Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Schon wieder hat
ein fürchterlicher Anschlag Menschen mitten aus dem
Leben in den Tod gerissen und andere schwer verletzt,
diesmal in London ganz in der Nähe des britischen Parlaments . Unsere Gedanken sind in diesen Stunden bei
den Angehörigen der Opfer, den Getöteten und den Verletzten, denen unser Mitgefühl gilt und denen wir eine
möglichst schnelle Genesung wünschen . Unseren Freunden im Vereinigten Königreich versichern wir unsere
uneingeschränkte Solidarität im Kampf gegen jede Form
von Terror und Gewalt .
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste auf den
Tribünen! Heute jährt sich das Ermächtigungsgesetz vom
23 . März 1933 . Die Selbstaufgabe des Parlaments bahnte - wie man damals ahnen musste und heute weiß - den
Weg unumkehrbar in die nationalsozialistische Diktatur .
Der Reichstag tagte nach dem großen, mysteriösen Brand
schon nicht mehr in diesem Gebäude; ein Parlament wurde fortan auch nicht mehr gebraucht .
Der 23 . März verweist als ein Wendepunkt der deutschen Geschichte auf die persönlichen Schicksale zweier
herausragender Parlamentarier, die der Deutsche Bundestag von heute an mit der Benennung prominenter
Liegenschaften hier in Berlin ehren wird: Otto Wels und
Matthias Erzberger.
Mit ihnen verbinden sich die dramatischen Anfänge
und das tragische Ende der ersten deutschen Republik,
beginnend mit dem Waffenstillstand im Wald von Compiègne 1918, den zu unterschreiben der Zentrumsabgeordnete Matthias Erzberger als Leiter der deutschen
Verhandlungsdelegation auf sich nahm, um das sinnlose
Gemetzel in Europa nach vier entsetzlich langen Jahren
endlich zu beenden .
Als Folge der berechnenden Feigheit verantwortlicher
Generäle, ihre militärische Niederlage selbst einzugestehen, blieb nicht nur der Ruf der jungen, gerade neu
gegründeten Republik und der parlamentarischen Demokratie nachhaltig beschädigt; auch Erzberger persönlich,
der für die Idee eines Völkerbundes und die Annahme
des von vielen als „Friedensdiktat“ empfundenen Versailler Vertrags eintrat, wurde Ziel übelster Schmähungen und Verleumdungen und im August 1921 das Opfer
eines Mordanschlags .
1933, unmittelbar vor dem Ermächtigungsgesetz, gewährte Reichspräsident Paul von Hindenburg mit einer
Verordnung für „Straftaten, die im Kampfe für die nationale Erhebung des Deutschen Volkes, zu ihrer Vorbereitung oder im Kampfe für die deutsche Scholle begangen sind“, Straffreiheit und damit auch den ins Ausland
geflüchteten Attentätern Matthias Erzbergers, für deren
Rückkehr sich Hitler persönlich aussprach . Sie hatten
einer nationalistisch-antisemitischen Terrororganisation
angehört, hervorgegangen aus einem Putsch konterrevolutionärer Kräfte gegen die Republik, der im März 1920
an einem Generalstreik gescheitert war . Dieser war damals organisiert und initiiert von Otto Wels .
Dieser war es auch, der als SPD-Vorsitzender am
23 . März 1933 in einem Akt demokratischer Selbstbehauptung seine Stimme gegen die Auslieferung der Demokratie an ihre Feinde erhob, als Einziger, mutig und
mit bestechender Klarheit . Durch die Kraft der Rede ließ
sich die Entwicklung nicht mehr verändern, die Transformation einer labilen Demokratie in einen autoritären,
schließlich totalitären Staat . Und doch wurde das Wort
zur Tat: zum Widerstand gegen die Anmaßung der neuen
Machthaber, zum Signal, zur Botschaft an die Nachwelt,
dass auch unter eskalierendem Terror Widerstand nötig
und möglich war . Diese historische Erfahrung verdient
nicht nur in Deutschland in Erinnerung bewahrt und politisch bewusst zu bleiben. Ähnliche Versuchungen gibt
es offenkundig auch heute.
Bei allen Unterschieden in Herkunft und politischer
Sozialisation eint Otto Wels und Matthias Erzberger, dass
ihr Wirken in der Rückschau auf die existenziellen Krisenmomente reduziert wird . Dabei zeigten sich in ihnen
wie in einem Brennglas Charakter und demokratische
Gesinnung, die ein viel längeres politisches Leben auszeichneten . Beide gehörten dem Reichstag jeweils fast
zwei Jahrzehnte an . Sie organisierten an herausgehobener Position den schwierigen Übergang von der Monarchie zur Republik und formten deren Grundfeste mit Otto Wels von 1919 an als Vorsitzender seiner Partei,
deren führender Kopf er auch im Exil bis zu seinem Tod
zwei Wochen nach Kriegsbeginn blieb .
Erzberger wiederum personifiziert das im Kaiserreich
gewachsene Selbstbewusstsein des Parlaments . Auch
wenn die von ihm initiierte Friedensrevolution, in der sich
der Reichstag vor genau 100 Jahren mehrheitlich für einen Verständigungsfrieden ohne Annexionen aussprach,
folgenlos blieb, erwies sich das damals geschmiedete
parlamentarische Bündnis aller demokratischen Kräfte
als tragfähig für die spätere, die Republik stützende sogenannte Weimarer Koalition . In der kurzen Zeitspanne,
die Erzberger blieb, um diese Republik mitzugestalten,
ist ihm Beachtliches gelungen . Er organisierte ein reichseinheitliches Bahnsystem und schuf als Finanzminister
eine der größten Steuerreformen der Geschichte, deren
Grundlagen bis in die heutige Zeit reichen, und das übrigens innerhalb von neun Monaten .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dass wir Persönlichkeiten ehren, die in ihrem Kampf um Demokratie
und Parlamentarismus scheiterten und dafür sogar mit
dem Leben bezahlten, ist keine deutsche Besonderheit,
der Schleier des Vergessens aber, der vielfach über den
Wegbereitern unserer Demokratie liegt, schon . So gibt
es in Berlin einen Hindenburgdamm, aber bis heute keine Straße und keinen Platz, die bzw . der an Matthias
Erzberger erinnert . Deshalb freue ich mich, dass der
Ältestenrat meinem Vorschlag gefolgt ist, Gebäude und
Säle des Bundestages nach bedeutenden Parlamentariern
und Parlamentarierinnen zu benennen . Möglichst bald
wollen wir so auch eine herausragende Frau des deutschen Parlamentarismus würdigen .
Mit der Benennung des Gebäudes Unter den Linden 50 in „Otto-Wels-Haus“ und Unter den Linden 71 in
„Matthias-Erzberger-Haus“ setzt der Deutsche Bundestag ein überfälliges Zeichen im öffentlichen Raum.
({0})
Wir erinnern an die Lebensleistung zweier herausragender Parlamentarier, die beispielgebend moralische
Größe und demokratische Haltung bewiesen - zu einer
Zeit, als es auch in Deutschland tatsächlich Mut brauchte, um für seine Überzeugungen einzutreten. Ihr Vermächtnis ist und bleibt uns anvertraut .
Vielen Dank für Ihre Zustimmung.
({1})
Ich möchte Sie vor Eintritt in unsere Tagesordnung
darauf aufmerksam machen, dass es eine interfraktionelle Vereinbarung gibt, die Tagesordnung um die in der Zusatzpunkteliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
({2})
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ausführung der Anlage VI des Umweltschutzprotokolls zum Antarktis-Vertrag vom 14. Juni
2005 über die Haftung bei umweltgefährdenden Notfällen ({3})
Drucksache 18/11529
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit ({4})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anlage
VI des Umweltschutzprotokolls zum Antarktis-Vertrag vom 14. Juni 2005 über die Haftung bei umweltgefährdenden Notfällen ({5})
Drucksache 18/11530
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit ({6})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Friedrich
Ostendorff, Nicole Maisch, Harald Ebner, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Einrichtung eines Bundesprogramms „Zu-
gang zu Land - Chancen für neue Betriebe
ermöglichen“
Drucksache 18/11601
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Kordula Schulz-Asche, Maria Klein-Schmeink,
Dr . Harald Terpe, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Arzneimittelversorgung an Bedürfnissen der
Patientinnen und Patienten orientieren - Heute und in Zukunft
Drucksache 18/11607
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({7})
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
ZP 2 Weitere abschließende Beratung ohne Aussprache
({8})
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen
Drucksache 18/11140
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz ({9})
Drucksache 18/11638
Präsident Dr. Norbert Lammert
ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
60 Jahre Römische Verträge
ZP 4 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz,
Bau und Reaktorsicherheit ({10}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Sylvia KottingUhl, Annalena Baerbock, Bärbel Höhn, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Brennstofflieferungen für belgische Atomkraftwerke stoppen
Drucksachen 18/9676, 18/10934
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Inge
Höger, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
sowie der Abgeordneten Agnieszka Brugger,
Jürgen Trittin, Katja Keul, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Verhandlungen über einen Atomwaffenverbotsvertrag aktiv unterstützen
Drucksache 18/11609
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({11})
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
ZP 6 - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Ersten Gesetzes zur Änderung des Infrastrukturabgabengesetzes
Drucksachen 18/11237, 18/11536
- Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Herbert Behrens, Sabine Leidig,
Caren Lay, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Aufhebung des Gesetzes
über die Erhebung einer zeitbezogenen Infrastrukturabgabe für die Benutzung von
Bundesfernstraßen ({12})
Drucksache 18/11012
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr und digitale Infrastruktur
({13})
Drucksache 18/11646
ZP 7 - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Zweiten Verkehrsteueränderungsgesetzes
Drucksachen 18/11235, 18/11560
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({14})
Drucksache 18/11643
- Bericht des Haushaltsausschusses ({15}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
Drucksache 18/11644
ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Beate
Müller-Gemmeke, Kerstin Andreae, Brigitte
Pothmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Kein Sachgrund - Keine Befristung
Drucksache 18/11608
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Der Tagesordnungspunkt 6 - hier geht es um die Neuregelung des Mutterschutzrechts - wird heute abgesetzt .
Stattdessen soll der Tagesordnungspunkt 32 - Gesetzentwurf zu Unternehmungen aus bürgerschaftlichem Engagement - unter Beibehaltung der vereinbarten Debattenzeit aufgerufen werden .
Ebenso sollen die Tagesordnungspunkte 15 a und 15 b
abgesetzt werden - hier geht es um Anträge zum Atomwaffenverbotsvertrag - und stattdessen der gemeinsame
Antrag der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die
Grünen auf der Drucksache 18/11609 mit dem Titel „Verhandlungen über einen Atomwaffenverbotsvertrag aktiv
unterstützen“ ebenfalls mit unveränderter Debattenzeit
beraten werden .
Anstelle des Tagesordnungspunktes 28 sollen die Beschlussempfehlungen auf der Drucksache 18/11646 zu
dem Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Änderung des
Infrastrukturabgabengesetzes sowie die Beschlussempfehlung auf der Drucksache 18/11643 zum Entwurf eines
Gesetzes zur Änderung des Zweiten Verkehrsteueränderungsgesetzes in verbundener Beratung mit einer Debattenzeit von 60 Minuten aufgerufen werden . Die nachfolgenden Tagesordnungspunkte der Koalitionsfraktionen
rücken entsprechend nach hinten .
Schließlich mache ich noch auf mehrere nachträgliche Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunkteliste aufmerksam:
Der am 17 . Februar 2017 ({16}) überwiesene
nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Gesundheit ({17}) zur Mitberatung
überwiesen werden:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neustrukturierung des Bundeskriminalamtgesetzes
Drucksache 18/11163
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({18})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss Digitale Agenda
Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO
Der am 9 . März 2017 ({19}) überwiesene
nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem AusPräsident Dr. Norbert Lammert
schuss für Gesundheit ({20}) zur Mitberatung
überwiesen werden:
Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neustrukturierung des Bundeskriminalamtgesetzes
Drucksache 18/11326
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({21})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss Digitale Agenda
Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO
Der am 9 . März 2017 ({22}) überwiesene
nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz ({23})
sowie dem Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({24}) zur Mitberatung überwiesen werden:
Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes gegen
schädliche Steuerpraktiken im Zusammenhang mit Rechteüberlassungen
Drucksache 18/11233
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({25})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Haushaltsausschuss
Der am 9 . März 2017 ({26}) überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
({27}) zur Mitberatung überwiesen werden:
Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der materiellen Zulässigkeitsvoraussetzungen von ärztlichen Zwangsmaßnahmen
und zur Stärkung des Selbstbestimmungsrechts von Betreuten
Drucksache 18/11240
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz ({28})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Der am 10 . März 2017 ({29}) überwiesene
nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({30}) sowie dem Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
({31}) zur Mitberatung überwiesen werden:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Fortentwicklung der haushaltsnahen Getrennterfassung von wertstoffhaltigen Abfällen
Drucksache 18/11274
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit ({32})
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ich frage Sie, ob Sie mit diesen Vereinbarungen ein-
verstanden sind . - Das sieht ganz danach aus . Dann kön-
nen wir so verfahren .
Ich rufe unsere Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 c auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen CDU/CSU, SPD und BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Fortentwicklung des Gesetzes zur
Suche und Auswahl eines Standortes für ein
Endlager für Wärme entwickelnde radioaktive Abfälle und anderer Gesetze
Drucksache 18/11398
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit ({33})
Drucksache 18/11647
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz,
Bau und Reaktorsicherheit ({34})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Hubertus
Zdebel, Eva Bulling-Schröter, Caren Lay,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Exportverbot für hochradioaktive Abfälle
- zu dem Abschlussbericht der Kommission La-
gerung hoch radioaktiver Abfallstoffe
Verantwortung für die Zukunft
Ein faires und transparentes Verfahren für
die Auswahl eines nationalen Endlager-
standortes
Drucksachen 18/9791, 18/9100, 18/11647
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz,
Bau und Reaktorsicherheit ({35}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Hubertus Zdebel,
Eva Bulling-Schröter, Caren Lay, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Umgang mit Atommüll - Defizite des Entwurfs des Nationalen Entsorgungsprogramms
beheben und Konsequenzen aus dem Atommülldesaster ziehen
Drucksachen 18/5228, 18/7275
Zum Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU,
SPD und Bündnis 90/Die Grünen liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor .
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 77 Minuten vorgesehen . - Auch dazu gibt
es offensichtlich Einvernehmen. Also verfahren wir so.
Präsident Dr. Norbert Lammert
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst der Bundesministerin Frau Dr . Barbara Hendricks .
({36})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Fortentwicklung des Standortauswahlgesetzes wird der Fahrplan zur
Endlagersuche jetzt mit Leben erfüllt, wenn wir heute
dieses Gesetz verabschieden. Das Gesetz legt das Verfahren fest, an das sich künftig jeder zu halten hat, der an
der Suche nach einem Endlagerstandort für hochradioaktive Abfälle beteiligt ist . Es ist meine tiefe Überzeugung,
dass nur mit festen Regeln und mit absoluter Transparenz
eine ergebnisoffene und bundesweite Suche nach einem
Endlagerstandort gelingen kann .
Dem Gesetzentwurf ist die Arbeit der Endlagerkommission vorausgegangen, in die Mitglieder des Deutschen Bundestages, Vertreterinnen und Vertreter der
Länder, der Wissenschaft und gesellschaftlicher Gruppen
eingebunden waren . Mein besonderer Dank gilt heute
dieser Kommission .
({0})
Sie hat in den letzten Jahren mit schwieriger Detailarbeit und in oft kontroverser Debatte einen fundierten
Bericht erstellt . Die Kommission hat damit die Grundlage für das Verfahren gelegt, für das ich Sie heute um
Zustimmung bitte .
Die Herausforderung könnte kaum größer sein . Hochradioaktive Abfälle aus den Atomkraftwerken müssen
für 1 Million Jahre sicher von der Umwelt ferngehalten
werden . So steht es im Gesetz, obwohl natürlich die Zahl
von 1 Million eine gegriffene Größe ist. Aber gehen wir
von 1 Million Jahre aus: Mehr als 30 000 Generationen
werden in diesem Zeitraum noch von den Folgen der
Atomtechnologie betroffen sein, die bei uns gerade einmal 60 Jahre in Betrieb gewesen ist . Seit Christi Geburt
sind übrigens rund 60 Generationen vergangen - um einmal die Dimension deutlich zu machen, mit der wir es
hier zu tun haben .
Alle diese Zahlen zeigen noch einmal überdeutlich,
welch ein Irrweg die Nutzung der Atomenergie gewesen
ist .
({1})
Es wird Zeit, dass das letzte deutsche Atomkraftwerk im
Jahr 2022 vom Netz geht .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte mich
bei allen bedanken, die sich zum Teil seit Jahrzehnten für
den Atomausstieg engagiert haben - in Wyhl, in Brokdorf, in Wackersdorf, in Kalkar, im Wendland und an
vielen anderen Orten . Der friedliche Protest gegen die
Atomenergie zählt für mich zu den großen Leistungen
der Demokratie in Deutschland .
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dass der Atomausstieg politisch richtig war, ist den meisten von uns mittlerweile wohl klar . Im vergangenen Dezember hat uns
das Bundesverfassungsgericht bestätigt, dass er verfassungskonform ist . Es gibt also glücklicherweise keinen
Weg mehr zurück . Aber auch wenn die Nutzung der
Atomkraft bald Geschichte sein wird, bleibt uns und
unseren Nachkommen der Atommüll erhalten und alle
damit verbundenen Risiken . Deshalb war es dringend
erforderlich, das Chaos in Sachen Atommüll zu ordnen,
und dafür haben wir die vergangenen Jahre dieser Legislaturperiode intensiv genutzt .
Erstens . Wir haben uns ehrlich gemacht . Mit dem erstmals von einer Bundesregierung vorgelegten Nationalen
Entsorgungsprogramm haben wir eine langfristige Strategie zur Entsorgung der Brennelemente beschlossen .
Zweitens . Wir haben das Hickhack um die verbleibenden Castoren aus der Wiederaufarbeitung beendet und
sie eben nicht nach Gorleben geschickt, sondern sie auf
andere Zwischenlager bundesweit verteilt .
Drittens . Wir haben das seit zwei Jahrzehnten diskutierte Thema der Atomrückstellungen angepackt und
sichergestellt, dass die Stromkonzerne ihre finanziellen
Pflichten bei der Stilllegung und beim Rückbau tatsächlich erfüllen werden .
Viertens. Wir haben die oftmals kritisierten Zuständigkeiten für die Endlagerung neu und transparent geregelt . Wir sind dort im Umsetzungsprozess .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind also ein
großes Stück vorangekommen . Was bleibt, ist die Frage:
Wohin mit dem Atommüll? Mit dem Gesetz, das Ihnen
heute zur Entscheidung vorliegt, leiten wir einen Prozess
ein, an dessen Ende in einigen Jahrzehnten ein deutsches
Endlager stehen soll . Wir - damit meine ich auch viele
derer, die die Atomkraft lange bekämpft haben - stellen
uns der schwierigen und unangenehmen Verantwortung,
die aus dem Erbe des Atomzeitalters herrührt. Diese Verantwortung ist auch nicht delegierbar, zum Beispiel an
andere Länder oder an andere Generationen .
({3})
Der Export von Abfällen ins Ausland wäre das komplette Gegenteil einer verantwortlichen Lösung . Der Gesetzentwurf schränkt den Export zu Recht sogar weiter
ein, indem er einen entsprechenden Vorschlag der Endlagerkommission aufgreift . Künftig ist eine Entsorgung
im Inland nicht nur für bestrahlte Brennelemente aus
Atomkraftwerken, sondern grundsätzlich auch für solche
aus Forschungsanlagen vorgesehen . Dieser Grundsatz
wird ausschließlich durchbrochen, wenn die Brennelemente noch nicht in ein deutsches Zwischenlager verbracht worden sind und der Export aus schwerwiegenden
Präsident Dr. Norbert Lammert
Gründen der Proliferation oder der Versorgung deutscher
Forschungsanlagen mit Kernbrennstoff erforderlich ist.
Lassen Sie mich aber eindeutig klarstellen: Entgegen
dem, was von manchen aktuell behauptet wird, eröffnet
diese Regelung keine Hintertür, die Brennelementekugeln aus Jülich oder Hamm-Uentrop in die USA zu entsorgen . Das geht gerade nicht .
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das novellierte
Standortauswahlgesetz legt fest, wie und nach welchen
Kriterien das Standortauswahlverfahren ablaufen wird .
Dabei sind alle infragekommenden Wirtsgesteine einzubeziehen, und es sind umfangreiche Bewertungen der
geologischen Verhältnisse an den Standorten durchzuführen .
Der wichtigste Maßstab für die Auswahl des Endlagerstandorts wird die Sicherheit sein . Davon wird sich
während des Prozesses die gesamte Öffentlichkeit überzeugen können . Das Standortauswahlverfahren sieht
deshalb neue Gremien für die Öffentlichkeitsbeteiligung
vor - vor Ort in den fraglichen Gebieten, aber auch überregional . Zusätzlich werden die Möglichkeiten gestärkt,
das Verfahren von den Bürgerinnen und Bürgern gerichtlich überprüfen zu lassen .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es liegt in unserer
Verantwortung, den Standort für ein Endlager zu finden,
das für eine nach menschlichen Maßstäben unvorstellbar
lange Zeit größtmögliche Sicherheit bietet und das damit
die Bürde dieses Erbes für die kommenden Generationen
so klein wie eben möglich hält .
Damit korrigieren wir auch die Entscheidung aus dem
Jahr 1977, Gorleben zum Endlagerstandort zu machen .
Die Proteste gegen das Endlager Gorleben sind Teil des
kollektiven Gedächtnisses unseres Landes geworden .
Wir müssen uns eingestehen, dass die Kritik der Gorleben-Gegnerinnen und -Gegner zumindest in weiten Teilen berechtigt war .
({5})
Das Verfahren damals entsprach weder den Anforderungen der Wissenschaft noch den berechtigten Forderungen
der Bürgerinnen und Bürger nach Transparenz .
Das neue Auswahlverfahren geht einen anderen, einen
besseren Weg . Es startet mit einer weißen Landkarte . Wir
betrachten das ganze Bundesgebiet, ohne einzelne Regionen zu bevorzugen und ohne bestimmte Standorte von
vornherein auszuschließen . Stück für Stück werden wir
auf Basis wissenschaftlicher Fakten Standorte ausschließen und andere dann jeweils näher untersuchen . Wir werden dabei transparent arbeiten und die Bürgerinnen und
Bürger einbeziehen - und das von Beginn an und nicht
erst am Ende der Suche .
Gleichwohl ist mir bewusst: Wenn es darum geht,
einen Standort festzulegen, wird dies nicht ohne Widersprüche gehen - um es vorsichtig auszudrücken . Deswegen ist es klar, dass wir als Deutscher Bundestag bzw .
unsere Nachfolger im Deutschen Bundestag die Verantwortung dafür werden übernehmen müssen . Es kann
schlechterdings nicht der kommunalen Planungshoheit
überlassen bleiben; denn dann würden wir zu keinem Ergebnis kommen können .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, einen Standort für
die Endlagerung zu finden, ist, wie ich finde, ein Testfall für die Demokratie . Ein handlungsfähiger Staat muss
sich daran messen lassen, ob eine Lösung gelingt, die
wissenschaftlich begründet ist und auch von einer breiten Mehrheit des Landes getragen wird . Daraus folgt eine
Verpflichtung für uns alle. Einfach nur zu sagen: „Nicht
vor meiner Haustür!“, das wird als Argument nicht ausreichen .
Uns alle eint der Gedanke, dass wir diese Herausforderung jetzt gemeinsam angehen wollen . Wir alle zusammen müssen uns auf den Weg machen, einen jahrzehntelangen tiefen Konflikt in unserer Gesellschaft zu lösen.
Ich hoffe deshalb auf Ihre breite Unterstützung für den
vorgelegten Gesetzentwurf .
Herzlichen Dank .
({6})
Hubertus Zdebel ist der nächste Redner für die Fraktion Die Linke .
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Lassen Sie mich heute eines vorweg sagen: Auch wenn es in
der Sache gravierende Differenzen gibt - für die faire und
kooperative Zusammenarbeit zum Thema „Standortauswahlgesetz und Kommission Lagerung hoch radioaktiver
Abfallstoffe“ möchte ich mich bei allen Berichterstatterinnen und Berichterstattern aus den anderen Fraktionen
ausdrücklich ganz herzlich bedanken . Das gilt für Sylvia
Kotting-Uhl, für Matthias Miersch, aber auch für Steffen
Kanitz .
({0})
Es ist ja nicht der Regelfall, dass trotz so unterschiedlicher Auffassungen sachlich gestritten wird.
In der Sache aber stehen wir als Fraktion Die Linke
als einzige Opposition im Bundestag einer Koalition
aus Grünen, SPD und CDU/CSU gegenüber, und wieder einmal geht es um Atomfragen . Zuletzt haben im
Dezember die Grünen gemeinsam mit den Regierungsfraktionen den Atomkonzernen eine milliardenschwere
Last abgenommen und die Risiken für die Finanzierung
der Atommülllagerung den Bürgerinnen und Bürgern in
Deutschland aufgeladen . Jetzt soll ein weiterer vermeintlicher Atomkonsens auf den Weg gebracht werden, der
aber nicht hält, was Regierung und die Fraktionen der
Grünen, SPD und CDU/CSU versprechen .
Natürlich sind die jetzt zur Abstimmung stehenden
Veränderungen eine Verbesserung gegenüber dem bisherigen Gesetz zur Endlagersuche . In der Kommission
„Lagerung hoch radioaktiver Abfallstoffe“ haben meine
Fraktion und ich selbst in den letzten Jahren aktiv daran
mitgearbeitet .
({1})
Richtig ist aber auch: Die grundsätzlichen Mängel an
diesem Gesetz werden mit dieser Gesetzesnovelle nicht
beseitigt. Wer den jahrzehntelangen Großkonflikt um die
Atomenergie und die hochradioaktiven Hinterlassenschaften beenden will, der muss aus der Vergangenheit
Konsequenzen ziehen, um verlorengegangenes Vertrauen zurückzugewinnen .
({2})
Dem hier zur Abstimmung stehenden Gesetzentwurf ist
das bis heute nicht gelungen . Es sollte doch zu denken
geben, dass das Verfahren zu diesem Gesetz und seine
Ergebnisse bis heute von nahezu allen Teilen der Antiatombewegung und ihren Organisationen heftig bzw .
massiv kritisiert werden . Nur mit ihnen als ein entscheidender Vertrauenspartner, aber nicht gegen sie kann das
Ziel eines gesellschaftlichen Konsenses beim Neustart
der Endlagersuche gelingen .
({3})
Es mag einen Fraktionskonsens zwischen Grünen,
SPD und CDU/CSU geben, aber selbst in Bezug auf diesen wissen wir Linken, dass er sehr brüchig - um nicht
gleich „faul“ zu sagen - ist . Dieser Konsens beruht nämlich darauf, dass Gorleben als einziger Standort für ein
Endlager für hochradioaktive Abfälle im Rennen bleibt .
Statt hier im Bundestag politisch einen klaren Schlussstrich unter Gorleben zu ziehen und damit ein überzeugendes Signal für einen tatsächlichen Neustart zu geben,
wird der Streit um Gorleben erneut in das Verfahren zur
Endlagersuche verschoben . Das, meine Damen und Herren, schafft kein Vertrauen, sondern begründet erneut
Zweifel . Deswegen lehnen wir Linken dieses Gesetz und
diese Novelle weiterhin ab .
({4})
Wie brüchig bzw. belastet das Vertrauen in der Bevölkerung beim staatlichen Umgang mit den radioaktiven
Abfällen ist, können wir auch bei der Umsetzung des
Exportverbots sehen . Statt klipp und klar in das Gesetz
zu schreiben: „Exporte von hochradioaktivem Atommüll
aus Jülich in die USA wird es nicht geben“, findet sich im
Gesetzentwurf eine derart kryptische Formulierung, dass
zu Recht Hintertüren vermutet werden können . Auch das
trägt nicht dazu bei, Vertrauen zu schaffen.
({5})
Der vorliegende Gesetzentwurf beansprucht, die
Empfehlungen der Kommission „Lagerung hoch radioaktiver Abfallstoffe“ eins zu eins umzusetzen. Er greift
auch dabei an vielen Stellen noch zu kurz . Die Klagerechte für Bürger bleiben auch nach der Neuregelung unzureichend . Wir sind der Meinung, dass den Bürgerinnen
und Bürgern bereits bei der Entscheidung zur Auswahl
der obertägig zu erkundenden Regionen eine gerichtliche
Prüfung ermöglicht werden muss .
({6})
Das soll aber nun nicht erfolgen .
Auch die in der Kommission deutlich benannte Tatsache, dass die Standortentscheidung - im Gesetz wird
nun wieder eine Frist bis zum Jahre 2031 genannt - und
die Inbetriebnahme eines Endlagers später kommen werden - womit die Zwischenlagerung deutlich, vermutlich
über Jahrzehnte, länger dauern wird, als bislang genehmigt -, bleibt weitgehend ausgeblendet . Das ist eines der
Kern- bzw . Kardinalprobleme der Arbeit in der Kommission gewesen. Diese defizitäre Umsetzung des Kommissionsberichts durch den Gesetzentwurf hat die Fraktion
Die Linke während der parlamentarischen Beratungen
durch einen Änderungsantrag zu beheben versucht, der
aber gestern von den anderen Fraktionen leider abgelehnt
wurde .
Für uns ist sonnenklar: Die Halbwertzeit dieser Gesetzesnovelle wird nicht besonders lang sein; denn die
Probleme bleiben . Für einen tatsächlichen Neustart bei
der Endlagersuche mit dem Ziel eines gesellschaftlichen
Konsenses muss das Verfahren vom Kopf auf die Füße
gestellt werden . Es braucht eine möglichst sichere Lösung, und diese muss in Deutschland gefunden werden .
Dafür setzen wir Linke uns weiterhin ein .
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit .
({7})
Für die CDU/CSU-Fraktion erhält der Kollege Steffen
Kanitz das Wort .
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Zdebel, Sie haben gestern im Ausschuss Demut und
Nachdenklichkeit in der Debatte angemahnt . Wenn ich
Ihren Worten so folge, muss ich sagen: Sie sind Ihrem
eigenen Anspruch nicht gerecht geworden .
({0})
Man kann doch nicht ernsthaft alles dafür tun, um dafür zu sorgen, dass es in Deutschland kein Endlager für
hochradioaktive Abfallstoffe gibt, und gleichzeitig bemängeln, dass wir uns zu wenig um die Zwischenlager
kümmern .
({1})
Das ist ein Widerspruch, den man immer wieder deutlich machen muss . Wir als diejenigen drei Fraktionen in
diesem Deutschen Bundestag, die sich darum kümmern,
eine Lösung für dieses Menschheitsproblem zu finden,
haben diesen Widerspruch aufgedeckt . Und wir fangen
mit dem ersten Schritt an, nämlich ein Endlager für hochradioaktive Abfallstoffe zu finden. Insofern ist es ein guter Gesetzentwurf, den wir heute auf den Weg bringen
wollen .
({2})
Meine Damen und Herren, ich glaube, dass die Arbeit
der Kommission in der Tat der letzte Versuch ist, diese
Menschheitsaufgabe „Suche nach einem Endlager für
hochradioaktive Abfallstoffe“ zu lösen. Das ist ja auch in
der Rede der Ministerin deutlich geworden . Dass es eine
Menschheitsaufgabe ist, zeigt der Anspruch, dass wir ein
Endlager finden wollen, das Sicherheit für 1 Million Jahre garantieren soll . Das mag dem einen oder anderen nur
ein müdes Lächeln abringen . Aber ich glaube, dieser Anspruch macht deutlich, dass wir ein Endlager finden wollen, bei dem wir eben nicht nachfolgenden Generationen
die Last aufbürden, sich darum kümmern zu müssen, wie
wir mit den Hinterlassenschaften der Kernenergie umgehen, sondern das robust ist gegenüber geologischen, klimatischen, aber auch gesellschaftlichen Veränderungen,
das so robust ist, dass es wartungsfrei aufgestellt werden
kann, wohl wissend, dass wir heute nicht über absolutes
Wissen verfügen. Deswegen haben wir im Verfahren die
Möglichkeit von Rücksprüngen eingebaut . Wir haben ein
lernendes Verfahren aufgestellt, das wahrscheinlich einzigartig ist . Wir haben vereinbart, dass 500 Jahre lang die
Rückholbarkeit garantiert sein soll, weil wir eben nicht
wissen, ob nachfolgende Generationen anders mit den
Hinterlassenschaften umgehen . Aber wir wollen ihnen
eben nicht die Bürde auferlegen, sich noch einmal damit beschäftigen zu müssen . Insofern ist der Anspruch,
ein sicheres Endlager für eine sehr lange Zeit zu finden,
völlig richtig .
Die nackten Zahlen: Wir haben 124 Sitzungen der
Endlagerkommission und der verschiedenen Arbeitsgruppen gehabt, über 550 Kommissionsdrucksachen
sind entstanden, und wir haben einen Abschlussbericht
von fast 600 Seiten vorgelegt . Das zeigt: Die Kommission hat sich in den letzten knapp drei Jahren große Mühe
gegeben, eine gute und konsensuale Lösung zu finden.
Ich möchte mich herzlich bedanken bei den beiden Vorsitzenden der Endlagerkommission, bei Michael Müller
und Ulla Heinen-Esser, die unterschiedlicher nicht hätten sein können . Aber ich glaube, dass gerade diese Unterschiedlichkeit ein Teil des Erfolges gewesen ist . Ich
möchte mich herzlich bedanken bei meinen Koberichterstatterinnen und -berichterstattern Sylvia Kotting-Uhl,
({3})
Matthias Miersch und, lieber Herr Zdebel, auch bei Ihnen, der Sie am Ende mit Ihrer Fraktion nicht dabei sind,
aber der Sie lange mitgearbeitet haben . Es hat insgesamt
große Freude gemacht .
({4})
Ich selbst habe aus der Arbeit in der Kommission viel
gelernt . Ich habe gelernt, dass das Angebot, an einem
Diskurs teilzunehmen, nicht von jedem selbstverständlich wahrgenommen wird . Die Umweltverbände sind
angesprochen worden . Sie sind ja sozusagen kein monolithischer Block, sondern agieren sehr unterschiedlich .
Wir als Fraktion haben uns lange darum bemüht, dass
auch zwei Vertreterinnen bzw. Vertreter der Umweltverbände in die Kommission kommen und ihre Kompetenz
einbringen, um eine Lösung zu finden. Am Ende hat das
zum Glück auch funktioniert . Was ich gelernt habe, ist
außerdem, dass es unter den Umweltverbänden in Teilen - in Teilen - ein Demokratieverständnis gibt, das jedenfalls nicht meins ist und das dem Motto folgt: Nur
wenn meine eigene Meinung akzeptiert wird, dann mache ich mit . - Ich glaube, wer diesem Credo folgt, der
taugt nicht zum Diskurs, meine Damen und Herren .
({5})
Ich will hier auch sehr deutlich sagen: Was es dort an
persönlichen Anfeindungen gegeben hat, insbesondere
gegenüber unserer Kollegin Sylvia Kotting-Uhl, ist nicht
fair, nicht sachgerecht und dem Dialog auch nicht zuträglich . Was Sie da aushalten mussten, war schon eine ganze
Menge . Deswegen Ihnen persönlich vielen Dank für Ihre
Standhaftigkeit in dem Verfahren!
({6})
Trotzdem - ich glaube, das bleibt auch weiterhin unsere Aufgabe - bleibt unsere Hand ausgestreckt . Das ist
sie während des Verfahrens immer auch geblieben, bei
öffentlichen Anhörungen, bei öffentlichen Veranstaltungen, bei Hintergrundgesprächen und bei den folgenden
Öffentlichkeitsbeteiligungsverfahren. Selbstverständlich - das hat die Ministerin zum Ausdruck gebracht würdigen wir die Arbeit der Umweltbewegung und der
Umweltverbände . Gleichzeitig will ich, weil das in der
Debatte zu kurz kam, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Energieversorgungsunternehmen Danke sagen,
die dafür gesorgt haben, dass wir in Deutschland in über
50 Jahren Kernenergie keinen signifikanten Störfall hatten. Vielen Dank dafür, dass das ordentlich funktioniert
hat!
({7})
Die Aufgabe der Kommission war es, dem Bundestag
Vorschläge für eine transparente, ergebnisoffene und an
wissenschaftlichen Kriterien orientierte Endlagersuche
zu unterbreiten . Ich glaube, das ist mit dem Abschlussbericht gelungen . Deswegen ist es auch nur konsequent,
dass der Gesetzgeber diesem Kommissionsbericht in
ganz großen Teilen folgt .
Dort, wo er es nicht tut, ist das das Ergebnis der Anhörung, beispielsweise bei dem Wort „insbesondere“ .
Wir haben im Gesetzesauftrag bisher gehabt, dass wir
uns um ein Endlager für „insbesondere“ hochradioaktive
Abfallstoffe kümmern. Das Nationale Begleitgremium,
aber auch viele Umweltverbände haben darauf hingewiesen, dass es schwierig wird, ein Kombilager zu finSteffen Kanitz
den, das für schwach- und mittelradioaktive Abfallstoffe
wie für hochradioaktive Abfallstoffe gleichermaßen die
bestmögliche Sicherheit garantiert . Deswegen ist es nur
konsequent, dass wir uns auf die hochradioaktiven Abfallstoffe konzentrieren. Das zeigt, dass wir die Öffentlichkeitsbeteiligung sehr ernst nehmen .
Das Verfahren, das wir Ihnen vorschlagen, ist in drei
Phasen unterteilt . Wir werden jetzt, in Phase eins, mit der
obertägigen Erkundung beginnen, von der wir hoffen,
dass wir sie 2022 abschließen können . Wir haben einen
Kriterienkatalog aufgestellt, der in einem breiten Diskurs
gemeinsam mit Wissenschaft und Forschung entstanden
ist, wo wir erst einmal die Ausschlusskriterien anwenden . Wir werden kein Endlager in Regionen suchen, die
erdbebengefährdet sind oder in denen es Vulkanismus
gibt . Wir werden Mindestanforderungen anwenden . Zu
den Mindestanforderungen gehört, dass das Wirtsgestein,
in das wir die hochradioaktiven Abfallstoffe einlagern
möchten, eine ausreichende Mächtigkeit hat . Wir haben
uns über Abwägungskriterien unterhalten . Dazu gehört
beispielsweise die Schutzfunktion des Deckgebirges, ein
Kriterium, das kein Gorleben-K .-o .-Kriterium ist, sondern ein Abwägungskriterium darstellt . In dem Moment,
in dem wir zwei Standorte haben, die ansonsten völlig
gleich sind, wird derjenige Standort vorgezogen, der ein
intaktes Deckgebirge hat . Aber das ist ein Abwägungskriterium und kein Ausschlusskriterium . Im Anschluss
gibt es planungswissenschaftliche Abwägungskriterien,
beispielsweise die Siedlungsdichte, die Frage also: Leben dort viele Menschen?
Um diese Suche vollziehen zu können, brauchen wir
Sicherungsvorschriften, die sich nicht nur auf Gorleben
beziehen, sondern auf ganz Deutschland . Das ist nur
richtig und konsequent . Sie sind auch absolut notwendig .
Wir wollen dabei gleichzeitig Deutschland industriepolitisch nicht lahmlegen . Deswegen gibt es auch Ausnahmen: für Bohrungen bis 100 Meter, auch bis 200 Meter,
wenn nachgewiesen wird, dass kein Wirtsgestein geschädigt wird. Das gilt auch für diejenigen Vorhaben, die im
engen räumlichen Zusammenhang mit bereits durchgeführten Maßnahmen stehen .
Bergbau wird weiterhin möglich bleiben . Das ist auch
deshalb möglich, weil wir wissen, dass wir in Bergbauregionen, wo die Erde durchlöchert ist wie ein Schweizer
Käse, sehr wahrscheinlich kein sicheres Endlager finden können . Ich glaube, es ist auch richtig, dass wir als
Gesetzgeber gemeinsam mit dem Ministerium schauen,
dass diese Regelung praxistauglich bleibt .
Phase zwei ist die Ermittlung der Standorte für die
untertägige Erkundung . Phase drei ist die Einengung auf
einen Standort, der 2031 gefunden werden kann . Das haben wir jetzt in der Hand . Wir können jetzt nicht mehr
auf die Konzerne schauen und sagen: „Ihr seid schuld,
dass es nicht nach vorne geht“, sondern der Bund ist im
Moment in der Verantwortung. Wir haben die vollständige Organisationshoheit . Wir werden ab dem 1 . Juli
sämtliche Finanzmittel haben, die wir brauchen, um ein
Endlager zu finden. Insofern liegt es auch in unserer Verantwortung, diesen Zeitrahmen einzuhalten .
Ja, Herr Kollege Zdebel, es ist völlig richtig: Wir werden uns um die Zwischenlager kümmern müssen; auch
wir sehen dieses Problem . Damit werden wir uns sicherlich in der nächsten Legislaturperiode noch einmal beschäftigen müssen . Wenn wir es den Menschen an den
Zwischenlagerstandorten recht machen wollen, dann
müssen wir das Verfahren jetzt zeitnah starten. Bestenfalls direkt nach Verabschiedung dieses Gesetzentwurfes
muss der Vorhabenträger mit der obertägigen Erkundung
starten, damit wir den Zeitplan einhalten können .
({8})
Das Thema Gleichbehandlung aller Wirtsgesteine ist
uns gemeinsam wichtig . Wir schließen kein Wirtsgestein
und keinen potenziellen Standort im Vorhinein aus. Wir
werden in den drei potenziellen Wirtsgesteinen suchen
und werden politisch nichts ausschließen . Schweden
zeigt, dass es auch möglich ist, ein Endlager zu bauen
mit einer technischen und einer geotechnischen Barriere .
Gleichzeitig - das impliziert der natürliche Menschenverstand - gehen wir davon aus, dass die über Jahrmillionen gewachsene Geologie gegenüber einer technischen
oder einer von Menschen gemachten Barriere eine bessere Schutzfunktion hat . Deswegen ist es richtig, dass wir
in allen Wirtsgesteinen gleichermaßen suchen und - hier
bin ich ganz entspannt - am Ende aber nach Sicherheitskriterien entscheiden . Wir werden denjenigen Standort
auswählen, der die bestmögliche Sicherheit für 1 Million
Jahre garantiert .
In Richtung der niedersächsischen Freunde muss ich
sagen: Es ist wohlfeil, Bayern und Sachsen dafür zu kritisieren, dass sie auf die Gleichbehandlung aller Wirtsgesteine drängen . Gleichzeitig aber darauf hinzuweisen,
dass es falsch ist, Gorleben im Verfahren zu halten, funktioniert nicht . Weiße Landkarte bedeutet: inklusive aller
potenziellen Standorte . Es kann doch nicht richtig sein,
dass als Ergebnis des Verfahrens herauskommt, dass derjenige aus dem Verfahren ausscheidet, der lange genug
protestiert. Vielmehr werden wir denjenigen aus dem
Verfahren nehmen müssen, der aufgrund der geologischen Situation für ein Verfahren nicht geeignet ist. Das
schafft Vertrauen, und das schafft Verlässlichkeit, meine
Damen und Herren .
({9})
Das Exportverbot ist angesprochen worden . Ich halte
es für völlig richtig, dass wir dem Grundsatz der Inlandsentsorgung folgen . Die bei uns in Deutschland entstandenen radioaktiven Abfälle sollen auch bei uns in Deutschland entsorgt werden .
Gleichzeitig ist es völlig richtig, dass wir die Forschung in Deutschland nicht kaputtmachen wollen . Wir
haben in München - dafür hat sich der Kollege Florian
Oßner sehr eingesetzt - den Forschungsreaktor FRM II,
einen von weltweit drei Forschungsreaktoren, in denen
Radioisotope für die Krebsdiagnostik hergestellt werden .
Es wäre fahrlässig, wenn wir den Reaktor mit diesem GeSteffen Kanitz
setzentwurf kaputtmachten . Insofern ist es richtig, dass
es Ausnahmen gibt .
({10})
Gleichzeitig sage ich auch: Wir wollen, dass der genehmigungslose Zustand in Jülich in Nordrhein-Westfalen beendet wird . Wir brauchen dringend und unverzüglich - so ist es ja auch angekündigt - eine Lösung, die
dem Sicherheitsbedürfnis der Anwohnerinnen und Anwohner gerecht wird . Deswegen ist es richtig, dass wir
mit dem Gesetzentwurf auch da Druck machen, damit es
zu einer Lösung kommt .
Ich bedanke mich ganz herzlich bei Peter Altmaier
und beim Staatssekretär Schütte aus dem BMBF, die beide gemeinsam mit uns Berichterstatterinnen und Berichterstattern daran gearbeitet haben, dass wir bei diesem
Thema einen tragfähigen Kompromiss entwickeln .
({11})
Mir persönlich ist wichtig, meine Damen und Herren,
dass wir uns um das Thema Fachkräfte kümmern . Die
alten Schlachten sind geschlagen und sind Vergangenheit; aber es geht jetzt darum, dass wir uns der Aufgabe des Rückbaus und der Entsorgung der radioaktiven
Abfallstoffe widmen. Ich würde mich freuen, wenn es
uns in einer nationalen Kraftanstrengung gelänge, für
den Wissenserhalt bei Nuklearthemen zu stehen und bei
jungen Menschen dafür zu werben, dass wir noch über
Jahrzehnte gute Beschäftigungsmöglichkeiten in diesen
technologisch anspruchsvollen Gebieten haben, dass das
auch ein Exportschlager für Deutschland werden kann,
weil weltweit viele Reaktoren in das Alter kommen, in
dem sie langsam vom Netz genommen werden . Da hat
Deutschland eine einzigartige Kompetenz .
({12})
Meine Damen und Herren, ich glaube, es ist jetzt eine
Zeit, in der die Protestkultur schweigen muss und in der
wir eine Kultur der Verantwortung brauchen, die auch
umfasst, dass wir diejenigen Gemeinden honorieren und
es ihnen nicht schwer machen, sondern leicht machen,
die sich der schwierigen Aufgabe stellen, ein Endlager
für hochradioaktive Abfallstoffe zu finden. In der Tat, liebe Kollegen von den Linken, darf man da nicht Partikularinteressen folgen, sondern muss dem großen Ganzen
gerecht werden .
Ich bedanke mich bei Ihnen allen für die gute Zusammenarbeit, auch beim BMUB, das kräftig daran mitgearbeitet hat, dass es funktioniert . Ich glaube, dass wir jetzt
eine gute Lösung gefunden haben, und bitte deswegen
herzlich um Ihre Zustimmung zum Gesetzentwurf .
({13})
Für den Bundesrat erhält nun der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann das Wort .
Winfried Kretschmann, Ministerpräsident ({0}):
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Abgeordnete!
Heute ist ein Tag der Verantwortung. Mit dem Standortauswahlgesetz schaffen wir die Grundlage dafür, einen
sicheren Endlagerstandort für hochradioaktive Abfälle
zu suchen, und das ist eine wahrhaft epochale Aufgabe .
Es geht um das schwierigste Infrastrukturprojekt in der
Geschichte unseres Landes; denn wir müssen einen Ort
finden, an dem wir den Atommüll für 1 Million Jahre sicher lagern können - ein unvorstellbarer Zeitraum, der
im Grunde das menschliche Maß überschreitet .
Wir übernehmen also nicht nur Verantwortung für uns,
auch nicht nur für unsere Kinder und Enkel, sondern wir
stellen uns der Verantwortung für viele Tausend künftige
Generationen, soweit das überhaupt in der Möglichkeit
des Menschen liegt . Deswegen bin ich dankbar, dass wir
diesen Gesetzentwurf in einem nationalen Konsens verabschieden, in einem Konsens zwischen Bund und Ländern, aber auch in einem parteiübergreifenden Konsens .
({1})
Denn so wichtig zivilisierter Streit als Normalmodus der
Demokratie ist, so wichtig ist der Konsens bei solch fundamentalen Fragen .
Ich sage aber auch ganz deutlich: Die größte Aufgabe
liegt noch vor uns . Der Suchprozess wird von uns allen
noch sehr viel Mut, Disziplin und Verantwortungsbewusstsein verlangen; ansonsten wird er scheitern .
({2})
Meine Damen und Herren, nach der schrecklichen
Reaktorkatastrophe von Fukushima haben wir gemeinsam, im Konsens zwischen Bund und Ländern, im Sommer 2011 den Ausstieg aus der Atomenergie beschlossen, wobei ich mir an dieser Stelle natürlich nicht ganz
verkneifen kann, daran zu erinnern, dass wir zehn Jahre
zuvor mit dem grünen Umweltminister Trittin den Atomausstieg schon einmal durchgesetzt hatten .
({3})
Aber es ist immer gut, wenn man sich durch Katastrophen auch belehren lässt . Besser ist natürlich, man lässt
sich durch Vernunft belehren.
({4})
Eine zweite fundamentale Frage war noch offen: Wohin mit den radioaktiven Abfällen, die im Laufe der Jahrzehnte angefallen sind und noch weiterhin anfallen? Das
war eine Frage, bei der wir uns in einer Sackgasse befanden . Ich erinnere mich noch genau, wie das damals war,
als ich 2011 als frischgebackener Ministerpräsident den
Vorstoß für eine neue, ergebnisoffene Endlagersuche unternommen habe. Viele haben den Kopf geschüttelt und
gefragt: Warum ziehst du dir den Schuh an, wo du und
deine Partei doch jahrzehntelang gegen die Atomkraft gekämpft habt? Warum bringst du dein eigenes Bundesland
als möglichen Standort ins Spiel und riskierst damit den
Unmut deiner Landsleute? - Es ist ganz einfach: Ich habe
das damals getan, weil wir vom Sankt-Florians-Prinzip
zum Prinzip der Verantwortung kommen mussten
({5})
und die Endlagerdebatte aus einer Sackgasse holen mussten . Die Entwicklung zeigt: Das war der richtige Weg .
Mit dem 2013 verabschiedeten Standortauswahlgesetz
ist es gelungen, einen Neustart bei der Endlagersuche zu
erreichen .
Der erste Schritt auf diesem neuen Weg war, dass
die Endlagerkommission über zwei Jahre hinweg intensiv gearbeitet hat . Sie hat Empfehlungen zu den wissenschaftlichen Grundlagen für das Auswahlverfahren
entwickelt und geeignete Formate zur Beteiligung der
Öffentlichkeit erarbeitet, die in diesem Umfang und in
dieser Qualität nie da gewesen sind .
({6})
Darauf dürfen wir wirklich stolz sein . Deswegen möchte ich auch den beteiligten Kommissionsmitgliedern und
Bürgern sehr herzlich für ihre hervorragende Arbeit danken .
({7})
Meine Damen und Herren, mit dem vorliegenden
Gesetzentwurf werden die Empfehlungen der Endlagerkommission nun umgesetzt . Damit setzen wir neue
Maßstäbe bei der Suche . Wir suchen nicht irgendeinen
Standort, sondern den Standort mit der bestmöglichen Sicherheit, und zwar ausschließlich auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse . Das ist, glaube ich, in dieser Zeit,
in der die Verbreitung faktenfreier Meinungen um sich
greift, ganz wichtig. Wir treffen keine Vorfestlegungen.
Ausgangspunkt ist eine weiße Landkarte . Die Suche erfolgt anhand gesetzlich festgelegter Kriterien . Entscheidend ist die Geologie und nicht die politische Geografie.
({8})
Dass die Menschen im Wendland nach der Historie
von Gorleben lieber heute als morgen einen Schlussstrich
wollen, ist mehr als verständlich . Als junger Abgeordneter habe ich selbst dort vor 37 Jahren demonstriert .
({9})
Aber man könnte den Menschen in all den Regionen, auf
die der Blick jetzt neu fallen wird, nicht vermitteln, dass
bei ihnen nach rein wissenschaftlichen Kriterien geprüft
wird, während ein anderer Standort zuvor aus politischen
Gründen ausgeschlossen wurde .
({10})
Wir setzen zudem neue Maßstäbe in der Qualität des
Suchverfahrens. Wir legen das Verfahren in staatliche
Hände. Wir schaffen maximale Transparenz. Alle relevanten Daten und Unterlagen kommen auf den Tisch .
Wir beteiligen die Bürgerinnen und Bürger und die Öffentlichkeit umfassend und von Anfang an . Ein gesellschaftliches Begleitgremium wacht über den gesamten
Suchprozess. Das Verfahren sieht weitgehende Rechtsschutzmöglichkeiten vor . Über jede einzelne Etappe des
Verfahrens entscheiden Bundestag und Bundesrat. Das
sichert die demokratische Legitimation der Endlagersuche .
Dabei ist klar: Die endgültige Entscheidung über einen Endlagerstandort fällen der Bundestag und die Länderkammer und eben nicht die betroffene Region; denn
es handelt sich dabei um eine nationale Aufgabe . Damit
werden wir dem Anspruch gerecht, ein ergebnisoffenes,
streng wissenschaftsbasiertes, transparentes und lernendes Auswahlverfahren zu entwickeln .
Am wichtigsten ist dabei - das möchte ich noch einmal betonen -, dass wir mit dem Gesetz neues Vertrauen
in unseren Umgang mit der Endlagerfrage schaffen, oder
besser: schaffen können; denn das bislang gewonnene
Vertrauen ist noch ein zartes Pflänzchen. Machen wir uns
nichts vor: Die größten Herausforderungen liegen noch
vor uns; denn im Laufe des Prozesses wird sich die Suche
auf einen immer kleineren Kreis von Regionen konzentrieren . Es kann vor Ort verständlicherweise zu Protesten
und Widerständen kommen . Die lokale und regionale Politik kann dabei massiv unter Druck geraten . Deswegen
werden wir alle ein starkes Rückgrat benötigen . Die Entscheidungen werden nur dann in der Öffentlichkeit insgesamt auf Akzeptanz stoßen, wenn bis dahin ein stabiles
Vertrauen in das Verfahren selbst gewachsen ist.
({11})
Deswegen müssen sich alle Beteiligten an das jetzt
vereinbarte Verfahren halten, und zwar ohne Wenn und
Aber. Entscheidend sind alleine die Vorgaben der Wissenschaft . Die Politik muss sich zurückhalten und der
Versuchung widerstehen, bestimmte Standorte von vornherein für ungeeignet zu erklären; denn mit politischer
Taktiererei würde das Vertrauen schnell wieder zerstört.
({12})
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen, lassen Sie uns deshalb unserer gemeinsamen
Verantwortung gerecht werden und das Suchverfahren
sorgfältig durchführen . Lassen Sie uns eigene Interessen zugunsten des gesamtgesellschaftlichen Interesses
zurückstellen . Lassen Sie uns auch bei den weiteren
Schritten in den kommenden Jahren den größtmöglichen
Konsens bewahren . Nur so können wir die EndlagersuMinisterpräsident Winfried Kretschmann ({13})
che zum Erfolg führen . Das sind wir den künftigen Generationen schuldig; denn wir haben die Erde nur von
unseren Kindern geborgt .
Herzlichen Dank .
({14})
Matthias Miersch ist der nächste Redner für die
SPD-Fraktion .
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst muss man, glaube ich, an einem solchen Tag betonen, auch angesichts der Debatten, die wir in den letzten Jahren anlässlich der Jahrestage von Fukushima und
Tschernobyl geführt haben: Der Weg in die Atomkraft
war und ist eine Sackgasse .
({0})
Zwar wird heute immer noch über die Atomenergie
philosophiert und mancher sagt, dass das doch eigentlich
eine sichere und vor allem günstige Technologie ist; aber
am Thema Endlagerung zeigt sich: Wenn wir die Kosten,
die mit der Endlagerung verbunden sind, von vornherein
eingepreist hätten, wäre die Atomenergie alles andere als
günstig und verantwortbar .
({1})
Ich habe noch sehr genau im Ohr, was einige Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU hier angesichts
der Gedenktage gesagt haben . Deshalb sage ich: Lassen
Sie uns heute wirklich den absoluten Schlussstrich ziehen und festhalten: Es darf nie wieder darüber geredet
werden, dass AKWs über 2022 hinaus in Deutschland
betrieben werden sollten .
({2})
Ich darf mich dem Dank meiner Kolleginnen und Kollegen an Steffen Kanitz, auch an Hubertus Zdebel und
vor allen Dingen an Sylvia Kotting-Uhl anschließen .
Sylvia, ich finde, es wäre gerecht gewesen, dir heute ein
paar Minuten Redezeit einzuräumen . Umso größer ist der
Dank an dich für das, was du geleistet hast .
({3})
Ich lobe hier und heute ganz bewusst auch das Bundesumweltministerium . Ich möchte meinen Dank zum
Ausdruck bringen . Das, liebe Barbara Hendricks, was
deine Leute und du in den letzten Jahren geleistet haben,
war eine Herkulesaufgabe . Wir konnten uns immer darauf verlassen, dass ihr konstruktive Vorschläge unterbreitet, die auch in unserem Sinne sind . Dafür ein herzliches Dankeschön .
({4})
Da das alles ja nicht nur eine Einheitssoße sein soll,
möchte ich als niedersächsischer Abgeordneter, lieber
Ministerpräsident Kretschmann, dann doch betonen:
Das, was Stephan Weil und Stefan Wenzel hier in den
letzten Jahren angestoßen haben, auch mit Ihnen zusammen, ist, glaube ich, das gewesen, was als größtmöglicher Konsens erreichbar war .
Aber ich sage ganz bewusst, auch deshalb, weil ich
als Anwalt viele Menschen aus dem Wendland vertreten
habe und ich mich nach wie vor verantwortlich fühle:
„Weiße Landkarte“ kann man so einfach sagen; aber wir
haben Erkenntnisse - wir hatten in diesem Haus auch einen Untersuchungsausschuss, und ich sage das nach wie
vor, auch wenn Gorleben erst einmal im Topf drin ist -,
die allemal ausreichen, um festzustellen, dass Gorleben
nicht geeignet ist, liebe Kolleginnen und Kollegen .
({5})
Es war ganz interessant: Als wir vor einigen Wochen
den Gesetzentwurf vorgestellt haben, habe ich einen
Kommentar gelesen, der zum Ausdruck brachte: Das,
was wir hier machen, ist eine Falle für die Bürgerinnen
und Bürger. Wir würden Öffentlichkeitsbeteiligung da
herstellen, wo sie eigentlich überhaupt nicht angezeigt
wäre . Die Überschrift lautete: „Lasst Experten entscheiden“ .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist spannend, dass
nach wie vor - wir haben Meinungsfreiheit - so etwas
geschrieben wird . Aber gerade die Atomtechnologie, gerade die Frage der Endlagerung ist doch ein Beispiel dafür, dass Experten sich absolut irren können . Was haben
sie gesagt? „Die Asse ist sicher .“ Jetzt sehen wir 10 000
Liter Wasser am Tag . Es kann doch nicht sein, dass man
jetzt einfach blind Experten vertraut!
({6})
- Herr Lengsfeld, Sie sind ja noch dran; dazu können Sie
gleich noch etwas sagen .
({7})
Stattdessen haben wir hier verschiedene Institutionen implementiert, die nicht ganz unumstritten gewesen sind .
Herr
Als
ich mit Rebecca Harms den Vorschlag zur Einrichtung
einer Kommission gemacht habe, gab es zumindest bei
Ihnen sehr große Skepsis . Ich glaube, nach zwei Jahren
Arbeit dieser Kommission können wir feststellen, verbunden mit einem herzlichen Dank an Michael Müller
und Ulla Heinen-Esser, dass es sich gelohnt hat, bei dieser großen Menschheitsaufgabe neben dem Parlament
Ministerpräsident Winfried Kretschmann ({0})
ein kontinuierlich tagendes Sachverständigengremium
zu implementieren, dessen Mitglieder aus den unterschiedlichsten Gruppen der Zivilgesellschaft und der
Wissenschaft kamen . Ich bin jedenfalls dankbar, dass wir
diesen Weg gegangen sind .
({1})
Zum anderen haben wir jetzt ein Gremium in den Gesetzentwurf geschrieben, das Nationale Begleitgremium,
über das ebenfalls viel philosophiert worden ist: Wollen
wir einen Wächterrat, der über Bundestag und Bundesrat
steht? So wurde mir von einem Rechtsprofessor sogar
Verfassungsbruch vorgeworfen. Das, liebe Kolleginnen
und Kollegen, ist meines Erachtens altes Denken . Wenn
wir etwas aus dieser Geschichte der Atomkraft lernen,
dann ist es doch, dass wir ein bisschen demütig im Hinblick auf Entscheidungskulturen und auf die Art und
Weise sind, wie transparent und hinterfragend wir an eine
solch große Frage herangehen .
Deswegen finde ich es richtig, dass die nachfolgenden Bundestage und auch der Bundesrat weiterhin von
einem Gremium begleitet werden, das auch die Macht
hat, Alarm zu schlagen, wenn es das Gefühl hat, hier geht
etwas unfair zu . Transparenz und Rechtfertigungsdruck
werden die einzigen Möglichkeiten sein, die Konflikte,
die in den nächsten Jahrzehnten in dieser Frage vor uns
liegen, zu bewältigen .
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit .
({2})
Für eine Kurzintervention erhält die Kollegin KottingUhl das Wort .
Vielen Dank, Herr Präsident. - Ja, Matthias, ich wollte
das jetzt nicht so stehen lassen, dass du es angemessen
gefunden hättest, wenn meine Fraktion auch mir ein paar
Minuten Redezeit gegeben hätte . Ich danke dir zwar für
das Lob, das dahintersteckte . Aber es war gar nicht mein
Wunsch, ein paar Minuten zu bekommen, sondern es war
mein Wunsch, dass Winfried Kretschmann diese zehn
Minuten spricht . Denn ich halte es in dieser Debatte - im
Hinblick auf das, was nach dem Beschluss des Gesetzes
und mit Beginn des Verfahrens auf uns als Gesamtgesellschaft zukommt - für sehr notwendig, dass ein Ministerpräsident hier noch einmal klarmacht, dass es - natürlich neben der Gesamtgesellschaft, den Bürgerinnen und
Bürgern - in ganz großer Verantwortung die Länder sein
werden, die diese Aufgabe dann schultern müssen, und
dass sie diese Aufgabe annehmen müssen .
Wir Berichterstatter wissen sehr gut, dass das nicht bei
allen Ländern von Anfang an gleichermaßen auf Bereitschaft gestoßen ist . Deswegen halte gerade ich - alle, die
mit mir gearbeitet haben, wissen, wie wichtig mir dieses Gesetz ist - es für sehr wichtig, dass wir hier heute
eine Stimme hören, die sagt: Ja, die Länder sind jetzt in
der Pflicht, diese Aufgabe anzunehmen, sonst wird diese große Aufgabe scheitern . - Dafür bin ich Winfried
Kretschmann sehr dankbar .
({0})
Eva Bulling-Schröter erhält nun das Wort für die Fraktion Die Linke .
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Bezüglich des Neustarts der Suche nach einem
Lager für atomare Abfälle sprach Minister Habeck von
einer Art nationaler Versöhnung. Ich muss sagen: Leider
ist es das nicht . Dies kann man an den heutigen Protesten
der Antiatombewegung vor dem Reichstag sehen, auch
wenn ich zugebe, dass wir schon ein bisschen weitergekommen sind . Trotzdem muss ich heute in der Wunde
bohren .
Mitte Dezember haben Union, SPD und Grüne in diesem Haus den Finanzierungsdeal der Atomfolgekosten
auf den Weg gebracht . Die Linke hat das sehr kritisiert,
und zwar mit Recht . Man hätte wissen können, was nun
klar ist: Vattenfall zieht seine 4,3-Milliarden-Klage in
Washington eben nicht zurück . Einige Abgeordnete haben damals gesagt, der Staat würde sich lächerlich machen, wenn die beiden letzten kostspieligen Klagen nicht
zurückgezogen würden . Ich sage: Die Kolleginnen und
Kollegen der Union, der SPD und auch der Grünen, die
sich hier vor drei Monaten für diesen Deal gelobt haben,
haben sich leider lächerlich gemacht .
({0})
Es ist ungefähr die gleiche Gruppe von Abgeordneten,
die heute das novellierte Standortauswahlgesetz auf den
Weg bringt. Dieses Gesetz beinhaltet wesentliche Verbesserungen . Es ist aber unzureichend geblieben - leider .
({1})
Einige aus dem Unionslager streiten bereits heftig dafür
bzw . argumentieren, dass gerade das bayerische Kristallingestein für Endlagerzwecke nicht geeignet sei .
({2})
Da wird aus dem Ökonomen Herrn Nüßlein plötzlich ein
versierter Geologe, der weiß, dass Granit im Bayerischen
Wald für die Endlagerung nicht taugt . Er wird uns das
vielleicht nachher erklären .
({3})
Unter dem Motto „Bayern first“ möchte man keine Verantwortung übernehmen . Schließlich war ja auch Franz
Josef Strauß derjenige, der die AKWs forciert hat .
({4})
Aber immerhin ist Kristallin mit dabei. Vor der eigenen Gartentür hört bei Ihnen der Konsens auf . Das ist
schon seit 1970 so . So wurde übrigens damals das Zonenrandgebiet Gorleben ausgewählt .
({5})
- Ich weiß gar nicht, wieso Sie sich so aufregen .
({6})
Eigentlich war ein Standort im Emsland für geeignet gehalten worden . Dieser lag aber in den CDU-Wahlkreisen
von Werner Remmers und Rudolf Seiters . Gorleben war
einfach weit genug davon entfernt . Wir alle kennen das
Bild vom grinsenden Ministerpräsidenten Albrecht, der
vor exakt 40 Jahren auf der Landkarte auf den damals
völlig unbekannten Ort Gorleben deutete . Also nichts mit
wissenschaftlich!
({7})
Bis heute geben CDU und CSU nicht wirklich zu, dass
Gorleben politisch ausgewählt wurde und dass es vor allem deshalb im Spiel gehalten werden musste, weil man
Gorleben als Entsorgungsnachweis für die laufenden
Atomkraftwerke brauchte, die man sonst vom Netz hätte
nehmen müssen . Das muss man einmal sagen .
({8})
In den 1990er-Jahren lehnte die Bundesregierung die
Suche nach einem alternativen Standort ab, weil man an
anderen Standorten nie den gleichen hohen Erkundungsstand erreichen könne wie in Gorleben .
({9})
Heute argumentiert die Mehrheit genau andersherum .
Gorleben müsse im Verfahren bleiben, sonst wäre das
nicht gerecht. Wir, die Linken, finden, dass das überhaupt
nicht zusammenpasst .
({10})
Gorleben steht für eine große Wunde, falsche Entscheidungen, Manipulationen, Unwahrheiten und Polizeiprügel .
({11})
Gorleben im Verfahren zu belassen, ist daher eine Art
Erbsünde dieses Standortauswahlgesetzes. Dieses Vorgehen ist nicht geeignet für eine Art nationale Versöhnung.
({12})
Heute war die Demo . Es waren auch Leute von der
BI Gorleben da . Eine Frau hat gesagt: Wenn jemand ein
Auto mit Zündschlüssel stehen lässt und es geklaut wird,
ist das Verleitung zum Diebstahl. Wenn Gorleben nicht
ausgeklammert wird, ist das Verleitung zur Lagerung von
Atommüll in einem nicht geeigneten Lager .
Herr Kanitz, Sie reden von einer Kultur der Verantwortung und sagen, die Leute sollen nicht mehr protestieren . Ich sage Ihnen: Wer sich einmischt, wer protestiert,
auch einmal Nein sagt und nachdenklich ist, der trägt
Verantwortung.
({13})
Das Wort erhält nun der Kollege Georg Nüßlein für
die CDU/CSU-Fraktion .
({0})
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Das,
was wir heute beraten, ist Schlusspunkt und Neuanfang zugleich . Ich möchte betonen, lieber Herr Kollege
Miersch, dass der dickste Punkt, nämlich der Ausstieg
aus der Kernenergie, schon vor einer ganzen Weile beschlossen wurde . Ich habe mich eben schon ein bisschen
echauffiert, weil Sie versucht haben, die Diskussionen
von gestern wieder anzustoßen . An dieser Stelle wäre
das, glaube ich, nicht notwendig gewesen .
({0})
Im Übrigen war das, was Sie gesagt haben und was die
Kollegin Bulling-Schröter gerade ergänzt hat, auch etwas
unfair gegenüber den Altvorderen aus Ihrer Partei . Denn
natürlich ist es Leuten wie Helmut Schmidt damals auch
darum gegangen, dieses Land mit Strom zu versorgen,
damit unser Wohlstand wächst und die Industrie funktioniert; das muss man einmal deutlich sagen .
({1})
Eigentlich sollte uns jetzt die Frage umtreiben, was denn
nach dem Ausstieg kommt . Entscheidend ist nämlich die
Frage: Wie schaffen wir es, dieses Land zuverlässig und
kostengünstig mit Strom zu versorgen? Darüber sollten
wir diskutieren, nicht aber über das Vorgestern philosophieren .
({2})
Ich glaube, beim Thema Kernausstieg ist es dieser
Großen Koalition gelungen, zwei weitere Schlusspunkte
zu setzen . Dabei geht es um die Finanzierung und Organisation des Rückbaus und um die Suche nach einem
Endlager . Das, Herr Miersch, war übrigens sehr wohl
einkalkuliert . Deshalb werden wir auch auf die Rückstellungen der Kernkraftversorger zurückgreifen . Insofern
ist es objektiv falsch, wenn Sie sagen, das sei nicht einkalkuliert gewesen .
({3})
Das war einkalkuliert . Wir greifen, wie gesagt, auf die
Rückstellungen zurück, gehen mit dem Geld verursachergerecht um und werden dafür sorgen, dass die Endlagerung ohne zusätzliches Risiko für die Steuerzahler
organisiert wird .
Zu diesem Zweck gehen wir heute einen entscheidenden Schritt, indem wir die formalen Voraussetzungen
für ein Standortauswahlverfahren sichern . Das ist ganz
wichtig . Das oberste Gebot, meine Damen und Herren,
muss dabei lauten: bestmögliche Sicherheit .
Dass dies parteiübergreifend, ja geradezu überparteilich und auch gesamtgesellschaftlich fundiert gelingt, ist
etwas ganz Besonderes. Ich gebe ganz offen zu, dass ich
kein Fan von Kommissionen bin - überhaupt nicht -;
denn ich glaube, niemand repräsentiert die Gesellschaft
in diesem Land besser als der Deutsche Bundestag . Aber
in den zwei Ausnahmefällen, über die wir heute reden,
war es, glaube ich, vernünftig, so vorzugehen . Es war
auch erkenntnisreich . Gewundert hat mich allerdings die
Pontius-Pilatus-Strategie einiger Umweltverbände, die
ihre Hände dauerhaft in Unschuld waschen wollten und
ursprünglich überhaupt nicht geneigt waren, sich an den
Diskussionen über dieses schwierige Thema zu beteiligen .
({4})
- Jetzt wollte ich Sie gerade loben; wenn Sie nicht dazwischenschreien, tue ich es auch noch . - Umso bemerkungswerter finde ich, dass die Grünen - die Rolle von
Frau Kotting-Uhl ist bereits gewürdigt worden - hier
Verantwortung übernehmen. Dafür herzlichen Dank und
meine Anerkennung!
({5})
Herrn Miersch und anderen von der SPD möchte ich
an dieser Stelle sagen: Schauen Sie sich an, wie sich die
Linke verhält . Das ist, glaube ich, mit Blick auf die Zukunft aufschlussreich, und das sollte man durchaus einmal tun .
({6})
Gestern haben wir vom neuen Bundespräsidenten
gelernt, dass es in der politischen Orthografie keinen
Schlusspunkt, sondern nur Kommas gibt . Nach einem
solchen Komma steht eines ganz klar, nämlich Verantwortung, und das in einer Zeit, die nicht ganz einfach
werden wird . Für die Standortsuche nehmen wir uns bis
zum Jahr 2031 Zeit . Ich halte es auch für richtig, dass
wir den Fokus auf die hochradioaktiven Abfälle legen .
Das war sicher auch ein gutes Ergebnis des parlamentarischen Beratungsprozesses, weil es das Verfahren stringenter macht .
Es ist, wie alle Redner vorher betont haben, ein großer gemeinsamer Erfolg, und ich will mich dem Dank
an die Berichterstatter, die Mitarbeiter - insbesondere im
Ministerium - und die Ministerin anschließen . Der Dank
an die Ministerin wäre noch ein bisschen euphorischer
ausgefallen, wenn sie, Frau Ministerin - das sage ich
ganz ehrlich -, die Seele der Atomkraftgegner nicht gar
so massiert hätten . Trotzdem will ich ganz ausdrücklich
betonen, dass das auch Ihr Erfolg ist, weil Sie mit Beharrlichkeit immer überzeugend dargelegt haben, warum
dieser Gesetzentwurf an dieser Stelle Erfolg verspricht .
Vielen Dank dafür.
({7})
Dieser Kompromiss - das haben wir gehört - verlangt
allen etwas ab . Ich bin der Überzeugung, dass mit diesem
Ergebnis keiner so unzufrieden sein kann, dass er dem
Gesetzentwurf nicht zustimmen kann .
Wenn ich sage, dass alle an dieser Stelle Kröten schlucken müssen, dann gilt das natürlich auch mit Blick auf
die Anforderungen an eine weiße Landkarte . Nur so wird
dieser Prozess unangreifbar, das ist richtig, und nur so
kann man dem Argument, Gorleben sei nur aus politischen Gründen in den Fokus geraten, entgegenwirken .
Das heißt aber auch: Wenn wir das Verfahren so durchführen, wie wir es jetzt vorhaben, dann wird Gorleben
aber nicht unwahrscheinlicher, sondern wahrscheinlicher, und deshalb sind ein paar im linken Lager an dieser
Stelle so aufgeregt; das muss man ganz klar sagen .
({8})
Zum heutigen Zeitpunkt gibt es wissenschaftlich - um
das zu wissen, muss man kein Geologe sein, sondern nur
lesen können - keine wirklichen technischen Einwände
gegen Gorleben, weshalb wir darauf gedrungen haben,
dass Gorleben im Fokus bleibt . Wir haben an dieser Stelle bisher 2 Milliarden Euro an Vorinvestitionen getätigt.
Eine weiße Landkarte wäre ohne Gorleben, wie Ministerpräsident Kretschmann das richtig und seriös dargestellt hat, nicht möglich .
({9})
Deshalb danke ich Ihnen, Herr Ministerpräsident
Kretschmann, für diese Klarheit, auch weil ich weiß, dass
man sich hier nach Shakespeare die Pfeil’ und Schleudern des wütenden Geschicks auf sich ziehen wird, wenn
man das als grüner Ministerpräsident so klar sagt . Das
zeichnet Sie hier in ganz besonderer Weise aus .
({10})
- Machen Sie sich keine Sorgen um Bayern . Das Glück
Bayerns machen wir nicht an Personen, sondern am Erfolg fest .
({11})
Lieber Herr Kollege, wenn wir am Ende der Regierungszeit Bayern und Baden-Württemberg vergleichen und
eine Erfolgsbilanz ziehen, dann werden wir sehen, wer
am Schluss besser dasteht . Ich weiß, wie es ausgehen
wird, und Sie werden es erleben .
({12})
Ich danke allen, die hier über ihren Schatten gesprungen sind, auch wenn ich merke, wie schwer es ihnen
fällt . Ich spreche jetzt nicht vom Krötenschlucken, weil
ich weiß, dass insbesondere die Grünen an dieser Stelle
ein paar naturschutzrechtliche Bedenken hätten . Aber ich
glaube schon, dass man davon sprechen kann, dass der
Gesetzentwurf uns tatsächlich Ehre macht .
Ich will aber auch sagen, dass auch unsere Seite eine
solche Kröte schlucken musste . Ich hätte mir gewünscht,
dass wir das Thema Granitgestein von vornhinein klar
ausschließen, weil dieses Gestein zerklüftet ist und deshalb keinen Sinn macht .
({13})
Wir haben gesagt, wir lassen es im Topf und im Fokus,
weil wir uns nicht einem politischen Vorwurf aussetzen
wollten, der hier sofort reflexartig gemacht worden wäre.
Trotzdem glaube ich, dass in diesem Gesetzentwurf - ich
bitte, jetzt genau hinzuhören - ganz klar zum Ausdruck
kommt, dass eine Endlagerung in kristallinem Gestein,
das, wie gesagt, zerklüftet ist und deshalb auf technische
Barrieren angewiesen wäre, nur die zweitbeste Möglichkeit sein könnte . Das will ich an dieser Stelle ganz klar
unterstreichen .
({14})
Wer das nicht glaubt, der soll mir an dieser Stelle doch
einmal genau erklären, wie man bei dem angesprochenen
Zeitraum von 1 Million Jahren einen Langzeit-Sicherheitsnachweis für irgendwelche technischen Behältnisse
erbringen will .
Mit einem auf der Geologie beruhenden Konzept ist
es einfacher, zu begründen, trotz der Schwierigkeiten,
die keiner bestreiten will . Aber ich jedenfalls halte es für
wahrscheinlicher, dass ein einschlusswirksames Wirtsgestein Vorteile hat, wenn man über die Frage diskutiert:
Was kann und wird in der Zeit von 1 Million Jahren passieren? Es wäre schon eine Hybris, die zu dem, was Sie
immer kritisieren, überhaupt nicht passt, wenn man sagte: Wir lösen dieses Problem an dieser Stelle technisch .
Ich glaube, dass wir alle miteinander intelligente Formulierungen gefunden haben, um klarzustellen, was das
zweitbeste Konzept ist .
({15})
Mit Rücksicht auf politische Formulierungen kann man
vielleicht an der einen oder anderen Stelle Klarheit entbehren . Aber das war eben dem Thema „weiße Landkarte“ geschuldet: Alle sind mit dabei . Alle Bundesländer
nehmen ihre Verantwortung wahr und sehen das auch ein.
({16})
Alle unterziehen sich der Anfangsprüfung .
({17})
Wir werden uns dann an dem wissenschaftlichen Ergebnis
orientieren, so wie das Ministerpräsident Kretschmann
vorhin beschrieben hat .
({18})
Entscheidend am Schluss ist die Frage: Wofür entscheiden wir uns? Wir wählen nicht politische Maßstäbe
und nicht Maßstäbe des Protests, sondern die Maßstäbe
der Wissenschaftlichkeit, die hier zum Ausdruck kommen . Ich glaube, dass das richtig ist .
Es ist wichtig und richtig, die Schritte, so wie sie heute
beschrieben wurden, zu gehen. Wir haben die finanziellen und organisatorischen Voraussetzungen zur Endlagersuche geschaffen, die dazu führen, dass wir ab 1. Juli
dieses Jahres 23,6 Milliarden Euro an Geldern von den
EVU bekommen, um das Ganze finanzieren zu können.
Dies verpflichtet uns natürlich dazu, heute diesen Schritt
zu gehen . Man kann nicht erst das Geld einnehmen und
dann sagen: Wir können uns aber nicht entscheiden, wie
wir jetzt weiter verfahren wollen . - Das wäre falsch .
Die Tatsache, dass wir bereits die Bundesgesellschaft
für Endlagerung geschaffen haben, stellt eine weitere
Verpflichtung dar, heute diesen Schritt zu gehen und diesem Gesetzentwurf zuzustimmen . Darüber hinaus - auch
das halte ich für ganz wichtig; da spreche ich für meinen
Wahlkreis, in dem Gundremmingen liegt - sind wir auch
gegenüber denen verpflichtet, bei denen es mittlerweile
Zwischenlager gibt . Ihnen müssen wir eine Perspektive
geben und sagen, wie es weitergeht und wie lange das
dauert . Das tun wir mit dem heutigen Tag . Das ist ganz
wichtig, was ich deutlich unterstreichen möchte .
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({19})
Ich erteile das Wort der Kollegin Hiltrud Lotze für die
SPD-Fraktion .
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich komme aus dem Wahlkreis Lüchow-Dannenberg-Lüneburg . Dort liegt Gorleben . Gorleben wurde vor 40 Jahren von der Politik und allen voran vom
damaligen niedersächsischen Ministerpräsidenten Ernst
Albrecht willkürlich als Endlagerstandort benannt ({0})
gegen jeden wissenschaftlichen Rat und ohne jegliche
Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger . Die Menschen
im Wendland haben diese Entscheidung nicht hingenommen und sich ihr widersetzt . Damit begann ein gesellschaftlicher Großkonflikt, der hauptsächlich hier im
Wendland ausgetragen wurde .
Mit dem Standortauswahlgesetz lassen wir diese Art
der Auseinandersetzung jetzt hoffentlich hinter uns. Wir
machen einen Neustart in der Endlagersuche . Der nationale Endlagerstandort soll in einem fairen und transparenten Verfahren ausgewählt werden. Die Öffentlichkeit
wird im Standortauswahlverfahren frühzeitig und dauerhaft beteiligt. Wir suchen bundesweit und ergebnisoffen.
Meine Damen und Herren, trotz alledem ist es so: Die
Geschichte um Gorleben, die ich eben nur ganz kurz angerissen habe, hat dazu geführt, dass die Menschen vor
Ort wenig Vertrauen in den Neustart der Endlagersuche
haben . Ich verstehe das, und ich bedaure zutiefst, dass es
so ist. Ich habe es auch sehr bedauert, dass Vertreter aus
Lüchow-Dannenberg nicht in der Endlagerkommission
mitgearbeitet haben, nicht konnten oder nicht wollten .
Dennoch sind ihre Anliegen in der Kommission diskutiert worden, und sie sind auch im Gesetzentwurf berücksichtigt worden .
In der vorletzten Woche haben wir noch einmal in
einer öffentlichen Anhörung den Entwurf des Gesetzes
diskutiert, und ich sage hier deutlich: Es war gut, dass
mit Martin Donat ein Experte aus der Bürgerinitiative
Lüchow-Dannenberg dabei war . In dieser Anhörung,
bei der auch Herr Töpfer, der Vorsitzende des Nationalen Begleitgremiums, anwesend war, wurde noch einmal
sehr deutlich, dass die zentrale Herausforderung bei der
Umsetzung des Standortauswahlverfahrens ist, dass Vertrauen wieder aufgebaut wird und dass - es ist hier schon
mehrfach gesagt worden, aber ich sage es gern noch einmal - ein Endlager wirklich nur in einem breiten gesellschaftlichen Konsens erreicht werden kann .
({1})
Das Gesetz, das wir heute verabschieden, legt dafür eine
gute Grundlage, davon bin ich überzeugt .
({2})
Wir gehen hier einen neuen Weg und lassen damit
auch die Tricks und Täuschungen der Vergangenheit hinter uns . Wir haben noch etliche Anmerkungen aus der
Anhörung aufgenommen . Es wurde zum Beispiel präzisiert, dass wir einen Standort für hochradioaktiven Müll
suchen und nicht für ein Kombilager . Formulierungen,
die eine Priorisierung von Gorleben beinhaltet hätten,
haben wir noch einmal überprüft, und wenn es nötig war,
haben wir sie herausgenommen .
({3})
Und natürlich: Als Abgeordnete aus der Region hätte
ich es gut gefunden, wenn Gorleben von vornherein aus
dem Verfahren genommen worden wäre. Dafür gibt es
auch gute Gründe, Herr Nüßlein .
({4})
Wenn Sie Gutachten lesen, dann lesen Sie auch die geologischen Gutachten, die eine klare Sprache sprechen
und in denen festgestellt wird, dass dieser Standort nicht
geeignet ist . Deswegen bin ich auch sehr sicher, dass
Gorleben im Verfahren sehr frühzeitig ausscheiden wird.
({5})
Lassen Sie mich zum Schluss noch einmal die Menschen ansprechen, ohne die wir nach meiner Überzeugung heute hier nicht über dieses Gesetz sprechen und
abstimmen würden . Ich meine damit die Antiatombewegung und ganz besonders natürlich die Menschen im
Wendland . Ich habe Marianne Fritzen, die Grande Dame
der Antiatombewegung, kennengelernt, kurz bevor sie
im vergangenen Jahr verstorben ist . Sie war das, was
unsere Ministerin heute Morgen als eine demokratische
Kraft bezeichnet hat . Sie hat sich aufrichtig und bis zum
Ende für die Antiatombewegung eingesetzt, und sie hat
mich sehr beeindruckt . An dieser Stelle ist, glaube ich,
wirklich ein Dank an alle erforderlich, die sich 40 Jahre
lang in dieser Bewegung engagiert haben .
({6})
Viele, die ich hier sehe, sind öfter in Gorleben bei
Castortransporten gewesen .
({7})
Da waren auch immer viele Polizistinnen und Polizisten .
Das war vor Ort kein Vergnügen, und ich denke, es ist
heute angemessen, auch einmal an die Einsatzkräfte zu
denken, die dort den Kopf für eine falsche politische Entscheidung hinhalten mussten .
({8})
Und noch eine Gruppe will ich ansprechen, die von
unseren Entscheidungen betroffen ist, die wir aber selten im Blick haben . Das sind die Beschäftigten im Erkundungsbergwerk Gorleben . Rund 100 von ehemals
240 Bergleuten arbeiten jetzt noch dort . Sie bauen nach
dem Erkundungsstopp das Bergwerk zurück und bereiten
es für den Offenhaltungsbetrieb vor. Dieser soll am 1. Januar 2018 beginnen. Viele Bergleute haben ihren Job dort
schon verloren, und etliche werden ihn noch verlieren .
Das wissen sie, und sie haben sich damit abgefunden . Sie
akzeptieren die politischen Entschlüsse .
Sie erwarten aber - und das fordere ich als örtliche
Abgeordnete auch ein -, dass sie von ihrem Arbeitgeber
über die zukünftige Entwicklung frühzeitig informiert
werden, dass sie erfahren, wie viele Leute ab dem 1 . Januar noch vor Ort verbleiben und wo die anderen eine
Verwendung finden. Sie erwarten Information über alles, was damit zusammenhängt, und dass man bis zum
letzten Arbeitstag respektvoll und würdevoll mit ihnen
umgeht . Ich bin mir hier der Unterstützung unserer Umweltministerin sicher . Sie ist schon dort gewesen und hat
Gespräche geführt . Das ist mir ein wichtiges Anliegen .
({9})
Meine Damen und Herren, das Standortauswahlgesetz ist ein Meilenstein . Die eigentliche Arbeit liegt
noch vor uns . Der Weg wird sicherlich nicht immer konfliktfrei sein. Ich hoffe und vertraue aber darauf, dass wir
als Gesamtgesellschaft diese Aufgabe im respektvollen
Umgang miteinander und mit Mut gemeinsam meistern
werden .
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({10})
Philipp Lengsfeld erhält nun das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion .
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Meine letzte Rede zur Atomkraft habe ich mit einem Bekenntnis gestartet, nämlich
dem, dass ich schon immer Atomkraftgegner war, Kollege Miersch . Dafür gibt es zwei Kernargumente, die Sie
auch genannt haben: die Sicherheitsfrage und die Lagerungsfrage . Beide sind nicht wirklich zufriedenstellend
zu lösen . Deshalb ist es richtig, dass Deutschland aus
dieser Technologie aussteigt .
({0})
Wir beschäftigen uns heute mit der zweiten Thematik,
und ich möchte ausdrücklich feststellen, dass auch ich
froh bin, dass es diese Koalition zusammen mit Bündnis 90/Die Grünen geschafft hat, ein Gesetz für die langfristige Lagerung von hochradioaktiven Atomabfällen
aus deutschen Kernkraftwerken in Deutschland auf den
Weg zu bringen . Denn natürlich ist es richtig, dass wir
unsere Abfälle aus unseren Kraftwerken nicht in andere
Länder exportieren, selbst wenn es sicher Regionen in
der Welt gibt, die für eine langfristige Lagerung atomarer
Abfälle bessere Voraussetzungen haben als das dichtbesiedelte Deutschland . Ich halte es für politisch klug, dass
wir auch diesen Teil des Umgangs mit der Technologie in
unserem eigenen Land nach unseren eigenen Regeln und
unter unserer Kontrolle gestalten .
Der Gesetzentwurf basiert - das ist schon gesagt worden - auf den Empfehlungen der Kommission „Lagerung
hoch radioaktiver Abfallstoffe“, die ich im Kern richtig
finde. Ich möchte den wissenschaftlichen Anspruch noch
einmal herausstellen und ausdrücklich begrüßen .
Die langfristige Lagerung in tiefen geologischen
Formationen ist nach Abwägung aller bislang weltweit
betrachteten Optionen die beste . Es gab durchaus auch
andere Ansätze .
Das Konzept soll reversibel sein . Diesen Punkt will ich
noch einmal vertiefen, weil er sehr wichtig ist . Zentrale
Elemente sind hierbei im Rahmen der Offenhaltungsphase des Endlagers die Rückholung der Abfälle und nach
Verschluss des Lagers die Möglichkeit der Bergbarkeit
der Abfälle bis zu 500 Jahren . Diese 500 Jahre scheinen
mir - bei allem Respekt vor der Kommission - ein viel
realistischerer Zeithorizont zu sein als die im Bericht genannte Vorgabe von 1 Million Jahren. Das hat mit Wissenschaftlichkeit nichts zu tun . Diese Bemerkung sei mir
erlaubt . Deshalb halte ich die Bezeichnung „Endlager“
auch nicht für ganz glücklich .
Ziel des neuen Suchverfahrens ist, einen Standort für
die hochradioaktiven Abfallstoffe mit bestmöglicher Sicherheit - auch das ist schon gesagt worden - in einem
Verfahren zu finden, welches nach klaren Kriterien abläuft . Als Ziel für die Standortfestlegung - davon war
noch nicht so oft die Rede - wird das Jahr 2031 angestrebt . Gerade als Berliner muss ich sagen: Das ist doch
einmal ein halbwegs realistischer Zeithorizont in diesem
Land .
Ich möchte noch einen letzten Aspekt aus Sicht eines Forschungspolitikers ansprechen - das ist auch
der Grund, warum ich zu diesem Punkt spreche -: In
Deutschland herrscht ein Exportverbot für hochradioaktive Abfälle aus Leistungsreaktoren . Ich begrüße im
Namen meiner AG, der AG Bildung und Forschung,
ausdrücklich, dass dieses Exportverbot eben nicht ausnahmslos auf Forschungsreaktoren ausgeweitet wurde .
Hier ist ideologische Unerbittlichkeit - und übrigens
auch deutsche Rechthaberei, Kollege Miersch - falsch .
Bei allem Respekt, Frau Ministerin: Ich finde, das
Umweltministerium sollte seine Kraft auf die Hauptaufgabe konzentrieren, nämlich auf die Identifikation eines
für die Lagerung von Abfällen aus Leistungsreaktoren
geeigneten Standorts, statt auf die Frage, was wir mit den
Kügelchen der AVR Jülich machen. Das ist die Aufgabe
des BMBF . Wir brauchen Optionen, um diese Frage zu
lösen .
({1})
- Herr Trittin, ich mache nachher in Erinnerung Ihrer politischen Leistungen eine Dose auf . - Dabei helfen uns
ideologische Vorgaben ganz sicherlich nicht weiter.
Wir brauchen Optionen . Das ist Forschung, und da
werden eben auch Fehler gemacht, Herr Miersch . Wenn
wir in Deutschland immer schon vorher wüssten, was das
Ergebnis von Forschung ist, dann wären wir sehr viel besser als alle anderen Länder dieser Welt . Aber das ist nun
einmal nicht der Charakter von Forschung; Forschung ist
auch Trial and Error . Man darf auch einmal Fehler machen . Das sollte einem nicht in dieser rechthaberischen
Art und Weise jahrzehntelang vorgehalten werden . Da
wir Forschungsreaktoren haben, müssen wir das Problem
lösen . Das hat aber nichts mit der Endlagersuche zu tun .
Deshalb begrüße ich, dass wir das Exportverbot nicht
gnadenlos und ausnahmslos auf die Forschungsreaktoren
ausgeweitet haben .
Wie Sie sehen, bin ich mit dem vorgelegten Gesetzentwurf insgesamt zufrieden . Ich kann deshalb - auch aus
forschungspolitischer Sicht - um Unterstützung werben .
Vielen Dank.
({2})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
der Kollege Eckhard Pols für die CDU/CSU das Wort .
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Dass wir heute
in letzter Lesung über den Entwurf eines Standortauswahlgesetzes debattieren, ist keine Selbstverständlichkeit . Nach Jahren der Tatenlosigkeit haben wir uns in
dieser und der vorangegangenen Legislaturperiode der
Verantwortung gestellt und des Themas Endlagerung
hochradioaktiver Abfallstoffe angenommen. Die Arbeit
der Standortauswahlkommission hat allen Beteiligten in
den vergangenen drei Jahren viel abverlangt . Es war ein
Ringen um einen Kompromiss, bei dem alle Seiten die
eine oder andere Kröte schlucken mussten . Eines hatten
wir alle aber gemeinsam: Wir wollten endlich die Suche
nach einem Endlager voranbringen und die Grundlage
dafür noch in dieser Legislaturperiode schaffen.
Während der Arbeit der Kommission wurde viel aufgearbeitet . Es wurde auch viel gestritten . Es wurde um
Formulierungen gerungen . Im Bewusstsein der heiklen
Situation forderten die Experten in der Endlagerkommission in ihrem Abschlussbericht schließlich ein selbsthinterfragendes, lernendes System für die Standortauswahl .
In diesem Zuge ist eine gute Kommunikation unter Einbeziehung aller Meinungen unerlässlich . Deshalb hat die
Kommission auch ein neues und umfangreiches Öffentlichkeitsbeteiligungskonzept zur Begleitung der Standortsuche erarbeitet und vorgeschlagen . Dieses Prinzip
der Kommunikation und Partizipation gilt auch nach der
Festlegung eines Standorts . So wird die Ausgestaltung
eines entsprechenden Ausgleichskonzepts bei der zuständigen Regionalkonferenz angesiedelt sein, also bei jenen
Menschen, die ihre Region am besten kennen und am
besten wissen, wo Unterstützung nötig ist .
All diese Maßnahmen zur Förderung von Kommunikation und Austausch sollen Fehlentwicklungen vorbeugen und die Offenheit des Prozesses erhalten. Aber
wichtig ist aus meiner Sicht auch, dass die betroffenen
Standortregionen kein Vetorecht haben. Am Schluss entscheidet der Gesetzgeber .
Die Union hat einen großen Schritt gemacht . Wir
haben aus Ereignissen, ja vielleicht auch aus den Fehlern der vergangenen Jahrzehnte gelernt; denn auf dem
Weg hin zu einer akzeptablen Lösung war es für uns ein
unumgänglicher Schritt, auch einmal über den eigenen
Schatten zu springen, und das zum Wohle aller . Dieses
Verhalten hätte ich mir von allen Beteiligten gewünscht,
Herr Zdebel, auch und gerade von den Linken . Dass Sie
den gefundenen Kompromiss auch bei der letzten Abstimmung nicht mittragen, ist der Sache sicherlich nicht
dienlich, vor allem da Sie die ganze Zeit aktiv mitgearbeitet haben .
Noch mehr habe ich mich geärgert über diejenigen,
die gar nicht bereit waren, sich dem Austausch verschiedener Standpunkte zu stellen . Dazu gehören die schon erwähnten Umweltverbände und sogar die Bürgerinitiative
Umweltschutz Lüchow-Dannenberg aus dem Landkreis,
in dem Gorleben liegt . Statt konstruktiv an einer Lösung
der Endlagerfrage mitzuarbeiten, haben sie sich aus der
Verantwortung gestohlen und nur von außen versucht,
alles zu kritisieren . Daher frage ich mich: Wie dreist ist
man denn, ein Ergebnis zu kritisieren, wenn man doch die
Mitwirkung an eben jenem bewusst ausgeschlagen hat?
Aber selbstverständlich ist es immer leichter, mit dem
Finger auf andere zu zeigen, als sich an einer gemeinsamen arbeitsamen Kompromissfindung zu beteiligen.
Fakt ist aber: Wir legen heute den Grundstein, damit
wir unseren Kindern und Kindeskindern nicht die Beantwortung der Frage nach der Lagerung hochradioaktiver
Abfallstoffe übertragen. Wir tragen die Verantwortung.
Wir stehen heute aber erst am Anfang der Suche nach einem Endlager . Wir beginnen - das macht mich besonders
froh - mit einem neutralen Ausgangspunkt, der sogenannten weißen Landkarte . Es ist kein Geheimnis - das
haben wir schon gehört -, dass manch einer den Standort Gorleben gern von vornherein ausgeschlossen hätte .
Ich bin, ehrlich gesagt, froh, dass dies nicht gelungen ist .
Denn wie sollten wir es - das hat der Ministerpräsident
vorhin schon gesagt - den Menschen an anderen potenziellen Standorten erklären, dass wir eben doch nicht alle
Standorte auf Eignung überprüft haben? Gorleben wird
in dem Verfahren, das wir nun verabschieden, ein Ort
unter vielen sein . Der Standort wird sich den Kriterien
und dem Vergleich mit anderen Standorten stellen müssen . Wie am Schluss das Ergebnis sein wird, kann nur das
Verfahren zeigen.
Wir haben die Veränderungssperre, die jetzt für den
Standort Gorleben und alle anderen Orte jenen Zweck
erfüllt . Die Union hat sich dafür starkgemacht, dass kein
Ort den anderen gegenüber bevorzugt oder benachteiligt
wird . Auch wenn einige es immer noch nicht wahrhaben
wollen: Das Verfahren zur Standortauswahl ist und bleibt
transparent, fair und ergebnisoffen. Es besteht keine Vorfestlegung .
Ja, ein Endlager könnte am Standort Gorleben, in
meinem Wahlkreis, entstehen . Es könnte aber auch in
einem der anderen 298 Wahlkreise entstehen, die wir
in Deutschland haben . Als Kind dieser Region bereitet
mir der Zustand keine schlaflosen Nächte. Schlaflose
Nächte, Frau Lotze, bereitet mir eigentlich nur, was mit
den vielen Arbeitnehmern im Erkundungsbergwerk und
deren Familien passiert; denn die werden auf diese Art
und Weise arbeitslos und wissen nicht, wie ihre Zukunft
aussieht .
({0})
Das ist nicht die soziale Verantwortung, die Ihre Partei
sonst immer gerne zeigt .
({1})
Mit dem Kriterienkatalog haben wir dafür gesorgt,
dass die Entscheidung über ein Endlager wissenschaftlich profund getroffen wird und vor allen Dingen die Bürger und Bürgerinnen gehört werden . Aber bis dahin ist
noch ein weiter Weg .
Herr Kollege .
Wir legen heute, wie gesagt, den Grundstein . Ich bitte
um eine breite Zustimmung zu diesem Gesetz .
Vielen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache .
Wir kommen zur Abstimmung über den von den Frak-
tionen der CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen
eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Fortentwick-
lung des Gesetzes zur Suche und Auswahl eines Standor-
tes für ein Endlager für Wärme entwickelnde radioaktive
Abfälle und anderer Gesetze .
Hierzu liegen mir einige persönliche Erklärungen zur
Abstimmung vor, die wir unserem üblichen Verfahren
entsprechend dem Protokoll beifügen .1)
Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be-
schlussempfehlung auf der Drucksache 18/11647, den
Gesetzentwurf der Fraktionen von CDU/CSU, SPD und
Bündnis 90/Die Grünen auf der Drucksache 18/11398
in der Ausschussfassung anzunehmen . Ich bitte diejeni-
gen, die dem Gesetzentwurf in dieser Fassung zustim-
men wollen, um das Handzeichen . - Wer stimmt dage-
gen? - Wer enthält sich? - Damit ist der Gesetzentwurf in
zweiter Beratung mit den Stimmen der antragstellenden
Fraktionen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke
angenommen .
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung . Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich von ihren Plätzen
zu erheben . - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? -
Damit ist mit dem gleichen Abstimmungsverhalten bei
einer Stimmenthaltung aus den Reihen der Fraktion
1) Anlagen 2 und 3
Bündnis 90/Die Grünen der Gesetzentwurf angenommen .
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf der Drucksache 18/11648 . Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Die Antragsteller . Wer stimmt dagegen? - Alle
anderen . Dann ist der Entschließungsantrag abgelehnt .
Tagesordnungspunkt 3 b . Wir setzen die Abstimmung
zu der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit auf der
Drucksache 18/11647 fort . Unter Buchstabe b seiner
Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrages der Fraktion Die Linke auf der
Drucksache 18/9791 mit dem Titel „Exportverbot für
hochradioaktive Abfälle“ . Wer stimmt dieser Beschlussempfehlung zu? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Dann ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition
angenommen .
Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuss, den Abschlussbericht der Kommission „Lagerung hoch radioaktiver Abfallstoffe“, den es auf Drucksache 18/9100 gibt,
zur Kenntnis zu nehmen. Er hat den Titel „Verantwortung
für die Zukunft - Ein faires und transparentes Verfahren
für die Auswahl eines nationalen Endlagerstandortes“ .
Wer stimmt dieser Beschlussempfehlung zu? - Das sieht
nach Einmütigkeit aus . Ist jemand dagegen oder enthält
sich der Stimme? - Das ist nicht der Fall . Dann ist diese
Beschlussempfehlung einstimmig angenommen .
