Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Einen schönen guten Tag! Bitte nehmen Sie Platz. Die
Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf:
Befragung der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat als Thema der heutigen Kabinettssitzung mitgeteilt: Bericht der Bundesregierung
2013 nach § 7 des Gesetzes zur Einsetzung eines Nationalen Normenkontrollrates.
Das Wort für den einleitenden fünfminütigen Bericht
hat der Staatsminister bei der Bundeskanzlerin Dr. Helge
Braun. - Bitte schön.
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Das Bundeskabinett hat heute den Bericht
zum Bürokratieabbau 2013 behandelt und beschlossen.
Das Gesetz zur Einsetzung eines Nationalen Normenkontrollrates verpflichtet uns, jährlich einen solchen Bericht abzugeben.
Wenn Sie sich den Bericht ansehen, stellen Sie fest,
dass sich seit 2006, als wir das Thema Bürokratieabbau
institutionell auf den Weg gebracht haben, vieles verändert hat. Wir haben zahlreiche Verfahren etabliert. Dazu
gehören die Einsetzung des Normenkontrollrates und die
damit verbundene Bewertung aller neuen Gesetzesvorhaben. Hinzu kommt, dass wir - diese Regelung ist seit
März 2013 in Kraft - alle neuen Gesetzesvorhaben nach
Ablauf von zwei Jahren einer Ex-post-Evaluierung unterwerfen. Wir wollen uns schrittweise alle Gesetzesvorhaben ansehen, bei denen wir davon ausgehen, dass sie
einen Erfüllungsaufwand von über 1 Million Euro bedeuten. Auf diese Weise wollen wir auch in der Bestandsgesetzgebung vermeidbare Bürokratiekosten identifizieren
und nach Möglichkeit beseitigen.
Im Bericht sind viele Zahlen zu finden. Das liegt zum
Beispiel daran, dass wir in den letzten Jahren den Bürokratiekostenindex eingeführt haben, der die Bürokratiekosten im engeren Sinne erfasst. Der Bürokratiekostenindex lag im Jahr 2012 bei einem Wert von 100,27, im
Jahr 2013 bei 100,31. Das ist eine Steigerung um 0,04.
Das heißt, die Bürokratiekosten sind im Wesentlichen
konstant geblieben; es hat nur eine kleine Steigerung der
laufenden Belastungen gegeben.
Wenn wir uns anschauen, was das in absoluten Zahlen
heißt und wie sich die Entwicklung des Erfüllungsaufwands auf die Wirtschaft, die Verwaltung und die Bürgerinnen und Bürger auswirkt, stellen wir fest, dass die
Wirtschaft im Jahr 2013 eine Zunahme ihres laufenden
Erfüllungsaufwands um 1,6 Milliarden Euro, die Verwaltung um 245 Millionen Euro und die Bürgerinnen
und Bürger um 472 Millionen Euro zu verzeichnen hatten.
Wenn man sich ansieht, welcher der größte Brocken
innerhalb des Ganzen ist, dann stellt man fest, dass die
Energieeinsparverordnung die größten Kosten verursacht hat. Man muss allerdings dazusagen, dass zum Erfüllungsaufwand nicht nur die Bürokratiekosten, sondern auch die Investitions- und Maßnahmenkosten, die
durch dieses Gesetzgebungsverfahren entstehen, gehören. Das heißt, dass zum Beispiel die Kosten, die sich
durch die energetische Sanierung von Gebäuden für die
Wirtschaft ergeben, in die Berechnung einfließen. Die
Energieeinsparungen, die wir dadurch erzielen wollen,
und der politische Zweck dieser Gesetzgebung stehen
also den Kosten gegenüber.
In Zukunft wollen wir uns den verschiedenen Lebensbereichen der Bürgerinnen und Bürger und der Wirtschaft auch in Form eines Lebenslagenmodells nähern.
Auf diese Weise wollen wir überprüfen, wie sich Lebenslagen, in denen die Bürger in besonderem Maße mit
Bürokratie konfrontiert werden, zum Beispiel beim Kauf
eines Autos, bei einer Geburt oder im Falle eines Nachlasses, auswirken und wie man die Bürokratie in solchen
Lebenslagen durch das Zusammenspiel unterschiedlicher Rechtsakte reduzieren kann.
Sie finden in dem Bericht auch zahlreiche Beispiele
aus dem Bereich der Pflegeleistungen und anderer Sozialleistungen. Hier haben wir Projekte auf den Weg gebracht, mit denen Vereinfachungen bei der Gesetzge1688
bung erreicht werden sollen. Einige Projekte sind im
Jahre 2013 abgeschlossen worden; andere, die besonders
erfolgreich waren, werden im Jahr 2014 fortgesetzt.
Insofern kann man resümieren, dass es bei einer im
Jahr 2013 im Wesentlichen auf unverändertem Niveau
fortgesetzten Belastung von Bürgern, Verwaltung und
Wirtschaft mit Bürokratie noch zahlreiche Projekte gibt,
mit denen wir etwas verändern wollen. Aber natürlich
gibt es auch neue Regelungsvorhaben, die den Bürokratieaufwand möglicherweise erhöhen. Die Bundesregierung wird im Mai ein Arbeitsprogramm verabschieden,
mit dem wir weitere Projekte mit dem Ziel des Bürokratieabbaus auf den Weg bringen.
Ich bitte, zunächst Fragen zu dem Themenbereich zu
stellen, über den gerade berichtet wurde. Es hat sich der
Kollege Grund gemeldet. Bitte schön.
Vielen Dank, Herr Staatsminister, für Ihren Bericht
über die Arbeit des Normenkontrollrates und über die
Einsparungen, die für die Verwaltung, die Bürger und
die Wirtschaft damit verbunden sind. Wie muss man sich
das konkret vorstellen? Wie nimmt der Normenkontrollrat Einfluss auf ein Gesetzgebungsverfahren oder auf
dessen Ergebnis? Wie fließt dies wiederum in das Gesetzgebungsverfahren ein? Also: Wie sieht die Arbeit eigentlich konkret aus?
Vielen Dank. - Die Bundesregierung hat Empfehlungen für die einzelnen Ressorts herausgegeben. Jedes
Ressort muss jetzt bereits bei der Erstellung eines Gesetzgebungsverfahrens den Erfüllungsaufwand konkret
beziffern und diesen bei der Vorlage des Gesetzestextes
transparent machen. Darüber hinaus wird der Erfüllungsaufwand vor der Verabschiedung im Kabinett und
zukünftig auch nach der Verabschiedung im Bundestag
nachberechnet, sodass für jeden, der im Deutschen Bundestag eine Entscheidung trifft, aber auch für die Bevölkerung transparent wird, wie hoch der Erfüllungsaufwand des jeweiligen Gesetzes ist. In der nächsten Woche
werden wir für den Deutschen Bundestag, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Abgeordneten wie auch die
Verwaltung, eine Veranstaltung durchführen, in der der
Normenkontrollrat, das Statistische Bundesamt und das
Bundeskanzleramt über die verschiedenen Berichts- und
Mitteilungsformen informieren, damit Sie als Abgeordnete diese Informationen in die Beratungen des Gesetzgebungsverfahrens und in Ihre Entscheidung einbeziehen können.
Vielen Dank. - Jetzt eine Frage des Kollegen
Dr. Gambke.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Staatsminister,
Sie haben in Ihren Ausführungen davon gesprochen,
dass Bürokratie aufgebaut worden ist. Ich fand die einleitenden Worte bemerkenswert; denn Sie haben die
Verfahren beschrieben, die wir gehabt haben. Ich als
Mittelstandsbeauftragter meiner Fraktion sage: Bürokratieaufbau ist im Moment das Thema des Mittelstands.
Sie selber haben darauf hingewiesen, dass zu über
60 Prozent die Unternehmen betroffen sind.
Nun zu meiner Frage. Wir hatten 2007 das Ziel, die
Bürokratiekosten um 25 Prozent zu senken. Wie Sie
eben ausgeführt haben, hatten wir leider im letzten Jahr
einen Anstieg der Bürokratiekosten in Höhe von
1,5 Milliarden Euro. Hinzu kommt ein Erfüllungsaufwand, also ein Umstellungsaufwand, in Höhe von 4 Milliarden Euro. Das ist eine erhebliche Summe. Meine
Frage an Sie: Hat die Bundesregierung sich mit der
Frage befasst, wie jetzt neue Ziele gesetzt werden können? Wie lauten diese quantitativen Ziele, und für welchen Zeitraum gelten sie?
Vielen Dank. - Sie haben richtig darauf hingewiesen,
dass wir in den vergangenen Jahren den Erfüllungsaufwand für die Wirtschaft um 25 Prozent reduziert haben.
Das war eine große Anstrengung. Zu der Reduzierung
haben zwei Bereiche maßgeblich beigetragen: Der eine
ist der Bereich der Bilanzierungsregeln bei den Unternehmen, in dem eine Entlastung von über 2 Milliarden
Euro stattgefunden hat. Der andere ist der Bereich der
elektronischen Rechnungsstellung, wo ein Teil der Entlastung der Wirtschaft zwar frühzeitig mit der Gesetzgebung bilanziert worden ist; aber die Entlastungwirkung
hält in dem Maße an, wie die elektronische Rechnungsstellung in der Realität der Unternehmen ankommt. Das
heißt, es gibt durch das Projekt der Reduzierung der Kosten aus gesetzlichen Informationspflichten um 25 Prozent
bis heute Entlastungswirkungen.
Wenn man in die Zukunft schaut, muss man mit Blick
auf diejenigen, die sich mit Bürokratieabbau beschäftigen, eines sehr deutlich sagen: Man kann natürlich immer überlegen, ob ein Gesetz den jeweiligen Erfüllungsaufwand rechtfertigt. So hat der Deutsche Bundestag die
von der Bundesregierung novellierte Energieeinsparverordnung befürwortet, weil wir Klimaziele und politische
Ziele erfüllen wollen und das Ganze in der Sache für
richtig halten. Dem Erfüllungsaufwand stehen - ganz
abgesehen von den ökologischen Zielen - ökonomische
Vorteile durch Energieeinsparung gegenüber. Insofern ist
es die Aufgabe derer, die sich mit dem Bürokratieabbau
beschäftigen, nicht alle Regelungen der Zukunft generell
infrage zu stellen, sondern zu schauen: Kann man den
politisch erwünschten Zweck möglicherweise einfacher
erreichen? Nach dem deutlichen Abbau der Bürokratie
in der Anfangszeit lautet die Aufgabe jetzt, in laufenden
Gesetzgebungsverfahren den Zuwachs an Bürokratie
nach Möglichkeit zu verhindern oder zu begrenzen.
Neue Projekte, mit denen wir den Bürokratieaufwand
der Unternehmen, deren Zukunft uns natürlich am Herzen liegt, deutlich reduzieren wollen, werden wir dann in
dem neuen Arbeitsprogramm der Bundesregierung vorstellen.
Vielen Dank, Herr Staatsminister. - Ich sehe keine
weiteren Fragen zu diesem Themenbereich.
({0})
- Herr Dr. Gambke.
Ich habe noch eine Frage. Ich stelle aber zunächst
fest, dass Sie meine Frage nach einem neuen quantitativen Ziel nicht beantwortet haben.
Zu meiner Frage. Wir haben uns im Zusammenhang
mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz auch mit
dem Thema der Hotelsteuer beschäftigt; unter diesem
Stichwort ging es um den verminderten Mehrwertsteuersatz für Übernachtungen. Wir wussten im Vorfeld, dass
das zu erheblichen Bürokratiekosten führt, sowohl für
die Gewerbetreibenden, also die Hotels, als auch für die
Bürger. Das konnte dadurch umgangen werden, dass die
Koalitionsfraktionen und nicht die Regierung dieses Gesetz eingebracht haben. Plant die Bundesregierung eine
Ausweitung des Auftrags des Normenkontrollrates auf
Gesetzentwürfe der Fraktionen, um in Zukunft zu verhindern, dass Fraktionen den schönen Beschluss, Gesetze nach ihren Bürokratiekosten zu bewerten, umgehen können?
Der Normenkontrollrat ist ein Gremium zur Unterstützung der Bundesregierung. Natürlich kontrolliert
nicht die Bundesregierung den Bundestag, sondern umgekehrt. Aber ich habe eben angedeutet, dass wir - das
ist sicherlich in Ihrem Sinne - beabsichtigen, in Zukunft
den Erfüllungsaufwand von Gesetzen nach der endgültigen Verabschiedung nochmals zu berechnen, um transparent zu machen, welche Belastungen durch das rechtskräftige Gesetz tatsächlich für die Bürgerinnen und
Bürger, die Wirtschaft und die Verwaltung entstehen.
Vielen Dank. - Gibt es Fragen zu anderen Themen
der heutigen Kabinettssitzung? - Ich sehe, das ist nicht
der Fall. Damit beenden wir den Bereich der Themen der
heutigen Kabinettssitzung.
Gibt es darüber hinaus weitere Fragen an die Bundesregierung? ({0})
Ich sehe, das ist auch nicht der Fall.
Dann unterbreche ich die Sitzung bis zur Fragestunde
um 13.35 Uhr.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die unterbrochene
Sitzung wird fortgesetzt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf:
Fragestunde
Drucksachen 18/814, 18/835
Zu Beginn der Fragestunde rufe ich gemäß Nr. 10 der
Richtlinien für die Fragestunde die dringlichen Fragen
auf Drucksache 18/835 auf.
Für den Geschäftsbereich des Auswärtigen Amts beantwortet heute der Staatsminister Michael Roth die Fragen.
Ich rufe die dringliche Frage 1 des Abgeordneten
Hunko auf:
Welche Auswirkungen erwartet die Bundesregierung angesichts des Ausgangs der Volksabstimmung über einen Anschluss der Krim an Russland auf die Sicherheitslage in
Deutschland und durch die in diesem Zusammenhang verhängten bzw. geplanten Sanktionen gegen Russland auf die
wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland, die Stabilität der
Euro-Zone bzw. die Volkswirtschaften der Europäischen
Union?
Herr Staatsminister Roth, bitte schön.
Vielen Dank, Frau Präsidentin! - Lieber Herr Kollege
Hunko, ich will noch einmal daran erinnern, dass sich
die Europäische Union bei ihren Maßnahmen und Sanktionen auf ein dreistufiges Verfahren verständigt hat. Gemäß dem jüngsten Beschluss vom 17. März 2014 greift
nun die Stufe 2, das heißt, gegen 21 Personen aus der
Ukraine und aus Russland sind Einreiseverbote ausgesprochen worden, und deren Vermögen wurden eingefroren.
Die Bundesregierung sieht derzeit weder Beeinträchtigungen der Sicherheitslage in Deutschland noch nennenswerte Auswirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland, in der Euro-Zone oder in der
Europäischen Union.
Herr Kollege Hunko.
Vielen Dank. - Herr Kollege Roth, in der letzten Woche waren Außenminister von Staaten, die gerade aus
der Krise herausgekommen sind oder bei denen es den
Anschein hat, dass sie jetzt aus der Krise herauskommen, zu Besuch hier im Bundestag, und sie haben diese
Sorgen ebenfalls geäußert. Würden Sie auch ausschließen, dass es Auswirkungen auf die Stabilität in der EuroZone haben könnte, wenn es nach den jetzt umgesetzten
Sanktionen zu einer Sanktionsspirale käme und der Konflikt über diese Sanktionen weiter eskalieren würde, oder
wäre das eine reale Gefahr?
Es gibt keinen Sanktionsautomatismus, Herr Kollege
Hunko. Die Bundesregierung und die Europäische
Union insgesamt sind nach wie vor zuvörderst um eine
diplomatisch-politische Lösung bemüht. Wir wollen deeskalieren und nicht eskalieren.
Der nächste Europäische Rat am morgigen Donnerstag wird im Lichte der jüngsten Entwicklung auf der
Krim, aber auch vor dem Hintergrund der russischen
Entscheidung, sich die Krim einzuverleiben, über weitere Schritte nachdenken. Es gibt derzeit aber noch keinerlei konkrete Überlegungen, Wirtschaftssanktionen
auszusprechen. Ich müsste hier also spekulieren, und das
möchte ich nicht.
Zu einer weiteren Nachfrage hat der Kollege Gehrcke
das Wort.
Schönen Dank. - Herr Staatsminister, ich möchte Sie
gerne fragen, ob aus Ihrer Sicht eine Aufkündigung der
Zusammenarbeit mit Russland bei der Vernichtung der
syrischen Chemiewaffen und Auswirkungen auf die Verhandlungen mit dem Iran über das Atomprogramm in
dem Sanktionskatalog vorgesehen sind und wie sich die
Bundesregierung dazu verhält.
Es gibt eine klare Priorität der Bundesregierung - daran arbeiten wir Tag und Nacht -, nämlich auf politischem Wege und auf diplomatischem Wege zur Deeskalation beizutragen. Wir haben auch das Ziel, dass
- unabhängig von weiteren Maßnahmen - die Gesprächskanäle mit Russland offen gehalten werden. Ich
habe den Eindruck, dass diese Position innerhalb der
Europäischen Union auf große Zustimmung stößt.
Im Übrigen wissen Sie, dass wir für die Lösung von
einer Reihe von internationalen Problemen - Sie haben
einige angesprochen - weiterhin auf Russland angewiesen sind. Unabhängig davon gibt es aber ein klares, deutliches Signal der Bundesregierung und der Europäischen
Union: Was Russland bezüglich der Krim getan hat, verstößt gegen das Völkerrecht und ist absolut inakzeptabel.
Kollege Krischer hat jetzt Gelegenheit, eine weitere
Frage zu stellen.
Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Staatsminister, es hat in der vergangenen Woche und in der
Woche davor zwei große Geschäfte von deutschen Unternehmen gegeben: zum einen die Transaktion der
Firma Wintershall, die im Rahmen eines Asset-Tauschs
Gasspeicheranteile an Gazprom verkauft hat, und zum
anderen die Entscheidung von RWE, ihre Öl- und Gasfördertochter an einen russischen Investor zu verkaufen,
und zwar zu einem überraschend hohen Kaufpreis und
- wenn man die gesamte Verhandlungsdauer dieses
Kaufs betrachtet - zu einem interessanten Zeitpunkt.
Meine Frage ist: Welche Position hat die Bundesregierung zu diesem Thema, und erachtet sie es als notwendig, in irgendeiner Weise bei diesen Geschäften einzugreifen, zu prüfen, zu handeln?
Unabhängig davon, wie wir zu solchen wirtschaftlichen Entscheidungen der Privatwirtschaft stehen, gibt es
für die Bundesregierung derzeit keine Möglichkeiten,
einzugreifen.
Frau Kollegin Keul.
Vielen Dank. - Wenn wir jetzt über Sanktionen oder
Einschränkungen im Handel sprechen, dann ist der erste
Bereich, der mir dazu einfällt, der Bereich der Rüstungsexporte. Jetzt frage ich: Gedenkt die Bundesregierung
die Lieferung eines gesamten Gefechtsübungszentrums
nach Russland durch die Firma Rheinmetall zu stoppen?
Ist dieses Geschäft möglicherweise durch eine Hermesbürgschaft abgesichert? Wie wird das dann in der Praxis
abgewickelt?
Liebe Frau Kollegin, auch wenn in der Öffentlichkeit
immer wieder anderes behauptet wird: Faktisch werden
bereits jetzt keinerlei Ausfuhrgenehmigungen für Rüstungsgüter nach Russland mehr erteilt. Das gilt insbesondere auch für Dual-use-Güter mit einem militärischen Verwendungszweck. Darüber hinaus hat die
Bundesregierung eine Überprüfung der bislang schon erteilten Ausfuhrgenehmigungen eingeleitet und wird
dann, wenn dies erforderlich ist, die entsprechenden
Schritte einleiten. Das gilt auch für die konkreten Fälle,
die Sie eben benannt haben.
Frau Kollegin Beck.
Herr Staatsminister, angesichts des hohen Tempos der
Veränderungen in der Ukraine, mit denen kaum jemand
gerechnet hat, und der sich daraus ergebenden Tatsache,
dass wir die handelnden Personen und Parteien oft nicht
wirklich gut kennen, möchte ich Sie fragen, wie die Bundesregierung die Übergangsregierung in Kiew und die
Beteiligung der Partei Swoboda daran einschätzt. Haben
wir es dort mit faschistischen Kräften und einer Regierung zu tun, der faschistische Parteien angehören?
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Die Bundesregierung
hat wie die Europäische Union insgesamt ein Interesse
an einer möglichst inklusiven Regierung, die möglichst
alle gesellschaftlichen Kräfte, die der Rechtsstaatlichkeit
und der Demokratie verpflichtet sind, einbezieht. Ich
weiß, dass es insbesondere in Deutschland eine kontroverse Diskussion über die Rolle von Swoboda gibt.
Diese Partei ist an der Regierung beteiligt und stellt zwei
Minister. Nach den uns vorliegenden Erkenntnissen
möchte ich nicht von einer faschistischen Partei sprechen. Es ist zweifellos eine rechtspopulistische, nationalistische Partei, aber es ist keine faschistische, eindeutig
antisemitische Partei. Im Übrigen - das wissen Sie; da
teilt die Bundesregierung die Auffassung des Bundestages - ist es deutsche Tradition: Wir verabscheuen und
verurteilen den Antisemitismus überall. Wir setzen uns
auch in der Ukraine für eine Aufklärung der Gewalttaten
auf dem Maidan, aber auch anderswo ein. Swoboda ist
nach unseren Erkenntnissen - auch nach den Gesprächen
mit der Zivilgesellschaft in der Ukraine, insbesondere
mit den Vertretern der jüdischen Gemeinde - zwar eine
rechtspopulistische und nationalistische, aber keine faschistische Partei.
Herr Dr. Neu.
Herr Staatsminister, der Kollege Gehrcke hatte gerade
eine Frage gestellt, die Sie etwas unpräzise beantwortet
haben. Es geht darum, ob angesichts des Instrumentenköfferchens, in denen die gerade ausgearbeiteten Sanktionen enthalten sind, auch der Abzug aus Afghanistan,
bei dem Russland eine Rolle spielen wird, und der Iran
Thema sind. Ja oder nein?
Danke.
Herr Kollege Neu, wir befinden uns derzeit noch in
der Stufe 2 des sogenannten Sanktionsmechanismus. Die
Stufe 3, die Sie ansprechen, ist überhaupt noch nicht im
Gespräch. Wir befinden uns hier im spekulativen Bereich. Es bedürfte dafür auch eines gesonderten Beschlusses des Europäischen Rates.
Derzeit investieren wir unsere gesamte Kraft, unser
Engagement, aber auch unsere Kreativität darauf, weitere Sanktionen zu verhindern. Ich habe auch den Eindruck, dass es darüber in der Europäischen Union eine
intensive Diskussion gibt. Denn wir müssen uns die
Frage stellen, wer welchen Preis für welche Sanktion
zahlt und ob wir das, was wir uns wünschen, mit den
entsprechenden Sanktionen wirklich erzielen können.
Insofern kann ich Ihnen noch nichts Konkretes sagen,
weil es diese konkrete Diskussion noch nicht gibt.
Einen Instrumentenkoffer mit Sanktionen, den Sie angesprochen haben, gibt es weder bei der Bundesregierung noch bei der Europäischen Union.
Herr Kollege Petzold.
Herr Staatsminister, habe ich Sie richtig verstanden,
dass es innerhalb der Bundesregierung noch gar keine
Vorstellung über die Stufe 3 gibt?
Es gibt selbstverständlich eine Reihe von Überlegungen, aber es gibt noch keine Beschlüsse. Über die würde
ich Sie dann informieren, wenn sie anstehen. Derzeit haben wir eine klare Priorisierung. Wir wollen unter allen
Umständen vermeiden, dass es zu einer weiteren Eskalation kommt. Denn die sogenannte dritte Stufe greift erst
dann, wenn die Eskalationsspirale sich weiterdreht. Ich
meine, dass es derzeit noch ein Fenster für diplomatische
Bemühungen gibt.
Herr Kollege Mützenich.
Danke schön. - Herr Staatsminister, wenn ich die Fragen insbesondere der Vertreter der Linksfraktion richtig
verstehe, besteht ein großer Konsens im Haus, dass wir
daran mitwirken wollen, die Chemiewaffen in Syrien zu
vernichten. Wir werden wahrscheinlich in den nächsten
Wochen Gelegenheit haben, in diesem Zusammenhang
Äußerungen der Linksfraktion zu einer gemeinsamen
Haltung zu hören.
Ich würde gerne darauf Bezug nehmen, was Sie gesagt haben. Es ist nicht nur Auffassung der Bundesregierung, dass die Ereignisse auf der Krim in den letzten
Stunden und Tagen und die Handlungen unterschiedlicher Personen, aber auch von Institutionen in Russland
nicht nur nicht akzeptabel, sondern auch völkerrechtswidrig sind. Vielleicht kann die Bundesregierung auch
hier noch einmal dokumentieren, dass dies keine Einzelmeinung Deutschlands ist, sondern dass Russland mit
seiner Position und Haltung mittlerweile auch innerhalb
der Europäischen Union, des Europarats und insbesondere - das ist für uns sehr wichtig - des Sicherheitsrats
der Vereinten Nationen isoliert ist.
Herr Kollege Mützenich, ich bin Ihnen dankbar für
diesen Hinweis und die damit verbundene Frage, weil
sie mir die Chance eröffnet, eines deutlich zu machen:
Es geht nicht um die Position „Der Westen gegen Russland“. Ich will auch keinem unterstellen, in den Kategorien des Kalten Krieges zu argumentieren. Sie haben
völlig recht: Russland ist aufgrund seines völkerrechtswidrigen Vorgehens gegen die Ukraine und insbesondere
der Einverleibung der Krim völlig isoliert. Es gibt eine
klare Positionierung des Sicherheitsrates. Es gibt eine
klare Positionierung im Europarat. Es gibt derzeit - auch
und gerade in dieser Stunde - Bemühungen in der
OSZE. Es gibt nicht zuletzt eine klare, einmütige Positionierung der Europäischen Union.
Das alles macht deutlich: Es geht nicht um „den Westen gegen Russland“, sondern um das Handeln der der
Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit verpflichteten
Welt. Ich will das zwar nicht im Namen aller Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen sagen. Aber es gibt ein
klares Bekenntnis, das verdeutlicht, dass das, was Russland derzeit tut, auf deutlichen Widerspruch in der Weltgemeinschaft stößt.
Vielen Dank.
