Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie alle herzlich zur letzten Plenarsitzung dieser
Sitzungswoche.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 30 a bis 30 f auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Sechsten Gesetzes zur Änderung des Fernstraßenausbaugesetzes
Drucksachen 18/9523, 18/9853, 18/10102 Nr. 3
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr und digitale Infrastruktur
({0})
Drucksache 18/10524
b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten
Gesetzes zur Änderung des Bundesschienenwegeausbaugesetzes
Drucksachen 18/9524, 18/9953, 18/10102
Nr. 15
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr und digitale Infrastruktur
({1})
Drucksache 18/10513 ({2})
c) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
über den Ausbau der Bundeswasserstraßen
und zur Änderung des Bundeswasserstraßengesetzes
Drucksachen 18/9527, 18/9952, 18/10102
Nr. 14
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr und digitale Infrastruktur
({3})
Drucksache 18/10516
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr und digitale
Infrastruktur ({4}) zu dem Antrag der
Abgeordneten Sabine Leidig, Herbert Behrens,
Caren Lay, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion DIE LINKE
Bundesverkehrswegeplan 2030 zurückzie-
hen - Klimaschutz- und sozialökologische
Nachhaltigkeitsziele umsetzen
Drucksachen 18/8075, 18/10514 Buchstabe a
e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr und digitale
Infrastruktur ({5}) zu dem Antrag der
Abgeordneten Matthias Gastel, Stephan Kühn
({6}), Markus Tressel, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN
Deutschland-Takt jetzt umsetzen - Weichen
in der Bundesverkehrswegeplanung richtig
stellen
Drucksachen 18/7554, 18/10515
f) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr und digitale Infrastruktur ({7}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Dr. Valerie Wilms, Matthias
Gastel, Stephan Kühn ({8}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Den Bundesverkehrswegeplan zum Bundesnetzplan weiterentwickeln
Drucksachen 18/8083, 18/10514 Buchstabe b
Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung des Fernstraßenausbaugesetzes liegen ein Änderungsantrag der Fraktion Die Linke sowie ein Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.
Außerdem liegt zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung des Bundesschienenwegeausbaugesetzes ein Änderungsantrag der Fraktion Die Linke vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll darüber 77 Minuten debattiert werden. - Einwände dagegen
sind nicht zu erkennen. Also verfahren wir so.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Bundesminister Alexander Dobrindt.
({9})
Verehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir starten
heute das größte Investitionsprogramm für die Infrastruktur, das es je gegeben hat, mit dem Bundesverkehrswegeplan 2030, mit über 270 Milliarden Euro, mit mehr
als 1 000 Projekten und erstmalig mit einer klaren Finanzierungsperspektive. Der neue Bundesverkehrswegeplan
stärkt das, was unser Land starkmacht: Infrastruktur und
Mobilität in Deutschland.
({0})
Deutschland ist hier Vorreiter in Europa. Daran werden auch die einen oder anderen schrillen Zwischenrufe
der Verkehrspessimisten nichts ändern. Es ist eine Tatsache, die alle Studien belegen. Beim Best Countries Ranking, vorgestellt beim Weltwirtschaftsforum in Davos,
ist Deutschland das beste Land der Welt mit zehn von
zehn Punkten für die Infrastruktur. Beim Logistics Performance Index der Weltbank ist Deutschland Logistikweltmeister und erreicht weltweit den höchsten Wert bei
der Infrastruktur. Das ist die Grundlage für Wachstum,
Wohlstand und Arbeit, für Wirtschaftskraft, Lebensqualität und Wertschöpfung.
Deswegen war es natürlich falsch, in der Vergangenheit zu wenig dafür getan zu haben, zu wenig in die Infrastruktur investiert zu haben, zu wenig für den Erhalt aufgewendet zu haben. Besonders in den Millenniumsjahren
wurden dringend notwendige Investitionen verschleppt
und die Infrastruktur auf Verschleiß gefahren. Ich sage
klar: Dieser Fehler darf sich nicht wiederholen.
Deswegen haben wir zu Beginn unserer Wahlperiode
mit dem Investitionshochlauf die notwendige Grundlage für ein umfassendes Infrastruktur-Upgrade gestartet.
Das, was wir jetzt mit dem Bundesverkehrswegeplan
umsetzen, ist die Realisierung dessen, was wir an finanziellen Mitteln im Haushalt zur Verfügung gestellt haben.
