlichkeiten und die mögliche Verstrickung der staatlichen Stellen in Deutschland
zu beleuchten. Deswegen haben wir diesen Punkt von
Anfang an in den Antrag hineingeschrieben.
Uns ist sehr wichtig, dass wir diese Untersuchung
sachgerecht und objektiv durchführen. Deswegen ist der
Untersuchungsauftrag entsprechend formuliert. Wir wollen in dem Auftrag dabei keine diffuse, keine pauschale
Abneigung gegenüber der Arbeit von Nachrichtendiensten erzeugen. Darum geht es gerade nicht.
Ich sage ganz klar: Ja, an einer Stelle haben wir uns
sehr dafür eingesetzt, dass wir etwas nicht in den Untersuchungsauftrag aufnehmen, nämlich die Untersuchung
einer großen Anzahl von Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Wir wollten diese Staaten, deren Bürger
selbst Opfer der überbordenden Massenspeicherung geworden sind, nicht mit untersuchen; das hätte von der
Konzentration auf die Aktivitäten der „Five Eyes States“
abgelenkt. Deswegen war es richtig, unseren Untersuchungsauftrag einzuschränken.
({3})
Außerdem hätte es an einer Stelle unseren Untersuchungsauftrag gefährdet. Es ist ganz wichtig, dass wir
hier gemeinsam deutlich machen, dass wir in Europa uns
gegen die massenhafte Erfassung und Speicherung von
Kommunikationsdaten unbescholtener Bürger stellen
und dass wir uns dagegen zur Wehr setzen. Deswegen
müssen wir diesen Akzent ganz klar hervorheben. Es
geht darum, dass wir nicht pauschal verurteilen, sondern
darum, dass wir sehr sachgerecht und sehr konzentriert
die Arbeit der Nachrichtendienste untersuchen, dass wir
unterscheiden zwischen dem, was der eigentliche Skandal ist - nämlich die massenhafte Erfassung und Speicherung von Kommunikationsdaten auf Vorrat -, und
dem, was die Nachrichtendienste leisten müssen, nämlich die Übermittlung, den Austausch und auch die
Sammlung von Daten in Einzelfällen, bei einer konkreten Gefährdung; das ist ihre Aufgabe. Das ist wichtig. Es
war richtig, in der Formulierung des Untersuchungsauftrages diese Unterscheidung zu treffen.
Ich bin froh, dass wir in diesem Sinne übereingekommen sind und dass wir noch einmal deutlich gemacht
haben, dass es um Folgendes geht - was ja Snowden
herausgearbeitet hat und was der Kern dieses öffentlich
gemachten Skandals ist -: um die systematische und
pauschale Erfassung von uns allen, also nicht nur von
Regierungen, Parlamentariern und Wirtschaftsunternehmen, sondern auch von allen unschuldigen Bürgerinnen
und Bürgern. Genau darin liegt der Skandal, und darin
liegt die Grund- und Menschenrechtsverletzung. Dass
dies ohne jeden Verdacht und ohne jeden Anlass geschah, das wollen wir in dem Untersuchungsausschuss
untersuchen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich wünsche allen, die in dem
Untersuchungsausschuss arbeiten, jede Menge Kraft und
Hartnäckigkeit; denn die gehört dazu, wenn es darum
geht, wirklich etwas herauszufinden. Um nachhaltig aufzuklären, muss man an der einen oder anderen Stelle
- das weiß ich aus eigener Erfahrung aus dem NSUUntersuchungsausschuss - wirklich hart dranbleiben.
Das werden Sie machen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Wichtig ist, ebenfalls den Teil in den Blick zu nehmen, den Herr Sensburg hervorgehoben hat, also nicht
nur aufzuklären, sondern auch die notwendigen Konsequenzen daraus zu ziehen. Es ist wichtig, dass wir das
auch in diesem Untersuchungsausschuss tun. Wir sollten
gemeinsam Vorschläge besprechen, wie wir alle Bürgerinnen und Bürger, ihre Privatsphäre, ihr Recht auf informationelle Selbstbestimmung und die Integrität der von
ihnen genutzten Kommunikationssysteme schützen
können. Genau darum geht es. Das wird ein wichtiger
Beitrag zum Schutz unserer Grundrechte sein.
Herzlichen Dank und allen, die daran arbeiten, viel
Erfolg.
({4})
Vielen Dank. - Das Wort hat Dr. Konstantin von
Notz, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Seit knapp einem Jahr erleben wir den größten Überwachungs- und
Geheimdienstskandal aller Zeiten. Die Erkenntnisse, die
wir bis heute einzig und allein dem Whistleblower
Edward Snowden zu verdanken haben, stehen für die
Kernschmelze von Rechtsstaatlichkeit und für die
Erosion der Werte Europas und der gesamten freien
Welt.
Dieser Untersuchungsausschuss ist die dringend notwendige parlamentarische Antwort hierauf. Wie notwendig sie ist, zeigen die neuesten Enthüllungen - Kollege
Sensburg hat es angesprochen - um das Programm
Mystic, das flächendeckend Inhalte - Inhalte! - von
Telefonaten ganzer Nationen speichert, eine Praxis, die
trotz aller Erkenntnisse, die wir in den letzten Monaten
hatten, nochmals alle Dimensionen sprengt. Mystic steht
damit wie Tempora, wie Prism, wie XKeyscore und
viele andere Programme für einen beispiellosen Abstieg
vom Ideal freiheitlicher Demokratien in die Niederungen
von De-facto-Überwachungsgesellschaften, denen wir
uns als Abgeordnete hier heute endlich und mit aller Entschiedenheit entgegenstellen müssen, meine Damen und
Herren.
({0})
Den Skandal einfach auszusitzen - das sage ich in
aller Deutlichkeit in Richtung Bundesregierung; Herr
Kollege Krings, nichts gegen Sie, aber die Regierungsbank ist angesichts der Wichtigkeit des Themas etwas
spärlich besetzt -,
({1})
ist für uns keine Option. Sie müssen endlich einsehen,
dass Sie durch dieses Nichthandeln über Jahrhunderte
erkämpfte rechtsstaatliche Errungenschaften zur Disposition stellen. Eine solche Haltung ist schlicht inakzeptabel, meine Damen und Herren.
({2})
Von Anfang an war das sogenannte Acht-PunkteProgramm der Kanzlerin ein Potemkin’sches Dorf.
Praktisch nichts davon wurde bis heute umgesetzt.
Zumindest haben Sie mittlerweile, nach Monaten des
unbeirrten Festhaltens daran, erkannt, dass das bilaterale
No-Spy-Abkommen von vornherein ein einziger Irrweg
war. Die notwendigen weiteren Schritte scheuen Sie
leider bis heute noch immer.
Deswegen ist es gut, dass jetzt dieses Parlament
reagiert, dass der PUA endlich kommt und dass er auch
die Rolle der deutschen Dienste untersuchen wird.
({3})
Nach monatelangen Verhandlungen hat letztendlich die
Vernunft obsiegt. Das Verhandlungsergebnis erlaubt uns
nicht nur, auf die anderen zu zeigen, sondern auch, vor
der eigenen Tür zu kehren.
({4})
Wir haben kein großes Aufheben davon gemacht
- das will ich an dieser Stelle deutlich sagen -, dass die
GroKo, die Große Koalition, versucht hat, unseren
Untersuchungsauftrag zu verwässern,
({5})
weil wir zunächst unterstellen, dass Sie ein echtes Aufklärungsinteresse haben, Frau Kollegin Högl; ich unterstelle bis heute, dass uns ein echtes Aufklärungsinteresse
eint.
({6})
Klar ist aber auch: Der Parlamentarische Untersuchungsausschuss ist das schärfste Schwert des Parlaments, insbesondere der Opposition und insbesondere
bei einer Koalitionsmehrheit von 80 Prozent. Zu diesem
schärfsten Schwert gehört der Untersuchungsauftrag
genauso wie das unverbrüchliche Recht, Zeugen zu benennen.
({7})
Diese Rechte, Herr Kollege Flisek, auch nur andeutungsweise infrage zu stellen, das ist die Show, meine Damen
und Herren.
({8})
Zum Ziel dieses Ausschusses sagen wir Grüne klar:
Es geht uns nicht darum, am Stuhl eines Ministers oder
gar der Bundeskanzlerin zu sägen; wir wollen in diesem
Ausschuss - Herr Kollege Sensburg, das eint uns - keine
Parteipolitik machen. Uns geht es um nichts weniger als
die Wiederherstellung verfassungsgemäßer Verhältnisse;
das muss unser gemeinsames Anliegen sein. Dafür gilt
es zunächst, aufzuklären, Transparenz herzustellen und
zu verstehen, und dann müssen wir gemeinsam die richtigen Konsequenzen ziehen. Wir müssen klarmachen:
Massenhafte anlasslose Überwachung ist verfassungswidrig.
Denken Sie bitte an die Redezeit.
Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. - Mit der
fraktionsübergreifenden Einsetzung des Untersuchungsausschusses heute erkennt dieses Parlament an, dass es
ein massives und relevantes Problem mit anlassloser
Massenüberwachung gibt. Das ist ein wichtiger erster
Schritt.
Ganz herzlichen Dank.
({0})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist Clemens
Binninger, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Eine Gesellschaft, in der niemand mehr kommunizieren kann, sich bewegen kann, E-Mails schreiben
kann, ohne dass er damit rechnen muss, dass das gespeichert und überwacht wird, ist nicht mehr frei. In solch
eine Gesellschaft wollen wir nicht.
({0})
Bevor ich zu dem komme, was uns beschäftigt, gestatten Sie mir einen kleinen Rückblick auf eine
Entwicklung, die, glaube ich, ganz maßgeblich dazu beigetragen hat, dass wir heute über eine solche Massenüberwachung sprechen und das aufklären müssen. Sie
hat etwas mit der Technik zu tun. Die Technik hat eine
Entwicklung eingeleitet, der wir als Parlamente nicht mit
der gebotenen Sorgfalt gefolgt sind. Noch vor 15, 20
Jahren fand Datenspeicherung überwiegend bei staatlichen Behörden statt. Es gab auch Privatunternehmen, die
ihre Kundendaten hatten; aber Datenspeicherung hatte
limitierende Faktoren. Die Speicherkapazität war endlich; man konnte nicht alles suchen bzw. recherchieren.
Allein dadurch war vieles an Missbrauch gar nicht möglich. Dann kam eine Entwicklung, die auf der einen Seite
viele Vorteile gebracht hat, die für uns alle bei der Kommunikation von Nutzen war, mit der aber auf der anderen Seite zwei neue Aspekte einhergingen: Der Speicherplatz ist nicht mehr limitierend. Man kann endlos
Daten speichern. Nicht nur staatliche Behörden können
das, auch private Unternehmen, ja sogar einzelne Bürger. Recherchefunktionen stehen mittlerweile jedem zur
Verfügung. Jeder von uns kann den anderen googeln. Ob
er dabei etwas Sinnvolles erfährt, ist eine andere Frage.
Wir alle sind aber mittlerweile gegenseitig recherchierbar.
Die Verhältnisse sind also gewaltig anders als früher.
Zu dieser technischen Entwicklung sind Sicherheitslagen wie der 11. September und anderes mehr gekommen, und Nachrichtendienste haben gesagt: Wir
brauchen jetzt viele Informationen. Ich will gleich deutlich machen: Ich bin überhaupt kein Gegner von Nachrichtendiensten. Wir brauchen sie. Wir brauchen auch
die internationale Zusammenarbeit. Wer daran rüttelt, tut
unserer Sicherheit und den Menschen in unserem Land
keinen Gefallen. Dazu darf der Ausschuss nicht herhalten.
({1})
Klar ist aber auch - das wird eine Aufgabe des Ausschusses sein -, dass man sich fragen muss: Ist die
Strategie, die sich bei den Amerikanern und den Briten
entwickelt hat, einfach einmal alles auf Verdacht zu sammeln in der Hoffnung, man könne hinterher aus großen
Datenbergen einen Verdacht generieren, den man vorher
vielleicht überhaupt nicht hatte, richtig?
({2})
Sie ist es nicht.
Wir haben in unserem Rechtssystem zu Recht den
personenbezogenen Ansatz gewählt. Der konkrete Verdacht ist notwendig; zum Teil sind richterliche Anordnungen nötig. Deshalb sind wir als deutsches Parlament
gut beraten, mit diesem Ausschuss, wie es alle Kollegen
vor mir - Herr von Notz, Frau Renner, Frau Högl und
Kollege Sensburg - auch gesagt haben, ein Zeichen zu
setzen, dass wir diese Art von Überwachung, massenhaft, ohne Anlass, in jedem Lebensbereich, rundherum
ablehnen, und klarzumachen: Das ist mit unserem
Verständnis von Datenschutz und unserem Verfassungsverständnis nicht vereinbar.
({3})
Vor einem Jahr kamen dann Begriffe über uns - Herr
Kollege Ströbele, wir gehören ja einem Gremium an, in
dem man das vielleicht vorher schon einmal hätte erfahren können, aber wir haben es nie erfahren; gefragt haben wir natürlich auch nie; das müssen wir selbstkritisch
anerkennen -, die uns allen zunächst nichts gesagt haben: Tempora, XKeyscore, Prism und was auch immer
es noch gibt. Das sind Software- und Hardwaretools, mit
denen es möglich ist, ganze Datenströme ungeachtet ihrer Menge zu überwachen. Unsere Aufgabe wird es jetzt
sein, so konkret es geht, zu ermitteln: Wo wurden sie
eingesetzt? Waren Daten von deutschen Bürgern betroffen? Was ist mit diesen Daten passiert? Wurden sie gespeichert, wurden sie ausgewertet? - Solche Überwachungsinstrumente sind jedenfalls in dieser Form nicht
akzeptabel.
Warum brauchen wir einen Untersuchungsausschuss?
Ich will das an dieser Stelle ganz deutlich sagen. Dass
Sie, Herr Kollege von Notz, eine andere Auffassung haben und kritisieren, wie wir das Thema im letzten
Sommer gehandhabt haben, ist völlig in Ordnung. Kollege Oppermann und ich haben im Sommer auch noch
andere Auffassungen zu diesem Thema gehabt; jetzt haben wir in etwa die gleiche. So ändern sich die Zeiten.
({4})
Nein, ganz ernsthaft: Es hat mit der Art und Weise zu tun
- ich will an dieser Stelle im Deutschen Bundestag
sagen, dass die Kritik berechtigt war und der Anlass von
fast niemandem mehr bestritten wurde -, wie unsere befreundeten Partner, die USA und Großbritannien, mit
unseren Sorgen, mit den Anliegen, die unsere Bundesregierung transportiert hat, umgegangen sind. Dass sie auf
einen Fragenkatalog nicht geantwortet haben, dass sie
ein Informationsverhalten an den Tag gelegt haben, das
in jeder Hinsicht unzureichend war,
({5})
dass öffentliche Auftritte wie auf der Münchner Sicherheitskonferenz chancenlos vertan wurden, das kann man
so eben nicht stehen lassen. Da müssen wir, das deutsche
Parlament, der Souverän des deutschen Volkes, sagen:
Das ist zu wenig; wir wollen mehr Aufklärung, mehr
Information und eine Änderung dieser Praxis.
({6})
Ich bin in den letzten Tagen oft gefragt worden:
Macht der Ausschuss überhaupt Sinn? Sie bekommen
doch keine Akten und keine Zeugen. Niemand wird
kommen. - Dies sind Sorgen, die ich durchaus selber
hatte. Es gibt aber eine ganze Reihe von Fragen, die wir
erörtern können. Wir befassen uns auch mit der Rolle der
deutschen Dienste. Das ist richtig. Frau Renner und Herr
von Notz, ich sichere Ihnen zu: Wir schonen niemanden.
Wir führen aber auch niemanden vor. In Ermangelung
ausländischer Akten und Zeugen sollten wir uns nicht
darauf konzentrieren, den deutschen Diensten alles unterzujubeln. Das wäre falsch. Das würde auch in der Sache nichts bringen.
({7})
Wenn sich herausstellen sollte, dass es Wissen gab, dann
wird nicht geschont, sondern aufgeklärt. Aber ich
glaube, dass wir an dieser Stelle differenzieren müssen.
Trotzdem haben wir genügend Chancen, die Dinge
aufzuklären und die Faktenlage stabiler zu machen.
Ich sichere Ihnen auch zu: Was geht, machen wir öffentlich. Es kann aber sein, dass wir geheim tagen müssen. Das gab es übrigens in jedem Untersuchungsausschuss. Auch im NSU-Ausschuss haben wir immer
wieder einmal nichtöffentlich getagt. Wir haben sogar
geheim getagt. Wir hatten Geheim eingestufte Akten;
das gibt es in jedem Ausschuss. Daraus kann man nicht
schließen, dass etwas vertuscht wird. Es hängt übrigens
nicht von den Personen im Ausschuss ab, ob wir öffentlich oder geheim tagen. Dies ist immer in der Sache
begründet. Ich sichere Ihnen aber ausdrücklich zu, dass
wir kein Interesse daran haben, möglichst viele Sitzungen hinter geschlossenen Türen abzuhalten. Sie wird es
trotzdem geben müssen. Dies gehört zu einer fairen Bewertung.
Wir haben eine große Chance, weil wir den Ausschuss gemeinsam einsetzen. Machen wir uns aber
nichts vor - wir sind keine Romantiker; dafür sind wir
nicht in den Deutschen Bundestag gewählt worden -:
Die parteipolitischen Unterschiede werden bleiben. Das
ist auch völlig in Ordnung.
({8})
- Zwischen uns beiden sowieso, Herr Kollege Ströbele.
Trotzdem arbeiten wir gut zusammen. Es geht beides.
Wir sollten uns gut überlegen, was wir wollen.
Nutzen wir die Monate der Untersuchung, um unsere
Unterschiede zu betonen, oder nutzen wir die Monate
der Untersuchung, um unsere Gemeinsamkeiten hervorzuheben? Ich bin davon überzeugt - auch aus den Erfahrungen des NSU-Untersuchungsausschusses -: Wenn
wir die Gemeinsamkeiten betonen, erreichen wir mehr,
sind wir als Ausschuss stärker, bringen wir mehr Veränderungen auf den Weg und erfahren auch mehr. Davon
bin ich zutiefst überzeugt. Lassen Sie uns deshalb bei der
Arbeit die Gemeinsamkeiten betonen im Interesse der
Sicherheit unseres Landes, vor allen Dingen der Bürger!
In unserem Land muss gelten: Kommunikation ist geschützt. Sie ist frei möglich, und man muss keine Angst
haben, überall, an jeder Ecke überwacht zu werden.
Herzlichen Dank.
({9})
Vielen Dank. - Für Bündnis 90/Die Grünen hat HansChristian Ströbele das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Gestern hat mir einer, der es wissen muss, erzählt, dass
sich für die NSA das Thema „Überwachung von deutschen Kommunikationsbeziehungen“ erledigt hat, und
das war’s. Keiner in den USA erinnert sich offenbar
noch daran, dass uns im Juni und in den Monaten danach
regelmäßig im Parlamentarischen Kontrollgremium mitgeteilt worden ist, dass wir die Informationen bekommen, dass sie nur noch herabgestuft werden müssen und
wir dann ein „Deutschland-Paket“ zu erwarten haben.
Wir warten darauf, aber es wird nicht mehr kommen.
Das ist schon schlimm genug. Viel schlimmer aber ist,
wenn ich höre, dass überhaupt keine Gespräche mehr
stattfinden, auch nicht von den in Deutschland dafür
Berufenen mit den US-Kollegen. Das Allerschlimmste
daran ist, dass die Überwachung nahtlos weitergeht, dass
das, was uns Herr Snowden über seine Dokumente im
Juni und in den Monaten danach hat wissen lassen,
keinerlei Konsequenzen nach sich gezogen hat. Das können wir nicht hinnehmen. Damit können wir uns nicht
abfinden. Deshalb müssen wir die Aufgabe übernehmen,
aufzuklären, was da war, und zwar mit allen unseren
Möglichkeiten.
({0})
Die Einrichtung dieses Untersuchungsausschusses
- ich freue mich auch, dass wir ihn gemeinsam einrichten - kann ein erster Schritt sein. Der Beschluss heute
und die Konstituierung in der nächsten Sitzungswoche
sind richtige und wichtige Schritte. Das kommt jetzt
endlich in Gang. Wir können dann zügig anfangen, zu
arbeiten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich verfolge mit
großem Interesse, wie Sie von der SPD und von der
Union sich in der Öffentlichkeit dahin gehend äußern,
was wir alles machen und was wir nicht machen sollen.
Ich muss sagen, dass die Äußerungen der Frauen aus der
SPD mir wesentlich sympathischer sind als die der Männer.
({1})
- Das ist kein Kompliment, sondern ein Faktum.
({2})
Wir dürfen in unseren Aufklärungsbemühungen, die
wir jetzt unternehmen, nicht davor zurückschrecken,
auch Personen aus der jetzigen Bundesregierung und aus
der Koalition - möglicherweise von beiden Seiten - und
Personen, die im Parlamentarischen Kontrollgremium
tätig gewesen sind, im Untersuchungsausschuss als Zeugen zu hören. Ich sage Ihnen ganz klar: Es geht nicht,
dass Sie vor dem Präsidententhron den Mut verlieren. Es
kann nicht sein, dass wir Zeugen, die sich anbieten, nicht
hören wollen. Das gilt natürlich für die Bundeskanzlerin.
Da haben manche mit dem Kopf geschüttelt. Auch Journalisten haben gesagt: Was wollen Sie denn eigentlich
mit der Bundeskanzlerin? Was soll sie dazu wissen? Sie
weiß doch nicht, was die Geheimdienste im Einzelnen
treiben. - Ja, aber sie ist das wichtigste Opfer der Machenschaften der NSA. Sie ist die einzige Zeugin, die
uns und übrigens auch dem Generalbundesanwalt Range
helfen kann, den Verdacht zu konkretisieren, dass auch
ihr Handy abgehört worden ist, und zwar offenbar über
einen langen Zeitraum. Die Bundeskanzlerin - leider
nicht ich - hat das Telefonat mit Herrn Obama geführt
und von ihm ganz offensichtlich Hinweise bekommen
- direkt oder inzident -, dass ihr Handy in der Vergangenheit tatsächlich abgehört worden ist. Wen sollen wir
im Hinblick auf dieses Faktum als Zeugen hören, wen
soll der Generalbundesanwalt als Zeugen benennen,
wenn nicht sie?
Einen Zeugen, der mir natürlich besonders am Herzen
liegt, dürfen wir nicht vergessen. Wer, wenn nicht Herr
Edward Snowden, kann uns im Deutschen Bundestag im
Untersuchungsausschuss erklären, was die Dokumente
aus seinem Besitz, die jetzt nach und nach veröffentlicht
worden sind, bedeuten und was sie aussagen? Das hat er
auch selber immer wieder betont. Herr Binninger, da
können Sie nicht einfach sagen: Ich weiß doch nicht,
was der weiß. - Nach diesem Motto hätten Sie im UliHoeneß-Prozess nicht die Steuerbeamtin hören dürfen,
die die Akten verwaltet und anschließend als Zeugin
ausgesagt hat. Edward Snowden ist der Zeuge, der uns
Aufklärung geben kann.
Es mag sein, dass das dem einen oder anderen in den
USA nicht gefällt. Sie dürfen sich aber nicht davor drücken, ihn als Zeugen hier in Deutschland zu hören. Das
erwarte ich von Ihnen. Das erwartet Deutschland von Ihnen. Das erwarten auch viele andere Länder dieser Welt.
Denn Edward Snowden kann uns in einer Zeugenaussage, in deren Rahmen wir auch nachfragen können, helfen, die Wahrheit herauszufinden.
Ich erwarte jetzt von Ihnen, dass Sie die Redezeit einhalten.
Danach müssen wir die richtigen Konsequenzen daraus ziehen.
({0})
Danke schön. - Nächster Redner ist der Herr Kollege
Christian Flisek, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seit im
Sommer letzten Jahres durch Veröffentlichung des britischen Guardian und der amerikanischen Washington
Post die umfassenden Überwachungsaktivitäten des
amerikanischen Geheimdienstes NSA der Öffentlichkeit
bekannt wurden, haben sich die Ereignisse überschlagen.
Sämtliche Versuche, den Abhörskandal zu banalisieren
oder ex cathedra für beendet zu erklären, waren untauglich. Sie sind im Sande verlaufen, und das auch völlig zu
Recht. Sie mussten scheitern, weil uns seitdem nahezu
wöchentlich neue Meldungen über das immer größer
werdende Ausmaß der Überwachungsmaßnahmen erreichten. Wenn ich aktuell höre - meine Vorredner haben
sich bereits darauf bezogen -, dass die Kommunikationsinhalte der Bevölkerungen ganzer Staaten pauschal
erfasst und anlasslos über Wochen gespeichert werden,
also jedes Wort, das tatsächlich gesprochen oder in EMails geschrieben wird, dann bin ich froh, dass wir als
deutsches Parlament heute mit der Einsetzung dieses
Untersuchungsausschusses endlich ein deutliches Signal
setzen, dass wir die klare Botschaft aussenden, dass wir
unter den völlig veränderten Kommunikationsbedingungen im 21. Jahrhundert unsere Grundrechtsstandards
verteidigen und die Grundrechte unserer Bürgerinnen
und Bürger auf Privatheit und Vertraulichkeit nicht einfach auf dem globalen digitalen Altar opfern werden.
({0})
Das ist die Botschaft, die wir an die Bürgerinnen und
Bürger in Deutschland richten. Es ist auch die Botschaft,
die wir an unsere Partner in Europa und an unsere
Freunde jenseits des Atlantiks adressieren.
Der Deutsche Bundestag beschließt heute die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses, der die Aufgabe
hat, Art und Umfang der massenhaften Überwachung
von Kommunikationsdaten vor allem durch US-amerikanische und britische Nachrichtendienste aufzuklären.
Zentrale Aufgabe dieses Untersuchungsausschusses eines deutschen Parlaments muss ganz klar sein, vorbehaltlos aufzuklären, inwieweit unsere Dienste und deutsche Behörden sich an derartigen Aktivitäten beteiligt
haben, inwieweit sie diese unterstützt oder rechtswidrig
davon profitiert haben. Wenn hier die notwendige Zusammenarbeit mit anderen Staaten derart instrumentalisiert wurde, dass deutsche Rechtsvorschriften systematisch umgangen wurden, dann muss diesem Treiben
umgehend ein Riegel vorgeschoben werden.
({1})
Was die insgesamt 31 Fragen des Einsetzungsantrages
als detailliertes Untersuchungsprogramm des Ausschusses festlegen, kann man folgendermaßen zusammenfassen: Gibt es in Zeiten weltweiter digitaler Kommunikation noch so etwas wie Vertraulichkeit, informationelle
Selbstbestimmung und Unschuldsvermutung? Was müssen wir in Deutschland und Europa tun, um unserem
Verständnis von Grundrechten, aber auch unserem Verständnis vom Primat rechtsstaatlicher und demokratischer Politik wieder Geltung zu verschaffen? - Ich bin
daher sehr froh, dass wir uns im Untersuchungsausschuss nicht nur mit der vorbehaltlosen Aufklärung der
Missstände, sondern auch mit der Entwicklung von Lösungen befassen werden.
Wenn ich von einer vorbehaltlosen Aufklärung der
Missstände spreche, dann bedeutet dies selbstverständlich auch, dass kein zugängliches Beweismittel von
vornherein ausgeschlossen werden darf. Sosehr es sich
verbietet, im jetzigen Stadium, noch bevor das erste Aktenstück bestellt und eingegangen ist, über Zeugenlisten
zu spekulieren, so sehr kann man die Augen nicht davor
verschließen, dass die Aussage des Auslösers, desjenigen, der das Ganze ins Rollen gebracht hat, natürlich
auch ein taugliches Beweismittel ist.
({2})
Selbstverständlich kommt auch Edward Snowden als
Zeuge für den Ausschuss in Betracht. Herr Ströbele, Sie
kennen den Antrag; sein Name findet sich im Text unseres gemeinsamen Antrags sogar an prominentester
Stelle. Wer sich mit seinen zum Teil sehr kryptischen öffentlichen Aussagen in Fernsehinterviews und mit seinen schriftlichen Einlassungen gegenüber dem Europäischen Parlament befasst, der wird, so wie auch ich, hier
einige Fragen haben, die berechtigt sind.
In welcher Weise eine Vernehmung von Herrn
Snowden erfolgen kann, muss im Ausschuss gemeinsam geklärt werden. Hier ist vieles vorstellbar. Auch
die Kolleginnen und Kollegen im Europäischen Parlament haben hier einen gemeinsamen Weg gefunden.
Ich betone aber ausdrücklich: Der Ausschuss dient der
Aufklärung in der Sache und nicht der medialen Inszenierung.
({3})
Herr Kollege Dr. von Notz, ich bleibe bei dieser Feststellung, auch wenn Sie sie zuvor kritisiert haben.
({4})
Herr Ströbele, lassen Sie mich noch eines sagen: Die
Bundeskanzlerin ist in meinen Augen nicht das wichtigste Opfer.
({5})
Das wichtigste Opfer sind die Bürgerinnen und Bürger
und ihre Grundrechte.
({6})
Die Frau Bundeskanzlerin ist in dieser Affäre nur ein
Opfer; das möchte ich hier richtigstellen.
Lassen Sie mich einen anderen Aspekt anführen. Wir
sollten in Bezug auf unsere amerikanischen Partner nicht
mit Schaum vor dem Mund operieren. Dass in hohem
Maße Vertrauen verloren gegangen ist, wurde bereits bei
vielen Gelegenheiten, auch in diesem Hause, deutlich an
die amerikanische Seite adressiert. 9/11, der Anschlag
auf das World Trade Center in New York, ist tief im
amerikanischen Gedächtnis und auch in unserem Gedächtnis verwurzelt. Dennoch kann die Formel vom
Kampf gegen den Terrorismus nicht die Rechtfertigung
dafür sein, alles, was im Bereich der Sicherheitsbehörden technisch möglich ist, tatsächlich umzusetzen.
({7})
Dies entspricht nicht unserem Verfassungsverständnis
und auch nicht unseren Vorstellungen vom Grundsatz
der Verhältnismäßigkeit.
({8})
Wenn wir aber ernsthaft, ausgewogen und auf der Basis
von Fakten die Tätigkeit amerikanischer Dienste untersuchen wollen, dann sind wir auch auf Zusammenarbeit
angewiesen, vor allen Dingen darauf, dass sich in der
amerikanischen Öffentlichkeit noch viel stärker als bisher ein Aufklärungsinteresse artikuliert.
Der Präsident der Vereinigten Staaten, Barack
Obama, hat gesagt, man könne nicht gleichzeitig hundertprozentige Sicherheit und hundertprozentige Privatsphäre haben. Bei aller Wertschätzung: Diesem Verständnis über den Zusammenhang von Freiheit und
Sicherheit möchte ich entschieden entgegentreten. Es sei
mir erlaubt, dass ich dafür einen anderen Amerikaner,
nämlich einen der Gründungsväter der Vereinigten Staaten, Benjamin Franklin, bemühe, der gesagt hat:
Wer die Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, wird am Ende beides verlieren.
Genau das entspricht auch meinem Verständnis. Freiheit und Sicherheit sitzen nicht auf einer Balkenschaukel, bei der immer dann, wenn die Sicherheit oben ist,
die Freiheit unten ist, sie kleingehalten wird und für sie
kein Platz ist. Nein, meine Damen und Herren, Freiheit
und Sicherheit bedingen einander. Das eine kann ohne
das andere in einem demokratischen Rechtsstaat nicht
zur Geltung kommen. Wer immer unter demokratischen
und rechtsstaatlichen Bedingungen eine Sicherheitsarchitektur errichtet, hat dies auf dem Fundament von Vertrauen, auf dem Fundament der Verfassung und von demokratischer Legitimation zu tun.
({9})
Jede Sicherheitsarchitektur, die diese Kriterien missachtet, wird auf Dauer nicht überleben; denn die Bürgerinnen und Bürger werden ihr zu Recht den Boden entziehen, und sie wird damit in sich zusammenfallen.
({10})
Die Politik wird lernen müssen, dass sie bei diesem
komplexen Thema tatsächlich Neuland betreten muss,
wenn ich das unter Rückgriff auf ein Zitat der Bundeskanzlerin einmal so sagen darf. Wenn wir alle das Internet als einen Ort der Freiheit erhalten wollen, dann müssen wir auch lernen, das Internet besser zu verstehen,
und zwar vor allem von seiner technischen Seite her.
Der US-amerikanische Rechtswissenschaftler Lawrence
Lessig hat schon vor 15 Jahren deutlich gemacht, wen er
für die entscheidende Regulierungsmacht in der digitalen Kommunikationswelt hält. „Code is law“, hat er gesagt. Es sind also nicht die von Staaten verabschiedeten
Gesetze, die das Internet regulieren, sondern es ist der
Code. Es sind die Programme, die Software, und die
technischen Architekturen und Standards, die das Sagen
haben und den Ton angeben. Man muss diese Bewertung
in ihrer Absolutheit nicht teilen. Ich selbst teile sie nicht,
weil ich als Jurist naturgemäß an die positive Geltung
und Durchsetzung staatlich gesetzten Rechts glaube, insbesondere an Normen, die Verfassungsrang haben. Aber
die These von Professor Lessig macht gerade in Bezug
auf unser Problem eines deutlich: In der globalen digitalen Kommunikation ist die Wirksamkeit staatlichen
Rechts begrenzt. Solange wir weltweit kein gemeinsam
geteiltes Grundrechtsverständnis haben - und von einem
solchen sind wir schon im transatlantischen Verhältnis,
jedenfalls in Bezug auf das Recht auf informationelle
Selbstbestimmung, weit entfernt -, so lange wird ein regulatives Vakuum existieren. Dieses Vakuum wird von
technischen Normen und Standards ausgefüllt. Wer sie
beherrscht, der regiert, wenn man so will, auch das Internet, und damit sind wir mitten in der Debatte über Internet Governance.
Für mich ist es besonders wichtig, dass wir mit der
Ausschussarbeit schnell beginnen. Der Ausschuss wird
sich nach seiner heutigen Einsetzung in der ersten Sitzungswoche im April konstituieren. Wir sollten keine
Zeit verlieren und bereits unmittelbar nach der Konstituierung des Ausschusses und der Klärung der Verfahrensfragen gemeinsam die ersten Beweisanträge auf Beiziehung von Akten beschließen. Wir stehen erst am Anfang
unserer Arbeit und zum Glück auch am Anfang unserer
Legislaturperiode. Wir können gründlich und zügig arbeiten, aber eben ohne jeden Zeitdruck.
Dass die Einsetzung des Ausschusses auf der Grundlage eines gemeinsamen Antrages im Parlament erfolgt das ist bereits von meinen Vorrednern erwähnt worden -,
ist ein erster großer Erfolg. Es war ein mühsamer Weg;
ich glaube, diese Mühe hat sich gelohnt. Dass alle Fraktionen an einem Strang ziehen, ist ein sehr gutes Signal;
denn unsere Arbeit im Ausschuss wird von vielen Bürgerinnen und Bürgern aufmerksam beobachtet werden.
Die Bürger werden zu Recht Antworten auf die gestellten Fragen einfordern, die elementare Grundrechte unserer Verfassung betreffen, Grundrechte, die ihre Wurzeln
nach unserem Verfassungsverständnis in der Unantastbarkeit der Menschenwürde haben.
Herr Kollege!
Ich komme zum Schluss. Von mir selbst kann ich sagen: Ich bin hochmotiviert, freue mich auf ein kollegiales Miteinander aller Ausschussmitglieder und auf eine
erfolgreiche Ausschussarbeit.
Herzlichen Dank.
({0})
Vielen Dank. - Letzter Redner in dieser Debatte ist
Dr. Stephan Harbarth, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Als wir das
letzte Mal in diesem Haus über die Einsetzung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses zum Thema
NSA diskutiert hatten, lagen uns noch zwei Anträge vor,
ein Antrag der Koalitionsfraktionen und ein Antrag der
Oppositionsfraktionen. Dass es gelungen ist, die Anträge
in viel mühsamer Kleinarbeit zusammenzuführen, erfüllt
uns mit Freude, weil das zum Ausdruck bringt, dass dieses Haus ein gemeinsamer Aufklärungswille eint. Das
ist, glaube ich, auch deshalb so wichtig, weil die Bevölkerung ein gemeinsamer Aufklärungswille eint. Der
Aufklärungswille in der Bevölkerung macht nicht an
Parteigrenzen, macht nicht an politischen Präferenzen
halt, sondern er betrifft die gesamte Bevölkerung. Deshalb ist es so wichtig, dass es uns gelungen ist, einen gemeinsamen Antrag vorzulegen. Allen, die daran beteiligt
waren, vielen herzlichen Dank.
({0})
Wir haben im Geschäftsordnungsausschuss intensiv
miteinander gerungen und konstruktiv diskutiert. Das
hatte nichts damit zu tun, den Untersuchungsgegenstand
verwässern zu wollen - das ist vorhin angeklungen -,
sondern damit, dass das Recht des Parlaments, einen Untersuchungsausschuss einzurichten, niedergelegt im
Grundgesetz, gestärkt und fortentwickelt durch jahrzehntelange Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, eines der wichtigsten Rechte dieses Parlaments
ist. Deshalb war es wichtig, dass wir uns mit großer
Sorgfalt der Ausgestaltung des Untersuchungsgegenstandes angenommen haben, dass wir dies mit großer
Gewissenhaftigkeit getan haben, dass wir verfassungsrechtliche Vorgaben, etwa an die Bestimmtheit des Untersuchungsgegenstandes, beachtet haben. Dies haben
wir in den vergangenen Wochen getan.
Wir haben die Grenzen der verfassungsmäßigen Zuständigkeit des Deutschen Bundestages im Bereich der
Gesetzgebung und im Bereich der Kontrolle der Bundesverwaltung zugrunde gelegt. Wir haben geeignete Anknüpfungspunkte gewählt, etwa indem wir abstellen auf
Kommunikationsvorgänge von, nach und in Deutschland
und indem wir anknüpfen an die Kenntnis deutscher Behörden. Ich glaube, es war richtig, dass wir uns in den
Diskussionen darauf geeinigt haben, die Länder, deren
Nachrichtendienste wir jetzt näher in den Blick nehmen
möchten, zu begrenzen auf die sogenannten Five Eyes,
auf die USA, Großbritannien, Kanada, Australien und
Neuseeland. Wir haben auch über die Frage diskutiert,
ob man möglicherweise viele andere Länder mehr in den
Blick nehmen sollte. Ich bin der festen Überzeugung: Es
gibt gegen die Länder, auf die der Untersuchungsgegenstand gerichtet ist, im Augenblick eine Verdachtsqualität, die sich von der Verdachtsqualität gegen alle anderen
Länder unterscheidet. Es ist nicht nur eine Frage außenpolitischer Klugheit, sondern auch eine Frage der Angemessenheit des Umgangs, dass man nicht alle Länder,
gegen die man vielleicht einen kleinen Verdacht hegt,
auf die Schwelle der Länder hebt, bei denen wir im Augenblick ein hohes Verdachtsniveau haben.
({1})
Wir haben es mit einem Untersuchungsgegenstand zu
tun, der die Bevölkerung sehr bewegt. Wir haben in den
vergangenen Monaten in der Bevölkerung viel Enttäuschung, viel Verunsicherung, viel Wut vernommen. Wir
haben erlebt, wie Dinge in einem Ausmaß zutage getreten sind, das man sich zuvor nicht vorgestellt hatte. Wir
haben erlebt, wie die Sorge vor Totalüberwachung, vor
totaler Erfassung, vor totaler Speicherung von Daten
ganz lebendig und ganz aktuell geworden ist. Wir haben
erlebt, wie die Sorge vor dem Ausspähen von Betriebsund Geschäftsgeheimnissen ganz aktuell geworden ist.
Wir haben erlebt, dass unser Verständnis von Bürgerrechten, hier insbesondere unser Verständnis vom Recht
auf informationelle Selbstbestimmung, das das Bundesverfassungsgericht ja schon vor Jahrzehnten als Grundrecht etabliert hat, und unser Verständnis vom Recht auf
die Möglichkeit einer geschützten Kommunikation fundamental bedroht sind. Das hat nicht nur etwas mit dem
11. September 2001 und den Erfahrungen, die insbesondere die USA in diesem Zusammenhang gemacht haben,
zu tun. Es hat aber viel damit zu tun.
Wir müssen in den kommenden Monaten und Jahren
klarmachen, wie unser Verständnis vom Zusammenspiel
von Freiheit und Sicherheit ist. Wir wissen: Freiheit
ohne Sicherheit ist nicht möglich. Freiheit ohne Sicherheit ebnet nur dem Stärkeren den Weg. Aber wir wissen
umgekehrt auch, dass hemmungsloses Streben nach immer mehr Sicherheit Freiheitsrechte in einem Land niemals niedertrampeln darf. Das ist unsere tiefste Überzeugung; die müssen wir auch nach außen vertreten.
Es wird im Untersuchungsausschuss um Aufklärung
gehen. Aufklärung muss bedeuten, dass Missstände angesprochen werden. Aufklärung muss aber auch bedeuten, dass man unbefangen und offen an Themen herangeht. Deshalb, Frau Kollegin Renner, hätte ich es sehr
begrüßt, wenn Sie heute nicht geäußert hätten, wovon
Sie im Einzelnen ausgehen, wer alles auf dieser Welt der
Böse ist, sondern wenn Sie zunächst einmal die Sachaufklärung an den Anfang gestellt hätten.