Ich rufe nun die dringliche Frage 2 des Abgeordneten
Dr. Alexander S. Neu auf:
Welche Erkenntnisse besitzt die Bundesregierung über den
Einsatz einer nach Medienberichten am 13. oder 14. März
2014 über der Krim abgefangenen, auf einem Standort der
US-Armee in Bayern stationierten Drohne des Typs Hunter
MQ-5B, unter anderem darüber, aus welcher Quelle die öffentlich gewordenen Informationen über diese angeblich abgefangene Drohne ursprünglich stammten, wer diese den Medien zugänglich machte, von wem die Drohne gegebenenfalls
abgefangen wurde, wo bzw. in wessen Gewahrsam sie sich
seither befindet, ob diese Drohne mit Aufklärungstechnik
({0}) ausgestattet bzw. ob sie waffenfähig bzw. bewaffnet ({1}) war, und war die Bundesregierung über diesen
Einsatz vorab informiert, bzw. welche weiteren Erkenntnisse
über diesen Einsatz hatte sie in dessen Vorfeld?
Bitte, Herr Staatsminister Roth.
Danke, Frau Präsidentin. - Ich möchte die dringlichen
Fragen 2 und 3 im Zusammenhang beantworten.
Sind Sie damit einverstanden, Herr Dr. Neu? - Dann
rufe ich auch noch die dringliche Frage 3 auf:
Sofern die Bundesregierung über einen dieser Aspekte
keine Erkenntnisse besitzt, was hat sie unternommen, um entsprechende Erkenntnisse zu erlangen, bzw. sofern dies nicht
geschehen ist, aus welchem Grund wurde nicht versucht, Erkenntnisse zu erlangen?
Bitte, Herr Staatsminister Roth.
Herr Kollege Neu, um das den Kolleginnen und Kollegen zu erläutern, die nicht so im Bilde sind wie Sie:
Die Streitkräfte der Vereinigten Staaten betreiben auf
den Truppenübungsplätzen in Grafenwöhr und Hohenfels in Bayern zu Übungszwecken einige unbewaffnete,
unbemannte Flugzeuge des Typs Hunter, also Drohnen.
Diese haben eine Reichweite von 260 Kilometern. Um
von Bayern in die Ukraine zu kommen, müssten ungefähr 2 000 Kilometer zurückgelegt werden. Insofern
halte ich das deutliche und sofortige Dementi des USVerteidigungsministeriums, dass es sich dabei nicht um
Drohnen des Typs Hunter gehandelt haben kann, für
mehr als nachvollziehbar.
Herr Kollege Neu, haben Sie eine Nachfrage? - Bitte.
Sie gehen also davon aus, dass diese Drohnen sozusagen keinen Zwischenstopp in Polen, Rumänien oder Ungarn machen können, um aufgetankt zu werden?
Uns liegt ein deutliches Dementi der Vereinigten
Staaten vor. Wir haben keine weiteren Erkenntnisse.
Meine Ingenieurskunst reicht nicht aus, um Ihre Frage so
zu beantworten, dass sie vielleicht in das Schema passt,
das Sie von mir erwarten.
({0})
- Die habe ich Ihnen auch gegeben.
Vielen Dank. - Das Wort zu einer Frage hat jetzt der
Kollege Ströbele.
Danke, Frau Präsidentin. - Sie gehen jetzt davon aus,
dass es sich um eine Drohne des Typs Hunter handelt.
Nehmen wir einmal an, dass es eine Drohne eines anderen Typs war, möglicherweise sogar eine bewaffnete
Drohne. Geben Sie mir recht, dass eine solche Drohne in
Deutschland starten und auch bis in die Ukraine fliegen
könnte und dass es in der Vergangenheit schon vorgekommen ist, dass solche Drohnen von Deutschland aus
in eine andere Richtung, nämlich in Richtung Afrika,
eingesetzt worden sind?
Herr Kollege Ströbele, die Frage des Kollegen Neu
bezieht sich auf eine Information von The Voice of
Russia. Demzufolge soll die russische Rüstungsagentur
am 14. März behauptet haben, dass ein unbemanntes
US-Flugzeug des Typs Hunter bei einem Aufklärungsflug auf der Krim-Halbinsel abgefangen worden sei. Ich
habe nur darauf hingewiesen, dass in Bayern solche
Drohnen stationiert sind, dass es aber technisch unmöglich ist, bei einer Reichweite von 260 Kilometern von
Bayern in die Ukraine zu kommen. Insofern handelt es
sich hier um eine grobe Spekulation, die ich nicht weiter
befeuern möchte.
Frau Kollegin Beck.
Herr Staatsminister, angesichts der besorgniserregenden militärischen Handlungen auf der Krim und der großen Sorge der internationalen Gemeinschaft, dass sich
der nächste militärische Akt in der Ostukraine ereignet,
frage ich Sie, ob Sie Informationen bestätigen können,
dass im Dorf Strilkowe, also auf kontinental-ukrainischem Gebiet, mehrere Kampfhubschrauber russischer
Herkunft gelandet und gepanzerte Fahrzeuge russischer
Herkunft einschließlich 60 Soldaten stationiert sind, die
eine Gasverdichtungsstation besetzt haben?
Sie wissen, Frau Kollegin Beck, dass die Lage insbesondere in der Ostukraine, aber auch im Süden der
Ukraine mehr als instabil ist und dass es dort eine Reihe
von Gefährdungen gibt. Ich möchte mich jetzt ausdrücklich nicht auf Ihr Beispiel beziehen, weil mir die entsprechenden Erkenntnisse im Detail dazu fehlen.
Nicht zuletzt veranlasst uns diese doch sehr fragile,
gefährliche Lage dazu, nach Kräften dazu beizutragen,
dass es die entsprechende Monitoring-Kommission der
OSZE alsbald gibt - gerade heute finden die Verhandlungen statt -, um dafür Sorge zu tragen, dass mithilfe
der OSZE, eines Partners, der den Menschenrechten verpflichtet ist, die derzeitige Lage vor Ort aufgeklärt wird,
damit wir nicht nur auf informelle Berichte angewiesen
sind.
Gelegenheit zu einer weiteren Frage hat jetzt die Kollegin Vogler.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Staatsminister,
bereits seit über einer Woche erreichen uns immer wieder Berichte über verstärkte Aktivitäten von NATOTruppen im östlichen Polen, insbesondere in der masurischen Region. In diesem Kontext würde mich schon interessieren, was der genaue Auftrag dieser Truppen ist
und inwieweit und in welcher Form die Bundesregierung
diese Aktivitäten unterstützt.
Frau Kollegin, Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, dass es sich um mögliche Aktivitäten der NATO in
Polen handelt und nicht in der Bundesrepublik Deutschland. Insofern kann ich Ihre Frage nicht beantworten,
weil das nicht in den Zuständigkeitsbereich des Auswärtigen Amts fällt.
Kollege Krischer.
Herr Staatsminister, angesichts dieser auch von den
Kollegen beschriebenen militärischen Entwicklung
möchte ich noch einmal auf die Frage zurückkommen,
die Sie mir eben beantwortet haben. Sie sagten, dass Sie
keinerlei rechtliche Möglichkeit sehen, auf Geschäfte
der RWE oder der Wintershall AG Einfluss zu nehmen
oder in irgendeiner Weise aktiv zu werden. Deshalb
meine konkrete Nachfrage.
In § 4 des Außenwirtschaftsgesetzes wird eine ganze
Reihe von Gründen genannt, in denen die Bundesregierung in Vertretung der Bundesrepublik aktiv werden
kann. Da ist zum Beispiel von einer Störung des friedlichen Zusammenlebens der Völker die Rede, da ist von
einer Störung der auswärtigen Beziehungen der Bundesrepublik die Rede. Meine Frage: Interpretiere ich Sie
richtig, dass diese Gründe, die in § 4 des Außenwirtschaftsgesetzes genannt werden, auf die Geschäfte der
RWE bzw. der Wintershall AG keine Anwendung finden?
Herr Kollege, die Bundesregierung hat sich wiederholt für ein gemeinsames Vorgehen - ich hatte bislang
immer den Eindruck, dass dies auch von einer sehr breiten Mehrheit im Deutschen Bundestag getragen wird und eine gemeinsame Strategie der Europäischen Union
ausgesprochen. Das heißt, das, was wir tun oder auch
nicht tun, ist in eine Strategie der Europäischen Union
eingebettet. Wir werden nicht zuletzt am kommenden
Donnerstag auf dem Europäischen Rat darüber sprechen
müssen, wie wir mit der jüngsten Entscheidung Russlands umzugehen haben, ob wir im Bereich der zweiten
Stufe verbleiben.
Aber wir sind noch weit davon entfernt, über die
dritte Stufe konkret zu verhandeln, geschweige denn,
diese zu beschließen. Ich will wiederholen: Das setzt
nämlich einen weiteren dezidierten Beschluss des Europäischen Rates voraus. Es geht also hier um eine gemeinsame Anstrengung, um gemeinsame Maßnahmen,
die von der Europäischen Union insgesamt verabredet
werden. Ich hielte es für nicht besonders überzeugend,
wenn hier einzelne Mitgliedstaaten vorpreschten und
einzelne, nationalstaatliche Maßnahmen ergreifen würden.
Vielen Dank. - Ich sehe keine weiteren Nachfragewünsche. Damit sind auch die dringlichen Fragen 2 und 3 beantwortet.
Wir kommen zu den Fragen auf Drucksache 18/814.
Ich rufe sie in der üblichen Reihenfolge auf.
Als Erstes behandeln wir den Geschäftsbereich des
Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie. Zur Beantwortung der Fragen steht der Parlamentarische
Staatssekretär Uwe Beckmeyer zur Verfügung.
Zunächst rufe ich die Frage 1 des Abgeordneten
Oliver Krischer, Bündnis 90/Die Grünen, auf:
Welche Treffen gab es zwischen der Europäischen Kommission und Vertretern der Bundesregierung bezüglich einer
europarechtskonformen Ausgestaltung der Besonderen Ausgleichsregelung im Erneuerbare-Energien-Gesetz, bitte nach
Inhalt und Terminen aufschlüsseln, und welchen inhaltlichen
Vorschlag zur europarechtskonformen Ausgestaltung hat die
Bundesregierung der Europäischen Kommission diesbezüglich unterbreitet?
Herr Kollege Beckmeyer.
Ich beantworte die Frage wie folgt: Es gab und gibt
zwischen der EU-Kommission und der Bundesregierung
zahlreiche Gespräche bezüglich einer europarechtskonformen Ausgestaltung der Besonderen Ausgleichsregelung im EEG. Nähere Informationen zu Daten bzw.
Gesprächsinhalten und zu inhaltlichen Vorschlägen der
Bundesregierung können nicht übermittelt werden, da
die Verhandlungen der Bundesregierung noch nicht abgeschlossen sind.
Herr Kollege Krischer.
Herr Kollege Beckmeyer, herzlichen Dank für die
Antwort. - Diese Antwort verwundert mich etwas. Denn
wenn man in Verhandlungen geht, hat man erst einmal
eine Position; das kennen wir alle aus dem Bereich der
Tarifverhandlungen. Deshalb erstaunt mich, dass die
Bundesregierung bei diesem Thema offensichtlich gar
keine Position zu haben scheint. Wenn man in eine Verhandlung geht, dann muss man doch eine Position haben. Mich würde interessieren, mit welcher konkreten
Position die Bundesregierung in die Verhandlungen gegangen ist. Dass Sie über den Verhandlungsfortschritt
natürlich nicht im Detail berichten können, kann ich
nachvollziehen. Das ist sicherlich ein interner Prozess.
Aber mich interessiert die grundsätzliche Position.
Gestern gab es Medienberichte, wonach 65 Branchen
von der Ökostromumlage ausgenommen sein sollen.
Können Sie bestätigen oder dementieren, dass eine solche Zahl im Raume steht und am Ende Teil einer Vereinbarung mit der EU-Kommission wird?
Herr Kollege Krischer, Sie haben danach gefragt,
welche Treffen es zwischen der Europäischen Kommission und den Vertretern der Bundesregierung gegeben
hat, um diese Ausgestaltung zu beraten. Meine Antwort
darauf habe ich Ihnen eben vorgetragen.
({0})
- Ich komme zum zweiten Teil.
Die Beratungen betreffen unter anderem die Inhalte des
Erneuerbare-Energien-Gesetzes. In diesem Zusammenhang sind speziell das Thema „Besondere Ausgleichsregelung“, aber auch das Thema „Eigenverbrauch“ zu
nennen.
Sie haben mich außerdem gefragt, wie wir mögliche
Ausnahmen von der Ökostromumlage - Meldungen darüber sind gestern durch wen auch immer an die Öffentlichkeit geraten - bewerten. Dabei geht es um ein Papier
der EU-Kommission, in dem Ausnahmen für bestimmte
Branchen vorgeschlagen werden. Wir werten diese Vorschläge zurzeit aus und beurteilen sie auch im deutschen
Interesse.
Herr Kollege Krischer.
Herr Kollege, dass es dabei um das EEG und die Besondere Ausgleichsregelung geht, vermelden die Überschriften. Genauso ist es oft bei Tarifverhandlungen,
wenn vermeldet wird, dass es um Lohnpolitik und Arbeitszeiten geht. Überschriften dieser Art sagen aber
noch nichts über Ihre Position aus. Deshalb noch einmal
meine Frage: Mit welcher Position, mit welchen konkreten Inhalten, mit welchem Ziel ist die Bundesregierung
in diese Verhandlungen gegangen?
({0})
Herr Kollege Krischer, wir haben uns ja bereits im
Ausschuss für Wirtschaft und Energie darüber unterhalten. Es ist klar, dass das jetzige Erneuerbare-EnergienGesetz - zuletzt geändert 2012; das Gesetz, das von der
EU-Kommission im Grunde gestoppt worden ist - in
diesem Jahr novelliert werden soll; das ist erklärte Politik der Bundesregierung. Unser Zeitplan sieht vor, dass
der Entwurf der Novelle dem Kabinett Anfang April
vorliegt. Wir werden ihn danach im Plenum des Deutschen Bundestages beraten. Wir möchten gerne, dass
dieses Gesetz, nachdem wir es mit Ihnen zusammen beraten haben, am 1. August 2014 mit seiner Verkündung
im Bundesgesetzblatt in Kraft tritt.
Das Hinterfragen aller Inhalte des Ihnen bekannten Erneuerbare-Energien-Gesetzes - der Besonderen Ausgleichsregelung, einer Umlage auf Eigenstromverbrauch ist Teil der Verhandlungen, die wir mit der EU-Kommission aktuell führen. Da gibt es im Detail sehr viele verschiedene Ansichten und Positionierungen. Ich bitte Sie,
den Abschluss der Gespräche abzuwarten. Danach werden wir Ihnen einen entsprechenden Beschluss des Kabinetts vorlegen. Dann werden wir uns dazu inhaltlich
weiter auseinandersetzen können.
Herzlichen Dank.
Zu einer weiteren Frage erteile ich jetzt dem Kollegen
Petzold das Wort.
Herr Staatssekretär, ich möchte Sie trotzdem noch
einmal fragen, mit welcher Position die Bundesregierung, was die Ausnahmeregelungen für Unternehmen
anbelangt, in diese Verhandlungen geht.
Wir sind bereits in den Verhandlungen. Diese Verhandlungen haben insbesondere zum Ziel, die deutsche
Wirtschaft im Zusammenhang mit dem ErneuerbareEnergien-Gesetz und dessen Novelle international konkurrenzfähig zu halten. Das ist eines der Hauptziele der
Bundesregierung bei diesen Verhandlungen mit der
Europäischen Kommission.
Ich sehe keine weiteren Wortmeldungen.
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
Die Frage 2 des Abgeordneten Oliver Krischer, die
Frage 3 der Abgeordneten Bärbel Höhn, die Fragen 4
und 5 des Abgeordneten Klaus Ernst und die Frage 6 der
Abgeordneten Agnieszka Brugger werden schriftlich beantwortet.
Damit sind wir am Ende der Fragen zu diesem Geschäftsbereich. Ich bedanke mich bei Herrn Staatssekretär Beckmeyer für die Beantwortung.
Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Auswärtigen Amts. Zur Beantwortung steht Staatsminister
Michael Roth zur Verfügung.
Die Frage 7 der Abgeordneten Agnieszka Brugger
wird schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Frage 8 des Abgeordneten Wolfgang
Gehrcke auf:
Über welche Erkenntnisse und Hinweise verfügt die Bundesregierung, dass die gegen jüdische Einrichtungen und Bürger jüdischen Glaubens gerichteten Angriffe in der Ukraine
wie in Kiew im Januar 2014 ({0})
vom russischen Geheimdienst, von anderen russischen Sicherheitsorganen und/oder vom ukrainischen Geheimdienst
oder von anderen ukrainischen Sicherheitsorganen organisiert
und gesteuert wurden?
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Kollege
Gehrcke, wir gemeinsam hier im Hohen Hause, aber
auch in der Bundesregierung verurteilen den Antisemitismus auf das Schärfste - überall und selbstverständlich
auch in der Ukraine. Die Bundesregierung verfügt aber
über keine derartigen Erkenntnisse, wie Sie sie mit Ihrer
Frage insinuiert haben.
Sie können sich darauf verlassen: Wir stehen in engstem Kontakt mit Vertreterinnen und Vertretern der jüdischen Gemeinden in der Ukraine. Selbstverständlich ist
die Lage in der Ukraine ausgesprochen schwierig. Aber
alle Repräsentanten der jüdischen Gemeinden haben uns
gegenüber noch einmal bestätigt, dass man von einer allgemeinen Zunahme des Antisemitismus im Zusammenhang mit den jüngsten Unruhen in der Ukraine nicht
sprechen könne.
Ich will noch einen Punkt ergänzen, Herr Kollege
Gehrcke. Sie werden sich bestimmt an den offenen Brief
der jüdischen Gemeinden an Präsident Putin vom
5. März erinnern, in dem prominente Vertreter der ukrainischen jüdischen Organisationen deutlich gemacht haben, dass das Argument Putins, es handele sich hier um
einen wüsten Antisemitismus, mit der Wirklichkeit rein
gar nichts zu tun hat.
Herr Kollege Gehrcke.
Ich muss ja nicht dem russischen Präsidenten Putin
helfen wollen; ich will der Bundesregierung helfen,
({0})
klare Erkenntnisse zu gewinnen und ihre Positionen, die
Sie beschrieben haben, in der Öffentlichkeit auch energisch genug vorzutragen.
({1})
Ich zitiere aus der israelischen Zeitung Haaretz; sie
ist bekannt, das ist eines der großen seriösen Blätter.
Dort war am 23. Februar zu lesen:
Aus Angst vor antisemitischen Übergriffen inmitten
des Chaos in Kiew fordert der ukrainische Rabbiner
Moshe Reuven Asman die Juden zum Verlassen der
Stadt auf.
„Ich habe meine Gemeinde aufgefordert, das Stadtzentrum und auch die ganze Stadt zu verlassen und
wenn möglich auszureisen.“
Das können Sie in der Haaretz nachlesen. So wird das in
Israel wahrgenommen.
Muss nicht die Bundesregierung angesichts solcher
Wahrnehmungen viel energischer deutlich machen:
„Man setzt sich nicht mit Nazis zusammen an einen
Tisch, man lässt sich nicht mit denen fotografieren, sondern man wird international die Ächtung betreiben“?
Ich muss das auf das Schärfste zurückweisen. Die
Bundesregierung setzt sich nicht mit Nazis und Faschisten an einen Tisch. Sie können sich darauf verlassen,
dass wir im Rahmen unserer Möglichkeiten alles dafür
tun, um Jüdinnen und Juden in der Ukraine zu schützen.
Wir verlassen uns dabei nicht so sehr auf Medienberichte, sondern in erster Linie auf unmittelbare Gespräche mit Repräsentanten der jüdischen Gemeinden in der
Ukraine.
Ich möchte daran erinnern, dass heute, in dieser
Stunde, der Vorsitzende des Vereins Jüdischer Gemeinden und Organisationen in der Ukraine, Herr Zissels, in
Berlin ist - ich bedanke mich auch noch einmal bei der
Kollegin Beck, die das offenkundig initiiert hat -, um
unter anderem mit den Vertreterinnen und Vertretern des
Menschenrechtsausschusses, aber auch mit dem Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses über die Lage der
Juden in der Ukraine zu sprechen.
Wenn ich als Vertreter der Bundesregierung sage,
dass uns derzeit keine Erkenntnisse über eine Zunahme
des Antisemitismus in der Ukraine vorliegen, speist sich
das aus unmittelbaren Gesprächen mit Vertretern der jüdischen Gemeinden in der Ukraine.
Herr Kollege Gehrcke.
Auf die Quelle unmittelbarer Gespräche kann auch
ich zurückgreifen. Ich halte Ihnen aber noch einmal vor
- ich möchte ja, dass sich die Bundesregierung bewegt
und etwas tut -, wie Ihr Kollege Günter Verheugen, der
ehemalige EU-Erweiterungskommissar, der ja Ihrer Par1696
tei angehört und nicht meiner - ich könnte jetzt sagen:
bedauerlicherweise; aber das ist so -, die Lage beurteilt
- ich zitiere -:
Das Problem liegt eigentlich gar nicht in Moskau
oder bei uns. Das Problem liegt ja in Kiew, wo wir
die erste europäische Regierung des 21. Jahrhunderts haben, in der Faschisten sitzen.
Ende des Zitates von Günter Verheugen, Mitglied der
SPD, ehemaliger Erweiterungskommissar.
Diese Auffassung teilen wir so nicht. Ich will Ihnen
einfach einmal erklären, was wir bislang tun, um jeden
gewaltsamen Akt entschlossen und entschieden aufzuklären:
Erstens. Es gibt eine klare Zusage der derzeitigen
ukrainischen Regierung, in der sie ihre Bereitschaft zur
Zusammenarbeit mit internationalen Organisationen bekräftigt hat.
Zweitens hat sich eine Kommission in der Ukraine
gegründet unter starkem Einbezug der Zivilgesellschaft,
selbstverständlich auch unter Einbezug der jüdischen
Gemeinden.
Drittens hat der Europarat das sogenannte International Advisory Panel etabliert, das an der Aufklärung von
Gewalttaten in der Ukraine aktiv beteiligt ist.
Nicht zuletzt war der Untergeneralsekretär für Menschenrechte der Vereinten Nationen jüngst in der
Ukraine und hat sich über die Menschenrechtssituation,
auch über die Gefährdung durch Antisemitismus, einschlägig informiert. Wir sehen seinem unmittelbar aus
der Lage vor Ort gewonnenen Bericht mit großer Spannung entgegen.
Die Gelegenheit zu einer weiteren Frage hat der Kollege Petzold.
Herr Staatsminister, ich möchte noch einmal nachfragen, welche Rolle denn solche Erkenntnisse spielen
- diese sind ja auch im Internet oder in der Presse deutlich nachvollziehbar - wie die, dass führende Repräsentanten der Swoboda-Partei eindeutige Posen zeigen, die
bei uns als verfassungswidrig gelten, und dass Führungspersonal dieser Partei, dass Parlamentarier dieser Partei
an Veranstaltungen der rechtsextremen NPD in Deutschland teilnehmen und teilgenommen haben. Welche Rolle
spielt das bei Ihrer Meinungsbildung? Das muss doch
die Alarmglocken bei Ihnen schrillen lassen.
Es gibt ja noch eine schriftlich eingereichte Frage zu
der möglichen Kooperation der NPD mit Swoboda oder
auch mit anderen Organisationen in der Ukraine. Ich will
dem aber durchaus einmal vorgreifen und eines deutlich
sagen: Aus den Erkenntnissen, die der Bundesregierung
zu Swoboda vorliegen, wird deutlich, dass es sich um
eine rechtspopulistische und nationalistische Partei handelt, aber um keine faschistische.
Sie haben darüber hinaus nachgefragt, wie die Kooperationen der NPD mit Swoboda oder auch mit Prawyj
Sektor - das ist ja eine andere Organisation, die aber dezidiert nicht der ukrainischen Regierung angehört - aussehen. Uns liegen derzeit keinerlei Hinweise auf eine
finanzielle Zusammenarbeit vor. Es gibt auch kein klares
Bild. Ich will Ihnen einfach einmal ein paar Beispiele
nennen: Es ist durchaus richtig, dass sich die NPD bemüht hat, entsprechende Kontakte in die Ukraine zu vertiefen. Dafür spricht nicht zuletzt auch das Interview, das
ein Swoboda-Funktionär im Parteiorgan Deutsche
Stimme gegeben hat. Es gab auch den Besuch einer Swoboda-Delegation im Mai 2013 bei der NPD-Landtagsfraktion in Sachsen. Der Vertreter des sogenannten
Rechten Sektors, des Prawyj Sektor, hat seine Teilnahme
am Europakongress der Jungen Nationaldemokraten im
März dieses Jahres inzwischen zurückgezogen.
Es gibt auch Äußerungen der NPD, die ich Ihnen
nicht vorenthalten möchte. Hier gibt es nämlich teilweise eine deutliche Parteiergreifung für die Position
Russlands. So wirft zum Beispiel die NPD in Mecklenburg-Vorpommern den USA und der Europäischen
Union in Bezug auf die Ukraine eine antirussische Aggressionspolitik und die Destabilisierung durch Einflussagenten vor. Eine klare Positionierung der NPD kann ich
hier nun beim besten Willen nicht erkennen.
Auf eines können Sie sich aber immer verlassen: Die
Bundesregierung wird immer uneingeschränkt gegen
Antisemitismus und Faschismus vorgehen - egal wo,
weltweit.
Herr Staatsminister, ich darf Sie im Hinblick auf die
Beantwortung der weiteren Fragen an die Einhaltung der
Redezeit erinnern.
Danke.
Der Herr Kollege Grund hat eine Frage.
Herr Staatsminister, ich möchte auf die Frage von
Herrn Kollegen Gehrcke zurückkommen und Sie und die
Bundesregierung fragen, ob Ihnen bekannt ist, dass mehrere Mitglieder des Übergangskabinetts in Kiew, so zum
Beispiel Ministerpräsident Jazenjuk, jüdische Wurzeln
haben und dass der vor kurzem ernannte Gouverneur
von Dnipropetrowsk, Kolomojskyj, Vorsitzender des Europäischen Rats der Jüdischen Gemeinden, Präsident der
Europäischen Jüdischen Union und Leiter der Vereinten
Jüdischen Gemeinden der Ukraine ist?
Lieber Herr Kollege Grund, Sie haben völlig recht: Es
gibt eine Reihe von politischen Repräsentanten jüdiStaatsminister Michael Roth
schen Glaubens; Sie haben einige genannt. Auch der
stellvertretende Premierminister, Herr Hrojsman, ist jüdischen Glaubens. Darüber hinaus gibt es - das sind zumindest meine bisherigen Erkenntnisse - drei Gouverneure, die ebenso jüdischen Glaubens sind.