({1})
Die vergangenen Tage übrigens waren auf diesem
Weg der Verwirklichung einer optimierten Infrastruktur
so etwas wie ein regelrechter Ziellauf, mit dem wir eine
ganze Reihe von historischen Meilensteinen erreicht haben.
Wir haben letzten Freitag den größten Investitionshaushalt für die Infrastruktur gestartet, der jemals im
Deutschen Bundestag beschlossen worden ist, mit über
14 Milliarden Euro für 2017 und 2018 und mit einer Investitionsquote im Haushalt des Bundesministeriums für
Verkehr und digitale Infrastruktur von über 60 Prozent.
Wir haben das Regionalisierungsgesetz abgeschlossen
und geben in den nächsten 15 Jahren eine Rekordsumme
von 150 Milliarden Euro für einen leistungsfähigen Regionalverkehr auf der Schiene aus.
Wir haben gestern im Deutschen Bundestag die Ausweitung der Lkw-Maut auf allen Bundesstraßen beschlossen und damit auch den Systemwechsel zur Nutzerfinanzierung weiter vorangetrieben.
Wir haben uns außerdem mit der EU-Kommission geeinigt. Es steht fest: Auch die Pkw-Maut kommt. Damit
kann man zügig alle Voraussetzungen dafür schaffen,
dass Gerechtigkeit auf unseren Straßen herrscht und dass
der Grundsatz gilt: Wer nutzt, der zahlt auch. Aber keiner
zahlt doppelt, kein inländischer Autofahrer wird mehr
belastet, meine Damen und Herren.
({2})
Wir erreichen damit in einer Wahlperiode 2 Milliarden
Euro an Mehreinnahmen.
Ich bin an dieser Stelle schon ein bisschen überrascht,
dass, wie man heute lesen kann, Geld und diese finanziellen Summen in der Diskussion offensichtlich keine Rolle
mehr spielen. Meine Damen und Herren, wir haben ganze Wahlperioden damit bestritten, Kommissionen über
die Frage tagen zu lassen: Wie viel mehr Geld braucht
die Infrastruktur, und woher kann dieses Geld kommen?
Die Kommissionen haben getagt, getagt, getagt. Aber
kein Euro mehr kam in die Kasse. 100 Millionen Euro
wurden stückweise Haushalt um Haushalt zur Verfügung
gestellt, um vielleicht etwas Bewegung in die Investitionen zu bekommen. Jetzt, da wir Milliardenbeträge mehr
an Einnahmen schaffen, wird darauf hingewiesen, dass
dies vielleicht nur ein kleiner Teil wäre, um die Infrastruktur zu stärken.
Im Investitionshochlauf haben wir es geschafft, zu
sichern, dass die Lkw-Maut mit 4 Milliarden Euro weiter zur Verfügung steht, dass sie durch die Ausweitung
auf alle Bundesstraßen 2 Milliarden Euro zusätzlich einbringt und dass die Infrastrukturabgabe jährlich 4 Milliarden Euro zweckgebunden an Einnahmen bringt. Das
sind zusammen 10 Milliarden Euro für Investitionen in
die Straße, langfristig gesichert. Sie wären doch über
Jahre hinweg froh gewesen, wenn Sie nur einen Bruchteil
davon hätten schaffen können, was wir jetzt ermöglicht
haben.
({3})
Diese Rekordinvestitionen sind aber kein Selbstzweck, sondern sie müssen zielgerichtet eingesetzt werden.
({4})
Mit dem Bundesverkehrswegeplan und seinen Ausbaugesetzen für die Infrastruktur gelingt das. Mit den
270 Milliarden Euro und den über 1 000 Projekten machen wir die Infrastruktur in Deutschland fit für das gloPräsident Dr. Norbert Lammert
bale digitale Zeitalter. Wir bringen übrigens zum ersten
Mal Ökonomie und Ökologie zusammen.
({5})
Ja, ich weiß, dass das für die Verkehrspessimisten von
den Grünen unglaublich schwer zu ertragen ist. Schauen Sie, wir haben einen eigenen Umweltbericht zu allen
Projekten des Bundesverkehrswegeplans erstellt.
({6})
Sie wollen natürlich nicht wahrhaben, dass ein großer
Bericht darüber gemacht worden ist,
({7})
weil Sie selber zu Ihrem Bundesverkehrswegeplan vor
15 Jahren einen Umweltbericht von nur mageren sechs
Seiten hatten. Das ist doch die Wahrheit.
