Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Einen wunderschönen, sonnigen guten Morgen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 34 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie
Neuauflage 2016
Drucksache 18/10910
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit ({0})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss Digitale Agenda
Wir waren uns nicht ganz sicher, ob die Bundesregierung es schaffen würde, in ihrer gesamten Zusammensetzung rechtzeitig hier vertreten zu sein . Aber wie immer
hat sie das rechtzeitig geschafft.
Zu diesem Tagesordnungspunkt liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor .
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen . - Darüber besteht allgemeines Einverständnis . Dann ist das so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache und erteile zu Beginn das
Wort Herrn Bundesminister Peter Altmaier für die Bundesregierung .
({1})
Guten Morgen, Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es wird oft darüber diskutiert, nicht nur in Deutschland,
inwieweit der Umweltschutz, insbesondere der Klimaschutz, und die Wirtschaft im Wettbewerb miteinander
oder im Gegensatz zueinander stehen . Nachhaltigkeit darüber reden wir heute - ist natürlich weit mehr als
Nachhaltigkeit in der Umwelt- und Klimaschutzpolitik .
Eines möchte ich an dieser Stelle ganz deutlich sagen:
Wir werden die Wachstums- und Wohlstandspotenziale
dieses Planeten nur dann ökologisch verträglich heben
können, wenn es uns gelingt, diesen vermeintlichen Gegensatz aufzuheben, wenn es uns gelingt, das Klima so
zu schützen und die Ressourcen so effizient zu nutzen,
dass Wachstum auch in Zukunft umweltverträglich möglich ist .
({0})
„Für uns ist die Förderung einer nachhaltigen Entwicklung grundlegendes Ziel und Maßstab des Regierungshandelns .“ - das steht im Koalitionsvertrag von
2013 . Man kann darüber diskutieren, ob es an der einen
oder anderen Stelle vielleicht eines deutlicheren Akzentes bedurft hätte; aber wir haben die Nachhaltigkeit als
Bundesregierung und als Parlament in diesen vier Jahren gemeinsam vorangebracht . Deshalb bin ich an dieser Stelle zunächst einmal dem Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung zu nachhaltigem Dank
verpflichtet. Wir haben quer über alle Parteigrenzen hinweg mit allen Mitgliedern dieses Beirates eine gute und
fruchtbare Zusammenarbeit gepflegt. Ich habe mich sehr
dafür eingesetzt, gleich zu Beginn dieser Wahlperiode
die Sitzungen des Staatssekretärsausschusses für nachhaltige Entwicklung für die Parlamentarier zu öffnen. Ich
kann mich an keinen Punkt erinnern, wo wir uns gegenseitig behindert oder bekämpft hätten . Das können wir
uns auch nicht leisten .
Wir haben im Januar in der Bundesregierung eine
neue Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie beschlossen, die
wesentlich auf der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2015
basiert . Das Jahr 2015 war ein gutes Jahr für die Nachhaltigkeit und ein gutes Jahr für den Klimaschutz . Es
waren die Verabschiedung dieser Agenda 2030 und der
Erfolg der Pariser Klimakonferenz, die vielen Menschen
in Deutschland Hoffnung gegeben haben, dass auch Themen wie Nachhaltigkeit nicht von der politischen Agenda verschwinden . Im Gegenteil: Die Agenda 2030 war
ein großer Erfolg, und sie zeigt, dass ein globaler Schulterschluss bei zentralen Herausforderungen unserer Zeit
nach wie vor möglich ist .
Die Verankerung des Prinzips der nachhaltigen Entwicklung als Leitprinzip in allen Politikbereichen ist
gerade in weltpolitisch schwierigen Zeiten kein Luxus,
sondern pure Notwendigkeit . Wir arbeiten auch im Rahmen der G 20 - dort tragen wir in diesem Jahr eine besondere Verantwortung - an engagierten Festlegungen der
führenden Industrie- und Schwellenländer für die Umsetzung der Agenda 2030 . Das ist nicht immer einfach;
das sieht man daran, wie sich einzelne Akteure aus dem
Bereich der G 20 positionieren und auch auf nationaler
Ebene um ihren Kurs ringen .
Auch die Europäische Union muss mehr tun . Die
Europäische Union hatte sich mit Nachdruck für eine
ehrgeizige Agenda 2030 eingesetzt . Sie sollte jetzt eine
Vorreiterrolle bei der internationalen Umsetzung übernehmen . Wir brauchen eine systematische, glaubwürdige
und ambitionierte Herangehensweise . Ein neuer strategischer Rahmen auf EU-Ebene ist erforderlich . In diesem
Sinne werben wir gegenüber der Europäischen Kommission .
Wir erwarten auch, dass sich die Vereinten Nationen
stärker an der Erreichung der globalen Nachhaltigkeitsziele, der sogenannten berühmten SDGs, ausrichten . Es
ist gut, dass der neue Generalsekretär António Guterres
seine Stellvertreterin Amina Mohammed mit der Umsetzung der Agenda 2030 betraut hat . Dies ist ein wichtiges
politisches Signal . Wir erwarten nun mit großem Interesse die Vorschläge zu mehr Effizienz und Koordination im
VN-System und sind bereit, den Generalsekretär tatkräftig zu unterstützen .
({1})
Die internationale Glaubwürdigkeit macht sich auch
daran fest, wie wir als Vorreiter im Bereich der Nachhaltigkeit bei uns mit den Herausforderungen umgehen .
Genau dazu dient die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie .
Wir haben sie in einem beispiellosen Dialogprozess mit
Ländern und Kommunen, mit Partnern aus Wirtschaft,
Wissenschaft und Zivilgesellschaft erarbeitet . Ich möchte allen danken, die hieran engagiert mitgearbeitet haben .
Diese Agenda war ein erster wichtiger Schritt zur Umsetzung der Agenda 2030 in, durch und mit Deutschland; sie
bildet den Rahmen für unsere künftigen Aktivitäten . Deshalb war es notwendig, dass wir die Verbreiterung der
Strategie auf die 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung
der Vereinten Nationen und der Agenda vorgenommen
haben . Sie bilden die neue Struktur für unser Nachhaltigkeitsmanagement, das künftig 63 Indikatoren umfassen
wird . Ich weiß, dass darüber lange diskutiert worden ist
und die Auswahl der 63 Indikatoren teilweise umstritten
war . Neu sind zum Beispiel Themen wie Armut und Ungleichheit, nachhaltiger Konsum und nachhaltige Produktion .
Außerdem werden wir die internationale Wirkung unseres Handelns stärker einbeziehen . Wir hatten uns als
erstes Land bereit erklärt, vor dem Hochrangigen Politischen Forum der Vereinten Nationen über den laufenden Prozess zu berichten . Im Zusammenhang mit dem
Bericht 2016 ist dies geschehen . An den Reaktionen haben wir feststellen können, dass Deutschland eine hohe
Expertise und eine hohe Glaubwürdigkeit bei allen Nachhaltigkeitsthemen beigemessen wird . Dies ist eine gute
Ausgangsbasis, insbesondere im internationalen Vergleich . An Deutschland wird sichtbar, dass man eine gute
wirtschaftliche Situation, ein hohes Umweltschutzniveau
und ein hohes Maß an sozialem Zusammenhalt mit einem
klaren Bekenntnis zur Nachhaltigkeit vereinbaren kann .
({2})
Ebenfalls ist positiv, dass wir für die Umsetzung der
Agenda 2030 an bewährte Strukturen und Strategien anknüpfen können, die auch in anderen Ländern als Vorbild
angesehen werden . Wir sind gerne bereit, denjenigen, die
sich dafür interessieren, die Art und Weise, wie wir im
Bereich der Nachhaltigkeit arbeiten, stärker und besser
zu erklären . Ich habe den Staatssekretärsausschuss und
die Kolleginnen und Kollegen aus dem Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung erwähnt . Bei
der Zusammenarbeit zwischen diesen beiden Gruppen,
wenn sie zum Beispiel Ressortvorschläge prüfen, wenn
wir mit ihnen darüber diskutieren, haben wir es geschafft,
Synergien zu erzeugen und insgesamt besser zu sein, als
wir es einzeln jeweils sein können . Es ist wichtig, dass
wir in Deutschland auch die Bundesländer und die Kommunen stärker in diesen Prozess einbeziehen . Inzwischen
haben 13 Bundesländer eigene Nachhaltigkeitsstrategien . Wir werben dafür, dass sich in der nächsten Zeit alle
Bundesländer zur Erarbeitung eigener Nachhaltigkeitsstrategien verpflichten.
Die neue Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie zeigt Erfolge in Politikfeldern wie Bildung, erneuerbare Energien oder Staatsverschuldung . Die unabhängige Analyse
des Statistischen Bundesamts zeigt hierbei als Symbol
eine Sonne . Es gibt allerdings noch viele Aufgaben, bei
denen auch wir besser werden müssen . Deshalb gibt es
auch einige Indikatoren, die auf „Wolke“ oder auf „Gewitter“ stehen . Darüber wird es eine Debatte geben müssen . Die Indikatoren sollen dazu beitragen, diese Debatten zu ermöglichen .
({3})
- Eisregen gab es am Wahlabend im Saarland für die
eine oder andere Partei, die das nicht erwartet und keinen
Schirm dabei hatte .
({4})
Aber das hat mit Nachhaltigkeit weniger zu tun .
Wir tun gut daran, dass wir auch dort, wo die Indikatoren eine Wolke oder ein Gewitter zeigen, uns klarmachen, dass wir Nachholbedarf im nationalen Bereich
haben, unabhängig davon, dass wir auch in diesen Bereichen oftmals viel besser als manche andere sind, mit
denen wir im internationalen Wettbewerb stehen .
Wir sollten Zielkonflikte deutlicher benennen und offen debattieren . Wenn der Preis mit Blick auf den Konsum auch langfristige Umweltentwicklungen und die soziale Seite widerspiegelt, ist manches Produkt vielleicht
etwas teurer als ein Produkt, bei dem die Umweltkosten
externalisiert werden, die Ressourceneffizienz keine Rolle spielt . Dennoch gibt es viele Bürgerinnen und Bürger davon bin ich überzeugt -, die bereit sind, für eine richtig
verstandene Nachhaltigkeit an der einen oder anderen
Stelle einen etwas höheren Preis zu bezahlen . Deshalb
müssen wir Transparenz in dieser Hinsicht herstellen .
Die Bundesregierung hat im Rahmen der Vergaberechtsreform die Möglichkeiten verbessert, Nachhaltigkeitsgesichtspunkte auch bei der öffentlichen Beschaffung stärker zu berücksichtigen .
({5})
Wir können an dieser Stelle nicht darauf verzichten, dieses Signal zu senden .
Herausforderung für die Strategie der Bundesregierung bleiben die Verbesserung der Politikkohärenz und
die stärkere Einbeziehung der gesellschaftlichen Akteure . Deshalb haben wir eine Wissenschaftsplattform
eingerichtet, die vom BMBF gemeinsam mit dem Bundesumweltministerium und dem Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung betrieben
wird . Wir werden künftig jährlich ein Forum zur Nachhaltigkeit organisieren, und in allen Ressorts werden
Koordinatoren für die nachhaltige Entwicklung benannt .
Das ist ein Wunsch unter anderem aus dem Parlamentarischen Beirat, den wir gerne aufgegriffen haben.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, nachhaltige Politik und Nachhaltigkeitsthemen haben es schwerer
als andere Umweltthemen, als Klimaschutzthemen oder
Themen, die uns auf den Nägeln brennen, weil oftmals
die Folgen verfehlter Nachhaltigkeit nicht hier und heute,
nicht in der nächsten Woche und nicht im nächsten Monat sichtbar werden, sondern in 10, 20 oder 30 Jahren,
wenn es für eine Korrektur oder für ein Gegensteuern
zu spät ist . Deshalb glaube ich, dass wir eine große Verantwortung und ein gemeinsames Interesse daran haben,
dass auch in Konkurrenz zu vielen anderen wichtigen
Themen das Nachhaltigkeitsthema von Bundestag und
Bundesregierung immer wieder in angemessener Weise
in die politische Debatte eingebracht wird . Wir als Bundesregierung sind dazu bereit und bieten Ihnen unsere
Zusammenarbeit an .
Vielen Dank .
({6})
Für die Fraktion Die Linke spricht jetzt die Kollegin
Katja Kipping .
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst
möchte ich dem Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung danken, dass er diese Debatte angeschoben hat .
({0})
Angesichts des Klimawandels sowie der Armut weltweit
und hierzulande wäre eine wirkliche Nachhaltigkeitsstrategie angebracht . Leider wird das, was die schwarz-rote
Bundesregierung vorgelegt hat, diesem Anspruch nicht
gerecht . Das ist blamabel .
({1})
Aus Zeitgründen kann ich das nur an zwei Punkten verdeutlichen . Nehmen wir den Klimaschutz . Der
UN-Klimareport kommt zu dem Ergebnis, dass in Bälde
in Afrika bis zu 200 Millionen Menschen von akuter Dürre und Trinkwassermangel bedroht sind . Der Teilnehmer
einer Klimaschutzkonferenz brachte die Situation wie
folgt sehr plastisch auf den Punkt: Wenn meine Heimat
ein Backofen wird, was glauben Sie, dass ich dann mache? Glauben Sie, dass ich hier sitze, bis ich verdurstet
bin? Natürlich nicht! - Das heißt also: Der Klimawandel
wird zu einem extremen Migrationsdruck führen . Klimawandel und Umweltzerstörung werden die Fluchtursache Nummer eins der Zukunft werden . Deswegen sind
Klimagerechtigkeit und Klimaschutz zutiefst Fragen der
globalen Gerechtigkeit und der sozialen Gerechtigkeit,
die wir mit aller Entschiedenheit angehen müssen .
({2})
Der CO2-Ausstoß muss reduziert werden . Dieses Ziel
erreichen wir aber nicht durch das Bedrucken von geduldigem Papier . Dieses Ziel werden wir nur erreichen,
wenn wir eine Verkehrswende einleiten . Wir brauchen
weniger Verkehr auf der Straße und eine Umverlagerung
zu umweltfreundlichen Verkehrsträgern, bis hin dazu,
dass wir unnötigen Verkehr vermeiden . Wir müssen auch
die Energiewende in Angriff nehmen. Wir müssen hin zur
Nutzung erneuerbarer Energien, und wir brauchen dezentrale Formen der Energieversorgung . Nur wenn uns das
gelingt, werden wir auch den CO2-Ausstoß reduzieren .
({3})
Zu einer nachhaltigen Entwicklung gehört auch der
entschiedene Kampf gegen Armut . Schauen wir uns einmal die Ziele, die sich die schwarz-rote Bundesregierung
da vornimmt, an - das habe nicht ich mir ausgedacht,
sondern in Ihrer Liste stehen dazu zwei kleine Punkte -: Im Hinblick auf den Kampf gegen materielle Unterversorgung sagt die Bundesregierung, ihr Ziel sei, die
entsprechenden Zahlen hierzulande deutlich unter dem
Durchschnitt der EU 28 zu halten . Im Klartext heißt das:
Schwarz-Rot reicht es, wenn es im Durchschnitt der gesamten EU den anderen schlechter geht .
Ja, was soll das denn, bitte schön, den Menschen, die
hierzulande von Armut betroffen sind, sagen? Der Rentnerin, die nach einem langen Arbeitsleben mit 800 Euro
im Monat über die Runden kommen muss, sagen Sie
also: „Alles super! Im EU-Durchschnitt geht es anderen
noch schlechter!“? Sagen Sie einem Kind, das in einer
Hartz-IV-Familie lebt, das aus den Turnschuhen herausgewachsen ist und dessen Eltern sich die neuen Turnschuhe vom Munde absparen müssen: „Stell dich nicht
so an! Im Durchschnitt der EU 28 sieht es noch schlimmer aus!“? Was für eine beschämende Kapitulation vor
der Armut!
({4})
Ich meine, eine Gesellschaft, in der alle vor Armut
geschützt sind, ist möglich . Wir Linke wollen uns nicht
damit abfinden, dass auch nur ein Kind hierzulande in
Armut aufwachsen muss . Deswegen kämpfen wir für
eine Gesellschaft, in der jedes Kind einen guten Start ins
Leben hat .
({5})
Übrigens: Auch wenn es um den Kampf gegen Ungleichheit geht, sind Ihre Ziele von beredter Bescheidenheit . Auch da reicht es Ihnen, wenn es den anderen im
Durchschnitt schlechter geht .
Ich fasse zusammen: In der vorliegenden Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung stehen schöne Sätze
und schöne Metaphern zur Problembeschreibung; das
kann man nicht leugnen . Aber wenn es um Lösungen
geht, dann werden Sie auffällig kleinlaut. Kurzum: Geht
es um eine Lösung der großen Menschheitsaufgaben Klimaschutz und Kampf gegen Armut -, wird man von
dieser Regierung nichts erwarten können . Ich aber meine
bzw . die Linke meint, der Klimaschutz und der Kampf
gegen Armut müssen mit aller Entschiedenheit angegangen werden . Deswegen streiten wir voller Energie für
eine sozialökologische Gerechtigkeitswende .
Vielen Dank .
({6})
Für die Bundesregierung hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Florian Pronold das Wort .
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wenn wir unterstellen, dass es im Jahr 2050 9 Milliarden Menschen auf
der Welt geben wird, und wenn die Entwicklung anhält,
dass ein Zuzug in die Städte stattfindet, wie derzeit weltweit zu beobachten ist, dann wird in Zukunft weltweit
eine ganze Menge zusätzlicher Wohnraum gebaut . Wenn
die bisherige Entwicklung bis 2050 fortschreitet, sind
40 Prozent unseres CO2-Kontos schon allein durch den
Städtebau aufgebraucht . Es hat noch keine Kuh ihren
Verdauungsvorgang abgeschlossen, und es ist noch kein
Auto gefahren, und schon sind allein durch die Stadtentwicklung 40 Prozent der CO2-Belastungen bis zum
Jahr 2050 vorherbestimmt .
Vor diesem Hintergrund müssen wir unsere Nachhaltigkeitsziele auch durch eine andere Art und Weise des
Bauens verfolgen . Betrachtet man die bestehenden Zielkonflikte, so zeigt sich, wie wir Nachhaltigkeit definieren.
Wir müssen beim Bauen viel mehr als bisher nachwachsende Rohstoffe verwenden, nicht nur in Deutschland,
sondern auch weltweit .
({0}): Ist das
hier ein Fortbildungsseminar?)
Für das Umwelt- und Bauministerium bezieht sich
Nachhaltigkeit aber nicht nur auf Klimaschutz, sondern
auch auf Umweltgerechtigkeit und soziale Gerechtigkeit .
Frau Kollegin Kipping, es hätte geholfen, die Nachhaltigkeitsstrategie besser zu lesen, statt nur der eigenen
Propaganda zu glauben .
({1})
Eines der zentralen Entwicklungsziele, um Armut
zu bekämpfen, ist in Ziel 11 der Nachhaltigkeitsstrategie festgelegt: eine nachhaltige Stadtentwicklung . Da
geht es auch um die Frage von Armutsbekämpfung . Der
Anteil der Menschen in Deutschland und weltweit, die
mehr als 40 Prozent ihres Einkommens für Wohnen ausgeben müssen, nimmt zu, und zwar dramatisch . Dieser
Entwicklung muss man entgegenwirken, und das tun
wir auch . Wir haben zum Beispiel die Mittel für die soziale Wohnraumförderung verdreifacht, wir haben die
Mietpreisbremse eingeführt, wir haben die Erhebung
der Mak lergebühren geregelt, wir haben die Städtebauförderung mehr als verdoppelt, um hier ganz aktiv etwas
zu tun . Der Kampf gegen Armut und für Nachhaltigkeit
wird nur erfolgreich sein, wenn es national wie international gelingt, den Schutz der planetaren Grenzen als Ziel
mit der sozialen Gerechtigkeit und der nachhaltigen wirtschaftlichen Entwicklung zusammenzubringen . Das ist
die Grundvoraussetzung für Nachhaltigkeit .
({2})
Da gibt es Zielkonflikte; das berücksichtigen wir alltäglich in den Debatten, die wir führen, und bei der Neuausrichtung von Zielen .
({3})
- Herr Krischer, Sie rufen immer gerne dazwischen; dafür sind Sie ja bekannt . Das ist aber nicht nachhaltig .
({4})
Zwischenrufe sind nicht nachhaltig . Wenn Sie eine Frage
haben, melden Sie sich; ich beantworte sie gerne .
Ich glaube, man muss auf die Zielkonflikte aufmerksam machen und sie in diesem Hause auch diskutieren .
Wenn wir den Klimaschutz im Gebäudebereich voranbringen wollen, dann muss es uns gleichzeitig gelingen,
dass Wohnraum für die Menschen bezahlbar bleibt .
({5})
Wir dürfen eben nicht zulassen, dass nur diejenigen mit
einem großen Geldbeutel in energetisch sanierten Wohnungen leben können . So werden wir die Klimaziele
nicht erreichen . Darum ist es so wichtig, darüber nachzudenken, wie man einen Quartieransatz hinbekommt,
also nicht mehr nur das einzelne Gebäude betrachtet,
sondern Lösungen für ganze Quartiere findet. Hier muss
man neue Wege finden, um CO2-Ziele und die Frage der
sozialen Gerechtigkeit zusammenzubringen .
Die Nachhaltigkeitsstrategie wird nur Erfolg haben, wenn alle mitmachen, auch die Zivilgesellschaft .
Deutschland kann, wie in vielen Fällen, mit gutem Beispiel vorangehen; aber es muss deutlich werden, dass
Nachhaltigkeit für die gesamte Gesellschaft, für unseren
Planeten als Ganzes gelten muss. Der Begriff „Nachhaltigkeit“ wurde in der Forstwirtschaft geprägt; daher
kommt dieser Begriff. Heute wissen wir, dass die planetaren Grenzen sehr schnell erreicht sind . Wir werden
die planetaren Grenzen gerade in ökologischer Hinsicht
nicht schützen können, wenn es uns nicht auch gelingt,
Ungerechtigkeit und Armut auf der Welt zu bekämpfen .
Das müssen wir zusammenbringen; nur das ist nachhaltig . Die Bundesregierung hat viele gute Beispiele in diesem Bereich gebracht und die Zielkonflikte benannt.
Ich möchte mich dem Dank an den Nachhaltigkeitsbeirat anschließen . Ich glaube, es ist wichtig, dass nicht
nur Parlament und Regierung handeln . Letztlich kommt
es auf das Handeln der gesamten Gesellschaft an . Nur
dann wird es uns gelingen, neben der Nachhaltigkeitsdebatte auch die „Macht-Frage“ zu stellen: Wer macht was,
wer setzt was um?
({6})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Katrin GöringEckardt, Bündnis 90/Die Grünen .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
In Somalia, im Südsudan, in Nigeria, im Jemen sind
20 Millionen Menschen, darunter sehr viele Kinder, von
einer akuten Hungersnot bedroht . Wir nehmen das jeden
Tag in den Zeitungen, in den Fernsehnachrichten wahr .
Die Vereinten Nationen schätzen, dass für die kommenden sechs Monate 4 Milliarden Euro notwendig sind, um
das schlimmste Leid zu lindern . Aber gerade einmal ein
Zehntel dieser Summe ist zugesagt . Wenn wir heute über
Nachhaltigkeitsziele reden, müssen wir auch über diese
20 Millionen Menschen reden .
({0})
Sie stehen symptomatisch für die Frage, ob wir die Probleme an der Wurzel angehen oder ob wir weiter abwarten .
Der Hunger allein in diesen vier Ländern wurde durch
Staatsverfall, durch Krieg, durch Korruption hervorgerufen und hat sich - Herr Altmaier hat ganz allgemein darauf hingewiesen - durch die Klimakrise verschlimmert .
Wir kennen das aus Syrien . Wir wissen: Hungerkrise und
Klimakrise sind zwei der größten Herausforderungen,
vor denen wir heute stehen, und führen zu immer mehr
Fluchtbewegungen; Frau Kipping hat das bereits gesagt .
Ich frage Sie heute Morgen: Warum ist die Bundesregierung nicht bereit, wenigstens jetzt sofort die Zusage zu
machen, Mittel in Höhe von 1 Milliarde Euro bereitzustellen, um das Schlimmste zu verhindern und die größte
Not zu lindern? Das wäre eine Aussage, die wir heute
Morgen hier treffen könnten, meine Damen und Herren.
({1})
Das wäre Prävention . Im Übrigen könnten Sie Herrn
Trump zugleich zeigen, was Humanität bedeutet .
Nachhaltigkeit, was heißt das eigentlich? Ganz einfach: Wir verbrauchen nur so viele Ressourcen, wie uns
ohne Raubbau zur Verfügung gestellt werden . Nachhaltigkeit heißt, dass unser Wohlstand nicht auf Kosten unserer Kinder bzw . auf Kosten zukünftiger Generationen,
auf Kosten der Natur und der Lebenschancen in anderen
Teilen der Welt gehen darf .
({2})
Herr Altmaier, Sie haben 2015 gesagt: „Es geht um nicht
weniger als alles .“ - Ich stimme Ihnen zu . Ich habe allerdings nicht den Eindruck, dass dieser Impetus, dass diese
Energie von der Umsetzung dieser Strategie ausgeht, die
diese Bundesregierung verfolgt .
({3})
Wir müssen die Luftverschmutzung verringern, wir
müssen dafür sorgen, dass das Essen anständig und gesund produziert wird, dass unser Wasser sauber ist, dass
Natur und Lebewesen in ihren Arten erhalten bleiben,
nicht weil es jemand in der weiten Welt von uns verlangen würde, sondern weil wir es uns selber schuldig sind
und weil es notwendig ist . Aber was tun Sie? Ich will in
der Kürze der Zeit nur zwei Beispiele nennen: den Wasserschutz und die CO2-Emissionen . Aber zuvor: Wenn
es mit dem Klimaschutz so dringlich ist, wie Sie, Herr
Altmaier, eben gesagt haben, dann wundert mich schon,
dass genau an dem Tag, an dem Donald Trump die Klimaschutzpläne vom Tisch gewischt hat, das Thema Klimaschutz es noch nicht einmal auf die Tagesordnung
des Koalitionsausschusses geschafft hat, wobei ich nicht
weiß, wie viele Punkte auf der Agenda stehen, auf die
sich der Ausschuss sowieso nicht einigen kann . Dringlichkeit geht anders, Herr Altmaier!
({4})
Lassen Sie mich aber zu den genannten Beispielen
kommen, zunächst zum Wasserschutz . Wenn Sie auf
der einen Seite sagen, das sei ein zentrales Ziel, dann
müssen Sie doch auf der anderen Seite mit echten Auflagen dafür sorgen, dass die Gülle auf unseren Feldern
von Schleswig bis Passau nicht weiterdampfen darf, um
dann in unserem Wasser zu landen, im Grundwasser und
im Trinkwasser, und die Meere zu verschmutzen . Wenn
die Grünen in den Ländern nicht wenigstens etwas getan
hätten, wäre in diesem Bereich überhaupt nichts passiert .
Sie beteiligen sich daran, die Meere in diesem Land zu
Müllkippen zu machen . Das kann man nicht zulassen;
das darf man nicht zulassen . Das ist alles andere als nachhaltig, meine Damen und Herren .
({5})
Zu Recht wurde auf dem G-7-Gipfel in Elmau darüber geredet, dass die CO2-Emissionen sinken müssen .
Sie haben gesagt, das brenne Ihnen auf den Nägeln . Ich
merke davon nichts .
({6})
In Deutschland steigen die CO2-Emissionen wieder . Was
haben Sie dazu gesagt? Sie haben gesagt, man müsse
jetzt europäisch an die Sache herangehen . - Ja, das muss
man; man muss es sogar global angehen . Das heißt aber
nicht, dass man sich auf nationaler Ebene zurücklehnt
und gar nichts mehr unternimmt, so wie Sie das gerade
tun, oder sogar das Gegenteil provoziert .
({7})
Es geht um Klimaschutz, aber eben auch um Arbeitsplätze . Es geht um 50 000 Arbeitsplätze in der Solarbranche .
Es geht um Arbeitsplätze, die Sie aufs Spiel setzen, wenn
Sie nicht dafür sorgen, dass sich die Automobilindustrie
jetzt verändert und die Elektromobilität zum Standard
wird .
({8})
Herr Altmaier, ich bin fest davon überzeugt, dass,
wenn Sie es nicht schaffen, in der Verkehrspolitik eine
Wende einzuleiten - die Verweigerung hat einen Namen:
Alexander Dobrindt -, Sie die Nachhaltigkeitsziele weiter verfehlen werden . Meine Damen und Herren, Sie haben noch sechs Monate Zeit . Sie könnten noch jetzt den
Hebel umlegen, ({9})
Frau Kollegin, Sie denken an die Redezeit .
- statt Nachhaltigkeitsgesichtspunkte auch bei der
öffentlichen Beschaffung anzukündigen. Wenn Sie das
weiter aussitzen wollen, dann sage ich Ihnen: Lassen Sie
im September lieber andere dran!
Vielen Dank .
({0})
Für die SPD spricht jetzt der Kollege Carsten Träger .
({0})
Einen wunderschönen guten Morgen! Sehr geehrter
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Welt hat sich mit 17 Nachhaltigkeitszielen zu einem besseren Umweltschutz und zur Bekämpfung von Armut
und Ungleichheit verpflichtet. Und Deutschland geht bei
der Umsetzung - international und gleichzeitig hier bei
uns, in unserer Heimat - voran . Wenn die Regierung das
umsetzt, was sie in der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie aufgeschrieben hat, dann, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind wir einen großen Schritt weiter .
({0})
Die Bundesregierung - voran das Bundeskanzleramt,
das Umweltministerium und das BMZ - hat zusammen
mit den Verbänden und dem Statistischen Bundesamt
wirklich hervorragende Arbeit geleistet . Deutschland
setzt sich ambitionierte Ziele, entwickelt Maßnahmen
und - ganz wichtig! - misst die Erfolge dieser Maßnahmen . In meiner alten Branche gab es eine Regel: Miss es
oder vergiss es . Nur dann, wenn die Einhaltung der Regeln kontrolliert und die Erfolge gemessen werden, kann
am Ende ehrlich bewertet werden, ob das ganze Projekt
gut war und auch, wo es noch gehakt hat . Deshalb bin ich
sehr froh, dass wir ambitionierte Indikatoren haben, mit
denen wir die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie Schritt
für Schritt verbessern können und werden .
({1})
Das alles ist Work in Progress; aber wir haben die Messlatte hochgehängt . Und das ist eine wirklich gute Nachricht in diesen Zeiten .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin der Regierung auch für die Ernsthaftigkeit dankbar, mit der sie die
globalen Nachhaltigkeitsziele anpackt . Wir haben hier
und im Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung schon oft debattiert, wie wichtig diese Ziele
sowohl für die Entwicklung unseres Planeten als auch
für uns hier zu Hause in Deutschland sind . Denn auch,
wenn es diesem Land gut geht, so gibt es doch noch viel
Ungerechtigkeit . Deshalb freue ich mich, dass ich hier
voller Überzeugung sagen kann: Die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie ist ein progressives Dokument .
({2})
Hier steht - als eine vom ganzen Kabinett mitgetragene Regierungsstrategie - schwarz auf weiß: Die Bundesregierung bekennt sich zur Einhaltung der planetaren
Grenzen, den Belastungsgrenzen unserer Erde . Daraus
ergibt sich ein Transformationsauftrag und - ich darf
wörtlich aus der Nachhaltigkeitsstrategie zitieren -:
Es geht darum, umfassende, beschleunigte Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft einzuleiten
und voranzutreiben: in unserer Art zu leben, zu arbeiten, zu konsumieren, in Technologien, Institutionen und Praktiken .
Das, meine Damen und Herren, ist ein klares Bekenntnis
zu einem sozialen, ökologischen und wirtschaftlich verKatrin Göring-Eckardt
nünftigen Fortschritt . Ich als Sozialdemokrat freue mich
über dieses Bekenntnis .
({3})
Und nun, liebe Kolleginnen und Kollegen hier im Parlament, sind wir dran . Die Regierung hat ordentlich vorgelegt . Nun müssen wir nachlegen . Ziele und Indikatoren
sind das eine; aber die Ziele müssen natürlich mit guter
Politik, mit Leben gefüllt werden . Das ist unser Job . Es
braucht engagierte und progressive Politik, um engagierte und progressive Ziele zu erreichen .
({4})
Hier stehen jetzt alle, die bisher Nachhaltigkeit für sich
proklamiert haben, auch in der Verpflichtung. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist an uns .
Die Vereinten Nationen haben mit den globalen Nachhaltigkeitszielen einen großen, einen historischen Schritt
getan . Die Bundesregierung hat mit ihrer Strategie nachgezogen . Und jetzt ist es an der Zeit für dieses Parlament,
dass auch wir einen großen Schritt wagen . Es ist an der
Zeit, dass wir Nachhaltigkeit im Grundgesetz verankern .
({5})
Der Parlamentarische Beirat für nachhaltige Entwicklung und der Rat für Nachhaltige Entwicklung haben
hier gemeinsam gute Vorarbeit geleistet . Große Köpfe wie Klaus Töpfer, Gesine Schwan, Ernst Ulrich von
Weizsäcker sowie Hans-Jürgen Papier sind mit uns der
Auffassung: Nachhaltigkeit gehört ins Grundgesetz. Es
ist an der Zeit . Wer es wirklich ernst meint mit der Bekämpfung von Armut und Ungleichheit, mit der Bewahrung der Schöpfung und mit einem wirklich nachhaltigen
Wachstum, das auch die künftigen Generationen im Blick
hat, der sollte vor diesem Schritt nicht zurückschrecken .
Ich rufe Ihnen zu, liebe Kolleginnen und Kollegen von
der Union und auch von den Grünen: Geben Sie Ihr Zögern auf! Verstecken Sie sich nicht länger hinter verfahrenstaktischen Scheinargumenten! Es geht um Größeres!
Wir alle führen in Sonntagsreden das Wort „Nachhaltigkeit“ im Mund . Nun ist es an der Zeit, zu liefern . Das
wäre ein großer Schritt des deutschen Parlaments . Wann,
wenn nicht jetzt, meine Damen und Herren?
({6})
Als Nächste spricht die Kollegin Birgit Menz für die
Fraktion Die Linke .
({0})
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Liebe
Gäste! Katja Kipping hat es schon deutlich gemacht: Wir
sehen die Strategie mehr als kritisch, und wir haben allen
Grund dazu . Seit sich die Staats- und Regierungschefs
bei den Vereinten Nationen mit der Agenda 2030 auf
nichts weniger als auf eine Transformation unserer Welt
verständigt haben, ist nun über ein Jahr vergangen .
Dass die Aushandlung einer Strategie viel Zeit braucht
und dass dabei jeder Kompromisse machen muss, ist
klar . Aber Sie hatten seit 2015 Zeit, konkrete Politik zu
machen, die zumindest erste Schritte in die richtige Richtung macht .