Vielen Dank.
Ich rufe die Frage 9 des Kollegen Wolfgang Gehrcke
auf:
Welche Erkenntnisse liegen der Bundesregierung über die
organisatorische und finanzielle Zusammenarbeit zwischen
der ukrainischen Partei Swoboda und der Kampfgruppe Rechter Sektor mit der deutschen NPD und anderen rechtsextremistischen Organisationen in der Bundesrepublik Deutschland vor?
Ich hatte diese Frage im Rahmen der Frage Ihres Kollegen eben schon weitgehend zu beantworten versucht.
Ich will das noch einmal kurz darstellen und erläutern:
Es ist gefragt worden, ob es eine finanzielle Zusammenarbeit zwischen Swoboda oder der sogenannten Kampfgruppe Rechter Sektor, Prawyj Sektor, zur NPD gebe.
Ich habe deutlich gemacht, dass es derzeit keinerlei Hinweise auf eine finanzielle Zusammenarbeit gibt. Das ambivalente Verhältnis zwischen der NPD einerseits und
diesen Gruppierungen andererseits habe ich bereits beschrieben.
Kollege Gehrcke.
Ich finde Ihre Unterscheidung zwischen einer faschistischen Partei sowie einer nationalistischen und
rechtspopulistischen Partei schon interessant. Wenn die
Position der Bundesregierung etwas klarer und entschlossener herüberkäme, würde ich gern mit Ihnen weiter darüber diskutieren.
Ich möchte Ihnen einfach einmal ein paar Wahrnehmungen bezüglich der Swoboda-Partei schildern: Die
Denkfabrik, das ideologische Zentrum der SwobodaPartei, heißt „Joseph-Goebbels-Forschungszentrum für
Politik“. Ist das faschistisch oder rechtspopulistisch?
Das würde mich schon interessieren.
Viele der Anhänger dieser Partei laufen mit Armbinden herum, auf der die sogenannte Wolfsangel zu sehen
ist. Das war das Erkennungszeichen der Waffen-SS in
der Ukraine. Und was Waffen-SS in der Ukraine, gerade
in der Westukraine, bedeutet, ist bekannt.
Ist die Bundesregierung, was Swoboda angeht, wenigstens bereit, zu sagen, dass der Übergang von einer
faschistischen zu einer rechtspopulistischen Partei fließend ist und dass diese Partei eine Gefahr für die ukrainische und europäische Demokratie ist?
Da mich die Präsidentin an meine Redezeit erinnert
hat, möchte ich Ihnen ausdrücklich das Angebot unterbreiten, andernorts noch einmal intensiver gemeinsam
darüber zu diskutieren, wo die Unterschiede zwischen
einer rechtsnationalistischen und einer faschistischen
Partei liegen. Dies hat insbesondere etwas mit dem Parteiaufbau zu tun.
Ich habe Ihnen deutlich gemacht, wie die Bewertungen der Bundesregierung bezogen auf Swoboda aussehen. Ich finde es schon merkwürdig, dass hier insinuiert
werden könnte, wir würden faschistisches, antisemitisches Gedankengut in irgendeiner Weise decken. Dies ist
mitnichten der Fall.
Ich will noch einmal eines deutlich unterstreichen:
Der weitaus größte Teil der Protestbewegung in der
Ukraine und auch deren Unterstützer haben mit Rechtsnationalismus oder -populismus, mit Faschismus, mit
Antisemitismus überhaupt nichts am Hut. Insofern
möchte ich hier gerne eine Trennung vornehmen: Das
eine sind Entwicklungen, die auf unseren deutlichen Widerstand stoßen. Wir werden das auch im Rahmen unserer Möglichkeiten zum Thema machen und bekämpfen.
Das andere ist, dass nicht der Eindruck entstehen sollte,
dass die Protestbewegung auf dem Maidan in erster Linie von Faschisten und Antisemiten unterwandert
wurde.
Herr Kollege Gehrcke.
Das ist überhaupt nicht mein Eindruck. Ganz im Gegenteil: Ich möchte Trennschärfe und Klarheit haben.
Ich stelle Ihnen einmal die Regierungsbeteiligung der
Swoboda-Partei dar: Sie stellt vier Minister: den stellvertretenden Premierminister, den Verteidigungsminister
- hier geht es um Waffen -, den Minister für Agrarpolitik und Ernährung sowie den Minister für Umwelt und
Bodenschätze. Der Rechte Sektor stellt den Vorsitzenden
des Nationalen Sicherheitsrates, den Vizechef des Nationalen Sicherheitsrates sowie den Generalstaatsanwalt.
Finden Sie es angemessen, gerade vor dem Hintergrund
Ihrer Analyse, dass diese Rechtspartei - ich finde, faschistische Partei - einer Regierung so stark angehört?
Die Bundesregierung hat ein Interesse an einer möglichst - ich kann nur noch einmal wiederholen, was ich
schon einmal gesagt habe - inklusiven ukrainischen Regierung, die alle der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit
verpflichteten Teile der ukrainischen Gesellschaft angemessen einbezieht. Dieser Linie bleiben wir treu.
Alle anderen Aspekte zur Situation und Bewertung
von Swoboda habe ich Ihnen deutlich geschildert. Da
scheint es zwischen Ihrer Bewertung und der Bewertung
der Bundesregierung einen Dissens zu geben. Sie können sich aber darauf verlassen, dass wir in dieser Frage
sehr wachsam sein werden. Sollte es irgendeinen Anlass
geben, der Ihre Unterstellungen erhärten sollte, dann
wird es darauf eine klare Antwort der Europäischen
Union, aber auch der Bundesregierung geben.
Frau Kollegin Vogler.
Herr Staatsminister, die Bundesregierung legt offensichtlich großen Wert auf die Unterscheidung zwischen
rechtspopulistischen und faschistischen Kräften. Ich finde
es gut, wenn man dies sauber trennt. Deswegen würde
mich interessieren, worin aus Sicht der Bundesregierung
der Unterschied besteht zwischen der FPÖ eines Jörg
Haider in Österreich, die von allen hier im Hause vertretenen Parteien ausgesprochen kritisch gesehen wurde
und mit deren Funktionären man eine Zusammenarbeit
aus gutem Grund gemieden hat, und der Swoboda, die,
wie der Kollege sagte, vier Minister, darunter den Verteidigungsminister, stellt, und warum Sie, wenn Sie eine
möglichst inklusive Regierung aller an Demokratie und
Rechtsstaatlichkeit orientierten Kräfte wollen, eine Partei einbezogen sehen wollen, die ein Joseph-GoebbelsForschungszentrum unterhält?
Ich finde es erst einmal interessant, dass Sie ein Mitgliedsland der Europäischen Union, nämlich Österreich,
offenkundig mit der Ukraine gleichzusetzen versuchen.
Im Übrigen habe ich Ihnen deutlich klarzumachen
versucht, dass die Bundesregierung eine andere Definition von Faschismus und von einer faschistischen Partei
vornimmt als Sie. Daraus dürfen Sie aber nicht schließen, dass die Bundesregierung nicht mit aller Entschlossenheit und Entschiedenheit gegen Faschismus und Antisemitismus in der Ukraine und weltweit vorgeht und
dagegen entschieden eintritt.
Herr Kollege Hunko.
Vielen Dank. - Herr Kollege Roth, Sie haben hier
Ihre Linie damit begründet, dass Sie Swoboda als
rechtspopulistisch und nicht als faschistisch einschätzen. Nun hat der Cheftheoretiker von Swoboda,
Mychaltschyschyn, persönlich das Kleine ABC des
Nationalsozialisten von Goebbels, das 25-Punkte-Programm der NSDAP oder den Aufsatz Warum SA von
Ernst Röhm ins Ukrainische übersetzt und das mit der
Aktualität dieser Schriften begründet. Wenn Sie meine
Aussagen bestätigt sehen würden, würden Sie dann immer noch davon ausgehen, dass es sich dabei um
Rechtspopulisten handelt, oder würden Sie dann nicht zu
der Einschätzung kommen, dass es sich doch um Faschisten handelt?
Meine Antworten speisen sich aus den Informationen,
die mir derzeit vorliegen. Auf Grundlage dieser Informationen formuliere ich die Antworten, die ich Ihnen und
im Übrigen allen anderen Kolleginnen und Kollegen des
Deutschen Bundestages gebe.
Herr Kollege Grund.
Herr Staatsminister, teilen Sie meine Einschätzung,
dass die Bürgerbewegung in der Ukraine, die Protestbewegung gegen das Anketten an Russland im russischen
Fernsehen und von den dortigen Nachrichtenagenturen
sehr stark - eigentlich fast ausschließlich - unter dem
Stichwort „Faschismus“ und in Bezug auf eine mögliche
faschistische Machtübernahme dargestellt wird und
diese Bürgerbewegung dadurch diskreditiert wird? Teilen Sie meine Einschätzung, dass früher die Sowjetunion
und heute Russland diesen Vorwurf sehr gerne nutzte
bzw. nutzt, wenn es um eigene Interessen ging bzw. geht,
etwa im Zusammenhang mit dem Bürger- und Arbeiteraufstand in der DDR am 17. Juni 1953, der von der sowjetischen Propaganda ebenso als faschistisch gesteuert
bezeichnet wurde, um das Eingreifen zu rechtfertigen?
Liegt das jetzige Verhalten möglicherweise auf einer solchen Linie, die es schon in der Vergangenheit gab?
Herr Kollege Grund, die Bundesregierung - auch ich
persönlich - tut sich mit Gleichsetzungen mit Geschehnissen der Vergangenheit immer schwer. Aber ich kann
Ihnen nur darin zustimmen, dass sowohl beim Aufstand
von 1953 als auch bei den Aufständen von 1956 in Ungarn und 1968 in der Tschechoslowakei, in Prag, immer
von faschistischen Aufständen gesprochen wurde. Das
heißt aber nicht, dass ich jetzt eine Parallele zu der Propaganda ziehen möchte, die offenkundig in Russland betrieben wird.
Ich will eines klarstellen: Nichts wiegt für die Bundesregierung schwerer als der Vorwurf des Antisemitismus. Deshalb sind wir mit den Vertreterinnen und Vertretern der jüdischen Gemeinden, aber auch mit den
Vertretern der Zivilgesellschaft sehr eng und intensiv im
Gespräch. Wenn uns die Vertreter der jüdischen Gemeinden beispielsweise erklären, dass es aus ihrer Sicht zu
keinem Anstieg des Antisemitismus in der Ukraine gekommen ist, dann liegt es mir fern, dem öffentlich oder
auch nichtöffentlich zu widersprechen.
Vielen Dank. - Frage 10 der Kollegin Dağdelen wird
schriftlich beantwortet.
Damit kommen wir zum Ende dieses Geschäftsbereichs. Ich bedanke mich bei Herrn Staatsminister.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern auf.
Zur Beantwortung der Fragen steht der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Günter Krings zur Verfügung.
Frage 11 der Kollegin Dağdelen wird schriftlich beantwortet.
Ich komme zur Frage 12 der Kollegin Wawzyniak. Ich sehe die Kollegin nicht. Es wird verfahren, wie in der
Geschäftsordnung vorgesehen.
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
Frage 13 des Kollegen Ströbele und die Fragen 14
und 15 der Kollegin Jelpke werden schriftlich beantwortet.
Dann kommen wir zur Frage 16 der Abgeordneten
Luise Amtsberg:
Welche Schlussfolgerungen bzw. Konsequenzen zieht die
Bundesregierung hinsichtlich der Situation von Flüchtlingen
mit Behinderungen in Deutschland, insbesondere im Hinblick
auf ihre Unterbringung und den Zugang zu Rehabilitationsmaßnahmen, und sollten der Bundesregierung hierzu keine
Daten vorliegen, plant sie, einen entsprechenden Forschungsauftrag zu vergeben?
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Auf die Kollegin
Amtsberg ist Verlass; vielen Dank.
Bei Flüchtlingen handelt es sich um Personen, denen
internationaler Schutz zuerkannt wurde. Ihnen sind nach
Art. 29 und Art. 30 der Richtlinie 2011/95/EU Sozialhilfeleistungen und medizinische Versorgung wie eigenen
Staatsangehörigen zu gewähren.
Eine Unterbringung von anerkannten Flüchtlingen, in
Unterkünften für Asylbewerber etwa, findet daher nicht
statt.
Haben Sie eine Nachfrage, Kollegin Amtsberg? - Das
ist nicht der Fall. Danke.
Die Fragen 17 und 18 der Kollegin Britta Haßelmann
werden schriftlich beantwortet. Damit sind wir am Ende
dieses Geschäftsbereichs.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz. Zur
Beantwortung der Fragen 19 bis 21 steht der Parlamentarische Staatssekretär Christian Lange und für die
Frage 22 der Parlamentarische Staatssekretär Ulrich
Kelber zur Verfügung.
Die Frage 19 der Kollegin Ulle Schauws wird schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Frage 20 der Abgeordneten Martina
Renner auf:
Sind durch das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz sowie das Bundesministerium des Innern inzwischen Entwürfe für die Änderungen der Richtlinien für das
Strafverfahren und das Bußgeldverfahren und der einschlägigen polizeilichen Dienstvorschriften fertiggestellt worden,
wie sie der Abschlussbericht des 2. Parlamentarischen Untersuchungsausschusses zum Nationalsozialistischen Untergrund,
NSU, vorgesehen hat, in dem die gemeinsame Empfehlung
der Obleute als Erstes die nachfolgende für den Bereich Polizei fordert: „In allen Fällen von Gewaltkriminalität, die wegen der Person des Opfers einen rassistisch oder anderweitig
politisch motivierten Hintergrund haben könnten, muss dieser
eingehend geprüft und diese Prüfung an geeigneter Stelle
nachvollziehbar dokumentiert werden, wenn sich nicht aus
Zeugenaussagen, Tatortspuren und ersten Ermittlungen ein
hinreichend konkreter Tatverdacht in eine andere Richtung ergibt. Ein vom Opfer oder Zeugen angegebenes Motiv für die
Tat muss von der Polizei beziehungsweise der Staatsanwaltschaft verpflichtend aufgenommen und angemessen berücksichtigt werden. Es sollte beispielsweise auch immer geprüft
werden, ob es sinnvoll ist, den polizeilichen Staatsschutz zu
beteiligen und Informationen bei Verfassungsschutzbehörden
anzufragen. Dies sollte in die Richtlinien für das Straf- und
das Bußgeldverfahren ({0}) sowie in die einschlägigen
polizeilichen Dienstvorschriften aufgenommen werden.“
({1})?
Bitte schön.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Die Empfehlung
Nr. 1 des NSU-Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestages betrifft Richtlinien und Dienstvorschriften bei Justiz und Polizei, also Bereichen, die überwiegend der Organisationshoheit der Länder obliegen.
Der Abschlussbericht des 2. Untersuchungsausschusses
der 17. Wahlperiode des Deutschen Bundestages war
deshalb auch Gegenstand unter anderem der Erörterungen der 84. Konferenz der Justizministerinnen und Justizminister am 14. November 2013 in Berlin.
Die Justizministerinnen und Justizminister haben ihren Strafrechtsausschuss beauftragt, unter Beteiligung
des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz den aus dem Abschlussbericht folgenden gesetzgeberischen und sonstigen Handlungsbedarf, zum Beispiel durch eine Änderung der Richtlinien für das
Strafverfahren und für das Bußgeldverfahren, RiStBV,
zu prüfen und der Konferenz über das Ergebnis zu berichten.
In Ausführung dieses Auftrags hat der Strafrechtsausschuss der Justizministerkonferenz eine Arbeitsgruppe
eingerichtet, der Vertreterinnen und Vertreter der Landesjustizverwaltungen sowie des Bundesministeriums
der Justiz und für Verbraucherschutz angehören. Die
konstituierende Sitzung der Arbeitsgruppe fand am
30. Januar dieses Jahres in Düsseldorf statt.
In der Auftaktsitzung der Arbeitsgruppe wurden die
Vorschläge zunächst einer ersten Bewertung unterzogen
und zu Themengebieten zusammengefasst. Anschließend wurden die Zuständigkeiten für ihre Aufarbeitung
unter den Mitgliedern der Arbeitsgruppe aufgeteilt, um
zeitnah eine aus fachlicher Sicht umfassende Analyse
der Vorschläge nebst etwaigen Umsetzungsüberlegungen vorlegen zu können, die in einer zweitägigen Sitzung der Arbeitsgruppe am 26. und 27. März 2014 erörtert werden sollen. Geplant ist, das Ergebnis und etwaige
Umsetzungsüberlegungen in einem Bericht an den Strafrechtsausschuss sowie des Weiteren an die Frühjahrskonferenz der Justizministerinnen und Justizminister vorzulegen, die im Juni 2014 tagen wird.
Frau Kollegin Renner.
Danke, Frau Präsidentin. - Herr Staatssekretär, ich
würde gerne wissen, in welche Richtung jetzt weiter verfahren wird. Gibt es schon erste Textentwürfe zur Änderung der Richtlinie für das Strafverfahren? Können Sie
uns Eckpunkte benennen oder gegebenenfalls nachreichen? Gibt es einen Konsens unter den Justizministern
und -ministerinnen, dass an diesem Punkt den Empfehlungen des Untersuchungsausschusses Folge geleistet
wird, oder gibt es auch Gegenargumente, die in dieser
Kommission gegebenenfalls vorgetragen wurden? Wenn
ja, welche sind das?
Frau Kollegin Renner, inhaltlich deckt sich Ihre
Nachfrage mit der von Ihnen eingereichten Frage 21, in
der Sie wissen wollten, wann entsprechende Entwürfe
für die Änderungen der RiStBV vorliegen und wie sich
die Justizministerkonferenz dazu verhält. - Wenn Sie gestatten, Frau Präsidentin, dann würde ich die Frage gerne
entsprechend beantworten.
Dann rufe ich die Frage 21 der Abgeordneten Martina
Renner auf:
Wann sollen die Entwürfe für die Änderungen der RiStBV
und der einschlägigen polizeilichen Dienstvorschriften der Innenministerkonferenz und der Justizministerkonferenz zur
Verabschiedung vorgelegt werden?
Über die Ergebnisse und den Fortgang des in der Antwort zu Ihrer vorangegangenen Frage skizzierten Prüfund Analyseprozesses wird den Fachkonferenzen, der
JuMiKo und der Innenministerkonferenz, im Frühjahr
2014 berichtet werden. Diesen Fachkonferenzen und den
in ihnen vertretenen Justiz- und Innenressorts der Länder
obliegt die Entscheidung, ob bzw. in welcher Weise
Empfehlungen zur Ergänzung oder Änderungen der
Richtlinien und Dienstanweisungen aufgegriffen werden.
Frau Kollegin Renner, da die beiden Fragen zusammengezogen wurden, haben Sie die Möglichkeit, noch
drei Nachfragen zu stellen.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Ist damit zu rechnen,
dass noch in diesem Jahr eine Verabschiedung erfolgen
wird? Sie haben darauf verwiesen, wann die nächsten
Beratungen anstehen. Ich würde aber gerne wissen, ob
die Änderung der Vorschrift tatsächlich zum Jahresende
kommen wird?
Ich kann mich nur wiederholen, liebe Frau Kollegin
Renner: Die Entscheidung, ob bzw. in welcher Weise die
Länder das umzusetzen gedenken, obliegt ihnen und
nicht der Bundesregierung.
Möchten Sie eine weitere Nachfrage stellen?
Nein, danke.
Danke. - Ich sehe auch keine anderen Fragen. Ich bedanke mich beim Herrn Parlamentarischen Staatssekretär. Die Frage 22 des Abgeordneten Herbert Behrens
wird schriftlich beantwortet. Damit sind wir am Ende
des Geschäftsbereichs des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Finanzen auf. Die Frage 23 der Abgeordneten
Dr. Franziska Brantner, die Fragen 24 und 25 des Abgeordneten Dr. Axel Troost, die Frage 26 des Abgeordneten Hans-Christian Ströbele, die Frage 27 der Abgeordneten Lisa Paus und die Fragen 28 und 29 der
Abgeordneten Susanna Karawanskij werden alle schriftlich beantwortet. Damit ist auch dieser Geschäftsbereich
beendet.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales auf. Die Beantwortung der
Fragen übernimmt die Parlamentarische Staatssekretärin Gabriele Lösekrug-Möller.
Die Frage 30 der Abgeordneten Tabea Rößner wird
schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Frage 31 der Kollegin Luise Amtsberg
auf:
Auf welche Weise bzw. an welchen Orten können sich
nach Kenntnis der Bundesregierung Flüchtlinge mit Behinderungen bzw. behinderte Menschen, die schlecht oder nicht
deutsch sprechen, über sozialrechtliche Unterstützungsleistungen für Menschen mit Behinderungen informieren, und
sollte die Bundesregierung hierzu keine Kenntnis haben, plant
sie, einen entsprechenden Forschungsauftrag zu vergeben?
Frau Präsidentin! Liebe Kollegin Amtsberg, Ihre
Frage beantworte ich gerne wie folgt: Flüchtlinge mit
Behinderung sowie behinderte Personen mit Migrationshintergrund, deren Kenntnisse der deutschen Sprache
nicht ausreichend sind, um sich zumindest auf einfache
Art in deutscher Sprache zu verständigen, können sich
über die ihnen zustehenden Sozialleistungen und über
die aufenthaltsrechtlichen Voraussetzungen für eine Berechtigung zur Teilnahme an Integrationskursen grundsätzlich bei jedem Sozialleistungsträger informieren.
Außerhalb des Anwendungsbereichs des Asylbewerberleistungsgesetzes, zum Beispiel bei Flüchtlingen, denen
internationaler Schutz zuerkannt worden ist, oder bei
Ausländern mit gesichertem Aufenthaltsstatus, besteht
für die Sozialleistungsträger eine Pflicht zur Beratung
und Auskunft. Am besten wendet sich ein Flüchtling
oder Ausländer, bei dem eine Behinderung vorliegt, an
das für ihn örtlich zuständige Integrationsamt, das auch
bei der Stellung eines Antrags auf Ausstellung eines
Schwerbehindertenausweises helfen kann. Angesichts
der gebotenen Kürze der Antwort verzichte ich auf die
Nennung der jeweiligen Rechtsgrundlage.
Daneben können auch in den gemeinsamen Servicestellen der Rehaträger Auskünfte über die Zielsetzung,
Zweckmäßigkeit und die Erfolgsaussicht hinsichtlich der
Gewährung möglicher Leistungen zur Teilhabe eingeholt werden. Es wird der individuelle Hilfebedarf ermittelt und geklärt, welche Rehabilitationsträger für die
Leistung zuständig sind. Sind Leistungen verschiedener
Rehaträger angezeigt, koordiniert die Rehaservicestelle
die Zusammenarbeit dieser Träger.
Behinderte Asylbewerberinnen und Asylbewerber,
die in den Anwendungsbereich des Asylbewerberleistungsgesetzes fallen und Grundleistungen nach den
§§ 3 ff. Asylbewerberleistungsgesetz beziehen, können
sich hinsichtlich der für sie in Betracht kommenden Unterstützungsleistungen an den zuständigen Leistungsträger nach dem Asylbewerberleistungsgesetz wenden. Die
Unterbringung und Versorgung von Asylbewerbern fällt
in den Zuständigkeitsbereich der Länder.
Da Sie gefragt haben, ob ein Forschungsauftrag zu
der Problematik geplant ist, will ich Ihnen antworten:
Nein, das ist nicht geplant.
Frau Kollegin Amtsberg.
Ich möchte noch einmal nachfragen. Es ist ja so, dass
Flüchtlinge, die unter das Asylbewerberleistungsgesetz
fallen, in den ersten 48 Monaten nur bei akuten Schmerzen eine medizinische Versorgung bekommen. Das gilt
auch für Rehamaßnahmen. Die Frage ist, ob es mit der
Behindertenrechtskonvention vereinbar ist, wenn in vielen Fällen Anträgen auf eine Brille, einen Rollator oder
einen Rollstuhl nicht stattgegeben wird. Deshalb noch
einmal die Frage: Gibt es möglicherweise Maßnahmen,
die ergriffen werden müssen, um diese Menschen zu unterstützen?
Ich antworte gerne darauf. Ich beziehe mich auf die
Antwort, die ich Ihnen gerade gegeben habe. In meiner
Antwort habe ich den Unterschied herausgearbeitet: Behinderte Asylbewerberinnen und Asylbewerber, die in
den Anwendungsbereich des Asylbewerberleistungsgesetzes fallen, fallen hinsichtlich Versorgung und Unterbringung in die Zuständigkeit der Länder. Das ist der
Punkt, den ich hier herausarbeiten möchte. Deshalb bezieht sich Ihre Frage in erster Linie auf die Regelungen
der Länder. Darüber kann ich Ihnen keine Auskunft geben.
Kollegin Amtsberg?
Ja. - Das ist ja alles richtig. Der Punkt ist nur, dass
wir auf Bundesebene zumindest die Aufgabe haben, zu
schauen, wie die Länder mit einer solchen Situation umgehen. Deshalb habe ich auch danach gefragt, ob nicht
eine Evaluation der Situation vor Ort angemessen wäre.
Was mich noch interessiert, ist Folgendes: Entstehen
für die betroffenen Personen Kosten, bzw. kann es sein,
dass an irgendeiner Stelle Kosten entstehen? Ist das eigentlich eine proaktive Geschichte? Wann erfährt ein
Betroffener, der eine Behinderung hat, davon, dass er die
Rechte, die Sie vorgetragen haben, tatsächlich hat?
Ich antworte gerne auf Ihre Frage. - Ich will Ihnen sagen: An genau dieser Stelle kommt es darauf an, welchen Personenkreis Sie mit Ihrer Frage meinen. Ich
möchte sie nicht interpretieren. Ich habe aber die Vermutung, dass Sie jene Asylbewerberinnen und Asylbewerber meinen, die Leistungen nach §§ 3 ff. Asylbewerberleistungsgesetz erhalten. Daher muss ich meine
Antwort leider wiederholen: Das ist in der Tat Sache
der Bundesländer. Selbstverständlich sind wir in vielen
Angelegenheiten mit den Bundesländern im Gespräch.
Aber natürlich ersetzt das nicht die Verschiebung von
Zuständigkeiten. Hier sind die Bundesländer gefragt. Ich
denke, in den jeweiligen Bundesländern gibt es entsprechende Regelungen.
Gelegenheit zu einer Nachfrage hat jetzt die Kollegin
Rüffer.