({2})
Der Untersuchungsausschuss ist ein Instrument, das
mit vielen gerichtlichen Befugnissen ausgestattet ist.
Aus Gerichtsverfahren wissen wir, dass es gute Praxis
ist, dass sich ein Richter zunächst einmal den Sachverhalt anschaut und dann zu bestimmten Folgerungen
kommt und dass er das nicht umdreht,
({3})
mit bestimmten Mutmaßungen, mit bestimmten Folgerungen beginnt und danach sagt: Jetzt schaue ich mir
noch den Sachverhalt an, dass er auch in mein Weltbild
passt. - Das ist nicht unser Verständnis der Herangehensweise.
({4})
Es wird im Untersuchungsausschuss auch um politische Folgerungen gehen. Es wird darum gehen, Folgerungen im rechtlichen Bereich zu ziehen, zu überlegen:
Welche rechtlichen Stellschrauben müssen wir verändern? Ich denke etwa an die Frage: Wie gestalten wir in
Europa die Datenschutz-Grundverordnung aus? Es wird
auch viele andere Themen geben, die uns bewegen. Ich
bin der festen Überzeugung, dass sie weit über den Bereich der Rechts- und Innenpolitik hinausgehen.
Das, was wir erleben, hat auch etwas damit zu tun,
dass unser Kontinent in vielen wirtschaftlichen Bereichen - ich nenne die Automobilindustrie, den Maschinenbau usw. - auf diesem Globus führend ist. Nicht führend auf diesem Globus ist unser Kontinent auf dem
Gebiet der digitalen Wirtschaft. Das hat auch etwas mit
der Frage zu tun, wer eigentlich in dieser Welt die Technologieführerschaft im Bereich der digitalen Wirtschaft
innehat. Ich wünsche mir, dass Europa nicht in einem
Akt der Hilflosigkeit auf andere Kontinente schaut, sondern dass Europa auch im Hinblick auf die Technologieführerschaft in diesen Bereichen auf Augenhöhe ist.
Dann haben wir wieder eine Chance, weltweit aufzutreten.
({5})
Ich wünsche mir, dass dieser Untersuchungsausschuss
viele Punkte offen anspricht, dass er in der Tat nicht haltmacht, wenn es um die Aufklärung von Missständen in
Institutionen geht. Ich wünsche mir aber auch, dass er
nicht etwa versucht, Nachrichtendienste, die für unser
Gemeinwesen wichtig sind und die sich an Recht und
Gesetz halten, unter einen Pauschalverdacht zu stellen.
Ich möchte von dieser Stelle aus ganz bewusst all den
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die bei Nachrichtendiensten, die sich an Recht und Gesetz halten, arbeiten,
sehr herzlich Dank sagen. Wir wollen nicht, dass sie unter Pauschalverdacht gestellt werden.
({6})
Wir wollen auch nicht, dass in der berechtigten Kritik
an anderen Ländern und anderen Regierungen, die geäußert werden muss, irgendwelche dumpfen Ressentiments
gegen andere Länder mitschwingen - Aufklärung ja,
dumpfe Ressentiments nein. In diesem Sinne wünsche
ich eine sachorientierte Arbeit des Untersuchungsausschusses. Ich hoffe, dass er zu einer Veranstaltung der
Aufklärung und nicht zu einer Veranstaltung des Klamauks wird.
Ich möchte mich noch einmal sehr herzlich bei allen
bedanken, die in den vergangenen Wochen daran mitgewirkt haben, dass wir einen gemeinsamen Antrag vorlegen können. In den Dank möchte ich auch all die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Fraktionen einschließen,
die sehr intensiv daran gearbeitet haben.
Vielen herzlichen Dank.
({7})
Vielen Dank. - Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der Linken und
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/843 zur Einsetzung eines Untersuchungsausschusses. Wer stimmt
für diesen Antrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Damit ist der Antrag mit den Stimmen des gesamten
Hauses angenommen und der erste Untersuchungsausschuss der 18. Wahlperiode eingesetzt.
({0})
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a bis 6 c auf:
a) Erste Beratung des von den Fraktionen der
CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur
Sukzessivadoption durch Lebenspartner
Drucksache 18/841
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz ({1})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Volker Beck ({2}), Monika Lazar, Ulle
Schauws, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ergänzung des
Lebenspartnerschaftsgesetzes und anderer
Gesetze im Bereich des Adoptionsrechts
Drucksache 18/577 ({3})
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz ({4})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
c) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Volker Beck ({5}), Luise Amtsberg, Katja
Keul, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zum Europäischen
Übereinkommen über die Adoption von Kindern ({6})
Drucksache 18/842
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz ({7})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Damit ist so beschlossen.
Für die Bundesregierung spricht jetzt Bundesminister
Heiko Maas.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Heute ist ein guter Tag für Familien,
und heute ist ein guter Tag für Kinder. Mit diesem Gesetzentwurf, den wir Ihnen heute vorlegen, sorgen wir
dafür,
({0})
dass Kinder das bekommen, was jedes Kind braucht und
verdient, nämlich Eltern. Ob Kinder Fürsorge, Zuwendung, Schutz und Erziehung erfahren, hängt nicht vom
Geschlecht ihrer Eltern ab. Auch in Regenbogenfamilien
können Kinder glücklich und geborgen aufwachsen.
({1})
Trotzdem hat das Gesetz bislang selbst die Sukzessivadoption bei Lebenspartnern nicht zugelassen. Kinder, die ihre Eltern verloren hatten, konnten zwar durch
eine ledige oder verpartnerte Person adoptiert werden.
Deren Lebenspartner aber durfte dieses Kind nicht adoptieren und ihm rechtlich kein Elternteil sein. Gerade Kindern, die schon einmal elternlos waren, wurde damit ein
zweiter Elternteil vorenthalten. Die Reform, die wir
heute vorlegen, macht Schluss mit dieser Situation, die
auch für viele Kinder nicht unproblematisch gewesen ist.
Sie stärkt die Regenbogenfamilien, indem die soziale
Familie endlich auch rechtlich zur Familie wird.
({2})
Schon heute wachsen adoptierte Kinder mit gleichgeschlechtlichen Eltern auf, auch wenn rein formal nur ein
Partner die Elternrechte hat. Indem wir das Verhältnis
zwischen dem Kind und dem sozialen Elternteil rechtlich anerkennen, stärken wir, wie ich finde, nicht nur das
Verhältnis zwischen beiden, sondern die ganze Familie
und vor allem auch deren gesellschaftliche Akzeptanz.
Für Kinder ist es wichtig, zu erleben, dass ihre Familie
genauso viel wert ist und genauso viel Anerkennung erfährt wie jede andere Familie auch. Die soziale Achtung
ist wichtig für die Entwicklung und das Wohlbefinden
dieser Kinder. Wer Regenbogenfamilien diese Anerkennung versagt, schadet deshalb auch dem Wohl der Kinder.
({3})
Tatsache ist aber: Für Kinder mit zwei Vätern oder
zwei Müttern ist es oft noch immer schwierig, sich zu ihren Eltern zu bekennen. Noch immer gibt es Vorbehalte
und Widerstände in unserer Gesellschaft. Das spüren
Kinder ganz intensiv.
({4})
Ich finde, wir müssen diese Vorbehalte überwinden. Dabei kann auch das Recht helfen.
Mit der Reform, die wir heute vorlegen, macht der
Gesetzgeber sehr deutlich, dass auch zwei Väter oder
zwei Mütter gute Eltern sein können und vor allen Dingen gute Eltern sein dürfen. Das ist für die betroffenen
Kinder, für ihre Eltern und für unsere gesamte Gesellschaft ein ganz wichtiges Signal.
({5})
Mit diesem Gesetz setzen wir die Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts aus dem vergangenen Jahr
eins zu eins um.
({6})
Wir korrigieren damit einen Verfassungsverstoß, nämlich das Verbot der Sukzessivadoption. Dieser Gesetzentwurf sattelt nicht drauf, sondern setzt genau das um,
wozu wir laut Grundgesetz verpflichtet sind.
({7})
Nicht mehr, aber auch nicht weniger, Herr Beck, darf es
heute werden; Spielraum nach unten gibt es nicht.
Auch wenn sich der Entwurf genau an die Vorgaben
aus Karlsruhe hält, erreichen wir damit, wie ich finde,
eine ganze Menge: Dann wird nämlich auch im geschriebenen Recht stehen, dass auch schwule oder lesbische
Paare ein Kind adoptieren dürfen.
({8})
Sie können dies nacheinander tun: im ersten Schritt mit
der Einzeladoption durch den einen Partner und im zweiten Schritt mit der Sukzessivadoption durch den anderen
Partner.
({9})
Wichtig, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist
dabei das Ergebnis, und das lautet: Erstens. Ein adoptiertes Kind kann in Zukunft auch rechtlich zwei Eltern des
gleichen Geschlechtes haben.
({10})
Zweitens. Schwule oder lesbische Paare können ein
Kind adoptieren und ihm eine Familie geben.
Meine Damen und Herren, diese Reform ist, wie ich
finde, ein weiterer und wichtiger Schritt, um den Familienbegriff der Vielfalt der sozialen Realität anzupassen.
Das klassische Schema „Vater-Mutter-Kind“ ist immer
noch das Familienmodell, das am weitesten verbreitet
ist; aber es ist längst nicht mehr das einzige. Die Menschen haben die Freiheit, in sehr vielen verschiedenen
Lebensentwürfen und Konstellationen zusammenzuleben, und sie nutzen diese Freiheit auch.
In vielen Teilen dieser Welt werden Schwule und Lesben noch heute verfolgt und unterdrückt - von Uganda
bis Russland. Ich bin froh darüber, dass dies in Deutschland anders ist. Bei uns kann jeder seinen Lebensentwurf
so leben, wie er oder sie das möchte - ohne Unterdrückung und ohne staatliche Bevormundung.
Die Reform, die wir heute vorlegen, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist nicht nur ein wichtiger
Schritt und ein guter Tag für Kinder und Familien, sie ist
auch ein Signal für Freiheit und für Selbstbestimmung;
auch das macht sie so besonders wichtig.
Herzlichen Dank.
({11})
Vielen Dank. - Für die Linke spricht Harald Petzold.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Dieser Tag hätte ein guter Tag für Familien und ein guter Tag für Kinder werden können; das
sollten wir uns schon vor Augen halten. Herr Minister
Maas, auch wenn ich Ihre Rede bemerkenswert finde,
hätte ich mir trotzdem gewünscht, dass Sie als derjenige,
der sozusagen für die Einhaltung von Recht und Gesetz
in diesem Land zuständig ist, mehr Mut gewagt hätten,
um tatsächlich die inzwischen ständige Rechtsprechung
des Bundesverfassungsgerichtes umzusetzen und eine
Harald Petzold ({0})
gemeinschaftliche Adoption von Kindern durch eingetragene Lebenspartnerschaften zuzulassen. Dazu haben
heute leider nur die Bündnisgrünen Gesetzentwürfe eingebracht. Ich kann gleich vorwegnehmen, dass wir als
Fraktion Die Linke diesen beiden Gesetzentwürfen zustimmen werden, weil wir sie für besser halten als den
Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen.
({1})
Ich sage Ihnen, verehrte Kolleginnen und Kollegen
von den beiden Koalitionsfraktionen: Ich kann nicht
nachvollziehen, was Sie uns heute zur Beratung vorlegen. Ihre Mitglieder waren es, die bei der Eröffnung des
Regenbogenfamilienzentrums hier in Berlin flammende
Grußworte gehalten haben. Ich war dankbar, dass der
Kollege Dr. Luczak die Worte gewählt hat: Im Verfassungsgefüge unseres gewaltenteilenden Staates sollten
wir uns nicht hinter zu erwartenden Entscheidungen des
Bundesverfassungsgerichtes verstecken, sondern selbstbewusst Position beziehen. Das gilt auch für Adoptionen
durch eingetragene Lebenspartnerschaften. - Der Gesetzentwurf, den Sie uns hier vorgelegt haben, ist weder
selbstbewusst, noch bezieht er Position oder macht unsere Verantwortung deutlich, für eindeutige Regelungen
zu sorgen.
Er beweist vielmehr, Herr Kollege Dr. Luczak, dass
Sie in Ihrer Fraktion weiterhin auf einer Mission Impossible sind und Ihre Fraktion lieber weiterhin dem
Stammtisch folgt, der sich beispielsweise hinter der
Massenpetition gegen den Bildungsplan in Baden-Württemberg versammelt
({2})
und damit weiterhin nicht anerkennen will, dass eingetragene Lebenspartnerschaften bei der Erziehung von
Kindern und Jugendlichen dieselben Rechte bekommen
müssen und vor allen Dingen dieselben Qualitäten haben.
({3})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Ihr Gesetzentwurf ist kein Millimeter mehr als das, was das Bundesverfassungsgericht im konkreten Klagefall, in dem es
um die Sukzessivadoption ging, geurteilt hat. In der Begründung haben die Richter aber Folgendes eindeutig
geschrieben - die Kolleginnen und Kollegen der Bündnisgrünen haben das auf der Titelseite ihres Gesetzentwurfes dankenswerterweise noch einmal zitiert -:
Unterschiede zwischen Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft, welche die ungleiche Ausgestaltung der Adoptionsmöglichkeiten rechtfertigen
könnten, bestehen nicht; insbesondere sind beide
Partnerschaften gleichermaßen auf Dauer angelegt
und rechtlich verfestigt …
Es gibt also keinen Grund, diese Gleichbehandlung
weiter zu verwehren. Deswegen ist nicht nachvollziehbar, wieso Sie uns hier heute einen derartigen Gesetzentwurf vorlegen.
Der Kern ist - Sie haben es selber gesagt, Herr Justizminister -: Zahlreiche Studien belegen seit Jahren immer
wieder, lesbische, schwule und transsexuelle Paare sind
genauso gute Eltern wie heterosexuelle Paare. - Auch
wenn Sie das nicht glauben wollen, sage ich es erneut:
Jawohl, viele Zehntausend Lesben, Schwule und Transsexuelle ziehen Kinder groß. Sie tun dies überwiegend
fantastisch und mit viel Liebe. Das Kindeswohl ist bei
diesen Paaren in genauso guten Händen wie bei heterosexuellen Paaren. Daher verdienen sie eine Gleichbehandlung, und wir fordern das konsequent ein.
({4})
Mit Ihrem Gesetzentwurf wird wieder so getan, als ob
es doch Gründe gibt, daran zu zweifeln. Ich sage Ihnen:
Sie tun das aus wahltaktischen Gründen inzwischen mit
Vorsatz, damit Sie genau diesen ewiggestrigen Teil der
Gesellschaft weiter als Wählerinnen und Wähler an sich
binden können und eben nicht die Auseinandersetzung
führen müssen, die wir führen müssten, um deutlich zu
machen, dass es hier keine Unterschiede gibt.
Ich sage erneut, wie ich auch in meiner ersten Rede
hier in diesem Hohen Hause gesagt habe: Haben Sie
endlich den Mut, die gesellschaftlichen Realitäten anzuerkennen!
Sie haben selbst auf die Gefährdungen in anderen
Ländern durch die Gesetzgebung dort hingewiesen. Es
gilt, dies international zu beachten. Sie sollten zum Beispiel nicht übersehen, dass in Russland gerade über ein
Gesetz beraten wird, durch das lesbischen und schwulen
Eltern die Kinder sogar wieder entzogen werden können.
Das ist ein unglaubliches Vorhaben, und wir müssen hier
als ein Land, das in dieser Frage eigentlich relativ weit
ist, ein Zeichen setzen.
Wir müssen dem Kindeswohl Rechnung tragen und
sollten den vielen Regenbogenfamilien in diesem Land
das Signal geben: Ihre Liebe, ihre Sorge, ihre Familienleistung und ihr Engagement sind großartig, und wir
danken ihnen dafür.
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist Elisabeth
Winkelmeier-Becker, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir reden heute über den Gesetzentwurf, der
die Sukzessivadoption eines Kindes durch den Partner in
einer eingetragenen Lebenspartnerschaft gesetzlich regelt. Unsere Regelung sieht vor, dass das Adoptivkind
des einen Partners auch von dem anderen angenommen
werden kann, unabhängig davon, ob die erste Adoption
vor oder auch schon während der bestehenden Lebenspartnerschaft erfolgt ist.
Der Minister sagte es schon: Wir setzen damit den
Auftrag des Bundesverfassungsgerichts um, das im Februar des letzten Jahres entschieden hat, dass wir bis zur
Mitte dieses Jahres eine entsprechende gesetzliche Regelung auf den Weg und ins Gesetzblatt bringen müssen.
Genau das tun wir. Ich bin an dieser Stelle froh, dass
Fristen, die aus Karlsruhe gesetzt werden, auch einmal
wieder eingehalten werden. Ich denke, das ist eine gute
Sache.
({0})
Gleichzeitig setzen wir das Europaratsabkommen um,
das diese Form der Adoption erst ermöglicht. Es würde
auch die Volladoption ermöglichen. Davon sehen wir allerdings bewusst ab. Die Regierung hat gesagt, dass davon ausdrücklich abgesehen wird.
({1})
Wir stehen nicht am Anfang der Diskussion. Wir haben die Diskussion schon mehrfach geführt.
({2})
Ein paar Argumente, ein paar Forderungen und ein paar
Reflexe auf beiden Seiten sind bekannt; so möchte ich es
sagen. Den einen gehen die Regelungen dieses Entwurfs
nicht weit genug, den anderen zu weit. Das ist in der
Politik nicht so selten, sondern eher der Normalfall.
Aber wir müssen sehen, wie wir auf diesem schmalen
Grat eine gute Lösung erreichen.
Ich verweise nur auf die Bedeutung unserer Diskussion im wahren Leben. Ich habe mich beim Amtsgericht
Köln - Köln! - erkundigt, welche Bedeutung diese Regelung hat, die nach der Entscheidung des Verfassungsgerichts so lange vorläufig gilt, bis diese Sache gesetzlich geregelt ist. Die Anzahl der Verfahren in dieser
Angelegenheit war null.
({3})
Ich sage das in beide Richtungen. Das ist ein Anlass, die
Emotionen vielleicht ein Stück weit herunterzufahren
und zu erkennen, dass das jetzt nicht die alles entscheidende Frage ist, obwohl ich die symbolische Bedeutung
durchaus anerkenne und nicht in Abrede stellen möchte.
Ich denke, wir legen mit dem Entwurf zur Regelung
der Sukzessivadoption eine in der Praxis gute Lösung
vor. Ich möchte für diese Lösung werben, nicht nur weil
sie uns das Verfassungsgericht ohnehin vorgegeben hat,
sondern weil diese nach meiner Ansicht in der Praxis
gute Lösungen ermöglicht.
Eine Adoption - das ist klar - muss immer aus dem
Blickwinkel des Kindes gedacht werden. Diesem Kind
fehlen - aus welchem Grund auch immer - ein Elternteil
oder beide Elternteile. Es geht darum, für dieses Kind
gute Eltern zu finden. Dabei die Wünsche der annehmenden Elternteile und des anzunehmenden Kindes zu
berücksichtigen, ist mit der Regelung, die wir heute vorlegen, möglich.
Für mich sind hier zwei Sätze gleichermaßen bedeutsam. Sie sind beide gleich wichtig, obwohl sie in einem
Spannungsverhältnis zueinander stehen. Der eine Satz
ist: Wir gehen davon aus, dass es für die Entwicklung eines Kindes am allerbesten ist, wenn es mit Vater und
Mutter aufwächst. - Diesen Satz sage ich hier mit aller
Deutlichkeit und ganz bewusst. Der zweite Mann ersetzt
nicht die Mutter, die zweite Frau ersetzt nicht den Vater,
sondern jedes Geschlecht hat seine eigenständige Bedeutung, auch für die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes.
({4})
Der zweite Satz ist: Ob ein Mann ein guter Vater ist
oder ob eine Frau eine gute Mutter ist, ist keine Frage ihrer sexuellen Orientierung.
({5})
Noch einmal zu dem ersten Satz: Wir haben im vergangenen Jahr über die Situation der nichtehelichen Väter
diskutiert. Da hat es für den Satz: „Ein Kind braucht Vater und Mutter“, Applaus gegeben, und zwar von allen
Seiten.
Ich habe als Familienrichterin viele Fälle verhandelt,
in denen Wert darauf gelegt wurde, dass ein Kind zu
dem getrennt lebenden Vater oder zu der getrennt lebenden Mutter Kontakt hat, nicht nur um das Trauma der
Trennung zu überwinden, sondern auch um den anderen
Elternteil in seiner verschiedenen Geschlechtlichkeit zu
erleben; das ist wichtig.
Uns liegen neue Erkenntnisse aus der Väterforschung
vor, die unterstreichen, dass Väter von Anfang an für die
Persönlichkeitsentwicklung des Kindes wichtig sind.
Nicht zuletzt versuchen wir auch, mehr Erzieher in die
Kitas zu bekommen, gerade weil wir wissen, dass sie etwas anderes einbringen als die überwiegend tätigen Erzieherinnen.
Ich komme zu dem anderen Satz. Ich kenne schwule
Männer, die tolle Väter sein könnten. Ich kenne lesbische Frauen, die tolle Mütter sind. Der Staat macht sich
deren Fähigkeit, zu erziehen, zunutze, indem er Pflegekinder in homosexuelle Partnerschaften gibt - mit gutem
Erfolg.
({6})
Das ist anzuerkennen; das sage ich hier ausdrücklich.
Die Stiefkindadoption ist etabliert und mittlerweile gängige Praxis.
Was heißt das jetzt für die Adoption vor dem Hintergrund dieser zwei Sätze, die sich aneinander reiben? Das
heißt für mich: Ich kann mir keine Regelung und vor allem keine Praxis vorstellen, in der es egal ist, ob ein
Kind ein Elternpaar bekommt, das aus einem Vater und
einer Mutter oder aus zwei Vätern bzw. zwei Müttern
besteht. Für mich ist das ein starkes Kriterium und wird
es auch bei jeder konkreten Entscheidung über eine
Adoption bleiben. Diesen Gedanken bringen wir im Gesetzentwurf durch die Beschränkung auf die Sukzessivadoption zum Ausdruck.
({7})
Aber die Sukzessivadoption bietet auch Raum, im
konkreten Einzelfall anders zu entscheiden. Wenn ein
Kind bereits einen Lebenspartner als Elternteil hat, ist es
doch klar, dass es das Beste für dieses Kind ist, wenn es
auch den anderen Partner als Elternteil bekommt. Genau
das ermöglicht die Sukzessivadoption.
Denken Sie bitte an die Redezeit.
Es gibt andere Fälle in der Praxis. Denken Sie an die
langjährigen Pflegekinder, die sich selber wünschen, adoptiert zu werden, oder an den Patenonkel eines Waisenkindes, der das Kind kennt und zu dem es auch will. In
solchen Fällen liegt es doch auf der Hand, dass dort, und
zwar auch im Wege einer Sukzessivadoption, eine gute
Lösung in der Praxis gefunden werden kann. Ich habe
Vertrauen in die Adoptionsvermittlungsstellen, dass sie
mit dieser Regelung sehr verantwortungsvoll umgehen
und gute Eltern für die Kinder suchen.
Herzlichen Dank.
({0})
Vielen Dank. - Das Wort hat jetzt Volker Beck, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Geschätzte Kollegin Winkelmeier-Becker, ich
nehme Ihnen ab, dass Sie es in der Sache gut meinen und
eigentlich auch eine aufgeklärte Position vertreten wollen. Es ist Ihnen bloß noch nicht ganz gelungen.
Sie haben gerade selber zu Recht gesagt - das ist Praxis -,
dass Jugendämter häufig gerade gleichgeschlechtliche
Lebenspartnerschaften Pflegekinder aufziehen lassen,
weil sie oftmals niemand anderen finden als ein gleichgeschlechtliches Paar, das bereit ist, sich insbesondere
um ältere Pflegekinder zu kümmern, weil diese Kinder
und Jugendliche nicht ganz einfach sind, vielleicht schon
Vorprägungen haben und man sich als erziehender Elternteil ein bisschen mehr anstrengen muss.
Wenn aber diese Pflegekinder, weil die Herkunftsfamilie familienrechtlich auf sie verzichtet, zur Adoption
freigegeben werden, dann wollen Sie nicht zulassen,
dass diese Kinder gemeinschaftlich adoptiert werden.
Was ist das für ein Unsinn?
({0})
Warum müssen diese Eltern ein, zwei Jahre warten, bis
sie gemeinsam familienrechtlich für die Kinder Verantwortung tragen, obwohl sie es tatsächlich unter Umständen schon seit Jahren tun? Ihnen geht es bei dieser Position nicht um das Kindeswohl. Ihnen geht es um
Vorteile. Ihnen geht es um Bauchgefühl und um falsche
Rücksichtnahmen am rechten Rand unserer Gesellschaft
in Ihrer Partei und bei der AfD.
({1})
Das finde ich skandalös. So macht man keine Rechtspolitik.
Aber nun zu Ihnen, Herr Minister. Sie haben mit
schönen Worten einen Gesetzentwurf begründet, wobei
ich dachte: Die Rede hätten Sie besser zu unserem Gesetzentwurf gehalten als zu dem Ihrem.
({2})
Ich will Ihnen eines mitgeben: Sie sind Justizminister,
nicht der Notar des Bundesverfassungsgerichts.
({3})
Sie haben heute einen Gesetzentwurf vorgelegt, der es
hinbekommt, an der Rechtslage schlichtweg gar nichts
zu ändern. Das, was Ihr Gesetzentwurf aufschreibt, gilt
so seit dem 19. Februar 2013 durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts bereits unmittelbar. Schön ist
nur, dass wir jetzt eine neue Fundstelle dafür bekommen,
nämlich das BGB und das Lebenspartnerschaftsgesetz.
({4})
Gesellschaftspolitisch und rechtspolitisch weniger ambitioniert als dieser Gesetzentwurf, Herr Minister, kann
man überhaupt nicht sein.
Aber ganz ohne Aussage ist Ihr Gesetzentwurf in der
Tat nicht. In der Begründung - komischerweise spricht
in der Begründung der Koalition jetzt die Koalition für
die Bundesregierung - heißt es:
Die Bundesregierung wird das Übereinkommen
von 2008
- zum Adoptionsrecht umsetzen. Von der in dem Übereinkommen eröffneten Möglichkeit, im nationalen Adoptionsrecht die
Volker Beck ({5})
gemeinsame Adoption durch Lebenspartner zuzulassen, wird sie keinen Gebrauch machen.
Außer einem Nein zur gemeinschaftlichen Adoption
hat Ihr Gesetzentwurf also keine Substanz. Das finde ich
für die Sozialdemokratie schon beschämend.
({6})
Sie sind im Wahlkampf vollmundig angetreten: für
100 Prozent Gleichstellung, für die Öffnung der Ehe
- ich habe die Anzeige dabei - und für die Gleichstellung von gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften
und künftigen Ehen im Adoptionsrecht.
Dass Sie das mit der Ehe nicht hinbekommen, Frau
Kollegin, ist geschenkt. Ich weiß, wie schwierig das ist
und dass das für die Union eine hoch ideologische Frage
ist. Dass Sie das aber bei der Adoption noch nicht einmal
versucht haben, finde ich in der Tat beschämend. Von
100 Prozent Gleichstellung, den Wählerinnen und
Wählern versprochen, ist 0 Prozent Rechtsänderung
übriggeblieben. Weniger geht nun wirklich nicht.
({7})
Sie haben als Notar nicht einmal die Entscheidung
des Bundesverfassungsgerichts ordentlich umgesetzt.
Sie haben offensichtlich in Ihrem Ministerium noch
nicht einmal jemanden beauftragt, das Urteil bis zum
Ende durchzulesen. In Randnummer 104 steht - der
Kollege hat das schon teilweise zitiert -:
Unterschiede zwischen Ehe und eingetragener
Lebenspartnerschaft, welche die ungleiche Ausgestaltung der Adoptionsmöglichkeiten rechtfertigen
könnten, bestehen nicht;
Dann sagt das Bundesverfassungsgericht, dass die Bestimmung im Lebenspartnerschaftsgesetz, die das Adoptionsrecht beschränkt, verfassungswidrig ist. Aber das
Bundesverfassungsgericht gibt Ihnen, dem Gesetzgeber,
die Aufgabe auf, diese Frage zu klären. Es weist darauf
hin, dass das nicht nur über die Einführung der gemeinschaftlichen Adoption geht.
Neben der naheliegenden Angleichung der Adoptionsmöglichkeiten eingetragener Lebenspartner an
die für Ehepartner bestehenden Adoptionsmöglichkeiten wäre auch eine allgemeine Beschränkung der
Adoptionsmöglichkeiten denkbar, sofern diese für
eingetragene Lebenspartner und Ehepartner gleich
ausgestaltet würden.
Das Bundesverfassungsgericht hat Ihnen klar auf den
Weg gegeben: Sie dürfen beim Adoptionsrecht nicht
zweierlei Recht für Ehe und Lebenspartnerschaft bestehen lassen. Genau das tun Sie aber mit Ihrem Gesetzentwurf. Ich finde, Ihr Gesetzentwurf ist ein Fall für die
Haftpflichtversicherung, Herr Notar; denn Sie haben
hier einen Schaden herbeigeführt.
({8})
Es geht nicht nur um Recht und Gesetz und darum, ob
Sie Ihre Wahlversprechen eingehalten haben. Das Problem ist schlichtweg: Adoptionskindern muten Sie zu,
erst nach ein, zwei Jahren durch ein Sukzessivadoptionsverfahren tatsächlich zu einer Familie mit zwei Elternteilen zu kommen, die sorgeberechtigt und unterhaltspflichtig sind und gegenüber denen das Kind
Erbansprüche hat. Zuvor haben diese Kinder nur ein
Elternteil. Das ist eine sozial- und familienrechtlich instabilere Situation. Das gereicht dem Kind nur zum
Schaden. Wer in dieser Debatte noch einmal das Wort
„Kindeswohl“ in den Mund nimmt und diese Position
verteidigt und vertritt, sollte vor Scham im Boden
versinken.
({9})
Vielen Dank. - Für die SPD-Fraktion hat jetzt das
Wort Dr. Karl-Heinz Brunner.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Lieber Kollege Beck,
dann wäre ich der Nächste, der vor Scham im Boden
versinken müsste. Ich tue es aber nicht; denn ich bin zutiefst davon überzeugt, dass uns das Bundesverfassungsgericht wieder einmal gezeigt hat, wo es langgeht. Es
sagt glasklar: Alle Menschen sind vor dem Gesetz
gleich. - Dies gilt bei einer Adoption durch gleichgeschlechtliche Lebenspartner und - noch viel wichtiger für alle Kinder dieses Landes. Nehmen Sie es mir nicht
übel, aber eigentlich hätten wir selbst darauf kommen
müssen. Ich weiß, dass der große Teil der Abgeordneten
des Deutschen Bundestages auch darauf gekommen ist.
Leider haben wir dies noch nicht - ich sage das ganz bewusst - über alle politischen Gegensätze hinweg selbst
in die Hand genommen. Mein Wunsch ist, dass wir die
Parteigrenzen außer Acht lassen und sagen: Wir müssen
die Kinder und die Familien in den Mittelpunkt stellen.
Lieber Kollege Beck, ich gehe davon aus, dass Sie in
Koalitionsverhandlungen wahrscheinlich auch kein
besseres Ergebnis erzielt hätten.
({0})
Ja, wir freuen uns, wenn in Deutschland Kinder großgezogen werden, wenn sie geborgen, gefördert, umsorgt
und geliebt sind, egal welche sexuelle Orientierung die
Eltern haben. Wir wollen Familien, Solidarität und gemeinsames Einstehen für die Kinder, ganz egal in welcher Konstellation. Wir leben in einer offenen Gesellschaft, und wir stehen dazu. Wir, die SPD, stehen dafür
ein, ohne Zögern, ohne Lavieren und ohne Angst. Aber
ich weiß, dass dies in Deutschland und auch in diesem
Hohen Haus keine hundertprozentige Zustimmung
erfährt. Ich weiß, dass sich manche Kolleginnen und
Kollegen unseres geschätzten Koalitionspartners noch
immer schwertun, den Schritt in Richtung Gleichstellung so zu gehen, wie ich und vielleicht auch andere in
diesem Hause ihn gerne gehen würden. Ich akzeptiere
dies. Gerade deshalb möchte ich Sie gerne mitnehmen,
Ihnen den Weg erleichtern und Ihnen dazu fünf Argumente an die Hand geben.
Erstens haben wir im Koalitionsvertrag bereits festgelegt, rechtliche Regelungen, die gleichgeschlechtliche
Partnerschaften schlechterstellen, zu beseitigen - das
haben wir noch vor uns -, und wir haben - das haben wir
heute vorliegen - den Gesetzentwurf zur Umsetzung des
Urteils des Bundesverfassungsgerichts vereinbart. Das
machen wir jetzt.
Zweitens. Familie hier, Ehe da, Lebenspartnerschaft
dort - das sind in unserer Gesellschaft keine Gegensätze
mehr. Ich sage ganz deutlich: Familie ist da, wo Solidarität herrscht, wo Menschen füreinander einstehen, wo ein
Kind in behüteten Verhältnissen aufwachsen kann, wo es
sich gut entwickeln kann, dort, wo es daheim ist. Das hat
nichts mit Mann und Frau, sondern das hat etwas mit
Liebe zu tun.
({1})
Drittens. Kinder in homosexuellen Ehen entwickeln
sich psychisch ganz normal.
({2})
Es gibt nichts, was darauf hindeutet, dass sie es schwerer
hätten als Dicke, Dünne, Kleine oder Große, von Diskriminierung ganz zu schweigen. Schließlich hat das das
Staatsinstitut für Familienforschung in Bamberg bestätigt, und die müssen es wissen.
Viertens. Gleichgeschlechtliche Partnerschaften werden in der Bevölkerung meist Homoehe genannt, nicht
Partnerschaft, sondern Ehe. Selbst die Bild-Zeitung
schreibt nur Homoehe. Damit ist klar, dass eingetragene
Lebenspartner wie Ehepartner leben und zweifelsohne
die Verantwortung für sich und für ihre Kinder und
Angehörigen übernehmen wie Ehepartner und so, wie
wir das in Deutschland wollen. Gut, dass der allgemeine
Sprachgebrauch schon etwas weiter ist als die Gesetzgebung.
Fünftens: die Realität. Es gibt sie schon längst, die
Stiefeltern, die Pflegeeltern, die Patchworkfamilien, die
ihren Kindern Schutz und Geborgenheit geben. Das verdient Anerkennung. Unterschiede werden gelebt, öffentlich, unabhängig von jedem Schubladendenken. Warum
sollten wir einen anderen Maßstab anlegen, warum soll
es bei Sukzessivadoptionen Ausnahmen geben? Wenn
irgendjemand die Gleichstellung bremsen möchte, dann
ist es, glaube ich, nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts eh schon zu spät. Der Zug fährt schon. Das
nächste Gesetz ist vor der Tür.
({3})
Dieser Gesetzentwurf ist ein weiterer Schritt in die
richtige Richtung, aber er darf es nicht allein bleiben.
Dazu sollten wir künftig keinen Wink unseres Bundesverfassungsgerichts mehr benötigen. Haben wir den
Mut, die Augen für die Realität zu öffnen und die Fragen
zu beantworten, die wir für unsere Gesellschaft beantworten müssen. In welcher Gesellschaft wollen wir leben? In was für einer Gesellschaft sollen unsere Kinder
aufwachsen? Füreinander einstehen, sorgen, lieben und
beschützen - was ist uns das wert? Glauben Sie mir:
Wenn wir diese Fragen fern von parteipolitischem
Kalkül und fern von unseren parteipolitischen Unterschieden sehen, dann steht am Ende nicht nur die
Gleichstellung, sondern auch die Ehe für Schwule und
Lesben.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit und bei der
Präsidentin, dass sie mir ein paar Sekunden hinzugegeben hat.
Vielen Dank.
({4})
Vielen Dank. - Nächste Rednerin in der Debatte ist
Frau Dr. Sütterlin-Waack für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen
und Kollegen! Ich glaube aus den bisherigen Redebeiträgen entnehmen zu können, dass wir uns darüber einig
sind, dass durch die Sukzessivadoption die rechtliche
Stellung von Adoptivkindern in der schon dargestellten
speziellen Situation verbessert wird.
Die Kinder entwickeln nach erfolgter Zweitadoption
ein sogenanntes doppelstrahliges Kindschaftsverhältnis
zu beiden Elternteilen. Somit haben auch diese Kinder
zwei Elternteile, denen sie vertrauen und die für sie
rechtlich einstehen. Sie bekommen eine zweite Bezugsperson, die für sie unterhaltspflichtig ist und bei der sie
erbberechtigt sind. Alles zusammengenommen ist wichtig. Dadurch verbessern wir sowohl die soziale als auch
die rechtliche Situation der betroffenen Kinder.
Selbstverständlich bleibt auch bei der Sukzessivadoption das allgemeine Adoptionsverfahren aufrechterhalten. Dies ist im Wesentlichen in § 1741 BGB festgeschrieben. Dort heißt es - jetzt muss ich doch das Wort
„Kindeswohl“ in den Mund nehmen; das werde ich in
meiner Rede noch öfter tun -:
({0})
Die Annahme als Kind ist zulässig, wenn sie dem
Wohl des Kindes dient und zu erwarten ist, dass
zwischen dem Annehmenden und dem Kind ein
Eltern-Kind-Verhältnis entsteht.
Im Einzelfall wird also entschieden, ob ein Paar oder
eine Einzelperson für die Adoption eines ganz bestimmten Kindes infrage kommt oder nicht. Im Mittelpunkt
des Adoptionsverfahrens steht also das Kindeswohl.
Daran darf und wird sich nichts ändern.
({1})
Das Kindeswohl ist nach gängiger Definition die
nachhaltige Verbesserung der persönlichen Verhältnisse
und der Rechtsstellung des Kindes. Unsere Familiengerichte treffen in Zusammenarbeit mit den Adoptionsbehörden letztendlich die Entscheidung im Kindeswohlinteresse. Ich habe vollstes Vertrauen in die Fähigkeit
unserer deutschen Familiengerichte zu ausgewogenen
Urteilen.
Ich will es noch einmal hervorheben: Die für uns zentrale Frage ist: Dient die Adoption dem Kindeswohl?
Auch das Bundesverfassungsgericht hat dies in seinen
Entscheidungsgründen vorangestellt. Es hat zu dieser
Frage im Zusammenhang mit der Sukzessivadoption
Stellungnahmen von elf Sachverständigen eingeholt.
Zehn davon äußerten sich positiv; einer hatte Bedenken.
Auch wegen der überwiegenden Zustimmung der Fachleute zur Sukzessivadoption bestanden für das Verfassungsgericht keine Zweifel. Das gilt auch für uns. Ich
werbe daher um die Zustimmung zum Gesetzentwurf zur
Sukzessivadoption.
Meine sehr geehrten Damen und Herren der Opposition, bei diesem wichtigen Thema werden Sie mich in
meiner ersten Rede sicher nicht von der Antwort auf die
Frage befreien: Wie halten Sie es mit der Volladoption
bei eingetragenen Lebenspartnern?
({2})
Ich gebe zu, dass ich lange darüber nachgedacht habe,
wie ich mich zu dieser Frage stellen soll. Die Stimmen,
die den letzten oder vorletzten Schritt zur rechtlichen
Gleichstellung fordern, sind zwar laut, aber für uns ist
festzustellen, dass die grundsätzliche Frage, ob Kinder in
einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft genauso gut
aufwachsen können wie bei Mann und Frau, immer noch
gesellschaftlich stark umstritten ist. Auch aus der wissenschaftlichen Literatur ist mir keine belastbare Studie
bekannt, die darüber verlässlich Auskunft erteilt. Die
vielzitierte Studie der Uni Bamberg ist nicht allgemein
anerkannt.
({3})
Ihr werden erhebliche Schwächen vorgehalten, vor allen
Dingen, weil sie nicht repräsentativ sei.
Auch die Anhörung des Rechtsausschusses zum
gleichlautenden Gesetzentwurf der Grünen am 6. Juni
2011 förderte kein einheitliches Bild zutage. Einige der
Sachverständigen haben ausgeführt, dass ein Kind, das,
aus welchen Gründen auch immer, nicht in seiner Herkunftsfamilie aufwächst, schon dadurch besonderen Belastungen ausgesetzt ist.
({4})
Weitere Belastungen sollten daher vermieden werden.
Der Gesetzgeber, also wir, wurde auch ermahnt, das
Adoptionsrecht nicht als Instrument zum Abbau von gesellschaftlichen Diskriminierungen zu gebrauchen. Der
Sachverständige warnte davor, über das Adoptionsrecht
Gleichstellungspolitik zu betreiben.
Wegen der sich aus Art. 6 Grundgesetz ergebenden
Wächterfunktion des Staates müssen wir hier aber Gewissheit haben. Solange wir diese nicht haben, werden
wir dem Gesetzentwurf der Grünen auf Zulassung der
Volladoption durch eingetragene Lebenspartner nicht
zustimmen. Diese Ablehnung hat nichts, aber auch gar
nichts damit zu tun, dass wir gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften nicht akzeptieren. Dies heißt aber
nicht automatisch, dass sie Anrecht auf Kinder haben.