Aber was haben Sie in dieser Zeit getan? Sie haben
einen Nationalen Aktionsplan „Wirtschaft und Menschenrechte“ verabschiedet, mit dem die Bundesregierung weiter auf Freiwilligkeit setzt, statt endlich verbindliche Regeln für deutsche Unternehmen und Konzerne
einzuführen, die sich an Landraub beteiligen oder durch
Raubbau an der Natur die Existenzgrundlage lokaler und
regionaler Ökonomien zerstören .
({0})
Sie halten weiter an Verhandlungen über neoliberale
Konzernschutzabkommen fest, trotz massiver Proteste
der Menschen gegen TTIP und CETA . Diese Aktivitäten, die dem Ziel der Agenda 2030 klar entgegenstehen,
finden sich nun in der Strategie wieder, mit der Sie die
Umsetzung der SDGs erreichen wollen . Verzeihen Sie,
wenn uns da Zweifel an der Ernsthaftigkeit dieser Strategie kommen .
({1})
Die Bundesregierung schätzt die Herausforderung,
vor der wir stehen, durchaus richtig ein . Es geht in der
Tat darum, umfassende, beschleunigte Veränderungen
in Wirtschaft und Gesellschaft einzuleiten und voranzutreiben . Aber woran es dieser Strategie fehlt, ist eine
kritische Ursachenanalyse, die die bisherige neoliberale
Politik der Bundesrepublik und der EU als Teil des Problems versteht .
Diese Ursachenanalyse nachzuholen, fordert die Linke in ihrem Entschließungsantrag zur Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie . Denn nur auf der Grundlage einer
ehrlichen Ursachenanalyse ist es möglich, sinnvolle Ziele zu setzen und wirksame Maßnahmen zu ergreifen, um
die Ziele auch wirklich zu erreichen .
Die Linke hat sich über den gesamten Post-2015-Prozess immer wieder mit Anträgen dafür eingesetzt, die
verfehlte Politik der Industrieländer, auch Deutschlands,
in den Bereichen der Agrar-, Wirtschafts- und Handelspolitik klar als Ursachen von Hunger, Armut und Ungleichheit zu benennen . Deutsche Politik muss Verantwortung dafür übernehmen, welche Auswirkungen unser
Handeln für die Chancen auf eine sozial gerechte und
ökologisch verträgliche Entwicklung weltweit hat .
({2})
Die Nachhaltigkeitsstrategie muss diese internationale
Verantwortung als Aufgabe aller Politikbereiche definieren . Die Linke hat dazu konkrete Forderungen vorgelegt: Nachhaltigkeitsklauseln statt Liberalisierungsverpflichtungen in Handelsabkommen, Besteuerung von
Spitzeneinkommen und Vermögen, Aufbau von sozialen
Sicherungssystemen und Mindestlöhnen, Transaktionsteuern, Verbot von Spekulationen mit Nahrungsmitteln, eine internationale Bekämpfung von Steuerflucht
und -vermeidung, eine Kartellbehörde zur Entflechtung
marktbeherrschender globaler Unternehmen, Abbau von
Rüstungsetats und eine Umwidmung der freiwerdenden
Mittel für die Entwicklungsfinanzierung, um nur ein paar
Punkte zu nennen .
Sie haben sich entschieden, all diese strukturellen Fragen nicht in die Strategie einfließen zu lassen. Stattdessen diskutieren Sie, nur ein paar Monate nachdem Ihre
Strategie zur Umsetzung der SDGs verabschiedet wurde,
über eine drastische Erhöhung des Verteidigungshaushaltes .
({3})
Das zeigt: Sie sprechen von Transformation und globaler Verantwortung, aber eine entsprechende Politik
machen Sie nicht .
({4})
Durch Ihre Politik wird dem Begriff „Transformation“
das gleiche Schicksal widerfahren wie dem der „Nachhaltigkeit“, nämlich dass er verbrannt wird, weil sich ihn
alle aneignen wollen, ohne damit inhaltliche Konsequenzen zu verbinden . Aber Nachhaltigkeit verlangt die Systemfrage . Transformation anerkennen muss heißen, eine
andere, eine sozial ökologische Politik zu machen .
Vielen Dank .
({5})
Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege
Dr . Andreas Lenz .
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Agenda 2030 der Vereinten Nationen ist ein wichtiger Schritt
auf dem Weg zu einer nachhaltigen, einer nachhaltigeren
Welt . Es geht um nicht weniger als das Ziel eines Lebens in Würde für alle Menschen auf dieser Erde, und
dies unter Wahrung der planetaren Grenzen . Deutschland
hat sich unter der Bundesregierung das Ziel gesetzt, eine
führende Rolle bei der Transformation der Weltgemeinschaft hin zu mehr Nachhaltigkeit einzunehmen . Ich will
betonen, dass Nachhaltigkeit national mit Bundesminister Peter Altmaier und international mit Bundesminister
Gerd Müller - beide sind anwesend - in Verbindung gebracht wird . Dafür herzlichen Dank .
({0})
Die Nachhaltigkeitsstrategie stellt eine ehrliche Bestandsaufnahme dar . Wir haben schon die Symbolik von
Sonne und Wolken vernommen . Ich denke, dass die Darstellung die Beschreibung „heiter bis wolkig“ verdient .
Das Erreichte wird berücksichtigt und gewürdigt . Trotzdem werden ambitionierte Ziele für die Zukunft gesetzt .
Unsere Nachhaltigkeitspolitik wird in vielerlei Hinsicht
anspruchsvoller, zum einen, weil die Zahl der Nachhaltigkeitsindikatoren von 38 auf nunmehr 63 steigt, und
zum anderen, weil die Nachhaltigkeitsstrategie dynamisch und zukunftsoffen angelegt ist. Bereits 2018 werden die Indikatoren fortgeschrieben .
Wenn es um die Beurteilung der Strategie geht, ist mir
eines in Erinnerung geblieben . Die grüne Obfrau Valerie
Wilms hat in dieser Woche gesagt, wir seien bei der
Nachhaltigkeitsstrategie einen wichtigen Schritt vorangekommen und es sei eine passable Nachhaltigkeitsstrategie geworden . Wer Frau Wilms kennt, weiß, dass das
in ihrem Vokabular fast einem Superlativ gleichkommt .
An dieser Stelle ganz herzlichen Dank für das Lob der
Grünen .
({1})
Das zeigt aber auch, dass Nachhaltigkeitspolitik keine
Erfindung der Grünen ist.
Wir als größtes und wirtschaftlich stärkstes Land der
Europäischen Union gehen bei der Nachhaltigkeit voran
und werden natürlich weiterhin Vorbild sein . Das zeigt
sich bei zahlreichen Einzelbeispielen: bei der Etablierung des Textilsiegels und der Fortschreibung des Ressourceneffizienzprogramms, aber auch bei den Anstrengungen hinsichtlich einer höheren Transparenz bei den
internationalen Lieferketten . Deutschland betreibt eine
Nachhaltigkeitspolitik mit globalem Anspruch . Die Welt
rückt zusammen . Was in Deutschland geschieht, hat unmittelbare Auswirkungen auf die Welt, und andersherum .
Deshalb ist es richtig, dass die Nachhaltigkeitsstrategie
verstärkt eine globale Perspektive einnimmt .
Die Nachhaltigkeitsstrategie geht in diesem Kontext
in einem Beispiel auf die nationale, die europäische und
die globale Dimension von Flucht ein . Erst wenn wir es
schaffen, auch in den Herkunftsländern eine nachhaltige
Entwicklung zu ermöglichen, leisten wir einen effektiven
Beitrag zur Bekämpfung der Fluchtursachen . Das zeigt,
was es bedeutet, die Agenda in den einzelnen Zielen in
Deutschland, mit Deutschland und durch Deutschland
voranzubringen . Frau Göring-Eckardt, nachhaltige Politik ist mehr als tagespolitischer Aktionismus .
({2})
Nachhaltigkeit ist nach wie vor Chefsache im Kanzleramt . Zukünftig werden in allen Ressorts Stellen für
Nachhaltigkeitskoordinatoren eingerichtet . Das Thema
Nachhaltigkeit bekommt so auch in den einzelnen Ressorts ein höheres Gewicht. Dabei werden Zielkonflikte
um den Begriff der Nachhaltigkeit bestehen bleiben.
Wenn ich mir die Strategie genau anschaue, dann stelle
ich fest, dass beispielsweise einerseits der Besitz eines
Farbfernsehers als Wohlstandsindikator gilt - zu Recht und dass andererseits die Bekämpfung von Adipositas,
von starkem Übergewicht, als Gesundheitsziel aufgeführt
wird . Da stellt sich schon die Frage, ob hier nicht gewisse Kreuzkorrelationen bestehen, die den Zielen vielleicht
zuwiderlaufen . Aber das ist nur ein kleines Beispiel dafür, welches Ringen um den Begriff der Nachhaltigkeit
zuweilen notwendig ist .
Der Parlamentarische Beirat für nachhaltige Entwicklung wird die Umsetzung der Nachhaltigkeitsstrategie
intensiv begleiten und bei der Weiterentwicklung mitwirken . Wir wollen, dass dieses Thema Ausgangspunkt politischen Handelns wird und nicht Anhang . Mit der neuen
Nachhaltigkeitsstrategie ist ein Aufschlag gemacht, die
planetaren Grenzen im politischen Handeln zu berücksichtigen und damit die Zukunftsfähigkeit unseres Landes insgesamt zu stärken . Jetzt gilt es, das Ganze politisch zu unterfüttern .
Herzlichen Dank .
({3})
Das Wort hat die Kollegin Dr . Valerie Wilms von der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Gestern haben wir viel Seegang gemacht, heute lassen wir es ein bisschen ruhiger
angehen .
({0})
Die Nachhaltigkeitsstrategie, Kollege Lenz, ist eine
rot-grüne Erfindung - immer daran denken! Das war
2003/2004 .
({1})
Sie ist eines der wenigen Dinge, die unter der jetzigen
Koalition tatsächlich besser geworden sind . Auch Herr
Altmaier - Sie verstecken sich - und Herr Bauernfeind,
der die praktische Arbeit im Hintergrund macht, sind
hier . Herzlichen Dank .
Sicherlich kann und sollte man weiterhin inhaltlich
streiten . Auch ich bin nicht mit allen Maßnahmen und
inhaltlichen Beschreibungen einverstanden . Aber durch
die strukturellen Veränderungen in der Strategie kann
man jetzt genau sehen, wo wirkliche Anstrengungen unternommen werden und wo eben nicht . Deshalb rate ich
den Kolleginnen und Kollegen: Schaut in die Strategie,
nutzt sie für eure Arbeit! Dafür ist sie da . Nur so können
wir gemeinsam ihre Umsetzung vorantreiben .
({2})
Kollege Träger, den Streit ums Grundgesetz sollten
diejenigen, die in der nächsten Wahlperiode noch dabei
sind, weiterführen,
({3})
aber darauf kommt es nicht an . Es kommt darauf an, aus
dem Ding, wie es jetzt da ist, etwas zu machen . Dafür
brauchen wir keinen Eingriff ins Grundgesetz.
({4})
Im Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung begleiten wir die Fortentwicklung der Nachhaltigkeitsstrategie kontinuierlich - Herr Altmaier und auch
andere Kollegen haben es angesprochen -, und wir tun
dies mit einer Herangehensweise, die in unserem Hohen
Hause keineswegs üblich ist . Wir sind kein klassischer
Ausschuss, und das ist auch gut so . Die Punkte, auf die
wir uns einigen, müssen nämlich langfristig Bestand
haben und dürfen nicht alle vier Jahre hier umgeändert
werden .
Deshalb treffen wir unsere Entscheidungen möglichst
im Konsens . Das ist manchmal mühselig - das gebe ich
zu - und führt auch nicht zur Durchsetzung von Maximalforderungen . Das ist aber auch nicht das Ziel . Wir suchen den größten gemeinsamen politischen Nenner, und
der ist manchmal kleiner als erhofft, manchmal aber auch
größer .
Im Nachhaltigkeitsbeirat wollen wir Nachhaltigkeit
stärken . Deshalb schauen wir nach vorne und vermeiden
es, uns in rituellen Koalitions-Oppositions-Hakeleien zu
verlieren . Das gelingt manchmal besser und manchmal
etwas schlechter .
({5})
Diese Woche hatten wir ein etwas schlechteres Beispiel .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, von unserer Seite
aus hätten wir oft gerne ein Mehr an Nachhaltigkeit . Das
sieht man durchaus an unserer grünen inhaltlichen Arbeit . Auch möchten wir Nachhaltigkeitsaspekte im politischen Prozess stärker verankern . Da gibt es nach unserer
Ansicht durchaus einige Ansatzpunkte . Diese haben wir
in unserem Antrag zur Stärkung von Nachhaltigkeit im
politischen Prozess aufgeschrieben .
Erfolgreiche nachhaltige Politik braucht meines Erachtens zwei Dinge . Wir sprechen auch im Nachhaltigkeitsbeirat zu oft nur mit Gleichgesinnten . In der Echokammer der Nachhaltigkeit sind sich dann alle einig . Das
reicht aber nicht . Wir müssen raus aus dieser Echokammer .
({6})
Dafür ist die heutige Debatte schon mal ein ganz guter
Anfang .
Wir haben zur Umsetzung nachhaltiger Politik die
Nachhaltigkeitsstrategie . Sie ist sogar eine Leitstrategie
der Bundesregierung, Herr Altmaier . Nur, was passiert,
wenn diese von einzelnen Ressorts nicht umgesetzt wird?
Ich habe da schon einmal nachgefragt: Nichts, gar nichts!
({7})
So wird das nichts werden, Kollegen . Es muss auch
einmal etwas passieren, wenn nicht nachhaltige Politik
gemacht wird . Im Moment ist es doch so: Wir haben
verdammt viel Zuckerbrot, aber die Peitsche, die gegebenenfalls aus dem Kanzleramt kommen müsste, suchen
wir vergebens .
({8})
Nur so könnten wir in Zukunft Wahlkreisbeglückungen
zum Beispiel mit unnötigen Ortsumgehungen verhinDr. Andreas Lenz
dern . Das hat dieses Mal beim Bundesverkehrswegeplan
wieder nicht funktioniert .
Mein Fazit: Schön und hilfreich, dass es diese Strategie gibt . Zum ersten Mal hat die Bundesregierung eine
Nachhaltigkeitsstrategie vorgelegt, die diesen Namen
auch verdient . Noch schöner wäre allerdings, sie würde
auch wirklich umgesetzt . Herr Altmaier, da gehen Sie
wirklich einmal intensiv heran .
({9})
Ziehen Sie einmal die Peitsche .
Danke .
({10})
Wir alle hier sind für gewaltfreie Politik .
({0})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Jeannine Pflugradt
für die SPD .
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Werte Gäste! Nach Frau Wilms zu sprechen,
ist schwierig . Meine Rede wird bestimmt nicht so stimmungsvoll, aber vom Inhalt her auch sehr interessant .
({0})
In Südamerika gibt es einen See, dessen Namensgebung auf Vertreter der indianischen Kultur zurückgeht .
Sinngemäß übersetzt lautet der Name: Wir fischen auf
unserer Seite, ihr fischt auf eurer Seite, und niemand
fischt in der Mitte. - Dahinter steckt eine Erkenntnis:
Wenn alle auf allen Seiten fischen und versuchen, möglichst viel für sich selbst zu sichern, bleibt am Ende für
niemanden etwas . Nachhaltiges Handeln als Fähigkeit,
vorauszublicken und vorzusorgen, ist alt . Nachhaltigkeit
war und ist eine Überlebensstrategie, die mittlerweile
eine globale Dimension angenommen hat .
Die im September 2015 in New York verabschiedete
Agenda 2030 der Vereinten Nationen hat gezeigt, dass
die Erkenntnis der globalen Bedeutung von Nachhaltigkeit bei den Staatenlenkern angekommen ist . Die globalen Herausforderungen lassen sich nur gemeinsam bewältigen . Das Leitprinzip der nachhaltigen Entwicklung
muss konsequent und in allen Bereichen und in allen
Staaten angewandt werden . Uns allen muss bewusst sein,
dass unser Verhalten auf ökonomischer, sozialer sowie
ökologischer Ebene Auswirkungen auf unsere Kinder,
Enkelkinder sowie auf das gesamte Ökosystem unseres
Planeten hat .
Als Berichterstatterin meiner Fraktion zum Thema
„gesunde Ernährung“ möchte ich einen kurzen Blick
auf ebendieses Thema in der Nachhaltigkeitsstrategie
richten . Ernährung ist ein Menschenrecht . Deshalb haben nicht nur die Beendigung des weltweiten Hungers,
sondern auch die Verringerung der Adipositasquote von
Jugendlichen und Erwachsenen als Ziele Einzug in unsere nationale Nachhaltigkeitsstrategie gefunden . Auch
wenn Sie es nicht mehr hören können, liebe Kolleginnen
und Kollegen: Lebenswichtig bleibt dieses Thema allemal . Es bleibt Thema Nummer eins für Nachhaltigkeit im
Bereich Gesundheit oder - nennen wir es lieber so - im
Bereich „länger leben“ .
Übergewichtige und fettleibige Jugendliche sind häufig mit Ausgrenzung und sozialem Rückzug konfrontiert,
Erwachsene sehr oft ebenfalls mit gesundheitlichen Auswirkungen, zum Beispiel mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes oder Gelenkschäden . Hier ist das Ziel der
Nachhaltigkeitsstrategie klar definiert: Der Anteil der betroffenen Jugendlichen darf nicht weiter ansteigen, und
der Anteil der betroffenen Erwachsenen muss reduziert
werden .
Um die Dimension der Problematik einmal zu verdeutlichen: Circa 10 Prozent der Jugendlichen in Deutschland
werden als adipös eingestuft - Tendenz steigend . Bei den
Erwachsenen über 18 Jahren in unserer Bevölkerung
gelten fast 35 Prozent als übergewichtig - Tendenz steigend . Wen wundert’s?! Der Grund für diesen Befund: die
Zunahme von ungesundem Ernährungsverhalten gepaart
mit mangelnder Bewegung .
Man kann die Menschen nicht zwingen . Das ist richtig, und das wollen wir auch nicht als Politik . Deshalb
muss das Ziel auf nationaler Ebene aber sein, das Wissen über Ernährung und Ernährungsstile zu verbessern
und Verbraucherinnen und Verbrauchern die Wahl eines
gesünderen, ausgewogenen Ernährungsverhaltens zu erleichtern .
Um den Menschen einen gesunden Lebensstil näherzubringen, wurden bereits zahlreiche Maßnahmen umgesetzt, und viele stehen noch in den Startblöcken . Das
reicht allerdings nicht aus . Meines Erachtens brauchen
wir eine bessere Kennzeichnung von Lebensmitteln, die
es uns Verbraucherinnen und Verbrauchern auch ohne
Pharmaziestudium und Lupe ermöglicht, zu erkennen,
welche Nährstoffe in einem Produkt enthalten sind, das
unsere Verbraucher und Bürger und wir selber auch kaufen wollen .
({1})
Zum Abschluss noch einen Satz zum Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung; einiges ist
schon gesagt worden . In den vergangenen dreieinhalb
Jahren hat sich das Prinzip der gemeinsamen Arbeit im
Beirat als sehr fruchtbar erwiesen . Wünschenswert für
die Zukunft wäre es jedoch, wenn der Beirat nicht nur
kontrollierende, sondern darüber hinausgehende Kompetenzen hätte .
({2})
Mit mehr Kompetenzen als bisher würde es künftig
vielleicht auch gelingen, gemeinsam erarbeitete und vorangetriebene Projekte, zum Beispiel die erwähnte und
leider gescheiterte Verankerung der Nachhaltigkeit im
Grundgesetz, zu einem Erfolg zu führen . Wenn wir beim
Grundgesetz sind, nehmen wir die Kinderrechte gleich
noch mit dazu; dann haben wir schon ganz viel erreicht .
({3})
Ganz kurz noch Folgendes: Frau Kipping und Frau
Göring-Eckardt, so schwarz, wie Sie Deutschland und die
Nachhaltigkeitspolitik malen, so schwarz ist Deutschland
in der Nachhaltigkeit nicht . Sie als Opposition müssen
das wahrscheinlich sagen; das gehört wahrscheinlich zu
Ihrer Rolle dazu . Aber man kann auch als Opposition mal
loben - das fände ich gut - und darf nicht nur meckern .
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit . Ein schönes
Wochenende!
({4})
Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Matern
von Marschall .
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
glaube, es ist sehr Wichtiges gesagt worden . Die Arbeit
im Parlamentarischen Beirat ist gerade nicht von parteipolitischer Polemik geprägt . Diese Polemik ist hier von
denjenigen in die Diskussion gebracht worden, die nicht
Mitglieder in diesem Beirat sind .
({0})
Kollegin Wilms, ich glaube, das, was Sie ausgeführt
haben, hat sich auch - so habe ich das jedenfalls interpretiert - an die Kollegin Göring-Eckardt gerichtet . Verehrte Kollegin Göring-Eckardt, Ihre Kritik auch an der
Entwicklungszusammenarbeit hat mir gezeigt, dass Sie
überhaupt nicht wahrgenommen haben, was sich dort in
der letzten Dekade getan hat . Es gab eine Verdopplung
des Etats .
({1})
Wir haben - das ist der wesentliche Ansatz, dem die Politik im Augenblick folgt - auch die Mittel zur Klimaschutzfinanzierung über das BMZ - mittlerweile 2 Milliarden Euro - verdoppelt .
({2})
- Frau Göring-Eckardt, ich glaube nicht, dass Sie, wenn
Sie diese Dinge bewusst übersehen, Ihrer Fraktion und
Ihrer Partei einen Gefallen tun . Insofern fände ich es
schon ganz hilfreich, Sie würden zumindest die Anstrengungen zur Kenntnis nehmen, die da unternommen werden, insbesondere auch von Bundesminister Müller mit
dem, was er - ich bin ganz dankbar, dass der Name so
lautet - „Marschallplan mit Afrika“ nennt .
({3})
Er setzt sehr wichtige Akzente, um bei der Migrationskrise, in der sich diese Welt befindet, die wesentlichen und
richtigen Schritte zu machen .
({4})
- Ich würde mich freuen, Sie würden mir noch einen
Moment zuhören . - Ich glaube, dass die Nachhaltigkeitsagenda die parteipolitische Polemik, die Sie hier aufrufen, überhaupt nicht verdient .
({5})
- Es ist bei Ihnen genauso .
Wir versuchen, drei Kapitel auszubalancieren: eine
vernünftige wirtschaftliche Entwicklung, eine angemessene gesellschaftliche Entwicklung und eine gute ökologische Entwicklung. Ich finde, jeder von uns - übrigens
je nachdem, welche parteipolitische Perspektive und
welchen Schwerpunkt seine Fraktion, seine Partei diesbezüglich hat - sollte versuchen, die Perspektive gerade
derjenigen Bereiche in der Ausbalancierung der Nachhaltigkeitsaspekte zu betrachten, die er sich ungern zu
eigen macht .
({6})
Schauen wir nach Afrika . Natürlich ist vor allen Dingen wichtig, dass die Menschen dort Jobs bekommen .
Sie können nämlich überhaupt erst leben, wenn sie Arbeit haben . Das ist genau das, was wir zum Beispiel mit
den Initiativen des BMZ dort voranbringen . Schauen
wir nach Nordafrika, schauen wir in den Maghreb . Dort
betreiben wir Klimaschutzfinanzierung. Dort sind die
weltgrößten Photovoltaik- oder, besser gesagt, Thermosolarkraftwerke installiert worden: mit einer Finanzierung durch die KfW . Das sind Investitionen, die nicht
nur unserer Wirtschaft, etwa Siemens oder denjenigen,
die die Parabolspiegel für die Solaranlagen herstellen,
etwas bringen, sondern die auch dort Jobs bringen, die
auch dort eine nachhaltige Entwicklung ermöglichen und
die dann die Lebensgrundlage der Menschen wirklich gut
und langfristig sichern . Die Menschen sind so nicht gezwungen, den Weg über das Mittelmeer zu nehmen und
Geld in die Geldbeutel der Schlepperbanden zu werfen,
um hier eine Zukunft zu suchen, die sie hier gar nicht
finden können.
Das ist unser Ansatz . Ich glaube, dieser Ansatz ist verantwortlich, er ist umfassend, und er ist vor allen Dingen
auch kohärent . Wir schauen uns nämlich jedes Politikressort an . Wir schauen uns nicht nur die Ökologie an,
sondern wir schauen uns auch die Wirtschaft und die
Gesellschaft an . Wir versuchen, über den Tellerrand hinauszuschauen, und das ist, glaube ich, ganz wichtig in
Zeiten, in denen Vereinfachungsthesen in vielen Ländern
die Diskussionen bestimmen und es Rückzugsgefechte in
die scheinbar heile Welt nationaler Politik gibt . In dieser
Zeit versuchen wir, genau das Gegenteil zu machen . Wir
sagen: Wir können nur vorankommen, wenn wir über unseren Tellerrand hinausschauen, wenn wir nicht nur die
nationale, sondern auch die internationale Verantwortung
wahrnehmen und wenn wir auf diesem Weg dazu beitragen, dass die Globalisierung zukunftsfähig, langfristig,
tragfähig und verantwortungsvoll gestaltet wird .
Das ist unser Ansatz, und das ist der Ansatz, der ganz
deutlich aus den Prinzipien der neuen nationalen Nachhaltigkeitsstrategie hervorgeht . Deswegen bin ich Ihnen,
lieber Herr Altmaier, lieber Herr Bauernfeind und all
denjenigen, die daran in den letzten Monaten viel und
erfolgreich gearbeitet haben, sehr dankbar .
Zum Abschluss . Ich glaube schon, dass der Parlamentarische Beirat eine wichtigere und eine hörbarere Rolle
bekommen muss . Wir sollten darüber nachdenken, wie
wir in allen Debatten auch anderer Ausschüsse, in denen
Nachhaltigkeit eine Rolle spielt, mindestens eine Stimme aus dem Parlamentarischen Beirat für Nachhaltigkeit
hören können, damit dieser umfassende, kohärente und
letzten Endes über die Ressortgrenzen hinausgehende
Aspekt der Nachhaltigkeit akzentuiert und auch sichtbar und hörbar wird. Wir sind es auch der Öffentlichkeit
schuldig, diese Debatte nach außen zu tragen .
({7})
Der Kollege Christoph Strässer spricht als Nächster
für die SPD .
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
glaube, zumindest eines ist in der Debatte, die wir heute
führen, deutlich geworden: Das, was wir mit der Nachhaltigkeitsstrategie betreiben, ist ein Prozess . Ich habe
ein Stück weit die Debatten im Rahmen der Vereinten
Nationen zur Verabschiedung der SDGs erlebt . Das war
ein unglaublich mühsames Verfahren. Ich finde, das, was
dabei herausgekommen ist, war ein Paradigmenwechsel
in der internationalen Zusammenarbeit . Daran haben
viele mitgearbeitet, und niemanden von ihnen sollten wir
enttäuschen, aber bei niemandem sollten wir die Erwartung wecken, dass all das, was dort niedergeschrieben ist,
bis übermorgen verwirklicht ist . Ich glaube, das ist ein
Ansatz, mit dem wir uns auseinandersetzen müssen .
({0})
Insofern bin ich der Bundesregierung dankbar, dass
sie diesen Prozess auf den Weg gebracht hat . Ich möchte noch etwas zu diesem Prozess sagen . Wir reden jetzt
hier ganz viel über Regierungshandeln . Wir reden über
parlamentarische Beteiligung, und ich sage einmal unabgesprochen: Ich bin als neues Mitglied im Parlamentarischen Beirat der Auffassung, dass dieser Beirat auch
eine deutlich hörbarere Stimme im Verfahren gewinnen
muss, wie auch immer das in der nächsten Legislaturperiode, vielleicht durch eine Änderung der Geschäftsordnung, möglich ist . Man sollte jedenfalls dafür werben;
denn Nachhaltigkeit ist nichts, was man nur begleitet .
Vielmehr müssen diejenigen, die sich generell mit Nachhaltigkeit beschäftigen, auch etwas zu entscheiden und
mehr zu sagen haben als bisher, und daran sollte man gemeinsam arbeiten .
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mir ist eines noch
ganz wichtig, und daher finde ich es gut, dass wir dies
in diesem Rahmen diskutieren können: Es ist gut, dass
sich durch die SDGs auch im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit ein Paradigmenwechsel vollzogen hat,
nämlich weg davon, dass wir die Geber sind und dass die
Staaten des globalen Südens - der Dritten Welt dürfen
wir ja nicht mehr sagen - sozusagen die Bettler sind, denen wir etwas gewähren . Dazu würde ich gerne ein paar
Sätze sagen .
Es ist heute schon mehrfach angesprochen worden:
Die Menschen, die in diesen Ländern leben, haben sich
bei der Geburt nicht ausgesucht, in welchem Land sie
geboren werden . Sie haben genauso das Recht, so zu leben, dass sie ihre Menschenwürde behalten . Das ist eine
Erfüllung der Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen .
({2})
Ich glaube, das ist der Kern der Auseinandersetzung,
um den wir uns jetzt streiten müssen . In dem Prozess,
den wir begonnen haben, steckt eine ganze Menge . Dieser inklusive Prozess, der unter sehr breiter Beteiligung
der Zivilgesellschaft, unter anderem von VENRO und
anderen Entwicklungsorganisationen, stattgefunden hat,
war beispielhaft . Natürlich - das kann ja gar nicht ausbleiben, das kenne ich auch aus anderen Diskussionsprozessen; der Nationale Aktionsplan „Wirtschaft und Menschenrechte“ ist schon angesprochen worden - findet
sich Zivilgesellschaft nicht eins zu eins in einem Papier
der Bundesregierung und auch der Parlamente wieder .
Ich glaube aber schon, dass man daraus lernen kann, wie
man gesellschaftliche Prozesse organisiert . Man sollte
diejenigen, die Fachwissen haben, die vor Ort arbeiten,
nicht außen vor lassen und sagen: Wir sind hier diejenigen, die das machen, und ihr könnt hinterher zustimmen
oder nicht . - Ich glaube, dieser Prozess war bemerkenswert, auch wenn vieles von dem, was die Organisationen
gefordert haben, jetzt nicht mehr in den Papieren drinsteht .
Meine Damen und Herren, ich möchte noch zwei kritische Punkte ansprechen . Wenn von einem Prozess die
Rede ist, dann heißt das ja auch, dass es weitergeht . Diese
kritischen Punkte beziehen sich auf einige der SDGs, die
wir hier angesprochen haben . Der erste Punkt ist die Armutsbekämpfung . Ich sehe das nicht so kritisch wie Sie
von der Linkspartei . Der Nationale Aktionsplan „Wirtschaft und Menschenrechte“ bringt massive Fortschritte . Er ist nicht das Ende der Fahnenstange . Aber wenn
wir Armut bekämpfen wollen, dann brauchen wir faire,
transparente Handelsbeziehungen, die auch die Menschen und die Staaten, mit denen wir den Handel treiben,
unterstützen und die nicht ausschließlich auf die eigene
ökonomische Situation und auf die Verbesserung unserer
Standards ausgerichtet sind . Ich glaube, da muss nachgebessert werden in diesem Nationalen Aktionsplan „Wirtschaft und Menschenrechte“ .
({3})
Der zweite Punkt, der mir seit ungefähr 40 Jahren
auf der Seele brennt - das muss ich jetzt einmal sagen;
da war ich noch Mitglied der FDP -, ist die Erfüllung
der sogenannten ODA-Quote . Sie steht ja auch in Ihrem
Strategiepapier . Liebe Kolleginnen und Kollegen, vor
40 Jahren haben wir in Deutschland im Konsens gesagt:
Wir brauchen 0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts,
um unsere Verpflichtung in der internationalen Entwicklungszusammenarbeit zu erfüllen . - Diese Quote ist jetzt
etwas angestiegen . Wir wissen aber auch, dass das im
nächsten Jahr wieder anders sein wird, weil dann die einmaligen Kosten für die Unterbringung von Flüchtlingen
nicht mehr eingerechnet werden . In dieser Strategie ist
als Zeitpunkt für die Erreichung dieses Ziels nicht mehr
das Jahr 2020, sondern das Jahr 2030 angegeben . Meine
Damen und Herren, das ist eine Bankrotterklärung, was
die ODA-Quote angeht . Da muss deutlich nachgebessert
werden . Da müssen wir etwas anderes erreichen .
Herzlichen Dank .
({4})
Zum Abschluss hat in dieser Aussprache für die CDU/
CSU der Kollege Peter Stein das Wort .
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nachhaltigkeit ist
ein wunderbares Gesetz der Schöpfung . Um etwa 1000
vor Christus entstand unter König David ein Großstaat .
Das Land wurde ausgebaut, Städte wurden befestigt . Besonders in der Hauptstadt Jerusalem boomte das Bauen .
Dazu brauchte man viel Holz, mehr als das eigene Land
liefern konnte. Dieses Holz schafften Phönizier aus dem
Libanon und aus Persien gegen gute Bezahlung heran .
Das Ganze war also ein Jobmotor . In der Glanzzeit Israels unter König Salomo erreichte dieser Bauboom seinen
Höhepunkt. Das ganze florierende Land brauchte Massen
an Holz als Rohstoff. Diese Nutzung dauerte Jahrhunderte an . Die Bestände der Libanon-Zeder wurden fast bis
zur Ausrottung geplündert . Nachhaltig war das nicht .
Daraus wurde gelernt: Jedes siebte Jahr begingen die
Juden später als sogenanntes Sabbatjahr, in dem nicht gesät und geerntet werden durfte . Das galt sowohl für die
Feldfrüchte als auch für die Früchte der Bäume . Damit
erhielten die Böden eine Regenerationspause, die ein
Auslaugen verhinderte, und Bäume konnten nachwachsen . Der Bibel verdanken wir auch den ersten schriftlichen Hinweis auf einen zur Aufsicht dieser Handlungsweise bestellten Förster . In Nehemia, Kapitel 2, Vers 8,
ist von Asaf als dem obersten Verwalter über die Wälder
des persischen Königs die Rede . Sicher ist heute überliefert, dass der Begriff der Nachhaltigkeit aus dem Forstwesen stammt . Die Bibel belegt uns an dieser Stelle diese uralten Wurzeln der Menschheit . Nun sind wir einige
Tausend Jahre später nicht viel klüger, obwohl wir mehr
wissen und andere Technologien haben . Das sollte uns
eigentlich helfen, derartige Fehler nicht wieder zu begehen .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und
Herren, heute reden wir über die Nachhaltigkeitsstrategie
der Bundesregierung . Diese baut auf den 17 Nachhaltigkeitszielen, den sogenannten SDGs, auf . Da steckt unglaublich viel Kraft drin . Ich glaube, es ist an uns, diese
Kraft auf die Straße zu bringen . Wir müssen den wissenschaftlichen Elfenbeinturm verlassen . Wir müssen den
Menschen erklären, was wir mit Nachhaltigkeit meinen .