Es ist ja richtig, dass die Zuständigkeit für diesen Bereich bei den Ländern liegt. Aber die Zuständigkeit für
die Gesetzgebung liegt beim Bund. Insofern könnte man
natürlich darüber nachdenken, welche Änderungen geboten wären bzw. ob sogar ein Wegfall des Asylbewerberleistungsgesetzes geboten wäre, um bestehenden
Härten, die es in der Bundesrepublik jeden Tag gibt, entgegenzutreten, medizinische Leistungen auch Menschen, die einen Flüchtlingsstatus haben oder als Asylbewerber in Deutschland sind, ihn also noch nicht haben,
zu ermöglichen und ihnen Hilfsmittel wie Rollatoren,
Rollstühle usw. zur Verfügung zu stellen. Es ist eine
ganz problematische Situation, dass das derzeit nicht geschieht.
Die Beratung - gleich komme ich zu meiner Frage ist gerade für Flüchtlinge mit Behinderung unglaublich
wichtig. Diese Flüchtlinge haben es sehr schwer, die nötigen Informationen zu bekommen und damit Kenntnis
darüber zu erlangen, welche Hilfemöglichkeiten in der
Bundesrepublik, die für sie naturgemäß fremd ist, zur
Verfügung stehen.
Ich habe vor kurzem ein Gespräch mit Vertretern einer Initiative in Berlin geführt, die sich auf genau diese
Fälle spezialisiert hat, nämlich auf Asylbewerber,
Flüchtlinge und Menschen mit Migrationshintergrund
mit Behinderung. Ihr Problem besteht darin, dass ihre Finanzierung überhaupt nicht gesichert ist. Diese Initiative
arbeitet also, ohne zu wissen, ob sie nächstes Jahr noch
wird beraten können. Meine Frage an die Bundesregie1702
rung lautet: Planen Sie, Mittel zur Verfügung zu stellen,
damit diese wichtige Beratungstätigkeit in Zukunft stabil
ausgeübt werden kann?
Frau Kollegin Rüffer, Sie sprechen damit unter anderem einen Personenkreis an, den ich anfangs abgegrenzt
habe, nämlich Flüchtlinge, denen internationaler Schutz
zuerkannt wurde, und Ausländer mit gesichertem Aufenthaltsstatus. Für diesen Personenkreis gelten andere
Regelungen als für jene Menschen, die Leistungen nach
dem Asylbewerberleistungsgesetz in Anspruch nehmen.
Ich will Ihnen sagen - ich glaube, wir sind da einer
Meinung -: Personen mit Behinderung, die noch dazu
Flüchtlinge oder Asylbewerber sind, finden auch in
Deutschland erschwerte Bedingungen vor; diese Einschätzung teilt die Bundesregierung mit Ihnen und dem
Parlament. Deshalb gibt es die Regelung, dass immer
dann, wenn der Schutz gewährt und der Status anerkannt
ist, sehr weit reichende Möglichkeiten bestehen, nicht
nur zur Beratung - diese muss schon nach den §§ 14 und 15
Erstes Buch Sozialgesetzbuch verpflichtend erfolgen -,
sondern auch im Hinblick auf entsprechende Leistungen.
Davon abzugrenzen - ich wiederhole meinen Vortrag sind jene Menschen, deren Status ein anderer ist. Für sie
gelten andere Regelungen.
Sie haben außerdem nach der finanziellen Absicherung der Beratungsmöglichkeiten gefragt. Was die erste
Zielgruppe, die ich gerade erwähnt habe, betrifft, ist es
so, dass alle Einrichtungen, die es in Deutschland gibt,
die Pflicht zur Beratung haben. Erfolgt die Beratung
durch weitere Einrichtungen - vielleicht können Sie das
ja schriftlich konkretisieren -, müsste man prüfen, wie
ihre Situation, ihre finanzielle Lage und die entsprechende Förderung ist und ob man ihnen zukünftig helfen
kann. Da ich aber jetzt keine Einrichtung von Ihnen benannt bekommen habe, kann ich dazu leider keine Auskunft geben.
Ehe ich jetzt der Kollegin Klein-Schmeink das Wort
erteile, bitte ich noch mal alle Fragestellerinnen und Fragesteller und alle Antwortenden, die vereinbarte Redezeit zu beachten. Wir haben zu Ihrer Hilfe Lichtzeichen
an verschiedenen Stellen eingeführt. Ich mache noch
einmal darauf aufmerksam: Solange es grün ist, dürfen
Sie reden. Wenn es gelb ist, müssen Sie zum Schluss
kommen. Aber Rot bedeutet eindeutig: Ende der Redezeit.
Frau Klein-Schmeink.
Ich möchte gern an die Frage anknüpfen. Es gibt gerade bei den Menschen mit anerkanntem Aufenthaltsstatus sehr viele Menschen mit seelischer Behinderung,
auch aufgrund von Traumaerfahrungen in ihrem Herkunftsland oder aufgrund von Foltererfahrungen. Ich
habe dazu in der letzten Wahlperiode eine Kleine Anfrage gestellt. Damals wurde deutlich, dass die Bundesregierung, was die Versorgung dieser Personengruppe
angeht, über keinerlei Zahlen verfügte, vor allen Dingen
auch nicht darüber, ob ihnen Möglichkeiten der muttersprachlichen Beratung und natürlich auch der Therapie
zur Verfügung standen. Daraus habe ich abgeleitet, dass
man dringend eine Untersuchung einleiten sollte, um zu
schauen, wo es Handlungsbedarf gibt, um dann eine
konkrete Grundlage zu haben. Würden Sie diese Sicht
der Dinge teilen, und was gedenken Sie dann zu tun?
Ich ermuntere Sie ausdrücklich, möglicherweise noch
einmal in dieser Hinsicht zu fragen. Wir sind uns einig,
dass gerade der Personenkreis mit zum Beispiel Posttraumatischen Belastungsstörungen ein Personenkreis
ist, der ganz besonderer Hilfe bedarf; das gilt nicht nur
für den Personenkreis mit dem Status, den Sie gerade angesprochen haben, sondern grundsätzlich. In den letzten
Jahren hat sich nicht nur bei der Diagnose, sondern insbesondere bei der Therapie viel getan. Wir wissen, dass
wir nicht nur für den hier angesprochenen Personenkreis, sondern grundsätzlich noch viel tun müssen, um
insgesamt zu einer adäquaten Leistung zu kommen. Davon profitiert dann auch der von Ihnen genannte Personenkreis. Ich bin mir sicher, dass wir genau diese Fragestellung erörtern werden. Letzten Endes wird die
Leistung aber auch im Zusammenhang mit einer Krankenversicherung noch einmal zu erörtern sein.
Vielen Dank.
Die Fragen 32 und 33 des Kollegen Peter Meiwald
werden schriftlich beantwortet.
Ich rufe jetzt die Frage 34 der Abgeordneten Doris
Wagner auf:
Welche Maßnahmen plant die Bundesregierung, gegebenenfalls in Zusammenarbeit mit den Bundesländern, um für
Eltern mit Behinderungen einen Rechtsanspruch auf Unterstützung bei der Wahrnehmung ihrer Elternrolle zu schaffen,
sofern sie zum Ausgleich ihrer Behinderung darauf angewiesen sind ({0})?
Vielen Dank; ich beantworte diese Frage gerne.
Frau Präsidentin, ich versuche wirklich, das in der gebotenen Kürze zu tun, und hoffe, dass dann trotzdem die
Tiefe nichts zu wünschen übrig lässt.
Meine Antwort auf Ihre Frage, Frau Kollegin Wagner,
lautet wie folgt: Nach dem Neunten Buch Sozialgesetzbuch ist bei der Entscheidung über Leistungen und bei
der Ausführung der Leistungen zur Teilhabe den besonderen Bedürfnissen behinderter Mütter und Väter bei der
Erfüllung ihres Erziehungsauftrages sowie den besonderen Bedürfnissen behinderter Kinder Rechnung zu tragen.
Die Bundesregierung schließt sich dem Ergebnis der
eigens für diese Frage „Rechtsanspruch auf ElternassisParl. Staatssekretärin Gabriele Lösekrug-Möller
tenz: Mütter und Väter mit Behinderungen bei der
Erfüllung ihres Erziehungsauftrages unterstützen“ eingerichteten Arbeitsgruppe der Arbeits- und Sozialministerkonferenz an. Diese ist zu dem Ergebnis gelangt, dass
nach dem bestehenden Recht alle Bedarfe von Eltern mit
Behinderung durch vorrangige Leistungsgesetze wie insbesondere gesetzliche Krankenversicherung und gesetzliche Pflegeversicherung sowie durch das Achte und das
Zwölfte Buch Sozialgesetzbuch gedeckt werden können.
Unter dem Gesichtspunkt der Sicherstellung einer konkreten Bedarfsdeckung durch die jeweiligen Leistungsgesetze im Einzelfall wird die Unterstützung von Eltern
mit Behinderungen ein wichtiger Diskussionspunkt bei
den Überlegungen zur Schaffung eines Bundesteilhabegesetzes sein.
Frau Kollegin Wagner.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Vielen Dank für Ihre
Antwort, Frau Staatssekretärin. Leider ist es allerdings
so, dass es immer wieder zu gerichtlichen Auseinandersetzungen über die Gewährung von Elternassistenz
kommt, obwohl es doch eigentlich unerheblich ist, dass
die Leistungen der Elternassistenz bei den Eingliederungsleistungen nicht ausdrücklich genannt sind, da
diese Auflistung beispielhaft ist. Welche Möglichkeit
sieht die Bundesregierung, dies zu verhindern, um behinderten Eltern einen unkomplizierten Weg zu den notwendigen Unterstützungsmöglichkeiten zu garantieren?
Ich beantworte Ihnen die Frage gerne. Wir leben in einem Rechtsstaat mit Gewaltenteilung. Jeder Antragsteller hat das Recht, sein Recht auch auf dem Klagewege
noch einmal prüfen und entscheiden zu lassen; das steht
außer Frage. Gleichwohl habe ich darauf hingewiesen,
dass wir diesen Themenkomplex auch aufgreifen werden, und es ist ja nicht ausgeschlossen, dass wir bei den
Überlegungen zur Schaffung eines Bundesteilhabegesetzes eben auch genau diese Fragen erörtern; ich trug das
eben vor. Ich denke, auch da werden wir uns solchen
Fragestellungen vertieft widmen. Ob das allerdings ausschließt, dass es auch späterhin - wenn denn ein solches
Gesetz in Kraft getreten ist - zu Klagen kommt, vermag
ich nicht zu sagen.
Vielen Dank. - Die Gelegenheit zu einer weiteren
Frage hat der Kollege Kurth.
Gerade die Zersplitterung des Leistungsrechts für
Menschen mit Behinderungen und die Verteilung der
verschiedenen Ansprüche über verschiedene Sozialgesetzbücher, verbunden mit dem Unwillen der Leistungsträger, zu leisten, und dem Willen, sich stets für unzuständig zu erklären, führen dazu, dass gerade Menschen
mit Behinderungen nicht nur hier, aber gerade auch hier,
häufig den Klageweg beschreiten müssen.
Hält die Bundesregierung das wirklich für zumutbar?
Wäre es, wenn man das erkannt hat und seit weit mehr
als zehn Jahren sieht, dass sich das eher verschlechtert
als verbessert, nicht sinnvoller, die verteilten Ansprüche
- zum Beispiel beim Recht auf Elternassistenz - zu bündeln, eindeutig, rechtssicher und klar zusammenzufassen
und einem einzelnen Leistungsträger verpflichtend zuzuordnen, damit die Leistungsberechtigten nicht quasi routinemäßig auf den Klageweg verwiesen werden?
Herr Kollege Kurth, über den Unwillen der Leistungsträger möchte sich die Bundesregierung an dieser
Stelle nicht äußern. Ihnen steht es zu, das so zu bewerten.
Wir sind der Auffassung, dass es in der Tat sehr viele
Schnittstellen gibt, und halten das als Bundesregierung
für nicht zielführend. Genau deshalb planen wir, uns
diese Schnittstellen im Rahmen der Gestaltung eines
Bundesteilhabegesetzes noch einmal anzuschauen, um
im Ergebnis etwas zu erzielen, was, wie ich denke, einer
Zersplitterung, wie Sie das genannt haben, deutlich entgegenwirkt.
Vielen Dank. - Ich rufe die Frage 35 der Abgeordneten Wagner auf:
Welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung aus den
Ergebnissen der Studie „Strukturelle und finanzielle Hindernisse bei der Umsetzung der interdisziplinären Frühförderung“ durch das Institut für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik, um eine bundeseinheitliche Umsetzung der
Komplexleistung „Frühförderung“ zu gewährleisten und
Schnittstellenprobleme abzubauen, und wann wird die Bundesregierung tätig werden?
Frau Kollegin Wagner, Ihre Frage beantworte ich
wie folgt: Laut der Studie „Strukturelle und finanzielle
Hindernisse bei der Umsetzung der interdisziplinären
Frühförderung“ sind die Eltern unabhängig von der
Versorgungsstruktur mit dem Leistungsgeschehen der
Frühförderung überwiegend sehr zufrieden. Die Eltern
beurteilen die Leistungen, die sie und ihr Kind durch die
Frühförderung erhalten, zu 97 Prozent positiv. Hinweise
auf Versorgungslücken oder unterversorgte Kinder liefert diese Studie nicht.
Richtig ist allerdings, wie in der Studie auch ausgeführt, dass die Vereinbarung einer gemeinsamen Empfehlung gemäß § 13 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch auf
der Grundlage einer freiwilligen Verpflichtung wegen
der Widerstände der beteiligten Leistungsträger nicht erreicht werden konnte. Die Leistungsträger stützen sich
dabei im Wesentlichen auf die unterschiedlich gewachsenen Strukturen und verweisen auf die nur mit erheblicher Mühe geschlossenen Landesrahmenvereinbarungen, welche die Probleme im Hinblick auf die wichtigen
Abstimmungen und Regelungsbedarfe in den Ländern
weitestgehend gelöst hätten.
Im Kontext der Vorbereitung eines Bundesteilhabegesetzes wird die Bundesregierung dieses Thema in ihre
Überlegungen einbeziehen.
Frau Kollegin Wagner?
Vielen Dank.
Keine weiteren Fragen.
Ich rufe die Frage 36 der Abgeordneten Beate MüllerGemmeke auf:
Ist es aus Sicht der Bundesregierung geboten, die Arbeitsstättenverordnung dergestalt zu überarbeiten, dass Betriebe
generell verpflichtet werden, Arbeitsstätten barrierefrei zu gestalten und die Integrationsämter zur Übernahme der Kosten
in vollem Umfang zu verpflichten?
Vielen Dank. - Sehr geehrte, liebe Kollegin MüllerGemmeke, die Bundesregierung sieht derzeit keine Notwendigkeit, die Arbeitsstättenverordnung dahin gehend
zu ändern, dass eine Verpflichtung für den Arbeitgeber
zur generellen barrierefreien Gestaltung von Arbeitsstätten eingeführt wird.
Die Bundesregierung hat mit § 3 a Abs. 2 Arbeitsstättenverordnung geregelt, dass Arbeitgeber, die Menschen
mit Behinderungen beschäftigen, Arbeitsstätten so einzurichten und zu betreiben haben, dass die besonderen
Belange dieser Beschäftigten im Hinblick auf Sicherheit
und Gesundheitsschutz berücksichtigt werden. Eine allgemeine, von jedem individuellen Bezug losgelöste
Verpflichtung zur Einrichtung und Unterhaltung barrierefreier Arbeitsplätze und Arbeitsstätten würde die Arbeitgeber in tatsächlicher wie auch in wirtschaftlicher
Hinsicht überfordern. Eine Änderung der Arbeitsstättenverordnung ist auch deshalb nicht erforderlich, da der
Stand der Barrierefreiheit in der Arbeitswelt für Menschen mit Behinderungen in Deutschland ein hohes Niveau erreicht hat.
Um den Arbeitgeber jedoch bei seinen Verpflichtungen zu unterstützen, hat der in § 7 Arbeitsstättenverordnung geregelte Ausschuss für Arbeitsstätten unter anderem Gestaltungsvorschläge für das Einrichten und
Betreiben von barrierefreien Arbeitsstätten ermittelt.
Diese heißen „Technische Regeln für Arbeitsstätten“ mit
Maßnahmen für die barrierefreie Gestaltung von Arbeitsplätzen und mit Anforderungen zum Beispiel an behindertengerechte Türen, Verkehrswege, Fluchtwege,
Notausgänge, Treppen, Orientierungssysteme und Toilettenräume. Sie wurden im Gemeinsamen Ministerialblatt der Bundesregierung veröffentlicht.
Frau Kollegin.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Ich möchte gerne
nachfragen, weil ich glaube, dass noch ein paar mehr
Menschen mit Behinderung auf dem Arbeitsmarkt Chancen haben sollten. Von daher möchte ich nachfragen:
Wenn Sie an der Arbeitsstättenverordnung nichts verändern wollen, was wird die Bundesregierung stattdessen
unternehmen, um die Chancen von Menschen mit Behinderung auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern?
Darauf antworte ich sehr gerne. - In der Tat hat die
Bundesregierung ein großes Interesse daran, dass wir
mehr Menschen mit Behinderung einen Zugang zum ersten Arbeitsmarkt erlauben. Das Stichwort ist dabei inklusiver Arbeitsmarkt. Daran werden wir in dieser Legislaturperiode arbeiten und ganz sicher auch Ergebnisse
erzielen. Wir würden uns freuen, wenn wir gemeinsam
mit dem Parlament zu wirklichen Verbesserungen kommen.
Ihre Frage zielte jedoch auf Folgendes: Wollen wir
eine generell barrierefreie Gestaltung von Arbeitsstätten
einführen? - Das ist eine ganz grundsätzliche Sache. Sie
würde jeden Arbeitsplatz und jede Barriere betreffen.
Aus den von mir vorgetragenen Gründen halten wir das
nicht für zielführend.
Vielen Dank. - Ich möchte noch einmal nachfragen.
Hält es die Bundesregierung für sinnvoll, die Ausgleichsabgabe nach § 77 SGB IX zu erhöhen und damit
die Chancen für behinderte Menschen zu verbessern?
Wenn Sie etwas in dieser Richtung vorhaben: In welcher
Form und wann wird das passieren?
Vielen Dank auch für diese Frage, die ich ebenso
gerne beantworte. - Es besteht zurzeit nicht die Absicht,
die Ausgleichsabgabe zu erhöhen. In der Tat steht sie zur
Verfügung, um genau die genannten Maßnahmen zu unterstützen und voranzubringen. Wir gehen davon aus,
dass wir auskömmliche Mittel zur Verfügung haben.
Deshalb sehen wir zurzeit keine Notwendigkeit, die
Ausgleichsabgabe zu erhöhen.
Vielen Dank.
Ich rufe die Frage 37 der Kollegin Beate MüllerGemmeke auf:
Wie viele Arbeits- und Ausbildungsplätze wurden durch
die „Initiative Inklusion“ bisher tatsächlich geschaffen, und
wie viele der Menschen, die darüber einen Arbeits- bzw. AusVizepräsidentin Ulla Schmidt
bildungsplatz bekommen haben, sind derzeit noch dort beschäftigt?
Auch diese Frage beantworte ich sehr gerne, Kollegin
Müller-Gemmeke. - Die „Initiative Inklusion“ wird von
den Ländern in enger Kooperation mit dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales seit 2011 bis 2018
durchgeführt. Die Länder haben gemäß der Richtlinie
Initiative Inklusion dem Bundesministerium für Arbeit
und Soziales in Abstimmung mit den zuständigen Trägern der Arbeitsverwaltung zu festgelegten Stichtagen
über den Stand der Umsetzung zu berichten. Die Länder
sind dieser Berichtspflicht zuletzt am 31. März vergangenen Jahres nachgekommen.
Demnach ergibt sich zum Stichtag 31. Dezember 2012 - das ist der aktuelle Bericht - Folgendes: 214
neue Ausbildungsplätze für schwerbehinderte Jugendliche in Betrieben und Dienststellen des allgemeinen Arbeitsmarktes; berichtet wurde in diesem Zusammenhang
von sechs Ausbildungsabbrüchen, sodass sich die Zahl
von 208 ergibt. 310 neue Arbeitsplätze für ältere schwerbehinderte Menschen; Angaben zu Abbrüchen in diesem
Handlungsfeld werden erstmalig zum 30. Juni 2014 fällig. Deshalb können wir dazu noch keine Aussage machen.
Sie haben die Gelegenheit zu zwei Nachfragen.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Ja, ich möchte gerne
nachfragen. Welche Vorteile bieten denn diese befristeten Sonderprogramme, wie beispielsweise die „Initiative
Inklusion“ oder „Job 4000“, für die Arbeitgeber einerseits, aber auch für die arbeitsuchenden Menschen mit
Behinderung andererseits? Welche Vorteile haben sie gegenüber den Förderinstrumenten im SGB III?
Auch darauf antworte ich gerne. - Ich will das am
Beispiel der Förderung neuer Ausbildungsplätze aus den
Mitteln der „Initiative Inklusion“ aufzeigen, wobei ich
vorausschicken will, dass es grundsätzlich darum geht,
überhaupt eine bessere Motivationslage und eine höhere
Informationsdichte zu erreichen. Ich glaube, ich darf,
ohne Sie vereinnahmen zu wollen, sagen: Wir wissen,
dass wir in Deutschland hier noch viel tun können. Der
Arbeitsmarkt zeigt nicht annähernd die Aufgeschlossenheit und die Initiativbereitschaft, wie sich das die Bundesregierung zurzeit wünscht. Deshalb halte ich diese
Initiative für richtig.
Ich habe es schon dargestellt: Sie hat zwar bereits
2011 begonnen, aber wir wollen ihr mehr Nachdruck
verleihen. Wir sind also dabei, das voranzubringen. Insofern haben wir, denke ich, neben der Unterstützung im
Einzelfall auch die ganz starke Zielsetzung in einer starken öffentlichen Wirkung.
Sie haben das Wort zur zweiten Nachfrage.
Befristete Sonderprogramme sind nun einmal genau
das: Sonderprogramme und befristet. Von daher möchte
ich nachfragen, wie die Förderinstrumente im SGB III
verbessert werden könnten und was die Bundesregierung
in nächster Zeit vorhat.
Liebe Kollegin Müller-Gemmeke, ich sprach schon
von der Zielsetzung der Bundesregierung, besonderes
Augenmerk auf den inklusiven Arbeitsmarkt zu legen.
Genau darauf zielt auch Ihre Frage, wenn man das in einem größeren Kontext behandelt.
Ich bin sicher, dass wir nach einer kritischen Analyse
der Instrumente, die wir derzeit haben, danach fragen
werden, wie sie zu bewerten sind und ob sie der Zielsetzung entsprechen, die wir als Bundesregierung erklärtermaßen haben, den Arbeitsmarkt in Deutschland inklusiver zu gestalten.
Zu einer Nachfrage hat die Kollegin Klein-Schmeink
das Wort.
Ich habe eine Nachfrage zur „Initiative Inklusion“. Inwieweit werden dort Menschen mit seelischer Behinderung einbezogen? Haben Sie dazu Zahlen? Haben Sie
vor, das auch in den regulären Arbeitsmarktinstrumenten
verstärkt vorzusehen?
Auch darauf antworte ich gerne, wobei ich sagen
muss, dass ich die Zahlen nicht im Kopf habe. Ich kann
sie aber gerne schriftlich nachliefern. Grundsätzlich
muss man sehen, dass wir mit unseren Instrumente Menschen mit Behinderung nicht ausschließen wollen; wir
wollen ihnen und auch unserem Arbeitsmarkt vielmehr
die Möglichkeit geben, sozusagen inklusiver zu werden.
Erlauben Sie mir, dass ich das schriftlich nachliefere.
Denn ich denke, Sie wollen verlässliche Zahlen haben,
und wir haben ein Interesse, sie zu liefern.
Dann ist das so zugesagt und wird geschehen.
Die Frage 38 der Kollegin Kerstin Andreae wird
schriftlich beantwortet.
Wir kommen zur Frage 39 des Kollegen Markus
Kurth:
Vizepräsidentin Petra Pau
Welche Erfahrungen wurden aus Sicht der Bundesregierung bislang mit dem „Budget für Arbeit“ gemacht, und aus
welchen Gründen hat sich die Bundesregierung dazu entschieden, zur Erleichterung des Übergangs aus der Werkstatt für
Menschen mit Behinderung auf den ersten Arbeitsmarkt lediglich Erfahrungen mit dem „Budget für Arbeit“ einzubeziehen, obwohl die Landesregierungen hier weiter gehen und die
gesetzliche Verankerung eines „Budgets für Arbeit“ in der erprobten Form fordern ({0})?
Bitte, Frau Staatssekretärin.
Verehrter Kollege Kurth, auch hierauf gebe ich gerne
Antwort. In ihrem Koalitionsvertrag sprechen sich CDU,
CSU und SPD dafür aus, den Übergang zwischen Werkstätten für Menschen mit Behinderung und dem ersten
Arbeitsmarkt zu erleichtern und dabei die Erfahrungen
mit dem „Budget für Arbeit“ einzubeziehen. Den Erfahrungen mit dem Modell „Budget für Arbeit“ in Rheinland-Pfalz, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen
kommt aus der Sicht der Bundesregierung eine hohe Bedeutung zu. Sie bestätigen in einer ganzen Reihe von
Einzelfällen, dass in einer von der Eingliederungshilfe
unterstützten Beschäftigung werkstattbedürftiger, dauerhaft voll erwerbsgeminderter Menschen mit Behinderung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt durchaus eine
Alternative zu einer Beschäftigung im Arbeitsbereich
anerkannter Werkstätten für behinderte Menschen gesehen werden kann, allerdings im Wesentlichen beschränkt
auf Personen, die zu den Leistungsträgern innerhalb der
Gruppe der werkstattbedürftigen Menschen mit Behinderung gehören.
Die Mehrheit der Werkstattbeschäftigten, die weniger
leistungsfähig ist, wäre aus Sicht der Bundesregierung
bei einer tariflich entlohnten Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt mit über Werkstattniveau liegenden Leistungsanforderungen überfordert. Eine derartige
Beschäftigung kann daher für diese Menschen keine
sinnvolle und in ihrem wohlverstandenen Interesse liegende Alternative zu einer Beschäftigung in einer Werkstatt für behinderte Menschen darstellen.
Vor dem Hintergrund dieser Bewertung, in der sich
die Bundesregierung und die Länder im Übrigen einig
sind, ist auch nicht daran gedacht, einen allgemeinen anspruchsbegründenden Leistungstatbestand „Budget für
Arbeit“ im Recht der Eingliederungshilfe zu verankern.