({8})
Ihr Bundesverkehrswegeplan von 2003, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, fällt doch im Ökocheck gnadenlos durch. Was wir in der Großen Koalition
heute machen, ist in allen Bereichen deutlich besser als
das, was Sie damals auf den Weg gebracht haben.
({9})
Wir investieren einen Rekordanteil von 70 Prozent der
Mittel in den Erhalt und in die Modernisierung. Sie haben
damals nur 56 Prozent geschafft. Wir investieren über die
Hälfte der Mittel in die Schiene und die Wasserstraße.
({10})
Sie haben die Mehrheit der Mittel damals in die Straße
investiert. Wir investieren heute 112 Milliarden Euro in
die Schiene, mehr als doppelt so viel als das, was Sie
damals auf den Weg gebracht haben.
({11})
Lesen Sie es einfach nach! Ihre Empörung ist pure Heuchelei, liebe Freunde von den Grünen.
({12})
- Volker Kauder hat recht, ihr wart grottenschlecht, als
ihr regiert habt.
({13})
Wir haben zum ersten Mal mit diesen Rekordmitteln
eine klare und realistische Finanzierungsperspektive
gegeben. Auch das gab es in Ihrer Zeit nicht. Ich weiß,
dass natürlich auch die Tatsache, dass wir jetzt eine echte Finanzierungsperspektive für die über 1 000 Projekte
haben, ist natürlich für die Grünen alles andere als eine
gute Nachricht. Sie wollen in Wahrheit überhaupt keine
Straßen bauen, Sie wollen die Mobilität verhindern. Sie
fordern doch bei jeder wiederkehrenden Bundestagswahl
einen Stopp des Straßenbaus.
({14})
Jetzt sage ich Ihnen: Schon 1980 haben Sie darauf
hingewiesen, man dürfe die Autobahnen nicht weiter
ausbauen. Damals hatten wir 9 000 Kilometer, jetzt haben wir 13 000 Kilometer Autobahnen. Wir haben eine
Steigerung des Verkehrs auf den Straßen um 70 Prozent.
({15})
Hätten wir damals auf Sie gehört, hätten Sie sich mit
Ihrer Politik damals durchgesetzt, dann wären wir bei
der Infrastruktur heute ein Dritte-Welt-Land. Das ist die
Wahrheit.
({16})
Das Schlimmste dabei ist übrigens, liebe Kolleginnen
und Kollegen von den Grünen, dass Sie sich in den letzten 30 Jahren bei diesem Thema keinen Millimeter weiterentwickelt haben. Sie fordern jetzt noch - ich denke
an Ihre Kollegen Kindler und Kuhn - ein Neubaumoratorium. Sie haben auf Ihrem Parteitag vor wenigen Wochen beschlossen, man müsse aufhören, dem Wachstum
hinterherzubauen.
({17})
Sie sind heute die gleiche straßenfeindliche Entmobilisierungspartei wie noch vor 30 Jahren. Daran hat sich
nichts geändert.
({18})
Die Menschen
({19})
- Sie können so laut schreien, wie Sie wollen - gehen
Ihre strikte Investitionsverweigerung, was den Verkehr
betrifft, nicht mit. Die Menschen in unserem Land wollen mobil sein, sie wollen Investitionen in die InfrastrukBundesminister Alexander Dobrindt
tur. Sie wollen, dass Deutschland bei der Mobilität Spitze
bleibt. Der aktuelle ARD-Deutschlandtrend sagt das eindeutig. Da wurden die Menschen gefragt, wofür Mehreinnahmen des Staates verwendet werden sollen. Die
absolute Mehrheit, nämlich 60 Prozent, sagt ganz klar:
für Investitionen in die Infrastruktur. Das heißt, die Menschen vertrauen uns, die Menschen vertrauen der Großen
Koalition, dass das Geld gut investiert wird,
({20})
sie setzen auf den Erfolg unserer Verkehrspolitik und
sind gegen Ihre Entmobilisierungspolitik.
({21})
Wir beenden mit unseren Rekordinvestitionen in der
Tat auch einen jahrelangen Missstand in Deutschland.
Wir beenden das Schwarze-Peter-Spiel zwischen Ländern und Bund, bei dem immer wieder darauf hingewiesen wurde, dass die Länder in den Regionen gerne bauen
würden, aber es fehlten das Geld, die Perspektive und
die Zusage vom Bund. All das ist beendet. Das Nadelöhr
sind nicht mehr die Finanzen, sondern das Nadelöhr sind
die Planungen.