Das hat niemand.
Jetzt zitiere ich Sie, Herr Beck:
Kinder haben … ein Recht auf Liebe, Fürsorge,
Aufmerksamkeit und Geborgenheit.
Im Umkehrschluss ist die Adoption aber keine Maßnahme zur Heilung von Kinderlosigkeit von Paaren, egal
welcher geschlechtlichen Orientierung. Sinn und Ziel
von Adoptionen ist eine mögliche Hilfe für bereits geborene Kinder, die aus unterschiedlichsten Gründen ihre
Eltern verloren haben und für die deshalb eine neue Familie gesucht wird.
Ich möchte am Ende noch einmal auf die Wächterfunktion des Staates und die damit verbundene Verantwortung zurückkommen. Die Adoption ergeht durch einen staatlichen Hoheitsakt. Der Staat ist also an der
Entstehung von rechtlichen Familienbeziehungen aktiv
beteiligt. Daraus erwächst die besondere Verantwortung
des Staates. Er darf eine solche Beziehung nur schaffen,
wenn es dem Kindeswohl dient. Also noch einmal: Solange wir keine Gewissheit haben, dass die Volladoption
durch gleichgeschlechtliche Lebenspartner vollumfänglich dem Kindeswohl entspricht, können wir derartigen
gesetzlichen Vorhaben nicht zustimmen.
({5})
Herzlichen Dank. - Das war Ihre erste Rede. Ich gratuliere Ihnen im Namen des ganzen Hauses dazu.
({0})
Der nächste Redner ist Dr. Volker Ullrich, CDU/
CSU-Fraktion. Bitte schön.
({1})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen
und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Zum Abschluss der Debatte sei noch einmal daran erinnert, dass es bei der Umsetzung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts eben doch um die Verbesserung von
Kinderrechten und um die Verbesserung des Kindes1836
wohls geht. Es ist natürlich durchaus möglich, diese Debatte unter dem Vorzeichen der Gleichberechtigung
gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften zu führen. Wir alle sind uns in diesem Hohen Hause einig: Wir
erkennen gemeinsam an, dass in gleichgeschlechtlichen
Lebenspartnerschaften Werte gelebt werden, die insgesamt in dieser Gesellschaft wichtig sind und die eine
Bindung verschaffen. Aber es ist auch wichtig, anzuerkennen, dass es einen Wert hat, die Rechte von Kindern
zu verbessern.
Die Koalitionsvorlage stärkt die rechtliche Stellung
von bereits bestehenden emotionalen Beziehungen. Denken Sie daran, dass in einer gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaft der eine Partner beispielsweise das
Sorgerecht hat; der andere hat es nicht. Der eine Partner
ist unterhaltsverpflichtet; der andere ist es nicht. Der
eine hat einen Auskunftsanspruch im Krankheitsfall; der
andere hat ihn nicht. Durch die Sukzessivadoption bekommt ein Kind ein Mehr an Rechten. Es bekommt die
Möglichkeit, zusätzlich abgesichert zu werden. Deswegen ist dieser Gesetzentwurf richtig und zielführend.
({0})
Vielleicht ist es in diesem Zusammenhang bedauerlich, dass wir durch das Bundesverfassungsgericht dazu
gezwungen worden sind, diesen Schritt zu gehen.
({1})
Aber es sei auch daran erinnert, dass das Bundesverfassungsgericht kein Ersatzgesetzgeber ist und es dem Gesetzgeber freistehen muss, Wertentscheidungen selbst zu
treffen, nach eigener Einschätzung.
({2})
Dementsprechend können wir auch die Frage der
Volladoption in einem anderen Licht betrachten. Es ist
etwas dann gleich zu behandeln, wenn es von seiner Eigenart her gleich ist und wenn sich eine Ungleichbehandlung verbietet. Dort aber, wo Ansatzpunkte einer
Differenzierung vorhanden sind, kann es eine gesetzgeberische Wertentscheidung sein, eine Ungleichbehandlung vorzunehmen.
({3})
Ich denke, dass es zwischen einer Sukzessivadoption
und einer Volladoption durchaus einen zu betrachtenden
Unterschied gibt. Bei der Sukzessivadoption ist die Bindung des Kindes an einen Lebenspartner bereits vorhanden, während bei der Volladoption zwei völlig neue
Bindungen geknüpft werden. Angesichts dieses Unterschiedes sollten wir gut überlegen, ob das, was wir bislang wissen, was wir bislang an Studien haben, ausreicht, eine Gleichbehandlung herbeizuführen, oder ob
es besser ist, zu sagen: Das Kindeswohl gebietet es, dass
der Regelfall eben doch der sein soll, dass eine Adoption
durch Mann und Frau erfolgt, sodass quasi Emotionen
und andere Aspekte der Erziehung von beiderlei Geschlecht zum Tragen kommen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Beck? - Bitte schön.
Nur, damit auch ich als Nichtjurist es verstehe: Das
Bundesverfassungsgericht hat sich ja für dieses Urteil,
das Sie heute umzusetzen meinen, genau diese Fragen
gestellt, Sachverständige vom Deutschen Familiengerichtstag, von Psychologenverbänden, von der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter angehört
- alle Fachverbände waren einbezogen - und kommt
dann zu dem Schluss:
Unterschiede zwischen Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft, welche die ungleiche Ausgestaltung der Adoptionsmöglichkeiten
- nicht der Sukzessivadoption, sondern der Adoptionsmöglichkeiten rechtfertigen könnten, bestehen nicht …
({0})
Weiter führt es aus, was ich vorhin schon gesagt habe
- ich lese es einfach noch einmal vor; ich habe es schon
ein paar Mal gemacht, weil es ja offensichtlich niemand
zur Kenntnis nehmen will, zumindest auf der rechten
Seite des Hauses -:
Neben der naheliegenden Angleichung der Adoptionsmöglichkeiten eingetragener Lebenspartner an
die für Ehepartner bestehenden Adoptionsmöglichkeiten
- also Sukzessivadoption, gemeinschaftliche Adoption,
Stiefkindadoption wäre auch eine allgemeine Beschränkung der
Adoptionsmöglichkeiten denkbar, sofern diese für
eingetragene Lebenspartner und Ehepartner gleich
ausgestaltet würden.
Wo lesen Sie in diesem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes eine Legitimation für den Gesetzgeber,
bei Adoptionsmöglichkeiten zwischen Lebenspartnerschaften und Ehepaaren weiterhin zu differenzieren? Ich
habe Ihnen gerade zwei Sätze aus dem Urteil vorgelesen,
die allgemein für das Adoptionsrecht sagen: Das dürfen
wir nicht mehr. Wir können uns zwar überlegen, wie wir
es machen, aber nicht, ob wir es machen.
({1})
Herr Kollege Beck, das Verlesen einzelner Zitate aus
einem Verfassungsgerichtsurteil ersetzt nicht die gesetzgeberische Wertentscheidung.
({0})
Wir treffen die gesetzgeberische Wertentscheidung so,
dass wir die Sukzessivadoption aus den Gründen, die
meine Kollegen und ich gerade dargestellt haben, in unserem Gesetzentwurf zulassen, dass wir als Gesetzgeber
aber an der grundsätzlichen Wertentscheidung, dass vor
dem Hintergrund des Kindeswohls eine Volladoption
vornehmlich durch Mann und Frau erfolgen soll, im Augenblick nichts ändern. Das ist keine Wertentscheidung
gegen gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften,
({1})
sondern das ist im Grunde genommen eine Entscheidung
für das Kindeswohl.
({2})
Vielen Dank.
({3})
Vielen Dank. - Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/841, 18/577 ({0}) und 18/842 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das
ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte
an der EU-geführten Ausbildungsmission
EUTM Somalia auf Grundlage des Ersuchens
der somalischen Regierung mit Schreiben
vom 27. November 2012 und 11. Januar 2013
sowie der Beschlüsse des Rates der Europäischen Union 2010/96-GASP vom 15. Februar
2010 und 2013/44-GASP vom 22. Januar 2013
in Verbindung mit der Resolution 1872 ({1})
des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen
Drucksache 18/857
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({2})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsauschuss gemäß § 96 der GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Für die Bundesregierung
hat Frau Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen das
Wort.
({3})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Erlauben Sie mir, dass ich zunächst einmal auf der Tribüne Soldatinnen und Soldaten des
FüSK-Referates Stationierung aus Bonn im Rahmen der
politischen Bildung ganz herzlich zu dieser Debatte begrüße.
({0})
Es geht um die europäische Trainingsmission in Somalia. Wir haben in den letzten Wochen viel über Afrika
diskutiert, in vielerlei Hinsicht ein Kontinent der großen
Chancen, sehr vielfältig mit seinen 54 Staaten. Afrika erscheint aber auch gerade mit Blick auf Somalia als ein
Kontinent der Krisen mit Bürgerkriegen, fragiler Staatlichkeit und zunehmendem Terrorismus. Es geht heute
um die Problematiken Gewalt, Hunger und Flucht. Das
sind die prägenden Merkmale des Landes am Horn von
Afrika, die in fataler Weise nicht nur enorme Auswirkungen auf die Bevölkerung selber haben, sondern auch
auf die Nachbarstaaten.
Gemeinsam mit der Afrikanischen Union gibt es ein
breites Bündnis von Staaten und Organisationen, das
sich seit Jahren am Horn von Afrika engagiert. Wir haben einen strategischen Rahmen der europäischen Mission, in dem viele verschiedene Untergruppierungen
sind. Das Ziel ist, in der Region Sicherheit, vor allem im
Seegebiet, wiederherzustellen, Somalia zu stabilisieren
und vor allem staatliche Strukturen wieder aufzubauen.
Hier gilt: Es gibt keine Alleingänge; auch diese Mission
steht unter dem Dach der Vereinten Nationen, gemeinsam mit der Afrikanischen Union und mit der EU. Wir
engagieren uns hier zusammen in der vernetzten Sicherheit. Das ist unser Grundprinzip.
({1})
Bei den Zielen, die wir uns gesteckt haben, liegt noch
ein weiter Weg vor uns. Vieles wurde schon erreicht im
Kampf gegen die Piraterie und bei der Sicherung weiterer Regionen des Festlandes, vor allem in der Hauptstadt
Mogadischu. Das ist vor allem ein Verdienst der Truppen
der afrikanischen Friedensmission AMISOM, die zum
Teil schwere Verluste im Kampf gegen die Al-SchababMiliz erleiden mussten. An dieser Stelle möchte ich für
diesen Einsatz, der bei uns in Deutschland keine große
Aufmerksamkeit erhält, den Soldatinnen und Soldaten
vieler afrikanischer Staaten danken und an ihre Opfer erinnern.
({2})
Auch Deutschland engagiert sich seit Jahren am Horn
von Afrika: immer in der vernetzten Sicherheit - Diplomatie, wirtschaftliche Entwicklung und Sicherheit -, immer mit dem Respekt vor der souveränen Entscheidung
afrikanischer Staaten, wo und wie Hilfe nötig ist. Ein
Teil davon ist die jetzt diskutierte europäische Trainingsmission für die somalischen Streitkräfte, die zunächst in
Mogadischu war, dann aus Sicherheitsgründen nach
Uganda ausgelagert worden ist und jetzt wieder nach
Mogadischu verlegt worden ist.
Rund 3 600 Soldatinnen und Soldaten und rund
120 militärische Ausbilder, Train the Trainer, wurden in
Uganda ausgebildet. Sie sind jetzt der Kern der Streitkräfte, die sich in Somalia für Stabilität, Sicherheit und
den Schutz der Bevölkerung einsetzen.
Wir möchten gerne mit unseren Partnern in Somalia
an den Erfolg, dessen Grundlage in Uganda gelegt worden ist und der jetzt wieder in Mogadischu stattfindet,
anknüpfen. Deshalb bittet die Bundesregierung heute um
die Zustimmung zu einer erneuten Beteiligung deutscher
Soldatinnen und Soldaten an der Ausbildungsmission im
somalischen Zentrum. Es geht um rein militärisches
Training und den Aufbau militärischer Strukturen. Es
geht dabei auch um das Verständnis für die rechtsstaatliche Einbettung und zivile Kontrolle des Militärs. Daher
wollen wir in Mogadischu auch Beratungsfunktionen im
somalischen Generalstab und im Verteidigungsministerium wahrnehmen. Wir haben vorher Diskussionen gehabt, ob die Sicherheitslage in Mogadischu dieses zulässt.
Wir hatten zugesichert, dass wir noch eine sorgfältige
Prüfung sowohl bei den europäischen Partnern in Somalia als auch in den Nachbarländern vornehmen und ihnen
eine gewissenhafte Bewertung der Sicherheitslage vorlegen werden. Die Bedrohungslage in Mogadischu ist
durch Angriffe und Terrorismus nach wie vor erheblich.
Das muss ich ganz klar sagen. Aber es sind Sicherheitsmaßnahmen durch unsere europäischen Partner im
Camp Al Jazeera vorgenommen worden. Auch die Bewegungen zwischen Camp Al Jazeera und dem Verteidigungsministerium rund um die Mission sind so, dass das
Risiko als militärisch vertretbar und politisch verantwortbar angesehen wird. Zurzeit sind bereits elf europäische Nationen bei der Trainingsmission in Mogadischu.
Rund 100 Ausbilder sind an der Trainingsmission in
Mogadischu beteiligt. Jetzt geht es um die Frage, ob sich
Deutschland mit einer Personalobergrenze von bis zu
20 Soldatinnen und Soldaten wieder an der Ausbildungsmission beteiligt. Wir bitten um ein Mandat für die
nächsten zwölf Monate, obwohl diese Mission selber für
die nächsten zwei Jahre angelegt ist. Warum für die
nächsten zwei Jahre? Es ist geplant, dass 2016 Wahlen in
Somalia stattfinden werden, die für die Zukunft Somalias entscheidend sind. Wir möchten uns gerne auf dem
Weg zur Stabilisierung des Landes an dieser Trainingsmission beteiligen; aber sie ist nicht das einzige Moment.
Wichtig ist, dass uns bewusst ist, dass die gesamte
Rahmenstrategie zur Stabilisierung des Landes, die dort
vor Ort unter dem Dach der europäischen Mission verfolgt wird, nur erfolgreich sein kann, wenn es nicht nur
bei der Sicherheitsarchitektur, sondern auch bei der politischen Konsolidierung auf dem Weg zu den Wahlen und
vor allem bei der gesellschaftlichen Aussöhnung innerhalb des Landes Fortschritte gibt. Wichtig ist mir auch,
dass wir uns immer darüber im Klaren sind, dass unser
Engagement nur dann erfolgreich sein kann, wenn es mit
der Afrikanischen Union und den vielen anderen Partnern, die sich dort vor Ort engagieren, eng verzahnt und
gut abgestimmt ist.
Vor diesem Hintergrund bitte ich Sie um Unterstützung, auch im Sinne unserer Soldatinnen und Soldaten,
für diesen wichtigen und richtigen Einsatz.
Vielen Dank.
({3})
Vielen Dank, Frau Ministerin. - Nächster Redner ist
der Kollege Jan van Aken, Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau von
der Leyen, das war nicht gut.
({0})
Sie haben den Soldatinnen und Soldaten oben auf der
Besuchertribüne nicht die ganze Wahrheit über diesen
Einsatz gesagt.
({1})
Noch im Dezember letzten Jahres hat Ihre Bundesregierung ausdrücklich gesagt, dass die Sicherheitslage in
Mogadischu viel zu instabil sei, um auch nur einen einzigen der Kolleginnen und Kollegen, die da oben sitzen,
dorthin zu schicken.
({2})
Gerade haben Sie gesagt: Mittlerweile haben wir Sicherheitsmaßnahmen ergriffen, jetzt ist alles gut. - Sie haben
nichts davon gesagt, dass noch vor einem Monat, am
13. Februar, direkt bei dem Ausbildungscamp, in das die
Bundeswehrsoldaten geschickt werden sollen, von alSchabab ein sehr schwerer Anschlag verübt worden ist:
6 Tote, 19 Verletzte, viele davon schwer verletzt. Das ist
genau der Weg, den die Kolleginnen und Kollegen gehen
müssen; Sie haben ihnen nicht und niemandem in diesem Haus erklärt, was sich denn in den letzten drei Monaten an der Sicherheitslage geändert haben soll,
({3})
nachdem Sie vor drei Monaten noch der Meinung waren,
dass es viel zu gefährlich ist. Es ist auch heute noch viel
zu gefährlich.
({4})
Der Ausbildungsstandort, den Sie sich jetzt ausgesucht haben, ist aus einem weiteren Grund ein richtiges
Problem: Sie führen jetzt die Ausbildung am Standort
der AMISOM durch, das heißt im gleichen Camp, Seite
an Seite mit der kämpfenden Truppe. So werden die
Bundeswehrsoldaten natürlich als Teil der kämpfenden
Truppe der Afrikanischen Union wahrgenommen, und
das erhöht die Gefährdung zusätzlich. Wie es dort für die
deutschen Soldaten ausreichend sicher sein soll, das
müssen Sie mir einmal erklären. Das müssen Sie aber
auch den Soldatinnen und Soldaten erklären, und erklären Sie es bitte auch einmal deren Familien.
({5})
Nicht nur wegen der schlechten Sicherheitslage lehnen wir diesen Einsatz ab, sondern auch, weil er politisch falsch ist. Sie, Frau von der Leyen, wissen es, Sie
alle wissen es, ich weiß es. Die jetzige somalische Regierung hat trotz Beteiligung der verschiedenen Clans
und regionalen Strukturen überhaupt keinen Rückhalt in
der Bevölkerung. Das ist auch kein Wunder, denn sie ist
erstens nicht gewählt und zweitens überhaupt nicht als
Regierung erkennbar. Sie kümmert sich in keinster
Weise um die Bevölkerung, in keinster Weise um die Sicherung der Grundbedürfnisse, um die Nahrungsmittelversorgung, um die Gesundheitsversorgung. Das Einzige, womit diese Regierung sich beschäftigt - und Sie
unterstützen sie dabei -, ist, sich selbst zu schützen; aber
die Menschen im Land schützt sie nicht. Die Sicherheitskräfte, die Sie jetzt in Mogadischu ausbilden, werden
ausschließlich dafür eingesetzt, den Regierungssitz zu
schützen, sonst gar nichts - wenn die Soldaten nicht
mittlerweile längst desertiert sind.
Vor allem hat diese sogenannte Regierung - da kommen wir zur entscheidenden politischen Frage, zu der
Sie leider wenig gesagt haben - nichts, aber auch gar
nichts unternommen, um eine Verhandlungslösung mit
dem mächtigsten Gegner dort, al-Schabab, auf den Weg
zu bringen. Das erste Ziel von Verhandlungen wäre eine
Waffenruhe. Aber entsprechende Verhandlungen werden
nicht nur von der Regierung in Mogadischu abgelehnt,
sondern auch von all ihren internationalen Unterstützern.
Da heißt es ganz lapidar: Mit Terroristen verhandelt man
nicht.
Vor vier Jahren habe ich an dieser Stelle gesagt, dass
man in Afghanistan mit al-Qaida verhandeln muss. Da
bin ich von Ihnen ausgelacht worden. Zwei Jahre später
haben Sie diese Meinung selbst vertreten. Das war gut.
Aber jetzt müssen Sie auch in Bezug auf Somalia zur
Kenntnis nehmen: Sie werden in diesem Land nur dann
Frieden erreichen, wenn Sie mit dem Hauptgegner, alSchabab, verhandeln. Solange Sie das nicht tun, werden
Sie den dortigen Krieg nicht beenden können.
({6})
Sie wissen, dass Ihre Strategie gescheitert ist.
({7})
Die einzige Möglichkeit, den Bürgerkrieg zu beenden,
liegt in einem Dialog und in Verhandlungen, nicht in
Waffengewalt.
({8})
Jetzt komme ich zum letzten Punkt.
({9})
Ich finde es wirklich erschütternd, dass Sie gar nichts
dazu sagen, Frau von der Leyen.
Vor gut einem Jahr wurde das Waffenembargo gegen
Somalia gelockert mit dem Argument, die Regierung
müsse sich besser bewaffnen, um sich schützen zu können. Nun ist veröffentlicht worden, dass es einen Bericht
an den Sanktionsausschuss der Vereinten Nationen gibt,
in dem auf vielen Seiten detailliert dargelegt wird, dass
die sogenannte Regierung in Mogadischu daran beteiligt
ist, die Waffen, die jetzt neu ins Land kommen, weiterzuleiten, unter anderem an al-Schabab. Vor kurzem
wurde die Lockerung des Waffenembargos noch einmal
verlängert. Das heißt, Sie - nicht Deutschland, aber andere Länder - unterstützen eine Regierung, beliefern sie
mit Waffen, und diese Waffen werden über die Clanstrukturen direkt an al-Schabab weitergegeben. Angesichts des Berichtes an den Sanktionsausschuss der Vereinten Nationen fragen wir Sie: Was tun Sie damit? Die
Antwort ist: Die Bundesregierung kennt diesen Bericht
gar nicht. - Sie nehmen ihn nicht zur Kenntnis; Sie wollen ihn nicht sehen. Das ist der Skandal: Sie unterstützen
eine Waffenschieberbande, die sich Regierung nennt,
und befeuern damit noch den militärischen, gewalttätigen Konflikt in Somalia.
({10})
Ich fasse zusammen: Erstens. Sie riskieren das Leben
von Bundeswehrsoldaten, indem Sie sie mitten in ein
hochgefährliches Mogadischu schicken.
({11})
Zweitens. Sie unterstützen damit eine Bürgerkriegspartei, die sich am Waffenhandel bereichert. Drittens. Sie
und auch die Regierung in Mogadischu setzen sich nicht
für Verhandlungen für eine Friedenslösung ein. Ich
finde, das sind drei sehr gute Gründe, diesen Auslandseinsatz abzulehnen.
Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Deutschland
überhaupt keine Waffen mehr exportieren sollte.
Ich danke Ihnen.
({12})
Für die Bundesregierung erteile ich nun Herrn Staatsminister Michael Roth das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Gäste auf der Besuchertribüne! Schon seit Wochen wird die öffentliche Debatte in Deutschland bezüglich der Afrikapolitik nur von einer Frage bestimmt:
Werden deutsche Soldatinnen und Soldaten zum Einsatz
kommen, um die politischen Krisen in Zentralafrika,
Mali, Südsudan oder Somalia in den Griff zu bekommen?
Eine Verengung der Diskussion auf die Frage der Militäreinsätze ist nicht nur sachlich falsch; sie zeugt auch
von einer zutiefst verzerrten Wahrnehmung unseres
Nachbarkontinents. Afrika als Kontinent der Gefahren
und Risiken - von diesem einfachen Bild müssen wir
uns lösen.
({0})
Trotz aller Probleme und Schwierigkeiten, die es weiterhin gibt, zeigt die Entwicklung der vergangenen
Jahre: Wir Europäerinnen und Europäer haben allen Anlass, unseren Blick mit etwas mehr Zuversicht in Richtung Afrika zu richten. Unser Blick wird realistischer,
wenn wir zur Kenntnis nehmen: Afrika ist auch ein Kontinent der Hoffnung, der Chancen und Potenziale. Deshalb lassen Sie uns heute bei der Entscheidung über das
Mandat für die Entsendung von
({1})
deutschen Soldatinnen und Soldaten zur EU-Ausbildungsmission in Somalia nicht nur den sicherheitspolitischen Rahmen im Blick haben. Dieses Mandat ist vielmehr ein kleiner, aber wichtiger Baustein eines
Gesamtansatzes in der Afrikapolitik.
Afrika hat sich in den vergangenen Jahren viel schneller gewandelt als unser Blick von außen auf Afrika. Dabei müssen wir uns bewusst sein: Der Kontinent, seine
Länder und Regionen entwickeln sich nicht nur mit zunehmender Dynamik, sondern auch in ganz unterschiedlicher Weise und Geschwindigkeit. Wir müssen lernen,
diese Entwicklungen und die damit verbundenen Chancen frühzeitig zu erkennen und in ihrer jeweiligen Eigenart zu erfassen.
So komplex die Ausgangslagen sind, so differenziert
sollten auch unsere Antworten sein. Wenn wir erfolgreich sein wollen, gilt es, das gesamte Instrumentarium
unserer Außenpolitik einzusetzen. Denn Fragen von
Politik und Sicherheit, von Wirtschaft und Gesellschaft
sind untrennbar miteinander verknüpft.
Frieden und Sicherheit sind zwingende Voraussetzungen für wirtschaftliche Entwicklung und Wohlstand. Das
Wachstum Afrikas in den vergangenen Jahren eröffnet
beachtliche wirtschaftliche Perspektiven für zahlreiche
Länder. Aber wir müssen auch dafür Sorge tragen, dass
der wirtschaftliche Aufschwung am Ende bei den Menschen ankommt. Mehr Arbeitsplätze, eine gerechte Einkommensverteilung und eine gesicherte Versorgung mit
Nahrungsmitteln, Wasser, Energie und Gesundheitsleistungen sind letztlich das beste Stabilitätsprogramm für
den ganzen Kontinent.
({2})
Es gibt, liebe Kolleginnen und Kollegen, aber eben
auch die Schattenseiten. Die Bundesregierung sieht mit
Sorge, wie in vielen - zu vielen - afrikanischen Staaten
Frauen, ethnische, religiöse oder sexuelle Minderheiten
teilweise unterdrückt und politisch verfolgt werden.
Dazu dürfen und werden wir nicht schweigen.
({3})
Unsere Auseinandersetzung mit Afrika darf deshalb
nicht in eine sicherheitspolitische Debatte heute, eine
entwicklungspolitische Debatte morgen und eine wirtschaftspolitische Debatte übermorgen zerfasern. Unser
vielseitiges Engagement für und in Afrika muss ineinandergreifen, wenn wir einen verantwortungsvollen Beitrag für mehr politische und wirtschaftliche Stabilität
leisten wollen.
Der vierte EU-Afrika-Gipfel, der im April 2014 in
Brüssel stattfindet, ist ein guter Anlass, um gemeinsam
mit unseren afrikanischen Partnern Bilanz zu ziehen und
neue Impulse für die Afrikapolitik zu vereinbaren. Es
wird eines der großen Projekte der Europäischen Union
in den kommenden Jahren sein, eine gemeinsame Strategie für Afrika zu entwickeln, die der Bedeutung unseres
Nachbarkontinents endlich gerecht wird. Unsere Kernanliegen sind eine fortschreitende Integration Afrikas
und die Förderung von sicherheitspolitischer Eigenverantwortung. Die Afrikanische Union spielt dabei eine
ganz zentrale Rolle.
Unsere Unterstützung beschränkt sich nicht auf das
Krisenmanagement, etwa durch finanzielle Unterstützung für die AU-Missionstruppen in Somalia oder durch
Hilfe beim Aufbau einer afrikanischen Friedens- und
Sicherheitsarchitektur. Um Frieden und Sicherheit dauerhaft zu sichern, brauchen wir mehr als reaktives Krisenmanagement. Noch viel wichtiger ist eine vorausschauende Krisenprävention, damit politische Krisen
und gewaltsame Konflikte im besten Fall gar nicht erst
entstehen. Erfolgsbeispiele gibt es einige: die Einrichtung
von Frühwarnsystemen oder das Grenzmanagementprogramm der Afrikanischen Union, bei dem durch gemeinsame Grenzdemarkationslinien Konflikte hinsichtlich
des Grenzverlaufs ausgeräumt werden sollen. Krisenprävention betreiben wir aber auch, indem wir die restriktive Kontrolle von Kleinwaffen in Westafrika oder der
Sahelzone fördern.
Auch in Mali geht es uns nicht allein um die Ausbildung von Soldatinnen und Soldaten. Wir unterstützen
das Land bei einer umfassenden Reform des Sicherheitssektors. Die Kollegen haben ja recht: Niemand, weder
die Bundesverteidigungsministerin noch irgendjemand
anderes, hat hier behauptet, dass die Lage dort stabil und
sicher ist. Aber wir tun eine ganze Menge, um die Lebensverhältnisse der Menschen dort konkret zu verbessern. Die Reform des Sicherheitssektors spielt dabei eine
ganz entscheidende Rolle. An dieser Stelle will ich Mali
als ein positives Beispiel dafür nennen, dass wir unser
Engagement mit gutem Grund auf einzelne Länder konzentrieren: Langjährige Erfahrung, Vertrautheit mit den
Verhältnissen vor Ort und gegenseitiges Vertrauen sind,
wie im Fall Mali, eine gute Voraussetzung dafür, dass
unser Handeln am Ende von Erfolg gekrönt ist.
Staaten und Gesellschaften in Afrika gewinnen vielerorts an Stabilität. Rechtsstaatlichkeit, der Zugang zu Bildung und eine starke Zivilgesellschaft sind hierfür ganz
besonders wichtige Voraussetzungen. Ein funktionierender Rechtsstaat trägt maßgeblich dazu bei, die Menschen- und Bürgerrechte zu schützen und gute wirtschaftliche und unternehmerische Rahmenbedingungen
zu schaffen. Afrikanische Staaten stehen dabei vor ganz
unterschiedlichen Problemen und Schwierigkeiten, bei
deren Bewältigung wir ihnen mit Rat und Tat zur Seite
stehen. Ein gutes Beispiel dafür ist der deutsch-tansanische Erfahrungsaustausch bei der Ausbildung von
Rechtsstaatsvertretern in Daressalam. Diese kleinen Erfolgsgeschichten machen uns Mut. Lassen Sie uns darauf in der Zukunft aufbauen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der von mir skizzierte umfassende afrikapolitische Ansatz ist Grundlage
unserer heutigen Entscheidung. Mit dem Votum des
Bundestages für eine weitere Beteiligung deutscher
Streitkräfte an der EU-geführten Ausbildungsmission
EUTM Somalia können wir heute ein wichtiges Signal
für das deutsche und europäische Engagement am Horn
von Afrika senden. Dieses Signal kommt in mehrfacher
Hinsicht zur rechten Zeit. Seit dem 3. März 2014 gehen
die Truppen der Mission AMISOM der Afrikanischen
Union gemeinsam mit Einheiten der somalischen Streitkräfte gegen die radikalislamistische al-Schabab vor.
Den Kern der somalischen Streitkräfte bilden dabei die
rund 3 600 somalischen Soldaten, die bis Ende 2013 im
Rahmen der EU-Mission ausgebildet wurden.
Neben dieser militärischen Offensive müssen aber
auch weitere nichtmilitärische Schritte folgen. Nur so
kann es gelingen, die befreiten Gebiete dauerhaft zu halten und die Lebensbedingungen der dortigen Bevölkerung nachhaltig zu verbessern. Auch hier gibt es deutsche Unterstützung, beispielsweise durch KfW-Kredite
zur Finanzierung sogenannter Quick-Impact-Projekte.
Mit diesen Projekten unterstützen wir die Menschen in
der Region schnell und gezielt.
Unverzichtbar ist aber auch, dass wir der somalischen
Zentralregierung aktiv beim Wiederaufbau von handlungsfähigen Verwaltungs- und föderalen Strukturen helfen. Nur dann kann sie den Stabilisierungsprozess des
Landes so gestalten und steuern, wie es ihr in der Übergangsverfassung von 2012 zugewiesen wird; auch da
hilft es nichts, die Lage schöner zu reden, als sie tatsächlich ist. Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, braucht
die Zentralregierung aber zwingend einen funktionierenden Sicherheitsapparat, dessen Strukturen und Fähigkeiten derzeit nur sehr schwach ausgeprägt sind. An genau
diesem Punkt setzt die Mission EUTM Somalia an. Wir
wissen aber sehr genau: Schnelle Erfolge dürfen wir
nicht erwarten. Vor uns und unseren Partnern in Somalia
liegt eher ein langer Marathonlauf als ein kurzer Sprint.
Ein erster wichtiger Schritt auf diesem Weg war es,
den Ausbildungsauftrag um Beratungsleistungen für das
somalische Verteidigungsministerium und die militärischen Führungsstrukturen zu erweitern. Ebenso richtig
ist es, die Mission nun schrittweise von Uganda, wo die
Ausbildung bislang stattfand, nach Somalia zu verlagern. Auf diesem Fundament baut die Mission nun vor
Ort weiter auf. Unsere somalischen Partner zeigen viel
Wertschätzung für diese Unterstützung, auch weil diese
nun endlich im eigenen Land stattfindet.
Klar ist: Für die Mission in Mogadischu ist die Bedrohungslage ohne Zweifel höher als bislang in Uganda.
Daher hat die Bundesregierung die Sicherheitslage - das
will ich hier ganz deutlich sagen - sehr sorgfältig geprüft. Auch wenn die Situation in Somalia auf absehbare
Zeit weiterhin sehr fragil bleibt, ist angesichts der bereits
ergriffenen Schutzmaßnahmen eine erneute Beteiligung
deutscher Soldatinnen und Soldaten nicht nur sicherheitspolitisch richtig, sondern auch vertretbar. Ein Restrisiko von Rückschlägen muss angesichts der instabilen
Lage in Somalia allerdings immer einkalkuliert werden.
Dessen sind sich die Bundesregierung ebenso wie die
Europäische Union bewusst.
({4})
Wir prüfen die Bedrohungslage fortwährend und passen
die Schutzmaßnahmen gegebenenfalls an.
Mit zunächst einem permanent vor Ort stationierten
Berater - einem Berater - und der abschnittsweisen Entsendung von drei Ausbildern bleibt der Umfang der
deutschen Beteiligung an EUTM Somalia zunächst verhältnismäßig bescheiden. Dennoch haben die somalische
Regierung und unsere europäischen Partner dieses wichtige Signal unserer Unterstützung für Somalia mit Nachdruck begrüßt. Um auch künftig flexibel auf Personalbedarfsmeldungen der Mission reagieren zu können, sieht
das Mandat eine Obergrenze von maximal 20 Soldatinnen und Soldaten vor.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Engagement
Deutschlands und der EU zur Unterstützung der Sicherheitsinstitutionen in Somalia ist eingebettet in einen umfassenden Ansatz zur Stärkung der Zivilgesellschaft, der
staatlichen Strukturen und der wirtschaftlichen Entwicklung Somalias. Deutschland setzt mit der erneuten Beteiligung an der EUTM-Mission in Somalia ein Zeichen
Herr Staatsminister, darf ich Sie an Ihre Redezeit erinnern?
- der Solidarität und der konkreten Hilfe. Unser militärisches Engagement ist ein bescheidenes, aber notwendiges Signal. Deshalb bitte ich Sie alle, liebe Kolleginnen und Kollegen, um Unterstützung.
Herzlichen Dank.
({0})
Vielen Dank, Herr Staatsminister. - Ich erteile jetzt
dem Kollegen Omid Nouripour, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir beraten heute in erster Lesung die Entsendung von 20 deut1842
schen Soldatinnen und Soldaten im Rahmen einer EUMission mit etwa 75 Soldaten nach Mogadischu. Diese
Mission gibt es seit 2010; sie wurde bis letztes Jahr in
Uganda durchgeführt und ist schrittweise nach Mogadischu gezogen. Es gibt durchaus - das muss ich zugestehen - einige Gründe, die für diese Mission sprechen.
Natürlich wird sich die Situation in Somalia nicht stabilisieren, wenn man nicht hilft, die Staatlichkeit wiederaufzubauen. Natürlich wird diese Staatlichkeit nicht aufgebaut werden können, wenn man nicht mithilft, die
Sicherheitskräfte aufzubauen. Natürlich kann man es per
se gut finden, dass es eine integrierte EU-Mission ist.
Das ist fast der einzige Punkt, bei dem ich anderer Meinung als der Kollege van Aken bin.
Ich halte den Umzug nach Mogadischu an sich erst
einmal für ein gutes Signal, weil sich die Situation in
Mogadischu in den letzten Jahren tatsächlich verbessert
hat. Die EU hat ja eine zivile Repräsentanz in der Stadt
aufgebaut. Das ist ein Zeichen, an dem man erkennen
kann, dass es vorangeht in der Stadt. Deswegen ist der
Umzug an sich richtig.
Aber es gibt auch einiges, was uns bisher völlig
schleierhaft ist. Es ist vorhin beschrieben worden: Bis
vor drei Monaten war die Sicherheitslage so, dass die
Deutschen nicht dorthin konnten. Wir wollen eigentlich
immer noch eine Erklärung der Bundesregierung, was
sich verändert hat. Wir haben im Ausschuss nachgefragt.
Die Antwort, die wir bekommen haben, war: Eigentlich
hat sich die Sicherheitslage nicht verändert.
Wir würden gerne wissen - das ist der entscheidende
Punkt für uns Grüne -, wie wirksam die Ausbildungsmission bisher war. Darauf gibt es bislang keine wirklichen Antworten. Wenn man fragt, wie erfolgreich sie
denn war, ist die Antwort der Bundesregierung: Sie war
erfolgreich. Wenn man nachfragt, worauf diese Behauptung sich stützt, wird gesagt: Es gibt internationale Beobachter, die das genauso sehen. Wenn man fragt, welche das denn waren, bekommt man einfach keine
Antwort. Das ist nicht ausreichend.
({0})
Frau Ministerin, Sie haben zumindest mich gerade zutiefst verwirrt. Sie haben mir das Gefühl gegeben, dass
es relativ bekannt und klar ist, wo zum Beispiel die Trainer, die von uns ausgebildet werden, danach zum Einsatz
kommen, wen sie ausbilden. Diesbezüglich bin ich auf
konkrete Antworten sehr gespannt. Bisher haben wir darauf nämlich keine Antwort bekommen. Wir lesen und
hören immer nur, dass es eine immense Zahl von Deserteuren gibt. Das Thema, dass Waffen dort eins zu eins
weitergegeben werden, ist vom Kollegen van Aken völlig zu Recht benannt worden. Es gibt auch viele Berichte
darüber, dass die Mission bisher eigentlich nur einen einzigen Clan ausgebildet hat. Das ist alles andere als beruhigend.
Wir wissen auch nicht, was eigentlich mit den Leuten,
die nicht desertieren, passiert, wenn sie mit der Ausbildung fertig sind. Bekommen sie einen Sold? Woher bekommen sie einen Sold? Wie werden sie eigentlich untergebracht? Gibt es so etwas wie ein Monitoring zu
dem, was sie dann tun? Gibt es so etwas wie ein Rechtsstaats- oder Menschenrechtsmonitoring für die Arbeit
derjenigen, die wir ausbilden? Das alles fehlt komplett.
Es gibt kaum Antworten. Das bedeutet: Es gibt viele
gute Gründe, kritisch hinzuschauen.
Eines hat mich jetzt am meisten irritiert, Herr Staatsminister. Die Frau Ministerin hat ja völlig zu Recht gesagt: Das Militärische reicht nicht. Wir brauchen ein
politisches Konzept, und das muss eingebettet sein. - Sie
haben gerade damit geschlossen, dass das Militärische
nun in das zivile und politische Konzept eingebettet sei,
nur haben Sie es nicht beschrieben. Ich habe das noch
nicht verstanden.
({1})
Ich habe noch nicht verstanden, wo jetzt der politische
Ansatz ist und was wir da eigentlich genau tun wollen.
Sie sagen lediglich, dass es ein Konzept gibt.
Das, was uns bisher vorliegt, ist relativ rätselhaft.
Wenn das so bleibt, wie es jetzt vorliegt - das ist ja die
erste Lesung; wir haben noch die Ausschussberatungen
vor uns, und da werden wir uns das sehr genau anschauen -, kann ich meiner Fraktion beim bestem Willen
nicht empfehlen, diesem Mandat zuzustimmen. Notwendig ist, dass wir wirklich Antworten bekommen, dass Sie
uns eine Evaluation dessen vorlegen, was bisher passiert
ist, dass uns tatsächlich plausibel erklärt wird, was mit
denjenigen passiert, die wir ausgebildet haben, und dass
der Vorwurf, die Waffen würden eins zu eins weitergegeben, tatsächlich entkräftet wird. Alles, was ich mir bisher
international angeschaut habe, alle Berichte und Reportagen, die ich gelesen habe, sprechen eine andere Sprache; sie sprechen nicht dafür, dass es Ihnen möglich sein
wird, das in der nächsten Sitzungswoche in den Ausschüssen zu erklären. Aber wir lassen uns gerne überraschen.
({2})
Vielen Dank, Herr Kollege Nouripour. - Ich erteile
jetzt das Wort dem Kollegen Florian Hahn, CDU/CSU.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Wir wissen, dass die Fraktion Die Linke bisher jeden Auslandseinsatz der Bundeswehr dogmatisch abgelehnt hat und auch in Zukunft ablehnen wird,
({0})
egal ob Atalanta, KFOR, Active Endeavour oder andere.
Es ist nur immer wieder spannend, mitunter auch absurd,
welche Argumente oft krampfhaft gesucht werden, damit nicht auffällt, dass es Ihnen eigentlich nur um den
Erhalt dieses Dogmas geht.
({1})
Im Vorfeld der heutigen Debatte zur Beteiligung bewaffneter deutscher Soldaten an der EU-geführten Ausbildungsmission EUTM Somalia konnte man dazu schon
einiges von Ihnen lesen. Der Kollege Liebich beispielsweise gab via Berliner Zeitung zum Besten: Deutschland
soll sich stärker in der zivilen Konfliktprävention engagieren,
({2})
statt sich in neue militärische Abenteuer in Somalia und
anderen Ländern zu stürzen.