Vielmehr soll gerade den nachweislich zu einer Tätigkeit
auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt befähigten Menschen
der Übergang von der Werkstatt für behinderte Menschen auf den allgemeinen Arbeitsmarkt ermöglicht
bzw. erleichtert werden, natürlich unter der Voraussetzung, dass die volle Minderung der Erwerbsfähigkeit auf
dem allgemeinen Arbeitsmarkt nach wie vor besteht.
In diesem Sinn wird die Bundesregierung bei den
Überlegungen zur Schaffung eines Bundesteilhabegesetzes auf Basis der Erfahrungen mit dem „Budget für Arbeit“ prüfen, wie ein Minderleistungsausgleich für werkstattbedürftige Menschen mit Behinderung, die zu einer
Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt befähigt
sind, auf eine sichere Rechtsgrundlage gestützt werden
kann.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Frau Lösekrug-Möller, habe ich Sie richtig verstanden, dass die Bundesregierung keinen Rechtsanspruch
auf ein persönliches „Budget für Arbeit“ begründen will,
sodass es beantragt werden muss? Wie rechtfertigen Sie
dies angesichts der Tatsache, dass das persönliche Budget nur eine andere Leistungsform darstellt, die nicht
mehr kostet und die es in anderen Leistungsbereichen
wie der Assistenz - da gibt es bereits einen Rechtsanspruch - längst gibt? Warum gibt es einen solchen Anspruch im Bereich Arbeit nicht? Im wohlverstandenen
Interesse der Beschäftigten im Werkstattbereich liegt es,
dass diese nach ihrer eigenen Fähigkeitseinschätzung
entscheiden können. Das sollte nicht etwa vom jeweiligen Sozialhilfeträger verfügt werden.
Ihre Frage enthält mehrere Aspekte, auf die ich gerne
eingehe. Ich habe gesagt: Es geht nicht darum, einen allgemeinen, anspruchsbegründenden Leistungstatbestand
im Recht der Eingliederungshilfe zu verankern. Herr
Kurth, ich kenne Sie als einen sehr sachkundigen Experten. Wir beide wissen, dass es hier wirklich auf Details
ankommt; das wissen wir aus gemeinsamer politischer
Erfahrung.
Ich würde nicht unterstellen, dass hier andere etwas
über andere verfügen. Wir gehen sehr seriös mit der Entwicklung um. Deshalb habe ich ja gesagt: Wir werden
die Erfahrungen einbeziehen und prüfen. Genau das
werden wir tun, und das Ergebnis werden wir Ihnen ganz
sicher in dem Augenblick, in dem wir eine gesicherte Erkenntnis haben und uns darüber im Klaren sind, wie wir
politisch vorgehen wollen, mitteilen und hier im Parlament zur Diskussion stellen.
Ihre zweite Nachfrage.
Frau Staatssekretärin, erlauben Sie mir die Bemerkung, dass ich der Auffassung bin, dass wir nach vielen
Jahren der Erfahrung mit dem persönlichen „Budget für
Arbeit“ bereits über sehr viele Erkenntnisse verfügen.
Angesichts der Tatsache, dass ein Bundesleistungsgesetz
möglicherweise erst in der nächsten Legislaturperiode in
Kraft treten wird - die finanzielle Entlastung wurde jedenfalls eher für 2018 und nicht früher in Aussicht gestellt -, also angesichts der Tatsache, dass es noch einige
Jahre auf sich warten lassen wird: Hält es die Bundesregierung für denkbar, vorzeitig Regelungen speziell für
das „Budget für Arbeit“ zu machen - wenn nur Mittel
umgeschichtet werden, entstehen für die Kostenträger
keine neuen finanziellen Belastungen -, sodass wir
schon im Vorgriff im Bereich des Übergangs zum allgemeinen Arbeitsmarkt Erfolge erzielen können?
Unsere Aufgabe sehen wir darin, geltendes Recht immer dann zu verbessern, wenn es zielführend erscheint.
Es ist eine Daueraufgabe einer Regierung, entsprechende Vorschläge zu machen und die Initiative zu ergreifen.
Was Ihre Vorstellung über den Zeitraum, bis ein Bundesleistungs- bzw. Bundesteilhabegesetz kommt und in
Kraft tritt, angeht: Sie reden über längere Zeiträume, als
es die Bundesregierung im Augenblick in ihrer Planung
vorsieht.
Wir kommen damit zur Frage 40 des Kollegen
Markus Kurth:
Teilt die Bundesregierung die Auffassung der Landesregierungen, dass im Rahmen der Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe ein dauerhafter Lohnkostenzuschuss für wesentlich behinderte, erwerbsfähige Menschen im Sinne eines
Minderleistungsausgleiches eingeführt werden sollte ({0}), um ihre Chancen auf Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu verbessern, und
welche Gründe bzw. Erwägungen liegen der Einschätzung zugrunde?
Bitte, Frau Staatssekretärin.
Sehr gerne. - In Ihrer Frage wird nicht die Auffassung
der Länder wiedergegeben. Diese teilen vielmehr unverändert die Auffassung der Bundesregierung, dass die
Förderung der Teilhabe erwerbsfähiger Menschen mit
Behinderung am Arbeitsleben keine Aufgabe der Eingliederungshilfe ist. Im Beschluss der 90. Arbeits- und
Sozialministerkonferenz wird ausdrücklich festgestellt,
dass Voraussetzung für ein „Budget für Arbeit“ grundsätzlich der Zugang über den Arbeitsbereich der Werkstätten für behinderte Menschen sein soll und damit das
„Budget für Arbeit“ nur den behinderten Menschen offenstehen soll, die dauerhaft voll erwerbsgemindert sind.
Eine andere Darstellung der Positionierung der Länder
im Sinne der Fragestellung, die einer vorläufigen Protokollfassung der 90. Sitzung der Arbeits- und Sozialministerkonferenz zu entnehmen war, wurde mit der
Endfassung korrigiert.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Hält die Bundesregierung denn diese Grenzziehung
zwischen erwerbsfähig und nicht erwerbsfähig bzw. voll
erwerbsgemindert überhaupt noch für zielführend? Wäre
es nicht vielmehr viel sinnvoller, von einem Kontinuum
auszugehen, also von leichten Einschränkungen an einem Ende und schweren Einschränkungen am anderen
Ende, und die personenbezogene Leistung, die es nach
einer Veränderung der Eingliederungshilfe geben soll,
eben individuell zuzumessen und an der Stelle nicht nur
eine einfache Scheidelinie zu haben?
Als kundiger Thebaner wissen auch Sie, dass wir uns
mit allen Fragestellungen rund um Behinderung beschäftigen und dass wir uns im Rahmen der Diskussion, die
wir nicht nur zum künftigen Bundesteilhabegesetz, sondern auch zur UN-Behindertenrechtskonvention haben,
genau mit dieser Frage beschäftigen. Deshalb haben wir
weder ein Denkverbot noch ein Entwicklungsverbot im
Hinblick auf die Fragestellung, die Sie gerade an mich
gerichtet haben.
Sie haben gewiss eine zweite Nachfrage. Bitte.
Ich habe noch eine weitere Nachfrage. In meiner
Frage bezog sich der dauerhafte Lohnkostenzuschuss
keineswegs nur auf den Kreis der Werkstattberechtigten.
Ich würde gerne die Bundesregierung fragen, ob das
Modell der sogenannten Integrationsfirmen - ein Modell
ist es ja gar nicht mehr; es gibt schon Hunderte von ihnen -, ob also nicht das Vorbild der Integrationsfirmen
und Integrationsabteilungen eine Blaupause sein kann,
um einen dauerhaften Lohnkostenzuschuss und auch
„Budgets für Arbeit“ zu implementieren. Hält die Bundesregierung es für denkbar und möglich, dies auch stärker in die sogenannten normalen Firmen des ersten Arbeitsmarkts hineinzutragen?
Herr Kollege Kurth, der Erfolg von Integrationsfirmen ist auch der Bundesregierung nicht verborgen geblieben. Wir haben, glaube ich, in allen Bundesländern
sehr erfolgreiche Modelle. Die Bundesregierung hat in
der Vergangenheit nicht nur darauf geschaut, wie sie sich
entwickeln, sondern diese Modelle auch immer wieder
unterstützt. Deshalb ist das eine Möglichkeit, die wir
selbstverständlich in die Weiterentwicklung mit einbeziehen.
Ich rufe die Frage 41 der Kollegin Brigitte Pothmer
auf:
Wie hat sich die Zahl schwerbehinderter Arbeitsloser und
schwerbehinderter arbeitsloser Akademikerinnen und Akademiker seit dem Jahr 2010 im Vergleich zum allgemeinen
Trend auf dem Arbeitsmarkt entwickelt - bitte Zahlen für jedes Jahr getrennt nach Rechtskreisen angeben -, und wie bewertet die Bundesregierung diese Entwicklung?
Bitte, Frau Staatssekretärin.
Sehr gerne. - Das ist jetzt ein anderer Themenschwerpunkt.
Verehrte Kollegin Pothmer, ich beantworte Ihre Frage
wie folgt: Die Zahl der schwerbehinderten Arbeitslosen
hat von 2010 auf 2013 um rund 2 Prozent auf etwa
178 600 zugenommen, während die Arbeitslosigkeit insgesamt in diesem Zeitraum um 9 Prozent gesunken ist.
Der Anteil der schwerbehinderten akademisch ausgebildeten Arbeitslosen an allen akademisch ausgebildeten
Arbeitslosen hat sich von 3,5 Prozent auf 3,9 Prozent erhöht.
Da die Darlegung der Entwicklung der Zahlen
schwerbehinderter Arbeitsloser und schwerbehinderter
arbeitsloser Akademikerinnen und Akademiker seit
2010 im Vergleich zum allgemeinen Trend auf dem Arbeitsmarkt für jedes Jahr getrennt nach Rechtskreisen
- so haben Sie Ihre Frage ja auch formuliert - den hier
zur Verfügung stehenden Zeitrahmen sprengen würde,
möchte ich Ihnen gern die entsprechende von der Bundesagentur für Arbeit erstellte Tabelle zusenden. Ich
habe sie dabei. Sie ist sehr schwer vorzulesen, schon gar
nicht in der mir zustehenden Zeit. Frau Präsidentin, Ihre
Vorgängerin in der Sitzungsleitung hatte mich da ganz
hart ermahnt.
Die Entwicklung der Arbeitslosigkeit schwerbehinderter Menschen ist stark von statistischen Effekten geprägt. Nachdem Ende 2007 Regelungen zum erleichterten Leistungsbezug für die Altersgruppe „58 Jahre und
älter“ ausliefen, ist die Zahl arbeitsloser schwerbehinderter Menschen in dieser Altersgruppe erheblich gestiegen. Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit stieg
ihre Zahl von rund 9 300 im Jahr 2008 auf rund 45 400
im Dezember 2013. Damit lag der Anteil dieser Altersgruppe an allen arbeitslos gemeldeten schwerbehinderten Menschen Ende 2013 bei rund 26 Prozent. Bei arbeitslosen schwerbehinderten Akademikerinnen und
Akademikern war der Anteil mit rund 37 Prozent sogar
deutlich höher.
Zwar haben Lebensältere ein geringeres Risiko als
Jüngere, arbeitslos zu werden, zugleich aber - das wissen wir aus dem allgemeinen Arbeitsmarkt - schlechtere
Chancen, die Arbeitslosigkeit durch Aufnahme einer Beschäftigung wieder zu beenden.
Bei der Kombination „Schwerbehinderung und höheres Lebensalter“ gestaltet sich eine Beschäftigungsaufnahme zum Teil noch schwieriger. Gerade diese Kombination ist aber für die Arbeitslosigkeit schwerbehinderter
Menschen prägend.
Oftmals ist auch aufgrund von Vorbehalten und fehlenden Erfahrungen im Umgang mit behinderten Menschen ein zurückhaltendes Einstellungsverhalten bei Arbeitgebern festzustellen. Hier besteht aus Sicht der
Bundesregierung nach wie vor großer Handlungsbedarf.
Aufklärung oder, wie es die UN-Behindertenrechtskonvention bezeichnet, Bewusstseinsbildung sind wichtige
Voraussetzungen, um Vorbehalte abzubauen und mehr
Beschäftigung schwerbehinderter Menschen zu realisieren. Auch das ist ein zentrales Ziel der vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales im Oktober 2013
zusammen mit den maßgeblichen Arbeitsmarktpartnern
gestalteten Inklusionsinitiative für Ausbildung und Beschäftigung.
Ich vermag mir gar nicht auszumalen, was es noch an
Zeit gekostet hätte, wenn Sie die Tabelle mit vorgetragen
hätten.
({0})
Frau Pothmer, Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Frau Staatssekretärin, zunächst einmal herzlichen
Dank für Ihre Rücksichtnahme auf das Publikum, aber
auch auf Sie selbst. Ich begrüße das.
Auch wenn Sie nicht alle Zahlen en détail vorgetragen haben, ist deutlich geworden, dass der Rückgang
der Arbeitslosigkeit im Allgemeinen und der Anstieg
der Arbeitslosigkeit im Besonderen bei behinderten
Akademikerinnen und Akademikern wie eine Schere
auseinandergehen. Als einen Grund haben Sie statistische Effekte genannt, zum Beispiel die 58er-Regelung.
Diese Regelung betrifft nun nicht nur Menschen mit Behinderung, sondern alle arbeitslosen Menschen. Sie kann
also keine Erklärung dafür sein; es können also nicht nur
statistische Effekte sein, die dieses Auseinandergehen
verursacht haben. Insofern noch einmal die Frage: Können Sie die Gründe, warum die Schere so exorbitant auseinandergeht, deutlicher erläutern?
Frau Kollegin Pothmer, das tue ich gerne. Ich glaube,
dieser Effekt ist allerdings nicht unerheblich; von daher
möchte ich noch einmal auf ihn verweisen. Ich will
gerne schauen, ob wir Ihnen genauere Zahlen dazu liefern können. Von diesem Effekt sind meines Erachtens
die Menschen mit Behinderung überproportional betroffen.
Es ist so - ich will mich gerne wiederholen -, dass
wir einen dringenden Handlungsauftrag sehen, zumal
immer mehr Jahrgänge hochqualifizierter Menschen mit
Behinderung auf den Arbeitsmarkt kommen. Deshalb ist
es erklärtes Ziel der Bundesregierung, genau hier initiativ zu werden.
Ich habe beschrieben, dass wir es besonders wichtig
finden, den Vorbehalten entgegenzutreten, die diese Personengruppe in keiner Weise verdient; vielmehr sollten
wir ermunternd und unterstützend darauf hinwirken,
dass diese Menschen einen Platz im ersten Arbeitsmarkt
finden.
Frau Pothmer, Sie haben das Wort zu einer zweiten
Nachfrage.
Nehmen Sie mir es nicht übel, Frau Staatssekretärin:
Angesichts der Dramatik, die sich in diesen Zahlen zeigt,
scheint mir das Vorhaben, für mehr Aufklärung zu sorgen, dem Problem wohl nicht ganz angemessen. Es gibt
ja eine ganze Reihe von Vorschlägen, auch aus den BeBrigitte Pothmer
hindertenverbänden. Darin wird zum Beispiel deutlich
hervorgehoben, dass sich die Bundesagentur für Arbeit
in Bezug auf die Beratung von behinderten Menschen
sehr stark auf die Akquirierung von Arbeitsplätzen und
nur noch sehr wenig auf die Betreuung von behinderten
Menschen konzentriert. Das hat sehr viel damit zu tun,
dass für die Statistik der Bundesagentur für Arbeit zählt,
wenn ein Arbeitsloser einen Arbeitsplatz erhalten hat.
Berücksichtigt wird dabei überhaupt nicht mehr die
Frage, wie lange die jeweilige Person ihren Arbeitsplatz
behalten konnte.
Menschen mit Behinderung brauchen nicht nur einen
Arbeitsplatz. Wenn sie einen Arbeitsplatz bekommen haben, brauchen sie darüber hinaus Unterstützung und Begleitung. Von Behindertenverbänden wird kontinuierlich
angemahnt, dass das nicht der Fall ist. Haben Sie vor, da
etwas zu verändern?
Frau Kollegin Pothmer, auch mir ist bekannt, dass Behindertenverbände darauf hinweisen. Ich will gerne aufgreifen, dass wir das auch mit der Bundesagentur für Arbeit erörtern. Ich teile aber nicht automatisch Ihre
Einschätzung, dass es da sozusagen einen Mangel an Engagement gibt. Das will ich hier ganz deutlich sagen. Ich
will aber der festen Meinung Ausdruck verleihen, dass
die Bundesregierung wirklich bereit ist, sich genau um
diese Personengruppe zu kümmern und da viel zu tun.
Insofern danke ich für Ihre Frage.
Sie zielte im Übrigen - wenn ich das noch ergänzen
darf; die Zeit reicht dafür ja auch noch - im Grunde genommen schon auf die nächste Frage, die ich gleich zu
beantworten gedenke.
Zuerst hat aber die Kollegin Rüffer eine Nachfrage.
Ich kann an die Frage von Frau Pothmer anschließen;
das passt dazu. - Sie haben in Ihrem Koalitionsvertrag
festgelegt, dass die Qualifizierung von Mitarbeitern im
Jobcenter sozusagen als Problemfeld gesehen wird.
Meine Frage ist mit Blick auf die Beratung von Menschen mit Behinderung und speziell mit Blick auf die
Beratung des in der Frage benannten Personenkreises:
Wann können wir mit einer Lösung rechnen und in welchem Umfang?
Ich antworte gern, liebe Kollegin Rüffer. - Grundsätzlich sind wir daran interessiert, dass Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen auf dem bestmöglichen Qualifikationsstand sind. Das ist eine Daueraufgabe. Wir haben dies
noch einmal besonders hervorgehoben - Sie haben das
zu Recht zitiert und richtig zitiert -, weil wir wissen,
dass eine maximale Qualifizierung auch zu hohen Arbeitserfolgen in der Vermittlung führt. Das gilt übrigens
nicht nur für die Zielgruppe, über die wir gerade sprechen, sondern das gilt grundsätzlich.
Wenn Sie danach fragen, wann wir dazu Ergebnisse
haben werden, will ich Ihnen sagen: Wir sehen das im
Mittelpunkt der Aufgaben der nächsten Zeit. Sobald wir
Ergebnisse haben, werden wir das Plenum, aber ganz sicher den Fachausschuss Arbeit und Soziales unterrichten.
Herzlichen Dank, Frau Staatssekretärin.
Kollegin Rüffer, als Hinweis für die Zukunft: Wir
bleiben im Allgemeinen stehen, wenn wir bei der Beantwortung von Fragen im Gespräch mit Personen auf der
Regierungsbank sind.
Ich rufe die Frage 42 der Kollegin Pothmer auf:
Welche Schlüsse zieht die Bundesregierung aus der Einschätzung des Deutschen Vereins der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf e. V., DVBS, hinsichtlich des
Reformbedarfs bei der Arbeitsvermittlung schwerbehinderter
Menschen und hinsichtlich der Rolle der Vermittlungsstelle
für besonders betroffene schwerbehinderte Akademikerinnen
und Akademiker in der Zentralen Auslands- und Fachvermittlung, wie Dr. Heinz Willi Bach sie in seinem Beitrag in der
Zeitschrift horus ({0}) darlegt ({1}), und welche konkreten Maßnahmen plant die Bundesregierung zur Verbesserung der
Vermittlung schwerbehinderter Arbeitsloser und schwerbehinderter arbeitsloser Akademikerinnen und Akademiker?
Bitte, Frau Staatssekretärin.
Frau Präsidentin! Liebe Frau Pothmer, die Bundesregierung sieht keinen Reformbedarf hinsichtlich der Rolle
des Arbeitgeberservice für schwerbehinderte Akademiker der Zentralen Auslands- und Fachvermittlung der
Bundesagentur für Arbeit; abgekürzt heißt die AG:
SBZAV. Ich glaube, es ist besser, das auszusprechen.
Der Arbeitgeberservice für schwerbehinderte Akademiker ist eine konsequente Weiterentwicklung der üblichen Praxis, arbeitgeber- und arbeitnehmerbezogene
Prozesse strikt zu trennen. Die Weiterentwicklung ist angezeigt, um für diese Zielgruppe überregional zusätzliche Arbeitsmöglichkeiten, insbesondere im öffentlichen
Sektor, zu erschließen.
Der Arbeitgeberservice führt seine Vermittlungsaktivitäten einerseits bewerberorientiert durch. Das heißt, es
werden, vom Kunden, also vom Arbeitnehmer, ausgehend, Beschäftigungsmöglichkeiten gesucht. Dies erfolgt auf Basis vorhandener Stellenangebote. Es werden
andererseits Arbeitgeber initiativ angesprochen, um geeignete Stellen zu akquirieren. Auf dieser Grundlage
werden Informationsveranstaltungen oder Gruppenberatungen für schwerbehinderte Akademiker und Akademikerinnen sowie Stellen-Matchings organisiert, um so direkt für Bewerberinnen und Bewerber aktiv zu werden.
Bezogen auf die Vermittlung wird der Arbeitgeberservice also für beide Marktseiten tätig. Das ist die Besonderheit, die wir hier vorfinden.
Der Service ist ausschließlich auf Personen ausgerichtet, die nach Art oder Schwere ihrer Behinderung im
Arbeitsleben besonders betroffen sind. Konkret handelt
es sich um den Personenkreis besonders betroffener
schwerbehinderter Akademikerinnen und Akademiker
im Sinne des § 72 Abs. 1 Nr. 1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch.
Darüber hinaus wird der Arbeitgeberservice aufgrund
eines Vermittlungsauftrags der Agenturen für Arbeit und
der Jobcenter tätig. Das heißt, Arbeitsagenturen oder
Jobcenter entscheiden einzelfallbezogen über seine Einschaltung.
Der vom Deutschen Verein der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf hergestellte Zusammenhang, die Arbeitslosigkeit schwerbehinderter Menschen
sei wegen eines Konstruktionsfehlers des Arbeitgeberservice angestiegen, lässt sich vor diesem Hintergrund
nicht herstellen. Die Bundesagentur für Arbeit erbringt
ihre Dienstleistungen - Beratung, Vermittlung, Förderung - auch für schwerbehinderte Arbeitslose sowie für
schwerbehinderte arbeitslose Akademikerinnen und Akademiker auf Grundlage des Zweiten, Dritten und Neunten Buchs Sozialgesetzbuch. Dabei haben Arbeitsagenturen und Jobcenter umfangreiche Fördermöglichkeiten.
Darüber hinaus hat das Bundesministerium Programme
initiiert, die die Teilhabe schwerbehinderter Menschen am
Arbeitsleben verbessern sollen. Über die „Initiative Inklusion“ habe ich ja bereits heute Auskunft gegeben. Sie
wird in Verantwortung der Länder durchgeführt und umfasst - ich will noch eine Zahl nachschieben - ein Mittelvolumen von 140 Millionen Euro, finanziert - wir
sprachen auch darüber - aus der Ausgleichsabgabe.
Wir haben Ende 2013 ein neues Programm zur intensivierten Eingliederung und Beratung mit einer Laufzeit
von 2014 bis 2016 aufgelegt; es wird mit 50 Millionen,
auch aus Mitteln des Ausgleichsfonds, finanziert. Damit
sollen Konzepte gefördert werden, die bereits bestehende Förderinstrumente und Maßnahmen ergänzen und
die berufliche Integration verstärken und anregen. Die
ZAV plant, hier ein Konzept zur Unterstützung der Vermittlung schwerbehinderter Akademikerinnen und Akademiker einzureichen.
Ich möchte die Bitte meiner Vorgängerin hier vorne
noch einmal wiederholen, doch in der verabredeten Antwortzeit zu bleiben, damit noch möglichst viele Nachfragen stellen können.
Sie, Frau Pothmer, haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Frau Staatssekretärin, die Behindertenverbände berichten immer wieder, dass insbesondere Arbeitgeber,
aber auch die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
Probleme mit der Sonderausstattung haben, die für manche behinderte Menschen notwendig ist, dass diese Sonderausstattung erst sehr spät zur Verfügung gestellt wird.
Welche Möglichkeit sieht die Bundesregierung, da Einfluss zu nehmen und diesen Prozess zu beschleunigen?
Ich versuche, Zeit aufzuholen. - Es ist denkbar, dass
das in Einzelfällen unter dem Optimum bleibt. Mir sind
jetzt aber keine Einzelfälle bekannt. Deshalb kann ich
darauf nicht antworten.
Ihre zweite Nachfrage.
Neben dem Problem der schlechten oder verspäteten
Ausstattung für Sonderarbeitsplätze wird immer wieder
auch bemängelt, dass der Verwaltungsaufwand, insbesondere für Arbeitgeber, exorbitant hoch sei. Denkt die
Bundesregierung darüber nach, da Vereinfachungen vorzunehmen?
Die Bundesregierung ist nicht der Meinung, dass der
Verwaltungsaufwand exorbitant hoch ist. Wir haben als
Bundesregierung - so haben wir heute in der Befragung
der Bundesregierung gehört - ein großes Interesse an
Entbürokratisierung und Vereinfachung. Ich bin der festen Überzeugung, dass auch dieser Bereich dabei betrachtet und untersucht wird. Sofern da Vereinfachungen
möglich erscheinen, werden sie ganz sicher vorgenommen.
Der Kollege Kurth hat das Wort zu einer Nachfrage.
Wo es nun um das Thema Vermittlung geht, bietet es
sich an, noch einmal nach den sogenannten Integrationsfachdiensten zu fragen. Diese Integrationsfachdienste
hat ja der Gesetzgeber 2001 eingerichtet, damit Arbeitgeber und auch Bewerber im Vorfeld beraten werden
können, Bewerber vermittelt und danach auch betreut
werden können. Das sollte eine ganzheitliche Leistung
sein; so hat es sich der Gesetzgeber jedenfalls vorgestellt.
Nun hat die vergangene Bundesregierung den Teilbereich der Vermittlung aus diesen Diensten einfach herausgebrochen und durch Ausschreibungsverfahren vergeben. Das hatte zum Ergebnis eine zum Teil
zersplitterte Leistungslandschaft. Das hat die damalige
Opposition kritisiert, und zwar vehement. Plant die jetzige Bundesregierung, diese Fehlentscheidung der vergangenen Regierung wieder zurückzunehmen bzw. zu
korrigieren und die Integrationsfachdienste wieder zu
dem zu machen, was der Gesetzgeber ursprünglich
wollte?