Meine Baufreigaberunde hat es auch dieses Jahr gezeigt: Es gibt inzwischen sehr große Unterschiede zwischen den Regionen in Deutschland, was die Möglichkeit
des Schaffens von Baurecht anbelangt. Das ist übrigens
auch ein Befund, den die Bodewig-Kommission II uns
mit auf den Weg gegeben hat. Sie hat deutlich formuliert:
Einige Länder haben Schwierigkeiten, baureife Projekte
anzumelden. - Das kann auf Dauer auch nicht so bleiben.
Wir müssen das dringend ändern. Da stehen auch wir in
der Verantwortung. Deswegen habe ich eine Kommission eingesetzt, mit der wir bis zum Frühjahr nächsten
Jahres eine klare Strategie zur Planungsbeschleunigung
erarbeiten. Auch dabei gibt es keine Denkverbote. Alle
Vorschläge kommen auf den Tisch.
Wir haben diesbezüglich schon drei Maßnahmen beschlossen: Mit dem Brückenmodernisierungsprogramm
haben wir dafür gesorgt, dass der Klageweg bei besonders dringlichen Projekten auf eine Instanz konzentriert wird. Wir machen das digitale Planen und Bauen
bis 2020 zum Standard bei allen Verkehrsinfrastrukturprojekten des Bundes; wir erproben digitale Methoden
bereits heute. Und mit der Gründung einer Autobahngesellschaft sorgen wir dafür, dass die zwischen Bund und
Ländern geteilten Kompetenzen gebündelt werden und
in eine alleinige Verantwortung kommen.
All das ist jetzt notwendig, um den Investitionshochlauf und den Bundesverkehrswegeplan mit seinen Projekten erfolgreich umzusetzen.
Meine Damen und Herren, der Bundesverkehrswegeplan ist kein Plan, den man in jeder Wahlperiode macht.
Alle 15 Jahre wird ein neuer Bundesverkehrswegeplan
im Parlament beraten und umgesetzt. Viele von den Kolleginnen und Kollegen haben Verkehrswegepläne der
Vergangenheit mit erarbeitet, begleitet und auch deren
Auswirkungen verfolgt. Ich möchte mich bei all denen
bedanken, die beim Bundesverkehrswegeplan 2030 in
den letzten Monaten so aktiv mitgearbeitet haben, dass
ein großes Projekt entstanden ist. Allen voran möchte ich
mich bedanken bei den Kolleginnen und Kollegen des
Verkehrsausschusses des Deutschen Bundestages, bei
den Kollegen, die sich damit intensiv auseinandergesetzt haben, bei den Kollegen Bartol und Lange, bei Frau
Lühmann, bei Herrn Vaatz, bei Herrn Herzog und bei
Herrn Schnieder, die die Verantwortung dafür getragen
haben, dass dieser Bundesverkehrswegeplan erfolgreich
durch die Ausschussberatungen im Deutschen Bundestag
gekommen ist,
({22})
bei meinen Staatssekretären, bei der Kollegin Bär, bei
Herrn Ferlemann, bei Herrn Barthle und bei all denen,
die jetzt erfolgreich daran mitarbeiten, dass der Bundesverkehrswegeplan ein Garant dafür ist, dass die Infrastruktur in Deutschland in gutem Zustand bleibt und
Wachstum, Wohlstand und Arbeit für die Zukunft sichert.
Herzlichen Dank.
({23})
Sabine Leidig ist die nächste Rednerin für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Dieser Bundesverkehrswegeplan
({0})
zielt auf noch mehr Verkehr und lässt umweltverträgliche
Alternativen auf der Strecke. Deshalb lehnt die Linke ihn
ab.
({1})
Minister Dobrindt behauptet, dass mehr Verkehr auch
mehr Wohlstand bringt. Aber das ist reine Propaganda, und das wissen Sie natürlich. Es gibt schon viel zu
viel Verkehr, zu viel Lärm, Abgase und Unfälle, zu viele
Lkws in den Ortschaften, zu viele stehende Autos in den
Städten, zu viel zerstörte Naturräume. Der Kampf um den
Treibstoff für diesen Verkehr ist der wichtigste Grund für
Kriege und Auseinandersetzungen im Nahen Osten. Ölkonzerne und der Klimawandel zerstören Lebensräume
und treiben Millionen Menschen in die Flucht.