({3})
Der Kollege Liebich hat hier offensichtlich ein paar
Dinge durcheinandergebracht: In Somalia geht es weder
um eine neue Mission noch um ein Abenteuer. Diese
Mission besteht seit 2010. Bis Ende 2013 wurden
3 600 somalische Sicherheitskräfte ausgebildet, die jetzt
den Kern der somalischen Armee bilden. Das ist im Übrigen ein sichtbares Zeichen des Erfolgs der Mission.
Von einer neuen Mission oder einem Abenteuer kann
also nicht gesprochen werden. Vielmehr geht es um
Nachhaltigkeit. Deshalb ist es gut, wenn die Sicherheitslage es zulässt, dass wir uns dort weiter engagieren können.
Somalia ist leider ein Beispiel für ein Land, das dringend Sicherheitsstrukturen braucht, damit zivile Hilfe
überhaupt möglich ist. Die Ärzte ohne Grenzen beispielsweise haben im August 2013 ihr Engagement in
Somalia eingestellt, weil es in diesem Land einfach zu
gefährlich ist. Für Konfliktprävention à la Linke ist es
hier zu spät. Oder glauben Sie wirklich ernsthaft, dass
sich Mitglieder der Al-Schabab-Miliz mit Mitarbeitern
der Rosa-Luxemburg-Stiftung zu einem Antiaggressionstraining zusammensetzen würden?
({4})
Der Kollege Liebich von der Linken vermutet laut
Berliner Zeitung außerdem, dass die Bundesregierung
seit Wochen an der Umsetzung einer politischen Doktrin
für mehr Bundeswehr in Afrika arbeitet, ohne dass der
Deutsche Bundestag darüber informiert wird. Ich darf
dem Kollegen versichern: Die Tatsache, dass er davon
nichts weiß, ist einfach dem Umstand geschuldet, dass es
diese verschwörerische Doktrin gar nicht gibt.
Herr Kollege Hahn, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen van Aken?
Herr von Aken kann noch kurz zuhören und dann
gerne eine Intervention machen.
Die Bundesregierung sagt sehr offen und transparent,
was sie vorhat: Sie will sich für Afrika noch stärker einsetzen als bisher.
({0})
Deshalb wurden die Entwicklungshilfemittel für diesen
Kontinent unter dem neuen Minister Gerd Müller bereits
um 100 Millionen Euro aufgestockt. An dieser Stelle
möchte ich dem Minister übrigens danken, dass er sich
bereits mehrfach in seiner kurzen Amtszeit vor Ort ein
Bild gemacht hat - wie kürzlich bei seinem Besuch in
Mali oder in der Zentralafrikanischen Republik.
Wir geben mehr als 50 Prozent unserer Entwicklungshilfe für Afrika aus. Um aber wirklich etwas erreichen
zu können, braucht es den vernetzten Ansatz von militärischer, diplomatischer, wirtschaftlicher und ziviler Unterstützung. Das haben nicht nur unsere Verteidigungsministerin, Frau von der Leyen, und Staatsminister Roth
in dieser Debatte richtigerweise zum Ausdruck gebracht,
sondern auch die Bundeskanzlerin bei ihrer Regierungserklärung heute morgen. Wir wollen die afrikanischen
Länder ertüchtigen, sich selbst zu helfen. Dabei unterstützen wir sie, wir beraten sie, und wir bilden aus. Für
mich ist wichtig: Dieser Einsatz macht Sinn, weil er genau dieser Ertüchtigungsstrategie Rechnung trägt. Mogadischu ist gefährlich; das wissen wir. Unsere Soldaten
werden ihre Arbeit aber in einem stark geschützten Bereich leisten können. Dennoch wird es nicht ungefährlich sein. Wir sollten trotzdem oder gerade deshalb den
Einsatz fortführen.
Herzlichen Dank.
({1})
Vielen Dank, Herr Kollege Hahn. - Als Nächster hat
das Wort der Kollege Thorsten Frei, CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren
heute über die Verlängerung des Einsatzmandats für eine
Trainingsmission in Somalia, am Horn von Afrika. Somalia ist ein gescheiterter Staat mit einer geschundenen
Bevölkerung. Seit 1991, seit dem Sturz des autoritären
Regimes von Siyad Barre, gibt es dort keine funktionierende Regierung mehr, geschweige denn eine legitimierte. Flut- und Hungerkatastrophen, Dürre und Bürgerkrieg haben dafür gesorgt, dass eine ausreichende
Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln, Trinkwasser und Medikamenten nicht möglich ist. All das
sind die Rahmenbedingungen, angesichts derer wir über
eine Verlängerung des Mandats diskutieren.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir legen
unser Augenmerk in diesen Tagen verstärkt auf die
Krim, die Ukraine und Russland. Das verstellt dennoch
nicht den Blick dafür, dass die größten sicherheitspolitischen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts nicht von
den starken und großen Ländern dieser Erde ausgehen
werden, sondern von den schwachen und fragilen.
Genauso ist es auch in Somalia. Dort sehen wir, welche Auswirkungen das hat und dass sie nicht auf die engere Region begrenzt sind: Der globale Handel wird
durch die Piraterie erschwert, die Menschenrechte werden mit Füßen getreten, Rückzugs- und Trainingsräume
für Terroristen entstehen, und die Menschen dort können
nicht so leben, wie es ihnen zukommt.
Deshalb, glaube ich, ist es richtig, dass die Bundesregierung in der vergangenen Legislaturperiode eine abgestimmte Handlungsrichtlinie dafür entwickelt hat, wie
man mit fragilen Staaten umgehen sollte. Wenn man sich
das genauer anschaut, dann sieht man: Das ist eine politische Blaupause für die politischen Herausforderungen,
die uns in Somalia begegnen. Es geht zum Beispiel um
die Multilateralität. Ich denke in diesem Zusammenhang
daran, dass wir auf der Grundlage einer UN-Resolution
arbeiten, dass wir im Rahmen einer EU-Mission die Lasten auf breite und viele Schultern verteilen und dass wir
auf Einladung der somalischen Regierung am Horn von
Afrika sind.
Wenn man darüber hinaus schaut, wie es mit der
Wirksamkeit, dem Mehrwert und der Verhältnismäßigkeit aussieht, dann erkennt man, dass auch unter diesem
Summenstrich ein positives Ergebnis steht. Erinnern Sie
sich etwa daran, dass es bei allen Schwierigkeiten gelungen ist, mit der seit 2012 amtierenden Regierung auf einen anderen Pfad der Entwicklung zu kommen, oder
auch daran, dass es trotz der Anschläge - auch in den
letzten Tagen wieder - gelungen ist, für mehr Sicherheit
zu sorgen und die al-Shabab-Milizen zurückzudrängen.
Daran erkennt man, dass man hier auf einem guten Weg
ist, der weitergegangen werden muss.
Das ist eine in höchstem Maße effektive Mission.
Denken Sie zum Beispiel daran, dass seit 2010 ein kleines Kontingent von Soldaten 3 600 somalische Soldaten
ausgebildet hat. Ich glaube, es ist ganz wichtig, dass es
dabei nicht nur um militärische Grundfertigkeiten und
erweiterte Führungsaufgaben, sondern eben auch um die
Vermittlung humanitärer Werte - Menschenrechte,
Rechte von Frauen und Kindern - ging. Ich glaube, dass
unsere Bundeswehr gerade dort eine besondere Kompetenz hat, weil sie das Konzept der Inneren Führung in
den vergangenen Jahrzehnten par excellence gelebt und
damit gezeigt hat, dass sich die Streitkräfte als Teil und
Ausdruck des staatlichen Gewaltmonopols genau dadurch immun gegen schwierige und gefährliche Tendenzen machen können.
({0})
Herr Kollege Frei, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Nouripour?
Herr Präsident, ich würde meine Rede gerne kurz zu
Ende bringen, und dann kann der Herr Kollege ja darauf
eingehen.
Wir haben gehört, dass dieser Einsatz kein Kampfeinsatz ist, sondern im Rahmen der vernetzten Sicherheit einen Schwerpunkt dafür bildet, staatliche Strukturen am
Horn von Afrika wieder zu etablieren. Ich glaube, es ist
wichtig, dass wir dort jetzt nicht kurz vor Ende aussteigen, sondern den langen Weg, den wir noch vor uns haben, konsequent weitergehen.
Die Frau Ministerin hat auf das Wahljahr 2016 und
auf die für die Zukunft des Landes so schwierige Wegstrecke in den nächsten zwei Jahren hingewiesen. Das ist
die einzige Möglichkeit - ich habe auch von den Linken
und den Grünen keine Alternative zu diesem Weg
gehört -, zu Staatlichkeit und zum Aufbau originärer
Strukturen im Land zu kommen.
Weil es in fragilen Staaten letztlich immer wieder zu
einem Zyklus von Gewaltphänomenen kommt, wird der
Erfolg auch von Langfristigkeit abhängen. Aus diesem
Grunde, so glaube ich, müssen wir dort im Rahmen einer
kleinen, aber sehr wirkungsvollen Mission mithelfen.
Deshalb werbe ich um die Zustimmung dieses Hauses.
Vielen Dank.
({0})
Herr Kollege Frei, Sie sind der letzte Debattenredner
gewesen. Ich bedanke mich. Wenn keine Kurzintervention mehr gewünscht wird,
({0})
dann möchte ich die Aussprache schließen.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/857 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael
Schlecht, Klaus Ernst, Matthias W. Birkwald,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Höhere Löhne in den Tarifverhandlungen für
die Beschäftigten im öffentlichen Dienst des
Bundes und der Kommunen absichern
Drucksache 18/795
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Haushaltsauschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Damit eröffne ich die Aussprache und erteile das
Wort der Kollegin Sabine Zimmermann, Die Linke.
({2})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Der Bundesinnenminister Thomas de
Maizière, der bei den Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst die Bundesregierung als Arbeitgeber vertritt, bezeichnet die Forderungen der Gewerkschaften als
- ich zitiere - „maßlos überzogen“.
Was ist denn so „maßlos überzogen“? Die Gewerkschaften fordern, die Entgelte um einen Sockelbetrag
von 100 Euro sowie um 3,5 Prozent zu erhöhen. Ist das
wirklich maßlos? Zum Vergleich: Derselbe Thomas de
Maizière hat hier am 21. Februar dieses Jahres dafür gestimmt, dass die Bezüge der Bundestagsabgeordneten
um 830 Euro auf 9 082 Euro im Monat ansteigen sollen.
({0})
Das ist eine Erhöhung von 10 Prozent. Ich frage mich,
ob der Bundesinnenminister diese Erhöhung für maßvoll
gehalten hat.
({1})
Noch etwas: Damals war es für Union und SPD kein
Problem, diese Erhöhung in einer Woche durch das Parlament zu jagen. Den Beschäftigten im öffentlichen
Dienst haben Sie bis heute noch nicht einmal ein Angebot vorgelegt. Ich sage Ihnen: Sie genehmigen sich hier
im Haus Schampus, und den Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmern im öffentlichen Dienst bieten Sie nicht
einmal eine Flasche Selters an.
({2})
Das ist ungerecht.
({3})
Dabei sind die Forderungen der Gewerkschaften
mehr als begründet. Wir haben hier in einzelnen Bereichen eine beschämende Entwicklung. In den zurückliegenden Jahren hat sich die Zahl der Beschäftigten in den
untersten Entgeltgruppen verfünffacht. Ich wiederhole:
verfünffacht! Hier liegt der Bruttomonatslohn eines
Vollzeitbeschäftigten im Schnitt bei 1 540 Euro und damit unterhalb der Niedriglohnschwelle. Für den öffentlichen Dienst eigentlich beschämend.
({4})
Es geht darüber hinaus darum, dass der öffentliche
Dienst endlich wieder Anschluss an die allgemeine Einkommensentwicklung findet. Wenn diejenigen, die uns
mit dem Bus zur Arbeit fahren, die unsere Kinder betreuen, die unsere Eltern pflegen oder unseren Müll wegkarren, um höhere Löhne streiten, dann geht es auch darum, dass man über den Wert ihrer Arbeit diskutiert.
({5})
Da sagen wir als Linke klar: Die Bundesregierung muss
im Arbeitgeberlager des öffentlichen Dienstes ein klares
Zeichen für kräftige Lohnerhöhungen setzen. Dafür setzen wir uns ein.
({6})
Als zweiten Punkt fordern die Gewerkschaften, die
feste Übernahme der Auszubildenden tarifvertraglich zu
vereinbaren. Auch das ist absolut nachvollziehbar. Im
öffentlichen Dienst zu arbeiten, bedeutet schon heute
längst nicht mehr, dass man einen sicheren Job hat.
Insgesamt sind über 400 000 Kolleginnen und Kollegen
befristet beschäftigt. Bei den jüngeren Beschäftigten bis
30 Jahre hat inzwischen bereits jeder Vierte bis Fünfte
einen befristeten Arbeitsvertrag. Das ist unerträglich.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und SPD,
ich verstehe nicht, was an diesen Forderungen maßlos
sein soll. Sollte es nicht selbstverständlich sein, dass im
öffentlichen Dienst und natürlich auch anderswo gute
Löhne gezahlt werden und die Menschen in sicheren
Arbeitsverhältnissen arbeiten? In den zurückliegenden
Jahren wurde im öffentlichen Dienst Raubbau betrieben.
Darunter leiden nicht nur die Beschäftigten, sondern
auch die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes. Hier
ist ein Kurswechsel dringend notwendig. Es ist klar, dass
ein guter öffentlicher Dienst nicht zum Nulltarif zu haben ist.
Von den Arbeitgebern war in den letzten Wochen
immer wieder dieselbe Leier zu hören: Es ist kein Geld
da. Die Kassen sind leer. Viele kommunale Haushalte
drücken enorme Schulden.
Die Arbeitgeber sagen aber nicht, dass seit Jahren die
Steuereinnahmen wieder steigen. Bis 2018 rechnet
die Bundesregierung sogar mit Mehreinnahmen von
109 Milliarden Euro. Sie verschweigen auch, dass erst
durch Ihre Steuersenkungen für Reiche und Unternehmen - von SPD, CDU/CSU; die Grünen waren auch dabei; die FDP gibt es nicht mehr - enorme Löcher in die
öffentlichen Haushalte gerissen worden sind. Insgesamt
484 Milliarden Euro weniger haben Bund, Länder und
Gemeinden durch die massiven Steuersenkungen der
vergangenen 15 Jahre eingenommen. Das hat das Institut
für Makroökonomie und Konjunkturforschung der
Hans-Böckler-Stiftung errechnet. Ich wiederhole diese
Zahl: 484 Milliarden Euro sind einfach so verschüttgegangen.
Deshalb sagen wir: Niemand kann ernsthaft erwarten,
dass Busfahrer, Müllwerker, Erzieherinnen oder Altenpflegerinnen die Zeche für eine verfehlte Haushaltspolitik zahlen. Nein, statt Haushaltskonsolidierung auf dem
Rücken der Beschäftigten zu betreiben und Raubbau am
öffentlichen Dienst zu begehen, ist Umverteilung das
Gebot der Stunde.
({7})
Allein eine fünfprozentige Vermögensteuer könnte
jährlich über 80 Milliarden Euro in die öffentlichen Kassen spülen. Für die Vermögensteuer haben Sie, liebe
Kolleginnen und Kollegen der SPD, im Wahlkampf noch
gestritten und gekämpft. Doch für die Macht haben Sie
das leider aufgegeben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und SPD,
in den letzten Jahren sind die Reallöhne in Deutschland
wieder gesunken. Wir brauchen im Jahr 2014 eine
Lohnoffensive in Deutschland. Die Tarifrunde im öffentlichen Dienst kann hier ein Startschuss sein. Legen Sie
Sabine Zimmermann ({8})
deshalb ein klares Bekenntnis für gute Löhne in einem
guten öffentlichen Dienst ab! Nehmen Sie endlich die
Reichen und die Unternehmen in die Pflicht! Setzen Sie
sich für höhere Löhne und sichere Jobs im öffentlichen
Dienst und anderswo ein!
Tausende Beschäftigte gehen mit ihren Streiks als gutes Beispiel voran. Ihnen gilt unsere Solidarität, auch die
der Linken.
Danke schön.
({9})
Als nächstem Redner erteile ich dem Kollegen Oswin
Veith, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Sie werden sicherlich verstehen, dass ich es für die
CDU/CSU nicht gutheißen kann, dass wir uns hier mit
dem vorliegenden Antrag in die heiße Phase der laufenden Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst einmischen. Doch wen wundert das bei diesem Antragsteller?
Die Linke zeigt damit wieder einmal nur ihr Unvermögen, sich aus Prozessen herauszuhalten, die sie eigentlich nichts angehen.
({0})
Ich sage es hier einmal vornehm: Einfach mal schweigen! Zu Hause würde ich sagen: Einfach mal die Klappe
halten!
({1})
Tarifverhandlungen sind immer auch Ausdruck der
gelebten Tarifautonomie, so wie es in unserem Grundgesetz geschützt ist und zum Grundpfeiler unserer sozialen
Marktwirtschaft gehört. Und das ist auch gut so, meine
sehr verehrten Damen und Herren.
({2})
Wir haben in Deutschland seit Jahrzehnten ausgezeichnete Erfahrungen damit gesammelt, dass nicht die
Politik die Löhne bestimmt. Daher finde ich es klug,
dass die Tarifhoheit bei den Tarifpartnern bleibt und wir
uns nicht einmischen. Das sollte auch die Linke endlich
beherzigen.
({3})
Wir bleiben bei unserem 65 Jahre alten Erfolgsmodell
der Tarifautonomie. Diese Freiheit hat sich in Krisenzeiten bewährt und gezeigt, wie gut die Tarifpartner zum
Wohle unseres Landes damit umgehen. Sie von den
Linken wollen doch mit Ihrem Antrag nichts anderes, als
das grundgesetzlich verbriefte Tarifrecht auszuhebeln,
({4})
über den Kopf der Tarifpartner hinweg zu entscheiden
und dann noch das Ergebnis zu diktieren. Das kann und
wird aber niemals unsere Zustimmung finden.
({5})
An dieser Stelle frage ich mich, ob Ihre eigenen Leute
in den Ländern diesen Antrag überhaupt unterstützen
würden. So kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass sich Ihr Finanzminister in Brandenburg darüber freuen würde, in den Tarifverhandlungen entmündigt zu werden, dann aber das Ergebnis finanzieren zu
müssen. Genau hier, meine Damen und Herren von den
Linken, besteht der Unterschied zwischen Ihnen und
uns. Während Sie hier reine Schaufensteranträge formulieren, ist und bleibt die Union der verlässliche Partner
der Beschäftigten im öffentlichen Dienst.
({6})
Wir haben die Rahmenbedingungen in der vergangenen Legislaturperiode deutlich verbessert. Zweimal wurden die Tarifabschlüsse inhaltsgleich auf die Bundesbeamten übertragen.
({7})
Seit 2012 wird die Sonderzahlung - auch als Weihnachtsgeld bekannt - wieder gewährt.
({8})
Mit dem Fachkräftegewinnungsgesetz haben wir eine
Reihe von positiven Maßnahmen auf den Weg gebracht.
Wir haben den Eintritt in den Ruhestand flexibler gestaltet, gleiche Rechte für Lebenspartnerschaften und die
Familienpflegezeit im Beamtenrecht umgesetzt. Wir haben die Vergütung von Professoren verbessert, das Leistungsprinzip gestärkt und die Portabilität von Versorgungsanwartschaften geschaffen. Ich könnte diese Liste
noch fortsetzen.
({9})
Das zeigt: Wir stellen keine Schauanträge wie Sie von
den Linken. Die Union hat geliefert, und das zum Wohle
der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes und ihrer Familien.
({10})
Fragen darf man auch einmal: Welche Anträge haben
Sie von den Linken eigentlich in der letzten Legislaturperiode eingebracht, um den öffentlichen Dienst und das
Beamtentum zu stärken und voranzubringen? Die Antwort lautet: Keinen einzigen!
({11})
Ich habe mein Büro recherchieren lassen, ob Sie wenigstens auf kommunaler Ebene tätig geworden sind, ob also
Ihre Bürgermeister und Landräte mit anderen Verhandlungspositionen in die Tarifverhandlungen gegangen
sind. Die Antwort lautet: Wieder nichts! Fehlanzeige
auch hier!
Wenn Sie es mit Ihrem Antrag tatsächlich ernst meinten, könnten Sie wenigstens da, wo Sie regieren - ich
glaube, das ist nur noch im Land Brandenburg der Fall -,
mit gutem Beispiel vorangehen. Aber auch hier ist kein
besonderes Engagement in der Sache erkennbar.
({12})
Es kommt dort noch viel schlimmer für die Beschäftigen im öffentlichen Dienst. Vor kurzem verhängte Ihr
Justizminister sogar einen Einstellungs- und Beförderungsstopp. Der Grund: Der Haushalt seiner Behörde sei
erschöpft. Gleiches gilt für die Vergütungen. Ein Blick
auf die Besoldungstabelle und der Vergleich zeigen: Im
Bundestag fordern Sie viel. Wo Sie aber selbst in der
Verantwortung stehen, kommt bei den Beschäftigten und
ihren Familien nicht viel an.
({13})
Das passt nicht zusammen, und das wissen die Angestellten und Beamten. Deshalb muss diese Doppelzüngigkeit der Linken hier entlarvt werden. Alle Jahre
wieder stellen Sie also pünktlich zum Start der Tarifverhandlungen die Tarifautonomie infrage. Ich sage Ihnen:
Das ist plumper Populismus und hilft keiner einzigen
Angestellten und keinem einzigen Beamten in unserem
Land.
({14})
Dann enthält Ihr Antrag eine zweite Forderung
- diese dürfte im Hohen Hause wenig umstritten sein -:
Die Kommunen sollen finanziell entlastet werden. Diese Forderung ist allerdings längst überholt, weil wir
genau das bereits im vergangenen Jahr im Koalitionsvertrag vereinbart haben.
({15})
Wir setzen damit unsere Politik fort und entlasten die
Kommunen. So wird die dritte Stufe der Grundsicherung
im Alter von etwa 1,1 Milliarden Euro dieses Jahr wirksam. Von 2012 bis 2017 ist das eine Gesamtentlastung
von 25 Milliarden Euro. Das, denke ich, kann sich sehen
lassen.
({16})
Bei der Eingliederungshilfe sind weitere Entlastungen in
Milliardenhöhe geplant. Wir entlasten ferner beim laufenden Betrieb für die Kinderbetreuung.
Von den im Koalitionsvertrag vorgesehenen prioritären Maßnahmen im Umfang von 23 Milliarden Euro
wird gut die Hälfte der mittelbaren oder unmittelbaren
Entlastung den Ländern und Kommunen zugute kommen. Kurz und gut: Insgesamt stellt die Große Koalition
damit einen zweistelligen Milliardenbetrag zur finanziellen Entlastung unserer Länder, Städte und Gemeinden
zur Verfügung. Ich finde, das ist eine gute Botschaft für
unsere Kommunen und sollte auch bei der Fraktion Die
Linke Anerkennung finden.
({17})
Daher fasse ich zusammen: Öffentliche Dienstleistungen in Deutschland haben eine hohe Qualität. Das ist nur
möglich, weil wir einen leistungsfähigen und verlässlichen öffentlichen Dienst in unserem Land haben, auf
den wir stolz sein können. Damit das so bleibt, müssen
wir uns seriös mit der Thematik auseinandersetzen. Seriös heißt für mich dabei aber, an die Linke gerichtet:
Hören Sie auf mit dem Politklamauk, akzeptieren Sie
endlich die Tarifautonomie, nehmen Sie den öffentlichen
Dienst ernst, und ersparen Sie uns künftig diese fruchtlosen Debatten!
Danke schön.
({18})
Vielen Dank, Herr Kollege Veith. Das war Ihre erste
Rede hier im Hohen Hause. Ich beglückwünsche Sie
dazu und wünsche Ihnen weitere erfolgreiche Reden hier
im Deutschen Bundestag.
({0})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Beate MüllerGemmeke vom Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Eigentlich sollten Tarifverhandlungen ohne politische Begleitmusik aus dem Bundestag
geführt werden, aber in diesem Fall geht es konkret um
den Bund, Herr Veith,
({0})
und der ist mitverantwortlich für die Finanzsituation der
Kommunen. Also möchte ich der Bundesregierung fünf
Gedanken mit auf den Verhandlungsweg geben.
Erstens. Bundesinnenminister de Maizière hat die
Verdi-Forderungen als „maßlos überzogen“ bezeichnet.
Die Kollegin Zimmermann hat es gerade schon angesprochen. Wenn parallel dazu der Bundestag die Diäten
der Abgeordneten um satte 10 Prozent erhöht, dann
muss sich niemand wundern, wenn dieser Vergleich in
den Verhandlungen immer wieder eine Rolle spielt. Wir
Grünen haben gegen die Diätenerhöhung gestimmt;
denn wir bewegen uns als Parlament nicht im luftleeren
Raum. 3,5 Prozent sind angeblich maßlos überzogen,
hier im Bundestag sind 10 Prozent unproblematisch. Das
passt einfach nicht zusammen.
({1})
Ich wünsche dem Innenminister viel Spaß bei den Verhandlungen.
Zweitens. Die Löhne im öffentlichen Dienst sind zwischen 2000 und 2009 preisbereinigt gesunken. Wenn der
Bund und die Kommunen jetzt immer nur mit den in den
letzten Jahren gestiegenen Löhnen argumentieren, dann
ist das nicht redlich; denn das ignoriert den Nachholbedarf. Deshalb verstehe ich schon, dass Verdi einen Sockelbetrag von 100 Euro für alle fordert; denn das stärkt
gerade die unteren und die mittleren Einkommensgruppen wie beispielsweise eine Krankenschwester, die gerade einmal 2 100 Euro verdient. Die Sockelforderung
ist also gerecht, und sie ist im Übrigen auch richtig; denn
mit Blick auf den Fachkräftemangel müssen diese gesellschaftlich relevanten Berufsgruppen attraktiv bleiben, und Wertschätzung drückt sich nun einmal auch
über den Lohn aus.
({2})
Drittens. Verdi fordert zudem die Übernahme der
Azubis nach der Ausbildung. Verdi kritisiert auch die
steigende Zahl der Befristungen ohne sachlichen Grund
und möchte, dass die Arbeitgeber zukünftig darauf verzichten. Diese Forderungen kann ich aus ganzem Herzen
unterschreiben.
({3})
Der Berufseinstieg von jungen Menschen ist heute häufig lang und auch prekär. Mit Blick auf den demografischen Wandel müsste es doch eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein, dass junge Menschen nach einer
Berufsausbildung eine Perspektive erhalten. Aber der
Trend zur Befristung trifft insbesondere junge Menschen. Lebensplanung ist ein Begriff, über den junge
Menschen teilweise nur noch müde lächeln können.
Deshalb wollen wir die sachgrundlose Befristung abschaffen. Sie, die Regierungsfraktionen, haben sich bei
den Befristungen auf nichts einigen können. Das werde
ich immer und immer wieder kritisieren.
({4})
Viertens. Morgen ist übrigens Equal Pay Day. Frauen
verdienen immer noch 22 Prozent weniger als Männer.
({5})
Wenn wir heute schon über Tarifverhandlungen diskutieren, dann nutze ich natürlich die Gelegenheit und fordere, dass die Tarifparteien überprüfen, ob die Tarifverträge Entgeltdiskriminierungen enthalten. Der Grundsatz
„Gleicher Lohn für gleiche und insbesondere gleichwertige Arbeit“ muss endlich durchgesetzt werden.
({6})
Die bestehende Lohnlücke muss im 21. Jahrhundert endlich der Vergangenheit angehören; denn Frauen verdienen mehr.
({7})
Fünftens. Die Kommunen und deren Beschäftigte
dürfen nicht weiter unter einer verfehlten Finanzpolitik
leiden. Sie müssen so ausgestattet sein, dass sie ihre Aufgaben für die Menschen vor Ort bewältigen und ihre Beschäftigten ordentlich bezahlen können. Die Kommunen
müssen also endlich im Mittelpunkt der Bundespolitik
stehen. Mit den leeren Versprechungen muss endlich
Schluss sein.
({8})
- Na ja, es steht viel im Koalitionsvertrag. Man wird sehen, was tatsächlich umgesetzt wird. Momentan muss
man wirklich Sorge haben, dass bei den Kommunen fast
nichts ankommt.
({9})
Natürlich kosten solche Tarifverhandlungen schlussendlich auch Geld. Wenn die Linke jetzt einfach einmal
einen 6 Milliarden Euro teuren Blankoscheck ausstellt,
dann macht sie sich die Haushaltspolitik zu einfach. Sie
hätte in den Antrag schon hineinschreiben müssen, wo
sie das Geld eigentlich herbekommen will. Die Verhandlungspartner müssen sich nicht nur einigen, sondern die
Bundesregierung muss natürlich auch für die notwendige Finanzierung sorgen.
Kurzum: Gutes Geld für gute Arbeit im öffentlichen
Dienst, und zwar für Männer und Frauen, finanziell gut
ausgestattete Kommunen und ein tragfähiger Haushalt,
das sind die Hausaufgaben, die Sie, die Regierungsfraktionen, zu erledigen haben. Wir werden Sie daran messen.
Vielen Dank.
({10})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Kollegen Mahmut Özdemir, SPD.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Während wir uns heute mit dem Antrag der Fraktion Die
Linke befassen, wurde die zweite Tarifverhandlungsrunde zwischen den Beschäftigten im öffentlichen
Dienst des Bundes und der Kommunen und deren Arbeitgebern eingeläutet. Das - und eben nicht der Deutsche Bundestag - sind im Übrigen die wahren Verantwortlichen, die den Tarifabschluss am Ende vereinbaren.
Es handelt sich hierbei um Verantwortliche, die sich auf
Grundsätze wie Tarifpartnerschaft und Tarifautonomie
nicht zuletzt im Schutze von Art. 9 Grundgesetz berufen
können, auf Grundsätze, die tief im Demokratie- und Sozialstaatsprinzip wurzeln.
(Zuruf des Abg. Harald Weinberg ({0})
Mahmut Özdemir ({1})
- Das kann ich Ihnen an einer anderen Stelle gern noch
einmal erläutern, wenn Sie es möchten.
Diese Vorüberlegungen führen mich zu Beginn meiner Rede direkt zu der Frage, was dieser Antrag eigentlich bezwecken mag. Dieser Antrag enthält keine
haushalterische Würdigung, keinen Vorschlag zur Gegenfinanzierung einer Tarifanpassung, drischt aber munter Phrasen von verteilungsneutralen Spielräumen und
suggeriert, dass der öffentliche Dienst nie gewürdigt
wird. Er enthält im Übrigen ein Zahlenwerk, dessen
Analyse sich nur der Fraktion Die Linke erschließt, mir
aber nicht.
({2})
Schauen Sie sich doch einfach eine Übersicht über die
Tarifabschlüsse von 1990 bis heute an. Die Würdigung
des öffentlichen Dienstes basiert durch die Bank auf einer insgesamt ausgewogenen und kompromissfreudigen
Kooperation zwischen dem Bundesministerium des Innern und den Kommunen auf der einen Seite und den
Beschäftigten des öffentlichen Dienstes auf der anderen
Seite. Ich stufe den Antrag daher als untauglichen Versuch ein, auf Kosten der Beschäftigten des öffentlichen
Dienstes eine Generalabrechnung mit der Wirtschaftsund Finanzpolitik der vergangenen Jahre zu betreiben.
Damit ist den Tarifparteien von dieser Stelle aus überhaupt nicht geholfen, wohl aber mit der Wahrnehmung
parlamentarischer Pflichten, liebe Kolleginnen und Kollegen. So zeigen wir Sozialdemokraten Haltung und Solidarität mit dem öffentlichen Dienst.
({3})
- Ja, ist ja gut.
Ich stimme Ihnen bei der Bestandsaufnahme sogar in
Teilen zu: Der öffentliche Dienst ist unverzichtbar, gerade weil wir als Abgeordnete Aufgaben schaffen, die
hoheitlich und im weitesten Sinne öffentlich zu erledigen sind. Der öffentliche Dienst hat in vorherigen Tarifrunden schmerzhafte, aber für unser Gemeinwesen auch
notwendige Opfer erbracht; das zieht keiner in Zweifel.
Diese Opfer nötigen mir den höchsten Respekt ab.
Aber die Wertschätzung eines Beschäftigten drückt
sich nicht nur in Geld aus. Keiner von uns in diesem
Hause ist - das unterstelle ich einfach einmal - Abgeordneter wegen des Geldes. Kein Polizeibeamter trägt seine
Uniform wegen des Geldes. Keine Erzieherin und kein
Erzieher geht jeden Tag in die Kita nur wegen des Geldes.
({4})
- Ich habe Ihnen auch zugehört. Ich weiß, dass das für
Sie schmerzhaft ist.
({5})
Ich möchte mit dieser idealistischen Betrachtungsweise gar nicht ablenken, aber das Augenmerk darauf
richten, dass ein Beruf zwar die wirtschaftliche Lebensgrundlage darstellt, aber ohne akzeptable Rahmenbedingungen überhaupt nichts wert ist. Die Kollegen von der
Müllabfuhr, die jeden Morgen um 4.30 Uhr ans Werk gehen, die Kollegen von Bus und Bahn, die Taktungen halten, die Erzieher, die auch mal ein paar Minuten dranhängen, weil die Eltern noch im Stau stehen,
({6})
alle diese Beschäftigten können sich unserer Solidarität
jederzeit sicher sein.
({7})
Da besteht überhaupt kein Dissens in diesem Haus. Führen Sie einen solchen doch nicht künstlich herbei!
Um das Ergebnis vorwegzunehmen und den Antrag
damit weitestgehend zu erledigen: Es wird am Ende der
Tarifverhandlungen ein Mehr für den öffentlichen Dienst
geben, und mit hoher Wahrscheinlichkeit wird der Tarifabschluss, wie in der Vergangenheit regelmäßig geschehen, eins zu eins auf die Beamten übertragen werden.
Die Frage ist und bleibt, was die Aufgabe des Deutschen
Bundestages hier und heute ist.
Jedenfalls ist es nicht die Aufgabe des Deutschen
Bundestages, sich mit diesem Antrag in den Rang einer
Tarifvertragspartei zu erheben
({8})
und zu beanspruchen, anstelle der Arbeitgeber- oder Arbeitnehmerseite zu sprechen.
({9})
Dieser Antrag missachtet die Tarifautonomie der verhandelnden Parteien und fällt der Bundesregierung in den
Rücken, nur um den streikenden und verhandelnden Beschäftigten Unterstützung vorzugaukeln,
({10})
indem man eine Höchstforderung im Rahmen von
Verhandlungen abschreibt. Keine Verhandlungspartei
- ich betone: das gilt für beide Seiten - erwartet ernsthaft, dass den anfänglichen Forderungen entsprochen
wird. Deshalb ist es weder ernsthafte noch wahrhafte
Politik, was Sie hier betreiben.
Der Antrag verkennt die politische Wirklichkeit mutmaßlich, allem Anschein nach auch bewusst; sonst
müssten Ausführungen zur Konsolidierung des Bundeshaushalts dort Platz finden.
Die Ausführungen zur Verteilungsgerechtigkeit gehen
völlig fehl. Der Antrag verkennt dabei, dass die Gehaltsstrukturen des öffentlichen Dienstes ein weites Band
spannen. Soziale Gerechtigkeit spiegelt sich auch hier
wider, findet ihre Grenze aber spätestens im Gleichheitsgebot. Entscheidungen, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der Fraktion Die Linke, erfordern das Rückgrat,
auch unangenehme Haushaltslagen in Politik umzumünzen.
Mahmut Özdemir ({11})
Die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes brauchen
keine Abgeordneten, die sich bei Streikkundgebungen
nur für ein Foto hergeben, das man danach twittern oder
posten kann. Der öffentliche Dienst braucht Abgeordnete, die exakt das halten, was sie fordern, die exakt das
tun, was sie versprechen.
({12})
- Wenn ich mehr Redezeit hätte, würde ich es Ihnen erklären. - Es mag ja an der fehlenden Erfahrung einer Regierungsbeteiligung liegen - das sehe ich ein -,
({13})
aber ich muss schon fragen: Wie lange wollen Sie eigentlich Anträge stellen, an deren Umsetzung Sie selber
berechtigterweise zweifeln müssen?
Lassen Sie mich nach diesem Ausflug in die realitätsnahe Politik
({14})
noch einmal an das Thema Arbeitsbedingungen anknüpfen. Während wir Haushaltsdebatten führen, gehen Beschäftigte in Pension und nehmen ihre Stellen sozusagen
mit in den Ruhestand. Es fehlen dann Stellen, was den
Arbeitsdruck bei den im Dienst stehenden Beschäftigten
erhöht oder die Erledigung einer Aufgabe schlicht entfallen lässt. Das Stichwort, auf das ich hier anspiele, lautet „Aufgabenkritik“. Es geht um eine Aufgabenkritik,
die unter den Aspekten der Qualitätssicherung und Personalsteuerung im Angesicht der Haushaltslage zu erfolgen hat, eine Aufgabenkritik, die Tarifautonomie und
Mitbestimmung auch und erst recht im öffentlichen
Dienst zum zentralen Ausgangspunkt macht.
Deshalb sind die Tarifverhandlungen aus meiner Sicht
dringend notwendig. Die erste Streikwelle hat uns deutlich gezeigt, was das in Ballungsräumen bedeuten kann.
45 000 Beschäftigte, die die Arbeit niederlegen, darunter
10 000 allein im öffentlichen Personennahverkehr, das
ist kein Pappenstiel. Tarifverhandlungen aber oder Anträge im Bundestag entheben uns nicht der Aufgabe, objektiv zu definieren, was der Staat im 21. Jahrhundert zu
leisten bereit ist und wozu er verpflichtet ist.
Gehaltsanpassungen, bezogen auf die zu erledigenden
Aufgaben, wirken immer nur kurzfristig. Sprechen Sie
doch einmal mit den Beschäftigten im öffentlichen
Dienst! Ich unterstelle, dass Sie das nicht tun.
({15})
Ich war im vergangenen Sommer bei Streikkundgebungen der Kolleginnen und Kollegen von der Wasser- und
Schifffahrtsverwaltung, die sich für einen Tarifvertrag
einsetzen müssen. Sprechen Sie doch einmal mit den Beschäftigten in mittlerweile privatisierten Staatsunternehmen oder mit den Beschäftigten in Justiz und Polizei!
Die lassen sich nicht nur hinter verschlossenen Türen die
Aussage entlocken, dass sie bereit wären, auf Geld zu
verzichten, wenn dafür mehr Personal eingestellt würde.
Auch das gehört zur Realität, die Sie verkennen.
({16})
- Dass Sie schreien, zeigt mir, dass Sie keine Argumente
mehr haben. Schön! - So etwas geht aber nur mit einer
Aufgabenanalyse im öffentlichen Dienst, um darauf Arbeitsbedingungen und Gehaltsstrukturen aufzubauen.
Diesen Zielkonflikt zu lösen, das ist die Aufgabe aller
Fraktionen in diesem Haus. Stattdessen schwingen Sie
sich mit Ihrem Antrag aber zur alleinigen Arbeitnehmervertretung auf und schreiben in Ihrem Antrag die Forderungen auch noch unvollständig ab. Die Verdi-Bundestarifkommission fordert nämlich bei einjähriger
Tariflaufzeit einen Sockelbetrag von 100 Euro plus
3,5 Prozent mehr Gehalt, aber auch verbindliche Übernahmeregelungen für Auszubildende und den Ausschluss von sachgrundloser Befristung. Das haben Sie in
Ihrer Begründung zwar angeführt, aber das scheint Ihnen
doch so unwichtig zu sein, dass Sie es nicht in Ihren Antrag hineinschreiben. Wenn wir diese Debatte schon führen dürfen - oder besser: müssen -, dann bitte schön
auch vollständig.
({17})
Es ist höchst fragwürdig, die Bundesregierung aufzufordern, den Tarifforderungen vollumfänglich stattzugeben, obschon Sie wissen, dass nur der Bundestag in seiner Gesamtheit über den Haushalt entscheidet. Sie
schieben eine Verantwortung, die dem Parlament obliegt, einfach weg, nämlich die Verantwortung, darüber
zu entscheiden, welche Aufgaben der öffentliche Dienst
zu erledigen hat und was die Erledigung dieser Aufgaben kostet. Mit Ihren Anträgen verhält es sich so wie mit
den im Training gefährlichen Torschützen: Im Meisterschaftsspiel laufen sie vor dem Ball einfach davon.
({18})
Gerade deshalb ermuntere ich Sie: Lassen Sie uns doch
die Facharbeit hierzu leisten! Schreiben Sie einmal einen
Antrag weniger, und nutzen Sie die Zeit, um mit uns
Verbesserungen für den öffentlichen Dienst zu erreichen
und zu erarbeiten, Verbesserungen, die auch Haushaltserfordernissen standhalten!