Herr Kollege Kurth, die amtierende Bundesregierung
sieht davon ab, Entscheidungen der vorangegangenen
Bundesregierung zu bewerten. Deshalb antworte ich Ihnen: Sollte es zu Schwierigkeiten gekommen sein, wird
die jetzige Bundesregierung ganz sicher mit einem entsprechenden Problembewusstsein auch diese Fragestellung betrachten. Sollte es erforderlich sein, hier Lösungen zu finden, dann werden sie - da bin ich mir ziemlich
sicher - gesucht werden. Ich will Ihnen aber sagen, dass
ich erst einmal Ihre Vermutung, dass es negative Auswirkungen gibt, so nicht bestätigen kann.
Die Fragen 43 und 44 des Kollegen Dr. Wolfgang
Strengmann-Kuhn, 45 und 46 der Kollegin Sabine
Zimmermann ({0}) sowie 47 und 48 der Kollegin
Azize Tank zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales werden schriftlich beantwortet. - Vielen Dank, Frau Staatssekretärin.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft. Die
Frage 49 der Kollegin Bärbel Höhn, die Fragen 50 und
51 der Kollegin Dr. Kirsten Tackmann sowie 52 und 53
des Kollegen Harald Ebner werden ebenfalls schriftlich
beantwortet.
Dasselbe gilt für die Frage 54 des Kollegen Omid
Nouripour aus dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung.
Der Geschäftsbereich des Bundesministeriums für
Familie, Senioren, Frauen und Jugend ist als Nächstes an
der Reihe. Zur Beantwortung der Fragen steht die Parlamentarische Staatssekretärin Caren Marks zur Verfügung.
Die Frage 55 der Kollegin Tabea Rößner soll schriftlich beantwortet werden.
Ich rufe die Frage 56 der Kollegin Corinna Rüffer
auf:
Wann wird die Bundesregierung das in der UN-Behindertenrechtskonvention verankerte Recht auf angemessene Vorkehrungen als Diskriminierungstatbestand in das Allgemeine
Gleichbehandlungsgesetz aufnehmen, und wie begründet sie
es, falls sie keine entsprechende Änderung plant?
Bitte, Frau Staatssekretärin.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Sehr geehrte Frau Kollegin Rüffer, Ihre
Frage beantworte ich gerne, und zwar wie folgt: Um die
Behindertenrechtskonvention umzusetzen, hat die Bundesregierung in der letzten Legislaturperiode einen Nationalen Aktionsplan verabschiedet, der in der laufenden
Legislaturperiode weiterentwickelt wird. Dieser sieht
auch eine Evaluierung des Behindertengleichstellungsgesetzes vor. Im Rahmen dieser zurzeit stattfindenden
Evaluierung wird im Lichte der UN-Behindertenrechtskonvention auch geprüft, ob es bezüglich des Begriffs
„angemessene Vorkehrungen“ gegebenenfalls Handlungsbedarf gibt. Es ist derzeit nicht auszuschließen,
dass sich aus dem Ergebnis dieser Prüfung auch Auswirkungen zum Beispiel auf das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz ergeben können.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Gerne. - Ich bin etwas verwundert, weil die Antwort
auf die Frage sehr vorsichtig ausgefallen ist. Die Monitoring-Stelle zur Umsetzung der Behindertenrechtskonvention am Deutschen Institut für Menschenrechte
schreibt - ich zitiere -: „Solange es Barrierefreiheit nicht
gibt, helfen nur angemessene Vorkehrungen.“ Das ist
sehr eindeutig. Wie bewerten Sie diese Aussage, und sehen Sie jetzt vielleicht doch einen dringenderen Handlungsbedarf?
Sehr geehrte Frau Kollegin Rüffer, ich kann mich an
dieser Stelle nur wiederholen: Wir warten die Evaluierung ab. Wir werden sie auswerten und dann in der Bundesregierung zu einem Ergebnis kommen, das Auswirkungen auf das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz
haben könnte.
Sie haben das Wort zu einer zweiten Nachfrage.
Das AGG enthält keine Umsetzungsvorschrift zu
Art. 5 der Richtlinie aus 2000/78/EG vom 27. November
2000, nach der Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber verpflichtet werden sollen, angemessene Vorkehrungen für
Menschen mit Behinderungen zu gewährleisten, um ihre
Gleichberechtigung sicherzustellen. Wie bewerten Sie
das? Was haben Sie im Hinblick auf diesen Mangel vor?
Den Aspekt, den Sie angesprochen haben, Frau Kollegin, werden wir ganz gezielt angehen. Wir werden das
AGG in der jetzigen Ausgestaltung daraufhin prüfen. Es
kann durchaus sein, dass wir Handlungsbedarf sehen.
Das wird dann innerhalb der Bundesregierung abzustimmen sein.
Wir kommen zur Frage 57 der Kollegin Corinna
Rüffer:
Welche Position vertritt die Bundesregierung zum vorliegenden Entwurf der Fünften Antidiskriminierungsrichtlinie
der EU, und welche Alternativen zum Schutz von Menschen
mit Behinderungen sieht sie, falls sie den Entwurf weiterhin
grundsätzlich ablehnt ({0})?
Bitte, Frau Staatssekretärin.
Diese Frage kann ich in wenigen Sekunden beantworten. Frau Kollegin Rüffer, ich kann Ihnen bezüglich
dieser Frage nur mitteilen, dass innerhalb der Bundesregierung die Meinungsbildung zur Fünften Antidiskriminierungsrichtlinie noch nicht abgeschlossen ist.
Sie haben das Wort zur Nachfrage.
Wie beurteilt die Bundesregierung in diesem Zusammenhang den von der EU-Kommission geplanten
Rechtsakt zur Barrierefreiheit von Waren und Dienstleistungen?
Auch das wird grundsätzlich geprüft. Wie gesagt: Die
Frage, ob es Handlungsbedarf gibt, ist in der Regierung,
wenn es darum geht, wie die Antidiskriminierungsrichtlinie weiter ausgestaltet wird, noch nicht abschließend
beantwortet.
Sie haben das Wort zu einer zweiten Nachfrage.
Ich pule jetzt noch ein bisschen weiter in der Wunde
herum.
Gerne.
Es tut mir leid, wenn das schmerzt. Mich interessiert
aber: Was müsste Ihren derzeitigen Absprachen nach mit
diesem Richtlinienentwurf passieren, damit es für Sie als
Bundesregierung möglich wird, zu handeln?
Es ist weder eine Wunde, noch schmerzt es; das kann
ich Ihnen von dieser Stelle aus versichern. Ich kann mich
nur wiederholen: Wir - dabei handelt es sich im Übrigen
um verschiedene Bundesministerien - warten mit der
Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention bzw.
der eventuellen Weiterentwicklung des AGG. Die Federführung bei der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention liegt im Hause des Ministeriums für Arbeit
und Soziales. Das Ministerium der Justiz und für Verbraucherschutz ist federführend beim Allgemeinen
Gleichbehandlungsgesetz. Zwischen all den Ministerien,
die mit dieser Frage maßgeblich betraut sind, wird es
nach der Evaluierung einen entsprechenden Austausch
geben, der dann zu einem Ergebnis führen wird.
Danke, Frau Staatssekretärin. - Wir sind damit am
Ende der Fragestunde, da die verabredete Zeit ausgeschöpft ist. Mit den übrigen Fragen verfahren wir entsprechend unserer Geschäftsordnung.
Ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Haltung der Bundesregierung zur Verlängerung von Laufzeiten für Atomkraftwerke in
Deutschland
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Sylvia Kotting-Uhl für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen.
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen!
Wer die Preise wieder senken will, muss zurück zur
Atomkraft.
Wir sind bayerische Irritationen gewohnt, so auch das
Hü und Hott bei der Energiewende: Mal sind es die
Netze, dann ist es die Windkraft. Aber dieses Zitat
stammt von einem, der nicht nur Bayer, sondern auch
Vorsitzender des Ausschusses für Wirtschaft und Energie ist. Deshalb kann man ihm das nicht so einfach
durchgehen lassen.
({0})
Ich zitiere ihn weiter - ich muss in der dritten Person
reden, weil er offensichtlich nicht hier ist -:
Die Energiewende zum Nulltarif ist eine Illusion,
jeder Bürger wird einen hohen Preis zahlen.
Von Nulltarif hat, glaube ich, niemand geredet.
({1})
Selbstverständlich ist eine Investition in die Zukunft, in
eine unschlagbar günstige und sichere Energieversorgung unserer Kinder und Kindeskinder nicht umsonst zu
haben. Das weiß nun wirklich jeder. Aber Herr
Ramsauer hatte genug Stichwortgeber, die die Energiewende auf eine weitgehend faktenfremde Kostendebatte
reduziert haben. Ich frage mich, was dieses Schlechtreden der Erneuerbaren am Ende bringen soll. Außer Verunsicherung wird nichts gewesen sein.
Schließlich - schauen wir weiter, was Herr Ramsauer
gesagt hat - geht es ihm nicht um den Bürger, sondern
um die Unternehmen, die weiterhin ihre Rabatte haben
sollen - zulasten des Bürgers; denn irgendwer muss die
ausufernden Rabatte am Ende bezahlen, und das sind die
Bürger. Wenn Herr Ramsauer meint, dass er als Vorsitzender des Ausschusses für Wirtschaft und Energie sich
hauptsächlich um die Belange der Wirtschaft kümmern
muss, dann ist das vielleicht das CSU-Verständnis einer
solchen Funktion. Ich meine, als Mitglied des Bundestages müsste er sich auch ein bisschen um die Volkswirtschaft kümmern.
Ich erinnere einmal an die WDR-Recherchen, nach
denen letzte Woche der volkswirtschaftliche Schaden
der teuersten Technologie, die die Menschheit je hervorgebracht hat, der Atomtechnologie, mit 1 000 Milliarden
Dollar beziffert wurde. In diesem Betrag sind natürlich
die nicht unbeträchtlichen Folgekosten der Katastrophen
in Tschernobyl und Fukushima enthalten. Aber auch in
Deutschland sind wir mit atomaren Fehlinvestitionen
und Zahlungen aufgrund der Folgen von Tschernobyl
mit 150 Milliarden Dollar dabei. - So viel zu dem billigen Atomstrom.
({2})
Wir reden wohlgemerkt nicht von den Kosten der Atomenergie als solcher, sondern von Geld, das ohne jeden
Gegenwert für die Atomkraft ausgegeben wurde bzw.
ausgegeben werden musste. Mit dieser Summe sind wir
noch lange nicht am Ende.
Falls Herr Ramsauer sogar an Neubauten denkt, dann
empfehle ich ihm einen Blick nach Großbritannien, zum
geplanten Hinkley Point C, der die Bürger mit mehr als
11 Cent für die Kilowattstunde für 35 Jahre beglücken
soll. Das heißt: Auch 2050 sollen die Bürger von Großbritannien über 11 Cent pro Kilowattstunde bezahlen,
mehr als jeder Wind- oder Sonnenstrom dann kosten
wird.
Wenn wir über Atomkraft reden, müssen wir auch
über einen anderen Preis als den ökonomischen reden.
Wir hatten heute Professor Kusnezow und Naoto Kan,
den früheren Premier von Japan, im Umweltausschuss
und haben uns einmal erzählen lassen, wie es in diesen
Ländern aussieht, was die Folgen eines GAU für die
Menschen bedeuten: Verlust von Heimat, Verlust von
Gesundheit, unbewohnte Landstriche und die Angst, die
bleibt. Das ist ein hoher Preis. Weil unsere Bürger diesen
Preis niemals zahlen sollen, steigen wir aus der Atomkraft aus.
({3})
Ich grüße Sie, Herr Ramsauer. Entweder habe ich Sie
übersehen oder Sie sind in der Zwischenzeit hereingekommen.
({4})
- Das freut mich.
Auch Sie sind vielleicht noch lernbereit, Herr
Ramsauer. Die Produktion von Atomstrom verlangt auch
Verantwortung für den Müll, und da sieht es in Bayern
bisher ganz mau aus. Ihr Land ist nicht einmal bereit,
eine Handvoll Castoren zurückzunehmen, und Sie sind
- nach Niedersachsen - hauptverantwortlich für den
Müll in 26 Castoren, der noch darauf wartet, aus Sellafield und La Hague zu uns zurückzukommen, nachdem
wir ein Gesetz beschlossen haben, das regelt, dass er
nicht mehr nach Gorleben darf. Anstatt jetzt der Produktion von noch mehr Atommüll das Wort zu reden, sollten
Sie in Bayern anfangen, Verantwortung für den bereits
produzierten Atommüll aus Bayern zu übernehmen.
({5})
Ich gebe Ihnen den guten Rat: Vergessen Sie das dumme
Gerede von vor ein paar Tagen, und bieten Sie dafür das
Zwischenlager Isar an! Reden Sie sich nicht mit Transportwegen heraus; denn diese haben Sie beim Transport
des Mülls nach La Hague und Sellafield und dann nach
Gorleben auch nicht gestört.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat der Kollege Dr. Georg Nüßlein für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Ich
bin nun auch schon eine Weile Mitglied dieses Hauses;
aber die Debatte, die wir hier führen, ist schon einmalig.
({0})
Der Titel, den Sie ursprünglich für diese Aktuelle Stunde
vorgesehen hatten, lautet: Haltung der Bundesregierung
zu Äußerungen des Bundesministers a. D. und Vorsitzenden des Ausschusses für Wirtschaft und Energie,
Dr. Peter Ramsauer, die Laufzeiten für Atomkraftwerke
in Deutschland zu verlängern. - Sie wollen also über die
Haltung eines Mitglieds des Deutschen Bundestages zu
den Laufzeiten reden.
({1})
Ich dachte bisher, dass es so läuft: Das Parlament kontrolliert die Regierung. Sie sagen jetzt, die Bundesregierung müsse jede einzelne Äußerung eines Bundestagsabgeordneten kontrollieren.
({2})
Das ist eine neue Perspektive, die ich so nicht teilen
kann. Ich nehme zur Kenntnis, dass Sie dem Kollegen
Ramsauer aus Anlass seines 60. Geburtstages eine Sonderdebatte widmen wollten; das mag sein.
({3})
Ansonsten kann es nicht Ihr Ernst sein, dass wir uns in
einer Aktuellen Stunde mit einem Interview auseinandersetzen - wir tun es aber leider auf Ihren Antrag hin -,
das in weiten Teilen so ist, dass man sogar in Ihren Krei1714
sen nicht darüber diskutieren müsste, weil die Positionen
geteilt werden.
Wenn Sie es so wollen, kann ich dieses Interview einmal durchgehen:
Die Energiewende zum Nulltarif ist eine Illusion,
jeder Bürger wird einen hohen Preis zahlen. Das
Einzige, was wir tun können, ist, den Anstieg zu
dämpfen.
Ich habe hier noch keinen anderen Vorschlag gehört als
den, den Anstieg zu dämpfen. Dass die Energiewende
teuer ist, ist ja wohl Common Sense.
({4})
Wir arbeiten in der Koalition momentan intensiv an der
Frage, wie man die Kosten einigermaßen in den Griff
bekommt.
Nun will ich gar nicht darauf eingehen, wie es so weit
gekommen ist. Sonst müsste ich Ihnen vorhalten, was
ich Ihnen hier schon manchmal vorgehalten habe, nämlich dass Sie die Photovoltaik über das EEG zu früh an
den Markt gebracht haben,
({5})
wodurch es zu teuer wurde, und dass die Hälfte der
EEG-Umlage insbesondere grüner Ideologie geschuldet
ist. Das muss man einmal in aller Deutlichkeit sagen.
({6})
- Das EEG ist aber von Ihnen. Oder wollen Sie das etwa
auch leugnen? Das glaube ich doch nicht.
({7})
Das war zu früh, und es war zu teuer. Es war nicht machbar, es rechtzeitig so zu gestalten, wie wir uns das vorgestellt haben.
Peter Ramsauer sagte weiter:
Es darf keine Einschnitte für die Wirtschaft geben.
Auch das müsste doch unsere gemeinsame Handlungsgrundlage sein. Das, was uns momentan aus Brüssel
droht, ist die Grundlage für eine Deindustrialisierungswelle in Deutschland,
({8})
und die wollen wir alle nicht. Oder sind Sie da anderer
Auffassung?
({9})
Die Grünen haben bei Differenzkosten von 0,2 Cent
eine Härtefallregelung eingeführt. Jetzt liegen die Differenzkosten bei 6,24 Cent.
({10})
Wenn der Vorsitzende des Wirtschaftsausschusses sagt:
„Das ist sehr bedenklich, insbesondere, wenn Brüssel die
Ausnahme kippen will“, dann ist das doch ehrenhaft.
Das muss er in seinem Amt auch sagen dürfen, meine
Damen und Herren.
({11})
Herr Ramsauer hat auch gesagt:
Wer die Preise wieder senken will, muss zurück zur
Atomkraft.
Ich persönlich
({12})
teile das als politische Zielsetzung nicht.
({13})
Aber er beschreibt damit das, was wir ursprünglich getan
haben: Wir haben die Laufzeiten damals verlängert, weil
wir wussten, dass die Energiewende teuer und zeitaufwendig wird und dass wir Geld und Zeit brauchen, um
sie umzusetzen.
({14})
Wir haben uns wohlweislich - da lassen wir uns von Ihnen nichts anhängen - für einen anderen demokratischen Weg entschieden, weil die breite Mehrheit der
Bevölkerung, auch unsere Wählerinnen und Wähler,
gesagt haben: Wir wollen keine Kernenergie. Aber wir
haben immer auf die Konsequenzen hingewiesen: teuer,
schwierig, sehr komplex.
({15})
Sie haben uns immer als „Atomlobbyanhänger“ und
was weiß ich noch alles verunglimpft.
({16})
Sie haben so getan, als ginge die Energiewende kostenlos vonstatten, als wäre sie billig zu haben, als käme es
auf Geld gar nicht an.
({17})
- Doch, ein großer Teil der Grünen hat so getan, als wäre
eine hundertprozentige Erzeugung von Energie aus erDr. Georg Nüßlein
neuerbaren Energien schon ab morgen möglich, als wäre
alles ganz einfach, als würde sie nicht mehr Geld kosten.
({18})
Sagen Sie doch, wie es ist: Sie kostet mehr Geld! Warum
haben Sie ein Problem damit, uns an dieser Stelle recht
zu geben?
({19})
All das heißt aber nicht, dass wir zurück zur Kernenergie wollen. Das heißt vielmehr, dass wir in einen
konstruktiven Dialog eintreten müssen, um zu klären,
wie wir diese Energiewende so gestalten, dass unsere
Wirtschaft am Ende nicht am Boden liegt; denn sonst
wird uns auf diesem Weg niemand folgen. Dann wäre
die Energiewende in Deutschland eine Insellösung, die
niemanden interessiert.
({20})
Jeder wird über uns lachen. Das ist die Sorge unseres
Ausschussvorsitzenden Peter Ramsauer. Ich bitte Sie,
das wohlwollend zur Kenntnis zu nehmen und wenigstens diese Ansicht zu teilen. Das wäre mir sehr wichtig.
Vielen herzlichen Dank.
({21})
Das Wort hat der Kollege Hubertus Zdebel für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Herr Ramsauer, ich
freue mich, dass Sie persönlich anwesend sind, muss
aber feststellen: Sie haben aus Fukushima offensichtlich
nichts gelernt. Aus Fukushima zu lernen, heißt nicht:
AKW müssen länger laufen. Das Gegenteil ist der Fall:
AKW gehören abgeschaltet, und zwar unverzüglich.
({0})
Offenbar lernen vor allem jene Teile der Menschheit,
denen Profite wichtiger sind als Menschen, nur bedingt
dazu. Nach Tschernobyl trauten sich die Atomiker über
20 Jahre nicht aus der Deckung. Nach dem Super-GAU
von Fukushima dauerte das gerade einmal zwei Jahre.
Atomkraft und verlängerte Laufzeiten werden nicht erst
jetzt ins Spiel gebracht. Das läuft bereits seit mehr als einem Jahr, und die Atomlobby hat noch nicht einmal richtig losgelegt.
Die Äußerungen von Ihnen, Herr Ramsauer, zur Verlängerung der Laufzeiten von Atomkraftwerken und
zum Ausstieg aus dem Ausstieg stehen nicht isoliert.
Ähnlich haben sich Unionsfraktionsvize Michael Fuchs
und der ehemalige Kanzler Gerhard Schröder geäußert.
({1})
Bei Ihnen fällt lediglich die Plattheit Ihrer Argumentation in Bezug auf die Stromkosten auf, Herr Ramsauer
- Zitat aus einem Spiegel-Interview -: „Wer die Preise
wieder senken will, muss zurück zur Atomkraft.“
({2})
Dass Atomstrom billiger ist, ist blanker Unsinn.
({3})
Aber das hat in den Reihen von CDU/CSU auch schon
vor Fukushima niemanden gestört, die Laufzeitverlängerung für deutsche Atommeiler zu beschließen. Atomstrom ist nicht billig, sondern unbezahlbar. Die Kosten
für die Atomenergie wurden mit milliardenschweren
Subventionen seit Jahrzehnten künstlich niedrig gehalten.
Herr Ramsauer, in Ihrem Interview mit dem Spiegel
betonen Sie dutzendfach, wie sehr Ihnen die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands am Herzen liegt. Dabei
sind Atomkraftwerke, wie das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung kürzlich wieder betonte, marktwirtschaftlich nicht lebensfähig. Atomkraft ist in Deutschland von 1950 bis 2010 mit circa 204 Milliarden Euro
subventioniert worden.
({4})
Das ist das Ergebnis einer 2010 veröffentlichten Studie
des Forums Ökologisch-Soziale Marktwirtschaft im
Auftrag von Greenpeace. Die Kosten hat der Steuerzahler zu tragen, und das wird noch Jahre so weitergehen.
Ein abgeschriebenes AKW bringt den Atomkonzernen
in Deutschland pro Tag etwa eine halbe Million Euro
ein - mindestens.
Der im Sommer 2011 verabschiedete Atomkompromiss von Union, SPD, FDP und Grünen setzt elf weitere
Jahre auf die Atomkraft. Die Linke hat nachgewiesen,
dass der Ausstieg deutlich zügiger und schneller möglich
gewesen wäre.
({5})
Zwar wurden die sieben ältesten Atomkraftwerke sowie
das AKW Krümmel vom Netz genommen; die Betriebsgenehmigung der übrigen neun Atomkraftwerke erlischt
jedoch nur schrittweise bis zum Ende des Jahres 2022.
Sie produzieren täglich neuen Atommüll - trotz des unverantwortlichen Risikos für die Bevölkerung. Wie
schon beim von Rot-Grün im Jahr 2000 beschlossenen
Atomausstieg richten sich die AKW-Restlaufzeiten nach
den Profitinteressen der Betreiber. Das steht ausdrücklich in der Begründung des Gesetzentwurfs aus dem Jahr
2011, aus der ich hier kurz zitieren möchte - man kann
das nicht oft genug sagen -:
Auch die nunmehr vorgesehene zeitliche Befristung
der Berechtigung zum Leistungsbetrieb ist … so
ausgestaltet, dass die von dieser Regelung betroffenen Unternehmen nicht unverhältnismäßig belastet
werden und den Betreibern eine Amortisation der
Investitionen sowie die Erzielung eines angemessenen Gewinns weiterhin ermöglicht wird.
Hinzu kommt: Deutschland ist nach wie vor globaler
Player im nuklearen Exportgeschäft mit Atomkraftwerkstechnik und Brennelementen sowie bei Investitionen in
AKW in anderen Ländern. Die Linke fordert deshalb einen unverzüglichen und unumkehrbaren Atomausstieg.
Nur ein zurückgebautes Atomkraftwerk ist ein sicheres
Atomkraftwerk.
({6})
Die Restlaufzeiten der neun noch laufenden Atomkraftwerke sollen deutlich verkürzt werden, möglichst noch
innerhalb dieser Wahlperiode. Daneben soll ein Verbot
der friedlichen wie militärischen Nutzung der Atomenergie im Grundgesetz verankert werden. Nur so kann verhindert werden, dass eine neue Parlamentsmehrheit den
Ausstiegsbeschluss einfach revidiert.
({7})
Für einen wirklichen Ausstieg aus der Atomwirtschaft
muss auch die Fertigung atomarer Brennelemente in
Gronau beendet werden. Die Zentrifugentechnik in der
Urananreicherungsanlage in Gronau ist hochbrisant. Sie
kann auch zur Produktion von Atomwaffen genutzt werden.
Handeln ist das Gebot der Stunde. Wir sollten nicht
den Ramsauers dieser Welt folgen, sondern die richtigen
Konsequenzen ziehen und den Ausstieg in Deutschland
konsequent fortschreiben und wasserdicht machen.
({8})
Deshalb werde ich am Karfreitag mit vielen anderen Aktivistinnen und Aktivisten vor der Urananreicherungsanlage in Gronau für den sofortigen Atomausstieg demonstrieren.
Ich danke Ihnen.
({9})
Kollege Zdebel, das war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag. Wir wünschen Ihnen viel Erfolg für
Ihre weitere Arbeit und sicherlich auch viele weitere Reden.
({0})
Das Wort hat der Kollege Dr. Matthias Miersch für
die SPD-Fraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich bin dem Kollegen Ramsauer sehr dankbar für seine
Äußerungen, weil sie dokumentieren, dass der Atomausstieg nichts Selbstverständliches ist. Wir werden sicherlich immer wieder dafür streiten müssen. Manchmal
ist man ein bisschen belächelt worden, wenn man in
einer Podiumsdiskussion im Vorfeld der Bundestagswahl gesagt hat: Das ist ein einfaches Gesetz, und es
kann wieder aufgehoben werden. - Ich glaube, dass Herr
Ramsauer etwas ausgesprochen hat, was sicherlich nicht
nur er allein denkt. Es ist ja ein mühseliger Prozess gewesen.
Die SPD hat dafür mehrere Jahrzehnte gebraucht; die
CDU/CSU hatte diese Überzeugung vor zwei oder drei
Jahren. Dass man dann hadert, ob das so richtig ist oder
nicht, ist verständlich. Deswegen werden wir, möglicherweise auch an anderer Stelle, immer wieder darüber
diskutieren müssen.
Ute Vogt und ich haben überlegt, ob wir in unserer
Arbeitsgruppe darauf drängen sollten, dass in den Koalitionsvertrag der Satz aufgenommen wird: Es bleibt beim
beschlossenen Atomausstieg. - Wir dachten, das ist eine
Selbstverständlichkeit. Ich finde, es war richtig, das so
deutlich zu formulieren; denn das dokumentiert: In den
nächsten dreieinhalb Jahren, in dieser Konstellation, bei
dieser Bundesregierung bleibt es bei dieser glasklaren
Aussage, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({0})
Der Kollege Ramsauer hat in seinem Spiegel-Interview gesagt - jeder kann sich die Zitate ansehen -:
Welche Folgen die Energiewende für die Stromkosten hat, hätte man sich vorher überlegen müssen.