Wir müssen sie mitnehmen und sie dafür begeistern, dass
das, was wir uns vorstellen und niedergeschrieben haben,
auch funktioniert .
({0})
Dafür brauchen wir eine Definition. Wir haben die
Definition der Brundtland-Kommission. Für mich muss
ich ehrlich sagen: Ich brauche keine fixe Definition von
Nachhaltigkeit . Ich denke, Nachhaltigkeit ist ein Prozess,
und die Definition ergibt sich aus dem Handeln. Dazu
gehört Teilhabe . Dazu gehört Verständnis . Dazu gehört,
dass wir diese Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung, die ja sagt, dass wir auf dem Weg in eine enkelgerechte Gesellschaft sind, tatsächlich in die nächste
Generation einbinden . Denn die kommende Generation
muss mit uns gemeinsam die nächste enkelgerechte Gesellschaft entwickeln .
Wir geben uns zu Beginn dieser Strategie Managementregeln . In der ersten Regel steht das, was ich gerade
beschrieben habe: Jede Generation muss ihre Aufgaben
selber erfüllen und selber lösen . In der zweiten Regel
heißt es bereits: Wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und
Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen müssen Hand
in Hand gehen . Weiter heißt es: Wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Kräfte sind zusammenzuführen . Das machen wir auch heute hier in der Debatte, und
dies muss als Signal nach draußen gehen: Wir sind dazu
bereit, nicht nur strategisch, sondern tatsächlich mit unserem gemeinsamen Handeln in Richtung Nachhaltigkeit
zu wirken .
({1})
Nachhaltigkeit und Bildung - diese beiden Begriffe
sind für mich eins . Allein schon im Kern dieser beiden
Begriffe steckt, dass es sich um die Aufgaben handelt, die
wir in die nächste Generation hineingeben . Dazu gehört
zuallererst, dass wir im Bereich der Bildung den Begriff
der Nachhaltigkeit vom Kindergarten über die Schulen,
die Hochschulen bis zum lebenslangen Lernen niemals
vergessen .
({2})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, 17 SDGs die Nachhaltigkeitsziele sind vereinbart, und zwar von
allen Staaten. Anders als offenbar die Führung in den
USA stehen wir zu den Vereinbarungen von New York
und Paris .
({3})
Wir haben die Klima- und Umweltschutzkanzlerin .
Wir stehen an der Seite der freien Welt und nicht an der
Seite der Dummheit . Wir wählen die Zukunft, nicht die
Ignoranz . Mister President: Mauern, die zwischen den
Menschen und der Erkenntnis stehen, können niemals
schöne Mauern sein . Ich sage: Mister Trump, tear down
this wall of ignorance!
Herzlichen Dank .
({4})
Damit schließe ich die Aussprache .
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/10910 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen . Der Entschließungs-
antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/11767
soll an dieselben Ausschüsse überwiesen werden . Sind
alle damit einverstanden? - Das ist der Fall . Dann sind
die Überweisungen so beschlossen .
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 35 a und 35 b
auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Harald Weinberg, Pia Zimmermann, Sabine
Zimmermann ({0}), weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE
Solidarische und gerechte Finanzierung von
Gesundheit und Pflege
Drucksache 18/11722
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({1})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Sechster Bericht über die Entwicklung der
Pflegeversicherung und den Stand der pflegerischen Versorgung in der Bundesrepublik
Deutschland
Drucksache 18/10707
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({2})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 60 Minuten vorgesehen . - Dazu besteht
allgemeines Einverständnis . Dann ist das so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache und erteile zu Beginn der
Debatte der Kollegin Sabine Zimmermann für die Fraktion Die Linke das Wort .
({3})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die gesetzliche Krankenversicherung arbeitet grundsätzlich nach
dem Solidarprinzip . Die große Mehrheit der Menschen
in der Bundesrepublik findet das gut; denn nur so kann
Gerechtigkeit stattfinden. Deshalb unterstützen wir dieses Prinzip . Wer viel verdient, zahlt mehr ein . Wer wenig
verdient, zahlt weniger . So muss es sein, entsprechend
dem Geldbeutel,
({0})
anders als es jetzt der Fall ist .
Im Krankheitsfall müssen alle Bürgerinnen und Bürger die ärztliche Behandlung bekommen, die für sie dringend notwendig ist .
({1})
Dieses Solidarprinzip in der Krankenversicherung steht
heute aber massiv unter Druck . Immer mehr Versicherte bekommen das auch zu spüren . Krankheit wird mehr
und mehr zu einem finanziellen Risiko. Politisch sind
die Weichen im Gesundheits- und Pflegebereich von den
letzten Regierungen immer mehr auf Wettbewerb und
Privatisierung gestellt worden: Privatisierung sowohl der
Gewinne als auch der gesundheitlichen Risiken . Das hat
die Zweiklassenmedizin weiter befördert, und das, meine Damen und Herren, kann so nicht sein . Damit muss
Schluss sein .
({2})
Ich sage Ihnen auch ganz deutlich: Die Entwicklung
der Pflegeversicherung wird immer unsozialer, und die
Bundesregierung unternimmt hier nichts .
({3})
Seit der Einführung der Pflegeversicherung wurden die
Leistungen nur unzureichend erhöht . Die Kosten steigen
von Jahr zu Jahr, die Leistungen der Pflegeversicherung
kaum .
({4})
Daran ändern auch Ihre Pflegestärkungsgesetze nichts.
Kollegin Rawert, ich muss Ihnen sagen: Die großen Themen sind Sie einfach nicht angegangen:
({5})
Den Pflegenotstand und auch die Teilkaskofinanzierung
sind Sie nicht angegangen .
({6})
Die Leute müssen immer mehr und mehr bezahlen und
können sich das einfach nicht mehr leisten .
({7})
Die Privatisierung fängt ja beim Nebeneinander von
privater und gesetzlicher Kranken- und Pflegeversicherung an; schon beginnt die Rosinenpickerei . Die hochrentablen privaten Versicherer nehmen natürlich die Jungen und die Besserverdienenden . Das führt dazu, dass
zum Beispiel die Rücklagen in der privaten Pflegeversicherung rund 30 Jahre reichen und die in der sozialen
Pflegeversicherung nicht einmal vier Monate. Das, meine Damen und Herren, ist doch nicht gerecht; das können
Sie doch wirklich nicht ernsthaft wollen .
({8})
Die Linke schlägt deshalb eine solidarische Gesundheits- und Pflegeversicherung vor. Was wollen wir?
Erstens: deutliche Leistungsverbesserungen bis hin
zur Pflegevollversicherung. Das bedeutet, alle im Pflegefall anfallenden Kosten müssen von der Pflegeversicherung übernommen werden .
({9})
Zweitens. Die solidarische Pflegeversicherung nach
unserem Konzept bezieht alle Einkommen gerecht ein,
und dadurch wird auch eine stabile und zukunftsfeste Finanzierungsgrundlage geschaffen. Das wäre wichtig.
Drittens . Zahlreiche internationale Studien belegen:
Je höher der Anteil von Pflegekräften, desto besser die
Pflege. Man sieht es am Zustand der Gepflegten: weniger
Wundliegen, bessere Ansprechbarkeit, weniger Psychopharmaka und andere Medikamente .
Viertens . Wir wollen eine gute Ausbildung, eine gute
Arbeit und eine gute Pflege durch die Pflegekräfte.
({10})
Wir wollen gutbezahlte Pflegekräfte, meine Damen und
Herren .
({11})
Auch die pflegenden Angehörigen müssen entlastet werden, und das machen Sie eben nicht . Sie müssen nämlich
bis zu 50 Prozent der Kosten selber tragen, und das ist
von den Menschen nicht mehr leistbar .
({12})
Fünftens wollen wir die unsäglichen Arbeitsbedingungen der Pflegekräfte verbessern. Wir fordern eine
verbindliche Personalbemessung . Das können Sie nicht
erst einmal mit einem Gutachten bis zum Jahre 2020 hinausschieben . Wir brauchen sie jetzt .
({13})
Zum Schluss möchte ich Ihnen sagen: Pflege und Gesundheit gehören in öffentliche Hand, sie müssen Bestandteil der öffentlichen Daseinsvorsorge sein. Das ist
unsere Forderung .
({14})
Meine Damen und Herren, ich finde es unverantwortlich, wie Sie hier in der Großen Koalition um die Berufsausbildung in der Pflege streiten. Es ist wirklich wahr:
Wir brauchen die Reform der Berufsausbildung jetzt .
({15})
Das können Sie nicht auf den Sankt-Nimmerleins-Tag hinausschieben . Sie können sich nicht einigen . Wir wollen
die integrierte Ausbildung - das ist bekannt, Verdi fordert
sie auch -, und damit wollen wir den Erhalt der Berufsstände . Das muss endlich kommen .
Hören Sie endlich auf, zu streiten . Tun Sie was! Unterstützen Sie deshalb unseren Antrag!
({16})
Nächster Redner für die CDU/CSU ist der Kollege
Erwin Rüddel .
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Wir haben jetzt hier gerade eine klassenkämpferische, ideologisch geprägte Darstellung gehört .
({0})
Ich danke der Bundesregierung, dass wir jetzt den
Sechsten Bericht über die Entwicklung der Pflegeversicherung und den Stand der pflegerischen Versorgung in
der Bundesrepublik Deutschland vorliegen haben .
({1})
Er zeigt, wie gut die Pflege in Deutschland ist und wie
gut die Arbeit ist, die wir in den zurückliegenden dreieinhalb Jahren in dieser Koalition geleistet haben . Da hilft
keine Ideologie . Wir beweisen das in der Praxis .
({2})
Der Pflegebericht zeigt unter anderem, dass die Leistungen der Pflegeversicherung durch das PflegestärSabine Zimmermann ({3})
kungsgesetz I deutlich ausgebaut und besser auf die Bedürfnisse der Betroffenen und Angehörigen ausgerichtet
wurden .
({4})
Was ganz wichtig ist: Anträge der Versicherten auf Leistungen werden von der Pflegekasse schneller bearbeitet.
Es ist auch eine spürbare Verbesserung bei der Qualifizierung und der Gewinnung von Pflegepersonal zu erkennen .
Die guten Ergebnisse des Pflegeberichts sind erfreulich, aber sie überraschen uns nicht; denn diese Koalition
hat zu Beginn der Legislaturperiode versprochen: mehr
Qualität, mehr Geld, mehr Betreuung und mehr Hände
für gute Pflege - und wir haben Wort gehalten.
({5})
Wir haben gemeinsam, Frau Rawert, die umfassendste
Reform der sozialen Pflegeversicherung seit der Einführung vor 20 Jahren verwirklicht .
({6})
Seit dem 1. Januar 2015 stehen für die Pflegeleistungen
zusätzlich 2,4 Milliarden Euro - und ich betone ausdrücklich: pro Jahr - zur Verfügung . Die Mittel kommen
dort an, wo sie gebraucht werden: bei den Pflegebedürftigen, deren Angehörigen und bei den Pflegekräften.
Zum weiteren Nutzen des ambulanten Bereiches haben wir beispielsweise nicht nur die Kurzzeit- und Verhinderungspflege sowie die Tages- und Nachtpflege ausgebaut, sondern wir haben auch die Leistungen deutlich
flexibler gestaltet. Zudem gibt es höhere Zuschüsse für
die Verbesserung des Wohnumfeldes .
Auf das Erste Pflegestärkungsgesetz folgte mit der fälligen Neudefinition des Pflegebedürftigkeitsbegriffs der
zweite große Reformschritt . Im Ergebnis sind vor allem
Menschen mit demenziellen Erkrankungen in der Pflegeversicherung jetzt deutlich besser gestellt als zuvor: Es
gibt passgenaue Einstufungen, die Minutenpflege wurde
abgeschafft,
({7})
und für bereits pflegebedürftige Menschen gilt der Bestandsschutz . Mit Blick auf Menschen mit kognitiven
und somatischen Einschränkungen haben wir gemeinsam
eine große Gerechtigkeitslücke geschlossen .
({8})
Im Ergebnis mobilisieren wir jährlich - jährlich! - 5 Milliarden Euro zusätzlich . Das sind circa 20 Prozent mehr
Leistungen, die vor allem der Versorgung von demenzkranken Menschen zugutekommen .
Man kann es nicht oft genug sagen: In der Summe bedeuten die beiden Pflegestärkungsgesetze eine so massive Aufstockung eines sozialen Sicherungssystems, wie
es das noch nie in der Geschichte der Sozialversicherung
in Deutschland gegeben hat .
({9})
Schließlich haben wir mit dem Pflegestärkungsgesetz III den Kommunen zusätzliche Beratungsaufgaben
übertragen . Es geht dabei um die bessere Vernetzung
örtlicher Angebote und um aufsuchende Beratung für
Pflegebedürftige und deren Familien. Möglichst in jedem einzelnen Fall soll ein individuelles Paket geschnürt
werden, das optimal auf die jeweiligen Bedürfnisse zugeschnitten ist. Das hilft pflegebedürftigen Menschen, so
lange wie irgend möglich in ihrer vertrauten Umgebung
zu bleiben . Ausdrücklich begrüße ich auch die zusätzlichen Anreize für niedrigschwellige Betreuungs- und Entlastungsleistungen .
Meine Damen und Herren, wir haben im PSG III klare
Worte zur Frage der Qualitätskontrollen gefunden . Sie
dürfen nicht zum Schaden der Pflegeversicherung verhindert werden. Wer Leistungen aus der sozialen Pflegeversicherung erhält, muss bereit sein, die erbrachten Leistungen auf ihre Qualität hin überprüfen zu lassen . Wer
solchen Überprüfungen nicht zustimmt, hat sein Recht
verwirkt, Leistungen aus der sozialen Pflegeversicherung
zu erhalten. Wir verschärfen die Kontrollen, damit Pflegebedürftige, ihre Familien und die Pflegekräfte besser
vor betrügerischen Pflegediensten geschützt werden.
Außerdem haben wir geregelt, dass in Vergütungsverhandlungen zwischen Pflegekassen und Pflegediensten
Tariflöhne bei tarifgebundenen Einrichtungen nicht als
unwirtschaftlich abgelehnt werden dürfen . Damit stellen
wir sicher, dass Tariferhöhungen wirklich bei den Beschäftigten ankommen . Mit dem PSG III wird diese Regelung auch auf die nichttarifgebundenen Einrichtungen
ausgedehnt . Damit ist sichergestellt, dass sich der Tariflohn kurz- und mittelfristig in der Altenpflege flächendeckend durchsetzen wird .
({10})
Meine Damen und Herren, es gibt in dieser Wahlperiode praktisch kein Gesetzesvorhaben im Bereich der Gesundheit, das nicht zugleich einen wichtigen Beitrag zur
Runderneuerung der Pflege leistet. Der Bürokratieabbau,
der neue Pflege-TÜV, mehr Medikamentensicherheit,
das Hospiz- und Palliativgesetz, das E-Health-Gesetz
mit dem einheitlichen Medikationsplan - das sind alles
Versprechen aus dem Koalitionsvertrag, die wir eingelöst
haben . Im Zentrum stand immer das Bemühen um mehr
Qualität in der Pflege. Dies gilt ausdrücklich auch für das
Gesetz zur Stärkung der Heil- und Hilfsmittelversorgung,
mit dem wir nicht nur eine gute Qualität der Produkte,
sondern auch eine fachkundige begleitende Beratung und
einen anständigen Service sicherstellen .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit der nahenden
Bundestagswahl ist auch das Gespenst der Einheitskasse
wieder auferstanden .
({11})
Eine solche Einheitskasse würde Wirtschaft und Versicherte belasten, ohne ein besseres Gesundheitssystem zu
schaffen.
({12})
Ich bleibe dabei: Eine staatliche Einheitskasse führt direkt in die von ihren Vordenkern beklagte Zweiklassenmedizin; denn wer genug Geld hat, wird immer einen
Arzt finden - für jede Therapie - und eine Zusatzversicherung .
({13})
Warum sollen wir ohne jede Not hier bei uns solche Verhältnisse wie in Großbritannien schaffen?
({14})
Und das, obwohl eine Untersuchung erst vor wenigen Tagen belegt hat, dass Deutschlands Gesundheitssystem im
EU-Vergleich spitze ist:
({15})
freie Arztwahl und geringe Wartezeiten, schneller Zugang zu Fachärzten und Kliniken sowie zu innovativen
Medikamenten, große Wahl- und Therapiefreiheit, geringe oder keine Zuzahlungen .
({16})
Zusammengefasst: Die Versorgung hierzulande ist die
beste in Europa, weshalb 80 Prozent der Versicherten in
Deutschland mit ihrer medizinischen Versorgung zufrieden sind, also keine Experimente, wie Konrad Adenauer
es schon gesagt hat .
Statt unsere Energie auf ein Projekt mit höchst ungewissem Ausgang zu konzentrieren, sollten wir uns als
Gesundheitspolitiker lieber darum kümmern, das bestehende System weiter zu verbessern, im Sinne von Evolution statt Revolution .
Wir haben in der Koalition Wort gehalten und in großer Geschlossenheit grundlegende Reformen auf den
Weg gebracht . Ob man das „Meilenstein“ oder „Quantensprung“ nennt - es ist auf jeden Fall ein großer Wurf,
der uns gemeinsam gelungen ist . Ich danke allen Kolleginnen und Kollegen, die daran mitgearbeitet haben .
Ein ganz besonderer Dank geht an das Ministerium für
die gute Zusammenarbeit . Ich glaube, wir gehen im Gesundheitssystem, gerade im Bereich Pflege, einer guten
Zukunft entgegen .
Vielen Dank .
({17})
Als Nächste spricht die Kollegin Maria KleinSchmeink für Bündnis 90/Die Grünen .
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Lieber Herr Rüddel, in den vergangenen neun
Minuten hätten Sie eigentlich über die solidarische und
gerechte Finanzierung von Gesundheit und Pflege reden
sollen .
({0})
Ich muss sagen: Sie haben die Zeit vollständig für etwas
vollkommen anderes genutzt, nämlich für eine Marketingveranstaltung . Es ging nur um das, was Sie meinen
für die Pflege getan zu haben. Ich kann nur sagen: Damit
sind Sie zu kurz gesprungen .
({1})
Am Ende der Wahlperiode müssen wir ganz eindeutig
sagen: Das Thema „solidarische und gerechte Finanzierung“ gehört auf die Tagesordnung . Denn wir müssen
feststellen: Acht Jahre Große Koalition und vier Jahre
Schwarz-Gelb haben dazu beigetragen, dass wir heute
eben nicht sagen können, dass wir eine stabile Finanzierung in der GKV und in der sozialen Pflegeversicherung
haben .
({2})
Vielmehr haben wir das traurige Ergebnis, dass allein die
Versicherten sämtlichen Kostenaufwuchs in der Gesundheitsversorgung stemmen müssen . In den Jahren 2015
und 2016 haben die Versicherten der GKV - sie ganz allein - insgesamt 24,1 Milliarden Euro an Zusatzbeiträgen
gezahlt . Das zeigt, wie ungerecht dieses System ist
({3})
und dass wir da dringend etwas tun müssen .
({4})
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Stritzl?
Ja, gerne . Die vier Minuten Redezeit sind sowieso zu
wenig .
Frau Kollegin, erlauben Sie mir folgende Zwischenfrage:
Erstens . Bin ich richtig informiert, dass unter rot-grüner Regierungsbeteiligung ein Sonderbeitrag für die
GKV zulasten der Arbeitnehmerschaft eingeführt wurde?
Wenn ja, in welcher Höhe wurde er eingeführt?
Zweitens . Können Sie mir sagen, welchen Wert die
Rücklagen in der gesetzlichen Krankenversicherung der
Bundesrepublik Deutschland zurzeit insgesamt haben?
Danke schön .
Danke für die Fragen . - Es ist in der Tat so, dass unausgewogene Finanzierungskonzepte für die gesetzliche
Krankenversicherung - nur die Löhne und Gehälter wurden einseitig belastet - in der damaligen konjunkturellen
Phase dazu geführt haben, dass man sich entschieden
hat, einen Sonderbeitrag für die Arbeitnehmer zu schaffen . Aber man muss ganz eindeutig sagen: Das war ein
einmaliger Schritt, der zu einer einseitigen Belastung der
Versicherten geführt hat, sozusagen eine Konjunkturhilfe durch die Versicherten . Ich muss deutlich feststellen:
Heute gibt es keinen Grund, genau diese Sonderbelastung nur der Versicherten fortzuführen .
({0})
Das ist ein Geschenk für die Arbeitgeber, das sie erstens
nicht brauchen und zweitens die gesellschaftliche Solidarität insgesamt beeinträchtigt . In dem Sinne wird deutlich: Es muss zu einer Umkehr kommen .
({1})
Genau darauf komme ich jetzt im weiteren Fortgang meiner Rede zu sprechen . - Danke schön .
({2})
- Die Rücklagenhöhe ist so, dass man tatsächlich sagen muss: Es ist eine ordentliche Rücklage, insgesamt
24 Milliarden Euro in den verschiedenen Töpfen . - Aber
wir müssen natürlich gleichzeitig sagen: Diese 24 Milliarden Euro sind zwischen den Krankenkassen nicht gerecht verteilt . Es kommt vielmehr zu Verwerfungen, die
wir derzeit haben, dass einzelne Kassen den Zusatzbeitrag noch einmal anheben müssen . Genau dazu kam es
in dieser Woche bei drei Krankenkassen, die ihre Zusatzbeiträge um 0,3 Prozentpunkte erhöhen mussten . Diese
einseitige Belastung von Versicherten können wir nicht
wollen .
({3})
Dies führt auch dazu, dass das gesamte System der
gesetzlichen Krankenversicherung in eine Schieflage
kommt . Das haben Sie zu verantworten . Das werden wir
in den nächsten Monaten und Jahren deutlich zu spüren bekommen, wenn es nicht zu einem Politikwechsel
kommt . Gerade deshalb ist er so wichtig . - Danke schön
für diese Frage .
({4})
Insgesamt haben wir eine Situation, in der man sagen
muss: Ja, Sie haben in den letzten vier Jahren deutliche
Leistungsverbesserungen beschlossen; das stimmt .
({5})
Einige waren mehr als überfällig und Resultat einer völlig verfehlten schwarz-gelben Politik . Aber wir alle vermissen ein Konzept, wie Sie diese Leistungsverbesserungen in der nächsten Wahlperiode finanzieren wollen,
({6})
außer dass die Versicherten allein dafür zahlen . Das ist
das Konzept, das Sie als Große Koalition vereinbart haben . Das ist zutiefst ungerecht und auf Dauer auch nicht
tragfähig . Das wissen auch Sie . So darf man die gesellschaftliche Solidarität nicht strapazieren .
({7})
Nun kommen wir zu einer weiteren Baustelle: Das
Nebeneinander von privater und gesetzlicher Krankenversicherung produziert viele Verliererinnen und Verlierer . Darüber haben wir gestern sehr lange diskutiert .
Gerade bei den kleinen Selbstständigen gibt es große
Verwerfungen . Diese gibt es aber auch bei niedrig eingestuften Beamten mit Familie und bei Rentnern, die zum
Teil übermäßig hohe Beiträge in der PKV zahlen müssen,
({8})
obwohl sie nur kleine Renten haben . Das ist soziales Dynamit für die nächste Wahlperiode . Sie haben keinerlei
Konzept, wie Sie das Problem angehen wollen .
({9})
Deshalb wollen wir mit der Bürgerversicherung einen Schritt gehen, der keine Revolution, sondern nur die
Weiterentwicklung des heutigen gesetzlichen Systems
bedeutet, das sich gut bewährt hat . 90 Prozent der Bevölkerung sind in der gesetzlichen Krankenversicherung
versichert .
({10})
Die weiteren 10 Prozent wollen wir hereinholen, indem
wir den Versicherten ein Angebot machen . Das ist ja sehr
oft auch die Lösung von sozialen Problemen, die sich
durch dieses Nebeneinander auftun .
Ein weiteres Problem . Wir haben eine unterschiedliche Honorargestaltung bei ärztlichen Leistungen für Privat- und gesetzlich Versicherte. In der Folge finden wir
Fachärzte nur noch dort, wo viele Privatversicherte sind .
({11})
Das kann doch nicht die Lösung dafür sein, wie wir eine
einheitliche und gute Versorgung in allen Landesteilen
sicherstellen wollen .
({12})
Sie haben wiederum keine Antwort darauf, wie Sie das
angehen wollen . Wir brauchen dringend ein gemeinsames Honorarsystem, das gute Leistungen und mehr Zeit
für das Gespräch mit dem Patienten ermöglicht und nicht
danach bezahlt, ob jemand privat oder gesetzlich versichert ist . Das muss doch der Weg sein .
Das sind die wesentlichen Kernpunkte der Bürgerversicherung: Es geht darum, alle einzubeziehen . Es geht
darum, alle Einkommensarten einzubeziehen, niemandem mehr Risiken aufzubürden, sondern jeden gemäß
seiner Leistungsfähigkeit zu veranlagen . Das ist der richtige Weg .
Ich möchte wissen, was Ihre Antwort für eine stabile und gerechte Finanzierung sein wird . Ich habe noch
nichts gehört .
({13})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Mechthild Rawert
für die SPD .
({0})
Herr Vizepräsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauende! Ich freue mich, dass ich dank
des Antrages der Linken und dank des Pflegeberichtes
für den Zeitraum 2011 bis 2015 abermals zum politisch
hochbrisanten Thema Pflege reden darf.
({0})
Der Bericht zeigt: Pflegebedürftige, ihre Angehörigen
und auch die Pflegekräfte nehmen die in diesem Zeitraum gesetzlich auf den Weg gebrachten Verbesserungen
gut an .
({1})
Eine lange Liste ist vorhin schon diskutiert worden .
Mir kommt es jetzt darauf an, zu unterstreichen, dass
dazu auch die Realisierung des Prinzips „Reha vor Pflege“ zählt . Das wollen wir dezidiert ausbauen .
Ich möchte dezidiert die bedarfsgerechtere Unterstützung pflegender Angehöriger durch verbesserte Freistellungsregelungen bei der Vereinbarkeit von Beruf und
Familie und Pflege betonen.
({2})
Diese Leistungsverbesserungen sind und waren nicht
das Ende der Fahnenstange . Das hat sich allein schon
darin gezeigt, dass wir kurz danach die Pflegestärkungsgesetze II und III verabschiedet haben . Seitdem gilt der
neue Pflegebedürftigkeitsbegriff. Mit dem neuen Begutachtungsverfahren ermöglichen wir den Leistungsempfangenden den Zugang zu allen Leistungen, und zwar
unabhängig von der Beeinträchtigung - egal ob es sich
um eine kognitive, psychische oder körperliche Beeinträchtigung handelt . Das ist ein Riesenschritt in Richtung
Gerechtigkeit .
({3})
Es geht noch weiter: Mit 60 Modellkommunen stellen
wir die Pflegeberatung vor Ort auf noch bessere Beine.
Mit Personaluntergrenzen stabilisieren wir wichtige Pflegebereiche im Krankenhaus .
Sie sehen: Der Begriff einer Bewegung in der Community der Pflegefachkräfte, die sich „Pflege in Bewegung“ nennt, hat sich auch im Deutschen Bundestag niedergeschlagen .
({4})
Wir wollen, dass pflegebedürftige Menschen eine
passgenaue und individuell angepasste Versorgung bekommen . Für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ist Pflege eine Aufgabe der Daseinsvorsorge. Der
Auf- und Ausbau einer hochwertigen Pflegeinfrastruktur
ist eine Herausforderung für unser gesamtes Gemeinwesen .
({5})
Pflege gehört in die Mitte der Gesellschaft. Ich sage es
frank und frei: Ausführungen über die Organisation einer
guten Pflege gehören in jedes Wahlprogramm; denn Pflege ist ein hochpolitisches Thema. Pflege ist und bleibt in
Bewegung .
Eine repräsentative Bevölkerungsbefragung des Zentrums für Qualität in der Pflege hat gezeigt, dass die
Versorgung älterer hilfebedürftiger Menschen und das
Thema „Gute Pflege für alle“ für 43 Prozent der 61,5 Millionen wahlberechtigten Bürger und Bürgerinnen bei der
Bundestagswahl 2017 sehr wichtig bei ihrer Wahlentscheidung ist. Insbesondere betrifft dies die maßgebliche
Altersgruppe 50 plus . Hier sind es sogar 53 Prozent, die
sagen, dass Pflege - und damit auch Gesundheit - für sie
zur Daseinsvorsorge gehört. Im Bereich der Pflege besteht also weiterhin Handlungsbedarf .
Was sagt diese repräsentative Befragung noch?
71 Prozent der zumeist Älteren halten die Arbeitsbedingungen in der Pflege für am dringendsten verbesserungsbedürftig, und 42 Prozent der Befragten glauben, dass
pflegende Angehörige dringend noch besser zu unterstützen sind - alles Aspekte, die wir ständig hervorgehoben
haben . Es freut mich, dass die Älteren intergenerativ, also
auch an die Lebenssituationen der Jüngeren denken, was
da heißt: Auch die Frauen in diesen Berufen leben nicht
von Luft und Liebe allein, sondern sie brauchen auch ein
anständiges Einkommen . Wir müssen ebenso gute Vereinbarkeitsstrukturen schaffen.
({6})
Zum Thema Finanzierung . Ja, natürlich müssen wir
schauen, wie wir die ganzen Regelungen finanzieren.
Von den Verbesserungen für die Pflegefachkräfte bei der
Tarifierung wurde schon berichtet. Das Traurige ist: Nur
sehr wenige Pflegeeinrichtungen haben eine TarifbinMaria Klein-Schmeink
dung, und sehr wenige Pflegefachkräfte sind in Gewerkschaften organisiert, und sie fallen deswegen nicht unter
die Tarifverträge . Daher an dieser Stelle mein Appell:
Bitte organisieren Sie sich alle, und schließen Sie Tarifverträge ab!
({7})
Wir als SPD werden im Kontext der sozialdemokratischen Politik weiterhin nach Lösungen suchen, wenn es
um die Personalausstattung, die Transparenz von Qualität, die Durchsetzung der Rechte von pflegebedürftigen
Menschen und auch - ich bleibe dabei - die Stärkung
einer pflegeberuflichen Bildung geht.
({8})
Das ist von großer Bedeutung . Denn mehr Leistungen
allein bedeuten nicht, dass eine pflegebedürftige Person
tatsächlich schon die nötige Pflege bekommt. Es ist auch
qualifiziertes Personal nötig, das die entsprechenden
Leistungen kompetent erbringen kann .
Das Thema Bürgerversicherung ist im Antrag der Linken - ich sage es einmal nett - ein wenig durcheinander
dargestellt worden;
({9})
deswegen gehe ich darauf jetzt gar nicht näher ein .
({10})
Jedem, der unser Konzept nachlesen möchte, sage ich:
Erste Züge stehen schon seit November letzten Jahres im
Internet . Wenn Sie nach „Fortschritt und Gerechtigkeit Chancen für alle“ suchen, werden Sie unser Konzept finden .
({11})
Wir sind für jede Ergänzung dankbar .
Ich habe eine weitere und abschließende Bitte an die
1,2 Millionen beruflich Pflegenden - der Deutsche Pflegetag hat das gezeigt -: Bündeln Sie Ihre Interessen! Treten Sie ein in eine Gewerkschaft, in einen Berufsverband,
in eine Pflegekammer oder auch in eine Partei! Denn es
stimmt: Sie haben die Wahl; Sie entscheiden mit . Machen Sie Ihr Kreuz auch unter Berücksichtigung Ihrer
eigenen Interessen bei denjenigen, die sich für eine gute,
generalistische Pflegeausbildung einsetzen.
Seien Sie gegrüßt!
({12})
Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Erich
Irlstorfer .
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
({0})
Die Kollegin Rawert schafft es immer wieder, mich beim
Thema „generalistische Ausbildung“ zu reizen . Gratulation!
({1})
Ich erwähne das Ganze nur mit wenigen Sätzen - denn
heute geht es ja um ein anderes Thema -: Verehrte Kollegin, Sie kennen den Kompromissvorschlag .
({2})
Ich weiß, dass er Ihnen nicht in Gänze gefällt - uns auch
nicht, aber so ist das bei Kompromissen nun einmal .
Glauben Sie mir: Ich bin wirklich davon überzeugt, dass
es wichtig wäre, Ministerin Schwesig dazu zu bringen,
ihre Eitelkeiten zu vergessen
({3})
und zuzustimmen; bitte erlauben Sie mir, das zu sagen .
({4})
- Das ist eine nette Person . Das habe ich auch nicht anders gesagt .
Werte Kolleginnen und Kollegen, Frau Zimmermann
hat gerade den Antrag der Linken begründet . Darunter
waren ja Äußerungen, die wirklich unterirdisch waren .
({5})
Deshalb schenke ich es mir, darauf näher einzugehen .
({6})
Ich möchte nur darauf hinweisen: Nach 20 Jahren Bestehen der gesetzlichen Pflegeversicherung hat die unionsgeführte Bundesregierung in der laufenden Legislatur
eine umfassende Reform der Pflege in Angriff genommen .
({7})
Das ist unbestreitbar . Dabei war uns klar, dass Strukturverbesserungen zwar wichtig, aber nicht ausreichend
sein würden .
({8})
Deshalb haben wir deutliche und spürbare Leistungsausweitungen beschlossen, die nicht nur die Versorgung von
Pflegebedürftigen verbessert, sondern vor allem auch den
Kreis der Leistungsbezieherinnen und Leistungsbezieher
deutlich vergrößert haben .
http://www.linksfraktion.de
Die dadurch entstehenden zusätzlichen Kosten Frau Klein-Schmeink hat darauf hingewiesen - können
wir nur deshalb rechtfertigen, weil wir für eine stabile
wirtschaftliche Lage in Deutschland mit einer Rekordbeschäftigung gesorgt haben, von der nun auch der Sozialstaat und die Sozialsysteme profitieren.
({9})
- Das ist die Wahrheit. - Die finanziellen Mittel werden
zielgerichtet eingesetzt und kommen bei den Betroffenen
an, die Verbesserungen sind für die Menschen erlebbar
und werden angenommen .