Wir brauchen endlich einen Einstieg in eine sozial-ökologische Verkehrswende.
({2})
Sie wollen noch 15 Jahre vom zerstörerischen Weiter-so
und Mehr-davon, werte Kolleginnen und Kollegen von
der SPD und von der CDU/CSU, und haben noch zusätzliche Straßenbauprojekte für Hunderte Millionen Euro
in den Entwurf hineinverhandelt. So etwas machen wir
nicht mit.
({3})
Wir wollen Mobilität für alle - ja! -, aber mit weniger Verkehr. Niemand darf aufs eigene Auto angewiesen
sein. Dafür braucht es aber deutlich mehr öffentlichen
Nahverkehr, den Bahnausbau in der Fläche und überall
sichere Fahrradwege.
({4})
Wir haben eine ganze Liste mit sinnvollen Eisenbahnprojekten vorgeschlagen, die einem solchen Konzept folgen. Die haben Sie - bis auf ein einziges, nämlich die
Gäubahn, die schon längst in der Debatte ist - alle abgelehnt.
({5})
Sie haben überhaupt alle Schienenprojekte abgelehnt, die
von regionaler Bedeutung sind. Warum?
({6})
Ein Viertel aller beschlossen Straßen hat überhaupt keine
überregionale Bedeutung. - Sie brauchen hier gar nicht
so herumzutönen; Sie wissen ganz genau, dass das ein
eklatanter Widerspruch ist.
({7})
Der Kollege Herzog hat dann auch noch behauptet,
man könne gar nicht so viele Bahnprojekte durchführen,
weil gar nicht alle gleichzeitig gebaut werden könnten.
Ja, aber wollen, dass es passiert, planen und das Geld dafür bereitstellen, wäre möglich. Das machen Sie bei den
1 300 Straßenbauprojekten, die Sie beschließen, ja auch.
Die hat das Ministerium übrigens alle akribisch und so
berechnet, dass sie sich angeblich alle lohnen.
Für die Bahn ist das bisher überhaupt nicht passiert.
Sie haben es abgelehnt, dass auf der Schienenstrecke
elektrifiziert wird. Sie haben nicht beschlossen, dass das
740-Meter-Netz realisiert wird, damit europaweit auf
langen Strecken lange Güterzüge fahren können. Alles
dies ist wirklich nichts, was in die richtige Richtung geht.
Ich will noch ein Thema ansprechen, das wirklich
brennt. Landauf, landab haben sich viele engagierte
Menschen im Rahmen Ihrer sogenannten Bürgerbeteiligung eingebracht. Sie reden ja immer davon, wie großartig Sie das gemacht haben. Es sind Tausende Vorschläge
dazu gekommen, wie man unnütze Straßenbauprojekte
vermeiden und Geld sparen kann, wie sinnvollere Lösungen gefunden werden können. Was ist passiert? Alle
diese Einwendungen sind in einer Blackbox gelandet,
und es ist nichts dabei herausgekommen. Nirgendwo ist
zu erkennen, dass die Einwände und Vorschläge der Bürgerinnen und Bürger irgendeine Wirkung gehabt hätten.
Das ist nicht akzeptabel!
({8})
Ich möchte ein Beispiel skizzieren, das zeigt, wie vernünftig die Alternativvorschläge sind. Das Bürgerforum
Gladbeck fordert, dass auf den Bau der durchgehenden
A 52 verzichtet wird, der übrigens schon bei einem Ratsbürgerentscheid 2012 mehrheitlich abgelehnt worden ist.
({9})
Stattdessen schlagen sie sehr konkrete Maßnahmen vor,
um die Verkehrsprobleme auf der Nord-Süd-Verbindung
im Ruhrgebiet - Gladbeck-Bottrop-Essen - zu lösen und
die Situation der regionalen Unternehmen zu verbessern:
Umgestaltung der Bundesstraße, Verbesserung des Bahnverkehrs, bessere Radwege usw.
({10})
bis hin zu geänderten Ampelphasen. Das ist doch viel
sinnvoller, als noch mehr Geld in noch mehr Asphalt zu
stecken.
({11})
Sie haben sich bisher geweigert, Alternativen zu akzeptieren oder auch nur zu prüfen.
({12})
Damit machen Sie Bürgerbeteiligung zur Farce, und das
ist wirklich beschämend.