Tagesordnungspunkt 3 c . Hier geht es um die Beschlussempfehlung des gleichen Ausschusses zum Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Umgang mit
Atommüll - Defizite des Entwurfs des Nationalen Entsorgungsprogramms beheben und Konsequenzen aus
dem Atommülldesaster ziehen“. Hier empfiehlt der Ausschuss in seiner Beschlussempfehlung auf der Drucksache 18/7275, den Antrag der Fraktion Die Linke auf
der Drucksache 18/5228 abzulehnen . Wer stimmt dieser
Beschlussempfehlung zu? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Dann ist diese Beschlussempfehlung gegen die Antragsteller mit den übrigen Stimmen des Hauses angenommen .
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin
Andreae, Dr . Konstantin von Notz, Brigitte
Pothmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Arbeit 4.0 - Arbeitswelt von morgen gestalten
Drucksache 18/10254
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuss Digitale Agenda
Nach einer Vereinbarung der Fraktionen sind auch für
diese Aussprache 77 Minuten vorgesehen . - Dazu stelle
ich Einvernehmen fest . Wir können also so verfahren .
Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin
Kerstin Andreae für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
das Wort .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
Wirtschaftsmagazin brand eins hat in seiner Märzausgabe getitelt: „Neue Arbeit . . . ist mehr als alte Arbeit mit
Internetanschluss“ . Digitalisierung verändert nicht nur
die Art, wie wir produzieren grundlegend, sondern auch
unsere Arbeitsweise . Arbeit wird technischer, vernetzter
und flexibler. Das bietet auch eine Chance für humanere
und selbstbestimmtere Arbeit .
Aber was wir uns fragen müssen, ist, ob das Neue
auch in das Alte passt . Die Motivation für unseren Antrag war, sich dieser Frage zu stellen: Wie verändert sich
eigentlich die Arbeitswelt? Wie gehen wir damit um,
wenn die Menschen Angst davor haben, dass die Digitalisierung ihren Arbeitsplatz gefährdet? Wer verliert überhaupt? Wir sind uns ganz sicher: Wir können und wollen
diese Entwicklung nicht aufhalten; aber wir können und
müssen sie gestalten und dafür sorgen, dass niemand abgehängt wird .
({0})
Die Voraussetzungen dafür sind, dass wir alle Menschen mitnehmen, befähigen, fördern, qualifizieren. Digitalisierung schafft bessere Möglichkeiten, sich zu informieren und weiterzubilden . Das reicht aber nicht aus .
Schulen brauchen bessere Ausstattungen . Lehrer müssen
geschult werden . Weiterbildungsangebote, gerade für
Geringqualifizierte, Ältere und Menschen mit Migrationshintergrund, sind vonnöten .
Weiterbildung und Qualifizierung dürfen nicht vom
Geldbeutel der Menschen abhängen .
({1})
Wenn Weiterbildung daran scheitert, dass das Geld dafür
nicht aufgetrieben werden kann, dann ist das ein Fehler .
Was wir Ihnen vorschlagen, ist, dass Agenturen und Jobcenter zu Zukunftsagenturen für Arbeit und Weiterbildung ausgebaut werden . Arbeitsuchende und Erwerbstätige bei der Weiterbildung aktiv zu unterstützen, das ist
unser konkreter Vorschlag.
({2})
Das Zweite ist, dass wir Regeln für diesen digitalen
Wandel brauchen. Das betrifft den Beschäftigtendatenschutz . Da geht es um Regeln, um der Entgrenzung entgegenzuwirken . Das nimmt im Übrigen auch die Arbeitgeber in die Pflicht. Wo hört Selbstbestimmung auf, und
wo fängt Ausbeutung an?
Nun hat die Ministerin Nahles mit dem Grünbuch im
Jahr 2015 die richtigen Fragen gestellt . Dort steht:
Mit Arbeiten 4 .0 wollen wir eine wichtige Debatte
eröffnen und Fragen stellen, gemeinsame Antworten
finden.
Und weiter:
. . . am Ende des Prozesses werden wir genauer wissen, wie wir in Zukunft arbeiten möchten und was
wir tun müssen .
Wir sind am Ende des Prozesses; aber ich habe nicht
den Eindruck, dass Sie die gewünschten Antworten haben . Das Weißbuch sollte Lösungen liefern; aber es
bleibt im Konjunktiv: hätte, müsste, sollte .
Dort, wo es konkret werden muss, da fehlt Ihnen der
Mut für konkrete Antworten; aber wir brauchen eine mutige Bundesregierung .
({3})
Ich nenne Ihnen ein Beispiel. Die Menschen wollen flexibler arbeiten, Arbeit und Familie besser verbinden, aber
nicht im Goodwill des Arbeitgebers . Beschäftigte brauchen eine echte Wahlarbeitszeit - Selbstbestimmung und
Freiheit, größere Freiheit hinsichtlich Ort und Zeit der
eigenen Arbeit .
Was machen Sie jetzt? Sie bieten eine dreijährige
Experimentierklausel für ausgewählte Betriebe an und
auch nur für Beschäftigte mit Tarifvertrag . Das ist weder ein klarer Rahmen noch eine klare Ansage . Beschäftigte wollen ein Recht auf Homeoffice. 74 Prozent der
Beschäftigten geben heute an, sie wollten mehr von zu
Hause arbeiten . Wir wollen, dass hier ein Rechtsrahmen
geschaffen wird, dass Rechtssicherheit besteht. Das nutzt
auch der Motivation der Menschen . Das hat viel mit veränderten Arbeitswelten zu tun und viel mit der Frage der
Vereinbarkeit von Familie und Beruf.
({4})
- Natürlich, Herr Lengsfeld, kann die Bäckerin nicht von
zu Hause ihre Brötchen verkaufen. Homeoffice funktioniert natürlich nur da, wo es betriebsbedingt möglich ist .
Aber wenn nur 12 Prozent der Betriebe dies in Anspruch nehmen, obwohl es bei 40 Prozent der Betriebe
möglich wäre und 74 Prozent der Menschen das wollen,
dann ist da eine Schieflage. Das ist das, was wir meinen,
wenn wir sagen: Wir brauchen hier Rechtssicherheit .
({5})
Digitalisierung schafft mehr Selbstständigkeit. Wir Grüne unterstützen das . Selbstständigkeit ist eine Graswurzel
unserer Wirtschaft, eine wichtige Quelle für Innovation .
Aber ihre Stärke kann sie nur ausspielen, wenn sie sich
nicht im sozial luftleeren Raum bewegt . 50 Prozent aller
Solo-Selbstständigen haben weder eine gesetzliche noch
eine private Altersversicherung . Deswegen sagen wir: Wir
müssen die Versicherungen zu Bürgerversicherungen weiterentwickeln, wobei alle mitgenommen werden .
({6})
Präsident Dr. Norbert Lammert
Wir brauchen gerade für Gründer und für diejenigen
in diesen neuen Beschäftigungsformen einen bezahlbaren Zugang zu den Sozialversicherungssystemen . Es
kann doch nicht sein, dass die Sorge um die soziale Absicherung dazu führt, dass man sich nicht in dieser neuen Arbeitswelt zurechtfindet, dass Existenzsicherung die
eigene Kreativität so hemmt, dass man seinen Platz nicht
findet. Hier brauchen wir Antworten von Ihnen.
({7})
Schließlich müssen wir Arbeit neu denken . Dazu gehören neue Beschäftigungsformen wie Crowdworking .
Es gibt digitale Plattformen . Da verdienen sich viele ein
paar Euro oder auch mehr dazu; das ist gut . Das Problem
ist, dass dieser neue Markt 24 Stunden jeden Tag global
im Wettbewerb steht .
({8})
Hier ist ganz deutlich erkennbar, dass das Neue nicht
mehr in das Alte passt . Deswegen müssen wir darüber
nachdenken . Wir können nicht einfach stehen bleiben .
Plattformen dürfen kein rechtsfreier Raum sein . Auch da
brauchen wir Lösungen von Ihnen .
({9})
Wir befinden uns mitten in einem gigantischen Umbruch . Manche sprechen von einer digitalen Revolution
mit ähnlich umwälzenden Folgen wie denen der industriellen Revolution vor 200 Jahren . Die Geschwindigkeit
der Veränderungen stellt jeden Einzelnen, aber auch die
Gesellschaft insgesamt vor große Herausforderungen .
Die Politik ist gefordert, hier Antworten zu liefern .
Deswegen legen wir Ihnen den Antrag „Arbeit 4 .0“
vor . Ich möchte, dass wir in die Diskussion über Instrumente gehen, die dazu beitragen, dass die Menschen mit
dieser Digitalisierung und mit dieser Veränderung am Arbeitsplatz, in der Arbeitswelt klarkommen, sich sicherer
fühlen und an dieser Veränderung teilnehmen. Gehen wir
in die Diskussion!
Vielen Dank.
({10})
Uwe Lagosky ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion .
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Digitalisierung entwickelt sich in einer Geschwindigkeit, die alle
Entwicklungen am Arbeitsmarkt in den vergangenen
Jahren in den Schatten stellt . Das haben wir gerade auch
von Ihnen gehört, liebe Kollegin . Allerdings ist die Diskussion um dieses Thema bereits voll entfacht worden,
und viele Dinge sind bereits auf den Weg gebracht . Das
muss natürlich in entsprechendes gesetzliches Handeln
in der Zukunft einmünden .
({0})
In immer kürzeren Intervallen steigt die Leistungsfähigkeit der Rechnersysteme, der Speicher und natürlich
auch der Anwendungen, die damit verbunden sind . Automatisierungsprozesse finden in allen Betrieben statt. Das
verändert die Arbeitswelt . Ob im Maschinenbau oder in
der Elektro- oder Automobilindustrie, im Handwerk oder
auch im Dienstleistungsbereich - in allen Bereichen findet durch die Digitalisierung bereits eine grundlegende
Veränderung statt.
Deutschland nutzt diese Entwicklung bereits heute .
Nicht ohne Grund sind wir mit weniger als 1 Prozent
der Weltbevölkerung die viertgrößte Volkswirtschaft.
Deutschlands Know-how ist in der ganzen Welt gefragt
und begehrt . Mit 43,6 Millionen Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmern generieren wir heute ein Bruttoinlandsprodukt von über 3 Billionen Euro .
Das haben wir den Menschen in unserem Land zu verdanken, die es immer wieder geschafft haben, unser Land
durch Innovationen leistungsfähig zu machen . Durch unser starkes Bildungs- und Hochschulwesen sowie unsere
duale Ausbildung, die unser Land stark gemacht haben,
sind wir ein Land von Facharbeitern, Akademikern und
qualitativ hochwertigen Arbeitsplätzen. Viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind Experten in dem, was
sie tun . Laut einer Allensbach-Studie aus dem letzten
Jahr sehen sich drei Viertel der Bevölkerung den künftigen Anforderungen gut gewachsen. Viele sehen in der
Digitalisierung einen Vorteil für sich selber.
Wir wollen die Chancen der Digitalisierung nutzen .
Die digitalisierte Arbeitswelt soll dabei explizit in den
Dienst der Menschen gestellt werden . Das ist unsere Anforderung .
({1})
Wichtig ist mir dabei aber auch, dass wir die Menschen
mitnehmen, die in Bezug auf die Anforderungen der Zukunft immer noch Ängste haben . Auch daran müssen wir
arbeiten .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben im letzten
Jahr gemeinsam mit einigen Mitgliedern des Ausschusses für Arbeit und Soziales die USA bereist und zahlreiche Gespräche geführt . Ich fasse die bei dieser Reise
gewonnenen Erkenntnisse zusammen:
Erstens . Welchen Bildungsstand und welche Ausbildung man in den USA erhält, hängt maßgeblich von den
finanziellen Möglichkeiten des Einzelnen ab. Ich finde,
mit unserem System der dualen Ausbildung und der
Hochschulausbildung haben die Menschen in unserem
Land ein hervorragendes Fundament für ihr gesamtes
Berufsleben .
Zweitens. Die USA haben uns im Silicon Valley und
an anderen Stellen bei den Unternehmensneugründungen
durchaus einiges voraus . Circa jeder dritte Student der
Stanford University gründet eine eigene Firma . In den
USA ist auch wesentlich mehr Venture Capital, RisikokaKerstin Andreae
pital, vorhanden, als es in Deutschland der Fall ist . Auch
ist dort die Bereitschaft der Menschen viel ausgeprägter,
in eine Selbstständigkeit zu gehen. Ich finde, an dieser
Baustelle müssen wir in Deutschland in erheblichem
Maße arbeiten .
Drittens . Auf die Frage, wie man die wachsende Ungleichheit in den USA in den Griff bekommt und wie man
die Menschen in einer sich rasant ändernden Arbeitswelt
mitnimmt, haben uns die 14 Professoren der Stanford
University keine Antwort geben können . Die Rahmenbedingungen, die wir durch unsere Regelungen zum Arbeitsschutz haben, spielen dort eine eher untergeordnete
Rolle . Deshalb ist es gut, wenn wir uns auf das besinnen,
was Deutschland stark gemacht hat, nämlich auf unsere
soziale Marktwirtschaft . Die müssen wir entsprechend
weiter aufbauen und pflegen.
({2})
Insofern sind Ihre Ansätze durchaus diskutabel . Wir
werden über diese auch in der Zukunft sprechen . Denn
letztlich geht es darum, die Entwicklungsmöglichkeiten
eines jeden, den Freiraum und den Schutz der Beschäftigten sowie die Wirtschaft zu stärken . All diese drei
Punkte unter einen Hut zu bekommen, ist Aufgabe und
Herausforderung . Und das macht die CDU/CSU-geführte Bundesregierung, wie ich finde, in hervorragender Art
und Weise .
({3})
Unser deutsches Arbeitsrecht gibt Leitplanken vor,
zwischen denen sich Beschäftigte und Arbeitgeber frei
bewegen können. Diese Bewegungsfreiheit schafft
Wachstum und Sicherheit . Sie zeichnet unsere soziale
Marktwirtschaft aus. Wir haben also beste Voraussetzungen, um auch in Zukunft wirtschaftlich erfolgreich
zu sein und in diesem Land eine gute soziale Absicherung zu garantieren . Dass dies so bleibt, ist natürlich kein
Selbstläufer . Deshalb müssen wir die Anforderungen, vor
die uns die Digitalisierung stellt, mit Bedacht entsprechend in unser System einbauen .
Die Bundesregierung hat dazu - das wurde eben
auch schon erwähnt - im April 2015 den Dialogprozess
„Arbeiten 4 .0“ gestartet . Dessen Ergebnisse wurden
im vergangenen November durch das BMAS in einem
Weißbuch vorgestellt . Durch zahlreiche Workshops und
Stellungnahmen sowie durch einen wissenschaftlichen
Beirat wurden in breitem Umfang Ideen gesammelt und
Handlungsempfehlungen gegeben . Es gilt, diese jetzt in
entsprechender Form umzusetzen . Darüber diskutieren
wir ja auch, und wir werden das auch weiterhin tun .
Liebe Grüne, uns also in Ihrem Antrag zu sagen, die
Bundesregierung habe in diesem Bereich in den vergangenen Jahren zu wenig getan, ist schlichtweg falsch .
({4})
Lassen Sie mich etwas zu dem sagen, was in Ihrem
Antrag zur Wahlarbeitszeit steht. Viele Manteltarifverträge, Betriebs- und Dienstvereinbarungen nutzen die
Möglichkeiten, die innerhalb der Leitplanken unseres
Arbeitszeitgesetzes gegeben sind . Damit wird die Arbeitszeit, die von den Sozialpartnern in den Unternehmen
verhandelt wird, auf die Erfordernisse der Beschäftigten
und des Betriebes zugeschnitten . Gleichzeitig geht es
aber auch darum, die als Leitplanken vereinbarten Regelungen im Arbeitszeitgesetz - dabei geht es insbesondere
um die Ruhe- und Tageshöchstarbeitszeiten -, die dem
Arbeitsschutz und damit dem Schutz der Gesundheit der
Beschäftigten dienen, entsprechend umzusetzen . Insofern sind weitere Gestaltungsspielräume zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf, wie Sie sie vorschlagen, nur
möglich, wenn sie dem Schutz der Beschäftigten nicht
widersprechen .
Deshalb lohnt es sich, darüber nachzudenken, ob man
mit tariflichen Öffnungsklauseln im Arbeitszeitgesetz dafür sorgen kann, dass man diesem Anspruch gerecht wird
und gleichzeitig eine bessere Vereinbarkeit hinbekommt.
Ein Beispiel: Wenn eine Mutter am Vormittag vier Stunden im Betrieb gearbeitet hat und nach Kinderbetreuung
und Freizeit am Nachmittag gegebenenfalls am Abend
noch einmal zwei Stunden arbeiten möchte, verstößt das
nach heutiger Rechtslage möglicherweise gegen das Arbeitszeitgesetz wegen der Ruhezeit, die eingehalten werden muss . Hieran wollen wir arbeiten und entsprechend
dafür sorgen, dass wir hier Rechtssicherheit schaffen zum Wohle der Beschäftigten und der Arbeitgeber .
({5})
Gleichzeitig möchten wir, dass Arbeitgeber ihre Arbeitnehmer umfassend über Gesundheitsrisiken und präventive Maßnahmen aufklären . Sie merken also an den
vielen Punkten, die wir hier vorschlagen und miteinander
diskutieren, dass wir an den gleichen Themen arbeiten,
nämlich an den Handlungsfeldern, die uns das Weißbuch
vorgibt . Allerdings ist die Herangehensweise an vielen
Stellen durchaus unterschiedlich, so auch im Bereich
des Arbeitsschutzes . Sie treten für eine Reform der Arbeitsschutzverordnung bei psychischer Gefährdung ein,
wissen aber genau, dass die Ergebnisse der Studien, die
bei der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin in Auftrag gegeben wurden, erst im Mai dieses Jahres vorgestellt werden . Wäre es nicht besser, erst einmal
auf diese Ergebnisse zu warten, bevor man einen Antrag
stellt?
Herr Kollege .
Zum Schluss noch etwas zum Thema „Q wie Qualifizierung“ . Aus unserer Sicht muss Weiterbildung in erster
Linie im Job erfolgen und nicht erst dann, wenn jemand
arbeitslos geworden ist .
({0})
Es gilt, die Weiterbildung in den Betrieben praxisnah zu
organisieren und den Beschäftigten damit das Rüstzeug
für die aktuelle und zukünftige Arbeit zu geben . Dafür
werden wir uns einsetzen . So gestaltet sich der Wandel in
der Arbeitswelt zum Wohle der Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer .
Herzlichen Dank .
({1})
Das Wort erhält nun der Kollege Klaus Ernst für die
Fraktion Die Linke .
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Antrag der Grünen gibt uns die Möglichkeit,
wichtige Fragen im Zusammenhang mit Veränderungen
in der Arbeitswelt zu diskutieren . Prinzipiell geht der Antrag in die richtige Richtung .
({0})
Zu Herrn Lagosky: Ihr Beispiel von der Frau, die vier
Stunden am Vormittag und zwei Stunden am Abend arbeitet, passt nicht . Das hat mit Digitalisierung nichts zu
tun . Solche Beispiele hat es immer schon gegeben . Wir
müssen also aufpassen, dass wir nicht alle Ideen, die wir
jetzt diskutieren, in Zusammenhang mit neuer Technik
bringen .
({1})
Vieles von dem, was wir fordern und diskutieren, ist ja
gar nichts Neues . Aber trotzdem einige grundsätzliche
Bemerkungen .
Worum geht es, wenn wir uns als Parlament hier über
die Folgen der Digitalisierung unterhalten? Die Grundfragen, die sich stellen, sind: Wem kommen die Produktivitätsgewinne, die dabei entstehen, zugute? Wer bekommt sie?
({2})
Kommen diese Produktivitätsgewinne einseitig dem Unternehmen zugute, oder gelingt es uns, durch gesetzliche
Regelungen dafür zu sorgen, dass auch die Beschäftigten, zum Beispiel durch kürzere Arbeitszeiten, zum
Beispiel durch mehr Bildungszeiten, davon profitieren?
Profitiert vielleicht sogar die Gesellschaft davon, dass
freiwerdende Beschäftigte in den Bereichen eingesetzt
werden können, wo wir sie brauchen, zum Beispiel im
Pflege- oder Gesundheitsbereich? Das sind die Fragen,
die uns beschäftigen müssen und mit denen wir uns hier
auseinandersetzen müssen .
({3})
Meine Damen und Herren, der Einsatz von Technik
findet bei uns unter kapitalistischen Bedingungen statt.
Das kann man gut oder schlecht finden, aber so ist es.
Das bedeutet, dass in erster Linie der Arbeitgeber darüber entscheidet, was eingesetzt wird und wie es eingesetzt wird . Dabei geht es natürlich um die Senkung von
Kosten - das ist das Ziel -, sonst würde der Arbeitgeber
es nicht machen .
Digitalisierung ist nichts anderes als ein weiteres Element, um den Produktionsprozess mit neuen technischen
Möglichkeiten rationeller zu gestalten . Das Ziel der Arbeitgeber allerdings ist - jetzt wird es für uns, das Parlament, spannend -, dass sich die Beschäftigten an die
technischen Möglichkeiten anpassen sollen, und leider
nicht, wie es im Antrag der Grünen impliziert ist, dass
Freiräume für die Beschäftigten geschaffen werden sollen . Das Ziel der Arbeitgeber ist etwas ganz anderes . Ich
zitiere aus der Stellungnahme der Bundesvereinigung der
Deutschen Arbeitgeberverbände:
Wichtig ist, dass die Flexibilität, die die Digitalisierung durch neue Arbeitsabläufe und neue Kommunikationsinstrumente mit sich bringt, nicht durch
Regulierung behindert wird . Positive Wettbewerbsund Beschäftigungseffekte können nur mit einem
flexiblen Rahmen ausgeschöpft werden.
({4})
Dort steht klar, was sie wollen: Ausweitung der Wochenendarbeit, Ausweitung der Feiertagsarbeit, Abschaffung
der gesetzlich geregelten Höchstarbeitszeit, Anpassung
der Ruhezeiten an Betriebsabläufe, und Beschäftigte
sollen auch kurzfristig von zu Hause abberufen werden,
um ihre Arbeit verrichten zu können . Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist die absolute Unterordnung der
Beschäftigten unter die Produktion . Das müssen wir verhindern und regeln .
({5})
Die Interessen der Beschäftigten stehen denen der
Arbeitgeber diametral gegenüber . Da will man von Teilzeit wieder in Vollzeit. Richtig. Da will man nach acht
Stunden auch aufhören können, ohne durch entsprechenden Druck dazu gezwungen zu werden, länger zu
arbeiten . Da will man Beginn und Ende der Arbeitszeit
selbst definieren und sich nicht der Technik anpassen. Da
will man - das ist sehr wichtig; hier bin ich wieder beim
Kollegen Lagosky -, wenn man kleine Kinder hat, raus
aus der Schichtarbeit und hin zur Normalschicht, damit
man sich um die Kinder kümmern kann . Das alles gibt
es momentan noch nicht . Dazu brauchen wir einen gesetzlichen Rahmen, weil es sonst in der Praxis nicht dazu
kommt .
({6})
Jetzt komme ich zu den Grünen . Das ist mir wichtig:
Wenn man die Interessen der Beschäftigten durchsetzen will, muss man aufpassen, wenn man in den Antrag
schreibt „sofern dem keine wichtigen betrieblichen Belange entgegenstehen“ . Aus meiner langjährigen Praxis
in Betrieben kann ich Ihnen sagen: Immer wenn dies formuliert wird, ist es äußerst unwahrscheinlich, dass sich
die Beschäftigten durchsetzen, weil der Arbeitgeber immer einen Punkt findet, dass dem betriebliche Interessen
entgegenstehen . Wir brauchen daher einklagbare Rechte
für die Beschäftigten . Darüber müssen wir reden .
({7})
Wir können es aber nicht dem Arbeitgeber überlassen .
Meine Damen und Herren, Digitalisierung - da haben Sie Recht; das ist auch der Grundsatz - fordert mehr
Schutzrechte für abhängig Beschäftigte . Es geht darum,
das Direktionsrecht des Arbeitgebers, zu verfügen, wann,
wie und wo was im Betrieb passiert, weiter einzuschränken . Dann müssen wir es aber auch tun und nicht nur
appellieren . Auch die Bundesregierung muss in dieser
Frage reagieren und nicht nur appellieren, weil sich sonst
nichts ändert . Das ist ein wichtiger Punkt .
({8})
Ich stimme den Grünen in dem Aspekt zu, dass Arbeit
zunehmend in rechtsfreien Räumen stattfindet. Sie haben
über Vermittlungsplattformen gesprochen. Ja, aber wie
können wir das regeln? Was passiert in diesen Vermittlungsplattformen? In rechtsfreien Räumen wird zunehmend Arbeit vermittelt von anonymen Organisationen,
bei denen man sich um Aufträge bemüht, vollkommen
unabhängig von den Fragen: Wie lange wird dort gearbeitet? Was wird für diese Aufträge bezahlt? Wir haben
also eine Aushebelung geltender Bestimmungen in der
Bundesrepublik Deutschland durch den Fakt . Das ist nur
ein Aspekt . Wie können wir das regeln? Wir müssen über
die Begriffe „Arbeitgeber“ und „Arbeitnehmer“ reden.
Wenn jemand einen Menschen über eine Plattform vermittelt, wie Sie richtig sagen, ohne Sozialversicherung
und ohne Absicherung: Ist er dann nicht ein Arbeitgeber?
Ein Arbeitgeber in einem Betrieb macht auch nichts anderes . Jemand kommt, er beschäftigt ihn, er vermittelt
ihm Arbeit . Der andere macht im Prinzip dasselbe .
({9})
- Sie haben wirklich wenig Ahnung davon . Ich würde
mich ein bisschen zurückhalten . Sie brüllen zwar dazwischen, aber Sie haben wirklich keine Ahnung .
({10})
Deshalb sage ich: Wir müssen den Begriff des Arbeitgebers neu regeln . Ist derjenige, der einen Menschen vermittelt, nicht Arbeitgeber? Müsste er dann nicht auch die
Sozialversicherungsbeiträge zahlen, wenn er jemanden
vermittelt?
({11})
Das sind Aspekte, die wir in die weitere Beratung aufnehmen sollten . Ich freue mich darauf . Insofern ist der
Antrag der Grünen durchaus hilfreich .
({12})
Als nächste Rednerin spricht Katja Mast für die
SPD-Fraktion .
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Es ist klar: Unsere Welt befindet sich in einem grundlegenden Wandel . Auch die Arbeit wandelt sich natürlich .
Arbeiten 4.0 wird vernetzter, digitaler, flexibler sein. Wir
stehen natürlich vor großen Herausforderungen, bei denen es darum geht, wer am Wohlstand teilhaben wird,
wie sich Chancengleichheit und soziale Sicherheit in unserem Land zukünftig entwickeln .
Es geht in dieser Debatte um Chancen und Risiken; das haben meine Vorredner mit unterschiedlichen
Schwerpunktsetzungen schon deutlich gemacht . Aber
wir als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten führen an dieser Stelle keine Angst-, sondern eine Gestaltungsdebatte .
({0})
Bestes Beispiel dafür ist das Weißbuch Arbeiten 4.0 unserer Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles .
({1})
Alle, die behaupten, wir eröffneten heute die Debatte darüber, sollten vielleicht zunächst einmal dieses Buch lesen. Dann sähen sie, dass es in der öffentlichen Debatte
schon viele Vorschläge gibt. Die Ministerin skizziert darin die zentralen Gestaltungsaufgaben .
Ich will auf einen Aspekt eingehen - es kommen ja
noch viele Rednerinnen und Redner der SPD -, den ich
als zentralen Zukunftsaspekt bei der Gestaltung von Arbeiten 4.0 empfinde: die Qualifizierung. Sie entscheidet
aus meiner Sicht im Kern über die Verteilungsgerechtigkeit in Zeiten der Digitalisierung . Es gibt düstere Beschäftigungsszenarien, Studien, die von millionenfachen
Jobverlusten ausgehen . Aber das Bundesarbeitsministerium geht davon aus, dass es sich um einen Wandel von
Kompetenzen und Berufen handelt . Wenn sich Berufe
und Kompetenzen wandeln, also der Arbeitsmarkt sich
wandelt, dann heißt das doch ganz klar: Wir müssen in
Qualifikationen investieren, wir müssen in die Köpfe der
Menschen investieren, damit sie auch in Zukunft an der
Verteilung des Wohlstands, an der Verteilung des Kuchens teilhaben .
Klar ist: Wandel von Kompetenzen und Qualifikationen gab es schon immer . Die Digitalisierung macht das
alles aber viel schneller, als wir es jemals gekannt haben .
Das heißt, wir brauchen einen Paradigmenwechsel . Ja, es
gibt eine Verantwortung von Arbeitnehmern und Arbeitgebern für die Qualifizierung; aber es gibt natürlich auch
eine gesellschaftliche Verantwortung, also eine Verantwortung staatlicher Akteure für den Wandel der Arbeitswelt und für die Qualifizierung. Nur mit diesem Dreieck
der Verantwortungen - Arbeitnehmer, Arbeitgeber und
Gesellschaft - wird es am Schluss das richtige Modell .
Alle müssen zusammen an einem Strang ziehen - davon
sind wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten
überzeugt . Ansonsten kommt es zu einer Entwertung von
Qualifikationen. Wenn wir da nicht ansetzen, bekämpfen
wie keine Arbeitslosigkeit .
({2})
- Weil meine geschätzte Kollegin von den Grünen laut
ruft: „Was heißt das denn jetzt konkret, liebe Katja
Mast?“ - ich ergänze gerne den Zwischenruf -, sage ich:
Martin Schulz und Andrea Nahles haben ein Konzept
vorgelegt .
({3})
Wir schaffen ein Recht auf Weiterbildung. Wir schaffen
ein Arbeitslosengeld für Qualifizierung.
({4})
Wir wollen die Schutzfunktion der Arbeitslosenversicherung ausdehnen, indem wir die Rahmenfristen ausdehnen .
({5})
- Ihr Unmut sagt mir: Sie haben es schon mal gehört,
aber noch nicht durchdrungen .
({6})
Wir wollen die Bundesagentur für Arbeit zu einer
Bundesagentur für Arbeit und Qualifizierung ausbauen.
Das ist genau der richtige Weg . Was steckt dahinter?
Wir wollen mit Weiterbildungsberatung, Förderung von
Weiterbildung, Zeit für Weiterbildung dafür sorgen, dass
Menschen nicht erst qualifiziert werden, wenn sie den
Job verloren haben, wir wollen früher im Erwerbsleben
ansetzen .
({7})
Denn wahr ist doch auch, Kolleginnen und Kollegen: Ob
Aufstieg durch Bildung gelingt, ob das große sozialdemokratische Versprechen in Erfüllung geht - die Kinder
sollen es besser haben als die Eltern -, entscheidet sich
nicht mehr nur am Lebensanfang, sondern die ganze Erwerbsbiografie hindurch. Daran müssen sich auch staatliche Institutionen anpassen . Deshalb brauchen wir eine
Weiterentwicklung der Bundesagentur für Arbeit zu einer Agentur für Arbeit und Qualifizierung.
({8})
Nur so können wir dafür sorgen - da hat Herr Klaus Ernst
recht; das Spannende ist die Verteilungsfrage -, dass die
Bevölkerung wirklich an den Chancen der Digitalisierung und der sich daraus ergebenden Wertschöpfung teilhaben wird . Deshalb: Unsere Konzepte liegen auf dem
Tisch . Ich freue mich auf die Debatte .
Vielen Dank.
({9})
Vielen Dank. - Als nächste Rednerin hat Brigitte
Pothmer für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das
Wort .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ja, es
ist richtig: Es gibt sehr viele Menschen, die sich durch
die Digitalisierung neue große Chancen ausrechnen . Es
gibt aber auch Menschen, die sich vor den daraus resultierenden Veränderungen fürchten. Sie haben Sorge, dass
sie mit dem Tempo nicht mitkommen, sie haben Sorge,
dass sie den Anforderungen nicht gerecht werden, und
sie haben auch Sorge um ihren Arbeitsplatz . Ich bin der
festen Überzeugung, dass man diesen Ängsten und diesen Sorgen am besten damit begegnet, dass man unter
Beweis stellt, dass man dort, wo die Veränderungsprozesse bereits begonnen haben, wo die Zukunft der Arbeit
längst Realität ist, tragfähige Antworten gibt, dass man
Chancen eröffnet und damit verhindert, dass Verlierer
produziert werden .
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Großen Koalition, einen Dialogprozess zu führen, ist gut und schön,
ein Weißbuch vorzulegen, ist auch gut und schön, aber
das reicht bei weitem nicht aus .
({1})
Was wir brauchen, sind konkrete Antworten . Wir brauchen Entscheidungen . Wir brauchen gesetzliche Regelungen .
Ich will Ihnen das am Beispiel der Arbeitslosenversicherung einmal deutlich machen . Die Zukunft der Arbeit
hat längst begonnen . Es gibt doch längst diese unsteten, diese kurzfristigen Beschäftigungsverhältnisse . Die
Menschen, die sich darin befinden, zahlen in die Arbeitslosenversicherung ein, fallen aber im Falle der Arbeitslosigkeit direkt in Hartz IV. Das liegt daran, dass Sie die
Arbeitslosenversicherung für diese Menschen gerade
nicht zukunftsfest gemacht haben .
({2})
Jeder vierte dieser Erwerbstätigen zahlt ein und bekommt
nichts heraus . Das sind inzwischen 580 000 Menschen .
Was bieten Sie diesen Menschen mit Ihrer „enormen
Gestaltungskraft“ an, Frau Mast? Eine Sonderregelung,
durch die im ganzen Jahr 239 Menschen gestützt wurden .
Was für ein Bild des Jammers! Was für ein Missverhältnis!
({3})
580 000 Menschen zu 239 Menschen, wo ist da Ihre
Gestaltungskraft, Frau Mast, wo ist da Ihr Gestaltungsdialog? Was haben Sie gemacht? Anstatt diese Hürden
endlich abzubauen, haben sie die Dauer dieser Regelung
für kurzzeitig Beschäftigte, die nichts taugt, einfach verlängert . Herr Kapschack hat sich dafür auch noch gefeiert. Ich finde, das ist wirklich armselig.
({4})
Dabei wissen wir alle, dass sich durch die Digitalisierung
diese Formen der Erwerbstätigkeit noch weiter entwickeln werden .
Gerade diese Menschen brauchen aber doch mehr und
nicht weniger Sicherung . Bilden Sie sich doch nicht ein,
dass Sie mit einer solchen Sonderregelung Vertrauen in
die Arbeit 4.0 schaffen. Wenn Sie das schon nicht geregelt bekommen, dann bekommen Sie die Gestaltung der
Zukunft erst recht nicht geregelt .
({5})
Meine Damen und Herren, ja, die Digitalisierung bietet eine Menge Chancen . Insbesondere Frauen könnten
davon profitieren. Darauf hat meine Kollegin Kerstin
Andreae hingewiesen; deswegen möchte ich das hier
nicht weiter ausführen .
Frau Kollegin Pothmer, lassen Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Kapschack zu?
({0})
Gerne .
Liebe Kollegin Pothmer, erst einmal herzlichen Dank
dafür, dass Sie die Zwischenfrage zulassen . Ich kann
mich, ehrlich gesagt, an keine Feier erinnern. Vielleicht
waren Sie bei einer Feier, zu der ich nicht eingeladen war .
({0})
Das aber nur nebenbei .
Nehmen Sie zur Kenntnis, dass es in den Vorschlägen
des Kanzlerkandidaten und der Arbeitsministerin zum
Thema „Zugang zum Arbeitslosengeld“ eine deutliche
Veränderung zum jetzigen Zustand gibt? Die Rahmenfrist soll nämlich auf drei Jahre erweitert werden . Innerhalb dieser drei Jahre müssen zehn Monate Beschäftigung nachgewiesen werden. Das ist im Vergleich zum
gegenwärtigen Zustand eine deutliche Verbesserung und
würde - solche Gespräche führen Sie ja auch - vor allem
kurzzeitig Beschäftigten zum Beispiel im Kultur- und
Medienbereich helfen .
({1})
Sehr geehrter Herr Kapschack, nur um Ihrer Erinnerung auf die Sprünge zu helfen: Ich habe mich auf eine
Pressemitteilung bezogen, die Sie und Ihr Kollege zu
der Verlängerung dieser völlig wirkungslosen Sonderregelung abgegeben haben . Darin haben Sie behauptet,
dadurch hätten Sie weiteres Vertrauen geschaffen. Ich
glaube, Sie haben einfach nur jede Hoffnung begraben.
({0})
Ich wusste nicht, Herr Kapschack, dass hier Wahlkampfversprechen der Grünen zur Debatte stehen .
({1})
Meiner Ansicht nach geht es in dieser Debatte um einen
Antrag der Grünen und um das Handeln der Bundesregierung . Ich habe nicht mitbekommen, dass Sie nicht
mehr Teil der Bundesregierung sind, sondern inzwischen
in der Opposition sind .
({2})
Lassen Sie mich jetzt noch etwas zur Weiterbildung
sagen, weil Frau Mast dieses Thema in besonderer Weise
hervorgehoben hat . Wir wissen alle, dass die Halbwertzeit von Wissen durch die Digitalisierung noch weiter
abnehmen wird . Das heißt, dass Weiterbildung für alle,
für wirklich alle dringend notwendig ist .
({3})
Aber die Hartz-IV-Empfänger - Frau Mast, hören Sie
jetzt bitte einmal zu - werden bei Ihnen fast vollständig
abgehängt . Sie betonen die Bedeutung der Weiterbildung; aber im SGB II gilt nach wie vor der Vorrang der
Vermittlung vor Qualifizierung.
({4})
Diejenigen brauchen Ihrer Meinung nach offensichtlich
keine Weiterbildung . Ich frage Sie: Wo bleibt Ihre Weiterbildungsoffensive? Wann wird das Meister-BAföG
tatsächlich zu einem Gesetz zur Förderung lebenslangen
Lernens umgebaut?
({5})
Nein, Sie sind immer noch im Modus der Sonntagsreden;
aber den müssen wir jetzt dringend verlassen .
({6})
Lassen Sie mich zum Schluss kommen . Wer es in einer ganzen Amtszeit nicht geschafft hat, überzeugende
Antworten auf die bereits eingetretenen Veränderungen
der Arbeitswelt zu geben - die Zukunft der Arbeit hat bereits begonnen -, der wird kaum das Vertrauen der Menschen dafür gewinnen,
({7})
eine so grundlegende Veränderung wie die, die vor uns
liegt, zu gestalten. Dieses Vertrauen brauchen wir aber,
wenn der Weg in die Digitalisierung und die Zukunft der
Arbeit gelingen soll .
Ich danke Ihnen .
({8})
Als nächster Redner hat Kai Whittaker für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort .
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kollegen! Ich nehme diese
Debatte nicht als Gestaltungsdebatte wahr, sondern eher
als Angstdebatte .
({0})
Führen wir uns einmal die Schlagwörter vor Augen,
die in dieser Debatte und in vielen anderen Diskussionen benutzt werden: Da geht es um „Ausbeutung“, um
„Entgrenzung“, um „Verdichtung von Arbeit“ und um
„ständige Erreichbarkeit“ . Arbeit 4 .0 heißt für die linke
Seite des Hauses: vier Ängste und null Lösungen . Das
ist ein Lehrstück, wie man den Leuten erst Angst einjagt
und sich dann zum Heilsbringer aufschwingt, um sie zu
beschützen .
Dass die Menschen von links nichts zu erwarten haben, konnte man meiner Meinung nach, liebe Frau Mast,
am vergangenen Sonntag erleben .
({1})
Das deutsche Silicon Valley liegt definitiv nicht bei Würselen .
({2})
Wer das nicht glaubt, dem empfehle ich - das gilt auch
für die Zuschauerinnen und Zuschauer an den Fernsehgeräten -, einfach einmal online zu gehen und sich die Rede
Ihres sogenannten Spitzenkandidaten herauszusuchen,
den Text herunterzuladen und nach dem Wort „Digitalisierung“ zu fahnden . Wissen Sie, wie oft er es benutzt
hat? Ein einziges Mal kommt das Wort vor, und er benutzt
es noch nicht einmal im Zusammenhang mit Arbeit 4 .0,
sondern im Zusammenhang mit dem Breitbandausbau . Liebe Kollegen von der SPD, herzlich willkommen in
der Bundesregierung! Das machen wir seit vier Jahren .
Unser Minister Dobrindt hat gerade diese Woche wieder
entsprechende Förderbescheide übergeben .
({3})
Das Schöne an der Digitalisierung ist ja, dass sie
Transparenz ermöglicht: Man sieht große Zusammenhänge und sieht, worüber geredet worden ist . Da gibt es die
Möglichkeit, sogenannte Wortwolken zu erstellen, und
dann sieht man, wo der Schwerpunkt einer Rede lag . Das
habe ich natürlich mit der Rede vom vergangenen Sonntag gemacht . Sie kann man auf meiner Facebook-Page
sehen; aber ich habe sie auch einmal mitgebracht . Wenn
man sich die Worte einmal zusammensucht und daraus
einen Satz bildet, dann kommt aus den wichtigsten Wörtern der letzten Rede folgender Satz heraus: Liebe Genossinnen und Genossen, Deutschland hat Menschen . Ein beeindruckendes Programm für die Zukunft unseres
Landes!
({4})
Herr Whittaker, lassen Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Ernst zu?
Nein . Ich würde jetzt gerne mit der Rede fortfahren .
Meines Erachtens sollten wir hinsichtlich der Digitalisierung drei Dinge feststellen . Erstens . Die Digitalisierung hat doch schon längst angefangen .
({0})
Die Menschen nehmen das doch nicht als eine Revolution wahr, die kommt, sondern als etwas, in dem wir schon
mittendrin sind: Wir buchen unsere Urlaube online, wir
bekommen Tickets für die Deutsche Bahn online, wir haben Maschinen, die sich miteinander vernetzen . Wir arbeiten mit dem Laptop von überall aus . Die Firmen haben
mehr Wissen über die Kunden und können sich deshalb
besser auf sie einstellen . In Zukunft werden Drohnen die
Arzneimittel zu den älteren Menschen bringen, und sie
müssen nicht mehr den langen Weg zur Apotheke gehen .
Aber es bedeutet auch, dass jetzt schon über die Hälfte
der Deutschen online arbeitet . So hat es zumindest das
Institut der Deutschen Wirtschaft herausgefunden . Es ist
auch keine böse Revolution, die da aus Amerika über uns
hereinschwappt . Die Menschen haben doch keine Angst
davor, weil sie ja tagtäglich mit diesen Themen umgehen .
Die Menschen fühlen sich nicht unter Druck gesetzt, sondern sie sind wesentlich produktiver . Das hat übrigens
das Bundesarbeitsministerium für das Weißbuch herausgefunden .
Die Digitalisierung führt eben auch nicht zu einer
Massenverelendung durch Crowd- und Click-Working .
Das betrifft die absolute Minderheit. Lediglich 4,2 ProBrigitte Pothmer
zent in der IT-Wirtschaft arbeitet danach . Die weit überwiegende Mehrheit der Deutschen sieht, dass die Vorteile
die Nachteile überwiegen. Selbst bei den Geringqualifizierten, die ja am ehesten skeptisch gegenüber der Digitalisierung eingestellt sein müssten, sagt über die Hälfte,
dass sie sich von der Digitalisierung Positives versprechen und durch sie in ihrer körperlichen Arbeit entlastet
werden . - Auch das stammt nicht von mir, sondern wurde
vom BMAS festgestellt .
Die Menschen in Deutschland sind viel weiter als
manch einer hier in diesem Saal . Wir müssen anfangen,
diese Debatte als Chance zu begreifen; aber wir werden das bringt mich zum zweiten Punkt - diese Chance nicht
mit den alten Mustern nutzen können .
Herr Ernst, ich finde schon, es ist ein falsches Bild,
wenn man glaubt, dass es auf der einen Seite den bösen
Arbeitgeber gibt, der seine Mitarbeiter wie im 19 . Jahrhundert ausbeuten möchte, während auf die andere Seite
eventuell der faule Arbeitnehmer gesetzt wird, der Neues
blockieren will . Beide Bilder sind Zerrbilder .
({1})
Es wird in Zukunft nur gemeinsam gehen . Wenn sich
diese Menschen eben nicht gemeinsam als Arbeitgeber
und Arbeitnehmer zusammentun, dann werden wir noch
mehr solche Negativbeispiele wie vor fünf Jahren haben,
als Kodak einfach vom Markt gefegt wurde, obwohl es
die Digitalkamera erfunden hat . Kodak hat es nicht geschafft, auf die neuen Zeichen der Zeit zu setzen.
Wir sollten ebenso nicht den Fehler machen, zu bewerten, was gut oder schlecht ist, sondern wir sollten versuchen, die Dinge zu ermöglichen . Wer sagt denn, dass
die Menschen in Zukunft alle sozialversicherungspflichtig arbeiten wollen? Die Mitarbeiter werden in Zukunft
nicht nur für einen Arbeitgeber, sondern für mehrere tätig
sein, als Dienstleister beim Kunden, in mehreren Betrieben, auf längere Zeit, in gemischten Teams, über viele
Länder hinweg .
Wir haben in dieser Legislaturperiode die Zeitarbeitsund Werkverträge reformiert, vor allem mit Blick auf
diejenigen Branchen, die damit Schindluder getrieben
haben, gar keine Frage . Aber ich bin mir nicht sicher, ob
wir uns damit nicht vielleicht auch die eine oder andere
Chance für die Zukunft verbaut haben, dieser Entwicklung gerecht zu werden .
Der dritte Punkt, den ich anführen möchte, ist, dass
die Digitalisierung kein Selbstzweck ist. Vielmehr müssen wir den Menschen erklären, warum wir die Digitalisierung brauchen . Die Antwort lautet eben nicht, dass es
darum geht, dass Deutschland in 20 Jahren wirtschaftlich
weiterhin so stark ist . Das ist allenfalls das Ergebnis einer
guten Politik, die wir heute machen . Die Menschen wollen doch mit ihrer Arbeit etwas bewirken, ihre Umwelt
verändern . Das sehen wir beim automatisierten Fahren .
Was bedeutet das? Es bedeutet in Zukunft weniger Staus,
effizienteres Fahren, weniger Unfälle, also eine bessere
Lebensqualität . Wenn die Maschinen sich vernetzen und
sich melden, bevor sie kaputtgehen, dann erspart uns das
in Zukunft nervenaufreibende Wartezeit, oder wenn wir
mit dem 3-D-Drucker von zu Hause aus Gegenstände
ausdrucken können, dann bedeutet das weniger Warten,
weniger Transportkosten, weniger Ressourcenverbrauch .
Sprich: Vieles wird für die Menschen erschwinglicher
und besser .
Wir können diese Dinge nur ermöglichen, wenn wir
uns auf zwei Punkte konzentrieren .
Der erste Punkt ist: Wir müssen den Menschen mehr
zutrauen, was ihre Arbeitszeiten und Arbeitsformen angeht . Ich sehe das in meinem eigenen Freundeskreis;
Kollege Lagosky hat es schon angesprochen . Es ist nun
einmal der Fall, dass man morgens die Kinder in den
Kindergarten bringt und vormittags in der Firma arbeitet .
Nachmittags kommt man nach Hause und verbringt Zeit
mit der Familie . Nachts wird dann die zweite Arbeitsschicht von zu Hause aus eingelegt . Dadurch kommen
die Menschen, auch heute schon, mit unseren Arbeitszeitgesetzen in Bedrängnis . Deshalb: Wenn die Leute so
erwachsen sind, eine Entscheidung zu treffen, wo und
wie sie arbeiten wollen, dann sollten wir es ihnen auch
ermöglichen und nicht verbieten .
({2})
Der zweite Punkt ist: Wir müssen den Menschen
helfen, diesen Wandel mitzugestalten . Dabei geht es
um ihre Qualifikation. Ja, einige Tätigkeiten werden
verschwinden; das ist die bittere Wahrheit . Aber dafür
entstehen genauso viele, wenn nicht sogar noch mehr
neue Jobs: 3-D-Druckspezialisten, Webentwickler, Mobile Developer, Scrum Master, das alles sind Jobs, die
es vor zehn Jahren noch gar nicht gab . Was braucht man
dafür? Wir brauchen digitale Kompetenzen in der Schule . Estland zum Beispiel ist uns da voraus . Dort gibt es
bereits das Fach Programmieren . Wir brauchen das digitale Know-how auch in unseren Ausbildungsberufen,
weil die duale Ausbildung nun einmal die Stütze unserer mittelständischen Wirtschaft in Deutschland ist . Wir
müssen auch unsere Einstellung ändern . Man hat eben
nicht mehr mit 18 oder Mitte 20 ausgelernt, sondern es
geht immer weiter . Wir müssen Anreize setzen, um die
Menschen in Weiterbildung zu bringen . Frau Mast, ich
finde, Ihr ALG Q ist großer Quatsch; denn Sie versuchen,
die Leute erst dann zu qualifizieren, wenn sie schon arbeitslos sind,
({3})
wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist .
Wir müssen vorher ansetzen, wir müssen die Menschen qualifizieren, bevor es so weit kommt.
({4})
Deshalb sollten wir eher darüber nachdenken, welche
steuerlichen Anreize wir geben können, damit die Menschen die Zeit und das Geld haben, sich weiterzubilden .
Arbeit 4.0 bedeutet für uns: Vier weitere Jahre mit der
Union ergibt null Probleme bei der Digitalisierung . Das
ist unsere Agenda 2020 für Deutschland .
({5})
Eine Kurzintervention ist gewünscht von Klaus Ernst .
Herr Whittaker, Sie haben von Angst gesprochen, davon, man würde den Leuten Angst machen . Wissen Sie,
wenn Sie solch eine Debatte über die Zukunft der Arbeit,
über Risiken und Chancen der Arbeit 4 .0 - das ist das
Thema dieser Debatte - dazu nutzen, über die Arbeitslosenversicherung zu reden, dann merke ich, wie groß bei
Ihnen die Angst vor dem Vorschlag der SPD ist.
({0})
Mir liegt es ja fern, die SPD zu verteidigen - das ist auch
gar nicht mein Job -, aber eines muss ich Ihnen schon sagen: Wenn Ihnen nichts anderes einfällt, als festzustellen,
dass Würselen nicht Silicon Valley ist, dann haben Sie
zumindest beim Geografieunterricht nicht geschlafen.
Das ist ein Punkt, der für Sie spricht, lieber Kollege .
({1})
Jetzt noch einmal zum Inhalt . Es geht überhaupt nicht
darum, dass man nicht möchte, dass Menschen ihre Arbeitszeit selber bestimmen . Nur: Als Assistent der Geschäftsführung zu arbeiten, ist etwas anderes,
({2})
als im Betrieb an einer Maschine zu stehen . Dann merkt
man nämlich, dass das, was die Menschen an Arbeitszeiten und an Selbstbestimmung wollen, nichts Neues ist .
Das gab es auch früher schon .
Auch Frauen haben diese Probleme und sagen: Wir
wollen wieder in Vollzeit wechseln. Auch Menschen mit
kleinen Kindern sagen: Die Arbeitszeiten sollten nicht so
verändert werden, dass wir sie mit der Kindererziehung
nicht mehr in Einklang bringen können . Ihr Beispiel,
mein Gott! Der eine arbeitet früh, der andere spät . Ich
habe auf Betriebsversammlungen erlebt, wie Frauen den
Ablauf ihres Familienlebens geschildert haben: Beide arbeiten in Schicht . Der Mann schreibt, wenn er geht, auf
einen Zettel: Ich komme heute Abend später . Wenn er
morgens aufsteht, ist die Frau wieder weg . Sie hat dann
auf den Zettel geschrieben: Ich habe es gemerkt . - Das
kann nicht die Zukunft sein, Herr Whittaker . Das müssen
wir regeln .
Ich habe nichts dagegen, dass wir Freiräume nutzen,
auch die, die durch Technik entstehen . Aber bitte schön,
wenn Sie verneinen und verleugnen, dass es notwendig
ist, dass wir diese Regelungen schaffen - durchaus im
Sinne des Antrages der Grünen -, dass wir gesetzliche
Regelungen brauchen, damit die Menschen ihre Rechte
durchsetzen können, dann muss ich Ihnen sagen: Sie haben von der betrieblichen Realität so viel Ahnung wie
eine Kuh vom Fußballspielen . Das muss ich Ihnen wirklich einmal sagen .
Ich kann nur an Sie appellieren: Stellen Sie sich der
Realität, gehen Sie in einen Betrieb, und reden Sie mit den
Leuten! Wenn es uns nicht gelingt, diese Dinge zu regeln,
dann werden die Menschen den technischen Möglichkeiten, die künftig üblich sind, unterworfen . Dann gehen die
Löhne nach unten, dann gehen die Arbeitszeiten hoch,
dann ist das freie Wochenende passé, und immer mehr
Leute fragen sich hinterher: Was haben wir eigentlich
falsch gemacht? Warum haben wir Berufskrankheiten?
Warum sind wir psychisch krank? Warum fallen wir der
Allgemeinheit zur Last? - Denn die Allgemeinheit muss
diese Menschen über die Gesundheitssysteme versorgen .
Das ist das Problem . Ich bitte Sie einfach, die Realität
ein wenig zur Kenntnis zu nehmen .
({3})
Herr Whittaker .
Ich hatte gedacht, Aschermittwoch ist vorbei und die
Faschingsreden auch. Aber offensichtlich können Sie
sich in Ihren Reden zum Großteil nur mit Sprüchen unter
der Gürtellinie profilieren.
({0})
Ich sage Ihnen nur eines: Vor dem Vorschlag der Sozialdemokraten zum ALG Q haben ich und die Unionsfraktion keine Angst . Diese Diskussion führen wir gerne .
Menschen, die 30, 40 Jahre lang in einem Betrieb gearbeitet haben - das gilt vor allem für tarifgebundene Betriebe -, müssen eigentlich am wenigsten Angst haben,
innerhalb weniger Monate in Hartz IV zu landen. Hier
sind nämlich sehr, sehr viele Netze dazwischengeschaltet, auf tariflicher und betrieblicher Ebene und auf der
Ebene des Sozialstaates . Diese Menschen werden am
ehesten aufgefangen, bevor sie in Hartz IV landen. Tatsächlich etwas tun müssen wir allerdings für Langzeitarbeitslose und alleinerziehende Frauen . Wenn es um diese
Menschen geht, können wir diese Debatte gerne führen .
({1})
Aber die Klientel, die Sie im Blick haben, muss in diesem Land am wenigsten Angst vor Hartz IV haben. Sie
versuchen, diesen Menschen Angst einzureden, damit sie
Sie nachher wählen . Das ist der Grund, weshalb Sie diese
Debatte anstoßen .
({2})
Glauben Sie mir: Als Assistent der Geschäftsleitung
({3})
bin ich sicherlich nicht auf der Fischsuppe dahergeschwommen . Natürlich habe auch ich gesehen, was die
Menschen im Betrieb machen .
({4})
Ich habe mich bei meiner Arbeit von Anfang an nicht nur
an den Schreibtisch gesetzt, sondern auch an die Maschinen, um den Leuten über die Schulter zu schauen und zu
sehen, was sie tun .
({5})
Ich muss schon sagen: Die betriebliche Wirklichkeit ist eine andere als die, die Sie hier beschreiben . Sie
versuchen, sich mit Ihrem alten Klassenkampf aus dem
19. Jahrhundert zu profilieren, weil Sie damit Ihre Existenz sichern können . Aber die Realität ist eine andere . Es
geht in Zukunft nur partnerschaftlich zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern . Wenn wir das nicht ermöglichen und diesen beiden nicht zutrauen, über Arbeitszeiten, Arbeitsformen und Gesundheitsschutz neu zu
debattieren und entsprechende Regelungen auszuverhandeln, sondern alles von Berlin aus regeln, dann werden
wir den Kampf um die Digitalisierung nicht gewinnen .
({6})
Jetzt hat Dr . Petra Sitte für die Fraktion Die Linke das
Wort .
({0})
Danke . - Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir können ja zu einem Beispiel kommen . Ich habe
das Beispiel der deutschen Automobilindustrie herausgesucht, um zu zeigen, wie gravierend die innovativen
Brüche unter Arbeit 4 .0 in den nächsten zehn Jahren sein
werden . Aus der Sicht der Beschäftigten ist klar, dass in
diesem Prozess nicht nur Automobilkonzerne und Gewerkschaften, sondern eben auch die Politik eine maßgebliche soziale Verantwortung hat. Die Automobilindustrie stellt in Deutschland die Schlüsselindustrie dar .
Laut IG Metall sind in diesem Zweig 2,3 Millionen Menschen direkt und indirekt sogar 9,8 Millionen Menschen
beschäftigt . Der Anteil ihres Umsatzes an der deutschen
Industrieproduktion betrug 2013 21 Prozent .
Im Kern geht es um drei innovative Brüche:
Der erste innovative Bruch ist die Einführung der
Elektromobilität . Das heißt, es entfallen Komponenten
des klassischen Antriebssystems, andere müssen angepasst oder neue entwickelt werden . Es sind also erhebliche Investitionen zu tätigen, und insbesondere die Zulieferer werden die Risiken und Kosten dieser Umstellung
zu tragen haben . Die Beschäftigten wiederum stehen vor
einem erheblichen Weiterbildungs- und Qualifikationserfordernis . Ein Drittel von ihnen droht nach jetzigen
Einschätzungen sogar den Arbeitsplatz zu verlieren . Dagegen muss in sozialer Verantwortung gearbeitet werden.
({0})
Der zweite innovative Bruch ist die Einführung von
Fahrerassistenzsystemen oder selbstfahrenden Modellen,
für die eine massenhafte Verarbeitung von Daten notwendig ist . Dafür werden leistungsfähige digitale Plattformen als Intermediäre benötigt, und über diese verfügen die Automobilkonzerne heute nicht . Das Auto selbst
wird zur Plattform . Es muss mit anderen Fahrzeugen
kommunizieren und hat ganz neue Funktionen .
Die Konkurrenz der deutschen Automobilkonzerne,
beispielsweise in Amerika, ist genau den anderen Weg
gegangen . Sie haben ihre eigenen Plattformen für neue
Mobilitätskonzepte und neue Mobile genutzt . Wir kennen bereits Googles Self Driving Car, wir wissen, dass
Apple an einem iCar arbeitet, Tesla dringt massiv in den
Markt, und in den Garagen von Silicon Valley wird an
ganz neuen Fahrzeugkonzepten gearbeitet . Ab 2025 sollen eigentlich nur noch Elektromobile und Selbstfahrer
verkauft werden .
Wenn BMW, Daimler, Audi und VW zukünftig also
nicht nur Hardware an Google, Apple und andere Datenkonzerne liefern wollen, dann müssen sie diese Plattform
gemeinsam entwickeln . Schließlich gibt es in Europa
keine solche Plattform .
Drittens. Die Nutzungsmodelle ändern sich. Viele
Leute wollen heute gar kein Auto mehr besitzen . Carsharing gehört in diesem Land zum Alltag . Die Ökonomie
des Teilens lässt die Nachfrage nach Fahrzeugen, insbesondere in Städten, schon heute deutlich sinken . Auch dadurch drohen Arbeitsplatzverluste . Das heißt, im Prozess
„Arbeit 4 .0“ muss vorausschauend gehandelt werden .
Die Bundesregierung muss mit den Gewerkschaften,
den Unternehmen und den Plattformbetreibern neue Modelle zur Beschäftigung und Beschäftigtenqualifikation
entwickeln. Da stehen wir hier selbst in der Verantwortung, und dazu gehören dann eben beispielsweise auch
branchenbezogene Mindest- bzw . Basishonorare für
Selbstständige und Solo-Selbstständige .
({1})
Wenn in diesem Umfang menschliche Arbeit in allen
Branchen entfällt und mehr und mehr digitale Güter mit
anderen ökonomischen Eigenschaften als materielle Güter in die Nutzung drängen, brauchen wir Ideen, wie Sozial-, Sicherungs- und auch Steuersysteme konditioniert
und vor allem gestärkt werden . Darüber haben wir hier
auch zu diskutieren .
({2})
Abschließend: Ja, wir müssen auch darüber reden, dass
es in diesem Prozess die Chance gibt, eine geschlechtergerechte Verteilung von Arbeit zu praktizieren. Das sollten wir auch tun . Herr Ernst hat es ja schon gesagt: Es
geht um die Arbeitszeit und um neue Arbeitszeitmodelle,
aber vor allem um die Sicherung der Beschäftigten .
({3})
Die digitale Arbeits- und Lebenswelt muss schließlich
demokratisch gestaltet werden . Das ist eine gesellschaftliche Herausforderung. Vor allem müssen wir an dieser
Stelle Politik für das Gemeinwohl machen . Unter dem
wird es nicht zu machen sein .
Danke schön .
({4})
Michael Gerdes hat als nächster Redner für die
SPD-Fraktion das Wort .
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zunächst einmal: Lieber Kai Whittaker, Martin Schulz bedankt sich bei dir für die gute Werbung .
({0})
Nun aber zum Thema „Arbeit 4 .0“ . Über ein so zentrales Thema, wie die Gestaltung unserer Arbeitswelt,
kann man gar nicht oft genug sprechen. Arbeit schafft in
vieler Hinsicht Werte, Arbeit sorgt für Teilhabe, Arbeit
stiftet Sinn . Das geschieht aber nur dann, wenn die Bedingungen für gute Arbeit erfüllt sind . Andernfalls verlieren wir den Anschluss an die Gesellschaft; sonst macht
Erwerbsarbeit krank .
Das, was gute Arbeit ausmacht, muss zu Teilen neu
definiert werden: So verstehe ich den Dialogprozess „Arbeit 4 .0“ . Wir werden Arbeit 4 .0 nicht aufhalten können,
aber wir können Arbeit 4 .0 gestalten .
Die Herausforderungen, die sich aus der Digitalisierung ergeben, betreffen fast alle Facetten des Arbeitslebens: zum Beispiel das sich rasant verändernde
Fachwissen und den Wechsel zwischen abhängiger und
selbstständiger Erwerbsarbeit. Mit der Verlagerung von
Arbeitszeiten, Arbeitstagen und Arbeitsorten kommen
große Herausforderungen auf die Sozialpartner zu .
Wie werden die Einhaltung von Arbeitsschutzvorschriften und der Gesundheitsschutz demnächst kontrolliert? Wie wird sich das Verhältnis von Arbeitszeit und
Ruhezeit - Stichwort: Work-Life-Balance - künftig verändern? Welchen Einfluss haben Gewerkschaften in der
Welt von Arbeit 4 .0? - All das muss gründlich durchdacht
werden, und als Bergmann und Schichtarbeiter weiß ich,
wovon ich rede .
Womit ich nicht einverstanden bin, ist der Vorwurf,
die Bundesregierung habe ihre Hausaufgaben nicht gemacht . Gerade beim Thema „Arbeit 4 .0“ sind wir unter
der Leitung von Arbeits- und Sozialministerin Andrea
Nahles ein gutes Stück vorangekommen . „Arbeit weiter denken“, das Weißbuch aus dem Arbeitsministerium,
welches seit November letzten Jahres vorliegt, stellt konkrete Maßnahmen vor . Insbesondere die Zwischenschritte hin zur Arbeitsversicherung überzeugen mich .
Uwe Lagosky hat unser Bildungssystem bereits dargestellt . Das ist allerdings der Istzustand . Um auf die Arbeitswelt von morgen vorzubereiten, haben wir in dieser
Legislaturperiode die Verbesserung des Meister-BAföG
und das Weiterbildungsstärkungsgesetz umgesetzt .
({1})
Das Meister-BAföG schafft Anreize für den beruflichen Aufstieg . Teilnehmer erhalten nunmehr einen einkommensabhängigen Zuschuss zu den Maßnahmekosten
und bei Vollzeitmaßnahmen einen Unterhaltszuschuss.
Das stärkt vor allem diejenigen, die bereits eine Familie
gegründet haben und bisher gezögert haben, den Schritt
zum Meister zu wagen . Im Übrigen haben wir eine Weiterbildungsprämie eingeführt .
({2})
Das Weiterbildungsstärkungsgesetz richtet sich an die
Gruppe von Arbeitnehmern, denen Grundkompetenzen
oder ein Berufsabschluss fehlen . Wir schreiben niemanden ab, erst recht nicht, wenn es um grundlegendes Handwerkszeug wie Lesen, Schreiben oder Rechnen geht .
Wie stark sich die Arbeit der Zukunft aufgrund der
Digitalisierung verändern wird, können wir nicht zu
100 Prozent voraussehen . Aber wir können sagen, dass
die Menschen dann gut gewappnet sind, wenn sie sich
auf lebenslanges Lernen einstellen und einlassen . Hierzu müssen wir als Staat stetig die Rahmenbedingungen
überprüfen . Wir müssen zur Weiterbildung animieren .
So gesehen sind das Meister-BAföG und das Weiterbildungsstärkungsgesetz zunächst einmal Teilerfolge . Hier
müssen wir noch zulegen .
Die Journalistin Ursula Weidenfeld hat die Notwendigkeit der beruflichen Weiterbildung in ihrem Kommentar im Tagesspiegel vom 5. Februar 2017 sehr treffend
beschrieben - Zitat -:
Lastwagenfahrer und Ärzte, Rechtsanwälte und
Sachbearbeiterinnen werden die Erfahrung machen,
dass nicht mehr zählt, was sie gelernt haben . Wichtig wird dagegen, ständig dazuzulernen, ganz neu zu
lernen, ein neues Berufsfeld zu erobern . Die besten
Chancen haben dabei dummerweise diejenigen, die
schon obenauf sind . Die Studierten, . . . sie haben gelernt, wie man lernt . . . . Die anderen, die eher lustlos
zur Schule gegangen sind und nach der Lehre genug
vom Lernen hatten, werden die ersten echten Opfer
der digitalen Revolution . Sie werden ihre Jobs verlieren . Es sei denn, sie ändern sich .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen weder
Opfer noch Verlierer. Das politische Ziel heißt BefähiDr. Petra Sitte
gung . Staat, Arbeitgeber und Arbeitnehmer sollen sich
allesamt der Weiterbildung widmen . Bildung ist zentral
für unser Leben, egal in welchem Alter .
Hier in dieser Debatte steht vor allem die Bildung von
Erwachsenen im Fokus . Nach Schule, Ausbildung oder
Studium darf auf keinen Fall Schluss sein . Weiterbildung
muss alltäglich und selbstverständlich sein . Ähnlich wie
bei der Gesundheit zählt die Prävention . Wer rechtzeitig
Veränderungen am Arbeitsplatz wahrnimmt, ist besser
vorbereitet, wenn er neue Fähigkeiten und neues Wissen
braucht. Diese Vorausschau können nur wenige alleine
bewältigen . Deshalb halte ich eine strukturierte und professionelle Weiterbildungsberatung und die Erfassung
von Kompetenzen für äußerst sinnvoll .
({3})
Momentan ist die Weiterbildung wie ein Dschungel:
intransparente Förderwege, unübersichtliche Angebote . Die Bundesagentur für Arbeit hat an verschiedenen
Standorten Pilotprojekte zur Weiterbildungsberatung
durchgeführt . Erste Erfahrungen machen Mut . Individuelle Beratung kann den Weg in den Arbeitsmarkt ebnen
und beugt Arbeitslosigkeit vor .
Auch das Recht zur Weiterbildung muss Teil unserer
Überlegung sein . Bildung als Zukunftsinvestition: Das
von der SPD vorgeschlagene Arbeitslosengeld Q ist ein
weiterer guter Beitrag zur Gestaltung der Arbeitswelt 4 .0 .
({4})
Herzlichen Dank . Glück auf!
({5})
Als nächste Rednerin spricht Antje Lezius von der
CDU/CSU-Fraktion .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir als
Union haben uns auf Parteiebene und innerhalb der
Fraktion eingehend und schon lange mit dem wichtigen
Zukunftsthema „Arbeit 4 .0“ befasst . Wir haben hierzu
zahlreiche Fachgespräche mit allen beteiligten Akteuren geführt . Dabei hat uns die Frage geleitet, wie Arbeit
in Zukunft definiert wird. Das bedeutet auch, die Frage
nach dem Sinn der Arbeit zu stellen: Werden wir arbeiten, um zu leben, oder leben wir, um zu arbeiten?
In den Veränderungen durch die Digitalisierung sehe
ich in erster Linie eine Chance, Herr Ernst, und zwar
nicht nur für Arbeitgeber, sondern gerade auch für Arbeitnehmer; eine Chance, die wir alle gemeinsam wahrnehmen und zum Wohle aller gestalten werden .
Der digitale Wandel ist dazu da, den Menschen zu dienen, ihnen die Arbeit und das Leben zu erleichtern . Wenn
er uns zum Beispiel körperliche Arbeit abnimmt, können
wir die freiwerdende Zeit anders organisieren, zum Beispiel in der Pflege, in der intelligente Assistenzsysteme
vielen nützen und Freiräume für ein menschlicheres Miteinander schaffen können. Homeoffice-Lösungen oder
flexiblere Arbeitszeitmodelle könnten mehr Möglichkeiten für eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf
schaffen, und in vielen Unternehmen gibt es hierzu bereits Betriebsvereinbarungen, von denen alle profitieren
und die gern genutzt werden .
Durch die Digitalisierung verändert sich aber nicht
nur das Arbeitsleben, sondern auch unser gesamtes Alltagsleben: die Art, wie wir miteinander kommunizieren
und in der modernen Welt unseren Alltag organisieren .
Menschen werden heute schon in Echtzeit über Kontinente hinweg - ob über E-Mail oder Skype - verbunden .
Das, was vor ein paar Jahren noch undenkbar schien, ist
heute gelebte Alltagsrealität .
Allerdings ist diese Entwicklung nicht für alle einfach; das haben wir schon gehört . Gerade in Gesprächen
mit älteren Menschen erfahre ich oft Skepsis darüber, ob
alle technischen Neuerungen, die die moderne Welt bereithält, auch wirklich gebraucht werden . Bei Smartphones gibt es zum Beispiel Dutzende von Funktionen, von
denen nur wenige genutzt werden . Mit digitaler Technik
sind viele Menschen überfordert. Viele wollen sich auch
nicht darauf einlassen . Gleichzeitig sind aber mehr ältere
Menschen berufstätig als noch vor einigen Jahren, auch
jenseits der Rente . Laut Statistischem Bundesamt war im
Jahr 2015 jeder siebte 65- bis 70-Jährige erwerbstätig .
Diese Zahl hat sich binnen eines Jahrzehnts mehr als
verdoppelt auf 225 000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte über 65 Jahren und fast 1 Million Minijobber .
Das Deutsche Zentrum für Altersfragen stellt dabei
erfreulicherweise fest, dass es den meisten arbeitenden
Rentnern nicht nur um eine Aufbesserung ihrer Rente
geht: Sie wollen weiterarbeiten . Dabei ist es ihnen wichtig, etwas Sinnvolles zu tun und ihre Erfahrungen weiterzugeben .
Gleichzeitig ist die digitale Arbeitswelt besonders für
Ältere eine große Herausforderung . Es wird viele Umbrüche in gewohnten Berufsbildern geben . Auf Arbeitgeber
und Arbeitnehmer warten neue Anforderungen, nicht nur
in der Digitalisierung. Hier wird die berufliche Weiterbildung zunehmend wichtiger . Betriebe sind darauf angewiesen, dass ihre Angestellten sich auf das notwendige
lebenslange Lernen auch einlassen . Dabei haben nicht
nur die Arbeitnehmer einen Wettbewerbsvorteil, die sich
weiterbilden, sondern auch für Arbeitgeber sind gute
Weiterbildungsangebote ein Alleinstellungsmerkmal, um
Fachkräfte zu gewinnen und an den Betrieb zu binden .
({0})
Weiterbildung braucht aber von beiden Seiten Zeit,
Geld und Initiative . Hier wirken Anreize unserer Ansicht
nach besser als gesetzliche Vorgaben. Weiterbildung und
Qualifizierung könnten so bei Modellen der Bildungsteilzeit stärker steuerlich entlastet werden . Auch der Einsatz
von Lebensarbeitszeitkonten könnte für kleine Betriebe
attraktiver gemacht werden . Dabei haben wir als Union
auch jene Betriebe im Blick, die nicht tarifgebunden sind .
({1})
Staatliche Weiterbildungsoffensiven werden aber
insbesondere von mittelständischen Betrieben oft kriMichael Gerdes
tisch wahrgenommen . In zahlreichen Gesprächen habe
ich erfahren, dass auch Mitnahmeeffekte durch nicht
relevante Weiterbildungsmaßnahmen erwartet werden .
Andererseits fürchten besonders kleinere Unternehmen
auch, dass die Mitarbeiter während der Fortbildungsmaßnahmen an ihrem Arbeitsplatz fehlen . Eine Möglichkeit,
die gerade die Digitalisierung bietet, wäre hier Training
on the Job . Arbeitgeber könnten mit den passgenauesten
Mitteln der beruflichen Weiterbildung experimentieren.
Durch E-Learning könnten sie Zeit und Geld sparen .
Uns ist wichtig, dass gerade KMUs Weiterbildungsmöglichkeiten und Qualifizierungsmaßnahmen für ihre
Angestellten besser nutzen, und zwar unbürokratisch und
übersichtlich. Hier setzen wir auf bessere Vernetzung der
an der Weiterbildungsberatung beteiligten Institutionen .
Ein Recht auf Homeoffice, wie Sie es in Ihrem Antrag
fordern, halte ich weder für rechtlich möglich noch für
praktikabel .
({2})
Zur Qualifizierung gehört zunächst auch die Ausbildung . Die Berufswahlvorbereitung sollte bereits in den
allgemeinen Schulen beginnen . Dazu könnten Betriebspraktika und Projektwochen im Austausch mit der Wirtschaft häufiger angeboten werden. Berufswünsche könnten so besser an die Begabungen des einzelnen Schülers
angepasst werden .
Die Arbeitsagenturen nehmen ihren gesetzlichen Auftrag dabei in vorbildlicher Weise wahr . In meinem Wahlkreis Bad Kreuznach verfolgt die dortige Arbeitsagentur das Ziel, auf eine möglichst hohe Ausbildungsquote
hinzuwirken . Durch Berufsberatung und Netzwerke zu
den Schulen, den Kammern und den Betrieben wird viel
getan, um jungen Menschen bei der Orientierung zu helfen und sie zu vermitteln und um das duale System der
Berufsbildung zu stärken, zum Beispiel durch Ausbildungsbörsen .
Im Hinblick auf die berufliche Orientierung halte ich
die Einführung eines Schulfachs Wirtschaft für einen
großen Schritt in die richtige Richtung . Schüler würden
lebensnah und praxisnah wichtige Kompetenzen für das
spätere Berufsleben lernen .
Darüber hinaus müssen auch Ausbilder immer weiter
fortgebildet werden, damit ihr Wissen auf dem neuesten
Stand ist . Ich habe selbst eine Ausbildereignungsprüfung
abgelegt, und ich habe auch ausgebildet . Ich weiß, dass
Wissen veralten kann . Aber gerade in der Ausbildung
brauchen wir kontinuierliche Fortbildung und erweiterte
Möglichkeiten zur Weiterbildung, damit junge Menschen
eine zeitgemäße Ausbildung bekommen .
Liebe Kollegen und Kolleginnen der Grünen, es ist
nicht alles in Ihrem Antrag übertrieben . Wenn Sie eine
Überprüfung der Ausbildungsordnung und bessere Beratung der Betriebe fordern, bin ich ganz bei Ihnen .
({3})
Um die Chancen der Arbeitswelt von morgen zu nutzen, haben wir gesamtgesellschaftlich viel Spielraum,
wenn wir den digitalen Veränderungsprozess aktiv mitgestalten . Wir wollen Befürchtungen der Menschen abbauen und sie sowohl schützen als auch unterstützen .
Wir als CDU/CSU setzen uns für die Stärkung der Allianz für Aus- und Weiterbildung und die bessere Vernetzung aller beteiligten Akteure in der Weiterbildung ein .
Hierfür brauchen wir aufgeschlossene Unternehmen, die
Weiterbildung aktiv mit unterstützen .
Das lebenslange Lernen sollte aber für jeden selbstverständlich werden . Wir als Union wollen den Prozess
der Digitalisierung in unsere soziale Marktwirtschaft
einbetten . Uns ist es wichtig, den Wirtschaftsstandort
Deutschland so stark zu halten, wie er ist . Deswegen
werden wir als Politik mit Maß und Mitte vorgehen und
die Rahmenbedingungen so gestalten, dass die Digitalisierung in der Arbeitswelt der Zukunft ein Erfolg wird .
Vielen Dank.
({4})
René Röspel hat als nächster Redner für die SPD-Fraktion das Wort .
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Vielen Dank, dass ich für wenige Minuten die
Gelegenheit habe, als Forschungspolitiker zu einem Thema zu sprechen, das seit 150 Jahren das Kernthema der
Sozialdemokratie ist, nämlich unter welchen Lebensund Arbeitsbedingungen Menschen leben und wie wir es
schaffen, diese Bedingungen zu verbessern. Immer dann,
wenn wir regierungsführend waren, haben wir dieses
Thema politisch weiterentwickelt .
({0})
- Ich glaube, dass das nicht unbedingt ein Beitrag war,
Arbeit zu stärken .
({1})
Aber darüber kann man vielleicht an anderer Stelle noch
einmal diskutieren .
Wir haben in den 70er-Jahren unter einem Forschungsminister der SPD, Herrn Matthöfer, den Ältere vielleicht
noch kennen, als Antwort auf die Herausforderung einer Computerisierungswelle, wie man sie damals noch
nicht kannte, ein Programm mit dem Titel „Humanisierung des Arbeitslebens“ eingeführt . Es ging darum, die
Lebens- und vor allen Dingen die Arbeitsbedingungen
von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern an ihrem Arbeitsplatz zu verbessern, vor allem aus dem Arbeits- und
Gesundheitsschutz heraus . Seitdem sind Arbeits- und
Gesundheitsschutz auch keine esoterischen Forderungen
von Gewerkschaften mehr, sondern etablierter Bestandteil einer sozialen Marktwirtschaft, die auch funktioniert .
({2})
Das Programm ist übrigens dankenswerterweise von
Heinz Riesenhuber unter der Union fortgesetzt worden,
aber dann irgendwie versackt . Leider hat Deutschland
seine führende Stellung im Bereich Arbeitsforschung
verloren .
Umso erfreuter sind wir, dass wir in den Koalitionsvertrag hineinverhandeln konnten, dass wir uns unter dem
Stichwort „Forschung für die Arbeit von morgen“ wieder
damit befassen, welchen Herausforderungen wir in den
Bereichen Arbeit, Dienstleistungen, aber auch Produktion in unserer Gesellschaft begegnen werden, um gewappnet zu sein und in einer modernen arbeitsintensiven
und wohlstandssichernden Gesellschaft und Arbeitsform
weiterzukommen . Seitdem haben wir beispielsweise für
den Bereich Arbeits-, Produktions- und Dienstleistungsforschung den Forschungsetat mittlerweile auf 100 Millionen Euro erhöht . Das ist ein wichtiges Signal dafür,
sich mit Neuem auseinanderzusetzen und auf Fragen
Antworten zu finden.
Ich bin sehr dankbar, dass das Arbeitsministerium
in eigener Initiative zuerst ein Grünbuch und dann ein
Weißbuch vorgestellt hat, in dem es um die Fragestellung geht: Arbeit 4 .0, was bedeutet das? Das bedeutet
jedenfalls nicht, Arbeitnehmer an neue technische Entwicklungen anzupassen, sondern, Arbeitsplätze und
-bedingungen so zu gestalten, dass Menschen in diesem
Land weiterhin gesund, zufrieden und glücklich arbeiten
können und nicht an ihrer Arbeit kaputtgehen müssen .
Dieses Grünbuch ist am Ende eines längeren Prozesses
im November 2016 vorgelegt worden .
Ich bin froh, dass auch die Grünen im November 2016
den Antrag, über den wir heute diskutieren, erstmalig
eingebracht haben . Dort werden einige Punkte aufgeführt, die ich durchaus für sinnvoll halte, zum Beispiel,
wenn es um die Arbeitnehmermitbestimmung und den
Beschäftigtendatenschutz geht. Vieles im Antrag der
Grünen greift aber zu kurz oder fehlt gänzlich . So heißt
es dort, Aufgabe der Politik sei, „einen Rahmen zu schaffen, der es . . . den Beschäftigten ermöglicht, mit dieser
Entwicklung Schritt zu halten“ . Das ist uns zu wenig .
Wir wollen Gesellschaft gestalten und immer versuchen,
einen Schritt voraus zu sein . Dazu bedarf es übrigens
auch einer vernünftigen Forschung .
In gewissen Punkten können wir dem Antrag der Grünen nicht zustimmen, weil Dinge fehlen, die für die Zukunft wichtig sind . Wissensintensive Dienstleistungen wir kümmern uns darum besonders intensiv und haben
dazu schon viel auf den Weg gebracht - und personenbzw . menschennahe Dienstleistungen fehlen komplett .
Sicherlich kann man sich für ein Recht auf Homeoffice
aussprechen . Aber im Hinblick auf die Diskussion über
die Entgrenzung von Arbeit sage ich: Das kann auch ein
großer Nachteil im Sinne eines latenten Zwangs sein . Ich
stelle mir dabei eine Frau vor - davon werden hauptsächlich Frauen betroffen sein -, die zu Hause sitzt,
({3})
das Kind auf dem Arm hat und gleichzeitig am Computer
Homeoffice macht. Eine solche Entwicklung will ich auf
keinen Fall haben .
({4})
Das alles muss sehr differenziert betrachtet werden.
Noch ein anderer Aspekt. Im Pflegeheim gibt es kein
Homeoffice, sondern Nachtschichten. Wenn wir nicht
wie Japan - dort ist das selbstverständlich - auf Robotik
in der Pflege setzen, sondern die Arbeitsbedingungen für
die Pflegenden so gestalten wollen, dass sie trotz Schichtarbeit 20 Jahre in ihrem Beruf durchhalten und dass der
menschliche Aspekt in der Pflege erhalten bleibt, dann
müssen wir viel tiefer gehen als der Antrag der Grünen .
Ich bin ganz froh, dass die Arbeitsministerin Andrea
Nahles in die Fußstapfen von Hans Matthöfer tritt und
dass wir für eine Humanisierung der Arbeit eintreten .
Vielen Dank.
({5})
Als nächster Redner hat Stephan Stracke für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort .
({0})
Grüß Gott, Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Die Art und Weise, wie wir leben
und arbeiten, verändert sich zum Teil von Grund auf .
Die Umbrüche sind zum Teil gravierend . Wir stecken
schon mitten in diesem Prozess . Maßgeblicher Treiber
ist das, worüber wir heute diskutieren, nämlich die Digitalisierung . Sie wird die gegenwärtigen Systeme und
Geschäftsmodelle über viele Jahre - vielleicht sogar unumkehrbar - weiterentwickeln . Sie bietet sicherlich ganz
neue Möglichkeiten in vielen Bereichen des Lebens .
So können ältere Menschen durch Smart-Home-Technologie länger zu Hause leben oder kann das Wort für
Gehörlose noch sichtbarer gemacht werden . All das ist
möglich . Wir wissen aber noch gar nicht, wie stark die
Auswirkungen auf jeden Einzelnen abstrahlen werden .
Für die Arbeitswelt werden einige Punkte kennzeichnend sein. Die Arbeit wird flexibler werden. Moderne
Kommunikationsmittel ermöglichen, zeitlich und örtlich
ungebundener seiner Arbeit nachzugehen . Das ist eine
große Chance gerade für die Vereinbarkeit von Familie
und Beruf . Ein familienfreundliches Arbeitsleben ist die
Basis für Motivation und Bindung an ein Unternehmen .
Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf wird für Arbeitnehmer zunehmend zu einem Ausschlusskriterium bei
der Entscheidung für oder gegen ein Unternehmen . Des
Weiteren wird sich die Bezahlung stärker daran orientieren, welche Arbeitsergebnisse erzielt werden . Die sich
verändernden Organisationsstrukturen erfordern, Arbeit
verstärkt anlass- und themenbezogen zu organisieren
und Teams zusammenzustellen . All das beschreibt die
sich durch die Digitalisierung verändernde Arbeitswelt .
Gerade das mobile Arbeiten eröffnet Arbeitnehmern
die Chance, eine neue Balance zwischen Erwerbsarbeit
auf der einen Seite und Familie und Freizeit auf der anderen Seite zu finden, mehr Verantwortung, insbesondere
mehr Eigenverantwortung, zu übernehmen, und es eröffnet die Chance, Hierarchien flacher zu gestalten. Das ist
doch durchaus attraktiv . Wenn wir endlich von monotoner Arbeit und körperlich belastenden Tätigkeiten durch
Assistenzsysteme loskommen, dann hilft das vor allem
älteren Arbeitnehmern oder Menschen mit Handicap .
Wer nun die schöne alte Welt konservieren will, der
wird sicherlich den Anschluss verpassen, der wird die
Chance der Digitalisierung nicht nutzen, und dann werden Wertschöpfung und Wohlstand nicht mehr in diesem
Maße in Deutschland stattfinden. Deshalb hat die Gesellschaft die Aufgabe, den Wandel nicht hinzunehmen, sondern aktiv zu gestalten .
({0})
Die großen Potenziale der Digitalisierung müssen nach
Möglichkeit allen Menschen gleichermaßen zugutekommen . Dabei setzen wir auf bewährte Prinzipien: Leistung
und Sozialpartnerschaft, Chancengerechtigkeit und Solidarität . Das sind die Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft . Diese bleiben Richtschnur . Wir werden die Digitalisierung sozial gerecht gestalten .
Digitalisierte Arbeitswelt braucht starke Sozialpartner, einen fairen Interessensausgleich, und deshalb werden Tarifverträge auch weiterhin eine zentrale Rolle einnehmen .
({1})
Aber natürlich rufen auch die Unternehmen verstärkt
nach Flexibilität . Es ist natürlich etwas daran, Arbeitszeitrecht zu hinterfragen und vorsichtig zu öffnen. Darauf setzt auch das Bundesarbeitsministerium mit Experimentierräumen . Wir könnten da durchaus mutiger
sein; aber wir müssen uns immer klar sein: Wir brauchen
weiterhin genügend Raum für Familie, für Freizeit und
Erholung . Erwerbsarbeit ist wichtig und gut, aber sie ist
im Leben nicht alles .
({2})
Deswegen müssen wir darauf achten, dass wir auch genügend Räume für Familie, Erholung und Pausen für
Kreativität haben .
({3})
Nur dann wird Kreativität entstehen . Wir müssen Räume
für individuelle Lösungen eröffnen, für die Unternehmen
gleichermaßen wie für die Arbeitnehmer . Das ist unsere
große Aufgabe . Ich traue uns zu, dass wir in diesem Rahmen einen fairen Interessensausgleich hinbekommen .
Ein zweiter Aspekt: Arbeitsschutz und Arbeitssicherheit . Je mehr Freiheiten die Menschen haben, desto mehr
wird auch der Aspekt der Eigenverantwortung in den
Mittelpunkt rücken . Das gilt auch für den Arbeitsschutz .
Deswegen müssen wir gerade die Fähigkeit zur Eigenverantwortung stärken .
Gute Aus- und Weiterbildung ist mein dritter Punkt .
Die duale Berufsausbildung hat sich mit ihrer hohen Anpassungsfähigkeit durchaus bewährt . Sie wird auch bei
der Digitalisierung Erfolgsmodell bleiben müssen . Ausbildungsordnungen müssen sicherlich überprüft werden,
insbesondere aber muss die digitale Kompetenz gestärkt
werden . Ich meine damit die Fähigkeit zur Selbstorganisation jedes Einzelnen, Eigenschaften wie Selbstbestimmung, Verantwortungs- und Sicherheitsbereitschaft, aber
auch Zuverlässigkeit . Natürlich müssen wir auch den
Grundsatz des lebenslangen Lernens stärker in den Blick
nehmen .
Die Verantwortung hierfür liegt bei jedem Einzelnen,
bei den Arbeitnehmern wie auch bei den Unternehmen
selbst . Sie wollen wir in ihrer Eigenverantwortung unterstützen .
({4})
Dabei hilft nicht die Schablone, sondern dabei helfen
passgenaue Lösungen . Dafür wollen wir die Stärken
der Bundesagentur für Arbeit nutzen . Es gilt, die Unternehmen und die Beschäftigten verstärkt für das Thema
Weiterbildung zu motivieren . Die Begleitung der Beschäftigten gerade an den Übergängen und Wechseln
im Arbeitsleben ist und bleibt die zentrale Aufgabe der
Bundesagentur für Arbeit, die Beratung und gezielte Förderung .
Transparenz bei den Weiterbildungsangeboten zu
schaffen, darin sehe ich die zentrale Aufgabe der Bundesagentur für Arbeit . Sie muss eine Lotsenfunktion haben,
aber darf keine staatliche Weiterbildungsbehörde werden . Das genau wird die Bundesagentur für Arbeit nicht
sinnvoll ausfüllen können . Die Betriebe, die Unternehmen und jeweils der einzelne Mensch brauchen individuelle Lösungen. Das schaffen wir nicht durch Schablonen
und staatliche Behörden . Wir müssen ganz subsidiär bei
den Unternehmen ansetzen und diese stärken und weiterentwickeln .
({5})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Digitalisierung ist eine große Chance, weil sie vor allem die
Menschen mit ihren Fähigkeiten, mit ihren Begabungen
in den Mittelpunkt rückt . Genau diese Fähigkeiten und
Begabungen als Informations- und Wissensarbeiter gilt
es zu stärken. Wir müssen klären, wie wir es schaffen,
Informationen stärker zusammenzuführen, Lösungen
schnell zu entwickeln . Das hat natürlich Auswirkungen
nicht nur auf die Organisation in Betrieben, sondern
auch darauf, wie wir miteinander kommunizieren, welche Fähigkeiten wir in der Kommunikationsstruktur und
im Kommunikationsverhalten mitbringen . Die Digitalisierung ist eine große Chance für uns, Wertschöpfung
in diesem Land zu sichern, zu erhalten und auszubauen,
aber auch, mehr Flexibilität gerade im Interesse der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu schaffen. Daran
arbeiten wir .
Ein herzliches Dankeschön .
({6})
Als nächster Redner spricht Dr . Hans-Joachim
Schabedoth für die SPD-Fraktion .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Alle reden von Industrie 4 .0, Arbeit 4 .0, Schalke 4 .0 .
({0})
Bei Schalke 4 .0 bin ich mir nicht so sicher, aber die anderen Begriffe stehen für eine Entwicklung, die wir miteinander eher als Chance sehen denn als Risiko . Wer uns
zuhört, wird das, glaube ich, als Konsens herausgehört
haben .
Die vernünftige Perspektive im weiteren Verlauf der
Digitalisierung ist nicht die menschenleere Fabrik - darüber sind sich die Fachleute längst einig -, sondern die
menschenfreundliche Fertigung . Dabei könnte gute Arbeit von der Ausnahme, die es heute leider noch ist, zur
Regel werden. Es eröffnen sich neue Perspektiven - meine Vorredner haben dazu schon viel genannt - für Arbeitszeitverkürzung, für die Humanisierung der Arbeit,
für neue Beteiligungschancen, für eine Arbeitsorganisation, die die Vereinbarkeit von Familie und Beruf wirklich
erleichtert . Es geht auch - davon wollen viele nichts hören - um Chancen für eine bessere Bezahlung .
({1})
Den Wegfall monotoner und gesundheitsbelastender Arbeit wird von uns sicherlich niemand bedauern .
Bei der fortschreitenden Digitalisierung der Arbeit in
den Produktions- und Dienstleistungssystemen ist Arbeitslosigkeit keine zwangsläufige Entwicklung. Die Beschäftigten aus der Wirtschaftswunder- und Babyboomerzeit erreichen in den kommenden Jahren ihr Rentenalter .
Der vielbeschworene Kollege Roboter könnte hier Lücken füllen . Komplexe Produkte können kostengünstiger
hergestellt werden . Das bringt das Out für Outsourcing .
Doch solche Fortschritte ergeben sich nicht zwangsläufig; darauf komme ich noch einmal zurück. Nur gut - das
entnehme ich dem Antrag der Grünen -, dass ich da keine Nachhilfe geben muss . Sie haben das richtig erkannt:
Wir müssen etwas tun . Die gesellschaftlichen und politischen Gestaltungsaufgaben warten. Das betrifft notwendige Veränderungen im Bildungs- und Ausbildungssystem, bei Hochschule und Weiterbildung . Den Schutz
vor missbräuchlicher Nutzung von Daten will ich noch
einmal hervorheben; das ist die Achillesferse des Fortschritts im Bereich Arbeit 4 .0 und Fabrik 4 .0 . Notwendig
sind zudem Investitionen in den Breitbandausbau sowie
gesetzliche Regulierungen zur Datensicherheit und zum
Erhalt von Netzneutralität .
({2})
Völlig unterbelichtet im Antrag der Grünen ist, finde
ich, die Herausforderung an die Tarifvertragsparteien .
({3})
Die neuen Wertschöpfungsnetzwerke und Geschäftsfelder vergrößern die privatwirtschaftlich organisierte
Reichtumsproduktion. Das eröffnet neue einkommensund finanzpolitische Teilhabechancen, aber auch nicht
von allein . In den gewerkschaftlichen und sozialdemokratischen Debatten ist es selbstverständlich, den neu erzielten Zuwachs an produziertem Reichtum so zu verteilen, dass alle etwas davon haben .
({4})
Das sollten, meine ich, auch die Grünen stärker rezipieren .
Anders als die Grünen glaubt die SPD auch beim
Thema Industrie 4 .0 und Arbeit 4 .0 nicht daran, Gutes
könnte man von oben verordnen, etwa wir als Gesetzgeber . Aushandlungsprozesse sind nötig, gerne auch, Herr
Whittaker, partnerschaftlich . Aber die Erfahrung sagt:
Wenn es im Konsens nicht geht, muss man den Konflikt
organisieren . Auch das gehört zu den Prinzipien einer sozialen Marktwirtschaft .
Zum Glück sind beim Erarbeiten neuer Verteilungsregeln die Tarifvertragsparteien oftmals kompetenter als
die Bundesregierung; das gilt im Übrigen für jede Form
ihrer Zusammensetzung . Wir setzen auf den Erhalt und
den Ausbau der deutschen Mitbestimmungskultur; denn
Entscheidungen im System der Industrie 4 .0 überschreiten schon jetzt die herkömmlichen Betriebszuständigkeiten . Es gibt neuen Regelungsbedarf, meine Kolleginnen
und Kollegen von den Grünen . Der Prozess läuft schon
und überschreitet den Entscheidungsraum dieser Legislaturperiode und sogar den der nächsten . Kontinuierlich
wird es notwendig sein, hier nachzuschärfen .
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen .
Ja, ich komme gern mit der Feststellung zum Schluss:
Es lohnt sich, darüber intensiver weiter nachzudenken in jedweder Zusammensetzung des Parlaments und der
Regierung . Ich freue mich darauf .
({0})
Als letzte Rednerin in dieser Debatte hat Waltraud
Wolff für die SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Am
Ende dieser Debatte zum Thema „Arbeit 4 .0“ - dazu
liegt ein Antrag der Grünen vor - möchte ich mit einem
Sprichwort anfangen: In der Kürze liegt die Würze . - Oft
stimmt das, aber bei diesem Antrag der Grünen kann ich
das leider nicht sehen . Auf drei Seiten haben Sie versucht, zusammenzufassen, wie Arbeit 4 .0 in der Zukunft
gestaltet werden soll . Aber Ihr Antrag - ich kann es nicht
anders sagen - ist noch unzureichend .
({0})
Ich sage Ihnen auch, woran Ihr Antrag krankt .
Neue Technologien verändern unsere Gesellschaft;
darüber sind wir uns ganz einig. Aber wie diese Veränderungen aussehen, das ist nicht in Stein gemeißelt . Hier
können und müssen wir gestalten; das hat die Debatte
gezeigt . Herr Kollege Whittaker - wo ist er denn überhaupt? nicht mehr da -, ich jedenfalls stehe nicht dafür,
dass wir in Deutschland amerikanische Verhältnisse einführen . Das wollen wir als Sozialdemokraten nicht .
({1})
Wir brauchen eine gesellschaftliche Debatte über Digitalisierung . Deshalb ist es so wichtig, dass der Arbeit-4 .0-Prozess, den Frau Ministerin Nahles angestoßen
hat, in ganzer Breite diskutiert wird . Dabei werden die
Chancen genauso aufgezeigt wie die Veränderungen, die
zu Konflikten führen; das haben wir schon besprochen.
Dazu muss ich Ihnen von den Grünen sagen: Sie gehen
diesem Konflikt mit Ihrem Antrag nicht auf den Grund,
sondern aus dem Weg . Sie leisten nicht, was die Überschrift sagt . Sie gestalten nicht, sondern zeigen punktuell
auf, wo man Anpassungen vornehmen kann . Aber das,
meine Damen und Herren, reicht gerade nicht .
({2})
Ich mache das einmal an Beispielen fest, die heute noch
nicht genannt worden sind:
Mein Kollege Röspel hat auf die Betriebsräte hingewiesen und darauf, dass Sie ihnen mehr Befugnisse
im Arbeitsschutz einräumen wollen . Gut - aber nur im
Prinzip . Ihre Lösung ignoriert einfach, dass wir ein Problem bei der Mitbestimmung haben: Die Zahl der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die durch Betriebsräte
vertreten werden, sinkt stetig . Gerade in den Beschäftigungsformen der digitalen Arbeitswelt haben wir zunehmend Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die nicht
vertreten sind . Dafür bieten Sie keine Lösung an .
({3})
Sie stellen zu Recht fest, dass neben den Anforderungen auch die Formen der Beschäftigung mit der Digitalisierung eine Änderung erfahren . Sie schreiben, dass
die Grenzen zwischen abhängiger und selbstständiger
Tätigkeit verschwimmen . Richtig . Das haben Sie alles
sehr schön dargestellt . Aber hinter dieser Entwicklung
verbirgt sich doch nicht nur eine freiwillige Selbstständigkeit . Dazu sagen Sie kein Wort .
Die Unternehmen, meine Damen und Herren, organisieren sich zunehmend anders . In verschiedenen
Branchen arbeiten immer weniger festangestellte Arbeitnehmer gemeinsam mit Befristeten, Ausgelagerten und
Leiharbeitern sowie mit Menschen mit Werkverträgen
zusammen .
Übrigens ist es so: Im Bereich des Arbeitslosengeldes II haben wir - insofern haben wir ja eine Antwort auf
etwas gegeben, das wir schuldig geblieben waren - die
Weiterbildungsprämie eingeführt, die bei einem Zwischen- oder Abschlusszeugnis gezahlt wird .
({4})
Und was noch viel wichtiger ist: Wir haben eine weitere
Verbesserung hinbekommen. Wer jetzt im Arbeitslosengeld II ist und einen Ausbildungsvertrag hat, dem wird
nicht, wie es bisher der Fall war, automatisch das Arbeitslosgengeld II gekürzt . Das ist eine Errungenschaft,
auf die ich auch einmal hinweisen möchte .
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Digitalisierung
führt in Bezug auf die Arbeitsplätze zu einer immer weiter gehenden Forcierung, und wir wissen eigentlich nicht,
wann die Spitze erreicht sein wird . Wir wissen nicht, wo
das wirklich hinführt . Mein Sohn ist ein hochspezialisierter IT-Techniker und Programmierer . Er arbeitet von zu
Hause aus und findet das toll; aber das gilt doch nicht für
alle . Gilt das denn auch für den selbstständigen Paketboten, der immer weiter unter Druck gerät? Gilt das für den
Schichtarbeiter oder für die Servicekraft im Hotel? Die
kann das doch gar nicht mehr aushalten .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben über Jahre beobachtet, wie Lohndrückerei durch Minijobs, Leiharbeit und Werkverträge zur Normalität erhoben worden
ist .
Frau Kollegin, ich muss auch Sie bitten, zum Schluss
zu kommen .
Ich komme sofort zum Schluss . - Im Weißbuch „Arbeiten 4 .0“ steht, dass wir bei aller Notwendigkeit der
Flexibilisierung eine systematische Verlagerung der Risiken und der Verantwortung auf Arbeitnehmer nicht dulden können .
({0})
Deshalb glaube ich, dass es wichtig ist, die Chancen
zu nutzen . Dafür brauchen wir aber einen Rahmen; wir
brauchen eine Grundlage aus dem Weißbuch bzw . Grünbuch . Das fehlt in Ihrem Antrag . Da haben Sie noch
nachzubessern .
Vielen Dank.
({1})
Waltraud Wolff ({2})
Das war aber, wenn ich das sagen darf, nicht ein „zügig zum Schluss kommen“ .
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will aus gegebenem Anlass noch einen kleinen Hinweis geben: Es gehört zur guten Debattenkultur in diesem Haus, dem Deutschen Bundestag, dass die Redner einer Debatte während
der gesamten Debatte anwesend sind . Ich möchte einfach
nur noch einmal daran erinnern . Das gilt für alle Kolleginnen und Kollegen . Manchmal gibt es einen wichtigen
Grund, dass man nicht anwesend sein kann . Das ist, denke ich, akzeptabel . Man teilt das dann den Kolleginnen
und Kollegen aber mit, und dann wird es auch akzeptiert .