({19})
Dazu zählt weiter, dass wir schon dieses Jahr Kommunen bei der Grundsicherung im Alter vollständig entlasten werden, in den Folgejahren 2015 und 2016 jeweils
1 Milliarde Euro investieren
({20})
- ja, dann helfen Sie dabei mit! - und 2017 und 2018 einen weiteren Aufwuchs auf 5 Milliarden Euro haben, um
die finanzielle Entlastung zu verstetigen. Das, was bei
den Ländern die Schuldenbremse ist, ist nämlich bei den
Kommunen die im Raum stehende Drohung der Aufsichtsbehörden mit Haushaltssperren. Der Vorsitzende
des Städte- und Gemeindebundes hat es doch richtig und
deutlich formuliert: In der derzeitigen Situation würden
wir uns mit einem überhöhten Tarifabschluss gegenseitig
schaden,
Mahmut Özdemir ({21})
({22})
bevor wir nicht vorher die unbedingt notwendigen Entlastungen durchgeführt haben.
Ergänzt werden müssen diese Aspekte zusätzlich um
eine Verwaltungsmodernisierung: Zentrale und dezentrale Personalsteuerung, ausgewogene Altersstrukturen
und gewinnbringender Personaleinsatz nach Bedarf
({23})
müssen diesen Bereich attraktiv machen. Das heißt auch,
dass sich die Vereinbarkeit von Beruf, Familie und
Pflege in einem gerechten Bezahlsystem widerspiegeln
muss.
Die Flexibilität der Tätigkeiten im öffentlichen Dienst
mit Teil- und Vollzeitmodellen und anderen Handlungsmöglichkeiten ist mit Geld überhaupt nicht aufzuwiegen.
Schon jetzt, in seinem derzeitigen Aufgabenprofil, ist
der öffentliche Dienst ein Garant für die Wahrung und
Umsetzung unserer Staats-, Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung. Gerade deshalb wenden sich die Beschäftigten im öffentlichen Dienst mit einer großen Hingabe auch ihrem Recht auf Mitbestimmung zu.
Diese Art der Mitbestimmung ist für die Sozialdemokraten das Leistungsmerkmal des öffentlichen Dienstes,
das wir schützen und wahren wollen; denn sowohl der
Staat als Arbeitgeber als auch die Untergebenen als Arbeitnehmer sind vereint in dem Streben nach Funktionsfähigkeit der öffentlichen Daseinsvorsorge. In diesem
gemeinsamen Ziel verbunden wünsche ich den wahren
Handelnden, die nicht hier im Bundestag sitzen, sondern
am Verhandlungstisch, Besonnenheit, gegenseitige
Wertschätzung, aber auch harte Verhandlungen, damit
die Beschäftigten wieder zurück an ihre Arbeit kehren
können.
Damit danke ich für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche allen verhandelnden Kolleginnen und Kollegen in
Potsdam von hier aus ein herzliches Glückauf.
({24})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Kollegen Alois Karl, CDU/CSU.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Heute ist, Herr Präsident, Frühlingsbeginn. Ich habe heute meine Stimme fast verloren, nicht
wegen des Antrags der Linken, sondern wegen grippaler
Einflüsse. Bevor es mir gänzlich die Stimme verschlägt,
Herr Präsident, möchte ich gleich das Ergebnis vorwegnehmen: Wir als CDU/CSU und auch unser Koalitionspartner lehnen den Antrag der Linken ab.
({0})
Damit komme ich zum Inhalt. In wenigen Wochen
begehen wir einen Geburtstag: Am 23. Mai 1949, also
vor 65 Jahren, ist das Grundgesetz der Bundesrepublik
Deutschland in Kraft getreten, mit vielen Freiheitsrechten, unter anderem in Art. 9 Abs. 3 mit dem Recht auf
Koalitionsfreiheit. Das umfasst aber nicht nur das Recht,
eine arbeitsrechtliche Koalition zu begründen, sondern
auch die Betätigungsfreiheit. Die Tarifvertragsparteien
haben davon in den letzten 65 Jahren in außerordentlich
ernster und korrekter Weise Gebrauch gemacht und haben die tariflichen Belange sinnvoll geregelt. Die Tarifvertragsparteien waren immer frei in ihrer Betätigung,
frei von staatlichen Einflüssen, frei von staatlicher Bevormundung und frei in der Gestaltung ihrer Vertragsangelegenheiten.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich sehe in
dem Antrag der Linken - das ist vorhin schon kurz angesprochen worden - das Gegenteil. In diesem soll es auf
eine Reglementierung hinauslaufen.
({1})
Das ist für mich völlig indiskutabel. Dazu werden Sie
von uns niemals eine Zustimmung erhalten. Das geht an
der Verfassungswirklichkeit und dem Grundgedanken
der Verfassung vollends vorbei.
({2})
Es handelt sich dabei meines Erachtens um eine völlig nutzlose Andienerei, um eine plumpe Kumpanei mit
den Tarifvertragsparteien. Aber ich glaube, dass die Gewerkschaften das gar nicht wollen und gar nicht brauchen. Im Gegenteil: Unsere Gewerkschaften sind stark.
Sie entscheiden nach eigenem Ermessen, ohne Einflussnahme des Deutschen Bundestages. Bedenken Sie einmal, wie das Gegenteil wirken würde: Was wäre los,
wenn wir im nächsten Jahr beschließen würden: „Die
Bundesregierung wird aufgefordert, keine der gewerkschaftlichen Forderungen zu akzeptieren“? Das wäre genauso wenig bindend wie das, was Sie jetzt fordern.
Meine Damen und Herren, es finden Tarifverhandlungen statt. Es geht um die Löhne und Gehälter von 2 Millionen Beschäftigten von etwa 10 000 Arbeitgebern im
öffentlichen Dienst. Es werden Volumina von 6 Milliarden Euro und schließlich von 8,6 Milliarden Euro verhandelt. Ein Tarifvertrag ist ein Vertrag. Ein Vertrag
sieht Verbindlichkeiten in jegliche Richtung vor. Jemand
muss diese 8,6 Milliarden Euro bezahlen. Das sind zunächst einmal die Verhandlungspartner. Das sind neben
dem Bund die Kommunen. Aber Kommune ist nicht
gleich Kommune; Stadt ist nicht gleich Stadt. Die Stadt
München kann das möglicherweise bezahlen.
({3})
- Neumarkt zum Beispiel könnte das bezahlen; da hast
du recht. Das könnte ich jetzt gut ausführen. Sollte dazu
eine Zwischenfrage gestellt werden, dann führe ich das
gerne näher aus.
Auch der Speckgürtel um München herum könnte das
bezahlen, das Ruhrgebiet allerdings nicht. Die Zahlen
spiegeln nicht immer die vollständige Wahrheit wider.
Natürlich ist es so, dass die Städte und Gemeinden in
Deutschland Verbindlichkeiten von etwa 130 Milliarden
Euro haben, dass sie Kassenkredite von mehr als 50 Milliarden Euro haben und dass viele finanziell am Krückstock gehen. Viele Städte und Gemeinden sind Dauergast unter dem finanzpolitischen Sauerstoffzelt. Die
können das nicht oder kaum bewältigen.
({4})
Denen können wir doch keine Vorgaben machen, wie die
Höhe von tarifvertraglichen Abschlüssen aussehen soll.
Die Gemeinden werden sich das auch nicht gefallen
lassen, was Sie hier vorschlagen. In der Bayerischen
Verfassung und in allen anderen Länderverfassungen
steht, dass die Gemeinden ursprüngliche Gebietskörperschaften sind. Noch vor dem Staat, noch vor den Ländern gab es die Gemeinden. Die lassen sich nicht ans
Gängelband nehmen, von Ihnen leiten und irgendwohin
dirigieren. Sie möchten ihre ureigenen Interessen selber
vertreten.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir haben
einen außerordentlich kommunalfreundlichen Haushalt
vorgelegt und werden dies fortführen. Wir werden in den
zehn Jahren von 2010 bis 2020 etwa 80 Milliarden Euro
direkt oder indirekt in die Gemeinden fließen lassen: für
die Kosten der Grundsicherung, die Kosten der Unterbringung und für die Eingliederung der Behinderten. Wir
haben uns in den nächsten vier Jahren des Haushaltens
eine freie Finanzspanne geschaffen. Von den vorgesehenen 23 Milliarden Euro werden wir 12,5 Milliarden Euro
für die Gemeinden ausgeben; eine unglaublich kommunalfreundliche Seite, die die Große Koalition damit an
den Tag legt.
({5})
Herr Kollege Karl, gestatten Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Hajduk?
Ja, sehr gerne.
Sehr geehrter Herr Kollege, Sie haben gerade eine
Zahl in den Raum gestellt. Von den 23 Milliarden Euro
würden 12 Milliarden Euro an die Gemeinden fließen.
12,5 Milliarden.
Ich möchte Sie mit den Zahlen konfrontieren, die mir
Ihr haushaltspolitischer Sprecher gestern im Haushaltsausschuss auf meine Frage hin genannt hat. Es gibt ja
eine Auseinandersetzung um die Frage: Warum fließt eigentlich im Jahr 2014 noch keine Milliarde an die Kommunen? Da hat er uns vorgerechnet, 23 Milliarden Euro
stünden im Koalitionsvertrag, davon seien 20 Milliarden
Euro sehr klar durch bestimmte Maßnahmen belegt und
3 Milliarden Euro würden für die Kommunen bleiben.
Das seien nicht 4 Milliarden Euro, und deswegen sei erst
in den Jahren 2015, 2016 und 2017 jeweils 1 Milliarde
Euro für die Kommunen da. Ist es nicht das Ergebnis einer sehr weiten Interpretation, die anderen maßnahmenbezogenen Mittel jetzt so auf die Gemeinden herunterzurechnen, dass Sie auf die Zahl 12 Milliarden Euro
kommen? Ist das nicht vielleicht auch eine sehr starke
Verschleierung gegenüber der Öffentlichkeit?
({0})
Liebe Frau Kollegin Hajduk, entschuldigen Sie bitte:
Ich hatte schon gestern den Verdacht, dass Sie die Antwort, die man Ihnen gegeben hat, nicht ganz verstanden
haben.
({0})
Es ist in der Tat so, dass wir einen Spielraum von
23 Milliarden Euro haben. Heruntergerechnet bedeutet
dies - danach haben Sie schon gestern gefragt -, dass in
den Jahren 2015, 2016 und 2017, sozusagen im Vorgriff
auf die Wiedereingliederung, jeweils 1 Milliarde Euro
gezahlt wird, ab dem Jahr 2018 dann 5 Milliarden Euro,
und zwar in der weiteren Abfolge permanent, laufend.
({1})
Damit ergibt sich, wenn man andere Punkte hinzunimmt,
eine Summe von insgesamt 12,5 Milliarden Euro. 3 Milliarden Euro und zweimal 5 Milliarden Euro ergeben
13 Milliarden Euro. ({2})
Ich muss mich korrigieren: Es sind eigentlich nicht
12,5 Milliarden Euro, sondern 13 Milliarden Euro. Wir
können das gerne noch einmal im Haushaltsausschuss
vertiefen; dazu haben wir noch reichlich Gelegenheit.
Trotzdem vielen Dank für die Frage.
({3})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, im Gegensatz zu den Antragstellern habe ich persönlich, haben die
Fraktionen von CDU/CSU und SPD Vertrauen in die
Verhandlungsführer bei den Tarifverhandlungen. Ich
vertraue darauf, dass sich die Arbeitgeber und die Gewerkschaften mit Maß und Respekt begegnen. Wir wissen, was wir an einem guten öffentlichen Dienst haben.
Wir wissen, dass die Leute im öffentlichen Dienst in der
Tat Geld brauchen. Aber ich sage auch: Die Tatsache,
dass wir die Inflationsrate in den letzten Jahren sehr gering gehalten haben - um 1 Prozent herum -, ist eine außerordentliche, hervorragende soziale Leistung, gerade
im Hinblick darauf, dass dadurch insbesondere die
Löhne und Gehälter geschont und sie nicht von den klebrigen Fingern des Staates und anderer verringert werden.
Ich habe Vertrauen, dass die Gewerkschaften sowie die
Arbeitgeberverbände und die Verhandlungsführer des
Bundesinnenministeriums und des Finanzministeriums
ihre Arbeit gut machen. Wir haben kein Vertrauen in Ihren Antrag; wir lehnen ihn ab.
Ich freue mich, dass ich meine Rede bis zum Schluss
halten konnte. Vielen herzlichen Dank.
({4})
Vielen Dank, Herr Kollege Karl. Ich wünsche Ihnen
nicht politisch, aber gesundheitlich gute Besserung.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Wilfried Oellers,
CDU/CSU.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! The Show Must Go On - so würde
Freddie Mercury den Antrag der Linken kommentieren.
Wenn Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst anstehen, muss dies wohl gleichzeitig wieder eine Debatte im
Deutschen Bundestag nach sich ziehen.
({0})
Dabei sollte doch inzwischen bekannt sein, dass das Parlament für Tarifverhandlungen nicht zuständig ist. Die
erste Forderung im Antrag ist deswegen schon aus rein
formellen Gründen abzulehnen. Nach unserer Verfassung liegt die Zuständigkeit für Tarifangelegenheiten bei
den Tarifvertragsparteien. Tarifvertragspartei ist nicht
das Parlament, sondern der Bund, vertreten durch den
Bundesminister de Maizière, und die Kommunen, vertreten durch die Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände. Es steht dem Parlament in diesem Zusammenhang nicht zu, Forderungen zu formulieren,
geschweige denn anzunehmen oder zu akzeptieren, so
wie es die Linken in ihrem Antrag tun.
({1})
Daher kann von dieser Stelle aus lediglich der Wunsch
an die Tarifvertragsparteien geäußert werden, ein für
beide Seiten angemessenes und akzeptables Ergebnis zu
erzielen.
Die zweite Forderung im Antrag ist derart unsubstantiiert, dass sich eine Debatte hierüber erübrigt. Es verwundert schon sehr, dass mit dieser Forderung zwar das
Ansinnen auf Sicherstellung der Kommunalfinanzen geäußert, aber nicht ein einziger Vorschlag unterbreitet
wird.
Da mir das Thema Kommunalfinanzen als ehemaligem Ratsmitglied besonders am Herzen liegt, sei Folgendes erwähnt: Wir, die CDU/CSU-Fraktion, haben das
Thema „Sicherstellung der Kommunalfinanzen“ schon
längst aufgenommen. Offensichtlich scheinen die Linken das noch nicht registriert zu haben. Daher verweise
ich auf die letzte Legislaturperiode und den Koalitionsvertrag.
In der letzten Legislaturperiode hat die CDU/CSUFraktion maßgeblich dazu beigetragen, dass die Kommunen mit der stufenweisen Rücknahme der Kosten für
die Grundsicherung im Alter eine erhebliche finanzielle
Entlastung erhalten. Hierdurch werden die Kommunen
nach dem Erreichen der 100-prozentigen Übernahme der
Kosten ab 2014 um jährlich 5 Milliarden Euro entlastet.
({2})
Mit der Eingliederungshilfe werden wir eine weitere
maßgebliche finanzielle Entlastung der Kommunen auf
den Weg bringen, die die Kommunen im Ergebnis um
weitere 5 Milliarden Euro jährlich entlasten wird. Dabei
möchte ich das Thema Eingliederungshilfe nicht nur als
finanzielle Entlastung der Kommunen verstanden wissen, sondern an dieser Stelle insbesondere die Neuregelung der Teilhabe von behinderten Menschen durch das
beabsichtigte Bundesteilhabegesetz als einen wesentlichen Bestandteil des Gesetzes erwähnen.
Darüber hinaus werden Länder und Kommunen hinsichtlich der Kosten für Kinderkrippen, Kitas, Schulen
und Hochschulen zusätzlich finanziell unterstützt. Die
Länder werden hierzu in der laufenden Legislaturperiode
um 6 Milliarden Euro entlastet. Es wird daher Aufgabe
der Länder sein, diese Entlastung an die Kommunen
weiterzugeben und nicht etwa zur Konsolidierung der
Länderhaushalte zu verwenden.
({3})
Die genannten Maßnahmen sind prioritäre Maßnahmen, die nicht unter einem Finanzierungsvorbehalt stehen. Hieran sieht man deutlich, dass wir, die CDU/CSUFraktion und auch die Regierungskoalition, längst auf
dem Weg sind, die Kommunen finanziell weiter zu entlasten. Man sieht auch, welche große Bedeutung wir der
finanziellen Entlastung der Kommunen beimessen.
Hierzu bedarf es keiner Aufforderung durch die Linken.
Weiter weise ich darauf hin, dass der Bund für allgemeine Gesetzesinitiativen zur Sicherung der Kommunalfinanzen - so fordert es die Linke in ihrem Antrag ebenfalls nicht zuständig ist, da dies Aufgabe der Länder
ist. All dies zeigt deutlich, dass Sie mit Ihren Forderungen lediglich eine Showveranstaltung initiieren wollen,
frei nach dem Motto: The Show Must Go On.
({4})
Bezüglich der Forderungen im Antrag der Linken
fasse ich abschließend wie folgt zusammen: Beide Forderungen richten sich an das nicht zuständige Gremium.
Die erste Forderung missachtet zudem die Grundsätze
der Tarifautonomie und damit die Verfassung. Die
zweite Forderung ist schlichtweg unsubstantiiert. Beide
Forderungen sind damit abzulehnen, da sie eklatante
Fehler bzw. Mängel aufweisen. In der Schule würde man
dazu sagen: Thema verfehlt, Prüfung nicht bestanden!
Danke schön.
({5})
Herr Kollege Oellers, zu Ihrer ersten Rede hier im
Deutschen Bundestag gratuliere ich Ihnen herzlich und
wünsche Ihnen viele weitere erfolgreiche Reden im Hohen Hause.
({0})
Das war der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt, und deshalb schließe ich hiermit die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/795 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 11 sowie den
Zusatzpunkt 6 auf:
11 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({1})
- zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU
und SPD
Einsetzung einer „Kommission zur Überprüfung und Sicherung der Parlamentsrechte bei der Mandatierung von Auslandseinsätzen der Bundeswehr“
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Frithjof
Schmidt, Agnieszka Brugger, Omid
Nouripour, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Einsetzung einer „Parlamentarischen
Kommission zur Überprüfung, Sicherung
und Stärkung der Parlamentsrechte bei
der Mandatierung von Auslandseinsätzen
der Bundeswehr“
Drucksachen 18/766, 18/775, 18/870
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Alexander S. Neu, Wolfgang Gehrcke, Jan
van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Einsetzung einer „Parlamentarischen Kommission zur Überprüfung, Sicherung und
Stärkung der Parlamentsrechte bei der Mandatierung von Auslandseinsätzen der Bundeswehr“
Drucksache 18/839 ({2})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Erster Redner ist der Kollege Dr. Johann Wadephul,
der hiermit die Aussprache eröffnet.
({3})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir beenden heute eine kurze, aber hochqualifizierte und auch interessante Beratung, die wir in der vergangenen Woche in diesem Hohen Hause begonnen und
zwischenzeitlich im Auswärtigen Ausschuss und in den
mitberatenden Ausschüssen fortgesetzt haben.
Positiv formuliert kann man sagen: Der Anstoß, den
der Koalitionsvertrag gegeben hat, ist von allen Fraktionen aufgenommen worden. Das heißt, alle Fraktionen
sind sich einig darin, dass es sinnvoll ist, die Frage der
Wahrung und Sicherung der Parlamentsrechte bei der
Mandatierung von Auslandseinsätzen dahin gehend zu
überprüfen, ob sie zeitgemäß sind, ob sie effektiver werden können und was wir angesichts einer neuen Sicherheitslage gegebenenfalls zu verändern haben. Das ist
insgesamt ein erfreuliches Zwischenergebnis einer Debatte, die aus der Mitte der Unionsfraktion schon in der
vergangenen Legislaturperiode angeschoben worden ist.
Wir freuen uns, dass eine Diskussion über diese Fragen
möglich ist.
Wir tun das in dem Bewusstsein, dass die Parlamentsrechte bei der Mandatierung von Auslandseinsätzen ein
wirkliches Juwel unserer parlamentarischen Arbeit sind,
welches wir sichern wollen. Wenn man betrachtet, was
nach dem Zweiten Weltkrieg in der Verfassung an Parlamentsrechten festgeschrieben worden ist und durch Entscheidungen des Verfassungsgerichts bestätigt worden
ist, dann wird klar, dass die Frage der Feststellung des
Verteidigungsfalls sozusagen noch in die alte Sicherheitsarchitektur zur Zeit des Kalten Krieges gehört. Unter den Bedingungen einer Einsatzarmee gehört die Festschreibung dieses Parlamentsrechts zu den wirklichen
parlamentarischen Errungenschaften, auf die wir stolz
sein können. Diese Rechte sind vom Bundesverfassungsgericht regelmäßig gestärkt worden.
Wenn wir diese Rechte effektiv wahrnehmen wollen,
müssen wir sie aber regelmäßig überprüfen. Das soll
jetzt geschehen. Ich freue mich, dass es dazu auch konstruktive Vorschläge aus anderen Fraktionen gibt, wiewohl ich diejenigen der Linksfraktion nicht dazu zählen
kann; denn wer ernsthaft erwägt, die Mandatierung von
Auslandseinsätzen der Bundeswehr an eine Zweidrittelmehrheit zu binden, der will nicht, wie es im Antrag
steht, die Legitimationsqualität erhöhen, sondern der
verfolgt natürlich ganz andere politische Ziele. Das ist
nicht weiter verwunderlich; das sollten Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, aber vielleicht ehrlicherweise sagen. All diejenigen in den anderen Fraktionen, die noch
glauben, dass man mit dieser Fraktion eine zuverlässige
und in der NATO, in der Europäischen Union und in der
UNO kalkulierbare Sicherheitspolitik betreiben kann,
({0})
werden hier wieder einmal eines Besseren belehrt: Mit
dieser Fraktion kann man das nicht erreichen.
({1})
Wir haben uns intensiv bemüht, die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen einzubeziehen. Weil das im Auswärtigen Ausschuss von Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Grünenfraktion, ein bisschen kritisch
beleuchtet worden ist, was Ihr gutes parlamentarisches
Recht ist, will ich dazu Folgendes sagen: Ein entsprechender Koalitionsantrag ist Ihnen am 25. Februar 2014
zugeleitet worden. Wir haben erst zehn Tage danach
erste Vorschläge von Ihnen dazu erhalten. Wer aus dem
Koalitionsvertrag weiß, was wir wollen, wer rechtzeitig
vor Beginn der ersten Lesung einen Antrag von uns bekommt, wer sich dazu äußern kann, wer sich einbringen
kann, der sollte nicht im Ernst so tun - so habe ich das
im Auswärtigen Ausschuss verstanden
({2})
- Frau Kollegin Künast, Sie waren nicht dabei -, als
hätte es hier kein vernünftiges Zugehen der Großen Koalition auf die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegeben.
Wir haben versucht, Sie einzubinden. Wenn Sie am
Schluss nicht mitwirken wollen, dann muss man das hier
auch ehrlich sagen. Dann werden wir unseren Antrag
hier durchsetzen. Aber bitte unterlassen Sie an dieser
Stelle die formelle Verfahrenskritik. Sie ist unberechtigt.
({3})
In der Sache muss man sagen: Wer eine Expertenkommission einsetzen will - wir sind die Letzten, die ihr
Licht unter den Scheffel stellen - und sie, wie die Grünen, allein mit Parlamentariern besetzen will, der wird
natürlich relativ wenige Anstöße von draußen bekommen, was juristische, sicherheitspolitische und militärpolitische Fragen angeht. Wir wollen die Expertise zu
uns holen.
({4})
- Ja. Das, was Sie machen wollen, ist aber klassisch das,
was wir in jeder Ausschusssitzung machen können,
wenn wir eine Anhörung durchführen. Das können wir
jederzeit machen, ob im Verteidigungsausschuss oder im
Auswärtigen Ausschuss. Das werden wir auch wieder
machen. Das wird man möglicherweise auch danach
noch machen wollen und natürlich auch können. Aber
wir wollen eine Kommission einsetzen, durch die wir
den Blick von draußen in unsere Parlamentswelt hineinholen. Ich glaube, das ist ein guter und wichtiger Ansatz,
der unsere Arbeit am Schluss nur befruchten kann und
sinnvoll ist. Deswegen möchte ich Sie ganz herzlich bitten, sich dem zu öffnen.
Es bleibt dabei: Es gibt neue Bedingungen, auf die
wir uns einstellen müssen. Wir haben es mit neuen sicherheitspolitischen Anforderungen zu tun. Es gibt mehr
Zusammenarbeit mit Partnern als noch vor wenigen Jahren. Wir haben weniger Haushaltsmittel zur Verfügung.
({5})
Deswegen ist es gut, dass wir eine Kommission bitten
können, uns zu beraten. Die Schlussentscheidung trifft
der Deutsche Bundestag - das steht vollkommen außer
Frage; niemand wird das befolgen müssen, was von der
Kommission vorgeschlagen wird -, und es bleibt bei einem starken Parlamentsrecht. Aber es ist gut, dass diese
Kommission ihre Arbeit aufnehmen kann.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Als nächstem Redner erteile ich dem Kollegen
Dr. Alexander Neu, Die Linke, das Wort.
({0})
Sehr geehrte Bürgerinnen und Bürger! Sehr geehrte
Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Präsident! Die
Linke hat letzte Woche angekündigt, einen eigenen Antrag einzubringen. Das haben wir nun gemacht. Er liegt
Ihnen vor.
({0})
Der eine oder andere von Ihnen mag sich fragen, warum die Linke das Parlamentsbeteiligungsgesetz so verteidigt, wie sie es verteidigt. Das kann ich Ihnen sagen:
Obwohl wir gegen Auslandseinsätze sind bzw. gerade
weil wir gegen Auslandseinsätze sind, verteidigen wir
das Parlamentsbeteiligungsgesetz.
({1})
90 Prozent der gewählten Vertreter in diesem Hause
stimmen regelmäßig für Kriegs- und Kampfeinsätze und
für Auslandseinsätze
({2})
- doch, das stimmt ({3})
und missachten regelmäßig den Mehrheitswillen der
Gesellschaft, die zu 75 Prozent gegen Auslandseinsätze
ist. Das ignorieren Sie einfach. Das heißt, die Linke ist
die einzige Fraktion, die Auslandseinsätze im Sinne des
Mehrheitswillens der Gesellschaft ablehnt.
({4})
Die kuriose Situation, die ich gerade geschildert habe,
sehr geehrte Damen und Herren, muss dem Bürger und
der Bürgerin deutlich gemacht werden. Daher fordert die
Linke die Sicherstellung der Transparenz, der Kontrolle
und des Entscheidungsmonopols des Deutschen Bundestages bei Auslandseinsätzen.
Gerade wurde ein weiterer Punkt angesprochen: die
Zweidrittelmehrheit, die wir bei Entscheidungen des
Deutschen Bundestages über Auslandseinsätze einfordern. Es kann nicht sein, dass die Entscheidung über
Krieg und Frieden, über Leben und Tod von 30, 40 anwesenden MdBs getroffen wird.
({5})
Es müsste so sein, dass mindestens zwei Drittel der Mitglieder des Deutschen Bundestages anwesend sein und
so die Verantwortung für ihr Tun und Handeln übernehmen müssten.
(Michael Brand ({6}): Das ist doch
eine Diffamierung! Das ist doch unwahr! Manfred Grund ({7}): Wollen Sie sich
korrigieren? Sie haben noch die Möglichkeit!
Über welche Einsätze wurde hier denn nicht in namentlicher Abstimmung abgestimmt? - Henning
Das war sachlich falsch!)
Nun zum konkreten Problem. Als angebliches Problem deklarieren Sie, das Parlamentsbeteiligungsgesetz
stelle eine Behinderung der Arbeit der integrierten Stäbe
und integrierten Verbände dar. Genannt werden
AWACS-Flugzeuge, Luftbetankung, Lufttransport,
NATO-Hauptquartiere, Führungsstäbe etc. etc. Was
steckt dahinter? Integrierte Stäbe oder integrierte Verbände sind multinational zusammengesetzt. Das heißt,
Franzosen, Deutsche, Briten, Amerikaner etc. arbeiten in
diesen Formationen zusammen.
Wenn nun der Parlamentsvorbehalt zugunsten integrierter Stäbe oder integrierter Verbände eingeschränkt
werden würde, geschähe Folgendes: Wenn die USA,
Frankreich oder Großbritannien mal wieder der Auffassung sind, die Welt vor irgendwelchen Schurken retten
und einen Kampf führen zu müssen,
({0})
die Bundesregierung aber ausnahmsweise nicht mitmachen möchte - siehe den Fall Libyen -, geriete es so,
dass die Bundesregierung unter erheblichem Druck der
USA, Frankreichs oder Großbritanniens stünde, diesen
Einsatz im NATO-Rat oder im Ministerrat der Europäischen Union nicht durch ein Veto zu blockieren. Was
wäre die Konsequenz? Die Konsequenz wäre ein Mitmachautomatismus. Genau das wollen Sie. Die Bundeswehrsoldatinnen und -soldaten in den integrierten Stäben
und den integrierten Verbänden von EU und NATO
müssten dann in den Kampfeinsatz bzw. in den Auslandseinsatz.
({1})
Warum? Weil das souveräne Entscheidungsrecht der
Bundesregierung und des Bundestages ausgehebelt und
nach Brüssel verlegt worden ist - und das ausgerechnet
durch die hier anwesenden Parlamentarier.
({2})
Die Entscheidung über Krieg und Frieden, die Entscheidung über Leben und Tod hinge somit von EU- und
NATO-Technokraten ab. Das kann doch nicht Ihr Ernst
sein. Das wollen Sie nicht wirklich.
({3})
Die Linke widersetzt sich diesem Abbau des Parlamentsvorbehaltes und fordert stattdessen seine Ausweitung. Ich habe bei meiner letzten Rede schon einige Lücken aufgezählt. Ich wiederhole sie gerne noch einmal.
Die erste Lücke betrifft die Unterrichtungspraxis bezüglich der Einsätze der Spezialkräfte. Es kann nicht
sein, dass von den 631 Abgeordneten gerade einmal 17
darüber informiert werden - halbherzig informiert werden -, ob die SEK M oder die KSK im Einsatz ist.
({4})
Die zweite Lücke ist mir heute Morgen noch einmal
deutlich geworden, als unsere Kanzlerin gesprochen hat.
Es ist das, was man unter die Merkel-Doktrin zu fassen
versteht:
({5})
Ausbildungsmission und Rüstungsexport als strategische
Instrumente neben Kampfeinsätzen einzusetzen. Warum
also keinen Parlamentsvorbehalt für Rüstungsexporte?
Das gilt es anzudenken.
({6})
Die dritte Lücke betrifft die Sicherstellung, dass keine
unbemannten Waffensysteme, also Drohnen, zum
Einsatz kommen. Es gibt einen bekannten Spruch der
Friedensbewegung, der hier auf ironische Weise wiederbelebt wird: Stell Dir vor, es ist Krieg, und niemand geht
hin. - Damals ahnte noch keiner, dass es einmal so perverse Mordinstrumente wie Killerdrohnen geben würde.
Um Krieg führen zu können, muss man nicht mehr in
das Einsatzgebiet gehen. Man kann das auch bequem
von zu Hause aus mit dem Joystick handhaben.
({7})
Das Parlamentsbeteiligungsgesetz berücksichtigt also
dieses Szenario nicht. Das Parlamentsbeteiligungsgesetz geht von bewaffneten deutschen Streitkräften im
Ausland aus, § 1 Abs. 2 in Verbindung mit § 2 Abs. 1.
Der Ausführende im Sinne des Parlamentsbeteiligungsgesetzes ist also in jedem Fall der Soldat bzw. die Soldatin und nicht irgendwelche Waffensysteme. Es geht also
darum, diese Waffensysteme im Parlamentsbeteiligungsgesetz zu berücksichtigen.
Die Linke hat angekündigt, dass sie den Antrag der
Regierungsfraktionen ablehnen und sich natürlich auch
nicht an dieser Kommission beteiligen wird. Wir werden
nicht als Feigenblatt dienen.
({8})
Wir stimmen dem Antrag der Grünen zu.
({9})
Ich habe noch eine Bitte an die Regierungsfraktionen:
Nehmen Sie die von mir genannten Lücken ernst und
sorgen Sie dafür, dass diese geschlossen werden.
({10})
Danke.
({11})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Rolf Mützenich, SPD.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
würde gerne versuchen, noch einmal auf den Kern der
heutigen Debatte zurückzukommen, weil es heute nicht
um einen Gesetzentwurf geht, der möglicherweise die
Parlamentsrechte in irgendeiner Form erweitert, einschränkt, modernisiert oder irgendetwas anderes, sondern lediglich darum, die Frage zu stellen: Wollen wir
eine Kommission beim Parlament einsetzen, die sowohl
mit der Expertise aus dem Parlament als auch der von
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sowie
Experten aus dem Bereich des Völkerrechts mit uns gemeinsam überlegt, welche Herausforderungen sich mit
Blick auf ein modernes Parlamentsbeteiligungsgesetz ergeben?
({0})
Ich finde, diesen Nebel, der gerade hier entstanden ist,
müssen wir aus dem Parlament vertreiben. Es geht tatsächlich um ein innovatives Instrument, das uns im
Deutschen Bundestag hilft, in einer Debatte, die wir
möglicherweise dann noch in dieser Legislaturperiode
als verantwortungsvolle Parlamentarierinnen und Parlamentarier zu führen haben, sozusagen eine Wegstrecke
abzubilden. Genau deshalb war diese Einladung auch
von uns an alle Fraktionen in diesem Haus gerichtet gewesen.
Ich gebe zu, liebe Kolleginnen und Kollegen: Ich bin
am Ende einer längeren Debatte, die wir sowohl in den
Ausschüssen als auch zwischen den Fraktionen geführt
haben, nicht ganz zufrieden. Natürlich hätte ich mir die
Beteiligung aller Fraktionen gewünscht. Ich glaube, wir
alle hier im Deutschen Bundestag haben mit gutem
Grund, aber auch mit gutem Wissen und Willen versucht, diese Einigung zu erreichen. Ich sage das auch
ganz klar an die Fraktion der Grünen gerichtet, und zwar
aus einem ganz einfachen Grund: weil wir damals unter
Rot-Grün nämlich einen anderen Weg gegangen sind,
der auch nicht auf die Zustimmung dieses Parlaments
gestoßen ist. Ich glaube, wir sollten uns noch einmal vergewissern, wie das 2004/2005 war: Wir haben damals
als rot-grüne Bundesregierung bzw. Koalition einen Gesetzentwurf vorgelegt, der, wie ich finde, richtig war.
Jetzt wollten wir einen anderen Weg beschreiten: Wir
wollten die Opposition von Anfang an dabei haben. Die
Große Koalition will nichts niederstimmen und auch
keine Minderheitenrechte beiseiteschieben, sondern eine
Parlamentskommission einrichten. Ich glaube, das war
der richtige Weg: ein Angebot an alle in diesem Parlament, zu versuchen, in den nächsten Monaten berechtigte Fragen auch zu diskutieren.
Als es damals um das Parlamentsbeteiligungsgesetz
ging, kamen vonseiten der Union - das muss ich unserem Koalitionspartner zugestehen - teilweise andere
Vorstellungen. Diese berechtigten Fragen können jetzt
wieder gestellt werden. Das soll eine Kommission beim
Parlament leisten, in der, wie gesagt, sowohl Abgeordnete vertreten sind als auch ein breiter Kreis von Experten, der uns helfen kann. Wir wollten keinen Gesetzentwurf vorlegen, und wir wollten auch kein Gremium der
Koalitionsparteien. Wir wollten das nicht im Koalitionsausschuss festlegen und Ihnen quasi diktieren. Ich
meine, welchen offeneren Weg hätten wir denn wählen
können als die Einrichtung dieser Kommission beim
Parlament? Dass Sie so reagiert haben, hat mich dann
schon gewundert. Sie haben den Koalitionsvertrag gelesen: Wir wollten ganz bewusst - so haben wir es auch
zitiert - möglichst im Konsens Vorschläge machen, wobei Minderheitenrechte und Minderheitsvoten in dieser
Kommission genauso respektiert worden wären wie
sonst im Deutschen Bundestag auch.
Herr Kollege Mützenich, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Liebich?
Da melden sich ganz viele.
Dann erst einmal der Kollege Liebich.
Vielen Dank, Herr Kollege Mützenich, dass Sie diese
Zwischenfrage zulassen. Wir hatten uns in meiner Fraktion nicht abgesprochen, wer sich alles meldet.
Das müsst ihr untereinander klären.
Vielleicht erledigt sich das auch in der Folge; das
weiß ich nicht.
Das Angebot an uns, dass wir in dieser Kommission
zusammenarbeiten können, klang sehr schön. Das
Problem ist allerdings: Sie haben in der letzten Sitzungswoche, als wir darüber gesprochen haben, gesagt: Wir
überweisen das an die Ausschüsse; da kann man ja noch
einmal beraten. - Nun saßen wir alle gemeinsam im
Auswärtigen Ausschuss, und es lagen Vorschläge von
drei Seiten vor. Dann ist zwar verbal bekundet worden,
man könne aus den Vorschlägen der Grünen zum Einsetzungsbeschluss - aus unseren vielleicht auch; das ist
nicht ganz deutlich geworden - etwas in den Antrag, den
Sie vorgelegt haben, aufnehmen. Das ist aber nicht passiert. Sie haben den Vorschlag, der hier letzte Woche
vorlag, vollkommen unverändert zur Abstimmung gestellt, ohne ein einziges Angebot für einen etwas ergebnisoffeneren Text zu machen.
({0})
Da muss ich schon sagen: Ich kann das Klagen, man
hätte uns einbeziehen wollen, nicht richtig ernst nehmen.
Im Ausschuss war davon nichts zu merken. Sie haben
einfach abgestimmt über das, was von Ihnen vorlag, und
unsere Anregungen beiseitegeschoben.
Herr Kollege Liebich, ich habe nicht geklagt, sondern
sozusagen den Weg aufgezeigt, den wir den Oppositionsparteien - wie bereits in den Koalitionsgesprächen
beschlossen - eröffnet haben, auch als Konsequenz
daraus, wie wir damals das Parlamentsbeteiligungsgesetz auf den Weg gebracht haben. Wir wollten damals
auch rechtliche Klarheit herstellen.
Ich habe die Diskussion im Auswärtigen Ausschuss
ein bisschen anders in Erinnerung als Sie: In der Tat, wir
haben lange Zeit über die Ukraine diskutiert. Ich finde,
das darf uns nicht zum Vorwurf gemacht werden; denn
das ist ein Fels der Herausforderungen in der internationalen Politik, die auch mit Parlamentarierinnen und Parlamentariern zu diskutieren sind und wo im Deutschen
Bundestag unterschiedliche Meinungsbilder existieren.
Dann haben wir, glaube ich, gegen zwölf Uhr unter
Beteiligung aller Fraktionen eine relativ breite Debatte
über diesen Antrag geführt. Da gab es eben unterschiedliche Auffassungen. Wir haben aber schon vorher - das
sollte der Öffentlichkeit hier klar werden - alle Versuche
unternommen - vielleicht in unterschiedlicher Intensität -, letztlich zu einer Lösung zu kommen. Deswegen
habe ich hier nichts beklagt.
Sie haben es leider - das will ich Ihnen im Gegensatz
zur Fraktion Bündnis 90/Die Grünen nicht zum Vorwurf
machen - erst diese Woche geschafft, einen Antrag vorzulegen. Ich hätte mir gewünscht, dass wir diesen Antrag
etwas früher bekommen hätten; das hätte die Debatte
vielleicht befördert.
Deswegen will ich noch einmal eindeutig feststellen:
Wir wollen weiterhin diese breite Beteiligung.
Herr Kollege Mützenich, jetzt hat sich der Kollege
Gehrcke noch einmal gemeldet. Die Frage, die er stellen
wollte, ist also noch nicht beantwortet. Deshalb darf ich
Sie fragen, ob Sie diese Frage auch zulassen.
Ja, wenn es bereichert.
({0})
Kollege Mützenich, Sie kennen doch den klassischen
Spruch, den jemand vor Gericht gesagt hat, als er aufstehen sollte: Wenn es der Wahrheitsfindung dient. - Hier
müsste es heißen: Wenn es die Debatte bereichert.
Ich möchte gerne von Ihnen wissen, warum es den
Antragstellern nicht möglich war, die Formulierung
„Stärkung der Parlamentsrechte“ in den Antrag mit aufzunehmen. Es geht ja darum, dass Sie eine Kommission
einsetzen möchten, die keinen beliebigen, sondern einen
bestimmten Auftrag hat, den das Parlament erteilt und
den die Kommission dann auch erfüllen muss. Es war
für uns ein zentraler Punkt, diese Formulierung in den
Antrag aufzunehmen. Das war nicht möglich.
Sie können von uns doch nicht erwarten, dass wir in
Bezug auf eine Kommission, die noch nicht einmal über
die Stärkung der Parlamentsrechte reden darf - das ist
nicht ihr Auftrag -, kritiklos sagen: Da machen wir mit.
Hier war die Grenze. Wir haben das zigmal hin und
her verhandelt, aber Sie waren nicht bereit, sich einen
Millimeter zu bewegen. Meine Einschätzung ist: Vielleicht hätten Sie sich ja bewegt, aber Ihr Koalitionspartner war nicht bereit, Ihnen so viel Raum einzuräumen,
({0})
dass Sie dieser Bitte nachkommen konnten.
Weil Sie hier für Transparenz geworben haben, wollte
ich Sie bitten, das zu bestätigen, was ich gesagt habe: Sie
waren nicht bereit, die Formulierung „Stärkung der Parlamentsrechte“ aufzunehmen.