({13})
Meine Fraktion stellt heute noch einmal zur Abstimmung, dass mehr Demokratie in die Projektplanung
kommt. Bei den großen, umstrittenen Straßenprojekten - das sind ganz konkret 50 - sollen, bevor wir hier
selbstherrlich beschließen: „So wird es gemacht“,
({14})
vor Ort faire Dialogverfahren mit unabhängigen Gutachtern und neutraler Moderation stattfinden. So steht es
übrigens in diesem sogenannten Handbuch für Bürgerbeteiligung, das Herr Ramsauer in der letzten Legislatur als
Minister mit großem Brimborium öffentlich vorgestellt
hat.
Die Alternativen müssen unabhängig vom Verkehrsträger geprüft und bewertet werden. Danach kann das
Parlament entscheiden - das ist völlig in Ordnung. Aber
das ist das Mindeste, was Sie im Rahmen dieser abschließenden Beratung noch besser machen können. Sorgen
Sie für ein Mindestmaß an politischer Korrektheit und
demokratischer Haltung in diesem Punkt! Nicht mehr
und nicht weniger fordern wir an dieser Stelle.
({15})
Das Wort erhält nun der Kollege Sören Bartol für die
SPD.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau
Leidig, wer Ihre Rede gehört hat, wird sagen: Sie sollten
erst einmal an Ihrem Demokratieverständnis arbeiten.
Wenn etwas Demokratie ist, dann die Beratung und die
Beschlussfassung in diesem Hohen Hause.
({0})
So zu tun, als ob das nichts mit Demokratie zu tun hat,
das ist wirklich eine Unverschämtheit.
({1})
Deutschland braucht gute Straßen, Schienen- und
Wasserwege. Sie sichern unsere Mobilität. Sie sorgen
dafür, dass Mittelstand und Industrie wachsen können.
Sie sorgen für persönliche Freiheit und gute Arbeit in den
Unternehmen. Ein Land, das im Stau steht, bleibt zurück.
Ein Land, das baut, bleibt in Fahrt.
({2})
In dieser Woche treffen wir wichtige verkehrspolitische Entscheidungen. Gestern Abend haben wir bereits
die Ausdehnung der Lkw-Maut auf alle Bundesstraßen
beschlossen. Dadurch werden 2018 bis zu 2 Milliarden
Euro Mauteinnahmen erwirtschaftet, die wir wieder in
die Straßen investieren wollen. Heute werden wir darüber entscheiden, in welchen Bereichen wir das Geld der
Steuer- und Mautzahler investieren wollen und welche
Prioritäten wir setzen. Wir werden für ganz Deutschland
festlegen, welche Ausbauprojekte in den kommenden
15 Jahren gebaut werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben gemeinsam intensiv über die drei Ausbaugesetze für die Straße,
die Schiene und die Wasserstraße diskutiert. Zu keinem
Gesetz haben wir in dieser Legislaturperiode so viele
Fach expertinnen und Fachexperten gehört wie hierzu. Zu
keinem Gesetz haben in den letzten drei Jahren so viele
Sitzungen der Fachausschüsse stattgefunden wie hierzu. Dabei haben wir Kurs gehalten. Die Wünsche aller
einzelnen Wahlkreisabgeordneten waren groß. Aber die
Summe aller Wünsche macht in der Gesamtheit keinen
guten Plan. Wir haben uns an die Grundsätze gehalten,
die wir zuvor in der Koalition vereinbart hatten.
({3})
Wir investieren vorrangig in das bestehende Netz. Wir
werden über 70 Prozent aller Mittel in die bestehenden
Verkehrswege investieren und sie sanieren. Wir denken
Bedarf und Finanzierung zusammen. „Wünsch dir was“
gibt es nicht!
({4})
Jedes Projekt, dessen Bedarf als prioritär festgelegt worden ist, hat eine Chance, bis 2030 gebaut zu werden.
Wir setzen auf die überregionalen Projekte
({5})
und bauen dort, wo Pendlerinnen und Pendler tagtäglich
im Stau stehen. Das Bauen nach Himmelsrichtungen gehört der Vergangenheit an.
Klar ist: Kein Gesetz geht so aus dem Bundestag heraus, wie es hineingekommen ist.