Im Sechsten Bericht der Bundesregierung über die
Entwicklung der Pflegeversicherung werden die Bemühungen, Bedürfnisse und Wünsche der Pflegebedürftigen
hinsichtlich der Reform der Pflegeversicherung beleuchtet . Diesen wollen wir gerecht werden . Neben Verbesserungen für die Pflegebedürftigen wollten wir gleichermaßen aber auch sicherstellen - das ist uns auch gelungen -,
dass die Angehörigen, die in Deutschland bei der Pflege
noch immer eine enorme Leistung schultern, entlastet
werden und die Verbesserungen auch spüren . An dieser
Stelle sei die Möglichkeit der Inanspruchnahme von
Lohnersatzleistungen oder der Reduzierung der Arbeitszeit von bis zu zwei Jahren erwähnt . Dazu kommt, dass
wir für die Angehörigen auch den Schutz in der Arbeitslosenversicherung verbessert haben . Das dürfen wir nicht
vergessen .
({10})
In den letzten beiden Jahren ist der Anteil der durch Angehörige versorgten Bedürftigen wieder leicht angestiegen, auf 67 Prozent, beeinflusst durch diese und weitere
Verbesserungen in diesem Bereich .
Der Dreiklang der Pflege - ich sage es zum wiederholten Male - bliebe aber aus meiner Perspektive ohne
Verbesserungen für die Pflegekräfte unvollständig. Deshalb ist es notwendig, dass wir auch in diesem Bereich
den nächsten Reformschritt machen . Uns war wichtig,
einer übermäßigen Arbeitsbelastung durch den Einsatz
zusätzlicher Kräfte sowie den Abbau von überflüssiger
Bürokratie entgegenzuwirken . Das sind erste Schritte,
die hier gegangen wurden . Gleichermaßen spielt für die
Attraktivität des Berufes natürlich die Vergütung eine
sehr wichtige Rolle. Die Bezahlung von Tariflöhnen hier sind wir uns einig - muss eine Selbstverständlichkeit sein . Auch hier sind wir schon Schritte in die richtige
Richtung gegangen .
({11})
Werte Kolleginnen und Kollegen, es ist der Größe der
Aufgabe geschuldet, dass wir das Pflegereformvorhaben
in eine Reihe von einzelnen Gesetzen gepackt haben,
in die Pflegestärkungsgesetze I bis III. Die Leistungen
der Pflegeversicherung und die pflegerische Versorgung
konnten durch das Erste Pflegestärkungsgesetz bereits im
ersten Jahr seiner Wirksamkeit deutlich ausgebaut werden . Es gibt zusätzliche Leistungen für die Betreuung im
Rahmen der häuslichen Pflege sowie für Rehabilitation
und Prävention. Mit dem Pflegestärkungsgesetz I wurde
erstmals die Vergütung sämtlicher Leistungen der Pflegeversicherung an die Preisentwicklung der vergangenen
drei Jahre angepasst und in einem Umfang von 4 Prozent
angehoben . Auch das dürfen wir nicht verschweigen .
Personen mit erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz haben seit Januar 2015 Zugang zu allen Leistungen der häuslichen Pflegeversicherung, einschließlich
der Tages-, Nacht- und Kurzzeitpflege.
Umgekehrt können auch Pflegebedürftige, die vorrangig körperlich beeinträchtigt sind, besondere Angebote der allgemeinen Anleitung und Betreuung, der
hauswirtschaftlichen Versorgung oder von den Ländern
anerkannte niedrigschwellige Betreuungs- und Entlastungsangebote in Höhe von bis zu 208 Euro im Monat
von ihrer Pflegekasse erstattet bekommen. Auch das sind
Verbesserungen .
Es handelt sich hierbei um nicht gerade wenige Menschen; wir sprechen für das Jahr 2015 - das sollten wir
uns vor Augen halten - von 1,5 Millionen Pflegebedürftigen . Dementsprechend haben sich auch die Ausgaben
für zusätzliche ambulante Betreuungsleistungen von
437 Millionen Euro im Jahr 2013 auf 684 Millionen Euro
im Jahr 2015 erhöht . Bringen Sie die Information über
diese niedrigschwelligen Betreuungsangeboten bitte unter die Leute, geschätzte Kolleginnen und Kollegen, und
verunsichern Sie mit solchen Anträgen nicht die Menschen!
({12})
Die mit dem Ersten Pflegestärkungsgesetz eingeführten Leistungsausweitungen im Bereich des Wohnumfeldes kommen bei den Betroffenen an. Die Zahlen sprechen
hier eine deutliche Sprache: Gab die Pflegeversicherung
im Jahr 2011 rund 103 Millionen Euro dafür aus, stieg
dieser Betrag bis 2015 auf knapp 305 Millionen Euro .
({13})
Auch das sind Verbesserungen . Das kann man nicht einfach unter den Teppich kehren und so tun, als wäre nichts
passiert .
({14})
Wenn wir über Solidarität in der Pflege sprechen, gehört zur Betrachtung der aktuellen Situation nicht nur der
finanzielle Aspekt, also die finanziellen Mittel, die in die
Pflege investiert werden, sondern auch die Ausweitung
des Pflegebedürftigkeitsbegriffs, die wir durch das Pflegestärkungsgesetz II ermöglicht haben . Es sind nun nicht
mehr nur Menschen mit körperlichen Einschränkungen
erfasst, sondern auch geistig und seelisch beeinträchtigte
Menschen .
Mit dem Pflegestärkungsgesetz III haben wir schließlich die kommunale Ebene gestärkt, damit dort eine bessere Koordination, Kooperation und Steuerung erfolgen
können .
({15})
Dadurch, liebe Kolleginnen und Kollegen, wollen wir
eine unabhängige und zentral gesteuerte Beratung erErich Irlstorfer
möglichen, die den Pflegebedürftigen die bestmöglichen
Angebote aus einer Hand offeriert. Dabei soll es zu einer
Verzahnung der kommunalen Angebote und der Beratungsangebote der Pflegekassen kommen.
Am Ende wollen wir es den pflegebedürftigen Menschen vor allem ermöglichen, so lange wie möglich in
ihrem gewohnten Umfeld zu bleiben . Ambulant vor stationär - das ist der Wunsch der Menschen und somit unser
Auftrag .
Ein Wort an die Linke . Es gibt Gott sei Dank jüngere
Kolleginnen und Kollegen - ich habe darüber Gespräche gehabt -, die wahrnehmen, dass man hier den ersten
richtigen Schritt getan hat . Aber, liebe Kolleginnen und
Kollegen der Linken, so, wie wir es gemacht haben, ist es
in meinen Augen politische Solidarität . Mit dem, was Sie
in Ihrem Antrag darstellen, gaukeln Sie den Versicherten
ein Schlaraffenland vor. Das Ganze soll bei Ihnen auch
noch zum Nulltarif funktionieren . Ich kann nicht nachvollziehen, wie Sie in Ihrem Antrag bei einem gleichbleibenden Beitragssatz auf Mehreinnahmen in Höhe von
12 Milliarden Euro kommen .
({16})
Dieser Betrag wird in der Regel als jährliche Verlustspanne angegeben .
Würde es die Privatversicherungen nicht geben, würde es sicherlich anders ausschauen . Das ist der Konstruktionsfehler Ihres Allheilmittels, der Bürgerversicherung .
Wir müssen dieses gute und wirklich einzigartige sowie
hervorragend funktionierende System von gesetzlicher
und privater Krankenversicherung immer wieder an die
Realität anpassen .
({17})
Erlauben Sie mir eine letzte Bemerkung . Allein durch
Privatversicherte fließen jedes Jahr fast 29 Milliarden
Euro in unser Gesundheitssystem .
({18})
Dieses Geld benötigen wir .
Mit allem anderen, was zum Thema Bürgerversicherung hier gesagt wurde und im Wahlkampf noch angesprochen werden wird, werden wir uns sehr kritisch
auseinandersetzen. Nur die Begrifflichkeit in den Raum
zu werfen, ohne Fleisch am Knochen, wird nicht funktionieren .
Danke schön .
({19})
Der Kollege Harald Weinberg spricht als Nächster für
die Fraktion Die Linke .
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Herr Irlstorfer,
was Ihre Ausführungen zu „Fleisch und Knochen“ angeht, besteht das Problem darin, dass ich in fünf Minuten
nur wenig von dem Konzept darlegen kann, das wir für
die solidarische Gesundheitsversicherung haben . Ich will
aber versuchen, es anhand von ein paar Punkten zu verdeutlichen . Dabei werde ich ein bisschen ausholen und
an die vorhergehende Debatte zum Thema Nachhaltigkeit anknüpfen .
Es geht hier - das ist sozusagen das Thema - um die
Nachhaltigkeit der Finanzierung der Gesundheitsversicherung und der Pflege. Wir hatten seinerzeit einmal
einen Nachkriegskonsens . Der bestand darin, dass wir
gesagt haben: Wir nehmen bestimmte Bereiche aus der
Marktwirtschaft heraus, da lassen wir marktwirtschaftliches Geschehen und auch Profitwirtschaft nicht zu. Das
betraf im Wesentlichen die Altersversorgung, die Gesundheit und die Arbeitslosenversicherung .
({0})
Allgemein wurde das „Daseinsvorsorge“ genannt .
Im Zusammenhang mit der Übermacht der Ideologie
des absoluten Marktes, Herr Rüddel - das ist auch Ihre
Ideologie, das ist das Problem -,
({1})
hat es eine Öffnung dieser Bereiche für die Kapitalverwertung bzw . für anlagesuchendes Kapital gegeben . Bei
den Krankenkassen hat es dazu geführt, dass wir sie inzwischen de facto als Unternehmen sehen und mit den
Zusatzbeiträgen in einen ruinösen Wettbewerb getrieben
haben . Das ist die Situation .
Ich komme zum Thema Einheitskasse. Ich finde es
schon - das muss ich sagen - ein bisschen drollig, uns
die Einheitskasse vorzuwerfen, gleichzeitig aber einen
Wettbewerb voranzutreiben, der dazu geführt hat, dass
innerhalb der letzten Jahre die Zahl der Kassen von 1 000
auf inzwischen 150 gesunken ist . Und diese Entwicklung
geht weiter . Am Ende werden wir also durch den Wettbewerb, den Sie organisiert haben, eine Einheitskasse
haben .
({2})
- Doch, das ist die Situation .
Ich sage Ihnen noch eines: Der Vergleich mit Großbritannien stimmt natürlich komplett nicht . Denn das,
was wir als solidarische Gesundheitsversicherung vorschlagen, ist ein beitragsfinanziertes System; es ist kein
steuerfinanziertes System. Es geht nicht über den Finanzminister . Der entscheidet nicht darüber, welche Gelder
eingenommen werden . Das ist allerdings in Großbritannien der Fall gewesen . Dann war es natürlich so, dass
jemand wie Margaret Thatcher den Finanzhahn relativ
leicht zudrehen konnte . Ja, in der Tat, dann ist der NHS in
die Knie gegangen . Es gab lange Wartezeiten und Qualitätsprobleme . Denn es war eine politische Entscheidung,
den Hahn, aus dem die Steuermittel flossen, einfach zuErich Irlstorfer
zudrehen. Das geht in einem beitragsfinanzierten System
nicht. Deswegen sind wir auch konsequent für ein beitragsfinanziertes System.
({3})
Was ist das Wesen der solidarischen Gesundheitsversicherung? Das Wesentlichste bei ihr - neben der Frage
PKV/GKV, auf die ich jetzt nicht eingehen werde - ist
die Verbreiterung der Einnahmebasis . Sie kann durch die
Verstärkung bzw . Wiederherstellung des Prinzips der Solidarität - von dem war bereits eben die Rede - erreicht
werden .
Ich will versuchen, Ihnen das an einem Beispiel zu
verdeutlichen: Ein Arbeitnehmer verdient mit unselbstständiger Arbeit 4 000 Euro monatlich . Die werden komplett verbeitragt, ganz normal . Ein anderer Beschäftigter
verdient 1 000 Euro monatlich, erhält aber 3 000 Euro
Zinsgewinne pro Monat - also hohe Zinsgewinne . Der
hat dann ebenfalls 4 000 Euro . Der erste Beschäftigte
zahlt einen viermal höheren Beitrag als der zweite in die
Gesundheitsversicherung ein . Wir sagen: Das passt nicht
mehr in diese Zeit, in eine Zeit, in der die Unternehmenseinkünfte sowie die Einkünfte aus Kapital, Vermietung
und Verpachtung immer weiter in die Höhe gehen . Wir
müssen diese Einkünfte in die Verbeitragung bzw . Finanzierung der Gesundheitsversicherung mit hineinnehmen .
({4})
Dann werden wir auch erstens in der Lage sein, die Zuzahlungen abzuschaffen. Und zweitens - das hat jetzt
Professor Rothgang in einer aktuellen Studie ausgerechnet ({5})
wären wir dann in der Lage, den Beitrag auf unter
12 Prozent herunterzubringen . Das heißt also, eigentlich
müssten sogar die Arbeitgeber, die Sie ja so gerne vertreten, in höchstem Maße für die solidarische Bürgerversicherung sein . Denn ihr Anteil würde dann logischerweise
auf unter 6 Prozent sinken . Das Problem dabei ist ganz
offensichtlich: Es gibt gewisse Verbandelungen mit der
privaten Assekuranzwirtschaft . Von daher hat sich das offensichtlich noch nicht so weit herumgesprochen, sodass
weiterhin gegen eine solidarische Gesundheitsversicherung angegangen wird .
Als Letztes möchte ich sagen: Wir müssen die Gesundheitsversorgung in Deutschland in Zukunft nachhaltig finanzieren und öffentlich organisieren. Das sind die
beiden wesentlichen Punkte . Und dafür wird die Linke
gebraucht .
Vielen Dank .
({6})
Der Kollege Dr . Edgar Franke spricht jetzt für die
SPD .
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auf eines kann man sich freitagmorgens fast immer
verlassen: Wir diskutieren einen Antrag der Linken zur
Bürgerversicherung .
({0})
Viele Argumente kennen wir schon . Aber zunächst
ist die Frage: Worum geht es beim Thema Gesundheit,
und worum geht es beim Thema Pflege wirklich? Es geht
um Perspektiven für eine gute medizinische Versorgung .
Es geht um Perspektiven für eine älter werdende Gesellschaft . Wir müssen uns fragen: Sind wir auf eine älter
werdende Gesellschaft vorbereitet? Wir müssen uns das
inhaltlich fragen .
Wir wissen alle, dass die medizinische Versorgung immer besser wird, aber Krankheiten wie Demenz stellen
uns vor große Herausforderungen . Die Politik muss sich
fragen, ob wir diesen demografischen und gesellschaftlichen Herausforderungen gewachsen sind .
Wir müssen uns die Frage stellen, wie wir damit umgehen . Für die SPD ist die politisch entscheidende Frage,
wie wir die steigenden Kosten einer älter werdenden Gesellschaft solidarisch verteilen können . Das ist die Frage
der SPD, meine sehr verehrten Damen und Herren .
({1})
Das betrifft gerade die Pflege. Wir brauchen eine Pflege, die den demografischen Herausforderungen gerecht
wird, eine Pflege, mit der jeder den bestmöglichen Zugang zur gesundheitlichen Versorgung bekommt .
Sie wissen vielleicht noch, dass wir 1995, vor 22 Jahren, die Pflegeversicherung eingeführt haben, die eine
Besonderheit aufweist: Die Leistungen der Pflegeversicherung, sowohl der privaten als auch der gesetzlichen,
sind gleich, aber die Beiträge sind unterschiedlich . Deshalb eignet sich gerade die Pflegeversicherung besser für
eine Bürgerversicherung als eine private Versicherung .
({2})
Das ist keine sozialistische Einheitsversicherung,
Erwin Rüddel . Es gibt nämlich gute Argumente dafür .
({3})
Erster Punkt: Mit der Pflegeversicherung verbreitern
wir die Einnahmebasis .
Zweiter Punkt: Es zählt das individuelle Einkommen .
Maßgebend ist also die persönliche Leistungsfähigkeit,
und auch die Gutverdienenden und die Gesündesten können sich der Solidarität nicht entziehen . Auch das ist ein
wichtiger Punkt .
Dritter Punkt: Wie Sie wissen, sind die Arbeitgeberbeiträge bei 7,3 Prozent eingefroren .
({4})
Wer finanziert denn den ganzen medizinischen Fortschritt? Das sind doch die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer . Deswegen muss auch die Versicherung paritätisch finanziert werden, meine sehr verehrten Damen
und Herren .
({5})
Wir brauchen auch eine einheitliche Honorarordnung .
Egal ob jemand privat oder gesetzlich versichert ist: Es
gibt keinen Anreiz mehr, Versicherte vorzuziehen . Auch
das ist ein Grund für eine Bürgerversicherung gerade im
Bereich Pflege.
Aber - auch das sage ich ausdrücklich - wir haben
in der Pflege gemeinsam viel erreicht. Das haben auch
Herr Irlstorfer und Herr Rüddel angesprochen . Vor allen
Dingen haben wir mit 1,4 Milliarden Euro die häusliche
Pflege gestärkt. Es ist ein ganz wichtiger Punkt, dass
die Menschen zu Hause auch dann in ihren eigenen vier
Wänden alt werden können, wenn sie pflegebedürftig
sind; denn Pflegebedürftigkeit darf kein Grund für einen Umzug sein . Ich war lange Bürgermeister, und ich
war Chef einer kommunalen Pflegestation. Ich weiß, wie
wichtig es ist, dass man im häuslichen Quartier bleiben
kann . Das ist, glaube ich, ein ganz wichtiger Punkt, den
wir gemeinsam erreicht haben, meine sehr verehrten Damen und Herren .
({6})
Wir geben außerdem ab 2017 5 Milliarden Euro pro
Jahr zusätzlich für die Pflege aus. Das ist ein immenser
Betrag für eine Strukturreform hin zu dem erweiterten
Pflegebedürftigkeitsbegriff mit fünf Pflegegraden, der
dazu führen wird, dass Menschen besser gepflegt werden
und auch ganzheitlich betreut werden .
({7})
Wir haben eine wirklich außergewöhnliche Strukturreform hinbekommen, die positiv zu bewerten ist .
Wir müssen uns aber auch die Frage stellen, wie wir
mit denjenigen umgehen, die pflegen. Wir brauchen bis
2030 200 000 neue Pflegekräfte, und zwar gut ausgebildete Pflegekräfte. Deswegen ist die Aufwertung der Pflegeberufe eine Herzensangelegenheit der SPD . Das haben
die Menschen verdient; deshalb ist das eine Herzensangelegenheit der SPD .
({8})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es gibt einen roten Faden in der Gesundheitspolitik .
({9})
Der rote Faden ist eine bestmögliche Versorgung, unabhängig vom Einkommen, unabhängig vom Alter, unabhängig vom Wohnort . Es ist sozusagen ein roter Faden
der sozialdemokratischen Gesundheitspolitik im doppelten Sinn . Herr Stritzl, Gesundheitspolitik muss immer
aus Sicht der Patientinnen und Patienten bzw . der Menschen betrieben werden, die davon betroffen sind.
({10})
Wir brauchen Zukunftsentwürfe in der Gesundheitspolitik und gerade in der Pflegepolitik. Ein solcher Zukunftsentwurf ist eine Bürgerversicherung in der Pflege.
Ich sage es noch einmal: Das ist keine sozialistische Einheitsversicherung .
Ich danke Ihnen .
({11})
Als nächste Rednerin hat Elisabeth Scharfenberg von
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort .
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Wir als Grüne teilen nicht alle Forderungen der Linken .
Aber wir sind uns darüber einig, dass es in der Krankengenauso wie in der Pflegeversicherung an Solidarität und
Gerechtigkeit fehlt . Liebe Kolleginnen und Kollegen von
Union und SPD, jetzt hören wir einmal auf, uns selbst
zu feiern . Sie selbst sehen ja noch viel Handlungsbedarf .
Sonst hätten Sie heute nicht die Beratung über den Pflegebericht der Bundesregierung mit auf die Tagesordnung
gesetzt, einen Pflegebericht - das sehe ich anders als
mein Kollege Herr Rüddel -, der das gesamte Problempanorama der Pflege beschreibt.
Dass es noch viel zu tun gibt, dafür haben Sie selbst
in dieser Woche einen ganz traurigen Beweis geliefert .
Nach monatelangem Stillstand haben Sie die notwendige
Reform der Pflegeausbildung in den Sand gesetzt.
({0})
Sie haben da ein beschämendes Polittheater aufgeführt .
({1})
Es war eine Schmierenkomödie, bei der sich die Pflegekräfte in diesem Land - um es freundlich zu formulieren - veralbert vorkommen müssen. Sehr geehrte Pflegekräfte, das haben Sie wirklich nicht verdient!
({2})
Dieses Ignorieren der Nöte der Pflegekräfte zieht sich
durch. Sie haben den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff
eingeführt; das ist gut . Darauf haben wir alle sehr lange
gewartet . Doch wie soll diese Reform ohne ausreichend
Pflegekräfte gestemmt werden? 500 000 Menschen werden zusätzlich Leistungen aus der Pflegeversicherung bekommen . Das kann doch überhaupt nicht funktionieren .
Es herrscht doch schon jetzt ein dramatischer Personalmangel in Pflegeeinrichtungen und bei Pflegediensten.
Ist Ihnen eigentlich klar, was Sie den Pflegekräften mit
all dem aufbürden? Sie versprechen ein Personalbemessungsinstrument . Aber das verschieben Sie weit in die
Zukunft . Von einer verbindlichen Einführung sprechen
Sie erst einmal gar nicht . Ehrlich, das ist zu wenig, um
mehr Menschen für die Pflegeberufe zu gewinnen.
({3})
Sie machen sich auf dem Rücken der Pflege einen schlanken Fuß. Das lassen wir, das lassen auch die Pflegekräfte
im Land Ihnen nicht durchgehen .
({4})
Zurück zur Finanzierung . Sie feiern sich im aktuellen
Pflegebericht für einige Maßnahmen, die Sie von 2011
bis 2015 ergriffen haben, um die finanzielle Stabilität der
Pflegeversicherung zu erhalten. Sie nennen die Beitragssatzerhöhungen, den sogenannten Pflege-Bahr und den
Pflegevorsorgefonds.
({5})
Über den Pflege-Bahr möchte man ja eigentlich gar nicht
mehr sprechen, so schlecht konstruiert und überflüssig ist
dieser Quatsch . Aber es gibt diesen Quatsch immer noch .
Liebe SPD, eure Ankündigungen, den Pflege-Bahr wieder abzuwickeln, habt ihr ganz schön schnell vergessen .
({6})
Dann zum Pflegevorsorgefonds. Auch das ist so eine
unsägliche und sinnlose Aktion . Er hat mit Nachhaltigkeit überhaupt nichts zu tun . Der Fonds bindet einfach
nur sehr viel Geld, Geld, das wir jetzt dringend für die
Pflegebedürftigen und die Pflegekräfte brauchen.
({7})
Die Pflegeversicherung braucht mehr Geld. Deshalb war
eine Erhöhung der Beiträge richtig . Aber, verehrte Kolleginnen und Kollegen, Sie haben auch hier nicht über den
Augenblick hinaus gedacht . Schon in diesem Jahr wird
die Pflegeversicherung deutlich mehr Ausgaben als Einnahmen haben . Spätestens 2022 wird der Beitrag wieder
steigen müssen . Sie haben die grundlegenden Finanzierungsprobleme nicht gelöst . Mutig und ehrlich sieht ganz
anders aus .
({8})
Wir stehen in der Pflegeversicherung vor riesigen Herausforderungen . Dafür brauchen wir eine solide und gerechte Finanzierungsbasis . Das funktioniert nur mit einer
solidarischen Bürgerversicherung, in der alle Bürgerinnen und Bürger versichert sind .
({9})
Sie haben diese Reform wieder einmal verschoben .
Das ist ein hoher Schuldschein, den Sie der nächsten
Bundesregierung hinterlassen . In allen Umfragen kommt
heraus, dass es eine menschenwürdige Pflege ist, was die
Menschen massiv umtreibt . Deswegen sind wir alle aufgefordert, uns ehrlich um Pflege zu kümmern.
({10})
Es liegen weiterhin große Herausforderungen vor uns .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie haben jedenfalls
keinen Grund, sich auszuruhen . Beenden Sie endlich Ihre
taktischen Spielchen zulasten der Pflege!
Vielen Dank .
({11})
Als nächster Redner spricht Rudolf Henke für die
CDU/CSU-Fraktion .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich finde es eine ausgezeichnete Idee, sich um die wirklich zentralen Fragen der Zukunft der gesundheitlichen
Versorgung und der Pflegeversorgung zu kümmern. In
der Tat ist dies das, woran die Menschen prüfen können,
ob es gut wird, ob es besser wird, ob es solidarischer
wird, ob es gerechter wird . Ich glaube, diese permanent
wiederholte Finanzdebatte hilft Ihnen, die Sie diese führen, mit der jeweils unterschiedlich artistisch präsentierten Akrobatik am Hochreck unterschiedlicher Konzepte
von Bürgerversicherung selbst nicht wirklich .
({0})
Denn das ist gar nicht die zentrale Frage der zukünftigen Pflegeversorgung. Edgar Franke hat mit Recht von
Zukunftsentwürfen gesprochen . Welche Zukunftsentwürfe brauchen wir denn? Ich glaube, Zukunftsentwürfe
brauchen wir im Bereich von Vernetzung über die Grenzen der verschiedenen Professionen in der gesundheitlichen und pflegerischen Versorgung hinweg. Zukunftsentwürfe, das bedeutet, dass wir die neuen elektronischen
Instrumente, um diese Vernetzung zu befördern, einsetzen und nutzen .
({1})
Deswegen ist beispielsweise das E-Health-Gesetz, das
wir gemeinsam verabschiedet haben, ein Stück dieser
Zukunftssicherung und dieses Zukunftsentwurfs .
({2})
Ich glaube, Zukunftsentwurf heißt, dass wir in der
Frage der Prävention mehr tun . Ich will das an einem
Beispiel zeigen . Die wirtschaftlichen Schäden - ich rede
jetzt nicht von potenziellem Schadensersatz, ich rede nur
von wirtschaftlichen Schäden - durch den Tabakmissbrauch belaufen sich auf direkte Kosten in Höhe von
25 Milliarden Euro und auf indirekte Kosten in Höhe von
50 Milliarden Euro . Wir vergeuden 75 Milliarden Euro
an volkswirtschaftlichem Eigentum jedes Jahr dadurch,
dass es uns nicht gelingt, den Tabakkonsum auf null zurückzudrängen .
Ich nenne ein weiteres Beispiel: Reha vor Rente . Wir
haben in dieser Legislaturperiode die Mittel erhöht, die
es möglich machen, vor dem Hintergrund der veränderten Altersschichtung und der Änderung des Renteneintrittsalters mehr Rehamittel zur Verfügung zu stellen . Ich
sage: Ein Aspekt des Zukunftsentwurfs wird auch sein,
ob es uns gelingt, Reha vor Pflege zu praktizieren.
({3})
Wenn wir immer und immer wieder die Frage des
Aufkommens der Finanzierung diskutieren, dann müssen
wir an dieser Stelle auch ein bisschen ehrlich sein . Ich
finde es schön, wie man die Lastenverteilung betreibt.
Ich weiß auch, dass Lohnfortzahlung in Streiks erkämpft
worden ist und Ausdruck einer Tarifvereinbarung zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern war . Dennoch
muss man natürlich die Belastung, die diese Leistung für
die Produktivität des einzelnen Arbeitsplatzes darstellt,
mit in die Lastenverteilung einkalkulieren . Dann muss
man eben auch sagen, dass zu den direkten Kosten für
die gesundheitliche Versorgung und für die Pflege noch
einmal 40 Milliarden Euro für die Lohnfortzahlung hinzukommen .
({4})
Ich sage nicht, dass das alles ungerecht verteilt ist,
aber ich will sagen: Es langweilt mich inzwischen sehr,
wie der Ansatz zur Bürgerversicherung immer wieder
gewählt wird . In meinen Augen ist das ein Schildbürgerstreich .
({5})
Deswegen lassen Sie uns lieber bei der Debatte darüber
bleiben, was uns in diesem Erfolgsbericht - und ich nenne diesen Bericht einen Erfolgsbericht - der Bundesregierung vorgetragen wird .
Frau Rawert hat ein paar Beispiele daraus genannt: Die
Leistungen werden genutzt . Die Zahl der Leistungsempfänger der sozialen Pflegekasse ist im Zeitraum von 2011
bis 2015 von 2,3 Millionen auf 2,7 Millionen Menschen
gestiegen; das ist ein Anstieg um 17 Prozent . Die Leistungsausgaben haben im gleichen Zeitraum um 27 Prozent zugenommen . Das Ende des Berichtszeitraums ist
auch nicht der Endpunkt unserer Pflegepolitik; vielmehr
werden weitere Maßnahmen ergriffen, deren Auswertung
erst in weiteren Berichten erfolgen kann .
Die Leistungsausweitungen durch das Erste Pflegestärkungsgesetz kommen bei den Pflegebedürftigen an.
Nehmen wir als Beispiel den Einbau einer altersgerechten Dusche in den Wohnraum . Die Leistungsausgaben
für Wohnumfeldverbesserungen im Jahr 2011 betrugen
103 Millionen Euro . Im Jahr 2015 waren es 305 Millionen Euro . Ist das weniger oder ist das mehr Solidarität?
Natürlich ist das mehr Solidarität und nicht weniger .
({6})
Auch die zusätzliche Betreuung in der häuslichen
Pflege kommt bei den Leuten an. Im Bereichszeitraum
haben sich die Ausgaben dafür von 330 Millionen Euro
auf rund 680 Millionen Euro pro Jahr mehr als verdoppelt . Ist das weniger Solidarität, oder ist das mehr Solidarität? Es ist mehr Solidarität .
({7})
Das Thema Demenz bewegt viele Menschen und
erfüllt sie mit Sorge und mit Angst . Für Menschen mit
demenziellen oder psychischen Erkrankungen und geistigen Behinderungen haben wir seit Verabschiedung des
Pflegestärkungsgesetzes I, seit dem 1. Januar 2015, auch
in der sogenannten Pflegestufe 0 Zugang zu allen Leistungen der Pflegeversicherung, die die häusliche Pflege
stärken, weil sie seitdem Tages- und Nachtpflege, Kurzzeitpflege, den sogenannten Wohngruppenzuschlag und
die Anschubfinanzierung für Wohngruppen in Anspruch
nehmen können .
Sogar das eben erwähnte Prinzip „Reha vor Pflege“
ist zumindest im Ansatz leicht gestärkt worden, weil
wir die Rehaempfehlungsquote von früher 0,6 Prozent
über 1 Prozent auf 2,3 Prozent gesteigert haben, also die
Anzahl der Pflegebegutachtungen, bei denen der MDK
auftragsgemäß prüft, ob Rehabilitation ein Potenzial hat,
und dann eine Rehaempfehlung ausspricht . Ich behaupte
einmal: Da sind wir noch ein ganzes Stück von dem entfernt, was wir an Rehabilitationspotenzial wirklich haben . Dieses Potenzial werden wir - auch das ist eine Aufgabe für die Zukunft - weiter heben müssen . Ich glaube,
dass das die Frage nach Zukunftsentwürfen zutreffend
beantwortet und dass es nicht damit getan ist, hier immer
wieder die gleiche Freitagmorgendebatte immer wieder
in der gleichen Form zu führen .
({8})
Es geht um mehr und bessere Pflegeberatung.
Am 1. Januar 2017 ist der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff in Kraft getretenen. Ich will an Wolfgang Zöller
erinnern, an unseren früheren stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden und späteren Patientenbeauftragten der
Bundesregierung . Er war Vorsitzender des Expertenbeirats zur konkreten Ausgestaltung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs. Es erging uns mit diesem Pflegebedürftigkeitsbegriff - da wollen wir ganz ehrlich sein - ganz
ähnlich, wie es uns mit der Präventionsgesetzgebung
ergangen ist: viele Anläufe, immer wieder ein neuer Versuch . Es hat bis in diese Legislatur hinein gedauert, bis
der Beschluss endlich gefasst werden konnte. Ich finde,
es ist angebracht, Wolfgang Zöller und allen seinen Mitstreitern in diesem Beirat für das zu danken, was sie dort
geleistet haben; denn jetzt wird der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff wirksam.
({9})
Dies bedeutet: In der Pflegebegutachtung ist jetzt
endlich Schluss mit der Vorstellung, dass man Pflegebedürftigkeit so ermitteln kann: Zähneputzen - 5 Minuten
anerkannt; Waschen des Unterkörpers - 12 bis 15 Minuten anerkannt; mundgerechtes Zerkleinern der Nahrung 2 bis 3 Minuten aufgeschrieben . Für das Anreichen von
Nahrung pro Hauptmahlzeit - 15 bis 20 Minuten aufgeschrieben usw . usw .
({10})
So war das bisher .
Jetzt stellt der MDK völlig andere Fragen . Durch dieses System wird zwar ein individueller Bedarf ermittelt,
aber es werden dabei die kognitiven und psychischen
Einschränkungen, die Demenzkranke haben und unter
denen sie und ihre Angehörigen leiden, einbezogen . Welche Mobilität weist die Person auf?
({11})
Welche kognitiven und kommunikativen Fähigkeiten hat
sie? Wie wird die Verhaltensweise eingestuft? Gibt es
psychische Probleme? Wie gut kann sich der Betreffende
selbst versorgen? Wie selbstständig kann er mit krankheits- oder therapiebedingten Belastungen umgehen?
Wie gut kann er seinen Alltag gestalten und soziale Kontakte pflegen? Und: Niemand muss Sorge haben, dass er
nach dem neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff Leistungen
gekürzt bekommt . Im Regelfall werden die Leistungen
höher sein als vorher .
({12})
Es hat gegen die solidarische Finanzierung durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer keinerlei Widerspruch gegeben, sondern das ist gesellschaftlich akzeptiert worden,
weil die Menschen eingesehen haben, dass alle diese
Schritte notwendig sind, wenn man den Herausforderungen - demografischer Wandel, Demenz, Dynamisierung
von Leistungen - begegnen will .
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen .
Ja, ich komme zum Schluss . - Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Die Bilanz dieser Debatte kann
nicht das Bild sein, wir hätten weniger Solidarität und
weniger Gerechtigkeit . Wir haben mehr davon: mehr Solidarität, mehr Gerechtigkeit in der Gesundheitsversorgung und in der Pflege. Das ist eine große Leistung dieser
Koalition. Ich finde, das muss auch betont werden; ({0})
Herr Kollege, ich muss Sie jetzt wirklich ermahnen .
- denn wenn wir die Leistungen von Regierungen und
Parlamenten in Demokratien nicht darstellen oder falsch
darstellen, lösen wir damit Parlamentsverachtung und
Politikverdrossenheit aus . Das ist das, was wir am allerwenigsten brauchen können .
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
({0})
Sabine Dittmar hat als nächste Rednerin für die
SPD-Fraktion das Wort .
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und
Kollegen! Zum wiederholten Mal beschäftigen wir uns
in dieser Legislatur mit ähnlich lautenden Anträgen der
Linken .