Ich bitte einfach, das in Zukunft zu berücksichtigen .
({1})
Damit schließe ich die Aussprache .
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/10254 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall . Dann ist die Überweisung
so beschlossen .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht
Drucksache 18/11546
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({2})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen . Wenn es dazu
Widerspruch gibt, dann müsste der jetzt vorgebracht werden . - Das ist nicht der Fall . Dann ist das so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner in der
Aussprache hat Dr . Thomas de Maizière, der Bundesminister des Innern, das Wort für die Bundesregierung .
({3})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ein schnelles Asylverfahren und eine schnelle
Rückführung sind wichtige Voraussetzungen für die
Akzeptanz des Asylrechts in Deutschland .
Dass ich mit einem Zitat des Kollegen Oppermann beginne, wird Sie vielleicht überraschen;
({0})
aber wo es Einigkeit gibt, sollte man das auch sagen . Ich
teile seine Aussage ausdrücklich auch, wenn es um die
Auffassung zu Aufnahmeeinrichtungen außerhalb Europas geht, zumal er dort meine Position übernommen hat .
({1})
Ich weiß, dass das nicht ungeteilte Zustimmung in der
Sozialdemokratie findet. Meine Zustimmung findet es
aber .
({2})
Mit dem Gesetz, das ich hiermit einbringe, werden,
wie der Kollege Oppermann völlig zu Recht angemerkt
hat, Beschlüsse umgesetzt, die wir am 9 . Februar dieses
Jahres gemeinsam mit den Ministerpräsidenten der Länder getroffen haben. Damit werden wichtige Konsequenzen auch für das Aufenthaltsrecht gezogen - auch aus
dem Fall Amri, also dem Terroranschlag auf dem Breitscheidplatz am 19 . Dezember 2016 in Berlin .
Unser Rechtsstaat lebt davon, dass rechtsstaatliche
Verfahren durchgeführt werden, dass diese gerichtlich
überprüft werden können und dass getroffene Entscheidungen auch durchgesetzt werden . Das gilt ganz allgemein und in der Flüchtlingspolitik ganz besonders .
Unsere Flüchtlingspolitik beruht darauf, in einem rechtsstaatlichen Verfahren festzustellen, ob wegen der Verhältnisse im Herkunftsstaat oder aus persönlichen Gründen
ein Schutzbedürfnis für den Aufenthalt in Deutschland
besteht . Sie beruht darauf, dass diejenigen Schutz erfahren und integriert werden, die wirklich schutzbedürftig
sind . Ob ein Asylverfahren mit einem positiven oder einem negativen Ergebnis endet, das muss am Ende aber
einen Unterschied machen, und zwar hinsichtlich der
tatsächlichen Bleibeperspektive . Aufenthaltsrechtliche
Regelungen sind sinnlos, wenn sie am Ende gar keine
Konsequenzen haben . Deshalb: Ja zu guter Integration
der Schutzbedürftigen und Ja zur Rückkehr der Nichtschutzbedürftigen .
({3})
Rückkehr und Integration sind zwei Seiten ein und
derselben Medaille, und beide Seiten nehmen wir ernst .
Ein Beispiel: Allein in diesem Jahr werden wir über
400 000 Menschen den Besuch eines Integrationskurses
ermöglichen, und gleichzeitig werden wir die Zahl derjenigen erhöhen und erhöhen müssen, die freiwillig in ihr
Herkunftsland zurückkehren oder abgeschoben werden .
Wir haben schon einige Gesetzesänderungen im Bundestag beschlossen, um Vollzugsdefizite bei der Aufenthaltsbeendigung zu beseitigen, etwa noch im Jahre 2015
mit dem Gesetz zur Neubestimmung des Bleiberechts
und der Aufenthaltsbeendigung, mit den Regelungen zur
Einstufung der Länder des Westbalkans als sichere Herkunftsstaaten, mit der Abschaffung der Ankündigung von
Abschiebungen oder mit der Pflicht zum besseren Nachweis medizinischer Abschiebehindernisse im sogenannten Asylpaket II .
Diese Maßnahmen greifen auch . Die Zahl der freiwilligen Rückführungen und Abschiebungen steigt . Im
vergangenen Jahr haben rund 55 000 abgelehnte Asylbewerber Deutschland freiwillig verlassen, mehr als 25 000
wurden abgeschoben . Das ist ein Zuwachs von etwa
40 Prozent gegenüber dem Vorjahr; das ist gut. Auch
das Verhältnis von freiwilligen Rückführungen zu Abschiebungen ist gut . Wir wollen diese Entwicklung aber
noch besser machen, insbesondere weil das Bundesamt
für Migration und Flüchtlinge jetzt die Altfälle abarbeitet
und pro Monat 60 000 bis 70 000 Entscheidungen fällt .
Das heißt: Die Zahl derjenigen, die integriert werden,
steigt ebenso wie die Zahl derjenigen, die unser Land
wieder verlassen müssen .
Der Gesetzentwurf, den wir heute beraten, ist dafür
ein wichtiger Beitrag . Er fußt auf drei Säulen: erstens
Identität besser feststellen, zweitens Abschiebung effektiver durchsetzen und drittens gefährliche Ausreisepflichtige besser überwachen .
Im Mittelpunkt des Gesetzentwurfs stehen zum einen
die ausreisepflichtige Menschen, die über ihre Identität
oder ihre Staatsangehörigkeit täuschen, die hier nicht zur
Aufklärung über sich selbst beitragen, die ihre Mitwirkung bei der Rückführung verweigern . Meine Damen
und Herren, ich finde es nicht zu viel verlangt, wenn man
gegenüber unseren Behörden seinen Namen und sein
Herkunftsland korrekt angibt, wenn man von unserem
Land Schutz haben möchte .
({4})
Wenn das nicht so ist, dann muss das eben auch Konsequenzen haben. Zum anderen betrifft der Gesetzentwurf
diejenigen, von denen eine erhebliche Gefahr für Leib
und Leben Dritter oder bedeutende Rechtsgüter der inneren Sicherheit ausgeht .
In einem Rechtsstaat können wir es nicht hinnehmen,
dass Asylbewerber scheinbar sanktionslos und nach Belieben verschiedene Namen und Staatsangehörigkeiten
angeben, keine brauchbaren Auskünfte geben und darauf
hoffen, dass die Behörden auch bei den Herkunftsstaaten
bei der Beschaffung von Papieren nicht weiterkommen.
Das ändern wir . Auch in Zweifelsfällen und bei mangelnder Kooperation werden wir Identität und Herkunftsland in Zukunft besser aufklären . Dazu nutzen wir alle
rechtsstaatlichen Möglichkeiten, am liebsten Ausweise
und Reisedokumente, die mitgebracht werden, aus denen
die Identität und die Heimatländer hervorgehen . Fehlen
diese, lassen aber Smartphones und Tablets Schlussfolgerungen über die Herkunft zu, dann ist es weder übertrieben noch unangemessen, hierüber Erkenntnisse über
die Identität zu erlangen . Das ist nur vernünftig und auch
fair; denn sonst würden nur die weiterkommen, die am
besten verschleiern .
({5})
Im Übrigen haben die Ausländerbehörden bereits ein
solches Recht zum Auslesen von Datenträgern zur Identitätsbestimmung . Mit diesem Gesetz versetzen wir nun
das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in die gleiche Lage . Dabei handelt es sich nicht, um gleich einem
möglichen Debattenbeitrag vorzubeugen, um eine Telekommunikationsüberwachung, sondern um eine genauso
offene Maßnahme, als würde an der Grenze ein Koffer
in Augenschein genommen. Bevor jetzt reflexhaft aufgeschrien wird: Auch in einem Koffer können sich Gegenstände befinden, aus denen auf die private Lebensgestaltung Rückschlüsse gezogen werden können . Trotzdem
hat niemand etwas dagegen, wenn in bestimmten Fällen
ein Koffer an der Grenze geöffnet wird. Im Übrigen sieht
das Gesetz zur Wahrung des Kernbereichs privater Lebensgestaltung weitreichende Schutzvorrichtungen vor .
Das ist auch richtig so .
Der Gesetzentwurf enthält weitere Regelungen zur
besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht. Ausreisepflichtige, die über ihre Identität und Staatsangehörigkeit
getäuscht oder ihre Mitwirkung bei der Rückführung
verweigert haben, sollen sich fortan nur noch innerhalb
des Bezirks der jeweiligen Ausländerbehörde aufhalten
dürfen. Wir nennen das eine verschärfte Residenzpflicht.
Wir ermöglichen künftig auch dann eine Abschiebehaft, wenn nicht gesichert ist, dass vollziehbar Ausreisepflichtige binnen drei Monaten abgeschoben werden
können . Auch das ist eine Konsequenz aus dem Fall
Amri . Man kann lange darüber diskutieren, ob man trotzdem hätte versuchen sollen, spätestens im Oktober, nachdem die tunesische Regierung dem Verbindungsbeamten
der Bundespolizei mitgeteilt hat, dass es sich um einen
Tunesier handelt, einen Abschiebehaftantrag zu stellen .
Darüber wird diskutiert . Wir werden auch noch entsprechende Berichte bekommen und diese hier diskutieren .
Klar ist, egal wie man diesen Fall bewertet: Es ist wichtig und eine Erleichterung, die Dreimonatspflicht aufzuheben, damit man in Zukunft strittige Fälle nicht mehr
diskutieren muss .
Wir verlängern die Höchstdauer des Ausreisegewahrsams . Bisher wurde das Instrument zur Sicherung der
Abschiebung nur zögerlich genutzt, weil die Frist von
vier Tagen zu kurz ist . In der Koalition konnten wir uns
nun auf zehn Tage einigen .
Schließlich verbessern wir das Instrumentarium zur
Kontrolle Ausreisepflichtiger, von denen eine besondere
Gefährdung ausgeht . Ihr Aufenthalt kann künftig durch
sogenannte elektronische Fußfesseln überwacht werden,
wenn das zur Gefahrenabwehr notwendig ist . Wir wissen sehr wohl, dass die Fußfessel kein Allheilmittel ist niemand hat das behauptet -; aber es ist ein zusätzliches
wirksames Mittel, um Gefahren von der Bevölkerung abzuwenden . Deswegen wollen wir darauf nicht verzichten
und diese Möglichkeit einführen .
({6})
Meine Damen und Herren, es ist für alle Beteiligten
von Vorteil, wenn Zwangsmaßnahmen gar nicht erst
ergriffen werden müssen. Vorrang hat immer die freiwillige Ausreise . Dafür haben wir mit dem Programm
„StarthilfePlus“ einen zusätzlichen Anreiz geschaffen.
Der Bund stellt hierfür in diesem Jahr zusätzliche 40 Millionen Euro zur Verfügung. Mit der neuen Zentralstelle
zur Unterstützung der Rückführung, einer gemeinsamen
Stelle von Bund und Ländern, verbessern wir auch die
Bund-Länder-Zusammenarbeit . Ich habe sie vor kurzem
eröffnet; ab Mai wird sie voll einsatzfähig sein.
Mit dem heute zu beratenden Gesetzentwurf bringen wir erhebliche gesetzliche Verbesserungen auf den
Weg, die um praktische Verbesserungen ergänzt werden
müssen. Allen ausreisepflichtigen Gefährdern sage ich
deutlich: Die Offenheit und Liberalität, die unser Land
lebens- und liebenswert machen, leisten wir uns gerade
deshalb, weil wir einen starken Staat haben, der Angriffe
auf uns nicht hinnimmt. Die Offenheit gilt nicht für diejenigen, die unsere Offenheit frontal angreifen oder unsere
Verfahren wissentlich auszutricksen versuchen.
({7})
Wir sind und bleiben freundlich und offen, aber wir sind
und bleiben aufmerksam und handlungsfähig, und wir
setzen das Aufenthaltsrecht auch durch - auch wenn es
umstritten ist, wenn es wehtut . Es ist erforderlich . Es ist
die andere Seite der Medaille der Flüchtlingspolitik . Integration und Ausreise sind zwei Seiten einer Medaille .
Ich bitte um zügige Beratung dieses Gesetzentwurfs .
({8})
Petra Pau hat als nächste Rednerin das Wort für die
Fraktion Die Linke .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir beraten heute einführend einen Gesetzentwurf der
Bundesregierung . Er trägt den Titel „Entwurf eines Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht“.
Die Linke hätte sich gewünscht, dass die Bundesregierung mit demselben Eifer ein Gesetz zur besseren Integration von Schutzsuchenden vorgelegt hätte .
({0})
Aber genau darum geht es heute nicht . Ja, es gab im
Jahr 2016 nicht nur die Beratungen, sondern auch den
Beschluss zu einem Gesetz zur Integration, aber es war
und ist halbherzig; es schloss und schließt viele Geflüchtete aus statt ein .
Das Gesetz, um das es heute geht, bedient vor allem
eine allgemeine Abschiebestimmung . Damit befördert es
auch eine feindliche Stimmung gegenüber den Schutzsuchenden . Das beginnt damit, dass die Bundesregierung
wiederholt mit überzogenen und falschen Zahlen über
Ausreisepflichtige agiert. Ich empfehle hier die Stellungnahme des Paritätischen Gesamtverbandes, der uns heute
zu dieser Gesetzesberatung den Hinweis gegeben und ins
Stammbuch geschrieben hat, dass angesichts der Rekordanerkennungsquoten im Asylverfahren - 2016 betrug die
bereinigte Schutzquote 71,4 Prozent - die aktuelle Herausforderung Schutzgewährung und Integration und
nicht Ausgrenzung und Abschiebung lautet .
({1})
Sie ahnen es: Die Linke muss den Entwurf in seiner
jetzigen Fassung ablehnen .
Nun liegen zum Gesetzentwurf zahlreiche Stellungnahmen unter anderem vom Paritätischen Gesamtverband, von Pro Asyl, der Diakonie Deutschland und
anderen vor, also von Verbänden, die über eine ausgewiesene rechtliche und auch sachliche Kompetenz verfügen . Entsprechend kritisch fallen auch deren Urteile
aus . Das beginnt übrigens schon bei den Fristen, die zur
Stellungnahme eingeräumt wurden - Respekt vor den Erfahrungsträgern sieht anders aus .
Aber die Kritik in der Sache wiegt noch viel schwerer . Ganz verkürzt: Mit dem Gesetzentwurf werden Tore
geöffnet, um mehr abgelehnte Asylbewerber als bislang
ihrer Freiheit zu berauben und sie länger in Abschiebehaft zu nehmen . Als Gründe werden nach wie vor rechtlich unbestimmte Begriffe wie „Gefährder“ bemüht. Das
halten wir für genauso fragwürdig wie die Tatsache, dass
in anderen Debatten „sichere Herkunftsländer“ je nach
Gusto bestimmt werden .
({2})
Mit unangekündigten Abschiebungen nach über einjähriger Duldung werden Betroffenen obendrein Rechtsmittel - etwa das Rechtsmittel eines Widerspruchs - geraubt,
die ihnen eigentlich zustehen .
({3})
Der nächste Kritikpunkt: Hier wird Asylbewerbern
ihre Würde genommen. Hinzu kommt der Eingriff in
verbriefte Bürgerrechte, etwa durch das Auslesen ihrer
Handys ohne jeden Strafverdacht und richterliche Anordnung. Herr Minister, Ihr Bild vom Koffer, der an der
Grenze kontrolliert wird, trägt da nicht . Ich weiß ja nicht,
wie Sie es halten; aber ich pflege weder in meinem Koffer
noch in meiner Reisetasche meine ganze private Korrespondenz oder meine intimsten Daten mit mir herumzutragen . Aber heute ist es so, dass viele von uns ebendiese
besonders geschützten Daten auf ihren Handys, Tablets
oder wo auch immer archiviert haben . Dieses Bild trägt
also in keiner Weise .
({4})
Damit legt sich der Gesetzentwurf auch mehrfach mit
Urteilen des Bundesverfassungsgerichts an. Das betrifft
hohe Hafthürden ebenso wie das Recht auf informationelle Selbstbestimmung . Der Paritätische Gesamtverband moniert: Er „vermischt in unzulässiger Weise
straf- sowie polizei- und ordnungsrechtliche mit aufenthaltsrechtlichen Aspekten“ . Auch dieser Kritik schließt
sich die Linke an .
Hinzu kommt ein grundsätzliches Problem . Ein Drittel aller Schutzsuchenden sind unter 18 Jahre alt. Viele
von ihnen leben auch hierzulande unter Bedingungen,
die weder kindgerecht noch integrationsfördernd sind .
Das stellte UNICEF in einer gerade erst veröffentlichten
Studie fest . Der nun vorliegende Gesetzentwurf, wenn er
denn in die Tat umgesetzt würde, verschärft die Probleme, anstatt dafür zu sorgen, dass die Menschen so schnell
wie möglich dezentral untergebracht werden . Auch das
ist so nicht hinzunehmen .
({5})
Ein Schlussgedanke für heute: Etliche Kommentatoren bezeichnen den vorliegenden Gesetzentwurf als „Lex
Amri“ . Sie spielen damit auf den schlimmen Terrorakt
auf dem Berliner Weihnachtsmarkt und den Täter an .
Und sie belegen zugleich, dass die jetzt vorgesehenen
Regelungen eben nicht verhindern, was Sie vermeintlich
vorgeben zu verhindern. Vielmehr werden die Geflüchteten unter Generalverdacht gestellt . Ich halte das für nicht
rechtsstaatlich und für würdelos .
({6})
Dr . Lars Castellucci spricht jetzt für die SPD-Fraktion .
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister,
Sie haben zu Beginn Ihrer Rede Herrn Oppermann zitiert . Ich wollte zu Beginn meiner Rede eigentlich Herrn
Mayer zitieren, aber stattdessen frage ich als Erstes Herrn
Gutting, ob die Farbe seiner Jacke ein politisches Statement ist .
({0})
Das beschäftigt mich gerade irgendwie mehr. Vielleicht
schwimmen Ihnen ja so langsam die Felle davon .
({1})
Das ist mir nur aufgefallen .
Herr Mayer, Sie haben der Presse heute Morgen schon
mitgeteilt, dass Sie für eine härtere Gangart bei Abschiebungen sind .
({2})
Aber wenn ich mir die entsprechende Statistik aus Ihrem
Heimatland anschaue, dann fällt mir auf, dass die Zahl
der Abschiebungen in Bayern im letzten Jahr gesunken
ist .
({3})
Der bayrische Löwe startet mal wieder mit einem Sprung
und landet als Bettvorleger . Was ich besonders interessant fand: Der bayerische Innenminister Herrmann zieht
trotzdem eine positive Bilanz. Ich finde das großartig.
Das gibt es wirklich nur bei der CSU .
({4})
Zurück zum Ernst, der dieser Angelegenheit angemessen ist . Es gibt Menschen, die hierbleiben dürfen, und es
gibt Menschen, die nicht hierbleiben dürfen .
({5})
Wenn diejenigen, die nicht hierbleiben dürfen, trotzdem
hierbleiben,
({6})
dann zeigt das, dass unser Rechtsstaat nicht funktioniert .
Deswegen müssen wir Ausreisen durchsetzen, wenn die
Pflicht dazu besteht.
({7})
Ich führe bei mir im Wahlkreis hin und wieder sogenannte Wohnzimmergespräche . In den letzten Monaten ist ein Satz immer häufiger gefallen. Er lautete: Der
Rechtsstaat muss für alle gelten . - Die Menschen sagen:
Bei mir werden Steuern und Abgaben abgezogen, wenn
ich über eine rote Ampel fahre, muss ich zahlen, usw .
Und sie fragen mich: Wie kann das sein, dass Menschen
einfach über die Grenze kommen? Oder: Wie kann es
sein, dass Menschen, die hier sind, aber nicht hier sein
dürfen, trotzdem hierbleiben können? Ich glaube, dass
wir den Rechtsstaat in Gefahr bringen, wenn wir nicht für
klare Verhältnisse sorgen. Deshalb: Wer Ausreisen nicht
durchsetzen will, der kann das Asylrecht auch gleich abschaffen; denn das eine bedingt das andere.
({8})
Ich kämpfe für das Asylrecht. Deswegen finde ich: Abschiebungen gehören dazu .
({9})
Warum gelingen Abschiebungen nicht? Dafür gibt es
eine Vielzahl von Gründen, und einer ist, dass die Identität der betreffenden Personen nicht festgestellt werden
kann. Ja, es ist so: Viele, die zu uns kommen, besitzen
keine Papiere . Das ist ihnen vielfach gar nicht vorzuwerfen . Es kann sein, dass sie die Papiere abgeben mussten,
weil die Schleuser es von ihnen verlangt haben . Die abgenommenen Papiere werden so zu den gefälschten Papieren der nächsten Flüchtlinge, die wiederum von diesen Schleusern abhängen . So entsteht ein neues Geschäft .
Dass wir keine legalen und sicheren Zugangswege über
sogenannte Kontingente eröffnen - darüber haben wir
uns häufiger ausgetauscht -, ist ein Teil der Misere, die
zu diesen Geschäften beiträgt .
({10})
Die Aussage, es könne nicht sein, dass einer ohne Papiere, aber mit Handy kommt, zeugt - das muss ich leider
sagen - nicht von besonderer Kenntnis; denn man kann
sich ohne Papiere auf die Reise machen, ohne Handy
aber nicht .
Es geht darum: Man kann hier ohne Papiere ankommen; aber von demjenigen, der hier Hilfe erwartet oder
auch nur erhofft, können wir erwarten, dass er mitwirkt
an der Feststellung seiner Identität . Wenn jemand keine
Papiere hat, aber ein Handy, dann muss man im Zweifel
nach Ausschöpfung aller anderen Mittel, nach dem Interview und nach Hinzuziehung von Experten, auch die
Handydaten nutzen können . Ich glaube, das ist nicht nur
vertretbar, sondern auch geboten . Wir haben ein Recht
darauf, zu wissen, wer bei uns ist .
({11})
Nun wird von verschiedenen Seiten Kritik an diesem
Gesetzentwurf laut, unter anderem daran, dass wir vorsehen, dass Menschen länger in den Erstaufnahmeeinrichtungen verbleiben sollen . Das bringt mich zu der Frage,
wie es um die Verfahren bestellt ist. Sehr geehrter Herr
de Maizière und verehrte Kolleginnen und Kollegen, bei
diesem Thema platzt mir langsam der Kragen . Es ist nun
einmal so, dass man die Leute nicht abschieben kann, bevor das Verfahren abgeschlossen ist. So wird kein Schuh
draus .
Wir haben bereits im Koalitionsvertrag festgeschrieben, dass wir eine Verfahrensdauer von drei Monaten anstreben. Im letzten Jahr wurde uns jedes Vierteljahr von
Ihnen und vom Bundesamt auf die Frage, ob alle Mitarbeiter an Bord seien, gesagt: Ja, das werden wir bis zum
Ende des Quartals schaffen. - Auf die Frage, ob die liegengebliebenen Verfahren abgearbeitet sind, wurde gesagt:
Ja, das werden wir bis zum Ende des Quartals schaffen. Und auf die Frage, ob die Verfahren jetzt durchschnittlich
drei Monate dauern, wurde gesagt: Das werden wir bis
zum Ende des Quartals schaffen. - Jetzt erhalten wir die
Asylgeschäftsstatistik, in der von einem Rückgang der
Antragszahlen um 71,5 Prozent und 333 000 anhängigen
Verfahren - Stand Februar - die Rede ist.
Sehr geehrter Herr Minister, das kann so wirklich nicht
bleiben . Dieser Gesetzentwurf erweckt mal wieder den
Eindruck, als seien die Leute, die zu uns kommen, schuld
an allen Problemen, weil sie täuschen, tricksen und sich
nicht richtig verhalten. Wir müssen diese Verfahren in
Ordnung bringen . Das ist der Dreh- und Angelpunkt . Nur
dann können auch die Abschiebungen funktionieren .
({12})
Vernünftige Verfahren heißt, dass wir eine angemessene Verfahrensdauer brauchen, und zwar nicht gemessen
zwischen Beginn und Ende des Verfahrens, sondern ab
dem Zeitpunkt, zu dem die Leute über die Grenze kommen. Wir müssen die Rechtsberatung in die Verfahren integrieren . Stand letztes Jahr hatten wir 150 000 bei den
Gerichten anhängige Verfahren. Das ist doch kein Zustand. Das führt doch zu immer weiteren Verzögerungen.
Ich bin dafür - jetzt komme ich zur Kritik der Verbände -, dass die Menschen so lange in den Erstaufnahmeeinrichtungen verbleiben, solange ihr Verfahren läuft,
und nur verteilt werden, wenn klar ist, dass sie hier eine
Bleibeperspektive haben . Alles andere macht doch gar
keinen Sinn . Die Menschen reißen sich ein Bein aus,
werden Patinnen und Paten, sorgen für Wohnungen, sorgen für Ausbildungsplätze, kümmern sich darum, dass
die Integration vor Ort funktioniert, und rums werden die
Leute woandershin verteilt oder müssen das Land wieder
verlassen . Das ist nicht sinnvoll . Deswegen ist es vernünftig, zu sagen: Solange die Verfahren laufen, sind die
Menschen an einem Ort, wo zentral alles für sie getan
wird. Das geht aber nur, wenn wir eine Verfahrensdauer
von drei Monaten haben .
({13})
Die Verbände fragen: Wo sind die Räumlichkeiten,
in denen derjenige, der zur Schule geht, lernen kann?
Wie sieht es mit der Privatsphäre aus? Wie sieht es mit
dem Zugang zu Freizeitangeboten, mit Teilhabeangeboten aus? - Dazu sage ich: Ja, auch das muss in diesen
Erstaufnahmeeinrichtungen gewährleistet werden . Das
ist kein Argument dafür, dass die Leute sofort im Land
verteilt werden müssen .
Im Übrigen: Wenn man gerade auf die Abschiebungen
schaut, die schon stattgefunden haben, ist es ja so, dass
sich unter den Abgeschobenen viele Menschen befinden,
die schon viele, viele Jahre hier in Deutschland ansässig
sind, die zum Teil über einen Arbeitsplatz verfügen, die
ihren eigenen Lebensunterhalt finanzieren können und
die angefangen haben, unsere Sprache zu lernen . Ich bin
der Auffassung, wenn wir zu einer härteren Gangart bei
den Ausweisungen kommen, wie es gefordert ist, dann
sollten wir auch Wege eröffnen, sodass diejenigen, die
schon lange hier sind und die schon begonnen haben,
sich zu integrieren, hier in diesem Land auch eine Bleibeperspektive haben . Alles andere macht keinen Sinn .
({14})
Dazu zählen im Übrigen auch die sogenannten Dublin-Fälle . Im Moment ist es so, dass die eine Abteilung versucht, Leute, die schon sehr lange hier sind, wieder zurück
nach Italien und bald auch nach Griechenland zu bringen .
Die nächste Abteilung an Beamten ist händeringend darum
bemüht, Leute aus Italien und bald auch aus Griechenland
nach Deutschland zu bringen . Wir bringen Leute zurück,
die angefangen haben, sich hier zu integrieren, und wir holen uns wieder Leute, die hier bei null anfangen . Das ist
doch ein neues Kapitel im Roman zu Schilda, das macht
keinen Sinn. Ein solches Verfahren müssen wir unbedingt
beenden, meine Damen und Herren .
({15})
Also, wir sind in der Passionszeit . Wenn man die Passion hört, dann ist da der Ruf des Volkes: „Kreuziget
ihn!“ Da sind wir heute weiter . Heute ruft man nur nach
einem neuen Gesetz . Das ist natürlich ein Fortschritt . Ob
jedes Gesetz ein Fortschritt ist, ist damit noch nicht gesagt . In jedem Fall gilt: Die Gesetze, die wir haben, und
die Gesetze, die wir jetzt verabschieden, muss man konsequent umsetzen, und dazu rufe ich Sie auf . Das ist das
Allererste, was wir tun müssen .
Vielen Dank.
({16})
Als nächste Rednerin spricht Luise Amtsberg für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Ich möchte erst einmal etwas Grundlegendes zu diesem Gesetzgebungsverfahren
sagen, weil es ja mittlerweile schon schlechte Tradition
dieser Bundesregierung und mit ihr leider auch der Fraktionen der Großen Koalition ist, sich eben nicht mehr
sorgfältig mit der Asylpolitik auseinanderzusetzen . Das
ist nicht nur für das Parlament eine Belastung; es ist auch
eine Belastung für die Behörden, die das alles ausführen
müssen. Es ist eine Belastung für die flüchtlingssolidarische Zivilgesellschaft, für die NGOs, vor allen Dingen
aber auch, verehrte Kolleginnen und Kollegen, für die
Geflüchteten selbst.
Diesem Gesetzentwurf ist ein Beschluss der Ministerpräsidentenkonferenz vorausgegangen . Der Referentenentwurf aus dem Bundesinnenministerium kam keine Woche später . Die Länder hatten noch nicht einmal
zwei Tage Zeit zur Stellungnahme . Jetzt soll das Gesetz
schnellstmöglich verabschiedet werden . Eine sorgfältige
Auseinandersetzung des Bundestages mit diesen Vorschlägen ist also kaum möglich; das ist meines Erachtens
offensichtlich. Gestern haben wir im Innenausschuss eine
Expertenanhörung für nächsten Montag beantragt, und
dies, obwohl wir erst heute die erste Lesung im Parlament haben und bei diesem Gesetz - das kann ich schon
einmal vorwegnehmen - die Eilbedürftigkeit überhaupt
nicht zu erkennen ist. Meine Fraktion empfindet dieses
Vorgehen als extrem befremdlich.
({0})
Wir haben gestern hier in diesem Hohen Hause alle
zusammen unserem ehemaligen, aber auch unserem amtierenden Bundespräsidenten zugeklatscht, als beide angemahnt haben, Demokratie und demokratische Spielregeln auch ernst zu nehmen, sie mit Leben, aber eben auch
mit Respekt zu füllen . Liebe Kolleginnen und Kollegen,
zu diesen demokratischen Spielregeln gehört aber eben
auch die parlamentarische Befassung mit Vorschlägen
der Bundesregierung . Weil wir Abgeordneten bei diesen
Abstimmungen unserem Gewissen unterworfen sind,
verpflichtet sind, gehört eben auch die Sorgfalt in einem
Gesetzgebungsverfahren dazu . Das kann ich hier leider
Gottes nicht erkennen .
({1})
Ich will nicht falsch verstanden werden: Es ist vollkommen in Ordnung, dass sich auch die Ministerpräsidenten gemeinsam mit der Bundeskanzlerin beraten und
Beschlüsse fassen . Wenn diese aber, in Gesetzesform
gegossen, anschließend im Galopp durch den Bundestag gejagt werden, dann entwertet dies den Bundestag als
Gesetzgebungsorgan, liebe Kolleginnen und Kollegen .
({2})
Deshalb noch einmal der Appell vor allen Dingen an
die SPD: Widersetzen Sie sich, wenn schon nicht inhaltlich, dann zumindest wegen der Form! Ich möchte
nur noch einmal daran erinnern, dass das Asylpaket II
ein ähnliches Verfahren hatte. In seiner Folge sind jetzt
Zehntausende Flüchtlinge von der Beschränkung beim
Familiennachzug betroffen. Gerade Sie, liebe Sozialdemokraten, beteuern doch jetzt, dass Ihnen diese Folge
damals überhaupt nicht klar gewesen sei . Also machen
Sie bitte nicht noch einmal denselben Fehler; denn dieses
vorliegende Gesetz versteckt eben auch eine ganze Reihe
von Tücken für die Rechte von allen Schutzsuchenden in
Deutschland .
({3})
Zum Inhalt: Es zielt vor allen Dingen darauf ab, die
Ausreisen und Abschiebungen zu beschleunigen . Was
dieser Gesetzesvorschlag dabei aber völlig außer Acht
lässt, ist, wie gut viele Menschen trotz ihres unsicheren
Aufenthalts in Deutschland bereits integriert sind . Einzelne Regelungen des Entwurfs zielen auf die Verhinderung eines effektiven Rechtsschutzes. Herr Bundesinnenminister, Sie haben gerade noch angemahnt, wie wichtig
dieser Schutz ist .
In dem Gesetzentwurf steht, dass Personen, die lange
in Deutschland geduldet gelebt haben, eben künftig nicht
mehr über anstehende Abschiebungen informiert werden
sollen . Sie werden in eine dauerhafte Unsicherheit versetzt, und es soll für Personen gelten, die an ihrer eigenen
Ausweisung trotz zumutbarer Anforderungen nicht mitgewirkt haben. Der Begriff „zumutbare Anforderungen“
wird überhaupt nicht definiert oder konkretisiert.
Der ohnehin von uns kritisierte Ausreisegewahrsam
ohne richterliche Zustimmung wird auf zehn Tage erhöht .
Das geplante Auslesen von Handys durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - das wurde schon angesprochen - kann letztendlich auch die privatesten Daten von Geflüchteten umfassen. Bei der Frage, wie weit
Behörden dabei gehen können, gibt es überhaupt keine
Konkretisierung. Meine Fraktion findet aber, dass die
strengen Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zum
Schutz der Privatsphäre eben nicht nur für Deutsche gelten, sondern für alle Menschen in Deutschland .
({4})
Geflüchtete sollen künftig noch länger in Sammelund Gemeinschaftsunterkünften untergebracht werden .
Weil die Gruppe, die es betreffen soll, im Gesetzestext
nicht klar definiert und umrissen ist, droht dies auch Kindern und ihren Familien . Wenn sie dauerhaft in Erstaufnahmeeinrichtungen untergebracht werden, dann wäre
einer großen Zahl von Kindern der Zugang zur Schule
verwehrt . Es geht noch weiter: Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge werden künftig schneller in Asylverfahren
gedrängt, anstatt endlich eine qualifizierte Rechtsberatung für diese besonders schutzbedürftige Gruppe vorzuschalten . In meinen Augen haben wir hier eine besondere
Verpflichtung. Dieser kommt der Gesetzentwurf überhaupt nicht nach . Deswegen können wir ihm in dieser
Form nicht zustimmen .
Herzlichen Dank .
({5})
Dr . Stephan Harbarth hat als nächster Redner das Wort
für die CDU/CSU-Fraktion .
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Kolleginnen und Kollegen! Ich bin der festen
Überzeugung: Mit dem Gesetz, über das wir heute diskutieren, legen wir einen wichtigen Entwurf vor zur Verbesserung der inneren Sicherheit in diesem Land, zur Verbesserung des Schutzes vor islamistischen Anschlägen,
aber auch zur Verbesserung der Ausreisepraxis derer, die
in Deutschland keinen Schutzstatus haben . Allein mit der
Pflicht zur freiwilligen Ausreise werden wir nicht weiterkommen . Wir müssen - Thomas de Maizière hat es unterstrichen - dort, wo keine freiwillige Ausreise erfolgt,
die Ausreisepflicht auch mit Zwang durchsetzen. Wenn
wir es hinnehmen, dass geltendes Recht breitflächig nicht
vollzogen wird, dann werden wir das Vertrauen der Menschen in den Rechtsstaat untergraben, und wir werden
ihre Unterstützung verlieren, wenn es um die Aufnahme
von Schutzbedürftigen geht .
Für uns als Union ist klar: Wer Schutz braucht, der
soll diesen Schutz auf Zeit in Deutschland auch bekommen . Deshalb ist genau das Gegenteil dessen richtig, was
Sie, Frau Pau, vorhin ausgeführt haben . Es ist falsch: Wir
schaffen mit dem Gesetzentwurf kein feindseliges Klima gegen Migranten und Schutzsuchende, sondern wir
schaffen die Voraussetzung dafür, dass die gesellschaftliche Akzeptanz für diejenigen erhalten bleibt, die tatsächlich Schutz benötigen .
({0})
Bei den Rückführungen geht es um ein ganz klares
Signal zur Begrenzung von Zuwanderung . Nur in dem
Maße, in dem ausreisepflichtige Ausländer unser Land
verlassen, wird deutlich, wer nicht schutzbedürftig ist .
Wer in Deutschland einen Asylantrag stellt, obwohl er
keine Aussicht auf einen Aufenthalt hat, sollte sich am
besten erst gar nicht auf den Weg in unser Land machen .
Unser prioritäres Ziel in der Union heißt: Zuwanderung
steuern, Zuwanderung begrenzen . Wer ein Bleiberecht
hat, darf auf Zeit bleiben . Wer kein Bleiberecht hat, muss
zeitnah in seine Heimat zurückkehren .
Wir möchten im parlamentarischen Verfahren vonseiten der Unionsfraktion auch an anderer Stelle noch
einmal um Unterstützung werben. Zur finanziellen Unterstützung derer, die nach Deutschland kommen, geben
wir jedes Jahr viele Milliarden Euro aus . Diese vielen
Milliarden Euro geben wir nicht nach dem Prinzip aus,
dass sich jeder einfach nehmen kann, was er gerne hätte,
sondern nach klar festgelegten Regeln, nach klar festgelegten Sätzen . Der allergrößte Teil der Asylbewerber hält
sich daran . Wir sind in den vergangenen Wochen aber
immer wieder auch mit Berichten über Asylbewerber
konfrontiert worden, die sich Sozialleistungen erschleichen . Wenn etwa ein Sudanese mit sieben verschiedenen
Identitäten in Deutschland unterwegs ist und ein Mann
aus Eritrea mit vier verschiedenen Identitäten, dann hat
dafür niemand Verständnis. Diese Fälle haben aber eines
gemeinsam: Sie haben im Augenblick keine aufenthaltsrechtlichen Konsequenzen . Deshalb möchten wir dafür
werben, dass Sozialbetrug künftig auch klare ausländerrechtliche Konsequenzen hat .
({1})
Dazu gehört erstens, dass wir die strafrechtliche Hürde absenken wollen, bei der jemand aus dem Asylverfahren ausgeschlossen wird . Dazu gehört zweitens, dass wir
uns auch noch einmal das Ausweisungsrecht ansehen .
Bei bestimmten Delikten wie etwa Angriffen gegen das
Leben, gegen die körperliche Unversehrtheit oder gegen
das Eigentum kann der Weg zum Ausschluss aus dem
Asylverfahren bereits ab einer Freiheitsstrafe von einem
Jahr eröffnet sein. Der Sozialbetrug fällt bisher nicht unter diese Regelungen . Das sollten wir korrigieren, um
ein ganz klares Signal zu senden: Wer unseren Schutz
benötigt, der kann in Deutschland Schutz und auch finanzielle Zuwendungen bekommen; aber wer unserem
Land auf der Nase herumtanzen will, dem werden wir
mit Entschiedenheit entgegentreten . - Dafür werden wir
als Unionsfraktion auch im parlamentarischen Verfahren
noch einmal werben .
({2})
Meine Damen und Herren, der Herr Innenminister hat
unterstrichen, dass es bei diesem wichtigen Gesetz nicht
„nur“ um die Rückführung von Migranten geht, sondern
es geht um eine ganze Reihe von wichtigen Maßnahmen
zur Verhinderung weiterer islamistischer Terroranschläge in Deutschland. Darunter befinden sich auch Maßnahmen, die Thomas de Maizière bereits im August des
vergangenen Jahres vorgeschlagen und zu denen er bereits im Oktober des vergangenen Jahres, weit vor dem
schlimmen Anschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz,
entsprechende Gesetzentwürfe vorgelegt hatte .
({3})
Lange Zeit war Thomas de Maizière, lange Zeit war
unsere Fraktion bei diesem Thema der einsame Rufer
in der Wüste . Ich glaube, es ist wichtig, dass kluge Sicherheitspolitik nicht nach dem Grundsatz „Aus Schaden
wird man klug“ verfährt, sondern dass gute Sicherheitspolitik nach dem Grundsatz verfährt, Gefahren richtig
einzuschätzen und im Vorfeld zu handeln. Deshalb wäre
es besser gewesen, wenn wir in der Koalition bereits im
vergangenen Jahr die Unterstützung dafür bekommen
hätten und nicht erst nach den Geschehnissen auf dem
Berliner Breitscheidplatz .
({4})
Meine Damen und Herren, die Erweiterung der Abschiebehaft für ausreisepflichtige Ausländer, von denen
eine erhebliche Gefahr für Leib und Leben Dritter oder
bedeutende Rechtsgüter der inneren Sicherheit ausgeht,
ist wahrlich keine Marginalie . Die Zahl dieser Gefährder
ist alles andere als gering . Derzeit geht die Polizei in den
Bundesländern davon aus, dass wir mehr als 100 ausreisepflichtige Ausländer haben, bei denen zu befürchten
steht, dass sie sich an politisch motivierten Straftaten von
erheblicher Bedeutung beteiligen und eine feste Funktion
in der islamistischen Szene einnehmen . Wir müssen gegen diesen Personenkreis in aller Konsequenz vorgehen .
Dazu leistet der vorgelegte Gesetzentwurf einen wichtigen Beitrag .
({5})
Ich danke dem Bundesinnenminister, freue mich auf
die parlamentarischen Beratungen und bin überzeugt,
dass wir hiermit einen wichtigen Schritt zur Verbesserung der Situation im Bereich der Ausreise abgelehnter
Ausländer, aber auch zur Bekämpfung des islamistischen
Terrorismus machen .
Herzlichen Dank .
({6})
Dr . Sebastian Hartmann hat als Nächster für die
SPD-Fraktion das Wort . - Ohne „Dr .“ .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin, auch aufgrund schlechter Erfahrungen hier im Plenum: Die Promotion ist in
meinem Fall nicht zutreffend.
({0})
Ich habe mich schon korrigiert .
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte
das, was verschiedene Vertreter hier im Plenum bereits
angesprochen haben, aufgreifen . Es ist auf den Fall Anis
Amri und den Anschlag am Breitscheidplatz Bezug genommen worden . Aber wir stehen auch unter dem Eindruck des Attentats, das sich gestern in der Nähe des Parlaments in London ereignet hat . Wir haben im Fernsehen
Opfer, Verletzte und traurige Bilder gesehen. Wir sind
schockiert und verurteilen dieses abscheuliche Handeln .
Die Attentate, die uns jeden Tag über die sozialen Medien erreichen, haben alle ein Ziel: Sie sollen uns ängstigen, uns zu bestimmten Handlungen veranlassen und
damit zu einer Veränderung unserer Denk- und Lebensweise führen . Es ist richtig, dass wir angesichts der Gewalt und der Taten, die wir an vielen Stellen der Welt erleben - im Übrigen auch in der Türkei oder im Irak, nicht
nur in Belgien oder in Großbritannien -, gegenüber den
wehrlosen Opfern nicht abstumpfen oder gar gleichgültig
werden, sondern dass uns das bewegt . Es ist für einen
demokratischen Rechtsstaat wichtig, dies deutlich zu machen . Aber wir müssen in aller Klarheit und aller Deutlichkeit auch sagen, dass die Terroristen das genaue Gegenteil dessen erreichen, was sie erreichen wollen . Denn
der demokratische, freie Rechtsstaat ist nicht schwach; er
ist stark . Unsere Gesellschaft ist zwar nicht immun gegen
Angst und Terror, aber wir sind mutig . Wir sind Demokraten und handeln - das ist ganz wichtig - stets auf der
Basis von Recht und Gesetz, und wir stellen uns auch
unserer internationalen und humanitären Verantwortung.
Das werden wir hier immer zu unserer Linie machen und
auch durchhalten .
Unser
Sie
- die Terroristen wollen den demokratischen Staat und das Vertrauen
der Bürger in unseren Staat aushöhlen . . . . Der Staat
muss darauf mit aller notwendigen Härte antworten .
Helmut Schmidt sagte uns auch: „Jeder weiß, dass es
eine absolute Sicherheit nicht gibt“, und er sagte, es
sei genauso klar: „Der Terrorismus hat auf Dauer keine
Chance“ .
Meine Damen und Herren, es bleibt das Ziel all unseren Handelns, größtmögliche Sicherheit zu organisieren
und alles für einen starken und handlungsfähigen Rechtsstaat - ich betone: Rechtsstaat - zu tun .
Ich glaube, dass wir angesichts der Diskussionen und
der notwendigen Gesetzesänderung, die wir jetzt vornehmen, eines noch einmal an den Anfang stellen müssen:
Deutschland ist eines der sichersten Länder dieser Welt,
und daran wird sich nichts ändern . Hierfür haben wir gehandelt, und hierauf können wir stolz sein .
({0})
Es bleibt auch richtig: Damit das so bleibt, haben wir
eine Vielzahl von Gesetzen angepackt und Veränderungen vorgenommen. Die Verbesserung der Videoüberwachung wurde hier mit breiter Mehrheit beschlossen . Wir
haben ein Gesetz zum Schutz unserer Einsatzkräfte und
vieles mehr beschlossen, wir gehen gegen die organisierte Kriminalität vor, und wir verbessern den Informationsaustausch . All das haben wir getan .
Daneben haben wir den Stellenausbau vorangetrieben und entgegen dem alten Mantra der Neoliberalen
gehandelt, Stellen abzubauen und den Staat mit wenigen
Stellen schwach zu machen . Nein, wir haben gesagt: Wir
wollen mehr Stellen in Polizei- und Sicherheitsbehörden
haben . Auch das haben wir getan .
({1})
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf werden wir zu
zwei Punkten kommen . - Lieben Dank, Frau Kollegin
Amtsberg .
({2})
Wir befinden uns am Anfang des Gesetzgebungsverfahrens, und man muss das manchmal auch entsprechend
einordnen dürfen .
Wir reden über die Gefahrenabwehr und eine verbesserte Durchsetzung des Aufenthaltsrechtes . Es ist wichtig, dass wir hier einen Unterschied machen und einem
bestimmten Fehler nicht erliegen . Es gibt nämlich einen
großen Unterschied zwischen einem Flüchtling und einem Terroristen. Der Flüchtling flieht vor dem Terroristen, und er wird nicht durch sein Flüchtling-Sein zu
einem Terroristen . Ganz viele der Flüchtlinge - 99,9 Prozent - wollen Schutz vor dem Terror, und dem werden
wir weiterhin gerecht werden .
({3})
Wir müssen hier aber auch unterscheiden . Es gibt eine
gewisse Zahl an hochgefährlichen Menschen, die zwar
vollziehbar ausreisepflichtig sind, die wir aber nicht abschieben können . Darauf muss der Staat reagieren können . Die Zahlen sind genannt worden, und wir werden
das in Zukunft mit diesem Gesetz auch tun können .
Eine Person darf bisher nur dann in Ausreisehaft genommen werden, wenn die Ausreise innerhalb von drei
Monaten realistisch ist, und ich wende mich jetzt auch
einmal an die Kolleginnen und Kollegen, die es sich mit
ihrer Argumentation vielleicht etwas einfach gemacht
haben .
Hier darf man nämlich einem Fehler nicht erliegen:
Es wird die Argumentationslinie aufgemacht, man hätte
den Herrn Anis Amri mal eben in Haft nehmen können,
obwohl man wusste, dass er nach dem Gesetz nicht innerhalb der nächsten drei Monate abgeschoben werden
kann . Man muss sich hier bei der Argumentation entscheiden . Hat man das Gesetz nicht entsprechend aufbereitet, sodass man ihn nicht in Haft nehmen konnte?
Dann muss man es heute ändern . Und man darf den verantwortlichen Sicherheitsbehörden der Länder nachher
nicht unterstellen - dieser Vorwurf ist im Innenausschuss
ja auch gemacht worden -, man hätte das auf Verdacht
tun können . Nein, auch die Sicherheitsbehörden - die
Exekutive - sind stets an Recht und Gesetz gebunden .
Sie müssen sich aber, wie alle Mitbürgerinnen und Mitbürger in diesem Land, darauf verlassen können, dass
wir dann, wenn wir diese Lücken erkennen, das Gesetz
entsprechend anpassen, und darum geht es . Wir werden
das ausweiten .
({4})
Es geht nicht darum, pauschal jeden Ausländer zu treffen . Ein Asylverfahren kann damit ausgehen, dass man
Asyl oder ein Recht zum Aufenthalt erhält oder nicht .
Es gibt aber auch Menschen, die sich in unserem Land
nichts zuschulden kommen lassen und trotzdem abgeschoben oder zur Ausreise bewegt werden müssen .
Herr Innenminister, wir werden der freiwilligen Rückkehr natürlich immer den Vorrang einräumen, damit wir
aufgrund der hohen Zahlen auch zu guten Ergebnissen
kommen . Unter denjenigen, die wir abschieben müssen,
gibt es aber eine kleine, genau identifizierbare gefährliche Gruppe, die wir uns anschauen müssen . Diese müssen wir in den Fokus nehmen, wenn es darum geht, eine
Abschiebehaft zu verhängen . Wir müssen den Schutz der
Allgemeinheit sicherstellen und dafür sorgen, dass von
dieser Gruppe keine Gefahr für die körperliche Unversehrtheit und das Leben der Menschen ausgeht . Meine
Damen und Herren, ich glaube, das ist gut vertretbar . Darauf können wir uns im Gesetzgebungsverfahren verständigen .
({5})
Es ist nicht so, wie immer unterstellt wird, dass man
eine pauschale Verschärfung einfach so vornimmt. Der
Deutsche Richterbund sagt hierzu:
Dies geschieht, indem weitere Sonderregelungen
für Ausländer geschaffen werden, von denen eine
Gefahr für die öffentliche Sicherheit sowie Leib und
Leben ausgeht . In Ansehung der erheblichen und
konkreten Gefahren, die sich in der jüngeren Vergangenheit auch teilweise realisiert haben, stellen
wir diese rechtssystematischen Bedenken jedoch
zurück und stimmen den Regelungen zu .
Auch diejenigen, die bisher eine kritische Positionierung zu bestimmten Fragen der Innenpolitik eingenommen haben, sagen: An dieser Stelle wird mit Augenmaß
gehandelt . Wir können dieser Gesetzesverschärfung
zustimmen . - Ich glaube, dass das dazu einladen sollte,
eine möglichst breite Mehrheit für diese Regelungen zu
schaffen, um die Menschen in unserem Land zu schützen . Dies gilt auch für die Menschen, die in jüngster Zeit
zu uns gekommen sind und Schutz vor Terror und Gewalt
suchen, liebe Kolleginnen und Kollegen .
({6})
Wir werden im Gesetzgebungsverfahren aber auch
kritische Punkte ansprechen müssen . Ja, jedem, der von
diesen Maßnahmen betroffen ist und möglicherweise in
Abschiebehaft genommen wird, muss der Rechtsweg
in allen Fällen offenstehen. Richtervorbehalte sind angesprochen worden . Hier haben wir die Stellungnahme
des Bundesrates zur Kenntnis genommen . Wir stehen am
Anfang eines Gesetzgebungsverfahrens, in dem Anhörungen folgen werden .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dafür sind wir im
parlamentarischen Verfahren verantwortlich. Es ist unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, dass Deutschland so bleibt,
wie es ist: eines der sichersten Länder der Welt . Darauf
können sich die Menschen, liebe Mitbürgerinnen und
Mitbürger, auch auf den Tribünen, verlassen . Das ist unsere Aufgabe .
Danke .
({7})
Vielen Dank. - Jetzt hat der Kollege Volker Beck,
Bündnis 90/Die Grünen, das Wort .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lassen
Sie mich eines vorwegschicken: Es wurde von Rednern
der Großen Koalition, zunächst vom Bundesinnenminister, betont - diese Auffassung teile ich -, dass viele
Menschen hierherkommen, die einen Aufnahmegrund
und damit einen Schutzanspruch haben, weil sie verfolgt
sind . Diesen Schutzanspruch wollen wir verwirklichen .
Wir müssen darauf achten - auch das möchte ich Ihnen
sagen -, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge nicht widerrechtliche Bescheide erstellt, durch die
bestimmte Verfolgungsschicksale ignoriert werden, und
dass diese Fehler erst im Rahmen der Rechtsprechung
korrigiert werden .
Es gibt aber auch Menschen, die hierherkommen und
Asyl beantragen, obwohl sie nicht verfolgt werden und
keinen Grund haben, hierzubleiben . Wir sind uns selbstverständlich einig, dass die Menschen, die keinen Grund
haben, hierzubleiben, das Land verlassen sollen und
müssen . Wir können und sollen rechtsstaatlich alles tun,
was dies befördert .
Der Dissens zeigt sich da, wo es um Regelungen geht,
die an der Verfassungswidrigkeit vorbeischrammen, oder
wo wir über rein symbolische Rechtspolitik reden . Genau das machen Sie hier . Sie tun so, als ob Sie auf den
schrecklichen Anschlag auf dem Breitscheidplatz, auf
den Fall Amri, rechtspolitisch reagieren würden . Ich habe
erstmals nach Ihrer Rede, Herr Castellucci, verstanden,
warum Sie diesen komischen Regelungsvorschlägen zustimmen wollen: Sie wollen den Eindruck erwecken, es
sei gar nichts schiefgelaufen, es sei alles wunderbar gewesen, und es hätte nur an Gesetzen gefehlt .
({0})
Es hat aber nicht an Gesetzen gefehlt, sondern an Kooperation und an konsequenter Anwendung des geltenden
Rechts .
Natürlich ist der Fall Amri nach § 2 Absatz 14 Ziffern
1 bis 3 des Aufenthaltsgesetzes einschlägig. Die Voraussetzungen zur Verhängung von Abschiebungshaft haben
in diesem Fall eindeutig bestanden . Es gab aber keinen
Informationsaustausch, in dessen Verlauf man hätte sagen können: Angesichts der Voraussetzungen wenden
wir dieses Gesetz an, weil die Abschiebungshaft in diesem Fall sinnvoll ist .
({1})
Die Frage, die sich dann im Fall Amri stellt - an diesem Dilemma ändern Sie mit Ihren Regelungen zur Gefährderhaftung überhaupt nichts -, ist, ob die Voraussetzungen für Abschiebungshaft nach der Rechtsprechung
des Bundesverfassungsgerichts gegeben sind . Abschiebungshaft ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nur dann zulässig - sie ist eben keine
Strafhaft, und es gibt im deutschen Recht auch keine
Präventivhaft -, wenn sie unmittelbar der Durchführung
einer Abschiebung dienlich ist . Deshalb ist der neue
Haftgrund, den Sie schaffen, rechtlich weiße Salbe, weil
damit dieses Dilemma in einem Rechtsstaat nicht aufgelöst werden kann .
Ja, wir wollen jeden Gefährder loswerden; aber was
ein Gefährder ist, ist sehr schwer zu definieren. Am Ende
ist das eine Prognose in die Zukunft . Deshalb ist man in
den rechtlichen Einwirkungsmöglichkeiten beschränkt,
solange diese Leute keine konkreten Straftaten begangen
haben, sondern wir das nur glauben und ihnen zutrauen,
dass sie diese begehen .
Wenn Sie nach drei Monaten aufgrund der Voraussetzungen zu dem Ergebnis kommen, die Abschiebung
konnte nicht durchgeführt werden, dann wird Ihnen die
Verlängerung um weitere drei Monate, die Sie hier im
Gesetz schaffen, nicht viel helfen, weil die Rechtsprechung Sie korrigieren wird . Das Bundesverfassungsgericht wird am Ende darauf achten, dass jemand, der unschuldig ist, nicht einfach dauerhaft in Haft genommen
werden kann, wenn es keine Abschiebungsaussicht gibt .
Deshalb müssen Sie Ihre Hausaufgaben machen . Sie
müssen mit den Herkunftsländern reden, auf dass diese
die Betroffenen zurücknehmen. Das sind die Aufgaben;
aber an diesem Dilemma ändert dieser Gesetzentwurf
einfach kein Jota .
({2})
Ähnlich absurd ist das bei Ihrer Fußfesselregelung .
Der Hersteller aus Israel selbst, Herr Leo Milstein, der
diese Sachen gern an uns verkauft, sagt, er habe den
Eindruck, dass die Deutschen nicht richtig verstanden
hätten, wo man Fußfesseln anwenden kann . Im Rahmen
der Bewährungsauflage haben die Delinquenten selber
ein Interesse, statt in Haft zu bleiben, in die Freiheit, zur
Familie, zur Arbeit zu kommen und sind deshalb kooperationswillig . Wie will man die islamistisch motivierte
Person dazu motivieren, hier zu kooperieren? Sie hat
doch ein gegenläufiges Interesse. Die Praxis hat es tragischerweise vor Augen geführt: Bei dem Attentat von
Saint-Étienne-du-Rouvray trug einer der beiden Attentäter eine Fußfessel . Dieses Attentat konnte damit nicht
verhindert werden . Selbst Ihr eigenes BKA sagt Ihnen,
dass das, was Sie hier vorhaben, nicht geeignet ist .
Deshalb: Lassen Sie uns das im Ausschuss noch einmal gründlich anschauen . Wir sollten bei den Bürgern
nicht den Eindruck erwecken, dass man mit Druckerschwärze in Gesetzen Terrorismus wirklich wirksam bekämpfen kann . Wir wollen alle gemeinsam
Herr Kollege .
- ich komme zum Schluss -, dass die, die nicht hier
sein dürfen, gehen müssen, und wir wollen alles für die
Sicherheit unseres Landes tun .
({0})
Ein Beitrag zu diesen beiden Zielen ist dieser Gesetzentwurf sicherlich nicht .
({1})
Vielen Dank. - Jetzt hat der Kollege Stephan Mayer
für die CDU/CSU-Fraktion das Wort .
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Zunächst einmal zu Ihnen, lieber Kollege Castellucci, nachdem Sie so freundlich waren, mein klares Plädoyer für eine härtere Gangart
in Sachen Abschiebungen zu erwähnen: Sie haben in einem Punkt recht . In diesem Jahr, in den ersten zwei Monaten, liegt Bayern nicht ganz an der Spitze der Bundesländer, was das Thema Abschiebungen anbelangt . Aber
was Sie geflissentlich unterschlagen haben, zu erwähnen,
ist, dass beispielsweise das Land Nordrhein-Westfalen,
das in diesem Jahr schon etwas mehr Personen abgeschoben hat als Bayern, fast fünfmal so viele ausreisepflichtige Personen im Land hat, die mit einer Duldung
versehen sind. Knapp 48 000 Personen befinden sich im
Land Nordrhein-Westfalen, die an sich das Land heute
verlassen müssten, aber mit einer Duldung versehen sind .
In Bayern sind es nur etwas mehr als 10 000 Personen .
Um es auf Deutsch und klar zu sagen: Es ist keine Kunst,
in der Zahl der Abschiebungen etwas über Bayern zu liegen, wenn man in den letzten Jahren das Thema Abschiebungen total verpennt hat,
({0})
wenn man wie die nordrhein-westfälische Landesregierung über Jahre hinweg das Thema Abschiebungen stiefmütterlich behandelt hat .
({1})
Herr Kollege Castellucci, ich habe aber auch eine gute
Botschaft für Sie: Seitdem in Ihrem Heimatbundesland
wieder ein CDU-Landesinnenminister das Sagen hat,
sind zumindest die Abschiebungen in Baden-Württemberg innerhalb der letzten zwölf Monate deutlich gestiegen . Das ist ein gutes Signal .
({2})
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, wir
haben heute endlich die erste Lesung dieses wichtigen
Gesetzes . Ich sage deshalb „endlich“, weil zur Wahrheit
auch gehört, dass dieser Gesetzentwurf nicht nur die
Konsequenz und die Schlussfolgerung der Erfahrungen
des Anschlags vom Breitscheidplatz ist, sondern dass ein
Großteil dieses Gesetzes auf Vorschläge des Bundesinnenministers zurückgeht, die er am 11 . August letzten
Jahres gemacht hat, nach den Anschlägen von Ansbach, Würzburg und München . Dazu gehört auch, dass
ein Großteil der Inhalte dieses Gesetzentwurfs bereits
Anfang Oktober letzten Jahres in einen Gesetzentwurf
eingeflossen ist, der zum Beispiel den besonderen Haftgrund für Gefährder und die Verlängerung des Ausreisegewahrsams auf zehn Tage vorgesehen hat .
Leider hat unser Koalitionspartner diesem Gesetzentwurf bislang nicht zustimmen können . Das ist die bedauerliche Nachricht . Die gute Nachricht ist, dass wir heute
endlich die erste Lesung haben .
({3})
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, erlauben Sie mir, darauf gerade in Zeiten hinzuweisen, in
denen der neue SPD-Vorsitzende wie vor wenigen Wochen in einer bemerkenswerten Rede sinngemäß behauptet, die Gefährdungssituation in Deutschland sei deshalb
so prekär, weil die Union den Bundesinnenminister stellt,
und es weitaus besser wäre, wenn endlich die SPD wieder den Bundesinnenminister stellen würde .
({4})
Eine klare Antwort von mir darauf: Garant für die innere
Sicherheit ist die CDU/CSU . In Sachen Innenpolitik und
in Sachen Sicherheitspolitik macht uns, der CDU/CSU,
niemand etwas vor .
({5})
Es ist richtig, dass mit diesem Gesetzentwurf die
Voraussetzungen dafür erleichtert werden, dass ausreisepflichtige Personen, von denen eine unmittelbare Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht,
schneller außer Landes gebracht werden können . Um
auch das einmal klar zu sagen: Wir haben in Deutschland
ungefähr 150 Personen der Preisklasse von Anis Amri,
entweder Gefährder oder relevante Personen, die ausreisepflichtig sind, sprich: die unser Land jetzt verlassen
müssten, dies aber nicht tun, weil sie sich renitent verhalten und weil sie bei der Identitätsfeststellung oder bei
der Passersatzbeschaffung nicht mitwirken. Es ist richtig,
dass wir jetzt einen eigenen Haftgrund für diese ausreisepflichtigen Personen schaffen.
Lieber Herr Kollege Hartmann, Sie haben darauf hingewiesen, dass möglicherweise ein Widerspruch dazu
besteht, dass wir richtigerweise behaupten, dass das Land
Nordrhein-Westfalen schon von der jetzigen Rechtslage
hätte Gebrauch machen können, indem man Anis Amri
im August letzten Jahres in Abschiebehaft hätte nehmen
können .
({6})
Das stimmt . Ich bin auch der festen Überzeugung, dass
es eine Unterlassung war, dass man Anis Amri nicht in
Abschiebehaft genommen hat. Denn die materiellen Voraussetzungen dafür sind schon jetzt vorhanden .
Deswegen stimmt die Aussage, man hätte Anis Amri
in Abschiebehaft nehmen können . Aber genauso richtig
ist die Aussage, dass wir trotzdem gesetzliche Verbesserungen vornehmen müssen, um es den AusländerbehörVolker Beck ({7})
den zu erleichtern, in derartigen Fällen die Abschiebehaft
zu beantragen. Denn die Vergangenheit hat leider gezeigt, dass viele Ausländerbehörden vor diesem Antrag
zurückgeschreckt haben, weil nicht sicher war, dass sie
innerhalb von drei Monaten die konkrete Ausreise hätten
bewirken können . Ich möchte aber dazusagen, dass diese Dreimonatsfrist auf Fälle wie Anis Amri nicht zutrifft,
weil Anis Amri sich renitent verhalten und seine nicht
erfolgte Ausreise selbst verschuldet hat .
({8})
Es ist deshalb richtig, dass wir diese deutlichen
Verschärfungen vornehmen. Wir haben derzeit über
213 000 ausreisepflichtige Personen in Deutschland. Viele können deshalb nicht abgeschoben werden, weil ihre
Identität nicht zweifelsfrei festgestellt werden kann .
Ich möchte noch etwas zu dem Thema Auslesen des
Mobilfunkgeräts sagen. Ich habe überhaupt kein Verständnis für die aus meiner Sicht sehr künstliche Erregung und Entrüstung über diese gesetzliche Änderung .
Es ist doch das Normalste in der Welt, dass man im
Notfall alle Möglichkeiten auch unter Hinzuziehung des
Handys nutzt, um die Identität einer Person festzustellen .
({9})
Dabei geht es nicht darum, meine lieben Kolleginnen und
Kollegen von der Opposition, in die Intimsphäre des Betroffenen einzudringen, sondern es geht zum Beispiel nur
darum, mit welchen Telefonnummern derjenige in der
Vergangenheit häufiger Kontakt hatte, sprich: Hat er mit
Tunesien telefoniert? Hat er mit Ägypten telefoniert? Hat
er mit Marokko telefoniert?
Es geht nicht darum, auf den Inhalt der Telekommunikation bzw. der SMS-Nachrichten Zugriff zu nehmen,
sondern es geht schlichtweg nur darum, die Identität festzustellen. Ich sage ganz offen: Ich habe kein Verständnis
dafür, dass der Großteil der Migranten, die derzeit zu uns
kommen, nicht über einen Pass verfügen, aber fast alle
über ein Handy .
({10})
Deshalb ist es aus meiner Sicht nur konsequent, dass wir
diese Handys zurate ziehen, um die Identität desjenigen
feststellen zu können .
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, wir
müssen und werden dieses Gesetzgebungsvorhaben in
der notwendigen Seriosität durchführen . Ich sage aber
am Ende meiner Rede sehr ernsthaft und bewusst dazu:
Gerade angesichts der immanent großen Bedrohungssituation, in der sich unser Land befindet, dürfen wir uns
nicht zu viel Zeit lassen . Ich habe bereits darauf hingewiesen: Ein Großteil der Inhalte geht bereits auf einen
Gesetzentwurf vom Oktober letzten Jahres zurück . Deshalb ermahne ich uns zu der gebotenen Zügigkeit und
Eile bei diesem wichtigen Gesetzgebungsvorhaben .
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit .
({11})
Danke schön . - Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt hat jetzt die Kollegin Nina Warken,
CDU/CSU-Fraktion, das Wort .
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die vergangenen beiden Jahre waren für uns alle,
für unser Land und unsere Bürgerinnen und Bürger, eine
große Herausforderung . Hunderttausende Menschen aus
vielen Teilen der Erde haben in unserem Land Schutz
und Zuflucht gesucht. Für uns als Union ist klar: Als reiches Land und als christliches Land wollen und werden
wir Menschen in Not helfen . Aber ebenso klar ist für uns,
dass wir die Not der Welt nicht allein mit den Mitteln
des deutschen Asylrechts werden beheben können . Deshalb besagen das Grundgesetz und unsere Gesetze ganz
bewusst nicht, dass jeder Mensch auf der ganzen Welt
ein Recht darauf hat, in Deutschland zu leben . Unser
Asylrecht schert gerade nicht alle Menschen über einen
Kamm, sondern enthält ausdifferenzierte Regelungen
und nimmt den Einzelfall, den einzelnen Menschen und
seine individuelle Situation, in den Blick . Beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge wird deswegen nicht
nach Schema F entschieden, sondern mit Dolmetschern
und Gutachtern großer Aufwand betrieben, um in einem
rechtsstaatlichen Verfahren für jeden einzelnen Antrag
eine gerechte Entscheidung treffen zu können.
Weil es sich dabei oft um schwierige Abwägungsfragen handelt und die Entscheidung für den Einzelnen eine
enorme Tragweite hat, ist es für uns als Rechtsstaat eine
Selbstverständlichkeit, dass man diese Entscheidung vor
Gericht überprüfen lassen kann . Jeder Flüchtling hat das
Recht, vor das Verwaltungsgericht zu ziehen, dann gegen dessen Entscheidung Rechtsmittel einzulegen und
schließlich sogar eine Verfassungsbeschwerde zu erheben . Das ist ein Maß an Rechtsschutz, das auf der ganzen
Welt seinesgleichen sucht . Wenn aber dann am Ende eine
rechtskräftige Entscheidung steht, dann gilt sie, und zwar
auch dann, wenn sie irgendwelchen linken Aktivisten
nicht gefällt .
({0})
Natürlich ist es richtig, den ausreisepflichtigen Menschen
Perspektiven in ihrer Heimat aufzuzeigen und finanzielle
Starthilfe anzubieten . Wenn jemand aber trotz alledem
nicht freiwillig zur Ausreise bereit ist, dann muss unser
Staat die Ausreisepflicht durchsetzen. Nur so erhalten
wir das Vertrauen in unseren Rechtsstaat und die gesellschaftliche Akzeptanz unseres Asylrechts aufrecht .
Der vorliegende Gesetzentwurf ist ein weiterer kluger Baustein in einer vernünftigen Flüchtlingspolitik .
Wenn wir die Zahlen sehen - es gibt gegenwärtig über
200 000 Ausreisepflichtige in unserem Land -, dann müssen wir feststellen, dass Handlungsbedarf besteht . Wenn
wir etwa sehen, dass manch ein Geduldeter seine Rückführung gezielt hintertreibt, indem er falsche Angaben zu
seiner Person oder zu seiner Staatsangehörigkeit macht
oder bei der Ausräumung von Ausreisehindernissen nicht
mitwirkt, dann wissen wir, dass wir hier ansetzen und
Stephan Mayer ({1})
den Aufenthalt für diese Menschen räumlich einschränken müssen . Wer unsere Hilfe will, von dem können und
dürfen wir Ehrlichkeit und Mitwirkung erwarten, und das
müssen wir als Gesellschaft auch einfordern . Dies bedeutet auch, dass ein Flüchtling nicht nur mit den Schultern
zuckt und sagt, er habe seinen Ausweis verloren, sondern
dass er den Behörden die Möglichkeit gibt, seine Angaben zu überprüfen . Deshalb ist es in Zeiten der mobilen
Kommunikation sinnvoll und erforderlich, dass die Daten auf Smartphones und anderen mobilen Datenträgern
überprüft werden . Daraus können sich Hinweise ergeben,
woher jemand tatsächlich kommt . Dass der vorliegende
Gesetzentwurf eine entsprechende Mitwirkungspflicht
der Asylbewerber vorsieht, ist deshalb folgerichtig . Das
unterstützen wir .
({2})
Wenn die zuständigen Behörden die Erfahrung machen, dass sich manche Ausreisepflichtige ihrer Rückführung entziehen, dann ist es genau der richtige Ansatz, die
Höchstdauer des Ausreisegewahrsams zu verlängern, sodass wir dieser Leute dann habhaft sind, wenn der Flieger
abhebt . Eines ist ganz klar: Obwohl wir besser geworden
sind, werden wir im bisherigen Tempo nicht vorankommen . Eine gemeinsame Kraftanstrengung von Bund und
Ländern ist notwendig . Während sich etwa die rot-grüne Landesregierung in Schleswig-Holstein aus der Verantwortung stiehlt und mit pauschalen Abschiebestopps
populistische Wahlkampfmanöver durchführt, verbessert
der Bund mit dem Gesetz die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Länder, und das ist richtig so .
({3})
Bei alldem ist eines auch klar: Wer unter dem Deckmantel des Asylrechts nach Deutschland kommt, um hier
unsere innere Sicherheit zu gefährden, und wer damit die
große Mehrheit der friedlichen Flüchtlinge in Misskredit
bringt, dem zeigen wir klar die Rote Karte . Wir sind ein
offenes und ein hilfsbereites Land, aber wir sind auch ein
starker Staat, der die Sicherheit seiner Bürger zu schützen hat .
Genau aus diesem Grund erweitern wir die Möglichkeit der Abschiebehaft für Gefährder, für Menschen, von
denen eine große Gefahr für Leib und Leben unserer Bürgerinnen und Bürger ausgeht . Solche Menschen wollen
wir nicht in unserem Land . Bis zu ihrer Abschiebung gehören diese Leute nicht auf die Straßen unserer Städte,
sondern hinter Gitter .
({4})
Für die Fälle, in denen es für einen Haftbefehl nicht
ausreicht, schaffen wir die Möglichkeit der elektronischen Fußfessel, damit unsere Behörden wissen, wo sich
diese Gefährder aufhalten, und damit die Gefährder wissen, dass wir sie im Blick haben . Damit schützen wir unsere Bevölkerung, damit gewährleisten wir die Rückführung, und damit senden wir ein ganz klares Signal, dass
wir einen Missbrauch unserer Freiheit nicht dulden werden . Dieses Signal wollen wir heute mit diesem Gesetzentwurf setzen . Ebenso erwarten wir von den Ländern,
dass sie das Ihre tun und Recht und Gesetz umsetzen .
Wir, die Union, sind entschlossen, die vor uns liegenden Herausforderungen besonnen, vor allem aber auch
konsequent anzugehen . Ich lade Sie herzlich ein, das Gesetz zügig auf den Weg zu bringen .
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Damit ist die Ausspra-
che beendet .
Zwischen den Fraktionen wurde vereinbart, den Ge-
setzentwurf auf Drucksache 18/11546 an die Ausschüsse
zu überweisen, die in der Tagesordnung aufgeführt sind .
Haben Sie dazu anderweitige Vorschläge? - Ich sehe, das
ist nicht der Fall . Dann ist so beschlossen .
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 34 a bis 34 k sowie
Zusatzpunkte 1 a bis 1 d auf:
34 . a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung des Rechts der
Umweltverträglichkeitsprüfung
Drucksache 18/11499
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 11. Juli 2016
zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der
Arabischen Republik Ägypten über die
Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich
Drucksache 18/11508
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu
dem Abkommen vom 26. September 2016
zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der
Tunesischen Republik über die Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich
Drucksache 18/11509
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({2})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes
zur Änderung des Strafgesetzbuches Nina Warken
Stärkung des Schutzes von Vollstreckungsbeamten und Rettungskräften
Drucksache 18/11547
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz ({3})
Innenausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Gesundheit
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Abkommen vom 29. August 2016
zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Turkmenistan zur Vermeidung
der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet
der Steuern vom Einkommen und vom
Vermögen
Drucksache 18/11557
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({4})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 8. Dezember
2016 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Agentur für Flugsicherheit über
den Sitz der Europäischen Agentur für
Flugsicherheit
Drucksache 18/11558
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur ({5})
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
g) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Gesetzes zur Verbesserung der personellen Struktur beim
Bundeseisenbahnvermögen und in den
Postnachfolgeunternehmen sowie zur
Änderung weiterer Vorschriften des Postdienstrechts
Drucksache 18/11559
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({6})
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
h) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches - Ausweitung des Maßregelrechts
bei extremistischen Straftätern
Drucksache 18/11584
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz ({7})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
i) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Inge Höger, Wolfgang Gehrcke, Jan van
Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Atomwaffen aus Deutschland abziehen
und Neustationierung stoppen
Drucksache 18/6808
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({8})
Verteidigungsausschuss
j) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Ralph Lenkert, Caren Lay, Herbert Behrens,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Abschaffung der Zeitumstellung
Drucksache 18/10697
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({9})
Petitionsausschuss
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
k) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Klaus Ernst, Matthias W . Birkwald, Susanna
Karawanskij, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion DIE LINKE
Einen armutsfesten gesetzlichen Mindestlohn sicherstellen
Drucksache 18/11599
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({10})
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
ZP 1 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Ausführung der Anlage VI des Umweltschutzprotokolls zum Antarktis-Vertrag
vom 14. Juni 2005 über die Haftung bei
umweltgefährdenden Notfällen ({11})
Drucksache 18/11529
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit ({12})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Anlage VI des Umweltschutzprotokolls
zum Antarktis-Vertrag vom 14. Juni 2005
über die Haftung bei umweltgefährdenden
Notfällen ({13})
Drucksache 18/11530
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit ({14})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Friedrich Ostendorff, Nicole Maisch, Harald
Ebner, weiterer Abgeordneter und der Frakti-
on BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Einrichtung eines Bundesprogramms „Zu-
gang zu Land - Chancen für neue Betriebe
ermöglichen“
Drucksache 18/11601
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Kordula Schulz-Asche, Maria KleinSchmeink, Dr . Harald Terpe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Arzneimittelversorgung an Bedürfnissen
der Patientinnen und Patienten orientieren - Heute und in Zukunft
Drucksache 18/11607
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({15})
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Es handelt sich hierbei um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen . - Ich sehe, Sie sind damit einverstanden .
Dann ist so beschlossen .
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 35 a bis 35 h sowie
Zusatzpunkt 2 auf . Auch hier handelt es sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist .
Tagesordnungspunkt 35 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung der Aufbewahrung von
Notariatsunterlagen und zur Einrichtung des
Elektronischen Urkundenarchivs bei der Bundesnotarkammer
Drucksache 18/10607
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz ({16})
Drucksache 18/11636
Durch die Einrichtung eines Elektronischen Urkundenarchivs wird die Möglichkeit eröffnet, die Aufbewahrungsfrist für parallel in Papierform aufzubewahrende
Notariatsunterlagen zu verkürzen . Dies soll zu einer Entlastung der angespannten Lagerkapazitäten bei Notaren,
Amtsgerichten und Staatsarchiven beitragen . Außerdem
wird die Zuständigkeit für die Verwahrung von Notariatsunterlagen nach Erlöschen des Amtes oder Verlegung
des Amtssitzes neu geregelt .
Darüber hinaus beinhaltet der Gesetzentwurf in der
Fassung des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz auch Änderungen des Rechtspflegergesetzes, des
Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in
den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit sowie der Grundbuchordnung .
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/11636, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf Drucksache 18/10607 in der Ausschussfassung anzunehmen . Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen . - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung mit den Stimmen aller Fraktionen angenommen .
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung . Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben . Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit angenommen .
Tagesordnungspunkt 35 b:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Energie ({17}) zu der Verordnung der Bundesregierung
Siebte Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung
Drucksachen 18/10829, 18/10924 Nr. 2.2,
18/11214
Der Ausschuss empfiehlt, die Aufhebung der Verordnung auf Drucksache 18/10829 nicht zu verlangen . Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen .
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses, Tagesordnungspunkte 35 c bis 35 h .
Tagesordnungspunkt 35 c:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({18})
Sammelübersicht 416 zu Petitionen
Drucksache 18/11422
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Sammelübersicht 416 ist einstimmig angenommen .
Tagesordnungspunkt 35 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({19})
Sammelübersicht 417 zu Petitionen
Drucksache 18/11423
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Sammelübersicht 417 ist einstimmig angenommen .
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
Tagesordnungspunkt 35 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({20})
Sammelübersicht 418 zu Petitionen
Drucksache 18/11424
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Sammelübersicht 418 ist einstimmig angenommen .
Tagesordnungspunkt 35 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({21})
Sammelübersicht 419 zu Petitionen
Drucksache 18/11425
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Sammelübersicht 419 ist gegen die Stimmen
der Fraktion Die Linke mit den Stimmen des Hauses im
Übrigen angenommen .
Tagesordnungspunkt 35 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({22})
Sammelübersicht 420 zu Petitionen
Drucksache 18/11426
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Sammelübersicht 420 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke
angenommen .
Tagesordnungspunkt 35 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({23})
Sammelübersicht 421 zu Petitionen
Drucksache 18/11427
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Sammelübersicht 421 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenommen .
Ich rufe den Zusatzpunkt 2 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen
Drucksache 18/11140
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz ({24})
Drucksache 18/11638
Mit diesem Gesetzentwurf soll die strafrechtliche
Zusammenarbeit mit Island und Norwegen verbessert
werden . Dazu werden die erforderlichen Ausführungsbestimmungen zu dem Übereinkommen vom 28 . Juni 2006
zwischen der Europäischen Union einerseits und Island
und Norwegen andererseits geschaffen, um das Auslieferungsverfahren und den Durchlieferungsverkehr an das
innerhalb der Europäischen Union eingeführte Verfahren
des Europäischen Haftbefehls anzugleichen .
Wir kommen zur Abstimmung . Der Ausschuss für
Recht und Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/11638, den
Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/11140 anzunehmen . Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen . - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen .
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung . Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben . Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie zuvor angenommen .
Ich rufe den Zusatzpunkt 3 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
60 Jahre Römische Verträge
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Cem
Özdemir, Bündnis 90/Die Grünen . - Bitte schön .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich glaube, ich kann im Namen aller hier im Hause sagen, dass unsere Herzen gegenwärtig bei den Menschen
in London sind . We stand together with you against this
barbarism . This horrible attack targeted a European capital and the response will be a European one .
Wie wir alle wissen, heißt der Bürgermeister von London Sadiq Khan . Dies auch an die Adresse all derer, die
pauschal von Islamophobie sprechen oder - umgekehrt sich wünschen, dass Muslime in Europa keinen Platz haben . Beides ist absurd und hat mit der Realität Europas
Gott sei Dank nichts zu tun .
({0})
Ohne dieses Europa wären wir heute nicht da, wo wir
sind . Das gilt für unser Land . Das gilt für meine Partei .
Das gilt aber auch für mich ganz persönlich . Dass wir
Grüne im Jahr 2017 mit einer ostdeutschen Protestantin
und einem anatolischen Schwaben an der Spitze in den
Bundestagswahlkampf ziehen, das wäre ohne Europa sicherlich nicht denkbar gewesen .
Die erste Osterweiterung der Europäischen Gemeinschaft fand nicht etwa im Jahr 2004 statt, wie wir häufig
lernen und lesen, sondern bereits im Jahr 1989/90 . Der
Fall der Berliner Mauer und die deutsche Wiedervereinigung haben nicht nur unser Land, sondern auch den
ganzen Kontinent umgekrempelt - als ein Triumph für
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
Freiheit, ein Triumph für Demokratie und ein Triumph
für offene Gesellschaften.
({1})
Für sehr viele Menschen hat sich ein Fenster geöffnet: die
Möglichkeit, zu reisen, die Möglichkeit zu Bildung, die
Möglichkeit, selber zu entscheiden, welchen Beruf man
sich aussucht, die Möglichkeit, frei gewählt zu werden,
ohne dass der Staat dabei lenkend eingreift .
Das ist das Tolle an Europa: Es zeigt, dass man sich
der Welt öffnen und trotzdem seine eigene Identität als
Schwabe oder was auch immer bewahren kann . Ich kann
Schwabe sein, ich kann Deutscher sein, und ich kann Europäer sein. Ich finde das großartig, und das fühlt sich
großartig an .
({2})
Überzeugte Europäerin aus der Uckermark zu sein,
schließt sich ebenso wenig aus, wie gleichzeitig leidenschaftlicher - ich weiß gar nicht, wie man das sagt Würselener und leidenschaftlicher Europäer zu sein .
Beides ist möglich .
Mit der Unterzeichnung der Römischen Verträge vor
60 Jahren haben wir den Rahmen dafür geschaffen, dass
unsere Demokratie wachsen konnte . 60 Jahre Römische
Verträge, das heißt auch: 60 Jahre Miteinander statt Gegeneinander in Europa . Darauf, glaube ich, können wir
alle miteinander stolz sein; denn das ist ein riesiger
Schatz für unser Land .
Umso bedauerlicher ist allerdings, dass die Große Koalition nicht bereit war, diesen feierlichen Anlass, wie wir
es uns gewünscht hätten, mit einer vereinbarten Debatte
zu begehen . Das wäre ein Signal gewesen, nach Europa und in unsere Gesellschaft hinein, wie wichtig uns
60 Jahre Römische Verträge sind.
({3})
Ich finde es sehr schade, dass Sie sich dazu nicht durchringen konnten .
Bei der letzten Debatte, die wir hier im Hause zu diesem Thema geführt haben - das war vor zwei Wochen -,
ging es um Europa, aber es ging auch um das Thema
Türkei . Das zeigt, glaube ich: Wenn man über Europa
spricht, dann ist man immer auch beim Thema offene Gesellschaften . Als die Türkei der Demokratie den Rücken
zuwandte, da hat sie eigentlich de facto auch Europa den
Rücken zugewandt. Als die Türkei anfing, Minderheiten
und kritische Stimmen massiv auszugrenzen, da hat sie
sich de facto auch von Europa ausgegrenzt . Deshalb:
Wenn wir für offene Gesellschaften eintreten, dann treten
wir immer auch für Europa ein .
Sie haben vielleicht in Rom und in Krakau studiert,
Sie haben vielleicht eine Schwester in Lissabon, einen
Schwager in Bukarest, Sie haben vielleicht Kinder, die
ganz selbstverständlich zum Schüleraustausch nach Helsinki, nach Paris gehen, Sie haben vielleicht Arbeitskollegen, die aus Budapest oder aus Paris zu uns gekommen sind . Aber zu dieser Selbstverständlichkeit muss
noch eine weitere gehören, nämlich dass Menschen, die
nicht studiert haben, Menschen, die in Ausbildung sind,
sowie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ebenfalls in
den Genuss Europas kommen. Deshalb finde ich es eine
großartige Idee, dass man allen zum 18 . Geburtstag ein
freies Interrail-Ticket anbietet . Das wäre ein praktischer
Beitrag dazu, dass wir alle Europa erfahren können .
({4})
Viele hier im Haus wissen vielleicht noch aus eigener Erfahrung, wie das war und wie verändert man zurückgekommen ist, nämlich mit diesem europäischen Lebensgefühl .
Ich finde, wir können den Menschen in Europa gar
nicht dankbar genug sein, die sich beim Pulse of Europe
und an diesem Samstag beim March for Europe hoffentlich massenhaft versammeln und dieses Europa in die
Hand nehmen .
Meine Damen, meine Herren, ich will zum Schluss sagen: Ich bin froh, dass wir in einem Land leben, wo wir
bei dieser Frage Konsens haben . Wünschen würde ich
mir allerdings, dass die Regierung auch Gebrauch davon
macht, dass eine Opposition da ist, die proeuropäisch ist .
Viele in Europa würden sich wünschen, dass sie eine Opposition haben, die Europa nicht infrage stellt . Wir stehen
hinter Ihnen . Allein: Machen Sie was draus!
({5})
Vielen Dank. - Bevor ich dem Kollegen Frei für die
CDU/CSU-Fraktion das Wort erteile, möchte ich noch
einmal darauf aufmerksam machen, dass bei aller Begeisterung für Europa in der Aktuellen Stunde die Redezeit maximal fünf Minuten beträgt - nicht minimal .
Herr Kollege Frei .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
60 Jahre Römische Verträge, das ist vor allen Dingen
ein Grund zur Freude. 60 Jahre Römische Verträge bedeuten letztlich nichts anderes als 60 Jahre Friede und
Freiheit in Europa - und das auf einem Kontinent, der in
den vergangenen Jahrhunderten eher durch Kriege, Verwüstung und Elend geprägt war . Noch jede Generation
hat es bei uns geschafft, das, was sie sich selber erarbeitet hatte, durch Kriege wieder zunichtezumachen . Auch
wenn man den Blick auf die aktuellen Geschehnisse richtet - die Bedrohungen in der Welt, den Krisenbogen um
Europa herum -, wird deutlich, dass wir das Vermächtnis
der europäischen Gründerväter fortzuführen haben und
dass die Geschichte unseres Kontinents für uns auch Verpflichtung sein muss.
Europa ist aber auch Prosperität und Wohlstand . Das
gilt nicht nur für uns Deutsche, die wir als Exportweltmeister in besonderem Maße vom Binnenmarkt profitieren . Es gilt auch für viele andere Länder . Ich denke dabei etwa an die ost- und mitteleuropäischen Länder, die
2004 zu uns gekommen sind und es innerhalb kurzer Zeit
geschafft haben, von 40 Prozent der durchschnittlichen
europäischen Wirtschaftsleistung auf 60 Prozent zu kommen . Man muss sich nur Polen anschauen: Dieses Land
konnte in den ersten zehn Jahren nach dem Beitritt die
Arbeitslosigkeit halbieren und das Bruttoinlandsprodukt
um 50 Prozent steigern . Das alles sind Beweise dafür,
wie wichtig Europa ist und wie substanziell die Fortschritte sind, die wir hier erzielen können . Umgekehrt
aber sehen wir gerade am Beispiel Polens, dass dies ein
Land ist, das in besonderer Weise auf die Legitimations-,
Sinn- und Handlungskrise Europas hinweist .
Letztlich machen die großen Probleme, mit denen wir
konfrontiert sind - Migration insbesondere aus Afrika,
Brexit und viele andere mehr -, immer wieder deutlich,
wie wichtig es ist, dass wir nicht glauben, dass die Errungenschaften in Europa für alle Zeiten gesichert sind,
sondern wissen, dass wir jedes Mal aufs Neue darum
kämpfen müssen . Das wird hier, glaube ich, in besonderer Weise sichtbar .
({0})
Ich glaube, dass es gerade vor diesem Hintergrund gut
ist, dass die Kommission diesen Geburtstag zum Anlass
nimmt, darüber nachzudenken, wie denn die Zukunft
aussehen soll, wie sich Europa weiterentwickeln könnte .
Ich finde den Ansatz richtig, fünf Entwicklungsszenarien
zu erarbeiten, die unterschiedlicher nicht sein könnten,
die aber auch Denkanstöße für uns bieten, die uns darüber nachdenken lassen, wie man Europa richtig baut,
damit es zukunftsfähig ist und Akzeptanz bei den Menschen findet.
Wenn ich ein paar wenige Bemerkungen dazu machen darf: Ich glaube, dass es richtig ist, wenn wir uns
in Europa auf die wesentlichen Themen konzentrieren
und immer auch deutlich machen, wo wir nicht nur einen
europäischen Mehrwert haben, sondern wo es vielleicht
sogar so ist, dass sich die Herausforderungen ohne Europa auf nationaler Ebene gar nicht wirklich bewältigen
lassen . Dabei denke ich etwa an den Binnenmarkt, an die
Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik, an die Sicherung europäischer Grenzen und an die Bewältigung
der Wanderungsbewegungen weltweit . Das alles sind
Punkte, bei denen für mich sonnenklar ist, dass sie auf
europäischer Ebene sehr viel besser und effektiver gelöst
werden können als auf nationaler Ebene .
Das bedeutet für mich aber gleichzeitig auch, dass
wir sehr genau hinschauen müssen, wo Aufgaben idealerweise vielleicht nicht auf europäischer Ebene angesiedelt sind . Dabei geht es nicht nur um das Austarieren der
Verhältnisse zwischen Europa und den Nationalstaaten.
Man muss da die Länder, die Regionen und die Kommunen genauso mitdenken; denn jedes Haus wird vom Fundament her gebaut . Das gilt auch für das Haus Europa .
Deshalb ist es entscheidend, dass die nächsthöhere Ebene
letztlich immer eine Begründungspflicht dafür hat, dass
sie eine Aufgabe besser bewältigen kann .
({1})
Da, glaube ich, haben wir noch einiges zu tun . Ich
denke dabei etwa an das Instrument der Subsidiaritätsrüge, das wir verzweifelt versuchen einzusetzen, zuletzt
beim Dienstleistungspaket, aktuell beim Winterpaket .
Wir stellen aber auch fest, dass das eben ein stumpfes
Schwert und nicht das richtige Mittel dafür ist, auszutarieren, wie die politischen Aufgaben zwischen den einzelnen Ebenen idealerweise verteilt werden sollten . Da
brauchen wir andere Ansätze, weil das Europa effektiver,
effizienter und schlagkräftiger macht und vor allen Dingen auch die Glaubwürdigkeit stärkt .
Und wir müssen auch dafür sorgen, dass die Dinge,
die wir gemeinsam vereinbart haben, dann auch tatsächlich durchgesetzt werden, damit nationale Interessen
nicht immer wieder als Erpressungspotenzial eingesetzt
werden, um eigene Ziele auf Kosten der Gemeinschaft zu
erreichen . Europa ist auch eine Rechtsgemeinschaft, und
das muss im Umgang spürbar sein .
Die letzte Bemerkung, die ich machen möchte, ist:
Wir müssen uns immer auch bewusst sein, dass es nicht
nur auf Normen und Regelungen ankommt, sondern vor
allen Dingen auch auf die Menschen . Am Ende des Tages
muss es mehr Menschen geben, die von der Zukunft und
der Zukunftsfähigkeit der EU überzeugt sind, als Menschen, die das nicht so sehen . Da darf uns die aktuelle
Bertelsmann-Studie zuversichtlich stimmen, nach der
vier Fünftel der Jugendlichen und jungen Erwachsenen
in Europa ihre Zukunft genau in dieser Gemeinsamkeit
sehen .
Herr Kollege Frei .
Vielen Dank - auch für Ihr Verständnis.
({0})
Bitte schön . - Für die Fraktion Die Linke hat jetzt der
Kollege Alexander Ulrich das Wort .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
60 Jahre Römische Verträge: Dieses Ereignis hat es
tatsächlich verdient, würdig hier im Parlament besprochen und diskutiert zu werden . Wir haben gemeinsam
mit Bündnis 90/Die Grünen im Ältestenrat den Antrag
für eine Vereinbarte Debatte eingebracht. Es ist schade,
dass CDU/CSU und SPD das offensichtlich nicht wollten
und dass es eine von der Opposition beantragte Aktuelle Stunde brauchte, um darüber zu diskutieren . Es zeigt
auch, mit welcher Euphorie diese Bundesregierung Europa begleitet .
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die europäische Einigung nach dem Zweiten Weltkrieg ist wohl die größte
historische Errungenschaft, die die hier im Bundestag
vertretenen Generationen miterleben dürfen . Die Europäerinnen und Europäer begegnen sich heute nicht mehr
auf dem Schlachtfeld, sondern in Städtepartnerschaften,
internationalen Universitäten, Austauschprogrammen,
Konferenzen oder auch im Europäischen Parlament . Das
ist historisch betrachtet eine Sensation .
({1})
Der Jahrestag der Römischen Verträge ist daher
selbstverständlich ein Grund zum Feiern . Wir müssen
diesen Jahrestag aber auch zum Anlass nehmen, darüber zu reden, dass die Europäische Union ganz offenkundig in der tiefsten Krise ihrer Geschichte ist . Wenn
es hierfür noch der Beweise bedarf, dann sind dies die
Entscheidung Großbritanniens zum Ausstieg aus der Europäischen Union, die Rechtsentwicklung in vielen Mitgliedsländern, aber auch antidemokratische Tendenzen in
osteuropäischen Ländern oder die Tatsache, dass Europa
immer mehr von seinen Werten Abstand nimmt . Das ist,
glaube ich, nicht gut . Wir kritisieren zu Recht, dass die
USA Mauern an der Grenze zu Mexiko aufbauen wollen .
Wir selbst aber bauen an den Grenzen Europas Mauern gegenüber Menschen, die auf der Flucht sind und in Europa Hilfe suchen . Auch das muss man an diesem Tag
deutlich zum Ausdruck bringen .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, vor wenigen Tagen war der Infobus des Deutschen Bundestages in Kaiserslautern, meiner Heimatstadt . Da hat eine junge Schülerin, 17 Jahre alt, mit Migrationshintergrund, zu mir
gesagt: Die Friedensidee Europas ist richtig und gut, sie
reicht aber nicht mehr aus, um die jungen Menschen für
Europa zu gewinnen . Die junge Generation glaubt nicht,
dass mit dem Ausstieg Großbritanniens die Kriegsgefahr
in Bezug auf dieses Land wieder größer geworden ist . Die Friedensidee, die Europa bewegt hat, reicht also heute nicht mehr aus, um die jungen Menschen für Europa
zu gewinnen .
({2})
Wir brauchen mehr soziale Gerechtigkeit . Wir müssen
deutlicher machen, dass die EU mehr ist als ein Projekt
der Banken und der Großkonzerne . Wir brauchen ein Europa der Menschen .
({3})
Davon haben wir uns durch die Wirtschaftskrise weiter
entfernt als jemals zuvor .
Deshalb sage ich: Was sollen denn die jungen Menschen in Südeuropa denken, wo die Jugendarbeitslosigkeit über 50 Prozent liegt? Der Gedanke, dass Europa
Wohlstand bringt, wird doch da gar nicht mehr verwirklicht . Wir erleben gerade auch in Südeuropa, dass viele
junge Menschen über Generationen keine Chance mehr
auf mehr Wohlstand haben. Vielmehr fühlen sie sich abgehängt und verbinden das auch mit einer Austeritätspolitik, die ihnen von der Europäischen Union und insbesondere von dieser Bundesregierung mit Merkel und
Schäuble verordnet worden ist . Sie haben sich mit dieser
Austeritätspolitik an der europäischen Idee versündigt .
({4})
Das Weißbuch, das die Europäische Kommission jetzt
auf den Weg gebracht hat, ist ein Beweis dafür, dass
man keine grundlegenden Ideen mehr hat . Es ist eine
Sammlung von möglichen Wegen, wie man Europa besser gestalten kann . Aber ich sage: Das hängt nicht damit
zusammen, in welchen Geschwindigkeiten man sich in
Europa beteiligt, es hängt nicht damit zusammen, ob man
einen eigenen Weg oder mit wenigen anderen Ländern
zusammen eigene Wege in Europa suchen kann . Die Politik in Europa muss sich ändern . Nur das ist der Schlüssel für mehr Europa und für ein besseres Europa .
({5})
Nicht die Institutionen sind das Problem, sondern die
Politik, die diese Institutionen betreiben, ist falsch . Sie
muss geändert werden .
({6})
Die Linke wird den mit dem Weißbuch einhergehenden Prozess proeuropäisch begleiten . Wir sagen auch
ganz deutlich: Wir brauchen einen Neustart der Europäischen Union. Die Verträge von Lissabon haben leider
den Neoliberalismus als Grundlage in die EU-Verträge
aufgenommen . Das muss sich grundlegend ändern .
({7})
Abschließend möchte ich - das habe ich auch gestern
im Europaausschuss gesagt - an die gestrige Rede des
neuen Bundespräsidenten erinnern, der deutlich gesagt
hat: Demokratie lebt auch davon, dass man Kritik zulässt, dass kritische Stimmen wahrgenommen werden,
dass man sich damit beschäftigt . - Aber wie gehen wir
in Deutschland und auch in Europa oftmals mit Kritik
an der Europäischen Union um? Wir kritisieren pauschal,
die Kritiker seien alle Antieuropäer . Wir dürfen die Kritik an Europa aber nicht immer antieuropäisch verklären . Wir müssen den Menschen die Chance geben, für
ein besseres Europa zu kämpfen, ohne stigmatisiert zu
werden .
({8})
Deswegen sage ich ganz deutlich: Die Gegner von
TTIP oder CETA sind doch keine Antieuropäer . Sie wollen keinen Handel verbieten, sie wollen Europa nicht
beschädigen, sondern sie wollen einen fairen Handel .
Deshalb muss man diese Kritik auch in Zukunft zulassen,
liebe Kolleginnen und Kollegen .
({9})
Herr Kollege Ulrich, höchstens fünf Minuten, nicht
mindestens .
Ja . - Deswegen sage ich ganz deutlich: Wer den
Rechtspopulisten das Wasser abgraben will, muss die
Sorgen der Bürger ernster nehmen und auch ihre Diskussionen ernst nehmen,
({0})
um vielleicht auch in ihrem Sinne die Politik zu verändern . Nur dann wird Europa gelingen - sozial, friedlich
und demokratisch .
Vielen Dank.
({1})
Vielen Dank. - Es ist ja gut, wenn die Emotionen zu
Europa so stark sind .
Jetzt spricht für die Bundesregierung Herr Staatsminister Michael Roth .
({0})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Wie viele von Ihnen besuche auch ich
Schulen und suche das Gespräch mit Schülerinnen und
Schülern . Kürzlich wurde ich von einer Schülerin gefragt:
Michael Roth, was hat Sie eigentlich zu einem Europäer
werden lassen? - Ich musste ein bisschen nachdenken .
Dann erinnerte ich mich daran, woher ich gekommen
bin, wo ich groß geworden bin und wo ich aufwuchs .
Ich bin in Heringen geboren, groß geworden, zur Schule
gegangen . Heringen an der Werra liegt in Osthessen, ungefähr 1 Kilometer von der ehemaligen Grenze zur DDR
entfernt . Wenige Monate vor meinem Abitur - ich weiß
das noch wie heute - fiel die Mauer. Ich hatte das große
Glück, dass ich im Westen groß geworden bin . Aber für
mich galt der Song von Udo Lindenberg: „Hinterm Horizont geht’s weiter“ nicht . - Hinter dem Horizont ging es
für mich nämlich nicht weiter, weil in Richtung Osten ein
für mich unbekanntes Land lag .
({0})
Daraus habe ich, wie viele Männer und Frauen meiner
Generation, eine Lehre gezogen: Europa ist ein Projekt
der Freiheit, ein Projekt, das Zäune und Mauern zu überwinden versucht . Deswegen werde ich mich niemals mit
einem Europa abfinden, in dem neue Mauern gebaut und
neue Zäune errichtet werden .
({1})
Ja, Europa heißt für mich: nie wieder Krieg, nie wieder
Holocaust, nie wieder Faschismus, aber eben auch nie
wieder Mauern und Zäune .
Heute sind wir in Gedanken bei unseren Freunden und
Partnern in Großbritannien . Wir sind fassungslos über
diesen Terrorangriff. Wir trauern um die Opfer. Unser
Mitgefühl gilt den Familien der Opfer . Zusammenhalten,
zusammenstehen - das zeichnet uns in Europa aus . Liebe
Britinnen und Briten, ihr seid in eurer Trauer nicht allein . Wir stehen an eurer Seite, auch im Kampf gegen den
Terrorismus . Solidarität, Miteinander - das ist die einzigartige Stärke der Europäischen Union, und ihr gehört
dazu . Wir sind traurig, dass ihr in Zukunft nicht mehr
dazugehören wollt .
Das war sicherlich einer der Tiefpunkte, die uns im
vergangenen Jahr erschüttert haben: dass die Bürgerinnen und Bürger eines Staates zum allerersten Mal in der
Geschichte des vereinten Europas mehrheitlich sagen, sie
wollen nicht mehr dazugehören . Aber wir sollten deshalb
nicht rückwärtsgewandte Debatten führen, sondern das
auch als eine Chance zur europäischen Selbstvergewisserung begreifen .
