Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alle
herzlich und möchte vor Eintritt in die Tagesordnung
dem Kollegen Hans-Joachim Schabedoth zu seinem
heutigen 65 . Geburtstag herzlich gratulieren .
({0})
Alle guten Wünsche für das neue Lebensjahr!
Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 21:
Vereinbarte Debatte
zum Arbeitsprogramm der EU-Kommission 2017
Die Debatte soll nach einer interfraktionellen Vereinbarung 60 Minuten dauern. - Das ist offensichtlich einvernehmlich . Also können wir so verfahren .
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst der Kollegin Katarina Barley für die SPD-Fraktion .
({1})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Das vorliegende Arbeitsprogramm der Europäischen Kommission für das Jahr 2017 ist Anlass für
unsere heutige Debatte . Aber die Fragen, die uns beschäftigen, gehen weit darüber hinaus . Es geht im Moment um
nichts weniger als um die Frage, wohin sich Europa entwickeln wird, wohin sich die Europäische Union entwickeln wird . Wir haben ja ein Jahr der Zäsuren hinter uns,
ein Jahr mit Brexit-Referendum, ein Jahr mit Wahlkampf
und Wahl in den USA; und Donald Trump wird heute
als Präsident der Vereinigten Staaten vereidigt werden .
All das wird die Architektur der Welt und die Architektur
innerhalb der Europäischen Union verändern .
Genauso wie für viele von Ihnen bedeutete für mich
die Idee der Europäischen Union, zusammenzuwachsen
und einander besser zu verstehen, indem man zusammenarbeitet und sich austauscht . Es ist schon bestürzend,
zu sehen, dass die bisherigen Entwicklungen umkehrbar
sind . Wir sind mit zwei Entwicklungen konfrontiert, die
mich und, wie ich vermute, die meisten hier im Saal sehr
besorgt machen .
Die eine Entwicklung ist, dass sich Menschen von Europa, von der Idee der Europäischen Union abwenden,
weil sie sich nicht mehr erreicht fühlen, sich nicht verstanden fühlen, weil sie sich nicht als Ziel europäischer
Politik fühlen . Ich nenne als Beispiel eine Begegnung bei
einer Wanderung in Bayern . Ein selbstständiger Metzger,
der das Geschäft in fünfter Generation fortführt, sagte
mir: Es ist schon wieder eine neue Regelung aus Brüssel
gekommen . Ich muss schon wieder neue Hygienevorschriften beachten und müsste bauliche Veränderungen
vornehmen, wenn ich meinen Betrieb an die nachfolgende Generation übergeben will . Das lohnt sich nicht mehr .
Irgendwann werden wir dichtmachen müssen . - Das ist
nur eine kleine Begebenheit . Es gibt viele davon, bei
denen die Menschen das Gefühl haben: Europa wird zu
sehr von der Logik der Märkte her gedacht, aus der Logik
der Wirtschaft gedacht und eben zu wenig aus der Logik
von Menschen .
Die zweite sehr besorgniserregende Entwicklung ist
die der wachsenden nationalen Egoismen . Das ist keine
ganz neue Entwicklung . Das hatten wir schon bei Maggie
Thatcher . Insofern ist es wahrscheinlich auch kein Zufall, dass nun Großbritannien das Land ist, welches die
Grundsatzfrage gestellt hat . Die Idee aber, dass man nicht
gemeinsam zu etwas beiträgt, sondern sich das größte
Stück herausbrechen will, haben wir schon lange .
Was wir jetzt aber zusätzlich sehen - zusätzlich zu
Unterbietungswettbewerben, die wir leider immer noch
haben in Form von Steuerdumping und auch Dumping
bei Sozialstandards -, ist noch etwas Weiteres: Es kommt
jetzt ein neuer Nationalismus, ein neuer Egoismus mit
einer ganz anderen Qualität und einer ganz anderen Zielrichtung dazu . Deswegen ist es so wichtig, dass sich diejenigen, welche die EU nach wie vor als ein Projekt der
Zukunft, als ein Projekt der Versöhnung, als ein Projekt
des gemeinsamen Wohlstandes ansehen, jetzt ernsthaft
überlegen, wie sich diese EU in Zukunft aufstellen soll .
Ich glaube, dass wir nach diesem Jahr der Zäsuren einen
neuen Aufschlag brauchen . Die EU ist ein Projekt, das
von Menschen gemacht wird . Deswegen haben wir es
auch in der Hand, Europa zu verändern . Und das müssen
wir tun .
Wir müssen die Rechtspopulisten bekämpfen, die eine
180-Grad-Wende hin zu einem neuen säbelrasselnden,
autoritären Nationalismus wollen . Das hat mit einem
freiheitlichen Europa in einem aufgeklärten Kontinent
überhaupt nichts mehr zu tun . Damit begänne eine Zeit
des Nationalismus, des Protektionismus und der autoritären Regime . Das kann wirklich keiner wollen . Man
blicke einmal auf Polen und Ungarn und schaue sich an,
wem es da zuerst an den Kragen geht: der unabhängigen
Justiz, der freien Presse, der kritischen Kultur, den Rechten der Frauen . Es sind immer die Gleichen, die darunter
zu leiden haben . Das kann wirklich kein Mensch wollen,
der an einem freiheitlichen Europa interessiert ist .
({0})
Aber wir können und müssen Europa besser machen .
Das heißt für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten vor allen Dingen, Europa sozialer zu machen .
Deswegen bin ich froh, dass die Europäische Kommission eine europäische Säule einziehen will . Das darf aber
keine reine Worthülse bleiben . Wir fordern das schon
lange; denn das bietet die Chance, wirklich ein Europa
der Bürger aufzubauen . Das heißt soziale Sicherungsstandards, faire Mindestlöhne, das heißt ein Ende von
Steuerflucht und Steuerdumping.
Das heißt auch ein Europa der Jugend; denn wir sehen
doch, dass wir vor allen Dingen in Südeuropa eine ganze
Generation für die europäische Idee verlieren . Die Idee
des Juncker-Plans, Investitionen zu stärken, ist der richtige Ansatz . Aber Investitionen alleine werden uns nicht
helfen, wenn sie nicht in Beschäftigung münden, vor
allen Dingen in Beschäftigung von jungen Menschen;
denn sie sind unsere Zukunft im Kampf für ein geeintes
Europa .
Europa ist das, was wir daraus machen . Wir haben es
in der Hand . Unsere Generation wird sich später daran
messen lassen müssen, was wir aus dieser europäischen
Idee gemacht haben . Wir wollen einen neuen Aufbruch
in Europa für eine gute und eine gemeinsame Zukunft .
Vielen Dank .
({1})
Gregor Gysi ist der nächste Redner für die Fraktion
Die Linke .
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Europäische Union ist in einem desolaten Zustand . Leider - das muss ich sagen - haben die Bundeskanzlerin
und der Bundesfinanzminister daran einen großen Anteil.
({0})
Auch Vizekanzler und Minister Gabriel ist insofern mitschuldig, als er als Vizekanzler zu all dem geschwiegen
hat und sich als Wirtschaftsminister nicht eingemischt
hat .
({1})
Deutschland spielt eine führende Rolle in der Europäischen Union . Und es gibt zwei Wege, wie man diese Rolle ausfüllen kann . Der erste Weg ist: Man baut den Süden
Europas und damit auch die Europäische Union auf . Der
zweite Weg ist: Man baut den Süden Europas und damit
auch die Europäische Union ab . Leider hat sich die Bundesregierung für den zweiten Weg entschieden . Das ist
verhängnisvoll .
Sie reden von Wettbewerbsfähigkeit, von wettbewerbsfähiger Demokratie . Die soziale Frage, die ökologische Nachhaltigkeit, die Solidarität - all das spielt
nicht die geringste Rolle; es interessiert Sie einfach nicht .
({2})
Permanent wird vom Süden Europas gefordert: Runter
mit den Löhnen, runter mit den Renten, runter mit den Sozialleistungen! Das sind aber Länder, die im Unterschied
zu Deutschland nicht vom Export, sondern von der Binnenwirtschaft leben . Wenn Sie permanent die Kaufkraft
reduzieren - ich bin noch gar nicht bei der sozialen Frage -, dann bringt das mit sich, dass die Binnenwirtschaft
geschwächt wird . Das heißt, dass die Steuereinnahmen
zurückgehen, und das bedeutet, dass die Schulden niemals zurückgezahlt werden können .
({3})
Was wir gebraucht hätten, wäre ein Marshallplan für
den Süden gewesen . Den haben Sie abgelehnt . Aber
Deutschland - nicht die DDR, aber die Bundesrepublik - bekam nach dem schlimmsten Krieg, nach den
schlimmsten Verbrechen nach 1945 einen Marshallplan,
der beim Aufbau geholfen hat . Nicht nur das: Acht Jahre
nach diesen entsetzlichen Verbrechen tagte eine Schuldenkonferenz in London: 1953 . Auf ihr wurden Deutschland fast alle Schulden erlassen . Vergleichen Sie das einmal mit der Art und Weise, wie Sie den Süden Europas
behandeln .
({4})
Ich behaupte, wir brauchen jetzt, 64 Jahre nach 1953,
wieder eine Schuldenkonferenz, nicht nur für Griechenland, sondern für die gesamte Euro-Zone .
({5})
Bestimmte Schulden müssen einfach gestrichen werden .
Ich darf Sie an die Bibel erinnern, an das Alte Testament,
an die Verse 8 bis 55 im 3 . Buch Mose, Kapitel 25 - lesen
Sie das einmal -:
({6})
Da steht etwas von einem Schuldenerlass alle sieben Jahre, aber zumindest nach 50 Jahren im sogenannten Jubeljahr. - Ich finde, die Christdemokratinnen und Christdemokraten könnten sich doch wenigstens einmal nach der
Bibel richten . Das wird höchste Zeit .
({7})
Wenn man den Banken sagt: „Alle 64 Jahre gibt es einen
Schuldenerlass“, dann gewöhnen sie sich auch daran . Sie
müssen es nur wissen . Ich glaube, dass das der richtige
Weg wäre .
Die EU ist unsolidarisch . Ich nenne ein Beispiel:
Deutschland hat die Solidarität mit Griechenland aufgekündigt . Das war deshalb so verhängnisvoll, weil sich
alle anderen Regierungen gesagt haben: Ach, so werden
wir behandelt, wenn es uns schlechtgeht . - Ich erinnere daran, dass die italienische Regierung, als sehr viele
Flüchtlinge nach Italien kamen, um EU-Flüchtlingsquoten bat . Was sagte die Bundesregierung? Wir haben das
Abkommen von Dublin . Das kommt gar nicht infrage .
Das ist eure Angelegenheit .
Etwa zehn Monate später kamen sehr viele Flüchtlinge nach Deutschland, und plötzlich wollte die Bundesregierung EU-Flüchtlingsquoten . Ich habe selten in solch
wonnige Gesichter von Staats- und Regierungschefs gesehen, die uns allen den mittleren Finger gezeigt haben .
Da war mir klar: Die Solidarität in der EU ist kaputt . Und
das geht nicht .
({8})
Wissen Sie, was der Höhepunkt war? Als jetzt in Griechenland etwas Geld übrig blieb, hat man entschieden,
dieses Geld den Ärmsten zur Verfügung zu stellen . Frau
Merkel und Herr Schäuble haben ein Affentheater gemacht und gedroht, dass alle weiteren Hilfen für Griechenland gestrichen werden . Sie müssen sich einmal
überlegen, wie das bei den Leuten in Europa ankommt,
wenn man eine solch kleine Geste derart beschimpft .
Ich muss noch etwas sagen:
Die EU ist unsozial . Der Süden hat in den letzten Jahren nichts anderes als Sozialabbau kennengelernt, und
auch in Deutschland haben wir den größten Niedriglohnsektor in Europa und millionenfache prekäre Beschäftigung .
Die EU ist auch ökologisch nicht nachhaltig . Ich sage
immer: unzureichende Ziele und unzureichende Realisierung von Maßnahmen im Kampf gegen den Klimawandel .
Die EU ist intransparent . Die TTIP-Verhandlungen
wurden als Geheimverhandlungen geführt . Ich beurteile
die Tatsache, dass Trump heute Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika wird, natürlich äußerst kritisch .
Aber Sie wissen: Negative Entwicklungen haben immer
auch ein positives Körnchen . Es könnte ja sein, dass er
TTIP fallen lässt, und das wäre dann im Interesse der Europäerinnen und Europäer .
({9})
Die EU ist undemokratisch . Ich werde Ihnen auch sagen, warum die EU undemokratisch ist: weil sie einen
Regierungsföderalismus begründet hat . Man interessiert
sich diesbezüglich weder für das nationale Parlament
noch für das Europäische Parlament .
({10})
Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Weil Erdogan die Türkei
von einer Demokratie zu einer Despotie und zu einer
Diktatur entwickelt, hat das Europäische Parlament beschlossen, die Beitrittsverhandlungen auszusetzen . Was
sagt die Kanzlerin? Nein, wir verhandeln weiter . Vielleicht machen wir kein neues Kapitel . - Es interessiert
sie einfach nicht . Das bekommen doch die Europäerinnen und Europäer mit und vertrauen deshalb der Struktur
nicht mehr .
Außerdem ist alles wirr . Stichwort „Europarecht“ Sie haben es erwähnt -: Jeder Bürgermeister stützt sich
auf das Europarecht . In der einen Hälfte der Fälle zu
Recht, in der anderen Hälfte ist der Zusammenhang frei
erfunden . So geht es nicht weiter . Die Leute verlieren
jede Übersicht .
Nun will die EU auch noch militärisch werden . Ich
sage Ihnen klipp und klar - auf den Ersatz nationaler
Streitkräfte könnten wir uns verständigen; aber das kann
man ja vergessen; das alles kommt hinzu -: Wir sind
strikt dagegen, dass die Europäische Union invasionsfähig wird .
({11})
Aber nachdem ich das alles gesagt habe, muss ich Ihnen begründen, weshalb ich einen Neustart will und die
EU retten will .
({12})
- Es ist ja scheinbar ein Widerspruch: Erst mache ich die
EU fertig, und dann kommt das Gegenteil . Aber ich bin
eben ein Dialektiker . Das kennen Sie nicht .
Erster Grund: die Jugend . Die Jugend ist europäisch
aufgewachsen . Die meisten Jugendlichen sprechen ganz
gut Englisch . Die haben mal hier, mal dort gearbeitet,
sie haben mal hier, mal dort studiert etc . Stellen Sie sich
doch mal vor, es gäbe wieder die alten Nationalstaaten
mit Grenzbäumen . Dann bestünde irgendwann wieder
die Notwendigkeit, einen Pass zu haben . Gibt es irgendwo einen Konflikt, dann wird eine Visumspflicht eingeführt . Stellen Sie sich mal vor: Zwei Monate bevor Sie
nach Paris fliegen wollen, müssen Sie erst einmal ein ViDr. Gregor Gysi
sum in der französischen Botschaft beantragen! Das ist
für uns Alte ja kaum vorstellbar, aber für die Jungen eine
blanke Katastrophe . Das ist der erste Grund, weshalb das
nicht geht .
({13})
Zweiter Grund . Die weltpolitische Relevanz der Nationalstaaten können Sie vergessen . Was glauben Sie, welche Rolle Luxemburg im Nahostkonflikt spielt? Nur als
EU sind wir ein Faktor .
Dritter Grund . Ökonomisch haben wir als Nationalstaaten im Verhältnis zu China und den USA nichts zu
bestellen . Nur als EU sind wir ein Faktor .
Vierter Grund . Die deutsche Nationenbildung kam,
weil wir schlechte Revolutionäre sind - ich erinnere an
1848 -, ja erst 1871 . Zu spät! Da war die koloniale Aufteilung der Welt abgeschlossen, was wir heute begrüßen
können; denn wir müssen uns nicht ganz so oft entschuldigen wie andere . Wir bekamen nur einen kleinen Teil
Afrikas . Die Herrschenden fühlten sich jedoch zu kurz
gekommen. Sie hatten nicht den Zugang zu Rohstoffen,
konnten die Leute nicht so ausbeuten wie andere . Deshalb gab es immer wieder diesen deutschen Sonderweg,
den Versuch der Neuordnung der Welt . Erster Weltkrieg,
Zweiter Weltkrieg - gescheitert . Eine Schlussfolgerung
bestand darin, Deutschland international zu verankern .
Ich will nicht zurück zum alten deutschen Nationalstaat .
({14})
Es gibt wieder Rechte, die davon träumen, die Einflusssphären zu erweitern . Genau diesen deutschen Sonderweg möchte ich für immer ausschließen . Auch deshalb
will ich die Verankerung in der Europäischen Union .
({15})
Der fünfte und letzte Grund ist ganz einfach: Es gab
noch nie zwischen zwei Mitgliedsländern der Europäischen Union einen Krieg, während vorher die ganze
europäische Geschichte durch Kriege zwischen diesen
Staaten gekennzeichnet war .
Vor diesem Hintergrund sage ich Ihnen zum Schluss:
Wenn Sie nicht ernsthaft für eine solidarische, sozial
gerechte, demokratische, transparente, unbürokratische
und unmilitärische Europäische Union streiten, wird
die Rechtsentwicklung, die wir in den USA, in Polen,
in Ungarn, in Finnland, in Dänemark, in Frankreich und
in Deutschland erleben, zunehmen . Wenn wir sie hier in
Deutschland wirksam bekämpfen, dann können wir sie
auch in Europa bekämpfen .
({16})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun die Kollegin
Groden-Kranich das Wort .
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr
Gysi, die Linke zitiert immer dann Bibelverse, wenn es
opportun ist .
({0})
Wenn wir auf kommunaler Ebene christliche Kitas oder
Schulen unterstützen, dann ducken Sie sich ganz schnell
weg .
({1})
Das dominierende Thema meiner ersten vier Jahre im Deutschen Bundestag und im EU-Ausschuss war
die Krisenbewältigung . Die erste Sondersitzung meiner
Mandatszeit thematisierte die dramatische Situation in
der Ukraine . Es folgten zahllose Unterrichtungen zur
Lage in Griechenland . Und unser Kontinent sah sich mit
der größten Flüchtlingswelle seit dem Ende des Zweiten
Weltkriegs konfrontiert . Als wäre das noch nicht genug,
beschäftigen wir uns künftig zusätzlich mit den Fragen,
welche der Brexit für uns aufwirft . Auch bei Gesprächen
in Brüssel dominierten bislang Krisenbewältigung und
Schadensbegrenzung . Europa täte es gut, wenn wir uns
deutlich häufiger mit unseren Erfolgen und der Schönheit
unseres gemeinsamen europäischen Projekts beschäftigen würden .
({2})
Leider wird das Arbeitsprogramm der EU-Kommission für das Jahr 2017 diesem Anspruch nicht wirklich
gerecht . Überschrieben ist es mit „Für ein Europa, das
schützt, stärkt und verteidigt“, und genau das sind die
Bereiche, in denen Europa zu alter Stärke zurückfinden
muss .
Anfang dieser Woche wählten die Kolleginnen und
Kollegen im Europäischen Parlament Antonio Tajani zu
ihrem neuen Präsidenten . Mit ihm haben sich die Abgeordneten abermals für einen überzeugten und leidenschaftlichen Europäer entschieden .
({3})
In diesen Tagen von aufziehendem US-amerikanischen
Protektionismus und nationalstaatlicher Verklärung sind
diese Charaktereigenschaften in unserer europäischen
Wertegemeinschaft sehr gefragt . Denn dies ist die Europäische Union für mich: eine Wertegemeinschaft .
({4})
Man kann es nicht häufig genug betonen: Wir sind
mehr als ein Binnenmarkt von über 500 Millionen Menschen . Uns verbinden das christlich-abendländische
Erbe, unsere gemeinsame Vergangenheit und eben auch
unsere gemeinsame Zukunft .
({5})
Selbst wenn Europa nicht mehr wäre als ein Friedensprojekt, würde es sich mehr als lohnen, dafür zu kämpfen .
70 Jahre Frieden sind eine beispielslose Erfolgsgeschichte .
({6})
Die Europäische Union ist aber - und das ist meine
feste Überzeugung - auch unsere einzige Chance, in einer globalisierten Welt bestehen zu können . Daher ist der
Grundsatz der Kommission genau richtig: Europa muss
klein sein in den kleinen Dingen, aber groß, wenn es um
die wirklichen Herausforderungen unserer Zeit geht .
Als nationaler Gesetzgeber muss auch dieses Hohe
Haus seiner Verantwortung gerecht werden . Wir müssen
Subsidiarität nicht nur einfordern, sondern auch leben .
Immer wieder müssen wir kritisch fragen: Was können
wir national regeln? Was muss Europa regeln? Gemeinsam mit unseren europäischen Partnern müssen wir uns
fit machen für die Herausforderungen unserer Zeit und
der Zukunft . Die Welt um uns herum ändert sich in rasender Geschwindigkeit - und wir sind gut beraten, uns
diesen Änderungen frühzeitig zu stellen .
Auch im Jahr 2017 werden wir mit der Bewältigung
der europäischen Staatsschuldenkrise zu kämpfen haben .
Richtigerweise haben wir uns europaweit darauf verständigt, den Teufelskreis zwischen Bankenkrise, Bankenrettung und Staatsschuldenkrise zu durchbrechen . Durch
das sogenannte Bail-in müssen zunächst Eigner und
Gläubiger einer in Notlage geratenen Bank aktiv werden,
um diese zu stabilisieren . Erst in einem weiteren Schritt
kommt ein dezidiert von der Bankenwelt finanzierter Abwicklungsfonds zum Zuge . Diese Aufteilung ist essenziell wichtig, um alle europäischen Steuerzahler vor Risiken in ungeahnter Höhe zu schützen . Doch was passiert
aktuell? Die EU-Kommission hat im Rahmen einer Ausnahmegenehmigung der italienischen Regierung erlaubt,
das in Schieflage geratene drittgrößte Finanzinstitut des
Landes durch staatliche Hilfen zu stützen - und dies angesichts einer Staatsschuldenquote von 130 Prozent der
jährlichen Wirtschaftsleistung!
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei solchen Entscheidungen der EU-Kommission dürfen wir uns nicht
wundern, wenn Bürgerinnen und Bürger ihr Vertrauen in
die europäische Politik verlieren . Die EU-Kommission
muss ihre Rolle als Hüterin der Verträge wieder deutlich
ernster nehmen .
({7})
Nichts Geringeres steht auf dem Spiel als unsere Glaubwürdigkeit . Wenn sich die europäischen Gesetzgeber auf
Regeln verständigen, dann muss es eine Selbstverständlichkeit sein, dass diese auch umgesetzt und Verstöße
sanktioniert werden .
Dies gilt auch für Griechenland . Wir dürfen eben nicht
tolerieren, dass nationale Alleingänge - wie jüngst in der
Rentenpolitik des Landes - ohne Folgen bleiben und stillschweigend hingenommen werden . Wer Entscheidungen
trifft, muss mit den Konsequenzen leben. Der Hinweis
auf die eingeschränkte Souveränität eines Staates greift
hier übrigens nicht; denn dieser Staat hat sich mit dem
Beitritt zum Euro und zur EU auch zu deren Regeln bekannt . Wer Fremdkapital in nicht unbeträchtlicher Höhe
aufnimmt, sich der Bonität anderer Staaten bedient und
regelmäßig an seine eigenen Verpflichtungen erinnert
werden muss, tritt diese Solidarität mit Füßen .
Kommt die EU-Kommission mit ihrer geteilten Rolle
als politische Kommission und als Hüterin der Verträge
nicht zurecht, dann müssen wir die Konsequenzen ziehen
und Kompetenzen notfalls neu ordnen .
Im Bereich der Bankenunion haben wir mit der Europäischen Zentralbank und der Europäischen Bankenaufsichtsbehörde starke unabhängige Institutionen, auch
wenn wir so manches Anleihekaufprogramm so nicht
unterstützen würden .
Eine der größten Herausforderungen bleibt aber die
Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit . Hier muss Europa stärker werden und mit aller Kraft Zukunft gestalten . Wir müssen Europas Jugend den Glauben an das
europäische Projekt zurückgeben; denn wenn die nachfolgenden Generationen nicht mehr an einen geeinten
Kontinent glauben, dann sind alle unsere heutigen Anstrengungen vergebens .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die EU-Kommission wählte für ihr Arbeitsprogramm den Titel „Für ein
Europa, das schützt, stärkt und verteidigt“; ich habe es
bereits erwähnt . Gerade im Bereich des Schutzes und der
Verteidigung haben wir in den letzten Monaten viel erreicht . Der neue europäische Grenz- und Küstenschutz
hat seine Arbeit bereits aufgenommen . Er hat mehr Kompetenzen und ist besser für den Schutz der EU-Außengrenzen ausgestattet als die bisherige Agentur Frontex .
Die EU hat damit gezeigt, dass sie handlungsfähig ist
und bestehende Probleme aktiv angeht, wenn sie diese
erkannt hat - auch wenn es uns oft nicht schnell genug
gehen kann .
Was mich bei der Lektüre des Arbeitsprogramms
sehr erstaunt und auch enttäuscht hat, war, dass der
Brexit lediglich mit einem Satz in der Einleitung kurz
erwähnt wurde . Auch wenn der Antrag nach Artikel 50
des EU-Vertrags noch nicht eingereicht ist, so müssen
wir doch diese historische Zäsur zur Kenntnis nehmen;
die Rede von Theresa May haben wir ja alle gehört . Nun
müssen wir uns auch vorbereiten . Wir müssen uns vor
Augen führen, dass wir das Vereinigte Königreich zwar
nicht als Partner verlieren, wir die Zusammenarbeit aber
auf eine völlig neue Grundlage stellen müssen . Und mehr
noch: Wir müssen erkennen, welche massiven Auswirkungen der Brexit auf die Menschen Europas hat . Wir
können und werden unsere Werte und Prinzipien nicht
opfern . Aber wir sind es nicht zuletzt unseren Kindern
schuldig, weiter für ein geeintes und kooperatives Europa zu werben und zu arbeiten .
Europäische Kommission, Rat und Europäisches Parlament haben sich für das Jahr 2017 viel vorgenommen .
Ich bin sehr froh darüber, dass EVP und Liberale eine
Vereinbarung zur Umsetzung einer Reformagenda beschlossen haben . Lippenbekenntnisse bringen uns nicht
weiter . Europas Bürger wollen Taten sehen . Nur wenn
alle europäischen Gesetzgeber an einem Strang - und in
die gleiche Richtung - ziehen, können wir die aktuellen
Herausforderungen bewältigen . Lassen Sie uns unseren
Teil dazu beitragen, dieses Arbeitsprogramm zu einer Erfolgsgeschichte zu machen .
Für uns Mitglieder des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union ist es inzwischen
zur Routine geworden, uns alljährlich und immer wieder mit dem Arbeitsprogramm zu befassen . Ich werbe
nachdrücklich dafür, dass auch unsere Kolleginnen und
Kollegen in den anderen Fachausschüssen diese Chance
ergreifen . Die jährliche Programmplanung gibt uns die
Gelegenheit, mögliche Fehlentwicklungen frühzeitig zu
erkennen und mit den Instrumenten, die uns auf nationaler und auf EU-Ebene zur Verfügung stehen, gegensteuern zu können .
Lassen Sie uns gemeinsam auch im anstehenden Jahr
mit Leidenschaft, Freude und Zuversicht weiter am europäischen Haus im globalen Dorf bauen . Ich bin sicher:
Europa wird es uns danken .
({8})
Ich erteile das Wort nun der Kollegin Annalena
Baerbock für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir haben direkt nach dem Brexit eine Debatte hier im Deutschen Bundestag geführt, die mich sehr
positiv gestimmt hat . Da wurde sehr selbstkritisch von
allen Rednerinnen und Rednern gesagt, dass wir an uns
arbeiten müssen, dass wir aufhören müssen, mit dem Finger auf andere Länder und andere Menschen zu zeigen,
dass wir uns vielmehr fragen müssen: Was tun wir eigentlich für Europa? .
({0})
Da wurde sehr deutlich gesagt: Wir müssen mit dieser
Kosten-Nutzen-Debatte aufhören, damit, zu sagen: Der
ist schuld. - Deswegen bin ich echt richtig getroffen von
dem, was heute hier passiert ist .
Alle nehmen das Wort „Brexit“ in den Mund, aber
dann kommt wieder der alte Reflex. Herr Gysi, bei Ihrer
Rede habe ich mich ehrlich gefragt, ob Sie Ihre Karten
verwechselt haben . Ihre „Blaming and shaming“-Argumente schienen mir eher aus dem Jahr 2015 zu sein; vielleicht haben Sie sich damals zuletzt wirklich mit Europa
beschäftigt . Das ist die eine Sache .
({1})
Die andere Sache ist: Auch von Ihnen, Frau GrodenKranich, kam wieder der Vorwurf: Diese Griechen! Herr
Kauder dagegen hatte in der Debatte über den Brexit in
jedem zweiten Satz genau das Richtige gesagt; ich musste aufpassen, dass ich nicht ständig klatsche . Er sagte
zum Beispiel:
Wenn es nicht gelingt, Europa in den Herzen der
Menschen zu verankern, dann wird es in Zukunft
sehr schwer für Europa, die gute Geschichte zu erzählen …
Frau Barley, Sie haben in Ihrer Rede das Beispiel von
einem Metzger erwähnt, dem Sie bei einer Wanderung
in den Bergen begegnet sind und der Ihnen gesagt hat:
Europa macht alles kaputt . Ich habe mich da gefragt: Warum antworten Sie dann nicht: „Oh ja, Sie haben recht .
Ich als SPD-Generalsekretärin werde alles dafür tun,
dass Deutschland das ändert“? Denn Deutschland ist Europa; Europa ist nicht nur irgendwo in Brüssel .
({2})
Leider hat sich offensichtlich auch der Finanzminister nicht die Worte des Fraktionsvorsitzenden Kauder zu
Herzen genommen; denn man könnte doch gerade jetzt
eine wirklich gute Geschichte erzählen . Man könnte erzählen, wie wichtig es ist, dass Menschen Freunde haben,
Freunde, die einem in der Not helfen und einem, wenn
man aus der schlimmsten Situation herausgekommen ist,
sagen: Ich bin stolz auf dich . Das hast du gut gemacht .
In dieser Situation - deswegen, Herr Gysi, kann ich
Ihren Griechenland-Vergleich wirklich nicht verstehen befinden wir uns gerade.
({3})
Griechenland hat die Reformen so umgesetzt, dass es
jetzt zu den Schuldenerleichterungsmaßnahmen kommt,
die immer versprochen wurden und die wir alle eingefordert haben . Ein Schuldenschnitt wäre besser, ja, aber es
gibt doch eine positive Entwicklung .
Anstatt dass auch Sie das hochhalten und sagen:
„Griechenland hat richtig was getan; daran können wir
uns ein Beispiel nehmen“,
({4})
wird auch vonseiten der Union jetzt wieder gesagt: Oh,
die Griechen müssen jetzt aber ihre Aufgaben erfüllen .
Warum sagen wir nicht: „Solidarität zahlt sich
aus . Solidarität in Europa zahlt sich aus - für
die Griechen, für Deutschland, für Europa“?
Wir könnten damit gleichzeitig der Partei, die
leider aufgrund der Euro-Krise großgeworden
ist, den Spiegel vorhalten;
({5})
denn Europa ist nicht den Bach runtergegangen, weil wir
den Griechen geholfen haben . Nein!
Diese Geschichte könnte Herr Schäuble erzählen und
sagen: Hier ist mein Interview: Solidarität zahlt sich aus .
In Zahlen: Für Deutschland zahlt sich die Solidarität mit
722 Millionen Euro aus . - Das ist nämlich das Geld, das
Sie in den Bundeshaushalt aufgrund der EZB-Ankäufe
und der guten Zinspolitik eingestellt haben . Dieses Geld
ist nach Deutschland zurückgekommen und steht seit
2015 und 2016 im Haushalt . Aber das verschweigen Sie
einfach .
Warum sorgen Sie nicht für die Schlagzeile in der
Bild-Zeitung: „Das haben wir Deutschen aus der GrieUrsula Groden-Kranich
chenland-Solidarität für uns bekommen“? Stattdessen
liest man in der Welt ein Interview von Herrn Schäuble,
in dem er wieder sagt: Oh, wir müssen aufpassen; die
Verpflichtungen müssen eingehalten werden, sonst droht
auf Dauer die Dekonstruktion des Euro . - Ist das Ihre
positive Geschichte von Europa, die Sie erzählen wollen,
sehr verehrte Damen und Herren?
({6})
Es gibt viele Bereiche, über die wir positive Geschichten erzählen können, auch im Arbeitsprogramm der Europäischen Kommission . Ich habe jetzt nicht mehr so viel
Zeit und möchte deswegen nur zwei Stichpunkte nennen .
Wir sehen doch in Frankreich an Macron, dass es Power
gibt, wenn man positiv in die Zukunft schaut .
({7})
Ich teile nicht alles, was er fordert . Aber wenn die USA
jetzt von der großen Bühne verschwinden, auch bei
der Klimapolitik zum Beispiel, warum sagt dann allein
China: „Wir treten für die ökologische Transformation
ein“? Das müsste im Arbeitsprogramm der Europäischen
Kommission stehen .
Als Letztes: Sie reden immer vom Friedensprojekt Europa . Herr Gysi, wenn Ihnen wirklich das Friedensprojekt Europa am Herzen liegt, dann sollten Sie nicht selber
ein Säbelrasseln inszenieren, sondern sagen: Wir haben
die einmalige Chance, in Europa in diesem Jahr das Friedensprojekt wieder zum Leben zu erwecken, nämlich in
Zypern .
Denn das Wertvollste, was Europa geschaffen hat, ist
der Frieden . Daran sollten wir auch für Zypern arbeiten .
Wir haben hier eine einmalige Chance .
Herzlichen Dank .
({8})
Axel Schäfer ist der nächste Redner für die SPD-Fraktion .
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
Wichtigste ist, dass wir heute das Arbeitsprogramm der
EU-Kommission hier im Deutschen Bundestag diskutieren; denn damit zeigen wir: Wir sind ein Teil dieses
Europa . Europa ist nicht irgendetwas Fernes in Brüssel,
sondern es gehört zu uns . Wir wollen dies gemeinsam mit
der Kommission, mit dem Europäischen Parlament und
mit dem Rat als Deutsche zum Erfolg bringen .
({0})
Zu meinen Vorrednerinnen und Vorrednern nur zwei
Bemerkungen . Frau Groden-Kranich, Sie haben den neuen Präsidenten des Europäischen Parlaments, den früheren Pressesprecher von Silvio Berlusconi, gelobt . Der
Maßstab ist Martin Schulz . Wir werden genau schauen,
was in den nächsten Jahren passiert, ob das Europäische
Parlament eine Stimme, ein Gesicht und eine Macht auch
nach außen hat, um gemeinsame Interessen zu vertreten,
damit Europa auch zur Geltung kommt, oder ob der neue
Präsident nur ein Zeremonienmeister wird .
({1})
Herr Kollege Gysi, Sie haben eine Reihe von Dingen
angesprochen, deren Melodie in etwa so klang: Die EU
ist unsolidarisch, die EU ist dieses oder ist jenes . - Wir
können über all das diskutieren . Aber wie Sie es intoniert
haben, war falsch . Die EU, das sind wir . Die EU, das sind
eben nicht nur die 28 Mitgliedstaaten, das sind auch die
Fraktionen im Europäischen Parlament, das sind auch wir
hier im Bundestag . Wir werden in diesem Jahr eine andere Diskussion führen müssen . Wir dürfen bei nationalen
Problemen, die zu lösen wir nicht in der Lage sind - wir
könnten hier sehr, sehr lange über die Türkei reden -,
nicht mehr sagen: „Oh, die EU-Kommission ist schuld“
oder: „Macht ihr mal dort“, weil wir uns selbst unserer
Verantwortung nicht stellen . Die Bürgerinnen und Bürger akzeptieren Europa dann nicht . Sie stehen nicht zu
diesem gemeinsamen Europa, wenn wir hier so tun: Unser Land macht alles richtig, und wenn etwas schiefgeht,
ist Brüssel schuld . - Das führt zu Europaverdrossenheit .
Es sollte Anspruch jeder Partei, jeder Fraktion, egal ob
Regierung oder Opposition, in diesem Parlament sein,
das eben nicht zu machen . Wir dürfen die Verantwortung,
die wir gemeinsam wahrnehmen müssen, nicht irgendwo
anders hinschieben .
({2})
Es geht heute nur noch zum Teil um die Frage: Haben wir mehr eine christdemokratische oder mehr eine
linksorientierte, eine grüne, liberale oder - das wäre
am besten - sozialdemokratische Politik? Darum geht
es auch . Es geht aber heute in Europa vor allem um die
Existenz . Wir müssen uns, wenn es um die Existenz geht,
unserer Verantwortung bewusst werden . Tucholsky hat
vor über 80 Jahren geschrieben:
Da liegt Europa . Wie sieht es aus?
Wie ein bunt angestrichnes Irrenhaus .
. . .
Die Neuzeit tanzt als Mittelalter .
Die Nation ist das achte Sakrament -!
Gott segne diesen Kontinent .
Wir wissen, was in den 30er-Jahren passiert ist . Wir
sind heute in einer Situation, in der Nationalismus nicht
mehr nur irgendeine Meinung ist, ein Irrtum, der auf einen Irrweg führt, aber der in einem Irrsinn endet . Vielmehr geht es um die Existenz dessen, was wir alle uns
in unterschiedlichen Parteien und Fraktionen gemeinsam
versprochen haben, nämlich dass das wichtigste nationale Interesse die europäische Einheit ist . Wir sind heute
in der Gefahr, statt in Vielfalt geeint in Einfalt geteilt zu
werden .
Deshalb wird es wichtig sein, was wir dagegenhalten
und wie wir es dagegenhalten . Es gibt keinen Grund, sich
für irgendeine Entscheidung in Europa zu entschuldigen,
die demokratisch legitimiert durch das Parlament und
den Rat und vorbereitet von der Kommission war und
am besten noch verfassungsrechtlich in 28 Mitgliedstaaten abgesegnet war . Es gibt viele Gründe für Kritik . Man
kann Frau Mogherini kritisieren; dies aber eher weniger .
Man kann auch den Kollegen Oettinger kritisieren; ich
lobe ihn manchmal . Aber es muss immer deutlich werden, dass es um Politik geht, dass es nicht um die Gemeinschaftsidee, dass es nicht um Institutionen geht .
Heute erleben wir einen Versuch von rechts, Europa
zu zerstören . Es heißt: Wenn jeder an sich selbst denkt,
ist an alle gedacht . - Der Internationale der Nationalisten, die sich am Wochenende leider hier in Deutschland
zusammenfinden wollen, müssen wir etwas Starkes entgegensetzen . Zum Beispiel haben alle Christdemokraten,
alle Grünen, alle Linken und Sozialdemokratinnen und
Sozialdemokraten sowieso in diesem Parlament gesagt:
Wir sind gegen den Brexit . Wir sind gegen Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit . - Das muss auch in dieser Woche deutlich in Richtung dieser Konferenz gesagt
werden . Es geht nicht mehr in erster Linie um Parteipolitik, sondern es geht um unsere gemeinsame Existenz in
Europa; denn sie steht auf dem Spiel . Dieser Anforderung müssen wir auch gemeinsam gerecht werden, liebe
Kolleginnen und Kollegen .
({3})
Nationalismus ist nicht einfach nur irgendetwas
Schlimmes, das passieren kann . Nationalismus ist der
Triebsatz, den wir jeden Tag erleben . Er wird von Fremdenfeindlichkeit gespeist, trägt den Hass in die Herzen
und zerstört die christlich, islamisch, jüdisch, kulturell
geprägte Nächstenliebe .
Dem müssen wir uns entgegenstellen . Wir müssen es
auch in einer anderen Weise machen . Es ist nicht irgendeine andere Haltung . Das hat Herr Höcke gezeigt . Hier
geht es um ein Verbrechen . Am Ende des Nationalismus
steht nicht irgendeine Politik in Europa, sondern Krieg .
Diese Dimension müssen wir deutlich machen .
Wir werden den Frieden nur erhalten, wenn wir es bei
uns tun und wenn wir gemeinsam für das stehen, was
unsere Verfassung uns auch aufgegeben hat . Wir wollen
als Deutsche gleichberechtigt in einem vereinten Europa
dem Frieden der Welt dienen . So soll es sein .
({4})
Wolfgang Strengmann-Kuhn hat nun das Wort für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
der Tat steht in diesem Jahr für die Europäische Union
viel auf dem Spiel. Wir befinden uns jetzt seit gut acht
Jahren in der stärksten Wirtschafts- und Finanzkrise seit
den 20er-/30er-Jahren . Es gibt leider auch starke Parallelen .
Es gab vor dieser Krise starke Parallelen: einen Anstieg der Schulden - übrigens nicht nur der Staatsschulden; deswegen befinden wir uns auch nicht in einer
Staatsschuldenkrise, es ist eine Finanzkrise - und einen
parallelen Anstieg der Vermögensungleichheit und der
Ungleichheit insgesamt . Ende der 20er-Jahre kam es
dann zur Finanzkrise . Ähnlich war es im Jahr 2008, ausgelöst durch Lehman Brothers .
Auch danach bestehen leider politisch Parallelen . Seinerzeit gab es einen starken Rechtsruck in Europa . Jetzt
ist leider in vielen Ländern wieder ein starker Rechtsruck
zu beobachten, mittlerweile auch in Deutschland - noch
nicht so bedrohlich wie in den 30er-Jahren, aber trotzdem
zumindest besorgniserregend .
Es gab damals in den USA eine Ausnahme von dieser Entwicklung . Durch den New Deal von Präsident
Roosevelt ist es dort gelungen, diesen Rechtsruck zu
vermeiden . Einen solchen New Deal, am besten einen
grünen New Deal, bräuchten wir jetzt auch in der Europäischen Union .
({0})
Es gab damals ein massives Investitionsprogramm
mit öffentlichen Investitionen. Das brauchen wir jetzt
auch in der Europäischen Union . Wir brauchen eine Abkehr von der Austeritätspolitik . Wir brauchen Investitionen da, wo sie notwendig sind - in den Krisenländern,
aber auch bei grenzüberschreitenden Dingen wie zum
Beispiel Energie netzen . Es darf nicht nur darum gehen:
„Was habe ich eingezahlt, und was bekomme ich wieder
zurück?“, sondern wir müssen die Investitionen dahin
leiten, wo sie wirklich gebraucht werden .
({1})
Bei der Finanzmarktregulierung - das war die zweite
Säule - ist auch noch viel zu tun . Es gab vor acht Jahren
das Versprechen: „Too big to fail“ muss vermieden werden . - In Italien müssen jetzt schon wieder Banken gerettet werden . Und was ist eigentlich, wenn die Deutsche
Bank ins Wanken gerät? Auch bei der Finanzmarktregulierung ist noch viel zu tun .
({2})
Die dritte Säule, die damals eine große Rolle gespielt
hat, ist mir besonders wichtig, nämlich die Sozialsäule
des New Deals . Damals erfolgten in den USA ein Aufbau
von sozialen Sicherungssystemen und gleichzeitig eine
Politik der Umverteilung .