({1})
Ich finde ja, das ist ein interessanter Versuch, aber Sie
können mich von meinem Koalitionspartner natürlich
nicht wegbringen, weil wir auch in diesen Punkten gut
zusammengearbeitet haben.
({0})
Herr Kollege Gehrcke, ich habe Ihnen das zwar schon
während der Aussprachen in den Ausschüssen und auch
bilateral gesagt, aber ich würde Sie trotzdem gerne noch
einmal darauf hinweisen, dass gerade im Koalitionsvertrag von der besonderen Stärke der Parlamentsbeteiligung gesprochen wird. Ich finde, dass sich der Deutsche
Bundestag als Parlament überhaupt nicht zu verstecken
braucht. Er nimmt sein Recht wahr, mit über Auslandseinsätze zu befinden. Das tun wir hier im Deutschen
Bundestag ja auch fast immer zur Hauptdebattenzeit und
vor einem vollen Plenum. Wir schätzen uns wert und
tauschen unsere unterschiedlichen Argumente in den
Debatten aus. Gerade das wird auch im Einsetzungsbeschluss für die Kommission wieder deutlich.
Wenn Sie dem Parlament und uns Einzelnen in dieser
Koalition nicht trauen - das mag ja aufgrund der Auseinandersetzungen so sein -: Warum vertrauen Sie dann
nicht einer relativ unabhängigen, vom Parlament eingesetzten Kommission, dass sie all diese Fragen diskutiert?
Wir geben ihr doch nichts vor. Sie hätten Mitglieder der
Kommission benennen können, die genau diese Punkte
zur Sprache gebracht hätten. Wir setzen diese Kommission doch nicht ein, um den Mitgliedern danach sozusagen einen Knebel in den Mund zu legen und zu sagen:
„Darüber dürft ihr nicht diskutieren.“ Vielmehr geht es
doch um selbstbewusste Beratungen aus dem Parlament
und auch der Fachöffentlichkeit und darum, bestimmte
Dinge einmal auf den Punkt zu bringen. Ich finde, das
Angebot war sehr groß und auch sehr umfassend.
({1})
Ich glaube, es spielt auch noch ein anderer Aspekt
eine Rolle - das wollen Sie ja auch nicht einfach zur
Seite schieben -: Wahrscheinlich wird sich diese vom
Parlament eingesetzte Kommission auch mit weiteren
Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts auseinandersetzen müssen. - Wir wollen uns über diese Entscheidungen gar nicht hinwegsetzen, sondern genau das
akzeptieren, was uns das Bundesverfassungsgericht mit
auf den Weg gegeben hat. Damals wurde uns eben gesagt, dass wir ein Gesetz formulieren und offene Fragen,
die in den letzten Jahren aufgetaucht sind, beantworten
sollen. Deswegen finde ich, müssen wir uns mit den Argumenten auseinandersetzen.
Ich war schon etwas verwundert darüber, dass Sie ein
Papier, das, glaube ich, am Institut für Friedens- und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg von ganz
unterschiedlichen Autoren erstellt worden ist, durch die
uns auch eine Stärkung und Fortentwicklung dieses Parlamentsbeteiligungsrechts mit auf den Weg gegeben
wurde, gar nicht in die Debatte eingebracht haben. Die
Autoren haben sowohl Argumente der Union, aber zum
Beispiel auch manche Ihrer Argumente aufgenommen.
Die Quintessenz dieses Papieres ist: Es ist richtig, in
der Kommission mitzuarbeiten. Das bietet die Möglichkeit, das Parlamentsbeteiligungsrecht innovativ weiterzuentwickeln und die Fragen, die in den letzten Jahren
aufgetaucht sind, eventuell zu beantworten. Ich hätte mir
genau diese Souveränität der Autoren - das wissen Sie -,
die aus unterschiedlichen Parteien und aus unterschiedlichen Wissenschaftszweigen kommen, auch von Ihnen
gewünscht. So viel Souveränität hätte auch von Ihnen
und letztendlich auch von den beiden Fraktionen der Opposition kommen müssen.
({2})
Ich werfe Ihnen die Fragen, die Sie in Ihrem Antrag
aufgeführt haben, nicht vor. Darüber kann man diskutieren, zum Beispiel über den Umgang mit unbemannten
Flugkörpern, die möglicherweise mehr und mehr in den
militärischen Alltag überführt werden. Warum sollte in
einem solchen Gremium nicht auch darüber diskutiert
werden? Das ist letztlich eine Herausforderung für die
Sicherheitspolitik in Deutschland, weil diese Flugkörper
möglicherweise von hier aus gestartet werden. Dadurch
leitet sich aus dem Völkerrecht das Recht ab, Angriffskriege zu führen. Ich glaube, das ist ein wichtiger Punkt,
der diskutiert werden muss.
Zu den Grünen. Da ist mir zum Beispiel berichtet
worden, dass die Organisation Ziviler Friedensdienst
überhaupt nicht glücklich über die Vermengung von zivilen und militärischen Fragen im Parlamentsbeteiligungsrecht ist. Diese Organisation will sich eben nicht
mit dem militärischen Auftrag identifizieren. Ich verstehe das; das ist auch vollkommen richtig. Auch so etwas hätte in dieser Kommission besprochen werden können. Warum nicht? Ich glaube, die Kommission ist
souverän genug, um über Transparenz und auch vieles
andere zu sprechen.
Der letzte Aspekt, den ich in diese Diskussion einbringen will: Durch die Verweigerung zur Mitarbeit verengen Sie ohne Not die Debatte, die nach dem Ende der
Arbeit der Parlamentskommission diesen Deutschen
Bundestag erreichen wird. Ich finde, Sie sollten sich
noch einmal überlegen, ob Sie das wollen. Wollen Sie in
diesem Bericht, den die Kommission am Ende ihrer Arbeit dem Deutschen Bundestag vorlegen wird, Ihre Argumente wiederfinden und diskutieren lassen, oder wollen Sie sie in diesem Bericht nicht haben? Deswegen ist
meine herzliche Bitte: Überlegen Sie sich Ihre Entscheidung, gar nicht mitzuarbeiten. Ich finde, es wäre im Interesse des Parlaments und der Öffentlichkeit. Die Einladung zur Mitarbeit besteht weiterhin.
Vielen Dank.
({3})
Für Bündnis 90/Die Grünen erteile ich als nächster
Rednerin der Kollegin Agnieszka Brugger das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Entscheidungen über Auslandseinsätze der Bundeswehr
sind für uns Abgeordnete, so empfinde ich das, die
schwierigsten. Niemand von uns kann sich dabei hinter
seiner Fraktion verstecken, sondern muss sich namentlich für oder gegen einen Einsatz entscheiden.
({0})
Das führt zu intensiven und kontroversen Debatten,
nicht nur in den Fraktionen und Parteien, sondern auch
mit den Bürgerinnen und Bürgern und auch hier in unserem Parlament. So wird eine breite demokratische Legitimation von Auslandseinsätzen ermöglicht. So wird
aber auch verhindert, dass diese Entscheidung nur einige
wenige treffen oder diese gar zu leichtfertig. Deshalb
finde ich, die Parlamentsbeteiligung ist ein sehr hohes
Gut.
({1})
20 Jahre Parlamentsbeteiligungsgesetz, das wäre eigentlich ein guter Anlass, um es als Errungenschaft unserer Demokratie zu feiern. Es wäre auch ein guter Zeitpunkt, um gemeinsam zu evaluieren, wie sich dieser
Grundsatz deutscher Außen- und Sicherheitspolitik bewährt hat und wie man ihn verbessern und weiterentwickeln kann.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition,
egal wie oft Sie das behaupten - ich sage es hier noch
einmal ganz klar -: Wir Grüne verweigern uns keineswegs prinzipiell einer Mitarbeit in einer Kommission zur
Überprüfung, Sicherung und Stärkung der Parlamentsrechte bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr.
({2})
Im Gegenteil: Wir haben uns bereits in den letzten Jahren mit diesem Thema sehr intensiv beschäftigt, und wir
haben sehr viele Ideen, die wir gerne mit Ihnen diskutiert
hätten.
({3})
Noch in der Parlamentsdebatte in der letzten Woche
haben Sie mit großen Worten beteuert, dass Sie die Parlamentsbeteiligung nicht aufweichen wollen und dass
die von Ihnen vorgesehene Kommission ergebnisoffen
tagen sollte. Allerdings haben gleichzeitig designierte
Mitglieder dieser Kommission einige Mandatsdebatten
als „reine Routine“ bezeichnet oder sich öffentlich in
Bezug auf integrierte Streitkräfte für ein reines Rückholrecht des Bundestages ausgesprochen. Ich finde, nicht
nur das spricht Bände und zeigt deutlich, wohin Sie eigentlich wollen.
({4})
Ein einfacher Blick in Ihren Antrag zur Einsetzung
der Kommission genügt vollkommen. Es soll um die
Abstufung der Intensität der parlamentarischen Beteiligung gehen. Das ist doch entlarvend und zeigt, worum es
Ihnen wirklich geht, nämlich die Aufweichung und
Schwächung des Parlamentsvorbehalts.
({5})
Und noch ein anderer Umstand verrät Sie: Sie legen
- auch das entgegen Ihrer Beteuerungen - offensichtlich
keinen allzu großen Wert darauf, die Opposition mit ihren Ideen mitzunehmen. Auch im Antrag der Linken gibt
es einige gute und interessante Punkte, die man hätte diskutieren können,
({6})
beispielsweise die unzureichende Unterrichtungspraxis
beim Einsatz der Spezialkräfte. Auch wir Grünen haben
Ihnen nicht nur im vorliegenden Antrag unsere konkreten Ideen unterbreitet, sondern auch schon im Vorfeld
und vorgestern im Ausschuss versucht, mit Ihnen gemeinsam einen Kommissionsauftrag auf den Weg zu
bringen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD und
der Union, das ist nicht an uns, sondern an Ihnen gescheitert. Schon ganz früh haben Sie nämlich klargemacht, dass Sie nicht bereit sind, Ihren Antrag auch nur
einen Millimeter zu ändern.
({7})
- Wenn das falsch ist, dann hätten Sie ja auf einen unserer Vorschläge eingehen können, zum Beispiel auf das
Thema „integrierte Mandate“, das gerade angesprochen
wurde. Wir wissen alle: Die Auslandseinsätze der Bundeswehr können nur dann einen Beitrag zu mehr Stabilität, Sicherheit und Frieden leisten, wenn sie in eine tragfähige und gut durchdachte Gesamtstrategie eingebettet
sind, die die Konfliktursachen bearbeitet.
({8})
Solche integrierten Mandate würden die jeweilige Bundesregierung stärker darauf verpflichten, auch diplomatische, polizeiliche, entwicklungspolitische und zivile
Ansätze zur Krisenbewältigung für jeden Konflikt auszubuchstabieren und die Stimmigkeit der Instrumente
gründlich abzuwägen und darzustellen. So würden sich
die Diskussionen nicht immer nur auf das militärische
Engagement fokussieren.
Meine Damen und Herren, wir haben zudem vorgeschlagen - das war für uns ein ganz zentraler Punkt -,
dass der Kommissionsauftrag nicht nur die Überprüfung,
sondern auch die Stärkung der Parlamentsrechte zum
Ziel hat. Ich würde jetzt wirklich gerne ganz konkret von
Ihnen hören, warum Sie auch diesen Vorschlag so kategorisch abgelehnt haben, wenn es Ihnen angeblich nicht
um die Aufweichung des Parlamentsvorbehaltes geht.
({9})
Auch das offenbart doch deutlich, dass die Ergebnisoffenheit der Kommission, von der Sie reden, nicht mehr
als eine Fassade ist.
({10})
Ich erwarte auch nicht, dass Sie die grünen Vorschläge richtig finden. Aber ich erwarte - gerade wenn
Sie immer wieder beteuern, dass Sie uns ja ach so gerne
mit im Boot gehabt hätten -,
({11})
dass Sie wenigstens die Bereitschaft zeigen, so etwas zu
diskutieren und in den Antrag aufzunehmen.
({12})
Nicht wir sind es also, die sich verweigern, sondern
Sie sind gegen alles, was nicht nach Ihrer Pfeife tanzt.
({13})
- Nein, es ist genau so, wie ich es sage.
({14})
Meine Damen und Herren, wir bedauern es sehr - und
das ist dann wieder weniger lustig -, dass Sie, um Ihre
fragwürdigen politischen Ziele zu verfolgen, die Stärkung der Parlamentsbeteiligung ausschließen wollen.
({15})
Wir machen bei diesem durchsichtigen Manöver nicht
mit, und wir sind ganz sicher auch nicht das grüne Feigenblatt für den schwarz-roten Angriff auf die Parlamentsrechte.
({16})
Deshalb können und wollen wir uns aus guten Gründen
nicht an dieser Kommission beteiligen.
Vielen Dank.
({17})
Nächste Rednerin ist für die CDU/CSU-Fraktion die
Kollegin Elisabeth Motschmann.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
sind uns sicher alle darin einig, dass es nicht gut ist,
wenn einer alleine über den Einsatz von Soldaten entscheidet. Das sehen wir aktuell auf der Krim. Vor diesem
Hintergrund wird unser Thema „Einsetzung einer Kommission zur Überprüfung und Sicherung der Parlamentsrechte bei der Mandatierung von Auslandseinsätzen der
Bundeswehr“ nicht nur aktuell, sondern es gewinnt auch
an Bedeutung.
Uns wird bewusst: Die parlamentarische Beteiligung
an der Entscheidung über die Bundeswehreinsätze bzw.
das Parlamentsbeteiligungsgesetz hat sich bewährt. Dadurch ist eine breite Verankerung der Bundeswehr und
ihrer Einsätze in der Gesellschaft gewährleistet, und das
ist - Frau Brugger, ich sehe das genauso wie Sie - ein
ganz hohes Gut. Nicht jedes Land, auch nicht in Europa,
hat einen solchen Parlamentsvorbehalt.
Immer wieder stehen wir aber vor neuen verteidigungspolitischen Herausforderungen und Aufgaben, die
auch die Strukturen der Bundeswehr verändern und Anpassungen notwendig machen. Inzwischen haben wir
eine Armee, die in vielen Teilen der Welt eingesetzt
wird. Wir haben eine Armee, die in integrierten Strukturen und Stäben auf NATO- und EU-Ebene mitwirkt.
Unsere Sicherheit kann nur mit unseren Bündnispartnern gemeinsam hergestellt werden. Deshalb müssen wir
nationale militärische Kapazitäten bündeln - Stichwort
„Sharing und Pooling“ -, und dadurch können wir voneinander profitieren. Die nationalen Streitkräfte werden
integriert und damit partiell auch voneinander abhängig.
Diese notwendige und sinnvolle Auffächerung von Aufgaben macht es erforderlich, dass wir die Parlamentsrechte sichern und unseren Einfluss auf die Einsatzentscheidungen neu justieren.
Herr Gauck hat uns in München gemahnt,
({0})
„sich als guter Partner früher, entschiedener und substanzieller“ einzubringen. „Guter Partner“ bedeutet Verlässlichkeit. „Guter Partner“ heißt, dass Entscheidungen
zügig getroffen werden, dass Entscheidungen im Schulterschluss mit den Bündnispartnern erfolgen und dass
wir zu unseren getroffenen Entscheidungen auch stehen.
Deshalb stellen wir uns schon seit längerem die Frage,
ob das Parlamentsbeteiligungsgesetz weiterentwickelt
werden kann oder weiterentwickelt werden muss. Die
einzusetzende Kommission soll prüfen, wie die Parlamentsrechte bei Auslandsmandaten der Bundeswehr
unter den neuen Auftragsbedingungen gewährleistet
werden können.
Im Gegensatz zu den Grünen wollen wir ergebnisoffen tagen; das ist ein wichtiger Unterschied.
({1})
- Genau, das ist Toleranz. - Die Grünen klammern mit
ihrer parlamentarischen Kommission den Nutzen einer
solchen Kommission von vornherein aus.
({2})
Sie begrenzen und beschränken die Kommissionsarbeit.
Ihr Vorschlag steht im Übrigen im Widerspruch zum
Koalitionsvertrag. Das stört natürlich Sie nicht, aber uns
schon.
({3})
Sie hatten die Chance, sich an diesem Antrag zu beteiligen und ihn dadurch auf ein breites Fundament zu stellen. Dass Sie das ablehnen, kann man nur bedauern. Das
ist eine vertane Chance. Schade!
Die Thematik ist hochkomplex und bedarf einer juristischen, sicherheitspolitischen und militärischen Beratung. Deshalb tun wir gut daran, auch externe Fachleute
mit einer solchen Aufgabe zu betrauen. Sie sollen uns begleiten und beraten. Ich freue mich zusammen mit meiner
Fraktion, dass Volker Rühe bereit ist, den Vorsitz einer
solchen Kommission zu übernehmen. Er bringt große Erfahrung mit als ehemaliger Verteidigungsminister.
({4})
Davon können wir doch nur profitieren. Ich freue mich
übrigens auch, dass diese Kommission von sozialdemokratischer Seite unterstützt werden soll, nämlich von
Walter Kolbow.
Den Antrag der Linken verstehe ich nicht.
({5})
Sie wollen doch keine Auslandseinsätze. Warum schreiben Sie dann einen dreiseitigen Antrag dazu? Das macht
gar keinen Sinn. Wenn Sie keine Auslandseinsätze wollen, brauchen Sie auch keinen Antrag zu diesem Thema
zu stellen. Sie haben doch selber gesagt, Herr Neu: Die
CDU/CSU will eine Mitmachautomatik. - Sie wollen
eine Nichtmitmachautomatik.
({6})
Das wiederum wollen wir nicht. Deshalb kann ich nur
sagen: Stimmen Sie unserem Antrag zu. Er ist gut und
richtig. Lassen Sie die anderen Anträge von Grünen und
Linken links liegen.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat der Kollege Reinhard Brandl für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Frau Brugger - bitte aufpassen! -,
({0})
da Sie gerade wieder versucht haben, uns eine andere
Motivation zu unterstellen, möchte ich zu Beginn meiner
Rede eines klarstellen: Die vorgeschriebene Beteiligung
des Deutschen Bundestages bei Auslandseinsätzen der
Bundeswehr ist eine Stärke unserer Demokratie. Gerade
bei diesen schwierigen Fragen, bei denen es um Leben
und Tod gehen kann und über die man oft unter
Zeitdruck und bei unvollständiger Informationslage entscheiden muss, übernehmen wir als Parlament gemeinsam mit der Regierung Verantwortung. In der Praxis
- Sie wissen das - heißt das: eine breite parlamentarische Mehrheit für jeden Einsatz.
Einsätze der Bundeswehr spielen in Wahlkämpfen
praktisch keine Rolle. Ich weiß, die Linken haben einen
anderen Schwerpunkt, aber ich lasse sie jetzt einmal außen vor. Weder die Soldaten noch unsere Bündnispartner
müssen befürchten, dass nach einer Wahl eine neue
Regierung einen vollkommen neuen Kurs einschlägt.
Auch das ist eine Form von Bündnisfähigkeit. Wir wären
verrückt, wenn wir dieses gute Instrument der Parlamentsbeteiligung in irgendeiner Form infrage stellen
oder schwächen würden.
({1})
Auf der anderen Seite gibt es unter anderem bei den
Grünen, Frau Brugger, das wohlgepflegte Klischee, die
Bundesregierung und die Union würden, wenn sie nur
könnten, die Bundeswehr noch viel häufiger in den Einsatz schicken,
({2})
nur das Parlamentsbeteiligungsgesetz und die guten Grünen verhindern das. Das ist so eingängig wie falsch.
({3})
Das wissen Sie genau. Sie sind bei den Beratungen immer selbst mit dabei, aber dennoch versuchen Sie, mit
aller Kraft dieses Klischee unterschwellig aufrechtzuerhalten.
Dabei sind wir uns doch im Grundsatz einig, und wir
sind uns auch bei großen Teilen der Problembeschreibung einig. Sie selbst beantragen heute eine Kommission zur Weiterentwicklung der Parlamentsrechte
({4})
und haben in großen Teilen wortwörtlich unseren Antrag
übernommen.
({5})
Ein Thema, das Sie und uns bewegt, ist, dass mit der verstärkten militärischen Integration in der NATO und der
EU Spannungsverhältnisse zur Parlamentsbeteiligung
entstehen können.
Was heißt das konkret? Ein Soldat arbeitet zum Beispiel das ganze Jahr über in einem Planungsstab der
NATO. Plötzlich gibt es einen Einsatz, der von der
NATO geführt wird, an dem dieser Stab direkt oder indirekt beteiligt ist. Deutschland - vor allem um den Fall
geht es - entscheidet sich zum Beispiel im Parlament,
nicht an diesem Einsatz teilzunehmen. Die Frage, die
sich dann stellt, lautet: Unter welchen Voraussetzungen
kann der Soldat in seinem Stab weiterarbeiten? Ab wann
brauchen wir für den Mann oder die Frau ein eigenes
Mandat mit erster, zweiter und dritter Lesung, mit Ausschussberatungen und namentlicher Abstimmung?
Was würde es bedeuten, wenn wir in so einem Fall
unsere Leute gleich von vornherein abziehen würden?
Welche Positionen würden wir dann zum Beispiel in der
NATO nicht bekommen? Die Fragen sind nicht trivial,
aber, ehrlich gesagt, sind sie auch nicht weltbewegend.
({6})
- Herr Nouripour, das muss man in der Abwägung sehen: Es geht wirklich um Spezialfragen, um die wir uns
kümmern, die nicht trivial sind, die aber lösbar sind.
({7})
Dazu stellen sich Fragen - in dem Antrag ist auch von
der Auffächerung der Aufgaben die Rede -, zum
Beispiel wie wir die Parlamentsbeteiligung an die Art
der Einsätze besser anpassen können.
Ich sage Ihnen, wie es ist. Es gibt auch bei uns in der
Fraktion unterschiedliche Meinungen dazu; es gibt in der
SPD unterschiedliche Meinungen dazu. Aus meiner
Sicht könnten wir auch teilweise Einsätze der Polizei
mandatieren. Aber das sind Fragen, die wir in dieser
Arbeitsgruppe konkret abwägen wollen. Dazu wollen
wir externe Experten einladen. Genau deswegen etablieren wir heute diese Arbeitsgruppe.
Die Grünen können sich jetzt entscheiden, ob sie daran mitarbeiten oder ob sie weiter an ihrem Klischee
festhalten wollen. Ich rate Ihnen, ehrlich gesagt, von
dem Baum wieder herunterzukommen, auf den Sie jetzt
mit Ihrer Boykottandrohung geklettert sind. Es kann
nämlich gut sein, dass die Kommission zu ganz vernünftigen Lösungen kommt, die vielleicht auch in Ihrem
Sinne wären. Sie wissen, wie es dann politisch ist. Sie
haben von vornherein gesagt, Sie arbeiteten nicht mit.
Dann können Sie natürlich auch nachher den Ergebnissen, selbst wenn sie gut sind, nicht zustimmen. Sie
müssen Ihren Anhängern dann auch erklären, dass Sie
ausgerechnet bei einem Thema wie der Parlamentsbeteiligung an Auslandseinsätzen der Bundeswehr, das Ihnen
so wichtig ist, auf die Mitarbeit verzichten.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({8})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Drucksache 18/870. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Annahme des
Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf
Drucksache 18/766 mit dem Titel „Einsetzung einer
‚Kommission zur Überprüfung und Sicherung der Parlamentsrechte bei der Mandatierung von Auslandseinsätzen der Bundeswehr‘“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich?
- Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Wir sind noch beim Tagesordnungspunkt 11. Unter
Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der
Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/775 mit dem
Titel „Einsetzung einer ‚Parlamentarischen Kommission zur Überprüfung, Sicherung und Stärkung der
Parlamentsrechte bei der Mandatierung von Auslandseinsätzen der Bundeswehr‘“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion
gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
und der Fraktion Die Linke angenommen.
Zusatzpunkt 6. Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/839 ({0}) mit
dem Titel „Einsetzung einer ‚Parlamentarischen Kommission zur Überprüfung, Sicherung und Stärkung der
Parlamentsrechte bei der Mandatierung von Auslandseinsätzen der Bundeswehr‘“. Wer stimmt für diesen
Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Annalena Baerbock, Dr. Julia Verlinden, Oliver
Krischer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Urteil des Bundesverfassungsgerichts ernst
nehmen - Bundesberggesetz unverzüglich
reformieren
Drucksache 18/848
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({1})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Baerbock für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Am 5. März 2014 hat das Sächsische Staatsministerium des Innern den Antrag für den Braunkohletagebau Nochten II genehmigt, damit das Kraftwerk
Boxberg noch bis Ende 2045 - wenn wir eigentlich
schon eine kohlenstoffarme Gesellschaft sein wollen Braunkohle verstromen kann. Dafür sollen 1 500 Menschen zwangsumgesiedelt werden. Ähnlich sieht es in
Brandenburg aus. Hier droht 1 700 Menschen die
Zwangsumsiedlung, um Kohle in einem der dreckigsten
Kraftwerke Europas ebenfalls bis Mitte der 2040er-Jahre
noch verstromen zu können.
Klimapolitisch ist das ein ziemlicher Hammer. Noch
schwieriger wird es aber, wenn man in diese Regionen
reist und in Dörfern mit Kirchen, die im 12. Jahrhundert
erbaut worden sind, erklären muss, auf welcher Rechtsgrundlage diese idyllische Landschaft eigentlich abgebaggert werden soll. Denn nicht nur, dass die Rechtsgrundlage für den Abbau von Bodenschätzen 150 Jahre
alt ist, nein, die entscheidende Regelung für die Zwangsumsiedlung stammt aus dem Jahr 1937. Obwohl wir
bekanntermaßen wirtschafts- und energiepolitisch seit
diesen Jahren einiges in unserer Gesellschaft verändert
haben, bedienen wir uns 2014, 2015, 2020 einer gesetzlichen Regelung, die eigentlich dazu gemacht war, den
ungehinderten Zugriff auf kriegswichtige Ressourcen zu
sichern, ohne dass man sich weiter um die Folgen für die
Betroffenen zu kümmern hätte. Das ist wirklich unerträglich.
({0})
Das sehen nicht nur wir so, meine sehr verehrten Damen und Herren; die Reformbedürftigkeit des Bundesberggesetzes sieht auch das Bundesverfassungsgericht.
So hat es am 17. Dezember letzten Jahres zum Tagebau
Garzweiler II geurteilt, dass zukünftig bei Genehmigungsverfahren der Interessenschutz von Betroffenen
stärker berücksichtigt werden muss, dass wir hier neue
rechtliche Grundlagen schaffen müssen.
Ich finde es ein ziemlich starkes Stück - das sage ich,
auch wenn bei diesem Thema vonseiten der Bundesregierung jetzt fast niemand mehr da ist
({1})
- eine Person -,
({2})
dass auf die Frage meines Kollegen Oliver Krischer, wie
man denn nun im Lichte dieses Bundesverfassungsgerichtsurteils verfahren möchte, aus dem Wirtschaftsministerium lediglich die Antwort kam, beim Thema
Fracking wolle man aktiv werden - das ist auch gut so -,
aber was die Frage der Nutzungskonkurrenzen im Bergbau angehe, so plane man eine Verbesserung der Datengrundlage. Sorry, liebe Damen und Herren! Das Bundesverfassungsgericht hat uns als Gesetzgeber gerade
ermahnt, Art. 14 des Grundgesetzes besser zu beachten,
und Sie wollen Daten sammeln! Das ist wirklich unglaublich. Das können wir als Parlamentarier so nicht
hinnehmen.
({3})
In unserem Antrag fordern wir daher dazu auf, das
Urteil des Bundesverfassungsgerichts ernst zu nehmen
und eine Novellierung des Bergrechts unverzüglich anzupacken, um die Belange der vom Bergbau Betroffenen
besser zu sichern.
({4})
- Ja, Glück auf! Ich hoffe, Sie arbeiten mit uns daran.
Das Bundesverfassungsgericht hat uns noch in einer
anderen Frage ermahnt. Wir müssen die energiepolitischen Planungen auf Landesebene und auf Bundesebene
besser verknüpfen. Es gibt keine Antwort auf die Frage,
wie das passieren soll - schließlich ist es ja ein Gericht
und kein politischer Entscheidungsträger -, aber es wirft
die entscheidende Frage auf: Was ist eigentlich das öffentliche Interesse im 21. Jahrhundert? Ist energiepolitisch das öffentliche Interesse im 21. Jahrhundert dasselbe wie zu Kaisers Zeiten? Wir meinen, meine Damen
und Herren: Das ist es definitiv nicht. Es ist definitiv
nicht im öffentlichen Interesse im Jahr 2040, also zu
dem Zeitpunkt, zu dem wir klimapolitisch international
eigentlich eine Reduktion von CO2 um mindestens 80
Prozent erreicht haben wollen, noch Braunkohle verstromen zu wollen. Es kann auch nicht im Interesse der Bundesregierung sein, die sich international dazu verpflichtet hat, den Treibhausgasausstoß bis 2020 um 40 Prozent
zu reduzieren - auch wenn Sie von CDU und CSU nicht
glauben können, dass Sie selber das einmal wirklich mit
beschlossen haben -, weiter daran festzuhalten, Braunkohle zu verstromen.
Schon heute - das hat die Bundesumweltministerin
bekannt gegeben - müssen wir jährlich mindestens
27 Millionen Tonnen CO2 mehr einsparen, um Ihre Ziele
für 2020 überhaupt noch erreichen zu können. Wie soll
das denn funktionieren, wenn wir ein Kraftwerk haben,
nämlich Jänschwalde - Herr Freese, Sie wissen bestens
Bescheid -,
({5})
aus dem jährlich 24 Millionen Tonnen CO2 ausgestoßen
werden? 27 Millionen Tonnen CO2 deutschlandweit einzusparen, wenn von einem Kraftwerk allein jährlich
24 Millionen Tonnen CO2 ausgestoßen werden, das passt
vorne und hinten nicht zusammen. Deswegen muss hier
der Gesetzgeber aktiv werden. Deswegen sagen wir klar
und deutlich: Die Kohle muss dort bleiben, wo sie ist:
unter der Erde. Dieser Bundestag muss Nein sagen zu
neuen Tagebauen.
({6})
Sie könnten dann Vorreiter im internationalen Klimaschutz sein und sagen: Deutschland steigt aus der Braunkohleverstromung aus. - Dann bräuchten Sie sich auch
nicht hinter Polen oder anderen Ländern zu verstecken,
wenn Sie sagen, dass Sie in der EU ja leider nichts tun
können. Sie könnten also Vorreiter sein und dazu unseAnnalena Baerbock
rem Land wirtschafts- und finanzpolitisch noch einen
großen Gefallen tun.
Denn Handlungsbedarf besteht auch noch bei der
Frage der Förderabgabe. In § 31 des Bundesberggesetzes
heißt es, dass mindestens 10 Prozent als Förderabgabe
gezahlt werden müssen. Ich kann nur sagen: Schön wäre
es, wenn das passierte!
Kollegin Baerbock, achten Sie bitte auf die Zeit. Sie
müssen zum Schluss kommen.
Ja. - Die Vorgabe ist löchrig wie ein Schweizer Käse.
Gerade bei der Braunkohle wird nämlich keine Förderabgabe gezahlt. Für Ostdeutschland ist das im Einigungsvertrag so geregelt. Im Rheinischen Braunkohlerevier ist geregelt, dass für Tagebaue von vor 1982 keine
Förderabgabe gezahlt werden muss. Das ist wirklich ein
finanz- und wirtschaftspolitisches Armutszeugnis an einem Industriestandort.
({0})
Noch ein letztes Wort zum Thema Fracking.
Das wird jetzt nicht mehr stattfinden, Kollegin
Baerbock. Das Minus vor der Zahl vor Ihnen zeigt an,
dass Sie die Redezeit schon überschritten haben.
({0})
Ich hatte Sie darauf aufmerksam gemacht. Sie müssen
jetzt einen Punkt setzen.
Ich komme zum Schluss. - Es reicht nicht aus, dass
wir beim Fracking Umweltverträglichkeitsprüfungen
einführen, sondern wir müssen uns ganz klar zu dem bekennen, was wir alle im Wahlkampf versprochen haben:
Nein zum Fracking in unkonventionellen Lagerstätten
mit chemischen Giftstoffen!
({0})
Auch das muss im Gesetz neu geregelt werden.
Herzlichen Dank, meine Damen und Herren.
({1})
Ich mache vorsorglich alle, die es noch nicht wissen,
darauf aufmerksam, dass ich hier einen Knopf habe, mit
dem ich letztendlich dieses Mikrofon abschalten kann.
({0})
Bei Überschreitung eines gewissen Toleranzrahmens
werde ich das auch tun.
Das Wort hat die Kollegin Dr. Herlind Gundelach für
die CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das Bundesverfassungsgericht hat im Dezember vergangenen Jahres Recht gesprochen - diesbezüglich möchte
ich einmal etwas richtigstellen - und dabei eindeutig die
Verfassungsmäßigkeit des Tagebaus Garzweiler II bestätigt.
({0})
Es hat damit sowohl den bergbautreibenden als auch den
vom Bergbau betroffenen Menschen in der Region Sicherheit und Klarheit gegeben.
Lassen Sie mich daher kurz auf das geltende Bergrecht in Deutschland und auf seine Grundlagen eingehen.
({1})
Die letzte grundlegende Änderung liegt 30 Jahre zurück;
das Recht ist also nicht ganz so alt, wie Sie das gerade
dargestellt haben. Vorher war Bergrecht Landesrecht.
Seither wurde es mehrfach und vollständig an neue und
vor allen Dingen umweltrechtliche Vorgaben aus europäischen Richtlinien einschließlich der daraus folgenden
Öffentlichkeits- und Betroffenenbeteiligung angepasst.
Zudem hat die Rechtsprechung das Gesetz weiter ausgeformt. Nur zum Vergleich: Unser Zivilrecht ist deutlich älter als das Bergrecht. Unser Bergrecht entspricht
daher heute vollumfänglich europäischem und auch nationalem Recht, insbesondere auch in Umweltfragen. Im
europäischen Ausland gilt es vor allem aufgrund der sehr
hohen Schutz- und Vorsorgeaufwendungen für Umwelt
und Betroffene sogar als vorbildlich.
Man kann es daher nicht anders sagen: Das deutsche
Bergrecht hat sich in seiner Ausgestaltung im Grundsatz
bewährt.
({2})
Daher habe ich den Eindruck, dass die im Antrag der
Grünen geforderten Änderungen und Verschärfungen
des Bergrechts vor allem darauf abzielen, die Förderung
von Rohstoffen in Deutschland erheblich zu erschweren;
am liebsten würden Sie sie wahrscheinlich ganz verbieten.
({3})
Die Folgen würden dann aber nicht nur die Braunkohle
betreffen, sondern auch andere Grund- und Rohstoffe
wie Magnesium, Kies, Kaolin und Kalk, auf die unsere
Wirtschaft in hohem Maße angewiesen ist.
Ich möchte an dieser Stelle anmerken: Deutschland
hat völlig zu Unrecht den Ruf, ein rohstoffarmes Land
zu sein; denn drei Viertel unserer benötigten Rohstoffe
fördern wir im eigenen Land. Wir brauchen sie beispielsweise für die Wirtschaftszweige Bau und Verkehr, für
die chemische Industrie und auch für die Landwirtschaft.
Die Konsequenzen einer Unterbindung der heimischen
Rohstoffförderung wären folglich höchst problematisch.
Und vor allem besteht hierzu kein Anlass; denn es gibt
keinen Bedarf für eine Änderung des Bergrechts. Zumindest kann ich im Gegensatz zu Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen,
({4})
keinen derartigen Auftrag aus dem von Ihnen angeführten Urteil des Bundesverfassungsgerichts ableiten.
({5})
- Auf den Punkt kommen wir vielleicht noch zu einem
späteren Zeitpunkt. - Meines Erachtens versuchen Sie
das Urteil so umzudeuten, wie es Ihnen passt. Sie nutzen
es für ein Sammelsurium von zusätzlichen Forderungen.
Ich möchte deswegen noch einmal etwas genauer auf
dieses Urteil und vor allem auf die ihm zugrundeliegende Klage eingehen. Konkret geht es ja um den
Braunkohletagebau Garzweiler II im Rheinischen
Braunkohlerevier in Köln;
({6})
es ist übrigens der zweitgrößte Tagebau in Europa. Die
dort geförderte Braunkohle ist die Basis für 6 Prozent
der heimischen Stromproduktion.
Bergbau ist standortgebunden und kann daher nicht
beliebig verschoben werden. Das wissen Sie selber. Deshalb ist es manchmal notwendig, das Gemeinwohl über
das Schicksal Einzelner zu stellen. In diesem Fall bedeutete das, dass die Anwohner für die Förderung umgesiedelt werden mussten und dafür finanziell entschädigt
wurden. Ich kenne diese Gegend relativ gut; denn ich
habe dort 40 Jahre gelebt. Deswegen weiß ich aus Erfahrung, dass diejenigen, die umgesiedelt wurden, mit der
Umsiedlung in der Regel sehr zufrieden waren, weil sie
sich nämlich deutlich verbessert haben.
({7})
Gegen Garzweiler II hatte nun ein Grundstückseigentümer gemeinsam mit dem BUND geklagt und war damit bis vor das Bundesverfassungsgericht gezogen. Auf
der Entscheidung des Gerichts basiert nun auch Ihr Antrag. Zum weiteren Verständnis möchte ich noch hinzufügen, dass dieser Fall bereits 2006 vor dem Bundesverwaltungsgericht verhandelt worden war. Dem Kläger
war damals eingeräumt worden, dass bereits bei der Vorhabenzulassung eine Gesamtabwägung aller öffentlichen
und privaten Belange erforderlich sei, die für und gegen
das Vorhaben sprechen, und nicht erst bei der Enteignung. Insoweit, denke ich, war das etwas, was ihm
durchaus entgegenkam.
Mit diesem Urteil wurde dem damaligen Kläger - und
seitdem grundsätzlich allen Bergbaubetroffenen in
Deutschland - Rechtsschutz bereits zum Zeitpunkt der
Vorhabenzulassung gewährt. Somit werden seit 2006 die
Interessen von Anwohnern und Grundstückseigentümern frühzeitig und stärker berücksichtigt als vorher.
({8})
Aufgrund des Urteils des Bundesverwaltungsgerichts in
2006 wurde der Fall neu eröffnet mit dem Ziel, einen
neuen Rahmenplan aufzustellen. In diesem Verfahren
kam man allerdings - unter Abwägung aller Gründe zum gleichen Ergebnis, nämlich dass der Kläger zum
Wohle der Allgemeinheit umgesiedelt werden müsse.
Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich festhalten,
dass ich die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts auf rechtzeitige Beteiligung uneingeschränkt gutheiße; denn alles andere ist nicht mehr zeitgemäß. In
Deutschland können und dürfen wir keine Großprojekte
mehr - sei es der Ausbau der Stromnetze, sei es der Bau
von Flughäfen, Bahnhöfen oder Straßen - ohne weitreichende Information und Beteiligung der Bevölkerung
durchsetzen.
Aufgrund meiner Erfahrung kann ich sagen, dass man
durch umfassende Aufklärung und Information sehr viel
erreichen kann. Folglich bin ich ganz klar für eine fundierte Öffentlichkeitsbeteiligung. Ich denke, darin sind
wir uns wieder einig. In Ihrem Antrag fordern Sie aber
Dinge, die zu einem großen Teil bereits geregelt sind.
Ich möchte auf das Urteil zurückkommen. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil explizit die
Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts von
2006 aufgegriffen und bestätigt; denn wie schon gesagt:
Schon seit 2006 müssen die Interessen der betroffenen
Grundstückseigentümer bereits bei der Rahmenbetriebsplanzulassung im Wege einer umfassenden Gesamtabwägung über § 48 Abs. 2 Satz 1 Bergbaugesetz berücksichtigt werden.
({9})
- Nein. Es wird nach den Gepflogenheiten genauso zugelassen, die sowohl im Gesetz als auch im Richterrecht
geregelt worden sind.
({10})
Das entscheidende Argument des Gerichts lautet:
Dem Rahmenbetriebsplan kommt im gestuften Zulassungsverfahren im Tagebau die Funktion einer faktischen Zulassungsentscheidung mit Außenwirkung zu.
Dementsprechend ist den Betroffenen seit 2006 auch die
Klagemöglichkeit eröffnet. Damit ist der von Ihnen geforderte effektive Rechtsschutz gewährleistet; denn es
wird gewährleistet, dass der Grundstückseigentümer
frühzeitig in die Planung und Umsetzung einbezogen
wird.
({11})
Ich stimme Ihnen aber zu, dass es durchaus überlegenswert ist, dieses Richterrecht, das gilt und angewandt
wird, bei geeigneter Gelegenheit auch vom Gesetzgeber
bestätigen zu lassen.
({12})
- Ja, das heißt aber nicht, dass es nicht schon angewandt
wird. Es steht nur nicht im Gesetz. Richterrecht wird genauso angewandt wie geschriebenes Recht.
({13})
- Doch. Ich habe die ganze Zeit ausgeführt, dass es angewandt wird.