({0})
Lassen Sie mich deshalb in aller Kürze noch einmal
zusammenfassen: Einige Inhalte Ihres Antrags finden
durchaus meine Sympathie . Es ist richtig, dass wir uns
mit dem Leistungskatalog beschäftigen müssen und uns
unter anderem die Belastungen bei der Sehhilfe oder
beim Zahnersatz noch einmal genau ansehen müssen .
Die Forderung nach Parität in der Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung ist allerdings längst Beschlusslage der SPD; denn, meine Damen und Herren,
es ist zutiefst ungerecht, wenn die Kosten des medizinischen Fortschritts allein durch die Zusatzbeiträge von
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern getragen werden . Das ist unsolidarisch .
({1})
Deshalb steht für uns fest: Die Rückkehr zur Parität - die
Wortwahl ist jetzt ganz bewusst - ist alternativlos .
({2})
Vielleicht schaffen es ja Herr Laumann oder der Arbeitnehmerflügel der Union, bis zur Sommerpause den Rest
ihrer Parteifreunde davon noch zu überzeugen .
Aber eines ist für uns Sozialdemokraten klar: Wir sind
vertragstreu . Nachdem Ihr Antrag, meine Damen und
Herren von den Linken, in vielen Punkten wenig substanziell ist und rechtliche Fragen offenlässt, fällt es uns
auch gar nicht so schwer, diesen abzulehnen .
({3})
Sehr geehrte Damen und Herren, unsere Debatte beschäftigt sich auch mit dem sechsten Pflegebericht der
Bundesregierung . Dieser ist nicht nur lesenswert; er ist
vor allem sehr bemerkenswert. Wir haben mit den Pflegestärkungsgesetzen, aber auch mit dem Hospiz- und
Palliativgesetz sowie dem Präventionsgesetz erhebliche
Leistungsverbesserungen und -ausweitungen auf den
Weg gebracht .
({4})
Diese dienen nicht nur dazu, die pflegerische Versorgung
weiterzuentwickeln, sondern sie unterstützen auch pflegende Angehörige und professionelle Pflegekräfte. Lassen Sie mich auf ein paar wenige Aspekte eingehen, die
mir besonders wichtig sind .
Auch wenn sich dieser Bericht nicht mit der erfolgreichen Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs beschäftigt, der endlich körperliche, geistige und
seelische Beeinträchtigungen gleichrangig behandelt und
damit für über 500 000 Menschen einen zusätzlichen
Anspruch auf Leistungen aus der Pflegeversicherung begründet, zeigt uns dieser Bericht doch, dass die Maßnahmen, die im Vorfeld getroffen worden sind, sehr effizient
sind .
({5})
Die zusätzlichen Leistungen im Bereich der Tagesund Nachtpflege können den Alltag der pflegenden Angehörigen ungemein erleichtern: Sie ermöglichen es, einmal Zeit zu haben für einen eigenen Termin, ohne unter
dem Druck zu stehen, dass zu Hause alles Kopf steht .
Wie ich es aus meiner eigenen Praxis weiß, wirbelt oftmals der gestörte Tag-Nacht-Rhythmus bei demenziell
erkrankten Patienten auch den Rhythmus des Pflegenden
erheblich durcheinander. Hier den Pflegebedürftigen bei
Bedarf in professioneller Nachtpflege zu wissen, tut gut
und dient auch der eigenen Regeneration .
Ich möchte an dieser Stelle ebenfalls auf den für
pflegende Angehörige gesetzlich verankerten Rechtsanspruch auf Rehabilitationsmaßnahmen hinweisen, der
leider noch viel zu wenig in Anspruch genommen wird .
Meine Damen und Herren, der Kollege Henke hat
es schon angesprochen, aber es ist auch mir sehr wichtig, noch einmal darauf hinzuweisen: Die Quote bei der
Durchführung der Rehabilitation bei Pflegebedürftigen
ist nach wie vor viel zu gering . Wir alle wissen hier, dass
Rehabilitation Pflege hinauszögert oder eine Verschlechterung verhindert . Deshalb muss der Grundsatz „Reha
vor Pflege“ mit wirklich sehr viel mehr Leben erfüllt
werden .
({6})
Gesetzgeberisch haben wir in einem der letzten Pflegestärkungsgesetze den Begutachtungsstandard noch
einmal optimiert . Es gab auch eine Steigerung der Empfehlungsquote, aber, wie gesagt, es ist noch Luft nach
oben .
Lassen Sie mich auf einen weiteren Punkt eingehen,
der mir wichtig ist, weil ich hier während meiner hausärztlichen Tätigkeit massive Defizite erlebt habe. Wir
hatten eine echte Versorgungslücke bei der sogenannten
Übergangspflege, also bei kurzfristigem zeitlich begrenztem pflegerischem Bedarf, zum Beispiel nach einem
Krankenhausaufenthalt oder einer schweren Erkrankung
zu Hause. Jetzt sind die erforderliche Grundpflege und
die hauswirtschaftliche Versorgung oder auch notwendige stationäre Kurzzeitpflege sichergestellt.
Wichtig ist auch, dass wir den Betreuungsschlüssel
in den stationären Einrichtungen deutlich verbessert haben; denn genauso wichtig wie eine gute pflegerische
Versorgung ist die Hinwendung: Zeit zum Vorlesen, zum
Spazierengehen, zum Basteln oder auch nur, um einfach
am Bett zu sitzen und die Hand zu halten . Wir haben die
Anzahl der Betreuungskräfte verdoppelt .
Abschließend, meine Damen und Herren, möchte ich
Ihre Aufmerksamkeit noch auf ein weiteres wichtiges
Thema lenken . Das ist die hausärztliche und fachärztliche Versorgung in Heimen. Mit der Verpflichtung, Kooperationsverträge zu vereinbaren, konnte hier in Teilen
eine wirkliche Verbesserung erreicht werden . Auch für
die zahnärztliche Versorgung haben wir Regelungen getroffen. Doch meine ich, dass die Situation hier insgesamt
noch nicht befriedigend ist . Ich war erst gestern Abend
auf einer Veranstaltung, die sich mit der augenärztlichen
Versorgung von Heimbewohnern befasste . Kolleginnen
und Kollegen, es ist nicht zu akzeptieren, dass jeder fünfte Heimbewohner unzureichend mit Sehhilfen versorgt
ist oder akute und chronische Augenerkrankungen nur
ungenügend einer Therapie zugeführt werden . Ich glaube, da haben wir noch erheblichen Handlungsbedarf .
({7})
Kolleginnen und Kollegen, das Thema Pflege ist ein
facettenreiches Querschnittsthema, das mit Blick auf
den demografischen Wandel und immer neue Herausforderungen kontinuierlich weiterentwickelt und an die
Bedürfnisse angepasst werden muss . Wir haben in dieser
Legislaturperiode sehr viel auf den Weg gebracht, aber
uns geht die Arbeit in der nächsten ganz gewiss nicht aus .
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit .
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit schließe ich
die Aussprache .
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/11722 und 18/10707 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen .
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall . Dann
sind die Überweisungen so beschlossen .
Ich rufe Tagesordnungspunkt 36 auf:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der durch die Europäische Union geführten EU NAVFOR Somalia
Operation Atalanta zur Bekämpfung der Piraterie vor der Küste Somalias
Drucksache 18/11621
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({0})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO
Für die Aussprache sind nach einer interfraktionellen Vereinbarung 25 Minuten vorgesehen . Gibt es dazu
Widerspruch? - Das ist nicht der Fall . Dann ist das so
beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat für
die Bundesregierung der Parlamentarische Staatssekretär
Dr . Ralf Brauksiepe das Wort .
Vielen Dank . - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Das Hohe Haus hat gestern Abend dankenswerterweise die Fortsetzung der Beteiligung der
Bundeswehr an der EU-geführten Ausbildungs- und Beratungsmission EUTM Somalia beschlossen . Im Rahmen
der Beratung dieses Mandats ist hier im Plenum wie auch
bei der Ausschussbefassung ja schon über die nach wie
vor schwierige Situation Somalias und über die Entwicklung, die dieses Land in den vergangenen Jahren genommen hat, gesprochen worden . Ich erinnere ausdrücklich
an diese Debatte, weil ja mit Recht die Erwartung dieses
Hohen Hauses besteht, dass wir eine nachhaltige, eine
kohärente Strategie in Bezug auf diesen Krisenherd Somalia verfolgen, eines der ersten Länder, über die im Zusammenhang mit dem Begriff „Failed State“ gesprochen
worden ist .
Insofern ist es wichtig, dass wir uns noch einmal deutlich machen: Wir sind bei EUTM Somalia engagiert, es
gibt die Mission EUCAP Somalia, es gibt den Polizeiaufbau im Rahmen der VN-Mission UNSOM und die Unterstützung der Friedensmission AMISOM . Gemeinsam
mit diesen Operationen trägt die Operation Atalanta zur
Stabilisierung und Befriedung dieser Region bei . Das ist
notwendig, und es ist ein kohärenter Ansatz . Es ist wichtig, dass wir den Teil Atalanta in dieses Gesamtkonzept
einbauen . Darum geht es heute in dieser Debatte . Es ist
wichtig, dass wir der Region insgesamt helfen, dass wir
stabilisieren und befrieden . Dazu tragen wir heute bei,
liebe Kolleginnen und Kollegen .
({0})
Das Seegebiet vor dem Horn von Afrika ist ein wichtiges Seegebiet, ist eine wichtige Handelsroute auch zwischen Europa, der Arabischen Halbinsel und Asien . Das
zu sagen, bedeutet nicht, irgendetwas einzuräumen . Dass
die Operation Atalanta auch die Wahrung des legitimen
Interesses beinhaltet, dass diese Handelsroute vital bleibt,
ist richtig und gehört auch zu dem, was wir uns vorgenommen haben . Denn eine sichere Seeverbindung ist für
den Souveränitätsanspruch Somalias und natürlich auch
für die humanitäre Hilfe des Welternährungsprogrammes
bedeutsam . Auch dem dient es, diese Handelsroute zu erhalten, zu sichern und zu schützen . Auch darum geht es,
und auch dafür stehen wir ein .
({1})
Im Jahr 2011 wurden in den Gewässern vor Somalia
253 Piratenangriffe registriert. Es gab 26 entführte Handelsschiffe, 35 entführte Daus, 192 versuchte Entführungen . Dabei reden wir ja nicht nur über einen erheblichen
wirtschaftlichen Schaden, sondern wir reden auch über
sehr großes menschliches Leid, über Angst, über Sorgen
der Menschen . Dieses Leid zu verhindern, ist auch Aufgabe dieser Mission, der sie mit Erfolg nachgekommen
ist . Auch die Entführung der „Aris 13“, über die wir erst
vor kurzem gehört haben, ändert an dieser Einschätzung
nichts . Diese Mission zur Bekämpfung der Piraterie ist
erfolgreich . Deswegen ist es wichtig, dass wir diesen erfolgreichen Weg weitergehen . Denn kriminelle Netzwerke an Land sind weiterhin intakt, und sie sind weiterhin
in der Lage, mindestens punktuell für Bedrohungen der
Schifffahrtswege am Horn von Afrika zu sorgen. In diesem Zusammenhang dient das militärische Engagement
im Rahmen der Operation Atalanta als Rückversicherung
zur See für die umfassenden Stabilisierungsbemühungen
der EU an Land und im angrenzenden Küstenmeer .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei allein über
6 Millionen Somaliern, die von humanitärer Hilfe abhängig sind, sind Einschränkungen, insbesondere was die
Versorgung mit Gütern des Welternährungsprogrammes
angeht, nicht hinnehmbar . Uns ist sehr bewusst, welche
schwierige und katastrophale wirtschaftliche Lage in der
Region besteht . Von der Hungersnot ist nicht nur Somalia
betroffen. Auch der Südsudan, Jemen und Nigeria sind
bedroht . Es ist wichtig, dass wir diese Routen freihalten,
damit auch die dringend notwendige humanitäre Hilfe
die Menschen in Somalia erreichen kann .
({2})
Um das bisher mit der Operation Atalanta Erreichte
nachhaltig zu bewahren und in die Zukunft zu überführen, wird die EU bis Ende dieses Jahres eine Transitionsstrategie vorlegen . Mit der unveränderten Fortsetzung
unserer Beteiligung an Atalanta um ein weiteres Jahr ergänzen wir einerseits unser vernetztes Engagement am
Horn von Afrika im Rahmen des umfassenden Ansatzes
der EU und begleiten andererseits diese Transition von
Atalanta konstruktiv . Denn Somalia braucht weiterhin internationale Unterstützung auf dem Weg zu Frieden und
Stabilität .
Man wird und muss weiterhin über vieles sprechen,
was es an Unzulänglichkeiten in Somalia und der angrenzenden Region gibt . Ich rate uns noch immer, liebe
Kolleginnen und Kollegen, nicht nur das zu beschreiben,
was nicht funktioniert, sondern sich die Frage zu stellen:
Was wäre in und um Somalia besser, wenn wir nicht dort
wären? Die Antwort ist: Nichts wäre besser . Vieles wäre
noch schlimmer . - Deswegen ist es wichtig, dass wir bleiben . Für diese Unterstützung bitte ich um Ihre Stimme .
Danke .
({3})
Als nächster Redner spricht Dr . Alexander Neu für die
Fraktion Die Linke .
({0})
Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn
Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrte Frau
Präsidentin! Gestern wie heute sprechen wir über Somalia . Gestern ging es um die Verlängerung von EUTM
Somalia, heute reden wir über die Verlängerung von
Atalanta .
Atalanta läuft seit 2008. Wir befinden uns also jetzt
im zehnten Jahr der Mission Atalanta . Ein Ende der Mission ist nicht abzusehen, es gibt ein paar vage Andeutungen . Das wurde gerade gesagt, aber es sind Zweifel
angebracht .
Für den Mandatszeitraum 2017 bis 2018 wird diese
Mission die Steuerzahler - Sie da oben also ({0})
erneut 63 Millionen Euro kosten . Fragen wir einmal nach
Erfolg oder Misserfolg der Mission Atalanta . Atalanta, so
sagt die Bundesregierung, habe dazu beigetragen, die Piraterie am Horn von Afrika erfolgreich zurückzudrängen .
Die Symptombekämpfung war also erfolgreich . Hier
kann man zustimmen . Demgegenüber ist die Ursachenbekämpfung nach wie vor nicht angegangen worden .
Nach wie vor finden illegale Fischereien fremder Flotten
statt, auch im Binnenmeer, auch im Küstenmeer von Somalia . Das raubt den Fischern die Lebensgrundlage, die
sich dann anderen Erwerbstätigkeiten wie der Piraterie
zuwenden . Diese Duldung unter den Augen von Atalanta, dass dort fremde Flotten illegal fischen, kann ich nicht
nachvollziehen . Das wäre eine Ursachenbekämpfung .
Das heißt, der einzig richtige Weg, den es gibt, das zu
verhindern, wird nicht beschritten . Ich habe bisher noch
keine einzige zufriedenstellende Erklärung gehört, warum Atalanta hier nichts unternimmt . Man könnte den
Eindruck gewinnen, es geht nicht um die Menschen, es
geht auch nicht um die Stabilität des Landes,
({1})
sondern es geht in erster Linie um Interessen - das wurde
gerade auch dargelegt -, es geht um Handelswege .
Die Lebenssituation der Menschen in Somalia verbessert sich derzeit nicht, sondern verschlimmert sich
dramatisch angesichts der anhaltenden Dürre, auch verursacht durch den Klimawandel, der vor allem von den
Industriestaaten und somit auch von Deutschland mit zu
verantworten ist . Nigeria, Südsudan, Somalia - die Menschen dort sind akut vom Hungertod bedroht: Frauen,
Kinder, Männer . Insgesamt leiden rund 20 bis 25 Millionen Menschen an Hunger, sind vom Hungertod bedroht,
rund 6,2 Millionen Menschen allein in Somalia, etwa die
Hälfte der Einwohner Somalias .
Die Bundesregierung kommt daher, und Staatsminister
Roth prahlt vor zwei Wochen: Wir tragen doch 16,5 Millionen Euro gegen den Hungertod bei . 16,5 Millionen
Euro bei 6,2 Millionen Menschen, die akut vom Hungertod bedroht sind, das sind umgerechnet 2,60 Euro für
einen einzigen Tag, Herr Roth, nicht täglich 2,60 Euro,
sondern für einen einzigen Tag . Steigt da nicht die Schamesröte in Ihr Gesicht, bei einer solchen Aussage und einer solch großzügigen Spende? Das ist ein Skandal, sehr
geehrte Damen und Herren .
({2})
Allein das geplante Einsatzjahr 2017/2018 von
Atalanta soll 63 Millionen Euro kosten, also das Vierfache dessen, was Sie spenden wollen. Ich finde, so ein
Zahlenverhältnis sagt mehr aus als tausend moral- und
wertegeschwängerte Sonntagsreden seitens der Bundesregierung .
({3})
Wenn es um Militär geht, sprudeln die Steuergelder .
Wenn es um zivile Hilfe geht, weiß man nicht, wo Geld
ist . Künftig sollen bis zu 35 Milliarden Euro zusätzlich
in die Bundeswehr investiert werden, weil US-Präsident
Trump es will, weil sich die Rüstungsindustrie freut, um
das 2-Prozent-Ziel der NATO zu erreichen . Warum sage
ich das? Das Verhältnis 35 Milliarden Euro zu 16,5 Millionen Euro, die die Bundesregierung großzügig nach Somalia spendet, beträgt 2 150 : 1, also nicht 3-mal so viel,
nicht 7-mal so viel, sondern 2 150-mal so viel. Ich finde,
sehr geehrte Damen und Herren, verantwortungsvolle
Außenpolitik sieht anders aus .
Vielen Dank .
({4})
Als nächster Redner spricht Dirk Vöpel für die
SPD-Fraktion .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir beraten jetzt zum dritten Mal innerhalb der letzten
24 Stunden über die Lage in den Krisenregionen in Ostafrika und rund um das Horn von Afrika . Vielleicht ist
das Zufall, aber der Zeitpunkt für diese Debatten könnte
kaum aktueller gewählt sein . Denn in Ländern wie Somalia, Nigeria und dem Jemen droht eine Hungerkatastrophe, wie sie die Welt seit vielen Jahren nicht mehr gesehen hat . In Teilen des Südsudan, über den wir gestern
Nachmittag gesprochen haben, musste die Hungersnot
bereits offiziell ausgerufen werden. Auch in Äthiopien
und Kenia spitzt sich die Situation aufgrund der anhaltenden Rekorddürre weiter zu .
In Somalia, diesem von Bürgerkrieg, Hunger und
Krankheit geschundenen Land, hängt das Überleben von
Millionen Menschen davon ab, dass die Schiffe des Welternährungsprogramms mit ihren Lebensmittellieferungen die Häfen sicher anlaufen können .
({0})
Dazu leistet die europäische Marinemission Atalanta zur
Bekämpfung der Piraterie entlang der 3 300 Kilometer
langen Küste Somalias einen wesentlichen Beitrag .
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, durch den Golf von
Aden und die angrenzenden Seegebiete im Indischen
Ozean und im Roten Meer verläuft eine Hauptschlagader des Welthandels. Mehr als 20 000 Schiffe, die über
90 Prozent des Handelsvolumens zwischen Europa, Afrika und Asien befördern, passieren diese Gewässer jedes
Jahr . Dieser Seeweg ist aber auch die humanitäre Nabelschnur, über die der regelmäßige Fluss von Hilfslieferungen für die Hungergebiete Ostafrikas sichergestellt
werden kann . Das Letzte, was wir angesichts der ohnehin
schon gigantischen Probleme in dieser Region brauchen,
ist das Wiederaufflammen des somalischen Piratenunwesens .
Atalanta ist und bleibt ein europäisches Erfolgsprojekt . Diese Operation der Gemeinsamen Sicherheits- und
Verteidigungspolitik hat seit der ersten Mandatierung im
Jahr 2008 im Zusammenwirken mit anderen Staaten und
privaten Akteuren ganz unbestreitbar positive Fakten geschaffen. Die Piraterie konnte drastisch zurückgedrängt
werden . Seit 2012 ist es den Piraten fast fünf Jahre lang
nicht ein einziges Mal gelungen, ein Schiff in ihre Gewalt zu bringen . Auf dem Höhepunkt der Piratenkrise im
Januar 2011 wurden noch über 700 Seeleute auf mehr
als 30 Schiffen als Geiseln gehalten. Gegenwärtig sind
es keine . Die seegehenden Einheiten von Atalanta haben
mehr als 400 Schiffe des Welternährungsprogramms der
UNO und weit über 100 Versorgungstransporte für die
AMISOM-Friedenstruppe der Afrikanischen Union sicher in die somalischen Häfen eskortiert .
Vor etwas mehr als zwei Wochen, am 13 . März, ist es
einer Gruppe Somalier erstmals seit einem halben Jahrzehnt wieder gelungen, ein Schiff zu kapern. Glücklicherweise konnte diese Entführung nach vier Tagen ohne
Blutvergießen und angeblich auch ohne Lösegeldzahlung beendet werden, übrigens unter maßgeblicher Mitwirkung von Atalanta-Kräften vor Ort und im operativen
Hauptquartier in Northwood. Liebe Kolleginnen und
Kollegen, dieser Vorfall markiert noch keine Trendwende, und er ist sicher auch nicht das Fanal zur Rückkehr
der Piraterie auf breiter Front . Aber wir sollten diese Entführung als Warnschuss verstehen: Die bisher erreichten
Erfolge sind nicht in Stein gemeißelt oder unumkehrbar,
es kann auch wieder schlimmer werden .
Die somalischen Piraten werden derzeit durch die
robuste Marinepräsenz und die erfolgte Aufrüstung der
Handelsschifffahrt abgeschreckt. Wir haben die Symptome im Griff. Die tieferen Ursachen für die Piraterie lassen
sich hierdurch aber nicht beseitigen . Für eine nachhaltige Sicherung der Seewege kommt es vor allem darauf
an, den Fortschritt beim Aufbau staatlicher Strukturen in
Somalia, einschließlich des Aufbaus der Fähigkeiten der
Sicherheitsbehörden an Land und zur See, weiter voranzutreiben . Ziel bleibt, die somalischen Behörden in die
Lage zu versetzen, die Kontrolle über das gesamte Staatsgebiet einschließlich des angrenzenden Küstenmeers autonom auszuüben . Die demokratischen Fortschritte bei
den Parlamentswahlen und der anschließenden Wahl des
neuen somalischen Präsidenten am 8 . Februar 2017 sind
ermutigende Teilerfolge .
Die EU engagiert sich mit ihrem umfassenden Ansatz
am Horn von Afrika . Neben substanziellen Finanzbeiträgen an die AU-Mission AMISOM ist die EU in erheblichem Maße involviert: politisch, entwicklungspolitisch
und humanitär . Im Rahmen der GSVP ist die Europäische Union neben Atalanta auch mit der zivilen Mission
EUCAP Somalia sowie der Ausbildungsmission EUTM
Somalia aktiv; wir haben gestern die deutsche Beteiligung an dieser Mission um ein Jahr verlängert . In diesem
Zusammenhang dient das militärische Engagement im
Rahmen der Operation Atalanta als „Rückversicherung
zur See“ für den umfassenden Stabilisierungsansatz der
EU an Land .
Mit Blick auf die weitere Zukunft der Operation und
die im laufenden Jahr 2017 zu erarbeitende Anpassungsstrategie kann das nur heißen: Bloß nichts überstürzen!
Bewährte und eingespielte Strukturen lassen sich leider
viel leichter abwickeln als wieder aufbauen . Wir sollten
die erreichten Erfolge jedenfalls nicht leichtfertig aufs
Spiel setzen .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Beitrag der
Bundeswehr kann sich sehen lassen: Seit der Erstmandatierung vor fast 10 Jahren hat die deutsche Marine regelmäßig Fregatten, Korvetten, Einsatzgruppenversorger
und vor allem auch Seefernaufklärer in den Einsatz am
Horn von Afrika entsandt . Zurzeit dienen insgesamt über
90 Soldatinnen und Soldaten unter dem neuen deutschen
Kontingentführer, Fregattenkapitän Heiko Millhahn, bei
Atalanta . Seien Sie von dieser Stelle herzlich gegrüßt .
Mein Dank gilt den mittlerweile mehr als 10 000 Angehörigen der Bundeswehr, die seit 2008 dazu beigetragen haben, die Seewege rund um das Horn von Afrika
zu sichern . Sie haben einen hervorragenden Job gemacht .
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
({2})
Jürgen Trittin hat als nächster Redner das Wort für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ja,
Atalanta macht Sinn . Anders als zum Beispiel für den
Einsatz von deutschen Tornados über Syrien gibt es hier
eine eindeutige völkerrechtliche Grundlage . Atalanta
schützt im europäischen Verbund internationale Rechtsgüter . Der Zugang zum Beispiel der internationalen
Hilfsorganisationen nach Somalia und übrigens auch der
Schutz der Seewege im Sinne der SeerechtsübereinkünfDirk Vöpel
te sind internationale Rechtsgüter . Sich daran zu beteiligen, ist sinnvoll .
({0})
Nun muss man eines dazusagen: Die Bundesregierung
hat einen Anteil daran, dass der Erfolg der Mission gefährdet ist . Herr Vöpel, Sie haben es eben gesagt: Es gab
zum ersten Mal seit langem wieder einen Piratenüberfall .
Das hat Ursachen, und diese Ursachen können Sie am
heutigen Tag festmachen .
Heute ist der letzte Tag des Monats März . Bis heute
wollten die Vereinten Nationen von ihren Mitgliedstaaten 4,4 Milliarden Euro haben, um 20 Millionen Menschen, die in dem Gürtel von Somalia bis rüber nach Nigeria leben, vor akutem Verhungern zu bewahren . Und es
ist eine Schande, eine moralische Schande, dass dies bis
heute nicht gelungen ist . Auch Deutschland hat sich nicht
entsprechend seinen Beiträgen beteiligt .
({1})
Was hat das mit Atalanta zu tun? Sehr viel! Denn die
unzureichende Finanzierung des World Food Programme
führt dazu, dass nicht in großem Stil und mit langfristigen Verträgen eingekauft werden kann . Das heißt, sie
kriegen für das gleiche Geld weniger . „Weniger“ heißt,
weniger zu transportieren . Man braucht keine großen
Schiffe mehr einzusetzen. Man setzt kleinere Schiffe
ein. Was heißt das vor Somalia? Kleinere Schiffe werden
schneller Opfer von Piraterie . Das heißt, Ihr Versagen bei
der humanitären Hilfe gefährdet den Erfolg, weil Piraterie begünstigt wird . Deswegen glaube ich, Sie sollten in
sich gehen und sehr schnell dafür sorgen, dass Deutschland wenigstens seinen Teil erfüllt . Sie können sich doch
nicht ernsthaft die Logik von Donald Trump zu eigen
machen: Ich gebe mehr fürs Militär aus und nehme das
Geld dafür aus dem Topf für die Entwicklungshilfe . Das
wird nicht funktionieren .
({2})
Sie haben recht, Herr Neu: Nötig wäre es auch, Maßnahmen zu ergreifen, damit dort nicht weiter illegal gefischt wird und Ähnliches. Aber dadurch, dass Sie das
feststellen, wird daraus kein Argument gegen Atalanta;
denn selbst wenn Sie solche Maßnahmen ergreifen würden, müssten Sie kurzfristig dafür sorgen, dass beispielsweise die Versorgung von AMISOM und des World Food
Programme durchkommt .
Jetzt komme ich zu einem Punkt, der mich immer ein
bisschen wundert, liebe sozialdemokratischen Freundinnen und Freunde .
({3})
- Nein, es geht gar nicht um Wahlkampf . - Wir waren
uns mal einig:
({4})
Diese Mission ist in Ordnung; aber man darf diese Mission nicht dadurch belasten, dass man gleichzeitig das
Mandat erteilt, in Somalia an Land selber Krieg zu führen . - Jetzt stellen wir fest: Es ist überaus unklar, wie
lange die Mission noch laufen wird . In den letzten fünf
Jahren, seit diese Option besteht, ist diese Option ein
einziges Mal genutzt worden . Welchen Grund gibt es eigentlich, diese Option angesichts einer, zumindest was
die EU angeht, auslaufenden Mission weiterhin aufrechtzuerhalten? Wäre es nicht jetzt an der Zeit, zu sagen: Wir
konzentrieren uns auf das, was nötig ist; wir sichern die
Versorgung der Menschen, indem wir genug Geld zur
Verfügung stellen; wir sichern die Transporte ab, aber
wir hören auf, an Land Krieg zu spielen . Für ein solches
Mandat hätten Sie hier eine sehr breite Mehrheit .
({5})
Als letzte Rednerin in der Aussprache hat Julia
Obermeier für die CDU/CSU-Fraktion das Wort .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen!
Die Menschen in Somalia stehen vor einer humanitären Katastrophe . 6,2 Millionen Menschen hungern, davon allein 300 000 Kinder . Wenn nicht
schnell Hilfe ankommt, werden Tausende Menschen sterben .
Mit diesen Worten hat Ihre Kollegin von der Linken
gestern die Situation in Somalia beschrieben . Ja, die
Menschen am Horn von Afrika leiden, und sie brauchen
unsere Hilfe . Aber damit diese Hilfe ankommen kann,
brauchen wir die Operation Atalanta: um die Schiffe des
Welternährungsprogramms zu schützen .
Mit diesem maritimen Einsatz wurden die Piraten
am Horn von Afrika zurückgedrängt . In der Hochphase,
2011, gab es rund 250 Piratenangriffe. 30 Schiffe und
900 Menschen waren in der Gewalt von Piraten . Die
Schiffe des Welternährungsprogramms wurden zu dieser
Zeit mehrmals wöchentlich angegriffen.
Frau Obermeier, lassen Sie eine Zwischenfrage des
Abgeordneten Neu zu?
Ja, bitte .
Geschätzte Kollegin Obermeier, wir reden gerade wieder über Symptombekämpfung: World Food Programme
etc . Aber es geht doch darum, dass das Land, dass die
Gesellschaft in Somalia zumindest mittel- und langfristig wieder auf eigenen Beinen stehen kann . Ich habe es
gerade angesprochen - der Kollege Trittin auch -: Warum wird Atalanta nicht in die Lage versetzt, die RaubfiJürgen Trittin
scherei im Hoheitsgebiet des somalischen Küstenmeeres
zu unterbinden? Warum duldet man das? Warum schaut
man zu? Haben Sie dafür eine Begründung?
({0})
Herr Kollege Neu, es geht bei den Problemen in Somalia nicht allein um die Raubfischerei. Die Ursachen
liegen tiefer . Die Bundesregierung verfolgt einen vernetzten Ansatz mit Maßnahmen im Bereich Polizei, mit
Maßnahmen zum Aufbau staatlicher Strukturen und zur
Stärkung der eigenen Sicherheitsstrukturen in Somalia .
Darauf gehe ich später in meiner Rede noch ein .
({0})
Seit fast fünf Jahren gab es keine Piratenangriffe
mehr in der Region . Nur so erreichen die Lieferungen
des Welt ernährungsprogramms ihr Ziel, nämlich die notleidende Bevölkerung von Somalia . Freie und sichere
Seewege sind wichtig für die humanitäre Hilfe und auch
für den internationalen Handel . Allerdings wurde vor gut
zwei Wochen erstmals wieder ein Schiff von somalischen
Piraten gekapert . Das zeigt: Sobald die internationale
Gemeinschaft hier nachlässt, schlagen die Piraten wieder
zu . Deshalb brauchen wir die Mission auch in Zukunft,
und deshalb braucht es auch weiterhin die Unterstützung
der Bundeswehr .
({1})
Seit 2008 beteiligt sich die Bundeswehr mit Schiffen,
Booten und Flugzeugen, aktuell mit einem Seeaufklärungsflugzeug. Ebenso wichtig ist uns aber auch, Herr
Neu, der Aufbau Somalias . Derzeit setzt Deutschland
hierfür in der Entwicklungszusammenarbeit Mittel in
Höhe von über 100 Millionen Euro ein . Deutschland ist
damit der viertgrößte internationale Geldgeber . Diese
Hilfe ist aufgrund der Dürre und der drohenden Hungersnot dringend notwendig . Denn die Dürre bedroht auch
die möglichen politischen Fortschritte nach der Wahl, die
im Februar stattgefunden hat . Der neue Präsident Farmajo gilt als relativ unabhängiger Kandidat . Er hat der
Korruption den Kampf angesagt. Das ist ein Hoffnungsschimmer . Aber neben der dringend notwendigen Versorgung der Bevölkerung liegen weitere Mammutaufgaben
vor ihm, insbesondere beim Aufbau staatlicher Strukturen und starker Sicherheitskräfte .
Auch hier unterstützten die internationale Gemeinschaft und Deutschland Somalia . Deutschland stellt derzeit bis zu fünf Polizisten, darunter den Leiter der Polizeikomponenten, in der politischen Unterstützungsmission
UNSOM . Auch beteiligen wir uns an EUTM Somalia,
die mehr als eine reine Ausbildungsmission ist . Sie unterstützt auch die somalischen Behörden bei der Errichtung
starker staatlicher Strukturen . Im Rahmen von EUCAP
Somalia bilden wir Küstenschutzkräfte für den Aufbau
einer somalischen Küstenwache aus . Das ist natürlich
besonders wichtig, damit die Somalier selbst gegen Piraten und gegen illegale Fischerei in ihren Hoheitsgebieten
vorgehen können . Es ist ein Fortschritt, meine Damen
und Herren, dass die somalische maritime Polizeieinheit
seit kurzem in der Bucht von Mogadischu patrouilliert .
Deutschland verfolgt in Somalia einen umfassenden
Ansatz, der sowohl sicherheitspolitische als auch entwicklungspolitische Instrumente miteinander vernetzt .
Auch wenn auf EU-Ebene eine Strategie erarbeitet wird,
wie die Antipirateriemission eines Tages beendet werden
kann, ist klar, dass wir hier einen langen Atem brauchen
werden, um eines der ärmsten Länder der Welt, Somalia, nachhaltig zu stabilisieren . Deshalb unterstützen wir
diese erfolgreiche maritime Mission Atalanta auch weiterhin .
Vielen Dank .
({2})
Damit schließe ich die Aussprache .
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/11621 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . - Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall . Dann ist die Überweisung
so beschlossen .
Ich komme zum nächsten Tagesordnungspunkt . Ich
bitte die Kolleginnen und Kollegen, die Plätze zu wechseln, damit wir in unseren Beratungen zügig fortfahren
können .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 37 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur
Änderung des E-Government-Gesetzes
Drucksache 18/11614
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss Digitale Agenda
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen . - Ich höre dazu
keinen Widerspruch . Dann ist das so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Parlamentarische Staatssekretär Dr . Ole Schröder für die
Bundesregierung das Wort .
({1})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! In Zeiten der Digitalisierung sind Daten ein immer wichtiger werdender Rohstoff.