Dazu findet sich jetzt im Arbeitsprogramm der Europäischen Kommission ein wichtiger Punkt . Man muss
ihn ein bisschen suchen, weil er unter der Überschrift
Axel Schäfer ({3})
„Eine vertiefte und fairere Wirtschafts- und Währungsunion“ steht . Dabei handelt es sich um den Aufbau einer
europäischen Säule sozialer Rechte . Das ist vorhin schon
angesprochen worden . Ich glaube, es ist ein ganz zentraler Punkt, dass wir in der Europäischen Union dafür sorgen, dass die Menschen soziale Rechte bekommen, zum
Beispiel gleichen Lohn für gleiche Arbeit am gleichen
Arbeitsort, Zugang zu Bildung, Zugang zum Gesundheitssystem, eine angemessene Rente und eine Grundsicherung in allen europäischen Ländern .
({4})
Diese Punkte sind unbedingt notwendig . Sie müssen
jetzt auf die Agenda . Hier muss die Bundesregierung die
Europäische Kommission unterstützen .
({5})
Noch ein Hinweis an die Linke: Die Europäische Union ist nicht das Problem, sondern die Europäische Union
ist die Lösung der Probleme, die wir haben .
({6})
Gerade bei der sozialen Seite ist es die Europäische
Union gewesen, die seit Beginn dieses Jahrhunderts, was
die Armutsbekämpfung angeht, aber auch in anderen
sozialen Fragen treibende Kraft war und die Mitgliedstaaten vor sich hergetrieben hat . Es sind im Wesentlichen die Mitgliedstaaten, die gebremst haben, nicht die
Europäische Union - bei der Sozialpolitik . Bei der Krisenpolitik stimme ich Ihnen zu . Da gab es eine soziale
Schieflage, die beendet werden muss. Aber wenn es um
Armutsbekämpfung und ähnliche Fragen ging, etwa um
den Aufbau einer sozialen Säule, dann ist die Europäische Union führend gewesen . Die Länder dürfen nicht
mehr bremsen . Auch die Bundesregierung, die in den
letzten Jahren viel gebremst hat, muss da endlich mitgehen und die soziale Säule in der Europäischen Union
weiter mit aufbauen .
({7})
Es darf nicht dabei bleiben, nur die sozialen Rechte
in den Mitgliedstaaten zu stärken, sondern wir müssen
auch dahin kommen, übergreifende soziale Sicherungssysteme zu schaffen, damit es Umverteilung gibt: nicht
von den reichen Ländern zu den armen Ländern, sondern
von den reichen Menschen zu den armen Menschen, von
den Reichen zu den Armen .
({8})
Wir brauchen eine Diskussion über eine europäische
Basisarbeitslosenversicherung und über andere Maßnahmen, die dazu beitragen, dass wir auch in der Europäischen Union mehr Umverteilung und mehr soziale Sicherung hinbekommen . Wir brauchen einen Green New
Deal in Europa .
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit .
({9})
Uwe Feiler hat nun das Wort für die CDU/CSU-Fraktion .
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr verehrte Gäste auf den Tribünen, insbesondere aus Oberhavel, Havelland, Potsdam-Mittelmark
und Potsdam! Ich freue mich, dass Sie an der heutigen
Europadebatte hier teilnehmen .
({0})
- Alle anderen natürlich auch .
Meine Damen und Herren, eine Kommission, die sich
auf die wichtigen Dinge konzentriert, eine Kommission,
die sich darauf konzentriert, die Dinge besser zu machen,
das sind die zwei Leitprinzipien, unter die die Europäische Kommission ihr Arbeitsprogramm für das Jahr 2017
stellt . Sie benennt dabei Prioritäten ihrer künftigen Arbeit
und listet parallel auf, welche Rechtsvorschriften einer
Evaluierung und Überprüfung unterzogen werden sollten . Die Kommission bekräftigt im Arbeitsprogramm
ihren Standpunkt, dass die Schwerpunktlegung beim Europäischen Semester auf drei Feldern liegen muss: Investitionen, gesunde Staatsfinanzen und Strukturreformen.
Das kann ich nur unterstreichen . Wir brauchen eine
zukunftsorientierte, weitsichtige Politik .
({1})
Strukturreformen bringen mehr Wettbewerbsfähigkeit .
Gesunde Staatsfinanzen sind eine unabdingbare Voraussetzung für Wachstum und Stabilität; sie sorgen dafür,
dass unsere Kinder nicht unsere Schulden bezahlen müssen . Investitionen bringen dabei den Fortschritt und sichern den Wohlstand .
Die Kommission will ihren Vorschlag zur Überprüfung des mehrjährigen Finanzrahmens mit dem Europäischen Parlament und dem Rat erörtern . Sie strebt einen
überarbeiteten, stärker an den Prioritäten der Union ausgerichteten Haushalt an, mit dem wir rascher auf unvorhergesehene Umstände reagieren können, der einfachere
Regeln für Finanzhilfeempfänger bereithält und stärker
ergebnisorientiert funktioniert . Die Europäische Union
muss - das ist mir wichtig - besser auf Veränderungen
mit einer finanziell unterfütterten Politik reagieren können .
({2})
Wir benötigen eine europäische Politik, die ein Gesamtkonzept darstellt . Der Haushalt muss eng mit den
Prioritäten der europäischen Politik verbunden sein . Wir
müssen diese Prioritäten benennen und dann auch nachDr. Wolfgang Strengmann-Kuhn
haltig umsetzen . Deswegen ist der Ansatz der Kommission, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren und dabei
die Umsetzung sowie die Wirkung der beschlossenen
Maßnahmen zu überprüfen, sehr wichtig . Dabei muss
der Fokus - das sage ich hier im Plenum nicht zum ersten
Mal - auf Politikfelder gerichtet werden, die die gesamteuropäischen Interessen vertreten .
Meine Damen und Herren, eine Diskussion über falsche und richtige Prioritäten im EU-Haushalt ist für mich
unabdingbar . Notwendig ist dabei, dass man die Ergebnisse endlich in die Tat umsetzt . Die Lösung des Problems ist nach wie vor, den Schwerpunkt auf Ausgaben
mit einem europäischen Mehrwert zu legen . Gemeinsame
Grenzsicherung, Bekämpfung des globalen Terrorismus,
Informationsaustausch, grenzüberschreitende Transportinfrastruktur, Energie- und digitale Netze, europäische
Forschung und Entwicklung - da muss das Geld hin . Davon profitieren dann alle Mitgliedstaaten.
({3})
Auch wenn die rechtzeitige Entwicklung der Wertschätzung für gesunde Ernährung ganz sicher wichtig
ist, ist es zweifelhaft, ob die millionenschweren Obstin-die-Schule-Programme aus EU-Geldern finanziert
werden müssen oder ob die Mitgliedstaaten hier nicht
eigenständig tätig werden sollten . Ein weiteres Problem
sind beispielsweise verfehlte Infrastrukturprojekte: vom
Fahrradweg ins Niemandsland bis hin zur sinnlos verlaufenden Autobahn . Es werden EU-Gelder zum Teil gesetzeswidrig ausgezahlt und aufgrund des hohen Verwaltungsaufwandes dann nicht zurückgefordert .
Stichwort „Better Spending“, Beachtung des Subsidiaritätsprinzips sowie laufende Kontrolle der Effizienz
und der Wirksamkeit der EU-Mittel bis hin zum Finanzierungsstopp für ihre Wirkung verfehlende Projekte das sind die entscheidenden Grundsätze, die bei der europäischen Ausgabenpolitik beachtet werden müssen .
({4})
- Nein, danke . - Das Subsidiaritätsprinzip muss stärker
auf die EU-Ausgaben angewandt werden, um dadurch
auch den europäischen Mehrwert der EU-Ausgaben zu
erreichen .
Herr Kollege, lassen Sie eine Zwischenfrage zu?
Nein . Lassen Sie mich erst einmal fertig werden . Auch die Effizienz und die Wirksamkeit der EU-Mittel
sollten - am besten laufend - überprüft werden . Ein Finanzierungsstopp für die ihre Wirkung verfehlenden Projekte könnte dann die letzte Konsequenz sein .
Die Kommission will einen umfassenden Vorschlag
für die Zeit nach 2020 in Bezug auf die Eigenmittel vorlegen . Sehr positiv zu bewerten ist die Tatsache, dass die
Kommission diesen Vorschlag mit den Ergebnissen der
Initiative für einen ergebnisorientierten EU-Haushalt
verbinden möchte . Die im Jahr 2015 gestartete EU-Initiative, die dafür sorgen soll, dass die EU-Mittel sinnvoll
zum Nutzen der Bürgerinnen und Bürger eingesetzt werden und dass alle Projekte, die die Union fördert, einen
klar erkennbaren Nutzen haben und ihr Geld wert sind,
ist ein nützliches Instrument .
Der Eigenmittelvorschlag soll laut dem Arbeitsprogramm auch mit der Abwägung der künftigen Herausforderungen und Bedürfnisse der Union nach 2020 im
Lichte der Erfahrungen mit der bisherigen Ausgabenpolitik und ihren Instrumenten verbunden werden . Das ist
ein sehr vernünftiger Vorschlag .
Wir sollten die Quellen der Haushaltsfinanzierung
reformieren; keine Frage . Hier wird der Bericht der sogenannten Monti-Gruppe eine gute Grundlage für die
anstehenden Verhandlungen bieten . Ich würde aber noch
einen Schritt weitergehen und sagen: Die Diskussion
über Einnahmen muss nicht nur im Lichte der Erfahrungen mit der bisherigen Ausgabenpolitik verbunden,
sondern auch zwingend grundsätzlich zusammen mit der
Diskussion über Ausgaben geführt werden .
({0})
Was wir brauchen, ist zum Beispiel eine haushaltspolitische Gesamtstrategie für den Umgang mit Krisen, damit wir nicht immer neue Ad-hoc-Instrumente benötigen .
Ein Ausdruck der Gesamtstrategie wäre ebenfalls,
wenn die EU-Mittel so weit wie möglich mit der Umsetzung der länderspezifischen Empfehlungen verbunden
wären. Die länderspezifischen Empfehlungen sollten
meiner Ansicht nach ausschlaggebend für die Auswahl
der aus den Kohäsionsmitteln finanzierten Projekte sein.
({1})
Projekte, die für den konkreten Mitgliedstaat Sinn
machen, die ihn voranbringen, die seine Strukturreformen umsetzen, verdienen die europäische Unterstützung
und stellen einen sogenannten Marshallplan, wie er von
Herrn Gysi gefordert wurde, dar . Es gibt ihn eigentlich
schon .
({2})
Die Kommission will den Binnenmarkt vertiefen und
gerechter gestalten . Dazu sollen die Binnenmarktstrategie, die Weltraumstrategie für Europa sowie der Aktionsplan für eine Kapitalmarktstrategie umgesetzt werden .
Auch auf die Vorschläge für eine faire Unternehmensbesteuerung und für die Bekämpfung des Steuerbetruges
geht die Kommission ein, was ich für essenziell halte . Die
Kommission betont, dass ein solider steuerrechtlicher
Rahmen für grenzüberschreitend tätige Unternehmen
einfach und effizient sein muss, aber auch gewährleisten
soll, dass diese Unternehmen einen fairen, tatsächlichen
Steuerbeitrag dort zahlen, wo sie ihre Gewinne erwirtschaften .
({3})
Erlauben Sie mir zum Schluss ein kurzes Plädoyer .
Das Motto des diesjährigen Programmes der Europäischen Kommission lautet: „Für ein Europa, das schützt,
stärkt und verteidigt“ . Auch wenn das Motto sicherlich
im Hinblick auf die neuen Herausforderungen gewählt
wurde, die auf die Massenmigration und auf die Gefährdung durch den internationalen Terrorismus zurückzuführen sind, möchte ich eines anmerken: Sich derart großen Herausforderungen im Alleingang stellen zu wollen,
wozu die Populisten europaweit aufrufen, ist irrsinnig .
({4})
Der Europäischen Union, dem Zusammenschluss von
28, leider wohl bald nur noch 27 Staaten, dem gemeinsamen Dialog, der Zusammenarbeit in politischer und in
wirtschaftlicher Hinsicht haben wir es zu verdanken, dass
wir das große Glück haben, seit Jahrzehnten in Frieden
zu leben sowie unseren Wohlstand sichern und ausbauen
zu können . Diese Aussage mag zwar banal klingen, kann
jedoch meiner Ansicht nach aktuell nicht oft genug wiederholt werden .
({5})
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit .
({6})
Nächster Redner ist der Kollege Joachim Poß für die
SPD-Fraktion .
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Europa macht sich im Moment
der Krise unter dem Eindruck des wachsenden Nationalismus in den Mitgliedstaaten und des weltweiten Populismus kleiner, als es tatsächlich ist, wie ich finde. Wir
nutzen die Potenziale, die in diesem demokratischen Gemeinwesen Europa stecken, nicht hinreichend aus . Wir
Proeuropäer machen nicht hinreichend deutlich, wofür
wir stehen: für Menschenrechte, für Rechtsstaat und für
Demokratie .
Wir müssen keine Angst vor den Populisten dieser
Welt haben . Wir sollten uns mal die wirtschaftlichen Ergebnisse in Russland oder in der Türkei anschauen . Diese Volkswirtschaften sind hochgradig gefährdet . Über die
Euro-Zone haben wir gerade in dieser und in der letzten
Woche gehört, dass wir die wirtschaftliche Stabilisierung
erreicht haben, im Übrigen mit der europäischen Hilfe
für Griechenland .
({0})
Herr Gysi, Sie als Meister der Halbwahrheiten können
natürlich nicht zu richtigen Schlussfolgerungen kommen, wenn Sie eine falsche ökonomische Analyse vornehmen . Wenn es nach Ihnen gegangen wäre, hätten wir
Griechenland überhaupt nicht geholfen .
({1})
Wir haben Griechenland aber massiv geholfen . Wir
werden Griechenland auch weiter helfen, weil wir das
europäische Projekt zusammenhalten wollen . Sie als
Linkspartei haben keine vernünftigen Antworten auf die
europäische Situation .
({2})
Sie verstricken sich ebenso in Widersprüche wie die
Rechtspopulisten mit ihrem unverantwortlichen Reden
und Handeln, meine Damen und Herren . Sie sind in dieser Hinsicht nicht wesentlich besser .
({3})
Schauen Sie sich einmal einige Reden Ihrer Fraktionskollegin Wagenknecht an, und analysieren Sie diese .
Also, was tun? Es sind doch nicht die Europäische
Kommission und die Europäische Union, die das Handeln
gegen Steuerdumping in Europa verhindern . Es sind die
Mitgliedstaaten - die Niederlande an erster Stelle, Belgien, Luxemburg, Malta, Irland -, die ein wirksameres und
erfolgreicheres Handeln der Europäischen Union gegen
Steuerdumping verhindern . Es sind Orban, Kaczynski
und Co ., die verhindern, dass wir in der Flüchtlingsfrage
erfolgreicher zusammenarbeiten . Das ist die Wahrheit,
meine Damen und Herren .
({4})
Wir müssen hier in diesem Parlament schon aussprechen,
was ist, und dürfen nicht unsere ideologischen Versatzstücke vortragen .
({5})
Die Bürgerinnen und Bürger verlangen ein Ende des
Steuerdumpings der multinationalen Konzerne . Das
verlangen sie von uns . Wenn wir nicht liefern, tauchen
solche Figuren wie Trump auf, der heute amerikanischer
Präsident wird .
({6})
Die Bürgerinnen und Bürger erwarten dann von ihm, dass
er handelt: von einem Mann - das muss man über den
zukünftigen amerikanischen Präsidenten sagen -, der ein
bekennender Spezialist im Umgehen der Steuerpflicht ist
und der mit seiner Praxis in den letzten Jahrzehnten bewiesen hat, dass er nichts vom Gemeinwesen versteht,
sondern nur etwas von der Ausbeutung von Menschen,
um es einmal deutlich zu sagen . Das ist die Realität, mit
der wir uns jetzt natürlich auseinandersetzen müssen . Es
sind die weißen Arbeiter, die ihn gewählt haben und eine
Veränderung ihrer Lebenssituation erwarten .
({7})
- Ich will mit dem Beispiel deutlich machen: Wenn die
weißen Arbeiter in Deutschland oder in anderen europäischen Ländern von den Populisten dieser Welt, ob
Rechts- oder Linkspopulisten, realitätstaugliche Antworten zur Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse erwarten,
dann werden sie nach aller geschichtlichen Erfahrung angeschmiert . Davor müssen wir die Menschen bewahren .
({8})
Es führt doch auch nicht weiter, dass Frau Theresa
May in ihrer Verlegenheit, eine vernünftige Antwort auf
die Brexit-Entscheidung ihres Landes zu finden, damit
droht, vor unseren Toren ein weiteres Steuerparadies entstehen zu lassen . Wir haben bereits Jersey, Guernsey und
andere vor der Haustür . Damit würden die Handlungsund Finanzierungsmöglichkeiten, die wir benötigen, verringert, um Investitionen und damit auch Arbeitsplätze
für diejenigen zu schaffen, die sich abgehängt fühlen.
Im Übrigen muss natürlich auch Deutschland seinen
Beitrag zur notwendigen Stabilisierung der Euro-Zone
und Europas leisten und noch mehr investieren . Wir haben mit dem Investitionsprogramm einen ersten Schritt
gemacht . Die Laufzeit dieses Programms wird bis 2020
verlängert .
Abschließend sage ich: Je unsicherer und gefährlicher
die Welt wird, desto mehr muss die Europäische Union
ihr Gewicht auf der internationalen Bühne zur Geltung
bringen . Angesichts unserer Wirtschaftskraft und unserer
demokratischen Substanz haben wir allen Grund, liebe
Kolleginnen und Kollegen, auch gegenüber denjenigen
selbstbewusst aufzutreten, die öffentlich vor Kraft kaum
laufen können und hinter deren Fassade es sehr hohl ist .
Vielen Dank .
({9})
Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist
die Kollegin Iris Eberl für die CDU/CSU-Fraktion .
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren Abgeordnete! Das Arbeitsprogramm der
EU-Kommission trägt den Titel „Für ein Europa, das
schützt, stärkt und verteidigt“ . Die Sicherheit der Bürger ist die Existenzberechtigung eines jeden Staates . Die
Bedrohung durch den islamistischen Terrorismus macht
die Verstärkung der Sicherheitsmaßnahmen zu einem
Kernanliegen in unserem Staat - in allen Unionsstaaten .
Gut, dass sich die Kommission mit diesem Kernproblem
befassen wird .
Im Arbeitsprogramm ist zu lesen: Europa ist an einem
kritischen Punkt angelangt . - Richtig! Das Brexit-Votum
muss für uns ein Weckruf sein . Die Europäische Union
ist keine Zwangsvereinigung; Ausscheiden ist im Vertrag
vorgesehen . Wenn unsere Antwort an Großbritannien
einer Abstrafung gleichkommt, beweisen wir, dass der
Respekt vor dem Wählerwillen in der Union verloren gegangen ist . Das wäre Wasser auf die Mühlen der Miesmacher der Union . Das darf nicht sein . Wir brauchen einen
fairen Deal mit Großbritannien .
Die Kommission beschreibt auch Probleme und Bedrohungen der Bürger und erklärt: Wir haben zugehört,
und wir haben verstanden . - Sie verspricht, eine Kommission zu werden, die sich darauf konzentriert, die Dinge besser zu machen . Das klingt gut, beweist Selbstkritik
und Einsicht . Aber warum, meine Damen und Herren, hat
die Kommission bisher nicht ihr Bestes gegeben, obwohl
sie weiß, dass sie für eine halbe Milliarde Menschen die
Verantwortung trägt?
Als Premierminister von Luxemburg beschrieb
Juncker 1999 die Strategie zur Integration wie folgt:
Wir beschließen etwas, stellen das dann in den
Raum und warten . . . ab, was passiert . Wenn es dann
kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil
die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen
wurde, dann machen wir weiter - Schritt für Schritt,
bis es kein Zurück mehr gibt .
Mit dieser undurchsichtigen Methode soll nun Schluss
sein . Deshalb will die Kommission - so steht es im Papier - in Zukunft ihr Tun den Bürgern besser erklären .
Aber das Problem der europakritischen Bürger ist weniger die Undurchsichtigkeit des Verfahrens, sondern es
sind die Inhalte .
2017 sind Wahlen in den Niederlanden, in Frankreich
und in Deutschland . Größte Vorsicht ist geboten, wenn
die Union nicht in ihrem Bestand gefährdet werden soll .
Trotzdem konzentriert sich das Arbeitsprogramm der
Kommission weiterhin auf jene zehn politischen Prioritäten, die Juncker bereits zu Beginn seiner Amtszeit als
Kommissionspräsident formuliert hatte . Das bedeutet
„weiter so“, befürchte ich .
Die Europäische Union existiert aber nicht zum Selbstzweck . Sie hat eine dienende Funktion gegenüber den
Mitgliedstaaten . Allen Ländern gleichermaßen gerecht
zu werden, ist eine sehr schwierige Aufgabe; denn was
dem einen Staat nützt, kann für den anderen sehr nachteilig sein . Für Deutschland benenne ich an dieser Stelle
das konjunkturelle Ankurbeln Junckers und die Nullzinspolitik der EZB als Negativbeispiele . Vielleicht nutzen
sie anderen Ländern - vielleicht -; Deutschland schadet beides . Das Ankurbeln überhitzt unsere Konjunktur .
Außerdem ist es von gestern. Staatliche Eingriffe in die
Wirtschaft verzerren den Wettbewerb; sie sind daher für
Marktwirtschaften schädlich .
({0})
Zu viel echte Marktwirtschaft kann man der EU nicht unbedingt vorwerfen, Frau Dr . Barley .
Die Nullzinspolitik hat sich, salopp formuliert, als
Slim-Fast-Programm für die Altersvorsorge unserer Bevölkerung entpuppt und das Vertrauen der Menschen
in die Union tief erschüttert . Dieses Vertrauen muss sie
zurückgewinnen . Aber stattdessen kam letzte Woche die
nächste fragwürdige Einmischung in nationales Recht .
Hohes Qualitätsniveau, Patientenschutz, Verbraucherschutz
({1})
identifiziert die Kommission als mögliche Wachstumsbremsen . Die Verhältnismäßigkeit von Berufsregeln soll
überprüft werden. Überflüssige nationale Qualifikationen
zur Berufsausübung sollen verhindert werden, um Wirtschaftswachstum ohne Barrieren anzukurbeln . Damit
wird die Ökonomie zum einzigen Maßstab für nationales
Berufsrecht und dem Pfusch wohl Tür und Tor geöffnet.
Meine Damen und Herren, wir brauchen eine schlanke
und flexible Europäische Union, die sich auf ihre Kernaufgaben konzentriert, keinen Superstaat, der sich in alle
Belange der Mitgliedstaaten einmischt . Subsidiarität und
Solidarität müssten eiserne Grundprinzipien werden . Solidarität darf keine Einbahnstraße sein . Wer sie einfordert, muss auch gemeinsame Lasten tragen; siehe Verteilung der Flüchtlinge .
({2})
Solidarität ist auch keine Hängematte . Bei unsolider
Haushaltspolitik in manchen Unionsstaaten muss verlangt werden, dass dort die Eigenverantwortung greift .
Jeder Staat muss seine nationale Einlagensicherung
schaffen. Eine Vergemeinschaftung von Schulden und
Risiken lehnt die CSU kategorisch ab . Verantwortung
und Haftung dürfen weder bei der Staatsverschuldung
noch im Bankensystem auseinanderfallen . Wir brauchen ein geordnetes Verfahren zur Restrukturierung der
Staatsschulden und eine Regelung zum Ausscheiden aus
dem Euro - zur Not, leider . Solidarität verlangt ebenfalls
die Einhaltung geschlossener Verträge, egal ob es um
die Verschuldung, die Regeln des Schengen-Vertrages
oder des Dublin-Abkommens geht . Solidarität bedeutet
Rechtstreue ohne Ausnahme von ohnehin flexiblen Regeln .
Aber was sind nun die markanten Kernaufgaben der
Union? Die Migrationskrise, der islamistische Terrorismus in Europa, Kriege in Syrien und der Ukraine sowie
die Situation in vielen anderen Krisengebieten verlangen
gemeinsame Anstrengungen . Die Gewährleistung unserer Sicherheit ist eine Kernaufgabe der Union . Hier brauchen wir die Europäische Union, und hier liegt auch ihr
Mehrwert für die Bevölkerung . Warum wurde Eurodac
nur sporadisch angewandt? Warum wird SIS nicht konsequent umgesetzt? Beide Systeme sind gut . Beide würden
funktionieren, aber nur, wenn alle Länder mitmachen .
Nun will die Kommission wieder handeln . Sie will
ETIAS einführen, sie will ECRIS ausweiten, und die
Kommission will rasch Verbesserungen und Erfolge erreichen . Sehr gut! - Weitere Kernaufgaben sind die faire
Lastenverteilung zwischen den Staaten, der gemeinsame
Grenzschutz, die Union als starker europäischer Pfeiler
der NATO und vieles mehr, wie Kollege Feiler bereits
ausgeführt hat .
Ich will mit dem vielbeschworenen Kernthema „Bekämpfung der Fluchtursachen“ schließen . Wenn sich
nichts ändert, werden sich bald 18 Millionen Afrikaner
auf den Weg nach Europa machen .
({3})
Und viel zu viele werden den Weg wieder nicht überleben . Deshalb brauchen wir eine europäisch-afrikanische
Partnerschaft . Die Kommission will bis zum EU-Afrika-Gipfel Ende 2017 ein Konzept mit Prioritäten für die
Beziehungen der Union zu Afrika erarbeiten . Die Industrie sieht Afrika als kommenden Kontinent . Minister
Müller hat seinen Marshallplan für Afrika vorgestellt .
Helfen wir den afrikanischen Ländern, echte Handelspartner für Europa zu werden .
Europa steht ungebrochen für den Traum eines Lebens
in Frieden, Freiheit und Wohlstand . Setzen wir diesen
Traum nicht aufs Spiel . Stehen wir zu unserer Europäischen Union der Bürger .
Ich danke für die Aufmerksamkeit .
({4})
Ich schließe die Aussprache .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung und Erweiterung der Beteiligung
bewaffneter deutscher Streitkräfte an der
Multidimensionalen Integrierten Stabilisierungsmission der Vereinten Nationen in Mali
({0}) auf Grundlage der Resolutionen 2100 ({1}), 2164 ({2}), 2227 ({3}) und
2295 ({4}) des Sicherheitsrates der Vereinten
Nationen vom 25. April 2013, 25. Juni 2014,
29. Juni 2015 und 29. Juni 2016
Drucksache 18/10819
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({5})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO
Für die Debatte zu diesem Tagesordnungspunkt sollen
nach einer interfraktionellen Vereinbarung 38 Minuten
Redezeit zur Verfügung stehen. - Das ist offenkundig
unstreitig . Also können wir so verfahren .
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen .
({6})
Vielen Dank, Herr Präsident . - Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Mit Bestürzung
haben wir am Mittwoch von dem Anschlag auf den Militärstützpunkt der malischen Gefechtsverbände erfahren . Wir trauern mit den Hinterbliebenen der mindestens
70 Toten, und wir wünschen den über 100 Verwundeten
baldige Genesung .
Meine Damen und Herren, dieser niederträchtige Anschlag richtete sich gezielt gegen eines der Herzstücke
des Friedensvertrages, der in Mali umgesetzt werden
soll . Diejenigen, die vor kurzem mit auf der Einsatzreise
auch in Mali gewesen sind, wissen, dass es sehr schwierig war, die Zusammensetzung gemischter Patrouillen
auf den Weg zu bringen, denen sowohl Kräfte der malischen Regierung als auch Kräfte der Rebellen angehören,
die bereit waren, die Waffen niederzulegen. Es ist sehr
schwierig gewesen, beide Seiten davon zu überzeugen .
Sie haben das jetzt geschafft und sind bald gemeinsam
auf Patrouillen unterwegs . Insofern zeigt dieser Anschlag
auf das Lager einer dieser gemischten Patrouillen, dass
es nach wie vor Terroristen gibt, die gezielt den Friedensvertrag torpedieren und damit Mali in die Instabilität
bringen wollen . Umso wichtiger ist es, dass die Weltgemeinschaft an der Seite Malis steht und dort konsequent
hilft .
({0})
Wir bitten Sie heute um Unterstützung für einen der
anspruchsvollsten Einsätze, den die Bundeswehr hat .
Es ist einer der gefährlichsten VN-Einsätze, wenn nicht
der gefährlichste überhaupt . Es ist der zentrale Einsatz
auf unserem Nachbarkontinent Afrika . Denn Mali ist ein
Schlüsselland in der Sahelzone, ein Schlüsselland, das
Stabilität herstellen kann oder Fragilität hervorbringt .
Dort verläuft die Route für Migration, aber auch die
Route für Schleuser und Schlepper, die Menschen vom
Süden in den Norden bringen, sowie für Drogen- und
Waffenschmuggel und andere Formen der organisierten
Kriminalität .
Die Menschen dort brauchen Schutz - sie brauchen
Schutz vor Terror, sie brauchen Schutz vor Kriminalität -, aber sie brauchen natürlich auch Alternativen .
Sie brauchen sicheren Zugang zu Wasser, sie brauchen
Straßen, Jobs, sie brauchen Perspektiven . Das Durchschnittsalter in Mali beträgt 16 Jahre, und diese jungen
Menschen möchten wissen, wo ihre Zukunft liegt .
Es ist deshalb richtig, dass sich Deutschland dort sehr
vielschichtig engagiert . Mir ist es im Zusammenhang mit
dem MINUSMA-Mandat wichtig, deutlich zu machen,
dass unser Engagement in Mali eigentlich ein Paradebeispiel für den vernetzten Ansatz ist . Ganz konkret: Das
Auswärtige Amt kümmert sich mit Rat und Tat um den
Friedensprozess, um die Beratung der malischen Regierung, ist um Aussöhnung bemüht . Wir engagieren uns
in Mali entwicklungspolitisch . Ich bin dem BMZ sehr
dankbar, dass es dort vielfältig engagiert ist - beim Aufbau von Verwaltungsstrukturen, bei landwirtschaftlichen
Projekten, beim Errichten der Wasserversorgung . Die
Projekte sind eng koordiniert . Wir haben dankenswerterweise seit Dezember einen zivilen Berater in Gao .
Wir engagieren uns in Mali vielfältig, nicht nur im
Hinblick auf die wirtschaftliche Entwicklung und den
Versöhnungsprozess, sondern auch im Hinblick auf Stabilität . Das Innenministerium hilft bei der Ausbildung
der Polizei . Wie Sie wissen, engagiert sich die Bundeswehr im Rahmen der europäischen Trainingsmission bei
der Ausbildung der lokalen Truppen . Zwei Drittel der
malischen Gefechtsverbände haben wir ausgebildet .
Mali profitiert auch von Mitteln aus dem Ertüchtigungsfonds - im letzten Jahr waren es 7,5 Millionen
Euro, in diesem Jahr sind 15 Millionen Euro geplant . Um
nur einige Themen zu nennen: Es geht hierbei um die
Ertüchtigung des Flugplatzes in Gao, die so wichtig ist wir haben es bei der letzten Einsatzreise dort gesehen -,
und um Investitionen in den Garnisonsstandort Kati . Es
geht aber eben auch um 16 Ambulanzfahrzeuge für die
malischen Gefechtsverbände, die wir ausgebildet haben,
damit auch dort mit dem Aufbau einer Rettungskette begonnen werden kann .
Wir beteiligen uns auch an der Mission der Vereinten
Nationen, MINUSMA, um die es heute geht . Man sieht
bei dieser Friedensmission, bei der über 15 000 Soldatinnen und Soldaten im Einsatz sind - es ist eine große
Mission -: Sie steht und fällt mit der Frage, wie diese
Soldatinnen und Soldaten ausgestattet und ausgerüstet
sind und mit technischen Fähigkeiten unterstützt werden . Die Vereinten Nationen können nur so gut sein, wie
die Mitgliedstaaten sie ausrüsten . Deshalb ist es wichtig,
dass wir mit unseren Kapazitäten dort in Mali sind .
Das gilt besonders für die Aufklärung . Wir haben, wie
Sie wissen, mit der Luna angefangen; wir sind jetzt mit
der Heron da . Die Heron bedeutet einen Riesenschritt
vorwärts, wenn es darum geht, die Aufklärung in diesem
gewaltig großen nördlichen Gebiet - die benötigte Reichweite liegt zwischen 200 und 900 Kilometern - sicherzustellen . Ich möchte an dieser Stelle sagen: Seit die Heron
da ist - seit November -, hat sie über 520 Flugstunden
absolviert, und es gab keine einzige Störung . Es läuft alles, wie es sollte . Ich glaube, gerade weil es so gut läuft,
wird darüber nicht berichtet . Es wird meistens nur dann
über etwas berichtet, wenn die Dinge schiefgehen . Ich
möchte an dieser Stelle schlicht und einfach denjenigen,
die diese Heron in Gang gesetzt haben und betreiben, dafür danken, dass das alles dort so unkompliziert läuft .
({1})
Das war der Teil des Mandates, den wir kennen und
für den wir um Verlängerung bitten . Der zweite Teil des
Mandates betrifft den Schutz.
Sie alle wissen, dass die Niederländer in den letzten
drei Jahren die Rettungskette gestellt haben . Sie hatten
für zwei Jahre geplant, fanden aber niemanden, der sie
ablöst, sodass sie inzwischen schon drei Jahre dort sind .
Die Vereinten Nationen suchen nun eine Nation, die in
der Lage ist, diese Hochwertfähigkeiten zur Verfügung
zu stellen, nämlich MedEvacs und Kampfhubschrauber,
die schützen können . Wir haben auf Bitten der Vereinten
Nationen gesagt, dass wir diese Aufgabe gerne übernehmen wollen, weil sie für das Mandat unverzichtbar ist aber auch nur vorübergehend . Das heißt, wir werden dort
vier MedEvac-NH90-Hubschrauber stationieren und vier
Tiger nach Mali entsenden . Die Tiger können wegen
der guten Sensoren zur Aufklärung, aber eben auch zum
Schutz der eigenen Kräfte und der MINUSMA sowie zur
Nothilfe eingesetzt werden .
Wir wollen unseren Beitrag leisten; denn die Erfahrung zeigt: Wir können uns nicht beschweren, dass
VN-Missionen nicht funktionieren, wenn wir nicht bereit sind, auch unseren Beitrag zu leisten . Deshalb erfolgt auch eine Erhöhung der Obergrenze von 650 auf
1 000 Soldatinnen und Soldaten . Das ist aufgrund des
Einsatzes der acht Hubschrauber notwendig .
Wir haben dem VN-Generalsekretär aber angezeigt,
dass wir darum bitten, dass er bereits jetzt für Nachfolgekräfte sorgt, da wir in eineinhalb Jahren abgelöst werden wollen . Wir halten es für richtig, dass wir bei diesen
Hochwertfähigkeiten, die nur wenige Nationen aufbieten
können, zu einem geregelten Rotationssystem kommen,
sodass es für die einzelnen Nationen leichter ist, für einen
überschaubaren Zeitraum dort hinzugehen, da sie wissen,
dass eine andere Nation, die ebenfalls in der Lage ist, das
zu leisten, sie danach ablöst .
Es gibt einen weiteren Punkt, der mir bei diesem Mandat wichtig ist und den ich noch kurz erwähnen möchte .
Es geht um die Vergütung des Personals . Unser Personal
arbeitet in diesem schwierigen und fordernden Einsatz
unermüdlich . Das bedarf meines Erachtens einer besonderen Würdigung . Deshalb ist es mir ein besonderes Anliegen, dass wir in der Lage sind, die Vergütung dementsprechend anzupassen . Wir bereiten das im Augenblick
vor .
Sie wissen, dass wir das mit dem Innenministerium
und dem Außenministerium abstimmen müssen . Ich bin
aber sehr guter Dinge, dass wir für Mali künftig die Stufe 6 und nicht wie bisher die Stufe 5 des AVZ erreichen
und die Vergütung entsprechend erhöhen können . Ich
glaube, das ist angemessen für die Soldatinnen und Soldaten in Mali .
({2})
In diesem Sinne bitte ich um die Verlängerung des
Mandates .
Danke schön .
({3})
Christine Buchholz erhält nun das Wort für die Fraktion Die Linke .
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung will die Beteiligung der Bundeswehr an der
UN-Mission MINUSMA in Mali von 650 auf 1 000 Soldaten erhöhen . Damit wird der Einsatz in Mali der größte
deutsche Militäreinsatz .
({0})
Aber nicht nur das: Erstmalig werden auf der Grundlage dieses Mandats deutsche Kampfhubschrauber in den
Norden Malis verlegt .
({1})
Mit diesem Mandat verstrickt die Bundesregierung die
Bundeswehr potenziell in einen Krieg mit den Aufständischen im gefährlichen Norden Malis . Das erinnert mich
verdammt an die frühe Phase des Afghanistan-Kriegs .
Die Regierung will die Bundeswehr in der Sahelzone zu
einer militärischen Größe machen, die wie Frankreich in
der Lage ist, in dieser rohstoffreichen Region Krieg zu
führen . Die Linke wird diesem Mandat selbstverständlich nicht zustimmen .
({2})
Auf dem Papier soll MINUSMA den Frieden sichern .
Erst vorgestern wurden in Gao bei einem Angriff von
Aufständischen über 70 Soldaten der neuen gemeinsamen Einheiten der malischen Armee getötet .
({3}):
Von wem denn?)
Das ist schrecklich, und unser Mitgefühl gilt den Angehörigen . Es ist aber auch wichtig, zu sehen: Das Camp, in
dem sich die Bundeswehr aufhält, ist keine 2 Kilometer
davon entfernt . Unmittelbar vor dem Bundeswehrcamp
sprengte sich am 29 . November ein Selbstmordattentäter in die Luft . Glücklicherweise wurde niemand ernsthaft verletzt . Den Frieden, den MINUSMA sichern soll,
gibt es nicht . Weil das so ist, droht die Mission selbst zur
Konfliktpartei zu werden. Das muss hier ehrlich gesagt
werden .
({4})
Vier Rettungs- und vier Kampfhubschrauber der Bundeswehr sollen nach Mali verlegt werden, nach Gao .
Frau von der Leyen spricht vor allem von den Rettungshubschraubern. Das kommt in der Öffentlichkeit natürlich besser an . Aber ich sage: Wieder einmal wollen Sie
der Bevölkerung Sand in die Augen streuen . Das machen
wir nicht mit .
({5})
Mit der Fähigkeit, Rettungsaktionen durchzuführen,
vergrößert sich der Aktionsradius der Bundeswehr und
damit auch das Risiko, selbst Zielscheibe von Angriffen
zu werden . Genau das bestätigte mir ein Soldat im persönlichen Gespräch, als ich im Dezember letzten Jahres
für meine Fraktion die Ministerin nach Mali begleitete . Im Mandatstext selbst ist neuerdings vom „aktiven
Schutz des Mandats durch das Bekämpfen asymmetrischer Angriffe“ die Rede. Das heißt, dass die Kampfhubschrauber zur Bekämpfung militärischer Ziele eingesetzt
werden können . Aus Afghanistan wissen wir, wie die
Bundeswehr Stück für Stück in eine offensive Kampfoperation hineingeführt wurde . Frau von der Leyen, mit
der jetzigen Aufstockung sorgen Sie möglicherweise für
eine Eskalation des Konflikts. Auf jeden Fall setzen Sie
die Bundeswehrsoldaten einem erhöhten Risiko aus . Beides halten wir für verantwortungslos .
({6})
Es gibt eine weitere Ähnlichkeit zu Afghanistan .
MINUSMA hat in Mali die Unterstützung der Regierung,
aber nicht der Bevölkerung . Ich habe in Mali die Rede
des Gouverneurs von Gao gehört . Der Eindruck entstand,
die gesamte Bevölkerung Gaos stehe hinter MINUSMA .
Was er nicht erwähnte, war: In Gao gab es vor einem halben Jahr wütende Demonstrationen, weil sich viele junge
Menschen bei der Umsetzung des Friedensabkommens
benachteiligt sehen . Die malische Armee hat Demonstranten auf offener Straße erschossen. Das ist leider kein
Einzelfall .
Die deutschen Soldaten bewegen sich in Gao als Fremde, abgeschottet von der Bevölkerung . Je unsicherer die
Lage wird, desto mehr wird sich das deutsche Kontingent
einigeln . Das Magazin des Reservistenverbandes Loyal
berichtete jüngst, wie eine deutsche Patrouille in Gao
nicht nur mit der extremen Hitze, sondern auch mit unterkühlten Reaktionen der Bevölkerung zu kämpfen hat .
Sogar ein Stein flog auf das geschützte und bewaffnete
Transportfahrzeug der Bundeswehr . Auf die Frage nach
dem Sinn des Einsatzes zitierte das Blatt den Patrouillenführer: „Aber meinen Verwandten daheim kann ich
nicht erklären, warum ich in Mali bin und was wir hier
erreichen wollen .“
Die Lage in Mali ist so unsicher, dass die Bundeswehr
nun auch Kampfhubschrauber vor Ort stationieren soll .
Doch gleichzeitig erklärt die EU mit deutscher Unterstützung Mali als sicher genug, um dem Land ein Rückführungsabkommen für Flüchtlinge aufzuzwingen . Wenn es
um die Rechtfertigung des Militäreinsatzes geht, dann
führen Sie das Leid der Malier an . Doch wenn Malier in
Europa Asyl beantragen, dann schieben Sie diese wieder
in die Unsicherheit ab . Das ist heuchlerisch und zynisch .
({7})
Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Rainer Arnold
das Wort .
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Jede Krise in der Welt ist eine eigene Herausforderung .
Aber auf Mali zu schauen, lohnt sich schon aus grundsätzlichen Erwägungen . In Mali zeigt sich ein Stück weit
exemplarisch, wie die Verantwortung unseres Landes in
der Welt in Zukunft eher aussehen könnte .
Das Erste, was wir aufgrund der Situation in Mali
feststellen können, ist: Die Welt darf nicht einfach zuschauen - das hat sie auch nicht gemacht -, wie ein Land,
das von seiner Lage her für uns sicherheitspolitisch extrem wichtig ist, zerfällt und Staatlichkeit zerbröselt .
Man sieht aber auch, dass es meistens zu spät ist, bis die
Staatengemeinschaft reagiert . Hätte Frankreich nicht auf
einen Einsatz gedrungen, hätten Aufständische nicht nur
die Mitte und den Norden des Landes unter Kontrolle
gehabt, sondern wären auch auf die wichtige Hauptstadt
Bamako zumarschiert, dann gäbe es einen weiteren zerfallenden Staat, ein weiteres Somalia .
Es gilt Lehren aus Mali zu ziehen . Die These von Frau
Buchholz, der Einsatz in Mali werde dem in Afghanistan zunehmend ähnlicher, ist einfach falsch und an den
Haaren herbeigezogen .
({0})
Die Vorgehensweise in Mali beruht auf den Lehren, die
wir aus Afghanistan gezogen haben . In Bezug auf Afghanistan hat man geglaubt, man könne mit 130 000 Soldaten in ein fremdes Land gehen, um dort Staatsaufbau auch militärisch unterstützt - zu betreiben . Es hat in der
Tat nicht funktioniert, von außen kommend Staatlichkeit
mit Militär herzustellen .
In Mali läuft es anders . Dort will man die örtliche Sicherheitsstruktur so stärken, dass das Land eben selbst
mit seinen Problemen umgehen kann . Deshalb wird es in
Zukunft in die Richtung gehen, mehr Ausbildungs- und
Ausstattungsmissionen in die Welt hinauszuschicken .
Das sind Lehren, die gezogen wurden . Deshalb sollten
Sie nicht derartige Vergleiche ziehen .