({14})
- Weil es bereits angewandt wird. Ich habe gesagt, dass
ich nichts dagegen habe, wenn es irgendwann ins Gesetz
geschrieben wird. Es muss aber nicht sein, weil das
Recht bereits gilt. Insofern ist es gegenwärtig ausreichend; das heißt, der Rechtsschutz ist gewährleistet.
({15})
- Dann müssen Sie einmal vor Gericht gehen. Richterrecht wird genauso angewandt wie geltendes Recht, das
vom Gesetzgeber niedergelegt wird. Beides ist bei der
Rechtsprechung zu beachten.
({16})
Lassen Sie mich abschließend kurz zusammenfassen:
Das Bundesverfassungsgericht hat mit seinem Urteil
vom 17. Dezember 2013 ausdrücklich die Verfassungsmäßigkeit des Bergrechts bestätigt. Es besteht folglich
auch keine Notwendigkeit für die von Ihnen geforderte
umfassende Novellierung. In seiner Entscheidung hat
das Verfassungsgericht aber auch betont, dass die Entscheidung, wie die Energieversorgung in unserem Land
erfolgt - das haben auch Sie gerade gesagt -, eine politische Entscheidung ist.
Mit dem Abbau von Braunkohle wird ein
- ich zitiere das Bundesverfassungsgericht gesetzlich hinreichend bestimmtes und ausreichend
tragfähiges Gemeinwohlziel umgesetzt. … Die
Landesregierung
- gemeint ist die von SPD und Grünen geführte Landesregierung in Nordrhein-Westfalen ({17})
führt für ihr Konzept, das die jederzeitige Verfügbarkeit eines traditionellen Rohstoffs für einen sicheren Energiemix in den Vordergrund stellt, gewichtige Gemeinwohlgründe an.
Dem ist aus meiner Sicht nichts hinzuzufügen.
Ihre Forderungen nach einer Änderung des Bergrechts sind meines Erachtens vor allem ideologisch geprägt. Sie wollen nach dem Ausstieg aus der Kernenergie nun schnellstmöglich auch einen Ausstieg aus der
Braunkohle - das ist aus Ihren Worten gerade deutlich
geworden -, unter Hinweis auf die hohe CO2-Belastung
aus der Verstromung von Braunkohle, die zweifellos gegeben ist.
({18})
Die Braunkohle ist aber neben den erneuerbaren
Energien die einzige Energieart, die uns in unserem
Land zur Verfügung steht, die wir nicht importieren
müssen wie Steinkohle und Gas, was man gerade in diesen Tagen vielleicht auch nicht ganz außer Acht lassen
sollte.
({19})
Insofern gibt uns die Braunkohle ein gewisses Maß an
Sicherheit, was unsere Versorgung angeht; denn wir sind
für absehbare Zeit auch auf die Nutzung fossiler Energien angewiesen.
Um Ihre Forderung zu unterstreichen, werden Sie
auch nicht müde, darauf hinzuweisen, dass der Anteil
der Braunkohle an unserem Energiemix in den letzten
Monaten deutlich gestiegen ist. Sie vergessen dabei aber,
zu sagen, dass der CO2-Ausstoß aus der Braunkohle
trotz des höheren Einsatzes der Braunkohle insgesamt
gesunken ist. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt!
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({20})
Das Wort hat die Kollegin Eva Bulling-Schröter für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das geltende Bundesberggesetz von 1980 ist im Kern
noch das Bergrecht aus der Nazizeit, insbesondere die
sogenannte Rohstoffsicherungsklausel, die es praktisch
unmöglich macht, zwischen den Interessen von Bürgerinnen und Bürgern und denen, die Rohstoffe aufsuchen
möchten, abzuwägen. In der vergangenen Legislatur haben Linke und Grüne in jeweils eigenen Anträgen den
ersten Anlauf seit Jahrzehnten unternommen, das Bergrecht grundsätzlich zu reformieren. Leider sind wir damals an der Mehrheit gescheitert. Grundfrage aber ist
und bleibt: Soll das Bergrecht die Rechte der Menschen,
die vor Ort leben, und die der Natur auf ewige Zeiten
brechen können? Oder leben wir inzwischen in einer
Zeit, in der Ressourcen als endlich angesehen werden
und insbesondere im Energiebereich Alternativen vorhanden sind? Hat die Bundesrepublik ein neues Verständnis darüber erlangt, wie mit Bürgerinnen und Bürgern umzugehen ist?
Wir unterstützen den Grünenantrag, fordern aber darüber hinaus einen Nachweis, ob Bergbauvorhaben erforderlich sind, sowie eine Prüfung von Alternativen.
Der Vorhabenträger müsste dann nachweisen, dass ein
unabweisbarer volkswirtschaftlicher Bedarf für den
Rohstoff besteht und der Abbau wirklich notwendig ist.
Dieser Nachweis dürfte bei vielen Braunkohlevorhaben,
die gegenwärtig diskutiert werden, kaum zu erbringen
sein; denn glücklicherweise wächst die Stromerzeugung
aus erneuerbaren Energien rasant. Darum braucht diese
klimaschädliche Kohle spätestens ab 2040 - wahrscheinlich schon weit früher - niemand mehr. So hält unsere
Bundestagsfraktion beispielsweise Welzow II in Brandenburg für nicht erforderlich; das sagt auch das DIW.
Garzweiler II halten wir im Übrigen für genauso überflüssig.
({0})
Die Kohle wird nicht gebraucht. Die erneuerbaren Energien und Gaskraftwerke sind die einzig richtige und
machbare Alternative.
Die damals von Linken und Grünen eingebrachten
Anträge unterschieden sich voneinander; sie hatten jeweils eine etwas andere Philosophie. Das gilt auch für
den heute vorliegenden Grünenantrag. Gemeinsam ist
Grünen und Linken jedoch die Kernforderung, den automatischen Vorrang des Abbaus von Rohstoffen vor allen
anderen Interessen zu beenden.
({1})
Dafür soll künftig unter anderem ein Planfeststellungsverfahren mit UVP, also einer Umweltverträglichkeitsprüfung, an die Stelle der bisherigen Verfahren treten.
Zudem sollen Abbaurechte erst dann an Unternehmen
verliehen werden, wenn ein Abbau in einem demokratischen Verfahren beschlossen wurde, und zwar unter Abwägung aller Interessen und nach einer sorgfältigen Umweltverträglichkeitsprüfung, und keinen Tag vorher.
Zu einem demokratischen Ablauf gehören mehr
Transparenz und mehr Beteiligungs- und Klagemöglichkeiten für Bürgerinnen und Bürger sowie für Verbände
und Kommunen. Wir wollen auch, dass in Haftungs- und
Entschädigungsfragen künftig die Position der Anwohnerinnen und Anwohner deutlich gestärkt wird. Würden
die Forderungen von Linken und Grünen in die Tat umgesetzt, hätten die Bürgerinnen und Bürger zudem erstmals
eine realistische Chance, Abbauvorhaben gerichtlich
überprüfen zu lassen. Gemeinden, betroffenen Anwohnern und Umweltverbänden stünde auch dann der Klageweg offen, wenn es um Fragen der Bedarfsfeststellung
oder der Umweltauswirkungen insgesamt ginge. Anerkannte Umweltorganisationen beispielsweise sollten
also im Verfahren nicht nur um den reinen Naturschutz
streiten können, sondern auch um den Wasserhaushalt
oder den Klimaschutz.
Noch ein Satz zum Antrag der Grünen, der auch das
Thema Fracking aufgreift, was mich sehr freut. Die im
Antrag enthaltene Position verstehe ich als Verschärfung
Ihrer bisherigen Position in Bezug auf das Thema Fracking.
({2})
Als die Linke vor zwei Jahren einen Antrag auf Verbot
von Fracking in Deutschland einbrachte, haben die Grünen dem nicht zugestimmt.
({3})
Sie wollten nur ein Moratorium von Fracking prüfen. Ich
würde es begrüßen, wenn sich das Meinungsbild der
Grünen hier dem unseren angenähert hätte.
Danke schön.
({4})
Das Wort hat der Kollege Bernd Westphal für die
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! In Deutschland werden jährlich 770 Millionen
Tonnen Rohstoffe gewonnen. Damit stellt der Rohstoff
im Bergbausektor noch immer einen bedeutenden Wirtschaftsfaktor dar.
Wenn wir an die Wirtschaftswunderjahre nach dem
Zweiten Weltkrieg denken, dann erinnern wir uns, für
welche wirtschaftliche Dynamik der Bergbau steht. Die
enorme Beschäftigungsentwicklung und der schnelle
wirtschaftliche Aufschwung in Deutschland sind stark
mit dem Bergbau verbunden. Durch den Bergbau konnte
ein Fundament für Wohlstand in Deutschland geschaffen
werden. Zudem liegt im Bergbau mit seiner jahrhunderBernd Westphal
tealten Tradition der Ursprung für viele soziale Errungenschaften, die heute auch in anderen Bereichen als
selbstverständlich gelten. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die Weiterentwicklung des Arbeitsschutzes,
aber auch an die Mitbestimmung, die tarifliche Entlohnung sowie die Mitbestimmung in Aufsichtsräten.
Beim Bundesberggesetz handelt es sich in erster Linie
um ein Wirtschaftsgesetz. Es beinhaltet alle bergrechtlichen Fragen vom Aufsuchen über das Gewinnen und
Fördern eines Rohstoffs bis zur Schließung des Bergbaus oder des Tagebaus. Das deutsche Bergrecht ist ein
altes Gesetz, dessen Ursprünge bis ins Mittelalter zurückgehen. Das ist im Übrigen nichts Ungewöhnliches:
Denken wir an unser zivilrechtliches Bürgerliches Gesetzbuch. Es stammt aus dem Jahr 1900 und muss deswegen nicht schlecht sein.
Gesetze, auch das Bundesberggesetz, werden natürlich ständig an die sich ändernden Ansprüche und Bedürfnisse angepasst. Die letzte Reform - darauf ist schon
hingewiesen worden - wurde in den 80er-Jahren durchgeführt. Ich will darauf hinweisen, dass hier viele europäische Initiativen gerade aus dem Bereich Umweltschutzstandards eingeflossen sind. Das Bergrecht hat in
seiner Geschichte in vielen Punkten eine Vorreiterrolle
übernommen. So werden zum Beispiel soziale und ökologische Aspekte schon seit langem berücksichtigt, weshalb es im europäischen Ausland als sehr vorbildlich angesehen wird.
In der Technologie zum Abbau von Rohstoffen liegt
heute gewaltiges Innovationspotenzial. Bergbau und
Rohstoffgewinnung sind Hightech. Viel Hightech würde
in Deutschland nicht funktionieren, wenn wir nicht die
Bergleute hätten, die für Nachschub an Rohstoffen sorgen.
({0})
Deshalb besteht auf den globalen Märkten eine große
Nachfrage nach deutscher Bergbautechnologie.
Es lässt sich nicht vermeiden, dass der Abbau von Bodenschätzen meist mit Auswirkungen auf die Umwelt
verbunden ist. Im Bergbau in Deutschland gibt es die
weltweit höchsten Sicherheits- und Umweltstandards;
die Belastungen für die Arbeitnehmer und die Umwelt
sind so gering wie möglich. Aufgabe des Gesetzgebers
ist es, das Bergrecht an die Entwicklungen anzupassen,
sodass die jeweils gültige Fassung immer zeitgemäß und
rechtskonform ist. So muss das Bergrecht unter Einbeziehung umweltrechtlicher Vorschriften immer neu justiert werden. Zum Beispiel soll eine obligatorische UVP
als Bestandteil des Genehmigungsverfahrens für die Gewinnung bestimmter Rohstoffe eingeführt werden. Das
gilt auch für die seit 50 Jahren in Niedersachsen - und
ich komme aus Niedersachsen - praktizierte Erdgasförderung durch das Fracking-Verfahren.
Des Weiteren muss das Bergrecht in Zukunft den gestiegenen Bedürfnissen der Bevölkerung nach Öffentlichkeitsbeteiligung und Transparenz im Verfahren noch
stärker gerecht werden. Dies kann schon im Vorfeld einer Entscheidung zu einer Entspannung zwischen den
Interessen der Investoren und der betroffenen Menschen
beitragen. Wir wollen den Rechtsrahmen für den Rohstoffabbau neu justieren, aber den Bergbau damit nicht
verhindern.
({1})
Bei der Anpassung muss aber auch den berechtigten
Interessen der Unternehmen auf Investitionssicherheit
Rechnung getragen werden. Wir müssen daran denken,
dass bergbauliche Vorhaben unter und über Tage mit erheblichen Vorlaufinvestitionen verbunden sind. Diese
benötigen Rechtssicherheit, die über einen sehr langen
Zeitraum Gültigkeit haben muss. Deshalb darf ich Sie,
Kollegin Baerbock, darauf hinweisen, dass das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil, gerade was Garzweiler II angeht, die Verfassungsmäßigkeit festgestellt
hat.
({2})
Für die deutsche Industrie hat die Versorgung mit
Rohstoffen und Materialien eine große Bedeutung. In
seiner Urteilsbegründung hat das Bundesverfassungsgericht deshalb auch die Versorgung des Marktes mit Rohstoffen als ein Gemeinwohlziel im Sinne des Grundgesetzes bezeichnet und über das private Eigentum gestellt.
Das muss auch so bleiben. Sonst wären große Infrastrukturmaßnahmen gar nicht mehr möglich.
Die Gewinnung von Rohstoffen in Deutschland und
die Nutzung eigener Ressourcen macht Deutschland unabhängiger von Rohstoffimporten. Außerdem können
wir bei einem Abbau in Deutschland garantieren, dass
die in Deutschland geltenden hohen sozialen Standards
- ich denke hier vor allen Dingen an die Arbeitsschutzstandards - und die hohen ökologischen Standards eingehalten werden. Das ist bei Rohstoffen, die wir aus dem
Ausland beziehen, oft nicht möglich.
Das Urteil, auf das schon hingewiesen worden ist, ist
aber kein Ruhekissen. Es muss für uns Politiker Ansporn
sein, das Bundesberggesetz an aktuelle Bedürfnisse anzupassen. Sonst hätten wir Stillstand. Wir stehen als SPD
aber für Fortschritt,
({3})
und das mit einem nachhaltigen Bergbau.
Herzlichen Dank. Glück auf!
({4})
Der Kollege Andreas Lämmel hat nun für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Die Grünen haben uns hier ein schönes Ei ins
Nest gelegt. Es ist zwar noch nicht Ostern, aber wir sind
ja nicht mehr weit davon entfernt. Endlich lassen Sie die
Katze aus dem Sack. In der letzten Legislaturperiode haben Sie einen ähnlichen Antrag formuliert. Damals haben Sie noch verklausuliert von der Modernisierung des
Bergrechts gesprochen. Heute sagen Sie ganz klar, worum es Ihnen geht: Der Braunkohlebergbau muss in
Deutschland verboten werden.
({0})
Damit zeigen Sie Ihr wahres Gesicht. Es geht Ihnen
überhaupt nicht um eine Modernisierung des Gesetzes,
sondern ganz einfach darum, einen weiteren Baustein Ihrer Ideologie umzusetzen.
Nachdem die Abschaltung der Atomkraftwerke beschlossen ist, soll nun dem Braunkohlebergbau der Garaus gemacht werden. Deutschland braucht aber Rohstoffförderung, und Deutschland braucht die Braunkohle, und
das aus zwei Gründen: zum einen natürlich zur Verstromung
({1})
und zum anderen, weil die Braunkohle weniger Kohlenstoff als Steinkohle enthält. Das können Sie von den
Grünen aber nicht so genau wissen, weil Sie ja ständig
gegen die Naturwissenschaften polemisieren.
({2})
Sie sind sogar dafür, dass in der Schule ganze Fächer gestrichen werden. In Baden-Württemberg haben Sie sich
jetzt dafür eingesetzt, dass Biologie aus dem Lehrplan
gestrichen wird. Das ist Ihre Methode.
({3})
Zum Glück haben wir in Deutschland die Braunkohle.
Sie trägt ganz entscheidend zur Energieversorgungssicherheit bei. Das ist uns natürlich sehr wichtig.
Wenn Sie heute in die Tagespresse schauen, können
Sie einen großen Artikel Ihres Fraktionsvorsitzenden lesen, in dem er schreibt: „Njet zu Gazprom“ und davon
spricht, dass die starke und einseitige Abhängigkeit von
Energieimporten gefährlich ist.
({4})
Vielleicht sollten Sie sich in Ihrer Fraktion einmal darüber klar werden, was Sie wollen.
({5})
Wollen Sie von Importen unabhängiger werden? Das
können wir nur, indem wir einheimische Energierohstoffe besser nutzen. Klären Sie erst einmal in Ihrer
Fraktion, was Sie überhaupt wollen.
({6})
Schauen Sie sich Ihre Forderungen doch einmal an.
Die erste Forderung habe ich ja schon genannt: Verbot
des Braunkohlebergbaus.
({7})
Das ist das Ziel. Unter dem siebten Spiegelstrich schreiben Sie, dass die für die ostdeutschen Länder geltenden
Sonderregelungen abgeschafft werden sollen. Auch das
war schon immer Ihre Zielrichtung. Das war schon beim
Infrastrukturplanungsgesetz Ihre Zielrichtung.
({8})
Sie wollen nicht, dass dieses Gesetz zum Beispiel beim
Bau von Energieversorgungsleitungen angewendet wird.
Auch das haben Sie verhindern wollen. Überall dort, wo
es um Gesetzesvereinfachungen geht, stehen die Grünen
in vorderster Linie, um das zu verhindern.
({9})
Meine Damen und Herren, was die Verantwortung für
die Renaturierung angeht, kann man den Braunkohletagebau im Osten als hervorragendes Beispiel anführen.
An dieser Stelle schaue ich in Richtung der Linken, die
sich hier ja auch immer wieder ereifern. Teile der Partei
haben über 40 Jahre lang ein Land regiert, und damals
hat man Braunkohletagebaue sehr intensiv betrieben,
aber eben ohne deutsches Bergrecht.
({10})
Was ist geblieben? Was haben Sie hinterlassen? 120 000
Hektar durch Tagebau und Braunkohleveredelungsanlagen zerstörte Landschaft
({11})
- danke für diese Gabe -, eine enorme Belastung mit
Schwefeloxiden und Staub und enormste Eingriffe in
den Wasserhaushalt, die zum Teil bis heute nicht behoben werden konnten,
({12})
und die Verklappung von Abbauresten und Industrieabfällen - das ist die Hinterlassenschaft des Bergbaus ohne
deutsches Bergrecht.
({13})
Was geschah nach 1990? Nach der deutschen Einheit
kam es zur Renaturierung, und zwar auf der Basis einer
gesamtdeutschen Gesetzgebung. Allein in Thüringen
sind 100 Betriebsanlagen - Kokereien, Kraft- und Heizkraftwerke und Ähnliches - entsorgt worden. 215 Tagebaurestlöcher, die wild in der Landschaft verstreut waren, mussten verfüllt werden.
({14})
Es mussten 12,7 Milliarden Kubikmeter Grundwasser
ausgeglichen werden. Bisher sind 9,1 Milliarden Euro
aufgewendet worden, um diese Schäden zu beseitigen.
Deswegen kann man nur sagen: Das deutsche Bergbaugesetz ist eines der modernsten Bergbaugesetze der
Welt. Es ermöglicht Bergbau. Genau das wollen wir; das
hat der Kollege Westphal deutlich gesagt. Deutschland
ist ein Land des Bergbaus. Ich komme aus Sachsen; da
gilt das erst recht.
Noch ein Tipp für die Grünen. Weil Sie, Frau Kollegin, aus Brandenburg kommen, sage ich Ihnen: Die Linken stellen dort den Wirtschaftsminister. Vielleicht sprechen Sie, bevor Sie hier im Bundestag große Reden
halten, erst einmal mit ihm darüber, wie er das sieht.
({15})
Er wird Ihnen möglicherweise eine ganz andere Meinung kundtun.
Kollege Lämmel, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Meiwald?
Nein danke, das wird dadurch auch nicht besser.
({0})
- Richtig.
Ich komme zum Schluss. Den Grünen empfehle ich,
einen Blick in den Koalitionsvertrag der Großen Koalition zu werfen. Ich nenne Ihnen sogar die Seitenzahl, die
ich meine, damit Sie das schneller finden. Auf Seite 44
wird zum Bergrecht Stellung genommen. Da steht ganz
klar:
Die Koalition wird kurzfristig Änderungen für einen besseren Schutz des Trinkwassers im Wasserhaushaltsgesetz sowie eine Verordnung über die
Umweltverträglichkeitsprüfung … bergbaulicher
Vorhaben vorlegen …
({1})
Meine Damen und Herren, Ihre Aufforderungen brauchen wir nicht. Wir wollen, dass weiterhin Bergbau betrieben wird.
({2})
Wir werden die Gesetze so fortentwickeln, dass Bergbau
in Deutschland in den nächsten 50 Jahren auch ohne Sie
ermöglicht wird.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat der Kollege Johann Saathoff für die
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ein Ostfriese spricht zum Bergrecht. Das
klingt ungewöhnlich, macht aber durchaus Sinn. Zwar
gibt es in meiner Heimat im Umkreis von 200 Kilometern keinen Berg. Aber das Bergrecht spielt, wie in ganz
Deutschland, auch bei uns eine große Rolle, zum Beispiel bei der Gasproduktion, im Hinblick auf die Kavernen zur Speicherung von Gas und sogar beim Sand- und
Kleiabbau, den wir dringend brauchen.
Der vorliegende Antrag wirft in Bezug auf das Urteil
des Bundesverfassungsgerichtes zu Garzweiler II eine
zentrale Frage auf. Sie lautet: Ist das deutsche Bergrecht
noch zeitgemäß, oder bedarf es einer Veränderung?
Viele im Urteil zur Konkretisierung aufgeführten Regelungstatbestände gibt es bereits seit langer Zeit im Bundesberggesetz und in den dazugehörigen Rechtsgrundlagen. Dazu gehören die Abwägung der öffentlichen
gegenüber den privaten Interessen - an dieser Stelle sei
übrigens angemerkt, dass dies eine Debatte ist, die wir
auch bei der Reform der erneuerbaren Energien führen,
dort jedoch meistens in umgekehrter Richtung -, Regelungen zum Rechtsschutz der Betroffenen und Verwaltungsverfahrensregelungen. Obwohl es diese Regelungen bereits gibt, ist eine Überarbeitung des Bergrechtes
nicht nur, aber auch wegen des Urteils des Bundesverfassungsgerichts sinnvoll.
({0})
- Herzlichen Dank. - Allerdings geht Gründlichkeit vor
Schnelligkeit. Klatschen Sie nicht zu früh, sondern erst
am Ende.
({1})
Der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen benennt als Konsequenz aus dem Garzweiler-Urteil 20 sogenannte wesentliche Aspekte für notwendige Gesetzesänderungen. Da der Antrag noch druckfrisch ist und
noch in den Ausschüssen beraten werden wird, beziehe
ich mich nur auf die Punkte, die heute über ein geringes
Konfliktpotenzial verfügen.
({2})
Dazu gehört zum Beispiel die stärkere Einbindung der
Politik bei den im Wesentlichen bergrechtlichen Entscheidungen. Aus meiner Sicht kann niemand, schon gar
nicht ein Parlament, gegen eine stärkere Beteiligung der
Politik sein. Schließlich haben wir die Auswirkungen
unserer Politik vor Ort vor den Bürgerinnen und Bürgern
zu vertreten.
({3})
Dazu gehört eine stärkere Einbindung der Umwelt- und
Klimaschutzbelange in der Gesamtabwägung der öffentlichen Interessen. Das entspricht dem ganzheitlichen
Ansatz von Politik, die die Bürgerinnen und Bürger von
uns erwarten können. Dazu gehört auch der Rechtsschutz für die Betroffenen. In einem Rechtsstaat ist
Rechtsschutz selbstverständlich. Zu einem ausreichenden Rechtsschutz gehört auch die nötige Transparenz der
Verfahren.
Unsere allgemeinen energiepolitischen Ziele behalten
wir auf jeden Fall im Auge. Diese zielen darauf ab, dass
nach einer Übergangszeit nicht nur der Ausstieg aus der
Atomenergie vollzogen ist, sondern wir spätestens bis
2050 auch mindestens zu 80 Prozent Strom aus erneuerbaren Energien im Netz haben. Das hat neben dem Ziel
der deutlichen CO2-Reduktion natürlich auch Auswirkungen auf die konventionellen Energieträger.
({4})
Auch das Thema Fracking wird im Antrag von Bündnis 90/Die Grünen angesprochen. Eigentlich ist das nicht
Thema des zitierten Urteils des Bundesverfassungsgerichtes. Es gibt dazu auch klare Regelungen in unserer
Koalitionsvereinbarung. Ich möchte an dieser Stelle das
Beispiel Niedersachsen erwähnen. Der SPD-Wirtschaftsminister Olaf Lies und der grüne Umweltminister
Stefan Wenzel haben kürzlich ihr Konzept zum Fracking
vorgelegt.
({5})
Abgelehnt wird Fracking in unkonventionellen Schiefergaslagerstätten wegen der unvorhersehbaren Risiken. In
Ostfriesland würden wir sagen: Keen Strund in’t Grund.
Diese niedersächsische Position haben Sie sich zu eigen gemacht. Fracking in konventionellen Lagerstätten
unter 2 500 Metern Sandstein wird in Niedersachsen
nicht grundsätzlich abgelehnt, weil es mit dieser Art von
Erdgasförderung seit mindestens 30 Jahren Erfahrung
gibt. Allerdings werden die Voraussetzungen deutlich
verschärft. Für jede Tiefbohrung wird eine Umweltverträglichkeitsprüfung verpflichtend. In Wasserschutz- und
Trinkwassergebieten wird Fracking grundsätzlich verboten. Genauso wie Sie finde ich, dass die Initiative der
Niedersächsischen Landesregierung den richtigen Weg
weist.
({6})
Die Bundesregierung befindet sich bereits in den entsprechenden Verhandlungen. Das Thema wird uns also
ohnehin im zuständigen Ausschuss noch weiter intensiv
beschäftigen.
Abschließend sei eines erwähnt: Erdgas ist zwar auch
ein fossiler Energieträger, aber im Sinne des Klimaschutzes mit all seinen Folgen aus meiner Sicht immer
noch besser als Kohle, mindestens hinsichtlich der CO2Bilanz.
Herzlichen Dank.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/848 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz,
Bau und Reaktorsicherheit ({0}) zu
der Verordnung der Bundesregierung
Sechste Verordnung zur Änderung der Ver-
packungsverordnung
Drucksachen 18/496, 18/526 Nr. 2, 18/830
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor.
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.1) Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/830, der Verordnung der Bundesregierung auf
Drucksache 18/496 zuzustimmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
auf Drucksache 18/854. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion
Die Linke abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, Christine
Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion DIE LINKE
Den NATO-Bündnisfall umgehend beenden
Drucksachen 18/202, 18/349
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
1) Anlage 3
Vizepräsidentin Petra Pau
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Thomas Hitschler für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Nachdem wir vor wenigen Wochen bereits
über den vorliegenden Antrag diskutiert und ihn zur weiteren Beratung in die zuständigen Ausschüsse überwiesen haben, beraten wir heute über die endgültige Beschlussempfehlung. Ich will zu dieser späten Stunde - es
ist Primetime, liebe Kolleginnen und Kollegen - die
große Überraschung vorwegnehmen: Ich werde Ihnen
am Ende meines Beitrages nahelegen, der Beschlussempfehlung des Ausschusses zu folgen.
({0})
- Ja, so ist es.
Lassen Sie uns aber den ursprünglichen Antrag noch
einmal anschauen. Die Kolleginnen und Kollegen der
Linken stellen drei Forderungen auf. Unter Punkt 1 fordern sie die Bundesregierung auf, sich auf der Ebene der
NATO-Mitgliedstaaten und des NATO-Rates dafür einzusetzen, den Bündnisfall zu beenden.
({1})
- Warten Sie einmal! - Das ist mehr als zwölf Jahre nach
dessen Erklärung sicherlich nachvollziehbar. - Jetzt dürfen Sie.
({2})
Es ist im Übrigen schon länger sozialdemokratische
Position, das deutsche Engagement in NATO-Missionen
auf eine andere Grundlage als den Bündnisfall zu stellen.
Dies hat die Bundesregierung anerkannt; auch sie hat
festgestellt, dass der Bündnisfall nicht mehr die richtige
Grundlage für laufende Operationen darstellt. Deswegen
hat sie im vergangenen Jahr zum Beispiel konkrete Änderungsvorschläge zum Operationsplan der Operation
Active Endeavour eingebracht. Im April wird dies in die
Beratungen zur Einsatzüberprüfung eingehen. Die Beschlussfassung wird voraussichtlich im Herbst stattfinden. Die deutschen Vorschläge an die NATO spiegeln im
Übrigen auch die Beschlusslage hier im Haus wider, getragen von einer großen Mehrheit, liebe Kolleginnen und
Kollegen.
Erst vor wenigen Wochen haben wir hier im Plenum
und in den entsprechenden Ausschüssen über eine Änderung der Operationsgrundlage für OAE diskutiert. Teil
der im Antrag beschlossenen Neuausrichtung war, dass
sich die deutsche Beteiligung auf die Ständigen Maritimen Verbände der NATO im Mittelmeer, auf Aufklärungs- und Frühwarnflüge sowie den Austausch von Lagedaten beschränken wird. Im damaligen Antrag wurde
weiter angeführt - ich zitiere -:
Deutschland setzt sich im Bündnis kontinuierlich
dafür ein, die Einsatzgrundlagen von OAE auch
konzeptionell an die tatsächlichen Einsatzrealitäten
anzupassen. Auf deutsche Initiative hat der Nordatlantikrat im April 2013 die Option eröffnet, OAE
perspektivisch in eine Operation zu überführen, die
sich nicht mehr auf Artikel 5 des Nordatlantikvertrages stützt.
Die Linke hat im Übrigen damals gegen den Antrag gestimmt, nicht sehr überraschend natürlich, aber ich darf
betonen: leider. Sie sehen, Kolleginnen und Kollegen der
Linken: Grundsätzlich ließe sich Ihrem Antrag bis hierhin durchaus etwas abgewinnen.
({3})
Sie haben es allerdings nicht bei einer Forderung belassen, sondern sind noch weiter gegangen. Unter
Punkt 2 fordern Sie, dass Deutschland den Bündnisfall
zur Not unilateral für beendet erklärt. Das ist eine - nennen wir es einmal so - kreative Idee. Die Möglichkeit
der einseitigen Entscheidung, den Bündnisfall nach
Art. 5 für beendet zu erklären, gibt es bei der NATO
nicht. Eine solche Entscheidung muss in den Gremien
des NATO-Rates im Konsens mit den übrigen Mitgliedern getroffen werden. Mehrere Partner, etwa die USA
und die Türkei, wollen das OAE-Mandat in seiner derzeitigen Form fortsetzen. Hier muss Überzeugungsarbeit
geleistet werden, was natürlich noch etwas dauern wird.
Durch unilaterale Erklärungen wird aber gar nichts erreicht werden. Ein einseitiges Vorgehen Deutschlands
liefe dem Konzept eines Verteidigungsbündnisses auch
grundsätzlich zuwider. Ein Bündnis, gerade eines zur
Verteidigung, funktioniert durch Einigkeit und durch
Geschlossenheit, wohlgemerkt: nie kritikfrei. Der Bündnisfall wurde gemeinsam festgestellt; folglich sollte er
auch gemeinsam für beendet erklärt werden. Alles andere würde das Bündnis schwächen und das Vertrauen
unter den Mitgliedern unterminieren. Die Tatsache, dass
Sie im Begründungsteil des Antrages bestreiten, dass der
Bündnisfall je vorgelegen habe, ändert daran übrigens
nichts.
Mit der dritten Forderung in Ihrem Antrag führen Sie
diesen Gedanken sogar noch weiter. Danach soll die
Bundesregierung sämtliches Engagement in Missionen,
die auf Grundlage des Bündnisfalls begonnen wurden,
umgehend einstellen.
Werte Kolleginnen und Kollegen, wir reden hier über
Operationspläne, die mit monatelangem Vorlauf ausgearbeitet wurden. Operationen dieser Größenordnung setzen Verlässlichkeit der Bündnispartner voraus. Der
Antrag, über dessen Beschlussempfehlung wir heute abstimmen, drückt das Gegenteil davon aus: Er impliziert
einen Mangel an Wertschätzung gegenüber den Bündnispartnern und dem Bündnis. Diese Haltung Ihrer Seite
überrascht aber wenig.
Kolleginnen und Kollegen der Linken, Ihre grundsätzlich ablehnende Haltung zur NATO ist lange bekannt
und oft Thema in diesem Hause gewesen. Ich hoffe sehr,
dass irgendwann die Zeit kommt, in der Pazifismus, wie
Sie ihn vertreten, realistisch sein wird. Diesen Zeitpunkt
haben wir gegenwärtig aber noch nicht erreicht. Die aktuellen Ereignisse zeigen, dass sich Bündnisse, wie die
NATO eines ist, eben noch nicht überlebt haben.
Ein unilaterales Vorgehen, wie es in dem ursprünglichen Antrag gefordert wird, ist definitiv kein Weg, den
wir einschlagen können oder sollten. Wir müssen unsere
Allianzen wertschätzen und Partnerschaften pflegen;
denn die Zeiten sind offensichtlich noch nicht so weit,
wie wir das lange erhofft haben.
Nach einer Phase, in der ideologisch motivierte nichtstaatliche Akteure bestehende Sicherheitsstrukturen herausgefordert haben, deutet sich derzeit eine Rückkehr
zu - nennen wir es einmal so - klassischeren Szenarien
an. Staaten und Bündnisse werden anscheinend sicherheitspolitisch wieder eine zentrale Rolle einnehmen. Aus
diesem Grund werden wir auf absehbare Zeit weiter in
der NATO engagiert bleiben. Dazu gehört es, Strukturen
und Partner zu respektieren. Unsere Verbündeten müssen sich darauf verlassen können, dass Deutschland gegebene Zusagen einhält und übernommene Aufgaben erfüllt.
Mit dem Beitritt zu einem Bündnis bekennt man sich
zu den Werten dieses Bündnisses. Die NATO ist aus dem
Bedürfnis demokratischer Staaten entstanden, sich gegenseitig zu schützen und zu unterstützen.
({4})
Aktuelle Entwicklungen lassen es so aussehen, dass sie
dieses Bedürfnis auch künftig erfüllen muss.
Die Mitgliedschaft in der NATO war für die Bundesrepublik auch eine Möglichkeit, einer Demokratie angemessene militärische Strukturen zu etablieren, die mit
Verbänden anderer Nationen zusammenarbeiten können.
Ich kann Ihnen aus aktuellen Beobachtungen - ich war
vor kurzem in Afghanistan - berichten, dass diese Strukturen auch multinational hervorragend funktionieren und
so auch eine Art Friedensgarantie für alle darstellen.
({5})
Aus diesen Gründen werden wir die NATO-Mitgliedschaft auch weiterhin achten, und aus diesen Gründen
werden wir auch weiterhin vermeidbare Alleingänge unterlassen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte Sie, wie
bereits angekündigt, bitten, der Beschlussempfehlung
des federführenden Ausschusses zu folgen.
Herzlichen Dank.
({6})
Nun hat der Kollege Wolfgang Gehrcke für die Fraktion Die Linke das Wort.
({0})
Danke sehr. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Ich verhehle überhaupt nicht, dass Sie in
einem Punkt völlig recht haben, Herr Hitschler. Wenn
Sie mir einen Mangel an Wertschätzung für das NATOBündnis unterstellen, so stimmt das. Ich habe einen
Mangel an Wertschätzung für dieses Bündnis. Ich hatte
die Hoffnung, dass sich nach der Auflösung des Warschauer Vertrages irgendwann einmal auch die NATO
auflöst.
({0})
Das wäre eine Friedensdividende, die wir hätten einbringen können. Dort hätte eine deutsche Regierung Initiativen ergreifen müssen.
Das, was wir jetzt beantragen, ist relativ simpel - Sie
haben die drei Punkte schon sehr richtig genannt -:
Erster Punkt. Wir möchten, dass der NATO-Bündnisfall beendet wird. Das war ein Ausnahmerecht. Der
Bündnisfall ist ein einziges Mal in der Geschichte der
NATO ausgerufen worden - vor 13 Jahren. Ein Ausnahmerecht ist zum Dauerrecht gemacht worden. Das
spricht schon dafür, darüber nachzudenken, diesen
NATO-Bündnisfall jetzt endlich zu beenden.
({1})
Dass auch die Bundesregierung darüber nachdenkt - ich
kenne ja die Papiere - finde ich völlig in Ordnung. Ich
bitte Sie: Denken Sie intensiver darüber nach und handeln Sie vor allen Dingen in dieser Richtung. Uns wäre
es am liebsten, wenn der NATO-Bündnisfall im NATORat auf Initiative der Bundesregierung beendet würde.
Falls nicht - das ist unser zweiter Punkt; er ist umstritten, und ich komme gleich noch darauf -, sollte die
Bundesrepublik Deutschland ihn einseitig als beendet erklären.
Dritter Punkt. Wir wollen, dass nicht weiterhin Einsätze damit begründet werden. Der NATO-Bündnisfall
war die Grundlage für den Krieg gegen den Terror. Oder
umgekehrt: Der Krieg gegen den Terror korrespondiert
mit dem NATO-Bündnisfall. Der Krieg gegen den Terror
ist unendlich gescheitert!
({2})
Wir haben Ihnen immer wieder vorgetragen - da
werde ich auch nicht müde -, dass man den Terror bekämpfen kann, indem man seine Ursachen bekämpft.
Der Krieg gegen den Terror hat nur immer wieder Terror, Gewalt, Tod und Vernichtung ausgelöst; das ist doch
die Tatsache. Wenn man das nicht will, dann muss man
von dieser Grundlage weg. Wir werden sehen, dass der
Militäreinsatz in Afghanistan, den Sie so loben und den
ich so sehr kritisiere, dass dieser Krieg gegen den Terror
durch Verhandlungen beendet werden muss. Verhandeln
muss man mit seinen Feinden. Mit seinen Freunden
braucht man es meistens nicht zu tun, manchmal muss
man aber auch das.
Es bleibt der zweite Punkt - der ist umstritten, das
gebe ich Ihnen zu -: Wir sagen: Es muss das Recht eines
jeden Staates geben, für sich selbst festzustellen: Dieser
Punkt ist für uns erledigt. Die NATO hat den Bündnisfall
im Konsens beschlossen; anders kann sie das gar nicht
beschließen. Die NATO beruht auf Konsensentscheidungen. Wenn jetzt also ein Staat in den Verhandlungen, ob
der Bündnisfall fortgeführt wird, feststellt, dieser KonWolfgang Gehrcke
sens sei nicht mehr gegeben, wäre es eine rechtliche
Position, zu sagen: Auf dieser Grundlage muss auch der
Bündnisfall beendet werden. Wir wollen von der deutschen Politik, dass festgestellt wird: Der Konsens zur
Fortführung des Bündnisfalles ist nicht mehr gegeben.
({3})
Ich will immer mit dem Kopf durch die Wand; das ist
schon okay. Manchmal muss man auch einen Umweg
suchen.
({4})
- Ja, wenn eine da ist.
({5})
- Okay, darüber können wir uns gleich einigen.
Ich möchte Ihnen jetzt einen Vorschlag machen. Wie
wäre es, wenn die deutsche Bundesregierung für die
nächste NATO-Vollversammlung einen Antrag auf eine
Debatte darüber einbringen würde, den NATO-Bündnisfall dort zu beenden? Auch die Parlamentarische Versammlung der NATO kann sich mit diesem Thema
befassen, aber sie kann es nicht beschließen. Aber Sie
können vorangehen, auch wenn Sie unseren Vorschlag
für schlecht halten. Beantragen Sie für die nächste
NATO-Vollversammlung, die Beendigung des Bündnisfalles zu debattieren! Das möchte ich gerne sehen.
Lassen Sie mich zum Schluss sagen - ich werde vielleicht auch schon gemahnt -: Mit diesem NATO-Generalsekretär werden Sie keinen Blumentopf gewinnen.
Wer jetzt in Europa in dieser Situation fordert, dass die
Militärausgaben steigen sollen, wer eine solch aggressive Politik betreibt, der schadet der NATO mehr, als ich
es je gekonnt hätte.
Danke sehr.
({6})
Der Kollege Roderich Kiesewetter hat nun für die
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege
Gehrcke, Sie haben, wie so oft, eine Chance vertan.
Nicht dass Sie die Tür nicht gefunden haben und durch
die Wand wollten, sondern Sie haben die Chance vertan,
hier eindeutig klarzustellen, dass die Aggression nicht
von der NATO ausgeht, sondern von Russland. Sie haben die Chance vertan, hier eindeutig klarzustellen, wie
die Position der Linkspartei ist. Offensichtlich stehen Sie
für Aggression und für militärische Auslandseinsätze
des postsowjetischen Russlands. Das ist enttäuschend,
aber war auch nicht anders zu erwarten.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sprechen heute
über den Antrag, den NATO-Bündnisfall zu beenden.
Ich möchte das kurz abhandeln und dann über die NATO
selbst sprechen. Wir sind uns, glaube ich, einig - der
Kollege Hitschler hat es angesprochen -, dass zu einer
solchen Änderung nicht nur die Bundesrepublik
Deutschland gehört, sondern alle 28 Mitglieder der NATO.