({0})
Der Staat verfügt über einen enormen Datenschatz, der
für unterschiedliche Geschäftsmodelle genutzt werden
kann .
Open Data, also offene Daten, beschreibt ein Konzept,
bei dem diese Daten für jedermann ohne Zugangsbeschränkungen frei verfügbar sind . Dazu müssen sie unbearbeitet und vor allen Dingen maschinenlesbar sein . Die
Daten können dann nachgenutzt und verbreitet werden,
soweit keine Rechte Dritter entgegenstehen . Wir wollen
dem Prinzip der offenen Daten mit diesem Gesetzentwurf
endlich zum Durchbruch verhelfen, meine sehr verehrten
Damen und Herren .
({1})
Der gewünschte Grad an Transparenz und Offenheit
erfordert ein Umdenken in der Verwaltung . Der dazu notwendige Kulturwandel setzt eine klare Legitimation und
vor allen Dingen Sicherheit für die Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter in den Behörden des Bundes voraus . Will
Deutschland die Vorteile offener Daten in vollem Umfang nutzen können, muss dieser Prozess durch gesetzliche Regelungen begleitet und vorangetrieben werden .
Bereits im Dezember des vergangenen Jahres hat die
Bundesregierung die Teilnahme Deutschlands an der internationalen Open Government Partnership erklärt . Wir
haben damit ein klares Signal für offenes und transparentes Handeln gesetzt . Der vorgelegte Gesetzentwurf ist
ein wichtiger Meilenstein auf diesem Weg, meine sehr
verehrten Damen und Herren .
({2})
Der Gesetzentwurf setzt zentrale Kriterien für Open
Data um: die entgeltfreie Bereitstellung und den freien
Zugang zu den Daten sowie die Maschinenlesbarkeit .
Vor allem läuten wir einen Paradigmenwechsel im Umgang mit aus Steuergeldern finanzierten Daten ein. Diese müssen künftig standardmäßig veröffentlicht werden.
Dieses Prinzip des „Open Data by default“ führt dazu,
dass bei allen Daten zu fragen ist, warum sie nicht veröffentlicht werden können, anstatt zu fragen, warum sie
veröffentlicht werden müssen.
Bei der Erstellung des Gesetzentwurfs mussten auch
die zu erwartenden Aufwände und die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Herausgabe von Daten berücksichtigt werden . Der Entwurf beschränkt sich daher auf
sogenannte Rohdaten . Berichte, Stellungnahmen, Bewertungen oder gar sensible Daten sind nicht erfasst;
denn deren Bereitstellung ist durch das Informationsfreiheitsgesetz geregelt .
Der Gesetzentwurf wahrt die Arbeitsfähigkeit der Verwaltung . Gerade im Bereich der Sicherheitsbehörden ist
es natürlich Voraussetzung für erfolgreiche Arbeit, dass
nicht alle Daten und Informationen öffentlich sein können . Personenbezogene Daten sind selbstverständlich
zu schützen und nicht zu veröffentlichen. Auch der Zeitpunkt der Freigabe von sensiblen Informationen kann
relevant sein . Deshalb sind im vorliegenden Gesetzentwurf entsprechende Ausnahmen aufgeführt . Ziel bei der
Umsetzung wird sein, möglichst viele Daten zu veröffentlichen und nicht möglichst viele Ausnahmegründe
anzuwenden .
Die Auffindbarkeit wird über die von Bund und Ländern gemeinsam betriebene zentrale Open-Data-Plattform sichergestellt . Die Konferenz der Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten der Länder hat auch
beschlossen, dass die Länder ebenfalls Open-Data-Regeln erlassen werden . Sie werden sich dabei an den Regelungen des Bundes orientieren . Deshalb ist es notwendig, dass wir das auf den Weg bringen . Der Bund nimmt
deshalb mit diesem Gesetzentwurf eine Vorreiterrolle
ein, meine Damen und Herren .
({3})
Wirklich erfolgreich kann Open Data jedoch nur werden, wenn alle Ebenen wirklich an einem Strang ziehen,
das Thema gemeinsam als Chance begreifen und den
Kulturwandel in den Verwaltungen auf den unterschiedlichen Ebenen vorantreiben . Die Bundesregierung will
ihren Teil dazu beitragen sowie Open Data fordern und
fördern . Der vorgelegte Gesetzentwurf ist hierfür ein
wichtiger Meilenstein .
Vielen Dank, meine sehr verehrten Damen und Herren .
({4})
Dr . Petra Sitte hat als nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke das Wort .
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!
Es ziemt dem Untertanen nicht, an die Handlungen
der Obrigkeit den Maßstab seiner beschränkten Einsicht anzulegen . . .
So wird der preußische Innenminister von Rochow aus
dem Jahr 1838 zitiert . Damit ist auch das Staatsverständnis auf den Punkt gebracht, dem wir historisch das Prinzip des Aktengeheimnisses verdanken . Wenn auch spät,
wurde dies in Deutschland 2005 durch das Informationsfreiheitsgesetz erstmals aufgebrochen und mit ihm ein
voraussetzungsloses Recht auf staatliche Informationen
geschaffen. Wenn es aber darum geht, dass die öffentliche Hand einen Schritt weiter geht und von sich aus Informationen und Daten zur Verfügung stellt, bleiben wir
noch weit hinter dem Möglichen zurück . Dabei gibt es
hier ein enormes Potenzial, was den öffentlichen Nutzen
anbetrifft.
Nun liegt uns nach Jahren der Ankündigungen der
Entwurf eines Open-Data-Gesetzes vor . Besser spät als
nie, könnte man sagen . Aber statt dem Vorbild mehrerer
Bundesländer zu folgen und das Informationsfreiheitsgesetz zu einem echten Transparenzgesetz weiterzuentwickeln, wie wir, die Linke, es hier zuletzt im Februar
vergangenen Jahres beantragt hatten, verbleibt der Vorschlag in einem sehr kleinen Rahmen;
({0})
das hat ja auch der enthusiastische Beitrag von Herrn
Schröder gezeigt .
({1})
Weder schafft er tatsächlich ein durchsetzbares Recht
auf die Veröffentlichung von Daten, noch erfasst er mehr
als einen kleinen Ausschnitt der Bereiche, in denen offene Daten nutzbringend eingesetzt bzw . genutzt werden
könnten;
({2})
denn laut Entwurfstext bestehen viele Einschränkungen
und Ausnahmen .
Demokratie und Mitbestimmung? Fehlanzeige . So ist
der Geltungsbereich des Gesetzentwurfs auf die unmittelbare Bundesverwaltung beschränkt . Das heißt also,
zahlreiche Behörden und andere, nachgelagerte Institutionen mit durchaus interessanten Datenbeständen werden überhaupt nicht erfasst . Er schließt beispielsweise
Daten aus, die für Forschungszwecke erhoben wurden .
Er schließt Daten aus, die vor Inkrafttreten des Gesetzes
erhoben wurden - selbst wenn sie veröffentlichungsbereit vorliegen . Daten sollen auch dann aus dem Anwendungsbereich fallen, wenn sie Verhältnisse der Behörde
selbst betreffen. Offene Haushaltsdaten oder Informationen zum Aktenbestand wird es dann also auch hier nicht
geben .
An dieser Stelle wird ein grundlegendes Problem
deutlich: Dem ganzen Entwurf liegt ein Verständnis von
Open Data zugrunde, das nur den Aspekt der wirtschaftlichen Verwertung in den Blick nimmt, nicht aber den
möglichen Gewinn an politischer Transparenz und damit
eben auch nicht den demokratischen Gewinn, der damit
verbunden sein könnte .
({3})
Nur konsequent ist, dass im Vergleich zu früheren Entwürfen auch alle Bezüge darauf aus der Begründung entfernt wurden . Damit bleibt die Bundesregierung hinter
dem zurück, was sie selbst in ihrer Digitalen Agenda formuliert hat .
Als wirklicher Schritt nach vorn bleibt hier allein die
Einrichtung einer zentralen Beratungsstelle zu nennen .
Gerade dabei ist aber umso unverständlicher, wieso die
Beratungsleistung nur der unmittelbaren Bundesverwaltung und nicht allen Behörden gleichermaßen zugutekommen soll .
({4})
Ansonsten gilt: Wenn dieser Gesetzestext die Grenzen
von Open Data für die Zukunft abstecken soll, so wird er
am Ende mehr Bremse als Motor sein .
Danke schön .
({5})
Als nächster Redner hat Sebastian Hartmann für die
SPD-Fraktion das Wort .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, das Open-Data-Gesetz liegt endlich vor, und es
kommt im ersten Regierungsentwurf zur Änderung des
E-Government-Gesetzes daher; das ist in der Tat richtig .
Selbstverständlich ist es so - da werbe ich um das Verständnis aller Kolleginnen und Kollegen hier im Hohen
Hause -: Wir befinden uns in der ersten Lesung, wir reden über einen Entwurf, und natürlich kann man einen
Entwurf noch verbessern . - Das soll aber nicht darüber
hinwegtäuschen, dass wir damit auch einer Vereinbarung
des Koalitionsvertrages nachkommen . An dieser Vereinbarung im Koalitionsvertrag werden wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten uns auch messen lassen .
Sie lautete:
Die Bundesverwaltung muss auf Basis eines Gesetzes mit allen ihren Behörden Vorreiter für die
Bereitstellung offener Daten in einheitlichen maschinenlesbaren Formaten und unter freien Lizenzbedingungen sein .
Darauf hatten wir uns damals geeinigt . Wir werden einmal schauen, ob wir vielleicht noch weitergehen können,
weil wir im jetzt vorliegenden Entwurf nur die unmittelbaren Bundesbehörden aufgeführt haben .
In der Tat ist das ein erster Schritt . Aber da wir die
nationalen Aktionspläne und entsprechenden Plattformen auch im internationalen Vergleich kennen, ist klar,
dass die entsprechenden Gesetze - beginnend mit dem
Informationsfreiheitsgesetz, das wir als rot-grüne Bundesregierung schon 2005 auf den Weg gebracht haben perspektivisch zu einem umfassenden Gesamtwerk zusammengefasst werden müssen . Da sind wir gar nicht
weit auseinander . Das muss das Ziel des Handelns sein,
und deswegen nehmen wir diesen Gesetzentwurf der
Bundesregierung auch als Ansatzpunkt für eine echte
parlamentarische Beratung, liebe Kolleginnen und KolDr. Petra Sitte
legen, um das Gute vielleicht doch noch etwas besser
machen zu können .
({0})
Die Weiterentwicklung ist notwendig . An dieser Stelle
folgen wir immerhin glatte zwölf Jahre später dem ersten Ansatz; der Zeitrahmen ist somit nicht wirklich eng .
In der Gesetzesbegründung - wir nehmen das Wort der
Bundesregierung ja wie immer ernst - kann man jedoch
lesen, dass es in zahlreichen Bundesbehörden noch gar
keine Open-Data-Strategie gibt . Das zeigt auf, liebe Kolleginnen und Kollegen des Deutschen Bundestages, dass
gerade wir als Parlament jetzt aufgefordert sind, uns mutig aufzumachen und zu sagen: Das ist unsere Idee . Wir
wollen hier vorangehen und Deutschland damit eines der
modernsten Open-Data-Gesetze überhaupt geben .
({1})
- Das kann als Ansatzpunkt dienen, Herr Kollege von
Notz . Ich werde auch Ihren Worten - Sie folgen mir ja
in wenigen Minuten nach, können es aber anscheinend
kaum erwarten - lauschen . Es geht ja um ein gemeinsames parlamentarisches Handeln . Einige Punkte des
Gesetzentwurfes sollten wir uns deshalb tatsächlich noch
einmal genauer anschauen .
Es ist zum Beispiel denkbar, dass man über einen
allgemeinen Rechtsanspruch nachdenkt und zu diesem
Zweck das Thema einmal nicht aus der Sicht der Behörden betrachtet . Ich würde hier als Sozialdemokrat
natürlich einen Unterschied zu den Linken machen, die
sich einer Aussage des preußischen Innenministers bedient haben: Das soll nicht unsere Leitlinie sein . Nein,
ich glaube, bei einem modernen Verständnis von Staat
und Gesellschaft ist der Staat die Gesellschaft, und damit
gibt es auch einen entsprechenden Anspruch darauf, auf
Daten, die einmal geschaffen und bereitgestellt wurden,
auch zugreifen zu können .
Das Vorhaben bietet auch eine große Chance, hier etwas für die Digitalisierung zu tun, Deutschland in diesem
Bereich voranzubringen und zu einem der kreativsten
Räume der Welt zu machen . Das bringt auch mit sich,
dass wir uns noch einmal anschauen müssen, wie es eigentlich mit den Daten aussieht, die wir erhoben haben,
bevor das Gesetz in Kraft tritt . Auch hier können wir uns
etwas Progressiveres vorstellen und würden auch gerne
weitergehen . Bitte nicht missverstehen: Wir wollen keinen unnötigen Verwaltungsaufwand betreiben . Es geht
nicht darum, die Bundesbehörden, die effizient arbeiten,
noch stärker zu belasten und mit weiteren Aufgaben zu
überfrachten . Aber lassen Sie uns doch die Datenbestände anschauen, die wir haben .
Das leitet mich zu einem dritten Punkt über: Wir
könnten uns diesem Thema vielleicht auch einmal andersherum nähern und sagen: Nein, alle Daten, die wir
haben, sind vom Prinzip her offen, und die Ausnahme ist
zu begründen . - Es gibt entsprechende Vorschläge für ein
Ampelverfahren, für genaue Prüfungen und zur Anonymisierung, sodass Dritte mit diesen Daten nicht etwas tun
können, was man mit einem Open-Data-Ansatz gerade
nicht erreichen wollte .
Überall da liegen große Chancen, und ich hoffe sehr
auf das Beratungsverfahren . Wir sollten uns das in den
Ausschussberatungen - auch im Dialog mit unserem Koalitionspartner - noch einmal genau anschauen und uns
überlegen, was man noch tun könnte .
Es geht also um neue Daten, verbunden mit dem Ansatz - das könnte man auch als Anspruch formulieren -,
dafür zu sorgen, dass diese Daten breit verfügbar sind
und das Ganze nicht mit Regeln und Ausnahmen komplizierter wird, als es notwendig ist, liebe Kolleginnen
und Kollegen .
({2})
Wir haben den Koalitionsvertrag zu Anfang erwähnt .
Das ist die Maßgabe . Ohne diesen Koalitionsvertrag, den
wir gemeinsam beschlossen haben, wäre es sicherlich
nicht zu diesem Gesetzentwurf gekommen . Die Regierung ist nun den Koalitionsfraktionen zuvorgekommen,
die ansonsten sicher einen eigenen Open-Data-Ansatz
formuliert hätten .
Ich glaube, dass der vorliegende Entwurf zur Änderung des E-Government-Gesetzes ein guter Ausgangspunkt für die Beratungen ist . Er bietet große Chancen .
Wir können uns an Nachbarstaaten orientieren, um das
Ziel zu erreichen, das auch in der Gesetzesbegründung
dargelegt worden ist: Wir wollen den modernsten Ansatz
und den modernsten Zugang zu Informationen, wir wollen den Informationsfreiheitsanspruch weiterentwickeln
und den Open-Data-Ansatz umfassend in allen Bundesbehörden - ich betone: in allen Bundesbehörden, nicht
nur in den bundesunmittelbaren - implementieren . Es
wird dann auch so kommen, wie der Herr Staatssekretär
ausgeführt hat: Wir werden als Bundesebene mit gutem
Beispiel anderen staatlichen Ebenen vorangehen können .
Ich freue mich auf die Beratungen und lade uns herzlich dazu ein, das Gute noch besser zu machen . Ansätze
dafür sind ja mehr als zur Genüge vorhanden .
Danke .
({3})
Dr . Konstantin von Notz hat als nächster Redner das
Wort für die Grünen .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Offene Daten sind heute mehr denn je von einer enormen Bedeutung für Teilhabe und Innovationskraft in Gesellschaft,
Wissenschaft und Wirtschaft - vom Start-up über Forschungscluster bis zur persönlichen Recherche . Hierin
sind wir uns, nach den Redebeiträgen zu urteilen, alle
einig . Insofern ist dies zwar ein viel zu später, aber ein
erster richtiger Schritt, Herr Staatssekretär; kein Meilenstein, aber immerhin ein Meilensteinchen .
({0})
- Ja, fast . Die Betonung liegt auf „fast“ .
Bürgernah, transparent und nachvollziehbar agierende Behörden sind das beste Mittel gegen staatsfeindliche
Populisten und Verschwörungstheoretiker . Statt sich und
ihre Datenschätze zu verstecken, kann eine offene und
selbstbewusste Staatlichkeit, die zugänglich und nachvollziehbar ist, nur Vertrauen gewinnen, meine Damen
und Herren. Doch Sie haben es offensichtlich in der Ressortabstimmung noch hinbekommen, jeden Hinweis auf
das - ich zitiere - „Informationsungleichgewicht zwischen öffentlicher Verwaltung und Gesellschaft“ zu tilgen .
Ja, die Selbstverständlichkeit, dass eine informierte
Bürgerschaft sich stärker beteiligt und damit zu besserem
Regierungshandeln führt, musste aus der Vorlage wieder
heraus .
({1})
Offensichtlich haben Sie an wirklicher Transparenz und
Teilhabe nur wenig Interesse . Warum eigentlich? So geht
es jedenfalls im Jahr 2017 nicht, meine Damen und Herren .
({2})
Aber diese Haltung erklärt auch, warum Sie nun nur noch
die unmittelbare Bundesverwaltung, nicht aber öffentliche Stiftungen oder Körperschaften erfassen wollen, obwohl dort ganz erhebliche Aufgaben und Umsätze, also
auch Daten von großem Wert, liegen . Auch eine rasch
greifende Regelung für die Forschungsdaten: Fehlanzeige! Man wartet lieber jahrelang auf eine EU-Reform .
Daten über Behördenvorgänge selbst sollen pauschal
gar nicht zugänglich sein . Sicher, es gibt hier legitime
Schutzbelange - keine Frage -, doch oft auch berechtigten Informationsbedarf. So viel Differenziertheit war Ihnen dann doch zu heikel . So kommt man eben zu nichts,
weder in der Netzpolitik noch bei Open Data, meine Damen und Herren .
Wenn der Bundeskanzlerin auf dem IT-Gipfel ausgerechnet nur das Ende der Datensparsamkeit einfällt und
der Mautminister der Automobilwirtschaft das Dateneigentum andient, dann darf man sich nicht wundern,
dass Sie hier nach Jahren des Wartens bei diesem breiten gesellschaftlichen Thema - die Kollegin Sitte hat es
gesagt - einen reinen wirtschafts- und wahlkampfgetriebenen Kurzsprung hinlegen . Wir brauchen aber endlich
ein umfassendes Transparenzgesetz, das die wichtigen
Grundlagen im IFG zusammen- und fortführt . Hamburg
und Nordrhein-Westfalen haben das beispielhaft vorgemacht .
({3})
So überfällig und richtig dieses Gesetz nach jahrelangem Warten auch ist: Es ist einfach zu wenig Substanz
und zu viel Big-Data-Budenzauber . Das gilt gerade für
den neuralgischen Datenschutz . Hier können wir uns
nicht allein auf ein elf Jahre altes IFG verlassen . Angesichts immer größerer Datenberge, die immer besser
vernetzt und ausgewertet werden, braucht es Schutzstandards auf dem neuesten Stand und eine Beratungsstelle - auch das hat Kollegin Sitte angesprochen -, die ihren
Namen auch verdient, und nicht nur ein paar Planstellen .
Die Praxiserfahrung mit dem IFG zeigt: Es kommt auf
den Verwaltungsalltag an . Nehmen Sie dafür Geld in die
Hand! Volkswirtschaftlich lohnt es sich, aber auch für die
Verwaltung selbst .
Ob die unendlich peinliche Geschichte um die Störerhaftung, die zögerliche Ambivalenz bei der IT-Sicherheit,
der absolute Stillstand im Urheberrecht oder das Chaos
bei Hate Speech: An Ihrer verpfuschten Leistungsbilanz
im Bereich des Digitalen ändert das bisschen Open Data
heute leider gar nichts, meine Damen und Herren .
Herzlichen Dank .
({4})
Als letzter Redner in dieser Aussprache hat Thomas
Jarzombek für die CDU/CSU-Fraktion das Wort .
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich darf
einfach sagen: Ich bin wirklich stolz . Ich bin wirklich
stolz darauf, dass wir jetzt hier heute stehen und sagen
können, dass wir es hinbekommen haben, in erster Lesung über das Open-Data-Gesetz zu verhandeln . Das ist
ein großer Erfolg, weil der Weg lang gewesen ist .
Lieber Kollege von Notz, trotz der einen oder anderen kritischen Einlassung darf ich aber auch Ihnen Danke
schön sagen. In der Enquete-Kommission der letzten Legislaturperiode haben Sie die Projektgruppe „Demokratie
und Staat“ geleitet . Und Sie haben anhand von zehn Kriterien zu diesem Thema maßgebliche Vorgaben gemacht,
von denen ich glaube, dass wir sie auch alle erfüllen .
Zur Frage, ob hier mehr geht, hat der Kollege
Hartmann schon eine Menge gesagt . Ich kann seinen
heutigen Ausführungen - im Gegensatz zu denen von
gestern - durchgehend zustimmen . Aus diesem Grunde
kann ich also nur sagen: Da geht sicherlich noch was im
Verfahren .
({0})
Aber worüber reden wir hier heute eigentlich? Meine
Damen und Herren, wenn wir in Deutschland über eine
Internetinfrastruktur nachdenken, fällt den Deutschen häufig erst einmal Hardware ein. In Hardware sind wir einfach
gut . Da geht es um Breitbandkabel, Mobilfunksender und
Satellitenverbindungen . Den vielleicht wichtigeren Infrastrukturrahmen stellen heute aber die Daten dar . Ohne
Daten funktioniert das Internet nicht . Derjenige, der die
Daten hat und mit ihnen arbeiten kann, ist der Innovationsführer . Und dem folgt am Ende alles - bis hin zu den
Arbeitsplätzen und dem, was mit dranhängt. Deshalb finde
ich es so wichtig, dass wir hier einen Einstieg finden und
sagen: Auch die Daten des Staates sind ein großer Schatz .
Sie sind ein Schatz für Innovationen und für die Wirtschaft .
({1})
Deshalb ist das Open-Data-Thema auch ein wirtschaftspolitisches .
Ich habe schon am Mittwoch in unserer Ausschusssitzung gesagt - das adressiere ich an die Wirtschaftsministerin -: Wenn in dem gesamten Weißbuch zu digitalen
Plattformen nur ein einziger Satz dem Thema Open Data
gewidmet wird, dann wird offensichtlich, dass das Thema zumindest im Wirtschaftsministerium noch nicht so
verstanden worden ist, wie es notwendig wäre . Deshalb
habe ich hier und heute die Bitte - das ist auch eine Aufforderung -, dass das ein Thema auch des Wirtschaftsministeriums werden muss . Das ist von ganz entscheidender Bedeutung .
({2})
Sie finden im Gesetzentwurf die verschiedensten
Zahlen in Bezug dazu gesetzt, welchen volkswirtschaftlichen Nutzen das Ganze erbringt . Nicht zuletzt hat die
Konrad-Adenauer-Stiftung - der ich für ihre wertvolle
Studie danke, mit der sie auch die wirtschaftlichen Auswirkungen untersucht hat - herausgestellt, dass Open
Data zu 40 000 neuen Arbeitsplätzen in Deutschland führen kann .
Natürlich ist es so: Wenn wir jetzt am Wochenende in
unsere Wahlkreise zurückkehren und den Leuten im Bierzelt erzählen wollen, dass wir jetzt ein Open-Data-Gesetz beraten, dann werden die Emotionen wahrscheinlich
nicht bis unter die Decke hochkochen . Es wird nicht so
sein, dass alle „Jawohl, das ist es!“ schreien . Aber, meine
Damen und Herren, zehn solcher Gesetze schaffen eine
halbe Million Arbeitsplätze . Und die Frage ist, ob wir,
wenn wir das nicht wahrnehmen, am Ende nicht die Tür
für Populisten aufmachen, die dann irgendwann kommen
und sagen könnten: Guckt euch einmal diese wirtschaftspolitischen Leistungen an! - Sie werden dann vollkommen falsche Rezepte propagieren wie Protektionismus
und andere Dinge . Deshalb ist das ein so wichtiger Bestandteil und eine so wichtige Initiative für Innovationsfähigkeit und für den Arbeitsmarkt in Deutschland .
({3})
Es ist, glaube ich, gut, an dieser Stelle einmal diejenigen zu loben, die hier schon, bevor wir dieses Gesetz
in Angriff genommen haben, einiges hinbekommen haben . Dabei geht es vor allem auch um den Bundesverkehrsminister, der mit seiner mCloud schon eine sehr
umfangreiche Open-Data-Initiative gestartet hat . Er hat
damit eine gute Plattform bereitgestellt . Er hat auch die
Deutsche Bahn angetrieben, die hier mit Hackathons und
einer eigenen Open-Data-Plattform vorbildlich agiert .
Die Nahverkehrsunternehmen liegen hier aber - darüber
haben wir gestern schon gesprochen - massiv zurück .
Sie sollten ebenfalls Open-Data-Plattformen einführen .
Das wird auch ein Thema sein, das wir in der nächsten
Legislaturperiode weiter behandeln müssen . Dabei geht
es nicht nur um die Frage, ob die unmittelbaren Bundesbehörden daran beteiligt werden sollen, sondern insbesondere darum, was eigentlich mit den Ländern und den
Kommunen sowie den Nahverkehrsbetrieben ist und all
den anderen, bei denen solche Datenschätze liegen . Die
müssen geöffnet werden.
Nicht zuletzt ist das auch ein Bereich, mit dem wir
eine Menge Geld sparen können . Bei Open Data ist
Großbritannien Vorreiter in der EU - zumindest solange
noch, wie es Mitglied der Europäischen Union ist . Leute
aus der britischen Regierung, die wir eingeladen haben,
haben uns erklärt, dass in Großbritannien der wichtigste
Treiber für Open Data inzwischen der Finanzminister ist .
Durch Open Data erzielt er nämlich Milliardeneinsparungen. Das Kuriose in der öffentlichen Verwaltung ist
ja, dass die eine Behörde gar nicht weiß, was die andere
alles an Daten hat . Durch die Open-Data-Initiative sieht
der eine auf einmal jedoch, was der andere an Daten hat
und muss sie dann nicht mehr neu erstellen .
Ich weiß, dass Jens Spahn ein großer Fürsprecher dieser Themen ist . Deshalb freue ich mich darauf, dieses
Thema weiter zu bearbeiten . Ich freue mich auch sehr,
dass wir heute an diesem Punkt sind, und freue mich auf
die weitere Beratung .
Ich danke Ihnen .
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit schließe ich
die Aussprache .
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/11614 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . Gibt es
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall . Dann
ist die Überweisung so beschlossen .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 38 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias
Gastel, Stephan Kühn ({0}), Markus Tressel,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Radverkehr konsequent fördern
Drucksache 18/11729
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur ({1})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . Gibt es dazu
Widerspruch? - Das ist nicht der Fall . Dann ist das auch
so beschlossen .
Wir beginnen mit der Aussprache, sobald die Kolleginnen und Kollegen ihre Plätze eingenommen haben .
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat
Matthias Gastel für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Es ist das erste Mal in dieser Legislaturperiode, dass im Deutschen Bundestag über das Thema
Radverkehr diskutiert wird .
({0})
Anlass ist der Antrag der grünen Bundestagsfraktion
„Radverkehr konsequent fördern“.
({1})
Ermutigt dazu, diesen Antrag zu stellen, wurden wir dadurch, dass auch in Deutschland immer mehr Menschen
mit dem Fahrrad unterwegs sind . Alleine in Berlin hat
sich der Radverkehrsanteil seit dem Jahr 2005 verdoppelt .
Die Botschaft, die von dieser Debatte ausgehen soll,
ist, dass der Bund die Radverkehrsförderung nicht allein
den Ländern und Kommunen überlassen kann .
({2})
Denn der Bund steht in der Mitverantwortung für den
Klimaschutz, für die Verkehrssicherheit, für die Ressourceneffizienz, für den Schutz der Menschen vor zu viel
Lärm und Abgasen . Damit steht der Bund auch in der
Mitverantwortung für die Lebensqualität der Menschen.
Vor all diesen Verantwortlichkeiten duckt sich aber
einer weg, und das ist unser Bundesverkehrsminister Dobrindt . Von 13 Milliarden Euro, die vom Bund
pro Jahr in die Verkehrsinfrastruktur investiert werden,
geht noch nicht einmal 1 Prozent in die Radverkehrsinfrastruktur . Im Bundesverkehrswegeplan spielt der Radverkehr überhaupt keine Rolle . Das Desinteresse von
Dobrindt ist nicht zu übersehen . Beispielsweise wird er
nächsten Montag bei seiner eigenen Veranstaltung, dem
Nationalen Radverkehrskongress in Mannheim, fehlen,
genauso wie er auch heute auf der Regierungsbank fehlt
und damit sein Desinteresse an diesem Thema ausdrückt .
({3})
Die Bilanz der Großen Koalition in Sachen Radverkehr ist aber insgesamt vernichtend
({4})
- insgesamt vernichtend -; denn für Radwege entlang
von Bundesfernstraßen wird mit 98 Millionen Euro pro
Jahr weniger ausgegeben als in früheren Jahren . Der Zustand der Radwege entlang von Bundesfernstraßen ist der
Bundesregierung noch nicht einmal bekannt, und die Anzahl der Diensträder in Bundesbehörden ist seit Antritt
der Großen Koalition, seit dem Jahr 2013, um sage und
schreibe 85 Prozent zurückgegangen .
({5})
Die Große Koalition verkennt die Chancen, die das Fahrrad bietet: Chancen für die Verminderung von Stau und
Abgasen, Chancen für die Gesundheit derer, die mit dem
Fahrrad unterwegs sind, und Chancen für lebenswerte
Städte .
({6})
Der Großteil der Gesellschaft ist da viel weiter als Sie
von der Großen Koalition .
({7})
82 Prozent der Menschen in Deutschland wünschen sich
in den Städten weniger Auto- und mehr Radverkehr . Genau da setzt unser Antrag an, der sowohl die Städte als
auch die ländlichen Räume im Blick hat .
Wir wollen sichere und attraktive Infrastruktur für den
Radverkehr durch verbindliche Qualitätsstandards .
Wir wollen die Mittel für Radwege entlang von Bundesfernstraßen auf 200 Millionen Euro pro Jahr verdoppeln .
Wir wollen des Weiteren die Mittel für den Bau von
Radschnellwegen - immerhin gibt es sie in diesem Jahr
zum ersten Mal überhaupt - auf 100 Millionen Euro vervierfachen .
Wir wollen aber auch ein modernes Straßenverkehrsrecht schaffen, mit dem beispielsweise den Kommunen
ermöglicht wird, innerorts alleine über die Ausweisung
von Tempo-30-Zonen zu entscheiden . Wer weiß besser,
was angemessen ist, als die Kommunen? Außerdem wollen wir, dass endlich verpflichtend Abbiegeassistenten
für Lkws eingeführt werden . Rechtsabbiegeunfälle sind
mit die häufigsten und vor allem die schwerwiegendsten
Unfälle . Da müssen wir unbedingt rangehen .
({8})
Außerdem beantragen wir ein Förderprogramm für
den Aufbau von Verleihstationen für Lastenräder . Wir
wollen 2 000 Lastenradverleihstationen in Deutschland
aufbauen . Wir erwarten von der Bundesregierung, dass
sie endlich Einfluss auf die Deutsche Bahn nimmt, damit
in jedem Zug Fahrräder mitgenommen werden können .
({9})
Dann können wir endlich auch im Nationalen Radverkehrsplan ambitionierte, aber realistische Ziele aufnehmen, insbesondere das Ziel, den Anteil des Radverkehrs
bis zum Jahr 2030 auf 25 Prozent zu erhöhen .
Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn
Spätestens mit dem Dieselskandal und den anstehenden Fahrverboten in Städten aus Gesundheitsgründen ist
klar: Wir brauchen eine andere Verkehrspolitik . Große
Teile der Bevölkerung sind bereit dazu . In jedem dritten
Großstadthaushalt gibt es überhaupt kein Auto mehr . Gerade bei Jüngeren wird das mehr und mehr zur Normalität . In Deutschland werden inzwischen mehr Fahrräder
als Autos verkauft . Wir Grüne wollen den Radverkehr
fördern . Wir wollen ihm mehr Platz im Verkehrsraum zubilligen. Wir wollen Konflikte des Radverkehrs mit dem
Fußverkehr und dem Kfz-Verkehr vermeiden . Wir wollen die Sicherheit erhöhen . Radfahren darf keine Abenteuerlust erfordern .
({10})
Uns gefällt ganz gut die Philosophie aus den Niederlanden . In den Niederlanden heißt es: Wie gut oder
schlecht eine Radverkehrsinfrastruktur ist, zeigt sich daran, ob sich Kinder und Ältere trauen, mit dem Fahrrad
unterwegs zu sein . Dahin sollten wir auch in Deutschland
kommen .
({11})
Die Länder und die Kommunen müssen dafür viel
tun . Sie brauchen dafür aber die aktive Unterstützung des
Bundes . Deswegen lautet unser Appell an die Große Koalition und den Deutschen Bundestag: Gehen Sie runter
von der Bremse! Treten Sie in die Pedale! Schalten Sie
hoch!
({12})
Als nächster Redner hat Gero Storjohann für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort .
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Kollege Gastel, da haben Sie sich aber Mühe
gegeben, hier ein schlechtes Bild von der Radinfrastruktur und der Radpolitik in Deutschland zu zeichnen .
({0})
Insgesamt stelle ich fest: Der Radverkehr boomt .
({1})
Immer mehr Fahrräder werden verkauft .
({2})
Es wird immer mehr Fahrrad gefahren . So schlecht kann
es bisher in Deutschland also nicht gemacht worden sein .
({3})
Viele Punkte, die Sie angesprochen haben, sind richtig . Aber sie sind inzwischen auch Allgemeingut . Sie haben sich viel Mühe gegeben, einzelne Dinge aufzuschreiben, obwohl diese schon erfüllt sind .
({4})
Kommen wir generell zur Zukunft . Wir werden mehr
Verkehr in den Städten bekommen . Die entscheidende
Frage lautet, wie wir diesen Verkehr kompensieren, ob
es uns gelingt, Verkehrskonzepte zu entwickeln, die den
Bürgern gefallen . Wenn es uns gelingt, den zusätzlichen
Verkehr in den Städten aufs Fahrrad zu bringen, dann ist
uns schon viel gelungen . Dafür brauchen wir eine entsprechende Infrastruktur. Diese müssen wir neu schaffen.