Eine weitere Lehre ist: Die örtliche Politik muss stärker in die Pflicht genommen werden. Wir dürfen in Bezug auf die Akteure in Mali und in anderen Ländern nicht
zulassen, dass sich diese in gleichem Maße, wie es internationales Engagement gibt, auf ebendieses Engagement
verlassen . Das heißt, wir müssen dort schon deutliche Signale senden und überprüfbare Schritte einfordern, damit
die betroffenen Länder in der Lage sind, ihre Geschicke
in die eigene Hand zu nehmen. Was Mali anbetrifft, müssen wir dafür sorgen, dass die Reformen, die in diesem
Land notwendig sind - insbesondere im Bereich der Dezentralisierung -, von der eigenen Regierung angegangen werden . Wir müssen in diesem Bereich schieben und
drängen . Auch dies ist eine Lehre .
({1})
Niemand glaubt - das gilt auch für Mali -, dass man
mit Militär allein die Probleme beheben und die Strukturen verändern kann . Es geht immer um den vernetzten
Ansatz . Deutschland engagiert sich in Mali in ganz besonderer Weise beim zivilen Aufbau und auch im Bereich
Beratung der Regierung . Das geschieht, damit endlich
besser regiert werden kann .
Und nicht zuletzt: Weil Militär allein die Probleme
nicht überwinden kann, brauchen solche Gesellschaften - auch das zeigt Mali - eben auch Versöhnungsprozesse . Es war richtig und gut, dass die Nachbarstaaten
ihrer Verantwortung in Mali ein Stück weit gerecht geworden sind und mitgeholfen haben, dass der Friedensvertrag in Algerien ausverhandelt werden konnte . Auch
dies zeigt, in welche Richtung es in Bezug auf solche
Staaten zukünftig gehen muss .
Die Soldaten und die acht Hubschrauber, die wir
jetzt dorthin schicken, sind ja in erster Linie dort, um
mitzuhelfen, dass der ausgehandelte Friedensvertrag
implementiert wird . Sie haben nicht den Auftrag, dort
mit militärischer Gewalt Sicherheit herzustellen . Dafür
sind es übrigens auch viel zu wenige . Man kann nicht
mit 12 000 UN-Soldaten und Polizisten ein Gebiet unter
Kontrolle bringen, das dreimal so groß ist wie die Bundesrepublik . Es geht also darum - das ist ganz klar -,
dort, wo es notwendig ist, Menschen zu schützen und
nicht wegzuschauen . In erster Linie geht es darum, dafür zu sorgen, dass der schwierige Weg hin zum Frieden
möglich ist und der Friedensvertrag eingehalten wird .
Mali zeigt exemplarisch auch die schwierigen und tragischen Seiten der zukünftigen Einsätze . Denn wir merken, dass es sich nicht nur um einen Akteur als Gegner
handelt . Vielmehr gibt es in solchen Staaten meist eine
Verbindung zwischen fundamental-islamistischen Terroristen, schnöden kriminellen Banden und Verfechtern
ethnischer Interessen . Dabei handelt es sich um temporäre Verbindungen . Das macht die Aufgabe dort so schwierig .
Wir sind - die Frau Ministerin hat es angesprochen gerade auch in dieser Stunde in Gedanken bei all den
Soldaten und Zivilbeschäftigten der Vereinten Nationen,
die dort vor zwei Tagen bei diesem fürchterlichen und
grausamen Anschlag ums Leben gekommen sind . Das
stecken wir nicht einfach so weg . Wenn ausgerechnet die
Menschen, die man zum ersten Mal - weil sie in der Vergangenheit Feinde waren - in einer Kaserne zusammengeführt hat, damit sie gemeinsam den Frieden in Mali
erreichen, Opfer von Anschlägen werden, geht uns das
schon sehr nahe . Und das Camp der Deutschen ist nicht
weit vom Anschlagsort - 1,3 Kilometer - entfernt .
Frau Ministerin, ich sage es deutlich: Es ist extrem
wichtig - das ist Ihre allerwichtigste Aufgabe -, dafür zu
sorgen, dass der Einsatz der Soldaten aufgrund der damit
verbundenen Risiken und Gefahren entsprechend gewürdigt wird . Das muss beim AVZ, also beim Auslandsverwendungszuschlag, sichtbar werden . Es darf nicht Monate dauern, bis an dieser Stelle eine Verbesserung erreicht
wird, sondern es müsste eigentlich schon gestern geschehen sein .
({2})
Mali zeigt natürlich auch die Schwächen unserer eigenen Streitkräfte . Die Finanzierung der Bundeswehr ist
mit diesem zusätzlichen Engagement in vielen Bereichen
noch mehr „auf Kante genäht“ . Es fehlen nun einmal
Aufklärer, die Luftbilder der Drohnen auswerten können .
Wir haben einen Mangel im medizinischen Bereich und
auf vielen anderen Gebieten . Deshalb ist es richtig, dass
dort ein Helikoptereinsatz auf Zeit zugesagt wurde .
Wir Sozialdemokraten wünschen uns schon lange,
dass wir und die westlichen Industriestaaten insgesamt
mehr Verantwortung bei den 17 UN-Friedensmissionen
übernehmen . Verantwortungsübernahme dort kann aber
nicht bedeuten: Man geht dort erst einmal hinein und
bleibt dann zehn Jahre dort . Dies kann die Bundeswehr
nicht wirklich leisten, weil wir insbesondere in Osteuropa eine ganze Reihe ähnlich wichtiger Verpflichtungen
haben .
Insofern ist dieser Weg von vornherein gut . Wir statuieren ein Exempel und sagen: Wir führen diesen Einsatz
für ein Jahr durch, und dann müssen andere leistungsfähige Staaten ihn ergänzen . Das sollten wir in anderen
Bereichen ähnlich handhaben .
Herr Kollege .
Dann könnten wir den Vereinten Nationen noch mehr
helfen, als wir es im Augenblick tun .
Dieser Einsatz ist also richtig und notwendig . Die
Linken haben keine Antwort auf die Frage, was dort zu
geschehen hat .
Herr Kollege .
Ich bin fertig, Herr Präsident . - Die Linken würden
dieses Land den Terroristen und den Kriminellen einfach
überlassen und wegschauen . Dies ist doch keine verantwortungsvolle Politik . Wir handeln anders .
Vielen Dank .
({0})
Frithjof Schmidt hat nun das Wort für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Fraktion hat den Einsatz der Vereinten Nationen und der Europäischen Union von Anfang
an unterstützt . Frau Buchholz, die entscheidende Frage
ist, ob man der Meinung ist, dass es richtig ist, dass die
UNO dort ist, oder ob man sagt, sie sollte sich dort lieber
heraushalten . Wir sind der Meinung, es war richtig und
notwendig .
Man muss noch einmal kurz daran erinnern: 2012
stand Mali kurz vor dem Zusammenbruch . Die islamistischen Kämpfer rückten direkt auf die Hauptstadt Bamako vor . Es drohte eine humanitäre Katastrophe . Nur
durch das schnelle Eingreifen Frankreichs konnte diese
schlimme Entwicklung gestoppt werden . Ich sage, es
war richtig, das zu unterstützen, und es war richtig, dass
die UNO dann mit MINUSMA die Verantwortung im
Land übernommen hat, dass die UNO auch gesagt hat:
Wir sind für die Bewältigung dieser Krise zuständig . Die
Frage, die Sie politisch beantworten müssen, ist, ob Sie
das falsch finden. Falls ja, entspricht das Ihrer bisheriRainer Arnold
gen Logik . Aber wenn Sie sagen: „Es ist richtig, dass die
UNO die Verantwortung für die Bewältigung dieser Krise übernimmt“, dann müssen Sie auch sagen, welchen
Beitrag wir leisten und wie wir unterstützen wollen .
({0})
Ich finde, diese Frage müssen Sie politisch beantworten.
Vor allem ist es der UNO zu verdanken, dass es einen
politischen Friedensprozess gibt und dass 2015 ein Friedensabkommen zwischen der malischen Regierung und
den verschiedenen Tuareg-Gruppen zustande gekommen
ist . Der verheerende Selbstmordanschlag in Gao mit zig
Toten zeigt deutlich, wie sehr der Friedensprozess gerade
ins Stocken geraten ist . Da gibt es nichts schönzureden .
Das Ganze unterstreicht dramatisch, was die Vereinten Nationen seit mindestens zwei Jahren immer wieder
sagen: Der Einsatz in Mali gehört zu den gefährlichsten
der UNO überhaupt. Immer wieder flammen Kämpfe
zwischen der Zentralregierung und den Rebellengruppen
auf, und immer wieder geraten dabei Blauhelme zwischen die Fronten . Uns liegen die Zahlen vor - sie sind
erschreckend -: 106 UN-Soldaten haben in den letzten
drei Jahren bei diesem Einsatz ihr Leben verloren, und
in diesem Gebiet sind über 170 000 Menschen auf der
Flucht .
Die UN-Basis am Flughafen Gao ist zentral für die
Stabilisierung der Sicherheitslage im Norden von Mali,
und sie ist auch wichtig für die Versorgung und den
Schutz vieler Menschen in der Region . Deswegen sagen
wir: Es ist richtig, dass die Bundeswehr den Einsatz in
Gao seit einem Jahr mit über 500 Soldatinnen und Soldaten im Bereich der Aufklärung und der Absicherung des
Flughafens und der UN-Konvois unterstützt hat .
Ich empfehle meiner Fraktion, die Erweiterung dieses Einsatzes im neuen Mandat zu unterstützen . Es geht
um die Evakuierung von verletzten Blauhelmen durch
vier medizinisch entsprechend ausgerüstete Hubschrauber . Man muss sagen: Wenn man der Meinung ist, der
UN-Einsatz sei richtig, dann ist die Aufrechterhaltung
der Rettungskette für die Blauhelme im Einsatz humanitär absolut notwendig und richtig . Da kann es kein Vertun
geben .
({1})
Auch die Absicherung von UN-Konvois aus der Luft
mit vier Kampfhubschraubern ist sinnvoll und notwendig . Wenn dort Luftfracht auf die Konvois umgeladen
wird, dann müssen sie abgesichert werden . Das wurde
gerade auch in einem Bericht an den UN-Sicherheitsrat
wieder festgestellt . Den Vereinten Nationen fehlt es an
solchen Hubschraubern . Ohne sie könnte man den Einsatz im Norden Malis nicht weiterführen . Das wäre fatal .
Denn politisch ist klar: Wenn der Blauhelmeinsatz im
Norden scheitert, dann steht auch der malische Friedensprozess auf der Kippe . Die Folgen für die gesamte Sahelregion und Westafrika wären nicht absehbar . Deswegen
unterstützen auch wir den Einsatz .
Allerdings erwarten wir von der Bundesregierung,
dass sie Klartext spricht, was die möglichen Materialprobleme angeht, vor allen Dingen im Bereich der für diesen Einsatz vorgesehenen Hubschrauber . Man hört, der
Einsatz der Hubschrauber sei auf Mitte 2018 begrenzt,
weil die Durchhaltefähigkeit des Einsatzes höchstens bis
dahin zu gewährleisten sei . Herr Arnold, Sie haben das
ja gerade als Tugend dargestellt und gesagt: Wir haben
einen Plan . - Frau von der Leyen hat gesagt: Das ist ein
politisches Konzept . - Man hört, dass es erhebliche Probleme gibt . Es kommen auch Fragen nach der Einsatzfähigkeit der Kampfhubschrauber auf . Ich sage: Unsere
Soldatinnen und Soldaten, aber auch wir Abgeordneten
erwarten von der Bundesregierung ganz klare Aussagen
über mögliche Risiken . Die Sicherheit der Hubschrauber
darf nicht infrage stehen. Ich hoffe, dass Sie das eindeutig klären können .
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der militärische
Einsatz der Vereinten Nationen kann humanitäre Hilfe
absichern und Hilfestellung für die politische Lösung der
Konflikte in Mali leisten. Der stockende Friedensprozess
gehört ins Zentrum der internationalen Bemühungen .
Ich glaube, es muss mehr getan werden . Wir sehen, dass
dieser Prozess gerade in einer ganz kritischen Phase ist .
Wenn dieser Einsatz nicht gelingt, dann werden wir mit
Sicherheit ganz große Probleme bekommen . Deswegen
erwarten wir von der Bundesregierung und der Europäischen Union ein intensives politisches Engagement . Das
muss angemessen adressiert werden . Ich glaube, da gibt
es noch Luft nach oben . Dafür haben Sie jedenfalls unsere Unterstützung .
Danke für die Aufmerksamkeit .
({3})
Vielen Dank . - Nächster Redner ist Jürgen Hardt,
CDU/CSU-Fraktion .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion unterstützt den Antrag der Bundesregierung auf Verlängerung und Erweiterung des MINUSMA-Mandats . Ich freue mich, dass diese Debatte zeigt, dass die verantwortungsvollen Kräfte
dieses Hauses mit großer Geschlossenheit hinter diesem
Einsatz stehen .
({0})
Deutschland hat Mali nicht umsonst ins Zentrum seiner Bemühungen um Frieden im westlichen Afrika gerückt . Wir haben durch zahlreiche Besuche von Ministern, aber auch der Bundeskanzlerin unterstrichen, wie
sehr uns daran liegt, dass in diesen Ländern eine positive
demokratische und stabilisierende Entwicklung voranDr. Frithjof Schmidt
geht und dass insbesondere in Mali der Friedensprozess
zu einem guten Ergebnis führt . Denn der innere Frieden
eines Landes ist natürlich Voraussetzung, dass man sich
gegen äußere Feinde bzw . Gegner wirksam schützen
kann .
Wer die geografische Lage Malis betrachtet, sieht auf
den ersten Blick, dass Mali für den gesamten westafrikanischen Raum ein enorm wichtiges Land ist . Wir haben die Weiten der Sahara mit nahezu unkontrollierbaren
Transportwegen für Waffen- und Menschenschmuggel.
Wir haben im westlichen Afrika eine ganze Reihe von
Staaten, die positive Erfolge zeitigen mit Blick auf die
Demokratisierung . Islamistische Kräfte könnten aber natürlich jede Instabilität und jedes Wanken sofort nutzen,
um diese Staaten zu destabilisieren . Wie fragil manchmal
die demokratische Entwicklung ist, sehen wir in Gambia .
Wir haben in Gambia die Situation, dass ein Präsident
sein Amt nicht verlassen will . Es gibt einen demokratisch
gewählten neuen Präsidenten - von beiden Präsidentschaftskandidaten ist die Wahl ja als richtig anerkannt
worden -, während der alte Präsident nicht weichen will .
Ich kann hier nur appellieren, dass Präsident Yahya Jammeh das Amt an den neuen legitimen Präsidenten Barrow
übergibt . Das zeigt, wie wichtig es ist, dass die Region
stabil bleibt und dass wir verhindern, dass der Islamismus in dieser Region Fuß fasst .
Der Einsatz in Mali ist ein gefährlicher Einsatz . Wir
haben bei jeder Bundestagsdebatte hier vorgetragen, dass
wir unsere Soldatinnen und Soldaten wirklich gut schützen müssen und dass wir uns auch nichts vormachen dürfen . Wir haben gesehen, dass die Zahl der Anschläge in
den letzten Jahren weiter zugenommen hat . Das Problem
hat sich vor allem Richtung Süden entwickelt, weil genau
dort die Wege sind, auf denen der Terrorismus in andere
Regionen Westafrikas vorzudringen versucht . Deswegen
ist es eine gute Entscheidung der Bundesregierung, dass
wir dort voraussichtlich ab März Hubschrauberunterstützung haben .
Ich sage ganz konkret an die Adresse der Linken, die
das kritisiert hat: Sie wären doch die Ersten, die hier
Theater machen würden - vermutlich in diesem Punkt zu
Recht -, wenn wir darauf verzichten würden, unsere Soldaten durch die MedEvac-Hubschrauber zu unterstützen
und durch die Kampfhubschrauber wiederum diese möglichen Lufteinsätze zu begleiten . Deswegen ist es eine
gute Maßnahme der Vorsorge für uns und für alle anderen UN-Kräfte in der Region, dass wir die Hubschrauber
dorthin verlegen .
({1})
Wir hatten diese Einsatzkombination bereits zum
Ende des ISAF-Einsatzes in Afghanistan . Dort gab es
Fragezeichen, ob es klappen könnte . Es gab viele Gerüchte über den neuen Transporthubschrauber und den
neuen Kampfhubschrauber . Diese Hubschrauber haben
im Afghanistan-Einsatz gezeigt, dass sie auch in dieser
Kombination die Aufgabe wahrnehmen können . Deswegen ist es gut, dass wir das jetzt auch in Mali machen .
Ich finde es eine richtige Entscheidung der Bundesregierung, dass die Soldatinnen und Soldaten im Einsatz
auch entsprechend besser bezahlt werden . Ich glaube,
dass wir den Angehörigen und den Soldaten selbst sagen
müssen, dass sie unsere gesamte Unterstützung haben
und wir alles, was wir tun können, auch leisten, damit
alle aus diesem Einsatz wieder wohlbehalten nach Hause
kommen können . Es wird der gegenwärtig größte und
vielleicht auch gefährlichste Bundeswehreinsatz sein .
Ich wünsche allen Soldaten Glück, dass sie wieder heil
nach Hause kommen . Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion wird dieses Mandat unterstützen .
({2})
Vielen Dank . - Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der
Kollege Jürgen Coße .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es geht heute um die Fortsetzung und die Erweiterung
einer Blauhelmmission in Mali . Die Stabilisierungsmission ist zurzeit die gefährlichste UN-Mission, die es gibt .
Allein im vergangenen Jahr töteten bewaffnete Gruppen
29 Blauhelmsoldaten und verwundeten über 90 . Ein
Selbstmordattentäter riss vorgestern über 70 malische
Soldaten in den Tod und verletzte über 100 . Ja, auch
deutsche Soldaten sind bereits in Mali angegriffen worden . Wir sind uns der Tragweite unserer Entscheidung
bewusst und wir treffen diese Entscheidung nicht leichtfertig. Ich finde das Wort „Heuchelei“ in dieser Hinsicht
unangemessen .
({0})
Was ist denn die Alternative? Was passiert, wenn die
Blauhelme nicht Zivilisten schützen? Haben wir das
nicht in Ruanda beobachten können? Diejenigen, die
entschieden gegen diesen Einsatz sind, frage ich: Wie
würden Sie sich fühlen, wenn Sie selbst im Norden Malis leben müssten? Würden Sie gern unter dem Joch von
Islamisten und kriminellen Banden leben? Die Menschen
in Mali wollen dies auf jeden Fall nicht .
({1})
90 Prozent sehen Sicherheit als oberste Priorität für ihr
Land . Wir dürfen dieses Land jetzt nicht im Stich lassen .
({2})
Das tut die internationale Gemeinschaft auch nicht .
Insgesamt sind 13 456 Soldaten, Polizisten und Zivilisten in dieser Mission im Einsatz . Afrikanische Staaten, Bangladesch, Indien und Pakistan stellen bei dieser
Friedensmission - wie so oft - die meisten Truppen .
Es stimmt aber auch, dass Deutschland deutlich mehr
Personal nach Mali geschickt hat als bei jeder anderen
UN-Friedensmission . Der deutsche Beitrag wird mit eiJürgen Hardt
ner Höchstgrenze von 1 000 Soldaten beträchtlich sein .
Unsere Männer und Frauen in Uniform leisten dort jetzt
schon gute Arbeit, und das werden sie auch in Zukunft
tun . Das sollten wir hier deutlich sagen, unterstützen und
ihnen dafür unseren Dank aussprechen .
({3})
Aber warum engagiert sich die Bundesrepublik in
Mali? Ich sehe zwei Gründe, weshalb die Stabilisierung
wichtig für uns und für Europa ist .
Erstens . Die Terrorismusbekämpfung . Die Vergangenheit hat immer wieder gezeigt, dass es sehr gefährlich ist,
wenn Terrororganisationen unbehelligt ein Territorium
kontrollieren; denn dann fällt es ihnen wesentlich leichter, Kämpfer auszubilden und Anschläge zu verüben . Das
haben wir zuletzt bei den Anschlägen von Paris im Jahr
2015 gesehen . Die Attentäter konnten deshalb so professionell vorgehen, weil viele von ihnen in Syrien und im
Jemen ausgebildet worden waren . Die Lehre ist also klar:
Wir dürfen dort, wo wir es können, keine Terrorcamps
zulassen .
Zweitens . Mali ist ein Schlüsselland der Migration .
Durch Mali und das Nachbarland Niger laufen die wichtigsten Flüchtlingsrouten zur libyschen Mittelmeerküste . Wenn es uns gelingen würde, Mali zu stabilisieren,
würden weniger Menschen im Mittelmeer ertrinken .
Denn es gilt nach wie vor: Ohne Frieden gibt es keine
Sicherheit . Sicherheit ist die Voraussetzung für eine gute
wirtschaftliche Entwicklung . Ohne wirtschaftliche Entwicklung haben die Menschen vor Ort keine Perspektive .
Perspektivlosigkeit ist der Hauptgrund für Flucht . Und
ohne MINUSMA gäbe es zurzeit überhaupt keine Perspektive für Mali .
({4})
Meine Fraktion, die SPD, unterstützt den Antrag der
Bundesregierung, auch in der nächsten Woche .
Ich danke für die Aufmerksamkeit .
({5})
Vielen Dank . - Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Florian Hahn, CDU/
CSU-Fraktion .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Linke hat noch nie einem Einsatz zugestimmt . Wer
heute der Kollegin Buchholz zugehört hat, hat gemerkt,
wie sie sich, wie jedes Mal in diesen Debatten, abmüht,
irgendwelche Argumente zu finden, die gegen eine Zustimmung zu einem solchen Mandat sprechen könnten .
({0})
Das ist durchaus legitim, aber ich finde, Sie könnten sich
zumindest eine Minute oder eine halbe Minute - und das
hat Frau Buchholz nicht getan - die Mühe machen, Alternativen aufzuzeigen, wie wir dem islamischen Terror in
diesem Land, wie wir dem Bürgerkrieg und dem Staatszerfall begegnen können, um dem Land auf die Beine zu
helfen .
({1})
Sie haben nicht eine Sekunde darauf verwendet .
({2})
Das zeigt, dass Sie rein dogmatisch unterwegs sind . Sie
sind nicht regierungsfähig, Sie sind nicht verantwortungsbewusst .
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben in den
letzten Tagen viel über die Äußerungen des künftigen
US-Präsidenten gesprochen . Gerade was die NATO angeht, scheint vieles noch recht unausgegoren und widersprüchlich . Aber in einem Punkt hat er natürlich recht:
Die USA schultern bisher überproportional die Lasten
im Bereich der gemeinsamen Verteidigung . Es ist daher,
meine ich, das gute Recht, von Europa und Deutschland
mehr Verantwortung für die eigene Sicherheit zu fordern .
Das ist auch in unserem ureigenen Interesse . Eine stärkere Orientierung an dem 2-Prozent-Ziel bei den Verteidigungsausgaben kann helfen, das europäische Gewicht
innerhalb der NATO und die strategische Autonomie Europas zu stärken .
Wir Europäer sollten mit großem Engagement das
Ziel verfolgen, gemeinsam verteidigungsfähig zu sein .
So verstehe ich und so versteht die CSU den Gedanken
einer europäischen Armee . Wir müssen unsere Strukturen
reformieren, und wir müssen die bilateralen und die multilateralen Kooperationen ausbauen . Ziel ist eine stärkere
Koordination und Zusammenarbeit unserer Streitkräfte
mit denen anderer europäischer Partner . Hier passiert aktuell mehr als früher, aber noch nicht genug .
Mehr Eigenverantwortung bedeutet aber auch den
Auftrag an uns Europäer, dort selbstständig aktiv zu werden und zu sein, wo unsere Interessen besonders betroffen sind und wo wir unsere Stärken sinnvoll einsetzen
können, und das ist vor allem Afrika . Dort kann Europa
mit einem vernetzten Ansatz aus militärischen und zivilen Komponenten helfen, Krisen zu bewältigen, deren
Folgen die Europäer unmittelbar betreffen.
Die Einsätze in Afrika waren bislang, was Personalstärke und Anzahl angeht, eher überschaubar für
Deutschland . Erst jetzt, wenn wir die Personalstärke
bei der UN-Mission in Mali auf Tausend erhöhen - hinzu kommen noch 300 Mann für die Ausbildungsmission EUTM Mali -, wird die Herausforderung für unsere
Bundeswehr deutlich, die mit solch einer globalen Verantwortungsübernahme einhergeht .
Die Gewährleistung der Rettungskette ist eine Schlüsselkomponente bei solchen Einsätzen . Wenn wir die enge
Verflechtung mit anderen europäischen Nationen im Verteidigungsbereich vorantreiben wollen, müssen wir auch
bereit sein, Partnern im Einsatz zu helfen, sie abzulösen,
wenn beschränkte Durchhaltefähigkeiten das erfordern .
Es ist daher gut, dass wir den Staffelstab von den Holländern übernehmen . Es ist aber auch unbedingt erforderlich, dass andere später bereit sind, wiederum von uns
den Stab zu übernehmen .
Der Einsatz in Mali zeigt einmal mehr, dass die finanzielle und materielle Ausstattung der Bundeswehr
noch deutlich verbesserungsfähig ist, auch wenn die
Verteidigungsministerin schon große Fortschritte erreichen konnte . Nationale und globale Sicherheit haben
ihren Preis . Europa und Deutschland müssen also mehr
Verantwortung übernehmen, nicht nur für die eigene,
sondern auch für die globale Sicherheit und das globale
Wohlergehen, insbesondere in Afrika . Die Unterstützung
von Krisenstaaten wie Mali ist deshalb unerlässlich . Nur
wenn Menschen in der Heimat wieder eine Perspektive
sehen, können wir auch die globale Migration besser in
den Griff bekommen.
Aber Verantwortung müssen schließlich auch die Länder tragen, die wir unterstützen . Unser Ziel muss es daher
stets sein, schnell zur Eigenverantwortung der betreffenden Länder zurückzukehren, zur Verantwortung für die
eigene Sicherheit wie auch für das Funktionieren von
Staat und Gesellschaft insgesamt . Wie schwer das in der
Praxis ist, zeigt der Einsatz in Afghanistan .
Der ohnehin schleppende Friedensprozess in Mali
ist aber nicht nur aufgrund der häufigen terroristischen
Anschläge bedroht, er droht derzeit auch aufgrund von
Apathie und Desinteresse aufseiten der malischen Regierung zu scheitern . Unsere Hilfe müssen wir daher mit
deutlich mehr Druck auf die Regierung verbinden, beim
Friedensprozess voranzukommen und Reformen umzusetzen . Wir sollten überprüfbare Ziele vereinbaren, deren
Einhaltung honorieren, deren Nichteinhaltung dann aber
auch sanktionieren .
Wir tun den Maliern aber auch keinen Gefallen, wenn
wir sie in eine Dauerabhängigkeit geraten lassen . Freiheit
und Eigenverantwortung sind auch in der Sicherheitspolitik richtige Leitmaximen für Europa und für Deutschland, aber auch für Mali . In diesem Sinne gestalten wir
unseren Einsatz in Mali . Eine wichtige Säule dabei ist
der Einsatz unserer Bundeswehr dort . Ich bedanke mich
an dieser Stelle bei unseren Soldatinnen und Soldaten für
ihren Einsatz .
Herzlichen Dank .
({4})
Vielen Dank . - Damit ist die Aussprache beendet .
Zwischen den Fraktionen wurde vereinbart, dass die
Vorlage auf Drucksache 18/10819 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden soll .
Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall .
Dann ist so beschlossen .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte zur Ausbildungsunterstützung der Sicherheitskräfte der Regierung der
Region Kurdistan-Irak und der irakischen
Streitkräfte
Drucksache 18/10820
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO
Interfraktionell wurde vereinbart, dass für die Aussprache 38 Minuten vorgesehen sind . - Auch hier höre
ich keinen Widerspruch . Dann ist so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die Bundesregierung hat Bundesministerin Dr . Ursula von der
Leyen .
({1})
Vielen Dank . - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Es ist jetzt zweieinhalb Jahre her - ich
glaube, wir alle hier im Hohen Hause erinnern uns noch
daran -, als wir zum ersten Mal das grauenhafte, aber
foudroyante Vorgehen des sogenannten „Islamischen
Staates“ im Irak beobachten konnten, nämlich als damals
Mosul durch den IS eingenommen worden ist . Sie werden sich daran erinnern, dass damals die Goldreserven
der Bank geplündert worden sind, dass Waffen in die
Hände der Terroristen gefallen sind . Es gab einen foudroyanten Siegeszug des IS damals . Er stand bis 10 Kilometer vor den Toren Bagdads .
Wir haben es uns vor zweieinhalb Jahren nicht leicht
gemacht bei der Entscheidung, denjenigen, die dort unter
dem Morden und Wüten des IS leiden, Hilfe zu leisten .
Wir haben uns zum allerersten Mal in der Geschichte der
Bundesrepublik Deutschland entschieden, Waffen in ein
Krisengebiet zu schicken . Ich glaube heute, diese Entscheidung war richtig .
({0})
Es war richtig, die Kurden, das heißt die Peschmerga, auszurüsten und dies mit Ausbildung, ganz eng begleitet, zu kombinieren . Die Peschmerga haben viel Mut
bewiesen . Sie haben als Erste den IS gestoppt, sie haben
ihn empfindlich zurückgeschlagen, und sie haben Territorium zurückgewonnen . Viel wichtiger ist aber, dass wir
von Anfang an, so wie wir es eben bei dem anderen Mandat auch besprochen haben, vernetzt vorgegangen sind .
Von Anfang an haben wir die Kurden, die über
1,5 Millionen Flüchtlinge aufgenommen haben, dabei
unterstützt, humanitäre Hilfe zu leisten . Vielen Dank an
das BMZ, das bis heute intensiv mit den Kurden zusammenarbeitet, um dort humanitäre Hilfe zu leisten und die
Flüchtlinge zu schützen und zu unterstützen . Wir haben
von Anfang an auf Diplomatie gesetzt, und das Auswärtige Amt hat mit der irakischen Zentralregierung zusammengearbeitet, damit der Prozess inklusiv bleibt, das
heißt, dass Sunniten, Schiiten, Kurden und die anderen
Gruppen in den Kampf gegen die Terroristen, die das
Land zerstören wollen, einbezogen sind . Andere Länder
waren bereit, in der großen Koalition gegen den Terror
auch die irakischen Zentraltruppen auszurüsten und auszubilden .
Es hat sich gezeigt, dass wir in diesem Fall vieles nicht alles - richtig gemacht haben . Denn bei der Rückeroberung des Gebietes, sei es Tikrit, sei es Ramadi, ist
von Anfang an so vorgegangen worden, dass am Tag der
Befreiung dieser Städte die Vereinten Nationen sofort
reingegangen sind und Hilfe für die Menschen geleistet
haben . Dabei ging es um die Versorgung mit Wasser und
Elektrizität, um Erste Hilfe und den Wiederaufbau von
Häusern . Dadurch sollten die Menschen merken, dass es
einen Unterschied macht, ob der IS in der Stadt ist und
sie dominiert oder ob sie befreit sind .
Dieses Mandat umfasst die Ausbildung von kurdischen Peschmerga . 150 Soldatinnen und Soldaten der
Bundeswehr sind daran beteiligt . Wir sind gemeinsam
mit anderen Nationen dort . Im letzten Monat, im Dezember, hat Deutschland die Führung von Italien rotationsmäßig zum dritten Mal übernommen .
Drei Punkte im Rahmen dieses Mandates, um dessen
Verlängerung wir heute bitten, möchte ich erwähnen .
Zunächst einmal: 12 000 Streitkräfte sind inzwischen
ausgebildet worden . Wir haben von Anfang an darauf
geachtet, dass die Peschmerga bereit sind, auch hier das
Prinzip der Inklusion ernst zu nehmen . Inzwischen sind,
soweit sie ihre Heimat verteidigen wollen, auch Christen,
Jesiden, Kakai und Turkmenen ausgebildet worden, um
nur einige zu nennen .
Zweiter Punkt: Materiallieferung und Ausbildung
müssen Hand in Hand gehen . Ich will nur zwei Beispiele
nennen . Am Anfang ging es um basale Fähigkeiten, um
die Grundausbildung bis hin zur richtigen Anwendung
von Erster Hilfe, damit diejenigen an der Front, die verletzt sind, dort nicht verbluten . Material, das geliefert
wurde, umfasst zum Beispiel ein Lagerhaus für Medikamente und Verbandsmaterial, das wir kürzlich an die
Kurden übergeben konnten .
Beim dritten Punkt - den wir modulmäßig anpassen, je nachdem, wie der Verlauf des Konfliktes und der
kriegerischen Auseinandersetzung mit dem IS durch die
Peschmerga ist - liegt der Schwerpunkt inzwischen natürlich auf der Minenentschärfung, auf Counter-IED . Das
Gebiet, das zurückerobert wird, ist minenverseucht . Das
ist eine der entscheidenden Aufgaben bei der Rückeroberung von Gebieten . Auch das Thema Häuserkampf spielt
eine wichtige Rolle; hierfür haben wir entsprechende
Trainingsareale ausgebaut .
Heute, zweieinhalb Jahre später, geht es wieder um
Mosul, aber diesmal mit umgekehrten Vorzeichen . Es
gelingt der irakischen Zentralregierung inzwischen gemeinsam mit den Kurden und in einer engen Absprache
mit der Koalition gegen den Terror, Schritt für Schritt die
letzte Bastion des IS im Irak zurückzuerobern, nämlich
Mosul . Noch lange ist nicht entschieden, wie das zu einem guten Ende gebracht wird, obwohl Fortschritte erreicht wurden . Auch hier ist neben der militärischen Ausrüstung und dem militärischen Rat, den die Peschmerga
und die Zentralstreitkräfte brauchen, wichtig, dass von
Anfang an darauf geachtet wird, dass ethnische Konflikte
im Keim erstickt werden, und dass von Anfang an darauf
geachtet wird, dass die Versorgung der Flüchtlinge nahtlos funktioniert . 125 000 Menschen sind inzwischen aus
Mosul geflohen, aber etwa 1,5 Millionen Zivilisten sind
nach wie vor in Mosul eingeschlossen .
Ein weiterer Punkt ist mir wichtig . Es ist entscheidend, nach einem Sieg über den IS - diesen werden wir
hoffentlich erreichen -, was das Territorium im Irak angeht, das heißt nach dem physischen Verschwinden des
sogenannten äußeren Feindes, Sorge zu tragen, dass die
inneren Konflikte nicht aufbrechen, sondern dass der Irak
weiter den Weg der Inklusion geht . In diesem Sinne bitte
ich um Verlängerung des Mandates .
Vielen Dank .
({1})
Vielen Dank . - Für die Linke hat jetzt das Wort Jan
van Aken .
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sie wollen 150 Soldatinnen und Soldaten in den Nordirak schicken, um kurdische Peschmerga auszubilden . Es gibt
viele gute Gründe gegen dieses Mandat . Ich habe Ihnen
heute fünf mitgebracht .
Erstens . Sie bilden dort die Miliz einer politischen
Partei aus . Nur um das einmal klarzustellen: Wir reden
nicht über die reguläre Armee des Irak oder des Nordirak . Die sogenannten Peschmerga sind Milizen von politischen Parteien . Es gibt im Osten die Peschmerga, die
zur PUK-Partei gehören . Es gibt die Peschmerga, die zur
Partei des Präsidenten Barzani gehören .
Im Nordirak gibt es noch eine dritte große Partei, nämlich die Gorran-Bewegung . Sie hat keine Milizen - und
dann Pech gehabt; denn ohne Waffengewalt gibt es im
Norden des Irak überhaupt keine demokratische Teilhabe . Sie wird am Betreten des Parlaments gehindert . In
dieser Situation sind Sie im Nordirak selbst dann, wenn
Sie Wahlen gewinnen; wenn Sie keine Peschmerga haben, haben Sie verloren .
Ich halte die Ausbildung von Parteimilizen durch die
Bundeswehr für eine derart schlechte Idee, dass wir auch
deswegen dieses Mandat ablehnen werden .
({0})
- Herr Otte, wenn Sie jetzt „Märchenstunde“ rufen, dann
kann ich nur sagen: Sie haben vom Nordirak überhaupt
keine Ahnung . Das wundert mich auch gar nicht . Sie haben natürlich nicht mit Regimegegnern gesprochen .
({1})
Sie waren nicht an der Front und haben nicht mit Peschmerga geredet . Wer die ganze Zeit immer nur Klinken bei
der Waffenindustrie putzt, hat für solche richtige Arbeit
keine Zeit . Das ist wirklich Ihr Problem .
({2})
Zweitens . Sie unterstützen mit diesem Mandat einen
illegitimen Präsidenten . Präsident Massud Barzani hat
seine Amtszeit ja schon zwei Jahre überschritten . Was
hat er gemacht? Er ist einfach weiter im Amt geblieben .
({3})
Mithilfe seiner Peschmerga hat er das Regionalparlament daran gehindert, überhaupt zusammenzutreten . Es
gibt keine demokratische Kraft mehr, die ihn entfernen
könnte .
({4})
Gewählte Abgeordnete des Regionalparlaments werden
von Barzanis Peschmerga daran gehindert, überhaupt nur
die Hauptstadt Erbil zu betreten, geschweige denn das
Parlament .
Diese Peschmerga wollen Sie jetzt auch noch ausbilden, um diese undemokratischen Praktiken zu unterstützen? Ich verstehe Sie da einfach nicht . Auch deswegen
lehnen wir dieses Mandat ab .
({5})
Drittens . Mit diesem Mandat - Frau von der Leyen, da
komme ich genau auf Ihren letzten Punkt zu sprechen treiben Sie die Spaltung des Irak immer weiter voran .
({6})
Wir waren uns doch eigentlich alle in dem einen Ziel
einig, dass der Irak auf gar keinen Fall noch weiter in
einzelne Regionen zerfallen darf und dass wir eine inklusive, ausgewogene Regierung in Bagdad brauchen, in der
alle drei Bevölkerungsgruppen - die Sunniten, die Schiiten und die Kurden - gleichberechtigt vertreten sind .
Denn wenn wir das nicht haben, wird der sogenannte
„Islamische Staat“ immer stärker . Schließlich hat er den
Nährboden, auf dem er stark geworden ist, in den sunnitischen Gebieten . Deswegen muss es doch unser Ziel sein,
die Spaltung des Irak zu verhindern .
({7})
Jetzt machen Sie mit der Ausbildung der Peschmerga
genau das Gegenteil . Sie unterstützen die einzige große
Kraft im Irak, die die Spaltung will, nämlich die Kurden
im Nordirak . Ihr Partner, Präsident Barzani, sagt doch
immer wieder - zuletzt im November 2016 -, dass er
eine Volksabstimmung über die Bildung eines eigenen
Nationalstaates durchführen lassen will . Dabei unterstützen Sie ihn militärisch . Politisch unterstützen Sie ihn mit
dem Bundeswehrmandat . Sie geben ihm aber auch die
militärischen Mittel an die Hand, um diese Abspaltung,
diese Bildung eines eigenen Nationalstaates, wirklich
durchzuführen .
Ich halte das für absoluten Wahnsinn . Auch deswegen
lehnen wir dieses Mandat ab .
({8})
Viertens . Sie unterstützen massive Menschenrechtsverletzungen . Können Sie eigentlich wirklich ausschließen - Frau von der Leyen, Ihre Antwort auf diese Frage
interessiert mich sehr -, dass die von Ihnen ausgebildeten
Peschmerga nicht bei der Verhaftung von Regimegegnern, bei der Schließung von Menschenrechtsorganisationen oder bei der Ermordung von Journalisten eingesetzt
werden? Sie kennen doch auch den Fall des jungen Journalisten Wedad Hussein Ali, der im letzten Sommer von
Barzanis Sicherheitskräften erst schikaniert und dann bedroht wurde und am 13 . August 2016 umgebracht worden
ist . Frau von der Leyen, wissen Sie sicher, dass da kein
von Ihnen ausgebildeter Peschmerga mit beteiligt war?
({9})
Ich finde, dass allein dieser Fall ein Grund ist, dieses
Mandat abzulehnen .
({10})
Fünftens . Sie unterstützen - um das auch noch einmal ganz deutlich zu sagen - mit dieser Ausbildung verfassungswidrige Aktionen von Präsident Barzani . Die
Peschmerga haben sich die Stadt Kirkuk in Verletzung
der irakischen Verfassung einfach unter den Nagel gerissen. Natürlich ist dadurch der Konflikt mit Bagdad eskaliert; denn in Kirkuk gibt es sehr viel Öl . Wir reden über
Milliarden von Dollar . Die Peschmerga haben sich das
ausdrücklich gegen die irakische Verfassung einverleibt
und sagen, es sei jetzt kurdisches Gebiet . Genau das unterstützen Sie mit Ihrem Bundeswehrmandat - die Spaltung des Irak .
({11})
Manchmal verstehe ich überhaupt nicht, was in Ihrem
Kopf vorgeht .
({12})
Sie wollen ein Regime militärisch unterstützen, das den
Irak spalten will, das die Menschenrechte mit Füßen tritt,
dass die irakische Verfassung mit Füßen tritt und das von
einem illegitimen Präsidenten geführt wird .
({13})
Manchmal verstehe ich wirklich gar nicht, wie Sie
sich zu solchen Mandaten hinreißen lassen können . Ich
finde, Sie sollten es ablehnen.
Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Deutschland
überhaupt keine Waffen mehr exportieren sollte - weder
in den Nordirak noch in den Irak und von mir aus auch
nicht in die Türkei .
Ich danke Ihnen .
({14})
Vielen Dank . - Das Wort für die Bundesregierung hat
jetzt Herr Staatsminister Michael Roth . Bitte schön .
({0})
Guten Tag, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wenn ich Diplomat wäre, Herr van Aken - ich
bin es nicht -, würde ich sagen: Ihre Rede war ein wenig
unterkomplex .
({0})
Da ich aber Politiker bin, muss ich sagen: Ihre Rede war
unterirdisch,
({1})
weil Sie den Eindruck erweckt hat, dass der Deutsche
Bundestag seiner Verantwortung bislang nicht gerecht
geworden ist .
({2})
Ich kann mich an keine Debatte erinnern - diese liegt
ja nun schon einige Zeit zurück -, die derart emotional
und auch derart kritisch und verantwortungsbewusst
geführt wurde . Wir waren uns doch in allen Fraktionen
darüber einig, dass dies ein ganz besonderer und in unserer Geschichte bislang einzigartiger Fall ist und wir
selbstverständlich um die dramatischen Risiken wissen .
Ich kann nicht nur für meine Fraktion, sondern sicherlich
auch für viele, viele andere Kolleginnen und Kollegen auch vor dem Hintergrund ihrer eigenen Verantwortung
und ihrer eigenen Expertise - sagen: Wir haben es uns
nicht leicht gemacht .
Herr van Aken, Sie haben eine zentrale Frage nicht
beantwortet: Was wäre denn passiert, wenn wir nicht so
entschieden hätten?
({3})
Wo ist denn Ihre Strategie im Umgang mit den Schlächtern und Barbaren der Terrororganisation „Islamischer
Staat“?
({4})
„Tut doch endlich etwas!“ - das war der Ruf, der uns
allen immer noch in den Ohren liegt .