Ich finde, damit spricht er etwas an, was auch für uns
Politiker ein entscheidendes Signal sein sollte, nämlich
die Frage der Verlässlichkeit und der Investitionssicherheit. Dieses Thema hat nämlich nicht nur für die Wirtschaft, die Sie vielleicht im Blick haben, Auswirkungen,
sondern auch für die vielen Menschen, die seit Jahren,
seit Jahrzehnten im Bereich der Erneuerbaren aktiv sind.
Deswegen ist es, gerade auf einem Gebiet wie der Energiepolitik, tödlich, nach dem Motto „Rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln“ zu verfahren.
({1})
Das, was wir in den letzten Jahren erlebt haben, darf es
in Deutschland nie wieder geben. Man muss sich darauf
verlassen können, dass es bei dieser Energiewende
bleibt.
({2})
Hinzu kommt - in diesem Punkt sind wir überhaupt
nicht einer Meinung, Herr Kollege; die Vorredner haben
das schon ein bisschen problematisiert -, dass Sie sagen,
Atomstrom sei gleich billige Energie.
({3})
Es werden im Augenblick mehrere Millionen Euro für
Kampagnen zur Verfügung gestellt, es gibt großflächige
Plakate, und es gibt große Anzeigen. Aber wir alle wissen, dass Atomstrom nie billig gewesen ist.
({4})
Es ist vielmehr eine Frage der politischen Steuerung
- das gilt auch für die Energiewende -, die Energiekosten für Verbraucherinnen und Verbraucher, aber auch für
die Wirtschaft so zu gestalten, dass sie akzeptabel sind;
das ist unsere Aufgabe. Das hat man jahrzehntelang gemacht. Warum sollte das im Zeitalter der Erneuerbaren
nicht gehen? Es geht, wenn man will. Davon bin ich
überzeugt, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({5})
Ich bin mir sicher, dass wir mit Barbara Hendricks
eine Ministerin haben, die versucht, das voranzubringen,
was für mich seit vielen Jahren die Grundlage dafür ist,
einen Weg weg von der Atomkraft zu fordern. Ich finde
- das muss immer, auch in einem solchen Interview,
Herr Kollege Raumsauer, gesagt werden -, es handelt
sich um eine hochunethische Technologie, wenn wir Generationen, die von diesen Energiepotenzialen null Nutzen hatten, für Millionen Jahre Müll überlassen, von
dem wir heute nicht sagen können, was damit zu machen
ist. Allein dieses Argument reicht für mich aus, um alles
daranzusetzen, aus dieser Technologie so schnell wie
möglich auszusteigen.
({6})
Sie haben natürlich das Recht, auch in diesem Haus
immer wieder Kritik zu üben und Fragen zu stellen; wir
alle haben dieses Recht. Aber ich wünsche mir, dass wir
alle zusammen an dem Kurs der Energiewende festhalten, sodass es in Deutschland nie wieder zu einem Rückfall in das atomare Zeitalter kommt. Daran sollten wir
alle arbeiten.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({7})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege Oliver Krischer das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Nüßlein, wie nötig diese Debatte war, hat vor allen
Dingen Ihr Wortbeitrag gezeigt.
({0})
Damit haben Sie deutlich gemacht, dass Sie noch längst
nicht da angekommen sind, wo viele andere schon lange
waren und manche hingekommen sind; dass diese Frage
für Sie noch lange nicht geklärt ist.
({1})
Vor drei Jahren dachte ich, wir haben in diesem Parlament einen Konsens,
({2})
was die Atomkraft angeht. Bei dem, was der Kollege
Miersch hier gerade gesagt hat, dachte ich: Dem kann
sich eigentlich niemand verweigern. - Ihr minimaler bis
nicht vorhandener Beifall zu diesen Äußerungen zeigt
aber ganz deutlich, wie notwendig diese Debatte ist.
({3})
Ich habe eben im Wirtschaftsausschuss gehört, dass
die Äußerungen, die der Parlamentsnovize Ramsauer da
gemacht hat, nicht so gemeint gewesen seien. Herr
Dr. Ramsauer, wer bei Ihrer Biografie - Bundesminister
und, ich weiß nicht, die sechste Legislaturperiode im
Bundestag ({4})
solche Sätze in einem Spiegel-Interview sagt, sagt die
ganz bewusst, um eine Debatte anzustoßen, um eine Debatte loszutreten. Sie selber haben eben angedeutet, wie
die Debatte bei Ihnen intern läuft: dass das tatsächlich
eine Frage ist, die im Raume steht.
({5})
Deshalb ist es notwendig, dass wir hier darüber diskutieren und das auch klar benennen.
({6})
Was ich besonders zynisch finde: Sie erwecken den
Eindruck - bei Menschen, die diese Botschaft aufnehmen -, dass Atomkraft billig sei, dass Atomkraft dazu
führe, dass die Strompreise sinken. Sie alle hier in diesem Hause wissen ganz genau, dass exakt das Gegenteil
der Fall ist: Die Kosten der Atomkraft sind die höchsten
im Vergleich zu allen anderen Formen der Energieerzeugung. Das muss hier noch einmal klar und deutlich gesagt sein, damit solche Äußerungen wie die Ihre nicht
stehen bleiben.
({7})
Die Kosten, die spätere Generationen, unsere Kinder
und Enkel, tragen müssen für das, was wir da hinterlassen, sind - der Kollege Miersch hat das beschrieben noch nicht einmal eingerechnet. In meinem Wahlkreis
steht ein Forschungsreaktor, der AVR Jülich, mit einer
Leistung von 15 Megawatt; das entspricht irgendwie
fünf Windkraftanlagen. Sein Rückbau hat bis heute
700 Millionen Euro gekostet, und niemand zweifelt
mehr daran, dass er am Ende 1 Milliarde Euro kosten
wird. Die Endlagerung ist dabei noch nicht eingerechnet.
Wie kann man da heute den Eindruck erwecken, Atom1718
kraft erzeuge billig Energie? Das ist absurd. Diese Beispiele kann man weiterdeklinieren: Die Asse wäre ein
weiteres Beispiel; auch dort werden Kosten in Milliardenhöhe auf uns zukommen. Es gibt viele andere Beispiele mehr. Wie kann man da behaupten, Atomkraft sei
billig?
Der Unterschied ist - da liegt möglicherweise das
Problem -: Die Kosten der erneuerbaren Energien stehen
auf der Stromrechnung. Das, was Sie und vorherige Politikergenerationen mit der Atomkraft zu verantworten haben, steht nicht auf der Stromrechnung. Das wird anders
finanziert. Das bezahlen wir alle über unsere Steuern.
Das ist nicht transparent. Diese Kosten sind deutlich höher als die gesamten Kosten der Energiewende.
({8})
Ich sage Ihnen eines: Die Debatte, die wir führen, ist
ein bisschen auch eine bayerische Debatte; Herr
Dr. Ramsauer kommt aus Bayern. Bei dem, was wir in
den letzten Wochen aus Bayern gehört haben, kann ich
nur sagen: Das ist energiepolitischer Irrsinn. - Wenn behauptet wird, die Förderung der erneuerbaren Energien
führe zu einer Deindustrialisierung Deutschlands, muss
ich sagen: Das ist ein völlig blödsinniger und fahrlässiger Satz, der nur dazu dient, die Energiewende schlechtzureden. - Wenn das gesagt wird, antworte ich Ihnen:
Die personifizierte Gefahr einer Deindustrialisierung
Deutschlands, das ist Herr Seehofer, das ist die Politik,
die in Bayern gemacht wird.
({9})
- Schauen Sie sich doch einmal an, was die Kommunalwahl an dieser Stelle gezeigt hat! - Was Sie machen, ist
das Gegenteil von Verlässlichkeit, da gilt mittags schon
nicht mehr, was vormittags energiepolitischer Grundsatz
war. Wer keine erneuerbaren Energien im eigenen Land
will, wer Stromtrassen ablehnt, der landet am Ende bei
einer Laufzeitverlängerung von Atomkraftwerken - da
werden Ihre Worte, Herr Dr. Ramsauer, dann zur Selffulfilling Prophecy; genau das ist die Politik, die im Freistaat von der CSU betrieben wird, dem reden Sie letztendlich das Wort.
({10})
Meine Damen und Herren, ein letzter Punkt gerade in
Bezug auf die aktuelle außenpolitische Debatte. Auch
wenn es um Unabhängigkeit und Energiesicherheit geht,
kann die Antwort eigentlich nur eine sein: Wir müssen
auf erneuerbare Energien und auf Energieeffizienz statt
auf Risikotechnologien setzen, die uns von den Despoten dieser Welt abhängig machen. Wir wollen erneuerbare Energien und Effizienz. Das ist die Antwort für
Energiesicherheit und für die Zukunft. Hier und nicht im
Rückgriff auf angeblich billige Atomkraft liegt die Verantwortung für den Industriestandort Deutschland.
Ich danke Ihnen.
({11})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Steffen
Kanitz das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Kollege Krischer, wenn Sie die Debatte nicht
wollen, von der Sie glauben, dass Herr Ramsauer sie angestoßen hat, dann frage ich Sie: Warum führen Sie sie
dann hier? Ich behaupte einmal, das tun Sie, weil das das
Einzige ist, wozu Sie debattieren können, weil das das
einzige Thema ist, bei dem alte Reflexe bedient werden
und Sie glauben, damit in der Bevölkerung Widerhall zu
finden.
({0})
„Haltung der Bundesregierung zur Verlängerung von
Laufzeiten für Atomkraftwerke in Deutschland“, das ist
der Titel der Aktuellen Stunde, den Sie angemeldet haben. Gibt es irgendeine Äußerung eines Vertreters der
Bundesregierung, mit der er sich gegen den Ausstieg aus
der Kernkraft ausspricht? Mir ist keine einzige bekannt.
Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von den Grünen,
beziehen sich einzig und allein auf die Äußerung eines
Parlamentariers, den Sie dann auch noch verzerrt wiedergeben.
Damit - das hat Kollege Nüßlein gerade sehr schön
deutlich gemacht - offenbaren Sie ein aus meiner Sicht
völlig falsches Verständnis von der Zusammenarbeit
zwischen Parlament und Regierung. Das Parlament kontrolliert die Regierung - und nicht andersherum. Bei allen Gesprächen, die wir zu Oppositionsrechten führen,
dürfen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von den
Grünen, doch so selbstbewusst sein, diese Kontrollrechte
auch ernsthaft gegenüber der Regierung wahrzunehmen.
Unsere Ziele zum Ausbau der erneuerbaren Energien
sind weltweit ehrgeizig und einmalig, und wir halten unsere Ziele auch ein. Ein Viertel der deutschen Stromerzeugung erwirtschaften wir schon heute aus erneuerbaren Quellen. Die Energiewende kann aber nur zum
gesamtgesellschaftlichen Erfolg werden, wenn wir endlich die steigenden Energiekosten in den Griff bekommen. Nur so erhalten wir die notwendige Akzeptanz für
die Energiewende.
Das gilt im Übrigen für die Bürgerinnen und Bürger
unseres Landes genauso wie für die Unternehmerinnen
und Unternehmer, womit wir bei dem Grund für die heutige Aktuelle Stunde sind. Was hat Peter Ramsauer denn
gesagt? Die Energiekosten sind ein Standortfaktor. Zu
hohe Energiekosten gefährden den Wirtschaftsstandort
Deutschland.
({1})
Auf diesen Zusammenhang hat er hingewiesen. Damit
liegt er völlig richtig.
({2})
Hohe Strompreise sind aber auch eine soziale Frage. Ich
kenne genug junge Familien aus Dortmund, denen die
steigenden Stromrechnungen zum Verhängnis werden
({3})
und die sagen: Wir haben damit zukünftig ein Problem. Wir als Politik müssen es hinbekommen, dass beispielsweise der Facharbeiter in den Zementunternehmen unserer Wahlkreise in die Lage versetzt wird, seine Stromrechnungen zu bezahlen.
Dieser Anspruch hat im Übrigen nichts mit der völlig
absurden und falschen Unterstellung zu tun, in Deutschland wieder auf Kernenergie setzen zu wollen. Ganz im
Gegenteil: Weil wir uns in Deutschland im Konsens für
das Ende des Atomzeitalters entschieden haben, müssen
wir jetzt auch verantwortungsvoll dafür sorgen, dass die
Energiewende bezahlbar bleibt.
Natürlich muss das Erneuerbare-Energien-Gesetz effizienter und marktwirtschaftlicher werden; denn die
Energiewende ist eine Mammutaufgabe. Erste Erfolge
sind sichtbar: Die EEG-Reform wird den Kostenanstieg
der EEG-Umlage spürbar verlangsamen, bestehende
Überförderungen bei der Einspeisevergütung werden abgebaut, und die Höhe der Förderung wird marktgerechter gestaltet.
Auch wenn ich mir ein früheres Eintrittsdatum für das
Ausschreibungsmodell wünschen würde, setzt die Bundesregierung mit ihrem Kurs der Energiepolitik die richtigen Prioritäten.
({4})
Das gilt auch für die Ausgleichsregelung für stromintensive Unternehmen. Dort müssen wir darauf achten,
unsere Wettbewerbsfähigkeit nicht zu gefährden. Auch
hier habe ich Vertrauen in unseren Energieminister, der
die nationalen Interessen unseres Industriestandortes
Deutschland verantwortungsvoll vertritt.
Wo würden wir denn heute mit einem grünen Umweltminister stehen?
({5})
Sie hätten die Ausnahmen doch längst kampflos aufgegeben. Auch wenn Sie es nicht wahrhaben wollen: Auch
die EU-Kommission sieht mittlerweile ein, dass es sich
bei einem Großteil der Ausnahmeregelungen nicht um
eine ungerechtfertigte Subvention handelt, sondern dass
wir hier in Deutschland für Wettbewerbsgleichheit im
europäischen Kontext sorgen.
({6})
Spinnen wir diesen irrwitzigen Gedanken - zugegebenermaßen: das fällt mir schwer - einer Verantwortung
der Grünen für die Energiewende doch einmal weiter.
Sie wollen 100 Prozent erneuerbare Energien, Sie wollen den Ausstieg aus Kohle, Sie wollen den Ausstieg aus
Öl, und Sie wollen weiterhin eine hohe Förderung des
Staates einzelner Erzeugungstechnologien, ohne diese zu
hinterfragen. Meine Damen und Herren von den Grünen,
Ihre Vorstellungen der Energiewende führen zu explodierenden Kosten.
({7})
Das ist übrigens der Grund, warum die Menschen uns
- uns! - diese Aufgabe anvertrauen, nicht Ihnen.
({8})
Ihre Widersprüchlichkeit zeigt sich auch an der Umsetzung der Energiewende vor Ort. Einerseits unterstützen Sie das Ende der Kernenergie. Aber neue hocheffiziente Kraftwerke wie die in Datteln verteufeln Sie und
arbeiten aktiv gegen die Fertigstellung.
({9})
Um den ehemaligen Umweltminister Jürgen Trittin, der
anwesend ist, zu zitieren: Wer mit uns koalieren will,
muss sich darauf einstellen, dass diese Investition
- nämlich Datteln IV - nicht zu Ende geführt wird. Meine Damen und Herren von den Grünen, hören Sie
endlich damit auf, die Energiewende in Sonntagsreden
zu propagieren und vor Ort zu sabotieren.
({10})
Dafür, dass sich die grüne Opposition über die erfolgreiche Politik der Bundesregierung ärgert, habe ich Verständnis, aber kein Mitleid. Wir forcieren den Ausstieg
und machen weiter mit der Energiewende. Der größte
Garant für eine umweltfreundliche Energieversorgung,
die sicher und bezahlbar ist, bleibt eine Regierungsverantwortung von CDU und CSU.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat die Kollegin Eva Bulling-Schröter für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich habe am Sonntagabend das Interview gelesen und
gedacht: Ich bin einfach baff! - Dann habe ich gedacht:
Irgendwo habe ich das schon gelesen. Ich habe dann
überlegt und verstanden, wo ich das gelesen habe: bei
der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft.
({0})
Vorher wurde hier über soziale Strompreise gesprochen. Ich möchte das mit dem, was im Interview steht, in
einen Zusammenhang bringen. Agenda 2010: Super!
Wenn die Regierung etwas anderes macht, ist das ein
Verrat an Schröders Erbe. Keinen Schluck mehr aus der
Pulle der Sozialleistungen. Der Mindestlohn ist eher
schlecht. Vor ihm wird gewarnt, weil das Auswirkungen
auf das ganze Gefüge hat und weil das Ganze nicht der
Beschäftigung dient. Rente mit 63 Jahren und Mütterrente sind eigentlich auch schädlich für den Wettbewerb
und für den Standort Deutschland.
({1})
Dann geht es um Strompreise: Wettbewerbsfähigkeit
über alles. Dann kommt der Satz: Wir müssen entscheiden, ob wir uns die Energiewende so leisten können und
wollen.
({2})
Wir müssen entscheiden. - Wen er damit meint, sagt er
nicht: sich, die CSU, die Unternehmen, die Konzerne
oder Otto Normalverbraucher. „Wer die Preise wieder
senken will, der muss zurück zur Atomkraft.“ So steht es
wortwörtlich im Spiegel.
Hier wurde von alten Reflexen gesprochen. Es
stimmt: Das sind die alten Reflexe der CSU, die da wieder zum Vorschein kommen.
({3})
Komischerweise ist das Interview erst am Montag veröffentlicht worden, nicht an dem Wochenende davor; denn
am Sonntag waren Kommunalwahlen in Bayern.
Jetzt reden wir einmal über die Kosten der Atomkraft
in Deutschland. Von 1950 bis 2010 wurde sie mit circa
198 Milliarden Euro subventioniert. Das hat das Forum
Ökologisch-Soziale Marktwirtschaft schon vor Jahren
errechnet. Darin enthalten sind Steuervergünstigen, die
Stilllegung von Meilern, Forschung inklusive Kernfusionsforschung und die Mitgliedschaft in internationalen
Organisationen wie Euratom. Würde man die Kosten
konventioneller Energie, also Kohle und Atomkraft,
nach der Methode des Erneuerbare-Energien-Gesetzes in
Form einer Umlage von den Stromverbrauchern bezahlen lassen, hätte diese Energieumlage im Jahre 2012 umgerechnet 10,2 Cent pro Kilowattstunde betragen.
Müssten die Betreiber von Atomkraftwerken eine
Haftpflichtversicherung abschließen, wenn sie denn eine
bekämen, müssten sie für jedes Atomkraftwerk 72 Milliarden Euro jährlich bezahlen. Das haben Finanzmathematiker der Versicherungsbranche ausgerechnet. Derzeit ist die Haftpflicht der Betreiber auf knapp
250 Millionen Euro begrenzt. Ein weiterer Vorteil der
Atombranche: Wenn etwas passiert, bezahlen es natürlich die Verbraucher und die Steuerzahler; das ist klar.
Auch Professor Hirschhausen vom Deutschen Institut
für Wirtschaftsforschung konstatiert:
Atomkraft ist noch nie wettbewerbsfähig gewesen
und wird es auch nie sein … Weder in Europa, noch
an einem anderen Ort dieser Welt ist jemals ein
Atomkraftwerk unter marktwirtschaftlichen Bedingungen gebaut worden. … Übliche Kostenschätzungen für Atomkraft beinhalten oft nicht den
Rückbau der Anlagen sowie die Endlagerung …,
ganz zu schweigen von den enormen Kosten möglicher Großunfälle wie in Fukushima oder Tschernobyl.
- Darüber haben wir heute im Umweltausschuss Berichte gehört. Sie waren erschütternd. … Das finanzielle Risiko wird vom Staat, also uns
allen getragen.
Ende 2016 läuft die Brennelementesteuer aus. Dann
werden die Atomkraftwerke noch mehr zu Gelddruckmaschinen, und die Gewinne werden natürlich nicht umverteilt, sondern die kassieren die großen Konzerne.
Jetzt reden wir noch über die Störfälle in deutschen
AKW. 2013 gab es in deutschen AKW 52 Störfälle. Das
ist jede Woche einer. Ich zähle sie Ihnen auf. Brokdorf:
6, Grafenrheinfeld: 3, Grohnde: 3, Gundremmingen B:
3, Isar 2: 5, Emsland: 3, Neckar 2: 9, Philippsburg 2: 20.
Das sind insgesamt 52 Störfälle. Erklären Sie bitte einmal den Menschen, dass ihr Strom vielleicht billiger
wird, dass sie aber eventuell einen Störfall in Kauf nehmen müssen! Reden wir auch über Isar 2 in Ohu, das
zurzeit heruntergefahren wird. Es gibt wieder einmal
große Probleme, und die Menschen sind wieder verunsichert.
Und dann wollen Sie in Gundremmingen in Bayern
die Kapazitäten hochfahren.
({4})
Es gibt genug Studien darüber, dass das Kernkraftwerk
das nicht aushält. Ich halte diese Politik für verantwortungslos, und ich bitte Sie und hoffe, dass Sie sich an die
Koalitionsvereinbarung und zumindest an das Gesetz
zum Atomausstieg 2022 halten.
Ich kann Ihnen nur sagen: Die Demonstrationen beginnen. Am Samstag gibt es die ersten.
({5})
- Das werden nicht die letzten sein. Das beginnt jetzt
erst, auch in Ihrem Gebiet. - Wir stehen dahinter. Wir
unterstützen diese Initiativen, und wir sagen: Atomausstieg möglichst schnell! Wir müssen die Menschen vor
solchen Ideen bewahren.
({6})
Das Wort hat die Kollegin Hiltrud Lotze für die SPDFraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich komme aus dem Wahlkreis Lüchow-Dannenberg - Lüneburg. In Lüchow-Dannenberg liegt Gorleben, und in Gorleben befindet sich das oberirdische
- ich betone ausdrücklich: das oberirdische - Transportbehälterlager für hochradioaktiven Atommüll. In den
Jahren 1995 bis 2011 sind dort 113 Castorbehälter abgestellt worden. Sie stehen schön aufgereiht in einer ebenerdigen Halle aus Stahlbeton mit einem Dach aus Betonplatten. Im Volksmund wird sie Kartoffelscheune
genannt. Das gibt einen Hinweis darauf, dass das auf
Dauer nicht die richtige Behausung für die Castorbehälter ist.
In dieser Halle zu stehen, ist ein besonderes Erlebnis.
Ich empfehle das allen. Man sieht diesen Behältern nicht
an, welche tödliche Gefahr sich in ihnen verbirgt. Man
riecht nichts. Man schmeckt nichts. Aber man spürt die
Hitze, die von den Brennelementen ausgeht.
Die Region Lüchow-Dannenberg trägt seit mehr als
drei Jahrzehnten die größten Lasten aus der umstrittenen
Nutzung der Atomenergie in Deutschland. Die Menschen dort haben das Hü und Hott über die Atompolitik
gründlich satt. Sie sind auch zermürbt von dem jahrelangen Prozess, den sie dort erlebt haben, den Castortransporten und der strahlenden Gefahr, die sie vor der Haustür haben.
Die Menschen dort sind aber mittlerweile Fachleute
geworden. Sie kennen die tödlichen Risiken, die von der
unbeherrschbaren Technik der Atomkraft ausgehen. Sie
kennen die Bilder und die Schilderungen aus Tschernobyl und Fukushima. Einige sind persönlich dort gewesen
und haben sich einen Eindruck verschafft. In jedem
Sommer kommen krebskranke Kinder aus Tschernobyl
und der umliegenden Region nach Lüneburg und Lüchow-Dannenberg, um sich in Deutschland für einige
kurze Wochen zu erholen. Nicht nur in meinem Wahlkreis, aber ganz besonders dort schütteln die Menschen
deswegen in diesen Tagen verwundert den Kopf, sind erschrocken oder - das gibt es auch - fühlen sich in ihrem
Misstrauen der Politik gegenüber bestätigt, wenn sie in
der Zeitung lesen - übrigens nur wenige Tage nach dem
Jahrestag von Fukushima -, dass in der Politik über eine
Renaissance der Atomkraft nachgedacht wird.
({0})
Ich muss es so formulieren: Für mich, die ich da schon
vorbelastet bin, ist es schon starker Tobak, wenn solche
Überlegungen aus den Reihen unseres Koalitionspartners kommen.
({1})
Im Koalitionsvertrag, für den ich im Übrigen vehement
geworben habe, steht wortwörtlich:
Wir wollen die Entwicklung zu einer Energieversorgung ohne Atomenergie und mit stetig wachsendem Anteil erneuerbarer Energien konsequent und
planvoll fortführen.
Ich denke, das gilt ohne Wenn und Aber, auch für Bayern und die CSU.
({2})
Wir haben im Übrigen - das wurde schon erwähnt auch die Endlagerfrage noch nicht gelöst. Daher verbietet es sich, darüber nachzudenken, die Atomkraft weiter
zu nutzen und so weiteren Atommüll anzuhäufen, ganz
abgesehen - darauf habe ich eben schon versucht hinzuweisen - von den Gefahren, die von dieser Technik ausgehen, und den verheerenden Auswirkungen auf Mensch
und Natur im Fall eines Unfalls.
Die Überlegungen, Herr Ramsauer, die Sie angestellt
haben, befeuern vielleicht die Debatte - das merken wir
hier auch -, aber sie sind das falsche Signal. Ich empfinde es so, dass sie Misstrauen säen, und das ausgerechnet in einer Phase, in der die Endlagersuchkommission
ihre Arbeit beginnen soll und wir besonderes Vertrauen
schaffen müssen, Vertrauen in die Verlässlichkeit von
politischen Beschlüssen, Vertrauen in die handelnden
Personen. Stattdessen wird hier ohne Not Vertrauen verspielt.
({3})
Schade auch, Herr Ramsauer, dass Sie heute nicht die
Gelegenheit nutzen konnten, an der Sitzung des Um1722
weltausschusses teilzunehmen. Wir hatten eine öffentliche Anhörung.
({4})
- Es tut mir leid, aber ich vermute, Ihr Büro wusste, dass
diese Sitzung stattfindet.
({5})
Aber ich glaube, dass die Sitzung aufgezeichnet wurde.
Sie können es sich also noch nachträglich anschauen.
Es wäre sicherlich sehr informativ gewesen, dort
zuzuhören. Wir haben uns über Tschernobyl und Fukushima informiert. Wir haben vom ehemaligen japanischen Ministerpräsidenten gehört, dass die hochentwickelte und technisierte Nation Japan die Probleme in
Fukushima selbst drei Jahre nach dem Unfall nicht in
den Griff bekommt. Herr Professor Kusnezow aus Russland hat uns die Probleme und die Situation in Tschernobyl und Russland geschildert und gesagt, er verneige
sich vor uns - das fand ich sehr beeindruckend -, weil
wir den Atomausstieg besiegelt haben, und Deutschland
sei in diesem Prozess eine Lokomotive.