Ich schaue mir genau an, wie es in Hamburg läuft,
wo Rot-Grün versucht, eine Infrastruktur für Fahrräder
aufzubauen . Dabei muss sich Rot-Grün entscheiden, ob
Parkplätze entwidmet und Bäume gefällt werden sollen,
um letzten Endes vernünftige Fahrradwege durch die
Stadt zu den Arbeitsplätzen zu führen . Das ist nicht auf
die Schnelle gemacht . Wir alle sind dabei und wollen das
umsetzen .
({5})
Zurzeit werden durchschnittlich 10 Prozent aller Wege
in Deutschland mit dem Fahrrad zurückgelegt . In einigen
Regionen liegt der Anteil bei 30 Prozent, in anderen bei
15 Prozent; nicht überall ist der Wert gleich hoch . Auch
Kopenhagen hat es nicht in fünf Jahren geschafft, Fahrradstadt zu werden .
({6})
Seit wir, die Mitglieder des Verkehrsausschusses, Kopenhagen besucht haben, wissen wir, dass dafür 40 Jahre
notwendig waren . Es sind jetzt andere Zeiten . Wir versuchen, das zu beschleunigen .
Wir haben hier einen Nationalen Radverkehrsplan 2020 verabschiedet, und der wird von der Bundesregierung umgesetzt .
({7})
- Er wird wirklich umgesetzt .
({8})
Ich möchte Ihnen einmal aufzeigen, welche Mittel wir
zurzeit zur Verfügung stellen . Sie haben in Ihren Antrag
ganz locker hineingeschrieben, das müsse mehr werden .
({9})
Allein was Mittel für Fahrradwege an Bundesstraßen
betrifft, haben wir 98 Millionen Euro zur Verfügung gestellt .
({10})
- Früher waren es 100 Millionen Euro . Dann kam die
Finanzkrise, und die Mittel sind auf 60 Millionen Euro
zurückgeführt worden . Dann ist der Betrag sukzessive
wieder auf 98 Millionen Euro hochgeführt worden . Ich
habe mich sehr stark dafür eingesetzt, dass die Mittel
wieder erhöht werden .
({11})
Ich habe bei mir in Schleswig-Holstein nachgefragt,
was das Land mit dem zusätzlichen Geld gemacht hat .
2012 hatten wir den Regierungswechsel in Schleswig-Holstein . Damals wurden die Mittel noch mehr als
zufriedenstellend ausgeschöpft, nämlich zu über 166 Prozent . Dann kamen die Jahre, in denen Ihre Kollegen von
den Grünen Mitverantwortung trugen, Herr Gastel: 2013
wurden 20 Prozent der Mittel zurückgegeben, 2014 waren es 25 Prozent, und 2015 wurden 15 Prozent zurückgegeben .
({12})
Ich frage jetzt immer beim Verkehrsminister nach:
Warum macht ihr das? Dann kommt leider die Antwort:
Weil es sinnvoller ist, Straßen zu bauen als Fahrradwege . Wir können dann mit der gleichen Ingenieurleistung
mehr Mittel abgreifen . - Fangen Sie erst einmal da an,
wo Sie Verantwortung haben, das umzusetzen, was Sie
hier immer fordern!
({13})
Die Zustandserfassung der Fahrradwege ist eine
wunderbare Aufgabe, die in den Ländern gemacht werden muss . Die Länder wissen auch, wie der Zustand
der Fahrradwege ist . Das wird alles schon gemacht . Sie
springen praktisch auf den Zug auf . Wir wollen natürlich auch sehr genau wissen, wo noch Lücken sind . Die
Bundesregierung legt zurzeit ein Programm auf, mit dem
die Lücken offensiv angegangen werden sollen. Aber geschlossen werden müssen sie von den Ländern . Nicht der
Bund macht die Planung, nicht der Bund kann dem Land
vorschreiben, irgendwo einen Fahrradweg zu bauen, sondern es sind die Länder, die entscheiden . Da werden wir
ansetzen müssen . Da können Sie gerne mitmachen; denn
auch Sie sind in gewisser Weise in Verantwortung .
({14})
Die Radschnellwege sind in diesem Haushalt zum ersten Mal aufgenommen worden . Wir hatten dazu eine Anhörung . Sie wissen auch, dass wir vielleicht zur Jahresmitte zum ersten Mal Mittel vergeben können . Deswegen
ist der Ansatz von 25 Millionen Euro erst einmal richtig .
Dieser Ansatz wird höher werden, es werden mehr Mittel
eingestellt werden müssen . Das wollen wir auch . Aber
Mittel müssen auch abgerufen werden können .
Dazu gibt es ein paar Projekte . Erst einmal kommt die
Potenzialanalyse, dann kommt die Planung . Wenn wir in
drei oder vier Jahren zum ersten Mal für neu geplante
Radschnellwege - alleine in der Metropolregion Hamburg sind wir dabei, vier oder fünf Radschnellwege zu
erbauen - richtig viel Geld ausgeben können, dann machen wir das auch . Insofern sind wir da auf einem sehr
guten Weg .
Herr Kollege, lassen Sie eine Zwischenfrage von
Herrn Gastel zu?
Ich habe Zeit, ja .
Frau Präsidentin! Lieber Herr Kollege, vielen Dank
für die Zwischenfrage . - Sie haben die Problematik des
Mittelabrufs durch die Länder angesprochen, einmal,
was die Radwege entlang von Bundesfernstraßen angeht,
und jetzt auch, was die Radschnellwege angeht . Ein Problem ist, dass bisher die Rechtsauffassung die gewesen
ist, dass Radwege entlang von Bundesfernstraßen unmittelbar entlang der Straße geführt werden müssen . Das ist
aber vielerorts nicht möglich, weil die Topografie das
nicht zulässt, zum Beispiel aufgrund der Platzverhältnisse, oder weil es nicht besonders attraktiv ist, einen Radweg entlang einer Bundesstraße mit 30 000, 40 000 oder
50 000 Fahrzeugen am Tag zu bauen .
Es gibt eine Rechtsauffassung, die aus unserem
Rechtsgutachten stammt, die besagt, dass die Radwege
auch anders geführt werden können . Das heißt, es muss
nur die Richtung gleich sein, aber der Radweg muss nicht
direkt entlang der Straße geführt werden . Wenn das auch
die Rechtsauffassung des Bundes wäre, entstünden ganz
neue Möglichkeiten, Radwege entlang von Bundesfernstraßen zu bauen und tatsächlich die Mittel abzurufen . Ist
es auch Ihre Auffassung, dass das möglich ist?
({0})
Herr Kollege, ich bin kein Jurist . Der Punkt, der da
zum Tragen kommt, ist, dass es letzten Endes um die
Verkehrssicherheit geht . Das heißt, der Fahrradfahrer soll
bei großer Differenzgeschwindigkeit nicht auf der Bundesstraße fahren . Wenn man einen neuen Fahrradweg
1 Kilometer neben einer Bundesstraße anlegt, dann ist
nicht mehr eindeutig, ob dieser Fahrradweg im Zusammenhang mit der Bundesstraße steht oder ob er eher touristischen Zwecken dient . Deswegen verfolgen wir bei
Radschnellwegen eine andere Konzeption . In erster Linie
sprechen wir über Bundesradschnellwege . Insofern sehe
ich den Konflikt nicht, den Sie da aufzeigen.
Es ist wünschenswert, eine eigene Radinfrastruktur zu
haben . Wir kommen inzwischen von dem Fahrradstreifen
auf Straßen weg; denn der ist nicht für alle Generationen
sicher. Die Rechtsauffassung, die Sie eben vorgetragen
haben, teile ich nicht . Aber ich sehe das Problem, das wir
mit den Radschnellwegen lösen werden .
({0})
Die Länder haben eine hohe Verantwortung . Den Ländern werden jetzt sehr kontinuierlich bis 2030 Regionalisierungsmittel zur Verfügung gestellt . Der ÖPNV wird
sehr stark ausgestattet . Das heißt, der Bund gibt den Ländern eine verlässliche Finanzierungsgrundlage und somit
auch Planungssicherheit .
Das, was Sie, Herr Gastel, ansprechen - die Bevorrechtigung von Fußgängerverkehr -, ist nach der StVO
nicht zulässig . Ich halte das auch nicht für sinnvoll; denn
jeder Teilnehmer - sei es ein Autofahrer, ein Fahrradfahrer oder ein Fußgänger - hat sich nach § 1 der StVO so zu
verhalten, dass er niemanden gefährdet, und dabei sollte
es auch bleiben .
({1})
Die von Ihnen angesprochenen Abbiegeassistenzsysteme oder Kameramonitorsysteme in Lkw finden Unterstützung im aktuellen Förderprogramm „De-minimis“;
das gibt es also schon .
Radfahrende Kinder unter zehn Jahren haben Sie noch
angesprochen . Eltern dürfen jetzt ihre Kinder beim Radfahren auf dem Gehweg begleiten . Das haben wir im
Dezember letzten Jahres beschlossen . Zu diesem Thema
steht auch etwas in Ihrem Antrag .
({2})
Der Einsatz eines grünen Pfeils in Lichtzeichenanlagen ist möglich . Dafür müssen die Kommunen sorgen .
Die Anbringung eines Blechschildes „grüner Pfeil“ ist
möglich .
({3})
Auch die Beantwortung der Frage, ob generell die
Möglichkeit besteht, von Fahrradweg zu Fahrradweg
rechts abzubiegen, ist in der Bearbeitung . Ich bin dafür, dass wir diese Möglichkeit schaffen. Die generelle
Abbiegemöglichkeit ohne Fahrradweg ist rechtlich problematisch, sodass wir sie wahrscheinlich nicht werden
schaffen können. Aber darin, dass der Verkehrsfluss für
Fahrradfahrer erhöht werden muss, sind wir uns wirklich
einig .
Meine Damen und Herren,
Herr Kollege, das war ein guter Schlusssatz .
- ich habe das gehört, Frau Präsidentin; ein Punkt
noch -, Stichwort „Fahrradmitnahme bei ICEs“ . Die
Fahrradmitnahme ist möglich bei Regionalexpresszügen,
also im Nahverkehr sehr wohl . Dort ist sie hoch anerkannt . Der ICE 4 wird ab 2017 Fahrradmitnahme möglich machen .
({0})
Wir im Parlament haben zehn Jahre dafür gekämpft, dass
die Bahn Fahrradmitnahme bei ICEs möglich macht . Sie
hat es jetzt versprochen . Insofern ist in Deutschland ein
Klimawandel für den Fahrradverkehr eingeleitet worden - nicht mit Ihrem Antrag, aber mit unserer guten
Politik .
({1})
Vielen Dank, Herr Kollege . - Als Nächste hat das
Wort Sabine Leidig von der Fraktion Die Linke .
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Gäste auf den Tribünen! Ja, Fahrradfahren wird
immer beliebter - aus guten Gründen: Man ist nicht nur
flexibel unterwegs, sondern auf kurzen Strecken meistens auch schneller . Radfahren ist nicht nur gesund, sondern auch kostengünstig . Fahrradfahren produziert weder
Lärm noch Abgase . Das schont die Umwelt und macht
das Leben angenehmer . Viele von Ihnen radeln bestimmt
mit Freude im Urlaub, als Sport und zur Erholung, und in
vielen Regionen geht das inzwischen auch ziemlich gut .
Aber das reicht nicht . Es geht darum, dass der Alltag
auf den Straßen insgesamt viel fahrradfreundlicher werden muss . Die Berliner Zeitung zeigte gestern auf ihrer
Titelseite weiße Gedenkfahrräder, die an die wachsende
Zahl von Fahrradunfallopfern erinnern: 17 Getötete, 12
davon von Lkw überrollt oder von Pkw gerammt; dazu
583 Schwerverletzte im Jahr 2016 allein in der Stadt Berlin .
Wir alle wissen, dass das wichtigste Mittel gegen solche Unfälle sichere Radwege sind .
({0})
Das ist die zentrale Herausforderung, die überall gemeistert werden muss . Es ist klar, dass vieles davon in den
Städten passieren muss und auch schon getan wird - es
gibt viele gute Beispiele -; aber im Großen und Ganzen
geschieht viel zu wenig, und es geht viel zu langsam . Das
liegt auch an diesem Bundestag und an der Bundesregierung . Sie ruhen sich darauf aus, dass es einen Nationalen
Radverkehrsplan gibt - ausgestattet mit 100 Millionen
Euro pro Jahr . Das ist nicht einmal 1 Prozent von den Investitionsmitteln im Verkehrsetat . Aber der FahrradverGero Storjohann
kehr hat heute schon einen Anteil von 10 Prozent . Hier
muss dringend umverteilt werden .
({1})
Wir Linke fordern, dass uns die unsinnigsten Ausbauprojekte für Autobahnen aus dem Bundesverkehrswegeplan erspart bleiben . 10 Milliarden Euro könnte man so
verfügbar machen und damit stattdessen einen Verkehrswendefonds füllen - das schlagen wir vor -, einen Fonds,
aus dem die Kommunen zweckgebunden Geld für den
Umbau ihrer Verkehrsinfrastruktur bekommen: 1 Milliarde Euro pro Jahr, und das zehn Jahre lang .
({2})
Damit könnte wirklich viel für bessere Fahrradverkehrsverhältnisse getan werden, und zwar rasch .
Wir schlagen auch vor, dass Bürgerinitiativen und
Verbände die Möglichkeit erhalten, Projektmittel aus diesem Fonds zu beantragen, weil man nicht darauf warten
kann, dass auch in der letzten Gemeinde die Verwaltung
aufwacht .
({3})
Außerdem kann der Bund die Straßenverkehrs-Ordnung reformieren . Dort sind die Belange des Fahrradverkehrs viel zu wenig berücksichtigt, und das muss sich
ändern .
({4})
Kollege Storjohann, Sie haben neulich auf einem Podium gesagt: Wenn ich in meiner Fraktion vom Fahrrad
rede, dann schauen mich alle an wie ein Auto .
({5})
Genau das ist das Problem . Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regierungskoalition - es sind leider sehr
wenige da -,
({6})
benutzen Sie eine Woche lang einfach mal das Fahrrad
und nicht den Fahrdienst!
({7})
Wenn Sie das getan haben, wissen Sie genau, wo es
brennt und was geändert werden muss .
({8})
Ich nenne nur ein paar Beispiele: Da ist ein schmaler
Radweg auf dem Gehweg, auf dem Baumwurzeln Sie
durchschütteln . An der Bushaltestelle ist Chaos, weil die
Leute ein- und aussteigen; wenn Sie ausweichen, besteht
Kollisionsgefahr mit fotografierenden Touristen; dann
lieber auf der Straße radeln .
({9})
- Da wird einiges passieren . Sie haben den Koalitionsvertrag vielleicht gelesen .
({10})
Das Fahrradvolksbegehren wird dort umgesetzt . Die rotrot-grüne Koalition ist erst einige Monate im Amt . Zaubern können auch wir nicht .
({11})
- Die Verantwortlichen für den Fahrradverkehr saßen die
letzten was weiß ich wie viele Jahre in der Großen Koalition in Berlin .
({12})
Sie hätten da schon etwas machen können .
({13})
Weitere Beispiele: Wenn Sie auf der Straße radeln,
dann haben Sie wirklich Pech, wenn - das kommt oft
vor - vor Ihnen eilig parkende Personen die Autotür
aufreißen, ohne zu gucken, sodass Sie straucheln und
im schlimmsten Fall stürzen . Sie werden spüren, wie es
ist, wenn ungeduldige Autofahrer laut Gas geben, mit
50 Zentimeter Abstand an Ihnen vorbeiziehen und vor
der nächsten roten Ampel auf die Fahrradspur einbiegen .
Sie erleben den Ärger, wenn auf dem erfreulichen Stück
Fahrradstreifen wieder einmal ein Lieferwagen steht,
sodass Sie in den Autoverkehr ausweichen müssen . Sie
sind genervt, weil Sie immer wieder vor einer roten Ampel warten, obwohl das Rechtsabbiegen gefahrlos und
ohne Störung anderer möglich wäre .
Das alles kann und muss besser werden . Wir brauchen
gute Standards für eigene Fahrradstreifen auf der Straße .
Wir brauchen Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit in den
Städten und Gemeinden, damit es für alle entspannter
wird. Die Haltepflicht vor roten Ampeln soll für Fahrradfahrer und Fußgänger gelockert werden . Die Strafen
für Verkehrsteilnehmer, die andere gefährden und behindern, müssen deutlich höher sein und abschrecken . So
ist es übrigens in unseren europäischen Nachbarländern
üblich . Nur im sogenannten Autofahrerland Deutschland
geht das nicht .
Kommen Sie bitte zum Schluss .
Wir wollen, dass das Fahrrad zum Massentransportmittel Nummer eins werden kann: sozial, ökologisch,
kostengünstig, gesund und attraktiv .
Vielen Dank .
({0})
Vielen Dank, Frau Kollegin . - Als Nächster spricht
der Kollege Stefan Zierke von der SPD-Fraktion .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Gäste! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Gastel,
ich habe schon von diesem Pult aus über Radverkehr gesprochen . Auch Sie haben von diesem Pult aus im Deutschen Bundestag über Radverkehr gesprochen .
({0})
Das heißt also, der erste Satz Ihrer Rede - sinngemäß: im
Deutschen Bundestag wurde das Thema Rad noch nicht
behandelt - ist schon einmal nicht wahr . Aber das ist nur
eine sachliche Darstellung . Damit müssen in dem Fall ja
Sie leben und nicht wir .
({1})
Ich denke, Schleswig-Holstein
({2})
macht eine gute Radpolitik; Herr Albig macht das sehr
gut . Von daher sollte das vielleicht die letzte Wahlkampfkampagne sein, die man im Deutschen Bundestag von
diesem Pult aus führt . Wir wollen uns doch auf das Thema Radverkehr konzentrieren .
In Teilen ist das wirklich ein guter Antrag; das muss
man sagen .
({3})
- Da kann man auch klatschen . - Die vielen Seiten des
Vorspanns bestätigen das, was wirklich in Deutschland
passiert: Wir haben einen großen Radverkehrszuwachs .
Der Fachhandel profitiert, der Tourismus profitiert, die
Fahrradindustrie profitiert. Wir haben in dieser Branche
viele neue Mitarbeiter, und davon sollen natürlich auch
alle profitieren. Das ist so.
({4})
Frau Leidig, es ist aber auch so, dass die Kommunen
und Landkreise viel Energie investieren, um Radwege zu
bauen .
({5})
Gerade im ländlichen Raum ist es für die Kommunen
sehr schwer, die Wege auf den vielen Kilometern entsprechend auszubauen .
({6})
Daher freuen wir uns, dass wir auch europäische Mittel
zur Verfügung haben, um in den Radverkehr zu investieren, und das wird auch gemacht . Aus diesem Grund
wächst der Radverkehr übrigens, weil es eine große Anstrengung der Länder, Kommunen, Landkreise und Tourismusverbände gibt, den Radverkehr zu stärken .
({7})
Der Bund ist nun einmal nicht zuständig .
Ja, Radverkehr ist emissionsfrei, leise, gesund und
soll natürlich in Zukunft auch die Verkehrsprobleme der
urbanen Region lösen, wobei ich bei dem Wort „urban“
bin . Liebe Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, Ihr Antrag
ist ein Großstadtantrag . Herr Gastel hat gesagt, dass dies
auch den ländlichen Raum betreffe. Das sehe ich nicht.
Aber eine Großstadtpartei macht eben auch nur Großstadtanträge . Das ist so .
({8})
- Gerne . - Aber man sollte sich über den ländlichen
Raum nicht nur verbal äußern, sondern man sollte hier
auch konkret werden . Wer 25 Prozent Radverkehr bis
2030 auf allen Wegen haben will, den frage ich: Wie wollen Sie das im ländlichen Raum schaffen?
({9})
Wenn Lastenräder - wahrscheinlich von einer Kleinstadt
zur nächsten und von einer Kommune zur nächsten - gefördert werden sollen, dann ist das ein klares Förderprogramm für Städte, nicht für den ländlichen Raum . Das
sind zwei Beispiele dafür .
({10})
Was hat die Koalition nun erreicht? Dass wir die Mittel für Radwege von 60 Millionen auf 100 Millionen
Euro erhöht haben, haben Sie ja festgestellt. Ich finde,
das ist enorm viel Geld, was wir dort investieren .
({11})
Ich sage Ihnen aber, wo das wirkliche Problem liegt .
Nehmen wir die Bundesstraßen begleitende Wege . Sie
haben gesagt, dass es manchmal abenteuerlich sei mit
dem Radverkehr . Das kann ich Ihnen aus dem ländlichen
Raum bestätigen . Wir wollten entlang einer Bundesstraße einen Radweg bauen lassen, um an dieser Straße gefährliche Situationen für Radfahrer zu entschärfen . Aber
wer hat diesen Radwegebau verhindert? Es waren die
Naturschützer, die verhindert haben, dass dieser Radweg gebaut wird . Das heißt, das Geld war da, alles war
da; nur die Naturschützer haben gesagt: Wir wollen das
nicht . - Naturschutz vor Menschenschutz, das war dort
die Prämisse . Den Radweg gibt es nach wie vor nicht .
Die Stelle ist nach wie vor gefährlich . Von daher kann
es nicht am Geld liegen . Es liegt vielleicht manchmal an
der Ideologie .
({12})
- Sie können dazwischenrufen, wie Sie wollen, aber das
ist nachvollziehbar . Das kann man vor Ort sehen .
({13})
Ich nenne ein zweites Beispiel zu abenteuerlichen
Fahrten: Im ländlichen Radwegebau wollten wir einen
Radweg bauen, der durch ein Naturschutzgebiet führt .
Da ist aber eine Tierart, die geschützt werden muss . In einer Entfernung von 1 Kilometer verläuft eine Autobahn .
Weil aber diese Tierart dort geschützt werden muss,
haben wir den Radweg über Jahre nicht gebaut bekommen - und Sie glauben nicht, woran das gelegen hat: Es
hat an Naturschützern gelegen, dass dieser Radwegebau
verhindert wurde .
({14})
Das Geld war da, die Motivation war da, aber leider nicht
der Wille .
({15})
Gerade die Fraktion der Grünen hat keinen Willen gezeigt, dieses Geld zu verbauen .
({16})
- Ich verstehe die Zwischenrufe nicht . Wenn nur einer
redet, dann kann man es vielleicht verstehen . Wenn alle
gleichzeitig sprechen, ist das ungünstig .
Was belastet aber die Kommunen besonders beim
Radwegebau? Das sind die zum Teil naturbelassenen
Radwege, die wir bauen müssen, die die Kommunen
bauen müssen und für deren Pflege den Kommunen dann
das Geld im Budget fehlt . Das ist doch die Realität . Von
daher freue ich mich auf die Ausschussdiskussion und
die Frage, wie wir damit umgehen .
Was hat die Bundesregierung im Übrigen noch gemacht? Was hat das Parlament gemacht? Was haben wir
zusammen gemacht? Wir haben zum ersten Mal Radschnellwege auf den Weg gebracht - wir wollen dafür
noch Gesetze ändern bzw . haben sie geändert - und dafür
25 Millionen Euro im Haushalt bereitgestellt . Danke hier
noch einmal an Umweltministerin Barbara Hendricks,
dass sie sich dafür eingesetzt hat . Man sieht also: Es geht
sogar ministeriumsübergreifend, was Sie ja sonst nie
glauben .
({17})
Stichwort „Elektromobilität“ . Wir haben hier den Bau
des Radwegs Deutsche Einheit beschlossen, in den viel
Geld hineinfließt.
({18})
Von Bonn bis Berlin bauen wir moderne Radstätten, an
denen man sein Fahrrad aufladen kann. Das wissen Sie
doch . Da kann man doch nicht sagen, dass da nichts passiert . Das ist auch nicht richtig .
Mein letzter Punkt, den ich noch anbringen möchte,
ist die gegenseitige Rücksichtnahme im Straßenverkehr .
Wir reden ja hier viel von Berlin . Ich muss sagen: Wenn
alle Verkehrsteilnehmer sich an Regeln halten,
({19})
sich gegenseitig akzeptieren und auch einmal den anderen vorlassen würden, auch wenn er einmal nicht das
unbedingte Recht auf seiner Seite hat, dann wäre, glaube
ich, schon viel erreicht .
({20})
Darüber sollten wir auch einmal reden: wie sich einzelne Verkehrsteilnehmergruppen - da schließe ich alle mit
ein - im Straßenverkehr unterhalten . Es ist manchmal
wirklich abenteuerlich; da gebe ich Ihnen recht . Aber
auch da sollten wir vielleicht mehr an die Vernunft appellieren . Ich freue mich auf die Diskussion im Ausschuss .
Dann schauen wir, wie Ihr Antrag weiter behandelt wird .
Vielen Dank .
({21})
Vielen Dank, Herr Kollege Zierke . - Als Nächster
spricht Patrick Schnieder von der CDU/CSU-Fraktion .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die Bedeutung des Radverkehrs hat in der Tat in
den letzten Jahren zugenommen . Das Fahrrad ist ein
zunehmend beliebtes und ökologisches Verkehrsmittel .
E-Bikes boomen . Es ist auch ein gesundes Verkehrsmittel, und es wird sehr stark touristisch genutzt . Ich sage
das ganz bewusst, weil ich aus einer Destination komme, wo gerade Radwege, die jüngst dort angelegt worden
sind, dem Tourismus einen neuen Schub verliehen haben .
({0})
Weil der Radverkehr an Bedeutung zugelegt hat, hat
auch die Koalition entsprechend gehandelt . Wir haben
nicht nur Anträge geschrieben und darüber gesprochen,
sondern wir haben auch etwas auf den Weg gebracht .
({1})
Die Bilanz kann sich sehen lassen: Im rechtlichen Bereich haben wir die Straßenverkehrs-Ordnung sorgfältig
und vorsichtig novelliert . Wir haben viel Geld für den
Radverkehr zur Verfügung gestellt . Die Zahlen sind
genannt worden: Etwa 100 Millionen Euro wurden für
Radwege an Bundesstraßen, aber auch für Radwege an
Bundeswasserstraßen zur Verfügung gestellt . Wir haben
den Radweg Deutsche Einheit auf den Weg gebracht .
({2})
Man darf nicht vernachlässigen, wie viel Geld in den
Bereich Verkehrssicherheit und in Verkehrserziehungskampagnen fließt. Auch das kommt der Sicherheit des
Radverkehrs zugute . Ich erinnere an die Förderprojekte
im Rahmen des Nationalen Radverkehrsplans in einem
Umfang von über 3 Millionen Euro pro Jahr, an die Forschungsprojekte im Bereich E-Bike und E-Lastenräder,
die zwischen 2011 und 2016 mit über 7 Millionen Euro
gefördert wurden, und nicht zuletzt an die 25 Millionen
Euro für Radschnellwege in fremder Baulast, die wir
jetzt noch auf den Weg bringen . Wenn ich das einmal zusammenrechne, dann kann ich nur zu dem Schluss kommen, dass diese Bundesregierung, diese Große Koalition
eine ambitionierte Radverkehrspolitik betreibt; das muss
man einmal festhalten .
({3}) - Matthias Gastel [BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Na ja, wenn das bei
Ihnen ambitioniert ist!)
Für manche - Herr Gastel, da haben sie recht - ist sie
zu ambitioniert . Das zeigen die Zahlen, wenn wir uns
andere zum Radwegebau Verpflichtete einmal näher anschauen . Es ist ja nicht allein der Bund, der dafür zuständig ist .
({4})
Er unterstützt den Radwegebau . Aber in erster Linie sind
ja die Kommunen und die Länder gefordert .
Die Einschätzung „zu ambitioniert“ trifft auch zu,
wenn ich mir manches Bundesland anschaue, das ja dafür
verantwortlich ist, dass geplant und letztendlich gebaut
wird . 2014 sind 11 Millionen Euro von den Ländern nicht
abgerufen worden, 2015 9 Millionen Euro . Warum? Weil
die Länder die Gelder nicht verbauen konnten . Das ist
übrigens kein Problem des Radwegebaus allein, das ist
auch ein Problem beim Straßenbau . Auch dort sind 2016
Gelder in Millionenhöhe zurückgeflossen.
({5})
- Das ist Ihre Radwegepolitik . - Es ist einfach, nach der
Verantwortlichkeit und dem Geld des Bundes zu rufen .
Allerdings ist man auf Länderebene nicht in der Lage,
das zur Verfügung gestellte Geld anständig zu verbauen .
({6})
Ich möchte noch einige weitere Bemerkungen machen . Sie werfen uns hier vor, es stünden keine Radwege
im Bundesverkehrswegeplan .
({7})
Da stehen sie natürlich nicht drin . Wer ein bisschen
Ahnung von Verkehrspolitik hat, weiß, dass es dort um
großräumig wirksame Investitionen in Bundesverkehrswege geht .
({8})
Aber wenn keine Fernverkehrsbedeutung vorliegt, dann
kann ich auch keine Radwege dort einstellen .
({9})
Wir unterstützen demnächst den Bau von Radschnellwegen mit 25 Millionen Euro . Aber Sie müssen die Systematik der Straßenverkehrspolitik in Deutschland mit
Blick auf das, was Sie hier vorschlagen, schon ein bisschen beachten .
Ihr Antrag enthält noch andere interessante Passagen,
zum Beispiel die Kaufprämie für E-Bikes .
({10})
Wann ist es überhaupt gerechtfertigt, dass man Kaufprämien für Fahrzeuge, für andere Wirtschaftsgüter vorsieht? Das ist doch nur dann der Fall, wenn ein Marktversagen vorliegt . Ich kann nur feststellen: Der Markt für
Elektrofahrräder funktioniert hervorragend .
({11})
Wir können in den letzten Jahren ein stetiges Wachstum
in diesem Bereich verzeichnen, auch wenn sie teurer sind
als gewöhnliche Fahrräder . Sie werden immer beliebter,
sie werden gekauft .
({12})
Deshalb braucht man auch für die Lastenräder keine
Kaufprämie. Das ist eher ein Ausweis einer verqueren
Wirtschaftsauffassung, einer vollkommen falschen ordPatrick Schnieder
nungspolitischen Vorstellung, wie man Förderung auch
im Bereich Radverkehr zu stricken hat .
Unter dem Strich: Der Radverkehr ist unter Verkehrsministern der Union fester Bestandteil des Mobilitätsmixes geworden .
({13})
Wir sehen das Potenzial . Wir handeln, wir haben die Mittel erhöht, wir haben das Recht weiterentwickelt . Es ist
also eine mehr als erfolgreiche Radverkehrspolitik, die
diese Koalition betreibt .
({14})
Vielen Dank, Herr Kollege Schnieder . - Als Nächste
spricht Kirsten Lühmann von der SPD-Fraktion .
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe
Kolleginnen! Sehr verehrte Anwesende! Ich freue mich,
dass wir auch dieses Jahr in diesem Haus eine Debatte zu
dem wichtigen Thema Radverkehr führen . Wir sind uns
alle einig: Im Radverkehr steckt ein hohes ökologisches
Potenzial . Allerdings ist der Radverkehr auch der, wie wir
es nennen, schwächere Teil in unserem Verkehrssystem .
Darum gibt es, von der Bundesregierung mitinitiiert, seit
2011 die Kampagne „Ich trag’ Helm“ . Eines ist uns allen
klar: Der Fahrradhelm rettet Leben, liebe Kollegen und
Kolleginnen .
({0})
Diese Kampagne hat auch Erfolg . Seitdem ist die
Helmtragequote in Deutschland von 11 Prozent auf
17 Prozent gestiegen . Aber wir wissen: Immer noch gibt
es sehr viele, die Ressentiments gegen den Helm haben .
Es gibt aber Alternativen . Auch ich bin in Berlin regelmäßig Fahrradfahrerin . Ich trage diesen Airbag, der im
Falle eines Unfalles aufgeht und dann auch meinen Kopf
schützt . Ich sage einmal: Es gibt auch Möglichkeiten für
Helmmuffel, dem Sicherheitsaspekt Rechnung zu tragen.
({1})
Warum rede ich hier über Sicherheitstechnik und -ausstattung beim Fahrrad? Es ist ein so einfacher wie trauriger Fakt: Jeden Tag stirbt auf unseren Straßen ein Fahrradfahrender . Liebe Kolleginnen und Kollegen, dagegen
müssen wir etwas tun .
({2})
Diese Bundesregierung hat viel erreicht . Das wurde
schon gesagt . Unter anderem haben wir in diesem Jahr
den Etat für die Verkehrssicherheitsarbeit auf 14 Millionen Euro erhöht . Ich nutze diese Gelegenheit, ein herzliches Dankeschön zu sagen an alle Ehrenamtlichen und
Hauptamtlichen, die in den Jugendverkehrsschulen, bei
der Deutschen Verkehrswacht und beim Deutschen Verkehrssicherheitsrat dafür sorgen, dass unsere Straßen sicherer werden . Herzlichen Dank .
({3})
Wir haben hier erst die Einbringung des Antrags, das
heißt, wir werden uns mit den einzelnen Punkten des Antrages noch vertieft auseinandersetzen . Lassen Sie mich
nur zwei anführen, um Ihnen deutlich zu machen, dass
wir dieses Thema schon angegangen sind, insofern es
diesen Antrag nicht gebraucht hätte .
Das eine Thema wurde schon erwähnt: Kinder bis
zum Alter von acht Jahren können den Gehweg mit Begleitpersonen benutzen . Das ist eine Neuerung, die vom
Verkehrsministerium eingeführt wurde und die wir für
wichtig und richtig halten .
({4})
Das zweite Thema ist mir auch sehr wichtig: Schutzstreifen auf Straßen außerorts . Wir warten alle auf die
Freigabe des Berichtes der Bundesanstalt für Straßenwesen durch Minister Dobrindt über einen Feldversuch zu
diesem Thema .
({5})
Wir sind uns alle einig: Natürlich ist außerorts der Fahrradweg die sicherste Möglichkeit . Aber wenn es ihn nicht
gibt - oder wenn es ihn noch nicht gibt -, müssen wir
etwas tun, um das Radfahren außerorts sicherer zu machen. Ich erhoffe mir von diesem Bericht Handlungsanweisungen für unsere Straßenbaubehörden, um, wenn es
sinnvoll ist, einen Schutzstreifen auch außerorts aufzubringen .
({6})
Aber uns beschäftigt auch beim Radverkehr innerorts
eine Thematik: Es gibt Untersuchungen, die besagen,
dass der Fahrradfahrende innerorts besser auf der Straße
als auf dem Gehweg aufgehoben ist - es passieren weniger Unfälle, insbesondere beim Abbiegen . Ich kenne
aber viele Fahrradfahrende, die sich innerorts auf der
Fahrbahn unsicher fühlen, und ich kann sie verstehen,
liebe Kolleginnen und Kollegen . Wir müssen, wenn wir
innerorts die Fahrräder auf die Fahrbahn bringen, auch
dafür sorgen, dass sich die Fahrradfahrenden dort sicher
fühlen . Das heißt - es wurde schon gesagt -, wir müssen
daran arbeiten, dass die motorisierten Verkehrsteilnehmenden nicht dicht an den Radfahrenden vorbeifahren .