({5})
Ich hörte ihn in den Medien, in Bürgergesprächen und
zugegebenermaßen auch bei mir zu Hause am Familientisch . Die Bilder, die sich mir und vielen anderen ins Gedächtnis eingeprägt, eingebrannt haben, haben auch bei
uns in Deutschland zu großer Emotionalität geführt .
({6})
Wir haben uns zu einer Sondersitzung zusammengefunden - nicht nur, weil es so sein muss, sondern auch,
weil es wichtig war -, um diese Entscheidung sehr offen
zu treffen. Ich befinde mich nicht in der kritischen Auseinandersetzung mit Ihnen, weil Sie Argumente dagegen
vorgetragen haben; teilweise kennen wir sie ja . Was ich
Ihnen aber vorwerfe, ist, dass Sie keine Alternativen aufzeigen
({7})
und sich hier in kollektive Verantwortungslosigkeit begeben . Eine solche kollektive Verantwortungslosigkeit mag
für eine Oppositionspartei wie die Linke möglich sein .
Aber sie kann nicht für Parteien und erst recht nicht für
eine Regierung in Betracht kommen, die Verantwortung
für ein Land und Verantwortung für den internationalen
Frieden übernommen haben, liebe Kolleginnen und Kollegen .
({8})
Es gab damals zwei Optionen, die wir debattiert haben. Die erste Option war, Waffen und militärische Ausrüstung an die kurdischen Peschmerga zu liefern . Viele
von uns haben damals mit ihrem Gewissen gerungen: Ist
es das wert? Können wir das verantworten? Die zweite
Option war, sich auf rein humanitäre Unterstützung zu
beschränken und damit das weitere Erstarken einer menschenverachtenden Terrormiliz und das Versinken einer
ganzen Region in Blut und Chaos zu riskieren .
Einige Monate später, fast auf den Tag genau vor zwei
Jahren, haben wir hier im Bundestag beschlossen, zusätzlich zur militärischen Ausbildung auch deutsche Soldatinnen und Soldaten in den Nordirak zu entsenden, um
die Sicherheitskräfte auszubilden . Ich erinnere mich gut:
Auch das waren keine einfachen Debatten und schon gar
keine einfachen Entscheidungen . Aber da kann ich mich
nur der Kollegin Frau von der Leyen und weiteren Kollegen aus der CDU/CSU-Fraktion, der SPD-Fraktion, aber
auch aus der Mitte der Grünenfraktion anschließen: Wir
haben damals richtig entschieden; denn der Vormarsch
des „Islamischen Staates“ konnte vorerst gestoppt werden .
Die Terrororganisation hat etwa die Hälfte der von
ihr kontrollierten Gebiete im Irak verloren . Vor allem im
Norden des Irak ist es den kurdischen Sicherheitskräften
und den Regierungstruppen mit Unterstützung der internationalen Allianz gelungen, den IS in die Defensive zu
drängen . Das bestätigt doch unseren Kurs . Der Ansatz,
die irakischen Sicherheitskräfte durch Ausbildung und
Ausrüstung zum Kampf gegen den IS zu befähigen, ist
wirksam . Auch dank unserer Unterstützung konnten viele Menschen von der Schreckensherrschaft der Terrormiliz befreit und unzählige Menschenleben gerettet werden,
und Zehntausende Vertriebene konnten in ihre Heimat
zurückkehren . Das war es wert - trotz der Risiken, die
ich überhaupt nicht vernachlässigen möchte .
Den Bitten der irakischen Regierung und den wiederholten Aufrufen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen sind wir damals gefolgt . Gemeinsam mit unseren
internationalen Partnern haben wir seit Februar 2015
12 000 Sicherheitskräfte ausgebildet .
Frau Ministerin von der Leyen sprach schon davon: Es
geht dabei um einen sogenannten inklusiven Ansatz . Er
war uns von Anfang an wichtig . Denn es ging nicht nur
um militärische Ausrüstung und um Ausbildung, sondern
es geht um viel mehr . Wir haben dafür auch Anerkennung
und Dank unserer kurdischen und zentralirakischen Partner erfahren . Klar ist aber auch: Wir werden noch einen
langen Atem brauchen, bis im Irak dauerhaft wieder Stabilität und Frieden einkehren .
Wir rechnen auch nicht mit einer raschen Befreiung
Mosuls; darüber ist schon gesprochen worden . Im Großraum Mosul sind derzeit über 162 000 Menschen auf
der Flucht vor den Gefechten . Noch ist es möglich, die
humanitäre Versorgung dieser Menschen zu garantieren .
Auch konnten bislang rund 20 000 Menschen wieder in
Teile des südlichen Mosuls und die Vororte zurückkehren, weil die Sicherheitslage dies ermöglicht hat .
Die militärische Komponente ist nur das eine . Aber sie
ist der erste und wichtigste Schritt . Wichtig ist nun aber
auch, die befreiten Gebiete dauerhaft zu stabilisieren, damit die vielen Binnenvertriebenen wieder in ihre Heimat
zurückkehren und ein normales Leben führen können .
Trotz schwieriger Bedingungen ist dies beispielsweise in
Ramadi und Falludscha auf einem guten Wege . Deshalb
arbeiten wir nicht nur an dieser militärischen Komponente, sondern wir arbeiten auch daran, dass die Menschen
eine wirtschaftliche und eine soziale Perspektive in ihrer
Heimat haben . Nur wenn es uns gelingt, den Menschen
im Irak eine sichere Bleibeperspektive in ihrer Heimat zu
eröffnen, wird auch die Zahl derer abnehmen, die einen
sehr gefahrvollen Weg auf sich nehmen, um ein Leben in
Frieden und in Sicherheit zu finden.
Angesichts der gewaltigen Zerstörungen ist dieser Bedarf in allen befreiten Gebieten immens . Es geht dabei
um die Grundversorgung mit Strom, Wasser und Gesundheitseinrichtungen .
In der öffentlichen Debatte kommt mir die Gefahr
für die Bevölkerung etwas zu kurz, die von Mienen und
Sprengfallen ausgeht . Auch hierbei sind wir konkret aktiv .
Wir haben im Jahr 2016 die Stabilisierung mit 41 Millionen Euro unterstützt . Wir werden das in diesem Jahr
unvermindert fortsetzen . Wir wollen die staatlichen
Strukturen in den vom IS befreiten Gebieten stärken . Wir
wollen vor allem aber auch zur Versöhnung beitragen .
Das ist dieser inklusive Ansatz, von dem die Kolleginnen
und Kollegen schon gesprochen haben, Herr van Aken .
Denn sie ist die Voraussetzung für den Frieden . Beispielhaft nenne ich unser Engagement in der Arbeitsgruppe
Stabilisierung der internationalen Koalition gegen den
IS, in der wir gemeinsam mit den Vereinigten Arabischen
Emiraten den Kovorsitz übernommen haben .
Dann möchte ich für die humanitäre Hilfe werben;
denn ich weiß, dass es ohne Ihre Unterstützung, liebe
Kolleginnen und Kollegen, nicht ginge . Denn Sie stellen uns die Finanzmittel im Haushalt zur Verfügung . Wir
haben im Jahr 2016 rund 119 Millionen Euro zur Verfügung gestellt . Der Irak bleibt auch in diesem Jahr der
Schwerpunkt der humanitären Hilfe der Bundesregierung . Wir haben auf der Washingtoner Geberkonferenz
im Juli vergangenen Jahres für dieses Jahr noch einmal
60 Millionen Euro zugesagt . Das ist die Voraussetzung
dafür, humanitäre Hilfe zu leisten und die Menschen mit
Wasser sowie mit Nahrungsmitteln zu versorgen .
Es gibt noch zwei weitere Schwerpunkte, bei denen
Deutschland besondere Verantwortung übernommen hat .
Wenn ich von „Deutschland“ rede, meine ich natürlich
unsere Hilfsorganisationen . Das sind die medizinische
Versorgung und die psychosoziale Betreuung der Opfer
von Krieg und Vertreibung . Nur wenn die tiefen Wunden
der Traumatisierung heilen, können wir verhindern, dass
eine ganze Generation den Teufelskreis aus Hass und Gewalt endlos wiederholt . Es ist so unendlich wichtig, was
dort viele Expertinnen und Experten täglich leisten . Ich
bin froh, dass wir dazu einen Beitrag zu leisten vermögen .
Die eigentliche zivile Stabilisierungsarbeit kann aber
erst beginnen, wenn die Sicherheitslage dies zulässt . Da
bin ich wieder bei der militärischen Komponente, die wir
nicht außer Acht lassen dürfen . Deshalb ist der umfassende und vernetzte Ansatz sehr wichtig: die Unterstützung
bei der Ausbildung und unser Engagement in den Bereichen Stabilisierung, Wiederaufbau, humanitäre Hilfe,
langfristige Entwicklungszusammenarbeit und natürlich
auch Diplomatie . Das alles greift ineinander . Da kann
man nicht, wie Sie das seit Jahren beharrlich tun, eine
wesentliche, aber nicht die einzige Komponente, einfach
so herausnehmen . Alles gehört zusammen .
Die Bundesregierung lässt sich von folgender Überzeugung leiten: Letztendlich - da sind wir vermutlich
wieder einer Meinung, Herr van Aken - kann es nur eine
politische Lösung der Krisen im Nahen und Mittleren
Osten geben . Daher unterstützen wir die Initiativen, die
von der irakischen Regierung unter Ministerpräsident
al-Abadi ausgehen und die dazu beitragen, dass alle politisch Verantwortlichen am Prozess teilhaben . Denn: Je
stärker der irakische Staat ist, desto mehr schwächt das
Daesh . Gerade deshalb tragen wir in dieser Region Verantwortung .
({9})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte mich
noch einmal bei Ihnen bedanken, dass Sie dieses Mandat
so konstruktiv und generös begleiten . Mein besonderer
Dank und Respekt gilt aber auch den Soldatinnen und
Soldaten, die in den vergangenen zwei Jahren die Ausbildung in der Region Kurdistan-Nordirak oftmals unter
ganz schwierigen Bedingungen aufgebaut und damit einen erfolgreichen Beitrag Deutschlands im internationalen Kampf gegen den IS geleistet haben .
Ich danke ganz besonders den Expertinnen und Experten der Hilfsorganisationen, die eine humanitär beachtliche Arbeit für uns alle und für die internationale
Gemeinschaft leisten . Deshalb bitte ich Sie aus voller
Überzeugung um Ihre Unterstützung, dieses Mandat um
ein weiteres Jahr zu verlängern . Die Menschen in der Region erwarten von uns, dass wir sie nicht im Stich lassen,
sondern sie in ihrem Kampf um Menschenwürde und
Freiheit weiterhin unterstützen .
({10})
Vielen Dank . - Für Bündnis 90/Die Grünen spricht
jetzt Omid Nouripour .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir
brauchen in der Auseinandersetzung mit ISIS Partner .
Die autonome Region Nordirak ist einer der wichtigsten
Partner, die wir haben . Nicht nur dort, sondern im gesamten Irak leiden Menschen unter der Barbarei von ISIS:
Sunnitinnen und Sunniten, Schiitinnen und Schiiten, Jesidinnen und Jesiden sowie die Kurdinnen und Kurden .
Gerade die Menschen im Nordirak übernehmen in einer
Art und Weise Verantwortung, vor der man einfach nur
den Hut ziehen muss, sowohl in der Auseinandersetzung
mit ISIS als auch in der Aufnahme und Versorgung von
Flüchtlingen .
Eine Ausbildung in der vorgesehenen Form kann
Sinn machen . Schließlich bilden wir die Jesidinnen und
Jesiden darin aus, sich selbst zu verteidigen . Im Übrigen berichten diese uns, dass sie diese Ausbildung auch
deswegen bräuchten, weil sie sich manchmal gegen die
Peschmerga verteidigen müssten .
Die Mission finden wir an und für sich nicht falsch.
Aber wir als Grüne werden ihr nicht zustimmen können,
weil sich die Bundesregierung beispielsweise weigert,
eine verfassungsgemäße Grundlage vorzulegen . Das ist
eindeutig .
({0})
- Nein, das ist keine Flucht . Wir wissen, was uns
Karlsruhe ins Stammbuch geschrieben hat: Man braucht
für Einsätze außerhalb des NATO-Gebietes ein System
kollektiver Sicherheit . Dieses System liegt hier nicht vor;
das haben wir letztes Jahr schon gesagt . Sie haben sich
nicht darum bemüht, ein solches herzustellen . Deshalb
können wir dem Mandat nicht zustimmen .
({1})
Zurzeit gibt es die Auseinandersetzung um Mosul . Ja,
man muss großen Respekt vor dem haben, was dort an
Mut, Disziplin, an Einsatz und an Opferbereitschaft von
allen irakischen Streitkräften gezeigt wird; nicht von den
Milizen, aber von Peschmerga auf der einen Seite und
von der irakischen Armee auf der anderen Seite .
Die Probleme sind sichtbar: Was passiert am Tag nach
der Befreiung? Was passiert, wenn die letzte große Stadt
von ISIS befreit worden ist? Was passiert mit den Dörfern, aus denen die Sunniten nach Berichten von Amnesty
International und Human Rights Watch von Peschmerga
vertrieben wurden und die zerstört worden sind, möglicherweise mit deutschen Waffen? Was ist mit den vielen
Problemen in Kurdistan, die immer deutlicher werden?
Ich habe mir meine Rede in der Debatte im letzten
Jahr angeschaut, und ich fürchte, ich könnte vieles Wort
für Wort wiederholen . Das werde ich nicht machen . Aber
es ist weiterhin so, dass - es ist gerade gesagt worden die Regierung in Erbil keine Legitimität hat . Es ist weiterhin so, dass eine große Fraktion, der Gorran, aus dem
Parlament ausgeschlossen ist . Es ist weiterhin so, dass
die Spaltung zwischen KDP und PUK voranschreitet, so
stark wie schon lange nicht mehr und so sichtbar und zementiert wie noch nie, auch physisch in Form von Grenzen . Es gibt mittlerweile eine feste Grenzziehung zwischen den Regionen Sulaymaniyah und Erbil .
Die Bundesregierung ist einer der größten Geber in
der autonomen Region Nordirak, und sie sagt zu all diesen Dingen einfach gar nichts . Ich frage mich die ganze
Zeit: Warum nicht? Nach den Reden der Mitglieder der
Bundesregierung, die ich gerade gehört habe, weiß ich
es: Sie stecken immer noch im August 2014 fest und haben das, was in den letzten zweieinhalb Jahren passiert
ist, anscheinend überhaupt nicht mitbekommen .
({2})
Es tut mir leid: Das ist keine verantwortungsvolle Politik .
({3})
Zu den Waffenlieferungen. Es ist gerade gesagt worden: Sie haben es sich nicht zu leicht gemacht . - Ich teile
das; das ist richtig . Ich habe das damals beobachtet und
weiß: Niemand in diesem Hohen Hause hat es sich zu
leicht gemacht . Aber gerade weil die Debatte damals so
kontrovers und emotional war, hat man doch als Bundesregierung, die die Waffen geliefert hat - auch bei uns
gab es Menschen, die das richtig gefunden haben -, eine
Verantwortung, sich darum zu kümmern, was mit diesen
Waffen passiert.
({4})
Es gibt wachsende interne Konflikte innerhalb der
Peschmerga . Es gibt Skandale, die hier aufschlagen, um
den Verkauf der Waffen. Es gibt keine Transparenz in der
KDP-Administration . Es gibt mittlerweile ein massives
Überschwappen der Auseinandersetzungen zwischen
Erdogan und der PKK . Und im November lieferte die
Bundesregierung Tausende von Gewehren und Millionen
von Schüssen . Ich habe die Bundesregierung vorgestern
gefragt, was denn eigentlich mit der Endverbleibskontrolle ist . Die Antwort - in meinen Worten - lautete: Wir
wissen es nicht; wir wollen es aber auch nicht so genau
wissen .
Das ist in einer so fragilen Region ausgesprochen
fahrlässig und verantwortungslos . Sie können nicht angesichts der Risiken einfach den Kopf in den Sand stecken . Die Risiken gab es schon damals; wir haben sie
abgewogen und kamen diesbezüglich zu verschiedenen
Ergebnissen . Ich gebe zu, dass man auch zu Ihren Ergebnissen hätte kommen können; aber das entlässt Sie nicht
aus der Verantwortung, sich heute darum zu kümmern
und sehr klar und laut zu fragen, wo diese Waffen gelandet sind . Das tun Sie nicht . Das ist aus meiner Sicht beschämend und hat mit der guten Arbeit, die die Soldatinnen und Soldaten vor Ort machen, nichts zu tun . Nehmen
Sie sich ein Beispiel an der Gründlichkeit, mit der dort
ausgebildet wird . Dann wäre es für uns auch wieder möglich, darüber zu sprechen, wie wir einem solchen Mandat
zustimmen können .
({5})
Vielen Dank . - Jetzt hat der Kollege Dr . Johann
Wadephul für die CDU/CSU-Fraktion das Wort .
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Für uns ist der Irak ein Schlüsselstaat in der Region, und wir müssen alles tun, um diesen Staat zu stabilisieren . Wir müssen den Kampf gegen den IS fortsetzen .
Das ist die wesentliche Begründung für dieses Mandat
gewesen . Der Kampf gegen den IS ist erfolgreich gewesen . Ich will durchaus konzedieren, dass manches, was
der Kollege von Aken an kritischen Punkten genannt
hat - Kollege Nouripour hat das unterstrichen -, natürlich von uns gesehen werden muss . Nur: An die Player, an diejenigen, die staatliche Gewalt im Irak besitzen,
können wir nicht westeuropäische Maßstäbe anlegen .
Das muss man einfach konzedieren . Man muss eine Güterabwägung treffen in einer ganz konkreten Situation.
Es gab eine politisch-ethisch schwierige Abwägung, bevor wir den Einsatz beschlossen haben . Aber wenn Sie,
Herr Kollege von Aken, heute sagen, wir hätten mit diesem Einsatz massive Menschenrechtsverletzungen unterstützt, dann verkehren Sie die Sache ins Gegenteil . Wir
haben einen kleinen, angemessenen, aber auch notwendigen Beitrag dazu geleistet, dass die massiven Menschenrechtsverletzungen durch den sogenannten „Islamischen
Staat“ gestoppt werden konnten .
({0})
Das war der wesentliche Grund für diesen Einsatz, und
den muss man sicherlich auch weiterhin unterstreichen .
Im Irak gibt es nach wie vor staatliche Kräfte - das
sind die positiven Kräfte, die wir unterstützen -, die mit
einem inklusiven Ansatz versuchen, den Staat aufrechtzuerhalten, indem Sunniten und Schiiten - Mehrheit
Schiiten, Minderheit Sunniten - versuchen, möglichst
miteinander auszukommen und übrigens auch die Kurden zu integrieren . Das ist Ihnen, Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion, in Syrien so wahnsinnig wichtig .
Ein Zwischenruf in einer Sitzung des Auswärtigen Ausschusses war da sehr bezeichnend . Als es nämlich um die
Unterstützung der irakischen Kurden ging, gab es den
Zwischenruf: Das sind die falschen Kurden . - Meine sehr
verehrten Damen und Herren, man kann sich in dieser Situation halt nicht immer die richtigen Kurden aussuchen .
Ich bin der festen Überzeugung, dass es notwendig ist,
übrigens auch bei den Gesprächen in Astana, die Kurden
in Syrien zu integrieren . Ich bin aber auch der Überzeugung, dass es notwendig ist, die Kurden im Irak zu integrieren, auf sie einzuwirken . Die Möglichkeit dazu haben
Sie am Ende aber nur, wenn Sie kooperieren, wenn Sie
den Kurden auch eine gewisse Unterstützung geben . Sie
müssen diesen Kurden aber auch sagen - darin stimmen
wir wahrscheinlich sogar überein -: Das ist kein Mittel
zum Zweck, um sich selbstständig zu machen, um diesen
Staat Irak zu zerstören . Wir werden mit kleinen Ministaaten, die an sich alle wirtschaftlich und politisch in dieser
Region nicht lebensfähig wären, keine bessere Politik
haben . Deswegen ist es Ziel unserer Politik, dafür zu sorgen, dass der Irak ein Staat bleibt, ein inklusiver Staat
bleibt, auch mit einer kurdischen Vertretung in diesem
Staat . Das ist die Politik der Bundesregierung .
An dieser Stelle muss ich etwas zum Vorwurf des
Kollegen Nouripour sagen . Die Bundesregierung, auch
Vertreter der Koalitionsfraktionen sagen immer wieder
in allen Gesprächen, die sie mit den Kurden führen, die
sie mit Vertretern aller politischen Fraktionen führen, die
es dort gibt - Sie haben sie aufgezeigt -: Unsere Politik
ist ganz klar; wir unterstützen die Kurden an dieser Stelle, aber wir erwarten, dass sie Teil des irakischen Staates
bleiben, und wir leisten keinen Beitrag zu Abspaltungstendenzen . - Das ist klar unsere Position und die Position
der Bundesregierung .
({1})
Wie geht es weiter? In der jetzigen Situation muss
man die Frage beantworten: Beendet man jetzt die Unterstützung, oder setzt man sie fort? Natürlich gibt es an
dem, was in Kurdistan politisch passiert, manches zu
kritisieren . Natürlich braucht der Präsident eine neue demokratische Legitimität; das kann man überhaupt nicht
bestreiten . Selbstverständlich ist das unser Ansatz . Entscheidend aber ist Mosul - die Frau Bundesministerin
hat darauf hingewiesen -, wo der sogenannte „Islamische
Staat“ von dem sogenannten Kalifen Baghdadi ausgerufen worden ist . Mosul ist nicht nur wegen der Hunderttausenden Menschen, vielleicht Millionen Menschen, die
dort leben, von großer Bedeutung, sondern eben auch,
weil die Stadt eine große symbolische Bedeutung für den
sogenannten „Islamischen Staat“ hat .
Deswegen müssen wir auf dem weiteren Weg konsequent bleiben und weiterhin auch unsere militärische
Unterstützung liefern . Das ist nur ein Segment unserer
Politik zur Stabilisierung des Irak, aber ein unverzichtbares Element . Deswegen werden wir uns dafür einsetzen,
dass diese Ausbildungsmission fortgesetzt wird .
Herzlichen Dank .
({2})
Vielen Dank . - Jetzt hat der Kollege Florian Hahn,
CDU/CSU-Fraktion, das Wort .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn wir heute den Einsatz beenden würden, wäre das
Fazit dieses Mandats positiv . Das Einsatzkontingent in
Erbil hat in den vergangenen zwei Jahren sehr erfolgreich kurdische und irakische Kämpfer ausgebildet .
Der maßgebliche Auftrag des Deutschen Bundestages,
die Bekämpfung der Miliz, deren menschenverachtende Gewaltakte bis nach Deutschland reichen, wird im
Irak wirksam ausgeführt . Die Terroristenorganisation IS
konnte aus weitflächigen Rückzugsräumen vertrieben
werden . Die Peschmerga haben an nur einem Tag die
vereinbarten Haltepunkte vor Mosul eingenommen . Seitdem verteidigen sie diese Linie . Insgesamt genießt die
Bundesrepublik als Partner Erbils sowie Bagdads großes
Vertrauen, das insbesondere durch die zuverlässige Zusammenarbeit mit der Bundeswehr entstehen konnte .
Ist daher nicht jetzt oder spätestens nach der Einnahme Mosuls der richtige Zeitpunkt, an dem wir erfolgreich
diese Mission abschließen können - ein durchweg positives Ergebnis und dann Strich drunter? Hinter jeder
Konfliktlinie steckt eine weitere mögliche Auseinandersetzung: die Beziehungen zwischen Erbil und Bagdad,
die innerkurdischen Dispute, die Rolle der schiitischen
Volksmobilisierung und die destabilisierenden Einflüsse
externer Partner, daneben die über 2 Millionen Binnenflüchtlinge, die zusätzlich zur Wirtschafts- und Haushaltskrise vor allem Kurdistan und Irak zu schaffen machen . Noch herrscht durch die IS-Bedrohung der Geist
der Einheit; aber was passiert am Tag danach?
Mir zeigen gerade diese Unsicherheiten, dass die Verlängerung des Mandats unerlässlich ist . Die Bundeswehr
wird auch über die Zerschlagung des IS hinaus als Stabilisierungsfaktor in der Region notwendig sein . Der Irak
ist aufgrund seiner geostrategischen Position sowie als
Akteur im Kampf gegen den IS ein Schlüsselland . Gerade weil wir in der Region als verlässlicher Partner wahrgenommen werden, ist unsere Präsenz vor Ort weiterhin
entscheidend .
Wir müssen aber auch das Gleichgewicht zwischen
Erbil und Bagdad im Blick haben . Die Entscheidungen,
irakische Streitkräfte vermehrt in die Ausbildung einzubinden sowie im Rahmen der NATO einen Militärberater
nach Bagdad zu senden, sind in diesem Kontext wichtige
Signale . Unser Engagement muss auch dazu dienen, die
Zusammenarbeit zwischen irakischer Zentralregierung
und kurdischer Regionalregierung zu verbessern .
Herr van Aken, wir können uns eben die Akteure vor
Ort nicht aussuchen . Wir müssen die Situation, in der wir
dort sind, nutzen, unseren Einfluss geltend machen, um
natürlich für entsprechend positive, auch demokratische,
Entwicklungen zu sorgen . Aber ich würde mir manchmal
wünschen, dass Sie Ihren Maßstab von Demokratie beispielsweise auch bei der Russischen Föderation anlegen .
({0})
- Sie und vor allem Ihre Partei .
Auch bei den humanitären Fragen sollten wir unseren
Blick entsprechend schärfen . Es ist eine Illusion, zu glauben, dass sich Konflikte auf das Land und den Kontinent
begrenzen . Uns sollte bewusst sein, dass die Stabilität
des Iraks ganz maßgeblich im sicherheitspolitischen Interesse Deutschlands liegt . Wir haben im Falle Syriens
gemerkt, wie massiv die Folgen auch Europa treffen
können . Sollte es uns nicht gelingen, den Irak weiter zu
stabilisieren, können aus den mehr als 2 Millionen Binnenflüchtlingen auch schnell viele Millionen Flüchtlinge
werden, die nach Europa aufbrechen .
Nicht nur aus humanitärer Verantwortung, sondern
auch aus eigenem Interesse müssen wir uns bei der Konfliktbewältigung weiter engagieren. Mein Dank gilt an
dieser Stelle allen Soldatinnen und Soldaten, die direkt
an der Ausbildung beteiligt sind, militärische Hilfslieferungen oder Bauprojekte begleiten und damit ihren Beitrag zum Erfolg dieses Einsatzes leisten .
({1})
Vielen Dank . - Damit ist die Aussprache beendet .
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf
Drucksache 18/10820 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen . - Sie sind damit
einverstanden, wie ich sehe . Dann ist die Überweisung
so beschlossen .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Susanna
Karawanskij, Dr . Axel Troost, Klaus Ernst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Zulassungspflicht für Finanzprodukte schaffen - Finanz-TÜV einführen
Drucksache 18/9709
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . - Ich höre keinen Widerspruch . Dann ist auch dies so beschlossen .
Ich bitte Sie, jetzt die Plätze zügig einzunehmen .
Dann eröffne ich die Aussprache. Das Wort hat für die
Fraktion Die Linke Susanna Karawanskij .
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Gäste! Eine Frage: Würden Sie mit ihren Kindern oder Enkeln auf den Rummel gehen und Riesenrad fahren, wenn Sie wüssten, dass das Gerüst nicht
zugelassen ist oder es nicht den Sicherheitsvorschriften
entspricht? Oder würden Sie eine Kopfschmerztablette
einnehmen, wenn Sie nicht wüssten, dass das Medikament auch zugelassen ist?
({0})
- Genau, würden Sie nicht . Ich würde es auch nicht machen .
Aber die Eltern, die Mütter, die für ihre Kinder etwas
Geld anlegen wollen, und die baldigen Ruheständler, die
Geld für die ruhigeren Tage zurücklegen wollen, sind am
Finanzmarkt auf sich selber gestellt .
({1})
Denn da gilt: Alles, was nicht ausdrücklich verboten ist,
ist erlaubt . Fast jede Bank kann ein noch so komplexes
Produkt auf den Markt bringen und verkaufen . So wird
der Finanzmarkt tagtäglich mit einer wirklich unüberschaubaren Anzahl von Finanzprodukten überschwemmt,
und das Ganze wird damit immer unbeherrschbarer .
Die fortwährende Finanzkrise, mit der wir es zu tun
haben, hat sich unter anderem gerade auch wegen der
komplexen Finanzinstrumente und ihrer völlig falsch
eingeschätzten Werthaltigkeit über den Globus ausgebreitet .
Die Verbraucherinnen und Verbraucher können keinen Durchblick behalten und tappen dann schnell in die
Falle . Sie kaufen ein Produkt, das ihren Risikoneigungen
überhaupt nicht entspricht . Auch der Gang zu einem Finanzberater schafft nicht wirklich Abhilfe; denn er kann
auch nur sehr schwer einschätzen, mit welchem Risiko
die Geldanlagen tatsächlich behaftet sind . Außerdem
berät er meistens auch mit Blick auf eine zu erwartende
Provision und damit eben nicht immer hundertprozentig
verbrauchergerecht .
Nach unterschiedlichen Schätzungen verlieren die
Bundesbürger jährlich bis zu 98 Milliarden Euro wegen - meist auf der Erwartung von Provision basierender - Falschberatung bei Abschluss von Kapitalanlagen .
Bei Prokon - ich denke, der Skandal dürfte Ihnen noch
in Erinnerung sein - haben die 75 000 Anlegerinnen und
Anleger durch angeblich sichere Genussrechte bislang
etwa 1,4 Milliarden Euro verloren .
Die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland besitzen
ungefähr 90 Millionen Lebensversicherungsverträge,
und die Anbieter von Lebensversicherungen haben einen
Kapitalanlagebestand von gut 885 Milliarden Euro . Ist
es angesichts solcher Zahlen nicht völlig absurd, dass
niemand prüft, ob die Anleihe, das Derivat oder das
Zertifikat den Verbraucherinnen und Verbrauchern, den
Rentenversicherungen, den Lebensversicherungen oder
sogar der Volkswirtschaft gefährlich werden kann?
({2})
- Ja, in der Vergangenheit wurden Instrumente geschaffen, um die Verbraucherinnen und Verbraucher zu schützen .
({3})
Die Finanzaufsicht prüft vorab aber lediglich formal, ob
die Prospekte für ein neues Produkt vollständig und damit kohärent sind .
({4})
Sie prüft nicht inhaltlich . Somit kommt tatsächlich gefährlicher Finanzschrott auf den Markt .
Es gibt die Möglichkeit der sogenannten Produktintervention, und es gibt die Marktwächter Finanzen . Sie
werden aber höchstens im Nachhinein tätig,
({5})
was bedeutet, dass sie sich erst dann inhaltlich mit einem
Finanzprodukt auseinandersetzen, nachdem das Produkt
auf den Markt gekommen ist und schon entsprechende
Schäden bei den Anlegern angerichtet hat .
Das ist für uns nicht ausreichend . Wir als Linke fordern eine Verfahrensumkehr und einen Finanz-TÜV .
({6})
Im Gegensatz zum derzeitigen Zustand wollen wir nämlich, dass zukünftig jedes Finanzprodukt ausdrücklich
durch qualifizierte Fachleute zugelassen wird, bevor es
auf den Markt kommt .
Beim Finanz-TÜV geht es um eine präventive Regulierung nach dem Vorsorgeprinzip, damit die Märkte
nicht weiter mit Finanzschrott geflutet werden können
und die Finanzbranche nicht weiter sehr kreativ bestehende Regulierungen umgehen kann, wodurch vor allen
Dingen ungeeignete Produkte in die Hände von Kleinanlegern kommen .
({7})
Durch die ausdrückliche Erstzulassung von Finanzinstrumenten, Finanzmarktakteuren und -praktiken sollen
die Märkte entsprechend entschlackt und systemische
Risiken minimiert werden .
({8})
Zudem sollen entsprechend transparente, einfache, kostengünstige, risikobeherrschbare Finanzprodukte auf den
Markt kommen und gleichzeitig schädliche Geldanlagen
herausgefiltert werden, damit Anlagepleiten vermieden
werden können .
Klar ist, dass ein solcher Finanz-TÜV auf europäischer Ebene - am besten bei der ESMA - etabliert werden sollte, weil es überhaupt nichts nützt, wenn ein Finanzprodukt in Deutschland verboten ist, in Belgien aber
zugelassen wird .
({9})
Um es an dieser Stelle aber ganz deutlich zu sagen:
Wir wollen kein Verbot von Kapitalanlagen jenseits des
Sparbuchs . Das ist nicht unser Anliegen . Wer zocken
will, soll das gerne auch weiterhin tun können . Aktien
und andere riskante Produkte sollen auch weiterhin in
die Hände von Kleinanlegern gelangen können, solange sie transparent und seriös sind . Eine Zulassung durch
den Finanz-TÜV soll eben nicht wie ein Unbedenklichkeitssiegel wirken, das zum Beispiel sagt, dass dadurch
Verluste ausgeschlossen sind . Sie verklagen ja auch nicht
einen Fönhersteller, weil ihre Haare nicht schnell genug
trocken werden, oder einen Autohersteller, weil Sie mit
dem Fahrzeug zu schnell gefahren sind .
({10})
Zum Abschluss möchte ich noch etwas zur Finanzierung des Finanz-TÜVs sagen . Die Prüfung durch ausreichend qualifiziertes Personal kostet zwangsläufig Geld.
Mit zunehmender Komplexität eines Produkts wird die
Prüfung immer mehr kosten; das ist klar . Wir haben dabei
folgenden grundlegenden Gedanken: Die Herausgeber
der Finanzinstrumente zahlen für die Prüfung entsprechend dem Prüfaufwand . Ich denke, dass allein dadurch
die Finanzprodukte zwangsläufig ein bisschen vereinfacht werden .
({11})
Der vorliegende Antrag greift unsere Kernforderungen zum Finanz-TÜV auf . Ich kann Ihnen nur wärmstens
empfehlen, innerhalb der parlamentarischen Beratungen
auch unser umfassendes Konzeptpapier dazu durchzulesen . Vielen Menschen, die für das Alter vorsorgen wollen, können Sie durch die Annahme unseres Vorschlags
Enttäuschungen ersparen . Gerade in einem Wahljahr wie
diesem sollte es in Ihrem Interesse liegen, die Menschen
ins Zentrum zu rücken und nicht die Finanzmarktlobby .
Vielen Dank .
({12})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist Dr. Frank Steffel,
CDU/CSU-Fraktion .
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin . - Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Liebe Frau Karawanskij, Sie haben
Ihre Rede begonnen - Sie haben das charmant vorgetragen - mit dem Hinweis auf Medikamente . Das klingt für
die Zuhörer sicherlich überzeugend,
({0})
sodass sie sich fragen: Warum machen wir es nicht so
einfach? - Sie sollten aber fairerweise darauf hinweisen,
dass es bei Medikamenten erstens einen Beipackzettel
gibt und zweitens die Nebenwirkungen angegeben sind .
Nur weil ein Medikament mit größerer oder geringerer
Wahrscheinlichkeit möglicherweise Nebenwirkungen
hat, wird es nicht verboten . Wenn wir alle Medikamente
verbieten würden, die Nebenwirkungen haben könnten,
dann gäbe es in Deutschland keine Medikamente .
({1})
- Melden Sie sich doch zu einer Zwischenfrage . Ich stehe
Ihnen gerne zur Verfügung . Ansonsten sollten Sie mich
meine Argumente genauso vortragen lassen, wie ich es
bei Ihnen getan habe .
Wenn Sie das bei Finanzprodukten ähnlich machen
wollen, dann gilt das Gleiche . Sie können natürlich sagen:
Wir verbieten alle Finanzprodukte, die Nebenwirkungen
haben . - Aber, meine Damen und Herren Zuhörer, Sie
müssen wissen, dass das dann nicht nur hochspekulative, von uns allen als dubios und unseriös eingeschätzte
Produkte betrifft, sondern auch den Ökobauernhof um
die Ecke, das Sozialprojekt, das Kulturprojekt und den
Sportverein, der ein paar Tausend Euro für das neue Vereinsheim sammelt . Das alles müssten wir - weil es Risiken birgt und Nebenwirkungen hat - ebenfalls verbieten .
({2})
Sie erwecken des Weiteren den Eindruck - das ist
schon erstaunlich -, dass diese Bundesregierung und
auch ihre Vorgängerin seit dem Ausbruch der globalen
Finanzkrise nicht unendlich viel für die Stabilisierung
der Finanzmärkte und insbesondere für den Anlegerschutz getan hätten . Ich gebe Ihnen trotzdem recht - ich
sage das sehr klar -: Natürlich ist dieser Markt hoch dynamisch . Wir alle müssen aufpassen und schnell genug
sein, wenn es um Regulierung, Nachjustierung und den
Schutz von Bürgerinnen und Bürgern, die ihr Geld anlegen wollen, geht; denn die Finanzindustrie ist außergewöhnlich kreativ . Wir alle arbeiten ständig mit Hochdruck und versuchen, rechtzeitig wirksame Regelungen
zu finden, nachzujustieren und übrigens aufzuklären,
aufzuklären, aufzuklären . Der Deutsche Bundestag hat
aus diesem Grunde gerade im Finanzbereich so viele Gesetze beschlossen wie nur selten zuvor zu einem anderen
Thema in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland .
({3})
Wir haben seit 2007 Gesetzeslücken geschlossen . Wir
haben mit unglaublichem Aufwand die Transparenz der
Vermögensanlagen erhöht . Wir haben zur Stabilisierung
der Finanzmärkte und zum Schutz der Anleger sehr viel
getan . Wir haben 40 Maßnahmen zur dauerhaften Stabilisierung der Finanzmärkte auf nationaler und insbesondere auf europäischer Ebene ergriffen; es gibt diverse
Gesetze . Wir haben die Bankenunion beschlossen . Damit gibt es eine europäische Aufsicht . Denn wir haben in
der Krise lernen müssen: Es nutzt uns gar nichts, wenn
wir Deutsche das perfekt machen . Wenn Lehman Brothers in Amerika Probleme bekommt, dann wackelt auch
der deutsche Finanzsektor, mit allen Konsequenzen für
den deutschen Anleger . Wir haben die europäische EinSusanna Karawanskij
lagensicherung und den europäischen Bankenabwicklungsmechanismus auf den Weg gebracht . Wir haben die
Bankenaufsicht für alle Banken Europas bei der EZB
angesiedelt . Übrigens sagen uns alle, die damit zu tun
haben, dass das hervorragend klappt .
({4})
Viele von uns hatten die Sorge, dass das nicht vernünftig funktionieren wird . Nein, selbst die Bundesbank sagt
uns, dass es mindestens so gut klappt wie bei uns in
Deutschland . Wir sollten das heute einmal erwähnen und
stolz darauf sein, was der Deutsche Bundestag gerade in
diesem Bereich beschlossen hat .
({5})
Ich möchte Sie an das Kleinanlegerschutzgesetz erinnern . Wir haben vor wenigen Monaten ein Kleinanlegerschutzgesetz beschlossen . Wir haben hier den Verbraucherschutz zu einem weiteren Aufsichtsziel unserer
BaFin erklärt . Wir haben den Vertrieb problematischer
Produkte dramatisch beschränkt . Wir verbieten irreführende Werbung; denn das war ein Teil der Probleme: Man
hat den Menschen Sicherheit - bei hoher Rendite - versprochen . Das kann es natürlich nicht geben . Wenn Sie
15 Prozent Zinsen erwarten, dann haben Sie ein hohes
Risiko . Das ist das kleine Einmaleins der Marktwirtschaft . Jemand wird 15 Prozent nur zahlen, weil er für
3 Prozent niemanden findet. Damit ist das Risiko naturgemäß höher als bei 3 oder 4 Prozent .
Wir ermöglichen der BaFin, bereits zu Beginn einer
Vermarktung eine Beschränkung oder ein Verbot auszusprechen . Das heißt, die BaFin kann genau das, was Sie
fordern . Sie kann verhindern, dass problematische Produkte in der Bundesrepublik Deutschland überhaupt erst
auf den Markt kommen .
Wir haben den Vertrieb eingeschränkt und gesagt:
Bestimmte Produkte dürfen nur an Menschen vertrieben
werden, die von dem Produkt auch etwas verstehen .
({6})
Übrigens, meine Damen und Herren, dieser Satz gilt
immer - ich sage das gerade und besonders gerne hier im
Deutschen Bundestag, wenn hoffentlich ein paar Menschen zuschauen und zuhören -: Kaufe kein Produkt, das
du nicht verstehst . Das ist der Hinweis an jeden Menschen, der Geld anlegen möchte: Kaufe nur Produkte, die
du verstehst . - Wenn das geschähe, hätten wir übrigens
einen Großteil der Probleme schon gelöst .
({7})
Das Kleinanlegerschutzgesetz hat darüber hinaus eine
Mindestlaufzeit eingeführt, weil kurze Laufzeiten ein
großes Problem waren . Es hat ein Kündigungsrecht eingeräumt . Heute kann man, wenn man ein Finanzprodukt
kauft, wie bei anderen Produkten auch innerhalb einer
gewissen Frist sagen: Ich habe mich geirrt, ich habe mich
schlaumachen lassen, ich trete vom Kaufvertrag zurück . - Das war früher nicht so . Das, was für viele andere
Produkte galt, galt für Finanzprodukte nicht . - Auch diese Verbesserungen hat diese Koalition eingeführt .
Wir haben bei der Erarbeitung dieses Gesetzes - die
Kolleginnen und Kollegen, die wie ich damit befasst waren, werden das bestätigen können - gelernt, wie heterogen auch der kleine Finanzmarkt ist . Ich habe zwischen
der ersten und zweiten Lesung über 60 Zuschriften von
kleinen Unternehmen, Sozialprojekten, Kulturprojekten und Bürgerinitiativen bekommen, die gesagt haben:
Wir sammeln Geld ein, aber wir führen nichts Böses im
Schilde . Achtet darauf, dass ihr unsere Arbeit nicht durch
gesetzliche Regelungen unmöglich macht .
Wir haben deshalb in der Beratung hier im Bundestag das Gesetz an vielen Stellen nachjustiert und gesagt:
Wir wollen, dass auch ein Sozialprojekt 50 000 Euro
einsammeln kann . Und wir wollen, dass es im Rahmen
eines Wohnprojekts Mieterinnen und Mietern ermöglicht
wird, ein Haus etwa zu kaufen . Natürlich gibt es da ein
Risiko . Es gibt bei jeder Finanzanlage ein Risiko . Immer
gibt es ein Risiko, wenn man Geld hat, das man irgendwo
hinpackt, um damit Geld zu verdienen . Das ist ein Naturgesetz der Marktwirtschaft . Und darüber müssen wir
aufklären . Im Übrigen gibt es nicht gute und schlechte
Finanzprodukte, wie Sie versuchen, das den Menschen
einzureden .
({8})
- Nein, das Finanzprodukt, Herr Schick, richtet sich natürlich am Ziel und am Anlegerkreis aus . Wenn Sie für
sich entscheiden, von Ihrem üppigen Einkommen hier im
Deutschen Bundestag 1 000 Euro in ein hochriskantes
Geschäft zu stecken, weil Sie die Hoffnung haben, dass
aus den 1 000 Euro 100 000 Euro werden, dann ist das
Ihre freie Entscheidung . Wenn ein anderer - weil er bescheidener ist als Sie - entscheidet, die 1 000 Euro in
ein vermeintlich ganz sicheres Produkt zu packen, wo er
nur 0,2 Prozent Zinsen bekommt, dann ist das seine ganz
persönliche Entscheidung . Und diese Entscheidung soll
auch jeder Deutsche treffen können. Das wollen wir! Er
muss nur wissen, wofür er sich entscheidet .