Wir müssen natürlich auch selbstkritisch über unser
Europa, so wie es sich derzeit darstellt, nachdenken .
Streit gehört in Europa immer dazu . Es gehört aber auch
dazu, dass wir diesen Streit respektvoll und tolerant austragen und dass wir immer wieder versuchen, uns in die
Rolle des jeweils anderen Partners hineinzuversetzen,
dass wir Europa auch mal mit den Augen des jeweils anderen oder der jeweils anderen sehen . Das hilft .
Miteinander nach Lösungen zu suchen, ist gelegentlich schwierig; denn Europa beruht auf Vielfalt. Auch
wir in Deutschland haben Traditionen, wegen derer es
schwierig war, im Rahmen des Binnenmarktes zu gemeinsamen Lösungen zu kommen - wenn ich mal an die
Schornsteinfeger oder auch an den Meisterbrief denke .
Da ist es auch vielen bei uns in Deutschland schwergefallen, auf etwas zu verzichten, was als Stärke unseres Landes angesehen wurde . Jedes Land hat eigene Traditionen,
die es vielleicht nur schwerlich aufgeben möchte .
Aber trotz allen Streits gehört es dazu, dass man sich
an das Gemeinsame erinnert . Was macht uns in Europa
stark, und was macht uns im Kern zu Europäerinnen und
Europäern? Wir sind nicht in erster Linie ein Binnenmarkt; wir sind in erster Linie eine Wertegemeinschaft,
und dieses Wertefundament verpflichtet uns. In Europa
wollen wir ohne Angst verschieden sein, unabhängig davon, wen wir lieben, unabhängig davon, an welchen Gott
wir glauben oder ob wir überhaupt an einen Gott glauben . Das ist das, was Europa stark gemacht hat; Europa
beruht auf Vielfalt.
Vielleicht haben wir in den vergangenen Jahren zu
wenig daran erinnert, dass dieses Europa eben auch von
gemeinsamen Werten zusammengehalten wird . Diese
Werte verpflichten uns alle; aber Europa, die Europäische Union, ist offen für alle, unabhängig davon, welcher
Religion, welcher Ethnie oder auch welcher Kultur sie
angehören .
({2})
Wir müssen unsere Stimme erheben, wenn politisch
Verantwortliche in der Europäischen Union einen Satz
wie diesen sagen: Flüchtlinge gehören nicht zu unserem
Land, wir können sie nicht aufnehmen, weil sie Muslime
sind . - Dieser Satz ist mit den Werten Europas unvereinbar;
({3})
er ist mit den Verträgen der Europäischen Union nicht
vereinbar . Wir brauchen also auch hier, liebe Kolleginnen und Kollegen, Klarheit . Bei Werten darf es keine
politischen Rabatte geben . Es geht um unsere eigene
Glaubwürdigkeit . Wie wollen wir auf der globalen Ebene
für Menschenrechte, für Demokratie, für die Unabhängigkeit der Justiz, für die Freiheit der Medien glaubhaft
eintreten, wenn wir einen Zweifel daran lassen, dass wir
diese Werte uneingeschränkt im Inneren der Europäischen Union achten, respektieren und verteidigen? Wir
können nur dann selbstbewusst unsere Werte gegenüber
Russland, gegenüber der Türkei, gegenüber China und
vielen anderen Staaten dieser Welt vertreten, wenn wir
selbst diese Werte uneingeschränkt achten .
Es ist seit der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten
der Vereinigten Staaten von Amerika auf der globalen
Ebene nicht leichter geworden . Umso wichtiger ist es,
dass wir hier zusammenstehen, mit einer Stimme sprechen und deutlich machen: „Europa steht für diese Werte“ - nicht nur in Sonntagsreden, sondern im Alltag, im
Kleinen wie im Großen .
({4})
Warum ist es gelegentlich so schwer, Bürgerinnen und
Bürger für Europa zu begeistern? Das mag auch daran
liegen, dass wir Politikerinnen und Politiker die Debatte
über Europa gelegentlich als eine Verzichtsdebatte geführt haben, auch hier im Bundestag, nach dem Motto:
Wir müssen als Nationalstaat auf etwas verzichten, wenn
wir Zuständigkeiten auf die Europäische Union verlagern . - Umgekehrt wird ein Schuh daraus . Wir können
doch nur auf das verzichten, was wir noch haben . Der
Nationalstaat alter Prägung ist nicht mehr in der Lage,
die Globalisierung angemessen - demokratisch, sozial
und nachhaltig - zu gestalten . Das heißt, wir gewinnen
über ein handlungsfähigeres, ein demokratischeres, ein
stärkeres Europa politische Gestaltungsmacht zurück,
die uns auf der nationalen Ebene schon längst nicht mehr
zur Verfügung steht. Vielleicht können wir so Bürgerinnen und Bürgern wieder Mut machen und deutlich
machen, dass wir nichts verlieren, sondern dass wir mit
Europa etwas hinzugewinnen . Genau das hat auch unser
Außenminister kürzlich in einem Namensbeitrag deutlich gemacht .
Wie oft muss man hören: Deutschland ist der Zahlmeister Europas . - Kein Land hat vom vereinten Europa
so viel profitiert wie die Bundesrepublik Deutschland.
Wir sind stark, weil wir in einem starken und solidarischen Europa leben . Wir können uns keine Armutsinseln
in der Europäischen Union erlauben . Wir leben vom
Wohlstand auch in anderen Regionen der Europäischen
Union . Unsere Arbeitsplätze, unser Wirtschaftswachstum
beruhen auf offenen Grenzen und darauf, dass sich auch
Spanierinnen und Spanier, Griechinnen und Griechen
und viele andere unsere qualitativ hochwertigen, aber
eben auch teuren Produkte leisten können . Das heißt,
wenn es anderen Europäerinnen und Europäern gut geht,
geht es uns auch in Deutschland gut . Das muss man wieder offensiv vertreten, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({5})
Ja, dieses Europa der 28 ist komplizierter geworden;
es ist schwieriger geworden, einen Konsens zu finden.
Deswegen ist es vielleicht auch an der Zeit, wieder intensiver darüber nachzudenken, wie wir es schaffen, dass
wir uns nicht vom Langsamsten und vom Unwilligsten
Richtung und Tempo vorgeben lassen müssen . Das hat
nichts mit der Debatte über Kerneuropa zu tun . Wir wollen keinen Closed Shop, sondern wir wollen ein Europa
der Mutmacher . Wir wollen, dass Staaten in bestimmten Politikbereichen vorangehen und deutlich machen:
Europäische Lösungen sind am Ende besser, nachhaltiger, gerechter und funktionsfähiger als rein nationale
Lösungen . Diesem Europa der Mutmacher können sich
alle anschließen. Vielleicht bringt das Europa wieder in
Schwung und zeigt, dass Europa nun wirklich nicht Teil
des Problems, sondern vielmehr Teil der Lösung ist .
Herr Staatsminister .
Um die wesentlichen Bewährungsproben, mit denen
wir es derzeit zu tun haben, zu bestehen, reichen, wie ich
das sehe, keine rein nationalen Lösungen aus . Weder im
Kampf gegen den Terrorismus noch in der Bekämpfung
von Fluchtursachen noch in der Vollendung der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion noch im Kampf
gegen Steuerdumping noch in der Stärkung der sozialen
Dimension sehe ich allein Deutschland in der Pflicht, ich
sehe uns alle in Europa in der Pflicht. Wir in Deutschland
müssen uns besonders anstrengen, dass diese Europäische Union gelingt, dass sie besser und handlungsfähiger
wird; denn Europa war, ist und bleibt unsere Lebensversicherung in Zeiten der Krise . Sie ist eine Chance auf etwas Einzigartiges, vor allen Dingen für die jungen Menschen, die derzeit auf die Straßen gehen . Sie haben meine
Sympathie, sie haben meine Solidarität .
Vielen Dank.
({0})
Danke schön . - Als Nächste spricht für die CDU/
CSU-Fraktion die Kollegin Ursula Groden-Kranich .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Bei der Durchsicht meiner Termine für diese Woche habe
ich eine Einladung vermisst, nämlich die Einladung des
Präsidenten des Deutschen Bundestages zu einem EmpStaatsminister Michael Roth
fang aus Anlass des 60. Jahrestages der Römischen Verträge . Nichts läge mir ferner, als unser Präsidium in dieser Frage zu kritisieren .
({0})
Sicherlich ist der eigentliche Grund für das Ausbleiben
dieser Einladung die derzeitige Fastenzeit . Aber gerade
der Deutsche Bundestag als eines der europäischsten nationalen Parlamente in der EU hätte heute Grund zum
Feiern und zur Freude .
({1})
Genau das sollten wir viel öfter tun . Wir sollten uns an
dem erfreuen, was wir und die Generationen vor uns in
Europa erreicht haben . Gerade in der schwierigen Phase,
in der wir uns heute befinden, müssen wir aufhören, zu
jammern, und müssen die Dinge stattdessen anpacken .
Wo wären wir denn heute, wenn die Väter und Mütter der
europäischen Einigung vor 60 Jahren nur gezaudert hätten? Sie haben sich anders entschieden . Sie gingen mutig
voran, brachen mit tradierten Klischees und Rollenzuschreibungen und wagten das, was nur wenige Jahre und
Jahrzehnte vorher undenkbar gewesen wäre: den Prozess
der europäischen Einigung. Das ist ein historischer Verdienst, den man gar nicht hoch genug einschätzen kann .
Ich selbst bin leidenschaftliche Europäerin, und ich
weiß auch, warum: Weil meine persönliche Geschichte
und die meiner Familie mich dazu gemacht haben . Mein
Vater wurde 1931 in Breslau geboren, in einer Zeit, in der
die Länder unseres Kontinents von einer Welle des Nationalismus überspült wurden . In den Wirren des Zweiten
Weltkrieges musste er, wie so viele, seine Geburtsstadt
verlassen . Er fand in Mainz eine neue Heimat . Gerade
nach den grauenvollen Erfahrungen des Krieges war es
für die Generation meiner Eltern geradezu unvorstellbar, dass die Menschen in Europa irgendwann nicht nur
friedlich nebeneinander koexistieren, sondern auch gemeinsam ihre Zukunft aktiv gestalten . Die europäische
Einigung mag vielleicht als Elitenprojekt gestartet sein,
sie wurde aber zu einer Volksbewegung.
({2})
Von dieser Volksbewegung hat meine Generation wiederum ganz maßgeblich profitiert. Grenzen verschwanden mit der Zeit - nicht nur auf dem Land, sondern immer
mehr auch in den Köpfen . Wie viele andere konnte ich bei
meinem ersten Schüleraustausch Dijon, die Partnerstadt
meiner Heimatstadt, besuchen, Gleichaltrige treffen und
das Land mit ihnen gemeinsam kennenlernen . Später, im
Berufsleben, führten mich meine Wege nach Frankreich
und England und nach dem Fall des Eisernen Vorhangs
auch zum Geburtshaus meines Vaters in Breslau.
Der Binnenmarkt mit seinen vier Grundfreiheiten bereichert doch unser aller Leben ungemein . Weil ich diese
guten und positiven Erfahrungen, die mich so geprägt
haben, machen durfte, freue ich mich umso mehr, dass
meine Tochter derzeit in England zur Schule geht und
dort Freunde aus aller Welt kennenlernt .
Dies alles wäre heute nicht möglich, wenn die Väter
und Mütter der europäischen Einigung nicht bereit gewesen wären, neue Wege zu beschreiten . Heute können wir
auf den Wegen gehen, die diese Generation uns bereitet
hat. Daraus erwächst für uns eine besondere Verantwortung .
Als leidenschaftliche Europäerin darf ich auch feststellen, dass nicht alles in der EU gut läuft . Ja, wir haben
viele Baustellen . Ja, der Grundsatz, Europa muss groß in
großen Dingen und klein in kleinen Dingen sein, ist noch
nicht bis in jede Ecke des Berlaymont und des Europäischen Parlaments vorgedrungen . Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist doch unsere Aufgabe, dafür zu
sorgen, dass dieser Grundsatz eingehalten wird; Kollege
Frei ist schon darauf eingegangen .
Der informelle Europäische Rat am kommenden
Samstag ist ein weiterer Meilenstein in einem Prozess
des Innehaltens und der Selbstprüfung für die Europäische Union . Die mit dem Weißbuch vorgelegten fünf
Szenarien geben uns eine Möglichkeit, wieder über Europa zu diskutieren . Europa ist nicht nur ein Friedensgarant . Die Europäische Union ist als Wertegemeinschaft
unsere einzige glaubhafte Antwort auf eine sich immer
stärker globalisierende Welt und - ich sage es gerne noch
einmal - gegen Nationalismus und Ausgrenzung .
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir künftig häufiger über das reden, was Europa in den letzten
60 Jahren zu einer besseren Heimat für uns alle gemacht
hat, dann ist mir um die Zustimmung der Menschen zur
EU nicht bange . Dazu müssen wir nur in Europa gemeinsam mutig vorangehen .
Danke schön .
({4})
Vielen Dank. - Für die Fraktion Die Linke hat jetzt der
Kollege Andrej Hunko das Wort .
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir reden heute über 60 Jahre Römische Verträge; aber noch
kein Redner ist bislang auf diese Verträge eingegangen.
Was waren denn die Römischen Verträge? Das waren
zwei Verträge. Der erste Vertrag war der Vertrag zur
Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft .
Ja, Frau Groden-Kranich, das war ein Elitenprojekt .
Wenn man sich den Vertrag anschaut, dann sieht man
das. Das ist ein Vertrag, der maßgeblich für große Konzerne geschrieben wurde .
({0})
Das ist einer der Geburtsfehler der Europäischen Union .
Der zweite Vertrag, Herr Özdemir, war der Euratom-Vertrag, in dem es um die Schaffung einer mächtigen Atomindustrie in Europa ging . Es wundert mich,
dass das alles von Ihrer Seite so gefeiert wird .
({1})
- Den Euratom-Vertrag feiern wir nicht. Wir halten die
Schaffung einer mächtigen europäischen Atomindustrie
nicht für zielführend .
({2})
Aber wir halten es für zielführend und für eine große Errungenschaft, dass die Länder, die zwei Weltkriege gegeneinander geführt haben, miteinander kooperieren .
({3})
Wir halten Integration für zielführend . Das gilt für Frankreich, für Großbritannien, aber auch für Russland .
({4})
Zu einem gemeinsamen europäischen Haus gehören auch
eine Kooperation und der Frieden mit Russland . Das will
ich sehr deutlich sagen .
({5})
Ja, es ist eine historische Leistung, dass es eine wirtschaftliche Integration gegeben hat .
({6})
Wir erkennen das an; es ist sehr gut . Aber es ist eben
nur ein Teil Europas gewesen . Es waren am Anfang sechs
Länder . Die Anzahl der Mitgliedsländer ist dann größer
geworden . Aber Russland, ein Hauptopfer von zwei
Weltkriegen, ist nach wie vor ausgeschlossen, und wir
stehen vor einer neuen Konfrontation und einer neuen
Aufrüstung in Europa; auch dies muss man sehr deutlich
sagen . Wir wollen ein gemeinsames europäisches Haus,
ein gesamteuropäisches Haus, und nicht einen neuen
Kalten Krieg mit Russland .
({7})
Im Juli 1989 hat Michael Gorbatschow in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates diese Vision
eines gemeinsamen europäischen Hauses vorgetragen . In
den 90er-Jahren gab es eine historische Chance, es Wirklichkeit werden zu lassen . Leider ist das nicht eingetreten, sondern gescheitert, und das hat auch mit der NATO-Osterweiterung und den dann folgenden Reaktionen
von russischer Seite zu tun . Es wird nach wie vor eine
große historische Aufgabe sein, dieses gesamteuropäische Haus zu schaffen.
({8})
Ein zweites Problem, auf das man hinweisen muss,
besteht darin, dass sich ebenfalls in den 90er-Jahren der
neoliberale Charakter der Europäischen Union verstärkt
hat, so in den Verträgen von Maastricht und Lissabon.
Es ist ein großes Problem in vielen europäischen Ländern, dass nach einer Bertelsmann-Studie gegenwärtig
118 Millionen Menschen von Armut betroffen sind und
dass der Anteil der Vollzeit arbeitenden Menschen, die in
Armut leben, wächst .
({9})
Das schafft natürlich den Boden für Rechtspopulisten.
Der Rechtspopulismus ist die andere Seite des Neoliberalismus, seine Schattenseite, und diese Orientierung muss
aufhören . Wir brauchen ein sozial gerechtes Europa, ein
integratives Europa, sowohl sozial als auch geopolitisch .
({10})
Wenn wir also über die Römischen Verträge reden,
sollten wir auch über den Inhalt der Verträge reden und
hier nicht nur Sonntagsreden halten . Ich halte das durchaus für sehr wichtig .
({11})
Diese zwei Säulen, einerseits eine Überwindung des
neoliberalen Charakters der Grundlagenverträge wie des
Lissabon- und des Maastricht-Vertrages
({12})
und andererseits eine Entspannung und eine integrative
Politik gegenüber dem Osten, umreißen die historische
Aufgabe, vor der Europa steht . Ich glaube, darüber müssten wir ernsthaft diskutieren . Es ist gut, dass die Europäische Kommission jetzt Szenarien entwirft . Ich hielte es
für wichtig, über diese Szenarien zu diskutieren und nicht
nur Sonntagsreden zu halten . Wenn das nicht passiert das sage ich hier auch sehr deutlich -, wird die Krisenhaftigkeit der Europäischen Union leider fortschreiten .
Wir brauchen diese Debatte dringend .
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit .
({13})
Vielen Dank. - Jetzt hat der Kollege Joachim Poß für
die SPD-Fraktion das Wort .
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Hunko, Sie haben etwas geschafft, was nicht viele hier
schaffen: Sie haben die Geschichte so verzerrt, wie man
es selten in diesem Deutschen Bundestag gehört hat .
({0})
- Das hat mit Wahrheit überhaupt nichts zu tun .
({1})
Sie verschleiern die Rolle Putins, dessen Ziel doch offenkundig ist, Europa zu zerstören, und Sie sind an seiner
Seite .
({2})
Oder wie sollte ich Ihren Beitrag jetzt interpretieren?
Punktum! Sie stellen sich in eine Reihe mit den Rechtsextremisten aus der ganzen Welt, deren Schutzpatron
Putin de facto ist, Herr Hunko . Darüber müssen Sie sich
im Klaren sein .
({3})
Wenn auch die Kritik nicht ganz unberechtigt ist, dass
es in den 60 Jahren oft ein Elitenprojekt war
({4})
und zu wenig getan wurde, um die Bevölkerung in ganz
Europa mitzunehmen, muss ich sagen: Ich war als Bergarbeiterkind schon mit zehn Jahren von Europa sehr begeistert . Also von wegen Elitenprojekt! Ich will damit
sagen: Es war in den 50er- und 60er-Jahren ein Projekt
der Herzen für viele Deutsche, die nicht zurückwollten .
({5})
Das müssen Sie trotz Ihrer Grenznähe - Sie wohnen ja im
Dreiländereck - offenkundig noch lernen.
Wir alle müssen lernen, dass man mit Defensive und
Kleinmut den wachsenden Nationalismus nicht in die
Schranken weisen kann . Wir haben gute Argumente:
Meinungsfreiheit, Demokratie, Rechts- und Sozialstaat .
Viel zu selten verwenden wir eher egoistische Argumente, sozusagen deutsche Argumente . Europa ist in unserem
eigenen Interesse - Herr Roth hat es angedeutet -: Es
geht um Arbeitsplätze, viele Arbeitsplätze, die durch ein
zusammenwachsendes Europa hier in Deutschland entstanden sind .
({6})
So müssen wir die Diskussionen anpacken und nach vorne führen .
Sigmar Gabriel hat recht: Deutschland ist ein Nettogewinnerland . Das ist aufgrund der oft populistischen und
opportunistischen Debatte - Sie haben hier ein Beispiel
dafür geliefert - vielen Menschen in diesem Land nicht
klar . Das klarzumachen, ist aber unsere Aufgabe, wenn
wir uns in der Tradition der Aufklärung sehen .
Es muss einiges passieren. Verschiedene Mitgliedstaaten müssen hierfür Beiträge erbringen . Die Bereitschaft
Deutschlands, in die eigene Zukunft und damit in die
Zukunft Europas zu investieren, muss wachsen . Die Mittelmeerländer müssen sich stärker bei den notwendigen
Strukturreformen engagieren: bei Bildung, Ausbildung,
Justiz, einer effizienteren Verwaltung, der Bekämpfung
von Klientelismus und Korruption . Die Beneluxstaaten
als Gründerstaaten müssen endlich ihre skandalöse Steuerpolitik zulasten der ehrlichen Steuerzahler in Europa
beenden .
({7})
Polen und Ungarn müssen realisieren, dass sie zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zurückkehren müssen .
Nur so kann es, jedenfalls meines Erachtens, für sie eine
Zukunft in Europa geben . In diesem Zusammenhang
muss natürlich auch die rumänische Regierung genannt
werden .
Der Sündenfall geschah, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, schon vor einigen Jahren im
Fall von Ungarn . Das anhaltende Schweigen der konservativen Europäischen Volkspartei, der CDU und auch
von Frau Merkel und die Kumpanei der CSU mit Herrn
Orban waren einer der Sargnägel für Demokratie und
Rechtsstaatlichkeit in Ungarn. Auch das muss man offen
aussprechen .
({8})
Dieses Verhalten hat den Polen Kaczynski zusätzlich
ermutigt . Was soll man von der falschen Solidaritätsdebatte, die von einigen geführt wird, halten? Was soll
man davon halten, wenn Herr Kaczynski Solidarität in
Verteidigungsfragen einfordert, im Umgang mit Flüchtlingen in Europa aber keine Solidarität zeigt, wenn Herr
Tsipras mangelnde Solidarität beklagt, obwohl sein Land
das größte europäische Hilfspaket in der Geschichte bekommen hat?
({9})
- Ja, sicher . - Die in den Niederlanden, Frankreich und
Italien geführten Debatten über einen möglichen Exit aus
dem Euro sind ökonomisch und politisch noch absurder
als die Grexit-Debatte, die von einigen hier in Deutschland geführt wird, auch auf der rechten Seite .
Sicherlich kann es ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten geben, nicht aber ein Europa, das in verschiedene Richtungen strebt . Deswegen bin ich sehr gespannt, wie die Erklärung am 25 . Juni in Rom aussehen
wird . Wenn unsere Werte dort nicht deutlich beschrieben
sind, dann wird es ernst für Europa .
({10})
Vielen Dank. - Die nächste Rednerin ist Annalena
Baerbock für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Die EU ist das Wertvollste, was dieser Kontinent je geschaffen hat. Konflikte lösen wir am
Verhandlungstisch und nicht mehr auf dem Schlachtfeld
und auch nicht auf Twitter . - Das ist ein Satz, dem jeder hier folgen kann . Das in Festreden zu sagen, ist einfach . Dafür zu werben, wenn einem der Wind ins Gesicht
bläst, das ist die eigentliche Aufgabe, vor der wir stehen .
({0})
Ich möchte betonen: Die EU, die europäische Integration, das war nie ein einfaches Projekt . Konrad Adenauer
sagte vor 60 Jahren zu der Unterzeichnung der Römischen Verträge:
. . . die Optimisten, nicht die Pessimisten, haben
recht behalten .
Charles de Gaulle, Konrad Adenauer und vor allen Dingen Robert Schuman sind damals das politische Risiko
eingegangen. Hätte es den Begriff „Shitstorm“ damals
schon gegeben, dann wäre er sicherlich ein Euphemismus für das gewesen, was auf die Vorschläge, die kriegswichtigen Güter der verschiedenen Länder zu vergemeinschaften, gefolgt ist .
Herr Kollege Hunko, bei allem Respekt möchte ich Sie
an das erinnern, was uns die Geschichte gelehrt hat, und
deutlich machen, welch großer Mut bei den ehemaligen
Kriegsfeinden vor 60 Jahren erforderlich war, um zu sagen: Wir arbeiten zusammen . - Das war doch eine Lehre,
vor allen Dingen für Deutschland . Was hat die NSDAP
denn stark gemacht? Es war der damalige Volksentscheid
zum Young-Plan . Es sollte in Deutschland nämlich darüber abgestimmt werden, ob die Reparationszahlungen
als Folge des Ersten Weltkrieges geleistet werden sollten. Diese Volksabstimmung hat die NSDAP erst stark
gemacht . In Anbetracht dieser Lehre aus der Weimarer
Republik sollte man nicht kritisieren, dass man nach dem
Zweiten Weltkrieg gesagt hat: Wir haben den politischen
Mut, uns auch gegen die Stimmung im Land in einer europäischen Gemeinschaft zu versöhnen . - Das ist doch
ein historischer Erfolg . Ihn kleinzureden, ist wirklich absolut falsch .
({1})
Ich erwähne hier, wie viel Mut dafür erforderlich war,
weil mich wirklich stört, dass heute gerade von politischen Verantwortungsträgern immer wieder gesagt wird:
Nein, jetzt können wir nicht über Europa reden; die
Stimmung ist gerade so schlecht. - Vor 60 Jahren war
die Stimmung richtig mies . Die Stimmung war auch
nicht rosig, als wir darüber diskutiert haben, ob wir die
Deutsche Mark behalten wollen . Die Stimmung war auch
nicht toll, als man gesagt hat - ich komme übrigens aus
Brandenburg -, man wolle eine Osterweiterung nach
Polen. Trotzdem hat man sich getraut, dieses Vorhaben
anzugehen, und man hat gesagt, man streite für das Friedensprojekt Europa .
({2})
Den politischen Mut, auch gegen die Stimmung im Land
zu sagen: „Wir stehen für unsere Werte ein“, brauchen
wir auch heute .
({3})
Das ist unsere Aufgabe als Politiker .
Genau dies ist auch der Grund, warum der Brexit so
gekommen ist, wie er gekommen ist. Der politische Verantwortungsträger hatte diesen Mut nämlich nicht .
({4})
Als UKIP groß geworden ist - ja, da lachen Sie; schauen
Sie es sich noch einmal an -, hat Cameron gesagt: Oh
Gott, wir haben hier Euroskeptiker . Was könnte das für
meine politische Karriere bedeuten? - Anstatt sich hinzustellen und zu sagen: „Ich streite für Europa“, hat er
gesagt: Diese Verantwortung möchte ich nicht übernehmen . Ich möchte gerne weiterregieren . Machen wir doch
eine Volksabstimmung, aber erst in drei Jahren. Und die
Regeln für diese Abstimmung interessieren mich eigentlich nicht. - Das ist politisches Versagen, und Sie finden
das auch noch richtig . Das ist erschreckend!
({5})
Weil genau dieses politische Versagen in einigen anderen Mitgliedstaaten jetzt wieder droht - da sollten wir
übrigens auch auf Deutschland schauen -, hat der Kommissionspräsident aus meiner Sicht zu Recht gesagt: Ich
zeige euch jetzt einmal auf, welche fünf verschiedenen
Szenarien es für Europa gibt . Ihr, liebe Mitgliedstaaten,
ihr, liebe Bürgerinnen und Bürger, aber vor allen Dingen
ihr, liebe politisch Verantwortlichen, sollt jetzt einmal darüber diskutieren .
Ich finde es sehr traurig, dass wir auch in dieser Debatte nicht darüber diskutieren, wo wir eigentlich hinwollen, und dass vonseiten der Bundesregierung dazu leider
nichts zu hören ist . Bei der SPD hat man sich wohl gedacht: Wir haben den Ex-Präsidenten des Europäischen
Parlaments als Kanzlerkandidaten aufgestellt; deshalb
brauchen wir zur Zukunft Europas jetzt gar nichts mehr
zu sagen .
({6})
Vorschläge dazu, ob wir Szenario eins, zwei, drei, vier
oder fünf wollen, habe ich bisher überhaupt noch nicht
gehört . Auch von Ihnen, Herr Roth, habe ich gerade leider nichts dazu gehört .
({7})
Zur Union . Die Kanzlerin hat gesagt, sie sei für ein Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten . Da denkt
man: Okay, zumindest hat sie sich einmal getraut . - Wenn
man allerdings genau hinschaut, stellt man fest: Das ist
eigentlich ein innenpolitischer Schachzug . Sie kleistert
nämlich zu, dass überhaupt nicht klar ist, wo die Union
eigentlich hinwill . Herr Friedrich erklärte letzte Woche
hier, er wolle Szenario vier; er will nämlich weniger Europa . Andere sagen, sie wollen mehr Europa . Und was
liest man in der FAZ von Herrn Schäuble? Er sagt, unter
dem Stichwort „Unterschiedliche Geschwindigkeiten“
könne man ganz vieles verstehen: variable Geometrie
oder flexible Geschwindigkeit, Kerneuropa oder Coalition of the Willing . Meine sehr verehrten Damen und
Herren, das ist doch nicht dasselbe! „Kerneuropa“ heißt,
es gehen einige voran, und der Rest ist außen vor . Das
spaltet Europa, und das ist das Ende von Europa!
({8})
Wir als Bündnis 90/Die Grünen sagen ganz klar: In den
Bereichen, von denen die Menschen sagen: „Hier muss
Europa etwas tun, sozialer werden, ökologischer werden
und für Sicherheit sorgen“, braucht es mehr Europa . Es
braucht Mut, das zu sagen, weil wir dazu vielleicht auch
Vertragsänderungen benötigen. Denn ohne diese Vertragsänderungen werden wir hier nicht vorankommen .
Es ist aber unsere Aufgabe, meine sehr verehrten Damen
und Herren, nach 60 Jahren dafür zu sorgen . In den Bereichen, in denen die Menschen dies wollen, brauchen
wir, wie gesagt, mehr Europa . In den Bereichen, in denen
man nur im Rahmen unterschiedlicher Geschwindigkeiten zusammenarbeiten kann,
Das war gerade ein wunderbares Schlusswort, Frau
Baerbock .
- kann man das tun, aber im Rahmen der Verträge;
denn sonst ist dies das Ende der Römischen Verträge.
Herzlichen Dank .
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Matern von Marschall,
CDU/CSU-Fraktion .
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegin
Baerbock, ich glaube, wenn wir über die Zukunft Europas nachdenken, dann ist ganz offensichtlich, dass wir
uns darauf konzentrieren müssen, in Europa die Aufgaben zu erledigen, die nicht in den Nationalstaaten selbst
erledigt werden können . Auf diese Arbeiten müssen wir
Europa begrenzen, und es gibt jede Menge großer Aufgaben, die wir nur gemeinsam und nicht in den Einzelstaaten erledigen können, weil sie zu schwach dafür sind .
({0})
Deswegen haben wir über Verteidigung, über eine gemeinsame Terrorismusbekämpfung, über eine gemeinsame Forschungslandschaft in einer Digitalunion und über
eine Energieunion, das heißt, über die Unabhängigkeit
der Energieversorgung, die auch die Energiewende ermöglicht, gesprochen . Über diese wichtigen Dinge sollten wir auch weiterhin sprechen - und nicht über das,
was vor Ort selbstständig in den Nationalstaaten gemacht
werden kann .
({1})
Ich will aber auch sagen: All diese wichtigen Dinge
müssen einem Ziel zugeordnet sein, und dieses Ziel ist,
den Frieden in Europa in Freiheit zu stärken . Das bedeutet, dass wir nicht nur den Anfechtungen von außen, Herr
Hunko, denen die Stabilität, die Freiheit und die Rechtsstaatlichkeit Europas ausgesetzt sind, begegnen, sondern
auch im Innern darauf achten müssen, dass die Grundprinzipien der Freiheit, die sich aus der Rechtsstaatlichkeit der Demokratien ergibt, durchgesetzt werden . Das
bedeutet vor allen Dingen - darüber sprechen wir viel zu
wenig, und das ist auch ein Auftrag an die Bildung -: Die
Unabhängigkeit der Verfassungsorgane muss gewährleistet sein . Das ist eine Aufgabe, die die Europäische
Kommission gegenüber den Mitgliedstaaten durchsetzen
muss .
({2})
Was ist Europa für uns? Wir haben es gehört: Für jeden ist Europa auch in seiner Heimat zu spüren . Meine
Heimat ist Freiburg im Breisgau . Wenn ich auf den wunderschönen Turm unseres Freiburger Münsters steige,
einem Beispiel der europäischen Gotik, dann sehe ich
gegenüber die Vogesen und etwas weiter flussabwärts
das Straßburger Münster, und dann erkenne ich: Das ist
Europa . Der Geist der Gotik manifestiert sich auf dem
europäischen Kontinent in diesen wunderbaren Bauwerken. Gleichzeitig sehe ich in den Vogesen gegenüber
den Hartmannswillerkopf . Der Hartmannswillerkopf ist
die Blut- und Knochenmühle aus dem Ersten Weltkrieg .
Auch das ist Europa .
Wie durch ein Wunder ist trotzdem diese Freundschaft
zwischen Frankreich und Deutschland zustande gekommen . Ich bin so dankbar dafür, dass ich unseren französischen Freunden - und ich glaube, wir dürfen das - gerade
in diesen Wochen vor der Wahl in Frankreich zurufe: Ne
nous quittez pas, nos amis français! Lasst uns nicht alleine, wir brauchen euch in Europa!
({3})
Ich glaube, wir kommen ganz alleine nicht zurecht .
Wir müssen Europa als Friedensgemeinschaft begreifen . Wenn ich in den Schwarzwald hinaufschaue, dann
sehe ich dort die Donauquelle . Diese Quelle speist einen
Strom bis ins Schwarze Meer . An ihm liegen zehn Länder, von denen nicht alle Mitglieder der Europäischen
Union sind . In Serbien und im westlichen Balkan haben die Menschen die Schrecken des Krieges noch sehr
unmittelbar in Erinnerung . Auch diesen Menschen darf
und soll die Europäische Union Hoffnung geben; denn
sie klopfen sehnsuchtsvoll an die Tür dieses Hauses von
Frieden, Freiheit und Sicherheit .
Wenn wir auf den Rhein schauen und darauf jetzt die
vielen Handelsschiffe sehen, die nach Rotterdam und von
dort in die freie Welt fahren, dann sehen wir: Auch der
Handel ist etwas, was Europa stark macht . Aber stark
macht uns in erster Linie dieses Bekenntnis zur Freiheit .
Dieses Bekenntnis zur Freiheit ist in der Präambel des
Grundgesetzes verankert, das in den dunkelsten Stunden unseres Landes verfasst wurde . In der heißt es: „als
gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem
Frieden der Welt zu dienen“ .
({4})
Vielen Dank. - Für die SPD-Fraktion spricht jetzt die
Kollegin Dr . Dorothee Schlegel .
({0})
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Werte
Gäste! Seit der Antike wird der Kontinent Europa als
Frau dargestellt . Dieser Logik folgend, feiert die Europa
der Moderne in diesem Jahr ihren 60 . Geburtstag . Ihre
Geburtsurkunde sind die Römischen Verträge - Europa
hat Väter und Mütter -, und wir als überzeugte Europäerinnen und Europäer feiern mit ihr .
Wir feiern im Namen der Aufklärung und der Vernunft
ein Europa, das von jeher Symbol für die Ideale von Freiheit, Demokratie und Gleichberechtigung ist . Wir feiern
Europa vor allem mit einem Gefühl der Dankbarkeit als
ein Symbol für 70 Jahre Frieden . Widerstände, Herausforderungen und Krisen setzen der europäischen Einigung hart zu. Vieles davon ist schon genannt worden: der
Brexit, die Nachwehen der Finanzkrise, die hohe Anzahl
an Flüchtlingen und das Erstarken der Nationalisten oder
Rechtspopulisten .
Trotzdem: Europa ist eine Erfolgsgeschichte, und das
europäische Projekt ist lebendig . Jugendliche zwischen
Wien, Warschau, Budapest, Berlin, Lissabon und eben
auch London schätzen Frieden und Freiheit . Dafür gehen
sie auch wieder auf die Straßen; denn sie schätzen das
grenzenlose Studieren, Arbeiten und Reisen . Die Mehrheit der jungen Europäerinnen und Europäer steht fest
hinter der EU . Aktuelle Umfragen, wie sie auch Kollege
Frei schon zitiert hat, bestätigen das . Es gibt also - generationenübergreifend - viele Europafans .
Meine Damen und Herren, „Europa ist unsere gemeinsame Zukunft“, heißt es in dem Entwurf einer Erklärung
der 27 EU-Staaten, die beim Gipfeltreffen am 25. März
2017 verabschiedet werden soll . Lassen Sie mich ergänzen: Europa ist unsere Aufgabe und unsere Antwort;
unsere Antwort auf große Aufgaben wie Klimaschutz,
Flüchtlingsfrage oder Terrorabwehr, die sich nur gemeinsam bewältigen lassen. Das Vertrauen der Menschen in
die europäische Idee muss also wieder und weiter gestärkt werden. Die Römischen Verträge und mit ihnen die
zwölf goldenen Sterne strahlen bis heute Zuversicht aus .
Wir halten an unseren europäischen Werten und Idealen fest . Auf Populisten, die die Zeit zurückdrehen wollen, haben wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten seit über 150 Jahren die gleiche klare Antwort: Wir
wollen ein soziales Europa, und zwar nicht erst seit gestern oder heute, Frau Kollegin Baerbock .
({0})
Wir wollen europaweite soziale Sicherungsstandards
und mehr Investitionen, vor allem in gute Arbeit, berufliche Bildung und Ausbildung im Kampf gegen die hohe
Jugendarbeitslosigkeit . Wir wollen Europa demokratischer gestalten und das EU-Parlament weiter aufwerten .
Wir wollen die europäische Integration in der Sozial- und
Wirtschaftspolitik weiterentwickeln . Die europäische
Säule sozialer Rechte ist ein erster guter Schritt . Wir gehen mit auf diesem Weg zu einem Triple-A-Rating für
Europa im sozialen Bereich .
Auf unserer Wunschliste zum 60 . Geburtstag steht
aber ganz klar, dass wir ein Europa des größten gemeinsamen Nenners wollen . Europa ist so viel mehr als ein
Binnenmarkt . Es geht um Sicherheit, um Frieden, es geht
um Bürger- und Menschenrechte, es geht um Demokratie und Freiheit . Das sind Errungenschaften in Europa,
auf die wir stolz sind, für die wir kämpfen und die wir
bewahren müssen .
({1})
Das Referendum in der Türkei zur geplanten Verfassungsreform rückt näher . Wir erleben, dass sehr viele
türkische Mitbürgerinnen und Mitbürger diese europäischen Werte schätzen und nicht nur in Deutschland mutig
auch für ein Nein werben .
Meine Damen und Herren, vom Vatikan hieß es im
Vorfeld der Feierlichkeiten in Rom, der Mensch müsse
wieder im Mittelpunkt der europäischen Politik stehen,
und ich ergänze sehr gern: für Frauen und Männer gleichermaßen; denn in Deutschland - wie in vielen anderen
Mitgliedstaaten - formieren sich neue konservative und
rechtspopulistische Kräfte gegen eine fortschrittliche
Geschlechter- und Familienpolitik . Aber Gleichstellung
ist in der EU ein primärrechtlich verankertes Ziel seit
60 Jahren, siehe Artikel 119 der Römischen Verträge
oder heute Artikel 141 des EG-Vertrages.
({2})
Daher wollen und müssen wir verhindern, dass
Gleichstellung schleichend von der Agenda verschwindet . Die Europa der Moderne wird hierbei den Stier bei
den Hörnern packen und ihm die Richtung weisen .
Herzlichen Dank .
({3})
Vielen Dank. - Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt
Iris Eberl das Wort .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! 60 Jahre Römische Verträge sind eine
lange Erfolgsgeschichte von Frieden und Freiheit, eine
Erfolgsgeschichte der Europäischen Union . Es war eine
Friedensperiode mit wachsendem Wohlstand für alle, die
Deutschland die Wiedervereinigung ermöglichte . Die
Europäische Union hat sich gelohnt, und es lohnt noch
immer, an ihr festzuhalten, wovon wir alle - fast alle überzeugt sind .
Trotzdem gibt es genug Stimmen, die einen Austritt
fordern . Großbritannien wird austreten, wohl wissend,
wie schwierig und wie teuer der Prozess der Auseinandersetzung werden wird . Inhaltlich benennt Großbritannien vor allem zwei Gründe, die seine nationale Hoheit
betreffen. Es will wieder selbst über die Einwanderung
entscheiden, und es will sich dem EuGH nicht mehr beugen .
Auch viele unserer Bürger haben das Vertrauen in die
Union verloren, bzw. ihr Vertrauen ist erschüttert. Wir
Abgeordnete sind praktisch gläsern, aber der Bürger weiß
nichts über die Richter am EuGH, nichts - oder kaum
etwas - über die Entscheidungsprozesse in Brüssel, fast
nichts über die Personen, die dort über Europa entscheiden und sich ungebeten in nationale Belange einmischen .
({0})
Menschen fürchten sich vor Unbekanntem; zu Recht .
Deshalb muss mehr Transparenz eine Forderung für die
Zukunft der Union sein .
Wie es mit der Europäischen Union weitergeht, wird
auch vom Umgangston untereinander abhängen und davon, wie wir mit Freunden umgehen . Noch ist Großbritannien Unionsmitglied, und es ist ein Freund . Nutzen
wir also den Austrittsprozess Großbritanniens für eine
positive Evaluation unserer Union . Sortieren wir sorgsam für unser Projekt Europa: Rosinen ins Töpfchen und
Fallobst in die Saftpresse .
({1})
Die Sicherheit der Bürger ist eine Rosine! Gemeinsame
europäische Verteidigungspolitik, Schutz der Außengrenzen, innere Sicherheit und Terrorbekämpfung - hier
erkennt der Bürger auch den Mehrwert der Union .
({2})
Aber was wir nicht brauchen, ist Einmischung in
Klein-Klein: Ekelbilder auf Zigarettenschachteln,
Feinstaubregelungen aus Brüssel, um nur zwei Beispiele
zu nennen .
({3})
Das nächste aktuelle Schlagwort, hinter dem sich Probleme verbergen, heißt: Wir brauchen ein soziales Europa .
({4})
Falsch . Wir haben ein soziales Europa .
({5})
Europa ist sozial, weil es aus sozialen Marktwirtschaften
besteht . Jede Nation hat ihre sozialen Sicherungen, abgestimmt auf die nationalen Verhältnisse.
Soziale Sicherungen können nur subsidiär geregelt
werden; denn sie müssen dem Bürger effektiv helfen.
Sein Bedarf wird in seiner Heimat bestimmt . Außerdem
ist es keinem Arbeitnehmer in Deutschland zumutbar, für
die Arbeitslosen in Frankreich zu bezahlen . Die gehören
dem französischen Premier .
Es ist ganz offensichtlich, dass ein europäisches Sozialversicherungssystem für Deutschland unbezahlbar
wird . Warum sollten wir dieses Fass ohne Boden haben
wollen?
({6})
Die Umverteilung von reichen zu armen Ländern
läuft sowieso seit langem, zum Beispiel mit den nie fällig werdenden TARGET-Salden, die von uns nicht steuerbar sind . Wir bauen den BMW . Wir liefern ihn nach
Griechenland . Wir leihen dem Griechen das Geld, damit
er das Auto bezahlt . Dafür werden wir halbjährlich im
Europäischen Semester aus Brüssel gerügt, weil wir zu
viel exportieren .
({7})
Diese Rüge verrät uns noch ein Problem der Union, nämlich Brüsseler Planwirtschaft programmiert mit
Nachfragepolitik .
({8})
Wir brauchen wieder eine Diskussion über Wirtschaftspolitik . Erfolge für die Bürger gibt es nur dort, wo Freiheit und Eigenverantwortung gelten . Einen ganzen Kontinent durch Bürokratie planwirtschaftlich steuern zu
wollen, ist zum Scheitern verurteilt .
({9})
Soll die Europäische Union langfristig weiter existieren,
müssen wir uns zu Freiheit und Subsidiarität bekennen .
Ich hoffe, meine Damen und Herren, meine Worte waren konstruktiv .
({10})
Denn die Union ist die kostbarste Erfindung des 20. Jahrhunderts . Sehen wir sie als Gemeinschaft demokratischer
Länder! Respektieren wir jeden einzelnen Wählerwillen!
Auch den aus Ungarn, Herr Poß .
({11})
Genießen wir die Vielfalt der Nationen! Pflegen wir unsere Europäische Union! Wir haben die Jugend auf unserer Seite .
({12})
Danke .
({13})
Vielen Dank. - Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der
Kollege Norbert Spinrath .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Ich teile ausdrücklich
nicht das, was Frau Kollegin Eberl gerade gesagt hat;
ich teile ausdrücklich zunächst einmal die Würdigung
der Entwicklung, aber auch der Notwendigkeit der Römischen Verträge und ihres Geistes, die Staatsminister
Michael Roth eben vorgenommen hat .
Am Samstag wird in Rom nicht nur gefeiert, sondern mit dem Bratislava-Prozess und dem Weißbuch
der Kommission steht nicht weniger als die Zukunft der
EU auf der Tagesordnung . Es wird von uns allen schon
seit langem erkannt, dass der Status der Verträge nicht
mehr ausreicht, um mit den aktuellen Erfordernissen und
den Herausforderungen der Zukunft umzugehen . Wir
sollten nicht so verzagt sein, wie wir es auch manchmal
in Deutschland sind . Martin Luther hat sich dazu einst
kräftig geäußert . Im Luther-Jahr sollte man ihn zitieren
dürfen, was ich mir jetzt aber versage . Um diese Uhrzeit
könnten Kinder zuhören .
Aber lassen Sie uns nicht verzagt sein . Lassen Sie uns
Mut zur Weiterentwicklung der Europäischen Union haben . Diesen Mut brauchen wir, so habe ich heute vernommen, auch und gerade in Deutschland .
({0})
Parallel zum Europäischen Rat werden Tausende
Menschen in Rom und in vielen weiteren europäischen
Städten für ein geeintes Europa demonstrieren, so wie
es auch die Bewegung Pulse of Europe seit einigen Wochen jeden Sonntag europaweit macht . Diese Menschen
zeigen Mut . Sie ermuntern uns, unsere Zurückhaltung
aufzugeben und Europa für uns zu begreifen und weiterzuentwickeln .
Die vorgestern veröffentlichte Umfrage der Bertelsmann-Stiftung zeigt, dass die Mehrheit der 15- bis
24-Jährigen in Mittel- und Osteuropa die EU befürwortet
({1})
und damit Mut beweist . Die Zustimmungswerte liegen
in allen untersuchten Ländern bei über 70 Prozent, in
Deutschland sogar bei 87 Prozent . Aber wir sind verzagt .
Wir haben den Mut nicht; die jungen Menschen haben
ihn .
({2})
- Genau, die jungen Menschen applaudieren . - Diese Jugendlichen sollten uns motivieren, mutig und konstruktiv über die Zukunft der EU zu diskutieren . Wir müssen
nun alle Voraussetzungen dafür schaffen, dass die Jugend
Europas ihre eigene Zukunft in Europa gestalten kann .
({3})
Im Weißbuch zur Zukunft der EU stellt die Kommission fünf mögliche Szenarien zur Diskussion . Zwei Szenarien erteile ich eine ganz klare Absage, nämlich dem
Rückzug auf den Binnenmarkt und einer Fokussierung
auf wenige Politikbereiche . Da unterscheiden wir uns,
Herr Frei und Herr Matern von Marschall . In Ihrer Aufzählung kommen die sozialen Standards nicht vor . Nicht
einmal der Begriff „sozial“ ist gefallen. Beide Szenarien
enthalten gravierende Folgen für Sozialstandards, Arbeitnehmerrechte und regionale Entwicklungen . Wer das
will, zeigt keinen Mut . Wer das will, versündigt sich gegen den Geist der Römischen Verträge.
({4})
Frau Eberl, es ist ein bisschen realitätsfremd, auf die
Sozialstandards in den jeweiligen Mitgliedsländern zu
verweisen .
({5})
Sie predigen doch ständig, dass wir Konvergenz - auch
bei den Wirtschaftsdaten - brauchen, um alle am größtmöglichen Profit Europas zu beteiligen. Wo bleibt denn
Ihre Forderung nach der Konvergenz der SozialstanIris Eberl
dards? Wir brauchen diese Konvergenz in Europa dringend .
({6})
Denn die Menschen in Europa profitieren vom höchsten
Gut, das Europa ihnen zu bieten hat, nämlich von der
Freizügigkeit . Wenn sie diese Freizügigkeit nutzen, müssen wir auch sicherstellen, dass die sehr unterschiedlichen
Sozialstandards angeglichen werden . Dafür brauchen wir
das soziale Europa, und dafür brauchen Sie endlich Mut .
({7})
Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten wollen hin zu einer echten gemeinsamen Wirtschafts- und
Währungsunion . Aber wir wollen auch hin zu einem sozialen Europa . Der Satz stimmt: Es ist Zeit für mehr Gerechtigkeit, nicht nur für die Menschen in Deutschland,
sondern für alle Menschen in Europa .
({8})
Lassen Sie uns die besten Ideen und Ansätze der drei
verbleibenden Szenarien des Kommissionsweißbuchs
aufgreifen, mit eigenen Vorschlägen ergänzen und daraus
ein neues Szenario entwickeln . Lassen Sie uns mit viel
Mut an der Gestaltung Europas im Sinne der Menschen
in Europa dranbleiben . Wer ein gemeinsames europäisches Haus will, Herr Hunko, ist herzlich dazu eingeladen . Wir waren gemeinsam in der letzten Woche mit
einer Delegation des EU-Ausschusses in Moskau . Wer
uns aber so behandelt wie die dortige politische Ebene,
sendet keine Signale, dass er ein gemeinsames Haus will .
Man hat uns die kalte Schulter gezeigt . Ermutigen Sie
Ihre Freunde doch dazu, endlich Gesprächsbereitschaft
zu zeigen! Dann können wir weiterreden .
({9})
Wir brauchen eine Weiterentwicklung in Europa .
Wenn wir nicht wollen, dass sich die Menschen von Europa abwenden, dann müssen wir jetzt den Mut und die
Bereitschaft zu weiteren gemeinsamen Schritten aufbringen . Sonst wird es bald fünf vor zwölf für die EU sein .
Es ist nicht nur wichtig, Ergebnisse zu veröffentlichen.
Nein, wir müssen vielmehr über den Weg dorthin öffentlich diskutieren . Wir müssen die Menschen in Europa erfahren lassen, wie wir Lösungen anstreben und dass die
europäische Politik ihren Alltag und ihre Bedürfnisse in
den Mittelpunkt stellt . Wir müssen die Menschen deutlich mehr als bisher an der Gestaltung der Europäischen
Union beteiligen; denn nur dann können die Menschen
Europa als ihr Europa begreifen und dafür mutig und engagiert kämpfen .
({10})
Es wurde Zeit, dass Sie zum Ende kommen . - Jetzt hat
der Kollege Dr . Christoph Bergner die Gelegenheit, diese
Debatte abzuschließen .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Ich zitiere in dieser Debatte
gern folgenden Satz von Wolfgang Schäuble:
Die europäische Einigung ist vielleicht die beste Idee, die die Europäer im 20 . Jahrhundert hatten, und gewiss ist sie die beste Vorsorge für unser
21 . Jahrhundert .
Ich füge aus persönlicher Sicht gerne hinzu: Wenn ich
mir vor Augen führe, welche Verpflichtungen ich gegenüber der Generation meiner Kinder und Enkel habe, dann
weiß ich, dass die Verpflichtung, mich für die Zukunft
Europas einzusetzen, eine zentrale Aufgabe ist . So erlebe
ich es, und so will ich es auch wahrnehmen .
({0})
Sosehr wir das Recht haben, den Feiertag „60 Jahre
Römische Verträge“ mit Dankbarkeit zu begehen und auf
die letzten 60 Jahre mit Genugtuung zurückzublicken, so
sehr sollten wir uns darüber im Klaren sein, welche Probleme uns in den nächsten sechs Jahren erwarten . Wir
sprechen im Europaausschuss über die Bewältigung des
Brexit, wir wissen von Zentrifugalkräften in der Europäischen Union und vieles andere mehr . Deshalb ist es,
glaube ich, angemessen, dieses Jubiläum einerseits mit
Dankbarkeit für das, was erreicht wurde, aber andererseits auch mit Problembewusstsein für das, was an Aufgaben unmittelbar vor uns steht, zu begehen .
So halte ich es für eine gute Fügung, dass zeitgleich
mit diesem Jubiläum das Weißbuch des Kommissionspräsidenten, der Bratislava-Prozess und der Bericht des
Europäischen Parlamentes zum Zustand der EU sowie
mögliche Perspektiven verabschiedet und beraten wurden . Wer sich mit diesen Papieren beschäftigt, weiß, dass
wir die Probleme, die vor uns liegen, nicht allein mit Euphorie - mit Mut schon - bewältigen werden, sondern
dass wir sehr viel Nüchternheit brauchen .
Im Sinne dieser Nüchternheit habe ich mir erlaubt,
ein Problem in dieser Debatte aufzugreifen, das mich besonders umtreibt und in dem ich die Ursache mancher
Schwierigkeiten der Europäischen Union sehe . Das ist
die Frage nach der demokratischen Legitimation, über
die wir gestern im Ausschuss schon ein wenig diskutiert
haben . Um es klar zu sagen: Ich widerspreche jedem, der
vom Diktat der Kommission spricht, wenn es um Rechtsetzung geht, die wir als Nationalstaaten der Europäischen Kommission übertragen haben .
({1})
Aber ich kann nicht übersehen, dass die Entscheidungen in Brüssel oft genug so wahrgenommen werden, als
wären sie ein Diktat von oben,
({2})
und dass sich das Gefühl breitmacht - wenn ich Peter
Graf von Kielmansegg zitieren darf -, dass je höher wir
in den europäischen Institutionen sind, desto dünner die
demokratische Luft wird .
({3})
- Warum ist das so? Es ist so, weil der natürliche Ort
demokratischer Legitimation die Nationalstaaten und die
nationalen Parlamente sind .
({4})
Das Europaparlament ist eine großartige Erfindung,
es ist eine unverzichtbare Institution, aber es ist kein Ort
repräsentativer Demokratie,
({5})
solange wir kein europäisches Staatsvolk haben und solange wir nicht davon ausgehen können, dass wir eine
europäische Öffentlichkeit als Ort gemeinschaftlicher
Meinungsbildung haben .
({6})
- Werfen Sie mir doch so etwas nicht vor! - Das ist das
Dilemma, in dem wir uns bewegen und in dem wir uns
zurechtfinden müssen. Wir dürfen uns auch nicht wundern, dass manche Prozesse, mit denen wir uns herumschlagen, entsprechend kompliziert und schwierig geworden sind .
Demokratie ist konstitutiv für die Europäische Union,
und deshalb müssen wir Lösungen suchen . Ich wünsche
mir, dass Folgendes in die Debatte über das Weißbuch
mit einbezogen wird .
Erstens . Stärkung des Subsidiaritätsprinzips - das hat
Herr Frei schon gesagt -, weil es gewissermaßen ein Instrument ist, die demokratische Willensbildung zu ordnen .
Zweitens . Das politische Mandat der Kommission
sollte unter den gegebenen Umständen nicht ausgebaut,
es muss wohl eher begrenzt werden .
({7})
Drittens. Die Vision eines europäischen Staatsvolkes
mag eine Utopie sein, aber wir müssen trotzdem bereit
sein, uns in diese Richtung zu bewegen .
({8})
Ich denke, dass Dinge wie die Weiterentwicklung der
Unionsbürgerschaft, wie die Verständigung über grenzüberschreitende, gemeinsame kulturelle Identifikationspunkte, wie meinetwegen auch das Interrailticket, das
in dem Zusammenhang durchaus einen Beitrag leisten
kann, Elemente sind, die wir zur Stärkung der Identifikation mit Europa brauchen .
Vielen Dank, Herr Dr. Bergner.
Ein letzter Satz . - Mein Wunsch wäre es, dass wir dieses Jubiläum nicht nur im Rückblick mit Zufriedenheit
feiern, sondern dass wir dieses Jubiläum als einen Arbeitsauftrag betrachten; denn es liegen schwierige Probleme vor uns, denen wir uns widmen müssen, und zwar
nicht nur mit Euphorie, sondern auch mit Nüchternheit
und Problembewusstsein .
Danke schön .
({0})
Vielen Dank. - Die Debatte ist etwas länger geworden
als geplant . Aber es ist auch mit viel Leidenschaft gestritten worden, und das ist gut für Europa, denke ich . Die
Aktuelle Stunde ist damit beendet .
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 32 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Erleichterung unternehmerischer Initiativen aus
bürgerschaftlichem Engagement und zum Bürokratieabbau bei Genossenschaften
Drucksache 18/11506
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz ({0})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache 38 Minuten vorgesehen . - Ich höre von Ihrer
Seite keinen Widerspruch . Dann ist das so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die Bundesregierung hat der Parlamentarische Staatssekretär
Christian Lange . - Bitte schön .
({1})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Mit dem vorgelegten Gesetzentwurf will
die Bundesregierung zum einen die Gründung kleiner
unternehmerischer Initiativen aus bürgerschaftlichem
Engagement erleichtern, indem eine passende Rechtsform zur Verfügung gestellt wird. Zum anderen geht es
um Erleichterungen für Genossenschaften selbst .
Beide Teile, freilich, stehen in einem Zusammenhang; denn die Genossenschaft ist ebenfalls eine ideale
Rechtsform für das bürgerschaftliche Engagement . Die
alte genossenschaftliche Idee „Was einer allein nicht
schafft, das schaffen viele“ gilt auch für Initiativen aus
bürgerschaftlichem Engagement: Viele Bürgerinnen und
Bürger tun sich zusammen, um etwas gemeinsam auf die
Beine zu stellen . Genau das wollen wir unterstützen und
fördern .
Diese Bürgerinnen und Bürger tun etwas nicht nur für
sich selbst, sondern für die Gemeinschaft, zum Beispiel
gründen sie einen Dorfladen, schaffen erreichbarere Einkaufsmöglichkeiten, erhöhen die Lebensqualität auf dem
Land, insbesondere für ältere Personen . Die Umwelt wird
geschont, wenn Autofahrten zu entfernten Supermärkten
entfallen. Oft wird ein Dorfladen zu einem sozialen Treffpunkt und stärkt die Dorfgemeinschaft .
Aber auch in Städten kann bürgerschaftliches Engagement die Lebensqualität verbessern, zum Beispiel,
wenn Bürgerinnen und Bürger ein Programmkino in einer Kleinstadt oder eine andere Kultureinrichtung übernehmen, weil das auf eine Gewinnerzielung angewiesene
Unternehmen es nicht mehr tun möchte .
Für solche kleinen Unternehmen aus bürgerschaftlichem Engagement gilt regelmäßig: Sie werden ehrenamtlich betrieben und haben wenig Geld zur Verfügung. Die
Mitglieder wollen die knappen Ressourcen an Zeit und
Geld so weit wie möglich für die Verwirklichung ihres
Zwecks nutzen und nicht für die Erfüllung von bürokratischen Anforderungen . Bei bürgerschaftlich getragenen
Unternehmen ist es daher oft zu aufwendig und zu teuer,
den Zweck in der Rechtsform einer Kapitalgesellschaft
oder Genossenschaft zu verfolgen .
Auf der anderen Seite ist es den Bürgerinnen und Bürgern, die sich ehrenamtlich für ihre Region engagieren,
ein Anliegen, dass sie nicht persönlich haften . Unser Gesetzentwurf sieht deshalb vor, für solche Initiativen aus
bürgerschaftlichem Engagement den Zugang zum rechtsfähigen Wirtschaftlichen Verein zu erleichtern.
({0})
Diese Rechtsform verursacht wenig Aufwand und
Kosten, und es gibt keine Haftung der Mitglieder . Nach
den Erfahrungen in Rheinland-Pfalz hat sich bewährt,
dass Dorfläden die Rechtsfähigkeit als Wirtschaftlicher
Verein verliehen wird. Die Verleihungspraxis ist in den
Bundesländern freilich sehr uneinheitlich . Daher sollen künftig die Voraussetzungen für die Verleihung der
Rechtsfähigkeit an Wirtschaftliche Vereine stärker konkretisiert und dadurch die Verleihungspraxis stärker
vereinheitlicht werden . § 22 des Bürgerlichen Gesetzbuches soll verständlicher gefasst werden, und es ist eine
Ermächtigung für eine Rechtsverordnung vorgesehen,
durch die die Verleihungsvoraussetzungen für Initiativen
aus ehrenamtlichem Engagement konkretisiert werden .
Auch die Genossenschaft ist eine sehr geeignete
Rechtsform für bürgerschaftliches Engagement, insbesondere wenn sich die Mitglieder mit nicht unerheblichen
Geldbeträgen beteiligen wollen; denn bei Genossenschaften werden - durch die verpflichtende Gründungsprüfung
und die regelmäßigen Pflichtprüfungen - die Vermögenslage und die Geschäftsführung überwacht . Dies gibt den
Mitgliedern Sicherheit bei ihrem Engagement .
Durch verschiedene bürokratische Erleichterungen
soll mit dem Gesetzentwurf auch die Rechtsform der Genossenschaft noch attraktiver gemacht werden, insbesondere für Kleinstunternehmen .
({1})
Zum Beispiel soll künftig bei Kleinstgenossenschaften
jede zweite Pflichtprüfung in Form einer kostengünstigeren vereinfachten Prüfung stattfinden. Auch soll die Finanzierung von Investitionen durch Mitgliederdarlehen
erleichtert werden .
Meine Damen und Herren, es sind keine tiefgreifenden Änderungen im Genossenschaftsgesetz vorgesehen .
Einige Vorschläge wurden im Regierungsentwurf gegenüber dem Referentenentwurf etwas abgeschwächt . Aber
das Signal ist klar: Auch die Genossenschaft ist eine attraktive Rechtsform für Unternehmen des bürgerschaftlichen Engagements .
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch wenn Sie eine
Vielzahl anderer Gesetze zu beraten haben und im Hinblick auf das Ende der Wahlperiode die Zeit immer knapper wird: Dieses Gesetz sollte noch in dieser Legislaturperiode verabschiedet werden, damit der Gesetzgeber
zeigt, dass er etwas für ehrenamtliches Engagement in
Deutschland tut .
Herzlichen Dank .
({3})
Vielen Dank, Herr Staatssekretär. - Als nächste Rednerin spricht Dr . Petra Sitte von der Fraktion Die Linke .
({0})
Danke . - Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das UNESCO-Welterbekomitee hat im November
des vergangenen Jahres die Idee der Genossenschaften in
die Liste des immateriellen Weltkulturerbes aufgenommen . In der Begründung wurde einstimmig erklärt, dass
die Genossenschaftsidee als überkonfessionelles Modell
auf den Maximen der Selbsthilfe, Selbstverwaltung und
Selbstverantwortung beruht .
({0})
Weltweit sind über 800 Millionen Menschen in Genossenschaften organisiert . Allein in Deutschland engagieren sich nach Zahlen aus dem Jahr 2015 20 Millionen
Menschen in rund 7 600 Genossenschaften . Genossenschaftliches Agieren hat eine jahrhundertealte Tradition .
Schon seit dem Mittelalter existieren nachweisbar genossenschaftliche Strukturen oder Bestrebungen, die der
wirtschaftlichen und sozialen Förderung ihrer Mitglieder
dienen .
Ich selbst bin vor vier Jahren Gründungsmitglied einer Genossenschaft in meinem Wahlkreis geworden,
nämlich der Peißnitzhaus Genossenschaft . Es gibt sicher
noch so manchen im Saal, der oder die auch in einer solchen Genossenschaft mitarbeitet . Das Peißnitzhaus ist
ein ganz wichtiger Pfeiler bei uns für Hallesche Kultur,
für Naherholung . Es bietet zahlreiche Angebote in den
Bereichen Umweltbildung, Kunst, Kultur, Konzerte und
auch Geschichte. Vor allem ist es eine Genossenschaft,
in der Menschen mit Behinderung Arbeit finden. Das ist
auch ein Aspekt, den wir dabei mit bedenken sollten .
({1})
So habe ich natürlich mit Interesse die Bestrebungen
der Bundesregierung verfolgt, bei der Gründung solcher
Genossenschaften zu Erleichterungen für das Ehrenamt
zu kommen. Im Koalitionsvertrag findet sich dazu auch
etwas . Es sind ungefähr dreieinhalb Jahre vergangen, seit
der Koalitionsvertrag geschrieben worden ist . Sie mahnen jetzt zur Eile . Nun ja, gut; besser jetzt als gar nicht .
Das hätte man aber auch schon früher hinbekommen
können .
({2})
- Ja, wir haben immer etwas zu meckern; das wissen
Sie doch . - Im Koalitionsvertrag steht: Die Gründung
unternehmerischer Initiativen aus bürgerschaftlichem
Engagement, zum Beispiel - wie vorhin schon gesagt Dorfläden, aber auch Kitas, altersgerechtes Wohnen oder
Energievorhaben, soll erleichtert werden . Für solche Initiativen soll eine geeignete Unternehmensform im Genossenschafts- oder Vereinsrecht zur Verfügung stehen.
Vor allem sollen dabei, wie schon zitiert, unangemessener Aufwand und Bürokratie vermieden werden . - Allerdings ist unsere Befürchtung: Der Gesetzentwurf, den
wir hier beraten, wird das weder gut noch deutlich besser
tun .
Das derzeitige Genossenschaftsgesetz - da sind wir
uns wohl einig - ist überorganisiert und ziemlich undemokratisch verfasst . Man könnte sogar sagen: Es verhindert in manchen Fällen die genossenschaftliche Selbsthilfe und Solidarität .
({3})
- Ich rede doch über das bisherige, das in der Kritik steht;
das ist ein feiner Unterschied .
({4})
Die alleinige Leitungsmacht des Vorstands nach dem Genossenschaftsgesetz muss eingeschränkt werden, und die
Mitbestimmungsmöglichkeiten und Rechte der Mitglieder und der Generalversammlung sollten gestärkt werden .
({5})
Eine engere Bindung der Geschäftsleitung an die Beschlüsse des Vorstandes könnte in vielen Fällen die Zahl
der Entscheidungen reduzieren, die „über die Köpfe hinweg“ getroffen werden. Wir wissen ja alle, dass es gerade
mancher Wohnungsgenossenschaft ausgesprochen gut
tun würde, sich in dieser Beziehung wieder zu erden .
Die Möglichkeit des Justizministeriums, den Wirtschaftlichen Verein per Rechtsverordnung nach § 22
BGB wieder einzuführen, könnte - da haben wir unsere
Bedenken - den Druck auf kooperative Wohninitiativen
wieder verschärfen . Es wird nämlich befürchtet, dass sie
diese Rechtsform - das können wir ja in der Ausschussdebatte klären - nutzen müssen, statt die Möglichkeit eines eingetragenen und teilweise gemeinnützigen Vereins
nutzen zu können . Diese Befürchtung ist ja auch nicht
ganz unbegründet, gibt es doch schon jetzt große Probleme, sich in das Vereinsregister eintragen zu lassen.
Ich will noch etwas zur Logik der Genossenschaften
sagen . Im Bundesjustizministerium, aber auch im Ministerium für Wirtschaft und Energie ist man offenbar der
Auffassung, dass sich Genossenschaften auch am Markt
bewähren und dass sie mit anderen Anbietern am Markt
konkurrieren müssen . Das sehen wir ausdrücklich nicht
so, weil zahlreiche Gründungen eben genau deshalb erfolgen, weil man sich dieser Logik entziehen will . Das
sollten wir auch stärken, weil es eben um die Ressourcen
vieler zum Wohle aller geht .
({6})
Ich komme schließlich zu Kitas und Dorfläden: Ja, das
sind ganz wichtige Beispiele, wo kollegial und solidarisch zusammengearbeitet werden muss und auch wird .
Jeder von uns kennt diese Beispiele . Insofern ist die
ehrenamtliche Arbeit in Genossenschaften bzw . um das
Genossenschaftswesen herum eine ganz wichtige Aufgabe . Sie darf aber natürlich soziale Daseinsvorsorge oder
andere Aufgaben und Verantwortungen des Staates nicht
ersetzen . Darüber sollte man sich im Klaren sein, wenn
man über diese Konstrukte diskutiert .
Insofern werden wir also im Ausschuss schauen, was
sich dort machen lässt . Wo es eben möglich ist, Menschen
mit ihrem bürgerschaftlichen Engagement bzw . in ihrem
Ehrenamt zu unterstützen, da sollte sich das in diesem
Gesetz auch niederschlagen. Vor allen Dingen sollten die
bürokratischen Hürden reduziert werden .
Danke schön .
({7})
Als nächster Redner hat das Wort Marco Wanderwitz
von der CDU/CSU-Fraktion .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Zehntausende Bürgerinnen und Bürger
engagieren sich in unserem Land täglich ehrenamtlich miteinander und füreinander . Als Erstes fallen uns
da Feuerwehren und Vereine aller Art - zum Beispiel
Sportvereine - ein, aber eben auch Initiativen wie beispielsweise kleine Dorfläden sowie Kitas, die sich in der
Trägerschaft von Elternvereinen befinden. Ich nenne in
diesem Zusammenhang weiterhin folgende Stichwörter:
altersgerechtes Wohnen, Energievorhaben, Eltern- und
Nachbarschaftsinitiativen usw . usf .
Viele dieser städtischen, aber auch ländlichen Initiativen werden wirtschaftlich insbesondere dort tätig, wo
einerseits der Markt Teile der Daseinsvorsorge nicht
gewährleisten kann oder will oder wo es eben der Staat
auch nicht kann bzw . sich damit schwertut . Die bekanntesten solcher Initiativen, deren Zweck auf einen wirtschaftlichen Betrieb in geringem Umfang gerichtet ist,
sind eben die genannten Dorfläden, wo der Einzelhandel
auf dem flachen Land - ich glaube, viele von uns kennen
das aus ihren Wahlkreisen - keine Gewinne erwirtschaften kann . Dort schließen sich nicht selten die Einwohnerinnen und Einwohner zusammen, um sich die gewohnten
kurzen Wege und die damit verbundene Lebensqualität
zu erhalten .
Dorfläden werden heute beispielsweise als Unternehmensgesellschaft, als rechtsfähiger Wirtschaftlicher Verein oder eben als Genossenschaft gegründet . Die Genossenschaft stellt auch aus meiner Sicht eine sehr sinnvolle
Rechtsform für diese Initiativen dar . Ein Austritt von Mitgliedern ist sehr unkompliziert möglich . Die Mitglieder
haften nicht persönlich . Und es gilt der genossenschaftliche Grundsatz: Ein Mitglied, eine Stimme . Der schützt
beispielsweise davor, dass Investoren in irgendeiner Art
und Weise einsteigen und dominieren können .
Die Rechtsform der Genossenschaft ist jedoch für
kleine Unternehmen, wo weniger für den Gewinn als
gegen den Verlust gewirtschaftet wird, nicht immer attraktiv . Da gibt es zum einen die Kosten der Gründungsprüfung, zum anderen Mitgliedsbeiträge beim genossenschaftlichen Prüfungsverband oder auch die Kosten für
regelmäßige genossenschaftliche Pflichtprüfungen. Deshalb haben wir im Koalitionsvertrag vereinbart - Kollege
Staatssekretär Lange hat es schon dargestellt -, die Gründung unternehmerischer Initiativen aus bürgerschaftlichem Engagement zu erleichtern .
Die Inhalte eines Koalitionsvertrages werden so abgearbeitet, dass gewisse Dinge zu Beginn, gewisse Dinge zur Mitte und gewisse Dinge zum Ende an die Reihe
kommen . Das ist, glaube ich, in jeder Koalitionsregierung so, egal wer daran beteiligt ist .
({0})
- Ja, mir sind aber keine Koalitionen aus den Ländern
bekannt, an denen die Linkspartei beteiligt ist und die im
letzten Jahr nichts mehr aus ihrem Koalitionsvertrag abzuarbeiten gehabt hätten .
Aber ich glaube, wichtig ist, dass wir jetzt an dieser
Stelle noch tätig werden, dass es jetzt den Gesetzentwurf
gibt und dass wir ihn, so hoffe ich zumindest, auch in den
Ausschussberatungen zu einem guten Ergebnis führen .
({1})
Wir haben im Koalitionsvertrag einen Prüfauftrag vereinbart und wollen schauen, inwieweit Handlungsbedarf
besteht und wo wir gegebenenfalls weitere Erleichterungen am sinnvollsten abbilden können, ohne in bewährte Systeme zu tief und zu grundlegend einzugreifen . An
dieser Stelle gleich einmal gesagt: Ich halte das Genossenschaftsgesetz für sehr bewährt . Es gibt sicherlich immer gewisse Dinge zu verbessern, aber die doch relativ
fundamentale Kritik, die hier geäußert wurde, teile ich
nicht . Das für das Genossenschaftswesen zuständige
Bundeswirtschaftsministerium hatte zu Beginn der Legislaturperiode eine Studie mit dem Titel „Potenziale
und Hemmnisse von unternehmerischen Aktivitäten in
der Rechtsform der Genossenschaft“ in Auftrag gegeben .
Das war einer der Gründe - erst einmal anschauen, dann
vorlegen -, warum es nicht gleich zu Beginn der Legislaturperiode zu einem Gesetzentwurf kam .
Meine Lesart der Studie: Mehr als 90 Prozent der Befragten sind zufrieden mit der gewählten Rechtsform und
lehnen Änderungen am genossenschaftlichen Prüfungsund Beratungsansatz ab . Eine große Mehrheit bewertet Vorteile wie Vertrauen und Sicherheit höher als die
Kostennachteile, die die Rechtsform Genossenschaft mit
sich bringt . Selbst Kleinstgenossenschaften wie Dorfläden mit geringfügiger wirtschaftlicher Tätigkeit, die
dieser Gesellschaftsform unterliegen und befragt wurden, fordern mit Blick auf die Kosten mehrheitlich keine
generelle Abschaffung von Pflichtmitgliedschaft und Abschlussprüfung, und jeder zweite Betreiber der so organisierten und befragten Dorfläden sagt, die Gründungsprüfung verhindere unternehmerische Fehlentscheidungen
früh . Insofern sind nach meiner Lesart eher nur kleinere
Eingriffe im bewährten Genossenschaftsrecht zu rechtfertigen .
Der vorgelegte Gesetzentwurf sieht einerseits Maßnahmen im Genossenschaftsrecht, andererseits im
Vereinsrecht vor. Insbesondere die Änderungen im
Vereinsrecht hat Kollege Lange schon umfänglich ausgeführt . Wir sind der Meinung, dass das gut angelegte
Regelungen sind . Wir unterstützen diese ausdrücklich .
Skeptischer bin ich bezüglich der Änderungen, die das
Genossenschaftsrecht betreffen. Das betrifft insbesondere den neu eingefügten § 53a Genossenschaftsgesetz .
Dort sind Pflichtprüfungen in der normalen Form, wie
sie bisher jährlich stattfinden, nur noch jedes zweite Jahr
vorgesehen . In den Jahren dazwischen soll es zu vereinfachten Prüfungen kommen . Klar, die vereinfachten
Prüfungen bedeuten ein Weniger im Verhältnis zu den
regulären Pflichtprüfungen, wie wir sie jetzt kennen. Wir
sollten zumindest sehr genau hinschauen, ob diese Änderung im Genossenschaftsrecht eine gute Idee ist oder ob
sie nicht dem Vertrauen in die Genossenschaft als besonders insolvenzfester, besonders gut geprüfter und beratener Unternehmensform schadet .
Vorgeschlagen ist zudem, dass eine Befreiung von der
Jahresabschlussprüfung für Genossenschaften mit einer
Bilanzsumme von unter 1,5 Millionen Euro und einem
Umsatzerlös von unter 3 Millionen Euro stattfinden soll.
Das würde bedeuten, dass zu den 50 Prozent der Gesellschaften, die jetzt schon von dieser Jahresabschlussprüfung befreit sind, noch weitere dazukommen würden .
Auch mittelgroße Gesellschaften würden dann künftig
nicht mehr diesen Regelungen unterliegen . Damit würde
ein Stück weit weniger genau hingeschaut und beispielsweise in Frühphasen nicht mehr erkannt, dass es unternehmerische Fehlentwicklungen gibt . Deswegen wollen
wir in den Ausschussberatungen insbesondere diese beiden Punkte noch einmal sehr genau thematisieren .
Die Verordnungsermächtigung ist bereits angesprochen worden . Wir sind der Meinung, dass es ideal wäre,
wenn es uns gelänge, im Zuge des Gesetzgebungsverfahrens dieses Thema mit abzuräumen . Das heißt, dass
wir entweder im Gesetz festschreiben, was die genauen
Kriterien sind, oder dass wir uns als Gesetzgeber alternativ die Verordnung gleich mit anschauen und sie dann
in unmittelbarer zeitlicher Nähe in einer auch vom Parlament diskutierten und gebilligten Form verabschiedet
werden kann .
Wir haben eine gute Chance, in einem zeitlich gar
nicht so weit auseinanderliegenden Verfahren zu einer
guten Lösung zu kommen, damit Initiativen wie beispielsweise Kitas oder Dorfläden als Kleinstgenossenschaften, aber auch als Vereine künftig noch ein Stück
leichter und ein Stück besser arbeiten können . Wir haben
uns das fest vorgenommen und freuen uns auf die parlamentarischen Beratungen hier im Haus .
({2})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Als Nächstes kommt der
Redner Dieter Janecek von der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Gemeinsam mehr erreichen - das ist der Grundgedanke der Genossenschaften . Sie haben ja auch schon viel erreicht: die Energiewende in der heutigen Form, letztlich auch den Ausstieg
aus der Atomenergie, den wir heute schon in der Endlagerdebatte thematisiert haben . Das alles wäre ohne genossenschaftliches Engagement nicht gegangen, bei dem
sich viele Hunderttausend Menschen für gemeinsame
Ideale eingesetzt haben .
({0})
Ich komme aus München . Ich merke auch dort, dass
viele Leute mithelfen, zum Beispiel die Landwirtschaft
ökologischer zu machen, um die Versorgung sicherzustellen. Mir fällt das Beispiel des Kartoffelkombinats ein,
das den Gemüseanbau in der Region nach vorne bringt
und Menschen in der Stadt mit guten Produkten aus der
Region versorgt . Deswegen ist es gut, dass wir heute gemeinsam diskutieren, wie wir noch mehr Freiheiten und
noch weniger Bürokratie für die Genossenschaften erreichen können .
({1})
Mit den Genossenschaften machen wir unsere Wirtschaft nachhaltiger, aber auch die Unternehmen handeln
verantwortlicher und effizienter. Das sind oftmals die Erfahrungen . Ganz wichtig ist: Wir machen die Wirtschaft
demokratischer . All das zusammen wollen wir; denn wir
wollen eine wertebasierte Wirtschaft, die für die Menschen da ist und nicht umgekehrt .
({2})
Deshalb fordern wir Grüne schon seit vielen Jahren,
die Bedingungen für genossenschaftliches Wirtschaften
zu stärken . Wir haben Anträge verfasst, beispielsweise
„Kleine und Kleinstgenossenschaften stärken, Bürokratie abbauen“, zuletzt einen Antrag zum Thema „Share
Economy“ . Wir wollen Betriebe haben, die teilen statt
besitzen . Wir wollen auch das E-Government stärken und
für Hilfe sorgen, um den analogen Prozess in das digitale
Zeitalter zu überführen, weil genau das den Kleinen sehr
viel Arbeit macht . Wir wollen uns für das Prinzip „Ein
Mitglied, eine Stimme“ einsetzen; denn das entspricht
dem genossenschaftlichen Demokratieprinzip und dem
Grundsatz der Selbstverwaltung . All das wollen wir gemeinsam stärken . Wir wollen es auch deswegen tun, weil
wir mit unserer Wirtschaftsweise schlechte Erfahrungen
gemacht haben. Ich erinnere nur an die Weltfinanzkrise
von 2007/2008 . Seitdem gibt es wieder eine Renaissance
des genossenschaftlichen Modells, weil viele den Weg
des Finanzkapitalismus nicht gehen wollen . Sie wollen
Alternativen aufbauen, die für Wertschöpfung in der Region sorgen . Dafür stehen wir .
({3})
Ich komme auf Ihren Gesetzentwurf zu sprechen . Sie
haben einige Ziele benannt . Wir sind auch noch bei der
künftigen Anhörung im Gespräch . Wir werden uns heute
noch nicht abschließend zu diesem Gesetzentwurf verhalten, weil es eine rechtlich komplizierte Situation ist,
die wir zu bewerten haben . Aber ich will einige Dinge
ansprechen . Sie wollen zum einen, dass es sehr kleinen
Genossenschaften zukünftig ermöglicht wird, jede zweite Pflichtprüfung in Form einer vereinfachten Prüfung
durchzuführen . Das begrüßen wir uneingeschränkt . Das
finden wir gut. Wir hätten allerdings auch bei einer Erhöhung der Grenzen der Bilanzsumme - beispielsweise von
2 Millionen Euro auf 4 Millionen Euro - für verpflichtende Jahresabschlussprüfungen ansetzen können . Auf
diesen Vorschlag sind Sie nicht eingegangen. Wir hätten
uns hier gewünscht, dass Sie mehr Spielraum schaffen.
({4})
Wir begrüßen auch, dass darüber nachgedacht wird,
die Förderlandschaft zielgerichteter auszubauen . Dieses
Problem betrifft viele Kleinstunternehmer. Auch hier
müssen wir bei der Anhörung auf die Details achten . Wir
müssen dafür sorgen, dass die Instrumente greifen, damit Menschen mit einem Umsatz in Höhe von vielleicht
10 000 bis 20 000 Euro, die sehr viele gemeinwohlorientierte Interessen verfolgen, zum Zuge kommen . Hier ist
die Förderlandschaft, die wir heute haben, nicht wirklich
innovativ aufgestellt .
({5})
Zu guter Letzt - das ist vielleicht einer der wesentlichsten Punkte - geht es hier um die Frage - das haben
Sie, Herr Staatssekretär, angesprochen -, ob wir mehr
Unternehmen in die Rechtsform eines Wirtschaftlichen
Vereins überführen können. Nach § 22 Absatz 2 BGB hat
das BMJV - das haben Sie angesprochen - diese Möglichkeit, aber es gibt auch hinreichend Kritik, beispielsweise von der Bundesanwaltskammer, auch von der
Verbandsseite selber, ob diese Regelung zielführend ist.
Ich will das in diesem Moment einfach nur mal ansprechen. Ich glaube, wir sind da offen für die Diskussion;
aber bisher sehen auch wir diesen Punkt kritisch, weil die
Eingriffe vielleicht eben nicht zu Erleichterungen führen
könnten, sondern eher zu einer Beschränkung des wirtschaftlichen Handelns solcher Kleinstbetriebe .
Fazit aus unserer Sicht: Das Ansinnen ist gut . Wir
werden im Verfahren weiter konstruktiv mitarbeiten,
wünschen uns Fortschritte im Sinne des Gedankens des
gemeinwirtschaftlichen Handelns und der Gemeinwohlökonomie, die wir uns vielleicht für die Zukunft wünschen, und freuen uns auf den weiteren Prozess . - So
weit von meiner Seite .
Danke schön .
({6})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Als nächster Redner
spricht Dr . Matthias Bartke von der SPD-Fraktion .
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Was
dem einzelnen nicht möglich ist, das vermögen viele .“
Dieser Satz stammt von Friedrich Wilhelm Raiffeisen,
einem der großen Gründerväter des Genossenschaftswesens . Dieser Satz bringt das Wesen der Genossenschaft
auch heute noch treffend auf den Punkt. Genossenschaften haben in Deutschland eine lange Tradition. Volksbanken und Wohnungsbaugenossenschaften sind bis heute
bei uns weit verbreitet .
Trotzdem schien die Idee der Genossenschaften eine
Zeit lang ein Auslaufmodell zu sein . Ende der 90er-Jahre war ein Jahr mit 30 Neugründungen schon ein gutes
Jahr . Mit der Energiewende hat sich das Blatt dann aber
gewendet . Genossenschaften sind damals geradezu wie
Pilze aus dem Boden geschossen . Die Menschen haben
sich zusammengetan, um selbst Energieproduzenten zu
werden .
Inzwischen hat sich die Zahl der Neugründungen von
Genossenschaften bei etwa 200 pro Jahr stabilisiert . Die
Neugründungswelle im Energiebereich ist abgeebbt . Dafür gibt es aber im Dienstleistungssektor neuen Aufwind .
Die Genossenschaftsszene ist eben sehr vielfältig . In
meinem Wahlkreis, in Hamburg-Altona, gibt es zum Beispiel die fux eG . Sie ist ein gemeinschaftlich betriebener
Produktionsort für Kunst, Kultur, Gewerbe und Bildung
in einer alten, trutzigen Polizeikaserne, der Viktoria-Kaserne .
Das Besondere an Genossenschaften ist: Sie dienen
nicht der Erwirtschaftung von Gewinnen; sie dienen den
wirtschaftlichen, sozialen oder kulturellen Zwecken ihrer Mitglieder . Die Haftung der Mitglieder ist auf ihre
Einlage beschränkt, und ein Mindestkapital ist nicht
vorgeschrieben . Es gilt - es wurde schon gesagt -: ein
Mitglied, eine Stimme . Damit bieten Genossenschaften
den idealen Rahmen für Bürgerinnen und Bürger, die gemeinsam etwas auf die Beine stellen wollen . Und doch
wird die Genossenschaft von unternehmerischen Initiativen des bürgerschaftlichen Engagements regelmäßig
gemieden . Den Genossenschaften obliegen nämlich verschiedenste Pflichten, und die Erfüllung dieser Pflichten
kostet Zeit und Geld . Gerade bei kleinen Genossenschaften verkomplizieren sie die Nutzung dieser Rechtsform
unnötig .
Die SPD fordert daher schon lange, dass kleine Genossenschaften von den überzogenen Prüfungspflichten
befreit werden .
({0})
2013 gab es einen ersten Anlauf dafür . Geplant war die
Einführung einer Kooperationsgesellschaft im Genossenschaftsrecht. Sie sollte von Pflichtprüfungen und
-mitgliedschaften generell befreit sein .
Der Gesetzentwurf ist damals gescheitert, der Reformbedarf ist aber geblieben . Das hat auch die umfangreiche
Studie „Potenziale und Hemmnisse von unternehmerischen Aktivitäten in der Rechtsform der Genossenschaft“
ergeben, auf die Herr Wanderwitz eben hingewiesen hat .
Die Studie zeigt deutlich: Insgesamt herrscht große Zufriedenheit mit der Rechtsform der Genossenschaft . Klar
ist aber auch: Die Belastungen für kleine Initiativen sind
zu hoch .
Insofern freue ich mich, dass wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf ganz wesentliche Erleichterungen für
Genossenschaften einführen . Das erleichterte Prüfwesen,
Herr Wanderwitz, gehört dazu . Wir Sozialdemokraten
haben das Wort „Bürokratiemonster“ nicht erfunden .
Aber für viele kleine Genossenschaften gilt das, was dort
in der Vergangenheit an Prüfungsgeschichten praktiziert
worden ist, als ein Bürokratiemonster, etwas, was richtig
davon abhält, Genossenschaften zu gründen .
Im Koalitionsvertrag hatten wir uns vorgenommen:
Wir werden Genossenschaften die Möglichkeit der
Finanzierung von Investitionen durch Mitgliederdarlehen wieder eröffnen.
Wir haben das umgesetzt: In Zukunft können Genossenschaften ihr Geschäft rechtssicher über Mitglieder finanzieren .
Im Koalitionsvertrag hatten wir uns auch zum Ziel
gesetzt:
Wir wollen die Gründung unternehmerischer Initiativen aus bürgerschaftlichem Engagement … erleichtern .
Bei vielen ehrenamtlichen Initiativen stehen engagierte Bürgerinnen und Bürger vor der Frage, wie sie
ihr Engagement auf sicherer Rechtsgrundlage und ohne
persönliches Haftungsrisiko organisieren können: Genossenschaften sind zu aufwendig und zu teuer; Vereine
wiederum dürfen nur in ganz begrenztem Ausmaß eine
wirtschaftliche Betätigung verfolgen .
In der SPD haben wir die Lösung für dieses Problem
in den prüfungsbefreiten Minigenossenschaften gesehen .
Wir haben in der letzten Wahlperiode aber auch die Kritik, die einer Minigenossenschaft entgegenschlägt, erlebt . Wir hätten hier also nicht unser Ziel erreicht . Ans
Ziel wollen wir aber unbedingt kommen . Bürgerschaftliches Engagement leistet nämlich unersetzliche Beiträge
für den sozialen Zusammenhalt in unserer Gesellschaft .
({1})
Meine Damen und Herren, wo bürgerschaftlichem Engagement Hürden begegnen, müssen wir diese aus dem
Weg räumen . Das Fehlen einer unkomplizierten Rechtsform ist eine solche Hürde . Solange wir die Einführung
der Minigenossenschaft nicht durchsetzen können, gehen
wir den Weg über das Vereinsrecht. Der vorliegende Gesetzentwurf wird den Zugang zum Wirtschaftlichen Verein erleichtern .
Von den Idealvereinen ist uns in der letzten Woche signalisiert worden, dass sie sich im Wirtschaftlichen Verein
nicht zu Hause fühlen können, schließlich verfolgen sie
vor allem einen ideellen Zweck und keinen Geschäftsbetrieb . Ich kann das sehr gut nachvollziehen . Ich glaube
trotzdem, dass der Wirtschaftliche Verein auch für sie
ein Zuhause sein kann. Der Wirtschaftliche Verein verursacht wenig Aufwand und Kosten . Er besitzt die vertrauten Strukturen des eingetragenen Vereins. Ich glaube, der
Wirtschaftliche Verein ist eine wirkliche Alternative für
all jene Vereine, deren wirtschaftliche Betätigung über
das Nebenzweckprivileg hinausgeht .
Ich danke Ihnen .
({2})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Als letzter Redner
spricht in dieser Aussprache Dr. Volker Ullrich von der
CDU/CSU-Fraktion .
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Bürgerschaftliches Engagement bereichert überall in unserem Land die Gesellschaft . Die Menschen
kümmern und sorgen sich um eine gute Nachbarschaft,
um Projekte und um Vorhaben, ohne die eine Gesellschaft in sozialem Zusammenhalt nicht gelingen könnte .
Viele Projekte sind in den letzten Jahren entstanden. Zu
denken ist an Initiativen für Kindertagesstätten, Gaststätten und Vereinslokale, die sonst geschlossen wären. Zu
denken ist an Initiativen für Investitionen in Blockheizkraftwerke und Windräder, aber auch an den klassischen
Dorfladen, der die Versorgung gerade auf dem Land und
in Stadtteilen verbessert .
Die konkrete Frage, vor der die Menschen stehen, ist
eine ganz praktische: Welche Rechtsform sollen wir für
diese Initiativen wählen? Klar ist für uns: Das Recht soll
den Menschen und ihren Projekten dienend zur Seite
stehen . Deswegen darf es nicht zu formal sein wie bei
einer Aktiengesellschaft oder einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung . Aber auch eine persönliche Haftung
wie bei einer BGB-Gesellschaft muss für diese Menschen ausfallen, weil sie schlichtweg nicht zumutbar ist .
Es geht den Menschen, die sich engagieren, nicht um den
persönlichen Ertrag, sondern es geht ihnen um den Gewinn für das Gemeinwesen . Das unterstützen wir .
Wir haben uns deswegen zu fragen, ob wir nicht eine
neue Rechtsform einführen sollten . Ich glaube aber, dass
wir eines mit Fug und Recht festhalten können: Es besteht in diesem Land kein Mangel an Rechtsformen . Die
Einführung einer weiteren neuen Gesellschaftsform wäre
nicht unbedingt ein wesentlicher Beitrag zum Bürokratieabbau .
({0})
Es ist deswegen richtig, die Lösung für die Probleme in den bestehenden Rechtsformen zu suchen . Es ist
richtig, dass dieser Gesetzentwurf zunächst einmal das
Vereinsrecht in den Blick nimmt. Wirtschaftliche Vereine
können tatsächlich eine taugliche Rechtsform sein, um
die beschriebenen Projekte, um gerade bürgerschaftliches Engagement auch rechtlich abzusichern, gerade
dann, wenn eine Kapitalgesellschaft oder eine größere
Gesellschaft nicht zumutbar erscheint .
Deswegen mein Appell bereits jetzt, zu Beginn des
Gesetzgebungsverfahrens: Lassen Sie uns die Zulassung
für Wirtschaftliche Vereine unbürokratisch handhaben.
({1})
Lassen Sie uns gerade auf Länderebene den Ländern die
entsprechende Möglichkeit geben, diese Vereine schnell
gründen zu lassen .
Und ja, es ist richtig, dass auch die Genossenschaften gestärkt werden . Genossenschaften sind die ideale
Rechtsform für Kooperationen, für Gemeinsinn und Zusammenhalt . Sie sind vielleicht die am demokratischsten
verfasste Rechtsform, weil jeder Genosse eine Stimme
hat, egal wie viele Kapitalanteile er einbringt, und weil
jeder, der Verantwortung trägt, im Aufsichtsrat und im
Vorstand, auch Mitglied dieser Genossenschaft sein
muss . Das ist Selbstverantwortung aus sich selbst heraus .
Deswegen ist es richtig, dass wir die Gründung von
Genossenschaften erleichtern
({2})
und zulassen, dass Mitglieder Kleindarlehen an ihre Genossenschaften vergeben und damit finanzielle Verantwortung für die eigene Idee übernehmen . Ich glaube, das
sind gute Lösungen für ein modernes Genossenschaftswesen .
({3})
Wir müssen uns auch überlegen, wie wir zukünftig
mit den Prüfungen umgehen . Im Genossenschaftsrecht
ist vorgeschrieben, dass jede Genossenschaft eine verpflichtende Prüfung durch den Genossenschaftsverband
zu erdulden hat . Diese Prüfung ist im Kern richtig, weil
wir die Lauterkeit und das Funktionieren des Genossenschaftswesens irgendwie überprüfen müssen . Die geringe Insolvenzrate von Genossenschaften - sie ist in dieser
Rechtsform so gering wie in keiner anderen - zeigt, dass
dieses genossenschaftliche Prüfungswesen seinen Sinn
und Zweck nicht verfehlt hat . Deswegen lassen Sie uns
in Ruhe und besonnen überlegen, wie wir die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Prüfungen in Zukunft
regeln. Ich glaube, wir müssen einen Mittelweg finden
zwischen möglichen Erleichterungen für kleine Genossenschaften einerseits und den für das Vertrauen in diese
Rechtsform notwendigen Prüfungen andererseits .
Insgesamt ist dieser Gesetzentwurf ein Appell an
eine ein Stück weit stärker gemeinwohlorientierte Wirtschaftspolitik in den Stadteilen und in den ländlichen
Räumen . Das ist ein Gesetzentwurf für gute Nachbarschaft und Zusammenhalt in diesem Land . Lassen Sie
uns das angehen .
Herzlichen Dank .
({4})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Ich schließe die Aussprache .
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 18/11506 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . Gibt es dazu
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Damit
ist die Überweisung so beschlossen .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine
Zimmermann ({0}), Matthias W . Birkwald,
Klaus Ernst, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE
Kreis der Anspruchsberechtigten und die Bezugsdauer in der Arbeitslosenversicherung
erweitern
Drucksache 18/11419
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . - Ich höre keinen Widerspruch . Dann ist das so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat als erster
Redner Klaus Ernst von der Fraktion Die Linke .
({2})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Zunächst auch von mir Glückwunsch an Martin
Schulz .
({0})
Er hat es geschafft, der SPD wieder Leben einzuhauchen.
Grandios!
({1})
- Na ja, nicht mehr so ganz . - Mich freut übrigens auch
das Wahlergebnis von 100 Prozent für Martin Schulz .
({2})
Damit hat er mit mir etwas gemeinsam: Ich habe auch
100 Prozent bekommen, allerdings nur im Wahlkreis
Schweinfurt .
({3})
In der Süddeutschen Zeitung habe ich gelesen - Zitat -: „Kauder: Schulz denkt nur an Wahlkampf“ . Ich bin
erschrocken . Habt ihr schon aufgegeben? Macht ihr keinen Wahlkampf mehr?
({4})
Habt ihr keine Lust mehr? Habt ihr schon resigniert, weil
die Werte der SPD nach oben gehen und eure nach unten?
Was macht denn euer Kauder? Macht er keinen Wahlkampf mehr? Züchtet er nur noch Karnickel, oder was
macht er?
({5})
Macht euch doch nicht lächerlich mit solchen Sprüchen!
Als ich das gelesen habe, habe ich gedacht: Das darf
doch wirklich nicht wahr sein, der Schulz macht Wahlkampf . Irre!
({6})
Schulz hat gesagt - das ist der Grund, warum es diesen
Hype gibt; damit sind wir beim Thema -:
Menschen müssen mit Respekt und Anstand behandelt werden, wenn sie ihren Job verlieren . Menschen, die viele Jahre, oft Jahrzehnte, hart arbeiten
und ihre Beiträge zahlen, haben ein Recht auf entsprechenden Schutz und Unterstützung, wenn sie oft unverschuldet - ins Straucheln geraten .
So weit das Zitat . Genau darum geht es in unserem Antrag .
Ein 49-Jähriger, der sein ganzes Leben gearbeitet und
Beiträge gezahlt hat, hat zurzeit nur 12 Monate Anspruch
auf Arbeitslosengeld I, ein 55-Jähriger nur 18 Monate .
Dann ist er oder die betroffene Person oder wie auch immer auf Hartz IV. Das kriegt er aber auch nicht unbedingt,
sondern nur dann, wenn er das, was er sich in seinem Leben sauer angespart hat, auch noch vorher ausgibt .
Das ist die Realität . Das ist eine himmelschreiende
Ungerechtigkeit, und deshalb hat Schulz vollkommen
recht, wenn er das anprangert, und ihr seid ein bisschen
hinter dem Mond, wenn ihr nicht merkt, dass das ein Problem ist . Das ist der Zustand, den wir haben .
({7})
Nach unserem Antrag, meine Damen und Herren, hätte ein Beschäftigter, der im Alter von 25 Jahren zu arbeiten beginnt, nie arbeitslos ist und immer in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt hat, bei einer Arbeitslosigkeit
im Alter von 55 Jahren wenigstens einen Anspruch von
drei Jahren und vier Monaten .
Abhängig Beschäftigte zahlen in die Arbeitslosenversicherung ein, um bei Jobverlust finanziell abgesichert zu
sein . Je größer die Angst vor Arbeitslosigkeit ist - ich
denke, das hat sich als Standpunkt wieder durchgesetzt -,
umso leichter ist es, Belegschaften zu disziplinieren und
die Löhne zu drücken . Wenn man das Ziel verfolgt, die
Löhne zu drücken, muss man das Arbeitslosengeld I
schleifen . Genau das hat Schröder getan; Sie wissen das
noch . Deshalb wurde die Schutzfunktion der Arbeitslosenversicherung mit den Reformen der Agenda 2010
massiv eingeschränkt. Vor Schröder, also in der Kanzlerschaft von Kohl, wurde Arbeitslosengeld bis zu 32 Monate gezahlt . Sie wissen das vielleicht nicht mehr; es war
so .
({8})
Heute sind nur noch 31 Prozent der Erwerbslosen im
Arbeitslosengeld I; der Rest ist schon ins Arbeitslosengeld II abgedrängt . Durch die realistische Gefahr, durch
Jobverlust bald in Hartz IV zu landen, wurde der Zwang
erzeugt, einen neuen Job anzunehmen, selbst wenn dieser schlechter bezahlt ist als der vorherige und weit unter
der bisherigen Qualifikation ist. Schröder hat übrigens
die Lohndrückerei auch noch gelobt . Er rühmte sich auf
dem Weltwirtschaftsforum in Davos 2005 - Zitat -, „einen der besten Niedriglohnsektoren in Europa geschaffen
zu haben“ .
In der Tat haben wir heute in Deutschland den größten Niedriglohnsektor in Europa . Was hat Schulz dazu
gesagt? Das freut mich jetzt wieder . Er hat dazu gesagt Zitat -:
Auch wir haben Fehler gemacht . Fehler zu machen,
ist nicht ehrenrührig . Wichtig ist, wenn Fehler erkannt werden, dann müssen sie korrigiert werden .
({9})
Recht hat er . - Heute haben Sie mit unserem Antrag die
Möglichkeit, es gleich schon einmal zu tun .
({10})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie allerdings
korrigieren, dann bitte schön auch richtig .
Das ist jetzt schon zum Nachdenken, liebe Kolleginnen und Kollegen: Auch die Kriterien, wann ein
Arbeitsloser im Arbeitslosengeld I einen Job ablehnen
darf, ohne dass ihm eine Kürzung oder Sperrung seines
Arbeitslosengeldes droht, wurden im Zuge der Agenda
deutlich verschlechtert . Schon in den ersten drei Monaten der Arbeitslosigkeit muss jeder einen Job annehmen,
auch wenn er bis zu 20 Prozent schlechter bezahlt wird,
nach weiteren drei Monaten, auch wenn er zu 30 Prozent
schlechter bezahlt wird . Ohne das Recht, einen Job unter der eigenen Qualifikation ablehnen zu dürfen, bleiben
Förderung, Weiterbildung und Qualifikation Etikettenschwindel . Dann müssen wir das schon richtig machen .