Wir wissen sehr genau, dass es mindestens zwei Bündnismitglieder gibt, die darauf bestehen, dass der Bündnisfall fortbesteht. Die Bundesregierung ist seit zwei
Jahren dabei, hier Überzeugungsarbeit zu leisten. Wir
werden sicherlich eine Änderung des Mandats bekommen, vorausgesetzt, wir erleben Entwicklungen, die uns
beruhigen, dass sich die NATO auch weiterhin vorrangig
um die kollektive und kooperative Sicherheit kümmern
kann.
Die NATO hat sich seit dem Lissabonner Abkommen,
dem neuen NATO-Vertrag von 2010, drei Aufgaben gewidmet: erstens der kollektiven Verteidigung, zweitens
der gemeinsamen Krisenbewältigung und drittens der
kooperativen Sicherheit. Gerade die Operation Active
Endeavour bietet die Chance zu einer Plattform für kooperative Sicherheit, weil viele Staaten des nördlichen
Afrikas daran mitwirken. Aber wir erleben in diesen Tagen auch, dass ein Land wie Polen erstmals in der Geschichte der NATO Art. 4 des Nordatlantikvertrags aufruft, nämlich Konsultationen innerhalb des Bündnisses.
Das muss uns mit Sorge erfüllen,
({1})
weil wir hier die Sicherheitsempfindungen unserer östlichen Nachbarn hautnah erleben. Was wir gerade mitbekommen, ist, dass Russland alles umstößt, was in den
letzten 15 Jahren aufgebaut wurde. Wir sehen Angstverbreitung, Beunruhigung und auch Vertrauensverlust, und
das bei Volksabstimmungen, die ohne Hoheitsabzeichen
quasi von einer Miliztruppe überwacht durchgeführt
werden und unter Verfassungsbruch und vor allen Dingen unter Bruch des Völkerrechts stattfinden.
Wir befinden uns derzeit in einer sehr großen, umfassenden strategischen Debatte darüber, wie es nach ISAF
und angesichts von Cyber-Bedrohungen weitergeht.
Wenn wir in solch einer strategischen Debatte innerhalb
der NATO solche Angebote russischerseits erleben müssen, werden wir zunehmend wieder unsere Fähigkeiten
mit Blick auf Art. 5 des Nordatlantikvertrags betrachten
müssen, damit wir in der Lage sind, Schutz zu bieten
und Vertrauen auszustrahlen.
Mitgliedschaft in der NATO ist etwas Freiwilliges.
Die Staaten, die nach dem Kalten Krieg die Mitgliedschaft gesucht haben, sind freiwillig zu uns gekommen
und fühlen sich in diesen Tagen bestärkt, dass sie hier einen sehr klugen Schritt für die Zukunft ihrer Gesellschaft gemacht haben.
({2})
Deshalb ist es unerträglich, dass Sie bei der Behandlung dieses Antrags nicht einmal auch nur in Ansätzen
über die Leistungen der NATO für die Befriedung Europas sprechen.
({3})
Sie sprechen es nicht an. Sie sprechen auch nicht an,
welche Verletzungen von russischer Seite begangen worden sind. Im Gegenteil, Sie verlangen, dass die NATO
aufgelöst wird, dass diejenigen, die sich sicher fühlen,
nicht mehr den Schutzrahmen haben, den wir brauchen.
Ich glaube, wir, die große demokratische Seite dieses
Parlaments - ich appelliere dabei auch sehr stark an die
Oppositionsfraktion Bündnis 90/Die Grünen -, sollten
uns bewusst sein, dass die Gräben zu solch einer Geschichtsauffassung viel zu tief sind, als dass wir es auch
nur einmal zulassen dürfen, dass die Linke Verantwortung für die Bundesrepublik Deutschland übernimmt.
({4})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir weisen
den Antrag zurück. Wir empfehlen, der Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu folgen. Ich
bitte uns alle, die Entwicklungen in der NATO mit geschärfter Aufmerksamkeit zu begleiten, damit wir weiterhin ein starkes Bündnis für Sicherheit und Frieden in
Europa bleiben.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({5})
Der Kollege Dr. Tobias Lindner hat nun für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Eine Debatte um das Thema, wie man mit dem
NATO-Bündnisfall, der vor 13 Jahren - Kollege Hitschler
und ich waren damals in einem Alter, in dem wir gerade
ans Abitur dachten - ausgerufen wurde, umgeht, ist immer ein Drahtseilakt, auf der einen Seite nicht zu staatstragend zu sein und auf der anderen Seite nicht zu sehr
über das Ziel hinauszuschießen.
Ich will eines vorwegschicken: Vor 13 Jahren hatten
wir es mit einer kollektiven Abwehr einer konkreten Bedrohung der Vereinigten Staaten von Amerika zu tun.
Ich hoffe, dass wir uns alle darin einig sind, dass diese
konkrete Bedrohung heute nicht mehr besteht. Ich habe
in dieser Debatte auch mit Freude vernommen, dass einige in der Koalition sagen, dies halte auch nicht mehr
als Begründung für Auslandseinsätze bzw. Missionen
her. Deswegen sind wir uns mit der Linken durchaus einig darin, dass man den NATO-Bündnisfall beenden
sollte.
({0})
Aber wenn wir darüber sprechen, auf welche Art und
Weise wir diese Beendigung erreichen sollen, dann will
ich es so formulieren: Man muss die Spielregeln ändern,
statt sie zu verletzen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Aus Sicht meiner Fraktion stellt es eine Verletzung
der Spielregeln dar, wenn Deutschland jetzt unilateral
den Bündnisfall für beendet erklären würde.
({1})
Deshalb fordern wir - bevor die Union in die Verlegenheit kommt, Beifall klatschen zu müssen - die Bundesregierung mit Nachdruck auf, sich für die Beendigung
des Bündnisfalls einzusetzen.
({2})
Ich will einen Schritt weitergehen. Wir müssen in diesem Parlament initiativ werden und darüber diskutieren,
wie wir Art. 5 des Nordatlantikvertrags weiterentwickeln können. Wir brauchen eine Antwort, wie wir,
wenn dieser Konsens nicht mehr gegeben ist, einen Mechanismus entwickeln können, der eine regelmäßige
Überprüfung des Bündnisfalls durch die Vertragspartner
ermöglicht und zu einer Beendigung führt, wenn eine
überwiegende Zahl der Staaten der Auffassung ist, dass
der Bündnisfall nicht mehr gegeben ist.
Liebe Kollegen von der Linken, wir werden uns bei
der Abstimmung über Ihren Antrag enthalten. Sie stellen
eine Forderung auf, die wir schon in der letzten Legislaturperiode in Anträgen mehrfach erhoben haben, nämlich diesen Bündnisfall endlich zu beenden. Aber leider
schießen Sie aus unserer Sicht - wie so oft in der Verteidigungspolitik - über das Thema hinaus, indem Sie einen unilateralen Ausstieg aus dem Bündnisfall fordern.
Wir glauben nicht, dass dies möglich ist. Ich glaube auch
nicht, dass wir - es ist von der SPD-Fraktion durchaus
erwähnt worden - unsere Position, wenn es darum geht,
Spielregeln zu ändern und Mechanismen zu überarbeiten, dadurch stärken, dass wir unilateral an dieser Stelle
aussteigen.
Der NATO-Bündnisfall, die kollektive Verteidigung,
ist ein hohes Gut. Gerade deshalb muss man damit sorgsam umgehen. Man darf ihn nicht länger festgestellt lassen, als Gründe dafür vorhanden sind. Deshalb sollten
wir uns alle gemeinsam - die Bundesregierung vorweg bei der NATO spätestens auf dem Herbstgipfel endlich
für eine Beendigung des Bündnisfalls nach 13 Jahren
einsetzen.
Ich danke Ihnen.
({3})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat die Kollegin Julia
Bartz das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen
und Kollegen! Nur im Bündnis der NATO und mit dem
europäischen Gedanken konnte unser Land zu dem
wachsen, was es heute ist. Wiedervereinigung und wirtschaftlicher Wohlstand konnten nur im Rahmen kollektiver Bündnissysteme wie NATO und EU erfolgen. Doch
Teil eines Bündnisses zu sein, heißt auch, in diesem Verantwortung zu übernehmen. Im äußersten Fall bedeutet
das, Bündnispartner militärisch zu unterstützen, wie es
Art. 5 des Nordatlantikvertrags vorsieht.
Am 12. September und 4. Oktober 2001 wurde dieser
Fall nach den Anschlägen auf das World Trade Center
und das Pentagon ausgerufen. Nach den verbrecherischen Angriffen gegen unseren Bündnispartner stellten
sich die NATO-Mitglieder geschlossen an die Seite der
USA, um dem transkontinentalen Terrorismus entgegenzutreten. Die Anschläge von London, Madrid und nicht
zuletzt das versuchte Bombenattentat in Bonn haben uns
gezeigt, dass die Gefahr des religiös motivierten Terrorismus auch Europa bedroht. Nur in einer solidarischen
Gemeinschaft können wir dieser Herausforderung wirkungsvoll begegnen.
({0})
Dabei wurden nicht nur reine Kampfeinsätze wie ISAF,
sondern auch Überwachungs- und Beobachtungsmissionen zur Terrorismusprävention und -abwehr etabliert.
Die Teilnahme an der Operation Active Endeavour ist
der aktuelle Beitrag Deutschlands zum kollektiven
Bündnisfall. Eine Fortführung von OAE als Überwachungsmission zur Sicherstellung eines detaillierten
Lagebildes ist nach wie vor notwendig. Die politischen
Entwicklungen im Nahen Osten und in Nordafrika machen die Präsenz der Bündniskräfte im Mittelmeerraum
erforderlich.
Wie wir hier schon mehrfach erwähnt haben, streben
wir eine Weiterentwicklung von OAE hin zu einer nichtArtikel-5-gestützten Mission an. Eine entsprechende
Initiative ist bereits im April vergangenen Jahres von der
Bundesregierung in den NATO-Rat eingebracht worden.
Auch unsere aktuelle Bundesregierung verfolgt dieses
Ziel mit Nachdruck. Um diese Umwidmung zu vollziehen, braucht es aber die Zustimmung aller 28 Mitgliedstaaten. Ein multilateraler Konsens in einer solchen
Dimension braucht Zeit.
Das ändert jedoch nichts an dem Sinn und Zweck dieser Mission. Das Mittelmeer ist eine der strategisch
wichtigsten Schifffahrtsrouten der Welt.
({1})
25 Prozent aller Rohöllieferungen und ein Drittel aller
Seehandelsgüter werden zwischen der Straße von Gibraltar und dem Suezkanal verschifft. Der Schutz dieser
wirtschaftlichen Lebensader ist von vitalem Interesse für
Europa, für die NATO und somit für Deutschland. Unsere Präsenz im Mittelmeer hat eine vorbeugende
Schutzfunktion.
Somit steht OAE auch in vollem Einklang mit den
Verteidigungspolitischen Richtlinien. In diesen heißt es
auch, dass Deutschland als einer der wichtigsten
Bündnispartner der NATO Verantwortung trägt. Dieser
werden wir mit unserer Beteiligung an Missionen der
NATO, der Vereinten Nationen und der EU gerecht. Ein
eigenmächtiges Ausscheren aus OAE hätte einen fatalen
Ansehensverlust in der internationalen Gemeinschaft zur
Folge. Nationale Einzelgänge führen ins politische und
diplomatische Abseits.
Die Teilnahme an NATO-Missionen und UN-Missionen hingegen ist ein wichtiger Beitrag zur international
vernetzten Sicherheit. Hier hat sich OAE - der Kollege
Kiesewetter hat es bereits angesprochen - zu einer wichtigen Kommunikationsplattform über die NATOGrenzen hinaus entwickelt. Auch Staaten der Partnerschaft für den Frieden haben sich an dieser Mission
beteiligt.
Wie gesagt: Wir befürworten eine Neukonzeption der
Operation Active Endeavour. Wir lehnen jedoch eine
Beendigung des deutschen Engagements in dieser
Mission entschieden ab. Deutschland ist und bleibt ein
verlässlicher Bündnispartner.
Danke.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärti-
gen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke
mit dem Titel „Den NATO-Bündnisfall umgehend been-
den“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 18/349, den Antrag der Fraktion
Die Linke auf Drucksache 18/202 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfeh-
lung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen
die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 14 a und 14 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Luise
Amtsberg, Tom Koenigs, Omid Nouripour, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Verantwortung übernehmen - Zügig mehr
syrische Flüchtlinge aufnehmen
Drucksache 18/846
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Jelpke, Jan Korte, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Vizepräsidentin Petra Pau
Für eine schnelle und unbürokratische Aufnahme syrischer Flüchtlinge in Deutschland
und in der EU
Drucksache 18/840
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Luise Amtsberg für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Mit 9 Millionen Vertriebenen hat der Bürgerkrieg
in Syrien längst das größte Flüchtlingsdrama weltweit
ausgelöst. Seit dem Ausbruch des Konflikts vor drei
Jahren flohen nach UN-Angaben mehr als 2,5 Millionen
Syrer ins Ausland; weitere 6,5 Millionen sind zu Vertriebenen in ihrem eigenen Land geworden. Mindestens die
Hälfte der vom Krieg vertriebenen Menschen sind
Kinder.
Angesichts der unübersichtlichen Konfliktlage und
der nur geringen Aussichten auf eine politische Lösung
ist damit zu rechnen, dass die Not weiter zunehmen wird
und noch viel mehr Menschen flüchten müssen.
Was ist die derzeitige Lage? Die Türkei hat mehr als
625 000 Syrer aufgenommen. Die weitaus meisten
Flüchtlinge des syrischen Bürgerkriegs - nahezu 1 Million Menschen - leben im Nachbarland Libanon. Der
Rest verteilt sich auf die Länder Irak, Jordanien und
Ägypten.
Europa hat bisher 4 Prozent der geflüchteten Syrer
aufgenommen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir
finden: Europa kann mehr, Europa muss mehr, und
Deutschland ist für diesen Diskurs die entscheidende
Triebfeder.
({0})
Seit Sommer 2013 haben alle Bundesländer - alle außer Bayern - eigene Aufnahmeprogramme für syrische
Flüchtlinge auf den Weg gebracht. Nach dem ersten
Kontingent des Bundes ist der Deutsche Bundestag im
letzten Jahr einen wichtigen humanitären Schritt gegangen und hat fraktionsübergreifend ein zweites Aufnahmekontingent für weitere 5 000 syrische Flüchtlinge
beschlossen.
Trotz des engagierten Einsatzes von Bund, Ländern
und Kommunen reicht der deutsche Beitrag für die
Unterstützung von Schutzsuchenden aus Syrien leider
nicht aus. Denn für die zusätzlichen 5 000 Aufnahmeplätze liegen mindestens zehnmal so viele Anmeldungen
in den Ländern vor. Das sind zwischen 50 000 und
60 000 Menschen, überwiegend mit familiärem Bezug
zu Deutschland. In Anbetracht dieser Situation sieht
meine Fraktion nach wie vor dringenden Handlungsbedarf.
({1})
Da es in der Debatte immer wieder angeführt wird,
möchte ich mich darauf einmal beziehen: Als überzeugte
Europäerin bin ich natürlich immer daran interessiert,
dass es eine gemeinsame faire europäische Lösung für
die europäischen Herausforderungen gibt. Mir ist auch
bewusst, dass sich Deutschland in dieser Frage sehr
engagiert. Trotzdem bedeuten Europa und europäische
Solidarität für mich nicht, dass wir uns hinter der fehlenden Bereitschaft anderer Mitgliedstaaten verstecken dürfen, im Gegenteil.
({2})
Lassen Sie uns gemeinsam vormachen, was Humanität und großherzige Hilfe, die der humanitären Notlage
in Syrien spürbar etwas entgegensetzen, bedeuten und
wie sie aussehen können. Unser Antrag fordert daher,
ein neues Kontingent aufzulegen, das sich an den derzeit
gestellten Anträgen in den Ländern orientiert.
Aber lassen Sie uns auch konkret in unserer nationalen Gesetzgebung unsere Spielräume nutzen. Es ist und
bleibt ein Unding, dass Asylbewerberinnen und Asylbewerber aus Syrien, die Verwandte in Deutschland haben,
immer noch im Rahmen der Dublin-Verordnung in andere EU-Staaten zurückgeführt und für diesen Zweck
auch in Abschiebehaft genommen werden können.
Lassen Sie uns in den Dialog mit den Bundesländern
gehen und dafür sorgen, dass die Abschiebestopps nach
Syrien verlängert werden und die hohen Hürden bei den
Aufnahmeprogrammen in den Ländern, vor allen Dingen was die Verpflichtungserklärungen angeht, reduziert
werden.
({3})
Lassen Sie uns weiter dafür kämpfen - auch das ist
Bestandteil unseres Antrages -, dass die Kommission
aufhört, die von der Bundesregierung mit Nachdruck
verlangte Pledging-Konferenz zu blockieren; denn das
ist wirklich ein Skandal.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das gestrige Berichterstattergespräch im Innenausschuss hat mir noch
einmal verdeutlicht, dass es fraktionsübergreifend ein
tiefes Bewusstsein für die humanitäre Notlage in Syrien
gibt. Auch das Bundesinnenministerium ist bemüht, die
Verfahren zur Aufnahme zu verbessern und die bürokratischen Hürden abzubauen. Das ist gut. Ich begrüße das
ausdrücklich und hoffe, dass wir auf dieser Grundlage
und vor allen Dingen mit diesem Bewusstsein zu einer
gemeinsamen Lösung kommen werden. Ich denke, wir
werden nicht darum herumkommen, über eine Ausweitung des Kontingentes nachzudenken. Wie sie aussehen
wird, das möchten wir gerne diskutieren. Dafür ist unser
Antrag eine Grundlage. Ich hoffe, da auch bei Ihnen auf
offene Ohren zu stoßen.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({4})
Das Wort hat die Kollegin Nina Warken für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die Lage in Syrien ist
nach wie vor dramatisch; das ist uns allen bewusst. Laut
jüngsten Berichten des UNHCR sind inzwischen über
9 Millionen Syrer auf der Flucht. Das sind mehr als
40 Prozent der Bevölkerung des gesamten Landes. Etwa
2,5 Millionen Menschen sind mittlerweile in die Nachbarstaaten geflohen. Das sind vor allem der Libanon,
Jordanien und die Türkei.
Deutschland tut viel, um diesen Menschen zu helfen.
Da die syrischen Nachbarstaaten die Massenflucht allein
nicht bewältigen können, setzt unsere Hilfe genau dort
an, wo sie gebraucht wird. Deutschland unterstützt die
betroffenen Länder seit 2012 mit rund 483 Millionen
Euro für humanitäre Hilfe, Infrastruktur und Krisenbewältigung. Das THW ist beispielsweise mit zahlreichen Helfern vor Ort und leistet Hilfe in Flüchtlingslagern, vor allem durch die Bereitstellung von sauberem
Trinkwasser. Ohne das würden viele Menschen krank
werden und sterben.
Deutschland ist sich seiner humanitären Verantwortung bewusst. Die Bundesregierung hat schon im Mai
2013 ein Bundesprogramm zur Aufnahme von 5 000 besonders schutzbedürftigen Flüchtlingen aus Syrien gestartet. Diese Menschen kommen entweder selbst nach
Deutschland oder werden mit Charterflügen eingeflogen. Gleichzeitig haben auch die Länder eigene Aufnahmeprogramme ins Leben gerufen. In diesem Rahmen
wurden bereits 2 300 Visa erteilt.
Um es noch mehr Menschen aus Syrien zu ermöglichen, Schutz zu suchen, wurde im vergangenen Dezember ein zweites Bundesprogramm zur Aufnahme von
weiteren 5 000 syrischen Flüchtlingen eingerichtet. Bei
dem liegt der Schwerpunkt auf der Aufnahme von Personen mit Verwandten in Deutschland.
Bislang sind im Rahmen der beiden Bundesprogramme 4 000 Flüchtlinge aus Syrien nach Deutschland
gekommen. Davon sind allein 1 755 Menschen, die nicht
in der Lage sind, selbst nach Deutschland einzureisen,
mit Charterflügen gekommen. Auch in Zukunft sind jeden Monat zwei Flüge mit jeweils 300 Flüchtlingen geplant.
Insgesamt sind also seit 2011 mehr als 30 000 Menschen aus Syrien nach Deutschland gekommen. Das
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge bearbeitet jeden Monat mehr als 1 500 Asylanträge syrischer Flüchtlinge. Schon seit drei Jahren wird niemand mehr nach
Syrien abgeschoben, und jeder Antragsteller bekommt
zumindest subsidiären Schutz. Das alles wird schon jetzt
getan.
Natürlich ist es leicht, immer mehr zu fordern, wie es
die Opposition jetzt tut, ohne zu berücksichtigen, dass
die Aufnahmekapazitäten für Asylbewerber in unseren
Ländern und Kommunen mittlerweile an ihre Grenzen
stoßen. Zweifelsohne haben Bund und Länder bereits in
der Vergangenheit entschieden gezeigt, dass sie den
Flüchtlingen aus Syrien helfen wollen. Die Aufnahmeaktion über die beiden Bundesprogramme sowie die
Programme der Länder sind in vollem Gange, und die
zuständigen Behörden tun alles, um die besonders
Schutzbedürftigen so schnell wie möglich ins Land zu
holen.
Ein positives Signal ist es, dass Bund und Länder erörtern wollen, unter welchen Bedingungen weitere Menschen aus Syrien aufgenommen werden können, sobald
die bestehenden Kontingente ausgeschöpft sind. Dennoch wäre es illusorisch, sich bei den Aufnahmekontingenten nur an den Interessenbekundungen zu orientieren. Wir werden niemals allen Anforderungen gerecht
werden können, da in Syrien nahezu das halbe Land auf
der Flucht ist. Deshalb ist es richtig, dass der Schwerpunkt unserer Hilfe vor Ort liegt; denn in der Region erreicht man mit den eingesetzten Mitteln viel mehr Menschen, als es durch Flüchtlingsaufnahme möglich ist.
({0})
Auch die weitere Forderung der Opposition nach
mehr Personal ist wenig hilfreich. Das Personal wurde
sowohl hier in Deutschland als auch in der Krisenregion
bereits aufgestockt. Hier muss man verstehen, dass Personal mit entsprechender Qualifikation sowie sichere
Räumlichkeiten vor Ort, die für die Abwicklung der
Ausreise der Flüchtlinge notwendig sind, begrenzt sind.
Davon abgesehen sind die Schwierigkeiten, die durch
die Sicherheitslage in den Nachbarstaaten oder bei der
Erteilung von Ausreisegenehmigungen durch die lokalen
Sicherheitsbehörden bestehen, auch durch mehr Personal nicht lösbar.
Statt einfach nur mehr zu fordern, muss an dieser
Stelle auch einmal gesagt werden, wie wichtig es ist,
dass wir Serbien, Mazedonien, Bosnien und Herzegowina sowie Albanien und Montenegro zu sicheren Herkunftsländern erklären. Dann stehen wieder mehr Kapazitäten zur Aufnahme von Flüchtlingen, auch den
vorrangig Schutzbedürftigen aus Syrien, zur Verfügung.
({1})
Auch die immer wieder vorgebrachte Kritik von Grünen und Linken am Dublin-Verfahren kann ich nur zurückweisen. Deutschland macht nach meiner Kenntnis
sehr wohl von seinem Selbsteintrittsrecht Gebrauch,
wenn Menschen beispielsweise medizinisch versorgt
werden müssen. Ebenso wird entsprechend der EU-Verordnung darauf geachtet, dass die Kernfamilie stets zusammenbleiben kann.
Es kann allerdings nicht das Ziel sein, dass Deutschland alle syrischen Flüchtlinge aufnimmt, die nach Eu1880
ropa kommen. Unsere europäischen Nachbarn haben
hier auch eine humanitäre Pflicht, die wir einfordern
müssen.
({2})
Aus unserer Sicht befinden wir uns also auf einem guten Weg, was die Aufnahme syrischer Flüchtlinge in
Deutschland angeht. Die Opposition konnte mit ihren
beiden Anträgen hier nichts Neues beitragen.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat die Kollegin Ulla Jelpke für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der
grausame Krieg in Syrien läuft bereits seit drei Jahren,
und weit mehr als 100 000 Menschen sind ums Leben
gekommen. 10 Millionen Menschen sind auf der Flucht,
davon ungefähr 7,5 Millionen im Land selber auf der Suche nach Alternativen. 2,5 Millionen registrierte Flüchtlinge befinden sich in Anrainerstaaten Syriens und in
Ägypten. Ich muss wirklich sagen: Es ist eine Schande,
dass es bis heute nur einem Bruchteil der Flüchtlinge gelungen ist, in die Europäische Union zu kommen, um
Zuflucht zu finden.
Meine Damen und Herren, an den Außengrenzen der
EU treffen Flüchtlinge auf eine immer massivere und
brutalere Abschottung. Die Landesgrenzen Griechenlands und Bulgariens zur Türkei wurden zum Beispiel
mit Zäunen und Stacheldraht abgeriegelt. Soldaten greifen Flüchtlinge in der Ägäis auf und schaffen sie zurück
in die Türkei. Wie viele Menschen die gefährliche Überfahrt über die Ägäis und das Mittelmeer nicht überleben,
weiß wirklich niemand. Täglich sterben an den Außengrenzen der EU - das ist leider bittere Wahrheit - unerträglich viele Menschen. Das muss dringend beendet
werden.
({0})
Trotz all dieser Abschottungsbemühungen haben es in
den vergangenen zwei Jahren etwa 70 000 Flüchtlinge
aus Syrien geschafft, in die Europäische Union zu fliehen. Gut ein Drittel wurden in der Tat in der Bundesrepublik aufgenommen. Im gleichen Zeitraum wurde gerade einmal 12 000 Menschen die Zusage für eine
Aufnahme in einem EU-Staat gegeben; nur diese haben
also sichere und legale Einreisemöglichkeiten. Von ihnen nimmt allein die Bundesrepublik 10 000 Flüchtlinge
auf. Doch das bedeutet noch lange nicht, dass sich die
Bundesrepublik auf ihren Verdiensten ausruhen darf. Ein
Vergleich, um sich das einfach einmal vorzustellen: Im
Libanon hat es einen Bevölkerungszuwachs um 19 Prozent gegeben. Das würde für Deutschland bedeuten, dass
es innerhalb von zwei Jahren einen Bevölkerungszuwachs von 15 Millionen Menschen gegeben hätte. Die
Bundesregierung bzw. die Bundesrepublik kann mehr
tun, muss mehr tun, und es muss vor allen Dingen syrischen Flüchtlingen schneller und unbürokratischer geholfen werden.
({1})
Syrische Asylsuchende, die über einen anderen EUStaat nach Deutschland eingereist sind, geraten wirklich
in die Mühlen der Asylbürokratie. Man muss sich einfach einmal vorstellen: Sie fliehen aus ihrem Land vor
Krieg, sie fliehen über die Meere und gefährden ihr Leben, dann kommen sie nach Deutschland und werden
mit der Dublin-Verordnung konfrontiert. Und was passiert? Als Allererstes gehen sie in Abschiebegefängnisse, weil sie überstellt werden sollen. Das ist ein Verfahren, das unbedingt abgeschafft werden muss.
Deswegen fordert die Linke auch, die Dublin-Verordnung ganz schnell für syrische Flüchtlinge auszusetzen.
({2})
Es ist wirklich ein bürokratischer Irrsinn, der hier betrieben wird. Man muss wirklich an das Bundesinnenministerium sowie die Innenminister der Länder und der europäischen Staaten appellieren, dass das geändert wird.
Es ist hier schon angesprochen worden, dass viele
Flüchtlinge Verwandte in Deutschland haben. Auch diesen muss unbegrenzt und unbürokratisch ermöglicht
werden, dass sie von den entsprechenden Ländern aufgenommen werden und zu ihren Familien reisen können.
Übrigens wäre das die schnellste und einfachste Art, den
Flüchtlingen zu ermöglichen, ein Leben in Sicherheit zu
führen. Daneben muss sich die Bundesrepublik auch
weiterhin an humanitären Aufnahmeprogrammen des
UNHCR beteiligen.
Meine Damen und Herren, auch auf EU-Ebene muss
mehr getan werden. Deutschland muss Druck machen.
Ohne mit der Wimper zu zucken, werden Gelder in Milliardenhöhe bereitgestellt, um die Grenzen abzusichern.
Wir meinen, dass die Gelder viel sinnvoller für Flüchtlinge eingesetzt wären. Das Wichtigste ist: Wir sollten
nicht noch mehr Öl ins Feuer gießen und endlich dafür
sorgen, dass Waffenlieferungen nach Syrien, und zwar
an alle Seiten, gestoppt werden.
Ich danke Ihnen.
({3})
Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Christina
Kampmann das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! UnChristina Kampmann
abhängig vom Ausmaß des Elends, unabhängig von der
Dimension des Leidens und unabhängig von der Vielzahl menschlicher Schicksale neigen Flüchtlingsdramen
dazu, aus dem öffentlichen Bewusstsein nahezu zu verschwinden, wenn sie nur lang genug andauern und weit
genug von uns entfernt scheinen.
Vor ziemlich genau drei Jahren gingen die Menschen
in Syrien auf die Straße, um friedlich für Werte zu demonstrieren, deren Verteidigung auch bei uns höchste
Priorität hat: für Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Doch was seit diesem März 2011 geschah, spottet
jeder Beschreibung: das brutale Vorgehen des Assad-Regimes, welches seinen vorläufigen Höhepunkt im Einsatz von Chemiewaffen gegen die eigene Bevölkerung
fand, die Radikalisierung und Zersplitterung der Opposition, die dazu geführt hat, dass es inzwischen zahlreiche
Nebenkriegsschauplätze gibt, die das ursprünglich friedliche Ansinnen der Menschen in Syrien in Vergessenheit
haben geraten lassen. Es sind die Menschen, die heute
auf der Flucht sind, weil sie in ihrer Heimat um ihr Leben fürchten müssen, weil sie Opfer von Verfolgung und
von Gewalt sind.
Liebe Frau Amtsberg, Deutschland versteckt sich
nicht. Deutschland hat mehr Flüchtlinge aufgenommen
als jedes andere europäische Land. Das wissen Sie auch.
({0})
Der Bund hat sich zu seiner Verantwortung bekannt
und die Aufnahme von insgesamt 10 000 Flüchtlingen
beschlossen. Es besteht Einigkeit darüber, dass auch
nach Ausschöpfung der vorhandenen Kontingente denen, die aus Syrien geflüchtet sind, Schutz in Deutschland gewährt werden soll. Viele Länder haben inzwischen Verlängerungen bezüglich der Antragsfrist für die
Aufnahme beschlossen; darunter Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und andere.
Aber wir wissen auch: Angesichts einer Zahl von
2,4 Millionen Syrern, die laut UNHCR im Ausland
Schutz suchen, und 3,6 Millionen Menschen, die innerhalb der syrischen Grenzen auf der Flucht sind, angesichts dieser schier unvorstellbaren Zahlen kann das,
was wir tun, niemals genug sein.
({1})
Deshalb müssen wir uns weiter für eine gemeinsame
europäische Initiative engagieren. Es kann nicht sein,
dass alle anderen europäischen Staaten zusammen noch
nicht einmal die Hälfte des Kontingents anbieten, das
wir inzwischen zugesagt haben. Deshalb dürfen wir aber
trotzdem nicht müde darin werden, auch alle anderen
Länder der Europäischen Union immer und immer wieder an unsere gemeinsame europäische Verantwortung
zu erinnern, an die Werte von Solidarität und Mitmenschlichkeit, die wir nicht immer nur vor uns hertragen, sondern an denen wir uns auch selbst messen lassen
müssen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({2})
Die Anträge vom Bündnis 90/Die Grünen und von
der Fraktion Die Linke entsprechen zu großen Teilen genau dem, was wir in den letzten Monaten bereits umsetzen konnten.
({3})
- Warten Sie einmal ab, Herr von Notz.
({4})
- Es kommt noch etwas, seien Sie darauf gefasst. - Dazu
haben wir im Übrigen schon am Ende der letzten Legislatur einen fraktionsübergreifenden Antrag gemeinsam
mit CDU/CSU, FDP und den Grünen verabschiedet.
Dass es bei diesem Thema einen so großen Konsens
gibt, ist auch gut so; denn das Schicksal der Menschen,
die aus Syrien flüchten, sollte für uns alle Anlass sein,
um alles Mögliche dafür zu tun, das Leiden dieser Menschen zu mindern. Gerade weil ich an vielen Stellen einen Konsens zwischen unseren Parteien sehe, schlage
ich vor, dass wir uns hinsetzen und einen fraktionsübergreifenden Entschließungsantrag einbringen,
({5})
der nicht nur unsere gemeinsame Verantwortung im Hinblick auf die schwierige Situation der Flüchtlinge unterstreichen würde, sondern der sowohl der Länderebene
als auch der europäischen Ebene signalisieren würde,
dass wir in dieser Frage zusammenstehen, weil uns das
Leid der Menschen, die ihre syrische Heimat verlassen
mussten, Anlass sein muss, alles dafür zu tun, die Situation der Flüchtlinge in den Anrainerstaaten, aber auch
derer, die zu uns nach Europa kommen, so menschenwürdig wie nur möglich zu gestalten.
({6})
Dabei müssen wir im Blick haben, dass wir hier vor
Ort nur einen kleinen Teil zur Verbesserung der Situation
beitragen können. Wenn wir schnellere und vor allem
auch zielgerichtetere Hilfe anbieten wollen, dann muss
es zum einen darum gehen, dass wir weiter darauf hinwirken müssen, dass organisatorische und administrative
Hindernisse in den syrischen Nachbarländern weiter reduziert werden, damit denjenigen, die dort auf Hilfe warten, schnell geholfen werden kann. Es muss aber auch
darum gehen, dass wir humanitäre Hilfe vor Ort bereitstellen. Deshalb ist es gut, dass Deutschland zu den
größten bilateralen Gebern in der Syrien-Krise gehört
und insgesamt 440 Millionen Euro bereitgestellt hat.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Carolin Emcke
schreibt in Ihrer Reportage im Zeit-Magazin über Menschen, die bei uns Zuflucht suchen:
Was Ghayeb
- ein kurdischer Flüchtling aus Syrien und all die anderen brauchen, ist keine weitere Geschichte über ihre Verzweiflung wie diese, sondern
ein Asylrecht, das mindestens die Möglichkeit impliziert, dass ein Flüchtling wirklich jemand sein
könnte, der vor etwas geflohen ist.
Das, was sich gerade in und um Syrien abspielt, ist
ohne Zweifel die größte humanitäre Katastrophe dieses
Jahrhunderts. Was einst mit einem friedlichen Protest begann, endet heute in unermesslicher Not. Es ist unsere
politische und menschliche Pflicht, Verantwortung für
die Menschen in Syrien zu übernehmen und uns, ganz
im Sinne von Carolin Emcke, das Bewusstsein dafür zu
bewahren, dass ein Flüchtling ein Mensch ist, „der vor
etwas geflohen ist“. Wenn wir von Syrien reden, dann
geht es dabei um nichts Geringeres als um das eigene
Leben.
Danke schön.
({7})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun die Kollegin
Andrea Lindholz das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Die Geschehnisse in der Ukraine und auf
der Krim überschatten die humanitäre Katastrophe in
Syrien. In den deutschen Medien findet der Bürgerkrieg
in Syrien zurzeit kaum noch statt.
({0})
Doch die Situation in Syrien ist unverändert katastrophal. Hunderttausende Tote hat der Bürgerkrieg gefordert, darunter auch 14 UN-Mitarbeiter und 32 Helfer des
arabischen Roten Halbmondes. Über 40 Prozent der syrischen Krankenhäuser sind nicht mehr funktionsfähig.
Der syrische Staat zerfällt mehr und mehr.
Das Assad-Regime ist heute nur noch eine von insgesamt vier großen Konfliktparteien in Syrien, die sich gegenseitig brutal bekämpfen und die Bevölkerung ins
Elend stürzen. Wir haben es gehört: 9,3 Millionen Syrer
befinden sich auf der Flucht und brauchen dringend humanitäre Hilfe. Wir haben die moralische und humanitäre Verpflichtung, diesen Menschen zu helfen, und genau das tut Deutschland längst wie kaum ein anderes
Land.
({1})
Seit 2012 hat die Bundesregierung - wir haben es heute
Abend schon gehört - 483 Millionen Euro für die syrische Flüchtlingshilfe bereitgestellt.
Neben den Hilfskräften gilt auch den Mitarbeitern der
deutschen Botschaften und Konsulate unser Dank; denn
sie alle arbeiten unter schwierigsten Bedingungen und
schaffen die Grundlage für die Asylverfahren, über die
wir heute sprechen. Auch hier hat die Bundesregierung
reagiert und zusätzliches Personal bereitgestellt.
Das große Engagement der Bundesregierung macht
sich auch im Asylbereich bemerkbar. Seit 2011 sind rund
30 000 Syrer nach Deutschland gekommen. Über
1 500 syrische Asylanträge pro Monat werden in
Deutschland registriert. Seit Jahren gilt ein Stopp für die
Abschiebung nach Syrien.
Deutschland bietet im Rahmen von Bundesprogrammen 10 000 Syrern Schutz. Die anderen EU-Staaten stellen bisher zusammen ein Kontingent von gerade einmal
3 900 Plätzen bereit. Wir nehmen also bereits zwei Drittel aller syrischen Flüchtlinge auf. Angesichts dieser
Zahlen wirkt es absurd, wenn die Linke in ihrem Antrag
der Bundesregierung eine „Abschottungspolitik“ vorwirft; das Gegenteil ist der Fall.
({2})
Die Zahl der Asylanträge in Deutschland steigt seit
Jahren, allein im letzten Jahr stieg sie um 70 Prozent.
Deutschland alleine kann diese Flüchtlingskrise nicht lösen.
({3})
Angesichts von 9,3 Millionen syrischen Flüchtlingen
kann deutsches Asyl, Frau Kollegin, nur in begrenztem
Umfang eine Lösung sein. Der tatsächliche Bedarf an
Asyl wird nie zu decken sein.
({4})
Der Ansatz der Bundesregierung, den Fokus daher vor
allem auf die Hilfe vor Ort zu richten, die wir weitaus
besser leisten können als die relativ aufwendige Hilfe in
Deutschland, ist daher richtig.
Letztendlich muss in der Syrien-Krise der gleiche
Grundsatz gelten wie in der Euro-Krise: Deutschland
geht gerne mit gutem Beispiel voran, Deutschland ist solidarisch und hilft, aber auch Deutschlands Stärke ist begrenzt. Es kann nicht sein, dass Deutschland als einziger
EU-Staat substanzielle Verantwortung für die syrischen
Flüchtlinge übernimmt. Während wir 10 000 Flüchtlinge
aufnehmen, nehmen andere europäische Länder zwischen 400 und 500 Syrer auf. Allein 2013 hat das BAMF
127 000 Asylanträge bearbeitet, Tendenz steigend. In
diesem Bereich werden wir mehr Personal zur Verfügung stellen.
({5})
Wir brauchen dringend ein gemeinsames europäisches Aufnahmeprogramm. Die Bundesregierung fordert das schon lange. Die Kommission muss endlich aktiv werden und eine Geberkonferenz für Syrien auf EUEbene einberufen. Unsere europäischen Nachbarn müssen mehr Verantwortung für die Opfer dieses schrecklichen Bürgerkrieges übernehmen.
In meinen Augen haben die Anträge der Grünen und
der Linken ihren wesentlichen Zweck erfüllt. Sie haben
Syrien zurück auf unsere Tagesordnung gebracht, und
das begrüße ich ausdrücklich.
({6})
Über die Verbesserung der laufenden Aufnahmeverfahren und eine weitere Aufstockung des deutschen
Kontingentes beraten bereits die Innenminister von
Bund und Ländern. Ich bin mir sicher, dass es hier zu einem weiteren guten Ergebnis kommen wird.
Gerade Bayern kommt seiner Verpflichtung nach. In
Bayern leben über 4 600 syrische Staatsangehörige.
Bayern nimmt im Rahmen des Bundesprogrammes allein 15 Prozent der Syrer auf und wird auch weitere Syrer aufnehmen. Der Asylbewerberstrom steigt bei uns in
Bayern daher überdurchschnittlich.
Inhaltlich laufen beide Anträge ins Leere. Angesichts
des massiven Engagements der Bundesregierung in Syrien ist ein zusätzlicher Anstoß durch einen Antrag überflüssig. Im Rahmen des Berichterstattergespräches in
dieser Woche wurde das Engagement der Bundesregierung ausdrücklich gelobt. Wir sprechen uns daher für
eine Ablehnung der Anträge aus.
Vielen Dank.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/846 und 18/840 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind
Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind
die Überweisungen so beschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich teile Ihnen mit,
dass sich die Fraktionen darauf verständigt haben, den
Tagesordnungspunkt 15 - es handelt sich hier um die
Beratung des Antrags der Fraktion Die Linke mit dem
Titel „Den Aufsichtsrat der Deutschen Bahn AG neu und
verantwortungsvoll besetzen“ - abzusetzen. Sind Sie mit
dieser Vereinbarung einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann ist das so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 21. März 2014, 9 Uhr,
ein. Ich wünsche Ihnen bis dahin alles Gute.
Die Sitzung ist geschlossen.