({9})
Er muss wissen, welches Produkt er kauft . Deswegen
haben wir gesagt: Es muss eine klare Aufklärung, große
Warnhinweise und eine Einschränkung der Vertriebswege geben . Und die Werbung darf nicht mehr irreführen .
Das gibt es in vielen anderen Bereichen des Lebens übrigens auch, nur, im Finanzbereich sind die Auswirkungen
besonders elementar . Deswegen hat der Staat eingegriffen .
Wir werden - ich will das abschließend noch erwähnen - weitere Gesetze beschließen . Wir machen gerade
das Zweite Finanzmarktnovellierungsgesetz . Hier werden wir natürlich wieder hingucken, wo wir nachjustieren und an welchen Stellen wir den Entwicklungen folgen müssen, die der Markt in den letzten Monaten oder
Jahren genommen hat .
Meine Damen und Herren, Ihre Forderung nach einem Finanz-TÜV hört sich super an . Und ich sage noch
einmal: Sie haben das lustig vorgetragen . Kompliment
an Ihren Redenschreiber! - Sie haben den Menschen das
Gefühl gegeben, man kann bei Finanzprodukten zwischen guten und schlechten bzw . sicheren und unsicheren
unterscheiden . Meine Damen und Herren, so einfach ist
die Welt nicht . Es wird immer unterschiedliche Finanzprodukte geben . Selbst die vermeintlich sichere Aktie
der Deutschen Bank hat gerade in diesem Jahr bewiesen,
dass es Risiken gibt . Und keiner weiß, wo der Kurs morgen steht . Denn wenn wir das wüssten, dann säßen wir
alle nicht hier, sondern würden unser Geld entsprechend
anlegen und ab morgen unser Leben in der Sonne verbringen . Insofern werden wir damit leben müssen, dass
es Unsicherheiten gibt .
Ein TÜV gaukelt Sicherheit vor, die es nicht gibt . Man
kann Produkte nicht unterscheiden, indem man rote und
grüne Ampeln einführt . Ich komme zurück zu den Medikamenten . Sie können Medikamente nicht verbieten, nur
weil eines von tausend möglicherweise Nebenwirkungen
hatte, die wir alle nicht wollen . Dies gilt auch für Finanzprodukte .
({10})
Wir wollen Aufklärung und Sicherheit für die Verbraucher . Wir wollen, dass sich die Menschen bewusst für
etwas entscheiden können . Deswegen werden wir weiter
regulieren, aber nicht populistisch und einfach . So, wie
Sie mit Ihrem sozialistischen Weltbild sich die Welt vorstellen, ist sie nicht .
({11})
Vielen Dank . - Das hat jetzt die Frau Karawanskij
dazu bewegt, eine Kurzintervention zu beantragen . Bitte
schön, Frau Kollegin .
Herr Steffel, erst einmal vielen Dank dafür, dass Sie
meinen Mitarbeitern zutrauen, eine Rede zu schreiben,
aber nicht mir . Das mache ich immer noch selber!
({0})
Zum anderen danke ich Ihnen dafür, dass Sie meine Rede
amüsant fanden . Ich denke angesichts des Amüsements
durch meine Rede: Sie hätten besser zuhören sollen . Ich
habe in meiner Rede und im Übrigen auch in unserem
Antrag - das lässt mich vermuten, dass Sie ihn doch
nicht gelesen haben - nicht davon gesprochen, dass wir
Finanzprodukte verbieten wollen; das ist überhaupt nicht
unser Anliegen . Unser Anliegen ist es, eine Zulassung für
Finanzprodukte mit einem Finanz-TÜV zu etablieren .
Das kommt keinem Verbot gleich; denn verboten werden
kann etwas erst, wenn es überhaupt existent ist . Vielmehr
geht es darum, dass es vorher zugelassen wird .
Sie haben es ja eben selber gesagt - ich habe es in
meiner Rede auch gewürdigt; das finden wir auch gut -,
dass für den Kleinanlegerschutz in dieser Legislaturperiode schon viel gemacht worden ist . Wenn Sie sagen,
dass bereits so viele Regulierungen auf den Weg gebracht
worden sind, dann müssten Sie doch gar kein Problem
damit haben, wenn wir jetzt sagten: Wir sollten dieses
Hase-und-Igel-Spiel beenden . Wir sollten nicht immer
weiteren Novellierungsgesetzen - wenn ich es richtig
sehe, haben wir das Zweite Finanzmarktnovellierungsgesetz noch in dieser Legislaturperiode auf dem Tisch hinterherlaufen . Wir sollten dem Ganzen den Garaus
machen und einfach grundsätzlich festlegen - in anderen
Gesetzen tun wir es bereits -, dass Kleinanlegerinnen
und Kleinanleger dadurch geschützt werden, dass sie nur
das tatsächlich in die Finger bekommen, womit sie auch
umgehen können . Dafür sind natürlich gesunder Menschenverstand und Informationsblätter, die den Produkten quasi als Beipackzettel beigefügt sind, notwendig .
Insofern brauchen Sie doch gar kein Problem mit dem
von uns geforderten Finanz-TÜV zu haben .
({1})
Herr Kollege Steffel.
Liebe Frau Kollegin Karawanskij, ich fand nicht Ihre
Rede, sondern einige Beispiele Ihrer Rede amüsant .
Was die Zulassung angeht, ist es ganz einfach: Eine
Zulassung von Produkten beinhaltet logischerweise die
Nichtzulassung von anderen Produkten, und die Nichtzulassung von anderen Produkten bedeutet de facto das
Verbot dieser anderen Produkte . Deswegen sage ich völlig zu Recht: Sie wollen mit Ihrem Antrag Produkte verbieten . Übrigens, Regelungen dafür gibt es . Wir sagen:
Das ist nicht die Lösung; lasst uns vielmehr aufklären .
Lasst uns schauen, dass wir einfach allen Menschen die
Möglichkeit geben, sich frei zu entscheiden und dabei
keinen Fehler zu machen . - Ich habe dazu das Nötige
gesagt .
Es ist Freitagmittag. Ich hoffe, dass Sie am Wochenende darüber nachdenken und Montagmorgen schlauer
zurückkommen .
({0})
Jetzt hat der Kollege Dr . Gerhard Schick, Bündnis 90/
Die Grünen, das Wort . - Bitte schön .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Auseinandersetzung hat gerade schon gezeigt, dass
die Frage, wie viele Regeln es eigentlich braucht, wie
viele Vorgaben der Staat machen soll, immer heiß umstritten war . Wenn man sich anschaut, wie sich die CDU/
CSU-Fraktion über Jahre hinweg gegen Verbote bei offensichtlich schlechten, nämlich intransparenten Finanzprodukten, die für die Kunden eindeutig gefährlich sind,
gewehrt hat, dann merkt man: Es waren genau dieselben Argumente, die Sie heute vorgetragen haben, Herr
Steffel. Sie haben heute zugegeben, dass Produktverbote
manchmal schon notwendig sind . Daher sage ich Ihnen:
Wägen Sie Ihre Argumente noch einmal sehr gut . Es gibt
nämlich sehr wohl schlechte Finanzprodukte .
({0})
Es gibt zu viele schlechte Finanzprodukte, nämlich solche, bei denen das, was das Finanzprodukt eigentlich
ausmacht, verschleiert wird, ohne dass der Kunde das
nachvollziehen kann . Von dieser Art Produkte gibt es
Hunderttausende in Deutschland .
Damit sind wir bei einem Zustand, den man einfach
einmal sehen muss. Herr Steffel, Sie haben gesagt: Wir
müssen aufpassen, dass wir schnell genug sind . - Leider
ist der Staat unter dieser Bundesregierung nicht schnell
genug. Seit 2008 hat die Menge der Zertifikate, die in
Deutschland zirkulieren, zugenommen .
({1})
Die Lebensversicherungen sind an vielen Stellen immer
noch intransparent, und die Auszahlungen für die Kunden sind nicht nachvollziehbar . Deswegen muss man
sagen: Diese Regierung ist gegenüber dem Finanzmarkt
nicht schnell genug .
({2})
Was leistet jetzt ein Finanz-TÜV, wie er im Antrag
vorgeschlagen wird? Erst einmal möchte ich sagen: Im
Vergleich zu dem, was in der letzten Legislaturperiode
vorgeschlagen wurde, gibt es eine entscheidende Verbesserung: Sie setzen jetzt nämlich auf die europäische
Ebene, weil wir einen europäischen Finanzbinnenmarkt
haben - das haben Sie erkannt -, und deswegen wird eine
solche Zulassung europäisch verankert sein müssen . Die
Frage, inwieweit der Staat für das haftet, was er zugelassen hat, ist jetzt beantwortet - wunderbar .
Es gibt trotzdem entscheidende Schwächen, und die
muss man sehen .
Mein erstes Beispiel für diese Schwäche betrifft jetzt
nicht den Verbraucherbereich, sondern Derivate wie
zum Beispiel Kreditausfallversicherungen, die berühmten Credit Default Swaps . Was solche Absicherungsgeschäfte zwischen einzelnen Unternehmen und Banken
betrifft, so sind das erst einmal Produkte, bei denen eine
Behörde sagen würde: Das können wir zulassen . - Möglicherweise können in einem Einzelfall zwischen Unternehmen, die genau wissen, was sie machen, bestimmte
Absicherungen Sinn machen . Wenn das aber zum Massengeschäft wird und plötzlich ein Riesenmarkt daraus
entsteht, dann wird das in einer Immobilienkrise eine
massiv gefährliche Geschichte . So gibt es verschiedene
Produkte, die in ihren Ursprüngen gar nicht mal völlig
verkehrt waren, als sie in Einzelfällen genutzt wurden,
die aber in ihrer Gesamtwirkung für den Markt fatal werden können . Wenn Sie jetzt denken: „Wenn man diese
Produkte am Anfang einmal prüft, dann ist alles gut“,
dann springen Sie eindeutig zu kurz . Vielmehr braucht es
auch eine Kontrolle: Welche Entwicklungen gibt es am
Markt? Insofern ist diese makroökonomische Sicht, also
die gesamtwirtschaftliche Sicht, die Frage „Was passiert
am Finanzmarkt?“ und gegebenenfalls ein nachträgliches
Eingreifen, um Produkte aus dem Verkehr zu ziehen, die
eine gefährliche Wirkung haben, so wichtig . Das übersehen Sie . Es braucht nicht nur einen Zulassungs- und Kontrollprozess am Anfang, es braucht ihn auch, während die
Produkte laufen, und das fehlt .
({3})
Das Zweite, was mich nicht überzeugt, ist: Es gibt
ja bereits Kontrollen am Anfang, zum Beispiel die Prospektpflicht. In der Tat sehen wir auch da Nachsteuerungsbedarf . Bisher ist das immer noch zu formal, und
es wird zu wenig darauf geschaut, ob sich die Inhalte widersprechen, ob es Hinweise auf Interessenkonflikte gibt.
Viele Finanzprodukte sind als Produkt erst einmal okay .
Nehmen wir den Bereich der Immobilienfinanzierung:
Wenn derjenige, der ein solches Produkt anbietet, mit
dem Bauträger, dem Vermieter und anderen am Projekt
Beteiligten unter einer Decke steckt, sodass die Rendite,
die normalerweise dem Anleger zugutekommen müsste,
unter den anderen aufgeteilt wird, dann steckt das Problem nicht allein im Produkt, sondern in dem, was insgesamt passiert . In diesem Fall darf man nicht nur auf die
Produktzulassung schauen, um beim Vergleich mit den
Arzneimitteln zu bleiben, sondern man braucht, wenn so
etwas auf den Markt kommt, auch eine Kontrolle, dass
es hier keine Interessenkonflikte gibt und der Anleger
nachher nicht leer ausgeht, bis hin zu betrügerischen Geschäftsmodellen . Ich glaube, da greift der Vergleich mit
den Arzneimitteln an dieser Stelle zu kurz .
({4})
Wenn man schon den Vergleich mit Arzneimitteln
bemüht, dann muss man sagen: Auch im Finanzbereich
gibt es einen Beratungsprozess . Viele Produkte sind für
manche Kunden grundsätzlich in Ordnung, erreichen
aber auch die völlig falschen Kunden . An der Stelle muss
man die Frage der Zulassung zusammendenken mit dem
ganzen Beratungsprozess . Hier ist Kritik daran zu üben,
wie es heute in Deutschland läuft . Wir haben das Provisionsunwesen immer noch nicht überwunden, obwohl wir
schon seit acht Jahren, seit Ausbruch der Finanzmarktkrise, hier intensiv darüber diskutieren . Es gibt immer
noch Leute, die es schützen wollen - in Brüssel und in
Deutschland. Dazu gehören leider das Bundesfinanzministerium und insbesondere die CDU/CSU-Fraktion .
Auch da müsste dringend etwas getan werden . Wir müssen also die Dinge in einem größeren Zusammenhang sehen und vorher und nachher eingreifen . Dann kann man
den Zustand überwinden, dass es immer noch zu viele
schlechte Produkte für die Anleger gibt .
Danke .
({5})
Vielen Dank . - Jetzt hat für die SPD-Fraktion Sarah
Ryglewski das Wort .
({0})
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren!
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger auf der Tribüne!
Finanz-TÜV - Kompliment an die Linken - ist ein toller
Begriff. Wir alle können uns etwas unter TÜV vorstellen.
Wenn wir uns in ein TÜV-geprüftes Auto setzen, dann
wissen wir, dass es sicher ist, dann haben wir Vertrauen .
Was könnte man denn grundsätzlich dagegen sagen, eine
solche Prüfung, die wir in Deutschland immerhin schon
seit mehr als 100 Jahren mit Verlässlichkeit und Sicherheit verbinden, auch für Finanzprodukte einzuführen?
Ich sage es Ihnen: Bei genauerer Betrachtung -, das kam
ja schon in den vorherigen Redebeiträgen zur Sprache ist es nämlich so, dass dieses Sicherheitsversprechen
nicht viel mehr bietet als diesen griffigen Namen.
Das, was Sie in Ihrem Antrag vorschlagen, ist leider
nur eine Scheinlösung, die viel verspricht, den Anlegerinnen und Anlegern aber nur eine gefährliche Scheinsicherheit bietet . Wirkliche Verbesserungen erreichen wir
nur, indem wir die Transparenz für Anlegerinnen und Anleger erhöhen, vor allem aber eine gute Beratung sicherstellen, weil nicht jedes Finanzprodukt für jeden geeignet
ist, und indem wir weiterhin für eine effektive Aufsicht
sorgen .
({0})
Sie hingegen fordern eine Zulassungspflicht für Finanzprodukte und führen als Begründung an, dass es
diese auch für Medikamente und technische Produkte
gebe . Leider muss ich Ihnen sagen: Pillen und Policen
sind sich in etwa so ähnlich wie Äpfel und Birnen . Der
Vergleich zwischen der Zulassung von Medikamenten
und der Zulassung von Finanzprodukten hinkt einfach .
Bei einer Pille kann ich ganz konkret bestimmte Folgen
absehen; ich kann sie an Probanden testen . Bei einem Finanzprodukt muss ich mich auf eine Prognose beschränken . Ich weiß nicht, wie viel Erfolg ein Unternehmen
hat, ich weiß nicht, ob es Zukunft hat, und ich weiß auch
nicht - das hat Herr Kollege Dr . Schick dargestellt -, ob
sich möglicherweise Produkte, die für einen einzelnen
Verbraucher geeignet sind, in der Summe zu einem Problem aufbauen . Deswegen ist das eine Scheinsicherheit .
Finanzmärkte und Risiko sind eben untrennbar miteinander verbunden .
Hinzu kommt, dass wir Leute möglicherweise mit
Produkten locken, die für sie gar nicht geeignet sind,
weil der Stempel „sicher“ darauf ist: staatlich geprüft .
Der TÜV hat es geprüft; das kennen wir vom Auto . Das
kann man also machen . - Das wollen wir nicht .
Es wird argumentiert, man könne die Haftung des
Staates dafür ausschließen . Das kann man juristisch
möglicherweise machen; das will ich nicht ausschließen .
Trotzdem ist es so, dass, wenn wir den Finanz-TÜV einrichten und es ein Problem gibt, das nicht der Kontrolle
der Einrichtung unterliegt, alle mit dem Finger auf diese
Einrichtung zeigen werden . Ihr Vertrauen wäre dann untergraben, und wir wären keinen Schritt weiter .
Etwas anderes, was ich sehr kritisch finde, ist, wie
Sie mit den Etiketten „Verbraucherrelevanz“, „Verbraucherfreundlichkeit“ und „Verbraucherschutz“ umgehen .
Ich frage mich: Was ist denn eine verbraucherfreundliche Geldanlage? Ist ein Sparbrief mit mageren 0,1 Prozent Zinsen verbraucherfreundlich? Ist ein kompliziertes
Zertifikat, das mir aktuell 5 Prozent Rendite verspricht
und bei dem mir ein geringes Risiko zugesichert wird,
verbraucherfreundlich? Was ist mit einem Nachrangdarlehen für ein junges ökologisches Unternehmen? Ist das
verbraucherfreundlich? Ob ein Produkt geeignet ist, das
kommt auf den Verbraucher an und darauf, was er möchte .
({1})
Ich würde nicht jedem empfehlen, in Crowdfunding zu
investieren . Aber wenn jemand sagt: „Ich habe in meiner Nachbarschaft jemanden, der ein innovatives Produkt
entwickelt hat, das ich unterstützen möchte“, dann würde
ich sagen: Das Risiko ist möglicherweise relativ hoch;
aber wenn du Interesse an dem Produkt hast und Geld
übrig hast, dann investiere .
Für uns heißt verbraucherfreundliche Kapitalanlage:
Jeder bekommt das Produkt, das zu ihm passt .
({2})
Dafür braucht man in erster Linie eine gute Beratung .
Wir sollten Anlegerinnen und Anleger nicht in falscher
Sicherheit wiegen, noch sollten wir für sie entscheiden,
wie sie ihr Geld investieren sollen .
In der Realität - das stört mich generell an Ihren Anträgen - gibt es nicht die eine große Lösung, mit der alle
Risiken von den Kapitalmärkten verschwinden und jeder Anleger sein Geld ohne Risiko, dafür aber mit hohen
Renditen anlegen kann . In der Praxis führt nur das Nebeneinander und Miteinander verschiedener Maßnahmen
zu einem verbesserten Schutz von Verbraucherinnen und
Verbrauchern . Daran arbeiten wir in dieser Koalition in
Deutschland und in Europa . Unsere Ziele sind deswegen
Transparenz, eine effektive Aufsicht der Finanzmärkte
und vor allem - das habe ich vorhin schon gesagt - eine
gute Beratung, damit jeder das Produkt bekommt, das zu
ihm passt .
Mit dieser Koalition ist hier einiges passiert; Herr Kollege Steffel hat das schon ausgeführt. Wir haben viele
Produkte, die bisher nur unzureichend reguliert werden,
aus dem Zwielicht des Grauen Kapitalmarkts geholt . Wir
stellen sicher, dass sie nicht mehr auf Kleinanlegerinnen
und Kleinanleger losgelassen werden, indem wir gesagt
haben: Diese Produkte sind für diesen Anlegerkreis nicht
geeignet . - So können Anlegerinnen und Anleger besser
einschätzen, welche Chancen und Risiken sich hinter
Produkten wie Nachrangdarlehen oder Crowdinvestments verbergen .
Die Verbraucherinnen und Verbraucher müssen zudem laufend über auftretende Problem informiert werden . Auch hier haben wir etwas getan . Das Thema Risikoklassen habe ich schon angesprochen; dadurch
wird es leichter, sich im Dschungel der Finanzprodukte
zurechtzufinden. Das Thema „Kosten von Produkten“
werden wir weiter angehen . Wir haben die Aufsicht, die
Eingriffsmöglichkeiten der BaFin weiter verbessert; das
muss ich nicht weiter ausführen . Es ist ja nicht so, dass
das ein stumpfes Schwert ist . Sie macht von ihren Möglichkeiten Gebrauch . So ist die BaFin beispielsweise bei
Bonitätsanleihen und Differenzkontrakten schon tätig
geworden . Wir werden weiter beobachten, was passiert .
Ich möchte zum Schluss noch auf das Thema Beratung eingehen . Ich bin mit dem Kollegen Dr . Schick
völlig einer Meinung: Wir müssen dafür sorgen, dass die
Beratung weiter verbessert wird . Für mich heißt das ganz
klar, dass wir das Thema Honorarberatung bzw . unabhängige Beratung - das ist eigentlich der richtige Begriff;
Honorar beratung unterstellt ja immer, dass das andere
umsonst ist - weiter voranbringen müssen . Ich würde
mich freuen, wenn bei den Kolleginnen und Kollegen
von der Union noch ein bisschen mehr Offenheit und Bereitschaft vorhanden wären, hier weiterzukommen . Als
ersten Schritt sollten wir im FiMaNoG festlegen, dass
die Kosten und die Interessenlage bei provisionsbasierter
Beratung offengelegt werden, damit eine Vergleichbarkeit gewährleistet werden kann .
({3})
Frau Kollegin, Sie müssen jetzt wirklich Ihr Versprechen einhalten, zum Schluss zu kommen .
Genau . - Deswegen mein Appell: Wir debattieren
in der nächsten Woche hier im Plenum über das Zweite Finanzmarktnovellierungsgesetz . In den Beratungen
sollten wir das Thema dann angehen . Finanzmarktnovellierungsgesetz klingt vielleicht nicht so sexy wie Finanz-TÜV, ist aber wahrscheinlich deutlich wirksamer .
Vielen Dank .
({0})
Vielen Dank . - Jetzt hat Dr . Volker Ullrich, CDU/
CSU-Fraktion, das Wort .
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Antrag der Linken, einen Finanz-TÜV einzuführen, zielt darauf ab, dass Finanzprodukte zukünftig
nur noch auf den Markt kommen dürfen, wenn sie vorher
zugelassen wurden . Der Hintergrund dieser Regelung ist
in der Tat ein Ärgernis . In den vergangenen Jahren gab
es gerade im Bereich des sogenannten Grauen Kapitalmarkts Vorkommnisse, die uns als Gesetzgeber nicht zufriedenstellen können: Schiffsfonds mit hohen Verlusten,
Schrottimmobilien, die viele Kleinanleger in die Pleite
getrieben haben, Abschlüsse von Verträgen, bei denen
lediglich das Provisionsinteresse im Vordergrund stand
und nicht das Interesse des Anlegers, und auch betrügerische Fonds, deren Vorgehen im Augenblick strafrechtlich
aufgearbeitet wird .
So ärgerlich diese Vorkommnisse auch waren, so ärgerlich ist es auch, dass Sie in Ihrem Antrag nicht deutlich
machen, dass die Große Koalition auf diesen Missstand
bereits geantwortet hat . Es sind viele Gesetze erlassen
worden, mit denen wir auf diese Missstände reagiert haben, zum Beispiel das Kleinanlegerschutzgesetz mit einer strikteren Prospekthaftung und mehr Befugnissen für
die BaFin . Es gibt seit vielen Jahren in Deutschland ein
Altersvorsorgeverträge-Zertifizierungsgesetz, mit dem
gerade die Produkte der Altersvorsorge unter eine ganz
besonders strenge Prüfung gestellt werden . Wir debattieren in der nächsten Woche im Deutschen Bundestag über
das Zweite Finanzmarktnovellierungsgesetz, und im Bereich des Verbraucherschutzes gibt es seit einigen Jahren
die Marktwächter, die ganz deutlich darauf hinweisen,
welche Produkte für Verbraucher geeignet sind und welche nicht . Diese Art der klugen Regulierung zeigt, dass
der Gesetzgeber aus den Missständen gelernt hat, und er
hat gehandelt . Zu sagen, es sei nichts passiert, ist allenfalls populistisch, meine Damen und Herren .
({0})
Ihr Finanz-TÜV wird von einer ganz anderen Grundhaltung getragen . Sie sagen explizit: Alles, was nicht ausdrücklich erlaubt ist, ist verboten . Dem liegt im Grunde
genommen ein ganz anderer Geist, eine andere Haltung
zu Fragen der Freiheit und der sozialen Marktwirtschaft
zugrunde . Ich sage Ihnen ehrlich: Ihre Haltung gegenüber Freiheit und Marktwirtschaft ist nicht unsere Haltung . Das ist Staatsdirigismus, und den lehnen wir entschieden ab .
({1})
Ihr Konzept wird auch nicht funktionieren, weil eine
Umsetzung in der Praxis nicht zu leisten ist . Sie schlagen
vor, eine Produktanlage aus Deutschland von einer Behörde mit Sitz in Paris prüfen zu lassen . Von den sprachlichen Schwierigkeiten bei einem französischen, portugiesischen oder finnischen Mitarbeiter ganz zu schweigen,
beantworten Sie die praktischen Fragen nicht, zum Beispiel, wie es funktionieren soll, dass sich Mitarbeiter
einer europäischen Behörde in jedes Geschäftsmodell
einarbeiten .
({2})
Die praktischen Schwierigkeiten dieses Modells haben
Sie nicht einmal im Ansatz umrissen . Aber Sie bekommen die Schwierigkeit, dass Sie die Haftung des Staates,
selbst wenn Sie sie am Anfang vielleicht rechtlich ausschließen wollen, tatsächlich nicht ausschließen können,
wenn der Staat einem Produkt seinen Stempel aufdrückt;
denn dann wird jeder Kleinanleger, bei dem sich das
Risiko verwirklicht hat, nicht beim Emittenten Regress
nehmen, sondern den Staat in Anspruch nehmen . Der
Staat haftet aber nicht für das Versagen einer Kapitalanlage . Das ist nicht unser Verständnis .
({3})
Sie müssen das einmal plastisch sehen . Ich erkläre es
Ihnen ganz einfach:
({4})
Wenn in einem Restaurant oder in einer Gaststätte jeder
für sich selbst bezahlt, ist der Umsatz meistens geringer,
als wenn einer die Runde schmeißt und jeder so viel nehmen kann, wie er möchte . So wird es auch im Bereich der
Finanzprodukte sein . Wenn der Staat haftet, dann werden
die Emittenten im Endeffekt ein höheres Risiko eingehen, als wenn der Staat nicht haften würde, weil eben
letzten Endes der Staat dahintersteht . Die Frage des Risikos haben Sie völlig ausgeblendet .
({5})
Wir setzen auf das Konzept einer vernünftigen Regulierung . Wenn Betrug vorliegt, schaltet sich der Staatsanwalt ein . Wenn Angaben im Prospekt nicht ordnungsgemäß gedruckt sind, kann die BaFin das Produkt bereits
jetzt aus dem Verkehr ziehen .
({6})
Wir sagen aber auch ganz ehrlich, dass es in unserer
Volkswirtschaft einen Bedarf an Kapitalanlagen, die
Möglichkeit des Einsammelns von Geld gibt, und zwar,
weil wir es für Investitionen benötigen . Ich nenne Ihnen nur eine Zahl aus dem Bereich der Start-ups: Im
Jahr 2015 ist im gesamten Silicon Valley die Summe von
34 Milliarden Dollar an Wagniskapital eingesammelt
worden, um Start-ups, neue Firmen zu finanzieren. Im
gleichen Zeitraum sind in ganz Deutschland nur 4 Milliarden Euro eingesammelt worden . Das heißt, allein im
Silicon Valley war es achtmal so viel . Wir brauchen auch
in Deutschland eine Kultur des Geldeinsammelns - für
Start-ups, für neue Ideen, für neue Firmen und für junge
Gründer . Diese Idee würden Sie zunichtemachen, wenn
Sie letztendlich den Staat für die Geschäftsidee eines jungen Unternehmers verantwortlich machten . Das ist nicht
unsere Vorstellung von einer vernünftigen Finanzarchitektur .
({7})
Wir entlassen - das dürfen wir auch nicht - vor dem
Hintergrund unserer Vorstellungen die Menschen nicht
aus der Verantwortung . Es gilt der Satz, dass jeder nur
das Produkt kaufen soll, das er selbst versteht und beurteilen kann . Die Eigenverantwortung des Verbrauchers
ist die notwendige Kehrseite des staatlichen Schutzes,
den wir leisten . Nur notwendige Eigenvorsorge und klare
und strikte Regeln zusammen ergeben eine Finanzmarktund Kapitalmarktarchitektur, die wirklich vernünftig ist .
Lassen Sie uns deswegen an klugen und praxistauglichen
Regelungen weiterarbeiten, an Regelungen, die einerseits verhindern, dass betrügerische Produkte auf den
Markt kommen, die uns andererseits aber Luft lassen,
damit wir Investitionen tätigen und Kapital einsammeln
können, um damit zum Wohlergehen unserer Volkswirtschaft beizutragen .
Vielen Dank .
({8})
Vielen Dank . - Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist Herr Kollege Christian Petry, SPD-Fraktion .
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Zunächst einmal habe ich mich gefragt, was der
Anlass war, dass wir zum heutigen Zeitpunkt, da Donald
Trump Präsident wird, über den Finanz-TÜV reden . Vielleicht ist das Zufall; ich weiß es nicht genau . Ich habe
darauf noch keine Antwort gefunden .
Die Kritik, dass es dubiose Praktiken bei der Finanzanlagevermittlung und undurchsichtige Finanzvehikel
gibt, ist absolut berechtigt . Der Graue Kapitalmarkt hat
uns hier schon oft in Debatten beschäftigt . Wir hatten
Produkte, die tatsächlich kritisch waren . In Ihrem Antrag
wird auch Prokon genannt . Das war jetzt nicht unbedingt
ein klassisches Produkt des Grauen Kapitalmarkts . Die
Hinweise waren alle da . Es wollte sie nur niemand lesen;
denn 10 Prozent Zinsen sind so verführerisch, dass man
das Kleingedruckte oder auch das größer Gedruckte nicht
mehr liest . Von daher muss man immer aufpassen, wie
man argumentiert . Das passt also als Beispiel nicht, das
Thema als solches letztlich aber schon .
Wir haben hier im Bundestag in vielfältiger Weise
Regularien beschlossen . Das Kleinanlegerschutzgesetz,
durch das wir Finanzprodukte transparenter gemacht haben, ist genannt worden . Wir haben auch bezüglich des
Wertpapiergeschäfts Regelungen und Gesetze geschaffen. Wir haben die Pflicht, ein Protokoll über das Beratungsgespräch zu verfassen, eingeführt bzw . verbessert;
das war ein wesentlicher Schritt . Wir haben hinsichtlich
der Honoraranlagenberatung seit 2014 ein Gesetz, durch
das die unabhängige Finanzberatung, die Vermittlung
von Wertpapieren und Vermögensanlagen geregelt wird .
Ich glaube, seit der Finanzkrise ist es Daueraufgabe des
Deutschen Bundestages, hier Regelungen zu implementieren .
Ziel dieser Regelungen sind die Stärkung der Integrität
der Finanzmärkte und die Verbesserung der Transparenz
für Anlegerinnen und Anleger . In der kommenden Woche - es ist hier genannt worden - fällt der Startschuss für
die Beratungen zum Zweiten Finanzmarktnovellierungsgesetz, dem FiMaNoG 2 . Das ist ein Mammutwerk; die
Vorlage umfasst 500 Seiten . Darin sollen, wenn man es
genau betrachtet, über 80 Rechtsfelder neu geregelt bzw .
verbessert werden . Die Finanzmarktrichtlinie MiFID
und die Durchführungen dazu in der MiFIR werden die
Märkte grundlegend noch transparenter und noch konDr. Volker Ullrich
trollierter machen . Das ist ein ganz wesentlicher Schritt .
Wir werden sehr intensiv beraten müssen, wie weit wir
da gehen .
Es ist in der Tat so, dass wir die Märkte nicht überregulieren wollen, sodass sie nicht mehr funktionieren .
Ein Spannungsfeld muss es geben . Die Verbraucher haben selbstverständlich auch Verantwortung; das ist ganz
klar . Hier ist niemand blauäugig . Wir wissen: Egal, was
wir an Regelungen einbringen, wenn jemand hohe Zinsversprechen macht, wird es immer wieder welche geben,
die darauf hineinfallen. Zins ist Ausfluss von Risiko; das
ist eine Binsenweisheit . Aber es ist sehr verführerisch,
wenn jemand sagt: Statt 0,1 Prozent auf eurem Sparbuch
bekommt ihr 8 Prozent bei der Anlage, und alles ist sicher . - Herr Dr . Meister wird mir zustimmen können,
dass es immer wieder solche Fälle gibt und dass es immer
wieder Risiken gibt . Die BaFin hat ja tagtäglich damit
zu tun .
Ich denke, dass die Geeignetheitsprüfung für jedes
Produkt durch die FiMaNoG-2-Novelle letztlich deutlich
gestärkt wird . Wir werden bessere Beratungsprotokolle
haben. Zielmärkte werden definiert werden. Zu den Anforderungen an die Finanzvermittler werden umfassende
Produktinformationen gehören . Die Qualität der Anlageberatung wird deutlich erhöht . Wir werden letztlich
die Honorarberatung auf europäischer Ebene einführen .
Die Möglichkeit von unabhängigen Finanzvermittlern,
Provisionen anzunehmen, wird eingeschränkt . Solche
Zuwendungen dürfen in Zukunft nur noch unter ganz bestimmten Bedingungen erhoben und einbehalten werden .
Durch diese Regelungen wird es stärkere Offenlegungspflichten geben, und der Markt wird für den Anleger
transparenter und damit auch sicherer .
({0})
Die Kolleginnen und Kollegen der Linken fordern
eine Ausweitung der Kompetenzen auf europäischer
Ebene, auf europäische Aufsichtsbehörden . Die Wertpapieraufsicht ESMA wird genannt . Sie soll zusammen
mit der Bankenaufsicht EBA und der Versicherungsaufsicht EIOPA Produkte zulassen . Das wird technisch ganz
schwer . Das ist ein Vorschlag, über den man reden kann .
Aber angesichts des Geflechts, das dahintersteht, halte
ich es für sehr schwierig, solche Produkte spontan - im
Crowdfunding muss es eben schnell gehen - effektiv
und effizient zu regeln. Gleichwohl ist natürlich die Idee
eines Finanz-TÜVs nicht ganz abwegig . Darüber kann
man reden . Es waren die Verbraucherschützer, die diesen Begriff zum ersten Mal verwendet haben und vorgeschlagen haben, das auf europäischer Ebene zu tun . Wir
werden im Verfahren darüber diskutieren . Die Diskussion ist durchaus offen. Aber ich halte das, was wir auf
der Ebene der Bundesrepublik Deutschland schon alles
gemacht haben und machen werden, durchaus für effektiv . Ich würde zunächst abwarten wollen, wie sich das
auswirkt . Es wirkt sich sehr positiv aus . Trotzdem stehen
spannende Gespräche im Fachausschuss an . Darauf freuen wir uns alle .
Glück auf!
({1})
Vielen Dank . - Damit ist die Aussprache beendet .
Interfraktionell wurde vereinbart, die Vorlage auf
Drucksache 18/9709 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen . - Ich sehe, Sie sind
damit einverstanden . Dann ist die Überweisung so beschlossen .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses ({0}) zu der Unterrichtung durch den Wehrbeauftragten
Jahresbericht 2015 ({1})
Drucksachen 18/7250, 18/9768
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . - Auch hier gibt
es keinen Widerspruch . Dann ist das so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages, Herr Dr . HansPeter Bartels .
Dr. Hans-Peter Bartels, Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages:
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Seit Abgabe meines Jahresberichts für 2015 ist einiges
geschehen: auf der Weltbühne noch mehr Risiken, noch
mehr Unberechenbarkeit, noch mehr Erwartungen an
Deutschland und in der deutschen Politik ein sehr breites Bekenntnis zur gewachsenen Verantwortung und zur
Stärkung der Bundeswehr . Unsere Soldatinnen und Soldaten müssen die Mittel bekommen - personell, materiell, finanziell -, die sie brauchen, um ihre zunehmenden
und sehr unterschiedlichen Aufträge gut erfüllen zu können .
Ich freue mich, dass das Parlament hier in wichtigen
Bereichen der Antreiber ist - Stichwort „materielle Vollausstattung“ -, aber auch bei Fragen der Attraktivität Stichwort „Trennungsgeld/UKV“ . Außerdem gibt es
Fortschritte beim Dauerthema Radaropfer. Der Begriff
„Parlamentsarmee“ wird hier sehr gut mit Inhalt gefüllt .
Es geht eben nicht nur um die Beschlussfassung über
Auslandseinsätze, sondern ganz grundsätzlich um Verantwortung für die Soldatinnen und Soldaten . Das ist unsere gemeinsame Aufgabe .
Im letzten Bericht hatte ich unter anderem die Personalausstattung unserer Flugabwehrraketenkräfte thematisiert . Die Einsatzintervalle bei Active Fence in der
Türkei waren für viele Soldatinnen und Soldaten zu kurz .
Es gab zu wenig Regeneration, zu wenig Personal . Wenn
ich jetzt in der „Trendwende Personal“ lese, dass das
FlaRak-Geschwader künftig um 400 Dienstposten aufgestockt wird, macht mich das froh . Die Richtung stimmt .
Hoffentlich kommt das Personal auch, und zwar bald.
Personalgewinnung, Personalbindung und Attraktivität - das zusammen ist ein Riesenthema . Die dazu
im letzten Jahr beschlossenen Verbesserungen sind alle
nützlich . Aber viele Bestandssoldaten - Portepee-UnChristian Petry
teroffiziere, Fachdienstoffiziere - sagen, dass sie noch
nichts von verbesserter Attraktivität merken . Woran liegt
das? Sollten wir uns hier nicht noch einmal zusätzliche
Gedanken machen? Ganz gewiss spielt für die Attraktivität des Dienstes das Schließen der materiellen und
personellen Lücken eine zentrale Rolle . Das ist militärischer Kernbereich . Dazu kommen die Belastungen des
Pendelns für sehr viele Soldatinnen und Soldaten und
ihre Familien sowie die Unsicherheit über Verwendung,
Versetzung, Beförderung und letztlich die Dauer der
Dienstzeit . Altersgrenzen vertragen keine Spekulationen .
Soldaten wollen Planungssicherheit .
Eine besondere Aktivität, die 2015 begonnen hat,
läuft jetzt aus . Das ist die Flüchtlingshilfe . Im nächsten
Bericht werde ich einige Anmerkungen dazu machen .
Hier möchte ich Ihnen nur weitergeben, was der Leiter
des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, FrankJürgen Weise, mir dazu geschrieben hat . Er schreibt:
Die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr leisten im Bundesamt in Haltung, Einstellung und in
der Qualität der Arbeit einen unschätzbaren Beitrag .
Die Mobilität und Flexibilität, die sich durch diese personelle Unterstützung für das BAMF ergibt,
ist … von hoher Bedeutung . Es bestätigt das beste
Bild, welches wir von unserer Bundeswehr haben .
So weit Herr Weise . Ich glaube, wir alle stimmen ihm zu
und sagen: Danke!
({2})
Danke für das große Engagement Tausender Soldatinnen
und Soldaten bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise!
Im nächsten Bericht - ich übergebe ihn nächste Woche - wird der Soldatenarbeitszeitverordnung ein Kapitel
gewidmet sein . Sie war 2015 in der Bundeswehr noch
kein Thema, insofern auch nicht in meinem Bericht .
Vielleicht war das ein Fehler; bessere Vorbereitung hätte
helfen können . So muss jetzt, wie es dann immer heißt,
nachgebessert werden . Aber bitte ohne schuldhaftes Zögern! Kleinkariertheiten im Regelungswesen gehen immer zulasten der Soldaten .
Wir reden in diesen Tagen auch über die Erweiterung
des deutschen Engagements in Mali . Parallelen zu Afghanistan kommen einem da fast reflexartig in den Sinn, und
sie werden genauso reflexartig offiziell zurückgewiesen.
Klar, jeder Einsatz ist anders . Aber Lektionen, die wir aus
Afghanistan lernen können, sollten wir nicht ignorieren .
Es fehlt auch in Mali bisher an gemeinsamer Führung
oder wenigstens starker Koordination der unterschiedlichen militärischen Bemühungen von UNO, EU, französischer Armee, malischer Armee und all der zusätzlichen
zivilen Hilfe, die ins Land kommt . Der vernetzte Ansatz
bzw . - international gesprochen - der Comprehensive
Approach braucht mehr als guten Willen . Er braucht verbindliche Strukturen . Unsere Soldatinnen und Soldaten
wollen, dass ihr Einsatz in Mali erfolgreich ist . Kümmern
wir uns also auch um die Strukturen, die einen Erfolg in
Mali möglich machen .
Ich möchte hier noch ein Thema ansprechen, das
ebenfalls nicht im alten Jahresbericht erwähnt ist, sondern gerade jetzt recht aktuell geworden ist: den sogenannten Verhaltenskodex . Ich verstehe, dass Sie, Frau
Ministerin, auf die Vorschläge der Müller-Kommission
positiv reagieren wollten .
({3})
Dabei geht es um das Rüstungs- und Beschaffungswesen
der Bundeswehr . Hier können wir uns alle in der Tat manches vorstellen, was noch besser zu regeln wäre . Aber
was, bitte schön, soll der Panzergrenadier in Hagenow
davon halten, wenn er auf solche Compliance-Kauderwelsch-Sätze verpflichtet werden soll wie - ich zitiere
einen - „Wir wollen die strategische Koordination von
Politikfeldern, die Realisierung von politischen Zielen,
Schwerpunkten und Programmen und die internationale
Zusammenarbeit gestalten“?
({4})
Wer ist „wir“? Was soll die Truppe mit solchem Agentur-Blabla? Was machen die Soldatinnen und Soldaten
bisher falsch, dass sie jetzt so einen Verhaltenskodex
bekommen sollen? Wenn diese fünf Seiten eng geschriebener Text die Lösung sind, was war dann eigentlich das
Problem?
Soldaten schwören oder geloben; da geht es um Recht
und Freiheit . Auch die Beamten der Bundeswehr schwören übrigens einen Eid . Alle Rechtsverhältnisse der Soldaten sind durch das Grundgesetz, durch Bundesgesetze
und durch eine Vielzahl von Erlassen und Bestimmungen
geregelt .
({5})
Keine Behörde, keine Firma hat präzisere Regeln als
die Bundeswehr . Ich meine, das reicht . Unsere Soldatinnen und Soldaten sind mündige Bürger, Staatsbürger in
Uniform . Sie folgen den Grundsätzen der Inneren Führung . Das heißt, dass sie in aller Loyalität auch berechtigt sind, Kritik zu üben, auch zum Beispiel gegenüber
Bundestags abgeordneten . Unsere Soldatinnen und Soldaten verdienen Vertrauen . Deshalb: Lassen Sie uns bitte
noch einmal darüber reden, wo wirklich etwas geregelt
werden muss und wo nicht .
({6})
Für die Arbeit am Bericht und die Umsetzung vieler
Hinweise und Empfehlungen danke ich meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Amt, den Zuständigen
in Ministerium und Bundeswehr und den Berichterstatterinnen und Berichterstattern der Fraktionen . Die Zusammenarbeit ist wirklich kollegial und konstruktiv; auch
das macht mich froh .
Vielen Dank .
({7})
Dr. Hans-Peter Bartels
Vielen Dank . - Für die Bundesregierung hat jetzt Bundesministerin Dr . Ursula von der Leyen das Wort .