({6})
Nach den Diskussionen mit den Fachexpertinnen und
-experten hat der Verkehrsausschuss bei einzelnen Projekten die Prioritäten verändert. Anders, als es die Kommentierung mancher in diesem Hause vermuten lässt,
sind bei nur 1 Prozent der Projekte Veränderungen vorgenommen worden. Sie sind fachlich sinnvoll. Politisch
halten wir damit Maß und Mitte.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will an dieser
Stelle auf einen Punkt eingehen, der oft negativ diskutiert
und kommentiert wird: den Bau von Ortsumgehungen.
Offensichtlich verstehen Abgeordnete mit einem klaren Wahlkreisbezug besser, welche Bedeutung Ortsumgehungen haben. Sie sorgen dafür, dass die Anwohner
nicht mehr den Eindruck haben, dass die Lkw nachts
quer durch ihr Wohnzimmer fahren. Teilweise kommen
die Leute nachts vor Erschütterungen nicht mehr in den
Schlaf. Die Kaffeetassen vibrieren im Wohnzimmerschrank. Die Laster verpesten die Innenstädte und Dörfer
mit schlechter Luft. Häufig wohnen genau dort die Menschen, die sich woanders keine Wohnung leisten können.
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen,
ignorieren die Bedürfnisse der Anwohnerinnen und Anwohner vor Ort.
({8})
Außerdem - ich muss das so sagen, auch wenn ich selbst
betroffen bin - ist Ihre Kritik doppelzüngig: Den alten
Bundesverkehrswegeplan haben wir als SPD und Grüne gemeinsam verabschiedet. Damals waren es über
700 Ortsumgehungen. Jetzt haben wir die Anzahl auf 500
reduziert. Damit wird auch klar: Wir setzen neue Prioritäten, ohne den Bedarf in den Regionen zu vernachlässigen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn Deutschland
nicht im Stau stecken bleiben will, brauchen wir am
Ende mehr Verkehr auf der Schiene. Unser Ziel ist die
Verdopplung der Kapazität im Schienennetz bis 2030.
Wir haben erreicht, dass das Bundesverkehrsministerium
bis Ende 2017 für alle bisher nicht gerechneten Projekte
die Kosten-Nutzen-Rechnung vorlegen wird. Projekte,
bei denen der Nutzen am Ende größer als die Kosten ist,
werden wir entsprechend einstufen und bauen.
({9})
Klar ist: Der Ausbau der Schiene wird nur mit einer
starken Bürgerbeteiligung und mehr Lärmschutz gehen.
({10})
Daher wollen wir den Dialog, der mit der Erarbeitung des
Bundesverkehrswegeplans begonnen wurde, bei jedem
einzelnen Projekt fortführen. Alle Parlamentarierinnen
und Parlamentarier sollten sich an diesem Dialog beteiligen. Wir sollten uns dabei aber auch daran erinnern, dass
wir heute fraktionsübergreifend und einvernehmlich den
weiteren Ausbau der Schiene fordern. Denn - ich sage
das einmal deutlich - wir können nicht hier in Berlin
immer die Verkehrswende fordern und dann vor Ort zur
Speerspitze der Bürgerproteste werden.
({11})
Unsere Aufgabe ist es, Kompromisse zwischen Ausbaunotwendigkeit und Lärmschutz zu finden und dann
am Ende im Bundestag gemeinsam die Mehrkosten auch
für den Lärmschutz bereitzustellen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, gemeinsam haben
wir einen großen Konsens erreicht, der von vielen in
unserem Lande mitgetragen wird. Das war nur möglich,
weil wir seit über einem Jahr in der Koalition sehr vertrauensvoll an diesem wichtigsten verkehrspolitischen
Projekt in dieser Legislaturperiode gearbeitet haben.
Dies wurde vor allem auch durch Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt ermöglicht. Dafür herzlichen
Dank.
({12})
Entscheidend ist jedoch, was der Deutsche Bundestag am
Ende beschließt.
Ich möchte mich bei allen Kolleginnen und Kollegen bedanken, die in den letzten Wochen sehr intensiv
an den Ausbaugesetzen gearbeitet haben. Dazu gehören
insbesondere die Kollegin Kirsten Lühmann, die Kollegen Vaatz, Lange, Gustav Herzog und Patrick Schnieder.
Vielen Dank für die Mühe, die Sie sich gemacht haben.