Das, was wir gegenwärtig haben, ist eine verordnete
Rutschbahn der Löhne nach unten . Das müssen wir ändern . Es geht bei unserem Antrag tatsächlich um das, was
Martin Schulz gesagt hat . Ich zitiere ihn noch einmal:
Menschen müssen mit Respekt und Anstand behandelt werden, wenn sie ihren Job verlieren .
Das gilt im Übrigen ganz besonders - das sage ich
auch an die Adresse der Grünen - für Menschen, die älter
sind . Sie brauchen mehr Zeit für die Jobsuche . Sie sollen
bis 67 arbeiten, aber werden kaum noch eingestellt, wenn
sie älter als 50 sind . Frau Hasselfeldt - ich habe sie nicht
gesehen -, auch ältere Menschen wollen arbeiten und
nicht, wie Sie behaupten, in Frührente gehen .
({11})
Das ist Unfug . Deshalb sage ich Ihnen: Sie wollen auch
schon deshalb nicht in Frührente gehen, weil sie mit den
gekürzten Renten, für die auch die Grünen Verantwortung haben, kaum noch über die Runden kommen . Wenn
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, wegen Ihres Koalitionsvertrages unserem Antrag schon nicht zustimmen,
was ich mir vorstellen könnte,
({12})
dann geben Sie wenigstens zu, dass wir recht haben;
dann regeln wir das in der nächsten Koalition .
({13})
Ich danke fürs Zuhören .
({14})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Als Nächstes spricht der
Kollege Albert Weiler von der CDU/CSU-Fraktion .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren auf der Tribüne! Werte Kolleginnen und Kollegen! Sicherheit hat für jeden Menschen oberste Priorität . Hier geht es aber nicht um innere oder äußere Sicherheit, hier geht es um soziale Sicherheit .
({0})
Ich kann gut verstehen, dass ein Mensch, der Verantwortung für eine Familie, eine Firma oder Freunde übernimmt, sich nach sozialer Absicherung sehnt. Viele fühlen sich gerade in der jetzigen Zeit in dieser Sicherheit
bedroht . Die Linke nutzt diese Bedrohung aus und präsentiert hier reine Wahlkampfforderungen ohne Finanzierungsvorschlag . Ich aber frage mich: Was ist machbar? Ich handle nach dem Sprichwort „Ehrlich währt am
längsten“. Ich bin in der finanzpolitischen Realität angekommen, und da werden Sie, Kollegen von den Linken,
im September nach der Wahl auch ankommen müssen .
Ich habe Verständnis dafür, dass Menschen von jetzt
auf gleich jemandem hinterherlaufen, der verspricht,
alle Wünsche zu erfüllen . Wahlkampfplattitüden hören
sich gut an und erzeugen ein trügerisches Gefühl von
Sicherheit. Sie geben Versprechungen ab, nur um Stimmen zu erschleichen . Sie wollen sogar, dass Menschen,
die mehrmals gute Arbeit ablehnen und nicht arbeiten
wollen, nicht mehr sanktioniert werden . Damit stellen
Sie Arbeitsunwillige auf eine Stufe mit Menschen, die
jeden Tag acht bis zehn Stunden arbeiten, um sich eine
Wohnung, ein kleines Häuschen, ein Auto oder vielleicht
einen Urlaub leisten zu können . Aber wenn die Realität
kommt - das sehen wir im Freistaat Thüringen -, werden
linke Versprechungen eben nicht eingehalten.
({1})
Von dem Kuchen, von den 600 Millionen Euro, die der
Steuerzahler mehr eingebracht hat, geben Sie den Kommunen und somit den Schulen, den Kindergärten und den
Jugendhilfeeinrichtungen nichts ab . Sie verbraten dieses
Geld für ein unsinniges Gebietsreformvorhaben à la RotRot-Grün .
({2})
Was wollen wir? Wir wollen Bedürfnisse stillen . Jeder
soll durch seine Arbeit seinen Lebensunterhalt finanzieren und für seine Familie sorgen können . Wir sagen: Sozial ist, was Arbeit schafft.
({3})
Wir sichern Wachstum und Wohlstand, damit Arbeitsplätze entstehen und Arbeitslosigkeit schon im Voraus
verhindert wird .
({4})
Sie machen Versprechungen. Wir bekämpfen Arbeitslosigkeit präventiv, damit Menschen überhaupt gar nicht
erst arbeitslos werden .
({5})
Das muss das eigentliche Ziel sein . Aus meiner Sicht
kann es daher nur einen Weg geben: Wir müssen Arbeitslosigkeit verhindern . Wir müssen Menschen, die arbeitslos geworden sind, schnellstmöglich wieder integrieren .
({6})
- Danke schön . - Daher plädiere ich dafür, die Angebote
in der Aus- und Weiterbildung zu intensivieren und zu
modernisieren . Weiterbildungsmaßnahmen dürfen nicht
erst bei Arbeitslosigkeit erfolgen . Wir sorgen für passende Angebote, welche die Beschäftigten so befähigen,
dass sie den Anforderungen einer modernen Arbeitswelt
nicht nur gerecht werden, sondern bei den Veränderungen an der Spitze vorangehen können .
Unser Fokus liegt vor allem bei den Älteren, den Alleinerziehenden und den Jugendlichen . Für sie benötigen
wir passende Instrumente, um ihnen den Weg in den
Arbeitsmarkt zu erleichtern . Für die Förderung von älteren Arbeitslosen hat sich unser Programm „Perspektive
50plus“ als erfolgreich erwiesen .
({7})
Alleinerziehende müssen besonders unterstützt werden .
Unsere Änderung des Unterhaltsvorschussgesetzes zielt
hier genau in die richtige Richtung . Angesichts von rund
655 000 gemeldeten offenen Stellen bei der Bundesagentur für Arbeit stärken wir eine individuelle Betreuung
und effektive Vermittlung, um Phasen zwischen den Beschäftigungen so kurz wie möglich zu halten und insbesondere Langzeitarbeitslosigkeit zu verhindern .
({8})
Wo sind die Schwächen Ihres Antrags? Sie führen zu
Recht an, dass insbesondere ältere Menschen auf dem
Weg zurück in die Beschäftigung größere Schwierigkeiten haben .
Ich möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, dass auf
Druck der Union in der Vergangenheit bereits wichtige
Korrekturen umgesetzt wurden, um genau diesen Menschen zu helfen . Wer älter als 50 Jahre ist, bekommt
15 Monate Arbeitslosengeld I, wer über 55 Jahre ist,
18 Monate, und ab 58 Jahren gibt es 24 Monate Arbeitslosengeld I . Damit ist der Zeitraum für die Suche nach
einer Anschlussbeschäftigung erheblich ausgeweitet
worden . Sicher: Mehr zu fordern, hört sich immer gut an .
Ihre Forderung, die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes
über 48 Monate - das sind vier Jahre - auszuweiten, bedeutet nichts anderes, als die populistischen Forderungen
eines einzelnen Herrn mit Bart - den Namen möchte ich
jetzt nicht nennen - zu überbieten .
({9})
Ich zitiere lieber unseren gerade verabschiedeten Bundespräsidenten, der gestern noch sagte: Fürchten Sie sich
nicht vor den Scheinriesen, die da draußen in der Welt
herumspringen .
({10})
Wenn Sie in Ihrem Antrag aufführen, dass jeder Vierte
nach einer Beschäftigung direkt in das Hartz-IV-System
fällt, dann heißt das doch im Umkehrschluss, dass die
Arbeitslosenversicherung für drei Viertel aller Beschäftigten funktioniert . Das ist ein positives Zeichen . Die
Schutzfunktion der Arbeitslosenversicherung ist also
stark . Nur passt diese Sichtweise nicht zu Ihrer Taktik der
Angstmacherei . Sie stellen alles immer nur negativ dar,
bieten aber selbst keine vernünftigen Vorschläge. Auf die
Frage nach der Finanzierung höre ich immer nur: Steuern
erhöhen . - Sie wollen also eine noch stärkere Belastung
der arbeitenden Bevölkerung .
Statt die Steuern zu erhöhen, sorgen wir für eine hervorragende Bilanz . 43,6 Millionen Erwerbstätige - das
gab es in der Geschichte der Bundesrepublik noch nie .
Die Zahl der Langzeitarbeitslosen wurde seit 2005 fast
halbiert .
({11})
Sie verschweigen, dass wir den Beitragssatz zur Arbeitslosenversicherung in den letzten zehn Jahren deutlich
senken konnten . Das merken vor allem die vielen Millionen Menschen, die in Arbeit sind, in ihrem Geldbeutel .
({12})
Wie wollen Sie die zu erwartenden Kosten begleichen?
Etwa durch eine Erhöhung des Beitragssatzes, wodurch
Sie die Menschen, die arbeiten, wieder direkt belasten
würden? Das ist mit uns nicht zu machen; das sage ich an
dieser Stelle ganz deutlich .
Sie bleiben uns einen sinnvollen Finanzierungsvorschlag schuldig . Höhere Steuern sichern keine Arbeitsplätze, sondern belasten Steuer- und Beitragszahler . Ihre
Vorschläge schaden der Arbeitslosenversicherung und
vor allem den Versicherten. Einen Versuch war es wert.
Aber den Menschen vor der Wahl billige Versprechen
zu machen und ihnen durch die Hintertür in die Tasche
zu greifen, ist unredlich und mit der CDU/CSU nicht zu
machen .
({13})
Zum Schluss möchte ich festhalten:
({14})
Ziel unserer gemeinsamen Bemühungen muss es sein,
Arbeitslosigkeit präventiv zu verhindern, Menschen ohne
Arbeit durch gezielte Qualifizierung effektiv zu vermitteln und sie schnell an den Arbeitsmarkt heranzuführen .
({15})
Das sorgt für Sicherheit und sozialen Frieden . Der entscheidende Unterschied liegt darin: Wir wollen Arbeitslosigkeit verhindern und Menschen in Arbeit bringen, damit alle am Wohlstand teilhaben können, und wir wollen
durch angemessene Löhne bei den Menschen für Zufriedenheit sorgen .
Danke schön .
({16})
Vielen Dank, Herr Kollege Weiler. - Als Nächste hat
die Kollegin Brigitte Pothmer von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich finde es gut, dass jetzt wieder mehr über die Reform der
Arbeitslosenversicherung geredet wird - natürlich abgesehen von Ihnen, Herr Weiler; Sie haben hier über alles
Mögliche geredet, aber nicht über das Thema .
({0})
Ich habe heute Morgen schon darauf hingewiesen,
dass es dringend notwendig ist, bei der Arbeitslosenversicherung etwas zu verändern, weil sie für sehr viele Beitragszahler ihre Schutzfunktion verloren hat . Wenn wir
das nicht korrigieren - das muss uns klar sein -, dann
gerät die Arbeitslosenversicherung irgendwann in eine
Legitimationskrise .
({1})
Wir können von einem Sozialsystem, wie ich finde, zu
Recht, erwarten - das gilt insbesondere für die Arbeitslosenversicherung -, dass es genauso flexibel ist, wie
die Menschen heute arbeiten . Es muss Sicherheit bieten,
ganz unabhängig davon, ob jemand selbstständig ist oder
ob jemand befristet, unbefristet, in Projekten arbeitet
oder, oder, oder .
({2})
In diese Richtung ist diese Bundesregierung bisher leider
keinen Schritt vorangekommen .
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linksfraktion, bei Ihrem Antrag
({3})
beschleicht mich der Verdacht, dass es Ihnen in erster Linie um einen nahtlosen Übergang ab 55 in die Rente geht .
({4})
Das ist wirklich nicht gut, und das hat auch nicht unbedingt etwas mit Respekt zu tun .
({5})
Ich finde es richtig, dass auch Sie die hohen Hürden
beim Zugang zur Arbeitslosenversicherung abbauen wollen. Deswegen finde ich es auch gut, dass Sie unseren
unbürokratischen Vorschlag übernommen haben, der besagt: Wer vier Monate eingezahlt hat, erhält zwei Monate
lang Arbeitslosengeld, wer sechs Monate eingezahlt hat,
erhält drei Monate lang Arbeitslosengeld, usw . Das ist
nämlich ein echtes Angebot in Bezug auf die kurzfristigen Beschäftigungsverhältnisse .
({6})
Herr Ernst, bei Ihrer Rede habe ich den Eindruck gehabt, dass Sie jetzt irgendwie auch Pressesprecher der
SPD geworden sind .
({7})
Herr Ernst, bei den allermeisten Vorschlägen in Ihrem
Antrag geht es vor allen Dingen darum, die Bezugsdauer des Arbeitslosgengeldes I zu verlängern . Ich bestreite
nicht, dass ältere Arbeitslose ein größeres Problem haben, wieder Arbeit zu finden. Die Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I bringt aber niemanden schneller und besser in Arbeit . Das ist das Problem .
({8})
Ich finde, es hat ausdrücklich etwas mit Respekt gegenüber Älteren zu tun, wenn wir alles, aber auch wirklich alles daransetzen, Brücken in Beschäftigung zu
bauen, sodass sie schnell wieder Arbeit finden. Dafür ist
Weiterbildung natürlich ein gutes Instrument, aber es ist
verdammt noch mal nicht das einzige .
({9})
Effektive Lohnkostenzuschüsse, verstärktes Coaching:
das alles sind Maßnahmen, die wirklich helfen können .
({10})
Herr Ernst, das Prinzip „Weiterbildung verlängert die
Zahlung des Arbeitslosengeldes I“ gibt es in der Arbeitslosenversicherung bereits . Schon heute verlängert das
den Bezug von Arbeitslosengeld I . Sie wollen diesen Bezug jetzt einfach noch einmal weiter verlängern .
Wo wir gerade bei der Weiterbildung sind: Weder Sie
noch die SPD reden in diesem Zusammenhang - hier
geht es um den Rechtsanspruch nach dem SGB III - über
die Tatsache, dass im SGB II überhaupt nichts in dieser
Richtung steht . Im Gegenteil: Hier gilt immer noch der
Vermittlungsvorrang. Diese Menschen interessieren Sie
offensichtlich nicht.
({11})
Sie verstärken dieses unhaltbare Zweiklassensystem in
der Arbeitsförderung in unverantwortlicher Art und Weise, und das werden wir nicht mitmachen .
({12})
Gerade im Bereich des SGB II - wo 60 Prozent der
Bezieherinnen und Bezieher von Hartz IV keine Berufsausbildung haben und jeder Fünfte keinen Schulabschluss hat - könnten wir mit Qualifizierung echte Zugänge eröffnen und Arbeitsmarktchancen schaffen.
({13})
Insgesamt gilt für die Arbeitslosenversicherung: Wir
müssen sie auf die digitale Zukunft vorbereiten - das ist
sie bisher nämlich nicht -, und wir müssen sie für die bunter werdenden Erwerbsbiografien fit machen. Sie muss
auch präventiv arbeiten und Arbeitslose unterstützen
können, und sie muss dabei helfen, dass die Menschen
wieder gut in Arbeit kommen . Das gilt für alle Arbeitslosen, völlig unabhängig davon, welche Geldleistungen sie
beziehen, wie alt sie sind und welche Voraussetzungen
sie mitbringen . Davon ist die Arbeitslosenversicherung
noch sehr, sehr weit entfernt . Lieber Herr Ernst, Ihr Antrag bringt uns diesem Ziel kaum näher .
Ich danke Ihnen .
({14})
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Als Nächstes hat der
Kollege Markus Paschke von der SPD-Fraktion das Wort .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
({0})
Vor einigen Monaten war in meiner Bürgersprechstunde
ein Facharbeiter aus der Textilindustrie . Er ist Mitte 40
und hat 25 Jahre im selben Unternehmen gearbeitet, bis
dessen Insolvenz seine Lebensplanung kaputt gemacht
hat . Die früher stolze und starke Textilindustrie produziert heute in Deutschland so gut wie gar nicht mehr . Der
Strukturwandel hat dazu geführt, dass der Facharbeiter
keine Alternative in der Region mehr hat und mit seinen
Qualifikationen keine Chance auf dem Arbeitsmarkt erhält .
So wie ihm geht es vielen Menschen in Deutschland .
Eine einmal erworbene Qualifikation reicht längst nicht
mehr für ein gesamtes Berufsleben. Vonseiten der Politik
können wir die Betroffenen nicht alleinlassen und sagen:
Pech gehabt! Wenn du noch arbeiten willst, arbeite unter
deiner Qualifikation. Hauptsache, du bist schnell wieder in einem Job. - Vielmehr sind wir es den Menschen
schuldig, sie dabei zu unterstützen, eine Perspektive für
die Zukunft zu finden.
Dieser Facharbeiter muss noch 20 Jahre arbeiten . Er
will auch noch 20 Jahre arbeiten . Eine gute und zukunftsfähige Qualifizierung lässt sich aber nicht mit Praktika
und Kurzschulungen erreichen .
({1})
Deshalb brauchen wir einen Rechtsanspruch auf Qualifizierung.
({2})
Der Qualifizierungszeitraum darf dann nicht auf die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes angerechnet werden .
Das ist doch ganz klar .
({3})
Das ist auch der Grund, warum Andrea Nahles und
Martin Schulz
({4})
- damit nicht nur Klaus Ernst von unserem Vorsitzenden
redet ({5})
den Vorschlag gemacht haben, das Arbeitslosengeld Q „Q“ bedeutet Qualifizierung - einzuführen. Das hilft den
Menschen und gibt ihnen für die Zukunft eine Perspektive .
({6})
- Zu dir komme ich gleich noch .
({7})
Lassen Sie die Zwischenfrage zu? Ich sehe es Ihrem
Gesicht schon an .
Gerne .
Bitte .
Ganz herzlichen Dank, lieber Kollege Paschke, dass
die Zwischenfrage zugelassen wird . - Inzwischen ist so
häufig, nicht nur heute Morgen, sondern auch jetzt, von
einem Abwesenden die Rede, dass man fast den Eindruck
haben könnte, hier wird ein Lied von Mireille Mathieu
intoniert: „All meine Träume heißen Martin, Martin,
denn seine Liebe war so schön“ .
({0})
Gleichwohl: Es wurde hier schon mehrfach über das
Arbeitslosengeld Q gesprochen, das für ältere Arbeitslose
sozusagen eine Verlängerung des Bezuges von Arbeitslosengeld mit der Möglichkeit vorsieht, sich zu qualifizieren . Das kann man durchaus machen . Mich interessiert
thematisch, wie es mit Ihrem Bild von sozialer Gerechtigkeit vereinbar ist, wenn gleichzeitig die Perspektive
„50plus“ nicht mehr weitergeführt wird, also Langzeitarbeitslose nicht weiter besonders gefördert werden .
Ich bitte einfach darum, mir zu versichern, dass das
nicht das Bild der sozialen Gerechtigkeit ist, das die SPD
im Wahlkampf präsentieren will, dass sie die Gesellschaft nicht spalten will, dass sie die Langzeitarbeitslosen nicht abhängen will, sondern dass sie sich wie die
Union darum bemüht, alle in Arbeit zu bringen, seien sie
langzeitarbeitslos oder seien sie im SGB III .
({1})
Lieber Kollege Zimmer, ich freue mich über diese
Zwischenfrage und Anmerkung . Das gibt mir Gelegenheit, genau diesen Punkt herauszuarbeiten . Heute reden
wir über die Arbeitslosenversicherung. Da ist Qualifizierung dafür, in der Zukunft Perspektiven zu haben, ein
ganz entscheidender Punkt .
Sie haben gerade die Förderung von Langzeitarbeitslosen angesprochen . Wir sind dazu bereit . Wir können
sofort die Einführung des Passiv-Aktiv-Transfers unterschreiben,
({0})
sodass wir etlichen Langzeitarbeitslosen eine Chance auf
dem Arbeitsmarkt geben . Das ist doch bisher an der Union gescheitert und nicht an der SPD .
({1})
Wir waren aber beim Arbeitslosengeld, bei der Qualifizierung. Genau in diesem Zusammenhang finde ich interessant - ich habe heute Morgen gut zugehört bei der
Diskussion -, dass genau diejenigen dieses Konzept am
lautesten kritisieren, die auch am lautesten über Fachkräftemangel jammern und die bisher nicht bereit sind,
unsere Jugendlichen bei der Ausbildung ausreichend zu
unterstützen und jedem einen Ausbildungsplatz zu bieten . Ich sage es ganz deutlich: Wenn dann einige Politiker auf diesen Zug aufspringen, dann frage ich mich, mit
welcher Motivation sie dies tun und wessen Interessen
sie da eigentlich vertreten .
Ich will das mit einem schönen Bild verbinden: Der
Schulz-Zug ist in der Frage der Arbeitslosenversicherung
und der Gerechtigkeit ein ICE,
({2})
und einige versuchen, ihn mit einer handbetriebenen
Draisine zum Wettrennen aufzufordern .
({3})
Ich freue mich, dass die Linken mit Teilen ihres Antrags
auf diesen ICE aufspringen wollen und nicht auf die
Draisine . Klaus, da kriegen wir bestimmt etwas hin .
({4})
Wir haben im Dialogprozess Arbeiten 4 .0 den Anspruch auf Qualifikations- und Weiterbildungsberatung
festgelegt. Mit dem Gesetz zur Stärkung der beruflichen
Weiterbildung und des Versicherungsschutzes in der
Arbeitslosenversicherung haben wir Schwerpunkte auf
die Weiterentwicklung und Weiterbildung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern gesetzt . Wir belohnen
Bildung und motivieren zum Weitermachen bis zum erfolgreichen Abschluss . Das sind doch die ersten Schritte
hin zu einer zukunftsfähigen und zukunftsorientierten
Arbeitsversicherung .
Eine weitere Baustelle ist der Zugang zur Arbeitslosenversicherung . Gerade Menschen in prekären und
flexiblen Beschäftigungsformen brauchen eine Absicherung. Ich kann den Ärger der Betroffenen sehr gut verstehen . Kurzfristig Beschäftigte zahlen im Rahmen ihres
Arbeitsverhältnisses Beiträge an die Arbeitslosenversicherung und haben dann keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld, wenn sie nicht mindestens 12 volle Monate
innerhalb von 24 Monaten Beiträge bezahlt haben . Ich
finde, das ist nicht gerecht, und weil das nicht gerecht ist,
ist auch hier der Schulz-Zug schon in Fahrt gekommen,
liebe Kolleginnen und Kollegen .
({5})
Andrea Nahles und Martin Schulz haben Anfang des
Monats ihre Ideen vorgestellt, wie es besser geht:
({6})
Wer in drei Jahren zehn Monate lang Beiträge gezahlt
hat, soll zukünftig Arbeitslosengeld erhalten . Damit
wird der Schutz in der Arbeitslosenversicherung auf viele kurzfristig und prekär Beschäftigte, Filmschaffende
und andere Künstlerinnen und Künstler ausgedehnt . Ich
finde, das ist gerecht. Es hilft vor allem den betroffenen
Menschen; denn die Menschen müssen im Mittelpunkt
stehen .
({7})
Ich lade alle herzlich ein, ein Ticket für diesen ICE zu
lösen und gemeinsam mit der SPD die Arbeitslosenversicherung zukunftsfähig und gerechter zu gestalten .
Danke .
({8})
Danke, Herr Kollege . - Als nächster Redner spricht
Tobias Zech von der CDU/CSU-Fraktion .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Klaus Ernst, vielen Dank erst einmal für die von
mir wohlgemeint aufgenommene Sorge um unsere Wahlkampffähigkeit. Natürlich hast du recht: Wir sind nicht
im Wahlkampf . Wir sind sechs Monate vor der Bundestagswahl nicht im Wahlkampf, weil wir als Union, als
CDU/CSU, dieses Land regieren und uns nicht mit Wahlkampfklamauk aufhalten und eine Sau nach der anderen
durchs Land treiben,
({0})
weil dieses Land und dieses Volk es verdienen, dass man
auch sechs Monate vor der Bundestagswahl vernünftige
Arbeit abliefert . Dafür stehen wir hier in dieser Koalition
und in diesem Parlament
({1})
und vor allem in dieser Debatte, der Debatte, die wahrscheinlich jeden von uns schon einmal betroffen hat
durch die Angst vor Arbeitslosigkeit .
Ich weiß nicht, wie es Ihnen in der Vergangenheit ging.
Ich habe erst vor kurzem wieder daran denken müssen:
Ich habe vor knapp 20 Jahren eine Ausbildung bei Edeka
gemacht . Ich habe da Tomaten nach Größe und Joghurts
nach Datum sortiert. Vor kurzem habe ich gehört, dass es
den ersten kassenlosen Supermarkt geben wird, in dem
kein Kassierer und keine Kassiererin mehr gebraucht
wird . Da habe ich mir gedacht: Was denken sich jetzt
meine Kollegen in dem alten Laden? Die können nichts
dafür . Die Technologie schreitet fort . - Kollege Paschke
hat es ausgeführt: Es gibt Branchen, die verschwinden .
Somit ist jeder persönlich, individuell immer wieder mit
Arbeitslosigkeit konfrontiert . Dieses Thema lädt dazu
ein, aufgegriffen zu werden. Es ist aber kein Thema für
Wahlkampf, und es ist auch kein Thema für Klamauk .
Weil ich die Debatte in den letzten Wochen verfolgt
habe und auch davon die Rede war, dass man am Arbeitslosengeld schrauben muss, will ich kurz ein paar
sachliche Fakten in die Debatte einführen: Wir haben im
Vergleich zu 2005 400 000 offene Stellen zusätzlich on top! - auf dem Arbeitsmarkt . Wir haben so viele sozialversicherungspflichtig Beschäftigte wie noch nie
seit Bestehen dieser Bundesrepublik, und seit 2005, seit
Angela Merkel regiert, hat sich die durchschnittliche Bezugsdauer von Arbeitslosengeld I bei über 55-Jährigen
nahezu halbiert .
({2})
Sie ist mit 217 Tagen auf einem historischen Tiefstand .
Das ist die Wahrheit .
({3})
Die Zahl der über 55-jährigen Arbeitslosen ist nur leicht
gesunken; das stimmt . Man muss aber dazusagen, dass
wir mittlerweile 3 Millionen mehr Arbeitnehmer über 55
auf dem Arbeitsmarkt haben . Somit ist die Zahl der über
55-jährigen Arbeitslosen massiv zurückgegangen . Das
und nichts anderes ist die Wahrheit . Wir sind seit zehn
Jahren auf einem guten Weg . Alles andere redet den Arbeitsmarkt und die Fähigkeiten der Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer in Deutschland schlecht . Dafür sind
wir nicht zu haben .
({4})
Klaus, du hast uns einen Tipp für den Wahlkampf gegeben. Ich gebe euch auch einen: Vielleicht müsstet ihr
euch auch einen Buchstaben für euer Konzept überlegen .
Von Q war schon die Rede. Vielleicht nehmt ihr W für
Arbeitslosengeld „Wahlkampf“ . Mehr ist es nämlich
nicht .
({5})
Ich möchte auf den Antrag näher eingehen; er hat es
nämlich verdient .
Herr Kollege Zech, lassen Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Ernst zu?
Natürlich .
Lieber Tobias, ich möchte noch einmal auf folgenden
Zusammenhang eingehen - da sind wir wahrscheinlich
gar nicht so weit auseinander -: Ja, Qualifikation ist notwendig, auch für die Älteren, die möglicherweise noch
mit 55 ihren Job verlieren . Meine Erfahrung ist, dass gerade die 55-Jährigen das sehr gerne annehmen, weil sie,
wenn sie bis 67 arbeiten müssen, nicht zwölf Jahre zu
Hause bleiben wollen . Es liegt also nicht daran, dass die
Menschen nicht arbeiten wollen . Wenn wir uns darüber
einig sind und wenn wir die guten Arbeitsmarktzahlen
kennen, dann müsste klar sein, dass eine theoretisch längere Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes in der Praxis
gar keine Wirkung hat, weil die Menschen mit ihrer Qualifikation bzw. spätestens nach einer Qualifikationsmaßnahme wieder Arbeit haben . Das bedeutet: Unser Antrag,
auch wenn man die möglichen Kosten entsprechend
hochrechnet, ist eigentlich nicht das Problem . Das Problem besteht vielmehr darin, dass eine große Zahl von
Älteren - du hast die Zahlen selbst genannt - trotz der
Weiterbildung nicht mehr in Jobs kommt .
Wenn jemand mit 55 aus dem Betrieb ausscheidet,
dann ist er nach zwei Jahren Weiterbildung 57 . Wer stellt
denn einen 57-Jährigen noch ein? Es gibt noch zwei Jobs,
wo das theoretisch gut funktioniert, nämlich Bundespräsident und Papst . Bei den normalen Bürgern ist das
schwieriger .
({0})
Wir haben jetzt auch schon einen jüngeren Bundespräsidenten . Ja, auch da ist es nicht mehr so, dass man als
Älterer gleich wieder einen Job kriegt .
Wenn das Problem ist, dass man Ältere trotz Weiterbildung nicht vermitteln kann, dann ist die Frage: Wie
gehen wir mit deren Würde um? Was machen wir mit
denen? Schicken wir sie in den Hartz-IV-Bezug, oder
schaffen wir eine Lösung, indem wir ihnen länger Arbeitslosengeld-I-Bezug ermöglichen, sodass sie mehr
Zeit haben, wieder in Arbeit zu kommen, statt sie kurz
vor der Rente nach einem erfüllten Arbeitsleben und
möglicherweise 30, 40 oder 50 Jahren Arbeit in Hartz IV
zu schieben? Das ist der Sinn unseres Antrags .
Sehr geehrter Kollege Ernst, vielen Dank . Ich habe
Ihren Antrag gelesen . Mir ist auch die Ernsthaftigkeit
dessen, was dahintersteckt, durchaus bewusst . Das erkenne ich an . Ich bitte aber, mir nachzusehen - ich komme gleich darauf zurück -, dass ich einen anderen Ansatz
habe, was die Lösung betrifft.
Ich bin der Überzeugung - insofern haben Sie meine volle Zustimmung -: Für Weiterbildung ist es nie zu
spät - bis zum letzten Tag .
({0})
Die Frage ist nur, wer die Weiterbildung anbietet . Dazu
gibt es durchaus unterschiedliche Ansichten . Wenn Sie
die Studien vom IAB und vom Institut der deutschen
Wirtschaft lesen, welche Art der Weiterbildung zur Reintegration in den Job führt, dann werden Sie feststellen,
dass es sich zu 75 Prozent um Angebote der betrieblichen Weiterbildung und nur zu einem sehr geringen Teil
um Angebote der Bildungsträger handelt . Wir müssen
sicherlich noch einmal darüber sprechen, was unter Weiterbildung zu verstehen ist . Aber grundsätzlich stimmen
Sie sicherlich der Aussage zu, dass Weiterbildung der
Hauptfaktor ist, wenn es um auskömmliche Renten und
gesunde Jobs geht .
Ich glaube aber, dass ihr bei den Symptomen und
nicht bei den Problemen ansetzt . Ich gebe der Kollegin Pothmer recht - das ist nichts Neues -: Euer Antrag
geht - egal ob es um Q oder W geht - an der Praxis vorbei; denn er würde dazu führen, dass wir ein Mittel für
eine weitere Frühverrentungswelle schaffen. Gerade das
wollen wir nicht . Wir wollen nicht den leichten Weg in
die Frühverrentung gehen . Euer Antrag stellt nichts anderes dar als eine reine Symptombekämpfung und greift
nicht dort, wo es notwendig wäre .
({1})
Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die arbeitslos
sind, wollen nicht - ich bitte auch hier um Ihre Zustimmung -, dass die Bezugsdauer so lange wie möglich ist,
sondern wollen so schnell wie möglich zurück auf den
ersten Arbeitsmarkt . Da - und nicht an der Bezugsdauer - müssen wir ansetzen .
({2})
Daher erkläre ich - ob es nun um Q oder W geht -, dass
die Koalition aus CDU/CSU und SPD diesen Antrag in
voller Überzeugung ablehnen wird, und das zu Recht .
Frank-Jürgen Weise hat sich zur Verlängerung der
Bezugsdauer wie folgt geäußert - ich darf zitieren, Frau
Präsidentin -:
Mehr Verteilung schafft Leistungsempfänger statt
Leistungserbringer . Der Wettlauf um die höchsten
Zahlungen führt in eine Sackgasse .
Diese Sackgasse wollen wir nicht . Wir haben sie erkannt
und werden sie umschiffen.
Zur Ehrlichkeit gehört dazu, dass die Kosten unkalkulierbar sind, wenn die Dauer der Arbeitslosengeldzahlungen verlängert wird . Das geht am Bedarf und auch an den
Interessen der Arbeitnehmer vorbei. Ich halte eine Verlängerung auch im Hinblick auf die Generationengerechtigkeit für nicht verantwortbar; denn dieses Geld sollte
besser für wirkliche Qualifizierungsmaßnahmen eingesetzt werden . Ich will jetzt nicht auf die Details eingehen; das haben schon die Vorredner gemacht. Ich möchte
vielmehr betonen, dass wir die Arbeitslosenversicherung
in diesem Land in den letzten Jahrzehnten zu einem äußerst modernen Zweig unseres Systems weiterentwickelt
haben . Natürlich werden wir auch in Zukunft tatkräftig
anpacken . Wir müssen die Arbeitslosenversicherung
weiterentwickeln, aber in die Zukunft gewandt und nicht
rückwärts . Wir müssen uns dabei an den Arbeitnehmern
als Kunden orientieren, und die Kunden wollen zurück
auf den ersten Arbeitsmarkt .
({3})
Ähnliches gilt für Ihre einzelnen Forderungen und die
Ausweitung der Rahmenfrist von zwei auf drei Jahre . Ich
könnte diese Liste beliebig fortsetzen .
Wir haben sicherlich das Problem erkannt, dass nicht
jede Beratung funktioniert und dass es Schwierigkeiten
bei der Vermittlung älterer Arbeitnehmer gibt. Hier muss
die Bundesagentur für Arbeit, die dem Ministerium für
Arbeit und Soziales zugeordnet ist, ansetzen . Es muss
operativ gearbeitet werden . Wie das geschehen soll, will
ich aber nicht erst aus Presseartikeln erfahren. Vielmehr
muss sich das in der Arbeit des Ministeriums zeigen . Wir
hatten lange genug Zeit dafür . Wir brauchen keine Systemänderung . Wir haben sehr gute Gesetze und eine gute
Arbeitslosenversicherung; das müssen wir nutzen . Man
muss operativ eingreifen, wenn etwas nicht funktioniert .
Was wir aber nicht brauchen, ist eine unkalkulierbare,
sinnlose und am Arbeitnehmer vorbeigehende Erweiterung der Arbeitslosengeldbezugsdauer . Eine solche Erweiterung wird nur dazu führen, dass die Menschen eher
in Rente geschickt werden, bringt aber keinen Einzigen
eher zurück in den Job . Den Menschen wieder Arbeit zu
geben, muss unser Ziel sein .
({4})
Dieses Thema wird uns garantiert noch länger beschäftigen . Ich freue mich auf die weiteren Debatten mit
Ihnen über dieses große Thema . Ich lade jeden, dem es
um die Sache geht, ein, darüber mitzudiskutieren . Das
tun wir am besten hier im Parlament und nicht bei irgendwelchen Partys .
Herzlichen Dank .
({5})
Vielen Dank, Herr Kollege Zech. - Als Nächste spricht
die Kollegin Waltraud Wolff von der SPD-Fraktion.
({0})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben
schon heute Vormittag über die sich verändernde Arbeitswelt gesprochen - ich sage das nur für die Zuschauer und haben dabei festgestellt, dass wir in Zukunft einen
weitaus flexibleren Arbeitsmarkt erwarten. Der stellt genauso Anforderungen an Fortbildung und Qualifizierung
wie auch an die soziale Absicherung von Arbeitslosigkeit - das Thema, über das wir jetzt reden .
Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat
im Rahmen des Prozesses „Arbeit 4 .0“ eine Langzeitprognose für den Arbeitsmarkt erstellen lassen . Diese
Zahlen sind heute noch nicht genannt worden . Die gute
Nachricht ist: Uns geht die Arbeit nicht aus, keine Frage .
Wir stehen aber vor der riesigen Herausforderung, dass
ungefähr 750 000 Arbeitsplätze in 27 Wirtschaftszweigen bis 2030 verloren gehen werden . Auf der anderen
Seite werden aber in 13 völlig anderen Branchen 1 Million Arbeitsplätze entstehen .
Hinter diesen Zahlen stecken natürlich Tätigkeiten
und Qualifikationen, die verschwinden, ebenso wie solche, die neu hinzukommen . Hinter diesen Zahlen stehen
aber vor allem Menschen - Menschen, die in diesen
Branchen arbeiten, die diese Berufe erlernt haben und
die die entsprechenden Qualifikationen erworben haben.
Diese Menschen brauchen Sicherheit . Erst einmal wollen
sie sicher sein, dass die Arbeitslosenversicherung zahlt .
Dann wollen sie sicher sein, dass sie nicht aufs Abstellgleis geschoben werden . Sie wollen auch sicher sein,
dass sie eine Qualifizierung erhalten, mit der sie einen
dieser neuen Jobs bekommen können .
Ich komme aus Sachsen-Anhalt und weiß, wie lähmend die Angst sein kann, aufs Abstellgleis geschoben
zu werden . Das ist auch heute noch an der Tagesordnung .
Die Zukunft des digitalen Arbeitsmarktes wird natürlich
Chancen bringen; das ist unbestritten . Aber die Menschen trauen sich doch nur dann, neue Chancen zu ergreifen, wenn sie Vertrauen in die Arbeitslosenversicherung
haben können .
({0})
In einigen Punkten stimmen wir mit dem Antrag der
Linken überein, insbesondere darin, dass die Qualifizierung einen besonderen Stellenwert bekommen muss .
Aber wir brauchen mehr . Aus der Arbeitslosenversicherung muss eine Arbeitsversicherung werden .
({1})
Aus der Bundesagentur für Arbeit muss eine Bundesagentur für Arbeit und Qualifizierung werden.
({2})
Darauf - das ist kein Wahlkampfgetöse; das will ich
gleich abtun - zielt das Weißbuch der Bundesregierung
ab . Da hat unsere Bundesministerin schon einiges getan .
Wir wissen: Der erlernte Beruf reicht heute nicht mehr
aus . Das Schlagwort „lebenslanges Lernen“ müssen wir
ernster denn je nehmen . Aus diesem Grund soll die Bundesagentur für Arbeit nicht erst bei Arbeitslosigkeit greifen . Sie soll nicht erst dann ins Spiel kommen, sondern
Beschäftigte sollen in ihrem Berufsleben jederzeit eine
unabhängige Beratung erhalten können .
({3})
Jeder stellt sich doch die Fragen: Welche beruflichen
Perspektiven habe ich mit meiner vorhandenen Qualifikation? Welche Optionen bleiben mir für eine berufliche
Weiterbildung? Was ist für mich sinnvoll? - Die Bundesagentur soll für das gesamte Erwerbsleben Ansprechpartnerin für Weiterbildung sein, auch ohne Arbeitslosigkeit .
({4})
Es geht um den Wiedereinstieg in Arbeit, aber nicht
nur . Es geht auch darum, Beschäftigungsfähigkeit zu erhalten und zu sichern . Eine Arbeitsversicherung könnte
im Bereich der Qualifizierung die notwendigen Schritte übernehmen . Natürlich gilt das umso mehr für Menschen, die arbeitslos sind . Kollegin Pothmer, Kollege
Weiler und Kollege Zech, Sie alle haben gesagt: Das ist
Wahlkampfgetöse! - Nein, ein Blick ins Weißbuch der
Bundesregierung bringt ein bisschen mehr Klarheit .
({5})
Dort steht eindeutig drin: Erste Schritte haben wir mit
der Novelle zum Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz
und zum Arbeitslosenversicherungsschutz- und Weiterbildungsstärkungsgesetz unternommen .
({6})
Es gibt nun für langzeitarbeitslose und geringqualifizierte Menschen einen besseren Zugang zu einer Weiterbildung, die auch zu einem Abschluss führt . Da müssen
wir - das ist mir eine Herzensangelegenheit - nachlegen .
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum
Schluss . Die Geschichte erzählt uns von vielen Berufen, die es schon lange nicht mehr gibt . Ich glaube, das
Thema „digitale Arbeitswelt“ hat uns wieder an eine Zeitenwende gebracht; da stehen wir jetzt . Dass wir unsere
sozialen Sicherungssysteme so gestalten, dass Menschen
Sicherheit haben in Zeiten der Arbeit und auch der Arbeitslosigkeit, das ist unsere Aufgabe . Daran werden wir
arbeiten . Das Weißbuch gibt uns die Grundlage .
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit .
({8})
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Ich schließe die Aus-
sprache .
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/11419 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen . Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall . Dann ist die Überweisung
so beschlossen .
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a und 8 b auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Vierten EU-Geldwäscherichtlinie,
zur Ausführung der EU-Geldtransferverordnung und zur Neuorganisation der Zentralstelle für Finanztransaktionsuntersuchungen
Drucksache 18/11555
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr . Sahra Wagenknecht, Dr . Dietmar Bartsch,
Dr . Petra Sitte und der Fraktion DIE LINKE
Anonyme Briefkastenfirmen verbieten Transparenzregister einrichten
Drucksache 18/8133
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . - Ich höre keinen Widerspruch . Dann ist das so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner spricht
zu Ihnen der Parlamentarische Staatssekretär Dr . Michael
Meister .
({2})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich habe Ihnen an dieser Stelle im vergangenen Monat
das Steuerumgehungsbekämpfungsgesetz vorgestellt .
Dann haben wir uns als Konsequenz aus den Panama Papers mit der Frage, wie wir Steuerhinterziehung besser
bekämpfen können, auseinandergesetzt . Bundesminister
Wolfgang Schäuble hat einen Zehn-Punkte-Plan vorgelegt, den wir in diesem Gesetzgebungsverfahren auf den
Weg gebracht haben . Heute befassen wir uns mit den Herausforderungen der Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung. Vor dem Hintergrund der Anschläge von
Paris und Brüssel im vergangenen Jahr und gestern in
London ist es, glaube ich, nicht nachvollziehbar, wenn
Waltraud Wolff ({0})
wir nicht energisch gegen die Finanzierung terroristischer Organisationen vorgehen .
({1})
Die internationale Organisation FATF, die sich mit der
Frage befasst, was man gegen Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung tun kann, hat Empfehlungen ausgesprochen, die auf europäischer Ebene in der Vierten Geldwäscherichtlinie niedergelegt sind . Diese Empfehlungen
besagen, in Zukunft nicht mehr eine gleichmäßige Kontrolle der gesamten Wirtschaft durchzuführen, sondern
zu versuchen, mit den zur Verfügung stehenden Ressourcen in einem effizienteren Ansatz eine risikoorientierte
Kontrolle vorzunehmen, also dort vertieft zu prüfen, wo
man Risiken identifizieren kann, und dort Ressourcen abzubauen, wo keine Risikoindikatoren anschlagen .
({2})
Das ist der Grundgedanke dieser Richtlinie .
Die Richtlinie ist im Mai 2015 verabschiedet worden .
Die Umsetzungsfrist läuft bis Juni dieses Jahres . Deshalb
müssen wir jetzt hier im Bundestag über die nationale
Umsetzung sprechen .
Der erste Ansatzpunkt ist die Neuausrichtung der
Financial Intelligence Unit, kurz: FIU . Das ist ein Ansatz, den in Deutschland bereits das Bundeskriminalamt
verfolgt . Wir überführen das Ganze nun von der Polizei
in den Bereich der Finanzen . Das ist wichtig, weil wir
eine Institution schaffen wollen, die eine Filterfunktion
hat und eingehende Verdachtsmeldungen nicht einfach
ungefiltert weiterleitet. Sie führt eine erste Prüfung des
Gehalts einer Meldung durch und sorgt dann dafür, dass
die zuständigen Polizei- und Strafverfolgungsbehörden
risikoorientiert den tatsächlichen Verdachtsfällen nachgehen können . Wir werden die FIU beim Zoll ansiedeln
und personell deutlich aufstocken . Heute hat diese Einheit 25 Mitarbeiter . Wir streben in Zukunft 165 Mitarbeiter an, um deutlich zu machen, dass wir diese Aufgabe
sehr ernst nehmen . An dieser Stelle ist auch internationale Koordination gefragt; denn Verdachtsmeldungen kommen nicht nur aus dem Inland, sondern möglicherweise
auch aus dem Ausland . Umgekehrt müssen wir natürlich
entsprechenden Partnerbehörden in anderen Ländern unsere Verdachtsmeldungen weitergeben.
Der zweite Ansatzpunkt ist ein sogenanntes Transparenzregister, mit dem wir dafür sorgen wollen, dass bei
allen wirtschaftlichen Akteuren, insbesondere bei juristischen Personen, klar ist, wer eigentlich der wirtschaftlich Berechtigte ist, der dahinter steht . Das muss nicht
zwingend der Eigentümer sein . Wir möchten wissen: Wer
hat den wirtschaftlichen Einfluss auf eine Einheit? Das
werden wir im Transparenzregister niederlegen . Da wir
versuchen wollen, mit möglichst wenig Bürokratie auszukommen, greifen wir auf bestehende Register zurück,
zum Beispiel das Handelsregister, und werden diese zu
einem neuen Register verlinken . Wo wir neue Daten benötigen - bei Stiftungen, bei Trusts -, werden wir diese
anfordern . Ansonsten versuchen wir, sparsam mit diesem
Mittel umzugehen . Wir wollen den Zweck erreichen,
aber nicht, indem wir viel Bürokratie erzeugen .
({3})
Es gibt eine intensive Debatte über die Frage, wer
Zugang zu den Informationen in diesem Register haben
soll . Wir sind der Meinung, dass wir an dieser Stelle eine
Eins-zu-eins-Umsetzung des europäischen Rechts, wie
es in der Vierten Geldwäscherichtlinie steht, vornehmen
sollten . Das bedeutet, dass bei einem berechtigten Interesse - aber eben nur dann - Zugang besteht nicht nur für
Behörden und Verpflichtete im Sinne des Geldwäschegesetzes, sondern auch für Journalisten oder für Nichtregierungsorganisationen . Wir haben das vor dem Hintergrund
des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes mit dem Eingriff in
die Persönlichkeitsrechte und Datenschutzrechte des einzelnen Bürgers abgewogen . Wenn wir in diese Persönlichkeitsrechte eingreifen, dann muss eben ein entsprechender Grund dafür angeführt werden können .
({4})
Wir sehen an zwei Stellen Ausweitungen vor, und
zwar im Bereich der Verpflichteten. Das ist zum einen bei
den Güterhändlern der Fall . Für die Güterhändler gelten
heute schon die notwendigen Sorgfaltspflichten. Wenn
sie Geschäfte abwickeln, dann sind sie Verpflichtete und
müssen geldwäscherechtliche Sorgfaltspflichten einhalten . An dieser Stelle wird ein Grenzwert verändert . Statt
heute 15 000 Euro bei Barzahlung sind es in Zukunft
10 000 Euro . Das heißt nicht, dass man bei Geschäften
unterhalb dieser Grenze bezogen auf Geldwäsche nicht
sorgfältig sein muss . Aber das heißt, dass man bei Barzahlung oberhalb dieser Grenze auf jeden Fall die Sorgfaltspflichten einhalten muss.
Zum anderen ist das im Bereich des Glücksspiels der
Fall . Beim Glücksspiel ist es seit jeher so, dass Glücksspielanbieter nicht zwingend Verpflichtete sind. Sie werden jetzt Verpflichtete, es sei denn, es ist ein staatlicher
Anbieter wie etwa die Lottogesellschaft, oder es ist eine
Gastronomie, wo Glücksspielautomaten stehen . Im letzteren Fall ist es zwar auch Glücksspiel; aber da sehen
wir bei dem risikoorientierten Ansatz nicht unbedingt die
Herausforderung .
Ich bitte Sie, in der relativ knappen Zeit bis Juni diesen Gesetzentwurf sorgsam und intensiv mit uns zu beraten. Ich hoffe, dass wir unseren Verpflichtungen bei der
Terrorismusfinanzierungsbekämpfung und der Geldwäschebekämpfung nachkommen .
Herzlichen Dank .
({5})
Vielen Dank, Herr Staatssekretär. - Als Nächster
spricht der Kollege Richard Pitterle von der Fraktion Die
Linke .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste auf der Tribüne! Vor
ungefähr einem Jahr war es Panama, vor ungefähr einem Monat Malta . In schöner Regelmäßigkeit wird über
Geldwäsche und Steuerhinterziehung per Briefkastenunternehmen in Steueroasen berichtet . Es ist sozusagen
längst Alltag, dass manche Reiche und Hyperreiche ihre
Vermögen auf zwielichtigem Wege vor dem Zugriff des
Finanzamtes schützen . Das schadet uns allen; denn wenn
Steuern nicht gezahlt werden, fehlt dringend benötigtes
Geld für Schulen, Straßen und Krankenhäuser .
Die Bundesregierung legt nun den Entwurf ihres Gesetzes zur Umsetzung der Vierten Geldwäscherichtlinie
der EU vor und präsentiert sich hier wieder als große
Kämpferin gegen Geldwäsche und Steuerhinterziehung .
Meine Damen und Herren, die Realität sieht leider anders
aus . Die Bundesregierung schreitet nicht voran, sondern
dackelt offenbar völlig überfordert hinterher.
({0})
Bis zum 26 . Juni dieses Jahres ist - so haben wir gehört die aus 2015 stammende Richtlinie umzusetzen, und erst
jetzt, kurz vor Schluss, wird die Bundesregierung tätig .
Mehr noch: Auf europäischer Ebene schnürt man längst
am nächsten Maßnahmenpaket . Die Bundesregierung
ist nicht Motor, sondern Bremse bei der EU-weiten Bekämpfung von Geldwäsche . Die Linke lässt Ihnen das so
nicht durchgehen!
({1})
Ich will drei Punkte zum vorliegenden Gesetz ansprechen . Das ist erstens das Transparenzregister, einer der
zentralen Punkte des Gesetzes . Darin sollen die „wirtschaftlich Berechtigten“ - also die wahren Eigentümer
zum Beispiel eines Unternehmens - aufgeführt werden,
damit sich nicht X oder Y hinter irgendwelchen Briefkastenunternehmen verstecken können . So weit, so gut . Das
Transparenzregister aber, das die Bundesregierung nun
plant, ist leider genau eines nicht: transparent . Im Gegenteil: Die Daten bleiben unter Verschluss und werden
nur dann an die Öffentlichkeit herausgegeben, wenn man
ein berechtigtes Interesse an der Einsichtnahme nachweisen kann . Die Bundesregierung hat hier einmal wieder
dem Druck der Unternehmerlobby nachgegeben, die auf
angebliche Gefahren durch Entführer verwies . Wir von
der Linken fordern hingegen in unserem Antrag, dass das
Transparenzregister uneingeschränkt öffentlich zugänglich ist, damit tatsächlich eine wirksame Kontrolle stattfinden kann.
({2})
Ich komme zum zweiten Punkt im Gesetz, den ich ansprechen möchte und der tatsächlich positiver Natur ist .
Die bei Meldungen auf Geldwäscheverdacht zuständige
Stelle war bisher beim Bundeskriminalamt angesiedelt .
Mit dem neuen Gesetz wird die Stelle dort herausgelöst
und künftig als sogenannte Zentralstelle für Finanztransaktionsuntersuchungen bei der Generalzolldirektion und
somit im Geschäftsbereich des Bundesfinanzministeriums untergebracht .
({3})
Das ist grundsätzlich auch sinnvoll; denn genau dort sollten die Kompetenzen gebündelt sein, wenn man Geldwäschern und Steuerhinterziehern auf den Zahn fühlen
will . Damit kommt die Bundesregierung - wenn auch
mit kleinen Trippelschritten - wieder einmal einer unserer Forderungen entgegen . Immerhin hat die Linke schon
2013 die Einrichtung einer Bundesfinanzpolizei beim
Bundesfinanzministerium gefordert, um Geldwäsche
wirksam bekämpfen zu können .
({4})
Wir freuen uns, dass die Große Koalition auch einmal
lernfähig ist und geben natürlich weiterhin gerne Hilfestellung beim Laufenlernen .
({5})
Zum Beispiel muss sich die Bundesregierung auch hier
von ihrem Sparzwang befreien und das entsprechende
Personal kräftig aufstocken .
Ich komme zum letzten und dritten Punkt, zu den
vollmundigen Ankündigungen der Bundesregierung
und dem Ergebnis . Liebe Kolleginnen und Kollegen, die
Bundesminister Gabriel, Müller und Maas haben im letzten Jahr noch groß gefordert, auch weltweit mit gutem
Beispiel voranzugehen und Briefkastenunternehmen zu
bekämpfen . Da frage ich mich: Wo bleibt denn nun die
große Initiative seitens der Bundesregierung? Wir wollen
doch hoffen, dass das am Ende nicht wieder bloß die hinlänglich bekannte heiße Luft ist .
({6})
Aus meiner Sicht wäre es zumindest erforderlich, die
Bußgelder nach dem Geldwäschegesetz sowie auch die
Bußgelder bei Verletzung der Meldepflichten nach der
Außenwirtschaftsverordnung deutlich anzuheben . Diese
verpflichtet bekanntlich den Steuerpflichtigen, Beteiligungen an einer ausländischen Gesellschaft - zum Beispiel an einer GmbH in Panama - an die Bundesbank
zu melden . Die Bußgeldrahmen unterscheiden sich bei
vergleichbarem Fehlverhalten deutlich . Es wäre im Übrigen effizienter, Meldepflichten in einem Gesetz zu konzentrieren. Dies wäre auch für die Meldepflichtigen übersichtlicher .
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({7})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Als Nächster hat das
Wort Dr . Jens Zimmermann von der SPD-Fraktion .
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich glaube, man kann sehr gut an die Rede vom Kollegen Pitterle
anschließen; denn der Kampf auch gegen Briefkastenfirmen und im Zusammenhang mit den Panama Papers
eint uns ja . Deswegen verhandeln wir hier im Deutschen
Bundestag gerade auch das Steuerumgehungsbekämpfungsgesetz . Man kann uns da also sicherlich vieles vorwerfen, aber nicht, dass wir untätig sind .
Gleichzeitig muss man an dieser Stelle - da haben Sie
schon ein bisschen recht - auch sagen: Es gehört eben
doch alles zusammen . Wenn man in dieser Woche die
Presse verfolgt hat, konnte man lesen, dass Briefkastenfirmen im Zusammenhang mit der „Russian Laundromat“ - dabei ging es um die „russische Waschmaschine“ - eine Rolle gespielt haben . Das zeigt eben, dass
Geldwäsche nach wie vor ein sehr großes Thema ist . Es
werden Gelder aus zwielichtigen Kanälen gewaschen .
Auch wird Geld gewaschen und transferiert, das für terroristische Aktivitäten genutzt werden kann . Deswegen
eint uns, glaube ich, hier alle im Haus der entschiedene
Kampf gegen Geldwäsche .
Die Tatsache, dass sich die Umsetzung jetzt ein bisschen nach hinten geschoben hat, ist ja kein Beleg dafür,
dass wir wenig machen wollen, sondern ganz im Gegenteil . Das Ansinnen der Koalition und der Bundesregierung an dieser Stelle war ja, möglichst die Fünfte Geldwäscherichtlinie, die wir jetzt noch bekommen werden,
hier schon direkt hineinzunehmen . Dass das - Sie wissen, wie in Brüssel manchmal die Verhandlungen laufen - jetzt nicht geklappt hat, ist schade; aber es wäre
falsch, das in diese Richtung zu interpretieren, meine
Damen und Herren .
({0})
Aber wenn wir uns anschauen, was wir in der Umsetzung der Vierten Geldwäscherichtlinie in diesem Paket
jetzt drin haben, dann können wir sagen: Wir haben mit
der Neustrukturierung der Financial Intelligence Unit das ist die Zentralstelle, die den Kampf gegen Geldwäsche führt - einen wirklich wichtigen Punkt umgesetzt,
und wir begrüßen es sehr, dass wir an dieser Stelle eine
deutliche personelle Aufstockung erleben werden . Ich
glaube, ein ganz wichtiger Punkt, auf den wir in den Verhandlungen noch ein bisschen genauer eingehen müssen,
ist die Koordinierungsfunktion zwischen den einzelnen
Ländern . Wir alle, die wir im Kampf gegen Geldwäsche
immer wieder zusammensitzen, wissen: Erfolgreich können wir in Deutschland nur sein, wenn der Bund und die
Bundesländer an einem Strang ziehen, meine Damen und
Herren .
({1})
Das Transparenzregister ist angesprochen worden,
ein wichtiger Punkt . Wir diskutieren jetzt darüber, wer
eigentlich auf die Informationen in diesem Transparenzregister zugreifen darf . Es ist nun nicht so, als würden
da ganz geheime Informationen drinstehen . Da steht
letztendlich drin, wer der wirtschaftlich Berechtigte eines Unternehmens ist . Ich denke, das sind im Normalfall
Informationen, die auch durch viele öffentliche Quellen
zugänglich sind . Sie werden aus bestehenden Registern
zusammengeführt. Wir haben ein abgestuftes Verfahren.
Behörden sollen einen tieferen Einblick haben können als
Geschäftspartner oder auch Journalisten . Das halten wir
für richtig. Aber wir sollten uns im Laufe der Verhandlungen noch einmal genau überlegen, ob wir wirklich
diese Schwelle einziehen wollen, dass dieses berechtigte
Interesse jedes Mal nachgewiesen werden muss; denn es
gibt, glaube ich, an dieser Stelle nur zwei Varianten.
Die eine Variante ist, dass dieses berechtigte Interesse
in Zukunft immer als Begründung dafür herhalten muss,
dass man keinen Einblick gewährt, wenn man eine harte
Linie fährt. Die andere Variante ist, dass man es umgekehrt ganz leicht macht und jeder, der möchte, immer
Einblick nehmen kann . Dann sollten wir meiner Meinung nach aber auch nach außen das ganz klare Signal
senden: Jeder sollte Einblick nehmen können, weil es
eigentlich Informationen sind, bei denen niemand etwas
zu verbergen hat . Diese Güterabwägung können wir an
dieser Stelle, denke ich, treffen.
({2})
Die Güterhändler sind ein wesentlicher Teil im Kampf
gegen Geldwäsche . Es sind nicht nur die Banken . Es geht
nicht nur um die Geldtransfers, sondern es geht auch um
die Frage: Was passiert am Ende eigentlich mit diesem
Geld? Deswegen halten wir es für den richtigen Schritt,
dass die Schwelle, ab der erhöhte Sorgfaltspflichten gelten, von 15 000 Euro auf 10 000 Euro gesenkt wird . Was
wir in der Diskussion, auch mit vielen Betroffenen, erfahren haben, ist, dass man gerne bereit ist, sich auf diese
Schwelle einzulassen, weil viele Unternehmen zunehmend merken, dass sie Risiken eingehen, wenn sie solch
hohe Bartransaktionen akzeptieren . Ich glaube, an dieser
Stelle können wir mit der Industrie, mit dem Handel sicher zu einer guten Lösung kommen .
In den weiteren Verhandlungen - wir sind heute in der
ersten Lesung; der Bundesrat ist mit diesem Gesetzentwurf auch betraut - müssen wir vielleicht an der einen
oder anderen Stelle noch genauer hinschauen . Ich will einen Punkt noch einmal explizit in den Blick nehmen, und
zwar die Frage: Was machen wir mit den Glücksspielautomaten? Der Kollege Staatssekretär hat so schön von
diesem einen Automaten in der Eckkneipe gesprochen,
den wir jetzt nicht übermäßig belasten wollen . Da sind
wir vollkommen einer Meinung . Aber mir geht es an dieser Stelle nicht um die Eckkneipe mit dem einen Glücksspielautomaten, sondern mir geht es um ganze Glücksspielkasinos, die teilweise - das muss man sagen - einen
zweifelhaften Ruf haben . Ich halte es für ein schlechtes
Signal, wenn wir bei der Umsetzung des Geldwäschebekämpfungsgesetzes genau diese Branche privilegieren
und ausnehmen. Wir wollen aber nicht diejenigen ins Visier nehmen, die an diesen Automaten spielen, sondern
wir wollen mit denjenigen reden, die solche Geschäfte
betreiben . Ich glaube, es ist der Mühe wert, dass wir uns
in den weiteren Verhandlungen dieses Thema noch einmal genauer anschauen und überlegen sollten, nicht auch
für Betreiber von solchen Etablissements erhöhte Sorgfaltspflichten einzuführen.
Vielen Dank.
({3})
Vielen Dank, Herr Kollege Zimmermann. - Als
Nächstes spricht der Kollege Dr . Gerhard Schick von der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das Dossier in der Süddeutschen Zeitung über russische Geldwäsche, wonach in den Jahren 2010 bis 2014
mindestens 20 Milliarden Euro russisches Schwarzgeld
in der Europäischen Union gewaschen worden sind, ist
schon angesprochen worden. In dem Artikel finden sich
zwei Zitate, die man sich in dieser Debatte noch einmal
in Erinnerung rufen muss . Das eine Zitat ist:
Geldwäscher fühlen sich von der Bundesrepublik
eingeladen .
Das andere Zitat lautet:
Geldwäscher lieben Deutschland .
Das ist nicht das Bild, das wir von unserem Land gerne hätten . Die Diagnose ist auch nicht neu . Wenn es um
die Frage der Schattenfinanzzentren geht und von den
NGOs internationale Rankings aufgestellt werden, dann
taucht die Bundesrepublik Deutschland leider regelmäßig relativ weit oben auf . Es stellt sich die Frage: Was
passiert hier eigentlich? Was ist in den letzten Jahren passiert? Jetzt haben wir wieder ein Gesetz, wo es im Wesentlichen um die Umsetzung einer europäischen Richtlinie geht . Wir haben also nicht einen eigenen Ansatz,
das Defizit in unserem eigenen Land anzugehen, sondern
es ist erneut getrieben von der Europäischen Union . In
den Jahren seit 2009 wäre es notwendig gewesen - der
Bundesfinanzminister ist für dieses Thema zuständig -,
irgendwann zu überlegen: Was machen wir eigentlich,
um diese Diagnose, diesen Zustand auch aus unserem
eigenen Interesse heraus zu überwinden? Es kann nicht
sein, dass wir immer warten, bis die Europäische Union
handelt. Vor allem angesichts des ständigen Fingerzeigs
von Deutschland auf Steueroasen da und dort ist es nicht
lauter, nicht vor der eigenen Haustüre zu kehren . Das ist
notwendig .
({0})
Das Kernstück des Gesetzes, das in der Öffentlichkeit
am meisten bekannt ist, ist das Transparenzregister . Es ist
schon im Jahr 2014 von der Financial Action Task Force
angemahnt worden, dass in Deutschland ein solches Register fehlt . Es ist eine langjährige Forderung, dass wir
ein solches Register bekommen . Jetzt könnte man froh
sein, dass es das gibt . Aber es wird keine wirkliche Öffentlichkeit hergestellt, weil dieses Register nur auf Antrag eingesehen werden kann, wenn man ein berechtigtes
Interesse nachweisen kann . Auf der einen Seite gibt es
das Problem, dass viele aufgrund dieser Voraussetzungen abgehalten werden, diese Information einzusehen,
andererseits wird es ein Problem bei der Qualität der darin enthaltenen Daten geben . Wie stellt man denn sicher,
dass das, was in einem solchen Register steht, wirklich
stimmt? Am besten über eine öffentliche Kontrolle, also
dadurch, dass korrigiert werden kann, wenn Leute merken, dass irgendwelche Daten nicht stimmen .
Deswegen wird für uns ein wichtiger Punkt in den Beratungen des Gesetzes sein, dass wir es schaffen, dieses
Register zu einem öffentlichen Register zu machen. Das
ist auch aus Teilen Ihrer Parteien gefordert worden . Es
ist eine Forderung der Zivilgesellschaft . Wir werden uns
dafür starkmachen. Ein nichtöffentliches Transparenzregister schafft keine wirkliche Transparenz. Deswegen
brauchen wir eine Korrektur .
({1})
Auch fehlt es wieder an Datenschutz . Das, was uns
manche Unternehmerinnen und Unternehmer sagen, ist
nicht ganz falsch . Wir wollen nicht, dass sich Unternehmen verschleiern können; aber Personen haben einen
Anspruch darauf, dass ihre sensiblen Daten geschützt
werden . Deswegen meinen wir, dass man noch einmal
darüber reden muss, ob man mit einer Verschlüsselung
der sensiblen Daten ein Stück mehr Datenschutz erreichen kann . Auch das werden wir in die Beratungen einbringen .
({2})
Wenn es um die Verlagerung der Financial Intelligence Unit geht, dann werden wir uns das genau anschauen
müssen . Der Aufwuchs der Beschäftigten ist sicher hilfreich. Aber allein die Verlagerung wird das Strukturproblem, dass Informationen aus vielen Branchen überhaupt
nicht kommen, dass Verdachtsmeldungen überhaupt
nicht da sind und nicht die richtige Qualität haben, dass
die Behörden nicht zusammenarbeiten, nicht lösen . Deswegen bleibt der Appell an die Verantwortlichen in Bund
und Ländern, das seit Jahren bekannte Problem: „Wie
stellen wir uns organisatorisch, behördlich auf, welche
Behörde macht was und wie arbeiten sie zusammen?“
endlich sinnvoll anzugehen .
({3})
Ich will noch einen Punkt kurz ansprechen . Es geht
um die Frage, die jetzt gerade auf europäischer Ebene
diskutiert wird - die Bundesregierung steht da auf der
Bremse -: Kann man eigentlich bei Immobilieneigentum
feststellen, wem da was gehört, wenn man zum Beispiel
Vermögen von Kriminellen einziehen will? Ich glaube,
auch da gibt es in Deutschland noch Nachsteuerungsbedarf; das sollten wir hier diskutieren . Es sollte vielleicht
nicht so sein, dass wir da wieder auf eine europäische
Initiative, auf Druck von europäischer Seite warten, sondern aus unserem Interesse dafür sorgen, dass Strafverfolgungsbehörden hier die Möglichkeit haben, die Strafverfolgung zu leisten .
Vielen Dank.
({4})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Als Nächstes spricht
Dr. Frank Steffel von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir beraten heute die Vierte EU-Geldwäscherichtlinie
und hatten in der Tat die Absicht, sie gemeinsam mit der
Fünften zu beraten . Das macht ja auch Sinn; denn es geht
um erhebliche Veränderungen auch im Hinblick auf die
Strukturen, die Kontrollmechanismen, das Controlling
von Zehntausenden Unternehmen in Deutschland . Insofern sollte man das nicht jedes halbe Jahr neu regulieren .
Leider hat die EU den Zeitrahmen, den sie sich vorgenommen hat, nicht eingehalten . Insofern werden wir
jetzt - der Koalitionspartner hat zu Recht darauf hingewiesen: bis Juni - selbstverständlich die Vierte EU-Geldwäscherichtlinie in Deutschland umsetzen und unseren
Beitrag dazu leisten, dass in Deutschland noch weniger
Geldwäsche stattfindet und die Terrorismusbekämpfung
noch effizienter erfolgen kann.
Mit Panama-Briefkästen hat das alles übrigens leidlich wenig zu tun . Wir sind uns völlig einig: Das mit
den Panama-Briefkästen ist eine Sauerei . Wo immer so
etwas noch möglich ist, muss es international bekämpft
und sanktioniert werden . Hier müssen diejenigen, die es
zulassen, und diejenigen, die es tun, bestraft werden, in
Deutschland und überall auf der Welt . Es gibt aber eine
Gemeinsamkeit: Beides geht nur international - sowohl
Geldwäsche- und Terrorismusbekämpfung als auch die
Bekämpfung von Steuerhinterziehung und dessen, was
sich hinter den Begriffen „Panama-Briefkasten“ und
„Panama Papers“ verbirgt .
Insofern kann man am heutigen Tage bei aller Kritik
an Europa, bei all dem, was manchmal schlecht und langsam umgesetzt wird, positiv feststellen - ich sage das gerade auch den vielen jungen Zuhörern hier im Deutschen
Bundestag -: Geldwäsche- und Terrorismusbekämpfung
ist ein gutes Beispiel dafür, dass es eben nur gemeinsam
in Europa geht . Denn Geldwäsche macht vor deutschen
Grenzen nicht halt, aber eben auch nicht vor polnischen,
vor österreichischen oder vor französischen Grenzen .
Insofern müssen wir es in Europa gemeinsam tun und
werden es auch tun .
({0})
Die Kritik an der mangelhaften Umsetzung in Deutschland - Herr Schick, Sie haben das zu Recht in vielen Berichterstattergesprächen sehr kritisch angemahnt - eint
uns, glaube ich, alle . Wir stellen fest, dass die Umsetzung in den 16 Bundesländern, die dafür zuständig sind,
ziemlich leidenschaftslos betrieben wird, es da in vielen
Ländern einen Mitarbeiter in irgendeiner Behörde gibt,
und das nicht einmal einheitlich in allen Bundesländern .
Deswegen unterstützen wir ausdrücklich das Anliegen
der Bundesregierung, mehr zu zentralisieren, Stellen auf
Bundesebene zu schaffen, den professionellen Zoll einzusetzen und Verdachtsmeldungen wirklich sehr konsequent nachzugehen .
Das ist für mich nämlich das Allerfrustrierendste: Wir
haben viele Unternehmen in Deutschland - ganz große
und viele mittelständische -, die Verdachtsfälle melden.
Sie sagen: Wir haben einen konkreten Verdacht, dass
vielfach auch Menschen nichtdeutscher Nationalität in
Deutschland Geldwäsche betreiben, indem sie Güter
kaufen, indem sie Bargeld in Umlauf bringen und vieles
andere mehr, aber stellen fest, dass unseren Verdachtsmeldungen überhaupt nicht nachgegangen wird, dass wir
die Verdachtsmeldung abgeben und wir von der Behörde
über Monate überhaupt nichts hören . - Ich glaube, das ist
die Mindestvoraussetzung, von der man als Staatsbürger
ausgehen kann: Wenn wir hier ein Gesetz beschließen,
dann muss es auch ernsthaft dort umgesetzt werden, wo
es kontrolliert wird, nicht nur in den Unternehmen und in
den Organisationen, die die Meldungen machen .
({1})
Zweiter Punkt: Bargeld . Wir stellen in Deutschland im
positiven Sinne - das ist ganz menschlich - eine hohe
Sensibilität im Hinblick auf Bargeld fest . Wir haben weniger Kreditkarten-Geldverkehr als fast alle vergleichbaren Länder der Welt . Sobald boulevardesk aufgemacht
wird: „Die 500-Euro-Note verschwindet“, haben die
Deutschen das Gefühl, man missachte ihr Interesse, mit
Bargeld zahlen zu dürfen und nicht alles dokumentieren
zu müssen, aber auch den Schutz ihrer persönlichen Daten und ihrer persönlichen Bürgerfreiheiten . Hier möchten wir die Menschen beruhigen und sagen: Nein, das
werden wir nicht tun .
({2})
- Das wird von Fachleuten, von Medien geschürt, übrigens auch von Politikern, Herr Kollege Binding . - Aber
eine Änderung in diesem Bereich wird nicht stattfinden,
sondern es wird auch in Zukunft jedem Deutschen möglich sein, ganz legal mit Bargeld zu bezahlen . Hier muss
niemand Sorge vor dieser Bundesregierung und dieser
Koalition haben .
({3})
Die Sache mit dem Transparenzregister haben Sie sehr
verkürzt dargestellt, Herr Schick . Da Sie Fachmann und
nicht so naiv sind, wie Sie sich hier verkauft haben,
({4})
wissen Sie ganz genau, dass da kein Student nachts am
Computer sitzt und im Transparenzregister stöbert und
nebenbei russischen Oligarchen, den Mafiosi oder den
Terroristen entdeckt . Das ist absurd . Die Hauptarbeit
müssen die staatlichen Stellen leisten . Journalisten können da helfen . Die Hauptarbeit müssen NGOs leisten .
Wir haben die Möglichkeit geschaffen, dass jeder, der
ein Geschäftsinteresse hat, prüfen kann, ob derjenige, der
etwas bei ihm kaufen möchte, etwas verschleiern möchte . Es gibt die Möglichkeit, zu prüfen: Wer ist wirtschaftlich begünstigt?
({5})
- Aber Herr Schick! - Hier eine Hexenjagd daraus zu
machen
({6})
und den Eindruck zu erwecken, dass jeder stille Gesellschafter und jeder, der aus irgendwelchen Gründen an
einer deutschen Gesellschaft beteiligt ist, ein potenzieller Geldwäscher ist, das wird der deutschen Wirklichkeit
nicht gerecht .
({7})
99,9 Prozent der deutschen Unternehmen sind von
dem, was wir hier diskutieren, überhaupt nicht betroffen.
({8})
Wir reden über einige wenige schwerkriminelle Straftaten, deren Überwachung wir noch besser hinbekommen
möchten . Im Übrigen ist Deutschland deshalb so betroffen, weil es in Europa zentral liegt und weil es ein sehr
großes und ein sehr freiheitliches Land ist .
Natürlich ist eine Güterabwägung zu treffen. Wir werden in allen Bereichen, übrigens auch was den Güterhandel betrifft, mit Augenmaß vorgehen. Uns liegen sehr dezidierte Hinweise von internationalen Konzernen vor, in
denen es heißt: Achtung, reguliert in Deutschland nicht
schärfer als in anderen europäischen Ländern! Ihr macht
unsere Geschäfte in Europa, in Asien und in Amerika kaputt, weil wir uns an das deutsche Gesetz halten müssen,
unsere Wettbewerber aber nicht .
Wir werden darauf achten, dass wir die Bürokratie
nicht überborden . Es kann nicht sein, dass jeder, der einem Studenten einen Gebrauchtwagen für 1 200 Euro
verkauft, in den Verdacht der Geldwäsche gerät. Das ist
absurd . Das hat mit der Lebenswirklichkeit nichts zu tun .
Wir haben im Parlament jetzt vier Wochen Zeit bis zur
Anhörung Ende April . Wir werden über dieses Thema in
aller Ausgewogenheit diskutieren . Die Menschen sollen
wissen: Uns liegt Geldwäschebekämpfung am Herzen,
Terrorismusbekämpfung ohnehin . Wir werden mit Augenmaß dafür sorgen, dass nicht Zehntausende von Unternehmen und Millionen von Bundesbürgern betroffen
sein werden, nur weil es einige wenige furchtbar kriminelle schwarze Schafe gibt .
Vielen Dank.
({9})
Danke, Herr Kollege Steffel. - Als nächster Redner:
Lothar Binding von der SPD-Fraktion .
({0})
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gestatten Sie mir vorab eine Bemerkung . Ich habe bei Google nach dem Begriff „Geldwäsche“ gesucht.
({0})
und wurde mit folgendem Pop-up beglückt: Diesen
Freitag - jetzt mitspielen, Euro-Jackpot rund 49 Millionen! - Es hat mich gewundert, dass in diesem Kontext
ein solches Pop-up kommt . Da merkt man, was von Google im Hintergrund verknüpft wird .
Gerhard Schick hat zitiert, dass Geldwäscher Deutschland lieben, und die Zahl 20 Milliarden Euro erwähnt .
Soweit wir wissen, sind von den 20 Milliarden Euro ungefähr 30 bis 40 Millionen Euro in Deutschland gewaschen worden . Das ist eine andere Größenordnung . Deshalb denke ich: Wenn wir so pauschal über dieses Thema
sprechen, dann kommen wir der Sache nicht näher .
({1})
Was sind bei dem Beispiel, das er genannt hat, überhaupt die Zutaten? Ich nenne sie einmal: eine russische
Firma, die Schwarzgeld hat - das ist klar -, zwei Briefkastenfirmen, und zwar nicht in Deutschland, sondern
in Großbritannien - ich nenne sie einmal Firma A und
Firma B -, einen Richter aus Moldau - man fragt sich:
warum Moldau?; die Antwort: wir haben ein Assoziierungsabkommen, es gibt also Freihandel mit Moldau,
und deshalb gelten Rechtsverhältnisse in Moldau auch
für die EU - und einen Staatsbürger aus Moldau . Wir haben also Russland, England, Moldau und Deutschland .
Jetzt schauen wir uns einmal an, was da eine Rolle spielt .
Die Firma A schließt mit der Firma B einen Vertrag,
dass die Firma A der Firma B ganz viel Geld leiht . Sie
leiht ihr gar kein Geld, aber die Bürgschaft für dieses
Leihgeschäft übernehmen die russische Firma und der
Bürger aus Moldau, wir haben also zwei Bürgen . Nun
verlangt die Firma A das gar nicht an die Firma B geliehene Geld zurück, obwohl noch gar kein Geld geflossen
ist . Weil Firma B aber nicht zahlt - ist ja klar, sie hat ja
auch kein Geld bekommen -, verklagt Firma A jetzt Firma B in Moldau auf Rückzahlung dieses nichtgezahlten
Geldes . Der Bürge in Moldau ist zuständig . Der Richter in Moldau entscheidet, dass die Schuldforderung zu
Recht besteht, und wenn die Schuldforderung zu Recht
besteht, müssen die Bürgen zahlen . Das ist klar . Das ist
ein Rechtsgeschäft, das dort gültig ist . Deshalb übernimmt jetzt die russische Firma die Überweisung an den
Gerichtsvollzieher in Moldau . Der wiederum überweist
das Geld auf ein Konto der Firma A in Lettland . Man
merkt, was da eine Rolle spielt: Das Schwarzgeld ist nun
auf dem Konto der Firma A in Lettland, in der EU, angekommen . Jetzt werden mit diesem Geld Bestellungen
bei der Firma Bogner im Auftrag der russischen Firma
getätigt . Sie kauft mit diesem Schwarzgeld in einer ganz
großen Dimension in Deutschland ein .
Jetzt könnte man sich fragen, ob der Außenhandelsvertreter der Firma Bogner nicht hätte spüren können,
dass da möglicherweise andere Geschäftsmodelle im
Hintergrund ablaufen . Man könnte darüber nachdenken,
ob wir ihn nicht verpflichten sollten, in einem solchen
Fall aktiv zu werden .
An diesem Fall merken wir, dass die Sache nicht ganz
so einfach ist, wie es hier vorgetragen wurde . Es geht
nicht nur um Deutschland, sondern es geht um ein großes Geflecht und eine komplizierte Konstruktion, die das
alles möglich macht . Umso mehr müssen wir mit den anderen Ländern darüber reden .
Wer ist eigentlich beteiligt? Es gibt immer drei Schritte: die Einspeisung des Schwarzgeldes in den Markt, die
Verschleierung - da gibt es verschiedene Mechanismen und die Integration des Weißgeldes in den Markt . Wer ist
hauptsächlich beteiligt? Spielbanken, Pferderennen, Hotels, Wechselstuben, Bankkonten, Automatenwirtschaft .
Eine kleine Bemerkung dazu - Jens Zimmermann hat
das schon erwähnt -: Wir haben uns ein bisschen darüber geärgert - darüber haben wir auch gestritten -, dass
die CDU es erreicht hat, dass die Automatenwirtschaft,
die im Referentenentwurf klugerweise enthalten war, herausgenommen wurde .
({2})
Wir sehen darin einen schweren Fehler, weil - sagen wir
es einmal so - zumindest nicht ganz klar ist, dass in den
Automatensalons, von denen es allein im Umfeld meiner Wohnung sechs Stück gibt, Geldwäsche unmöglich
ist . Insofern wäre es klug, sich darum noch einmal zu
kümmern . Wir müssten sicher noch ein bisschen streiten, damit sie wieder hineinkommen . Aber auch deutsche
Banken haben fragwürdige Überweisungen aus Russland
angenommen .
({3})
Auch dort hat niemand genau hingeschaut, obwohl das
gut gewesen wäre .
Die Verschleierung funktioniert - das kennen wir
schon -: Scheingeschäfte, Offshorebanken, Briefkastengesellschaften, Scheingesellschaften, Strohmänner, gefälschte Rechnungen, Rückdatierungen usw . Die Quellen
und Senken sind Korruption, Waffen- und Drogenhandel,
Terrorismusfinanzierung. Also, es lohnt sich, dass wir
uns darum kümmern .
In dem Gesetz wird als Antwort eine Neuorganisation
der Zentralstelle für Finanztransaktionsuntersuchungen
in der vorgetragenen Weise vorgeschlagen . Das halten
wir für eine sehr gute Idee . Auch die Einrichtung eines
Transparenzregisters halten wir für eine gute Idee . Wer
ein „berechtigtes Interesse“ hat, sollte da hineinschauen
können, inklusive Journalisten . Das ist eine Brücke in die
Öffentlichkeit. Vielleicht kann man da noch mehr machen; als ersten Schritt finde ich das aber ganz gut. Vielen
Journalisten verdanken wir ja die Erkenntnisse, die wir in
diesem Kontext haben . Insofern ist das sehr gut .
Ein letzter Satz: Ich finde auch die Verschärfung der
Sanktionen von 100 000 Euro auf 1 Million Euro hinreichend . Es handelt sich um die übelsten kriminellen
Machenschaften, die wir beobachten können . Deshalb ist
eine Geldbuße von 1 Million Euro wahrscheinlich angemessen .
Ich finde, das ist für die erste Lesung ein sehr guter
Aufschlag . Wir warten auf die zweite und dritte Lesung .
({4})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Der letzte Redner in dieser Aussprache ist Dr . Hans Michelbach von der CDU/
CSU-Fraktion .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
einer Studie von 2016 wird das Geldwäschevolumen in
Deutschland pro Jahr auf 100 Milliarden Euro geschätzt .
Das ist eine unglaublich hohe Zahl . Ich glaube nicht, dass
das realistisch ist .
({0})
Ich weiß aber, dass Ihr Zitat, Herr Dr . Schick, falsch
ist . Geldwäscher dürfen sich in Deutschland nicht eingeladen fühlen . Das Gegenteil ist der Fall . Herr Dr . Schick,
das wissen Sie . Natürlich wollen Kriminelle dorthin gehen, wo es eine hohe Wirtschaftlichkeit, eine hohe Wirtschaftskraft und eine hohe wirtschaftliche Wertschöpfung gibt . Das ist die automatische Anziehungskraft eines
guten, erfolgreichen Wirtschaftsstandorts . Aber - das ist
das Wichtige dabei - wir wollen in Deutschland saubere Geschäfte . Wir wollen keine Kriminellen . Wir wollen
keine Steuerhinterziehung .
Ich habe den Eindruck, Herr Kollege Binding, es
wird in diesen Zeiten immer mehr Mode, den Standort
Deutschland eher schlechtzureden . Wir sind stark als
Wirtschaftsstandort, und ich glaube, wir können und
müssen zwischen den sauberen und den unsauberen Geschäften trennen .
({1})
Deshalb werden Geldwäsche und Terrorismus mit aller Entschiedenheit bekämpft . Gerade in Zeiten, in denen die Terrorismusgefahr so hoch ist wie seit Jahrzehnten nicht mehr, müssen wir auf allen Gebieten intensiv
gegen den Terrorismus vorgehen . Dazu kann nicht nur
die Innen- und Sicherheitspolitik einen wichtigen Beitrag leisten, sondern eben auch die Finanzpolitik; denn
schließlich planen Kriminelle und Terroristen oft auch
mit finanziellen Mitteln, um ihre extremen Pläne umzusetzen . Insofern tragen wir auch mit diesem Gesetz klar
zu einer Bekämpfung bei .
Es ist ein gutes Zeichen, dass in dieser Woche, in der
wir das 60-jährige Bestehen der Römischen Verträge feiern, Europa auf diesem Gebiet vereint vorankommt, und
das sollten wir auch positiv festhalten . Mit europaweit
einheitlichen Regeln können Geldwäsche und Terrorismus am besten in effizienter Weise bekämpft werden.
({2})
Lothar Binding ({3})
Schließlich haben uns die Anschläge der vergangenen
Jahre gezeigt, dass Terroristen nicht national, sondern international agieren . Die Dritte Geldwäscherichtlinie gilt
in Deutschland nunmehr zehn Jahre, und es ist selbstverständlich, dass wir angesichts der vielen Entwicklungen
und der zusätzlichen technischen Möglichkeiten auf die
neuen Vorgehensweisen zur Geldwäsche und Terrorfinanzierung reagieren müssen .
Zudem verbessern wir mit diesem Gesetz ganz klar die
Effizienz. Dies tun wir mit der heutigen Einbringung des
vorliegenden Gesetzentwurfes zur Umsetzung der Vierten EU-Geldwäscherichtlinie, die die Dritte EU-Geldwäscherichtlinie ablöst, und wir erwarten auch die Fünfte
EU-Geldwäscherichtlinie, sobald das EU-Parlament dies
beschlossen hat .
Konkret bedeutet dies, dass wir die Empfehlungen
weiter voranbringen . Die bedeutendsten Änderungen
sind natürlich nun einmal die Geldwäscherisiken anhand von Listen . Wir haben jetzt mit dem Elektronischen
Transparenzregister eine gute Lösung, hier auch weitere
Erfassung voranzubringen . Damit erhöhen wir die Transparenz und erschweren wir gleichzeitig den Missbrauch
von Gesellschaften und Trusts für Geldwäsche, Steuerbetrug und Terrorismusfinanzierung. Zukünftig müssen die
Finanzinstitute auch die Risiken ihrer Niederlassungen
im Ausland erfassen und somit entsprechende Maßnahmen danach ausrichten .
Ich glaube, das ist der richtige Ansatz . Es ist das Problem, dass international in besonderem Maße in vereinter Kraft hingesehen werden muss . Dabei - das ist mir
wichtig - darf es nicht zu pauschalem Generalverdacht
und zur Überbürokratisierung kommen, und es darf nicht
zu falschem Aktionismus kommen, wie das hier heute
angeklungen ist . Das ist der falsche Weg . Wir müssen
schon genau die Schnittstelle betrachten, wo etwas kriminell wird, wo Steuerhinterziehung stattfindet, und sollten nicht pauschal alles in Grund und Boden verdammen .
Das ist falsch,
({4})
und deswegen müssen wir uns dies ganz gezielt vornehmen .
({5})
Ich bin überzeugt, meine Damen und Herren, dass wir
als starker Wirtschaftsstandort auch die Verantwortung
haben, dass hierbei das kriminelle Geschäft, der Steuerbetrug, die Terrorismusfinanzierung von den anderen
Dingen klar getrennt werden . Das werden wir mit der
Beratung über dieses Gesetz realisieren .
Herzlichen Dank .
({6})
Ich schließe die Aussprache .
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/11555 und 18/8133 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen .
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall . Dann
sind die Überweisungen so beschlossen .
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a bis 9 c sowie
den Zusatzpunkt 4 auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und
Energie ({0}) zu dem Antrag der Ab-
geordneten Sylvia Kotting-Uhl, Kai Gehring,
Annalena Baerbock, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Europaweiten Atomausstieg voranbringen -
Euratom-Vertrag reformieren oder aussteigen
Drucksachen 18/8242, 18/8439
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Alexander Ulrich, Hubertus Zdebel, Wolfgang
Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
EU-Förderung von Atomenergie stoppen -
EURATOM-Vertrag beenden
Drucksache 18/11595
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hubertus
Zdebel, Eva Bulling-Schröter, Caren Lay, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Ausfuhr von Uran-Brennstoffen für den Betrieb störanfälliger Atomkraftwerke im Ausland stoppen
Drucksache 18/11596
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
ZP 4 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz,
Bau und Reaktorsicherheit ({2}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Sylvia KottingUhl, Annalena Baerbock, Bärbel Höhn, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Brennstofflieferungen für belgische Atomkraftwerke stoppen
Drucksachen 18/9676, 18/10934
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . - Ich höre keinen Widerspruch . Dann ist es so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin
Dr . Nina Scheer für die SPD-Fraktion .
({3})
Meine sehr verehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Wir sprechen heute über verschiedene
Vorlagen, die den Euratom-Vertrag betreffen. Es ist nicht
das erste Mal in dieser Legislaturperiode, dass wir uns
mit dieser Thematik auseinandersetzen . Ich möchte vorDr. h. c. Hans Michelbach
anstellen, dass ein unmittelbarer Zusammenhang zu dem,
was wir heute Vormittag verabschiedet haben, besteht.
Das Standortauswahlgesetz ist reformiert worden . Ich
verknüpfe den heutigen Tagesordnungspunkt thematisch
mit dem heute verabschiedeten Gesetzentwurf; denn das
Standortauswahlgesetz hält uns eindrücklich vor Augen,
mit welch enormen Lasten und Risiken die Nutzung der
Atomenergie verbunden ist .
Im Gesetz ist festgeschrieben, dass wir uns für 1 Million Jahre verpflichten, verantwortlich mit den Altlasten der Atomenergienutzung umzugehen . Die Angabe
„1 Million Jahre“ ist natürlich ein Platzhalter für Ewigkeit, weil wir erkennen mussten, dass die Gefahren, die
allein schon vom Atommüll ausgehen, so unermesslich
und unbeherrschbar sind, dass wir es nur so beziffern
können; denn es geht ins Unendliche . Um dies gesetzlich
zu fixieren, haben wir uns für die Angabe „1 Million Jahre“ entschieden .
Ich betone das deswegen hier so ausdrücklich, weil es
versinnbildlicht, wie unverantwortlich die Nutzung von
Atomenergie ist . Wir haben über die deutschen Grenzen
hinweg in und für Europa und natürlich auch international eine Verpflichtung, möglichst schnell aus dieser so
gefährlichen Technologie, deren Erzeugung selbst schon
Risiken birgt, auszusteigen .
Wir kennen auch andere Gefahren . Zuletzt gab es vor
ein paar Tagen die Meldung, dass aufgrund einer 20-minütigen Unterbrechung des Kontaktes zu einem Flugzeug Alarm in Atomkraftwerken in Deutschland ausgelöst wurde und Räumungen stattgefunden haben . Auch
das zeigt, wie sensibel und gefährlich die Nutzung dieser
Technologie ist .
Es gibt noch eine weitere große Schwierigkeit im
Zusammenhang mit der Nutzung von Atomenergie: die
Verquickung - dies betrifft das technische Know-how von militärischer Nutzung und ziviler Nutzung . Wenn
man sich die Situation weltweit anschaut, wenn man sich
anschaut, wer zu den Nutzern von Atomenergie im zivilen Bereich zählt und wer über Atomwaffen verfügt, ist
eine Kongruenz festzustellen von atomenergienutzenden
Staaten und solchen, die sich zugleich Staaten mit Atomwaffen oder Zulieferstaaten nennen können. Dies zeigt,
dass wir hier eine weitere Herausforderung im Umgang
mit der Nutzung von Atomenergie bzw . bei der Beendigung der Nutzung von Atomenergie vor uns haben . Wahrscheinlich wird es sehr schwer werden, weltweit aus der
Atomenergie auszusteigen, solange noch Staaten in der
Welt über Atomwaffen verfügen. Denn sie werden wahrscheinlich immer bestrebt sein, über die zivile Nutzung
von Atomenergie das entsprechende Know-how im Land
zu halten und sich in diesem Bereich sowie hinsichtlich
der Technologie und der zu verwendenden Ressourcen
nicht von anderen Staaten abhängig zu machen .
Insofern haben wir, denke ich, auch friedenspolitisch
eine Verpflichtung, weltweit dafür zu werben, dass tatsächlich nicht wieder in eine Atomwaffenaufrüstung hineingeschlendert wird, wie wir es derzeit leider vermuten
müssen. Vielmehr müssen wir uns auf unsere weltweiten Abrüstungsverpflichtungen besinnen und sie weiter
verschärfen . Auf diesen Weg müssen wir uns rückbesinnen, um den Ausstieg aus der militärischen Nutzung
tatsächlich hinzubekommen und daran anschließend den
Ausstieg aus der zivilen Nutzung vervollkommnen zu
können . Auf diesen technischen und faktischen Zusammenhang wollte ich an dieser Stelle unbedingt hinweisen; denn er ist von zentraler Bedeutung .
Im Zusammenhang mit dem Euratom-Vertrag möchte ich auf folgende Punkte hinweisen: Wir haben eine
zweigeteilte Betrachtungsnotwendigkeit, was den Euratom-Vertrag betrifft. Einerseits gibt es im Euratom-Vertrag Bereiche, die in der Tat Dinge betreffen, die aus
sicherheitspolitischen und aus Gesundheitsschutz- bzw .
Vorsorgegründen wahrscheinlich aufrechtzuerhalten
sind . Ich denke, wir sind uns wahrscheinlich weitgehend
einig - auch hier im Bundestag -, dass es Elemente gibt,
auf die sich die europäischen Staaten jenseits des Euratom-Vertrags oder auch innerhalb des Euratom-Vertrags
verständigen sollten, weil sie bedeuten, gemeinsam für
Sicherheit zu sorgen, jedenfalls solange in Europa auch
nur noch ein einziges AKW existiert . Ein gemeinsames
Für-Sicherheit-Sorgen ist, denke ich, sicherer, als wenn
man das einem Staat alleine überlässt . Insofern gibt es
aus sicherheitspolitischen und aus Gesundheitsschutzbzw. Vorsorgegründen Anhaltspunkte, in der Europäischen Union vertragliche Vereinbarungen zu haben, die
dies abbilden .
Aber die Frage ist, ob der Euratom-Vertrag dies tatsächlich leistet . Wir müssen erkennen, dass im Euratom-Vertrag Aussagen enthalten sind, die sich zwar aus
der Geschichte erklären lassen mögen, die heutzutage
aber nicht mehr zeitgemäß sind . In der Präambel des Euratom-Vertrags steht zum Beispiel, dass es das Ziel ist,
die „Voraussetzungen für ... eine mächtige Kernindustrie
zu schaffen“. Und: Die Kernenergie stelle eine „unentbehrliche Hilfsquelle für die Entwicklung und Belebung
der Wirtschaft und für den friedlichen Fortschritt“ dar .
Ich glaube, ich brauche meinen Kommentar nicht hinzuzufügen - ich tue es trotzdem -, dass das aus deutscher
Sicht nicht mehr unser Ziel sein kann . Ich denke, die
meisten Staaten in Europa würden das heute nicht mehr
so formulieren .
Zugleich - das muss man dazusagen - gibt es durch
eine Erklärung der Bevollmächtigten die Anerkennung
der Vertragsparteien, dass mit den Verpflichtungen, die
damals durch den Euratom-Vertrag geschlossen wurden,
nicht einhergeht, dass man sich tatsächlich auch verpflichtet, Atomenergie zu nutzen. Man ist in den letzten
Jahren schon ein Stück weitergekommen: Die ursprüngliche Verpflichtung bedeutet nicht, dass in den betreffenden Staaten eine Pflicht zur Nutzung der Atomenergie
besteht .
Dennoch muss man erkennen: Solange eine vertragliche Verpflichtung der gerade von mir zitierten Art besteht, findet man natürlich Wertungswidersprüche, nicht
nur mit Blick auf den Atomausstieg, den wir in Deutschland beschlossen haben und der verfassungsgerichtlich
für zulässig erklärt wurde, sondern zum Beispiel auch
mit Blick auf die Energiewende, die von der Europäischen Union formulierten Ziele zum Ausbau der erneuerbaren Energien und die klaren Erkenntnisse hinsichtlich
der Gefahren im Umgang mit der Atomenergienutzung,
die durch die EU-Stresstests Eingang gefunden haben .
Insofern bleibt uns nichts anderes übrig - dafür werbe
ich; ich werde gleich auch noch darauf hinweisen, inwieweit sich Deutschland dafür einsetzt -, als eine Reform
des Euratom-Vertrages durchzuführen. Eine Reform des
Euratom-Vertrages erachte ich für wichtig. Daher möchte
ich dazu noch kurz ein paar Hintergründe erwähnen .
Deutschland hat bereits in der Schlussakte von Lissabon vom 13 . Dezember 2007 gemeinsam mit anderen europäischen Mitgliedstaaten eine Erklärung abgegeben, in
der man die Unterstützung einer zeitgemäßen Veränderung des Euratom-Vertrags zum Ausdruck gebracht hat.
({0})
Ich möchte diese Schlussakte, weil sie, denke ich, für das
weitere Verfahren im Umgang mit dem Euratom-Vertrag
zentral ist, hier zitieren; auf die Frage, warum dies in der
Zwischenzeit nicht passiert ist, gehe ich gleich noch ein .
Die Erklärung Nummer 54 lautet:
Deutschland, Irland, Ungarn, Österreich und Schweden stellen fest, dass die zentralen Bestimmungen
des Vertrags zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft seit seinem Inkrafttreten in ihrer Substanz nicht geändert worden sind und aktualisiert
werden müssen . Daher unterstützen sie
- die erklärenden Mitgliedstaaten den Gedanken einer Konferenz der Vertreter der
Regierungen der Mitgliedstaaten, die so rasch wie
möglich einberufen werden sollte .
({1})
- In der Tat, das ist bis heute nicht erfolgt .
Es gibt zudem einen Beschluss der 56 . Europaministerkonferenz, in dem diese ebenfalls eine Überarbeitung
des Euratom-Vertrags fordert. Wir, die SPD-Fraktion,
haben bereits in der letzten Legislaturperiode einen Antrag erarbeitet, in dem wir die Bundesregierung, damals
Schwarz-Gelb, aufgefordert haben, darauf hinzuwirken,
dass die im Euratom-Vertrag festgeschriebene Sonderstellung der Atomenergienutzung abgeschafft wird und
die Passagen des Euratom-Vertrages, die Investitionen
in die Atomenergie begünstigen, gestrichen werden . In
der Tat ist bis heute eine solche Vertragsstaatenkonferenz
nicht einberufen worden . Ich kann nur bestätigen, dass
das ein misslicher Umstand ist .
({2})
- Das ist in der Tat der Fall .
Ich möchte jetzt auf das Hier und Heute zu sprechen
kommen, weil der Rückblick alleine ja nichts hilft, und in
Erinnerung rufen, dass wir in den letzten Jahren in Europa
durchaus auf hoher See unterwegs waren . Wir hatten in
der Europäischen Union sehr starke Auseinandersetzungen und schwierige Konflikte jenseits des Euratom-Vertrages zu bewältigen . Damit will ich die Problematik im
Zusammenhang mit dem Euratom-Vertrag keinesfalls
kleinreden, aber ich möchte darauf hinweisen, dass es in
der Europäischen Union eine sehr starke Fokussierung
auf die Flüchtlingsfrage gab, und ich denke, ich sage
nichts Neues hier im Haus, wenn ich konstatiere, dass
Europa vor diesem Hintergrund tatsächlich vor eine Zerreißprobe gestellt wurde .
Jetzt steht der Brexit vor der Tür . Die Briten haben
sich entschieden, aus Europa auszusteigen . Insofern
möchte ich jetzt hier nach vorne blickend genau auf diesen Punkt, den Brexit, eingehen, weil ich denke, dass in
diesem Zusammenhang ohnehin eine Auseinandersetzung darüber wird stattfinden müssen, wie sich das Herauslösen eines Staates aus Verträgen, die zu den Gründungsakten zählen - der Euratom-Vertrag zählt zu den
Gründungsakten -, zu vollziehen hat .
Ich finde, genau in diesem Zusammenhang sollten
wir uns auch intensiv damit auseinandersetzen, wie eine
solche Reform des Euratom-Vertrages aussehen kann gerade mit Blick auf den besonderen Gehalt des Euratom-Vertrages als einem der Gründungsakte.
Ich bin am Ende meiner Redezeit; auch elf Minuten
können sehr schnell vorbei sein, wenn es sich um eine
komplexe Materie handelt .
Ich hoffe und setze auf den weiteren Prozess in der
von mir skizzierten Art, meine aber, dass man die Anträge, die heute vorliegen und zur Abstimmung stehen, aus
den genannten Gründen abzulehnen hat .
({3})
In diesem Sinne: Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
({4})
Das Wort hat der Kollege Alexander Ulrich für die
Fraktion Die Linke .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Bertolt Brecht sagte einmal: „Man muss vom Alten lernen, Neues zu machen .“
Heute ist ein guter Tag, weil wir am gleichen Tag über
Euratom diskutieren, an dem wir mittags eine Aktuelle
Stunde zu den Römischen Verträgen durchgeführt haben;
denn der Euratom-Vertrag ist einer dieser sogenannten
Römischen Verträge. Ich glaube, es ist tatsächlich an der
Zeit, das Alte - in diesem Fall den Euratom-Vertrag zu beenden . Mit der milliardenschweren Förderung der
Atomenergie sollte endlich Schluss sein .
({0})
Ziehen wir unsere Lehren aus der Geschichte, und
beginnen wir endlich mit dem Neuen, nämlich mit der
Förderung der erneuerbaren Energien - und das nicht nur
halbherzig, sondern tatsächlich richtig .
({1})
Vor 60 Jahren glaubte man an die Atomenergie. Die
sechs Gründerstaaten der Europäischen Union unterzeichneten damals den Euratom-Vertrag. Damals galt
die Atomenergie noch als sicher, billig und beherrschbar .
Fukushima zeigte erneut, dass sie nicht sicher und beherrschbar ist, und ich glaube - Frau Scheer, Sie haben
über die 1 Million Jahre und die hohen Kosten gesprochen -, wenn wir alles zusammenrechnen, dann wissen
wir alle: Die Atomenergie ist keine billige Energieform .