({6})
Ich bin froh, dass wir, die SPD, ein Teil dieser Regierung und damit ein Garant dafür sind, dass wir nicht wieder den Ausstieg aus dem Ausstieg proben. Ich bin froh,
dass wir mit Sigmar Gabriel einen Minister haben, der
die Energiewende mit Hochdruck vorantreibt. Ich bin
mir ganz sicher, dass unsere Kanzlerin aus ehrlicher und
tiefer Überzeugung hinter der Energiewende und dem
Atomausstieg steht
({7})
und nicht erneut versucht, eine Volte zu schlagen. Ich bin
mir auch ganz sicher, dass Sie, liebe Kolleginnen und
Kollegen von der CSU, Ihre Glaubwürdigkeit in dieser
Frage nicht verlieren wollen und natürlich genauso wie
wir zum Atomausstieg stehen.
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist schon mehrfach in der heutigen Debatte gesagt worden: Der Ausstieg ist beschlossen. Für mich als Sozialdemokratin und
als Abgeordnete aus dem Wahlkreis, in dem Gorleben
liegt, ist unumstößlich, dass wir nie wieder zur Atomkraft zurückkehren und dass diese Koalition für den endgültigen Ausstieg steht. Ich möchte appellieren, dass wir
unsere Energie ab heute noch viel stärker darauf verwenden, für das Gelingen der Energiewende zu arbeiten,
weil das ein Beitrag dazu ist, eine bezahlbare, sichere
und ökologisch vernünftige Energieversorgung in der
Zukunft zu haben.
Vielen Dank.
({9})
Kollegin Lotze, das war Ihre erste Rede im Deutschen
Bundestag. Wir wünschen Ihnen natürlich viel Erfolg für
Ihre Arbeit.
Wenn ich noch einen persönlichen Wunsch, auch im
Namen meiner Präsidiumskollegen, anschließen darf:
Achten Sie bitte beim nächsten Mal durchaus auch auf
die Zeichen für die Redezeit.
({0})
- Genau; es ist mir schon klar, dass das beim ersten Mal
so ist, aber ich bitte, in Zukunft darauf zu achten.
({1})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege
Christian Haase das Wort.
({2})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Frau Präsidentin, ich werde es
wahrscheinlich nicht schaffen, die Zeit jetzt wieder hereinzuholen, aber ich will mich bemühen.
Die Energiewende in Deutschland kann nur Erfolg
haben, wenn das Zieldreieck von Versorgungssicherheit,
Nachhaltigkeit und Bezahlbarkeit eingehalten wird. Was
bezahlbar ist, dafür haben die knapp 41 Millionen Privathaushalte in Deutschland ein sehr sicheres Gespür,
und darauf sollte die Politik hören.
Wenn Sie, liebe Oppositionskollegen von den Grünen
- ich sehe, Sie sind noch zu neunt; so wichtig scheint die
Debatte für Sie heute nicht zu sein -,
({0})
einmal ein Ohr für die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land hätten, dann wüssten Sie, dass es bei der Energiewende vor allem auf die Akzeptanz in der Bevölkerung ankommt. Genau hierauf hat der Kollege Ramsauer
hingewiesen. Er hat auf die Risiken hingewiesen, die das
Zieldreieck gefährden könnten. Die Gefahren sind real,
und es wäre töricht, sie aus ideologischen Gründen nicht
zu bedenken.
({1})
Wir haben im Augenblick in der Bevölkerung eine
Zustimmung von 89 Prozent zur Energiewende. Doch
diese Stimmung kann auch kippen, wenn der Strom zum
Luxusgut wird, wenn Unternehmen Arbeitsplätze ins
Ausland verlagern oder wenn Stromausfälle das private
und öffentliche Leben beeinträchtigen.
({2})
Nach einer Umfrage des BDEW haben 70 Prozent der
Bevölkerung Angst vor steigenden Strompreisen.
Ich war vor meinem Wechsel in den Bundestag Bürgermeister in Beverungen, einer ostwestfälischen Kleinstadt im Kreis Höxter. Von meinem Wohnhaus blicke ich
auf das sich im Rückbau befindende Kernkraftwerk in
Würgassen. Ich habe daher schon aus privaten und beruflichen Gründen eine sehr intensive Beziehung zum
Thema Energie. Sehr geehrte Frau Bulling-Schröter, ich
kenne den Unterschied zwischen Störfällen und meldepflichtigen Ereignissen. Vielleicht sollten Sie noch einmal recherchieren. Das waren meldepflichtige Ereignisse, die Sie eben angeführt hatten.
({3})
Nach dem Abschalten des Kernkraftwerkes 1996 haben wir sukzessive den Ausbau regenerativer Energien
bei uns vorangetrieben, dezentral, mit den Bürgerinnen
und Bürgern, mit aktiven Stadtwerken und auch immer
mit dem Blick auf die regionale Wertschöpfung. Mittlerweile werden 60 Prozent des verbrauchten Stroms bei
uns im Kreis Höxter regenerativ erzeugt: 200 Windkraftanlagen, 5 000 Photovoltaikanlagen, 40 Biogasanlagen,
40 Wasserkraftanlagen. Zurzeit wird ein Wasserspeicherkraftwerk in meiner Heimatstadt geplant. Und das
alles mit breiter Zustimmung der Bevölkerung.
({4})
Warum? Weil wir die Bürgerinnen und Bürger mitnehmen und nach den Prinzipien von Maß und Mitte
agieren. Doch ich spüre: Auch bei uns ist die gute Stimmung keine Dauergarantie. Die rot-grüne Landesregierung will uns mit dem Landesentwicklungsplan eine
Verdoppelung der Windkraft verordnen.
Es gibt keinen Schutz vor der bedrängenden Wirkung
von Windkraftanlagen, weil die Landesregierung schon
angekündigt hat, die Länderöffnungsklausel nicht zu
nutzen. Im Nachbarkreis sorgen von einer Goldgräberstimmung getriebene Windkraftinvestoren für Wildwuchs, weil Gerichte kommunale Planungen reihenweise
kippen. Jetzt stellt die Firma TenneT ihre Planungen für
die Nord-Süd-Gleichstromtrasse SuedLink vor und
macht alle Anfängerfehler hinsichtlich einer guten Kommunikation. Die Bürger gehen auf die Barrikaden und
stemmen sich mit aller Macht gegen den Bau dieser
Trasse.
Ich möchte Ihnen mit dieser Schilderung verdeutlichen: Es gibt keine Garantie, dass wir alle für die Versorgungssicherheit notwendigen Leitungen rechtzeitig errichten können. Die Planer des Stuttgarter Bahnhofs
lassen grüßen. Es gibt keine Garantie, dass der Ausbau
regenerativer Energien so positiv vorangeht. Es gibt
keine Garantie, dass wir das Speicherproblem rechtzeitig
lösen, und es gibt keine Garantie, dass wir Markt und
Kosten in einer Balance halten. Deshalb ist eine Energiepolitik mit Maß und Mitte, wie wir sie im Koalitionsvertrag verankert haben und jetzt auch umsetzen, gefragt.
Ideologische Debatten oder das Spiel mit Ängsten, wie
mit der Beantragung dieser Aktuellen Stunde, sind da
kontraproduktiv.
({5})
Meine Damen und Herren, machen Sie mit, anstatt mit
Nebelkerzen zu werfen!
Abschließend, an den Kollegen Zdebel gerichtet: Karfreitag muss das Motto nicht Demo, sondern Demut sein.
Danke schön.
({6})
Kollege Haase, auch für Sie war das heute die erste
Rede im Deutschen Bundestag.
({0})
Ich möchte Ihnen ausdrücklich dazu gratulieren, dass Sie
die Redezeit nicht nur eingehalten, sondern sogar unterschritten haben.
({1})
Das Wort hat der Kollege Klaus Mindrup für die
SPD-Fraktion.
({2})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es ist schon mehrfach erwähnt worden: Heute
Vormittag hat im Umweltausschuss die Anhörung zu den
Folgen der Atomkatastrophe in Tschernobyl und in Fukushima stattgefunden. Was da gesagt wurde, hat mich
persönlich wirklich sehr tief erschüttert. Frau Lotze hat
eben schon auf das, was dort gesagt worden ist, hingewiesen. Ich kann jedem hier wirklich nur empfehlen:
Schauen Sie sich die Aufzeichnungen an, oder lesen Sie
das Protokoll! Das, was dort steht, ist etwas, worüber wir
nachdenken müssen. Vor allen Dingen müssen wir uns
mit den weiteren Gefahren beschäftigen, die uns dort vor
Augen geführt worden sind. Ich denke vor allen Dingen
an die Gefahren von Atomkraftwerken, die bereits ein
sehr kritisches Lebensalter erreicht haben.
Meine Damen und Herren, auch wir in Deutschland
sollten nicht so arrogant sein, zu meinen, dass wir diese
Technik beherrschen können. Insofern begrüße ich es,
dass wir hier den Atomausstieg mit einem breiten Konsens beschlossen haben. Das Positive der Anhörung
heute war: Uns wurde sowohl von japanischer als auch
von russischer Seite gesagt, dass wir, Deutschland, das
weltweite Vorbild für den Wandel hin zu erneuerbaren
Energien und Energieeffizienz sind.
({0})
Das müssen wir vorantreiben.
Natürlich müssen wir auch über Kosten reden. Das ist
schon angesprochen worden; Kollege Miersch hat es ge1724
sagt. Wenn man einen Vergleich zu atomaren und fossilen Großkraftwerken zieht, muss man sich natürlich ehrlich machen. Sich ehrlich machen bedeutet: Die externen
Kosten sind bei den bisher existierenden Kraftwerken
nicht berücksichtigt worden; das Thema Versicherung ist
in diesem Zusammenhang schon angesprochen worden.
Die zukünftigen Kosten werden nicht berücksichtigt.
Die Subventionen in der Vergangenheit werden nicht berücksichtigt. Selten wird berücksichtigt, dass wir eine
Konkurrenz zwischen abgeschriebenen bzw. abbezahlten
Kraftwerken und neuen Kraftwerken, die sich noch refinanzieren müssen - das betrifft übrigens auch effiziente
Gaskraftwerke -, haben. Man darf natürlich nicht nur auf
den Strombereich schauen, sondern muss sich auch den
Wärmemarkt und den Transportsektor ansehen. Diesbezüglich wird viel zu wenig über die Kosten geredet. Sie
sind nämlich stärker als im Strombereich gestiegen.
Ich komme zurück zum Stromsektor. Wir alle gemeinsam wissen - so besagt es auch der Koalitionsvertrag -, dass der Ausbau der Windkraft im Binnenland
und der Netzausbau zusammen die Energiewende erst
bezahlbar machen. Insofern wundert es mich, dass gerade aus Bayern, aus der CSU, die beiden wesentlichen
Aspekte, nämlich Windkraft im Binnenland und Netzausbau, infrage gestellt werden.
({1})
Das ist unter den Gesichtspunkten von Kostengünstigkeit und Wirtschaftlichkeit nicht nachvollziehbar.
({2})
Der Kollege Haase hat es bereits betont: Es geht auch
um Wertschöpfung - das ist mir persönlich sehr wichtig -; es geht auch um die industrielle Substanz unseres
Landes. Außerdem geht es darum, dass wir ein intelligentes System haben wollen. Die neue Energiewelt wird
eine dezentrale Energiewelt sein. Ich weiß das persönlich: Unsere Genossenschaft hat hier in Berlin ein Blockheizkraftwerk im Keller und eine Photovoltaikanlage auf
dem Dach. Übrigens stammt unser Blockheizkraftwerk
aus Bayern - die Hersteller sind durch die Diskussion
gerade etwas verunsichert -; vielleicht kann man auch
sagen: Es kommt aus Franken. Dann wissen Sie, woher
es kommt.
Ein Aspekt spielt für mich in der Debatte eine noch zu
geringe Rolle, nämlich dass wir das Internet und die
Energiewende stärker miteinander kombinieren müssen - weg sozusagen von den unintelligenten Großkraftwerken. Die moderne Mess-, Steuer- und Regelungstechnik macht es uns nämlich möglich, die Strom- und
Wärmeerzeugung stärker miteinander zu kombinieren.
Wenn wir heute hören: „Speicher sind sehr teuer“, muss
ich sagen: Das gilt nicht für Wärmespeicher, das gilt
nicht für die großen Fernwärmenetze, und das gilt auch
nicht für die dezentrale Kraft-Wärme-Kopplung. Zum
Beispiel die Anlage bei uns im Keller könnte man über
eine intelligente Steuerung durchaus auch stromgeführt
fahren. Man muss nur Anreize schaffen, anstatt im
Grunde genommen die Wende hin zu dezentralen Systemen zu verdammen.
Wichtig sind noch die volkswirtschaftlichen Aspekte.
Wir alle altern. Wenn ich in 20 Jahren - hoffentlich - im
wohlverdienten Ruhestand bin, dann ist ein Großteil der
Investitionen in die Energiewende abbezahlt; wir haben
dann abgeschriebene Kraftwerke, und dann wird dieses
Land sehr gut von der Wende zu den erneuerbaren Energien leben können. Deswegen ist der Weg, den wir gemeinsam eingeschlagen haben, richtig und zukunftsweisend.
({3})
Ich komme nun zurück zu dem Thema Atomenergie.
Wir haben Sinne, die uns bei der Atomenergie, aber auch
beim Klimawandel im Stich lassen. Wir können hören,
sehen, schmecken, riechen und tasten. Diese Sinne versagen bei der Radioaktivität, und sie versagen beim Klimawandel. Deswegen sind wir da auch nicht so sehr
alarmiert. Wenn wir einen Sinn für radioaktive Strahlen
und für den Klimawandel hätten, dann sähe die Gesellschaft anders aus. Aber wir haben ja einen Kopf zum
Denken bekommen.
Wir sollten uns darüber klar sein, dass ein Windrad
auf dem Berg vielleicht die Landschaft verändert, aber
gleichzeitig unsere Wirtschaft und unsere natürlichen
Lebensgrundlagen sichert. Natürlich muss man Windräder vernünftig planen, gemeinsam mit den Bürgerinnen
und Bürgern. Das Windrad auf dem Berg aber ist Zukunft; es ist nicht Vergangenheit.
({4})
Wir brauchen also die Atomkraft nicht. Daher möchte
ich ganz besonders mit Blick auf die Anhänger der
Atomindustrie - glücklicherweise werden es immer weniger - mit einem alten Indianersprichwort schließen:
Spätestens wenn du merkst, dass das Pferd tot ist, das du
reitest, solltest du absteigen.
Danke schön.
({5})
Kollege Mindrup, auch Sie haben heute Ihre erste
Rede im Deutschen Bundestag gehalten. Ich wünsche
Ihnen als Berliner Kollegen alles Gute für Ihre weitere
Arbeit.
({0})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege
Andreas Jung das Wort.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Kollegin Lotze, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer ersten
Rede im Deutschen Bundestag. Auf eines will ich aber
doch eingehen. Weil Sie Ihr Bedauern darüber zum Ausdruck gebracht haben, dass der Kollege Dr. Ramsauer
heute früh nicht an der Anhörung im Umweltausschuss
teilgenommen hat, will ich einfach darauf hinweisen,
dass er, wie wir alle wissen, Vorsitzender des Wirtschaftsausschusses ist; das ist ja auch der Aufhänger für
diese Debatte. Wir wissen ferner, dass der Wirtschaftsausschuss heute früh getagt hat. Wir alle ahnen, dass
man einer Leitungsaufgabe dort nur nachkommen kann,
wenn man tatsächlich da ist.
({0})
Ich kann Ihnen versichern: Trotz seines langjährigen
Wirkens in der Christlich-Sozialen Union ist dem Kollegen Ramsauer die Gnade der Bilokalität noch nicht erwiesen worden.
({1})
Deshalb konnte er nicht an zwei Orten gleichzeitig sein.
Ich denke, wir können ihn als entschuldigt betrachten.
({2})
Damit zur Sache. Es bestehen offenkundig Meinungsunterschiede darüber, ob die heutige Debatte notwendig
ist oder nicht. Die Frage, die gestellt wird, ist jedenfalls
schnell beantwortet. Sie richtet sich auf die Haltung der
Bundesregierung zur Verlängerung von Laufzeiten für
Atomkraftwerke. Die Antwort ist leicht zu finden. Im
Koalitionsvertrag
({3})
auf Seite 43 links oben - dass es oben steht, ist gut; dass
es links steht, ist Zufall; auch dieser Passus wird von allen Teilen der Koalition mitgetragen ({4})
steht in nicht zu übertreffender Eindeutigkeit: Es bleibt
beim Ausstieg aus der Kernenergie. - Es steht dort ferner: Das letzte Kernkraftwerk geht in Deutschland im
Jahr 2022 vom Netz. - Und: Wir werden in Europa für
diese Energiewende werben.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, das ist beschlossen, das ist gut und richtig so, und das bleibt so.
({5})
Ich will hinzufügen, dass es eine Entscheidung ist, die
ja nach reiflicher Diskussion, nach langjähriger Debatte
und am Ende auch nach einer sorgfältigen Abwägung,
was die Umstände und den Zeitpunkt angeht, getroffen
wurde. Auf Ratschlag der Ethik-Kommission Sichere
Energieversorgung hat der Bundestag das mit der großen
Mehrheit von vier Fraktionen, nämlich denen von
Union, SPD, Grünen und FDP, beschlossen, auch breit
abgestützt in den Ländern und in der Gesellschaft.
In dieser Kommission - ich finde es richtig, dass man
daran immer wieder erinnert - waren natürlich Vertreter
der Kirchen, es waren auch Vertreter der Wirtschaft, der
Wissenschaft, der Gewerkschaften dabei, und damit solche, die sich mit der ethischen Frage beschäftigt haben,
aber auch solche, die sich mit wirtschaftlichen und sozialen Fragen beschäftigt haben. All diese haben am
Ende gesagt: Es gibt eine ethische Begründung für diesen Ausstieg. Wir haben Technologien, wir haben Formen der Energieerzeugung, die die Risiken, die die
Kernenergie durch den Umgang mit bzw. die Verwendung und später die Endlagerung von radioaktivem Material hat, nicht mit sich bringen. Deshalb ist es richtig
und notwendig, auszusteigen.
Sie haben aber gleichzeitig auch in dieser Breite, also
Vertreter von Kirchen, von Gewerkschaften, gesagt - das
sage ich an die Adresse der Vertreter der Linken, die teilweise einen sofortigen Ausstieg gefordert haben -: Es ist
nicht möglich, das von heute auf morgen zu machen. Wir
wollen es schneller machen, als es vereinbart war; wir
wollen es sogar erheblich schneller machen. Aber wir
brauchen für dieses große Projekt ein Jahrzehnt. Diese
Zeit müssen wir uns nehmen, um tatsächlich den Umbau
hin zu erneuerbaren Energien zu schaffen. Wenn wir es
nämlich sofort machen würden - auch das haben sie gesagt -, dann würde es zu erheblichen sozialen Verwerfungen kommen. Ich denke, auch das sollten Sie bedenken, wenn Sie fordern, man solle sofort aussteigen.
Damit würden wir, wie ich glaube, unserer Gesamtverantwortung für Ökologie, Soziales und Wirtschaft nicht
gerecht werden.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, dass das in
einem so breiten Konsens möglich war, schafft doch
jetzt die Chance, gemeinsam, statt die Debatten von gestern zu führen - dieses Kapitel ist abgeschlossen -, nach
vorne zu schauen. Die Frage ist nicht mehr: Kernenergie
oder Erneuerbare? Die Frage ist vielmehr: Wie schaffen
wir es, erneuerbare Energien so effizient zu fördern, dass
die Kosten möglichst gebremst werden? Wie schaffen
wir es, dass wir wirtschaftlich davon Vorteile haben und
es nicht dazu kommt, dass daraus ein Standortnachteil
oder gar eine soziale Frage wegen steigender Preise
wird? Ich glaube, das ist eine Aufgabe, der wir uns gemeinsam annehmen sollten, immer mit dem Ziel vor Augen: Wir wollen eine vollständige Versorgung mit erneuerbaren Energien erreichen. Wir wollen dabei so schnell
wie möglich vorankommen. Und wir wollen dies so tun,
dass der Klimaschutz weiterhin Priorität genießt.
All das zusammen - Erneuerbare fördern, aus der
Kernenergie aussteigen, aber unter Berücksichtigung unserer Klimaziele nicht den Weg zur Kohle einschlagen sind die Herausforderungen, um die es jetzt geht.
({6})
Darüber sollten wir diskutieren.
Herzlichen Dank.
({7})
Das Wort hat der Kollege Dr. Andreas Lenz für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Worüber
sprechen wir eigentlich heute? Letztlich über ein Interview von Peter Ramsauer, in dem er auf Gefahren für
den Wirtschaftsstandort Deutschland hinweist. Ich meine,
das steht dem Vorsitzenden des Wirtschaftsausschusses
durchaus zu.
({0})
Neuerdings scheint dies allerdings so außergewöhnlich
zu sein, dass die Grünen dazu eine Aktuelle Stunde beantragen.
Was hat Peter Ramsauer eigentlich gesagt? Er hat gesagt: „Die Energiewende zum Nulltarif ist eine Illusion.“
Und weiter - das ist wohl auch mit der Stein des Anstoßes -: „Wer die Preise wieder senken will, muss zurück
zur Atomkraft.“ Peter Ramsauer hat nie gesagt, dass er
die Laufzeiten für Atomkraftwerke verlängern will.
({1})
Schon die in Ihrem Antrag für diese Aktuelle Stunde
enthaltene Formulierung, „Äußerungen von Peter Ramsauer,
die Laufzeiten für Atomkraftwerke in Deutschland zu
verlängern“, entspringt also rein Ihrer blühenden Fantasie.
({2})
Peter Ramsauer drückt mit seiner Formulierung gerade aus, worum es im Kern bei der EEG-Novellierung
geht, nämlich um eine Begrenzung des Anstiegs der
Stromkosten.
({3})
Hätte Peter Ramsauer das mit bayerischem Idiom vor Ihnen gesagt, hätte ich verstehen können, dass es nicht alle
aus Ihrer Fraktion verstehen, obwohl der bayerische Dialekt Herrn Hofreiter geläufig sein sollte. Aber er ist
heute nicht anwesend.
({4})
So muss man Ihnen ein bewusstes Falsch-verstehenWollen unterstellen.
({5})
Trotzdem freut sich Peter Ramsauer über die immense Aufmerksamkeit und das politische Blitzcomeback, dass er so schnell wieder in das Zentrum der politischen Debatte gerückt ist, wobei die unfreiwillige
Werbung für den Spiegel sicher nicht in seinem Sinne
war.
({6})
Bei der anstehenden Reform des EEG geht es darum,
dass die Kostendynamik bei den erneuerbaren Energien
nicht aus dem Ruder läuft, sondern gebremst wird. Es
geht auch darum, den Industriestandort Deutschland und
damit Tausende von Arbeitsplätzen nicht zu gefährden.
Und es geht darum, eine schleichende Abwanderung von
Industriearbeitsplätzen zu verhindern.
Der Weg zum Ausstieg aus der Atomkraft ist vorgezeichnet. Die Termine für die Abschaltung der Kernkraftwerke, wie zum Beispiel Grafenrheinfeld - Ende
2015 - und Gundremmingen B - Ende 2017 -, stehen
fest. Wir halten am Atomausstieg fest. Die Messe ist gelesen. Spätestens 2022 wird das letzte Kernkraftwerk in
Deutschland abgeschaltet.
Ja, die Energiewende bietet immer noch Chancen, gerade für die regionale Wertschöpfung. Bereits heute
stammt rund ein Viertel des produzierten Stroms aus erneuerbaren Energien. Der im Koalitionsvertrag festgelegte Ausbaukorridor steht mit 40 bis 45 Prozent Erneuerbaren bis 2025 und 55 bis 60 Prozent bis 2035 fest.
Mit dieser Zielsetzung unterscheiden wir uns grundlegend von dem, was die Grünen in ihrer Regierungszeit
getan haben. Sie haben zwar den Ausstieg aus der Kernenergie beschlossen, jedoch keinen Weg aufgezeigt, wie
die Energieversorgung auf erneuerbare Energien umgestellt werden kann.
({7})
Sie haben sich überhaupt nicht um die Preisentwicklung,
den Netzausbau, den Speicherausbau und die Sicherheit
der Versorgung gekümmert.
({8})
Sie haben vielmehr einseitig einen unkoordinierten und
ungebremsten Ausbau der erneuerbaren Energien betrieben. Das müssen und werden wir jetzt reparieren.
({9})
Es geht darum, den Ausgleich der wegfallenden Kernkraftkapazitäten sicherzustellen. Die Grundlastfähigkeit
muss nun einmal gewährleistet werden.
Auf diese Herausforderungen hat Peter Ramsauer
hingewiesen. Auch seine Aussage, dass man den Menschen keine sinkenden Strompreise versprechen sollte,
ist nur ehrlich. Wir sind es und nicht Sie, die den Ausbau
der erneuerbaren Energien wirtschaftlich vernünftig vorantreiben. Wir sind es und nicht Sie, die mehr Markt bei
der Energiewende umsetzen. Und wir sind es, die den Industriestandort Deutschland erhalten werden.
({10})
Wir kämpfen für den Erhalt der besonderen Ausgleichsregelung. Die Befreiung von energieintensiven
Unternehmen von der EEG-Umlage ist wirtschaftspolitisch geboten. Dies verdeutlicht folgendes Beispiel:
Wenn die Ausnahmen für die Industrie wegfallen, würde
ein privater Haushalt dadurch circa 55 Euro pro Jahr weniger Stromkosten bezahlen. Wegen der zu erwartenden
Wohlstandsverluste würde das real verfügbare Einkommen jedoch jährlich um circa 500 Euro sinken. Das, was
wir verteilen, müssen wir erst erwirtschaften. Auch hier
hat Peter Ramsauer recht.
({11})
Vor Ort erlebt man, dass es eine hohe Zustimmung
zur Energiewende gibt. Über 80 Prozent der Menschen
halten die Energiewende für richtig. Nur ein umsichtiger,
ehrlicher und realistischer Blick auf die Probleme, die
mit der Energiewende verbunden sind, gewährleistet
langfristig deren Akzeptanz. Ich danke Peter Ramsauer
noch einmal für seinen Beitrag zur Debatte.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({12})
Das war der letzte Beitrag in dieser Aktuellen Stunde.
Sie ist damit beendet.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 20. März 2014,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen noch
einen erfolgreichen Tag.