Wie können wir das erreichen? Indem wir auch innerorts
einen Fahrradschutzstreifen aufbringen . Dann können
wir die Fahrräder auf die Fahrbahn bringen, und dann ist
es sicher .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich freue mich auf
die Debatte im Ausschuss . Es gibt Themen, die ich dort
gerne ansprechen würde, zum Beispiel das Thema Fahrrad und Alkohol . Das steht nicht in dem Antrag, aber es
ist mir ein Herzensanliegen . Vielleicht können wir auch
darüber reden .
Jetzt wünsche ich uns erst einmal eine sichere Heimfahrt - sei es auf dem Fahrrad, im Auto, mit dem Zug und ein schönes Wochenende .
Danke sehr .
({7})
Liebe Frau Lühmann, aber wir haben noch eine Debatte . Also noch nicht alle in die Osterpause schicken! Als letzte Rednerin in dieser Aussprache spricht Daniela
Ludwig von der CDU/CSU-Fraktion .
({0})
Verehrte, liebe Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Genau 200 Jahre ist es her, dass Karl Drais zum ersten
Mal mit seiner Draisine durch Mannheim fuhr .
({0})
Damit war sozusagen der absolute Trend für das Fahrrad gesetzt . Ich glaube, er hätte sich damals tatsächlich
nicht vorstellen können, welche Bedeutung dieser fahrbare Untersatz tatsächlich einmal gewinnen könnte und
dass er es sozusagen zu einer Bundestagsdebatte bringen
würde . Insofern ist es sehr wichtig, dass wir uns heute
mit dem auseinandersetzen, was mit dem Radverkehr zu
tun hat .
Es ist viel dazu gesagt worden, wie viel Geld der Bund
investiert . Es ist viel dazu gesagt worden, wie wichtig
hier die enge Verzahnung von Bund, Ländern und Kommunen ist . Wichtig ist auch das, was vor Ort passiert .
Lieber Herr Zierke, Sie haben mir da aus der Seele gesprochen: Das Bekenntnis zum Radverkehr darf nicht
nur hier und in Sonntagsreden abgelegt werden, sondern
man muss sich der Verantwortung stellen und sich zu
dem Flächenverbrauch bekennen, der mit dem Ausbau
der Radwege verbunden ist . Er führt aber zu einem Sicherheitsgewinn für die Verkehrsteilnehmerinnen und
Verkehrsteilnehmer, die sich für das Fahrrad interessieren und es benutzen wollen .
Dass das Thema Radverkehr ein Wirtschaftsfaktor
ist, haben wir heute auch schon gehört . Zum mittlerweile siebten Mal findet die VELOBerlin hier in der Messe
statt . Daran sieht man: Es tut sich etwas in diesem Bereich . Das Fahrrad ist nicht mehr nur Fortbewegungsmittel, sondern durchaus auch in - es ist ein Trend .
Lassen Sie mich, weil sonst schon alles beleuchtet
worden ist, als Tourismuspolitikerin sagen: Das Thema
Fahrradtourismus gewinnt in Deutschland zunehmend
an Bedeutung . Das liegt natürlich auch an unseren bisher
schon sehr guten Radwegen . Schauen wir uns gemeinsam die Zahlen an: 5,2 Millionen Bundesbürger haben im
letzten Jahr einen reinen Fahrradurlaub unternommen,
und zwar hier bei uns im Land . Das ist ein Zuwachs von
über 16 Prozent . Kaum ein Bereich verzeichnet einen
so großen Zuwachs . So schlecht kann es also um unsere
Radwege in der Tat nicht bestellt sein .
Der Radweg Deutsche Einheit - es ist gesagt worden ist nicht mehr nur ein Radweg; es ist ein totaler Erlebnispfad . Man kann sich überall mit Touchpads über die
Historie informieren . Es gibt freies WLAN für die, die da
radeln . Das heißt, wir gehen hier schon einen Schritt in
die richtige Richtung . Und jawohl: Wir als Bund bekennen uns zu unserer Verantwortung .
Ein Fahrradweg gehört mittlerweile wie selbstverständlich zu einer Bundesstraße . Ich bin ja bei Ihnen: Das
ist ausbaufähig, und wir müssen noch mehr investieren,
aber dann bitte auch in Kooperation mit den Verantwortlichen vor Ort . Es kann nicht sein, dass immer nur die
Antwort kommt: Das wollen wir hier jetzt nicht, weil
vielleicht ein Molch über die Straße laufen könnte . - So
funktioniert das nicht .
({1})
Wir stellen 130 Millionen Euro nur für den Ausbau der
Radinfrastruktur zur Verfügung . Der Ausbau von Radwegen an Bundesstraßen ist schon angesprochen worden .
Auch die Ertüchtigung von Betriebswegen an Bundeswasserstraßen für Zwecke des Radverkehrs ist ein ganz
wichtiger Punkt, nicht nur touristisch . Außerdem sind
25 Millionen Euro für den Ausbau der Radschnellwege
vorgesehen, und damit sind wir Vorreiter in Europa; das
muss man in aller Deutlichkeit sagen .
Der Radverkehr gewinnt im Allgemeinen an Bedeutung: für Pendler, aber auch für diejenigen, die unser
Land touristisch erkunden wollen .
Liebe Frau Lühmann, wir wollen, dass die Menschen
sicher unterwegs sind, und zwar von Anfang an . Ich als
Mutter von zwei radelnden Fünfjährigen kann nur sagen:
Ich bin heilfroh, dass sie ein bisschen länger auf dem
Gehweg fahren dürfen; denn trotz Fahrradhelm ist einem
nicht immer wohl dabei, wenn die Kinder mit dem Fahrrad unterwegs sind .
({2})
Aber ich denke, es gehört bei uns dazu, dass die Kinder
frühzeitig sicher radeln lernen . Wir müssen ihnen den
Weg in den Verkehr ebnen .
Der Bund übernimmt Verantwortung . Aber auch alle
anderen Akteure sind in der Pflicht, sowohl an der Finanzierung als auch an der Planung mitzuwirken; denn sonst
bekommen wir es bundesweit nicht hin . Bekennen Sie
sich zur Ihrer Verantwortung! Dann sind wir auf einem
sehr guten Weg .
Vielen herzlichen Dank .
({3})
Herzlichen Dank, Frau Kollegin Ludwig . - Ich schlie-
ße damit die Aussprache .
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/11729 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen . Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall . Dann ist die Überweisung
so beschlossen .
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 39 a und 39 b auf:
a) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und SPD
Für gute Bildung in Europa - Erfolgreiches
Programm Erasmus+ weiterentwickeln
Drucksache 18/11726
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Sportausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Ausschuss Digitale Agenda
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kai
Gehring, Beate Walter-Rosenheimer, Özcan
Mutlu, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Mit Erasmus+ europäische Gemeinschaft erleben
Drucksache 18/11737
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({1})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen . - Ich höre keinen Widerspruch . Dann ist das so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst das
Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär Thomas
Rachel für die Bundesregierung .
({2})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Am Sonntag wurde der Unterzeichnung der Römischen Verträge vor 60 Jahren gedacht . Diesen Mittwoch hat Großbritannien den Austritt aus der Europäischen Union beantragt; ein bitterer Tag für uns, für die
Briten und auch für die Europäische Union insgesamt .
Vor 70 Jahren war es übrigens ein Brite, nämlich
Winston Churchill, der in seiner Rede an der Universität Zürich die „Neuschöpfung der europäischen Völkerfamilie“ gefordert hat, und das nach zwei verheerenden
Weltkriegen . Das war wahrlich visionär . Seine Vision ist
Wirklichkeit geworden: ein gemeinsames Europa, die
Europäische Union . Aber: Sie ist nicht mehr unbestritten .
Der Brexit ist ein tiefgreifender Einschnitt im Prozess
der europäischen Einigung . Er ist für uns alle ein Weckruf . Seine genauen Auswirkungen kennen wir noch nicht .
Nicht nur bei uns, auch in anderen europäischen Ländern
gibt es nationalistische und populistische Anfeindungen,
die uns herausfordern .
Natürlich ist die Europäische Union nicht perfekt .
Oft wirkt sie im Stillen . Sie hat uns viele Freiheiten
und Vorteile gebracht, die wir leider im täglichen Leben
manchmal nicht mehr wahrnehmen . Sie werden uns erst
dann wieder richtig bewusst, wenn sie plötzlich infrage
gestellt werden, wie gerade in Großbritannien das Aufenthaltsrecht für EU-Ausländer .
Wie erleben heutzutage eigentlich junge Menschen
Europa? Ich denke, zunächst durch das freie Reisen,
durch Freizügigkeit für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, durch die Ausbildung und das Studium im benachbarten Ausland . All das war vor 60 Jahren undenkbar .
Kein Programm macht Europa für die junge Generation so erlebbar wie Erasmus+ .
({0})
Vor 30 Jahren war es meist nur wenigen vorbehalten, im
Ausland zu studieren . Das Erasmus-Programm hat dies
grundlegend geändert . Breite Schichten in allen Mitgliedstaaten haben mittlerweile diese Möglichkeit . Fast
10 Millionen junge Menschen haben in dieser Zeit dank
Erasmus im europäischen Ausland studiert, Praktika
gemacht oder gelehrt, darunter fast 1,3 Millionen Menschen aus Deutschland . Diese Generation Erasmus lernt
andere Kulturen, Arbeitsweisen und Lebensgewohnheiten kennen - in der beruflichen Bildung, im Studium, in
anderen europäischen Schulen, aber auch in der Erwachsenenbildung und in der europäischen Jugendarbeit . Für
die Generation Erasmus ist ein Europa mit nationalen
Grenzen unvorstellbar . Sie verstehen und fühlen sich als
europäische Bürger, und das ist auch gut so .
({1})
Das aktuelle, um 40 Prozent ausgebaute, mit 17,4 Milliarden Euro finanzierte Programm Erasmus+ läuft bis
2020 . Wo besteht Reformbedarf für die Zukunft?
Erstens . Das gemeinsame europäische Dach Erasmus+
hat große Vorteile, weil es sichtbar ist; aber für jeden
einzelnen Bildungsbereich muss künftig eine zielgruppenspezifische Ansprache gelingen. Die einzelnen Programmbereiche sollen größere Sichtbarkeit erhalten,
({2})
die ihrem jeweiligen Stellenwert entspricht .
Zweitens . Der Zugang zum Programm muss vereinfacht werden . Antrags-, Berichts- und Abrechnungsverfahren müssen in einem vernünftigen Verhältnis zu der
zur Verfügung gestellten Fördersumme stehen .
Schließlich drittens . Dieses große europäische Mobilitätsprogramm verdient eine nachhaltige finanzielle Aufstockung durch die Europäische Union .
({3})
Gerade den Auszubildenden wollen wir mehr Mobilität und Erfahrungen in anderen europäischen Betrieben
ermöglichen, damit sie ihre kulturelle Einbettung kennenlernen können . Angesichts von Nationalismus und
Abschottung setzen wir hier - ich denke, gemeinsam auf mehr Mobilität von Jugendlichen, von Auszubildenden und Studenten in Europa; denn nichts prägt die europäische Identität und die Identifikation mit Europa mehr
als persönliche Begegnungen sowie erlebtes und gelebtes
Miteinander über Ländergrenzen hinweg .
({4})
Erasmus und Erasmus+ sind eine Erfolgsgeschichte .
Wir wollen dieses Programm gemeinsam mit dem Parlament für die Zukunft ausbauen .
Herzlichen Dank .
({5})
Herzlichen Dank, Herr Staatssekretär Rachel . - Als
Nächste spricht Frau Dr . Rosemarie Hein von der Fraktion Die Linke .
({0})
Vielen Dank . - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Liebe Besucherinnen und Besucher auf
den Tribünen! Wenn einer eine Reise tut, dann kann er
oder auch sie etwas erzählen, heißt es . Die Welt anschauen, andere Erfahrungen und Lebensweisen kennenlernen,
lohnt sich aber auch, um die Welt um uns besser verstehen zu lernen . Es ist eine Möglichkeit, dem wachsenden
Nationalismus Einhalt zu gebieten, Toleranz und Weltoffenheit nicht nur zu postulieren, sondern auch zu leben .
({0})
Das Programm Erasmus+ ist eines der erfolgreichsten
Programme der Europäischen Union und sehr geeignet,
genau diese Ziele zu stärken . Erasmus+ umfasst auch die
früher selbstständigen Programme für den Austausch im
Schulbereich, in der Berufsbildung, in der Erwachsenenbildung, im Sport und für den Jugendaustausch . Es läuft
zunächst bis 2020 .
Noch in diesem Jahr soll ein Zwischenbericht vorgelegt werden . Doch es häufen sich schon jetzt die Hinweise, dass nachgebessert werden muss . Es scheint kurios:
Der Erfolg des Programmes ist gleichzeitig sein Problem .
Die Zahl der Förderanträge ist teilweise extrem angestiegen, was ja für das Programm spricht . So wurden 2011
allein aus Deutschland knapp 34 000 Teilnehmerinnen
und Teilnehmer aus dem Bereich Hochschule gefördert .
2015 waren es schon 42 000 Personen .
Der Hochschulbereich ist gleichzeitig der mit Abstand
stärkste Förderbereich; nur halb so groß ist der der beruflichen Bildung. Zwar wird dort eine höhere Förderquote erreicht, aber die Zahl der Antragstellungen ist
wesentlich geringer . Professor Esser, der Präsident des
Bundesinstitutes für Berufsbildung, nannte in dieser Woche in der Anhörung zur Internationalisierungsstrategie
der Bundesregierung im Ausschuss auch den Grund: Der
Bürokratieaufwand bei der Antragstellung sei für viele
Betriebe zu hoch . Ähnliches beklagt auch die Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend in Deutschland .
300 Seiten Programmleitfaden seien nicht nutzerfreundlich, finden sie. Wir finden das auch.
({1})
Darum sind es vielleicht - wie in meinem Bundesland vor allem die größeren und erfahreneren Träger, die wiederholt auf erfolgreiche Antragsstellungen verweisen
können .
Der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages hat schon vor einem Jahr darauf hingewiesen, dass
in den meisten Förderbereichen des Programmes die Förderquoten oder die Förderbeträge sinken. Auch das ist ein
Ausdruck des Programmerfolges . Darum bedarf es dringend einer Aufstockung und einer Entbürokratisierung,
damit mehr Menschen von diesem Austausch profitieren
können . Das hat vorhin auch der Staatssekretär gesagt .
({2})
Das gilt insbesondere auch für den Schulbereich .
Auch hier ist der Etat gewachsen, aber hauptsächlich für
den Austausch von Lehrkräften . Doch in meinem Bundesland - sicherlich nicht nur dort - ist das Interesse der
Schulen
({3})
- so ist es -, allen voran der über 20 Europaschulen, ungebrochen . Aber Reisen muss man sich auch leisten können . Dieses Austauschprogramm ist für Bildung, Weltoffenheit und Toleranz unersetzbar . Darum muss der Etat
dringend weiter aufgestockt werden, damit niemand aus
finanziellen Gründen darauf verzichten muss.
({4})
Mehreren Berichten entnehmen wir, dass die Sichtbarkeit der ehemals selbstständigen Programme „Comenius“ für die Schulen, „Jugend in Aktion“ für den
Jugendaustausch, „Leonardo da Vinci“ für die berufliche
Bildung und „Grundtvig“ für die Erwachsenenbildung
hinter dem dominierenden Programm Erasmus zurücksteht . Allerdings hatten wir das schon 2012 befürchtet .
Die Bundesregierung hat das damals eigentlich auch so
gesehen, wie man ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage
unserer Fraktion aus dem Jahre 2012 entnehmen kann .
Ich glaube, wir müssen hier jetzt in der Tat reagieren .
Wir haben in der kommenden Sitzungswoche im Ausschuss ein Fachgespräch zu diesem Thema. Ich hoffe,
dass wir aus diesem Fachgespräch etwas schlauer herausgehen, dass wir also nicht nur die Probleme kennen,
sondern vielleicht auch für Lösungsstrategien sorgen
können .
Vielen Dank .
({5})
Vielen Dank, Frau Dr . Hein . - Als Nächster spricht
Martin Rabanus von der SPD-Fraktion .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren auf den Tribünen! Liebe Zuschauer! Ich weiß zwar noch nicht genau, was die
Grünen gleich vortragen werden,
({0})
aber es ist schon erkennbar, dass der letzte Tagesordnungspunkt dieser Sitzungswoche kurz vor Ostern offensichtlich einer ist, bei dem hier im Hause viel Konsens
herrscht. Das finde ich ganz schön.
({1})
Ich glaube, dass sich Kai Gehring für die Grünen nachher
auch sehr konstruktiv an der Debatte beteiligen wird .
({2})
Ich glaube, wir alle sind uns diesbezüglich wirklich
einig . Wir haben in den letzten Monaten immer wieder
Diskussionen über Europa geführt, über die Probleme an
den Rändern Europas, zum Beispiel gestern in der vereinbarten Debatte zum Brexit, der ja inzwischen zum
Synonym für all das, was in Europa nicht so gut läuft,
geworden ist . Wenn wir nun heute über das Bildungsprogramm Erasmus+ sprechen, sprechen wir über die Hoffnung und über die Zukunft für Europa .
({3})
Seit 2014 steht Erasmus+ für das Gemeinsame, das
Grenzen Überschreitende, das Lernen, den Austausch
miteinander . Durch diesen Austausch wächst Europa
weiter zusammen . Erasmus+ ist ein hervorragendes Instrument, um den Zusammenhalt zwischen den Nationen
Europas zu stärken. Die internationale Erfahrung eröffnet
den jungen Menschen persönliche, aber auch berufliche
Perspektiven sowie Qualifikationen. Das ist auch für den
europäischen Arbeitsmarkt gut. Ich finde, auch das darf
man nicht vergessen .
({4})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir feiern
30 Jahre Erasmus in diesem Jahr . Die europäischen Staaten haben sich nach zwei Weltkriegen zu einer Gemeinschaft entwickelt, die durch Kultur, Bildung, persönliches Erleben und Freundschaften entstanden ist . Erasmus
und die anderen Bildungsprogramme haben sich im Laufe der Zeit immer weiterentwickelt und großen Anklang
gefunden .
Damit fördern die europäischen Bildungsprogramme
seit 30 Jahren Lehren und Lernen, interkulturelle Begegnungen und die Zusammenarbeit in Europa . 1987 haben
nach der Gründung des Erasmus-Programms gerade
einmal 657 deutsche Studierende an diesem Programm
teilgenommen . Frau Hein hat die Zahl genannt: Heute
sind es 42 000 . Das zeigt, welch eine Akzeptanz dieses
Programm hat .
Seit 2014 heißt dieses Programm Erasmus+ . Weil die
einzelnen Marken leider ein bisschen hinter den übermächtigen Teil Erasmus zurücktreten - ich sehe das
genauso wie Frau Kollegin Hein -, will ich diese benennen . Da ist „Comenius“ für die Schulbildung . Da ist
„Jugend in Aktion“ für die außerschulische Bildung und
„ Leonardo da Vinci“ für die berufliche Bildung. Ich darf
an dieser Stelle dazu sagen, dass es ein besonderes Interesse meiner Fraktion darstellt, auch die Mobilität bei der
beruflichen Bildung in Zukunft weiter zu stärken.
({5})
- Das ist ein besonderes Anliegen der Koalition und des
gesamten Hauses, wie ich merke .
Da ist „Grundtvig“ für die Erwachsenenbildung . Da
sind Jean-Monnet-Aktivitäten für Forschung und Lehre .
All das ist jetzt unter Erasmus+ zusammengefasst .
Wir müssen bei der Evaluierung und der Weiterentwicklung darauf Wert legen, dass diese einzelnen Marken wieder sichtbarer werden . Denn auch dadurch können wir die Mobilität aus meiner Sicht erhöhen .
Andere Stichworte wurden genannt . Die Ziele für dieses Zusammenführen der Programme waren natürlich
Effizienzsteigerungen und schlankere Strukturen. Das
Antragsverfahren und das Management sollten einfacher
werden . Auch das ist gesagt worden . Da ist noch Luft
nach oben; ich formuliere das sehr vorsichtig .
Die Antragsverfahren sind nach wie vor sperrig . Sie
sind nicht in allen Teilen so konzentriert, wie es möglich und vielleicht auch nötig wäre . Vor allen Dingen auch das ist schon erwähnt worden - sind die kleineren
Programmpartner - viele kommen aus dem Bereich des
Ehrenamts - natürlich mit so mächtigen Antrags- und
Abrechnungsverfahren am Ende des Tages überfordert .
Daran müssen wir verstärkt weiterarbeiten .
({6})
Die transeuropäische Mobilität steigt für alle Bereiche . Der Erfolg des Programms ist zugleich sein Fluch .
So ist es vorhin gesagt worden, und so ist es tatsächlich
auch . Auch wenn wir im Moment über ein Gesamtbudget
in Höhe von 14,7 Milliarden Euro verfügen, haben wir
natürlich an allen Ecken und Enden eine Decke, die zu
kurz ist .
Damit wir das nicht vergessen, will ich Folgendes sagen: In der aktuell laufenden Programmphase werden wir
4 Millionen Menschen am Ende des Tages die Möglichkeit gegeben haben, durch dieses Programm Europa und
andere europäische Länder kennenzulernen . 125 000 Institutionen, 2 Millionen Studierende, 650 000 Schüler
und Auszubildende, 500 000 junge Menschen aus Freiwilligendiensten und 25 000 strategische Partnerschaften
werden mit diesem Budget finanziert werden können.
Das ist ein hervorragender und ein großer Schritt, den
wir nicht kleiner machen dürfen, als er tatsächlich ist .
({7})
Dennoch werden wir - das sicherlich in großem Einvernehmen - dafür streiten, zusätzliche Mittel für das
Programm zu bekommen . Auch müssen wir noch einmal
ein bisschen genauer schauen, ob die Justierung der einzelnen Programmbereiche und die Budgetverteilungen
zwischen den Programmbereichen so richtig sind .
Ich will aus meinem Herzen keine Mördergrube
machen; den Bereich der beruflichen Bildung habe ich
eben genannt . Ich glaube, ihn müssen wir stärken . Auch
die vermeintlich kleineren Programmbereiche wie „Jugend in Aktion“, die Erwachsenenbildung oder auch die
Schulbildung sollten im besonderen Fokus unserer Aufmerksamkeit stehen .
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen ein
starkes Erasmus+ . Wir brauchen ein starkes Bildungsund Mobilitätsprogramm . Denn wir wollen den Feinden
der Freiheit in Europa Freundschaft und Verständigung
zwischen den europäischen Nationen entgegenstellen .
Dafür brauchen wir ein starkes Erasmus+ . Umberto
Eco hat einmal gesagt: Erasmus hat die erste Generation Europäer hervorgebracht . - Ich wünsche mir, dass
viele weitere Generationen überzeugter Europäer durch
Erasmus+ unseren Kontinent zusammenhalten: für Frieden, für Freiheit, für uns alle .
Herzlichen Dank .
({9})
Herzlichen Dank, Herr Kollege . - Als Nächster spricht
Kai Gehring von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Die gefährlichste Weltanschauung ist die derer, die die Welt nie
angeschaut haben .“ Das wusste schon Alexander von
Humboldt . Europa ist ein Stabilitätsanker in einer Welt
mit Krisen und Konflikten, ein Kontinent der Demokratie
und Rechtsstaatlichkeit, mit garantierten Menschen- und
Freiheitsrechten .
Das Einigungswerk steht unter Druck . Europafeindliche und nationalistische Strömungen stellen europäische
Werte und die Union infrage .
({0})
Ich sage für uns sehr klar: Ausgrenzung, Abschottung und
Renationalisierung führen in die Sackgasse, und sie sind
unvereinbar mit unserer europäischen Gemeinschaft .
({1})
Auch wenn die Brexit-Verhandlungen in den nächsten
Jahren viel Kraft binden werden, sollten wir nicht aufhören, die europäische Integration voranzutreiben und
unsere universellen Gemeinschaftsrechte zu verteidigen;
denn Europa muss sozialer, ökologischer, demokratischer und sicherer werden .
({2})
Bei so manchem Schatten gibt es aber auch viel Licht .
Für viele ist Europa eben doch selbstverständlicher Alltag, insbesondere in den Grenzregionen . Ich will mir jetzt
einen Seitenhieb auf die Maut ersparen, um die Einigkeit
hier nicht zu stören .
({3})
Aber wissen Sie: Gerade die Jugend - und damit die Zukunft - Europas lebt und schätzt Europa mit seiner Vielfalt, den Freiräumen und den Chancen . Im Rahmen der
europäischen Bildungsprogramme sind in der Vergangenheit über 7 Millionen Menschen zum Leben und Lernen in ein anderes EU-Land gegangen - eine echte Erfolgsstory . Daher auch von uns herzlichen Glückwunsch
zum 30 . Geburtstag! Wir meinen, wer Europa auf diese
Weise erfährt, kennt seinen Wert .
({4})
Wir Grünen im Bundestag und die Koalitionsfraktionen legen heute Anträge vor, mit denen wir dafür sorgen wollen, dass Bildung stärker zur europäischen Einigung beiträgt . Ich sehe auch in dieser Debatte sehr viel
Einigkeit . Eine fraktionsübergreifende Initiative wäre
ein großartiges Zeichen ins Land und auch in Richtung
Brüssel gewesen . Deshalb: Schade, dass das nicht möglich war . Ich sage sehr klar: Wir Grüne stehen weiter für
einen einvernehmlichen Antrag des gesamten Hohen
Hauses bereit;
({5})
denn wir alle wollen einen Chancenkontinent .
({6})
Wir wollen, dass Erasmus+ noch besser läuft . Es wird
noch viel zu sehr als Programm für Studierende wahrgenommen . Es ist wichtig, seine Anwendungsmöglichkeiten in allen Bildungsbereichen sichtbarer zu machen
und bei Azubis, Schülerinnen und Schülern sowie Lehrkräften viel aktiver für die Teilnahme an Erasmus+ zu
werben . Gerade junge Auszubildende gehen noch viel
zu selten ins Ausland . Sowohl in den Berufsschulen als
auch bei den Arbeitgebern ist noch Überzeugungsarbeit
zu leisten, dass es auch für den Betrieb von Vorteil ist,
wenn Azubis und auch die Beschäftigten eine Zeit lang
ins Ausland gehen . Wir fordern deshalb die Wirtschaftsverbände auf, gerade kleine und mittlere Unternehmen
für Erasmus+ zu gewinnen . An die Bundesregierung gerichtet sage ich: Vereinfachen Sie endlich die Anträge!
({7})
Jugendliche aus finanzschwächeren Elternhäusern
sind leider noch unterrepräsentiert . Ein besseres BAföG
und mehr Stipendien würden wirken . Auch da kann der
Bund nachlegen; auch dazu kann man sich verabreden .
Wer ins Ausland geht, soll sich sicher sein können, dass
seine anderswo erbrachten Leistungen und Abschlüsse
hierzulande auch anerkannt werden . Mobilität darf nicht
von der Herkunft und nicht vom Konto abhängen .
({8})
Unterrepräsentiert sind auch Jugendliche aus manchen EU-Ländern und -Regionen . Die Teilnahmestaaten
sollten darum endlich Ideen entwickeln, wie die Menschen in allen europäischen Regionen von Erasmus+
besser profitieren können. Statt eingefahrener Ströme nur
in eine Richtung oder nur zwischen bestimmten Staaten
wollen wir vielfältige Mobilität; denn genau das macht
Europa aus . Mobilität ist für alle da . Nur das ist gerecht .
({9})
Mehr europäischer Austausch ist ein Baustein für ein
zusammenwachsendes Europa . Erasmus+ überzeugt die
Menschen von den Vorzügen der europäischen Einigung und ist damit eine ganz konkrete Antwort auf die
Schwarzmaler und die nationalen Egoisten . Bildung
schafft Identität, auch europäische Identität, und öffnet
europaweit Türen, Köpfe und Herzen, ob hierzulande, in
Frankreich, in süd- oder osteuropäischen Ländern . Wir
tun, glaube ich, gut daran, die Begeisterung der Generation Erasmus für Europa gemeinsam zu stärken und
weiterzuverbreiten .
Vielen Dank .
({10})
Herzlichen Dank, Herr Kollege Kai Gehring . Als Nächstes spricht Katrin Albsteiger von der CDU/
CSU-Fraktion .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Vieles kann die Parlamentsarbeit manchmal mühsam machen . So schön es ist, wenn
man sich hier in Plenardebatten richtig aneinander reiben
und wirklich auch sehr unterschiedliche Auffassungen
zu dem einen oder anderen Thema vertreten kann - auch
gestern hatten wir so eine Debatte hier im Plenum; wahrscheinlich waren es mehrere dieser Art -, so schön ist es
doch auch - gerade zum Ende dieser Sitzungswoche -,
über ein Thema zu diskutieren, bei dem große Einigkeit
in diesem Parlament herrscht .
({0})
Für den vorliegenden Antrag - ich möchte gar nicht
sagen, dass er nach langwierigen Verhandlungen entstanden ist - haben wir uns durchaus viel Zeit genommen .
Dafür möchte ich mich auch herzlich bei meinem Kollegen Martin Rabanus bedanken . Das war eine sehr gute
Zusammenarbeit . Gerne wieder!
({1})
- Herzlichen Dank .
({2})
Es ist schon gesagt worden: Derzeit befindet sich das
Programm Erasmus+ in der Zwischenevaluation . Wir
erwarten bis Ende des Jahres die Veröffentlichung des
Ergebnisses . Deswegen und schon allein deshalb, weil
schließlich auch die europäische Ebene erfahren muss,
wie wir über dieses Programm denken, ist gerade jetzt
ein sehr guter Zeitpunkt, um uns hier im Parlament auch
noch einmal mit diesem Thema zu beschäftigen .
Wir fordern die Bundesregierung in unserem Antrag
auf, sich auf europäischer Ebene dafür einzusetzen, dass
die Gelder, die erheblich aufgestockt wurden, bis zum
Ende der Programmperiode, 2020, tatsächlich auch für
das Programm verwendet werden können und dass dieses wichtige und richtige Programm auch danach, nach
2020, fortgesetzt wird .
({3})
Wie es in dieser Debatte schon mehrfach angesprochen worden ist, war es uns ebenfalls ein Anliegen - Sie
finden das im Antrag -, dass wir alle Einzelprogramme
hier auch gesondert benennen, weil jedes Einzelprogramm ein spezifisches Programm mit einer ganz bestimmten Zielgruppe ist .
({4})
Die kleineren Programmbereiche müssen, wenn sie noch
nicht so bekannt sind, noch ein bisschen bekannter und
sichtbarer gemacht werden . Das können wir auch heute
hier bei dieser Debatte leisten .
({5})
Um einen Programmbereich noch einmal herauszustreichen - mein Kollege hat das auch bereits getan -:
Wichtig für uns ist die berufliche Bildung. Diesen Punkt
halte ich tatsächlich für sehr wichtig .
Auch in der letzten Legislaturperiode haben wir uns
dazu schon ein Ziel gesetzt, nämlich, 10 Prozent aller
Auszubildenden eine Auslandserfahrung zu ermöglichen . Das ist ein sehr schönes Ziel . Wenn man sich aber
anschaut, wo wir gerade sind, dann sieht man, dass wir
bei circa 4 Prozent liegen . Hier ist noch massiv Luft nach
oben und muss noch einiges passieren .
Im europäischen Vergleich sind wir hier im Übrigen
gar nicht so schlecht, aber das hat natürlich auch seinen
Grund. Warum? Die duale berufliche Bildung hat bei uns
in Deutschland eine lange Tradition und ist unheimlich
erfolgreich .
({6})
Gerade deshalb ist es sehr wichtig, dass unsere Auszubildenden auch als Botschafter in andere Länder gehen und
zeigen, wie großartig das duale System ist, welche Chancen und welche Nähe zum Arbeitsmarkt es bietet und
was für ein tolles Instrument es ist - auch, um Jugendarbeitslosigkeit zu verhindern . Genau deswegen wollen
wir darauf auch weiterhin unseren Schwerpunkt setzen .
({7})
Über die Bedeutung von Erasmus+ in Europa ist hier
schon viel gesprochen worden . Es ist tatsächlich auch ein
Gegengift für Populismus und Euroskepsis . Auf die Feierlichkeiten zum 60 . Jahrestag der Römischen Verträge
und auf das 30-jährige Jubiläum des Programms Erasmus
ist hingewiesen worden . Das sind tolle Sachen .
Darüber hinaus gibt es aber auch andere, neue Ideen,
die dazu beitragen, dass Europa gerade für junge Menschen erlebbarer gemacht und denjenigen entgegengewirkt wird, die immer nur Phrasen dreschen und sagen:
„Europa und die Werte sind wichtig“, während sie eigentlich gar nicht wissen, was genau dahintersteckt .
Genau deswegen finde ich es zum Beispiel auch toll,
dass es Initiativen wie die gibt, allen, die 18 werden, ein
Interrailticket zur Verfügung zu stellen - das ist tatsächlich großartig -, damit die Mobilität der jungen Menschen erhöht wird und sie Erfahrungen sammeln können .
({8})
Aber auch das Europäische Solidaritätskorps, um das
hier einmal anzusprechen, ist eine tolle Initiative, die wir
unterstützen sollten .
({9})
Deswegen möchte ich mich zum Schluss dieser Debatte herzlich bedanken und alle einladen, diese Vision
von Erasmus weiterzutragen und unseren Antrag zu unterstützen; denn wir haben mit der heutigen Debatte die
Gelegenheit, eine ein Stück weit Wirklichkeit gewordene
Vision weiterzutragen und auszubauen .
Was ist der millionenfache Austausch von jungen
Menschen, von Jugendlichen in Europa anderes als das
tatsächliche Zusammenwachsen Europas,
({10})
in dem Grenzen sowie sprachliche und kulturelle Unterschiede überwunden werden und in dem Nachbarn von
Fremden tatsächlich zu Freunden werden?
({11})
Lassen Sie uns daran gemeinsam weiterarbeiten . - Jetzt
wünsche ich Ihnen allen ein schönes Wochenende .
Herzlichen Dank .
({12})
Vielen Dank, Frau Albsteiger . - Ich schließe die Aussprache .
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 18/11726 und 18/11737 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall .
Dann sind die Überweisungen so beschlossen .
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung .
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 26 . April 2017, 13 Uhr, ein .
Bis dahin wünsche ich Ihnen eine gute Heimreise, viel
Zeit für sich, für die Familie, für die schönen Dinge des
Lebens . Bis bald und schöne Osterzeit . In diesem Sinne:
Die Sitzung ist geschlossen .