({2})
Inzwischen sind 60 Jahre vergangen . In diesen 60 Jahren haben die Menschen auf dramatische Art und Weise
feststellen müssen - Stichworte: Tschernobyl und Fukushima -, zu welchen Folgen diese Atomenergie beitragen
kann . Deshalb, glaube ich, ist es an der Zeit, noch einmal deutlich zu sagen: Wer den deutschen Atomausstieg
ernsthaft betreiben will, der kann nicht länger an dieser
milliardenschweren Förderung der Atomenergie über
den Euratom-Vertrag europäisch festhalten. Wir müssen
damit endlich Schluss machen .
({3})
Frau Dr . Scheer, ich habe Ihre Rede wirklich als
sehr gut empfunden . Ich frage mich nur, warum Sie am
Schluss zu dem Ergebnis kommen, dass die Anträge abgelehnt werden müssen;
({4})
denn die beste Begründung, warum man die Anträge von
den Grünen und von uns heute annehmen müsste, haben
Sie selbst geliefert .
Wenn Sie sagen, dass Sie in Ihrer Fraktion in der Minderheit sind, dann verstehen wir das ja noch .
({5})
Wir verstehen es aber nicht, wenn Sie sagen, dass wir
jetzt auf die nächsten zwei Jahre hoffen sollten, weil zehn
Jahre lang nichts passiert ist, und wenn Sie das Argument
anführen, dass der Brexit vielleicht ein toller Türöffner
für Euratom-Gespräche ist . Ich glaube, die SPD-Fraktion
sollte Ernst mit ihrer Regierungsverantwortung machen
und sagen: Wir müssen jetzt frischen Wind in dieses Thema bringen und das europäisch verhandeln . Aus deutscher Sicht kann das nur bedeuten, dass wir nicht länger
Steuergelder für die atomare Nutzung und Erforschung
bereitstellen .
({6})
Auch der Sicherheitsaspekt wird meines Erachtens
falsch dargestellt . Nordrhein-Westfalen hat letztes Jahr
Jodtabletten bestellt: Das Land hatte Angst, dass bei den
Pannenreaktoren in Belgien etwas schiefgeht . Wir kennen die Situation von Kernkraftwerken aus Frankreich
oder auch aus Osteuropa .
Es ist nicht so, dass Euratom die Sicherheit von Kernkraftwerken tatsächlich erhöht . Das ist nur ein Placebo;
denn für die Sicherheit sind immer noch die Nationalstaaten zuständig . Euratom macht also gar nicht das, von
dem man glaubt, dass es das macht, nämlich die Sicherheit der AKWs zu verbessern . Deshalb: Wenn man Euratom abwickeln würde, wie es unser Vorschlag vorsieht,
und wenn man die vielen Milliarden zur Einrichtung
einer Agentur zur Förderung der erneuerbaren Energien
nutzen würde, dann könnte man die Sicherheitsfragen in
diese Agentur eingliedern, ohne an Euratom festzuhalten .
({7})
Lassen Sie mich etwas zu den vielen Hunderten von
Millionen Euro sagen, die für ITER ausgegeben werden .
Wenn wir es ernst damit meinen, dass die Zukunft in den
Erneuerbaren liegt - das ist möglich; wir wären viel weiter, wenn man dieses Geld dafür genutzt hätte -, dann ist
die Frage: Warum wollen wir dieses viele Geld weiterhin
für eine Kernfusionsforschung nutzen, bei der wir nicht
wissen, ob wir diese Technik sicherheitspolitisch meistern können? Wir wissen nicht, welche Gefahren damit
verbunden sind . Auch da wird das Geld völlig unnütz für
eine Zukunftstechnologie im Energiesektor verbrannt,
die wir wirklich nicht brauchen .
({8})
Wir sagen deshalb ganz deutlich: Wir gehen weiter als
die Grünen, die in ihrem Antrag schreiben: Wir wollen
Euratom reformieren . - Ich glaube, wir können Euratom
und damit eine veraltete Technologie, die uns wirklich
nicht weiterbringt - da hat Frau Dr . Scheer vollkommen
recht; ich bin mir sicher, dass dies die Rednerin der Grünen gleich bestätigen wird -, nicht reformieren . Wir müssen einfach sagen: All das, was sich die Staaten bei der
Gründung von Euratom vor 60 Jahren, vielleicht im guten Glauben, erhofft haben, hat sich leider nicht bestätigt.
Um glaubwürdig zu bleiben, müssen wir sagen: Es ist
an der Zeit, über Euratom nicht indirekt neue AKWs zu
fördern und damit die Erneuerbaren zu schädigen . Wir
müssen deutlich machen: Wir wollen überhaupt keinen
Euro mehr in neue AKWs investieren . Wir wollen auch
nicht, dass Euratom Bürgschaften für neue AKWs in
Osteuropa gibt . Wir wollen, dass mit der Atomenergie
endlich Schluss gemacht wird . Dafür muss Euratom als
Agentur tatsächlich geschlossen werden .
({9})
Ich komme zum Schluss . Frau Scheer, vielleicht können Sie Ihre Fraktion davon überzeugen - heute ist dafür
eine gute Gelegenheit -, nach 60 Jahren zu sagen: Das
war’s . Wenn wir es mit dem deutschen Atomausstieg
wirklich ernst meinen, müssen wir Euratom abwickeln .
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat die Kollegin Barbara Lanzinger für die
CDU/CSU-Fraktion .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer auf
den Rängen! Die Linken und Grünen mit ihren heutigen
Anträgen
({0})
versuchen - ich sage es einfach so -, mit ihren Verbotsanträgen den anderen EU-Ländern zu diktieren und vorzuschreiben, wie sie die Energiepolitik zu gestalten haben .
({1})
Sie versuchen, zu suggerieren, der Euratom-Vertrag sei
eine böse Atomkraftwerksförderungsmaschinerie .
({2})
Das ist nicht richtig . Das ist lächerlich, und das ist einfach falsch .
({3})
Wir haben bei uns in Deutschland die Energiewende
beschlossen . Dazu stehen wir .
({4})
Wir stehen am Beginn des Zeitalters der erneuerbaren
Energien mit enormem umwelt- und wirtschaftspolitischem Potenzial, aber auch mit schwierigen Herausforderungen . Wir haben uns entschieden, in Deutschland
2023 die letzten Kernkraftwerke abzuschalten . Das ist
ein wirklich sehr ambitionierter Weg, vor allem ein nicht
einfacher .
Die EU-Mitgliedsländer entscheiden sich jedoch anders . Sie entscheiden sich nicht so wie wir . Ich sage ganz
deutlich: Das haben wir zu respektieren . Wir können den
anderen nicht das diktieren, was wir bei uns für richtig
halten . Wir können darüber reden, ja, aber nicht in einem Diktat. Im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union ist in Artikel 194 festgehalten, dass die
Mitgliedstaaten selber entscheiden über die Struktur der
Energieversorgung und die Nutzung ihrer Energieressourcen . Wir sollten uns davor hüten, anderen Ländern
vorschreiben zu wollen, wie sie ihre Energiepolitik zu
gestalten haben . Das könnte uns im Rahmen unserer eigenen nicht ganz so einfach umzusetzenden Energiewende durchaus auf die Füße fallen .
Was steht denn in diesem Euratom-Vertrag? Interessant sind dort unter Artikel 3 die Ziele . Ich kann nicht
alles vorlesen . Ich lese beispielhaft die Absätze 4 und 5
der Verordnung vor:
Das Euratom-Programm wird so umgesetzt, dass
die unterstützten Prioritäten und Tätigkeiten den
sich wandelnden Bedürfnissen entsprechen und die
Weiterentwicklung von Wissenschaft, Technologie,
Innovation, Politik, Märkten und Gesellschaft berücksichtigen, damit die personellen und finanziellen Ressourcen optimiert und Doppelarbeit bei der
Forschung und Entwicklung im Nuklearbereich in
der Union vermieden wird .
Absatz 5:
Innerhalb der in den Absätzen 2 und 3 genannten
Einzelziele können neue und unvorhersehbare Erfordernisse berücksichtigt werden, die sich während
des Durchführungszeitraums des Euratom-Programms ergeben . . . .
Es ist also durchaus möglich, Änderungen und Anpassungen darin vorzunehmen . Durch Ihre Anträge wird im
Prinzip jedoch so getan, als sei der Euratom-Vertrag nur
dazu da, den Bau und den Betrieb von Kernkraftwerken
in anderen EU-Ländern oder auch bei uns finanziell zu
fördern, und das ist falsch .
({5})
Kurz und prägnant wird das in einer Analyse des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestags vom
September 2016 widerlegt:
Weder im Euratom-Rahmenprogramm noch im
Haushalt der EU sind Mittel für die Förderung des
Baus und Betriebs von Kernkraftwerken in der EU
bzw . Nicht-EU-Staaten vorgesehen .
Der Vertrag setzt im Kern den Rahmen für eine sichere Verwendung der Kernenergie über Grenzen hinweg.
Er ist die Rechtsgrundlage für europäische Regelungen
beim Gesundheitsschutz, der Überwachung von Kernmaterial, nuklearen Entsorgung, europäischen und internationalen Kooperation, nuklearen Sicherheit und für
weitere Punkte; alles zu lesen im Vertragswerk und im
dazugehörigen Rahmenprogramm . Dazu gehört auch die
Gefahrenabwehr, die nicht zu unterschätzen ist und wichtiger denn je wird .
Erst 2014 wurde der Euratom-Vertrag weiterentwickelt durch eine Richtlinie über einen Gemeinschaftsrahmen für die nukleare Sicherheit kerntechnischer Anlagen . Deutschland hat sich darin für die Festsetzung von
verbindlichen Sicherheitszielen in der EU für ein System
wechselseitiger Kontrolle erfolgreich starkgemacht . Das
heißt: Über Grenzen hinweg soll die Sicherheit kerntechnischer Anlagen verbessert werden .
Wichtig ist auch: Der Euratom-Vertrag legt den
Rahmen für Forschung und Entwicklung in diesem
Hochtechnologiebereich fest . Dazu steht als übergeordnetes Ziel auch im aktuellen Euratom-Rahmenvertrag bis
2018 festgeschrieben, „Forschungs- und Ausbildungsmaßnahmen im Nuklearbereich mit Schwerpunkt auf der
kontinuierlichen Verbesserung der Sicherheit, der Gefahrenabwehr und dem Strahlenschutz . . . fortzusetzen, um
insbesondere gegebenenfalls einen Beitrag zur langfristigen effizienten und sicheren Senkung der CO2-Emmissionen des Energiesystems zu leisten“ . Unser verehrter
Herr Riesenhuber hat im letzten Jahr sehr viel zu dem
Thema, was Forschung und Entwicklung auch in diesem
Rahmen bedeutet, gesprochen .
Meine sehr geehrten Damen und Herren, für mich ist
das Zauberwort auch: Forschung und innovative Technologien, die es hier eines Tages hoffentlich geben mag. Ich
sage ganz deutlich: Wir wären töricht, nicht nach vorn zu
blicken und unser Wissen zu erweitern .
({6})
Europaweit brauchen wir nicht zuletzt im Bereich Rückbau von Kernkraftanlagen weiterhin hohe Kompetenzen .
Wie anmaßend wären wir, künftigen Generationen
neue Technologien zu verwehren, indem wir jetzt nicht
weiterforschen . Ob diese potenziellen neuen Technologien sich dann als sinnvoll erweisen werden oder nicht, ist
eine ganz andere Frage, und die sollten wir unsere nachfolgenden Generationen entscheiden lassen .
({7})
Ihre Anträge haben aber auch eine nicht zu unterschätzende, erhebliche politische Brisanz . Für mich sind sie
europafeindlich . Das ist eine europafeindliche Haltung .
({8})
Der Euratom-Vertrag ist eines der beiden Gründungsdokumente der EU . Er ist einer der beiden Grundsteine
der Europäischen Union, deren 60 . Geburtstag wir am
kommenden Samstag feiern werden .
({9})
Was für ein - ich sage es deutlich - verheerendes politisches Signal würden wir in diesen momentan so turbulenten Zeiten an Europa und die Welt senden, wenn wir
das heute beschließen würden?
({10})
Zusammenfassend ist bei dem, was Sie, liebe Grüne und Linke, fordern, nur eines sicher: Ein Ausstieg
aus dem Euratom-Vertrag führt definitiv nicht zu mehr
Sicherheit, sondern zu weniger Verantwortung unsererseits, weil wir dann nämlich sämtliche Mitspracherechte,
die wir bisher in den Gremien haben, verlieren würden .
Ihre inhaltlich so oft unbegründete und gesellschaftlich
aus meiner Sicht gefährliche Fundamentalopposition
({11})
in manchen Themen macht mich immer wieder fassungslos. Dazu gehören nicht nur der Euratom-Vertrag, sondern auch viele andere Themen wie zum Beispiel CETA .
Entweder erkennen Sie die politische Realität nicht,
oder Sie wollen sie nicht erkennen . Ich weiß, ehrlich gesagt, nicht, was mir mehr Sorge bereiten soll .
({12})
Ich appelliere: Der Euratom-Vertrag ist nach wie vor
dem Grunde nach sinnvoll und gerade zum 60 . Geburtstag der EU ein starkes politisches Signal für Europa, und
das sollte er auch bleiben .
({13})
Danke schön für Ihr Zuhören und für Ihre Mitdiskussion .
({14})
Die Kollegin Sylvia Kotting-Uhl hat für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen das Wort .
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Präsidentin!
60 Jahre Römische Verträge, 60 Jahre Euratom: Das eine
ist Grund für eine Feier und Anlass, für und um die Weiterentwicklung der EU zu kämpfen, das andere ist die
Restekiste einer vergangenen Zeit .
({0})
Ich will Ihnen darlegen, warum das so ist . Euratom
setzt das Ziel „Entwicklung einer mächtigen Kernindustrie“, begründet die ausschließliche Souveränität der
Länder bei der Sicherheit ihrer Atomkraftwerke und sichert die staatlichen Beihilfen bei Neubauten von Atomkraftwerken wie Hinkley Point und Paks .
Frau Lanzinger, ich will gerne die Begründung zitieren, auf die sich die Kommission bei der Bewilligung
dieser staatlichen Beihilfen gestützt hat . In Artikel 2
Buchstabe c Euratom-Vertrag heißt es: Die Mitgliedstaaten haben „die Investitionen zu erleichtern und, insbesondere durch Förderung der Initiative der Unternehmen,
die Schaffung der wesentlichen Anlagen sicherzustellen,
die für die Entwicklung der Kernenergie in der Gemeinschaft notwendig sind“. - So weit der Euratom-Vertrag.
({1})
Euratom ist intransparent und undemokratisch . So hat
das EU-Parlament keine Hoheit über das Euratom-Budget. Die finanzielle Ausrichtung der europäischen Energieforschung wird von Euratom gesteuert . Nach der
Logik von Euratom muss sich das Atomkarussell weiterdrehen . Das heißt Kernfusion, Thoriumforschung,
SMRs . Hauptsache, das Ziel von Euratom, die mächtige
Kernindustrie, wird am Leben erhalten .
Auch das Ausstiegsland Deutschland beteiligt sich durch seine EU-Beiträge - selbstverständlich an diesen
Forschungen .
({2})
Dass der Neubau von AKWs und Anlagen zur Erforschung der Kernfusion in Olkiluoto, Flamanville, Cadarache - das ist der ITER - ökonomische Desaster sind,
spielt dabei offensichtlich keine Rolle. Das alles nehmen
Sie in Kauf, weil Sie Euratom - ich zitiere die Bundesregierung - „als geeignete Rechtsgrundlage für … Sicherheitsforschung, internationale Kooperation“ und „nukleare Sicherheit“ ansehen .
({3})
Selbst wenn Euratom das wäre, könnte man fragen, ob
das den Preis rechtfertigt .
({4})
Euratom ist das aber nicht . Ich wurde vor kurzem gefragt,
ob es nicht gut sei, dass es durch Euratom eine europäische Atomaufsicht gebe . Das ist aber gerade nicht der
Fall . Es gibt keine europäische Atomaufsicht . Das Ziel
von Euratom ist Investition in Atomkraft und nicht deren
Begrenzung .
({5})
Selbst heutige auf der Basis von Euratom beruhende
Richtlinien der EU folgen der antiquierten Vor-Tschernobyl-und-Fukushima-Logik . Nehmen Sie zum Beispiel
die Sitzung des Umweltausschusses gestern . Herr Kanitz
wird sich erinnern: Es ging um die AtG-Novelle, die die
EU-Richtlinie über einen Gemeinschaftsrahmen für die
nukleare Sicherheit umsetzt . Darin steht: Anlagen sollen
„so weit wie vernünftigerweise durchführbar“ verbessert
werden . Hallo? Wir reden von alternden Schrottreaktoren
an unseren Grenzen wie Tihange, Cattenom und Fessenheim .
({6})
Wenn hier bei der Sicherheit nach dem Stand von Wissenschaft und Technik nicht mehr nachgerüstet werden
kann, entweder weil es sich - so meint das Euratom
hauptsächlich - wirtschaftlich nicht mehr rechnet oder
weil die Anlagen schlicht zu alt sind, dann müssen die
betreffenden Atomkraftwerke abgeschaltet werden.
({7})
Aber nicht, solange wir Euratom haben . Dann laufen
die Schrottreaktoren so lange, wie die Betreiber und die
Länder, denen die Atomkonzerne oft genug gehören, das
wollen .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen gemeinsam für die EU kämpfen und sie verbessern . Wir wissen: Die EU muss die Klimakrise, die Wirtschaftskrise
und die Abhängigkeit von Energieimporten überwinden .
Dazu muss von Deutschland aus für eine europäische
Energiewende gearbeitet werden . Euratom ist hier ein
Klotz am Bein .
({8})
Wir können diesen Klotz drehen und wenden, aber er
wird kein Schwungrad für eine zukunftsfähige Energieausrichtung werden . Das Ausstiegsland Deutschland
muss hier initiativ werden . Nehmen wir, Nina Scheer,
den zutiefst bedauerlichen Brexit, der auch den Austritt
Großbritanniens aus Euratom bedeutet, zum Anlass, endlich einen Euratom-Konvent zu fordern . Werben wir in
der EU dafür, Euratom endlich den Anforderungen von
heute anzupassen!
({9})
Das hieße vor allem, die Sonderförderung der Atomkraft
zu beenden, ein Mitspracherecht für Anrainerstaaten bei
grenznahen Atomkraftwerken zu verankern, die europäische Energieforschung auf die Zukunft auszurichten
und die demokratische Kontrolle durch das Europäische
Parlament zu ermöglichen . Wenn das mit den Partnern in
der EU nicht zu machen ist, dann müssen wir das Kreuz
haben, Euratom zu verlassen .
({10})
Das stellt, Frau Lanzinger und andere, unser Bekenntnis
zu Europa nicht infrage,
({11})
sondern nur das in Euratom festgeschriebene Bekenntnis zur Vorstellung von Atomkraft als eine Beglückung
der Menschheit, die zu Gesundheit und Wohlstand führt .
Diese Vorstellung hatte ihre Berechtigung vielleicht vor
Tschernobyl und Fukushima . Heute ist sie von gestern .
Wir müssen uns aber für morgen aufstellen .
Vielen Dank.
({12})
Das Wort hat der Kollege Steffen Kanitz für die CDU/
CSU-Fraktion .
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist eigentlich schade, dass wir nach der großen Einmütigkeit in der
Endlagerdebatte von heute Morgen - die, fand ich, sehr
erfrischend war - ein Stück weit wieder in alte Muster
verfallen .
({0})
Ich verstehe das aber . Es sind Wahlkampfzeiten . Die Opposition sucht nach Möglichkeiten der Profilierung.
Ich will meinen Teil dazu beitragen, unsere Position
deutlich zu machen . Ich beziehe mich hierbei insbesondere auf den Antrag der Linken, der auf unsägliche Art
und Weise mit den Ängsten der Menschen spielt - ich
zitiere -:
In den noch am Netz befindlichen Atomkraftwerken … besteht weiterhin die Gefahr eines katastrophalen Störfalls bis hin zur Kernschmelze .
({1})
Meine Damen und Herren von der Linken, wir haben
die sichersten Kernkraftwerke weltweit, die wir bis 2022
abschalten; darin sind wir uns völlig einig . Den Menschen zu suggerieren, dass diese nicht sicher sind und
dass wir in Deutschland kurz vor einem GAU stehen, ist
unverantwortlich, ist blödsinnig und entspricht in keiner
Weise der Realität .
({2})
Die Aussagen, die Sie zu Doel und Tihange treffen,
zeigen, dass insbesondere Sie als Linke mittlerweile leider sehr ernsthaft im Zeitalter des Postfaktischen angekommen sind . Sie behaupten, dass das BMUB Hinweise
habe, dass die Reaktordruckbehälter den Anforderungen
bei schweren Störfällen nicht mehr gewachsen sein könnten . Das Gegenteil ist der Fall . Ich verweise auf die Antwort auf eine Kleine Anfrage der Grünen vom 15 . März
dieses Jahres, in der das BMUB sehr deutlich sagt - ich
zitiere -:
Die Reaktordruckbehälter von Doel 1 und Doel 2
wurden vor der Genehmigung zum Wiederanfahren
auf Wasserstoffflocken geprüft. Dabei wurde der
ordnungsgemäße Zustand der Reaktordruckbehälter
festgestellt …
Meine Damen und Herren, Sie skandalisieren einen
Vorgang und operieren ganz offensichtlich mit falschen
Behauptungen .
({3})
Das ist fahrlässig und schäbig .
({4})
Ich will das ergänzen . Das BMUB stützt seine Hinweise und Erkenntnisse auf eine unabhängige Kommission, die Reaktor-Sicherheitskommission, die in ihrer
Kurzbewertung zu Doel/Tihange zu folgendem Ergebnis
kommt:
… kann aufgrund der umfangreichen Untersuchungen und geführten Nachweise zu den RDB Doel-3
und Tihange-2 … davon ausgegangen werden, dass
unter Betriebsbelastungen ein Integritätsverlust der
drucktragenden Wand der RDB nicht zu unterstellen
ist .
Aus heutiger Sicht gibt es keine konkreten Hinweise,
dass die Sicherheitsabstände aufgezehrt sind .
Ich finde, das muss man zur Kenntnis nehmen, wenn
man von Schrottreaktoren an den deutschen Grenzen
spricht, in Wirklichkeit aber weiß, dass das Gegenteil der
Fall ist .
({5})
Es ist so, dass der Bund eine ganze Menge tut . Wir
haben gerade im letzten Dezember ein bilaterales Abkommen zur nuklearen Sicherheit geschlossen, das es
uns ermöglicht, in Gespräche einzutreten . Genau das ist
der Punkt . Nur wer spricht, kann auch auf die Standards
Einfluss nehmen; wer nicht spricht, kann das eben nicht.
Kollege Kanitz, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung der Kollegin Kotting-Uhl?
Gerne .
Vielen Dank, Herr Kanitz. - Ich beziehe mich auf Ihre
Äußerung von gerade eben, dass Sie es für fahrlässig halten, die Defizite von Tihange so zu thematisieren, wie
die Linke es in ihrem Antrag gemacht hat . Würden Sie
denn auch das Verhalten der Bundesumweltministerin
für fahrlässig halten, die in Richtung Belgien deutlich
gefordert hat, dieses Atomkraftwerk aus Gründen der Sicherheit abzuschalten, und zwar endgültig?
Vielen Dank für die Frage, Frau Kollegin. - Das, was
die Bundesumweltministerin getan hat, ist völlig richtig
und ist auch im deutschen Interesse . Sie hat deutlich gemacht, dass wir gemeinsam mit den Belgiern Einfluss
darauf nehmen wollen, dass die Sicherheitsstandards der
Kernkraftwerke an der deutschen Grenze ordentlich und
vernünftig sind und dass wir mit unseren deutschen Experten die Möglichkeit bekommen, dort hineinzuschauen . Sie hat ebenfalls gesagt, dass sie bis zum Abschluss
der Prüfungen mit dem Wiederanfahren warten möchte .
Das ist richtig, das ist konsequent, und das ist vernünftig .
Insofern zeigt das, dass diese Bundesregierung die
Sorgen und Ängste der Menschen in der Grenzregion
sehr ernst nimmt . Aber ich meine, wir sollten es nicht
übertreiben und den Leuten suggerieren, sie müssten
jetzt Jodtabletten besorgen .
({0})
Mir haben in Dortmund, weit weg von Aachen, Apotheker genau das gesagt. Ich finde, das ist extrem sensibel.
Wir sollten hier Aufklärung leisten und nicht skandalisieren .
({1})
Ich komme zur Urananreicherungsanlage in Gronau,
von der Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, sehr genau wissen, dass sie über eine unbefristete Betriebsgenehmigung verfügt . Der Ministerpräsident
der damaligen rot-grünen Landesregierung Steinbrück
war es, der einer Verdreifachung der Kapazität das Wort
geredet hat . Das geschah laut der Antwort der rot-grünen
Landesregierung auf eine Kleine Anfrage im Jahr 2013,
um auf deutsche Sicherheitsstandards zu setzen und nicht
auf Anlagen im Ausland vertrauen zu müssen, die sich
der Kontrolle der deutschen Behörden entziehen .
Wir haben am Standort über 300 Mitarbeiter, alle
hochqualifiziert, und wir brauchen jeden dieser Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit seinem Know-how in
Deutschland . Sie wissen zu gut, dass alle Kernkraftwerke
weltweit ihre Beschaffung von Brennelementen redundant aufgestellt haben . Es hilft uns überhaupt nichts, und
wir tragen auch nicht dazu bei, dass der Ausstieg weltweit beschleunigt wird, wenn wir 300 hochqualifizierte
Arbeitsplätze in Deutschland streichen und gleichzeitig
aus Fabriken in Großbritannien, den Niederlanden oder
den USA liefern .
Urenco wurde in den Stresstest nach dem Reaktorunfall in Fukushima einbezogen . Die RSK kam zu einem
ganz eindeutigen Ergebnis, nämlich dass die Anlage in
Gronau deutliche Reserven gegen auslegungsüberschreitende Ereignisse aufweist . Sie erreichen in allen unterstellten Lastfällen das höchste Stresslevel .
Deswegen muss man einfach einmal zur Kenntnis
nehmen, dass es sich hier um eine extrem gut geführte
Anlage handelt, dass die Sicherheitsstandards sehr hoch
sind, dass es große Reserven gegenüber hohen Belastungen gibt, gegenüber Erdbeben, gegenüber Überflutungen, und dass diese Anlage insofern mehr als sicher
ist . Einem Weiterbetrieb dieser Urananreicherungsanlage
steht damit weder rechtlich noch tatsächlich und sicherheitstechnisch irgendetwas im Wege .
Diese Einschätzung wird durch ein Rechtsgutachten
der rot-grünen Landesregierung aus dem Jahr 2013 bestätigt . Dieses Rechtsgutachten kommt sehr unmissverständlich zu dem Ergebnis, dass der Betrieb der Urananreicherungsanlage in Gronau nach dem Atomgesetz
zulässig ist, dass eine rechtssichere Beendigung des
Betriebes der Anlage nicht möglich ist, dass es keine
juristische Handhabe gibt, die Einstellung des Betriebes
anzuordnen .
Ich zitiere jetzt einmal aus dem Gutachten, weil es,
finde ich, sehr schön zeigt, dass man da auf einem Holzweg ist:
Allgemein und als Gesamtergebnis nahezu aller in
diesem Gutachten behandelten Fragen ist schließlich
nachdrücklich von einem rein politisch motivierten
Vorgehen gegen die Urananreicherungsanlage in
Gronau bzw . die hierfür erteilten Genehmigungen
auf der verwaltungsrechtlichen Ebene abzuraten .
Meine sehr verehrten Damen und Herren, seit 2013
hat sich an dieser Einschätzung nichts geändert . Wir
stehen zu dem Betrieb in Gronau auch weiterhin . Es
ist nicht nur so, dass die Beendigung des Betriebs aus
Gründen der Rechtssicherheit nicht geht, sondern es geht
auch deshalb nicht, weil wir über den Staatsvertrag von
Almelo, der natürlich das Ziel hat, dass wir uns mit den
Niederlanden und Großbritannien verbünden, um die nukleare Nichtverbreitung sicherzustellen, völkerrechtliche
Verpflichtungen eingegangen sind.
Ich füge hinzu: Sie wollen ja aus jeglicher Nukleartechnik aussteigen . Ich bin mir nicht so ganz sicher, ob
wir dann nach wie vor verlangen könnten, dass Standards, die durch die IAEO kontrolliert werden, auch eingehalten werden. Ich bin eher der Auffassung, dass wir
dafür sorgen sollten, mehr Mitspracherechte zu bekommen, dass wir im deutschen Sicherheitsinteresse dafür
sorgen sollten, dass beispielsweise das Atomabkommen
mit dem Iran eingehalten wird, und dass wir nicht aus
jeglicher Nukleartechnik aussteigen, weil wir dann nicht
mehr die Möglichkeit der Einflussnahme hätten.
({2})
Meine Damen und Herren, das Gutachten kommt
ebenfalls zu dem Schluss, dass, sofern Gronau aus rein
politisch motivierten Gründen geschlossen werden sollte, umfangreiche Schadensersatzansprüche auf uns zukämen . Der Wert des Unternehmens, Stand 2013, lag bei
etwa 10 Milliarden Euro . Ich bin mir nicht ganz sicher,
ob es sinnvoll wäre, wenn der Staat diese 10 Milliarden
Euro übernähme . Ich bin mir ziemlich sicher - andersherum gesprochen -, dass das nicht sinnvoll ist, sondern
dass es sich um ein rein politisch motiviertes Vorgehen
handelt. Wir brauchen diese hochqualifizierten Arbeitsplätze in Deutschland . Die Anlage leistet Hervorragendes .
Insofern wollen und können wir Ihren Antrag ablehnen .
({3})
Ich schließe die Aussprache .
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Energie zu dem Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Europaweiten Atomausstieg voranbringen - Euratom-Vertrag
reformieren oder aussteigen“. Der Ausschuss empfiehlt
in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/8439,
den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 18/8242 abzulehnen . Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen angenommen .
Tagesordnungspunkt 9 b . Abstimmung über den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/11595
mit dem Titel „EU-Förderung von Atomenergie stoppen - Euratom-Vertrag beenden“. Wer stimmt für diesen
Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Steffen Kanitz
Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt .
Tagesordnungspunkt 9 c . Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 18/11596 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall .
Dann ist die Überweisung so beschlossen .
Wir kommen zum Zusatzpunkt 4 . Abstimmung über
die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Umwelt,
Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel
„Brennstofflieferungen für belgische Atomkraftwerke
stoppen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/10934, den Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/9676
abzulehnen . Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/
CSU- und SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
angenommen .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum weiteren quantitativen und qualitativen Ausbau
der Kindertagesbetreuung
Drucksache 18/11408
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . - Ich höre keinen Widerspruch . Dann ist so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend,
Manuela Schwesig .
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrten Damen
und Herren Abgeordnete! Ich lege Ihnen heute den Entwurf eines Gesetzes vor, das wichtig und gut für die Familien in unserem Land ist . Wir wollen das vierte Investitionsprogramm auf den Weg bringen, um das Angebot
an Kitaplätzen im Land weiter auszubauen, und das ist
nötig .
Sie alle wissen, dass wir in den letzten Jahren sehr viel
dafür getan haben - Kommunen, Länder, Bund gemeinsam -, dass der Rechtsanspruch, nach dem jedes Kind in
unserem Land ab einem Jahr eine Kita besuchen kann,
wenn es die Eltern wünschen, auch erfüllt wird . Oft
werde ich deshalb gefragt, nicht nur vom Finanzminister, auch von anderen: Frau Schwesig, wir haben in den
letzten Jahren schon so viel getan, so viele Milliarden da
hineingesteckt . Ist es jetzt nicht genug? - Dann sage ich:
Nein, das ist nicht genug . Wir müssen das Angebot an
Plätzen weiter ausbauen .
Warum? Es gibt dafür drei gute Gründe:
Erstens . Es werden nach über 15 Jahren endlich wieder mehr Kinder in Deutschland geboren - das ist eine
gute Nachricht -, und allein dafür lohnt es sich, weiter
zu investieren .
({0})
Zweitens. Wir haben eine gesellschaftliche Veränderung . Immer mehr Frauen und Männer wollen sich nicht
mehr zwischen Beruf und Familie entscheiden, sondern
wollen beides . Deswegen ist auch der Bedarf von Jahr zu
Jahr gestiegen . Immer mehr junge Eltern brauchen gute
Kitaplätze. Ich finde, auch das ist eine gute Nachricht.
({1})
Drittens . Besonders im letzten und vorletzten Jahr
sind viele Menschen zu uns geflüchtet, darunter viele
Kinder . Es ist auch eine Frage der Gerechtigkeit und eine
Frage der Menschlichkeit, dass wir ganz klar sagen: Diese Kinder, die zu uns gekommen sind, können am allerwenigsten etwas für das, was in ihren Ländern los ist,
sei es Krieg oder Bürgerkrieg . Sie haben sich auch nicht
ausgesucht, auf die Flucht zu gehen und gegebenenfalls
wohin . Wenn die Kinder zu uns kommen, dann sollen
sie genauso gute Chancen haben wie unsere Kinder, hier
aufzuwachsen . Dazu zählt ein Kitabesuch, um zum Beispiel frühzeitig die Sprache zu lernen. Ich finde, auch das
ist ein guter Grund für einen höheren Kitabedarf .
({2})
Darauf, meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordnete, reagieren wir . Sie wissen, wir haben aktuell
noch das dritte Investitionsprogramm laufen . Wir wollen
aber schon das vierte anschieben . Wir wollen 100 000
neue Kitaplätze in Deutschland schaffen ({3})
nicht nur für Kinder unter drei Jahren, wie das in den
letzten drei Programmen üblich war . Mit diesem Gesetz
werden wir erstmalig nicht nur Krippenplätze fördern,
sondern auch Kindergartenplätze . Das ist die vierte gute
Nachricht bei diesem Gesetz .
({4})
Das ist deshalb notwendig, weil wir in den letzten Jahren viel für die U-3-Betreuung gemacht haben . Aber die
Kinder wollen auch im vierten, fünften und sechsten
Lebensjahr den Kindergarten besuchen, und wir müssen
aufpassen, dass da nicht Engpässe entstehen .
Wir werden für dieses vierte Programm die Beträge
im Sondervermögen um 1,1 Milliarden Euro aufstocken .
Vizepräsidentin Petra Pau
Wir stellen diese Mittel für 2017 bis 2020 für 100 000
neue Plätze zu Verfügung. Es wird aber nicht nur in das
Platzangebot investiert, sondern auch in die Qualität .
Wir wollen mit den Mitteln auch dafür sorgen, dass in
Sport- und Bewegungsräume und in inklusive Kindergärten investiert werden kann . Es ist in meinen Augen
sehr wichtig, dass wir auch diese Themen beachten; denn
letztendlich geht es nicht um eine Betreuung, sondern
wirklich um frühkindliche Bildung . Dafür brauchen wir
gute Qualität, und auch das ist mit diesem vierten Investitionsprogramm möglich .
({5})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, dieses vierte
Investitionsprogramm steht natürlich nicht für sich allein, sondern es wird von dem Programm „Sprach-Kitas“
flankiert. Sie erinnern sich: Dank Ihrer Unterstützung im
Haushaltsausschuss können wir die Anzahl der SprachKitas verdoppeln . Wir können mehr Erzieherinnen und
Erzieher in den Kitas finanzieren. Insbesondere geht es
dabei um den Bereich der Sprachförderung, was ganz
elementar in der frühkindlichen Bildung ist . Des Weiteren wird das Investitionsprogramm von dem Programm
„KitaPlus“ flankiert. Es ist möglich, in über 300 Kitas in
unserem Land mehr Randzeiten anzubieten . Das zeigt:
Wir investieren im Sinne der Vereinbarkeit von Beruf
und Familie für junge Mütter und auch Väter in Quantität
und in Qualität .
Das Letzte möchte ich sehr betonen . Es gibt eine aktuelle Studie, die zeigt, dass Väter sagen: Wir wollen,
dass Politik dafür sorgt, dass unsere Frauen, aber auch
wir Väter Beruf und Familie besser vereinbaren können.
Deshalb ist die Investition in Kitas, auch was Randzeiten
betrifft, für uns so wichtig. Das sind wichtige Forderungen der Väter, die wir auch gerne unterstützen.
({6})
Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete, im
Jahr 2013 hat der Bund 1,5 Milliarden Euro in die Kindertagesbetreuung investiert . Heute sind es jährlich
2,5 Milliarden Euro . Das ist eine Rekordsumme . Ich
danke Ihnen für Ihre Unterstützung . Das ist ein wichtiges
Zeichen für die Familien im Land - für diejenigen, die
sich mit dem Kinderwunsch beschäftigen, und für diejenigen, die sich längst für Kinder entschieden haben .
Wir werden weiter dafür sorgen, dass es bei der Vereinbarkeit von Beruf und Familie Verbesserungen gibt,
aber auch dafür, dass mit diesen Investitionen die Bildungschancen für Kinder schon im frühkindlichen Alter
steigen . Ich bin fest davon überzeugt, dass sich jeder
Euro doppelt und dreifach auszahlt . Deshalb bitte ich Sie
um Unterstützung bei diesem Gesetzentwurf .
({7})
Das Wort hat der Kollege Norbert Müller für die Fraktion Die Linke .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Im Jahr 2016
befanden sich etwa 700 000 Kinder im U-3-Bereich in
Einrichtungen der Kindertagesbetreuung . Damit betrug
die Betreuungsquote etwa 33 Prozent, wobei etwa jedes
vierte Kind in Westdeutschland und mehr als jedes zweite Kind in Ostdeutschland betreut wurden .
Trotz eines deutlichen Ausbaus in den letzten Jahren
ist dies schlichtweg zu wenig . Wir wissen aus Erhebungen des Deutschen Jugendinstituts, dass mehr als 43 Prozent aller Eltern inzwischen den Wunsch haben, ihre
Kinder in Einrichtungen der frühkindlichen Bildung und
Betreuung zu bringen . Das heißt, es gibt eine erhebliche
Lücke zwischen den vorhandenen Plätzen und dem bestehenden Bedarf .
Ich verweise an dieser Stelle nochmals auf das Urteil
des Bundesverwaltungsgerichtes, dass Kitaplätze auf der
Grundlage des Rechtsanspruchs so anzubieten sind, dass
sie in einer vernünftigen Erreichbarkeit von Wohn- oder
Arbeitsort der Eltern verfügbar sind . Ansonsten müssen
die Kommunen Strafen zahlen, nämlich für Einkommensausfälle der Eltern, wenn diese ihre Erwerbstätigkeit nicht aufnehmen bzw . dieser nicht nachgehen können, weil die entsprechenden Plätze nicht vorhanden
sind .
Wir hatten im letzten Jahr trotz des Ausbaus sogar einen Rückgang der Betreuungsquote . Auch darüber muss
man sprechen, weil das ein gefährliches Warnsignal ist .
Wir haben erfreulicherweise seit 2010 geburtenstarke
Jahrgänge . Der Rückgang der Betreuungsquote muss
dazu führen, dass der Bund den Status quo nicht fortführt, sondern mehr drauflegt.
({0})
Wer hat den Kitaausbau bezahlt? Ich höre der Ministerin Schwesig immer gerne zu; das alles klingt so schön .
In Wahrheit aber hat nicht der Bund den Kitaausbau bezahlt . Der Bund hat den Rechtsanspruch eingeführt . Der
war - da sind wir uns einig - überfällig, gut und richtig .
Die Kosten für den Ausbau haben aber im Wesentlichen
die Länder, die Kommunen und die Eltern getragen . Die
Länder und die Kommunen haben jeweils - und das jedes Jahr - 2 Milliarden Euro dafür ausgegeben, die Eltern
1 Milliarde Euro; das sind Zahlen aus Ihrem Ministerium. Die haben den Ausbau im Wesentlichen finanziert und nicht der Bund, der sich hier relativ billig aus der
Verantwortung herausgeschlichen hat.
({1})
So groß die Aufgabe auch ist, die Plätze weiter auszubauen, so groß ist die Erwartungshaltung in Bezug auf
den Qualitätsausbau . Dem folgen Sie mit Ihrem Gesetzentwurf, insbesondere was den Titel angeht . In ihm steht
viel über Qualität . Im Gesetzestext steht eigentlich gar
nichts mehr über Qualität . Das Einzige, was Sie in Bezug
auf verbesserte Qualität mit fördern, ist, dass die Länder
und die Kommunen jetzt auch in Ausstattung investieren
können . Tische und Stühle in einer Kita haben aber relativ wenig mit Qualität zu tun . Qualität heißt Personal,
Personal, Personal, und da lassen Sie Kommunen, Länder und Eltern wieder im Regen stehen .
({2})
Wir als Linke schlagen vor, ein bundesweites Kitaqualitätsgesetz aufzulegen . Ich weiß, dass in den Ländern
inzwischen einiges in Bewegung gekommen ist . Wenn
Sie sich die Stellungnahme des Bundesrates, die Sie ja
gelesen und erwidert haben, anschauen, dann werden Sie
feststellen, dass der Bundesrat erstmals fordert, dass es
möglich sein soll, die Gelder für den Platzausbau auch in
den Qualitätsausbau zu stecken . Das macht auch durchaus Sinn, weil der Ausbau unterschiedlich weit fortgeschritten ist . Die Antwort der Bundesregierung darauf ist,
das sei nicht nötig . Wenn wir aber hier über ein Kitaqualitätsgesetz reden, dann sagen Sie: Die Länder wollen
das ja gar nicht, weil sie angeblich keine vergleichbaren
Standards wollen . - Ich sage Ihnen: Die Länder würden bei einem Kitaqualitätsgesetz mitmachen, wenn der
Bund das Geld dazu gibt
({3})
und nicht wie beim Rechtsanspruch die Qualitätsstandards festlegt und sich am Ende mit wenig Geld aus der
Verantwortung stiehlt. Das funktioniert nicht.
({4})
Kitaqualitätsgesetz heißt: Wir müssen über bundesweite Standards für die Fachkraft-Kind-Relation reden .
Was heißt das? Die Fachkraft-Kind-Relation beschreibt,
wie viele Kinder auf eine Fachkraft kommen . Wir müssen auch darüber reden, was eigentlich eine Fachkraft ist .
Eine Fachkraft ist - das wird durch die Bundesagentur
für Arbeit inzwischen vermittelt - keine Fachkraft für
die Mittagsbetreuung - Qualifikationsaufwand: 40 Stunden Weiterbildung - und auch kein Kindergartenhelfer,
wozu in einigen Ländern ausgebildet wird, schlecht bezahlt und bei weitem nicht so hoch qualifiziert wie der
staatlich anerkannte Erzieher . Das ist entscheidend: Wir
brauchen staatlich anerkannte Erzieher in den Kitas, und
wir brauchen bundesweite Standards für gute Qualität .
({5})
Gute Qualität heißt auch Leitungsfreistellung . Es kann
nicht sein, dass die Leitung in einer Kindertageseinrichtung den kompletten Verwaltungsapparat mitstemmt und
am Ende diese Kraft eben nicht am Kind ist . Das heißt,
wir müssen über Leitungsfreistellungen reden . Das fordert auch die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft,
und das war auch eine Forderung bei den Streiks im Bereich der Sozial- und Erziehungsberufe im letzten Jahr .
Legen Sie also endlich ein Kitaqualitätsgesetz vor . Beschleunigen Sie den Ausbau, und lassen Sie die Länder,
die Kommunen und vor allem die Eltern nicht mehr im
Regen stehen, die erst keinen Platz kriegen, und dann,
wenn sie einen Platz bekommen, in der Republik auf sehr
unterschiedliche Qualitätsstandards stoßen, je nachdem,
wie die politischen Verhältnisse in den Ländern sind,
und je nachdem, wie die Kassenlage von Ländern und
Kommunen ist . Wir brauchen einen Einstieg des Bundes
bei der Kitaqualität, und wir brauchen sozusagen einige
Kohlen mehr in der Frage des Platzausbaus .
Herzlichen Dank .
({6})
Das Wort hat der Kollege Marcus Weinberg für die
CDU/CSU-Fraktion .
({0})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Herr Müller, wo waren Sie eigentlich die
letzten acht Jahre? Was haben Sie eigentlich nicht mitbekommen, als in den Jahren 2005, 2006 und 2007 beim
Ausbau der Kindertagesbetreuung und beim Ausbau der
Qualität in diesem Land viel passiert ist?
Bevor ich allgemein einiges zu dem neuen, wichtigen
Programm, das jetzt auf den Weg gebracht wird, sage,
komme ich noch einmal auf Ihre Bemerkungen bezüglich
eines Qualitätsgesetzes zurück . Darüber diskutieren wir
schon lange . Wir haben eine gemeinsame Arbeitsgruppe
des zuständigen Ministeriums . Diese arbeitet seit 2016
mit den Ländern zusammen . Es ist nämlich, Herr Müller,
eine Gemeinschaftsaufgabe zwischen den Ländern, die
bekanntermaßen auch heute wieder ein hohes Interesse
an der Debatte haben, weil wir ihnen Geld des Bundes
für den Ausbau der Kindertagesbetreuung zur Verfügung
stellen . Daran werden wir festhalten . Wir werden aber
nicht zu 100 Prozent die Kosten für den Bereich Kindertagesbetreuung übernehmen, und wir werden auch nicht
zu 100 Prozent die Kosten für den Ausbau übernehmen .
Wir erwarten von den Ländern Unterstützung .
({0})
Warum haben wir das gemacht, seit 2005 Frau Merkel
Bundeskanzlerin wurde und Frau von der Leyen Familienministerin? Wir wissen: Kindertagesbetreuung ist erstens unter bildungspolitischen Gesichtspunkten wichtig,
um den Kindern frühe Bildung und Kreativität beizubringen, zweitens integrationspolitisch, weil Sprache der
Schlüssel zur Integration ist, was gerade vor dem Hintergrund, dass jetzt mehr und mehr Kinder in Deutschland
leben, die aus fremden Kulturen kommen, die dringend
integriert werden müssen, die dringend die Sprache erlernen müssen, wichtig ist, und drittens auch arbeitsmarktpolitisch .
Die Frau Ministerin hat es angesprochen: Mehr und
mehr Familien wollen frei entscheiden, wie sie ihre Erwerbstätigkeit und ihre Familienzeit einteilen . Das heißt,
wir müssen und sollten auch Angebote machen, übrigens
auch für die Wirtschaft . Denn die Wirtschaft braucht
Norbert Müller ({1})
Fachkräfte, und wer Fachkräfte braucht, muss sie qualifizieren, oder aber auf die Fachkräfte zurückgreifen, die
bereits ausgebildet sind und die wieder als Fachkraft arbeiten wollen . Auch deswegen ist das Thema „Ausbau
der Kindertagesbetreuung“ wichtig .
Man hat ja bei Ihnen gemerkt, Herr Müller, dass Sie
hier die Gräte im Fisch oder das Haar in der Suppe suchen . Ob wir nun auf der linken Seite, auf der rechten
Seite oder in der Mitte sitzen: Wir sind uns alle einig,
was die Bedeutung des Ausbaus der Kindertagesbetreuung angeht . Ob Wirtschaftsvertreter oder Familienpolitiker: Alle zusammen wissen, dass die Entwicklung in den
letzten Jahren eine Erfolgsgeschichte war .
Es wurden nicht nur 100 000 zusätzliche Betreuungsplätze - das wurde angesprochen - für den U-3-Bereich
geschaffen, also für den Krippenbereich, sondern auch
für den Bereich bis zur Einschulung . 1,126 Milliarden
Euro werden in dem mittlerweile vierten Programm vonseiten des Bundes investiert .
Ich habe bereits angesprochen, wie wir die Bedeutung der Kindertagesbetreuung sehen . Deswegen will ich
noch einen weiteren Punkt ansprechen . Wenn wir von einer gemeinsamen Aufgabe zwischen Bund und Ländern
sprechen, die jetzt diskutiert wird und die gemeinsam finanziert werden muss - die finanzielle Absicherung ist
auch eine Aufgabe dieser Arbeitsgruppe -, dann müssen
wir uns auch mit den Forderungen des Bundesrates beschäftigen. Ich will an dieser Stelle ganz offen sagen: Es
gibt drei ganz wesentliche Forderungen des Bundesrates .
Eine ist, die Fristen zu verlängern . Ich glaube, dieser
werden wir zustimmen können . Wir haben bei den ersten
drei Programmen gemerkt, dass die Beantragung und das
Verfahren sehr lange dauern. Das heißt, wir sollten mehr
Freiheit geben und die Fristen verlängern .
Bei den beiden anderen Forderungen werden wir
deutlich machen, dass wir sie als problematisch ansehen .
Dazu gehört der Wunsch, dass wir als Bund bei gewissen schnellen Ausbauverfahren 100 Prozent der Kosten
übernehmen sollen . Dazu sagen wir ganz deutlich: Nein,
wir wollen, dass Länder und Kommunen bei ihrer Verantwortung bleiben . Wir brauchen diese neuen Plätze .
Angebot schafft Nachfrage. Wir wissen, bei den Dreibis Fünfjährigen liegen wir bei 95 Prozent Ausbau und
97 Prozent Bedarf . Das heißt, wir haben noch eine kleine Lücke . Deswegen werden wir ganz deutlich sagen:
Wenn wir das Geld ausgeben, dann wollen wir, dass neue
Kitaplätze geschaffen werden. Das werden wir gegenüber den Ländern auch deutlich machen . Die gestiegene
Geburtenzahl, die Zuwanderung von Flüchtlingskindern
sind für uns Anlass, diesen Ausbau mit Nachdruck fortzusetzen .
Es wurde schon das vierte Programm angesprochen .
3,28 Milliarden Euro wurden bereits vonseiten des Bundes bereitgestellt in den drei Programmen 2008-2013,
2013-2014 und 2015-2018 .
Noch eine Bemerkung zur Unterstützung der Länder:
Eigentlich haben wir gesagt, wir investieren, wir wollen
das Investitionsprogramm auf den Weg bringen . Aber wir
haben auch gesagt, dass wir die Betriebskosten mittragen: in den ersten Jahren 845 Millionen Euro, jetzt noch
einmal 100 Millionen Euro mehr, also fast 1 Milliarde
Euro jährlich für eine originäre Aufgabe der Länder . Ich
finde, Sie können das nicht abtun, als würde sich der
Bund nicht beteiligen . Im Gegenteil: Der Bund beteiligt
sich - zu Recht .
({2})
Wir wissen um unsere Verantwortung. Wir erwarten aber
auch, dass man gemeinsam mit den Ländern schaut, wo
die Länder ihrer Aufgabe nachkommen können .
Ich habe es gesagt: Der Ausbau der Kindertagesbetreuung ist für Chancengerechtigkeit, für die sprachliche
Entwicklung von Kindern und für die Vereinbarkeit von
Familie und Beruf entscheidend . Auch das Thema, auf
das ich jetzt zu sprechen komme, ist nicht unwichtig . Der
Ausbau der Kindertagesbetreuung verringert nämlich das
Armutsrisiko der Familien mit Kindern bis zwölf Jahren
deutlich, nämlich um rund 7 Prozentpunkte . Ich will
Prof . Dr . Holger Bonin zitieren, der in der Anhörung am
Montag zur Kinderarmut gesagt hat:
Weiterhin demonstrieren die Ergebnisse der Gesamtevaluation der ehe- und familienbezogenen
Leistungen die zentrale Bedeutung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf für die Sicherung der
wirtschaftlichen Stabilität von Familien . Unter den
untersuchten Leistungen sticht die öffentlich geförderte Kindertagesbetreuung heraus . Sie entfaltet
substanziell positive Wirkungen auf alle Kernziele
der Familienpolitik .
Das bestätigt, dass der Weg richtig war, den wir eingeschlagen haben .
Jetzt kommt in diesem Land eine Debatte über die
Qualität auf . Wir sagen: Ausbau ist wichtig, Qualität
ist wichtig . Ich glaube, außer Bremen erfüllt noch kein
Bundesland die Standards . Wenn man sich die Relation
Erzieherinnen und Erzieher zu Kindern - es gibt die Vorgabe 1 zu 3 oder 1 zu 4, je nachdem, ob man Bertelsmann
oder OECD präferiert - anschaut, dann erkennt man: Die
meisten Länder - gerade im Westen - schaffen das noch
nicht . Das heißt, wir haben ein Qualitätsproblem, obwohl
wir viele Maßnahmen zur Qualitätssteigerung über den
Bund finanziert haben. Trotzdem haben wir hier noch ein
Defizit.
Ich finde, man muss Prioritäten setzen. Geld kann man
nur einmal ausgeben . Wenn hinausposaunt wird, dass
man die Beiträge abschaffen will, dass es keine Elternbeiträge mehr geben soll, dann muss ich kritisch hinterfragen, ob das die richtige Prioritätensetzung ist .
({3})
Dazu möchte ich Folgendes sagen: Einige Länder haben bereits zum Beispiel, weil der Ausbau der Kindertagesbetreuung ihre originäre Verantwortung ist, das Jahr
vor der Einschulung kostenfrei gestellt . Andere Länder
wie mein Bundesland haben die fünfstündige Grundbetreuung kostenfrei gestellt . Andere Länder haben weniger gemacht . Einige Länder haben höhere Elternbeiträge, andere Länder geringere Elternbeiträge . Und - das
Marcus Weinberg ({4})
ist zentral - einige Länder haben eine sehr kluge soziale
Staffelung; denn die Elternbeiträge dürfen nicht dazu
führen, dass Kinder gerade aus bildungsfernen Schichten
abgehalten werden, die Kindertagesbetreuungsangebote
wahrzunehmen. Deswegen bin ich Verfechter der Meinung, dass diejenigen, die mehr verdienen, sich auch in
einem gewissen Maße daran beteiligen können .
Ich weiß, wir müssen die Eltern - auch jene mit mittlerem Einkommen - entlasten, um ihre Freiheit zu stärken .
Aber ich sage eines ganz deutlich: Solange wir den Ausbau nicht abgeschlossen und die Qualitätsstandards nicht
erreicht haben, sollten wir die Priorität auf Ausbau und
Qualität legen und nicht auf das Thema Beitragsfreiheit .
({5})
Ich gönne allen Eltern eine Beitragsentlastung . Aber
die Wirklichkeit ist eine andere . Wir reden über einen
zweistelligen Milliardenbetrag, den Sie hier aufrufen .
Das kann man ja im Wahlkampf gerne machen . Dann
muss man aber auch sagen, was man nicht macht . Man
muss sich entscheiden und Schwerpunkte setzen . Ich
sage ganz deutlich: Dafür vonseiten des Bundes 20, 25
oder 30 Milliarden Euro auszugeben, wäre ein Problem .
Mir wäre es lieber, an dem weiterzuarbeiten, was wir
schon gemacht haben, nämlich schrittweise Qualitätsprogramme zu entwickeln und die Kitabetreuung in Randzeiten auszubauen . Wir unterstützen - das Thema wurde
angesprochen - das Bundesprogramm „KitaPlus: Weil
gute Betreuung keine Frage der Uhrzeit ist“ und das Bundesprogramm „Sprach-Kitas: Weil Sprache der Schlüssel
zur Welt ist“ . Wir wollen lieber gezielt da investieren,
wo Bedarfe sind, anstatt etwas mit der Gießkanne auszuschütten .
Besserverdienende oder gar Reiche können sich vielleicht mit kleineren Beiträgen an dieser wichtigen gesellschaftspolitischen Aufgabe beteiligen. Ich finde es
erstaunlich, dass ich als Christdemokrat jetzt hier solche
Positionen vertreten muss; aber anscheinend ist es notwendig, weil man momentan sehr offen und frei Geld
ausgeben will, das gar nicht vorhanden ist . Wir erwarten
in den nächsten Monaten weitere nette Programmpunkte
von Ihnen, und irgendwann machen wir mal eine große
Rechnung auf; Kollege Rix freut sich schon darauf . Ob
es dann bei einem zweistelligen Milliardenbetrag bleibt,
weiß ich nicht .
Als Fazit bleibt Folgendes festzuhalten: Seit ungefähr zehn Jahren haben wir eine große Unterstützung der
Länder in diesem Bereich gewährleistet, weil die Aufgabe der Kinderbetreuung wichtig ist . Wir haben Qualität
und Quantität erhöht . Diese Maßnahmen wirken, die einzelnen Programme wirken . Ich glaube, daran sollten wir
weiterarbeiten .
Dann komme ich - letzter Punkt - zur Kooperation .
Wir werden in diesem Jahr oder im Frühjahr nächsten
Jahres sehen, was die gemeinsame Arbeitsgruppe im
Hinblick auf eine Qualitätsoffensive und ihre finanzielle Absicherung erarbeitet hat . Ich bin sehr optimistisch,
dass man das gut hinbekommt, wenn man kooperativ
verhandelt . Aber eines sagen wir ganz deutlich: Wir unterstützen die Länder gerne, aber es hat auch alles seine
Grenzen; denn wir haben als Parlament im Bund weitere
Aufgaben, die wir angehen müssen .
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({6})
Das Wort hat die Kollegin Dr . Franziska Brantner für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Wir reden heute hier über die Kleinsten in
unserem Land, über die kleinen Kinder . Auch die Fünfund Sechsjährigen gehören noch zu den kleinen Kindern
in unserem Land . Wir wissen, dass diese jungen Jahre
für ihre spätere Biografie entscheidend sind. Was Kinder
in der Zeit mitbekommen, macht mit Blick auf das, was
sie später im Leben anstreben und erreichen können, so
viel aus . Wir wissen, dass alle Kinder von guten Kitas
profitieren, aber von sehr guten Kitas besonders jene
profitieren, die am Anfang ihres Lebens nicht die besten
Startchancen haben .
({0})
Auch das wurde am Montag in der Anhörung bestätigt .
Gute Kitas gibt es nun mal nicht umsonst . Deswegen
reden wir hier heute auch über das Geld . Im November 2016 haben Sie, Frau Schwesig, im Rahmen der Vorstellung des Zwischenberichts der Arbeitsgruppe noch
1,7 Milliarden Euro zusätzlich für Kitas angekündigt .
Das war eigentlich auch damals schon zu wenig für den
Bereich, wenn man ernsthaft einen Ausbau und eine Steigerung der Qualität erreichen will . Aber so viel ist es ja
jetzt gar nicht mehr: Was im Gesetz steht, ist die Summe
von 1,26 Milliarden Euro . Der Betrag ist geschrumpft .
Obwohl es in diesem Haushalt Überschüsse gibt und jetzt
18 Milliarden Euro in die Reserve geschoben werden, haben Sie es nicht geschafft, den richtigen Betrag für die
Kinderbetreuung einzustellen . Die Kinder sind die Zukunft, da müssen wir investieren - das erwarten wir von
Ihnen .
({1})
Wir reden jetzt die ganze Zeit darüber, ob wir die Kitas
beitragsfrei gestalten . Ich sehe es so: Es besteht noch die
Notwendigkeit, die Kinderbetreuung auszubauen, gerade
auch deshalb, weil es mehr Kinder gibt - das haben Sie
ja selber gesagt -, und wir brauchen eine bessere Qualität, und zwar bundesweit einheitlich . Wenn wir das noch
nicht erreicht haben, dann können wir doch nicht darüber hinaus etwas versprechen; denn die Gelder sind jetzt
schon geringer, als es notwendig wäre .
({2})
Wir brauchen mehr Qualität, mehr Plätze und, ja, in
Zukunft vielleicht auch Beitragsfreiheit . Aber die Priorität muss doch auf der Schaffung von BetreuungsplätMarcus Weinberg ({3})
zen und der Steigerung der Qualität liegen . Denn was
hat man davon, wenn ein Platz beitragsfrei ist, der noch
gar nicht existiert? Wir müssen doch erst mal die Plätze
schaffen und die Qualität sichern, und dann können wir
auch gerne über Beitragsfreiheit sprechen .
({4})
Einen Punkt, der von den kommunalen Spitzenverbänden angemahnt wurde, möchte ich noch herausgreifen . Sie wollen jetzt, dass die Gelder schon vor Ende
des Programms umgeschichtet werden können . Diese
Umschichtungsmöglichkeit führt zu Unsicherheit vor
Ort, weil nicht mehr klar ist: Stehen uns die Gelder zu
oder nicht? Gerade in der Phase des Ausbaus, in der wir
Planungssicherheit brauchen, ist es nicht zielführend,
die Möglichkeit zu schaffen, die Gelder zu verschieben.
Es ist notwendig, dass wir für Sicherheit sorgen . Es ist
falsch, dass das geändert werden soll . Man könnte die
bisherige Regelung beibehalten . Hier sollten Sie noch
einmal nachbessern; wir sind gerne mit dabei .
Zum Thema Qualität . Frau Schwesig, als Sie noch Ministerin auf Landesebene waren, haben Sie selber gesagt,
dass eine Arbeitsgruppe nur ein „Notnagel“ sein kann;
das waren damals Ihre Worte, als 2013 eine entsprechende Arbeitsgruppe zur Qualität eingerichtet wurde . Was
haben Sie seither getan? Sie haben eine Arbeitsgruppe
eingerichtet, die immer noch tagt, obwohl wir ein Qualitätsgesetz dringend brauchen, um bundesweit für einheitliche Standards sorgen zu können . Wir reden in unserem
Land immer viel über Chancengleichheit, und wir wissen: Gerade die frühkindliche Lebensphase ist entscheidend . Chancengleichheit darf nicht davon abhängen, ob
man in einer reichen oder in einer armen Stadt wohnt .
Alle Kinder brauchen die gleichen Chancen .
({5})
Damit unser Vorhaben funktioniert, müssen wir unserer Verantwortung gemeinsam nachkommen. Wir dürfen
nicht die eine gegen die andere Bevölkerungsgruppe ausspielen, sondern wir müssen klar sagen: Es geht um die
Zukunft, und Zukunft braucht Chancengleichheit . Ohne
Qualitätsgesetz und nur mit den derzeit zur Verfügung
stehenden Mitteln werden wir das leider nicht erreichen .
Wir müssten uns gemeinsam darauf verständigen, für
die nächsten Jahre noch etwas Geld draufzulegen . Angesichts der schon angesprochenen 18 Milliarden Euro
sage ich: Ganz ehrlich, für die Zukunft muss mehr drin
sein . Wir führen derzeit vehement eine Debatte über Rüstungsausgaben in Höhe von 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts . Ich wünsche mir, dass wir so eine intensive
Debatte auch über die Ausgaben für die Zukunft unserer
Kinder führen .
({6})
Wenn wir diese Debatte mit einer solchen Vehemenz führen würden, dann wären wir einen Schritt weiter .
Ich danke Ihnen .
({7})
Das Wort hat der Kollege Sönke Rix für die SPD .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zunächst einmal will ich an den von uns vereinbarten
Dreiklang erinnern, der deutlich macht, was wir für die
Familien erreichen wollen. Wir wollten erstens die finanzielle Entlastung - das haben wir in mehreren Schritten geschafft, insbesondere für Alleinerziehende -, wir
wollten zweitens mehr Zeit für Eltern - das haben wir
geschafft, indem wir das Programm Elterngeld Plus geschaffen haben, mit dem wir insbesondere die Partnerschaftlichkeit fördern -, und wir wollten drittens mehr
Infrastruktur für eine bessere Vereinbarkeit von Familie
und Beruf . Mittlerweile legen wir mit einem neuen Programm mehrere Milliarden Euro auf den Tisch, damit
Länder und Kommunen ihrer Aufgabe, die wir ihnen
aufgegeben haben, nachkommen können . Wir haben versprochen, entsprechende Mittel zur Verfügung zu stellen,
und wir halten uns an das, was wir versprochen haben .
({0})
Die Kita ist nicht nur für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf wichtig - Kollege Weinberg hat darauf
hingewiesen -, sondern sie ist auch deshalb wichtig, weil
sie ein Ort der frühkindlichen Bildung ist und kein Aufbewahrungsort . Über die Jahre haben sich die Kitas hervorragend entwickelt . Den Erzieherinnen und Erziehern,
die diese Entwicklung so positiv begleitet haben, gebührt
unser aller Dank . Sie sind diejenigen, die vor Ort die Arbeit leisten, die wir ihnen mit auf den Weg geben .
Auch der qualitative Ausbau der Kindertagesbetreuung gehört dazu . Wir haben im Rahmen des Investitionsprogramms vereinbart, Geld speziell für Bewegungsförderung und für Gesundheitsvorsorge zur Verfügung zu
stellen . Wir stellen also auch Mittel für die Steigerung
der Qualität bereit .
({1})
Ich komme auf das Thema Qualitätsgesetz zu sprechen. Ich bin schon etwas erstaunt, dass meine Vorrednerin die Bundesministerin dafür kritisiert hat, dass es kein
Qualitätsgesetz auf Bundesebene gibt, und gefragt hat,
was Frau Schwesig da bitte gemacht habe . Dabei gibt es
mehr als eine Arbeitsgruppe: Es gibt eine Vereinbarung
zwischen allen zuständigen Landesministerinnen und
Landesministern und der Bundesregierung . Ein Land ist
allerdings nicht dabei . Das ist ein von Schwarz-Grün regiertes Land, nämlich Hessen .
({2})
Mit dem Finger nur auf die Ministerin zu zeigen, aber
nicht auf die eigenen Kollegen im Land, so geht das
nicht, Frau Brantner .
({3})
Lieber Herr Kollege Weinberg und liebe Kollegin
Brantner, im Rahmen der Anhörung haben wir auch darüber diskutiert, wie sinnvoll es wäre, den Kitabesuch
beitragsfrei zu stellen und dadurch die Eltern zu entlasten . Sie stellen das immer als Gegensatz dar und spielen
das in der Diskussion gegeneinander aus .
({4})
- Hören Sie ruhig zu . - Sie sagen immer: Wir wollen
erst einmal Mittel in den Ausbau, dann in die Qualität
und dann eventuell auch in die Beitragsfreiheit stecken .
Natürlich kann man das gegeneinander ausspielen . Wir
spielen das auch gegeneinander aus, aber anders: Wir
spielen das zum Beispiel gegen Ausgaben aus, die Ihrer Programmatik entsprechen, zum Beispiel gegen die
Steuerentlastung, die Sie versprechen . Wieso wollen Sie
eigentlich mit der Gießkanne übers Feld ziehen und Steuerentlastungen verteilen, anstatt vor allen Dingen Familien zu entlasten? Beitragsfreiheit ist eine Entlastung von
Familien, liebe Kolleginnen und Kollegen . Das kann
man auch gerne einmal gegeneinander ausspielen .
({5})
Das wäre eine Entlastung. Vielleicht betrachten Sie das
einmal vor diesem Hintergrund und handeln dann entsprechend .
Es gibt einen weiteren Posten, gegen den man das
ausspielen könnte . Ich weiß gar nicht mehr, wie groß die
Summe war, die Ihr Staatssekretär im Finanzministerium
genannt hat, als es um zusätzliche Mittel für die Bundeswehr ging. Von solchen Summen können wir bei unserem Haushalt nur träumen . Wenn man andere Prioritäten
setzen würde, könnte man sagen: Nein, wir brauchen das
Geld zusätzlich zur Entlastung von Familien .
({6})
Man sollte lieber mehr Geld konkret für die Entlastung
von Familien ausgeben, als es mit der Gießkanne zu verteilen . - Sie haben danach gefragt, Herr Weinberg . Ich
wollte Ihnen nur die Antwort geben .
({7})
- Ja, das liegt aber auch an anderen, warum wir noch
zusammen regieren .
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir bringen ein gutes Programm auf den Weg . Das, was wir hier machen,
ist wirklich ein Erfolgsprogramm - und das nach den
zahlreichen Entlastungen, die wir den Kommunen insgesamt schon gewährt haben. Ich erinnere an die Verabredungen im Zusammenhang mit dem Bund-Länder-Finanzausgleich, aber auch an die mehreren Milliarden, die
wir insgesamt in dieser Wahlperiode zur Entlastung der
Kommunen bereitgestellt haben . Das ist jetzt das vierte
Investitionsprogramm . Wir leisten unseren Beitrag zum
Kitaausbau . Darauf können wir stolz sein .
Danke schön .
({9})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat die Kollegin Ingrid
Pahlmann das Wort .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Ich denke, trotz aller Diskussionen ist
heute ein richtig guter Tag . Wir beraten in erster Lesung
den Gesetzentwurf der Bundesregierung zum weiteren quantitativen und qualitativen Ausbau der Kindertagesbetreuung. Ich finde, dieser Gesetzentwurf sollte
spätestens am Ende der Beratungen auf eine ganz breite
Zustimmung bei allen stoßen .
Seit der Einführung des Rechtsanspruchs auf einen
Betreuungsplatz für Kinder unter drei Jahren durch die
damalige Familienministerin Ursula von der Leyen hat
sich die Betreuungsquote in diesem Bereich fast verdoppelt: rund 720 000 betreute Kinder im U-3-Bereich .
Diese Leistung nicht nur des Bundes, sondern auch einiger Länder und vor allem der Kommunen vor Ort muss
man einmal anerkennen . Mit der Zurverfügungstellung
von zusätzlich 1,126 Milliarden Euro bis zum Jahr 2020
wollen wir, wie bereits mehrfach gesagt, 100 000 neue
Betreuungsplätze schaffen.
({0})
Ich möchte deutlich machen, dass wir zum ersten Mal
auch die Förderung neuer Plätze für über dreijährige Kinder ermöglichen . Trotz der bereits seit langem hohen Betreuungsquote bei über Dreijährigen stellen wir auch in
diesem Bereich einen wachsenden Bedarf fest . Das freut
uns, und dem wollen wir Rechnung tragen . Das unterstreicht: Der Bund steht weiterhin zu seiner Verantwortung . Er steht an der Seite der Familien und an der Seite
der Alleinerziehenden .
({1})
Aber der Bund ist nicht alleine verantwortlich . Es ist
weiterhin eine gemeinsame Kraftanstrengung von Bund,
Ländern und Kommunen notwendig . Aus dem Rat meiner Heimatstadt Gifhorn weiß ich, wie sehr sich Kommunen oftmals strecken müssen . Sie sind es, die vor Ort den
Spagat zwischen den berechtigten Forderungen der Eltern nach einem ausreichenden und qualitativ guten Betreuungsangebot für die Kinder auf der einen Seite und
den Bedürfnissen einer zukunftsfähigen Haushaltsführung auf der anderen Seite schaffen müssen. Sie spüren
den steigenden Bedarf am allerdeutlichsten und sind dem
daraus resultierenden Druck am stärksten ausgesetzt .
Wir als Bund machen uns dafür stark, diesen Druck zu
lindern . Als Große Koalition haben wir die Kommunen
in den letzten Jahren in Milliardenhöhe entlastet . Wir als
Union haben unsere Politik für starke Kommunen fortgesetzt; sie liegen uns ganz besonders am Herzen . Man darf
ebenso nicht vergessen: Auch die Bundesländer haben in
unserer Regierungszeit ungemein davon profitiert.
({2})
Da verwundert es umso mehr, was ich nun aus meinem Heimatland Niedersachsen hören muss . Angeblich
möchte die rot-grüne Landesregierung die Förderhöhe
beim Ausbau der Kinderbetreuung senken . So sollen
Krippenplätze statt mit 12 000 nun nur noch mit maximal 9 500 Euro und Plätze in der Kindertagespflege
mit nur noch 2 500 Euro statt der bisherigen maximal
4 000 Euro gefördert werden . Diese Befürchtung hat der
Niedersächsische Städte- und Gemeindebund in einem
Schreiben Anfang März formuliert, und ich muss sagen:
Die Landesregierung hat diese Sorge bisher leider noch
nicht zerstreuen können . Ich sage Ihnen: Das sorgt für
Unverständnis und vor allem für Unruhe in den Kommunen . Und bei mir persönlich stärkt es doch einmal
mehr die Sorge, dass erneut mit Bundesgeldern nicht so
umgegangen wird, wie wir uns das wünschen . Deshalb
habe ich auch Bedenken, zwei der drei Forderungen in
der Stellungnahme des Bundesrates zu folgen .
So wird erstens vonseiten der Bundesländer gefordert,
Steigerungen in der Qualität losgelöst von der Schaffung
zusätzlicher Betreuungsplätze über dieses Investitionsprogramm zu fördern . Aber dies widerspricht schlichtweg
dem primären Ziel dieses Gesetzes . Es geht hier zunächst
einmal um die Schaffung zusätzlicher Betreuungsplätze.
Sie haben es angemahnt . Wir brauchen zusätzliche Plätze . Trotzdem wollen wir, wie es ja im Titel des Gesetzes zu lesen ist, qualitätssteigernden Maßnahmen nicht
im Wege stehen und sie auch fördern, besonders dann,
wenn die Alternative der Wegfall der Betreuungsplätze
sein würde .
Die Anforderungen und Auflagen an die Einrichtungen sind gestiegen, und zwar beispielsweise bei der Essensversorgung, nicht nur bei der Bewegung . Wenn in
diesem Zusammenhang Küchen in den Einrichtungen
den neuen Bedingungen angepasst werden müssen, so
soll das durchaus möglich sein .
({3})
Darüber hinaus haben wir auch schon eine Vielzahl
von Förderprogrammen auf den Weg gebracht, die gezielt die Qualität in den Kinderbetreuungseinrichtungen
fördern . Ich möchte hier nur kurz das KitaPlus-Programm
für erweiterte Öffnungszeiten, das neue Programm zum
Kitaeinstieg und die Sprachkitas, für die allein insgesamt
rund 1 Milliarde Euro zur Verfügung gestellt wurden,
nennen .
Grundsätzlich aber sollten wir die bestehende Qualität in unseren Kindertageseinrichtungen auch nicht
schlechter darstellen, als sie ist . Wir wissen, dass das
Fachkräfteniveau und der Betreuungsschlüssel in den
Einrichtungen trotz des massiven Ausbaus des Angebotes mindestens auf dem gleichen Niveau geblieben sind .
Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Ich finde die Ausweitung der Qualität in der Kinderbetreuung sehr gut,
wichtig und richtig . Wir sollten aber hier und heute nicht
den zweiten vor dem ersten Schritt machen, sondern uns
vielmehr bei gleichbleibend gutem Qualitätsniveau zunächst einmal auf die Deckung des Bedarfs fokussieren,
der eindeutig und unbestritten vorhanden ist .
Ähnliches gilt in meinen Augen übrigens auch für die
Beitragsfreiheit von Kinderbetreuung . Da bin ich bei
meinen Kollegen Weinberg und Brantner . Auch ich stehe
einer pauschalen Abschaffung der Elternbeiträge kritisch
gegenüber, zumindest zum jetzigen Zeitpunkt, da wir uns
immer noch darum bemühen, für eine weiter steigende
Nachfrage ausreichend Betreuungsplätze zur Verfügung
zu stellen, und erst am Anfang des weiten Weges zu beispielsweise flexibleren Öffnungszeiten, mehr Fachkräften und kleineren Gruppen in unseren Betreuungseinrichtungen stehen .
Ich halte derzeit Elternbeiträge für eine wichtige Säule
der Finanzierung des Angebots, solange sie nicht Einzelne vom Angebot ausschließen . Und um das zu verhindern, Herr Rix, halte ich eine gut durchdachte Sozialstaffelung der Beiträge für zielführend und, wie der Name
sagt, im Übrigen auch für deutlich sozial gerechter als
eine pauschale Beitragsbefreiung .
({4})
Wenn es dann aber schon jetzt kostenfreie Kitas geben
soll, dann bitte nicht zulasten der Qualität, und das geschieht leider viel zu oft . Wenn es auf dem Rücken
der Kommunen ausgetragen wird, trifft es immer die
Schwächsten .
Aber kurz zurück zu den Forderungen des Bundesrates . Zweitens wünschen sich die Bundesländer, dass eine
Bagatellgrenze eingezogen wird . So soll bei einer Förderung bis 1 000 Euro diese vom Bund in voller Höhe
getragen werden . Ich bin nun keine Juristin und möchte
daher die Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit dieser
Forderung den Experten überlassen. Ich empfinde aber
eine mögliche Kostenteilung bei Einzelmaßnahmen von
90 Prozent für den Bund und 10 Prozent für alle anderen
Beteiligten als äußerst fair . Wenn es gelingen kann, mit
einem so geringen Beitrag von unter 1 000 Euro einen
Platz zu erhalten, sollte es doch nicht an den 1 000 Euro
Unterstützung durch das Bundesland scheitern .
Über eine Verlängerung der Fristen, wie auch von den
Bundesländern gefordert, sollten wir alle im Sinne der
Kommunen noch einmal intensiv beraten . Wir wissen um
die Herausforderungen, vor denen die kommunalen Verwaltungen zurzeit stehen .
Es ist erst drei Bundesländern gelungen, aus dem laufenden Programm Mittel in voller Höhe zu bewilligen,
darunter Niedersachsen; jetzt lobe ich einmal mein Heimatland .
({5})
Lieber Paul Lehrieder - ich hoffe, du wirst die Nachricht
überstehen -, diesmal war es nicht der Freistaat ganz im
Süden unseres Landes .
({6})
Insgesamt liegt uns hier meines Erachtens ein bereits
sehr, sehr guter Gesetzentwurf vor . Ich bin auf die Anhörung in der kommenden Woche und auf die weiteren
Beratungen gespannt. Ich hoffe, dass wir uns im Sinne
unserer Familien, unserer Kinder einigen werden und
dieses gute Gesetz auf den Weg bringen .
Ich danke Ihnen .
({7})
Ich schließe die Aussprache .
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/11408 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole
Gohlke, Sigrid Hupach, Klaus Ernst, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Prekäre Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft wirksam bekämpfen
Drucksache 18/11597
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen . - Ich höre keinen Widerspruch . Dann ist es so beschlossen .
Wir warten noch ab, bis die offensichtlich notwendigen Umgruppierungen in den Fraktionen abgeschlossen
sind .
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin
Nicole Gohlke für die Fraktion Die Linke .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Letzten Monat postete eine junge Berliner Nachwuchswissenschaftlerin auf Facebook, sie habe innerhalb der
letzten vier Jahre an ein und derselben Hochschule, das
heißt bei ein und demselben Arbeitgeber, zehn verschiedene Arbeitsverträge gehabt . Ich halte das für einen riesigen Skandal .
({0})
Es ist skandalös, dass das offenbar immer noch möglich
ist, obwohl sich die Bundesregierung letztes Jahr endlich
dazu durchgerungen hat, das Sonderbefristungsrecht in
der Wissenschaft zu reformieren .
Dadurch, dass so etwas heute immer noch möglich ist,
werden zwei Dinge deutlich: einmal, dass die Große Koalition bei der Novelle des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes nicht gut genug gearbeitet hat, und zweitens, dass
es die Große Koalition nicht hinkriegt, Rahmenbedingungen für stabile Beschäftigungsverhältnisse und planbare
Karrierewege in der Wissenschaft zu schaffen; denn sie
weigert sich, Schritte in Richtung einer soliden Grundfinanzierung zu gehen . Das muss aber endlich passieren .
Deswegen hat die Linke heute diesen Antrag vorgelegt .
({1})
Als Hauptproblem kristallisieren sich die schwammigen Formulierungen im überarbeiteten Wissenschaftszeitvertragsgesetz heraus . Jetzt ist zwar endlich festgelegt worden, dass die Befristung von Arbeitsverträgen
nur zum Zwecke der eigenen Qualifizierung zulässig ist,
gleichzeitig hat sich die Koalition aber geweigert, eindeutig zu definieren, was Qualifizierung eigentlich bedeutet . Das hat sie sogar in die Hände der Arbeitgeber
gelegt, die das natürlich in ihrem Sinne nutzen . Das war
ja klar .
Der zuständige Arbeitskreis der Universitätskanzler
zum Beispiel interpretiert die neuen Regelungen jetzt
folgendermaßen: Jede Tätigkeit im Wissenschaftsbetrieb
fördere ja die wissenschaftliche Qualifizierung der Beschäftigten und reiche daher aus, um eine Befristung zu
rechtfertigen . - Die TU Berlin war auch sehr kreativ . Für
sie gilt zum Beispiel der Kompetenzerwerb beim Verfassen von Drittmittelanträgen auch als wissenschaftliche
Qualifizierung. Das ist doch einfach absurd. Hier muss
dringend nachgebessert werden .
({2})
Das nächste Problemfeld ist die familienpolitische
Komponente . Auch hier überlässt es die Große Koalition
dem Ermessen der Arbeitgeber, ob Arbeitsverträge von
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern verlängert
werden, wenn sie Kinder betreuen . Auch das hat die Große Koalition ganz bewusst in Kauf genommen . Das geht
aber zulasten von Familien, besonders zulasten von Frauen . Auch das gehört schnellstens korrigiert .
({3})
Auch vom wissenschaftsunterstützenden Personal in
Verwaltung und Technik - dieses ist aus dem Geltungsbereich des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes herausgenommen - wird uns berichtet, dass sich für viele die
Situation kaum verbessert hat . Manche der Kolleginnen
und Kollegen werden jetzt nach Ablauf der maximalen
Befristungsdauer einfach gar nicht weiterbeschäftigt und
verlieren ihren Arbeitsplatz . Das hat auch etwas damit zu
tun, dass gerade die Hochschulen zur Einrichtung von
Dauerstellen keine oder nur geringe finanzielle Spielräume sehen .
({4})
Sie dürfen dauerhafte Planstellen zum Beispiel gar
nicht aus Projektmitteln des Bundes finanzieren. Es ist
ein Problem, wenn sich die laufenden Grundmittel der
Hochschulen von der Jahrtausendwende bis 2014 trotz
steigender Studierendenzahlen nur um die Hälfte erhöht
haben, während die Drittmittel im selben Zeitraum um
150 Prozent gestiegen sind; denn Drittmittel sind das Gegenteil von Planungssicherheit .
({5})
Die Wahrheit ist: Die Situation der Wissenschaft und der
Beschäftigten bleibt prekär, solange die Bundesregierung
nicht endlich eine Kehrtwende in der Wissenschaftsfinanzierung einleitet . Dafür wäre es allerhöchste Zeit .
({6})
Für uns Linke ist klar: Wir wollen gute Arbeit, auch
in der Wissenschaft . Die Einrichtungen und die Beschäftigten brauchen endlich Verlässlichkeit und Planungssicherheit, und zwar nicht nur für Prestigeprojekte wie
Ihre Exzellenzinitiative. Also: Verstetigen Sie den Hochschulpakt, und sagen Sie endlich, wie es mit dem Hochschulbau weitergehen soll! Das sind Sie den Beschäftigten schuldig .
Vielen Dank.
({7})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat die Kollegin
Alexandra Dinges-Dierig das Wort .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Verehrte Gäste auf den Tribünen! Bereits vor einem guten Jahr habe ich an gleicher Stelle gesagt, dass die Zukunft des Wissenschaftsstandortes Deutschland in hohem
Maße davon abhängig ist, inwiefern es uns gelingt, die
besten Köpfe zu holen oder zu behalten; „behalten“ im
Sinne von „halten“ . Deshalb spielen gute Bedingungen
am Arbeitsplatz - da stimme ich Ihnen zu, Frau Gohlke eine enorme Rolle . Ich sage an dieser Stelle für die CDU/
CSU aber auch ganz klar: Ein Befristungsunwesen, so
wie Sie es immer wieder bezeichnen, werden wir mit aller Entschiedenheit bekämpfen .
({0})
Gute Arbeitsbedingungen brauchen zunächst eine ausreichende und verlässliche Grundfinanzierung; auch da
sind wir uns einig .
({1})
Aber jetzt kommt der entscheidende Unterschied zwischen uns .
({2})
Der entscheidende Unterschied ist: Diese Grundfinanzierung muss verbunden sein mit einer zeitgemäßen Personalstruktur . Beides sind Punkte, für die die Länder verantwortlich sind .
({3})
Die Länder - jetzt gut zuhören! - haben ebenso wie
der Bund in den vergangenen Jahren eine recht gute Einnahmesituation gehabt .
({4})
Wenn Sie sich einmal die Ausgaben des Bundes für die
Hochschulen vom Jahr 2010 bis zum Jahr 2014 anschauen, stellen Sie fest: Sie sind um 56 Prozent gestiegen,
({5})
die der Länder um 19 Prozent .
({6})
Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Prioritätensetzung für Bildung und Wissenschaft sieht für mich anders aus .
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Bund kann
wichtige Rahmenbedingungen setzen . Im Gegensatz zu
Ihnen von den Linken reden wir nicht Jahrzehnte über
prekäre Arbeitsbedingungen - übrigens ohne auch nur
einmal definiert zu haben, was eigentlich gute Arbeitsbedingungen sind, auch nicht gestern Nachmittag auf der
Podiumsdiskussion -, sondern wir als CDU/CSU wissen,
was gute Arbeitsbedingungen sind. Wir haben sie definiert und wollen sie für alle Beschäftigten im Wissenschaftssystem . Deshalb haben wir analysiert, wie die Situation heute ist, und wir haben gehandelt . Dies sind - da
muss ich Ihnen völlig recht geben - die ersten Schritte
hin zu einer Veränderung.
Was haben wir - nur in den letzten zwölf Monaten verändert? Ich mache es im Zeitraffer und ganz kurz;
denn ich habe nur wenig Redezeit .
({8})
Wir haben zuerst ein neues Hochschulstatistikgesetz auf
den Weg gebracht . Warum? Wir brauchen Erkenntnisse
über die Personalstruktur; sonst können wir keine entsprechenden Maßnahmen aufsetzen .
({9})
Wir haben den Ländern die Last der BAföG-Kosten
genommen . Das waren immerhin 1,17 Milliarden Euro .
Für die Gäste auf der Tribüne, die mit dieser Größenordnung vielleicht nicht viel anfangen können, sage ich:
Hätten sie diese Gelder - „hätten“, also Konjunktiv - in
die Hochschulen gesteckt, wären das rund 12 000 Stellen
gewesen . Wenn wir diese Stellen auf alle Hochschulen
verteilt hätten, wären das pro Hochschule im Schnitt 40
unbefristete neue Stellen jährlich gewesen .
({10})
Damit hätte man etwas anfangen können, wenn man es
gewollt hätte .
({11})
Wir haben das Wissenschaftszeitvertragsgesetz mit
Augenmaß novelliert . Wir wollten eindeutig bessere
Rahmenbedingungen . Wir wollten, dass sich eine Befristung an der Qualifizierung orientiert; sie muss also angemessen sein . Das müssen die Hochschulen jetzt lernen,
und das muss mit den Arbeitnehmern und vor allem zwischen Personalrat und Leitung besprochen werden . Sie
und nicht wir müssen es aushandeln .
({12})
Wir haben das Tenure-Track-Programm geschaffen,
das einen planbaren Einstieg bietet . Wir reden hier über
tausend neue unbefristete Stellen, die mit diesem Programm geschaffen werden.
({13})
Um diese Stellen zu bekommen, ist ein Personalentwicklungskonzept Pflicht. Das ist das, was wir in Zukunft
brauchen .
({14})
Wenn wir all diese Laufbahnen positiv begleiten wollen, dann brauchen wir noch mehr Sicherheit bezüglich
der Erkenntnisse über die Menschen, die dort arbeiten,
und die Strukturen. Ich hoffe sehr, dass uns sowohl
durch die Erfahrungen mit dem Wissenschaftszeitvertragsgesetz als auch durch die neuen Erkenntnisse über
die Personalstruktur durch das Hochschulstatistikgesetz
Schwachstellen, aber auch die Stärken aufgezeigt werden .
Frau Gohlke, das ist ein ganz wichtiger Punkt: Sie sagen, Dauerstellen und Projektmittel gehen nicht . Schauen Sie einmal in die Länder . Ganz viele Hochschulen in
den Ländern sind nicht mehr stellengesteuert, sondern
budgetgesteuert . Die budgetgesteuerten Hochschulen
können sehr wohl Dauerstellen aus Drittmitteln einrichten, weil sie wissen, wie viele Mittel sie im Jahr haben,
und weil ein Teil dieser Mittel über die Jahre verlässlich
zur Verfügung steht.
Sie haben aber völlig recht: Für die stellengesteuerten
Hochschulen gilt das nicht . Das ist aber eine Länderaufgabe . Die Länder müssen lernen, anders zu arbeiten . Sie
müssen sich heute endlich für die Zukunft und nicht für
das Gestern aufstellen .
({15})
Ich bin mir sicher, dass das Thema Personal inzwischen überall angekommen ist . Jetzt müssen wir in der
Politik Geduld haben .
({16})
Im Gesetz steht, dass die Evaluation des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes im Jahr 2020 erfolgt . Das werden
wir abwarten . Bis dahin haben wir auch Erkenntnisse
zum Hochschulstatistikgesetz . Dann werden wir sehen,
ob diesem ersten Schritt ein zweiter Schritt folgt .
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit .
({17})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht nun
der Kollege Kai Gehring .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Groß war zu Beginn dieser Wahlperiode die Einigkeit im
Hohen Haus, dass Nachwuchswissenschaftlerinnen und
-wissenschaftler klarere Karriereperspektiven, bessere
Arbeitsbedingungen und mehr Familienfreundlichkeit
benötigen .
({0})
Das war eine sehr günstige Ausgangslage, um Großes zu
bewegen .
({1})
Diese Chance haben Union und SPD verspielt .
({2})
Für faire statt prekäre Wissenschaftskarrieren zu sorgen, ist nun mal ein Marathonlauf, aber der Koalition ist
schon nach 100 Metern die Puste ausgegangen .
({3})
Bessere Bedingungen in der Wissenschaft bleiben auf der
Strecke, und das ist schlecht; denn wir dürfen kein Talent
vergraulen .
({4})
Kurzatmig ist ihr sogenanntes Nachwuchsprogramm .
Bei 1 000 Tenure-Track-Professuren an Universitäten
bleiben unklare Perspektiven und wenig Planbarkeit für
viel zu viele Alltag . Auch fehlt Ihrem Tenure-Track-Programm eine explizite Förderung von Frauen, während
zugleich die Zukunft des Professorinnenprogramms völlig ungewiss ist . Für dauerhafte Karrierewege neben der
Professur sorgen Sie nicht, und die Tenure-Track-Professuren sind viel zu wenig lukrativ und attraktiv für viele
Universitäten .
({5})
Die Fachhochschulen haben Union und SPD gleich
jahrelang vergessen,
({6})
obwohl sie besonders damit zu kämpfen haben, Professorinnen und Professoren zu gewinnen . Ein Nachwuchsprogramm für die FHs gibt es noch nicht . Machen Sie das
doch endlich! Wer regiert denn? Fazit: Mit Ihrem Nachwuchsprogramm müssen Sie noch mal ins Trainingslager .
({7})
Schnappatmung bekomme ich allerdings bei Ihrer Novelle des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes .
({8})
Es fehlt noch eine systematische Untersuchung . Sie
kommt erst 2020, also fast am Ende der nächsten Legislaturperiode,
({9})
obwohl man schon jetzt weiß - das haben die Anhörungen gezeigt -, dass Ihre Novelle nicht vernünftig wirken
kann und viel zu große Hoffnungen damit verbunden
werden .
Mindestvertragslaufzeiten sind Fehlanzeige,
({10})
und undefiniert ist zum Beispiel, was unter Qualifizierung zu verstehen ist
({11})
und was eine angemessene Befristungsdauer für einen
Qualifizierungsschritt sein soll.
Damit werden sich noch viele Anwälte und auch findige Personaler in den Chefetagen der Wissenschaft zu
beschäftigen haben . Durch solche Schwammigkeiten
verfehlen Sie das eigentliche Ziel, einen klaren rechtlichen Rahmen für bessere Arbeitsbedingungen in der
Wissenschaft zu schaffen.
({12})
Beim WissZeitVG hilft weder Trainingslager noch
Doping, sondern nur eine Novelle, die klare Mindestvertragslaufzeiten, einen Wegfall der Tarifsperre und eine
echte Familienkomponente bringt .
({13})
Gänzlich außer Sichtweite ist das Ziel, die Grundfinanzierung der Hochschulen zu verbessern . Es ist echt
problematisch, sich von Pakt zu Pakt zu hangeln;
({14})
denn das erschwert es den Hochschulen, zusätzliche verlässliche Dauerstellen für Daueraufgaben zu schaffen.
Es wird noch besser . Beim neuen Unionspapier schrillen bei mir sämtliche Alarmglocken, weil Sie offensichtlich die Axt an den Hochschulpakt legen wollen .
({15})
Wenn Sie das tun, dann reißen Sie mutwillig Löcher in
die Finanzierung der Universitäten und vor allem der
Fachhochschulen vor Ort . Nicht mit uns! Wir brauchen
eine verlässliche Grundfinanzierung.
({16})
Auch künftig wollen viele junge Menschen studieren .
Der Studierendenberg wird nicht zum Tal, sondern zu einem Hochplateau . Wir wollen diesen jungen Menschen
Freiräume ermöglichen, anstatt sie zu versperren . Deshalb sind und bleiben eine ausreichende Zahl an Studienplätzen und gute Studienbedingungen unser Anspruch .
({17})
Über 90 Prozent der Verträge in der Wissenschaft über 90 Prozent! - sind befristet . Über die Hälfte dieser
Verträge hat eine unsäglich kurze Laufzeit von unter einem Jahr .
({18})
Nur 22 Prozent der Promotionen werden abgeschlossen .
Über 10 Prozent der Promovierenden verdienen weniger
als 826 Euro im Monat .
({19})
Sie sind also armutsgefährdet . Diese niederschmetternden Zahlen aus dem Bundesbericht Wissenschaftlicher
Nachwuchs mahnen: Da müssen wir ran! Dieses BefrisKai Gehring
tungsunwesen muss enden . So können wir mit Talenten
für die Wissensgesellschaft jedenfalls nicht umgehen .
({20})
Deswegen ist es dringend notwendig, schnell zu
weiterführenden Schritten zu kommen . Jetzt stehen ein
vernünftiges Wissenschaftszeitvertragsgesetz für mehr
Sicherheit an, um gut forschen zu können, ein Personalprogramm für die Fachhochschulen, eine bessere Grundfinanzierung für die Hochschulen und auch mehr Verantwortungsbewusstsein in der Wissenschaft für die eigenen
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in puncto Personalentwicklung und Karrierewege .
Diesen Marathon gilt es zu laufen . Wir sind dazu bereit . Das, was Sie vorgelegt haben, ist wirklich Stückwerk . Das Befristungsunwesen lässt sich damit leider
nicht überwinden . Deshalb: Da muss mehr passieren .
({21})
Das Wort hat die Kollegin Dr . Simone Raatz für die
SPD-Fraktion .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Trotz der Äußerungen von Frau Gohlke und
Herrn Gehring muss ich doch sagen - ich denke, das ist
unbestritten -: Wir haben in dieser Legislatur vieles an
Verbesserungen für den wissenschaftlichen Nachwuchs
auf den Weg gebracht . Das muss man einmal anerkennen; man sollte nicht immer nur herumnörgeln .
({0})
Aber - das ist richtig -: Jetzt heißt es dranbleiben, insbesondere am Thema „Gute Arbeit in der Wissenschaft“ .
Frau Gohlke, jetzt sollten Sie einmal zuhören; das, was
jetzt kommt, hören Sie nicht so oft: Ich möchte Ihnen und
den Kolleginnen und Kollegen von der Linken für den
Antrag Danke sagen . Ihr Antrag unterstützt nämlich unser Thema „Gute Arbeit in der Wissenschaft“ in einigen
Punkten . Das muss man einmal anerkennen . Es ist schön,
dass Sie das präsent halten und uns natürlich damit immer auch den Spiegel vorhalten .
Ich gebe Ihnen recht: Es ist wirklich ein Unding, dass
heutzutage jede zweite Neueinstellung - nicht in der
Wissenschaft, sondern prinzipiell - befristet erfolgt . Das
geht nicht .
({1})
Dazu kommt, dass es in der Forschung - die Zahl haben
wir häufig gehört - fast 90 Prozent sind. Außerdem hatten diese befristeten Verträge - „hatten“, nicht „haben“ häufig eine sehr kurze Laufzeit, und zwar nicht nur an
unseren Hochschulen. Ich finde es bedenklich, dass dies
auch an unseren außeruniversitären Forschungseinrichtungen so ist . Das ist für mich überhaupt nicht erklärbar .
({2})
Jeder kann hier Beispiele nennen, auch ich . Sie haben
das Beispiel genannt, dass jemand zehn befristete Verträge hintereinander bekommen hat . Ich kenne eine junge
Wissenschaftlerin, die noch an ihrer Doktorarbeit arbeitet
und in dieser Zeit schon 15 verschiedene Arbeitsverträge
unterschreiben musste. Von diesen 15 Kurzzeitverträgen
hatten manche nur eine Laufzeit von einem Monat .
Ich war gestern beim Parlamentarischen Abend der
AiF . Mir gegenüber stand ein Wissenschaftler, schon ein
gestandener Mann, der mittlerweile schon 50 befristete
Arbeitsverträge unterschrieben hatte . Das geht natürlich
nicht; das ist klar . Dem haben wir nun einen Riegel vorgeschoben .
({3})
Jeder von uns kann irgendwelche Beispiele nennen,
und wir könnten uns sicherlich gegenseitig mit Zahlen
übertrumpfen . Aber das ist nicht das, was wir wollen . Wir
wollen mit dieser hohen Zahl an befristeten Verträgen
Schluss machen .
Diese kurzen Laufzeiten und die fehlenden Karriereperspektiven schrecken insbesondere junge Frauen
ab, die ihre berufliche Zukunft dann leider nicht in der
Wissenschaft sehen . Ich denke, das können wir uns in
der Zukunft definitiv nicht mehr leisten. Auch, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist dies ungerecht und darüber
hinaus familien- und gleichstellungsfeindlich . Darum
haben wir, wie gesagt, den Missbrauch von Befristungen
in dieser Legislatur endlich eingedämmt . Wir haben das
Wissenschaftszeitvertragsgesetz novelliert, und ich betone: wir, die Fraktionen von SPD und CDU/CSU . Wir
haben das auf den Weg gebracht . In Ihrem Antrag steht,
dass es von der Bundesregierung kommt . Die hat es jetzt
umgesetzt, aber auf den Weg gebracht haben wir es als
Koalitionsfraktionen, und das möchte ich mir auch nicht
nehmen lassen .
({4})
Das Gesetz auf den Prüfstand zu stellen und zu novellieren, war nicht leicht; das muss man sagen . Die
Mehrheit der Akteure in Wissenschaft und Politik sieht
zwar, dass bei den Arbeitsverträgen in der Wissenschaft
etwas aus dem Ruder gelaufen ist, trotzdem bleibt es eine
Mammutaufgabe, Lösungen zu finden, die allen Beteiligten und Belangen gerecht werden .
Ja, Frau Gohlke, und ja, Herr Gehring, auch wir hätten
uns an manchen Stellen eine Konkretisierung gewünscht .
({5})
Andererseits muss ich sagen: In diesen Einrichtungen
arbeiten Leute, die auch einen Kopf auf den Schultern
haben und ihn benutzen können . Die wissen, wie wichtig
es ist, gutes Personal zu halten, und das kann man heute
nur halten mit vernünftigen Arbeitsbedingungen . Darum
appellieren wir zum Beispiel auch an die EigenverantKai Gehring
wortung unserer Wissenschaftseinrichtungen . Alles immer vorzugeben, halte ich nicht für den richtigen Weg .
({6})
Mit der Reform haben wir das alte Wissenschaftszeitvertragsgesetz vom Kopf auf die Füße gestellt . Wir haben aus einem Befristungsgesetz ein Qualifizierungsgesetz gemacht und die Zeit der willkürlichen Befristungen
damit hoffentlich endgültig beendet. Seit einem Jahr ist
dieses Gesetz nun in Kraft . Die junge Wissenschaftlerin,
von der ich gerade erzählt habe, aber auch viele andere
junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben
dadurch endlich einen vernünftigen Arbeitsvertrag und
damit mehr Planungssicherheit als bisher, und das freut
mich erst einmal . Das sollte uns insgesamt erst einmal
freuen .
Schön wäre gewesen, wenn sich das bereits in den
Zahlen des Bundesberichts Wissenschaftlicher Nachwuchs widergespiegelt hätte, doch die aktuellsten Zahlen
in diesem Bericht, auf die sich auch Herr Gehring bezogen hat, sind von 2014 . Man muss sagen: Damit kann
man nichts anfangen . Das ist schade . Wir müssen also im
Endeffekt den nächsten Bericht abwarten, um zu sehen,
was unser Wissenschaftszeitvertragsgesetz bewirkt hat .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, allein die gesetzlichen Rahmenbedingungen zu ändern, reicht aber nicht .
Für planbare Karrierewege braucht es auch Programme zur besseren Stellenausstattung an der Hochschule .
Auch darauf haben meine Vorrednerinnen und Vorredner
hingewiesen . So haben wir ein Bund-Länder-Programm
für den wissenschaftlichen Nachwuchs auf den Weg gebracht . Für einen Zeitraum von über zehn Jahren haben
wir immerhin zusätzliche 1 000 Tenure-Track-Stellen finanziert . Allein für Sachsen sind das 52 zusätzliche Stellen. Das finde ich erst einmal gut. Das ist eine Zahl, mit
der man etwas anfangen kann .
({7})
Darüber hinaus - das wissen wir, und das muss man
nicht dauernd betonen, aber ich sage es an dieser Stelle
noch einmal - hat der Bund seit 2015 die komplette Finanzierung des BAföGs übernommen . Damit stehen den
Ländern über 1 Milliarde Euro jährlich zur Verfügung.