({0})
Vielen Dank . - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Lieber Herr Bartels, Herr Wehrbeauftragter! Ich fange mit dem Jahresbericht 2015, über den wir
hier diskutieren, an . Wir müssen vielleicht irgendwann
einmal ein anderes Tempo hinbekommen, auch im Hinblick auf die Debatte; denn es ist für uns alle, glaube
ich, nicht ganz einfach, über den Jahresbericht 2015 zu
diskutieren, wenn schon nächste Woche der berechtigte,
wichtige Jahresbericht 2016 übergeben wird . Aber das ist
ein Wunsch, den wir vielleicht gemeinsam voranbringen
können .
Im Jahresbericht 2015 schreiben Sie - ich zitiere, Herr
Wehrbeauftragter -:
Wir leben in unruhigen Zeiten . Sicherheitspolitisch
bewegt sich gerade sehr viel in Europa und weltweit .
Daran hat sich, wie Sie eingangs sagten, nicht viel geändert . Sie schreiben weiter, die Bundeswehr habe „in einigen Bereichen inzwischen ihr Limit erreicht, personell
und materiell“ . Ihre Schlussfolgerung lautet:
Die Bundeswehr hat von allem zu wenig .
In der Tat schreiben wir jetzt das Jahr 2017 . Ich möchte
festhalten: Ihre damalige Bestandsaufnahme war richtig;
das ist gar keine Frage . Wir haben viel darüber in diesem
Hohen Hause gesprochen . Aber wir alle haben hart daran
gearbeitet, dass inzwischen - ich darf es so formulieren von allem mehr da ist . Das fängt mit dem Geld an . Ich
bin sehr erfreut gewesen, dass wir im Jahr 2016 zeigen
konnten - der Finanzminister hat den Jahresabschluss
am Mittwoch vorgestellt -, dass wir eine Punktlandung
hingelegt haben und dass wir in der Tat effizient sowie
effektiv mit dem Geld umgehen. Wir haben sogar etwas
mehr ausgegeben, als geplant war, nämlich 850 Millionen Euro . Wir wissen: Das ist ein Fortschritt, denn es war
in anderen Zeiten schon anders .
Der Haushalt 2017 umfasst rund 37 Milliarden Euro .
Das ist ein Rekordwert in der Geschichte der Bundeswehr . Ich möchte heute nicht über die Trendwende „Finanzen“, ich möchte nicht über die Trendwende „Material“, die auch zu sichtbaren und messbaren Ergebnissen
geführt hat, sprechen, sondern ich möchte, Herr Wehrbeauftragter, meine Damen und Herren, darauf fokussieren,
wo in der Tat das Zentrum das Berichts liegt, nämlich auf
das Personal, die Menschen in der Bundeswehr .
Sie sagen zu Recht: Lücken identifizieren, Menschen
ansprechen, anwerben, ausbilden, halten - die ganze lange Kette . Ich bin sehr froh, dass wir zum ersten
Mal in der Geschichte der Bundeswehr eine umfassende und vorausschauende Personalstrategie eingerichtet
haben . Im letzten Jahr haben wir erstmals die Grundlagen vorgestellt . Damit gibt es zum ersten Mal eine mittelfristige Finanzplanung nach vorn . Damit wissen wir,
wie die nächsten sieben Jahre anhand der Daten, die wir
heute schon festlegen, aussehen, wo wir bereits Lücken,
Schwierigkeiten und Probleme ausmachen können und
was wir dagegen zu tun gedenken .
Sie wissen, dass das erste Personalboard im letzten
Jahr gezeigt hat, dass wir einen strukturellen Bedarf von
zusätzlich rund 7 000 militärischen und rund 4 400 zivilen Stellen haben . Ich bin dem Hohen Haus sehr dankbar,
dass dies in unsere haushälterische Planung aufgenommen worden ist .
Das zweite Personalboard - es kommt in diesem
Jahr - wird sich damit befassen, welche Personallücken
wir in den einzelnen Bereichen haben . Nicht überall ist
es knapp . Zum Teil gibt es einige seltene Ausnahmen, wo
wir gut aufgestellt sind und genug, wenn nicht sogar zu
viel haben . Wir werden gezielt deutlich machen, wo die
Lücken sind .
Das hat sich natürlich mit der Einführung der Soldatenarbeitszeitverordnung abgezeichnet . Sie hat das
sichtbar gemacht . Sie hat aber nichts Neues eingeführt,
etwa dass Soldatinnen und Soldaten abgezogen oder zusätzlich eingeführt würden . Sie hat sichtbar gemacht, wo
bisher immer schon eklatante Lücken gewesen sind, die
aber dadurch überdeckt worden sind, dass Soldatinnen
und Soldaten schlicht und einfach Mehrarbeit machen
mussten . Keiner hat das gemessen .
Wir sehen jetzt Lücken aufgrund der Soldatenarbeitszeitverordnung . Sie hat diese Lücken aber nicht verursacht . Wir sehen, dass der Dienstherr durch die Lebensarbeitszeit von Soldatinnen und Soldaten subventioniert
worden ist . Das wollen wir ändern .
({0})
Ich bin der festen Überzeugung, dass der Dienstherr nicht dauerhaft Personalmangel durch Mehrarbeit
kompensieren kann . Es muss ein nachvollziehbares und
verlässliches Maß und eine Mitte geben zwischen dem
Dienst, der notwendig ist, der Erholung, die notwendig
ist, und gelegentlich angeordneter Mehrarbeit . Sie muss
dann durch Freizeit oder finanziell ausgeglichen werden.
Aber klar sein muss, dass dort gemessen wird .
Wenn es objektiv Lücken gibt - diesen Punkt betrachten wir jetzt -, muss es mehr Personal geben . Jetzt wächst
die Bundeswehr endlich wieder . Ich will Ihnen einige
Zahlen nennen . Mit Stand vom 31 . Dezember 2016 waren wir bei 168 342 Soldatinnen und Soldaten . Wir hätten
gerne mehr, und wir brauchen mehr; ja, gar keine Frage .
Aber eines ist wichtig: Es geht in die richtige Richtung,
nämlich bergauf .
Um einige Zahlen zu nennen: Allein in den letzten sechs Monaten haben wir einen Aufwuchs von
1 800 Zeit- und Berufssoldatinnen und -soldaten erreicht .
Die Einplanungen der Zeitsoldaten sind im letzten Jahr
um 16 Prozent gestiegen. Bei Offizieren gibt es ein Plus
von 21 Prozent, bei den Mannschaften von 18 Prozent .
Besonders erfreulich: Bei den Feldwebeln im Fachdienst,
die sehr knapp sind, ist ein Plus von 28 Prozent zu verzeichnen .
Wir bekommen mehr Fachkräfte, weil wir an die Themen sehr gezielt herangehen . Ein Beispiel: Gerade bei
den besonders gesuchten Informatikerinnen und Informatikern beträgt der Zuwachs sage und schreibe weit
über 60 Prozent . Das hat natürlich auch etwas damit zu
tun, dass wir Cyber und IT als Kommando aufstellen und
das Thema damit in der Bundeswehr sichtbar wird . Das
hat auch etwas damit zu tun, dass wir in diesen Fachrichtungen selber ganz gezielt werben, damit die Menschen
wissen, dass das bei uns ein Topthema ist und sie bei uns
eine Zukunft finden können.
Bei den Feldwebeln im Rettungsdienst freuen wir uns
über ein Plus von über 30 Prozent . Was mich und Sie
sicherlich auch alle besonders freut, ist, dass wir im November letzten Jahres zum allerersten Mal die Marke von
20 000 Soldatinnen überschritten haben .
({1})
Die Evaluierung der Soldatenarbeitszeitverordnung
läuft noch . Erste Verbesserungen sind erreicht, an anderen arbeiten wir intensiv . Sie haben recht, Herr Wehrbeauftragter: Ich wünschte, man könnte Veränderungen
immer glatt umsetzen, aber so große Veränderungen
kommen immer holperig daher . Wahrscheinlich werden
wir gesetzliche Anpassungen brauchen .
Eine andere konkrete Gesetzesänderung, die wir derzeit mit dem BMI verhandeln, möchte ich ansprechen:
den Auslandsverwendungszuschlag . Sie wissen, dass er
derzeit nur Frauen und Männern gewährt wird, die in
mandatierten Einsätzen sind, und nicht denen in einsatzgleichen Verpflichtungen. Dabei handelt es sich beispielsweise um Soldatinnen und Soldaten in der Ägäis oder um
diejenigen, die in Eurofightern im Bereich Air Policing
im Luftraum über dem Baltikum eingesetzt sind . Das betrifft jetzt unsere Truppe, die nach Litauen geht und die
Vorne-Präsenz mit aufbaut . Meine Damen und Herren,
auch diese Soldatinnen und Soldaten sind Wochen und
Monate von zu Hause weg . Deshalb bin ich der festen
Überzeugung, dass alle Soldatinnen und Soldaten in einsatzgleichen Verpflichtungen den AVZ schnellstmöglich
bekommen sollten . Das ist eine Frage der Gerechtigkeit .
({2})
Einige Themen muss ich noch anmerken .
Erstens . Das Thema Compliance-Kodex . Herr Wehrbeauftragter, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf:
Ich weiß nicht, aus welchem Entwurf Sie zitiert haben;
denn das Ganze ist noch im Entwurfsstadium und in der
Abstimmung im Haus, insbesondere mit den Personalvertretungen . Deshalb kann ich zu dem Satz keine Stellung nehmen . Ich weiß nicht, welchen Stand Sie eben
zitiert haben .
Zweitens . Nicht nur die Abstimmung im Haus läuft,
sondern auch Beratungen mit Transparency International . Es ist uns wichtig, auch von außen Feedback zu bekommen. Das heißt, wir befinden uns in einem Prozess.
Ich glaube, diesen Prozess sollten wir abwarten, bis er
zumindest innerhalb des Hauses abgeschlossen ist . Erst
dann werden wir mit dem Parlament das Ergebnis Wort
für Wort besprechen .
Drittens . Sie haben recht: Es gibt eine Unzahl von Regeln und Gesetzen in der Bundeswehr . Wir wollen nicht
darüber hinausgehen und keine neuen Regeln einführen .
Aber haben Sie einmal den Raummeter gesehen, der das
umfasst, was in den verschiedenen Gesetzen, Verordnungen und Erlassen alles geregelt ist? Ich glaube, es
ist nicht schlecht, uns noch einmal gemeinsam klarzumachen, dass Rechtssicherheit dadurch gewährleistet ist,
dass wir positiv formulieren, was wir gemeinsam verabredet haben .
Letztes Thema .
Frau Bundesministerin, als Mitglied der Bundesregierung dürfen Sie so lange reden, wie Sie wollen . Wenn
Sie jetzt als Abgeordnete reden würden, müsste ich Sie
unterbrechen . Ich muss Sie darauf aufmerksam machen:
Wenn Sie jetzt weiter reden, geht das zulasten Ihrer Fraktion .
Ja . - Ich bitte die Fraktion, dass ich ein mir wichtiges Thema noch ansprechen darf . Es geht um das Thema Chancengerechtigkeit und Offenheit für Vielfalt. Ich
habe mich dieses Themas immer angenommen . Wenn
wir schlagkräftige, attraktive und moderne Streitkräfte
haben wollen, kommen wir um das Thema nicht herum .
Das Thema ist breit angelegt. Mir ist wichtig: Es betrifft
nicht nur Männer und Frauen, sondern auch Herkunft,
Bildung, sexuelle Orientierung und Religion - um nur
einige Themen zu nennen .
Zwei Punkte: Erstens . Es geht bei der Bemühung um
Vielfalt nicht nur um Lippenbekenntnisse; sonst hätten
wir die gesamte Thematik der Attraktivität und Vereinbarkeit nicht einführen müssen . Wir werden deshalb
Ende Januar einen Kongress über den Umgang mit unterschiedlicher sexueller Orientierung veranstalten . Ich
halte dieses Thema nicht für randständig. Es betrifft
mehrere Tausend Soldatinnen und Soldaten und zivile
Beschäftigte in der Bundeswehr, genauso wie das Thema
Religion mehrere Tausend betrifft und wie das Thema
Migrationshintergrund oder Behinderung, zum Beispiel
durch PTBS, eine zentrale Rolle in mehreren Hundert
oder Tausend Leben von Menschen in der Bundeswehr
spielt . Deshalb, meine Damen und Herren, ist mir wichtig, dass dieses Anliegen, das für diese Menschen zentral ist, genauso ernst genommen wird wie viele andere
Anliegen, die uns beschäftigen . Es ist kein randständiges
Thema .
({0})
Zweitens . Diese Soldatinnen und Soldaten und zivilen
Beschäftigten tun ihren Dienst wie alle Kameradinnen
und Kameraden . Sie haben einen Eid geschworen, dieses
Land tapfer zu verteidigen . Sie sind bereit, im Einsatz ihr
Leben einzusetzen für unsere Freiheit. Ich finde deshalb,
dass unsere Soldatinnen und Soldaten und die zivilen Beschäftigten, egal woher sie kommen, egal wen sie lieben,
egal an was oder wen sie glauben, nicht dem Spott ausgesetzt werden dürfen, sondern unseren Respekt und unsere
Anerkennung verdienen .
({1})
Nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke ist die
Kollegin Christine Buchholz .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Herr Bartels! Liebe Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter des Wehrbeauftragten! Gerade heute Morgen haben wir über die Fortsetzung und Ausweitung der
Bundeswehreinsätze im Nordirak und in Mali diskutiert .
Für diese Beschlüsse, die nächste Woche gefällt werden,
müssen Soldatinnen und Soldaten den Kopf hinhalten .
Die Folgen können einsatzbedingte Krankheiten sein .
Was sicher ist: Je mehr Auslandseinsätze von der Regierung beschlossen werden, umso größer wird der Druck
auf die Soldatinnen und Soldaten und ihre Familien .
Wer Waffen und Soldaten in alle Welt schickt, bekommt die Folgen der Kriege zurück . Auch das ist ein
Grund, die Auslandseinsätze der Bundeswehr zu beenden .
({0})
Der Bericht des Wehrbeauftragten spiegelt diese Wirklichkeit wider, und die vorliegende Antwort des Verteidigungsministeriums auf den Bericht zeigt: Auf viele der
Probleme reagiert die Bundesregierung gar nicht, oder
sie reagiert zu langsam, zu bürokratisch . Eine Ausnahme
gibt es; das ist die aus unserer Sicht völlig verfehlte Kritik
des Wehrbeauftragten an der zu schlechten Ausrüstung
der Bundeswehr . Denn für die Aufrüstung hat die Große
Koalition für 2017 einen Rekordhaushalt beschlossen .
Doch wenn es um die menschlichen Folgen der Militäreinsätze geht, etwa um die zügige Anerkennung von
Wehrdienstbeschädigung, dann ist nicht genug Geld da .
Konkret: Auf 5 000 Anträge kommen 30 Sachbearbeiter .
Das erklärt, warum die Bearbeitung von Anträgen auf
Wehrdienstbeschädigung durchschnittlich 15 Monate
dauert, oft auch über zwei Jahre . Der Wehrbeauftragte
hat das zu Recht bemängelt .
Die Reaktion des Ministeriums: neue Stellen - null .
Aber die Abläufe sollen optimiert werden . Das muss
doch in den Ohren der Betroffenen als absolut nicht akzeptabel klingen .
({1})
Aber die Probleme der einsatzgeschädigten Soldatinnen und Soldaten sind tiefer gehend . Wenn psychisch erkrankte Soldaten sich um die Anerkennung einer Wehrdienstbeschädigung bemühen, dann müssen sie selbst
den konkreten Zusammenhang mit einem Auslandseinsatz nachweisen. Das ist jedoch in der Praxis häufig kaum
möglich und führt zu langen, belastenden Verfahren .
Ich sage: Wenn die Bundeswehr einen Soldaten als
psychisch gesund in einen Auslandseinsatz schickt und
später dieser Soldat oder diese Soldatin psychisch erkrankt, dann ist im Streitfall die Bundeswehr in der Beweispflicht. Und die Fürsorgepflicht des Dienstherrn darf
nicht mit dem Dienstverhältnis enden .
({2})
Es ist ein Unding, dass die Bundesregierung nicht einmal
Statistiken darüber erhebt, wie viele ehemalige Soldaten
Selbstmord begehen . Auch hier muss sich dringend etwas ändern .
({3})
Ein anderes Beispiel . Im Bericht bemängelt der Wehrbeauftragte, dass - ich zitiere - für „die einsatzrelevante
Verbrennungsmedizin . . . seit Jahren nur noch eine sehr
eingeschränkte Versorgungskompetenz vorgehalten
wird“ . Wie dramatisch das sein kann, hat vor zwei Tagen der verheerende Anschlag im malischen Gao gezeigt .
Über 70 malische Soldaten starben, über 110 überlebten
schwer verletzt . Der Anschlag hätte auch deutsche Soldaten treffen können. Das Lager der Bundeswehr liegt keine 2 Kilometer vom Anschlagsort entfernt . Wie reagiert
nun das Verteidigungsministerium auf die Forderung
nach besserer Versorgungskompetenz für einsatzrelevante Verbrennungsmedizin? Antwort: Gar nicht . Alles, was
dem Verteidigungsministerium einfällt, ist der Verweis
auf zivile Krankenhäuser in Deutschland . Der Einsatz
kommt zuerst, die Behandlung der Folgen ist nachrangig,
und das finden wir zynisch.
({4})
Ich verstehe, warum das Verteidigungsministerium,
auch die Koalition, das nicht gerne hört . Diese Realität
stört die Hochglanz-PR-Aktionen, mit denen Sie jungen
Menschen die Bundeswehr schmackhaft machen wollen .
({5})
Pikant ist übrigens auch, dass die Ministerin - Sie
haben eben selbst dazu gesprochen - Angehörigen der
Bundeswehr strenge Verhaltensrichtlinien, einen Verhaltenskodex für den Umgang mit Parlament und Medien
verordnen will . Wir sind sehr gespannt, was Sie dazu in
Ihrem Hause erarbeiten . Meine Fragen und meine Kritik
schließen an das an, was der Wehrbeauftragte thematisiert hat . Ich sage Ihnen: Wer die Wahrheit unterdrücken
will, der hat was zu verbergen . Ein Maulkorberlass ist
das Letzte, was Soldatinnen und Soldaten brauchen .
({6})
Frau Kollegin Buchholz, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Otte?
Das ist jetzt zwar keine Zwischenfrage mehr, aber gerne .
({0})
Dann machen wir das jetzt einmal so . - Bitte schön .
Frau Kollegin Buchholz, wir hatten zusammen mit
unserer Frau Bundesverteidigungsministerin Gelegenheit zu einem Besuch in Mali . Sie suggerieren jetzt in
Ihrer Rede - das ist mir vorhin schon aufgefallen -, dass
die Politik und das Ministerium ihren Soldatinnen und
Soldaten nicht genügend Fürsorge entgegenbrächten .
Sie stellen hier einfach Behauptungen in den Raum . Das
kann Ihre Taktik sein .
Meine Frage an Sie lautet: Warum haben Sie die offenen Fragen, die Sie hier stellen, nicht beim Besuch in
Gao, in Bamako im Kreise der Fachleute, die dort vor
Ort waren, gestellt? Es drängt sich hier der Eindruck auf,
dass es Ihnen gar nicht um die Beantwortung von Fragen
geht, sondern um das Vorlesen der Argumente, die Ihnen
aufgeschrieben worden sind . Ich frage Sie, ob Sie nicht
fast ein schlechtes Gewissen haben, weil Sie hier Dinge
behaupten, die fernab jeglicher Realität sind .
({0})
Frau Kollegin Buchholz .
Lieber Kollege Otte, ich weiß nicht, ob Sie den Besuch in Mali genutzt haben, um am Rande auch mit Soldatinnen und Soldaten zu sprechen . Ich führe sehr viele
Gespräche, die genau diese Fragen unterlegen, die den
Frust, den Unmut der Soldatinnen und Soldaten widerspiegeln, die sich eben nicht genügend berücksichtigt
finden.
Was die Frage des Einsatzes in Mali angeht: Gucken
Sie sich bitte die Realität an . Mein Gefühl ist, dass Sie
hier bestimmte Fragen an die von Ihnen beschlossenen
und zu beschließenden Einsätze nicht zulassen .
({0})
Die Realität können Sie den Gesprächen in Mali, aber
auch den Zeitungen und Berichten verschiedener Akteure entnehmen . Von daher gebe ich diese Frage zurück .
Seien Sie ehrlich, und beantworten Sie sich ehrlich die
Fragen . Gucken Sie sich die Realität genau an . Vielleicht
kommen auch Sie dann irgendwann zu anderen Antworten .
({1})
Vielen Dank . - Jetzt hat die Kollegin Heidtrud Henn
für die SPD-Fraktion das Wort .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau Ministerin! Sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Soldatinnen und Soldaten!
Am kommenden Dienstag wird Hans-Peter Bartels uns
seinen Bericht für das Jahr 2016 vorlegen . Wir sprechen
heute über seinen Bericht aus dem Jahr 2015 . Die Bundeswehr am Wendepunkt - so hat der Wehrbeauftragte
seinen ersten Bericht überschrieben . Die Überschrift des
neuen Berichts kenne ich noch nicht .
Ich glaube, dass es gut ist, das Wahre zu sagen, und ich
weiß aus meiner beruflichen und persönlichen Erfahrung,
dass vor jeder Verbesserung der Mut zur Wahrheit steht .
Martin Luther, über den wir insbesondere in diesem Jahr
viel hören und lesen können, hat viel zur Wahrheit gesagt . Vor 500 Jahren hat er seine 95 Thesen in Wittenberg
an die Tür der Schlosskirche geschlagen . Er hat hörbar
und lesbar gemacht, was falsch war, mit den Mitteln seiner Zeit, in der er noch nicht die Möglichkeit zur Veröffentlichung im Internet hatte . Dennoch waren seine Worte durchschlagend, im wahrsten Sinne des Wortes . Das
zeigt uns, wie kraftvoll die Wahrheit ist . Sie braucht aber
immer jemanden, der sie ausspricht .
„Iss, was gar ist, trink, was klar ist, red, was wahr
ist!“ - das gibt uns Martin Luther mit auf den Weg . Ohne
die Soldatinnen und Soldaten, die die Zeit und manchmal
auch den Mut aufbringen, ihre Wahrheit an den Wehrbeauftragten heranzutragen, wäre der Bericht des Wehrbeauftragten nicht denkbar . Darum gilt mein Dank für
den Bericht des Wehrbeauftragten nicht nur Hans-Peter
Bartels und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern,
sondern auch allen, die sich im Berichtsjahr an den Wehrbeauftragten gewandt haben .
Zu Beginn Ihrer Amtszeit haben Sie, sehr geehrte Frau
von der Leyen, und auch Frau Staatssekretärin Dr . Suder
zu Recht viel Applaus dafür bekommen, dass Sie eine
neue Fehlerkultur in Ihrem Haus gewünscht und sogar
eingefordert haben . Es sollte keine Angst vor einem Karriereknick geben, wenn mündige Soldaten Probleme und
Missstände benennen . Auch uns Sozialdemokratinnen
und Sozialdemokraten hat das gefallen . Grund für die
Fehlerkulturoffensive waren die Probleme bei der Rüstungsbeschaffung. Sie hatten aber auch gesehen, dass es
nicht hilfreich ist, wenn Kritiker mit Kenntnis des Hauses blockiert statt gehört werden . Durch Verschweigen
heilen keine Krankheiten . Eine Kultur des Schweigens
verhindert Veränderungen und Verbesserungen .
({0})
In Ihrer Rede zum Bericht des Wehrbeauftragten am
28 . April letzten Jahres haben Sie, sehr geehrte Frau Ministerin, gesagt - ich zitiere -:
Ich finde, es ist ganz entscheidend, Transparenz
über unsere Organisation herzustellen .
Ich stimme Ihnen da voll zu . Mit großer Sorge erfüllt
mich deshalb die Berichterstattung zu dem von Ihnen geplanten sogenannten Verhaltenskodex . Ich kenne hierzu
nur Presseberichte, aber es gibt eine öffentliche Debatte, und gerade weil in diesem Zusammenhang über den
Wehrbeauftragten und seine besonderen Zugangsrechte
gesprochen wird, möchte ich das Thema auch hier ansprechen .
Ich nutze jede Gelegenheit, um mit Soldatinnen und
Soldaten ins Gespräch zu kommen, also mit der Basis .
Das ist auch immer mein Wunsch, wenn ich Standorte
besuche oder wenn ich in Einsatzgebieten bin . Mich interessiert, wie es den Menschen bei der Bundeswehr geht,
wie sie ticken, was sie umtreibt, aber auch, was sie begeistert . Der Mensch hat meine Aufmerksamkeit, nicht
der Dienstgrad; der steht an anderer Stelle . Bei all diesen
Gesprächen und Telefonaten mit den Menschen in der
Bundeswehr habe ich viel über die Bundeswehr gelernt .
Vor allem habe ich gelernt, wie loyal, professionell und
zugleich ehrlich die Soldatinnen und Soldaten im Gespräch sind, ohne etwas oder jemanden zu verraten . Sie
kennen ihre Vorschriften bestens und handeln danach .
Angst und Misstrauen tun niemandem gut . Sie machen Seelen krank, und sie schaffen ein Klima, das ein
kameradschaftliches Miteinander verhindert . Vertrauen
ist im Einsatz und im Grundbetrieb der Garant für die
Sicherheit der Soldatinnen und Soldaten, die für unsere
Sicherheit sorgen . In der Bundeswehr muss es um Zusammenhalt gehen . In der freien Marktwirtschaft geht
es um Gewinnmaximierung und Macht . Diese Prinzipien sind in meinen Augen nicht auf unsere Bundeswehr
übertragbar .
Anfang 2013 haben Sie, liebe Frau von der Leyen,
oft betont, dass der Mensch im Mittelpunkt steht . Das
hat mir gut gefallen, und das habe ich Ihnen auch gesagt .
Soldat sein ist eine Berufung . Wer dient, verdient Vertrauen . Wer dient, muss reden dürfen . Reden ist die Basis
für ein gutes Miteinander und Kommunikation .
Eine sachlich vorgetragene Kritik ist niemals ein Angriff, und vor der Wahrheit sollte sich niemand fürchten.
Auch vor uns Abgeordnete sollte niemand Angst haben .
Wenn uns jemand ein Anliegen vorträgt, wissen wir ganz
gut, wie wir damit umgehen und wie wir Kritik einzuordnen haben . Eine Parlamentsarmee muss mit den Mitgliedern des Parlamentes reden dürfen - ohne Angst und
ohne Verbot .
({1})
Dass der Mensch im Mittelpunkt der Bundeswehr
steht, hat die Verteidigungsministerin richtigerweise
immer wieder betont . Ich möchte, dass das so wird und
dann auch so bleibt; denn das ist schlicht und ergreifend
nicht bei allen Entscheidungen des Hauses der Fall .
Der Wehrbeauftragte ist bereits auf wesentliche Punkte seines Berichtes eingegangen, und ich denke, auch in
der Debatte zu seinem nächsten Bericht werden wir viel
über eine bessere Ausstattung sprechen . Unsere Haushälter haben hier gute Voraussetzungen geschaffen. Auch
für das kommende Jahr soll es genug finanzielle Mittel
für die wachsenden Aufgaben der Bundeswehr geben .
Sie wissen, dass ich besonders genau hinsehe, wenn
es um Menschen und um ihr seelisches und gesundheitliches Wohl geht .
Der Sanitätsdienst leistet hier, im Ausland und auch
im zivilen Bereich gute Arbeit . Das Personal ist top, die
noch immer vorhandenen Papierdokumente sind ein
Flop . Wenn ich den Sanitätsdienst in den Standorten besuche, fühle ich mich in meine Kindheit zurückversetzt .
Damals haben die Arzthelferinnen auch alles mit dem
Bleistift auf Papier dokumentiert . Irgendwie widerspricht
sich das Ganze: Im Ausland ist unser Sanitätsdienst führend, und zu Hause sind wir, was die Dokumentation betrifft, noch immer in den 60er-Jahren.
Ich weiß, dass manche Menschen im Sanitätsdienst
Schnappatmung bekommen, wenn ich dieses Thema immer wieder anspreche, und hoffe, dass eine truppenärztliche Versorgung bald überall vor Ort gewährleistet ist .
Oftmals fehlt sie .
Lassen Sie mich noch zu den Lotsen kommen . Auch
der Wehrbeauftragte hat betont, dass sich das Angebot
der Lotsen bewährt hat . Sie erfüllen eine wichtige Aufgabe für ihre Kameradinnen und Kameraden .
Auch hier geht es um Vertrauen . Man darf aber nicht
vergessen, welche Last Lotsen auf ihren Schultern tragen . Als ehrenamtlicher Nebenjob funktioniert dies auf
Dauer nicht . Auf Dauer ist eine Freistellung für diese
Aufgabe notwendig und, um die Last von den Schultern
der Lotsen zu nehmen, eine regelmäßige Supervision .
({2})
Im Hinblick auf die Infrastruktur möchte ich einfach
nur ein paar Stichworte nennen:
Alte Unterkünfte sollen abgerissen, neue gebaut werden, was dauert . Betreuungseinrichtungen werden geschlossen, und es gibt keinen Ersatz . Gebäude des Sanitätsdienstes in Zweibrücken und Idar-Oberstein sollen
abgerissen und neu gebaut werden . Hier gibt es noch immer keine Bewegung . Auf dem Klotzberg in Idar-Oberstein tut sich mittlerweile aber etwas . Die Container für
die Betreuungseinrichtung sollen in diesem Jahr wirklich
endlich stehen . Das hat dann von 2014 bis 2017 gedauert . Bei der Sporthalle und der Küche in Zweibrücken
bewegt sich dagegen noch immer nichts .
Ich bin immer wieder fasziniert, mit welchen Mitteln
unsere Soldaten ihre Aufgaben meistern . „Aktiv . Attraktiv . Anders .“: Sie sind sehr aktiv, an der Attraktivität
müssen wir noch arbeiten, und dem „Anders .“ stimme
ich voll zu .
Sehr geehrte Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und
Kollegen, lieber Herr Dr . Bartels, ich schließe mit diesem
Zitat von Martin Luther:
Für Heuchelei gibt’s Geld genug . Wahrheit geht betteln .
Als Parlamentarier haben wir die Pflicht, zu prüfen,
ob das, was wir entscheiden, auch so ankommt, wie wir
uns das gedacht haben . Was oben gut entschieden worHeidtrud Henn
den ist, muss unten auch gut ankommen und darf nicht
in der Mitte hängen bleiben . Darum ist der Bericht des
Wehrbeauftragten so wichtig für unsere Arbeit, und es
ist wichtig, dass wir unseren Soldatinnen und Soldaten,
denen wir viel zumuten, auch Zutrauen entgegenbringen .
Dieses Zutrauen zeigen wir mit Vertrauen . Nicht vergessen: Der Mensch steht im Mittelpunkt!
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen Gottes Segen .
({3})
Vielen Dank . - Als nächste Rednerin hat Doris Wagner
von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort .
Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Lieber Hans-Peter
Bartels! Werte Kolleginnen und Kollegen! Begrüßen
möchte ich auch die Mitglieder unserer Streitkräfte:
Kommen Sie sicher und gesund durch das neue Jahr! Alles Gute für Sie!
Die Bundeswehr hat von allem zu wenig . Das war die
Kernbotschaft des Berichts, den der Wehrbeauftragte uns
vor ziemlich genau einem Jahr vorgelegt hat . Frau Ministerin, ich sehe, ehrlich gesagt, nicht, dass sich dieses
Grundproblem der Bundeswehr im Jahr 2016 wirklich
grundlegend geändert hat . Der Klarstand von Hubschraubern und Kampfflugzeugen in der Bundeswehr ist noch
immer erschreckend niedrig . Sieben von zehn Kampfhubschraubern waren im Oktober nicht einsatzfähig . Sieben von zehn! Nach wie vor schafft es die Bundeswehr
nicht, ihre 170 000 Dienstposten für Berufs- und Zeitsoldaten tatsächlich zu besetzen . Ende November fehlten
über 2 000 Soldatinnen und Soldaten . Die Bundeswehr
gleicht auch 2017 einem Potemkinschen Dorf aus lauter
Pappfassaden .
({0})
Was, meine Damen und Herren, tut die Ministerin hier?
Sie fügt den Fassaden, die wir schon haben, eifrig neue
hinzu .
Gleich zwei sogenannte Trendwenden hat Frau von
der Leyen in den letzten Monaten verkündet . Mit der
Trendwende „Material“ sollen bis 2030 zusätzlich
130 Milliarden Euro in die Rüstung fließen. Von diesem
Geld soll die Bundeswehr nun eine aufgabenorientierte
Ausstattung erhalten . Doch schon bei der Frage, worin
denn die Aufgaben der Bundeswehr eigentlich bestehen,
muss die Bundesregierung passen; denn anstatt im Weißbuch ein klares Aufgabenprofil mit klaren Prioritäten zu
skizzieren - auch bei der Ausrüstung -, meint Frau von
der Leyen, dass die Bundeswehr einfach alles können
soll . Deshalb investieren wir jetzt viele Milliarden Euro
in unnötige Kampfpanzer und in fragwürdige Korvetten .
({1})
Dabei hat die Bundeswehr weder das Personal, um alle
diese Rüstungsprojekte vernünftig zu managen, Kollege
Gädechens, noch das Personal, diese vielen neuen Gerätschaften vernünftig zu nutzen und zu warten .
Ja, ich bin einverstanden: Die Bundeswehr braucht
besseres Material, gar kein Zweifel . Doch, Frau Ministerin, dieses Problem alleine durch neue Milliardeninvestitionen in Rüstung zu beheben, halte ich für kurzsichtig
und allzu oberflächlich.
({2})
Was die Bundeswehr vor allem braucht, sind ein klares
und mit unseren neuen europäischen Partnern abgestimmtes Aufgabenprofil und ausreichendes Personal,
das das Material auch nutzen und warten kann .
({3})
Damit sind wir bei der zweiten sogenannten Trendwende, nämlich bei der Trendwende „Personal“ . Um
7 000 Soldatinnen und Soldaten soll die Truppe bis 2023
aufgestockt werden . Genauso gut könnte Frau von der
Leyen verkünden, dass Wladimir Putin morgen seine
Truppen von der Krim abzieht . Solche Ankündigungen
sind noch keine Politik . Das ist doch reines Wunschdenken . Woher sollen denn diese vielen neuen Soldatinnen
und Soldaten kommen?
({4})
Bei der Marine fehlen laut Bericht des Wehrbeauftragten Techniker . Ganze U-Boot-Besatzungen sind lahmgelegt, weil es keine Techniker in ausreichender Zahl gibt .
({5})
Im Sanitätsbereich klaffen mittlerweile solche Lücken, dass es fraglich ist, ob die Gesundheit der Soldatinnen und Soldaten im Einsatz überhaupt noch zu
schützen ist . Schauen wir uns den Einsatz in Mali an:
Da müssen wir doch - lassen Sie mich das etwas salopp
ausdrücken - das medizinische Personal an allen Ecken
zusammenkratzen .
In dieser Situation einmal so eben 7 000 zusätzliche
Soldatinnen und Soldaten zu verordnen, ist in meinen
Augen unredlich . Das verhöhnt auch die völlig überlastete Truppe, meine Damen und Herren .
({6})
Ihre Trendwenden, Frau Ministerin, sind in meinen
Augen nichts anderes als reine Symbolpolitik . Die Probleme der Bundeswehr lösen Sie damit nicht, genauso
wenig wie mit Ihren Werbeplakaten und der neuen Rekrutenserie, die die Bundeswehr als eine Art Outdoor
Challenge verharmlost . Keine dieser teuren Werbemaßnahmen hat bisher den Schrumpfungsprozess der Streitkräfte verhindert . Ende November zählte die Truppe
knapp 7 500 Soldatinnen und Soldaten weniger als noch
2013 .
Die Menschen sind doch nicht dumm . Sie lesen Zeitung, hören Radio und schauen Nachrichten . Dort erfahren sie dann, dass es bei der Bundeswehr oft gar nicht um
das Weiterkommen und die Karriere geht, wie zwei von
diesen Werbeplakaten vollmundig versprechen, sondern
um frustrierende Beurteilungen und Beförderungsstau .
({7})
Bei der Bundeswehr erlebt man gerade keine Stärkung
des Selbstwertgefühls, sondern häufig genug herabwürdigende Sprüche, omnipräsente Hierarchie und Bürokratie, so weit das Auge reicht .
({8})
- Sie bringen mich nicht aus dem Konzept, Herr Kollege . - Insbesondere die begehrten Cyberspezialisten, die
IT-Nerds, werden von dieser Organisationskultur doch
gerade abgeschreckt .
Deshalb, Frau Ministerin, hören Sie doch bitte mit Ihrer Politik der verordneten Trendwenden auf . Hören Sie
auf mit den falschen Versprechungen .
({9})
Gehen Sie ran an die Organisationskultur . Setzen Sie die
Arbeitszeitverordnung vernünftig um . Entrümpeln Sie
den Grundbetrieb . Stellen Sie das Personalamt endlich
in den Dienst der Soldatinnen und Soldaten . Nur so - mit
ehrlichen Reformen - kann die Bundeswehr auf dem
Weg zu einer modernen Streitkraft wirklich vorankommen .
Vielen Dank .
({10})
Vielen Dank . - Als nächste Rednerin hat die Kollegin
Gisela Manderla von der CDU/CSU-Fraktion das Wort .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und
Kolleginnen! Liebe Soldatinnen und Soldaten! Wer sich
heutzutage in dieser durchzivilisierten Gesellschaft für
den Dienst in der Bundeswehr entscheidet und damit für
die unterschiedlichen Strapazen und Belastungen, private und persönliche Entbehrungen, langer Zeiten der Trennung von der Familie und vieles mehr, der hat - das hat
sich heute gezeigt - die umfassende Unterstützung nicht
nur des Verteidigungsausschusses, sondern des ganzen
Hauses verdient . Ja, die Soldaten und Soldatinnen haben
ein Anrecht darauf, liebe Kollegen und Kolleginnen . Da
geht es nicht um ein Gefühl . Auch geht es dabei nicht
darum, die Bundeswehr, das Ministerium sowie die Soldaten und Soldatinnen immer nur schlechtzureden .
({0})
Diese Unterstützung, dieses Anrecht muss meines Erachtens besonders für drei Bereiche gelten: erstens für
die materielle Unterstützung und Ausrüstung unserer
Soldatinnen und Soldaten, zweitens für eine tiefgreifende Verankerung der Streitkräfte in der Mitte der Gesellschaft, und drittens geht es um den Schutz unserer Soldaten und Soldatinnen bzw . um die Gewährleistung ihrer
Grundrechte nach innen wie nach außen .
Insbesondere für den dritten Punkt, den Schutz, hat der
Deutsche Bundestag mit dem Amt des Wehrbeauftragten
eine ganz besondere Institution geschaffen, welche die
Fürsorgeverantwortung des Hauses für die Menschen in
unseren Streitkräften widerspiegelt . Ich möchte Ihnen,
Herr Dr . Bartels, sowie Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ganz herzlich für Ihre Arbeit danken .
Anregen möchte ich auch, dass wir den Bericht demnächst zeitnah nach Ende des jeweiligen Jahres beraten
können . Jetzt über 2015 zu reden - das ist ja schon mehrere Male angesprochen worden -, ist nicht so sinnvoll .
Aber die Ministerin hat ja schon die anstehenden Dinge
genannt .
Angesichts der verschiedenen Entwicklungen in der
Bundeswehr und angesichts eines ganzen Bündels alter
und vor allen Dingen neuer Aufgaben fällt einem im Jahresbericht besonders eines auf: Die Eingabequote sinkt
zum dritten Mal in Folge . Auf jeweils 1 000 Soldaten
und Soldatinnen gab es genau 24 Eingaben . Natürlich
muss jede Eingabe ernst genommen werden . Manch eine
Eingabe deckt Missstände und Fehlentwicklungen auf,
denen der Dienstherr dann nachgehen kann . Insofern ist
dieser Jahresbericht ein ausgesprochen nützliches Dokument, nämlich einerseits für die Soldatinnen und Soldaten, die sich außerhalb des regulären Dienstweges an eine
neutrale und objektive Instanz wenden können, und andererseits für den Dienstherrn, der über den Jahresbericht
einen noch besseren Überblick über die innere Verfasstheit seines Personals bekommt .
Angesichts der Größe des Personalkörpers, der Gott
sei Dank aufwächst, läuft offenkundig eine Menge ganz
gut und richtig in der Bundeswehr - und das, meine Damen und Herren, obwohl sich unsere Streitkräfte in einem tiefgreifenden Wandel befinden und sich umfassend
neu ausrichten auf alte und neue Herausforderungen, denen sich Deutschland gegenübersieht, liebe Kolleginnen
und Kollegen . Dies deckt sich auch mit Erfahrungen, die
ich in vielen Gesprächen mit den Soldatinnen und Soldaten im Inland, aber auch in den Einsatzgebieten geführt
habe . Deren hohe Leistungsbereitschaft, deren Willen,
sich einzubringen, müssen wir aktiv flankieren und unterstützen . Und das geschieht auch .
Besonders vor dem Hintergrund neuer Einsatzszenarien und eines Wandels der Rolle Deutschlands in der Welt
ist der Umbau der Bundeswehr von einer Wehrpflicht- zu
einer Freiwilligenarmee eine besonders anspruchsvolle Aufgabe, die auch haushalterisch zu hinterlegen ist .
Wir haben begonnen, diesen Weg zu gehen, und haben
den Einzelplan 14 mit mehr Mitteln ausgestattet . Diesen Weg, liebe Kollegen und Kolleginnen, müssen wir
mit aller Entschlossenheit fortsetzen; denn - da hat die
Kollegin Wagner recht - nach 25 Jahren auf der Haushaltsbremse und der daraus resultierenden materiellen
wie personellen Auszehrung der Bundeswehr können die
Probleme nicht über Nacht gelöst werden und nicht mit
einer einmaligen Erhöhung des Etats . Da muss noch einiges folgen .
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen .
Danke schön, Frau Präsidentin . - Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen,
noch einmal herzlichen Dank an den Wehrbeauftragten
für seinen Bericht . Ich wünsche den Soldaten und Soldatinnen im Einsatz, dass sie gesund nach Hause kommen .
Wir als CDU/CSU-Fraktion werden uns weiterhin für
unsere Soldatinnen und Soldaten einsetzen .
Vielen Dank .
({0})
Als letzter Redner hat der Kollege Reinhard Brandl
das Wort . - Ich habe die herzliche Bitte, die vereinbarte
Redezeit einzuhalten .
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Einen Vorteil hat es schon, Frau Ministerin, wenn
wir jetzt den Bericht von 2015 diskutieren: Wir können
nämlich direkt vergleichen, was 2016 alles passiert ist .
Ihr Haus arbeitet da ja sehr transparent . Wir haben Mitte 2016 einen Bericht bekommen, was das BMVg alles
tun möchte, und wir haben Ende 2016 von Staatssekretär
Grübel einen Bericht bekommen, was es nach dem Bericht des Wehrbeauftragten 2015 bereits alles getan hat .
({0})
Bei diesen Berichten wird eines deutlich: Die Ministerin legt nicht die Hände in den Schoß,
({1})
und wir im Parlament ziehen nicht die Köpfe ein und
warten nicht darauf, dass das Unwetter in Form der Sicherheitslage vielleicht an uns vorüberzieht, sodass wir
bei schönem Wetter mit Sonnenschein und Frieden wieder aufwachen . Nein, vielmehr wird deutlich: Wir haben
gemeinsam gehandelt, die Bundeswehr für ihre Aufgaben heute besser auszurüsten .