Allein für Sachsen sind das über 80 Millionen Euro . Damit kann man etwas anfangen . Auch damit kann man die
Stellensituation verbessern .
({8})
Und wie geht es jetzt weiter? Sicher nicht mit den
unrealistischen und durch nichts begründeten Forderungen Ihres Antrags nach 100 000 zusätzlichen Stellen .
Schon aus diesem Grund können wir Ihrem Antrag so
nicht zustimmen . Unbestritten ist aber, dass die Grundfinanzierung der Hochschulen nachhaltig verbessert werden muss . Das Aufheben des Kooperationsverbotes im
Hochschulbereich gibt jetzt Möglichkeiten, und diese
Möglichkeiten sollten wir auch nutzen .
Wichtig ist - und darauf hat meine Kollegin schon
hingewiesen -, dass Personalplanung oder bestehende
Personalentwicklungskonzepte ein verbindliches Förderkriterium bei der Bewilligung von Projektmitteln sein
müssen . Finanzielle Einschnitte zeigen dann auf jeden
Fall ihre Wirkung .
Aber, wie ich schon sagte, allein politische Initiativen
verbessern die Personalsituation noch nicht . Was wir darüber hinaus brauchen - und das ist mir ganz wichtig -,
sind Präsidentinnen und Präsidenten, Rektorinnen und
Rektoren sowie Lehrstuhlinhaber, die sich als gute Arbeitgeber verstehen,
({9})
und die auch alles dafür tun, um den wissenschaftlichen
Nachwuchs durch eine gute Betreuung zu wissenschaftlichem Erfolg zu führen . Und da haben wir noch sehr viel
Luft nach oben . Dazu gehört auch, dass man Perspektiven aufzeigt; entweder innerhalb oder außerhalb der
Hochschule . Dazu zählen für mich auch Fachhochschulen oder Stellen in der Wirtschaft .
Für einen Wandel ist es auch wichtig, dass wir Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben, die nicht
nur fachlich exzellent sind, sondern sich auch gesellschaftspolitisch engagieren, die eben wissen, wie man
sich organisiert und wie man die eigenen Rechte im Endeffekt durchsetzt. Auch hier können wir einmal gucken,
welchen Organisationsgrad wir im wissenschaftlichen
Mittelbau haben . Der ist sehr gering . Daran liegt es auch .
Da müssen die Leute auch einmal selbst für ihre Sache
einstehen .
({10})
Denn eines ist gewiss - damit komme ich zum
Schluss -: Nur mit motivierten und engagierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern werden wir die
Innovationsfähigkeit unseres Landes auch zukünftig sichern . Nur mit unseren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern werden wir einen Beitrag zur Bewältigung
der großen globalen Herausforderungen wie Klimawandel, Energieversorgung oder Digitalisierung leisten .
Dazu gehören - das ist klar - gute Arbeitsbedingungen,
Planungssicherheit und auch attraktive Karriereoptionen .
Danke .
({11})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege
Dr. Wolfgang Stefinger das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wenn man den Antrag der Linken und seinen
Titel liest,
({0})
dann könnte man glatt den Eindruck gewinnen, als stünde
es um unser Wissenschaftssystem richtig schlecht . Daher
schlage ich vor, dass wir uns einmal die Fakten ansehen .
Die Ausgaben für Forschung und Entwicklung sind
auf einem historischen Höchststand . Niemals zuvor wurde in Deutschland so viel in Forschung und Entwicklung
investiert . Staat und Wirtschaft haben 2015 erstmals das
3-Prozent-Ziel erreicht .
({1})
Wir gehören zu den weltweiten Innovationsführern .
Nie zuvor gab es übrigens auch mehr Jobs im Bereich
Forschung und Entwicklung . Mehr als 600 000 Menschen sind in diesem Bereich tätig .
({2})
Deutschland hat eine hohe Publikationsintensität und
einen Spitzenwert bei der Exzellenzrate wissenschaftlicher Veröffentlichungen, und Deutschland wird auch für
ausländische Forscherinnen und Forscher immer attraktiver . Ihr Anteil in den Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen ist in den letzten zehn
Jahren erheblich gestiegen .
Sie sehen: Unser Wissenschaftssystem steht hervorragend da, und das hat auch mit den richtigen politischen
Weichenstellungen der letzten Jahre zu tun .
({3})
Nun wollen die Linken mit ihrem Antrag die Axt an
Grundpfeiler unseres erfolgreichen Wissenschaftssystems legen .
({4})
Der Pakt für Forschung und Innovation - so steht es in
Ihrem Antrag - soll abgeschafft werden, und es soll auch
keinen Wettbewerb mehr geben . Stattdessen lesen wir
von kostenträchtigen Forderungen, verbunden mit dem
Ruf nach immer höherer Lastenübernahme durch den
Bund .
Es ist schon darauf hingewiesen worden: Fast auf den
Tag genau vor einem Jahr ist das novellierte Wissenschaftszeitvertragsgesetz in Kraft getreten . Die in Ihrem
Antrag genannten Zahlen beinhalten jedoch überwiegend nur Auswertungen bis 2014. Von daher wären Sie
gut beraten gewesen, zunächst einmal die Wirkung der
beschlossenen Vorhaben und der Gesetzesnovellierung
abzuwarten und Kritik auf eine solidere Faktenlage zu
stellen .
({5})
Und bitte, liebe Linken, suggerieren Sie nicht immer,
als würden sich nur die Linken oder auch die Grünen um
gute Karriereperspektiven in der Wissenschaft kümmern .
Das tun wir nämlich auch . Die Koalition hat bewiesen:
Gute Karriereperspektiven für junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind uns mindestens genauso
wichtig .
({6})
Die Koalition hat deswegen einige Initiativen auf den
Weg gebracht . Das ist schon angesprochen worden . Mit
dem neuen Tenure-Track-Programm zur Förderung des
wissenschaftlichen Nachwuchses wollen wir akademische Karrierepfade planbarer und transparenter machen,
die Anziehungskraft unseres Wissenschaftssystems weiter erhöhen, aber auch die Chancengleichheit voranbringen und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf stärken.
Wir nehmen dafür auch Geld in die Hand, nämlich über
1 Milliarde Euro .
Hier sind auch die Länder gefordert . Ich freue mich
darauf, wenn die Linken oder auch die Grünen in ihren
Landesregierungen den Beweis erbringen, ob nur geredet wird oder in den Landeshaushalten auch tatsächlich
gehandelt wird .
Um Fehlentwicklungen in der Befristungspraxis entgegenzuwirken, haben wir - das ist schon angesprochen
worden - das Wissenschaftszeitvertragsgesetz novelliert
und eine Reform mit Augenmaß umgesetzt . Wir berücksichtigen die berechtigten Interessen der Beschäftigten
im Wissenschaftsbetrieb und sichern zugleich die im
Wissenschaftssystem unerlässliche Flexibilität und Dynamik . Unsachgemäßen Kurzbefristungen von jungen
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die uns natürlich auch ein Dorn im Auge sind, wollen wir mit dem
Gesetz einen Riegel vorschieben . Wir werden dann sehen, was die Evaluierung bringt .
Meine sehr geehrten Damen und Herren, der Pakt
für Forschung und Innovation, den Sie in Ihrem Antrag
ansprechen und den Sie abschaffen wollen, ist ein großer Erfolg . Er hat sich nämlich bewährt, und er wirkt .
Das hat der Monitoringbericht 2016 der Gemeinsamen
Wissenschaftskonferenz abermals bestätigt . Mit ihm
bekommen die beteiligten Wissenschaftsorganisationen
finanzielle Planungssicherheit und verpflichten sich auf
bestimmte forschungspolitische Ziele, übrigens auch auf
verlässliche Karriereperspektiven .
Für die Union ist klar: Wir wollen Leistung und Exzellenz fördern und faire Chancen bieten . Unser Wissenschaftssystem braucht eine gewisse Flexibilität und
Dynamik, um Innovationen zu ermöglichen . Weil in den
letzten Wochen immer wieder von einem gerechten Bildungssystem gesprochen und in den Medien berichtet
wurde, darf ich daran erinnern: Seit 2005 haben sich die
Ausgaben des Bildungs- und Forschungsministeriums
mehr als verdoppelt . In diesem Jahr stehen dem Bund für
Bildung, Wissenschaft und Forschung 17,5 Milliarden
Euro zur Verfügung. Das soll uns mal einer nachmachen!
({7})
Seit Angela Merkel Bundeskanzlerin ist, wurde massiv
in Deutschlands Zukunft investiert, und gleichzeitig wurden keine neuen Schulden gemacht . Das ist gerechte Politik für alle Generationen .
({8})
Vielen Dank, lieber Kollege Stefinger. - Schönen guten Abend, liebe Kolleginnen und Kollegen! - Ich schließe die Debatte .
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/11597 an den Ausschuss für Bildung,
Forschung und Technikfolgenabschätzung vorgeschlagen . Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall .
Dann ist die Überweisung so beschlossen .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Zweiten Zahlungsdiensterichtlinie
Drucksache 18/11495
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind
25 Minuten für die Aussprache vorgesehen . - Ich höre
viel, aber keinen Widerspruch . Dann ist es so beschlossen .
Darf ich die Kolleginnen und Kollegen bitten, sich an
der SPD zu orientieren? - Dort haben sich alle brav hingesetzt und warten gespannt auf die Debatte .
({1})
Damit eröffne ich die Aussprache und gebe das Wort
dem Parlamentarischen Staatssekretär Dr . Michael
Meister .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der Zweiten
Zahlungsdiensterichtlinie - das hört sich zunächst etwas
technisch und schwierig an . Das ist allerdings ein Thema, das uns alle betrifft; denn jeder von uns hat schon
im Laden oder im Internet bargeldlos gezahlt, ob nun
mit einer Debitkarte oder einer Kreditkarte, ob kontaktlos oder mit dem Handy . Genau solche Bezahlvorgänge
werden in der Zahlungsdiensterichtlinie rechtlich geregelt und fundamentiert . Wir haben in der digitalen Welt
einen massiven Wandel bzw . technologischen Fortschritt
zu verzeichnen . Deshalb müssen wir überlegen, wie wir
sowohl im Bereich des Zivilrechts als auch im Bereich
des Aufsichtsrechts dafür neue, vernünftige Rahmenbedingungen schaffen können. Zum Zivilrecht wird der
Kollege Lange aus dem Justizministerium etwas sagen .
Ich will mich daher auf die Themen des Aufsichtsrechts
konzentrieren .
Unser Ziel ist, den Technologiewandel zu ermöglichen
und damit neue Marktchancen zu eröffnen, die Sicherheit im Zahlungsverkehr trotz der neuen Entwicklungen
sicherzustellen und den Kunden bei dieser Entwicklung
so zu schützen, dass er nicht Gefahr läuft, sein Geld zu
verlieren . Im Aufsichtsrecht sehen wir deshalb drei Dinge vor .
Erstens . Diejenigen, die als Zahlungsdienstleister auftreten, und diejenigen, die mit Kontoinformationen handeln, werden in Zukunft der Finanzaufsicht, der BaFin,
unterstellt . Bislang unterstehen diese Dienstleister nicht
der Aufsicht . Nun machen wir einen qualitativen Sprung,
um die weißen von den nicht weißen Schafen zu trennen
und um für Ordnung auf diesem Feld zu sorgen .
Zum Zweiten verpflichten wir kontoführende Banken,
diesen Dienstleistern in Zukunft Informationen über die
Konten verfügbar zu machen . Das heißt, sie müssen einen Zugang ermöglichen, allerdings natürlich nur dann,
wenn der Kontoinhaber in diesen Zugang eingewilligt
hat und wenn die IT-Sicherheit und der Datenschutz sichergestellt sind - der Datenschutz deshalb, damit die
Konteninformationen nicht in falsche Hände gelangen,
und die IT-Sicherheit, damit sich kein unbefugter Dritter
zu Informationen oder dem Konto selbst Zugang verschaffen kann.
Wir glauben, dass durch den Ansatz, diesen Dienstleistern einen Rechtsanspruch auf Zugang zu gewähren,
in Deutschland neue Geschäftsmodelle ermöglicht werden und die Kunden, die diese neuen Geschäftsmodelle
nutzen, damit am Ende des Tages einen gewissen Mehrwert haben .
Für die Sicherheit von Zahlungen werden bei der Authentifizierung des Kunden mindestens zwei Komponenten verlangt . Um das einmal anschaulich zu machen:
Wir haben heute sehr oft einen Zahlvorgang, bei dem wir
die EC-Karte nutzen und zusätzlich eine Nummer eingeben müssen . Das sind zwei voneinander unabhängige
Komponenten . Beim Zahlvorgang im Internet haben wir
auch die Karte und eine TAN, die die Unterschrift ersetzt .
Diesen Zwei-Komponenten-Vorgang wollen wir für die
Sicherheit festschreiben .
Das Ganze wird mit einer EU-Verordnung verzahnt,
in der dieser Zahlungsvorgang im EU-Raum einheitlich
geregelt ist, sodass sich die Bürger jenseits dessen, was
wir national umsetzen, darauf verlassen können, dass es
einen einheitlichen Ansatz im gesamten EU-Raum gibt .
Ich glaube, das ist ein vernünftiger Weg .
({0})
Wir versuchen, die Marktchancen und die neuen Technologieentwicklungen auf der einen Seite mit der Sicherheit des Zahlungsverkehrs und dem Kundenschutz auf
der anderen Seite in eine ausgewogene und vernünftige
Balance zu bringen .
Wir haben die Aufgabe, diese Richtlinie bis zum Januar kommenden Jahres umzusetzen . Da könnte man
sagen: Na ja, wir könnten eigentlich geruhsam die Bundestagswahl abwarten und dann an die Umsetzung herangehen . - Ich glaube allerdings, wenn man sich den
Kalender anschaut, stellt man fest, dass es klug ist, sich
dieser Aufgabe noch vor Ende der Legislaturperiode zu
stellen. Dazu möchte ich Sie herzlich einladen und hoffe
auf gute Beratungen .
Danke schön .
({1})
Vielen Dank, Dr. Meister. - Jetzt stellt sich bei uns
hier oben die Frage, ob es neben den weißen und den
schwarzen Schafen auch die nicht weißen gibt? Also sind
die nicht weißen Schafe schwarze, oder ist da noch irgendetwas zwischen?
({0})
- Grüne Schafe? Nein! - Aber Sie sehen, wir lauschen
interessiert Ihrer Rede .
Nächste Rednerin: Susanna Karawanskij für die Linke .
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und
Kolleginnen! Sperriger Titel: Zahlungsdiensterichtlinie .
Das klingt kompliziert, geht uns aber alle etwas an .
Drei Ziele sollen mit diesem Gesetz verfolgt werden:
Innovationen im Zahlungsverkehr sollen gefördert, die
Sicherheit von Zahlungen soll verbessert und vor allen
Dingen sollen die Rechte der Kunden von Zahlungsdienstleistern gestärkt werden .
Zentral in der Debatte ist der Datenzugang für Drittanbieter . Geldanbieter müssen ab 2018 Wettbewerbern
wie sogenannten FinTechs sowie anderen Zahlungsdienstleistern sämtliche Konteninformationen zugänglich machen und dann entsprechend die Zahlungsaufträge weiterleiten . Das ist gewiss innovativ . Wie sicher und
kundenfreundlich das in der Praxis tatsächlich ist, wird
sich erst noch erweisen müssen .
Die Zahlungsdienstleister, also die kontoführenden
Banken, müssen zukünftig zwei bisher gesetzlich nicht
regulierten Dienstleistern den Zugang zum Konto gewähren, zum einen den Zahlungsauslösedienstleistern,
die eine Erlaubnis benötigen, und zum anderen den Kontoinformationsdienstleistern, die bei der Aufsichtsbehörde registriert werden müssen . In beiden Fällen besteht
für die Banken eine gesetzliche Pflicht, den Zugang zum
Konto online zu gewährleisten .
Wir kennen alle Fälle - vielleicht sind wir sogar selbst
schon Opfer davon geworden -, bei denen sich Unbefugte mit immer wieder neuen Tricks Zugang zu Konten
verschafft haben. Das wird dann als Phishing, Hacking,
Skimming usw . bezeichnet .
Die Umsetzung dieses Gesetzes birgt Risiken . Bis
heute bestehen genau an der Schnittstelle zu den Kundenkonten zu wenig sichere Standards, bzw . es sind noch
keine festgesetzt worden . Dies ist ein erhebliches Risiko
für die Konteninhaber . Mit Sicherheitslücken im Onlineverkehr werden wir uns auch weiterhin beschäftigen
müssen .
Wir müssen auch akribisch auf den Datenschutz
schauen. Dazu gehört, dass wir darauf achten, dass Verfahren wie Screen Scraping weiterhin nicht erlaubt sind .
Um das kurz zu erklären: Dabei wird zum Beispiel ein
Drittanbieter im Account des Verbrauchers selber tätig
und löst dabei einen Zahlungsvorgang aus . Damit entsteht so etwas wie eine vorübergehende Identitätsaneignung . Das ist problematisch . Da muss man ganz genau
schauen, wie sich das gestaltet, gerade im Bereich des
Datenschutzes . Wir müssen auch schauen, dass solche
FinTechs, wie ich sie gerade beschrieben habe, nicht so
etwas werden wie eine Quengelware, etwas, was wir von
den Supermarktkassen kennen .
Man muss es sich einmal vorstellen: Dienstleistungsanbieter könnten sensible Daten auslesen oder auswerten;
dann meldet sich selbstständig eine App und sagt: Guten
Tag, Herr Murmann, ich habe gesehen, Sie haben noch
keinen Riester-Vertrag. Wie wäre es denn hiermit? - Wir
müssen also aufpassen, dass Kontoinformationsdienstleister nur auf Informationen, die der Nutzer tatsächlich
gegeben hat, und auf in diesem Zusammenhang stehende
Zahlungsvorgänge zugreifen können .
({0})
Das liest sich auf dem Papier erst einmal ziemlich gut .
Laut Text dürfen sensible Zahlungsdaten für keinen anderen als für den vom Nutzer ausdrücklich geforderten
Zweck angefordert werden . Es darf auf keine anderen
Daten zugegriffen werden, und sie dürfen auch nicht gespeichert werden . Der Zahlungsauslösedienstleister darf
nur eine Zahlung des Bankinstituts anstoßen und selber
nicht über das Konto verfügen . Besagter Dienstleister
darf die Zahlungsdaten der Kunden nicht an Dritte weitergeben .
Ich möchte das Augenmerk noch darauf lenken - das
ist sozusagen das, was im Gesetzentwurf festgeschrieben
ist -, dass diese enge Zweckbindung bestehen bleibt und
dass wir hier nur ganz enge Räume schaffen, damit dem
Missbrauch vorgebeugt werden kann .
({1})
Ich möchte noch auf einen Punkt eingehen. Ich hoffe
sehr, dass sich folgender positiver Aspekt im Gesetzgebungsverfahren durchsetzt: die geringe Haftungsgrenze
für Verbraucher, wenn es um nicht autorisierte Kartenzahlungen geht . Bislang mussten Kunden 150 Euro aus
eigener Tasche zahlen . Künftig kann die Bank vom Kontoinhaber höchstens 50 Euro Schadensersatz verlangen .
Somit würde den Kunden nicht mehr unterstellt, dass sie
grob fahrlässig gehandelt haben, etwa weil sie ihre PIN
neben ihrer Bankkarte liegen ließen. Ich hoffe sehr, dass
sich im Gesetzgebungsverfahren durchsetzt, dass künftig
die Banken den Kunden nicht grobe Fahrlässigkeit oder
Vorsatz unterstellen können, sondern dass die Banken
ebendiese beweisen müssen .
Wir Linken schreiben bei allen notwendigen Innovationen die Sicherheit von Zahlungen und den Verbraucherschutz ganz groß .
Vielen Dank.
({2})
Vielen Dank, Frau Kollegin Karawanskij. - Nächster
Redner: der Parlamentarische Staatssekretär Christian
Lange .
({0})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Wir alle haben es bei Bestellungen im Internet sicher schon selbst gemerkt: Die Möglichkeiten,
schnell und unkompliziert zu zahlen, sind größer geworden. Vielleicht haben wir uns aber auch schon einmal
gefragt, was eigentlich passiert, wenn bei diesen Vorgängen etwas schiefgeht . Wer haftet eigentlich, wenn eine
Zahlung ausgelöst wurde, die die betreffende Person gar
nicht autorisiert hat? Wer trägt die Beweislast? Das klang
gerade eben an . Wie und von wem bekommen wir unser
Geld zurück, wenn außer der Bank noch ein sogenannter
Zahlungsauslösedienst in den Zahlungsvorgang eingeschaltet war?
Dass Verbraucher vor unautorisierten Zahlungen oder
Fehlüberweisungen auch in den Fällen, in denen sie auf
neue Zahlungsdienste zurückgreifen, geschützt werden,
ist von großer Bedeutung; denn die Öffnung des Marktes
für neue Dienstleistungen, so wünschenswert sie ist, soll
nicht dazu führen, dass neue Risiken auf Verbraucherinnen und Verbraucher abgewälzt werden.
Zu dem Thema Zahlungssicherheit hat Ihnen mein
Kollege aus dem Bundesfinanzministerium Dr. Meister
die aufsichtsrechtlichen Regelungen bereits erläutert .
Mit dem zivilrechtlichen Teil des Ihnen nun vorliegenden
Gesetzentwurfes gliedern wir die Zahlungsauslösedienste in das bestehende zivilrechtliche Haftungsregime ein .
Der Kontoinhaber kann sich bei nicht autorisierten Zahlungen grundsätzlich weiter an sein Kontoinstitut halten,
das wiederum - auch das wird in Zukunft rechtssicher
geregelt sein - bei dem Zahlungsauslösedienst Regress
nehmen kann . Damit wird vermieden, dass Kontoinhaber
von einem Zahlungsdienstleister an den anderen verwiesen werden und am Ende leer ausgehen . Das wollen wir
nicht .
({0})
Darüber hinaus, meine Damen und Herren, gibt es
weitere wesentliche Verbesserungen für Verbraucherinnen und Verbraucher: Händler und Dienstleister dürfen in
Zukunft in vielen Fällen keine Gebühren mehr dafür verlangen, dass ihre Kunden mit SEPA-Überweisung, SEPA-Lastschrift oder einer gängigen Kreditkarte bezahlen .
In Deutschland kann man sich eine Lastschrift ohne
Angabe von Gründen binnen acht Wochen erstatten lassen . Dieses sogenannte bedingungslose Erstattungsrecht
war bislang vertraglich geregelt und hat ganz wesentlich zur Akzeptanz des Lastschriftverfahrens bei uns in
Deutschland beigetragen . Es wird jetzt ausdrücklich gesetzlich geregelt und gilt in Zukunft europaweit .
Für nicht autorisierte Zahlungen haften Zahler derzeit zwar begrenzt, aber immerhin noch in Höhe von
150 Euro . Dieser Betrag wird nunmehr auf 50 Euro abgesenkt .
Weiter, liebe Kolleginnen und Kollegen, wird der
Kunde bei missbräuchlicher Nutzung seiner abhandengekommenen Zahlungskarte besser geschützt . Die Bank
muss in Zukunft unterstützende Beweismittel vorlegen,
wenn sie behauptet, dass der Kunde den Missbrauch vorsätzlich oder grob fahrlässig ermöglicht hat .
Bei Fehlüberweisungen ist es für den Überweisenden
oft schwierig, den Geldbetrag zurückzuerhalten . Sein eigener Zahlungsdienstleister muss ihn hierbei unterstützen . Mit dem Gesetzentwurf wird jetzt auch die Bank des
Empfängers verpflichtet, die notwendigen Informationen
mitzuteilen, damit der Zahler sein Geld zurückerhält .
Also, meine Damen und Herren: eine gute Sache eine gute Sache für Verbraucherinnen und Verbraucher.
Deshalb darf auch ich Sie um Unterstützung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung bitten .
Herzlichen Dank .
({1})
Vielen Dank, Christian Lange. - Nächster Redner:
Dr . Gerhard Schick für Bündnis 90/Die Grünen .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist schon angeklungen: Was die Umsetzung der Zweiten
Zahlungsdiensterichtlinie beinhaltet, hat eine große Praxisrelevanz . Es gibt ganz viele Details und Hintergründe,
mit denen wir uns am liebsten nicht beschäftigen . Wir
als Gesetzgeber müssen uns aber sehr intensiv damit beschäftigen, damit es nachher im Alltag möglichst wenig
Ärger oder Geldverlust gibt .
Das Umsetzungsgesetz ist da im Kern auf dem richtigen Weg. Vieles ist vorgegeben. Es sind auch schon viele
Aspekte genannt worden, auf die zu achten ist . Ich will
ein Beispiel nehmen, eine Flugbuchung im Internet: Sie
suchen Ihre Flugstrecke, vergleichen die Preise, wählen
das günstigste Angebot, klicken durch den Buchungsprozess und wollen mit der Kreditkarte bezahlen . Dann
gibt es plötzlich einen Aufschlag . Zum Flugpreis kommt
noch die Optional Payment Charge dazu . Es wird alles
etwas teurer und intransparent . Dann überlegen Sie, ob
Sie noch einmal von vorne anfangen. Vielleicht ist dann
aber das Angebot plötzlich weg, und der Preis ist nicht
mehr derselbe wie vorher . - Es stellt sich also die Frage: Was ist eigentlich das richtige Zahlungsmittel? Viele
Verbraucher gehen den einfachen Weg und bleiben auf
höheren Kosten als notwendig sitzen . Da für einen guten
Rahmen für Verbraucherinnen und Verbraucher zu sorgen, ist richtig und notwendig .
({0})
Das Problem beschränkt sich nicht auf Flugbuchungen,
sondern das gibt es bei jeder Art von Transaktion .
Das ist allerdings nur eine der Neuerungen, die wir
jetzt in deutsches Recht umsetzen sollen . Die Richtlinie beinhaltet einen Strauß von Neuerungen, die den
gemeinsamen Zahlungsverkehrsraum vorantreiben und
Zahlungen für den Verbraucher grenzüberschreitend einfacher und billiger machen . Derzeit betragen die Kosten
bei den Verbrauchern für Zahlungen in der Europäischen
Union immer noch knapp 130 Milliarden Euro . Da sind
also durch die Europäisierung für Verbraucherinnen und
Verbraucher richtig viele Vorteile herauszuholen.
Gleichzeitig schafft die Richtlinie für bestimmte Innovationen, die sich am Markt etabliert haben, einen Rechtsrahmen, sodass diese nicht länger in einem Graubereich
agieren müssen . Das ist wichtig; denn diese neuen Methoden - das ist schon genannt worden - verlangen uns
sensible Daten ab . Sogenannte Zahlungsauslösedienste - den meisten in Form der Sofortüberweisung bekannt - werden immer häufiger angeboten und genutzt.
Die Händler bekommen eine sofortige Zahlungsgarantie .
Der Kunde benötigt weder eine Kreditkarte noch einen
anderen Service, sondern nur ein ganz normales Bankkonto . Er muss noch nicht einmal die Homepage seiner
Bank besuchen, sondern kann alles über die Händlerseite abwickeln . Das alles ist sehr praktisch . Doch diesen
praktischen Möglichkeiten steht eben auch ein Missbrauchspotenzial und - das ist schon angedeutet worden - die Frage gegenüber: Was geschieht denn, wenn
etwas schiefgeht? Wer haftet dann? Ist es das Kreditinstitut, der Zahlungsauslösedient oder der Händler? Oder
bin ich als Verbraucher letztlich derjenige, an dem die
Kosten hängen bleiben? Deswegen ist es notwendig, dass
wir jetzt auch bei der Umsetzung in Bezug auf die Details
noch einmal darauf achten, dass es gerade nicht die Verbraucherin oder der Verbraucher ist - sie haben häufig
die geringste Kenntnis -, welche bzw . welcher nachher
die Lasten trägt .
Wir wollen uns dafür einsetzen, dass es bei allen Beteiligten in der Kette immer einen Anreiz gibt, sich für
die Lösung einzusetzen, bei der es am wenigsten Missbrauchspotenzial gibt . Das ist nicht ganz trivial; denn
heute ist es ja häufig so, dass es für die Anbieter gar keinen Anreiz gibt, das möglichst sicher zu machen, weil sie
selber so nachher keinen Schaden haben .
Das ist jetzt genau die Linie, die wir finden müssen:
Wir müssen für Innovationen offen sein, gleichzeitig den
bürokratischen Aufwand gering halten und das Missbrauchspotenzial eindämmen . Darauf werden wir jetzt
bei den Diskussionen über die Umsetzung achten .
Danke .
({1})
Vielen Dank, Gerhard Schick. - Nächster Redner ist
Matthias Hauer für die CDU/CSU-Fraktion .
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir beginnen heute mit den Beratungen zur deutschen Umsetzung der Zweiten Zahlungsdiensterichtlinie
der EU. Damit stärken wir die Rechte der Verbraucherinnen und Verbraucher. Wir passen den Rechtsrahmen an
den technologischen Fortschritt an . Wir fördern Innovation und sorgen für mehr Sicherheit im Zahlungsverkehr .
Dafür werden wir das Aufsichtsrecht und das Zivilrecht
ändern . Gerade die Regelungen bzw . Änderungen im
Bürgerlichen Gesetzbuch werden für Verbesserungen für
Verbraucherinnen und Verbraucher sorgen. Die Details
dazu haben gerade die Parlamentarischen Staatssekretäre
Herr Dr . Meister und Herr Lange ausgeführt .
Wir werden die parlamentarischen Beratungen aber
auch dazu nutzen, noch einmal auf die Auswirkungen des
Kleinanlegerschutzgesetzes aus dem Jahr 2015 zu sehen .
Und wir werden uns die Regelungen zur Finanzierung
durch Crowdfunding im Detail anschauen . Dazu gab es
eine Evaluierung durch die Bundesregierung . Auch die
Ergebnisse daraus werden wir in dieses Gesetz mit einfließen lassen.
„Geld ist geprägte Freiheit“ . Das sagte der russische
Schriftsteller Dostojewski bereits im 19 . Jahrhundert .
Das Zitat ist, zugegeben, etwas abgegriffen - wie vielleicht auch die eine oder andere Euro-Münze, die Sie
heute im Portemonnaie dabei haben . Es stimmt aber noch
heute . Dostojewski meinte keine Bitcoins und kein Giralgeld, er meinte Bargeld . Bargeld ist mehr als geprägte
Freiheit . Es ist auch gelebter Datenschutz . Jeder soll auch
weiterhin frei entscheiden können, ob er lieber bar oder
bargeldlos bezahlt . Die Freiheit des Bargeldverkehrs ist
uns sehr wichtig .
({0})
Gerade der Onlineeinkauf kommt am bargeldlosen
Zahlungsverkehr aber nicht vorbei . Egal ob am Computer, über Smartphone, per App oder auf anderem Wege:
Innovative Unternehmen haben für jede Menge technischen Fortschritt gesorgt . Es gibt viele neue Dienstleister,
die bisher in einem aufsichtsrechtlichen Graubereich tätig waren . Das ändern wir jetzt . Wir sorgen für eine Aufsicht durch die BaFin . Im Übrigen stärken wir mit dem
Gesetz auch den Verbraucherschutz und die Sicherheit
bei bargeldlosen Zahlungen .
Wer häufig online einkauft oder bucht, kennt den Begriff „Zahlungsmittelentgelt“. Gerade der sorgt für viel
Frust bei Kundinnen und Kunden sowie für Zusatzkosten . Herr Dr . Schick von den Grünen hat das gerade am
Beispiel einer Flugbuchung deutlich gemacht . Ich nehDr. Gerhard Schick
me einmal das Beispiel einer Bahnkartenbuchung . Wie
läuft sie ab? Man sucht sich eine Bahnverbindung heraus
und schaut, zu welcher Uhrzeit man fahren möchte . Man
durchforstet mehrere Ticketoptionen und sucht sich einen Sitzplatz in einem bestimmten Abteil aus . Man gibt
seine persönlichen Daten - den Namen und die Adresse - ein . Und ganz am Ende, nachdem man alles mühsam
eingegeben hat, stellt man fest: Wenn man mit einer Kreditkarte bezahlt, wird es teuer . Man wird bei Bahnfahrten
mit bis zu 3 Euro zur Kasse gebeten . Bei Flugbuchungen
können es - da ergänze ich den Kollegen Dr . Schick gerne - schnell 10 Euro, 20 Euro oder noch mehr werden .
Bei Hotelbuchungen oder im Onlinehandel ist das oft
ähnlich .
Wir machen damit nun Schluss . Bei Zahlungen per
Überweisung, per Lastschrift oder mit gängigen Kreditkarten wird es kein Zahlungsmittelentgelt mehr geben .
Das führt auch zu mehr Transparenz beim Preisvergleich .
({1})
- Herr Pitterle, Sie haben das richtig erkannt: Nur Bares ist Wahres . Das ist nur manchmal im Internet etwas
schwierig .
Mehr Verbraucherschutz schaffen wir aber auch für
alle Bankkunden . Die Rückbuchung von Lastschriften
wird verbraucherfreundlicher ausgestaltet . Gleiches gilt
auch für die Haftung bei nicht autorisierten Zahlungsvorgängen, zum Beispiel beim Kreditkartenmissbrauch .
Auch diese Neuregelungen kommen Verbraucherinnen
und Verbrauchern zugute. Wir werden die anstehenden
Beratungen dazu nutzen, die noch offenen Fragen zu klären . Wir werden uns intensiv austauschen mit Experten,
mit den betroffenen Verbänden, mit Verbraucherschützern . Dabei stehen für uns der sichere Zahlungsverkehr,
ein hohes Maß an Datenschutz und verbraucherfreundliche Lösungen im Vordergrund. Gleichzeitig wollen
wir aber auch Raum lassen für weitere Innovationen im
Bereich des Zahlungsverkehrs, für neue kundenorientierte Dienstleistungen und für zusätzliche Arbeitsplätze in
diesem Bereich in Deutschland .
Vielen Dank.
({2})
Vielen Dank, Matthias Hauer. - Der letzte Redner in
dieser Debatte: Dr . Jens Zimmermann für die SPD-Fraktion .
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Um die
Verwirrung, die mein Vorredner in die Debatte hineingebracht hat, aufzulösen:
({0})
Man hätte schon glauben können, wir reden über die Bargeldzahlungsrichtlinie . Das machen wir aber nicht, meine Damen und Herren, sondern wir reden heute über die
Umsetzung der Zweiten Zahlungsdiensterichtlinie der
EU . Dabei geht es eben nicht um Bargeld, sondern um
bargeldlose Überweisungen .
({1})
Ich glaube, das ist ein sehr wichtiger Schritt, den wir hier
machen . Das kann ich Ihnen als Digitalpolitiker einerseits
und Finanzpolitiker andererseits sagen . Wir haben gerade
in diesem Feld eine sehr dynamische Entwicklung . Das
Thema FinTech ist angesprochen worden, wobei man da
aufpassen muss: Nicht jedes Unternehmen, das irgendetwas mit Internet macht, ist auch gleich ein FinTech . Aber
das ist ein anderes Thema . Ich will auf zwei Punkte aus
dem Gesetzentwurf eingehen, die meiner Meinung nach
sehr wichtig sind .
Das Verbot von Aufschlägen, Surcharging genannt - es
muss ja heute alles einen britischen oder amerikanischen
Namen haben -, ist eben schon angesprochen worden .
Hier gibt es ganz klar eine Lücke im Verbraucherschutz,
wenn Menschen, die Buchungen vornehmen, egal ob sie
jetzt mit der Bahn oder mit dem Flugzeug reisen, darüber
getäuscht werden, was dieser Flug oder diese Bahnfahrt
eigentlich kostet . Damit machen wir jetzt Schluss . Jeder
weiß jetzt: Der Preis, der am Anfang steht, ist auch das,
was ich am Ende zahlen muss . Das ist, glaube ich, ein
ganz wichtiger Schritt für den Verbraucherschutz, den
wir an dieser Stelle machen .
({2})
Damit kommen wir zum zweiten Teil, dem gesamten
Bereich der sogenannten Zahlungsdienste, der Auslösedienste, der Informationsdienste. Im Bereich des Verbraucherschutzes gilt: Geben Sie niemandem Ihre PIN .
Und was machen viele Leute heute? Sie geben ihre PIN
im Internet auf der Seite eines Drittanbieters ein . Sie machen also genau das, wovor man sie immer gewarnt hat,
nämlich fahrlässig diese Geheimzahl herauszugeben . Das
Umsetzungsgesetz greift dieses Problem auf . Wir fangen
an, diesen Bereich neu zu regeln . Das heißt: Wenn sich
ein Anbieter zwischen den Kunden und die Bank setzt,
um Zahlungen, zum Beispiel in einem Onlineshop, abzuwickeln, dann muss dieser Anbieter auch reguliert werden, dann muss er die gleichen Sicherheitsanforderungen
erfüllen wie eine Bank . Auch das greifen wir in diesem
Umsetzungsgesetz auf, meine Damen und Herren .
Ich glaube, wir werden in den weiteren Beratungen
noch an der einen oder anderen Stelle wie immer ein
bisschen herumschrauben . Aber mein Eindruck bis jetzt
ist, dass wir da eine sehr gute Vorlage aus den beiden
Ministerien bekommen haben und dass wir weit vor dem
Januar 2018 zu einem Abschluss kommen .
Vielen Dank.
({3})
Vielen Dank, Dr. Zimmermann. - Ich schließe die
Aussprache, bedanke mich für eine wirklich spannende
Debatte - viel gelernt - und wünsche Ihnen gute weitere Verhandlungen im Ausschuss über diesen wichtigen
Entwurf .
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 18/11495 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . - Es gibt
keine anderweitigen Vorschläge dazu. Dann ist die Überweisung so beschlossen .
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
humanitäre Hilfe ({0}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Tom Koenigs, Claudia Roth
({1}), Uwe Kekeritz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Rechte indigener Völker stärken durch Ratifikation der ILO-Konvention 169
Drucksachen 18/4688, 18/11569
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen . - Ich höre keinen Widerspruch . Dann ist das so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort an
Frank Schwabe für die SPD-Fraktion .
({2})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Verehrte Damen und Herren! Was haben der Protest der
Sioux gegen eine Ölpipeline in Dakota in den USA, die
Proteste ecuadorianischer indigener Gemeinden gegen
chinesische Investitionen, und der Mord an Berta Caceres
aus Honduras, die als Angehörige der indigenen Volksgruppe der Lenca gegen ein Staudammprojekt gekämpft
hat, gemeinsam? Das sind drei Beispiele dafür, wie die
Rechte von mindestens 370 Millionen Indigenen weltweit gefährdet sind und wie sie missachtet werden . Damit das geändert wird, gibt es die ILO-Konvention 169 .
({0})
Damit es da gar keine Missverständnisse gibt: Die Sozialdemokratische Fraktion ist dafür, dass wir diese Konvention ratifizieren, weil es eigentlich - das werden wir
vielleicht in der Debatte hören -, inhaltlich jedenfalls,
keine Argumente dagegen gibt .
Reisen bildet . Der Deutsche Bundestag hat Ende des
Jahres 2015 eine Delegation nach Mexiko und nach Peru
entsandt . Der Kollege Tempel war zum Beispiel dabei .
Wir haben uns dort intensiv mit der ILO-Konvention 169
auseinandergesetzt . Ich empfehle all denjenigen, die vielleicht noch nicht überzeugt sind, mit den Stiftungen der
Parteien zu reden, zum Beispiel mit der Konrad-Adenauer-Stiftung . Diese hat uns sehr nachvollziehbar dargelegt,
wie sinnvoll diese ILO-Konvention 169 ist und dass es
sinnvoll ist, sie auch in Deutschland zu ratifizieren.
Wie schützen wir die Rechte von Indigenen? Wie
schützen wir die indigene Lebensweise? Wie schaffen
wir es, dass Nachteile, die indigene Völker durch Großinfrastrukturprojekte, durch den Abbau von Rohstoffen
haben, ausgeglichen werden? Wie bekommen wir es hin,
dass Konflikte um das von vielen Indigenen als heilige
Land empfundene Gebiet vernünftig gelöst werden können? Dafür bietet die ILO-Konvention 169 besondere
Aushandlungs- und Entscheidungsinstrumente, mit denen man schauen kann, wie man bei solchen Großprojekten, zum Beispiel bei Staudämmen oder Ölpipelines,
die Rechte Indigener sichert, wie man einen intelligenten
Aushandlungsprozess hinbekommt . Deswegen macht die
Ratifizierung jetzt Sinn.
Die ILO-Konvention 169 ist das einzige völkerrechtlich verbindliche Dokument, das die Rechte von
Indigenen anerkennt . Die UN-Sonderberichterstatterin
für die Rechte indigener Völker Victoria Tauli-Corpuz
drängt auf eine schnelle Umsetzung . Mittlerweile haben
22 Staaten weltweit die ILO-Konvention 169 ratifiziert,
davon drei Staaten der Europäischen Union - die Niederlande, Dänemark und Spanien -, auch Norwegen, ein
Nicht-EU-Land, aber ein europäisches Land . Auch Luxemburg ist auf dem Weg . Deswegen ist die Frage, warum Deutschland dies eigentlich nicht tun sollte, gerade
vor dem Hintergrund, dass die deutsche Bundesregierung
einen Nationalen Aktionsplan „Wirtschaft und Menschenrechte“ verabschiedet hat, in dem diese Konvention
genannt wird .
Was den Bundestag betrifft, haben wir uns mit dem
Thema oft beschäftigt . Es gibt einen Antrag von RotGrün, auf den sicherlich gleich noch einmal Bezug genommen wird, aus dem Jahre 2011 . Wer den Antrag der
Grünen liest, dem kommt vieles bekannt vor - aus dem
Antrag von 2011 .
Wir haben einen ähnlichen Antrag formuliert, haben
ihn dem Koalitionspartner schon zugeleitet . Es liegt am
Ende an Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen des Koalitionspartners, ob wir im Deutschen Bundestag noch
zu einer gemeinsamen Beschlussfassung kommen können . Der Bundesrat hat sich bereits klar positioniert und
hat uns bereits im Jahr 2015 aufgefordert, einen solchen
Ratifikationsprozess einzuleiten. Ich will aber auch sagen, dass wir Sozialdemokraten uns selbstverständlich
an den Koalitionsvertrag gebunden fühlen und am Ende
nur gemeinsam mit dem Koalitionspartner - und den
Oppositionsfraktionen - zu einer solchen Entscheidung
kommen können . Wir Sozialdemokraten - ich sage es
noch mal - sind aber entschieden der Meinung, dass wir
dem Wunsch des Bundesrates nachkommen und endlich - nach einem wirklich langen und zähen Prozess und
zähen Diskussionen hier im Deutschen Bundestag über
viele Jahre hinweg - diese Entscheidung treffen sollten.
Die Bundesländer haben in ihrer Entschließung deutlich gemacht, dass es indigene Völker im Sinne der
ILO-Konvention 169 in Deutschland gar nicht gibt . Das
stimmt zweifellos. Dennoch tragen wir besondere Verantwortung für die indigenen Gruppen weltweit - gerade
in den Ländern, in denen Menschen von Infrastrukturprojekten betroffen sind, die zum Beispiel von deutschen
Unternehmen auf den Weg gebracht werden . So etwas
haben wir zum Beispiel in Peru; da geht es um Kupferabbau und anderes . Insofern tragen wir eine besondere
Verantwortung.
Wir könnten also ein deutliches Zeichen setzen, ein
Zeichen der Solidarität mit den indigenen Völkern in der
Welt . Die Niederlande haben es gemacht, andere Länder
haben es gemacht . Warum sollten wir das nicht können?
Wir könnten ein Beispiel geben und unsere Glaubwürdigkeit untermauern . Gerade wenn Gruppen aus den entsprechenden Ländern zu uns kommen oder wir in diese
Länder fahren, um dort für Menschenrechte zu werben,
täte es unserer Glaubwürdigkeit und unserem Engagement gut, wenn wir sagen könnten: Ja, in Deutschland
haben wir diese ILO-Konvention ratifiziert.
Vielen Dank.
({1})
Vielen Dank, Frank Schwabe. - Nächste Rednerin:
Annette Groth für die Linke .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Frank, dann drücke ich
doch die Daumen, dass ihr euren Koalitionspartner noch
überzeugen könnt, diese wichtige Konvention zu ratifizieren .
({0})
Das wäre wirklich ein toller Akt .
({1})
Ich finde, es ist schon sehr schändlich, dass sich die
Bundesregierung bislang immer geweigert hat, diese so
wichtige Konvention zu ratifizieren. Denn es geht, wie
schon gesagt, um den unglaublich wichtigen Schutz für
indigene Völker. Viele wissen es ja nicht - du hast es
gesagt -: 370 Millionen Menschen in 90 Staaten gehören
indigenen Völkern an. In ihren Lebensräumen befinden
sich mehr als 60 Prozent der weltweit begehrtesten Rohstoffe. Deshalb muss davon ausgegangen werden, dass
die Weigerung der Bundesregierung dazu dient, wirtschaftliche Interessen der international agierenden Rohstoffkonzerne vor die Interessen der indigenen Völker zu
stellen . Das ILO-Abkommen beinhaltet auch UN-Mindeststandards für die Konsultation indigener Völker,
wenn Projekte auf ihrem Land umgesetzt werden sollen .
Die Begründung der Bundesregierung für die Nichtratifizierung ist, gelinde gesagt, relativ lächerlich; denn
als Grund wird angegeben, dass es auf dem deutschen
Staatsgebiet keine indigenen Völker gebe und dass
Deutschland daher von dem Abkommen nicht betroffen
sei. Darum geht es aber nicht. Die Ratifizierung durch
Deutschland würde dem Abkommen international mehr
Gewicht verleihen, und die Regierung würde sich gleichzeitig verpflichten, in ihren Außenwirtschaftsbeziehungen die ILO-Konvention zu beachten . Wie gesagt: Dies
würde aber die Rohstoffinteressen deutscher Konzerne
berühren . Das scheint der eigentliche Hintergrund der
Weigerung zu sein .
Ich möchte hier zwei Beispiele nennen:
Beispiel Amazonas . Durch den exzessiven Anbau von
Soja, Mais und Zuckerrohr schrumpft der Amazonas-Regenwald immer schneller . Damit wird immer mehr Lebensraum von indigenen Völkern zerstört. Es entstehen
riesige Monokulturen, deren Erträge dann als Futtermittel für die Massentierhaltung in den Staaten der EU oder
für Biodiesel eingesetzt werden . Allein für die Massentierhaltung in Deutschland werden mehr als 10 Millionen Hektar Land außerhalb Deutschlands benötigt, um
darauf die Futtermittel für die Turboschweine und die
Hochleistungskühe zu produzieren . Würde Deutschland
die ILO-Konvention ratifizieren, müssten diese Landzerstörung und der Landraub zumindest überprüft werden,
wenn wir ihn schon nicht stoppen können .
Beispiel Palmölanbau . Etwa 85 Prozent der weltweiten Palmölerträge kommen aus Indonesien und Malaysia .
Von dem exzessiven Anbau von Palmöl sind Millionen
Indigene betroffen. Für die Produktion des Palmöls werden riesige Urwaldflächen vernichtet und systematisch
Menschen vertrieben . In Indonesien allein werden dabei
die Menschenrechte von mehr als 45 Millionen Angehörigen indigener Völker verletzt. Das ist ein echter Skandal .
({2})
Die ILO-Konvention sorgt für die Einhaltung der
Menschenrechte, insbesondere des Rechts auf kulturelle
Selbstbestimmung indigener Völker. Die Bundesregierung sollte nicht nur diese Konvention dem Parlament
zur Ratifizierung vorlegen, sondern sie müsste auch
das deutsche Recht weiterentwickeln. Indigene Völker
sollten ein verbrieftes Recht erhalten, in Deutschland
gegen Investitionsentscheidungen vorgehen zu können,
und hier Rechtsschutz erhalten, wenn sie den Klageweg
beschreiten; das fordern Menschenrechtsorganisationen
schon seit vielen Jahren . Damit könnte Deutschland ein
positives Signal für eine gerechtere Weltwirtschaft setzen, und die brauchen wir dringend .
Danke für Ihre Aufmerksamkeit .
({3})
Vielen Dank, Frau Kollegin Groth. - Nächste Rednerin: Sylvia Pantel für die CDU/CSU-Fraktion .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Heute beschäftigen wir uns im Bundestag zum wiederholten
Male - wie Sie das eben auch gesagt haben - mit dem
Thema der Ratifizierung der Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation zu indigenen Völkern.
Als indigene Völker bezeichnet man die Nachfahren der Erstsiedler einer Region . Wir haben eben schon
mehrfach gehört, dass es ungefähr 370 Millionen Indigene gibt, die in etwa 90 Staaten leben . Sie machen knapp
5 Prozent der Weltbevölkerung aus . Das ist schon eine
beachtliche Zahl .
({0})
Von den 7 000 Sprachen, die weltweit existieren, werden mehr als 4 000 Sprachen von indigenen Völkern gesprochen . Die internationale Gemeinschaft hat sich den
Schutz der Rechte indigener Volksgruppen, ihrer Kultur
und ihres Lebensraums zur Aufgabe gemacht, um der
Gefahr von Diskriminierung und Ausgrenzung entgegenzuarbeiten .
Die Internationale Arbeitsorganisation hat bereits
1989 ein Übereinkommen zum Schutz indigener Völker
verabschiedet. Eine mögliche Ratifizierung dieses Übereinkommens, der Konvention 169, wurde seitdem mehrfach geprüft . Bisher haben nur 22 der 187 Mitgliedstaaten der ILO dieses Übereinkommen ratifiziert.
({1})
Bei den Unterzeichnern handelt es sich hauptsächlich um
lateinamerikanische Länder mit einem hohen indigenen
Bevölkerungsanteil . Das ist nur konsequent;
({2})
denn die ILO-Konvention 169 richtet sich eben an Staaten, auf deren Gebieten indigene Bevölkerungsgruppen
leben. Das trifft auf Deutschland - wir haben es eben
schon festgestellt - nicht zu . Das ist einer der Gründe,
warum die Bundesregierung bisher davon Abstand genommen hat, das Übereinkommen zu ratifizieren; aber
eben nur einer der Gründe . Bisher haben auch nur vier
europäische Staaten - auch das wurde erwähnt - diese
Konvention aus Solidaritätsgründen ratifiziert.
({3})
- Liebe Kollegen, Sie kennen doch die Realität . Sie wissen doch, dass selbst die Länder, die ratifiziert haben, die
Rechte der indigenen Völker praktisch kaum beachten.
({4})
- Es ist keine Erklärung, wie Sie sagen - mag ja sein -,
aber es ist ein Beleg dafür, dass die Ratifizierung schlechthin keine Hilfe sein muss .
Wir setzen uns anders für die Rechte der indigenen
Völker ein. Wir halten es nicht für nötig, die Konvention zu unterzeichnen . Bereits im September 2007 hat
die Bundesregierung bei der Generalversammlung der
Vereinten Nationen mit eindeutiger Mehrheit zusammen
mit 143 von 158 Staaten für die Rechte indigener Völker
gestimmt .
Frau Kollegin, erlauben Sie eine Frage oder Bemerkung von Herrn Ströbele?
Ja .
Herr Ströbele, bitte .
Danke, Frau Präsidentin . - Danke, Frau Kollegin, dass
Sie die Frage zulassen . - Sie wissen vielleicht, dass in
diesen Staaten Lateinamerikas sehr häufig die Rechte
indigener Völker in der jeweiligen Verfassung verankert
sind, es leider trotzdem mit der Wahrung dieser Rechte
häufig nicht weit her ist - häufig, nicht immer natürlich.
In diesem Zusammenhang meine Frage: Wir diskutieren
heute nicht zum ersten Mal im Deutschen Bundestag über
dieses Thema, sondern schon zum x-ten Mal . In Deutschland steht immer ein Diskussionspunkt im Raum - das
war schon zur Zeit von Rot-Grün so -: Wir erkennen das
nicht an, weil wir die Sorben im Land haben . - Ist Ihnen das bekannt? Teilen Sie die Sorge, dass die Sorben in
Deutschland zu viele Rechte bekommen könnten, insbesondere was die von ihnen besiedelten Gebiete betrifft?
Nein, diese Sorge teile ich nicht . Wenn Sie meinen
Ausführungen bis zum Schluss lauschen, werden Sie
eine Antwort auf diese Frage bekommen . Ich möchte
meine Rede nicht zerrupfen . Ich werde diesen Aspekt
aber behandeln . Wenn Sie danach noch Fragen haben,
können Sie diese dann gerne stellen .
({0})
Schauen wir mal .
({0})
Ich glaube, Fragen lassen Sie immer zu, oder?
Verbindliche Standards zielen darauf ab, die Rechte
indigener Bevölkerungsgruppen zu sichern . Artikel 46
dieser Erklärung zählt die Schutzrechte der Indigenen
ausführlich auf . Die große Zahl an Unterzeichnern, zu
denen eben auch die Bundesregierung gehört, unterstreicht die besondere Wahrnehmung indigener Völker
seitens der internationalen Gemeinschaft und die Wichtigkeit, die ihnen beigemessen wird .
Die Bundesregierung setzt sich bei den Vereinten Nationen und in ihrer Zusammenarbeit mit anderen Regierungen permanent für die Verbesserung der Lage indigener Bevölkerungsgruppen ein . Unser Schwerpunkt liegt
auf der Wahrung ihrer Rechte zur Kontrolle über ihre
Einrichtungen, ihre Lebensweise, ihre wirtschaftliche
Entwicklung, ihre Identität, Sprache und Religion . Wir
unterstützen die zügige Umsetzung von Verfassungsvorschriften in den betroffenen Ländern sowie die Einbindung in die politischen Prozesse .
Die deutsche Entwicklungspolitik ist entlang menschenrechtlicher Standards so ausgerichtet, dass die
Stärkung und Unterstützung indigener Völker immer im
Blickfeld ist . So fördert das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung mit über
28 Millionen Euro Projekte, die die Rechte indigener
Völker stärken. Die Gesamtsumme der verschiedenen
Förderprojekte liegt weitaus höher . Für den Erhalt und
Ausbau interkultureller Universitäten Indigener werden
über 6 Millionen Euro und für die Stärkung indigener
Organisationen in Lateinamerika über 14 Millionen Euro
investiert. Außerdem stärken wir indigene Völker in
Honduras mit 30 000 Euro . Das heißt, es laufen verschiedene Projekte . Die Zahlen kann man nicht im Einzelnen
ausweisen; aber die Bundesregierung macht da eine ganze Menge .
Unsere Politik orientiert sich auch an den Leitlinien
der Vereinten Nationen von 2011 zu Menschenrechten
und Wirtschaft . Die OECD-Leitlinie für verantwortungsvolle Landpolitik ist ebenfalls Grundlage unserer
Entwicklungspolitik . Die Liste ist lang . Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung hat 2011 die Achtung der Menschenrechte indigener Völker mit dem Konzept „Menschenrechte in der
deutschen Entwicklungspolitik“ ausdrücklich verankert .
Zusätzlich unterstützt die Bundesregierung die Überarbeitung der Schutzstandards der Weltbank, um so einen
besseren Schutz indigener Bevölkerungsgruppen zu erreichen .
2014 fand im Rahmen der UN-Generalversammlung
zum ersten Mal eine Weltkonferenz indigener Völker
statt. UN-Mitgliedstaaten und Vertreter indigener Völker
nutzten diese Möglichkeit, um auf die Situation indigener
Völker aufmerksam zu machen. Die Entwicklungspolitik in unserem Land unterstützt das Ziel der Konferenz,
eindeutige Schritte für die Verwirklichung der Rechte
indigener Völker einzuleiten. Eine wichtige Voraussetzung für die Verwirklichung dieser Rechte ist die aktive
Mitarbeit der indigenen Völker.
All diese erwähnten Projekte der internationalen Gemeinschaft enthalten Rechte, die in wesentlichen Punkten über die ILO-Konvention 169 hinausgehen . Die Grünen - das sagten Sie eben - fordern in ihrem Antrag die
Bundesregierung auf, diese Konvention zu ratifizieren,
obwohl sie wissen müssten, dass die Ratifizierung kaum
etwas an der Situation der Indigenen vor Ort geändert
hat .
Bislang wurde diese Konvention von 22 der
187 ILO-Mitgliedstaaten ratifiziert. Allein diese Zahl
zeigt, wie wenig davon erwartet wird . Ein Blick auf die
Unterzeichnerliste lässt schnell erkennen, dass fast ausschließlich lateinamerikanische Länder die Resolution
ratifiziert haben. Dies ist auch verständlich: Diese Konvention richtet sich nämlich in erster Linie an diejenigen
Länder, in denen indigene Völker leben. Es leben natürlich auch indigene Völker in Ländern, die diese Konvention nicht ratifiziert haben. In Deutschland - das haben
wir eben und auch schon mehrfach gesagt - leben eben
keine .
({0})
Eine Ratifizierung durch die Bundesregierung wäre
nur eine symbolische Geste und würde an der Situation
indigener Bevölkerungsgruppen nur wenig ändern . Unserer Regierung geht es aber in erster Linie eben nicht um
symbolische Gesten, sondern um konkrete Taten . Deshalb befürworten wir es nach wie vor, wenn die Länder
mit indigenen Bevölkerungsgruppen diese Konvention
ratifizieren - und eben nicht Deutschland.
Die Berücksichtigung der Interessen indigener Völker ist seit Jahren nicht nur fester Bestandteil deutscher
Entwicklungspolitik, sondern eben auch der Außen- und
Wirtschaftspolitik . Um sich für die Rechte indigener
Völker einzusetzen, bedarf es nicht der Ratifizierung.
({1})
In Deutschland leben Minderheiten, die die deutsche
Staatsangehörigkeit besitzen, wie zum Beispiel die Friesen und Dänen im Norden und die Sorben im Osten sowie die Sinti und Roma im restlichen Gebiet der Bundesrepublik .
({2})
- Manchmal sind die Fähigkeiten der Schwaben gar nicht
schlecht . Denn man muss ja gucken, dass man das Geld
zusammenhält, damit man es für das Richtige ausgibt .
({3})
An dieser Stelle möchte ich auf unseren Ansatz der
integrativen Minderheitenpolitik hinweisen . Er steht im
Gegensatz zu dem segregativen Ansatz der Konvention .
Auch aus diesem Grund halten wir die Ratifizierung weder für notwendig noch für sinnvoll .
Sie führen das Argument an, Deutschland solle wie
beispielsweise die Niederlande die Konvention aus solidarischen Gründen ratifizieren. Diese Möglichkeit hätten
Sie - lieber Herr Ströbele, Sie hatten es angedeutet - bereits 1999 bis 2005 gehabt . Auch Sie hatten damals keine
Solidarratifikation vorgenommen.
({4})
Wir sind der Ansicht, dass sich die Situation der indigenen Völker durch die Ratifizierung dieser Konvention
nicht verbessern würde. Wir erwarten eine Ratifizierung
von denjenigen Ländern, in denen indigene Völker angesiedelt sind. Außerdem ist nicht die Ratifizierung,
sondern sind die Achtung und die Einhaltung der Rechte
der indigenen Völker wichtig. Da die Ratifizierung der
ILO-Konvention 169 durch Deutschland keine direkte
Verbesserung bewirken würde, unterstützen wir die Vorgehensweise der Bundesregierung .
Die Einhaltung der Rechte dieser Bevölkerungsgruppe ist erstrebenswert . Selbstverständlich unterstützen wir
die Rechte der Minderheiten, und das zeigen wir in unserer umfangreichen Entwicklungshilfe und in Taten .
({5})
Seit Jahrzehnten setzen wir uns in Deutschland erfolgreich für die Integration von Minderheiten ein . Wir setzen auf Integration und nicht auf Segregation . Deshalb ist
der segregative Ansatz der ILO-Konvention aus unserer
Sicht nicht erstrebenswert, und wir lehnen eine Ratifizierung ab .
({6})
Herzlichen Dank .
({7})
Vielen Dank, Frau Kollegin Pantel. - Letzter Redner
in dieser Debatte: Tom Koenigs für Bündnis 90/Die Grünen .
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Frau Pantel, mit dem segregativen Ansatz - das
ist ein Schmarren . Das ist auch diskutiert worden, und
das ist ein absoluter Unsinn .
({0})
Niemand geht davon aus . Sie sagen ja selbst, dass wir
affirmative, positive Programme mit den indigenen Minderheiten machen, und da machen wir eine ganze Menge .
Das freut mich, und das unterstützen wir auch, wenn es
von der Bundesregierung gemacht wird . Die ILO-Konvention gibt aber Rechte, und das ist etwas ganz anderes .
({1})
Wenn man ein romantisches patriarchalisches oder
matriarchalisches Verhältnis zu den Indigenen hat nicht? 94 grüne Bände von Karl May, Lex Barker und so
etwas -, dann sagt man: Es reicht ja, dass wir so gnädig
sind und dass wir so viele Programme haben . Hier geht
es aber um Rechte der indigenen Völker. Diese Rechte
verlangen diese Völker seit der Kolonialisierung, und
zwar sowohl der militärischen, der Conquista, als auch
der wirtschaftlichen. Diese Völker sind nach wie vor in
hohem Maße diskriminiert .
Dieses Hohe Haus hat ja schon einmal beschlossen,
die Bundesregierung zur Ratifizierung aufzufordern. Das
war 2002 . In den verschiedenen Wahlperioden mussten
dann die unglückseligen Rednerinnen und Redner der
SPD immer begründen, warum sie das entweder bei
ihren Wirtschaftsministern und Finanzministern - alles SPD-Genossen - oder beim Koalitionspartner nicht
durchsetzen konnten . Die Beschreibung, die du gibst,
Frank, ist ja völlig richtig; aber es fehlt doch irgendetwas .
Karin Roth, Esslingen, fand dazu 2011 bewegende Worte . Dies sei politisch folgerichtig und wichtig . Bis heute
betonen Bischöfe gegenüber der Katholischen Nachrichten-Agentur, zum Beispiel der brasilianische Kardinal
Claudio Hummes heute, dass die Einhaltung der Menschenrechte der indigenen Völker in den Amazonas-Gebieten notwendig ist und dass sie notleidend sind .
({2})
Es gibt aber nicht nur diese Fürsprecher . Ich denke an
den Bundesrat . Manche Ihrer Rednerinnen und Redner
haben sich ja bei anderer Gelegenheit darüber beklagt,
dass die Genossen oder Regierungen in den Ländern
nicht dabei sind . Jetzt sind sie dabei . Jetzt lässt sich also
die Gelegenheit nutzen .
Es gibt auch eine Bürgervereinigung bzw. eine Vereinigung von Personen, die den ökologischen Wert, die
ökologische Bedeutung der indigenen Völker für uns betonen . Das ist das Klima-Bündnis . Dieses Bündnis verbindet 1 716 europäische Gemeinden mit einer Bevölkerung von 54 Millionen im Sinne des Klimaschutzes . Die
Indigenen sind die besten Klimaschützer, die wir haben .
Deshalb lohnt es sich, diese nicht nur aus Solidarität zu
unterstützen, sondern auch, weil unsere Unternehmen
in den indigenen Gebieten dieser Länder arbeiten, zum
Beispiel in Cesar in Kolumbien, wo wir garzweilerartig
Kohleabbau durch Abnahme fördern . Es gibt Unternehmensverpflichtungen, die dann einzulösen wären. Es gibt
Rechte, die auch gegenüber uns wirken könnten . Dieses
ökologische Element, dass es keine besseren Verteidiger
gegen die Abholzung des Regenwaldes als die indigenen
Völker gibt, muss man doch sehen; Sie sehen es leider
nicht . In diese Richtung geht die Konvention .
({3})
Ich finde, nachdem wir so oft darüber diskutiert haben
und dieses Thema so viele Sonntags-, Montags-, Dienstags-, Mittwochs- und Donnerstagsreden gefüllt hat, sollte man zumindest das ökologische Argument dann doch
mal ernst nehmen . Der SPD kann man sagen: Als ihr die
Minister gestellt habt, habt ihr es nicht durchbekommen,
obwohl ihr mit uns in einer Koalition wart . Als ihr in der
Opposition wart, habt ihr mit uns Anträge gestellt . Auch
in der jetzigen Koalition bekommt ihr es nicht durch .
Ich möchte daran erinnern, dass etwas fehlt . Gestern
haben wir alle in diesem Hohen Hause den großen Reden
der Präsidenten gelauscht . Das war toll . In allen Reden
hat eines vollkommen gefehlt, obwohl der Entwurf für
die Entwicklung der Welt sehr umfassend war: die Umwelt .
({4})
Diese brauchen wir aber für unsere Zukunft . Deshalb
brauchen Sie die Grünen .
({5})
Auch die SPD braucht die Grünen .
({6})
Vielen Dank, Tom Koenigs. - Ich schließe die Aussprache .
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe zum Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Rechte indigener Völker stärken durch Ratifikation
der ILO-Konvention 169“. Der Ausschuss empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/11569,
den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 18/4688 abzulehnen . Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen gibt es nicht . Die Beschlussempfehlung ist damit
angenommen .
Dann rufe ich den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Verarbeitung von Fluggastdaten zur Umsetzung der Richtlinie ({0}) 2016/681 ({1})
Drucksache 18/11501
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({2})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss Digitale Agenda
Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen . - Ich höre dazu
keinen Widerspruch . Dann ist das so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem
Parlamentarischen Staatssekretär Dr . Günter Krings .
({3})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen! Es hat lange gedauert
und großen Einsatzes gerade des deutschen Innenministers, von Thomas de Maizière, bedurft, aber schließlich
hat die Europäische Union doch geliefert . Im Mai letzten
Jahres ist die europäische Richtlinie über die Verwendung von Fluggastdaten endlich in Kraft getreten . Am
Ende hat auch eine Mehrheit des Europäischen Parlaments eingesehen, dass wir die Fluggastdaten aus dem
grenzüberschreitenden Luftverkehr dringend brauchen,
um Terrorismus und schwere Kriminalität besser, wirksamer bekämpfen zu können .
({0})
Gestern wurde uns mit dem bestialischen Anschlag
vor dem britischen Parlament erneut in Erinnerung gerufen, wie notwendig wirksame Waffen - ich verwende
bewusst den Plural; denn nicht ein Instrument ist für alle
Probleme geeignet - im Antiterrorkampf sind und dass
wir unser Instrumentarium immer entsprechend anpassen
müssen, wenn wir Lücken entdecken .
In der vergangenen Woche haben wir in Paris zum
wiederholten Male gesehen, dass der Flugverkehr und
die Flughäfen selbst nach wie vor besonders attraktive
Ziele für Terroranschläge abgeben. Vor allem aber nutzen international vernetzte Terrorgruppen und natürlich
auch die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität den internationalen Flugverkehr, um ihre dunklen
Netzwerke aufzubauen und ihre Anschläge zu planen .
Es ist unerlässlich, dass wir die Reisewege von Terrorgefährdern und Kriminellen nachvollziehen können, um
diese gefährlichen Netzwerke aufspüren und möglichst
zerschlagen zu können . Deshalb ist es gut, dass wir diese Richtlinie haben . Aber natürlich wirkt sie nur, wenn
Deutschland als größter EU-Mitgliedstaat sie nun auch
zügig in nationales Recht umsetzt und sie damit überhaupt erst wirksam macht .
Den Sicherheitsbehörden wird ein neues Instrument
an die Hand gegeben, das den bereits bestehenden europaweiten Austausch von Erkenntnissen zu verdächtigen Personen sinnvoll ergänzt . Dieses neue Instrument
ermöglicht den Behörden unter anderem, bereits bekannte Personen durch einen Abgleich von Fluggastdaten
mit Fahndungsbeständen zu identifizieren, bevor diese
Personen die Bundesrepublik Deutschland mit einem
Flugzeug verlassen oder hier landen . Erforderliche Maßnahmen können so durch die zuständigen Sicherheitsbehörden rechtzeitig vorbereitet werden .
Durch die Auswertung von Fluggastdaten wird es zudem möglich sein, Beweismaterial zusammenzutragen
und mögliche Komplizen von Straftätern aufzuspüren .
So kann zum Beispiel im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens gegen eine terrorverdächtige Person durch einen
Abgleich von Fluggastdaten mit ihren Personalien nachvollzogen werden, ob und wann sie sich in Kriegsgebiete begeben hat, etwa zur Ausbildung oder um dort an
Kampfhandlungen teilzunehmen . Zugleich kann nachvollzogen werden, ob andere Personen zur gleichen Zeit
die gleichen - möglicherweise sehr ungewöhnlichen Reiserouten gewählt haben .
Meine Damen und Herren, diese Richtlinie beweist
zugleich - das ist mir besonders wichtig -, dass sich ein
großer Gewinn an Sicherheit durchaus mit einem hohen
Datenschutzniveau verknüpfen lässt . In diesem Geiste
erfolgt nun auch die Umsetzung in das deutsche Recht .
Der Datenschutzbeauftragte des Bundeskriminalamts
und die Bundesdatenschutzbeauftragte werden bei der
Verarbeitung der Fluggastdaten eine zentrale Rolle spielen . Darüber hinaus enthält der Entwurf verschiedene
Verfahrensregeln zum Schutz personenbezogener Daten.
Ich will als Beispiel nur die Depersonalisierung von Daten nach einer gewissen Frist, aber auch die vollständige
Protokollierung und Dokumentierung der Verarbeitung
von Fluggastdaten nennen, durch die das behördliche
Handeln nachvollzogen werden kann .
Meine Damen und Herren, mit dem Entwurf des Fluggastdatengesetzes werden wir ein wichtiges neues In strument zur Bekämpfung von Terrorismus und schwerer
Kriminalität schaffen.
Europa ist in Sicherheitsfragen inzwischen ein wichtiger und starker Akteur geworden . Das begrüße ich ausdrücklich; denn sowohl für den Schutz vor Terror und
organisierter Kriminalität als auch für den Datenschutz
brauchen wir eine europaweite vertrauensvolle Zusammenarbeit . Für uns ist es wichtig, dass wir die Sicherheitsstandards, die die Europäische Union damit setzt,
zügig in nationales Recht umsetzen; denn in Europa darf
es keine Zonen unterschiedlicher Sicherheit geben .
({1})
Das ist übrigens auch der Grund - das darf ich noch ergänzen -, warum wir den Beschlüssen des Europäischen
Rates bewusst folgen und diese Fluggastdaten nicht nur
bei transkontinentalen Flügen, sondern auch bei Flügen
innerhalb Europas verarbeiten .
Ich bitte um eine ebenso intensive wie zügige Beratung und Verabschiedung dieses wichtigen Gesetzentwurfes .
Vielen herzlichen Dank.
({2})
Vielen Dank, Dr. Krings. - Nächster Redner: Jan
Korte für die Linke .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Kollege Krings, genau das, was Sie gerade vorgetragen
haben, bringt nach unserer Auffassung eben nicht mehr
Sicherheit, sondern ist eine Simulation von Sicherheit .
({0})
Die schrecklichen Anschläge haben gezeigt - das ist eines der Hauptprobleme -, dass ein Großteil der Täter dort
aufgewachsen ist, oftmals in kleinkriminellen Milieus;
auch in London war es, wie wir heute erfahren mussten,
ein britischer Staatsbürger . Das, was Sie hier vorschlagen, ist doch eine Simulation von Sicherheit . Was wir
brauchen, sind gut abgestimmte Deradikalisierungsprogramme und Präventionsmaßnahmen auf europäischer
Ebene . Das wäre der richtige Weg .
({1})
Das Problem ist, dass es hier wieder einmal um eine
Vorratsdatenspeicherung geht, also um eine anlasslose
und lückenlose Datenspeicherung von Fluggastdaten .
Auch wenn Sie unsere grundsätzlichen Bedenken dazu
nicht teilen, will ich zumindest einen Verfahrensvorschlag machen . Im Jahre 2016 gab es bekanntermaßen
ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs zur Vorratsdatenspeicherung mit Blick auf die Kommunikationsdaten .
Das Urteil - kurz zusammengefasst - war mehr als deutlich: Diese Speicherung war nicht mit der europäischen
Grundrechtecharta vereinbar . Wir haben zur Umsetzung
der Richtlinie bis 2018 Zeit . Warum können wir denn
nicht seriöserweise abwarten, wie das EuGH zu dem
PNR-Abkommen zwischen der EU und Kanada urteilen
wird? Es wäre doch das Mindeste, das abzuwarten, um
auf der sicheren Seite zu sein . Ich kann das nicht verstehen . Das ist unseriöse Politik .
({2})
Zur Grundproblematik des Gesetzentwurfs, den Sie
hier heute vorgelegt haben, will ich den Deutschen Richterbund zitieren. Er sagt, wie ich finde, prägnant zusammengefasst:
Bei den gesammelten Daten handelt es sich um sensible und umfassende persönliche, finanzielle als
auch soziale Informationen der Fluggäste, so dass
ein ganz erheblicher Eingriff in die grundrechtlich
geschützten Interessen der Betroffenen hinsichtlich
ihrer informationellen Selbstbestimmung stattfindet .
So sieht es aus . Deswegen lehnen wir das, was heute vorgelegt wird, ab .
({3})
Wir müssen das Ganze doch einmal ganz praktisch
weiterdenken . Angesichts der Gefahr des internationalen
Terrorismus muss es doch der Grundsatz sein, nicht alle
Mittel, die möglich sind, auch voll auszuschöpfen . Der
Zweck heiligt doch nicht die Mittel . Wir müssen darüber nachdenken, was passiert ist und was noch passieren
kann und müssen uns dabei ganz praktische Fragen stellen . Was ist denn, wenn Terroristen und Gefährder, die etwas planen, gar keine Flugzeuge mehr benutzen, weil sie
mitbekommen haben, dass diese am meisten überwacht
werden?
({4})
Sie fahren dann mit dem Auto über die Grenze, Kollege Binninger . Was ist in dieser Logik das Nächstbeste?
Wird dann in jedes Auto ein Chip installiert, um zu kontrollieren, wann die Bürger der Europäischen Union nach
Frankreich oder sonst wohin fahren? Das kann doch nicht
die Logik in einer demokratisch verfassten Europäischen
Union sein .
({5})
Was ich nun wirklich für ein sicherheitsrelevantes
Problem halte - dazu kommt von Ihnen überhaupt gar
nichts -, ist die Situation an deutschen Flughäfen . Ich erinnere nur an die ungenügenden Fluggepäckkontrollen .
Bei Tests im Rahmen der Europäischen Union konnte
man ganze Handgranaten in die Flugzeuge mitnehmen .
Ich frage mich: Was machen Sie da? Wir haben ein wirklich großes Problem, nämlich die Privatisierung von Sicherheitsdienstleistungen . Früher wurde diese Arbeit von
top ausgebildeten Bundespolizisten gemacht; nun ist dies
an private Sicherheitsdienstleister ausgegliedert worden .
Das müssen wir rückgängig machen . Das ist sicherheitsrelevant, liebe Kolleginnen und Kollegen .
({6})
Ich finde, das, was Europa so verteidigenswert macht,
die Freizügigkeit, die Möglichkeit, einen Raum zu haben, der im Großen und Ganzen frei von Überwachung
ist, sollten wir in Zeiten der Bedrohung durch den Terrorismus nicht leichtfertig aufgeben . Deswegen glaube ich,
dass das, was Sie machen, der völlig falsche Weg ist und
ein falsches Zeichen für ein freies Europa .
Danke .
({7})
Vielen Dank, Jan Korte. - Nächster Redner: Wolfgang
Gunkel für die SPD-Fraktion .
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte zunächst den
Hinterbliebenen der Opfer des Londoner Anschlags mein
Beileid ausdrücken . Es war erschütternd, zu sehen, wie
schnell uns das Thema wieder einholt, was das Erleben
und Bekämpfen von Terrorismus angeht .
Insofern ist es natürlich schwer, am vorliegenden Gesetzentwurf etwas zu kritisieren . Ich will aber trotzdem
einige Schwachstellen aufzeigen . Herr Krings, Sie haben
den großen Rahmen vorgegeben und erläutert . Der Kollege Korte hat darauf hingewiesen, dass es auch entscheidend sein kann, hier etwas zurückzustecken .
2004 wurde ein Gesetz beschlossen, nach dem wir
mit API-Daten, die von der Bundespolizei erhoben werden, ausgestattet werden . Dieses Personalienpaket reicht
nach unserer Auffassung vollkommen aus als Grundlage
zur Bekämpfung des Terrorismus . Die Erweiterung der
Regelungen ist nach meiner Ansicht sehr großzügig ausgefallen . Beispielsweise verstehe ich nicht, warum man
zur Bekämpfung des Terrorismus den Namen der Sachbearbeiterin im Reisebüro benötigt . Aber das ist nur ein
Punkt . An und für sich geht es nicht darum, die Speicherfristen anzugreifen oder Ähnliches . Es ist sicher richtig,
dass man vor Abflug wissen muss, wer im Flugzeug sitzt
und wer unter Umständen als Gefährder angesehen werden kann . Insgesamt hätten wir es gut gefunden, wenn
das Ganze etwas weniger komfortabel ausgefallen wäre .
An der Umsetzung dieser Richtlinie werden wir aber
nicht vorbeikommen . Insofern will ich das an dieser Stelle so stehen lassen .
Des Weiteren ist interessant, wie man die Verknüpfung zu den anderen Daten herstellen will . Ich weise hier
insbesondere auf das Schengener Informationssystem II
hin . Man kann feststellen, dass vier europäische Staaten überhaupt nicht involviert sind, nämlich Rumänien,
Bulgarien, Kroatien und Zypern . Das heißt, schon da
entstehen erhebliche Sicherheitslücken . Zudem werden
die Schengener Informationssysteme mithilfe biometrischer Daten aufgerüstet . Ich frage mich, wie das in der
PNR-Gesetzgebung Berücksichtigung findet und wie die
Daten abgerufen werden sollen . Diese sich abzeichnenden Sicherheitslücken könnten doch von Bedeutung sein .
Darüber hinaus ist zu beachten, dass die Bundespolizei, die nach § 31a des Bundespolizeigesetzes bisher
die Daten erhoben hat, Bestandteil dieses neuen Systems
wird. Ich war der Auffassung, dass es vielleicht gar nicht
so schlecht gewesen wäre, wenn man diese Aufgabe bei
der Bundespolizei belassen hätte, anstatt eine neue Behörde damit zu beauftragen, die erst anfangen muss, dieses System aufzubauen .
Die Erfahrungen, die die Bundespolizei mit dem Gesetz gemacht hat - das ist entscheidend -, liegen vor .
Im Jahr 2015 sind bei 100 000 Flugdaten insgesamt
550 000 Euro an Gebühren für Ordnungswidrigkeiten angefallen . Das bedeutet also, dass bei immerhin 1 100 Flügen, wenn man 500 Euro als Mindeststrafe nimmt, keine
Daten übermittelt worden sind .
Jetzt hat man sich für das INPOL-System entschieden,
was richtig ist; alles andere wäre datenrechtlich noch
problematischer gewesen . Das bedeutet also, dass man,
wenn man dies verhindern will, sehr stark auf Außenhilfe, nämlich auf die Fluggesellschaften, angewiesen ist .
Ich glaube, das ist einer der Punkte, die man noch einmal
überdenken muss .
Insgesamt gesehen kommt zum Tragen - der Richterbund ist schon zitiert worden; ich will das nicht wiederholen -, dass wir neben dem, was bei SIS II und den
anderen Datenschutzsystemen herauskommt, am Ende
doch einige Unsicherheiten haben, und die sind natürlich
auch für die Folgezeit von Bedeutung . Ich will daran erinnern, dass wir noch eine Anhörung haben werden . Ich
weiß, dass dies nicht viel ändern wird .
({0})
Das Gesetz kommt so, wie es vorgesehen ist . Das war
schon immer so; daran hat sich nicht viel geändert . Es ist
aber interessant, zu hören, was die Experten dazu sagen
werden . Ich glaube, daraus kann noch die eine oder andere Erkenntnis erwachsen. Vielleicht gelingt es ja, hier
noch die eine oder andere Veränderung vorzunehmen.
({1})
Ich will noch etwas zu den Datenschutzbestimmungen
sagen . Wir haben schon einmal kurz darüber gesprochen .
Es ist der Hinweis auf die Drittstaatenregelung, die ich
noch einmal anführen will . Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil zum BKA-Gesetz gesagt: An
Staaten, die menschenrechtswidrige Verhältnisse haben
oder die nicht sicherstellen können, dass mit einem erheblichen datenrechtlichen Standard mit den Daten umgegangen wird, sollte nicht übermittelt werden . - Auch
das ist eine Frage der Interpretation . Ihr verweist immer
auf die §§ 78 bis 80 Datenschutzgesetz, in denen das
drinstehen soll .
({2})
Das ist alles gut und schön; aber bei den Begriffen gibt
es Interpretationsmöglichkeiten . So kommt es auf denjenigen an, der entscheidet, wer was übermitteln darf, wer
beispielsweise Menschenrechte verletzt oder wer nicht
datenrechtliche Standards voraussetzt, wie wir hier in
Europa . Wer Daten abgibt, der hat die Kontrolle darüber
verloren .
Das sind die Punkte, die ich hier noch einmal anführen
wollte . Es ist klar, dass wir in der derzeitigen Lage nicht
gegen diesen Gesetzentwurf sprechen können . Wir werden ihn natürlich befürworten . So wird die SPD-Fraktion
diesem Gesetzentwurf zustimmen .
Schönen Dank .
({3})
Vielen Dank, Wolfgang Gunkel. - Nächster Redner:
Dr . Konstantin von Notz für Bündnis 90/Die Grünen .
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Unionsfraktion war richtig froh, dass das eben noch ein so gutes Ende genommen
hat . Trotzdem: Der Kollege hat viele sehr kritische Dinge
aufgezählt .
Die von Ihnen umzusetzende Richtlinie, die jetzt mit
diesem Umsetzungsgesetz hier aufschlägt, war schon im
Europäischen Parlament hochumstritten . Die juristischen
Dienste sowohl des Rates der EU als auch des Europäischen Parlaments halten sie bis heute für rechtswidrig,
und wir auch . Deswegen sagen wir Nein, meine Damen
und Herren .
({0})
Verdachtsunabhängig werden in Ihrem Entwurf von
allen Bürgerinnen und Bürgern, auch von Ihnen, wenn
Sie in ein Flugzeug steigen, 60 Datenkategorien gespeichert, darunter sämtliche Kontaktangaben, Sitzplatz, Gepäck bis hin zu den Sachbearbeiterinnen des Reisebüros .
Aber natürlich lassen Sie als Große Koalition selbst ein
solches Gesetz nicht so, wie es ist, sondern satteln noch
einmal anständig drauf;
({1})
denn während die EU-Richtlinie die Speicherung der
Fluggastdaten nur von aus der EU und in die EU gehenden Flügen vorschreibt, planen Sie zusätzlich die Speicherung von Flugdaten innerhalb der EU .
({2})
Sammeln soll diese Massendaten eine beim BKA angesiedelte Zentralstelle . Allein die Errichtung dieser Stelle soll sage und schreibe 78 Millionen Euro kosten . Der
laufende Betrieb wird mit mindestens weiteren 65 Millionen Euro pro Jahr veranschlagt .
({3})
Da kann man nur sagen: Die Umsetzung ist auch vor diesem Hintergrund absurd;
({4})
denn das PNR-Abkommen der EU mit Kanada - das hat
der Kollege Korte zu Recht angesprochen - liegt derzeit
zur Überprüfung beim EuGH, und es ist sehr wahrscheinlich bei all den Bedenken, die es gibt, dass das Abkommen und damit auch die Richtlinie in vielen Punkten
eben nicht mit den Grundrechten der EU und auch nicht
mit unserem Grundgesetz vereinbar ist .
({5})
Das zeigt, wie übereilt Sie agieren und wie teuer das für
uns werden kann .
Insgesamt wird hier die Widersprüchlichkeit Ihres
Agierens deutlich . Sie tun die Fragen, über die wir reden,
gerne als lästigen und nicht mehr zeitgemäßen Datenschutz ab, weil Sie offenbar nicht verstehen oder nicht
verstehen wollen, dass es um den Kernbereich unserer
Verfassung geht, um Menschenwürde, Persönlichkeitsrechte und Privatsphäre .
({6})
Es hilft niemandem, wenn wir wie gestern zwei Bundespräsidenten gemeinsam beklatschen, einen neuen und
einen scheidenden, wenn diese Präsidenten zu Recht
fordern, wir müssten gerade jetzt, in diesen schwierigen
Zeiten unsere Freiheit, unsere offene Gesellschaft und
unseren Rechtsstaat verteidigen,
({7})
wenn Sie von der Großen Koalition im Wochentakt verfassungswidrige Gesetzentwürfe vorlegen . Das ist hoch
widersprüchlich .
({8})
Erst letzten Dezember hat der EuGH zum wiederholten Male die anlasslose Speicherung von Telekommunikationsdaten für ungültig erklärt . In seinem Schlussplädoyer bezeichnet der Generalanwalt das Abkommen
als unvereinbar mit EU-Grundrechten . Die massiven
Probleme bei dieser Form der Vorratsdatenspeicherung
sind evident - Sie wissen das zwar schon alles, aber ich
sage es Ihnen noch einmal -: Erstens entstehen unkalkulierbare Risiken, wenn Sie solche riesigen Datenmassen anhäufen; denn man kann sie nicht sicher speichern .
Zweitens entstehen höchst problematische sogenannte
Chilling-Effekte, die unsere Unbefangenheit und Freiheit, einen Kernwert unserer Gesellschaft, bedrohen . Das
sagen nicht nur wir Grünen, das sagen Ihnen auch Verfassungsrichter, aber Sie wollen nicht hören .
Sie kennen die Argumente . Sie kennen auch die Urteile des Bundesverfassungsgerichts . Dennoch verabreichen Sie unserem Rechtsstaat erneut eine Dosis Gift fortschleichender Präventivüberwachung . Sie konzentrieren
sich eben nicht, Herr Kollege Binninger, auf Personen,
die verdächtig sind . Das hat sich gestern in London wieder gezeigt . Es war wieder jemand, den man auf dem
Zettel hatte. Sie schaffen Datenberge von uns allen, von
80 Millionen Bundesbürgerinnen und Bundesbürgern .
Deswegen machen wir nicht mit .
Ganz herzlichen Dank .
({9})
Vielen Dank, Konstantin von Notz. - Der letzte
Redner in dieser Debatte ist der schon angesprochene
Clemens Binninger für die CDU/CSU-Fraktion .
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Ich fürchte, meine Redezeit wird nicht ganz reichen, um
all das auszuräumen, was wieder einmal reflexartig in
den Raum geworfen wurde .
({0})
Wenn Sie ernsthaft von Gift für den Rechtsstaat sprechen,
dann liegen Sie ziemlich daneben, Kollege von Notz .
({1})
Aber vielleicht der Reihe nach; dann vergesse ich
auch keinen . Kollege Korte, Sie haben recht: Wir müssten einiges für die Deradikalisierung tun .
({2})
Das gehört zu einem Konzept dazu . Das gilt auch für Gefängnisse, wo neue Radikalisierung stattfindet.
({3})
Das wird einer der Schwerpunkte sein, die wir angehen
müssen .
({4})
Aber selbst wenn wir etwas für die Deradikalisierung tun,
heißt das nicht, andere unsichere Flanken nicht zu schließen . Es gehört beides dazu . Das ist der Unterschied . Es
geht darum, das eine zu tun, ohne das andere zu lassen .
Wir tun beides, und deshalb ist es richtig .
Kollege von Notz, Sie sagen, wir gingen wieder einmal über die Richtlinie hinaus und erfassten auch Flüge
innerhalb von Europa .
({5})
Ja, völlig zu Recht .
({6})
Wie kommt man dazu, ernsthaft zu glauben, Terrorverdächtige reisten aus den USA nach Europa oder umgekehrt, aber nicht von Madrid nach Berlin? Mir ist die
Sicherheit der Flüge innerhalb von Europa genauso
wichtig . Deshalb nehmen wir sie mit auf .
({7})
Man kann doch nicht sagen, dass sie uninteressant sind .
Kollege Gunkel, deine Sorge war: Was passiert mit
den Daten, die wir an Drittstaaten außerhalb der EU
übermitteln? Es ist wahr: Das ist eine Entscheidung, die
abgewogen werden muss . Aber wir haben zwei Sicherungssysteme: zum einen den Bezug auf das Bundesdatenschutzgesetz, und zum anderen haben wir im gesamten Gesetz ein so hohes Datenschutzniveau eingezogen,
dass jede einzelne dieser Übermittlungen an einen Drittstaat außerhalb der EU dem Datenschutzbeauftragten des
BKA mitgeteilt werden muss, der das dann noch einmal
prüfen kann . Wir haben also zwei Sicherungsebenen eingezogen . Ich sehe an der Stelle wirklich keine Bedenken .
Die Debatte über die PNR-Daten bzw . das Fluggastdatenabkommen läuft schon eine gewisse Zeit . Zu Beginn
wurde zu Recht kritisiert, dass es sich um weit mehr als
30 Merkmale handelt; sogar Daten zum Essen wurden
erhoben . Aber viele Merkmale sind nicht mehr drin . Es
gibt jetzt 19 Merkmale - das zwanzigste ist nur ein Folgemerkmal -, die sich fast ausschließlich auf die Reise,
den Reisenden, sein Gepäck und seine Mitreisenden beziehen . Das macht auch Sinn; denn wir wollen wissen,
wer nach Deutschland kommen will,
({8})
bevor eine gefährliche Person die Grenze übertritt und
wir dann die Kontrolle verlieren .
({9})
Es geht nicht nur um Terrorismusbekämpfung, sondern auch um die Bekämpfung der organisierten Kriminalität, des Waffenhandels, des Rauschgifthandels und
des Menschenhandels . Wir brauchen die entsprechenden
Daten, um zu erkennen, wie sich Täter bewegen, und um
Netzwerke zu entdecken . Es besteht die Möglichkeit, die
Daten mit Mustern abzugleichen . Auf diese Muster hat
auch der Datenschutzbeauftragte Zugriff. Sie dürfen nur
mit ihm zusammen erstellt werden . So erreichen wir beides: Wir erkennen Netzwerke und gewährleisten gleichzeitig ein hohes Datenschutzniveau . Das ist ein guter
Mittelweg . Es gibt keinen Grund, Kollege von Notz, so
zu skandalisieren und mit der immer gleichen reflexartigen Behauptung zu argumentieren, die Freiheitsrechte
seien massenhaft gefährdet .
({10})
- Jetzt sage ich, was ich sagen will . - Ich habe Angst,
dass Terroristen in ein Flugzeug steigen . Ich werde alles
dafür tun, dass das nicht passiert .
({11})
Das ist meine Sorge . Wir sorgen uns um die Sicherheit .
({12})
Jeder, der ein Flugzeug besteigt - gerade wir Abgeordnete tun das sehr oft - und irgendwohin fliegt, wird froh
sein, zu wissen, dass die Daten der Passagiere, die mit an
Bord sind, zuvor von einer Sicherheitsbehörde überprüft
wurden,
({13})
um zu verhindern, dass Kriminelle, Terrorverdächtige
oder andere gefährliche Personen mitfliegen. Dafür wird
jeder dankbar sein .
({14})
Angesichts dessen ist die Aussage, die Freiheit sei eingeschränkt, weit hergeholt .
Herr von Notz, ich habe Ihren Zuruf nicht gehört .
Wenn Sie ihn wiederholen, reagiere ich darauf .
({15})
- Vielen Dank, ich hätte sonst die Sorge um die lange
andauernde Speicherung fast vergessen .
({16})
- Einen Moment! Nur zuhören! Ich habe bei Ihrem Zuruf
extra auf Repeat gedrückt . Jetzt kann ich antworten, und
die Präsidentin gibt mir zehn Sekunden mehr Zeit .
({17})
Wir speichern die Daten offen gerade einmal sechs
Monate . Sechs Monate! Dann werden sie entpersonalisiert und anonymisiert . Sie bleiben dann als Blackbox für niemanden sichtbar - länger gespeichert; fünf Jahre
sind es nicht . Aber niemand kann die Daten mehr erkennen . Nur sechs Monate sind die Daten sichtbar . Wenn
man dann auf die Blackbox zugreifen will, braucht man
eine neue Befugnis, einen konkreten Grund bzw . „Anfasser“. Von einer massenhaften und unkontrollierten Speicherung sind wir jedenfalls weit entfernt .
Es ist ein gutes Gesetz, das die Sicherheit verbessert .
Wir werden dem Gesetzentwurf zustimmen. Ich hoffe,
dass ihr von der SPD das auch tun werdet . Ihnen, meine
Damen und Herren von den Grünen, rate ich es .
Danke schön .
({18})
Vielen Dank, Clemens Binninger. - Damit schließe
ich die Aussprache .
Herr Gunkel, ich wünsche Ihnen eine inspirierende
Anhörung . Wir beschließen ja öfter Anhörungen . Diese
sollten schon eine Funktion haben .
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/11501 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen .
Danke für die lebendige Debatte . Das ist Demokratie .
Bleiben Sie dabei! Es geht spannend weiter .
Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Inge
Höger, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
sowie der Abgeordneten Agnieszka Brugger,
Jürgen Trittin, Katja Keul, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Verhandlungen über einen Atomwaffenverbotsvertrag aktiv unterstützen
Drucksache 18/11609
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({0})
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen . - Dazu gibt es
keinen Widerspruch . Dann ist das so beschlossen .
Wenn sich die Kollegen entschieden haben, ob sie
dabei sein wollen oder nicht, eröffne ich gerne die Aussprache. - Ich eröffne die Aussprache und gebe als ersClemens Binninger
ter Rednerin Inge Höger für die Fraktion Die Linke das
Wort .
({1})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich beginne mit einem Zitat:
Solange nukleare Waffen existieren, besteht ein reales Risiko, dass sie eingesetzt werden, mit Absicht
oder durch Zufall .
Die Menschheit habe bislang mehrmals sehr viel Glück
gehabt, dass es nicht zu einer atomaren Katastrophe gekommen ist . Im Zitat heißt es weiter:
Aber können wir uns weiter auf unser Glück verlassen?
Diese Aussage stammt von Sebastian Kurz, dem Außenminister Österreichs . Österreich hat sich in den letzten
Monaten mit vielen anderen nicht paktgebundenen Staaten für Verhandlungen über ein Verbot von Nuklearwaffen eingesetzt .
Bereits nach der Explosion von Atombomben in
Hiroshima und Nagasaki am Ende des Zweiten Weltkrieges forderte die UNO im Januar 1946 die Abschaffung
von Atomwaffen.
({0})
Erst 1968 wurde dann der Atomwaffensperrvertrag unterzeichnet. Er erlaubt den Atomwaffenmächten, ihre
Bomben zu behalten, verpflichtet sie aber zur Abrüstung
und die Nichtnuklearwaffenstaaten darauf, keine Nuklearwaffen zu erwerben.
Trotz Atomwaffensperrvertrag beharren die offiziellen
Atommächte seit Jahrzehnten auf dem Besitz von Nukle arwaffen. Sie widersetzen sich ernsthaften Verbotsverhandlungen . Die letzten Überprüfungskonferenzen
über die Nichtverbreitung von Atombomben scheiterten
an dieser Haltung . Selbst die vor Jahren beschlossenen
Verhandlungen über einen Nahen Osten ohne Massenvernichtungswaffen wurden nicht aufgenommen.
Nach wie vor gibt es weltweit über 15 000 Atombomben, und aktuell sollen sie sogar modernisiert werden,
auch die nicht weit von meinem Heimatort stationierten
US-Atomwaffen in Büchel in der Eifel.
Die Zerstörungskraft sowie die katastrophalen humanitären und ökologischen Folgen eines Einsatzes von
Nuklearwaffen verbieten es, mit ihnen zu drohen. Trotzdem sind Atomwaffen die einzigen Massenvernichtungswaffen, die noch nicht völkerrechtlich geächtet sind. Dies
will eine Initiative von nicht paktgebundenen Staaten ändern . Im vergangenen Jahr hat sich eine überwältigende
Mehrheit in der Generalversammlung der Vereinten Nationen für Verbotsverhandlungen ausgesprochen.
({1})
Die Bundesregierung allerdings stimmte zusammen mit
den Atommächten Frankreich, Großbritannien, Russland
und den USA gegen diese Resolution .
({2})
Am 27. März beginnen die Verhandlungen, und Deutschland will nicht teilnehmen . Das ist ein Skandal .
({3})
Statt ein Verbot von Atomwaffen voranzubringen,
droht US-Präsident Trump, das Atomwaffenarsenal der
USA auszubauen und noch umfassender zu modernisieren . Daraufhin meinte der CDU-Politiker Kiesewetter,
Europa brauche nun einen eigenen Atomschirm . Inzwischen wird in Bild, Spiegel, Zeit und FAZ über eine nukleare Bewaffnung Deutschlands debattiert. Das ist erschreckend . Weder Deutschland noch die Welt brauchen
Atombomben. Die Welt muss vielmehr atomwaffenfrei
werden .
({4})
In Deutschland ist eine Mehrheit der Bevölkerung für
ein Verbot von Atomwaffen. Auch die Bundesregierung,
Frau Merkel, Herr Gabriel - sie alle reden immer wieder
viel von Abrüstung. Nun geht es um konkrete Verhandlungen, und sie wollen nicht dabei sein . Das ist völlig
unverständlich .
({5})
Die Begründung für die Nichtteilname ist, eine Atomwaffenkonvention sei nur sinnvoll, wenn alle Atommächte von Anfang an dabei seien . Die Logik erschließt sich
nicht .
({6})
Das Gegenteil ist der Fall. Nur durch Verhandlungen
kann man bei der Abrüstung zu einer atomwaffenfreien
Welt vorankommen. Auch Bio- und Chemiewaffen sind
international geächtet, ohne dass alle von Anfang an
dabei waren. Ein völkerrechtlich verbindlicher Vertrag
macht auch auf all diejenigen Druck, die ihn nicht gleich
unterzeichnen wollen .
({7})
Wenn die Bundesregierung die Sicherheitsinteressen
aller Staaten ernst nimmt, muss sie sich an den Verbotsverhandlungen beteiligen, gerade als NATO-Mitglied .
({8})
Vielen Dank, Inge Höger. - Nächste Rednerin:
Dr . Katja Leikert für die CDU/CSU-Fraktion .
({0})
Vizepräsidentin Claudia Roth
Sehr verehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen beschäftigen uns heute mit einem
gemeinsam formulierten Antrag für eine nuklearwaffenfreie Welt . Sie fordern die Bundesregierung auf, an den
Verhandlungen über ein Kernwaffenverbot teilzunehmen . Sie werden wohl keinen hier im Plenum und unter
den Zuhörerinnen und Zuhörern finden, der sich nicht
wünschen würde, dass es keine Atomwaffen mehr gibt.
({0})
- Hören Sie erst einmal zu! - Sie stellen es sich so vor,
dass man auf einer Seite Papier zusammen mit ein paar
anderen Staaten zusammen aufschreibt, dass Kernwaffen
verschwinden und dass wir sie ächten sollen .
({1})
Wir alle wissen, dass es sich rein um eine Initiative der
Nichtkernwaffenstaaten handelt. Das ist ein bisschen so,
als wenn sich die Mäuse eines Viertels dazu verabreden,
etwas gegen die Katzen zu tun .
({2})
- Jetzt hören Sie bitte noch einmal kurz zu!
Ganz ehrlich, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
Opposition, ich schätze Sie wirklich sehr - ich bin auch
im Gespräch mit Einzelnen von Ihnen -, gerade wegen
Ihres abrüstungspolitischen Engagements . Ich respektiere das auch und finde gut, dass viele aus friedenspolitischen Ideen heraus und mit viel Idealismus Politik
betreiben. Viel von diesem Idealismus teilen wir. Aber
gerade weil Sie in Ihren Reihen viel Kenntnis im Bereich
Abrüstung und Nichtverbreitung von Atomwaffen haben,
bin ich, ehrlich gesagt, regelrecht enttäuscht über diesen Antrag . Ich sage es gleich vorab: Ihr Weg gefährdet
aus unserer Sicht alle bisherigen Erfolge der nuklearen
Abrüstung .
({3})
Sie kennen genau das klare Ziel der schwarz-roten
Koalition: Wir stehen für eine nuklearwaffenfreie Welt.
Dieses Ziel ist ausdrücklich auch so im Koalitionsvertrag
benannt . Sie wissen genau, dass Deutschland weltweit
ein anerkannter und geschätzter Verhandlungspartner für
nukleare Abrüstung ist .
({4})
Sie wissen auch, dass Deutschland in seiner Rolle als
Brückenbauer schon viel erreicht hat . Wenn Sie ganz
ehrlich zu sich selbst sind, dann wissen Sie auch, dass Ihr
Antrag an vielen Stellen schlichtweg weltfremd ist . Ich
möchte Ihnen das gerne erläutern .
Erstens . Natürlich können wir uns wünschen, dass die
Kernwaffenstaaten, die offiziellen und die inoffiziellen,
faktisch gemeinsam zu der Einsicht kommen, dass es für
alle besser wäre, wenn sie auf Kernwaffen verzichteten.
Die Bereitschaft der Kernwaffenstaaten dazu liegt aber
schlichtweg nicht vor . Das ist eine Tatsache, an der wir
nicht vorbeikommen .
Zweitens . Ihr Antrag ist unrealistisch, nicht nur, weil
er die Grundlagen der internationalen Machtverteilung
schlichtweg ignoriert, sondern auch, weil die von Ihnen
geforderten Verhandlungen aus unserer Sicht das wertvollste Vertragswerk, das wir im Bereich der nuklearen
Abrüstung haben, gefährden würden: den internationalen
Nichtverbreitungsvertrag .
Sie wollen, dass wir am Ende ein Papier haben, auf
dem steht - ich habe das schon erklärt -: Wir ächten
Atomwaffen. - Darin stünde aber nichts, was mit denjenigen Staaten passieren soll, die kernwaffenfähiges
Material schon haben, oder was mit denjenigen Staaten
passieren soll, die schon Atomwaffen haben oder ein Programm für die zivile Nutzung von Atomenergie haben .
Wer soll das denn alles überprüfen?
Sie riskieren, dass sich die Nichtkernwaffenstaaten
aus dem Nichtverbreitungsvertrag zurückziehen und
dass damit die Kontrollen ihrer Atomanlagen durch die
Internationale Atomenergie-Organisation entfallen . Wie
wollen wir dann in Zukunft eigentlich noch verhindern,
dass nicht die nächsten Staaten nachziehen und heimlich
Atomwaffen entwickeln? Es ärgert mich, dass Sie genau
wissen, dass wir schon viel weiter sind mit dem bestehenden Regime, und die etablierten Verifikationsmechanismen über Bord werfen wollen .
Drittens. Alle Verhandlungen innerhalb des Nichtverbreitungsvertrags haben einen entscheidenden Vorteil - auch das wissen Sie -, dass nämlich beide Seiten
verhandeln: die Atomwaffenstaaten und die Nichtatomwaffenstaaten. Das ist aus unserer Sicht absolut essenziell; denn was wir in dieser Welt nicht brauchen können - das ist etwas, was wir alle hier bedauern -, sind ein
weiteres Wettrüsten und eine weitere Spaltung in diesem
Bereich .
({5})
Frau Kollegin, erlauben Sie eine Bemerkung oder
Zwischenfrage von Dr . Neu?
Ja .
Frau Dr . Leikert, Ihnen ist bekannt, dass im Jahre 2010
fast alle Fraktionen im Deutschen Bundestag gemeinsam
einen Antrag verabschiedet haben, der darauf abzielte,
die Atomwaffen aus Deutschland abzuziehen. Ist Ihnen
bekannt, ja?
Im Jahre 2012 hat Deutschland im Rahmen des Chicagoer NATO-Gipfels seine Souveränität in der Frage
des Abzuges der Nuklearwaffen aus Deutschland an die
NATO abgegeben. Ist das Ihrer Auffassung nach ein Beitrag zu einer nuklearwaffenfreien Welt?
Vielen Dank für Ihre Frage. Ich stelle gern eine Rückfrage an Sie: Was machen wir hier in Deutschland, wenn
wir nicht mehr Teil der NATO sind, wenn wir so tun, als
würden wir nicht ein Stück weit von der nuklearen Teilhabe profitieren?
({0})
Eigentlich haben wir hier jetzt keine Dialogveranstaltung .
({0})
Aber gut, kurze Rückfrage .
Nein, das ist okay . Ich mache jetzt einfach weiter, weil
ich noch einmal zu diesem Punkt komme .
Wir halten den Antrag von Linken und Grünen an dieser Stelle für sinnlos bis gefährlich; ich habe das vorhin
schon ausgeführt .
Die CDU/CSU-Fraktion setzt vielmehr auf das große
Engagement Deutschlands innerhalb des Nichtverbreitungsregimes, das wir aufrechterhalten und ausbauen
wollen . Wir verfolgen dabei einen schrittweisen Ansatz,
und Sie kennen ihn auch . Ich nenne nur drei Punkte, die
uns dabei besonders wichtig sind .
Ein Baustein dabei ist Transparenz . Ohne Transparenz mit Blick auf die Atomwaffenarsenale der Atomwaffenstaaten - das ist uns allen, die wir hier sind,
bewusst - werden wir keine messbaren Fortschritte erzielen . Deshalb werden wir auch weiterhin innerhalb der
Non-Proliferation and Disarmament Initiative - Sie wissen, wie engagiert Deutschland da ist - in den Dialog mit
den fünf Atommächten treten .
({0})
So haben wir es schon geschafft, mehr Transparenz in
Bezug auf die Kernwaffenarsenale der Atomwaffenstaaten zu bekommen . Wir alle sind natürlich noch nicht besonders zufrieden mit den Fortschritten, die dort erzielt
wurden, aber wir wollen an dieser Initiative festhalten
und sie weiter ausbauen .
Zu unserem schrittweisen Ansatz gehört auch, dass
wir die Produktion von spaltbarem Material unterbinden
wollen . All das erreichen Sie nicht mit Ihrem nu klearen
Bann . Hier haben wir eine konkrete Resolution, die
Deutschland gemeinsam mit Kanada und den Niederlanden in die UN-Generalversammlung eingebracht hat .
Eine Expertengruppe wird mögliche Vertragselemente
für einen Fissile Material Cut-off Treaty identifizieren.
Wir haben dabei sichergestellt, dass zumindest vier
Kernwaffenstaaten eng eingebunden sind.
Ich möchte noch ein weiteres Element hervorheben:
Deutschland - auch das wissen Sie - setzt sich schon lange dafür ein, dass der Umfassende Nukleare Teststoppvertrag gestärkt und weiter ratifiziert wird. Auch dieses
Engagement wollen wir in Zukunft aufrechterhalten .
Sie sehen, dass all diese Schritte zu einem klaren Konzept führen .
Lassen Sie mich daher feststellen: Solange die machtpolitischen Realitäten - wir können uns andere wünschen - so sind, wie sie sind, solange einzelne Staaten
in der Lage sind, immer wieder zu destabilisieren - dazu
zählt auch Russland; Sie haben gerade nur über die Modernisierung des amerikanischen Atomwaffenarsenals
gesprochen; das ist sehr einseitig -,
({1})
so lange ist es gut für uns, wenn wir eine starke Allianz
mit unseren NATO-Partnern bilden . So viel Realitätsbewusstsein muss sein .
Deshalb wird die CDU/CSU-Fraktion keinen Antrag
unterstützen, mit dem wir uns aus unseren Bündnispflichten - dazu gehört die nukleare Teilhabe - innerhalb
der NATO verabschieden . Ich sage es hier ganz deutlich:
Ich möchte im Deutschen Bundestag nichts beschließen,
was unsere Sicherheit gefährdet .
({2})
Gleichzeitig wissen wir, dass die nukleare Abrüstung
immer wieder neue Impulse braucht . Wir werden auch
weiterhin alles dafür tun, um hier greifbare Erfolge zu
erzielen . Was wir dabei aber nicht zulassen werden - das
unterscheidet uns von Ihrem Antrag -, ist, dass die hervorragenden bestehenden Verträge und Initiativen zur
nuklearen Abrüstung für ein einziges wirkungsloses Blatt
Papier geopfert werden .
Ich möchte Ihnen aber abschließend eine Brücke bauen und freue mich im Zuge der Beratung über richtig gute
Initiativen für eine nuklearwaffenfreie Welt, die wir alle
wollen .
Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend .
({3})
Vielen Dank, Katja Leikert. - Nächste Rednerin:
Agnieszka Brugger für Bündnis 90/Die Grünen .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kollegin Katja Leikert, der Vergleich mit den Mäusen
und Katzen ging doch etwas am Kern der Debatte vorbei .
({0})
Ich möchte darauf gerne mit einem Zitat antworten, das
so lautet:
Der Mensch erfand die Atombombe, doch keine
Maus der Welt würde eine Mausefalle konstruieren .
Das hat niemand Geringerer als Albert Einstein gesagt .
({1})
Die beiden größten Atommächte der Welt, Russland
und die USA, verfügen über 90 Prozent der weltweiten
Nuklearwaffenarsenale. Beide haben ihre vor Jahrzehnten gegebenen Versprechen nicht erfüllt. Statt abzurüsten,
werden in Moskau und in Washington gerade gigantische
Beträge in die Modernisierung dieser Waffen investiert.
Beide Seiten blockieren Fortschritte und stellen mit ihren Taten und Ankündigungen bestehende Abrüstungsvereinbarungen infrage und damit auch auf eine harte
Probe . Donald Trump und Wladimir Putin spielen sogar
mit der Gefahr eines neuen Wettrüstens . Liebe Kolleginnen und Kollegen, da ist es doch kein Wunder, dass über
100 Staaten endgültig der Geduldsfaden gerissen ist .
({2})
Nicht nur die Zivilgesellschaft streitet für ein Verbot
dieser grausamen Waffen, damit sie endlich - wie andere Massenvernichtungswaffen, die biologischen und die
chemischen - mit einem internationalen Vertrag geächtet
werden. Vielmehr haben 123 Staaten in der Generalversammlung der Vereinten Nationen ein klares Zeichen
gegen diesen quälenden Stillstand gesetzt und für Verhandlungen über einen Verbotsvertrag gestimmt. Es ist
eine überwältigende Mehrheit, und es ist eine historische
Entscheidung . Außerdem ist es ein überfälliger und richtiger Schritt .
({3})
Frau Kollegin Leikert, wenn Sie sich damit auseinandergesetzt hätten, hätten Sie auch festgestellt, dass
niemand den Atomwaffensperrvertrag oder Nichtverbreitungsvertrag abschaffen will, sondern es handelt sich um
eine Ergänzung und Stärkung der bisherigen Abrüstungsregime .
({4})
Was hat dann die schwarz-rote Bundesregierung getan, die ja immer erklärt, sich dem Ziel einer atomwaffenfreien Welt verpflichtet zu fühlen? Sie hat nicht mit Ja,
nicht einmal mit Enthaltung, sondern mit Nein gestimmt .
Allein das ist ein abrüstungspolitisches Armutszeugnis .
({5})
Es geht ja noch weiter . Die Bundesregierung sagt sogar Nein zur Teilnahme an den Gesprächen . Damit boykottieren Sie diesen historischen Schritt . Das ist eine große Fehlentscheidung .
({6})
Das ist nicht nur mutlos, sondern auch eine Schwächung
der Vereinten Nationen und des Multilateralismus. In den
schwierigen außenpolitischen Zeiten, in denen wir uns
gerade befinden, ist das doch genau das Gegenteil von
dem, was diese Welt gerade dringend benötigt .
Angesichts der neuen Eiszeit zwischen Russland und
den USA braucht es doch jetzt mehr denn je klare, kluge Stimmen der sicherheitspolitischen Vernunft, die für
Rüstungskontrolle und Abrüstung streiten,
({7})
aber nicht eine Bundesregierung, die ihren guten Ruf und
ihre abrüstungspolitische Glaubwürdigkeit aufs Spiel
setzt .
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition,
wir fordern Sie im gemeinsamen Antrag der Linken und
der Grünen auf: Lassen Sie uns zu dem Konsens von
2010 zurückkehren, wo wir gemeinsam - alle Fraktionen
in diesem Hohen Haus - den Abzug der US-Atomwaffen
aus Deutschland gefordert haben! Sorgen wir zusammen
dafür, dass ihr Verbleib über die Modernisierung nicht
zementiert wird, dass nicht gleichzeitig Millionenbeträge für die Anpassungen am Trägersystem Tornado verwendet und verschwendet werden! Die Bundesregierung
muss ganz klar und unmissverständlich diesen finanziell,
völkerrechtlich und politisch aberwitzigen Rufen nach
europäischen oder gar deutschen Atomwaffen eine Absage erteilen .
({8})
Wir fordern Sie aber vor allem dazu auf, dass die Bundesregierung das längst überfällige Verbot dieser barbarischen Massenvernichtungswaffen nicht weiter behindert
und boykottiert, sondern es mit Kraft und Ideen unterstützt .
({9})
Als Bundesregierung haben Sie in den letzten Jahren immer wieder von einer neuen deutschen Verantwortung in
der Außen- und Sicherheitspolitik gesprochen . Statt sich
hier mutlos im Schatten der Nuklearwaffenstaaten wegzuducken, haben Sie hier die Gelegenheit, sie ganz konkret zu übernehmen . Tun Sie es!
Vielen Dank.
({10})
Vielen Dank, Agnieszka Brugger. - Die letzte Rednerin in dieser Debatte: Dr . Ute Finckh-Krämer für die
sozialdemokratische Fraktion .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer oben auf den Tribünen! Ich möchte mich zunächst bei all denen bedanken, die sich Gedanken um nukleare Abrüstung machen
und das Ziel, das uns, glaube ich, alle eint - dass diese
schrecklichen Waffen irgendwann wieder von der Erde
verschwinden -, unterstützen sowie mit uns darüber diskutieren . Auch möchte ich mich bei denen bedanken, die
im Augenblick Briefe an Außenminister Gabriel schreiben, in denen sie ihn bitten, sich an den Verhandlungen
zu beteiligen, sowie bei denjenigen, die schon über diese
Verhandlungen, die jetzt Ende dieses Monats beginnen,
hinausschauen und sich überlegen, was es noch alles an
guten Gelegenheiten gibt, abrüstungspolitisch aktiv zu
werden .
({0})
In der Resolution 71/258 des UN-Sicherheitsrates, mit
der die Verhandlungen über den Ban Treaty, einen Atomwaffenverbotsvertrag, beschlossen wurden, ist auch der
Beschluss der UN-Generalversammlung von 2013 bekräftigt worden, ein „high-level meeting … on nuclear
disarmament“ durchzuführen . Das hieße wahrscheinlich,
dass eine solche Konferenz im September 2018 stattfände und eine Vorbereitungskonferenz im Januar oder Februar . Eine solche High-Level-Konferenz zu Atomwaffen hat es noch nie gegeben . Gestern habe ich deswegen
im Unterausschuss „Abrüstung, Rüstungskontrolle und
Nichtverbreitung“ die Vertreterin der Bundesregierung
danach gefragt, ob die Bundesregierung sich darauf vorbereitet, an dieser High-Level-Konferenz teilzunehmen .
Die Antwort lautete: Ja. Ich finde es einen wichtigen
Schritt, dass die Bundesregierung an einem solchen Beschluss, der vor der neuen Eskalation zwischen Russland
und den USA oder Russland und der NATO gefasst worden ist, festhält .
Ein anderer Punkt, wo es meiner Ansicht nach gute
deutsche Aktivitäten gibt, ist die International Partnership for Nuclear Disarmament Verification. Denn wir
wissen: Wenn Atomwaffen verboten werden, wird es viel
länger als bei den Chemiewaffen dauern, bis sie tatsächlich alle abgerüstet sind. Bei den Chemiewaffen ist der
Verbotsvertrag 1997 in Kraft getreten. Man hat damals
gehofft, dass man innerhalb von zehn Jahren alle Chemiewaffen der Unterzeichnerstaaten vernichten kann. Im
Augenblick ist die Schätzung, dass die Vernichtung der
US-amerikanischen Chemiewaffen noch bis 2023 dauert.
({1})
Diese International Partnership hat den Vorteil, dass
auf Einladung der USA seit 2014 tatsächlich bei fünf
Treffen darüber geredet wurde, was denn notwendig ist,
um Nuklearwaffen so abrüsten und zerstören zu können,
dass dies für die anderen Vertragspartner nachvollziehbar
ist. Das ist eine Parallele zum Chemiewaffenabkommen;
denn beim Chemiewaffenabkommen wurde ja nicht nur
ein Abkommen beschlossen, sondern es wurde auch eine
Verifikations- und Überprüfungseinrichtung geschaffen:
die Organisation für das Verbot chemischer Waffen. Diese kontrolliert seitdem alle Einrichtungen, die Chemiewaffen vernichten. Aber sie kontrolliert auch Einrichtungen, Firmen und Labore, die mit Substanzen arbeiten, aus
denen erneut Chemiewaffen gebaut werden könnten. In
dieser Richtung nachzudenken, Tagungen auszurichten,
Konferenzen von Fachleuten sind einige der Aktivitäten
der Bundesregierung, und darüber bin ich froh .
Wir waren am 8 . März dieses Jahres als Unterausschuss „Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung“ eingeladen, uns zum Ende der fünften derartigen
Konferenz, die hier in Berlin stattgefunden hat, von den
Arbeitsgruppenleitern dieser Organisation briefen zu lassen, was sie diskutiert und beschlossen haben . Bei diesem Briefing waren ein Kollege von der CDU und ich
dabei . Die anderen hatten leider keine Zeit . Bei Inge
Höger weiß ich, dass das mit Schwierigkeiten am Mittwochnachmittag in Sitzungswochen zusammenhängt . Da
ist die SPD mit fünf Mitgliedern im Menschenrechtsausschuss etwas besser aufgestellt .
Insofern: Deutschland ist aktiv im Bereich der nuklearen Abrüstung . Deutschland gehört zu der Gruppe der
Freunde des Nichtverbreitungsvertrags und zu den Befürwortern eines Nuklearen Teststoppabkommens . Einige
von uns waren vor etwa anderthalb Jahren im Auswärtigen Amt, wo eine Ausstellung zu der Verifikationsorganisation eröffnet wurde, die zu dem noch gar nicht in Kraft
befindlichen Nuklearen Teststoppabkommen gehört. Das
heißt: Auch in diesem Bereich ist Deutschland aktiv und
versucht zum Beispiel zu erreichen, dass die noch fehlenden Annex-B-Staaten das Abkommen unterzeichnen
bzw ., soweit sie es schon unterzeichnet haben, auch ratifizieren, damit dieses wichtige Rüstungskontrollabkommen in Kraft treten kann, mit dem auch ein Teil der Ziele, die mit dem Ban Treaty verfolgt werden, verwirklicht
werden soll, nämlich das Verbot von Atomwaffentests.
Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder
-bemerkung von Dr . Neu?
Ja .
Frau Kollegin Finckh-Krämer, Sie haben eine Vielzahl von Maßnahmen und Initiativen dargelegt . Sie haben sich nicht dazu geäußert, wie sich die SPD zu unserem Antrag verhält . Können Sie dazu noch etwas sagen?
Wir diskutieren den Antrag in erster Lesung, das heißt,
es folgt noch eine Ausschussbefassung . So wie er im Augenblick vorliegt, werden wir vermutlich gemeinsam mit
der Union mit Nein stimmen .
({0})
Aber uns ist wichtig, dass auch ein solcher Antrag zur
Diskussion beiträgt . Deswegen habe ich erwähnt, wie
wichtig es aus meiner Sicht ist, dass sich zivilgesellschaftliche Gruppen, dass wir uns im Plenum mit dem
Antrag, mit dem Vorhaben eines Atomwaffenverbotsvertrags befassen .
({1})
Ich habe aufgezeigt, was wir mittragen, was das Auswärtige Amt als federführendes Ministerium für Abrüstung und Rüstungskontrolle mitträgt, was zumindest im
Geiste dieser Verhandlungen ist. Ich persönlich kann
mir vorstellen, dass nach der ersten Verhandlungswoche
vielleicht einige der Ängste, die die Kollegin Leikert geschildert hat, nicht mehr ganz so groß sind und dass dann
die Frage, wie man mit der zweiten und dritten Verhandlungsrunde umgeht, hier neu diskutiert wird .
Ich finde auch wichtig, dass bei der Frage - das hat
Frau Höger beschrieben -, bei der sich Russland und die
USA im Augenblick ineinander verhaken, nämlich wie
man die bilateralen Abrüstungs- oder Rüstungskontrollabkommen im Bereich der nuklearen Waffen aufrechterhält, am Leben erhält, Deutschland wiederum aktiv ist
und zum Beispiel in der Deep Cuts Commission, einer
trilateralen Kommission mit Wissenschaftlern aus Russland, den USA und Deutschland, diskutiert, wie die zum
Teil gefährdeten bilateralen Abkommen wie der INF-Vertrag am Leben erhalten werden können, wie die gegenseitigen Vorwürfe geklärt werden können. Ich weiß von
einem Wissenschaftler der Deep Cuts Commission, dass
der INF-Vertrag dort aktuell Thema ist und dass es dazu
ein Papier geben wird. Ich finde es einen wichtigen Beitrag der Bundesregierung und des Außenministeriums,
dass solche Wissenschaftlerkommissionen unterstützt
werden . Damit leisten wir einen Beitrag zu dem Ziel, das
wir gemeinsam mit denjenigen haben, die aus verständlichen Gründen einen Atomwaffenverbotsvertrag fordern,
nämlich das Ziel einer atomwaffenfreien Welt.
({2})
Vielen Dank, Kollegin Finckh-Krämer. - Damit
schließe ich die Aussprache .
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/11609 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . Sind Sie damit einverstanden? - Dann ist die Überweisung so beschlossen .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur
Änderung des Europol-Gesetzes
Drucksache 18/11502
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden . Sind
Sie damit einverstanden? - Gut .1)
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 18/11502 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . - Dazu
1) Anlage 4
gibt es keine weiteren Vorschläge. Dann ist die Überweisung so beschlossen .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Energiesteuer- und des
Stromsteuergesetzes
Drucksache 18/11493
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor-
sicherheit
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden . -
Auch dazu sehe ich keinen Widerspruch .2)
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/11493 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . - Auch
dazu gibt es keine anderweitigen Vorschläge. Dann ist
die Überweisung so beschlossen .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung
Drucksachen 18/9525, 18/10146, 18/10307
Nr. 7
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz ({2})
Drucksache 18/11640
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden . -
Auch damit sind Sie einverstanden .3)
Wir kommen zur Abstimmung . Der Ausschuss für
Recht und Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 18/11640, den
Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksa-
chen 18/9525 und 18/10146 in der Ausschussfassung an-
zunehmen . Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
in der Ausschussfassung zustimmen wollen, jetzt um das
Handzeichen . - Wer stimmt dagegen? - Dann gibt es kei-
ne Enthaltungen . Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung angenommen . Zugestimmt haben CDU/CSU
und SPD, dagegen waren die Linke und Bündnis 90/Die
Grünen .
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung . Ich bitte diejenigen, die diesem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich jetzt zu erhe-
ben . - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann
ist der Gesetzentwurf angenommen . Zugestimmt haben
2) Anlage 5
3) Anlage 6
CDU/CSU und SPD, dagegen waren Bündnis 90/Die
Grünen und die Linke .
Ich übergebe und wünsche Ihnen noch einen schönen
Restabend .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Umsetzung der Berufsanerkennungsrichtlinie und zur Änderung weiterer Vorschriften
im Bereich der rechtsberatenden Berufe
Drucksachen 18/9521, 18/9948, 18/10102
Nr. 13
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz ({0})
Drucksache 18/11468
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Christian
Flisek, SPD-Fraktion .
({1})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Gut Ding will manchmal Weile
haben, und so ist es auch mit der Umsetzung der Berufsanerkennungsrichtlinie . Wir haben mit diesem Umsetzungsgesetz und den Änderungen am Berufsrecht der
rechtsberatenden Berufe eine EU-Richtlinie umgesetzt,
und wir sind jetzt durchaus ein wenig hinterher; die Frist
ist eigentlich abgelaufen . Aber das lag mit Sicherheit
nicht nur am Parlament; das muss man mal sehr deutlich
so sagen . Wir jedenfalls haben diesen ganzen Komplex
verschiedener Änderungen in der Koalition sehr ordentlich beraten . Es ist ein durchaus komplexer Katalog von
Einzeländerungen, die wir hier abzuarbeiten hatten, und
wir haben es uns damit nicht leicht gemacht . Insofern hat
das Ganze etwas Zeit in Anspruch genommen . Zuletzt,
auf den letzten Metern, ist es zu Verzögerungen gekommen, die zumindest wir als SPD-Fraktion nicht direkt zu
verantworten haben .
({0})
Aber es ist heute ein guter Tag, weil es überhaupt zu dieser Beratung kommt .
Die Reformen - das habe ich bereits gesagt - lösen
zahlreiche Probleme im Berufsrecht der rechtsberatenden Berufe . Ich möchte mich in meiner Rede - das sage
ich hier gleich zu Beginn - auf einen Bereich konzentrieren, nämlich auf eine Forderung, die vom Deutschen
Anwaltverein und von der Bundesrechtsanwaltskammer
erhoben worden ist: Es geht um die Fortbildungspflicht
für Anwälte allgemein .
({1})
Es stand dort ursprünglich mal die Forderung im
Raum, dass es eine allgemeine Fortbildungspflicht für
Anwälte geben soll
({2})
- sicherlich, man kann nicht gegen Fortbildung sein -,
und zwar in dem Sinne, dass sich Anwälte grundsätzlich
jedes Jahr fortbilden müssen, zusätzlich zu den bereits
bestehenden Fortbildungspflichten, die die meisten Anwälte in diesem Land, zum Beispiel die Fachanwälte,
haben .
Wir haben diese Satzungsermächtigung, die ursprünglich im Regierungsentwurf vorgesehen war, in der Koalition sehr ernsthaft geprüft, und wir sind entsprechend
dem Struck’schen Gesetz zu dem Ergebnis gekommen,
dass wir uns dem Vorschlag im Entwurf nicht anschließen werden, sondern uns als Parlamentarier dafür einsetzen, dass diese Satzungsermächtigung gestrichen wird .
Ich gebe zu, es gab deswegen Kritik von den Berufsverbänden . Die Kritik von einigen war teilweise sogar
sehr schrill; das muss man auch sehr deutlich sagen . Aber
ich möchte Ihnen erklären, warum wir der Meinung sind,
dass das der richtige Schritt ist .
Beim Anwaltsmarkt haben wir es mit einem Markt
zu tun, der sich seit vielen Jahren spezialisiert . Es wurde in den letzten Jahren eine Vielzahl von Fachanwaltschaften eingeführt . Jeder, der diesen Bereich einigermaßen kennt, weiß, wie mühsam es mittlerweile ist, einen
Fachanwaltstitel zu erwerben und auch zu halten . Wenn
Sie mit der Materie vertraut sind, dann wissen Sie, dass
man, wenn man Fachanwalt ist, sich mittlerweile jedes
Jahr 15 Stunden fortzubilden hat .
({3})
Das ist gut, und das ist richtig, aber wir glauben: Gerade
auf einem Anwaltsmarkt, der sich seit Jahren wegen der
Fachanwaltschaften so ausdifferenziert, bedarf es nachträglich nicht noch einer allgemeinen Fortbildungspflicht
für Anwälte,
({4})
die, wenn man der BRAK, der Bundesrechtsanwaltskammer, und dem Anwaltsverein hätte glauben wollen, weitere 10 bis 15 Stunden jedes Jahr in Anspruch genommen
hätte .
({5})
Wir sind der Überzeugung - Frau Keul, Sie haben
gleich die Gelegenheit, in Ihrer Rede darauf hinzuwirken -, dass man die Anwälte auch im Sinne eines Funktionierens des Anwaltsmarktes nicht überfordern darf .
({6})
Vizepräsidentin Claudia Roth
Deswegen sage ich Ihnen sehr deutlich: Ich glaube, dass
wir mit einer allgemeinen Fortbildungspflicht weit über
das Ziel hinausgeschossen wären .
({7})
Ich sage Ihnen noch etwas: Wir tun hier immer so,
als wenn der Deutsche Anwaltsverein oder die Bundesrechtsanwaltskammer hier völlig uneigennützig agieren
würden . Das ist mitnichten der Fall . Wenn man sich die
Zahl der zugelassenen Anwälte in Deutschland anschaut
und wenn man sich anschaut, wer im Wesentlichen Anbieter solcher Fortbildungsleistungen ist, dann stellt man
fest, dass das Fortbildungsinstitute sind, die vom Anwaltsverein oder von der BRAK geführt werden . Wenn
Sie die durchschnittlichen Preise eines Tagesseminars
hochrechnen, dann stellen Sie fest: Wir reden hier über
einen zusätzlichen Markt, den sich die Damen und Herren verschaffen wollten, dessen Umsatz mindestens im
dreistelligen Millionenbereich liegt .
({8})
Dass das Angebot völlig uneigennützig sei und dass das
Angebot sozusagen nur von dem Gedanken der Qualitätssicherung getragen sei, das kann ich, offen gesprochen, nicht glauben .
Wir haben in der Koalition intensiv über das Thema
debattiert, und wir sind zu dem Ergebnis gekommen,
dass wir eine allgemeine Fortbildungspflicht für Anwälte
zum jetzigen Zeitpunkt nicht wollen, weil wir glauben,
dass der Anwaltsmarkt derzeit
({9})
auch im Sinne der rechtssuchenden Kreise, der Verbraucherinnen und Verbraucher, über ausreichende Qualitätssiegel und auch über ausreichende Titel verfügt, die alle
mit Fortbildungspflichten behaftet sind, durch die dafür
Sorge getragen wird, dass Qualität am Markt existiert
und dass transparent nachgefragt werden kann .
({10})
Ich möchte an dieser Stelle noch einmal den Vorschlag
der SPD-Fraktion ansprechen . Wir haben durchaus versucht, einen sachgerechten Kompromiss vorzulegen . Wir
haben gesagt: Wenn eine solche Fortbildungspflicht eingeführt wird, dann wollen wir dafür sorgen, dass Fachanwaltsfortbildungen anerkannt werden und dass junge Anwälte in den ersten fünf Jahren nicht überfordert werden .
All das haben wir vorgeschlagen . Ich muss sagen:
Ich fand es schade, dass es vonseiten der Union keine
Zustimmung zu unserem Vorschlag gab. Wir hätten uns
durchaus vorstellen können, gemeinsam einen Kompromissvorschlag zustande zu bringen, mit dem wir ein
Stück weit auf den Anwaltsverein und auf die Bundesrechtsanwaltskammer zugegangen wären . Wir haben von
beiden Institutionen das Signal bekommen, dass sie mit
unserem Kompromissvorschlag einverstanden sind . Aber
das war mit den Kolleginnen und Kollegen der Union leider nicht zu machen . Insofern bleibt es jetzt dabei, dass
wir an dieser Stelle keine Regelung mehr haben .
({11})
- Herr Hahn, schauen wir mal . Es dauert ja nicht mehr
lange: Am 24 . September sind Wahlen . Dann werden wir
überlegen, was mit anderen Parteien so möglich ist .
({12})
Aber warten wir erst einmal ab, ja?
Meine Damen und Herren, das ist aber nicht das Einzige, das wir geregelt haben . Wir haben zum Beispiel
auch - und das ist mir persönlich wichtig - bei den Syndikusanwälten dafür gesorgt, dass ihnen für den Zeitraum
zwischen Antrag auf Zulassung und Erteilung der Zulassung keine versorgungsrechtlichen Nachteile entstehen .
Ich glaube, das ist ein ganz wichtiger Punkt .
Ich möchte zum Schluss noch erwähnen, dass wir dafür gesorgt haben, dass in Zukunft bei Kammerversammlungen bei der Vorstandswahl die Briefwahl obligatorisch
ist . Das ist mir ein ganz wichtiger Punkt, weil ich aus
einem Kammerbezirk komme, in dem sich viele Tausend
Anwälte an dieser Wahl nicht beteiligen . Es geht darum,
dafür zu sorgen, dass man nicht zum Zwecke der Wahl
zur Versammlung hinfahren muss, sondern sich auch per
Briefwahl an einer solchen Wahl beteiligen kann .
Herr Kollege Flisek .
Ich komme zum Schluss . - Es geht darum, die Legitimation von solchen Wahlen zu stärken . Ich glaube, das
ist ein ganz guter Schritt . Was bei der Bundestagswahl
gang und gäbe, üblich und möglich ist, das muss in Zukunft auch bei Kammerwahlen möglich sein . Aber wir
werden von der Opposition gleich sicherlich hören, warum das alles des Teufels ist .
({0})
Ich bin gespannt, meine Damen und Herren .
In diesem Sinne bitte ich um Zustimmung zu diesem
Gesetzentwurf .
Herzlichen Dank .
({1})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist für die Fraktion
Die Linke der Kollege Jörn Wunderlich .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Teufelchen!
({0})
In erster Linie handelt es sich hier um ein begrüßenswertes Vorhaben. Die seit langem geforderten an vielen Stellen sinnvollen Änderungen und die sprachliche Straffung
sind ja ganz gut, aber dann hört es auch schon fast auf .
Aufgrund meiner knappen Redezeit möchte ich mich
hier auf zwei Punkte beschränken, die Herr Flisek schon
angesprochen hat . Es geht um die Konkretisierung der
anwaltlichen Fortbildung . Dieses Thema ist bislang geregelt in § 43a der Bundesrechtsanwaltsordnung . Dort
heißt es: „Der Rechtsanwalt ist verpflichtet, sich fortzubilden.“ Die Fortbildungspflicht besteht also schon.
({1})
Jetzt will man den Kammern die Möglichkeit eröffnen, das auszugestalten, Sanktionen zu verhängen und
die Briefwahl zu ermöglichen . So war es im ursprünglichen Gesetzentwurf vorgesehen . Zu den geplanten
Änderungen gehörte auch die Einführung der Pflicht,
im Zusammenhang mit der Zulassung Kenntnisse im
Anwaltsrecht zu erlangen; auch das war erfreulich . Dies
sollte den Verbraucher und letztlich auch den Anwalt
schützen und absichern . Man muss sich doch nur einmal
den Vergleich mit anderen Berufsgruppen anschauen,
mit Ärzten oder Lehrern beispielsweise, für die die Fortbildung auch bindend ist . Und um den Start in die Anwaltstätigkeit nicht zu sehr zu erschweren - das ist schon
angesprochen worden -, sollte die Teilnahme an diesen
Lehrveranstaltungen auch noch im ersten Jahr nach der
Zulassung möglich sein .
Jetzt komme ich zum Kernstück der Fortbildungspflicht: Auch die Regelung, dass seitens der Kammer
Sanktionen bei Nichtbeachtung der Pflicht verhängt werden können, wäre sinnvoll gewesen . Das Tolle ist, dass
der Kollege Flisek von der SPD in der ersten Lesung diese Regelung noch als sinnvoll erachtet hat .
({2})
Er hat in der ersten Lesung vor sechs Monaten hier gesagt - ich zitiere aus dem Protokoll -:
... eine Fortbildungspflicht ohne entsprechenden
Druck zur tatsächlichen Durchsetzung der Verpflichtung ist inkonsequent.
({3})
Ich weiß gar nicht, was die Kolleginnen und Kollegen
von der Koalition gegen Sanktionen haben. Bei Hartz IV
sind Sie doch auch nicht so zimperlich .
({4})
Die Koalition fand die von der Bundesregierung vorgeschlagene Regelung gut, die Opposition findet sie gut,
die betroffenen Berufsverbände finden sie gut. Alle wollen das, und trotzdem wird diese Regelung wieder gestrichen . Das soll man mal einem erklären . Ich kann das
keinem erklären .
({5})
- Ja, das meinen Sie, dass Sie das erklären können .
({6})
- Das war aber ein untauglicher Versuch - um im Juristendeutsch zu bleiben .
({7})
Nachdem bekannt wurde, dass die Koalition die
Weiterbildungspflicht aus dem Gesetzentwurf streichen
will - sie wurde letztlich auch gestrichen - meldeten
sich sowohl die Bundesrechtsanwaltskammer als auch
der Deutsche Anwaltsverein und baten darum, diese
verpflichtende Fortbildung der Satzungsversammlung
der Bundesrechtsanwaltskammer zu ermöglichen . Wenn
jetzt wieder das Argument kommt, der Vorstand der Bundesrechtsanwaltskammer, die Vorstände aller Kammern
seien mangels Teilnahme der Mitglieder an den Vorstandswahlen gar nicht hinreichend legitimiert - solche
Argumente habe ich gehört -,
({8})
möchte ich Sie fragen, auf welche Legitimität Sie sich
berufen, wenn hier im Parlament Gesetzentwürfe mit 30
Jastimmen verabschiedet werden .
({9})
Darüber hinaus sollte die Briefwahl durch jeweiligen
Kammerbeschluss und nicht generell eröffnet werden.
Gerade durch die unterschiedliche Größe der einzelnen
Kammerbezirke - das ist angesprochen worden - sollte
diese Entscheidung den einzelnen Kammern im Rahmen
ihrer funktionalen Selbstverwaltung vorbehalten bleiben .
({10})
Nun aber soll die verbindlich vorgesehene Briefwahl in
der Form erfolgen können, dass die Briefwahlzettel auch
in der Kammerversammlung abgegeben werden können .
Tolle Regelung!
Gut ist, dass die Koalition mit ihrem Änderungsantrag - so wie auch die Linke - dafür gesorgt hat, dass
die Änderung im Rechtsdienstleistungsgesetz dergestalt
vorgenommen wird, dass unqualifizierte Rechtsdienstleistungsangebote aus dem Ausland heraus nicht mehr
möglich sein sollen . Aber dies allein kann die bestehenden Mängel nicht ausgleichen .
Alles in allem wird meine Fraktion daher dieses Gesetz ablehnen, es sei denn, der Änderungsantrag der
Grünen findet hier in diesem Hohen Hause Zustimmung.
Dann können wir dem Gesetz zustimmen, weil er den
alten Rechtsstand wiederherstellte, so wie vom Justizministerium und der Regierung gewollt, von den Beteiligten gewünscht und ursprünglich von allen Parlamentariern hier im Haus auch gewollt .
Danke für die Aufmerksamkeit .
({11})
Vielen Dank. - Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt
der Kollege Detlef Seif das Wort .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Meine Damen und
Herren! Heute beraten wir den Entwurf eines Gesetzes
der Bundesregierung zur Umsetzung der Berufsanerkennungsrichtlinie .
({0})
Die Richtlinie war spätestens zum 18 . Januar 2016 in
nationales Recht umzusetzen, und das wäre auch unproblematisch möglich gewesen . Man hat sich aber nicht auf
die Kernvorschriften beschränkt, sondern diesen Gesetzentwurf mit vielen zusätzlichen Vorschlägen regelrecht
überfrachtet. Wenn wir uns das Verfahren angucken,
stellen wir fest: Das ist natürlich unvertretbar, und man
kann im Interesse der Qualität unserer Arbeit und auch
der Schnelligkeit nur dringend empfehlen, dass zukünftig Gesetzentwürfe, die EU-Richtlinien betreffen, im Wesentlichen nur auf diese Themen bezogen sind und nicht
im Omnibusverfahren alles total überfrachtet wird .
({1})
Zwei im ursprünglichen Gesetzentwurf vorgesehene
Vorschläge haben für eine besonders intensive Diskussion gesorgt, auch heute wieder, einerseits die Verpflichtung von Berufsanfängern, sich im Jahr zehn Stunden
fortzubilden, und zwar bezogen auf das Berufsrecht,
andererseits die Regelung, nach der die Satzungsversammlung der Bundesrechtsanwaltskammer, aber auch
der Patentanwaltskammer die Befugnis erhalten sollten,
durch Satzung die bestehende Fortbildungsverpflichtung
zu konkretisieren, verbunden allerdings auch mit der
Möglichkeit, die dann gesetzlich geschaffen werden sollte, über die Rüge hinauszugehen und ein Bußgeld von bis
zu 2 000 Euro zu verhängen . Diese Regelungsvorschläge
lehnt die Unionsfraktion aus guten Gründen ab .
({2})
Es mag sein, dass Berufsanfängern berufsrechtliche
Kenntnisse fehlen . Um diese Kenntnisse zu vermitteln,
bedarf es aber keiner Fortbildungsstunden und erst recht
keines Gesetzes . Es würde ausreichen, wenn die Berufsanfänger direkt nach der Erstzulassung von der jeweiligen Kammer nachdrücklich durch eine entsprechende Zusammenfassung auf einem Merkblatt informiert
würden, wo auf die wichtigsten Vorschriften hingewiesen wird .
({3})
Das sind immerhin studierte Leute, und sie wissen, wie
sie auch mit fremder Rechtsmaterie umzugehen haben .
Weder das Justizministerium noch die Berufsverbände konnten angebliche Qualitätsmängel der anwaltlichen
Tätigkeit belegen . Auch aus einschlägigen Statistiken der
Berufshaftpflichtversicherer folgt kein Nachweis für eine
Verschlechterung der anwaltlichen Arbeit. Die allermeisten Rechtsanwälte bilden sich in ihrem eigenen Interesse
selbst fort . Soweit einige Prozent der 164 000 Rechtsanwälte sich nicht fortbilden, ist fraglich, ob die Einführung
von Zwangsstunden zur Fortbildung überhaupt zu einer
Verbesserung des Kenntnisstandes dieser Personen führen wird . Entscheidend ist aber: Es ist doch völlig unverhältnismäßig, die anderen Rechtsanwälte, die weit überwiegende Zahl - rund 90 Prozent, rund 140 000 - mit
einer derartigen Fortbildungspflicht zu überfrachten, die
sanktionsbewehrt ist, sie wie Schuljungen auf die Bank
zu schicken .
Jetzt kommen wir zur rechtlichen Seite . Es gibt die
Wesentlichkeitstheorie, und unter Berücksichtigung dieser Theorie muss der Gesetzgeber wesentliche Regelungen selbst treffen. Wenn wir das wollten, müssten wir als
Gesetzgeber die Rahmenbedingungen schon selbst festlegen und können sie nicht über eine Satzungsbefugnis
an ein Selbstverwaltungsorgan übertragen .
Aber auch im Interesse einer möglichen Interessenkollision wäre es geboten, dann hier ein entsprechendes
Gesetz zu machen . Wir reden von einem neuen Markt,
bis zu 150 Millionen Euro netto Jahresumsatz, und das
Risiko ist groß, dass Vertreter berufsständischer Organisationen ein Interesse daran haben, dass ihre Fortbildungsinstitute am Markt beteiligt werden, und sie die Interessen der Anwaltschaft dabei aus dem Blick verlieren .
Meine Damen und Herren, wenn man das Wirken im
Gesetzgebungsverfahren sieht, hat man wirklich den Eindruck: Da sind knallharte Lobbyisten unterwegs, und die
bestärken diese Einschätzung .
({4})
Einige behaupten, dass die Anwaltschaft selbst die bußgeldbewehrte Fortbildungspflicht wünscht; das haben wir
auch gerade wieder gehört . Das ist so aber nicht richtig .
({5})
Selbst in der Satzungsversammlung der Bundesrechtsanwaltskammer gehen die Ansichten auseinander .
Fragen Sie doch mal die Rechtsanwälte, die sich selbst
fortbilden - das sind die allermeisten -, was sie von dem
Gesetzesvorschlag halten, und dann lassen Sie die Antwort einmal auf sich wirken .
Die Sicherung der Qualität der anwaltlichen Tätigkeit
liegt der Unionsfraktion am Herzen .
({6})
Deshalb wird sich die CDU/CSU-Bundestagsfraktion
nach Abschluss dieses gesetzlichen Verfahrens im Rahmen eines Kolloquiums mit Experten darüber austauschen, ob und in welcher Form eine Qualitätsverbesserung erreicht werden kann,
({7})
und zwar durch eine maßgeschneiderte Regelung und
nicht durch eine pauschale und belastende Vorgabe für
alle Rechtsanwälte .
Vielen Dank.
({8})
Vielen Dank. - Die nächste Rednerin ist Katja Keul,
Bündnis 90/Die Grünen .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir haben es gehört: Mit dem Gesetz sollte
ursprünglich nicht nur die Berufsanerkennungsrichtlinie
umgesetzt werden, sondern darüber hinaus auch das Berufsrecht der Rechtsanwälte modernisiert werden . Dieses
zweite Ziel wurde nun gründlich verfehlt .
({0})
Die Veränderungen aus dem Parlament heraus wären
besser unterblieben . Jetzt ist das Gesetz quasi entkernt,
indem es auf Qualitätssicherung und Verbraucherschutz
gänzlich verzichtet . Das ist mehr als schade .
({1})
Fangen wir trotzdem mit dem kleinen positiven Aspekt an: Der Anwendungsbereich des Rechtsdienstleistungsgesetzes steht künftig auch bei grenzüberschreitender Beratung nicht mehr in Zweifel . Die jetzige
Formulierung stellt klar: Der Rechtsuchende oder die
Rechtsuchende soll bei einer grenzüberschreitenden Beratung immer dann geschützt sein, wenn Gegenstand der
Beratung deutsches Recht ist .
Erfreulich ist auch die Einführung der Briefwahl bei
den Vorstandswahlen der Rechtsanwaltskammer. Dass
die Kammern die Briefwahlen jetzt nicht nur durchführen
können, sondern auch müssen, ist allerdings eher skurril .
({2})
Diese Entscheidung hätte man den Kammern selbst überlassen können .
Die wichtigste Neuerung im Regierungsentwurf war
vor allem die Konkretisierung der Fortbildungspflicht für
die Anwaltschaft, und zwar durch die Satzungsversammlung, also durch das frei gewählte Anwaltsparlament .
Die Fortbildungspflicht dient der Qualitätssicherung für
die Verbraucher und der Förderung und Stärkung der
anwaltlichen Selbstverwaltung. Dieser Vorschlag wurde
auch im Rahmen des parlamentarischen Verfahrens von
allen Experten begrüßt, auch von dem Kollegen Flisek,
wie wir gerade gehört haben .
Das Gleiche gilt für die Einführung eines Nachweises über Grundkenntnisse im anwaltlichen Berufsrecht .
Auch dies ist eine Forderung, die sowohl die Rechtsuchenden als auch die Rechtsanwälte selbst vor Haftungsfallen schützen soll . Deswegen ist es völlig unverständlich, warum diese guten und notwendigen Regelungen
ersatzlos aus dem Gesetzentwurf verschwunden sind .
Die Erklärungen für diesen Rückschritt sind schwammig
und überzeugen nicht .
({3})
Eine übermäßige finanzielle und zeitliche Belastung
sehe ich durch eine Fortbildungsveranstaltung von zehn
Stunden im Jahr eher nicht . Für Berufseinsteiger gibt es
in der Regel ohnehin entsprechende Vergünstigungen.
Außerdem gab es den sinnvollen Vorschlag, die Fortbildungspflicht in den ersten fünf Jahren nach dem zweiten
Staatsexamen zugunsten der Berufsanfänger auszusetzen . Das wäre schon deswegen sinnvoll, weil den frisch
Examinierten die Ausbildungsinhalte ohnehin noch präsent sind und die Regelung vor allem die älteren Berufskollegen zur regelmäßigen Fortbildung anhalten sollte .
({4})
Dann hieß es - das haben wir eben auch noch mal gehört -, es ginge in Wahrheit um die Profitinteressen der
Fortbildungsveranstalter, zu denen unter anderem auch
die Kammern gehören . Das ist nun wirklich ein merkwürdiges Argument: Weil Fortbildung Geld kostet, verzichten wir lieber ganz darauf . Dabei wäre die zusätzliche
Nachfrage ohnehin gar nicht so riesig, weil die Fachanwaltsfortbildungen ja auf die allgemeine Fortbildung
angerechnet werden sollten . Aus gutem Grund nehmen
schon heute die meisten Anwälte an Fachanwaltsfortbildungen teil . Trotzdem wollten Sie das nicht .
({5})
Es drängt sich vielmehr ein ganz anderer Grund für
die Streichung auf. Angeblich soll es überflüssig und
unzumutbar sein, wenn Unternehmensanwälte - so Herr
Seif im Ausschuss -, die doch ohnehin jahrelang nur für
ihr Unternehmen tätig sind und dort ihr eigenes Spezialgebiet bearbeiten, mit derartigen Fortbildungspflichten
belästigt werden .
({6})
Da rächt sich jetzt das freundliche Entgegenkommen
gegenüber den Syndikusanwälten im letzten Jahr . Als es
darum ging, Mitglied im anwaltlichen Versorgungswerk
sein zu dürfen, war es allen so wichtig, ihre Arbeit als
anwaltliche verstanden zu wissen .
({7})
Das hörte allerdings bereits bei der Erkenntnis auf, dass
anwaltliche Tätigkeit auch eine Berufshaftpflicht nach
sich zieht .
({8})
Auch jetzt will man sich nicht mit weiteren störenden
Pflichten belasten. So geht das nicht.
({9})
Wer seine anwaltliche Tätigkeit ernst nimmt, muss
vorrangig die Interessen der Rechtsuchenden in den
Blick nehmen . Außerdem dient konsequente Qualitätssicherung auch den Interessen der Anwaltschaft selbst und
der Rechtspflege insgesamt. Wer sich daran nicht beteiligen möchte, sollte auf eine Anwaltszulassung besser
verzichten .
({10})
Diesen entkernten Gesetzentwurf lehnen wir ab . Dem
Entwurf Ihres Justizministers hätten wir gerne zugestimmt. Deswegen stellen wir dessen ursprüngliche Vorschläge mit unserem Änderungsantrag hier und heute
noch einmal zur Abstimmung .
({11})
Nutzen Sie die Chance!
Vielen Dank.
({12})
Vielen Dank. - Jetzt hat der Kollege Alexander
Hoffmann für die CDU/CSU-Fraktion die Chance, diese
Debatte abzuschließen .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Wir stärken Europa, indem wir grenzüberschreitende Vorgänge erleichtern. Dieser Satz gilt
auch in der Rechtsberatung . Deswegen ist es richtig, die
Möglichkeit zu eröffnen, dass Rechtsanwälte, Patentanwälte und Berufe, die unter das Rechtsdienstleistungsgesetz fallen, grenzüberschreitend agieren können . Das ist
nicht zuletzt schon Ausfluss der Dienstleistungsfreiheit.
Dabei muss es aber unser Ziel sein, die Qualität unserer
juristischen Ausbildung und die Qualität der juristischen
Beratung im Land auf einem möglichst hohen Niveau zu
halten .
Wir haben ein hohes Niveau, und deswegen darf es
auch keinen Automatismus geben, nach dem Motto: Wer
in einem Land rechtsberatend tätig sein darf, der darf das
dann automatisch auch in einem anderen . Wir brauchen
Qualität in der Rechtsberatung, und wir brauchen eine
Lage, die denjenigen, die diese Beratung in Anspruch
nehmen, das Vertrauen gibt: Jawohl, ich bin dort in jedem Falle in guten Händen . - Deswegen ist es richtig,
dass dieser Gesetzentwurf nach wie vor darauf abstellt,
dass wir eine mindestens gleichwertige Berufsqualifikation brauchen und dass ansonsten eine Eignungsprüfung
erforderlich ist .
Ich persönlich glaube aber, dass wir für die Beibehaltung des hohen Niveaus der Rechtsberatung, das wir im
Land haben, nicht als Grundvoraussetzung eine Fortbildungspflicht für Berufsanfänger im Bereich des Berufsrechts brauchen,
({0})
die wir dann auch noch mit einer Sanktionsmöglichkeit
versehen . Das ist auch der wesentliche Unterschied zwischen den Formulierungen, wie wir sie heute haben, auch
in der Fachanwaltsordnung, wo das ja als Obliegenheit
formuliert ist .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich weiß nicht, wie
es Ihnen geht . Aber wenn ich mich an meine Referendarzeit zurückerinnere, dann muss ich feststellen, dass wir
weitaus mehr als zehn Stunden Berufsrecht gemacht haben . Wenn wir heute in der Debatte den Eindruck erwecken, dass wir bei neuen Rechtsanwälten unter Umständen nicht bundesweit ein dementsprechend hohes Niveau
auf dem Gebiet des Berufsrechts haben, dann müssen wir
diese Diskussion eigentlich um die Frage bereichern:
Wie gelingt es uns dann, bundesweit schon in der Ausbildung im Bereich der Kenntnisse über das Berufsrecht ein
solches Niveau zu etablieren?
Im Übrigen glaube ich, dass Fortbildung, Weiterbildung und das Sich-mit-der-Rechtslage-Entwickeln ein
originäres Eigeninteresse eines jeden Rechtsanwalts sein
muss .
({1})
Wenn man sich den heutigen Markt anschaut, dann muss
man feststellen: Rechtsanwalt sein ist heute kein Zuckerschlecken mehr, weil der Konkurrenzdruck so groß ist,
dass man in dem Moment, in dem man das Eigeninteresse an Fortbildung nicht mehr verfolgt, unter Umständen
komplett abgehängt wird . Die Zahlen in diesem Bereich
sprechen Bände . Es gibt Zahlen des Soldan Instituts,
nach denen sich 90 Prozent aller Rechtsanwälte regelmäßig fortbilden. Deswegen empfinde ich es als völlig verfehlt, wenn in dieser Debatte der Eindruck erweckt wird,
dass die Qualität für Bürgerinnen und Bürger schlechter
wird, weil wir nicht sanktionsbewehrt eine Fortbildungspflicht etablieren.
({2})
Der Kollege Seif hat es vorhin angesprochen: Auch in
der BRAK ist das Stimmungsbild gespalten . Es ist nicht
so, dass alle sagen, es gebe nur diesen einen Weg,
({3})
und ich denke, diesen Eindruck sollten wir in dieser Debatte auch nicht erwecken .
Wenn wir auf die besonderen Änderungen im berufsständischen Recht der Rechtsanwälte und in bestimmten
Rechtsgebieten zurückblicken, dann stellen wir fest: Es
war eigentlich nie ein Problem für die Rechtsanwälte,
sich punktgenau auf die neue Rechtslage und die neue
Situation vorzubereiten . Erinnern Sie sich nur an die große Änderung im Gebührenrecht .
({4})
Ich glaube, insoweit wird deutlich, dass die Anwälte und
Anwältinnen, die wir hier im Land haben, keinen Ansporn in Form eines sanktionsbewehrten Zwangsmittels
brauchen .
Ich halte die Formulierung, die im Moment auf dem
Tisch liegt, für sehr gelungen und möchte deswegen um
Ihre Zustimmung werben .
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit .
({5})
Vielen Dank. - Damit ist die Aussprache beendet.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Umsetzung der Berufsanerkennungsrichtlinie und zur Änderung
weiterer Vorschriften im Bereich der rechtsberatenden
Berufe. Der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/11468, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf den Drucksachen 18/9521 und 18/9948 in der Ausschussfassung anzunehmen .
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/11626 vor, über
den wir zuerst abstimmen .
({0})
Wer stimmt für den Änderungsantrag von Bündnis 90/
Die Grünen? ({1})
Wer stimmt dagegen? - Das ist die Koalition; das war
eindeutig die Mehrheit . - Enthaltungen sehe ich nicht .
Damit ist der Änderungsantrag abgelehnt .
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen . - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist
der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den Stimmen
der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen .
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung . Ich bitte diejenigen, aufzustehen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen . - Wer
ist dagegen? - Enthaltungen sehe ich nicht . Damit ist
der Gesetzentwurf in dritter Beratung mit dem gleichen
Stimmenverhältnis angenommen .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung von Vorschriften im Bereich
des Internationalen Privat- und Zivilverfahrensrechts
Drucksache 18/10714
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht
und Verbraucherschutz ({2})
Drucksache 18/11637
Hier sollen die Reden zu Protokoll gegeben wer-
den . - Ich sehe, dass Sie damit einverstanden sind .1)
Wir kommen zur Abstimmung . Der Ausschuss für
Recht und Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 18/11637, den
Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksa-
che 18/10714 in der Ausschussfassung anzunehmen .
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei-
chen . - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der
1) Anlage 7
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Stimmen aller Fraktionen angenommen .
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung . Ich bitte alle, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben . - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der Gesetzentwurf in dritter Beratung einstimmig angenommen .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zehnten
Gesetzes zur Änderung des Weingesetzes
Drucksachen 18/10944, 18/11284, 18/11472
Nr. 1.2
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung und Landwirtschaft ({3})
Drucksache 18/11635
Auch hier sollen die Reden zu Protokoll gegeben
werden . - Sie sind damit einverstanden .1)
Wir kommen zur Abstimmung . Der Ausschuss für
Ernährung und Landwirtschaft empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/11635, den
Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 18/10944 und 18/11284 in der Ausschussfassung
anzunehmen . Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
das Handzeichen . - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit
den Stimmen aller Fraktionen bei einer Enthaltung aus
der Fraktion Die Linke angenommen .
({4})
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung . Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben . -
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetz-
entwurf ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis ange-
nommen .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und SPD
Innovationskraft von kleinen und mittleren
Unternehmen stärken - Anreize für mehr
Investitionen in Forschung und Entwicklung
schaffen
Drucksache 18/11594
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen . - Ich höre kei-
nen Widerspruch . Dann ist so beschlossen .
1) Anlage 8
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Andreas Lämmel, CDU/CSU-Fraktion .
({5})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es gibt natürlich keine schlechte Zeit, um sich über die
Unterstützung innovativer Unternehmen zu unterhalten .
Es gibt jedoch auch bessere Zeiten als jetzt . Aber wir
wollen das heute so nehmen, wie es kommt, und uns um
diese Zeit intensiv damit auseinandersetzen, wie wir in
Deutschland die Szene der innovativen Unternehmen
noch besser unterstützen können .
Die innovativen kleinen und mittleren Unternehmen
in Deutschland bilden das starke Rückgrat der deutschen
Wirtschaft, meine Damen und Herren . Sie sorgen für
technologischen Fortschritt in Deutschland und sichern
hochqualifizierte Arbeitsplätze. Eine Vielzahl von ihnen gehört zu den sogenannten Hidden Champions, also
Weltmarktführern, deren Namen man aber nicht genau
kennt .
({0})
- Lieber Kollege Hahn, du weißt ja, dass wir trotz der
PDS in Sachsen hervorragende Fortschritte gemacht haben . Gerade Sachsen ist ja ein Land der innovativen Unternehmen . Insofern kann das so nicht stimmen .
({1})
Meine Damen und Herren, trotzdem muss man ehrlicherweise sagen: Verschiedene Studien attestieren
dem innovativen Mittelstand in den letzten Jahren eine
nachlassende Innovationskraft . Wenn man den Studien
glauben darf, dann ist es so, dass die Zahl der forschenden Unternehmen in Deutschland seit einigen Jahren
stagniert . Die Ausgaben für Innovationen, also für die
Forschung, in den kleinen und mittleren Unternehmen,
haben sich, gemessen am Umsatz, in den letzten 15 Jahren nahezu halbiert . Auch die Zahl der Gründer wächst
schon seit Jahren nicht mehr in Deutschland . Damit ist
natürlich der Nachwuchs für zukünftige innovative Unternehmen gefährdet .
Deswegen brauchen wir einen frischen Wind in der
Szene der innovativen Unternehmen . Genau darauf zielt
unser Antrag . Wir haben im Prinzip drei Punkte herausgegriffen - sie sind uns in vielen Diskussionen mit Vertretern innovativer Unternehmen und von Forschungsinstituten immer wieder genannt werden -, die notwendig
sind, um hier etwas Bewegung in die ganze Sache zu
bringen .
Erstens . Die Finanzierung von Innovationen und
Start-ups muss erleichtert werden . Das ist ein ständiges
Thema; gar keine Frage. Viele Vorschläge liegen auf dem
Tisch . Trotzdem muss man deutlich sagen: In den letzten
Jahren der Großen Koalition und seitdem Bundeskanzlerin Angela Merkel im Amt ist, also seit 2005, haben
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
sich die Ausgaben für Forschung und Technologie enorm
erhöht, meine Damen und Herren .
({2})
Die Förderung des innovativen Mittelstandes hat sich
nahezu verdoppelt und beträgt jetzt fast 1,6 Milliarden
Euro pro Jahr . Das ist schon ein ziemlich bedeutender
Betrag . Hier gibt es zwei Säulen: zum einen das Zentrale
Innovationsprogramm Mittelstand und zum anderen die
Projektförderung über die Industrielle Gemeinschaftsforschung . Es geht darum, die Finanzierung dieser Programme in den nächsten Jahren zu sichern . Innerhalb der
Koalition haben wir vor, die Mittel - sie sind in der mittelfristigen Finanzplanung schon ausgewiesen - für diese
Programme deutlich zu steigern .
Zweiter Punkt . Die Bildungs- und Forschungskooperation - das halte ich aufgrund meiner eigenen Erfahrung
aus der Landespolitik in Sachsen für sehr wichtig - muss
weiter forciert werden . Es handelt sich um Kooperationen zwischen Unternehmen und Universitäten, zwischen
Unternehmen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen, von Unternehmen untereinander . Das ist,
glaube ich, für die nächste Zukunft sehr wichtig, obwohl
wir auch hier in den letzten Jahren eigentlich deutliche
Fortschritte gemacht haben . Wir haben 15 Spitzencluster
aus dem Spitzencluster-Wettbewerb - das ist schon sehr
gut -, und wir haben immerhin über 400 Netzwerke zum
Beispiel aus der BMBF-Innovationsinitiative „Unternehmen Region“ .
Dritter und letzter Punkt aus unserem Programm ist, die
KMUs fit zu machen für die digitale Wirtschaft. Glaubt
man den verschiedenen Stimmen aus der Wissenschaft
und den verschiedenen Studien, dann ist es angeblich so,
dass der Mittelstand die Digitalisierung verschläft . Aus
meiner Sicht ist das nicht so . Trotzdem muss hier darauf
hingewiesen werden: Wer heute in der Digitalisierung
nicht die richtigen Schritte geht, wird es in der Zukunft
schwer haben . Deshalb gilt es für uns, das Thema digitale
Wirtschaft voranzubringen und die KMUs weiter zu unterstützen . Die Plattform Industrie 4 .0 ist hier schon ein
wichtiger Schritt in die richtige Richtung .
Ich bitte Sie ganz herzlich um Zustimmung zu unserem Antrag .
({3})
Vielen Dank. - Für die Fraktion Die Linke hat jetzt
Thomas Lutze das Wort .
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! In
34 Punkten listen Sie auf, was man alles machen müsste
und machen könnte, wenn man die Stellung von kleinen
und mittelständischen Unternehmen in der Bundesrepublik stärken wollte . Und Sie betonen zu Recht, dass
der Zugang und die Perspektiven für diese Unternehmen
zum Beispiel im Bereich Forschung und Entwicklung
verbessert werden müssen .
Erlauben Sie mir heute Abend, eine Schulnote zu vergeben; denn man kann resümieren: Schön, dass Sie alles
aufgeschrieben haben. Vollständigkeit: Note 1. Was man
aber nicht in eine Schulnote pressen kann, ist eine politische Frage . Die Antragsteller, CDU/CSU und SPD, regieren seit dreieinhalb Jahren hier . Sie stellen zusammen
eine komfortable Mehrheit . Wenn sie es ernst meinen mit
dem Thema, dann muss die Frage erlaubt sein, warum
wir heute Abend nur einen Antrag haben und keine entsprechende Gesetzesinitiative .
({0})
Bei der Lektüre Ihres Antrags bekommt man ein
bisschen den Eindruck, dass wir kurz vor der Bundestagswahl - und fast hätten wir es kurz vor Mitternacht
gehabt - einen Schaufensterantrag auf der Tagesordnung
haben. Ich finde das Thema zu wichtig, Herr Lämmel,
als dass wir es hier im Ad-hoc-Verfahren einfach mal so
durchwinken . Das ist kein seriöses parlamentarisches
Verfahren.
({1})
Wenn Sie ernsthaft eine Debatte wollen - und ich
glaube, wir liegen bei ganz vielen Einzelfragen gar nicht
so weit auseinander -, dann überweisen Sie Ihr Papier in
die zuständigen Ausschüsse und lassen Sie uns darüber
diskutieren .
({2})
Aus der Sicht der Linksfraktion ist klar: Kleine und
mittelständische Unternehmen sind eine tragende Säule
unserer Volkswirtschaft. Millionen Menschen haben über
diese Unternehmen ein Einkommen, weil sie zum Beispiel Unternehmer, Teilhaber oder auch Mitarbeiter sind .
Im Gegensatz zu den großen privatrechtlichen, aber auch
vielen öffentlichen Unternehmen sind ihre Möglichkeiten, Forschung und Entwicklung selbst zu betreiben,
aufgrund ihrer Größe meist sehr begrenzt . Sie sind also
auf Hilfe von außen, auf Zuschüsse, auf Programme usw .
angewiesen .
Ich bin nun sehr gespannt, was mit Ihrem Antrag konkret passiert, welche Konsequenzen er für den Rest der
Wahlperiode hat und welche Aussagen dann im Wahlkampf getroffen werden. Man muss, glaube ich, kein
Prophet sein, um voraussagen zu können: Dieses Thema
werden wir in der nächsten Wahlperiode wieder auf der
Tagesordnung haben. Ich hoffe, dann mit einer anderen
Bundesregierung und einer anderen Mehrheit hier im
Haus .
Vielen Dank.
({3})
Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist Sabine
Poschmann, SPD-Fraktion .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Vorab möchte ich etwas zu Herrn Lutze sagen, und zwar: Sie hätten unseren Antrag besser lesen
sollen . Dann hätten Sie festgestellt, dass 19 Punkte, der
überwiegende Teil unseres Antrags, besagen, was wir
befürworten, was wir bisher alles auf die Reihe gekriegt
haben und wo wir überall schon etwas für Innovation und
den Mittelstand getan haben .
({0})
15 Punkte besagen dagegen, wo wir noch aufbauen können . Das ist also nicht die Mehrheit . Wir haben schon
sehr viel getan in dieser Wahlperiode .
Deshalb denke ich, man kann zwar immer noch darüber hinausgehen, aber ich freue mich, dass auch die Linke
mit uns diesen Weg geht . Denn wir alle wissen: Unsere
Forschungs- und Entwicklungslandschaft genießt weltweit hohes Ansehen . Der jüngsten OECD-Studie zufolge
zählt Deutschland zu den fünf führenden Forschungsnationen und hat seine Innovationskraft in den vergangenen
Jahren deutlich gesteigert .
Die Gesamtinvestitionen für Forschung und Entwicklung haben zuletzt einen Höchstwert von 158 Milliarden
Euro erreicht. Wir befinden uns insgesamt also auf einem
richtigen Weg .
Die eigentlichen Wachstumstreiber sind aber die großen Unternehmen . Während diese ihre F-und-E-Ausgaben kontinuierlich steigern, fällt der Anteil der kleineren
Betriebe mit weniger als 500 Mitarbeitern seit Jahren
weiter zurück . Wir laufen also Gefahr, dass ein großer
Teil des Mittelstandes den Anschluss verliert . Diese Entwicklung müssen wir gerade in Zeiten von Digitalisierung und Internationalisierung stoppen, und wir müssen
versuchen, sie umzudrehen .
Wir wollen den Pioniergeist kleiner Unternehmen
wecken und ihr F-und-E-Potenzial stärken . Genau darauf zielt unser heutiger Antrag ab . Er bietet eine gute
Grundlage und ist das Ergebnis vieler Gespräche, die wir
seit einem Jahr noch viel intensiver mit allen mittelständischen Akteuren geführt haben .
Ein wesentlicher Punkt ist für uns, kleineren Betrieben
den Zugang zu Förderprogrammen zu erleichtern. Vieles ist für sie einfach zu kompliziert . Wir brauchen Wege
durch den Förderdschungel . Deshalb muss die Projektförderung transparenter und einfacher gestaltet werden .
Der Anker ist und bleibt das Zentrale Innovationsprogramm Mittelstand, ZIM, mit dem wir technologische
Neuerungen auf den Weg bringen . Aber auch hier können
wir noch eine Schippe drauflegen, indem wir das Volumen bei ZIM von 543 Millionen Euro auf 700 Millionen
Euro erhöhen .
Sehr geehrte Damen und Herren, unser gesamtstaatliches Ziel, die F-und-E-Ausgaben auf 3 Prozent des
Bruttoinlandsprodukts zu erhöhen, haben wir inzwischen
erreicht . Das ist ein Erfolg . Wir dürfen jetzt aber nicht
stehen bleiben; denn andere Volkswirtschaften haben die
3 Prozent längst hinter sich gelassen . Deshalb möchten
wir mit unserem Antrag die Gesamtinvestitionen in Forschung und Entwicklung in Deutschland bis 2025 auf
3,5 Prozent des BIP steigern .
Wir Sozialdemokraten sind bereit, noch weiter zu
gehen . Die deutsche Förderarchitektur ist auf eine klassische Projektförderung fokussiert . Was wir unserer
Meinung nach ebenfalls benötigen, ist eine steuerliche
Forschungsförderung . Wenn wir den Entdeckergeist der
kleinen Betriebe wecken wollen, brauchen wir eine breite Förderung, die diese auch erreicht .
Daher finde ich es sehr bedauerlich, dass Sie, liebe
Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, unseren Vorschlag für eine steuerliche Forschungsförderung
nicht mittragen wollen,
({1})
erst recht, da Niedersachsen und Bayern ein gutes Konzept vorgelegt haben und nun sogar Bundesfinanzminister Schäuble Sympathien für unseren Vorstoß gezeigt hat.
({2})
Vielleicht fehlt für den tatsächlichen Schritt dann doch
der Mut. Vielleicht hat es Herr Schäuble nicht ernst gemeint . Die SPD jedenfalls steht bereit, das entsprechende
Gesetz mit dem Koalitionspartner noch vor der Sommerpause auf den Weg zu bringen .
({3})
- Vielleicht nach der Sommerpause.
Meine Damen und Herren, Innovationen dürfen nicht
am fehlenden Kapital scheitern . Wir begrüßen ausdrücklich, dass die KfW-Bank die Finanzierung von Start-ups
deutlich ausweitet . Wir wollen damit sicherstellen, dass
jungen, innovativen Unternehmen in allen Entwicklungsphasen ausreichend Kapital zur Verfügung steht.
Die aktuellen Gründerzahlen zeigen: Da ist noch Luft .
Da geht noch was .
Wenn ich von Innovationen spreche, meine ich nicht allein technische Neuerungen . Unser Innovationsverständnis reicht weiter . Wir als SPD-Fraktion beziehen dabei
ausdrücklich soziales Unternehmertum ein, das mit neuen Ideen und Geschäftsmodellen die Lebensqualität der
Menschen verbessern will . Das können Gutschein-Apps
für Flüchtlinge sein oder Projekte wie die Solidarische
Landwirtschaft, bei der eine Gruppe von Verbrauchern
mit einem Partner in der Landwirtschaft kooperiert . Der
Kreativität sind hier - genauso wie in der Technik - keine
Grenzen gesetzt . Auch solche Start-ups werden künftig
deutlich stärker in den Blick genommen und durch die
Öffnung der Programme hoffentlich unterstützt. Sie sind
eine wahre Schatztruhe . Je mehr Menschen sich für die
Lösung gesellschaftlicher Probleme engagieren, desto
größer werden die Auswahl und die Ideenvielfalt . Damit
punkten wir gleich mehrfach . Wir stärken privates Unternehmertum, entlasten staatliche Organisationen und
stoßen Kooperationen zwischen innovativen Sozialunternehmen und Wohlfahrtsverbänden an .
Meine Damen und Herren, der deutsche Mittelstand
ist eine Lok für unser Wachstum . Lassen Sie uns die
Weichenstellung weiter verbessern, damit die Fahrt noch
kraftvoller vorangeht .
Herzlichen Dank .
({4})
Danke schön . - Für Bündnis 90/Die Grünen spricht
jetzt Dr . Thomas Gambke .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auch wenn meine Rede Sie möglicherweise zu anderen
Erwartungen verleitet: Wir werden dem Antrag zustimmen . Er enthält eine Reihe aufgelisteter richtiger Punkte .
Es gibt kaum etwas, dem wir widersprechen würden . Herr
Lämmel, Sie haben sich ein bisschen darüber beschwert,
dass wir heute zu relativ später Zeit dieses Thema auf die
Tagesordnung gesetzt haben . Ich bin recht stolz, dass Sie
noch da sind . Ich habe mich in den letzten zwei Tagen
immer wieder gewehrt, meine Rede zu Protokoll zu geben, eine Rede über einen Antrag, der vor noch nicht einmal 48 Stunden in dieses Parlament eingebracht wurde .
Sie schreiben zu Beginn Ihres Antrags richtigerweise:
Die wirtschaftliche und gesellschaftliche Zukunft
Deutschlands hängt maßgeblich davon ab, wie gut
es uns gelingt, innovative Ideen zu verwirklichen .
Es geht darum, zukunftsfähige Lösungen für die
großen Herausforderungen unserer Zeit zu finden.
Das machen Sie mit einer Protokollrede, wenn es nach
Ihnen gegangen wäre? Das machen Sie, wenn es nach
Ihnen geht, mit einer Sofortabstimmung? Das machen
Sie, ohne uns irgendwelche konkreten Maßnahmen vorzustellen? Ich bin erschüttert .
({0})
Viele von Ihnen, die aus den Fachabteilungen kommen, haben an der Anhörung zu den ERP-Mitteln am
letzten Montag teilgenommen . Auf Ihre Frage wurden
die mir bekannten und Ihnen wahrscheinlich noch nicht
bekannten Zahlen betreffend das Volumen von Venture
Capital in Deutschland im Vergleich zu dem in den USA
genannt - ich bin versucht, Sie zu fragen, ob Sie mir diese Zahlen nennen können -: 60 Milliarden Dollar in den
USA und 800 Millionen Euro bei uns. Das Volumen von
Venture Capital in Deutschland macht - bei einem Faktor 10 der beiden Volkswirtschaften - etwa ein Hundertstel des Volumens von Venture Capital in den USA aus.
Wenn wir uns mit diesem Thema befassen, müssen wir
uns auch - so steht es in Ihrem Koalitionsvertrag - mit
Fragen zum Wagniskapital ernsthaft befassen . Was ist daraus geworden? Ist Ihr vorliegender Antrag die Antwort
darauf? Aber ich bitte Sie, meine Damen und Herren!
Das kann doch wohl nicht wahr sein, dass Sie, obwohl
Sie diese Lücke schon identifiziert haben, gar nichts vorlegen .
({1})
Ich nenne Ihnen ein Beispiel . Wenn ein Unternehmer
ein von der TU München entwickeltes elektrisch angetriebenes und an die Erfordernisse der heutigen Welt
angepasstes Auto sieht und sagt, dass er das hier bauen
möchte, dann braucht er aber Kapital in einer Größenordnung von 75 Millionen bis 125 Millionen Euro . Solche
Summen müssen Sie generieren, wenn Sie solche Projekte angehen . Wir brauchen Antworten darauf, woher wir
das private Kapital dafür bekommen, wie die rechtlichen
Rahmenbedingungen beschaffen sein müssen und wie
der Staat das fördern kann . Aber von Ihnen gibt es keine
Antworten auf diese Fragen .
({2})
Nun komme ich zum Punkt der steuerlichen Forschungsförderung . Dazu hatten wir einen Gesetzentwurf
eingebracht . Dazu gab es eine Anhörung und zahllose
Fachgespräche . Daraus haben Sie dann einen Prüfauftrag
gemacht . Das ist doch lächerlich!
({3})
Entweder wollen Sie es, oder Sie wollen es nicht . Was
Sie nun vorgelegt haben, dient nur dazu, im Wahlkampf
sagen zu können: Wir kümmern uns . - Aber nichts ist
gemacht . Selbst Herr Schäuble - ich habe mich ja gewundert - hat schon zugestimmt, und Sie blockieren das
immer noch . Der Ball lag auf dem Elfmeterpunkt . Warum haben Sie ihn nicht versenkt?
Ich nenne Ihnen dazu noch ein ganz wesentliches
Argument: Es geht nicht um Projektförderung gegen
steuerliche Forschungsförderung . Wir kommen bei interdisziplinären, neuen und innovativen Ideen mit der Projektförderung nicht weiter . Wir kommen bei den kleinen
und mittleren Unternehmen nicht weiter, hinter denen
kein Akademiker steht, sondern ein Fachmann, der möglicherweise noch nicht einmal eine Ingenieurausbildung
hat . Dieser bekommt nämlich kein Geld aus den Mitteln
für Projektförderung für das, was er an guter Entwicklungsarbeit leistet . Das kann man nur mit der steuerlichen
Forschungsförderung erreichen .
({4})
Ich kann nur noch einmal sagen: Ich bin erschüttert
über diesen dünnen Antrag, der inhaltlich zwar nicht
falsch ist, der aber vollkommen an der Problemstellung
vorbeigeht .
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank. - Für die CDU/CSU-Fraktion spricht
jetzt Dr . Stefan Kaufmann .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! In seiner unvergessenen
„Ruck-Rede“ vor fast genau 20 Jahren formulierte Roman Herzog treffend: „Die Fähigkeit zur Innovation entscheidet über unser Schicksal.“ Dies trifft auch für die
kleinen und mittleren Unternehmen in unserem Lande zu .
Es ist schicksalhaft für deren erfolgreiches Fortbestehen,
dass sie innovativ bleiben, dass sie Schritt halten; denn
nur so - das haben wir schon gemeinsam festgestellt, und
dem widerspricht auch Herr Gambke nicht - bleiben sie
wettbewerbsfähig, und zwar nicht nur national, sondern
auch weltweit .
Dieser weltweite Wettbewerb ist hart . Der deutlich
schnellste Rechner der Welt - „Sonnenweg“, 93 Petaflops - steht nicht in Europa. Er steht auch nicht in den
USA . Er steht in China, und dort wurde er im Übrigen
auch entwickelt .
Mit dem vorliegenden Antrag haben die Koalitionsfraktionen ein, wie ich meine, wirklich gelungenes
Portfolio der Innovationsförderung für den Mittelstand
seitens des Bundes aufgezeichnet . Gleichzeitig legen
wir - Frau Kollegin Poschmann hat es gesagt - der Bundesregierung einen Forderungskatalog vor, mit dem wir
weitere Ideen für die weitere Stärkung der Innovationskraft der deutschen KMU formulieren . Denn: Wir sind
gut, aber wir müssen noch besser werden .
Woran genau lässt sich dies nun festmachen? Das
EFI-Gutachten, auf das wir Bezug nehmen, wurde genannt . Dort wurde festgestellt, dass nur rund 42 Prozent
der KMU im Zeitraum von 2013 bis 2015 Innovationsaktivitäten aufwiesen . Damit sind die deutschen KMU im
europäischen Vergleich zwar führend, aber die Innovationsintensität - Herr Kollege Lämmel hat es gesagt -, also
die Innovationsausgaben in Relation zum Gesamtumsatz,
ist rückläufig, sie sank nämlich von 1,7 Prozent im Jahr
2006 auf 1,5 Prozent im Jahr 2015 .
Was sind die Gründe? Was sind die sogenannten Innovationshemmnisse? Was hindert die KMU daran, Innovationsaktivitäten zu entfalten?
({0})
Hier liefert das EFI-Gutachten einige interessante Antworten . Es sind ganz allgemein zu hohe Innovationskosten, ein zu hohes wirtschaftliches Risiko, außerdem ein
Mangel an geeignetem Fachpersonal - auch das ist ein
wichtiger Punkt - sowie an internen Finanzierungsquellen .
Genau bei diesen Punkten setzen wir mit unserem Antrag an . Wir beschreiben ein ganzes Bündel von Maßnahmen des BMWi und BMBF vor allem im Bereich der
Fachkräftesicherung, aber auch, Kollege Gambke, im
Bereich der Innovationsfinanzierung, um die Innovationshemmnisse weiter abzubauen .
Ich möchte einige Beispiele kurz nennen. Vor allem
unsere Hightech-Strategie hat wichtige Impulse gesetzt
und die Rahmenbedingungen für Innovationen entgegen
Ihren Unkenrufen hier in den letzten Jahren deutlich verbessert .
({1})
Im Bereich des BMBF wurde die KMU-Förderung
um immerhin 30 Prozent auf nunmehr 320 Millionen
Euro pro Jahr aufgestockt . Im Bildungsbereich bringen
wir die Digitalisierung vor allem auch in der beruflichen
Bildung voran und sorgen dafür, dass der künftige Fachkräftebedarf gesichert werden kann .
({2})
Ich darf an dieser Stelle das im letzten Jahr von Ministerin Johanna Wanka vorgestellte Zehn-Punkte-Programm „Vorfahrt für den Mittelstand“ ausdrücklich
loben . Darin hat das BMBF die Förderpolitik für mehr
Innovationen bei KMU neu aufgestellt . Mit dem Programm werden neue Ideen, Anwendungsmöglichkeiten
und Geschäftsmodelle gefördert und eine weite Verbreitung von Forschungsergebnissen und Modelllösungen
unter den KMU vorangetrieben . Hier setzen wir auf
niederschwellige Angebote und vor allem auch auf die
Hebelwirkung von Netzwerken - auch das hat Kollege
Lämmel schon angesprochen -, insbesondere auf Partnerschaften von KMU mit regionalen Hochschulen oder
auch mit außeruniversitären Forschungseinrichtungen .
Meine Damen und Herren, für die Zukunft braucht es
aber weitere, noch größere Anstrengungen . Deshalb sprechen wir uns ganz klar für das 3,5-Prozent-Ziel aus und
für ein effizientes Modell zur steuerlichen F-und-E-Förderung . Herr Gambke, wir sind noch nicht ganz am Ziel
der Diskussion; aber wir sind ein weites Stück vorangekommen . Wenn der entscheidende Schritt nicht mehr in
dieser Legislatur kommt, dann kommt er auf jeden Fall
in der nächsten .
({3})
Dafür steht die Union .
Für erfolgversprechende Start-ups - auch das wurde
genannt; ein ganz wichtiges Thema - werden wir zusätzliche Möglichkeiten zur Mobilisierung von Wagniskapital schaffen. Auch da sind wir dran. Insbesondere hinsichtlich der Seed-Phase sind wir uns weitgehend einig,
dass es vor allem dort noch Probleme gibt .
Wenn uns dies alles gelingt - da bin ich sehr zuversichtlich -, dann muss uns auch um das Schicksal unserer
KMU und damit um die künftige Innovationsfähigkeit
der deutschen Wirtschaft insgesamt nicht bange sein .
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit .
({4})
Vielen Dank. - Damit ist die Aussprache beendet.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf der Drucksache 18/11594 mit dem Titel „Innovationskraft von kleinen und mittleren Unternehmen stärken - Anreize für
mehr Investitionen in Forschung und Entwicklung schaffen“ . Die Fraktionen der CDU/CSU und SPD wünschen
Abstimmung in der Sache . Die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen wünscht Überweisung zur Federführung an den
Ausschuss für Wirtschaft und Energie und zur Mitberatung an den Finanzausschuss, an den Haushaltsausschuss
sowie an den Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung .
Wir stimmen nach ständiger Übung zuerst über den
Antrag auf Ausschussüberweisung ab . Ich frage deshalb:
Wer stimmt für die von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen beantragte Überweisung? - Das sind die Grünen und
die Linke . Wer stimmt dagegen? - Das sind die CDU/
CSU und die SPD . Wer enthält sich? - Keiner . Damit ist
der Antrag auf Ausschussüberweisung abgelehnt .
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag auf
Drucksache 18/11594 in der Sache . Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Der Antrag ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD,
Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die
Linke angenommen .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung der Netzentgeltstruktur ({0})
Drucksache 18/11528
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({1})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicher-
heit
Die Reden hierzu sollen zu Protokoll gegeben wer-
den . - Ich sehe, dass Sie damit einverstanden sind .1)
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/11528 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Ich sehe, das ist nicht
der Fall . Dann ist die Überweisung so beschlossen .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur
Änderung des Gesetzes über den Deutschen
Wetterdienst
Drucksache 18/11533
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur ({2})
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
1) Anlage 9
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor-
sicherheit
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss Digitale Agenda
Auch hier sollen die Reden zu Protokoll gegeben
werden . - Ich sehe, dass Sie damit einverstanden sind .2)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/11533 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . - Ich sehe
dazu keine anderweitigen Vorschläge. Dann ist die Überweisung so beschlossen .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Fortschreibung der Vorschriften für Blut- und
Gewebezubereitungen und zur Änderung anderer Vorschriften
Drucksache 18/11488
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({3})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor-
sicherheit
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden . - Ich
sehe, Sie sind damit einverstanden .3)
Die Fraktionen haben vereinbart, dass der Gesetzentwurf auf Drucksache 18/11488 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden soll . Ich sehe auch hierzu keine anderen Vorschläge. Dann ist
so beschlossen .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf:
Beratung des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
({4}) gemäß § 56a der Geschäftsordnung
Technikfolgenabschätzung ({5})
Synthetische Biologie - Die nächste Stufe der
Bio- und Gentechnologie
Drucksache 18/7216
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({6})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor-
sicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen . - Ich höre kei-
nen Widerspruch . Dann ist so beschlossen .
2) Anlage 10
3) Anlage 11
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Stephan
Albani, CDU/CSU-Fraktion .
({7})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Einige haben ja
noch bis heute Abend durchgehalten . - Wissenschaftlicher Fortschritt birgt Risiken . Darüber sind wir uns alle
im Klaren . Dennoch ist der Umgang damit sehr unterschiedlich . Den Umgang mit Neuerungen in den eigenen
vier Wänden oder im Verkehrsbereich kann man durchaus als weitestgehend entspannt bezeichnen . Hier sind
wir neugierig und vertrauen uns schon mal eher, aber
immer zugleich auch zögerlich neuen Flugzeugen oder
rückwärts einparkenden Assistenzsystemen an .
Ganz anders ist dies im Bereich der Gentechnologie oder eben der Synthetischen Biologie . Diese macht
Angst, oftmals aber unter Ausblendung der Fakten . Die
verheerenden Zukunftsszenarien von Bioterrorismus,
Designermenschen und Menschen, die beim Gottspielen scheitern, sind Stoff für Kinofilme. Glücklicherweise stellte Bischof Karl Lehmann bereits 1996 fest, dass
Gentechnik kein Teufelswerk sein muss .
Der vorliegende TAB-Bericht verschafft uns wichtige Klarheit darüber, was Synthetische Biologie ist und
was nicht . Die im Bericht enthaltenen Anwendungsfelder verdeutlichen, welche enormen Chancen für unser
Land aus diesem rasant wachsenden Forschungsfeld entstehen können . So bietet sich vor allem in der Medizin
bedeutendes Innovationspotenzial . Kurz- und langfristig
kann die Synthetische Biologie zu neuen Entwicklungen bei molekularbiologisch basierten Diagnose- und
Therapieverfahren, der Impfstoffentwicklung sowie der
Krebsbehandlung führen - exakt also den Gesundheitsforschungsfeldern, auf denen unser Land heute und auch
in Zukunft eine Führungsrolle einnimmt und einnehmen
soll .
Das Beispiel zeigt, wie wichtig es aus politischer
Sicht ist, diese Chancen zu fördern - ganz im Sinne von
Weizsäckers Dreisatz: Die Technik von heute ist das Brot
von morgen . Die Wissenschaft von heute ist die Technik
von morgen .
Dabei stellen Experten immer wieder fest, dass die
Finanzierung von Biotech-Start-ups und der Zugang zu
Risikokapital bei uns durchaus ausbaufähig sind . Der
Bericht stellt fest, dass das BMBF in den vergangenen
20 Jahren eine sehr aktive Rolle bei der Unterstützung
von Unternehmensgründungen in der Biotechnologie
gespielt hat . Auch wir haben seitens der Unionsfraktion
immer wieder für öffentliches und privates Risikokapital
gekämpft - durchaus mit Erfolg .
Dennoch fehlt es in der Branche an den nötigen Mitteln . Medizinische Forschung ist kostenintensiv, stark
reguliert und langwierig . Kapitalgeber für Biotechgründungen brauchen einen langen Atem . Das kann sich auszahlen, wie zum Beispiel große Biotechunternehmen aus
den USA belegen . So ist der 1987 gegründete Biotechriese Gilead Sciences heute 80 Milliarden Euro wert . Der
fünf Jahre später gegründete deutsche Branchenprimus
MorphoSys ist mit 1,6 Milliarden Euro lediglich 2 Prozent davon wert .
Doch nicht nur Wirtschaft und Arbeitsmarkt, vielmehr
auch die Menschen profitieren in diesem Bereich von der
Synthetischen Biologie . Es gibt bereits vielversprechende Ansätze in der Heilung schwerer Erbkrankheiten wie
der Mukoviszidose oder im Bereich der personalisierten
Krebsbehandlung . Auch die Möglichkeiten im Bereich
der Wirkstoffforschung sind vor dem Hintergrund weltweit zunehmender Resistenzen von großer Bedeutung .
Vieles davon sind zunächst kühne Visionen. Nur wenn
wir uns als Gesellschaft dieser Chancen annehmen, können wir diese Realität werden lassen .
({0})
Dafür braucht es jedoch gesellschaftliche Akzeptanz für
diese Forschung . Einseitig gefärbte Darstellung, Skandalisierungen oder eine Art Postfaktendebatte, wie wir sie
in diesem Hause vor kurzem schon einmal hatten, wären
eher verheerend .
Wir brauchen kulturelles Startkapital für diese Forschung und für die Diskussion in der Gesellschaft . Auch
hier kann und muss die Politik eine wichtige Anschubfinanzierung leisten . Wir brauchen eine gute sowie sachliche Informationsgrundlage . Der TAB-Bericht im Auftrag
dieses Hauses ist hier ein wichtiger, ein erster Schritt in
diese Richtung . Wichtig ist aber auch, dass wir die Menschen von Betroffenen zu Beteiligten und Wissenden machen . Den Dialog kann die Politik einleiten und moderieren - und das bitte sachbezogen .
Mir geht es nicht darum, die Synthetische Biologie
einseitig positiv darzustellen . Ich will aber dazu beitragen, dass das Gleichgewicht zwischen Risiko- und Chancenbeurteilung wiederhergestellt wird .
Wenn wir den Menschen aber zeigen, dass die Forschung aus unserer Welt eine bessere und gesündere
macht, sorgen wir für Akzeptanz. Denn auch Hoffnung
steuert unser Verhalten. So ergab eine Umfrage im vergangenen Jahr, dass die große Mehrheit ihre medizinischen Daten für neue, personalisierte Therapieansätze
zur Verfügung stellen würde. Datenschutz und Medizinforschung schließen sich aber nicht gegenseitig aus . Man
kann beides zum Wohle der Menschen in Einklang miteinander bringen . Das wird auch unsere Aufgabe bei der
Synthetischen Biologie sein - mit Wissen und Ruhe und
stets sachbezogen . Denn wenn wir das nicht tun: Gute
Nacht!
Herzlichen Dank .
({1})
Vielen Dank. - Als Nächster hat jetzt Ralph Lenkert
für die Linke das Wort .
({0})
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geehrte Kolleginnen
und Kollegen! Liebe Bürgerinnen und Bürger! Niemand
kann die komplexe Entwicklung in Wissenschaft, Forschung und Technologie überschauen . Hätten Sie vor
zehn Jahren die Möglichkeit von Smartphones erahnt?
Und hätten Sie erahnt, dass Wikipedia für viele zum mobilen Brockhaus wird?
Warum hole ich so weit aus? Zur Debatte steht ein
Bericht über die Technikfolgenabschätzung bei Synthetischer Biologie . Deren Möglichkeiten und Chancen
werden von den Beratern des Bundestages im Büro für
Technikfolgen-Abschätzung, dem TAB, dargestellt . Die
Auswirkungen auf die Gesellschaft dagegen lassen sich
nur erahnen .
Worum geht es? Ich zitiere aus der Definition für Synthetische Biologie:
Mit Synthetischer Biologie wird die Herstellung
von am Reißbrett entworfenen und konstruierten
Zellen und Organismen bezeichnet . Charakteristische Forschungsansätze sind die Herstellung kompletter synthetischer Genome, die Konstruktion
sogenannter Minimalzellen sowie der Einsatz nichtnatürlicher Zellen .
Die technischen Methoden dafür sind bereits entwickelt und werden unter dem Begriff „Gene Editing“
zusammengefasst . Schon heute kann man Gene - auch
komplett in mehrzelligen bzw . vielzelligen Organismen - gezielt austauschen oder verändern. Vielleicht
wird man so in wenigen Jahren Aids, Krebs oder Erbkrankheiten heilen . Aber vielleicht designen manche Eltern ihr Wunschbaby, indem sie Größe, Haar- und Augenfarbe sowie weitere Merkmale bestimmen. Vielleicht
kann man dann Fleisch ohne Tierhaltung produzieren .
Und vielleicht werden auch neue Pflanzen und Tiere kreiert . Wenn Sie dies als reine Science-Fiction abtun, dann
lesen Sie die TAB-Berichte 164, 168 oder 169, welche
die vorhandenen Möglichkeiten beschreiben .
Die Labortechnik für viele synthetische Biologieverfahren - wie beispielsweise „Gene Editing“ - ist
preiswert . Für ein paar 1 000 Dollar können Sie diese
erwerben - frei käuflich. Synthetische Biologie hat zwei
Seiten . Positives sehen wir zum Beispiel in der Medizin,
wenn bisher unheilbare Krankheiten behandelt werden
können und wenn Insulin für Patienten verträglicher und
ohne Leid für Schweine aus genveränderten Bakterien
gewonnen werden kann . Die Risiken aber sind groß,
sei es, weil Tausende von Do-it-yourself-Biohackern in
Hinterzimmern und Garagen an Technik für Genmanipulation - und damit an Genveränderungen - arbeiten
und eventuell ungewollt Unfälle passieren, sei es, wenn
Geheimdienste, Armeen und Terroristen weltweit diese
Möglichkeiten als Kampfmittel einsetzen wollen, oder
sei es, wenn skrupellose Geschäftemacher diese Techniken rücksichtslos zur Profitsteigerung einsetzen.
Wenn ich all dies betrachte, glaube ich, dass Verbote
nicht durchsetzbar sind . Also schlage ich vor, Synthetische Biologie bestmöglich zu regulieren .
({0})
Für Synthetische Biologie ist das Gentechnikgesetz anzuwenden . Gentechnik in der Landwirtschaft bleibt verboten. Der Verkauf, Handel und Besitz von Anlagen und
Geräten für „Gene Editing“-Verfahren sind - wie Waffenhandel und Waffenbesitz - zu regulieren. Patente auf
Lebewesen werden nicht erteilt .
({1})
Liebe Bürgerinnen und Bürger, wir stehen erst am
Anfang einer Debatte über eine sich rasant entwickelnde
Technik . Lassen Sie uns die Chancen erhalten und die
Risiken minimieren .
Danke .
({2})
Vielen Dank. - Da die Kollegen René Röspel und
Dr . Philipp Lengsfeld aufgrund von Erkrankungen ihre
Reden zu Protokoll gegeben haben1), hat jetzt nur noch
der Kollege Harald Ebner, Bündnis 90/Die Grünen, die
Gelegenheit, das Wort zu ergreifen und die Debatte zu
beschließen .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und
Kollegen! Kaum eine andere technologische Entwicklung hat Wissenschaft und Medien in den letzten Jahren so stark bewegt wie die Entdeckung der Genschere,
CRISPR/Cas und andere Ansätze der neuen Gentechnik .
Der Bericht des Büros für Technikfolgen-Abschätzung
zur Synthetischen Biologie gibt uns als Bundestag und
damit auch der Gesellschaft hierzu wichtiges Rüstzeug
an die Hand .
({0})
Herr Albani, ich weiß nicht, ob Sie den Bericht wirklich durchgeschaut haben .
({1})
Zur Not empfehle ich auch den TAB-Fokus . Auch das
hilft .
({2})
1) Anlage 12
Noch ist es kaum möglich, die tatsächlichen Potenziale und den Nutzen dieser Technologien realistisch einzuschätzen, auch weil sie auf sehr vielen Gebieten einsetzbar scheinen, von Medizin über Rohstoffherstellung bis
hin zur Pflanzenzüchtung. Die mit der Technik in Verbindung gebrachten Erwartungen sind nicht nur hoch, sondern gehen leider oft auch am wissenschaftlichen Stand
auf erstaunlich naive Weise vorbei .
({3})
So lautete eine Schlagzeile dieser Woche in der Berliner
Morgenpost „Können Superpflanzen den Hunger besiegen?“ . Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, Welternährung ist eben nicht in erster Linie eine Mengenfrage .
Das hat bereits der TAB-Bericht von 2011 zum Thema
Welternährung deutlich gemacht .
({4})
Schon bei der klassischen Gentechnik wurde alles
Mögliche versprochen. Heute wissen wir: Die Versprechen haben sich nicht bewahrheitet. Gentech-Pflanzen
haben eben keine höheren Erträge gebracht, der Pestizideinsatz ist gestiegen statt gesunken, und trockenheitsund salztolerante Sorten gibt es zwar längst, aber sie
stammen nicht aus dem Genlabor . Gerade bei der Trockenheitstoleranz, eine der Schlüsseleigenschaften für
Zukunftsfragen des Pflanzenbaus, liegt das auf der Hand;
denn da wird durch ein äußerst komplexes Zusammenspiel vieler Gene diese Eigenschaft bestimmt . Genau da
kommen CRISPR/Cas und Co . eben auch an ihre Grenzen . Wir dürfen uns nicht von verlockenden vermeintlichen Potenzialen dazu verleiten lassen, für einen neuen
Technologiezweig aus reiner Innovationsbegeisterung
auf eine Regulierung zu verzichten .
({5})
Wir müssen gewährleisten, dass Gemeinwohlinteressen und ethische Grundsätze gewahrt bleiben . Der
TAB-Bericht, aber auch weitere Gutachten machen deutlich, dass es sich beim Genome Editing um gentechnische
Ansätze handelt, auch im juristischen Sinne . Deshalb ist
für uns klar: Auch neue Gentechnik ist Gentechnik und
muss genauso reguliert werden .
({6})
Wenn in Lebensmitteln Gentechnik drinsteckt, muss
auch Gentechnik draufstehen, und wenn der Eingriff per
se nicht nachweisbar ist, müssen wir auf einem anderen
Weg für Rückverfolgbarkeit sorgen .
({7})
Wir reden hier über mächtige Instrumente . Man kann
damit wenig, aber man kann damit auch sehr viel am
Erbgut verändern, und das viel schneller und billiger als
bisher . Und deshalb ist es ganz klar: Auch bei der neuen
Gentechnik handelt es sich um eine Risikotechnologie,
bei der viele Sicherheitsfragen nicht geklärt sind . Das
gilt besonders für Bereiche, wo geneditierte, lebensfähige Organismen in die Umwelt entlassen werden . Das
Vorsorgeprinzip gebietet es eben, einen angemessenen
Regulierungsrahmen für den Umgang mit den neuen
Technologien sicherzustellen, und dazu gehören auch die
Zulassungsverfahren .
({8})
Wie der TAB-Bericht zeigt, werfen die neuen Gentechnikmethoden neue oder verschärfte Risikofragen
auf: Wollen wir alles zulassen, was technisch möglich
ist, auch Eingriffe in die menschliche Keimbahn? Welche Folgen hätte der Einsatz der Gene-Drive-Technologie, bei der gezielt genetisch veränderte Sequenzen zur
Weiterverbreitung in freilebenden Populationen ausgebracht werden? Können wir die Gefahren geplanter Ausrottung tatsächlich ökologisch verantworten? Können
wir alle Auswirkungen vorhersehen? Selbst die Leopoldina warnt vor den Risiken . Und wie gehen wir damit
um, dass Do-it-yourself-Biologen spielend leicht im Garagenlabor neue Gentechnikorganismen erschaffen können? Das zeigt uns: Laissez faire kann keine Option sein .
({9})
Wir brauchen eine breite gesellschaftliche Debatte .
Wer Akzeptanz für Genome Editing will, etwa im medizinischen Bereich, der muss auch dafür sorgen, dass diese Debatte stattfindet, und darf nicht die neue Gentechnik
den Menschen durch die Hintertür aufzwingen . Deshalb
ist es falsch - mein letzter Satz -, dass die Bundesregierung im Entwurf des Gentechnikgesetzes die neue Gentechnik unter dem Radar der Regulierung durchwinken
will und damit vollendete Tatsachen schafft. Das ist der
falsche Weg, liebe Kolleginnen und Kollegen . Deshalb
sollte auch die Bundesregierung den TAB-Bericht dringend lesen .
Danke schön und gute Nacht .
({10})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Damit ist die Aussprache beendet .
Wir kommen zur Abstimmung . Zwischen den Fraktionen wurde vereinbart, die Vorlage auf Drucksache 18/7216 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse zu überweisen . - Ich sehe, Sie sind damit
einverstanden . Dann ist das so beschlossen .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({0})
- zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU
und SPD
Innovativer Staat - Potenziale einer digi-
talen Verwaltung nutzen und elektronische
Verwaltungsdienstleistungen ausbauen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dieter
Janecek, Dr . Konstantin von Notz, Kerstin
Andreae, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Stillstand beim E-Government beheben -
Für einen innovativen Staat und eine mo-
derne Verwaltung
Drucksachen 18/9788, 18/9056, 18/10865
Hierzu sollen die Reden zu Protokoll gegeben wer-
den . - Sie sind einverstanden . Dann ist das so beschlos-
sen .1)
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp-
fehlung des Innenausschuss auf Drucksache 18/10865 .
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be-
schlussempfehlung die Annahme des Antrags der Frak-
tionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 18/9788
mit dem Titel „Innovativer Staat - Potenziale einer di-
gitalen Verwaltung nutzen und elektronische Verwal-
tungsdienstleistungen ausbauen“ . Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen
1) Anlage 13
der Fraktion Die Linke bei Enthaltung von Bündnis 90/
Die Grünen angenommen .
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/9056 mit dem Titel „Stillstand
beim E-Government beheben - Für einen innovativen
Staat und eine moderne Verwaltung“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der
Fraktion Die Linke angenommen .
Damit sind wir am Schluss der heutigen Tagesordnung .
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 24 . März 2017, 9 Uhr, ein .
Die Sitzung ist geschlossen . Ich wünsche Ihnen noch
einen schönen Restabend .