Der Bundeshaushalt ist bereits angesprochen worden .
Ich möchte beispielhaft ein paar Elemente aus dem Bericht von Staatssekretär Grübel nennen .
Nehmen wir als Beispiel - es ist heute schon öfter angesprochen worden - den Mangel an geschützten Fahrzeugen . Im letzten Jahr sind über 1 000 Pkws und Lkws
zugelaufen .
Nehmen wir als Beispiel die Kampfausrüstung - sie
wurde von den Soldaten immer wieder bemängelt -: Im
letzten Jahr sind 5 000 Sätze moderner Kampfbekleidung
und 5 500 Schutzwesten für die Soldaten zugelaufen .
({2})
Nehmen wir als Beispiel das Personal . Ein Talentpool
wurde eingerichtet, Möglichkeiten der Onlinebewerbung wurden verbessert . Über viele Werbemaßnahmen
stolpern wir tatsächlich jeden Tag, wenn wir durch die
Straßen gehen . Sie mögen jetzt nicht jedem gefallen; aber
vielleicht gehört ja auch nicht jeder von uns der entsprechenden Zielgruppe an .
({3})
Nichtsdestotrotz geben die Zahlen der Ministerin recht:
Die Bewerberzahlen steigen, und der Frauenanteil innerhalb der Bundeswehr steigt auch .
Meine Damen und Herren, es ist nicht alles gut und
schön bei der Bundeswehr; das will ich mit diesem Statement gar nicht zum Ausdruck bringen . Wir haben einige
Probleme, die strukturell bedingt sind . Die Sicherheitslage hat sich in den letzten Jahren massiv verändert . Das
Aufgabenspektrum hat sich massiv verändert . Vor drei
Jahren hat niemand hier eingeplant, dass die Bundeswehr
ein Bataillon nach Litauen verlegen wird . Sie tut es doch .
Sie tut es gut . Sie muss es tun, obwohl ihre Strukturen
nicht darauf ausgelegt sind . Das führt zu Engpässen beim
Personal . Das führt zu Engpässen beim Material .
Aber, meine Damen und Herren, nicht alles das, was
der Wehrbeauftragte des Bundestages aufgeschrieben
hat, hängt mit der veränderten Sicherheitslage zusammen . Wenn, wie wir in dem Bericht lesen, in einer Kaserne die Wasserversorgung nicht richtig funktioniert und
ständig Legionellen auftreten, dann sind daran weder
Russland noch der IS schuld . Oder wenn - das können
wir da auch lesen - ein Vorgesetzter seinen Untergebenen als „Wurst“ bezeichnet, dann ist das schlicht und einfach Ausdruck fehlender Führungsverantwortung . Daran
muss die Bundeswehr arbeiten .
Wenn ich unter 2016 den Strich ziehe, dann kann ich
feststellen, dass die Bundeswehr 2016 jeden Tag besser
geworden ist .
({4})
Um diesen Prozess aber fortzusetzen, müssen Probleme
benannt werden . Das Ministerium tut das, wir alle hier
im Parlament tun das, und der Wehrbeauftragte tut das .
Insofern freue ich mich, meine Damen und Herren, auf
den Bericht, den er nächste Woche für 2016 vorlegen
wird . Es wird auch für unsere Arbeit wieder eine Menge
Ansatzpunkte geben . Aber dafür sind wir ja da .
In diesem Sinne: Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
({5})
Danke, auch dafür, dass Sie innerhalb der Redezeit
geblieben sind .
Damit, liebe Kolleginnen und Kollegen, schließe ich
die Aussprache .
Wir kommen zu der Beschlussempfehlung des Verteidigungsausschusses zu dem Jahresbericht 2015 des
Wehrbeauftragten; das sind die Drucksachen 18/7250
und 18/9768. Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der
Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen . Darüber
werden wir jetzt abstimmen . Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung des Ausschusses? - Gibt es jemanden, der dagegenstimmt oder sich enthält? - Damit ist
diese Beschlussempfehlung einstimmig angenommen
worden, und ich schließe diesen Tagesordnungspunkt .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({0})
zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU
und SPD
Dem Frieden verpflichtet - Friedens- und
Konfliktforschung stärken
Drucksachen 18/10239, 18/10849
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . Gibt es dazu
Widerspruch? - Das ist nicht der Fall . Dann ist das so
beschlossen .
Ich kann die Aussprache eröffnen. Als erste Rednerin
in der Aussprache hat Dr . Claudia Lücking-Michel das
Wort für die CDU/CSU-Fraktion .
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Verehrte Gäste! Einen ganzen Morgen lang haben wir
jetzt schon über Bundeswehreinsätze und die Bundeswehr im Plenum gesprochen . Jetzt endlich rufen wir das
Thema „Friedens- und Konfliktforschung“ auf. Stoff
genug haben wir offensichtlich. Trotzdem wird die Relevanz dieses Forschungsgebietes durchaus von einigen
Kollegen infrage gestellt . Aber unser Antrag zeigt, dass
wir das ganz anders sehen . Gleichzeitig zeigt er auch die
Komplexität des Themengebietes . Einige Anmerkungen
dazu:
Erstens. Friedens- und Konfliktforschung ist vor allen
Dingen eines: interdisziplinär . Wenn sie auch traditionell
politikwissenschaftlich geprägt war, so umfasst sie jetzt
viele Fachgebiete: Jura, Geistes- und Sozialwissenschaften, Theologie, Ethnologie und natürlich auch die Naturwissenschaften . Denken Sie nur an die Rüstungskontrolle . Eine Vielzahl von Disziplinen ist gefragt und ihre
Expertise dringend nötig; denn die zahlreichen Konflikte
überall auf der Welt haben niemals nur eine einzige Ursache . Entsprechend kann man ihnen sinnvollerweise auch
nicht nur mit einem einzigen Ansatz begegnen .
({0})
Nur auf Militär zu setzen, geht nicht . Aber leider gilt
oft genug: Mit militärischen Mitteln muss man erst bewaffnete Konflikte so weit beenden, dass die Voraussetzungen geschaffen sind für Verhandlungen und weitere
Maßnahmen . Erst dann kann man sinnvoll an Aussöhnung arbeiten, rechtsstaatliche Strukturen aufbauen und
gute Regierungsführung ermöglichen . In diesen schwierigen Situationen ist jedenfalls eines unbedingt nötig:
klare Analysen, um informierte und kluge politische Entscheidungen treffen zu können.
({1})
Zweitens. Friedens- und Konfliktforschung befasst
sich mit einem breiten Themenfeld; denn es hat wenig
Sinn, zwischen- und innerstaatliche Konflikte als einzelne, isolierte thematische Blöcke zu untersuchen . In den
Blick nehmen muss man immer ganze Kontexte . Konflikte sind etwa Ursache für Flucht und Vertreibung, und
die Folgen von Flucht und Vertreibung sind oft genug
wieder Ursachen für neue Konflikte.
Ein Beispiel will ich aufführen: Aktuell fördert das
BMBF ein Verbundprojekt „Flucht: Forschung und
Transfer“, das Erkenntnisse über Gewaltmigration und
Fluchtursachen bündelt . Diese Fluchtforschung bezieht
explizit die Auswirkungen von Gewalterfahrungen mit
ein . Wir wissen es: Sie sind für die Radikalisierung
von Menschen oft von zentraler Bedeutung . Es geht in
dem Projekt aber auch um die spätere Reintegration von
Flüchtlingen . So wird analysiert, wie die Rückkehr von
Geflüchteten in ihre Herkunftsländer irgendwann einmal
gelingen kann, ohne dass vor Ort gleich wieder neue
Konflikte geschaffen werden, welche Bedingungen dafür in der Heimat geschaffen werden müssen, aber auch,
welche in der Zwischenzeit in den Aufnahmeländern .
Zunehmend - das wird jetzt schon klar - geht es also
auch um Themen, die uns hier in Deutschland direkt
betreffen. Es geht um innere Sicherheit und die Bedingungen gesellschaftlichen Friedens hier bei uns . Hochaktuell ist das Projekt zur Erforschung des Salafismus
in Deutschland, das von der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung in den letzten zwei Jahren
durchgeführt wurde . Es liefert einen Überblick über das
Wissen, das wir bei uns über Salafismus schon haben,
aber auch darüber, welche Daten und Erkenntnisse uns
noch fehlen, zum Beispiel über Anwerbepraktiken, um
daraus wirkungsvolle Maßnahmen zur Prävention ableiten zu können .
Noch ein Drittes will ich sagen: Akteure der Friedensund Konfliktforschung sind ebenso vielfältig wie die
Disziplinen und die Themen . Sie arbeiten aus sehr unterschiedlichen Perspektiven . Schauen wir einmal auf die
Akteure: Hier gibt es ein Spektrum von der Universität
der Bundeswehr über das Institut für Friedensforschung
und Sicherheitspolitik an der Uni Hamburg bis hin zum
Leibniz-Institut in Form der Hessischen Stiftung . Wir
fördern diese Träger in der ganzen Breite und sollten dies
bewusst auch in Zukunft tun, sei es über die sogenannten
Area Studies, die soziale, kulturelle und politische Gegebenheiten für bestimmte Regionen untersuchen, sei es
über die Deutsche Stiftung Friedensforschung, die ihrerseits Förderangebote für Dritte ausschreibt .
In der Debatte über unseren Antrag im Forschungsausschuss wurde schon deutlich, dass die Kollegen von der
Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn
Linken der deutschen Friedens- und Konfliktforschung
gerne pauschal Regierungsnähe unterstellen .
({2})
Umgekehrt halten einige CDU/CSU-Kollegen, also Kollegen von mir, die ganze Szene für links unterwandert .
({3})
Ich finde, wenn sich beide Seiten aufregen, ist das schon
einmal kein schlechtes Zeichen .
({4})
Denn mir ist eine plurale Trägerstruktur in diesem Forschungsfeld besonders wichtig . Wir sollten als Politiker
nicht bestimmte Träger bevorzugen oder gar Ergebnisse
in Auftrag geben, sondern unsere Aufgabe sollte es sein,
einen Rahmen zu setzen, in dem die verschiedensten Akteure unabhängig forschen können .
Wir haben aber durchaus auch einige sehr konkrete
Anliegen . So formuliert unser Antrag, dass wir in Zukunft einen noch deutlich verstärkten Wissenstransfer
von der Forschung in Gesellschaft und Politik haben
wollen . Im besten Fall liefert die Forschung fundierte
Hintergrundinformationen für unsere politisch aktuellen Entscheidungen, liefert unabhängige Bewertungen
für die praktische Politik und zeigt neue Handlungsoptionen auf . Jetzt höre ich schon die Kritiker sagen: Aber
die Forschungsergebnisse kommen doch immer zu spät .
Schauen Sie doch einmal, wie viele Konflikte Sie nicht
verhindern konnten . Und: Für die Suche nach Lösungen
sind sie nicht verwertbar . - Das stimmt so nicht .
({5})
Vorab will ich sagen: Grundlagenforschung hat ihren
Sinn auch dann, wenn ihre Ergebnisse nicht direkt angewendet werden können . Diese Binsenweisheit jeder
Wissenschafts- und Forschungspolitik gilt auch für die
Friedens- und Konfliktforschung. Doch dann gilt selbstverständlich auch: Es gibt Anwendungsnutzen . Das zeigt
allein schon die Tatsache, wie oft Expertise von den verschiedenen Ministerien angefordert wird .
({6})
Ein Beispiel will ich nennen . Das BMZ hat im letzten
Jahr erstmals eine Strategie zu Religion und Entwicklung vorgelegt und dazu auf Ergebnisse von Forschungsprojekten zurückgegriffen, die aus dem Hamburger
GIGA-Institut kamen . In einem Projekt wird die Rolle
von Religionen in Konflikten untersucht. Wichtig ist: Dabei zeigt sich, dass Religion nicht nur etwa oft Ursache
für die gewaltsame Eskalation von Konflikten ist - wie
ich es oft genug in öffentlichen Debatten höre -, sondern
auch umgekehrt eine Rolle spielt, wenn es darum geht,
Konflikte zu befrieden oder einzudämmen. Ebenso wird
dort untersucht, inwiefern Religion positiv nachhaltige
Entwicklung in einer Community befördern kann . Hier
findet also Forschung begleitend zu Politikentwicklung
statt .
Das gilt übrigens auch für das schon erwähnte Salafismus-Projekt. Forschungsergebnisse wurden nicht nur
den Fachpolitikern kommuniziert, sondern sie waren
auch Inhalt von Kurzfilmen und Blogs. Diese Kurzfilme
gehören seit Mitte 2016 übrigens zum Standardlehrmaterial für die Aus- und Weiterbildung von Polizeibeamten
in Baden-Württemberg . Das nenne ich mal einen gelungenen Transfer .
({7})
In anderen Punkten unseres Antrags machen wir jedoch auch deutlich, wie wichtig es ist, dass es eine unvoreingenommene Evaluierung des gesamten Forschungsfeldes - am besten durch den Wissenschaftsrat - gibt, um
Erkenntnisse darüber zu gewinnen, was man verbessern
kann . Ich bin überzeugt: Die Ergebnisse der Evaluierung
werden auch Hinweise für eine zukünftige auskömmliche Finanzierung dieses Forschungsfeldes geben .
Zum Schluss möchte ich noch kurz auf ein drittes Anliegen in unserem Antrag eingehen . Ich nenne nur ein
Schlagwort: Es geht uns um internationale Vernetzung
und Austausch, auch und gerade für das hier adressierte
Feld .
Mit unserem Antrag wollen wir der Friedens- und
Konfliktforschung die dringend nötigen neuen Impulse
geben . Ich bitte Sie: Stimmen Sie dafür!
Danke schön .
({8})
Vielen Dank . - Als nächster Redner hat Ralph Lenkert
für die Fraktion die Linke das Wort .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geehrte Damen und
Herren! Wie sieht es in vielen arabischen Regionen aus?
Ein ausgetrocknetes Flussbett liegt in gleißender Sonne,
am Ufer stehen ein paar ärmliche Häuser mit abgestorbenen Obstbäumen, und auf der staubigen Straße verabschiedet sich eine Familie von den Großeltern . Infolge
der Erderwärmung stieg die Temperatur, und seit vier
Jahren hat es nicht geregnet . Um zu überleben, muss die
Familie in die Großstadt ziehen . Ihr Ackerland verwaist .
Nur die Alten bleiben zurück .
Tausende Bauern und Hirten verloren wegen der
Dürre ihre Existenzgrundlage und zogen in die Städte .
Behörden, Infrastruktur, Sozialsysteme sind dem Ansturm nicht gewachsen . Die Spannungen zwischen den
Menschen nehmen in dem Maße zu, wie Binnenflucht,
Armut, aber auch Reichtum wachsen . Auf beginnende
Proteste der Bevölkerung reagiert der autokratische Präsident mit Repressalien . Religiöse Fanatiker und Nationalisten wittern ihre Chance . Das Land steuert auf einen
Bürgerkrieg zu .
Genau dieses Szenario - Dürre, Landflucht, übervölkerte Städte, innere Spannung, Bürgerkrieg - entstammt
einer wissenschaftlichen Studie von 2012 . Diese Studie
schlägt auch Gegenmaßnahmen vor: Investitionen in
wirtschaftliche Entwicklung, zum Beispiel in erneuerbare Energien, damit Meerwasser preiswert entsalzt und
zur Bewässerung genutzt werden kann, in die Unterstützung der Landbevölkerung zur Bewältigung der neuen
klimatischen Bedingungen . Es geht also um eine lokale
wirtschaftliche Entwicklung, von der die Gesellschaft
vor Ort profitiert.
({0})
Das hilft, Spannungen und Konflikte zu reduzieren. Wirtschaftskrisen und wachsende Einkommensunterschiede
dagegen verstärken die Probleme .
Die Studie ist eine beeindruckende Vorhersage für den
nordafrikanischen bzw . arabischen Raum und stammt
von einer regierungsnahen, einer von uns eigentlich nicht
so sehr geliebten Organisation, nämlich der Bundeswehr,
({1})
dem Dezernat „Zukunftsanalysen“ des Planungsamtes
der Bundeswehr . Diese Studie sagt geradezu prophetisch
die Entwicklung des syrischen Bürgerkrieges voraus .
Kannten Sie, liebe Damen und Herren von der Koalition, diese Studie mit dem Titel „Umweltdimensionen von
Sicherheit“? Wenn nein, frage ich mich: Nehmen Sie die
Bundeswehr ernst? Und wenn ja, muss ich feststellen:
Sie ignorieren die Ergebnisse, die Ihnen nicht passen .
({2})
Aber egal, ob ja oder nein: Angesichts dieses Umgangs
mit der Bundeswehrstudie frage ich Sie: Werden Sie
zukünftig die Ergebnisse der Friedens- und Konfliktforschung, deren Stärkung Sie hier fordern, auch berücksichtigen?
({3})
Der Bürgerkrieg in Syrien hätte verhindert werden
können . In der rückblickenden Analyse zum Syrien-Konflikt des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik, Hamburg, werden neben dem Klimawandel weitere Faktoren genannt, die innersyrische Spannungen
verschärften: einbrechende Einnahmen aus dem Ölexport, die vom Westen erzwungene Liberalisierung der
Wirtschaft, die fehlende soziale Verantwortung des Regimes, ineffiziente Verwaltungsstrukturen, und dann kam
die Dürre obendrauf . Jeder normal denkende Mensch
weiß: Wenn man in so eine Krisenregion Waffen liefert,
wie es deutsche Firmen getan haben, dann legt man die
Zündschnur .
({4})
Deshalb lehnt die Linke Waffenexporte strikt ab. Die
Linke fordert fairen Handel statt Freihandel, mehr Gelder
für Entwicklung und die Unterstützung des Ausbaus der
erneuerbaren Energien .
({5})
Hätte man 2012 diese Maßnahmen ergriffen, würden
Hunderttausende Syrer vielleicht noch leben, wären Millionen nicht auf der Flucht . Aber der Prophet gilt im eigenen Hause bekanntlich nichts .
({6})
Wahrscheinlich ignorieren Sie deshalb seit Jahren unsere
Warnungen und Forderungen und sogar die Informationen der Bundeswehr .
Ich freue mich trotzdem über den Antrag der Koalition und habe die Hoffnung, dass Sie vielleicht zukünftig die Ergebnisse der Forschung übernehmen werden,
auch wenn in diesem Antrag sehr wenig Konkretes steht .
Die Linke wird alles unterstützen, was Kriege verhindert
oder beendet, Frieden sichert und Frieden schafft - ohne
Waffen.
Vielen Dank .
({7})
Vielen Dank . - Als nächster Redner hat René Röspel
für die SPD-Fraktion das Wort .
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Vielleicht ist es sogar bezeichnend, dass wir
an einem Mittag kurz vor dem Wochenende, nachdem
über die Militäreinsätze gesprochen und der Bericht des
Wehrbeauftragten gegeben worden ist, noch über Friedens- und Konfliktforschung reden, sozusagen am Ende
der Sitzungswoche .
({0})
Ich kann mich noch gut an die Zeit erinnern, als ich in
dem Alter vieler der Zuhörer hier war: 1979 saß ich vor
dem Fernseher und betrachtete entsetzt die sowjetische
Armee, die in Afghanistan einmarschierte, und ich war
nicht sicher, was passieren würde . Ihr in der DDR werdet
das vielleicht anders gesehen und anders beurteilt haben .
({1})
Es gab ein paar Tage und Wochen Diskussionen, in denen
begründet wurde, warum das passiert, und dann ist das
Thema schnell wieder verschwunden, und man hat Jahre
nichts davon gehört .
Mir, wie vielen Millionen anderer Menschen, begegnete das Thema Afghanistan erst wieder, als James Bond
in dem Kinofilm Der Hauch des Todes von den afghaRalph Lenkert
nischen Mudschaheddin, den Glaubenskriegern, gerettet
wurde, und das waren dann offenbar die Guten. Das Thema ist dann wieder verschwunden, und im März 2001
ging ein Erschrecken durch die Weltbevölkerung, weil
die Taliban die Buddha-Statuen in Bamiyan, die zum
Weltkulturerbe gehörten, zerstörten . Die Welt war über
diesen Kulturfrevel entsetzt . Ein halbes Jahr später musste dann der Bundestag hier entscheiden, ob er sich militärisch an einem Einsatz in Afghanistan beteiligt .
Viel differenzierter als der Krieg in Afghanistan sind
in den 90er-Jahren die Golfkriege betrachtet worden . Sie
waren viel mobilisierender . Tausende von Menschen, darunter Kinder und Schüler, sind auf die Straße gegangen .
Damals war der Irak unter Saddam Hussein sozusagen
das Bollwerk des freien Westens gegen den Iran unter
dem Ajatollah Chomeini . Das ändert sich relativ schnell .
Irgendwann Jahre später wurde dann Saddam Hussein
der Gegner und der Böse in einer Auseinandersetzung,
bei der es um viel mehr ging als um Frieden in der Golfregion, nämlich auch um wirtschaftliche Interessen .
Als in Libyen die Gelegenheit bestand, Gaddafi loszuwerden, waren viele Länder versucht - sie haben es
auch gemacht -, Gaddafi zu stürzen, nicht wissend, was
eigentlich in dem Land und mit dem Land danach passieren wird .
Wenn man die fürchterlichen Bilder aus Syrien sieht so geht es mir jedenfalls -, weiß man nicht, wer bei dem
Konflikt gerade mit wem gegen wen wofür kämpft. Am
Ende ist die Frage: Wer sind eigentlich die Guten und wer
die Bösen? Die Antwort darauf wird es so nie geben, weil
das ganze Feld sehr komplex ist .
Wer sind eigentlich diejenigen, die Kriege anfangen?
Wie entstehen Konflikte? Wo ist Konfliktpotenzial? Was
sind die Ursachen von Kriegen? Ralph Lenkert hat ja
einige angesprochen . Was werden die neuen Herausforderungen sein? Zum Beispiel der Klimawandel oder die
Tatsache, dass Menschen nicht mehr in ihrer Region leben können, weil sie dort kein Wasser haben, keine Chance auf Arbeit, ihre Ernährung nicht sicherstellen können,
weil es dort unterschiedliche Ethnien gibt, die aufgrund
bestimmter Bedingungen als Land zusammengeschweißt
wurden - wie geht man mit solchen Fragen um?
Wenn es um die Antworten geht, braucht Politik immer Hilfe und Beratung . Das Beste wäre, wenn man eine
Friedens- und Konfliktforschung hätte, die eindeutige
Antworten geben kann . Das ist im seltensten Fall so .
Aber es ist wichtig, dass es eine solche Friedens- und
Konfliktforschung gibt. Wir sind in Deutschland exzellent aufgestellt . Ich habe in meiner vor einigen Wochen
zu Protokoll gegebenen Rede viele Institute aufgezählt,
auf die wir stolz sein können . Sie verrichten gute Arbeit .
Ihre Analysen und Äußerungen werden häufig nicht genug beachtet, aber sie geben wichtige Anhaltspunkte für
politische Entscheidungen .
Ein wichtiger Impuls, den wir als Koalition mit diesem Antrag setzen, ist, dass wir der Friedens- und Konfliktforschung einen anderen Stellenwert geben und für
Kontinuität und Verlässlichkeit sorgen wollen . Auch das
ist ein wesentlicher Vorteil dieses Antrags: Wir reden
über dieses Thema, während die Opposition in dieser
Frage leider keinen Vorstoß gemacht hat .
({2})
Ich finde sogar, dass Friedens- und Konfliktforschung so
verlässlich und kontinuierlich finanziert werden sollte,
wie wir es beim Pakt für Forschung und Innovation machen, in dessen Rahmen wir technische Wissenschaften
und viele andere mit 3 Prozent jährlich fördern .
({3})
Ausdrücklich will ich an dieser Stelle - meine Redezeit ist kurz - Claudia Lücking-Michel für ihr Engagement danken und dafür, dass der Antrag, über den wir
hier reden, überhaupt zustande gekommen ist . Das war
nicht ganz einfach . Wir haben bei dem gemeinsamen Antrag für Friedens- und Konfliktforschung vieles abspecken müssen . Es ist auch dein Verdienst, dass es möglich
geworden ist, dass wir diesen Impuls setzen. Ich finde
es ausdrücklich schade, dass wir gerade aus den Reihen
der Verteidigungspolitiker der Union immer wieder aufgefordert wurden, das Ganze abzuspecken oder zu reduzieren .
Ich will an dieser Stelle sagen: Wir haben in diesem
Haushalt den Verteidigungsetat gegenüber dem letzten
Jahr um 2 700 Millionen Euro erhöht . Angesichts der
Krisen und Katastrophen, angesichts der Notwendigkeit, mehr darüber zu wissen, wie Konflikte entstehen,
wie man sie vielleicht verhindern kann und wie man
Abrüstung und Rüstungskontrolle machen kann, müsste
es doch eigentlich ein paar Millionen mehr für Friedensund Konfliktforschung geben, um an den Ursachen zu
arbeiten .
({4})
Ganz herzlich bedanken möchte ich mich auch bei
den vielen in der Bevölkerung, die seit Jahrzehnten in
der Friedensbewegung immer wieder daran gearbeitet
haben, Ursachen differenziert zu betrachten und auf sie
hinzuweisen . Sie erlauben mir, dass ich stellvertretend an
dieser Stelle ganz herzlich Günter Sauerbier danke, der
in einigen Minuten in Hagen einen Friedenspreis für sein
Lebenswerk, für seine Arbeit bei Pax Christi bekommen
wird . Menschen wie er sind es, die unsere Gesellschaft
besser machen; von diesen brauchen wir viel mehr . Ich
wünsche Ihnen viele gute Erkenntnisse und dass wir bei
der Friedens- und Konfliktforschung besser werden.
Vielen Dank .
({5})
Vielen Dank . - Als nächster Redner hat Kai Gehring
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
An diesem Tag einer tiefen Zäsur in den USA diskutieren
wir über die Perspektiven der Friedens- und Konfliktforschung hierzulande. Ich finde das durchaus passend.
Denn das Verstehen von Konfliktursachen, das Verhindern von Konflikten und Kriegen, mehr Prävention, Rationalität und Gedankenaustausch tun den internationalen
Beziehungen gut . Anders gesagt: Postfaktische Einfalt
darf die internationale Politik nicht bestimmen; denn es
geht letztlich um den Erhalt des friedlichen Zusammenlebens von uns allen . Die Politik ist auf wissenschaftlich
fundierte Informationen und Empfehlungen angewiesen .
Für uns Grüne ist deshalb klar: Wir müssen die Friedensforschung besser ausstatten und systematisch stärken .
({0})
Die Regierung hat die Expertise der Friedens- und
Konfliktforschung in den vergangenen Jahren zu wenig
berücksichtigt . Das muss sich dringend ändern . Die Ergebnisse der Friedensforschung müssen endlich stärker
in der Regierungsarbeit auf allen Ebenen Leitschnur werden .
({1})
Politische Tatkraft und Weisheit können dadurch nicht
ersetzt werden . Aber die Forschung kann uns Parlamentariern und auch den Regierungsmitgliedern wichtige
Entscheidungshilfen in sehr unsicheren Zeiten geben .
Genannt seien die verschärften Herausforderungen des
internationalen Terrorismus und asymmetrischer Kriegsführung, Attacken auf unsere digitalen Infrastrukturen
und Verteilungskonflikte - Verteilungskonflikte aufgrund
von Ressourcenmangel, von Klimakrise, aufgrund einer
unfairen Handelspolitik oder der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich; Kollege Lenkert hat hierzu auch
schon ausgeführt .
Notwendig sind dafür mehr interdisziplinäre und
vernetzte Forschungsansätze, wie sie in dieser Woche
im Forschungsausschuss auch mit Blick auf Flucht und
Flüchtlinge diskutiert wurden .
In ihrem Antrag listet die Koalition die wichtigsten
Forschungsinstitute im Bereich Frieden und Konflikt auf.
Das ist verdienstvoll . Wir vermissen allerdings konkrete
Aussagen zu strukturellen Verbesserungen und zu den
Zukunftsperspektiven dieser Institute und ihrer künftigen
Finanzierungsstruktur . Die Finanzierungslücken sind eklatant - vor allem, wenn renommierte Institute wie die
Deutsche Stiftung Friedensforschung auf Zinszahlungen
aus ihrem relativ kleinen Stiftungskapital angewiesen
sind . Das muss sich dringend bessern .
({2})
Denn die unsichere Finanzierung ist auch eine wichtige Ursache dafür, dass der wissenschaftliche Nachwuchs
in diesem so wichtigen Forschungsfeld nur schwer Fuß
fassen kann . Die Friedensforschung ist leider ein Musterbeispiel dafür, wie unsichere Beschäftigungsperspektiven zur Abwanderung hochqualifizierter Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler führen . Diesen
Verlust an Expertise dürfen wir uns nicht länger leisten .
({3})
Wir begrüßen, dass der Wissenschaftsrat mit der
Evaluation der Friedensforschungsstrukturen beauftragt
wurde . Aus den Ergebnissen müssen wir dann aber tatsächlich auch Konsequenzen ziehen, vor allem zur Stärkung der Friedensforschung in Deutschland .
Verbesserungsbedarf sehen wir auch bei der europäischen und internationalen Vernetzung . Es ist gut, dass
die Deutsche Stiftung Friedensforschung zumindest kleine Pilotprojekte im internationalen Raum startet . Mehr
ist momentan nicht drin, weil die Stiftung an ihrem Limit
arbeitet . Das hat sogar der Bundesrechnungshof festgestellt und bemängelt . Und das sollten Sie doch ernster
nehmen, meine Damen und Herren . Das hätten Sie mit
Ihrem Antrag doch ändern können .
({4})
Friedensförderung und Konfliktprävention sind für
uns Querschnittsaufgaben . Es geht dabei auch um den
Ausbau der Friedenspädagogik, um zivile Krisenprävention etwa durch den Ausbau von Austauschprogrammen,
Freiwilligendiensten und interdisziplinären internationalen Studiengängen . Gerade bei Letzterem könnte sich das
BMBF auch deutlich mehr anstrengen .
Friedensforschung muss unabhängig sein . Friedensforschung muss auch immer unbequem sein . Gerade sie
kann Ursachen für Konflikte aufdecken, die andere nicht
sehen können oder sehen wollen - beispielsweise den
Zusammenhang zwischen steigenden Rüstungsexporten
und Fluchtursachen .
Wir sollten dies als Parlament wertschätzen und berücksichtigen . Dem Koalitionsantrag merkt man aber an
genau diesen Stellen an, dass sich die Autorinnen und
Autoren der Koalition hier nicht grün sind .
({5})
Uns als Grünen geht es nicht nur um die Methoden
der Friedensforschung, sondern es geht uns um Inhalte,
um bessere Strukturen und um höhere Finanzmittel . Gerade zu diesen wichtigen Bereichen schweigen Sie sich
in dem Antrag weitestgehend aus .
Wegen dieser Unzulänglichkeiten und Unklarheiten
können wir Ihrem Antrag leider nicht zustimmen - so
verdienstvoll es ist, dass Sie sich dem Thema überhaupt
widmen; wahrscheinlich auch, um Kürzungswünschen
von Frau Wanka etwas entgegenzuhalten .
Gleichwohl freuen wir uns auf die gemeinsame Zusammenarbeit an diesem so wichtigen Thema . Spätestens
wenn die Evaluationsergebnisse des Wissenschaftsrates
vorliegen, sollten wir zu substanzielleren Antworten für
den Ausbau der Friedensforschung in Deutschland kommen; denn in einer Welt, die immer stärker aus den Fugen
geraten ist, braucht es Konflikt- und Friedensforschung
mehr denn je .
({6})
Vielen Dank . - Als nächster Redner hat Dr . Philipp
Lengsfeld von der CDU/CSU-Fraktion das Wort .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Der vorliegende Antrag hat
meine Unterstützung, obwohl sich der Titel wie eine Parole aus meiner Pionierzeit in der DDR anhört .
({0})
Es handelt sich tatsächlich um ein wichtiges Anliegen,
insbesondere natürlich auch vor dem Hintergrund unserer deutschen Geschichte - das ist hier, glaube ich, noch
nicht erwähnt worden -, aber nicht nur wegen unserer
Verbrechen . Es gibt im Zusammenhang mit der Friedens- und Konfliktforschung einen sehr positiven, beispielgebenden Prozess in unserem Land . Die Wende in
der DDR, der Einigungsprozess und der Zusammenbruch
einer hochgerüsteten Diktatur praktisch ohne Blutvergießen - ein Klassiker der modernen Friedens- und Konfliktforschung.
({1})
Aber Friedens- und Konfliktforschung hat natürlich
auch einen ganz konkreten Bezug zur aktuellen deutschen
Politik - auch das ist schon mehrfach erwähnt worden -,
insbesondere da Deutschland zur verstärkten Übernahme
internationaler Verantwortung bereit ist, wie zum Beispiel im Münchner Konsens vor zwei Jahren festgestellt
wurde . Damit sind auch wir als Deutscher Bundestag in
einer besonderen Verantwortung . Es ist also folgerichtig,
dass wir uns mit dem Feld der Friedens- und Konfliktforschung mehr beschäftigen und es stärken .
Die wissenschaftliche Analyse von Konfliktursachen
ist von herausragender Bedeutung, um Fehlentwicklungen frühzeitig zu erkennen, Strategien für friedliche
Lösungen zu entwickeln und fundierte Entscheidungen
zu treffen; auch das ist schon gesagt worden. Ich will an
einem konkreten Beispiel illustrieren, dass die Thematik durchaus nicht nur komplex, sondern teilweise auch
hochinteressant ist . Ich greife einen Nebenaspekt der
Konfliktforschung heraus: das Thema „Begleitende Mythen“; sie sind ja oft wesentlicher Teil einer Auseinandersetzung .
({2})
Ich nehme als konkretes Beispiel die Auseinandersetzung um die Krim, ein aktuelles, wenn auch nicht mehr
brandaktuelles Beispiel .
({3})
Wussten Sie zum Beispiel, liebe Kolleginnen und
Kollegen, dass die Annexion der Krim durch die Russische Föderation eigentlich ein russisch-deutsches Projekt
war oder ist?
({4})
So wurde es jedenfalls einer sehr erstaunten Helmholtz-Delegation - ich war dabei - 2014 in Moskau
anlässlich des zehnjährigen Jubiläums des Moskauer
Helmholtz-Büros von einem hochrangingen russischen
Wissenschaftler erklärt .
({5})
Ich glaube, er wollte uns eine Art Kompliment machen
und um mehr Verständnis auf deutscher Seite bitten .
({6})
Die Lösung ist natürlich ganz einfach: Die erste russische Annexion der Krim erfolgte unter Katharina der
Großen, die als geborene Sophie Auguste Friederike von
Anhalt-Zerbst natürlich Deutsche war . Sie können sich
vorstellen, dass die deutsche Delegation in Moskau etwas gequält gelächelt hat .
({7})
Viel interessanter finde ich in diesem Zusammenhang
aber, dass die Annexion 1783 von Fürst Potemkin angeführt wurde - er war dafür zuständig -, der mit Blick
auf einen Besuch der siegreichen Zarin Katharina auf der
Krim ebenjene berühmten, aber falschen russischen Dörfer errichtet hat, um der Zarin die erfolgreiche Russifizierung der Krim zu demonstrieren . „Potemkinsche Dörfer“
ist ein geflügeltes Wort, nicht nur im Deutschen.
({8})
Mich persönlich hat die Sowjetzeit immer mehr interessiert . Diesen zweiten Punkt der Krim-Mythologie will
ich nicht unerwähnt lassen, weil er die ganzen Schwierigkeiten und Sensibilitäten einer solchen Geschichte ziemlich gut deutlich macht . 1954 wurde die Krim nämlich
innerhalb der Sowjetunion administrativ umgehangen:
von der Russischen SFSR zur Ukrainischen SSR .
({9})
Dieser Vorgang wird heute von russischer Seite gerne so
dargestellt, als habe der Ukrainer Chruschtschow - quasi in einer Wodkalaune, ohne echten Grund, unter Bruch
selbst sowjetischer Regeln - dieses Stück Land der Ukraine unrechtmäßig zugeschanzt - eine perfide Legende,
die wie alle guten Lügen natürlich auch einen Teil Wahrheit enthält .
({10})
Chruschtschows ursprüngliche Machtbasis war die
Ukraine . Es gab nach Stalins Tod 1953 einen heftigen
Machtkampf, und die Unterstützung der ukrainischen
Kommunisten brauchte er dabei dringend . Nicht richtig
ist aber, dass es für diese administrative Änderung nicht
gute Gründe gab . Die Versorgung der Krim lief vor allem
über die Ukraine; das ist übrigens heute noch eine Herausforderung in diesem Konflikt.
Was ich an der Legende aber besonders perfide finde -
deshalb erzähle ich sie hier -, ist die subtile nationalistische Unterstellung . Mit sehr, sehr großer Wahrscheinlichkeit - ich habe das nachgeprüft; es ist gar nicht so
einfach herauszubekommen - ist Chruschtschow nämlich Russe:
({11})
nach Geburtsort, nach ethnischer Herkunft und auch formal gemäß den damals gültigen sowjetischen Rechtsnormen . An diesem vermeintlich kleinen Beispiel erkennen
Sie die Dimension dieser Art von Problematiken .
Und deshalb muss die Arbeit in der Friedens- und
Konfliktforschung sehr verantwortungsbewusst betrieben werden . Interdisziplinäre und internationale Zusammenarbeit ist absolut essenziell .
Eine gute Qualitätssicherung ist sehr wichtig; denn
Konflikte werden auch gerne mithilfe von „wissenschaftlichen Erkenntnissen“ angeheizt . Eine gut geförderte
Forschungslandschaft in einem sehr politischen und vor
allem sehr dynamischen Umfeld in Deutschland kann
auch die Tendenz zum Wildwuchs zeigen . Deshalb ist
mir die im Antrag festgeschriebene externe Evaluierung
durch den Wissenschaftsrat ein wichtiges Anliegen . Ich
bin mir auch sicher, dass dies völlig im Interesse des
Hauses ist .
Es ist gut und richtig - das ist heute auch schon erwähnt worden -, dass sich die Forschung stets auch an
aktuellen Fragestellungen ausrichten muss . Ich begrüße
es deshalb ausdrücklich, dass es ein BMBF-gefördertes
Projekt „Salafismus in Deutschland“ gibt; es ist schon
erwähnt worden .
Zum Abschluss kann ich mir eine Bemerkung zu unserer Aktuellen Stunde am Mittwoch nicht ersparen . Im
erweiterten Zusammenhang mit dem Mörder Amri aus
Tunesien brachte Dietmar Bartsch, der Vorsitzende der
Linksfraktion, die linken Standardfloskeln von den Interventionskriegen und dem Klimawandel als den tieferen
Fluchtursachen ins Spiel . Das mag in der Theorie richtig
sein . Ich sage dazu ganz ausdrücklich in Richtung der
linken Seite: Bitte unterlassen Sie im konkreten Fall auch
nur den Versuch einer Legendenbildung . Die Geschichte
des Mörders und Terroristen aus Tunesien hat weder mit
einer Intervention noch dem Klimawandel zu tun .
({12})
Und ein Flüchtling war er auch nicht . Für diese Feststellung brauche ich eigentlich keine Wissenschaftler, aber
wenn es gutgemachte Untersuchungen über die wahren
Ursachen des Islamismus in Deutschland gibt, wird es
vielleicht auch anderen leichter fallen, dieser Art von Legendenbildung ein klares Stoppsignal zu zeigen .
Zusammengefasst: Friedens- und Konfliktforschung
in Deutschland dient der Beförderung von friedlichen
Konfliktlösungen, von demokratischen Prozessen und
Lösungen unter dem Leitstern von Freiheit und Menschenrechten .
So unterstütze ich das Anliegen der Stärkung der Friedens- und Konfliktforschung - auch unter dieser blumigen Überschrift .
Vielen Dank .
({13})
Als letzte Rednerin in dieser Aussprache hat Frau
Dr . De Ridder von der SPD-Fraktion das Wort .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Mit einem
solchen Ritt in die Geschichte, wie ihn gerade Philipp
Lengsfeld präsentiert hat, kann ich nicht dienen .
({0})
Meiner geht nicht so weit zurück und bezieht sich auf
Gustav Heinemann . Er sagte schon - das ist 50 Jahre
her -, dass der Friede der Ernstfall sei .
Wenn ich Länderbeispiele wie Syrien, die Ukraine
und - lieber Philipp Lengsfeld, wenn ich dein Ohr gewinnen könnte - gern auch die Krim nenne, sehr verehrte
Kolleginnen und Kollegen, läuft - das weiß ich - in Ihrem Hinterkopf ein Film ab . Das sind keine paradiesischen Bilder, die dann hervorgerufen werden .
Gleiches gilt für die inneren Konflikte, wenn ich
nach Europa gucke . Ich habe eine belgische Staatsangehörigkeit und trage heute eine Rosette, weil ich ebenfalls wie Michael Roth ausgezeichnet worden bin . Das
deutsch-belgische Verhältnis war aber lange ein konfliktträchtiges. Das kann ich auch mit Blick auf meine
eigene Geschichte sagen . Auch das gilt es intensiver zu
betrachten . Dafür muss man auf dem europäischen Kontinent bleiben .
Aber am heutigen Nachmittag werden sich viele von
uns und von Ihnen - davon bin ich überzeugt - die Amtsübergabe an Donald Trump anschauen .
({1})
Sie werden dabei noch einmal mit dem Thema der Cyberangriffe des sogenannten Cyberwar konfrontiert werden; ich komme darauf gleich zurück .
Aber bleiben wir doch - im postfaktischen Zeitalter bei den Fakten. Friedens- und Konfliktforschung ist ein
interdisziplinäres Wissenschaftsfeld . Wir tun gut daran,
es nicht darauf zu reduzieren, dass es um geistes- und
sozialwissenschaftliche Forschung geht . Es geht auch auch das ist schon angesprochen worden - um Natur- und
Ingenieurwissenschaften . Das muss man entsprechend
flankieren. Auch die Juristinnen und Juristen sind hierbei
gefordert . Politik ist gut beraten, wenn sie auf die Befunde der Friedens- und Konfliktforschung schaut.
({2})
Ich bin im Übrigen Stefan Müller sehr dankbar, der
mich immer zu den Sitzungen der Deutschen Stiftung
Friedensforschung begleitet; er ist rege und intensiv dabei . Es ist richtig: Wir haben mitnichten das Programm so
gelassen, wie es war . Wir haben für eine Neuaufstellung
gesorgt . Die Deutsche Stiftung Friedensforschung hat die
Empfehlung, die wir ausgesprochen haben, sehr gern aufgenommen, nämlich dort, wo es um den Wissenstransfer
und um die Öffentlichkeitsarbeit zu den bereits erzielten
Befunden der Friedens- und Konfliktforschung geht. Lieber Stefan Müller, Lob gibt es aber nicht umsonst . Die
Deutsche Stiftung Friedensforschung verlangt in der Tat
nach einer deutlich besseren Finanzierung, insbesondere - auch dies wurde erwähnt - in Niedrigzinsphasen .
({3})
Ich will aber auch das Leibniz-Institut Hessische
Stiftung Friedens- und Konfliktforschung nicht unerwähnt lassen . Ich will das Augenmerk ebenso auf das
Deutsch-Kolumbianische Friedensinstitut in Gießen lenken, weil wir auch den lateinamerikanischen Teil unserer
Welt nicht aus dem Blick verlieren dürfen . Denn auch
Kolumbien hat große Probleme; das wissen wir . Viele
waren entsetzt darüber, wie der Friedensverhandlungsprozess ausgegangen ist .
Lassen Sie mich noch einmal deutlich machen, was wir
in der Friedens- und Konfliktforschung brauchen. In der
Tat muss diese Forschung besser und stärker alimentiert
werden . Aber dafür bietet uns der Antrag jetzt die Möglichkeit . Es geht darum, europäische Forschungsverbünde zu schaffen, Wissenschaftsnetzwerke zu unterstützen,
um damit deutlich zu machen, dass es möglicherweise
eine Aufgabe der Deutschen Stiftung Friedensforschung
ist, dies mit zu flankieren.
Wenn wir über Cyberwar, Cyberkrisen und Cyberattacken im Netz reden, dann müssen wir auch über die Forschung zur Cyberresilienz reden . Dies sind neue Themen
und Schwerpunkte, die es interdisziplinär anzugehen gilt .
({4})
Wir müssen auch über den wissenschaftlichen Nachwuchs reden . Für viele jüngere Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftler ist das Thema der Friedens- und Konfliktforschung offensichtlich nicht mehr so brisant. Das
sollten wir ändern, da müssen wir mehr tun .
Es bleibt bei der Schnittstellenforschung und beim
Wissenstransfer . Auch den Gender- und Diversity-Aspekten sollten wir uns nähern, was die Unterstützung
angeht. Flucht und Frauen oder auch ethnische Konflikte
sind ebenfalls ein riesiges Thema .
Lassen Sie mich enden, indem ich Ihnen in Erinnerung rufe, was einst Willy Brandt sagte: „Krieg“ - so das
Zitat - „ist nicht mehr die Ultima Ratio, sondern die Ultima Irratio.“ Friedens- und Konfliktforschung beweist
dies jeden Tag .
Vielen Dank .
({5})
Vielen Dank . - Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit schließe ich die Debatte .
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD mit dem Titel „Dem Frieden
verpflichtet - Friedens- und Konfliktforschung stärken“.
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 18/10849, den Antrag der Fraktionen der
CDU/CSU und SPD auf Drucksache 18/10239 anzunehmen . Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist diese
Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalition
ohne Gegenstimmen bei Enthaltung der Opposition angenommen worden . - Damit schließe ich diesen Tagesordnungspunkt, liebe Kolleginnen und Kollegen .
Ich komme zum Tagesordnungspunkt 27:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Beate
Müller-Gemmeke, Kerstin Andreae, Katja Keul,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Unternehmensmitbestimmung stärken Grauzonen schließen
Drucksache 18/10253
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . - Ich höre dazu
keinen Widerspruch . Dann ist das so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat
Beate Müller-Gemmeke für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Im letzten Jahr wurde unser Antrag
zur betrieblichen Mitbestimmung abgelehnt . Ich sagte
damals, wir bleiben dran an diesem Thema . Deshalb leDr. Daniela De Ridder
gen wir heute einen Antrag zur Unternehmensmitbestimmung vor;
({0})
denn auch hier werden die weißen Flecken immer größer .
Auch die Unternehmensmitbestimmung ist in der Defensive . Deshalb müssen wir auch hier gesetzlich nachbessern und Schlupflöcher schließen.
({1})
Der politische Wille ist eindeutig . Das Mitbestimmungsgesetz von 1976 und das Drittelbeteiligungsgesetz
formulieren klar: Die Beschäftigten sind demokratisch
an der Unternehmensspitze zu beteiligen . - Und doch
zeigen die Studien der Hans-Böckler-Stiftung ein anderes Bild . Mehr als 800 000 Beschäftigte werden durch
juristische Tricks von der Unternehmensmitbestimmung
ausgeschlossen . 2002 waren noch 767 Unternehmen
paritätisch mitbestimmt, heute sind es nur noch 635 .
Eine Stichprobe zur Drittelbeteiligung hat ergeben, dass
56 Prozent der Unternehmen diese Pflicht ganz einfach
ignorieren . Zu viele Unternehmen vermeiden die Unternehmensmitbestimmung durch die geschickte Wahl der
Rechtsform . Sie nutzen vorhandene Rechtslücken strategisch und bewusst, und das geht gar nicht . Die Flucht
aus der Mitbestimmung im Aufsichtsrat kann und muss
gestoppt werden .
({2})
Das war übrigens auch Thema bei einem Symposium
der Hans-Böckler-Stiftung im letzten Jahr . Zu Gast war
Ministerin Nahles . Sie sagte damals, die Unternehmensmitbestimmung habe Risse bekommen, und sie sprach
von Handlungsdruck . Aber schon zwei Wochen später
wusste das Bundesarbeitsministerium davon gar nichts
mehr . Ich hatte mit einer Kleinen Anfrage nach der Situation bei der Unternehmensmitbestimmung gefragt . Die
Antworten waren nichtssagend . Die Bundesregierung
weiß nichts; sie hat auch keine belastbaren Daten . Das
kann alles nachgelesen werden . Auch der besagte Handlungsdruck wurde mit keinem Wort erwähnt . Vor diesem
Hintergrund sind die Aussagen von Ministerin Nahles
nichts anderes als eine Farce, und das ist nicht akzeptabel .
({3})
Weil der Bundesregierung jegliches Problembewusstsein fehlt, werden wir Grünen jetzt mit unserem Antrag
zur Unternehmensmitbestimmung aktiv . Zumindest vier
Forderungen möchte ich ganz kurz ansprechen:
Erstens . Aldi Nord und Süd werden durch zwei Familienstiftungen gesteuert . Darunter liegen Regionalgesellschaften, und zwar in der Form einer GmbH & Co .
KG . Weil weder bei Stiftungen die Mitbestimmung noch
bei Kommanditgesellschaften die Drittelbeteiligung
greift, werden 66 000 Aldi-Beschäftigte von der Mitbestimmung in Aufsichtsräten ausgeschlossen . Das ist mit
nichts zu rechtfertigen . Deshalb wollen wir Stiftungen,
die Erwerbszwecke verfolgen, in die Unternehmensmitbestimmung einbeziehen .
Zweitens . Wir wollen auch Kommanditgesellschaften ins Drittelbeteiligungsgesetz aufnehmen, wenn der
Komplementär keine natürliche Person, sondern eine
Kapitalgesellschaft ist . Die Mitbestimmung muss an die
veränderte Unternehmenslandschaft angepasst werden;
denn die heutigen Ausnahmen sind nicht fair und schon
gar nicht gerecht .
({4})
Drittens wollen wir die Konzernzurechnung, die heute
nur für Unternehmen mit mehr als 2 000 Beschäftigten
gilt, auch im Drittelbeteiligungsgesetz verankern; denn
es gibt etliche Unternehmen mit mehr als 500 Beschäftigten, die sich gezielt in kleine Einzelteile zerlegen, nur
um die Mitbestimmungsrechte der Beschäftigten zu umgehen . Auch damit muss Schluss sein .
Viertens . Es geht aber nicht nur um die Lücken bei
der Mitbestimmung . 56 Prozent der Unternehmen - ich
habe es schon gesagt - verstoßen gegen das Drittelbeteiligungsgesetz . Sie ignorieren rechtswidrig die Rechte der
Beschäftigten auf Mitbestimmung . So entstehen rechtsfreie Räume, und das ist nicht akzeptabel . Deshalb sind
Sanktionen notwendig; denn die Mitbestimmung muss
nicht nur konsistent, sondern auch rechtssicher ausgestaltet werden .
({5})
Sehr geehrte Regierungsfraktionen, die Mitbestimmung hat sich auf Unternehmensebene bewährt . Sie ist
ein wesentliches Element der sozialen Marktwirtschaft
und hat einen nicht unerheblichen Beitrag dazu geleistet,
dass Deutschland wirtschaftliche Krisen meistern konnte . - Jetzt könnten Sie eigentlich alle klatschen; denn das
war die einzige konkrete und richtige Antwort der Bundesregierung auf meine Kleine Anfrage .
({6})
Auch die Konsequenzen daraus müssten eigentlich klar
sein . Wenn Unternehmen die Mitbestimmung bewusst
umgehen, wenn sie die Mitbestimmung rechtswidrig ignorieren, dann müsste das doch aufschrecken und eigentlich zum Handeln bewegen .
Bei der Mitbestimmung müssen für alle Unternehmen die gleichen Rahmenbedingungen gelten und für
alle Beschäftigten die gleichen Mitbestimmungsrechte .
Vor allem gehört zu einer funktionierenden Demokratie
auch eine demokratische Teilhabe der Beschäftigten in
den Unternehmen . Um diese Teilhabe auch in Zukunft
sicherzustellen, müssen Sie, die Regierungsfraktionen,
endlich die Lücken bei der Mitbestimmung schließen .
Die schönen Reden, die wir jetzt gleich bestimmt wieder
hören, sind zu wenig; Handeln ist angesagt .
({7})
Bekräftigen Sie den politischen Willen, und stärken Sie
die Unternehmensmitbestimmung! Noch haben Sie Zeit .
Vielen Dank .
({8})
Vielen Dank . - Als nächster Redner hat Uwe Lagosky
von der CDU/CSU-Fraktion das Wort .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mitbestimmung ist ein wesentlicher Faktor für den
betrieblichen Frieden und damit auch für die Produktivität unserer Unternehmen . Als ehemaliger stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender eines drittelparitätisch
mitbestimmten Unternehmens kann ich darüber einiges
erzählen . Für mich ist Mitbestimmung für das Gelingen
unserer sozialen Marktwirtschaft absolut erforderlich; sie
gehört dazu .
({0})
- Wenn Sie das mit „schönen Reden“ gemeint haben,
dann sage ich: Danke für den Applaus .
Durch die Unternehmensmitbestimmung spiegeln
sich im Aufsichtsrat nicht nur die Interessen der Anteilseigner, sondern auch die der Arbeitnehmer wider . Durch
das Drittelbeteiligungsgesetz - wir haben schon zum Teil
davon gehört - wird ab einer Unternehmensgröße von
500 Mitarbeitern ein Drittel des Aufsichtsrates durch Arbeitnehmer besetzt . Ab 2 000 Mitarbeitern kommt das
Mitbestimmungsgesetz von 1976 zur Geltung . Danach
besteht der Aufsichtsrat je zur Hälfte aus Arbeitgebern
und Arbeitnehmern . Dazu kommt noch das Montan-Mitbestimmungsgesetz von 1951, das unter einer unionsgeführten Bundesregierung - das darf ich an der Stelle
deutlich sagen - eingeführt wurde
({1})
und die Basis unserer Mitbestimmung ist . Diese Einigung war nicht nur für Unternehmen der Montanindustrie - Bergbau-, Stahl- und Eisenindustrie - ein Meilenstein, sondern für die Mitbestimmung generell . Das kann
man hier, denke ich, auch so deutlich erwähnen .
({2})
- Natürlich leben wir im Heute; darauf komme ich jetzt
zu sprechen . - Nach wie vor gilt für diese Unternehmen
eine paritätische Mitbestimmung im Aufsichtsrat ab einer Betriebsgröße von 1 000 Mitarbeitern, beispielsweise
bei der Salzgitter AG in meinem Wahlkreis .
Lassen Sie mich einen Blick auf die Ursprünge der
aktuellen Gesetzgebung werfen . Der Abstimmung über
das Mitbestimmungsgesetz im Februar 1976 im Parlament ging ein Diskussionsprozess von acht Jahren und
eine darauf folgende Phase von zwei Jahren, in der der
Ausschuss für Arbeit und Soziales über dieses Thema
diskutiert hat, voraus . Das war der gesellschaftlichen Bedeutung dieses Themas angemessen und führte am Ende
des Dialoges dazu, dass das Mitbestimmungsgesetz mit
großer Mehrheit im Deutschen Bundestag verabschiedet
und eingeführt wurde .
Ziel muss es auch heute sein, einen solch nachhaltigen, tragfähigen Kompromiss zu finden. Das kann die
Politik nicht allein, sondern nur mit Arbeitgebern und
Arbeitnehmern zusammen schaffen.
Dass es sinnvoll war, über das Thema Mitbestimmung
ausgiebig zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern zu
diskutieren, beweist die lange Lebensdauer der Vereinbarung: von 1976 bis heute . So etwas lässt sich eben nur mit
einem Kompromiss erreichen und nicht mit kurzweiligen
Mehrheiten .
({3})
Unter Bundeskanzler Schröder wurde die zweite Biedenkopf-Kommission ins Leben gerufen . Von Bundeskanzlerin Angela Merkel wurde sie nach der Wahl bestätigt . Ihre Aufgabe war es, Vorschläge für eine moderne
und europataugliche Weiterentwicklung der deutschen
Unternehmensmitbestimmung zu erarbeiten . Damals, im
Jahr 2006, konnten sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer
nicht einigen . Die Politik hat damals bewusst davon abgesehen, über die Köpfe der Konfliktparteien hinweg zu
entscheiden . So war es letztendlich gut, dass man so verfahren ist; denn das Mitbestimmungsgesetz, das daraus
entstanden wäre, wäre möglicherweise auf einem Fundament gebaut worden, das nicht allzu lange getragen hätte .
Die Gründe für das Scheitern der Kommission werden
von den Beteiligten je nach Perspektive ganz unterschiedlich bewertet . BDI und BDA hatten sich vorgenommen,
die bisherige paritätische Mitbestimmung in den Aufsichtsräten zu beenden und den Anteil der Arbeitnehmer
auf ein Drittel herunterzufahren . Der Status quo seit 1976
war natürlich, dass die Arbeitnehmer in den Unternehmen ab 2 000 Beschäftigten paritätisch beteiligt wurden .
Ich kann durchaus verstehen, dass das Angebot, das die
Arbeitgeber damals unterbreitet haben, nicht auf Anhieb
überzeugt hat . Von daher war eigentlich von vornherein
klar, dass, wenn die Arbeitgeberseite auf ihren Extremforderungen beharrt, kein Kompromiss gefunden werden
würde . Das betraf auch andere Verhandlungsbereiche
wie die Einordnung von Unternehmen mit ausländischer
Rechtsform . Leider muss man feststellen, dass die Arbeit
der Kommission ergebnislos blieb .
Zumindest die Professoren Kurt Biedenkopf, Hellmut
Wißmann und Wolfgang Streeck haben einen Bericht abgegeben . In dem Bericht heißt es:
Allerdings erscheinen verschiedene Anpassungsmaßnahmen geboten, um der gewachsenen Mobilität der Unternehmen und ihrer Internationalisierung
sowie veränderten rechtlichen Rahmenbedingungen
auf europäischer Ebene gerecht zu werden .
Wohl gemerkt, das war 2006 . Diese Feststellung wurde
also vor gut zehn Jahren getroffen.
Dass wir uns auf den bestehenden Regeln nicht ausruhen dürfen, zeigen auch die wirtschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahre, die nach Beendigung der Arbeit der
Kommission eingetreten sind . Im Zuge der weltweiten
Finanz- und Wirtschaftskrise hat sich einmal mehr gezeigt, dass die Mitbestimmung in Unternehmen keinen
Nachteil im internationalen Wettbewerb darstellt . In unsicheren Zeiten ist die Phalanx aus Arbeitgebern und Belegschaft ein Garant für die Stabilität .
({4})
- Ja, das ist auch wieder „schönes Reden“, keine Frage . Es ist nun mal so gewesen - das haben wir in der Finanz- und Wirtschaftskrise festgestellt -: Die Sozialpartnerschaft ist der entscheidende Baustein für die soziale
Marktwirtschaft und damit für den Erfolg Deutschlands .
Es bleiben natürlich die Herausforderungen rund um
die Internationalisierung und die Europäisierung von Unternehmen bestehen . Unser Mitbestimmungsmodell muss
auch für Unternehmen mit ausländischer Rechtsform in
Deutschland gelten. Aus meiner Sicht betrifft dies insbesondere die Mitbestimmung bei den europäischen Aktiengesellschaften . Auch ich sehe hier Handlungsbedarf .
({5})
Die europäische Initiative zur Einpersonengesellschaft,
die auch Nachteile für die Mitbestimmung mit sich gebracht hätte, konnten wir in dieser Legislaturperiode zunächst aufhalten . Dankend weise ich auf den Entschließungsantrag hin, den wir hier im Bundestag einstimmig
beschlossen haben .
Ihr vorliegender Antrag, liebe Grüne, macht allerdings
den zweiten vor dem ersten Schritt . Dass wir losgehen
müssen, darüber sind wir uns auf jeden Fall einig . Dafür
müssen wir Arbeitgeber und Arbeitnehmer allerdings an
einen Tisch bringen . Ich halte es für zielführender, wenn
eine Mitbestimmungskommission das Fundament für
eine politische Entscheidung schafft. Denn nur wenn die
Sozialpartner einen Konsens erarbeiten, besteht die Gewähr, dass eine lang akzeptierte gesetzliche Regelung auf
den Weg gebracht wird .
({6})
Ich möchte auf einen weiteren Punkt eingehen, der im
ersten Moment vielleicht nicht gleich mit dem Thema
Mitbestimmung in Verbindung gebracht wird: Die Digitalisierung hat Auswirkungen auf fast alle Bereiche unseres Lebens und so auch auf den betrieblichen Alltag . Ein
Blick ins Silicon Valley und auf die Gründerszene hier
in Deutschland und in vielen anderen Ländern zeigt, was
für innovative Geschäftsmodelle dort ihren Anfang nehmen und weltweit Verbreitung finden. Neue Geschäftsmodelle haben erfahrungsgemäß enorme Auswirkungen
auf bestehende Strukturen . Damit sind für die Unternehmen erhebliche Chancen verbunden, gleichzeitig aber
auch Risiken .
Es wird deutlich, dass wir uns in einer Zeit befinden,
in der sich unsere Arbeitswelt so schnell verändert wie
die Intelligenz der Rechnersysteme - damit auch unsere
Arbeit und unsere Arbeitswelt . Das hat auch etwas mit
unserer Unternehmensmitbestimmung zu tun . Nicht nur
in wirtschaftlichen Krisenzeiten, sondern auch bei starken strukturellen Veränderungen kommen die Vorteile
der Mitbestimmung zur Geltung .
({7})
Wenn sich ein Unternehmen fit für die Zukunft machen
will, dann muss es seine Beschäftigten mitnehmen und
motivieren .
({8})
Arbeitgeber und Arbeitnehmer sind zwei Seiten derselben Medaille . Es braucht den Dialog, um Antworten
auf Herausforderungen zu geben, vor die uns die Digitalisierung und die Transformation von Unternehmen stellen . Es braucht den Konsens, um die Erfolgsgeschichte
der Mitbestimmung fortzuschreiben . Lassen Sie uns daran arbeiten!
Vielen Dank .
({9})
Vielen Dank . - Als nächste Rednerin hat jetzt Jutta
Krellmann für die Linke das Wort .
({0})
Vielen Dank . - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Es gibt immer zwei Möglichkeiten, mit
der Mitbestimmung umzugehen. Entweder man findet sie
richtig gut, oder man findet sie richtig schlecht und sieht
sie als einen Eingriff in die unternehmerische Selbstbestimmung . Für mich als Gewerkschaftssekretärin ist ganz
klar: Ich stehe ausdrücklich auf der Seite der Befürworter der betrieblichen Mitbestimmung und der Mitbestimmung insgesamt .
Für mich als Linke gehört die Ausweitung der Mitbestimmungsrechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ganz oben auf die Agenda . Die Beschäftigten sollen
nicht nur über die Farbe der Gardinen in ihren Betrieben,
sondern auch über das Was, das Wie und das Wo der Produktion mitbestimmen .
({0})
Mit anderen Worten: Sie müssen in die wirtschaftlichen Entscheidungen des Unternehmens einbezogen
werden . Die Beschäftigten haben keinen Bock darauf,
nur dann mitzubestimmen, wenn es um Lohnverzicht
und den Abbau ihrer Arbeitsplätze geht . Aus Erfahrung
weiß ich: Sie wollen auch mitentscheiden, ob Boni nur
an die Chefetagen verteilt und ausbezahlt werden und ob
Unternehmensgewinne zur Sicherung der Arbeitsplätze
reinvestiert werden .
({1})
Die Linke steht ganz klar hinter diesem Anspruch . Wir
wollen die Mitbestimmung mit einem Gesamtkonzept
stärken und ausbauen - sowohl auf betrieblicher als auch
auf Unternehmensebene . Die Unternehmensmitbestimmung ist nur so gut wie die Gesetze, die sie tragen . Genau hier liegt im Moment der Hase im Pfeffer.
In dem Antrag der Grünen werden einige Bereiche
aufgegriffen, in denen sich in den letzten Jahren Lücken
entwickelt haben. Nur ein Beispiel: Die Leiharbeitsfirma
Adecco hat einfach eine ausländische Rechtsform angenommen, und zack: Das war es mit der Unternehmensmitbestimmung . Das kann doch überhaupt nicht wahr
sein .
Allein durch diese Gesetzeslücke schlossen schon
2007 17 Unternehmen ihre Beschäftigten von der Mitbestimmung im Aufsichtsrat aus . Drei Jahre später waren es
schon 37 Unternehmen, und fünf Jahre später, also 2015,
waren es allein über diesen Weg sogar 69 Unternehmen
mit insgesamt über 200 000 Beschäftigten . Das zeigt: Es
ist ein wachsendes Problem . Deswegen muss es durch
den Gesetzgeber gelöst werden . Auf was wollen wir denn
immer wieder neu warten?
Neu ist das alles auch nicht . Herr Lagosky, Sie haben
es selbst gesagt: Schon vor zehn Jahren hatte der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder eine Kommission
zur Reformierung der Unternehmensmitbestimmung eingesetzt . Das Problem war also schon damals, vor zehn
Jahren, bekannt . Leider ist die Kommission an der Unbeweglichkeit der Arbeitgeberverbände gescheitert . Sie
hatten gar kein Interesse an einer Reform . Nein, sie wollten die paritätische Besetzung in den Aufsichtsräten lieber verhindern als ausbauen .
Die Kommission hat gezeigt: Wenn wir über Mitbestimmung reden, dann müssen wir nicht von weniger
Mitbestimmungsrechten sprechen, sondern wir müssen
sie an dieser Stelle stärken .
({2})
Unser Ziel ist eine Ausweitung der Mitbestimmung;
das ist ganz klar . Nur über diesen Weg ist für die Beschäftigten die demokratische Teilhabe in den Unternehmen
möglich . Das haben einige Landesregierungen, wie die in
Niedersachsen oder die rot-rot-grüne Landesregierung in
Thüringen, auch verstanden . Deren Antrag „Mitbestimmung zukunftsfest gestalten“ im Bundesrat enthält eine
klare Ansage an die Bundesregierung: Kümmert euch um
den Erhalt und den Ausbau der gesetzlichen Mitbestimmung
({3})
und entwickelt sie europarechtlich weiter!
Wieso das Europarecht wichtig ist, zeigt sich gerade
jetzt, wo einige Urteile anstehen . Anstatt endlich ihr Gewicht dafür einzusetzen, eine Richtlinie zur europäischen
Unternehmensmitbestimmung auf den Weg zu bringen,
wartet die Bundesregierung wieder einmal einfach ab .
Einfach nur warten und nichts tun, das kann doch wohl
nicht wahr sein . Es ist Ihre Aufgabe, sich zu bewegen,
wenn Sie Probleme erkannt haben . Warten Sie nicht auf
die Initiativen der Opposition . Wir brauchen ein Mehr
an Mitbestimmung in den Betrieben . Wir brauchen eine
Schließung der Schlupflöcher. Wir brauchen eine stärkere Beteiligung der Beschäftigten .
({4})
Denn gute Arbeit ist für die Linke unbefristet, tariflich
bezahlt und mitbestimmt .
Vielen Dank .
({5})
Vielen Dank . - Als nächster Redner hat Bernd Rützel
für die SPD-Fraktion das Wort .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen!
Sehr geehrte Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich bin froh, dass wir wieder einmal über die Mitbestimmung sprechen; das ist dringend notwendig . In Ihrem
Antrag weisen Sie zu Recht darauf hin, dass Deutschland
die letzte Wirtschaftskrise dank der Mitbestimmung so
gut überstanden hat . Erstens stimmt das, und zweitens
rennen Sie mit diesem Thema offene Türen bei uns ein.
({0})
Wann immer es hier um die Mitbestimmung geht,
weise ich darauf hin, dass seit Jahrzehnten die Mitbestimmung eine tragende Säule unserer Sozial- und
Wirtschaftspolitik ist . Sie sorgt für Ausgleich und sozialen Frieden . Die Zeit titelt in ihrer gestrigen Ausgabe:
„Arbeitnehmer, die mitbestimmen, sind gut für die Wirtschaft“ . Hier hat also ein Umdenken stattgefunden .
({1})
An der Mitbestimmung wird aber - Sie haben das zu
Recht beschrieben - geknabbert und genagt . Man kann
das auch als Erosionstendenzen bezeichnen . Mich ärgert
die Klage eines TUI-Aktionärs vor dem Europäischen
Gerichtshof . Am kommenden Dienstag wird darüber verhandelt, ob die Mitbestimmung gestärkt oder geschwächt
wird; denn der Kläger hält es für ungerechtfertigt, dass
nur die Beschäftigten innerhalb Deutschlands wählen
dürfen . Sollte er Recht bekommen, dann ist das eine
massive Gefährdung der Mitbestimmung in ihrer jetzigen Form .
({2})
- Richtig .
Tatsächlich haben die Beschäftigten, egal welcher
Nationalität, in einem Unternehmen in Deutschland ein
Wahlrecht, und das ist auch gut so . Selbstverständlich haben deutsche und nichtdeutsche Beschäftigte an Standorten in anderen europäischen Ländern kein Wahlrecht wie
in Deutschland . Das ist keine Diskriminierung . Vielmehr
gilt das Territorialprinzip . Die Ansicht des Klägers ist
scheinheilig und sachlich falsch .
Gott sei Dank sieht der Europäische Gewerkschaftsbund das genauso und hat noch einmal deutlich gemacht,
dass man sich nicht auseinanderdividieren lässt . Die
europäischen Gewerkschaften stehen zusammen . DGBChef Reiner Hoffmann und Arbeitgeberpräsident Ingo
Kramer haben sich gemeinsam zugunsten der Mitbestimmung positioniert und nennen den Vorwurf des Klägers
realitätsfremd . Sie schreiben:
Wer so etwas vorträgt, ist fern jeglicher Praxis in
den Unternehmen - sei es aus Sicht des Arbeitgebers, sei es aus Sicht des Arbeitnehmers .
({3})
Ich hoffe, dass die Richterinnen und Richter des Europäischen Gerichtshofs in Luxemburg in der nächsten Woche
die Mitbestimmung stärken und klarmachen, dass sie mit
dem Europarecht vereinbar ist .
Mich hat der Schulterschluss der Gewerkschaften mit
den Arbeitgebern erfreut . Das zeigt, dass die Mitbestimmung ein Standortvorteil ist . Es war ja lange Zeit so,
dass fast alle Arbeitgebervertreter die Mitbestimmung
oft verdammt haben . Wirtschaftswissenschaftler haben
versucht, zu beweisen, dass sie Innovationen hemmt .
Doch das Blatt hat sich gewendet . Die Wissenschaftler
revidieren ihre Meinung, und aktuelle Untersuchungen
heben hervor, dass mitbestimmte Unternehmen langfristig orientiert sind, mehr investieren, eine höhere Ausbildungsquote haben und mehr Menschen einstellen . Die
Arbeitnehmervertreter in diesen Unternehmen hängen an
ihrem Betrieb - sie sind oft länger im Unternehmen als
mancher Manager, der kurzfristig Erfolg erzielen will -,
und sie sorgen sich um ihren Arbeitsplatz .
({4})
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen von den Grünen,
Sie stoßen mit Ihrem Antrag bei uns auf offene Ohren
und treffen auf offene Türen.
({5})
Es gibt viele Gründe, die Mitbestimmung zu stärken .
Die Wissenschaftler haben es erkannt . Arbeitgeber- und
Arbeitnehmervertreter sind hier gemeinsam unterwegs .
Deswegen hoffe ich, dass sich auch bei unserem Koalitionspartner - also nicht nur bei Arbeitgeberverbänden und Ökonomen - die Sichtweise etwas verändern
möge . Denn die Mitbestimmung ist kein Hindernis für
den Standort Deutschland . Sie hat uns stark gemacht . Die
Verlässlichkeit wurde durch sie erhöht .
Man darf nicht ausgrenzen, man muss die Menschen
mitnehmen und integrieren . Deswegen ist es das Gebot
der Stunde, unsere Mitbestimmung zu stärken . Sollte das
in dieser Legislatur nicht möglich sein, dann wünsche ich
uns allen, dass uns das spätestens in der nächsten Wahlperiode gelingt .
In diesem Sinne vielen Dank .
({6})
Vielen Dank . - Als nächster Redner hat Tobias Zech
für die CDU/CSU-Fraktion das Wort .
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bundespräsident Gauck hat die deutsche Mitbestimmung als
Kulturgut bezeichnet, was, glaube ich, deutlich macht,
wie einzigartig sie ist . Die BDA und der DGB sprechen
von Eckpfeilern der deutschen Sozialordnung und von
einem Teil der deutschen Wirtschaftsordnung . Das alles
ist richtig .
({0})
Meine Damen und Herren, es ist unbestritten: Die
Mitbestimmung in deutschen Unternehmen ist eine
wichtige Säule der Unternehmenskultur und der sozialen
Marktwirtschaft, die wir in Deutschland haben . Sie wäre
ohne Mitbestimmung nicht möglich . Somit ist es richtig,
für die Mitbestimmung zu kämpfen, vor allem wenn man
weiß, wo die Mitbestimmung herkommt .
({1})
Wir sollten uns einmal überlegen - die Montangesetzgebung wurde vorhin schon erwähnt -, was das Ziel war .
Ziel war nämlich nicht das Erreichen von mehr Flexibilität, die heute von jedem - das steht auch in Ihrem
Antrag - gelobt wird . Damit sind wir zwar gut über die
Finanzkrise hinweggekommen, aber das war nie das Ziel .
Das Ziel bei der Einführung der Mitbestimmung war,
die Kontrolle wieder in deutsche Hand zu bekommen .
Es bestand die Vorstellung, dass es einen scheinbar unauflösbaren Konflikt zwischen Kapital und Arbeit gibt.
Und was hat sich daraus ergeben? Das Gegenteil: Wir
haben erlebt, dass es da keinen unauflösbaren Konflikt
gibt . Wir haben erlebt - wie die Kollegen vorhin ausgeführt haben -, dass durch die Mitbestimmung Prosperität
erreicht wurde und dass wir durch sie viel flexibler auf
schwierige Situationen - sei es in Finanzkrisen, sei es in
Wirtschaftskrisen - reagieren können .
({2})
Man muss einmal darüber nachdenken, wo wir herkommen . Seit 1920, seit 1967 ist das alles schon gemacht
worden .
Nun haben wir die Mitbestimmung - nicht nur gesetzlich, sondern auch in den Unternehmen - weiterentwickelt . Wir erleben in der Mitbestimmung ein partnerschaftliches Verhältnis und in der Regel auch ein gutes
Miteinander . Es gibt nur wenige Streiktage, und wir
haben während eines Streiks eigentlich immer noch die
Möglichkeit, miteinander zu sprechen . Die Fronten verhärten sich nicht . Somit können wir, glaube ich, ein Beispiel geben, wie man vernünftige Mitbestimmung auch
im europäischen Kontext umsetzen kann . - So weit die
Zustimmung .
({3})
- Frau Müller-Gemmeke, dazu muss ich schon noch etwas sagen . Ihr Antrag trägt einen guten Titel, hat damit
aber nichts zu tun .
Erstens widerspricht er sich inhaltlich .
Zweitens . Wenn Sie trotz dieses etwas langweiligen
bis uninspirierten Antrags wirklich daran interessiert
sind, etwas für die Menschen, für die Unternehmen und
für die Mitbestimmung zu tun, dann müssen Sie zur
Kenntnis nehmen: Es wird nicht funktionieren, Probleme
national zu lösen, sondern man muss, wie Sie in Punkt 7
richtigerweise sagen, eine europäische Lösung herbeiführen .
({4})
Wenn man sich aber nur rudimentär - nicht einmal
tief - mit diesem Thema beschäftigt, dann stellt man fest,
dass es in 14 Ländern in Europa überhaupt keine Unternehmensmitbestimmung gibt; wenn überhaupt, gibt es
dort eine betriebliche Mitbestimmung .
({5})
Alle Versuche, die Unternehmensmitbestimmung auf europäischer Ebene zu harmonisieren, sind immer an der
sehr guten, aber doch starken Unternehmensmitbestimmung in Deutschland gescheitert .
Frau Müller-Gemmeke - ich spreche jetzt direkt mit
Ihnen -, Sie fordern in Punkt 7 Ihres Antrags, eine europäische Harmonisierung herbeizuführen; in den Punkten 1 bis 6 Ihres Antrags fordern Sie dagegen, die Mitbestimmung auf nationaler Ebene auszuweiten . Angesichts
dessen Ihren Antrag als vernünftig zu bezeichnen, ist
schon grenzwertig . Ich wiederhole: In den Punkten 1 bis
6 Ihres Antrages fordern Sie eine nationale Ausweitung
der Mitbestimmung,
({6})
und in Punkt 7 fordern Sie eine Einigung auf europäischer Ebene . Das hat mit der Sachlage überhaupt nichts
zu tun . Die Umsetzung Ihrer Forderungen würde weder
der Unternehmensmitbestimmung in Deutschland noch
irgendjemandem dienen . Ich kann Ihnen nur sagen:
Wenn Sie wirklich etwas tun wollen, dann müssen Sie
diesen Antrag überarbeiten und sich mit diesem Thema
vorher beschäftigen . Wir werden diesen Antrag aus sachlichen Gründen - er ist inhaltlich und handwerklich einfach schlecht - ablehnen .
({7})
Das hat aber nichts damit zu tun, wie wir die Mitbestimmung ausgestalten . Natürlich müssen wir die Mitbestimmung verändern, weil sich die Zeit, die Arbeitsverhältnisse, die Arbeitsmodalitäten ändern . Das liegt
einmal daran, dass die klare Trennung zwischen Arbeitnehmer und der Kapitalseite immer mehr aufweicht: Immer mehr Arbeitnehmer sind auch Aktionäre . Das heißt,
sie beurteilen manches anders, als Arbeitnehmer dies
früher taten .
({8})
- Das ist keine gewagte Aussage . Ich habe das selber
erlebt . Ich komme aus der Metall- und Elektroindustrie .
Bei uns hat es ein Aktienpaket gegeben: Jedes Jahr erhielt jeder Mitarbeiter zehn Aktien . Das ist Realität . Sie
haben mit Ihrem Einwurf nur bewiesen, wie weit Sie von
den Menschen in diesem Land entfernt sind .
({9})
- Ich versuche gerade, Ihnen ein paar Lösungsvorschläge anzubieten, wie man Mitbestimmung handwerklich
besser ausgestalten kann und wie man damit nicht nur
plakativ umgeht .
Wir sollten uns einmal darüber unterhalten, wie wir
mit dem Recht zur Wahl der Aufsichtsräte umgehen . Es
gibt divergierende Möglichkeiten: Es gibt Delegiertenwahlsysteme . Es gibt Wahlsysteme mit unmittelbarer Beteiligung . In anderen Bereichen gibt es die Beorderung
oder die Festlegung auf einen Gewerkschaftssekretär .
Ich glaube, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
in diesem Land wissen ganz genau, wer ihre Interessen
im Aufsichtsrat am besten vertritt . Lassen Sie uns doch
einmal darüber diskutieren, ob wir nicht eine Regelung
einführen, die dazu verpflichtet, alle Aufsichtsräte unmittelbar zu wählen . Lassen wir doch einmal die Arbeitnehmer über alles abstimmen . Das ist vielleicht besser, als
dass die von außen kommenden Gewerkschaftssekretäre
in die Kontrollorgane entsandt werden .
Ein weiterer Punkt: Wie können wir Aufsichtsratswahlen im Jahr 2017 besser gestalten? Ich glaube, wir müssen uns auch hier modernisieren, elektronische Wahlverfahren einführen, um mehr Partizipation der Belegschaft
an Aufsichtsratswahlen zu ermöglichen . Ich kann nur dafür werben, dass wir die gute Mitbestimmung, die wir in
Deutschland haben, verteidigen . Außerdem werbe ich für
eine europäische Lösung . Schaufensteranträge wie den
heutigen sollten wir ablehnen . Damit tun wir Gutes für
die deutsche Wirtschaft und somit auch für die deutschen
Arbeitnehmer .
Herzlichen Dank .
({10})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Klaus Barthel
spricht als letzter Redner in dieser Aussprache für die
SPD-Fraktion .
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es wäre
natürlich schön, wenn ich in dieser Frage das letzte Wort
hätte; aber da darf man sich keine falschen Hoffnungen
machen .
Kollege Zech, natürlich müssen wir uns erst einmal
über die Realität in Deutschland unterhalten . Sie tun
so, als wären wir, die Bundesrepublik, ein Land von
Kleinaktionären,
({0})
die alle an den Erträgen und der Führung der Unternehmen beteiligt wären . Wenn das so wäre, dann verliefe
diese Debatte wirklich anders . Aber Sie wissen auch,
dass man selbst dann, wenn man eine Aktie oder ein paar
Aktien hat, nicht wirklich über das Unternehmensgeschehen mitbestimmen kann, sondern dass das eben nur
über Aufsichtsräte und Mitbestimmungsgremien geht .
Insofern ging ein großer Teil Ihrer Rede eigentlich an der
Sache bzw . dem Antrag vorbei .
({1})
Wir begrüßen diesen Antrag, weil es damit gelingt,
dieses Thema ein bisschen aus seinem Schattendasein zu
holen . Es ist ja immer gefährlich, wenn sich alle so wahnsinnig einig sind über die Mitbestimmung . Das könnte ja
einerseits heißen, wir würden in dieser Legislaturperiode
noch etwas hinkriegen, was ich hoffe. Dass der verbale
Konsens so groß ist, kann aber andererseits auch heißen,
dass am Ende wieder gar nichts geht . Das werden wir
jetzt untersuchen müssen . Denn das Ganze ist, wie gesagt, keine Funktionärsdebatte, sondern Kern unseres
Wirtschaftsmodells, Kulturgut, auf CSU-Deutsch: Teil
der Leitkultur .
Die Mitbestimmung funktioniert abseits des medialen
Spektakels geräuschlos, weil sie gut ist . Ich habe, ehrlich gesagt, in dem Antrag nichts Falsches gefunden . Er
übernimmt im Wesentlichen das, was der DGB in seiner
Mitbestimmungskampagne im Rahmen des Bundestagswahlkampfs vorhat . Ich würde mich sehr freuen, wenn
wir in diese Mitbestimmungskampagne Schub reinbringen würden .
({2})
Ich gehe davon aus, dass sich diese Inhalte in weiten Teilen auch im Regierungsprogramm der SPD wiederfinden
werden .
({3})
Ich möchte noch auf eines hinweisen: Der Antrag befasst sich ja nur mit der Unternehmensmitbestimmung in
Aufsichtsräten . Was wir auch noch sehen müssen, ist die
Frage der Mitbestimmung in Betrieben mit Betriebs- und
Personalräten, Jugend- und Auszubildendenvertretungen
usw . Im Grunde haben wir da ja eine parallele Entwicklung .
({4})
Ich will das erwähnen, weil auch die betriebliche Mitbestimmung ausgehöhlt wird und ein großer Teil der Beschäftigten - rund 60 Prozent - nicht mehr in Betrieben
arbeitet, in denen es einen Betriebsrat gibt .
({5})
Das passt zu dieser ganzen Geschichte mit TUI . Trotz
aller verbalen Akzeptanz von Mitbestimmung gibt es offensichtlich einen Teil von Anlegern, Unternehmern und
interessierten Kreisen, die dieser Mitbestimmung den
Krieg erklärt haben und die solche Klagen inszenieren,
um die Mitbestimmung sturmreif zu schießen . Das Problem ist: Sie finden damit ja auch Unterstützung, zum
Beispiel bei der EU-Kommission . Das ist ja nicht irgendetwas, was völlig abseitig ist; denn es gibt neben der
EU-Kommission Regierungen, die solche Initiativen unterstützen . Deswegen brauchen wir in der Tat auch eine
europäische Neuregelung .
Sie haben die Zahlen genannt . Die Unternehmensmitbestimmung wird ausgehöhlt . Wir stellen fest: Das ist
eindeutig gesetzwidrig .
({6})
Deswegen müssen wir hier auch schauen, wie man diese Gesetzesverstöße mit Sanktionen belegen kann; denn
wenn die Tatsache, dass man Gesetze nicht einhält, keine
Folgen hat, dann kann man auf so etwas auch pfeifen .
({7})
Wenn wir uns die wirtschaftliche Entwicklung anschauen, dann stellen wir also fest: Es besteht die Gefahr, dass die Unternehmensmitbestimmung zum Auslaufmodell wird . Da müssen wir gar nicht viel machen .
Das geschieht einfach durch die immer stärkere internationale Verflechtung der Wertschöpfungsketten in den
Unternehmen . Das geschieht durch die immer stärkere
Finanzmarktgetriebenheit der Unternehmen . Es gibt
eben immer weniger klassische Familienbetriebe mit
dem Pa triarchen, der vor Ort ansprechbar ist . Vielmehr
haben wir es immer mehr mit anonymen Investoren und
Anlegern zu tun, die ganz andere Strategien verfolgen
und die von Mitbestimmung noch nichts gehört haben .
Das hat zu tun mit dem Strukturwandel in den Betrieben,
Stichwort „Digitalisierung“, mit der Tertiarisierung - der
Dienstleistungsbereich, der immer mehr Beschäftigte
umfasst, ist in weiten Teilen eine mitbestimmungsfreie
Zone - und natürlich mit der Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen . Befristet Beschäftigte, zum Beispiel Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter, werden wenig Kampfeswillen entwickeln, wenn es um die unternehmerische
oder betriebliche Mitbestimmung geht .
({8})
Das heißt also: Die Reden über die Chancen von Digitalisierung und Arbeit 4 .0 kann man sich sparen, wenn
wir nicht bereit sind, auch die Ausweitung der Mitbestimmungstatbestände zu diskutieren bei Fragen der
Unternehmensstrukturierung, in wirtschaftlichen Angelegenheiten, aber auch in Fragen der Weiterbildung usw .
usf . Das heißt, es geht nicht nur um die Schließung von
Lücken, sondern um eine umfassende Ertüchtigung . Wir
sind sehr gespannt, wie es in den nächsten Wochen in den
Ausschussberatungen laufen wird .
({9})
Natürlich müssen wir dafür sorgen, dass bei der kommenden Bundestagswahl Mehrheiten entstehen - vielleicht mit den Grünen zusammen oder mit wem auch
immer -, die einer solchen Initiative, wie wir sie hier vor
uns haben, zum Erfolg verhelfen .
({10})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Schluss dieses Tagesordnungspunktes . Ich schließe die
Aussprache .
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/10253 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall . Dann ist die Überweisung
so beschlossen .
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung .
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 25 . Januar 2017, 13 Uhr, ein .
Die Sitzung ist geschlossen . Ich wünsche Ihnen ein
schönes Wochenende .