({13})
Außerdem freue ich mich besonders, dass Landesverkehrsminister Christian Pegel aus Mecklenburg-Vorpommern heute hier anwesend ist und auch zum Bundesverkehrswegeplan reden wird. Er hat uns als Vorsitzender
der Verkehrsministerkonferenz der Länder konstruktiv
begleitet, als wir gemeinsam den neuen und modernen
Bundesverkehrswegeplan erarbeitet haben. Vielen Dank
dafür.
({14})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, jetzt entscheiden
wir, welche Projekte bis 2030 gebaut werden sollen. Und
dann heißt es am Ende: planen, planen, planen. Lassen
Sie uns alle gemeinsam daran arbeiten, dass die Planungen schnell, vielleicht auch ein bisschen schneller als bisher vorankommen, damit am Ende die Bauwirtschaft in
Deutschland ordentlich etwas zu tun hat.
Vielen Dank.
({15})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen erhält nun
die Kollegin Valerie Wilms das Wort.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Ja, zum Schluss haben wir
gehört, was Sie wollen, Kollege Bartol:
({0})
Beton, Beton, Beton. Das steht im Vordergrund.
({1})
Insofern haben Sie sich richtig entpuppt.
({2})
Jetzt wollen wir uns mit dem Bundesverkehrswegeplan ernsthaft beschäftigen.
({3})
Dieses Ding, genannt Bundesverkehrswegeplan, ist gescheitert. So klar und eindeutig muss man das sagen. Er
ist schlecht für Umwelt und Klima. Er ist keine Antwort
für die Mobilität in der Zukunft - für die gestrige vielleicht, Herr Dobrindt. Er ist schlicht nicht bezahlbar. Es
gibt so etwas wie eine Schleppe, die das auf ewige Zeiten
verteilt. Jeder, der etwas anderes erzählt, macht den Menschen etwas vor,
({4})
der verspricht etwas, was nicht zu halten ist. Dieser Bundesverkehrswegeplan, Herr Dobrindt - auch wenn Sie
gerade aus Brüssel mit einem Lächeln zurückgekommen
sind -, ist ein Paradebeispiel für das Scheitern dieser
großen Stillstandskoalition an den wichtigen echten Zukunftsfragen.
({5})
Es ging der Koalition nicht darum, den Verkehr in der
Zukunft so umweltfreundlich wie möglich zu organisieSören Bartol
ren. Es ging nicht um ein stimmiges Netz aus Straßen-,
Schienen- und Wasserwegen.
({6})
Auch beim Klimaschutz, Kolleginnen und Kollegen:
Fehlanzeige.
({7})
Es ging vor allem darum, möglichst vielen aus dieser Koalition ein Geschenk für den Wahlkreis zu machen.
({8})
Viele Abgeordnete der Koalition werden sich feiern lassen, weil es irgendeine Ortsumgehung in ihrem Wahlkreis in den Plan geschafft hat. Aber jeder muss wissen:
Es bedeutet gar nichts, wenn man irgendetwas in den
Bundesverkehrswegeplan hineinschreibt.
({9})
Mit dem Bundesverkehrswegeplan fließt noch kein einziger Euro.
({10})
Das kommt erst später. Der Bundesverkehrswegeplan ist
nur eine grobe Empfehlung. Was wirklich daraus wird,
kann keiner sagen;
({11})
denn es steht viel zu viel im Plan drin. Darum werden wir
in der nächsten Wahlperiode Schluss machen mit diesem
Unfug.
({12})
Man muss sich das einmal auf der Zunge zergehen
lassen: Allein für Straßen im Vordringlichen Bedarf wird
eine Fläche gebraucht, die etwa drei Vierteln der Größe
Münchens entspricht - um die lauten CSUler entsprechend einzunorden.
({13})
Das alles soll letztlich zubetoniert werden. Das ist völlig
gaga in einem modernen Land, das ein dichtes Verkehrsnetz hat, Herr Dobrindt. Deutschland ist kein Entwicklungsland. Vielleicht wollen Sie es dazu machen; ich
weiß es nicht.
({14})
Zwangsläufig wird das Geld für eine ganze Reihe von
Projekten fehlen. Viele werden sich fragen, warum manches gebaut wird und anderes hinten runterfällt.
({15})
Ich kann Ihnen sagen, worauf es nicht ankommt. Es ist
letztendlich bedeutungslos, in welcher Bedarfskategorie
ein Projekt steht. Es kommt nicht darauf an, ob besonders viele Fahrzeuge unterwegs sind. Es kommt auch
nicht darauf an, ob damit ein Engpass im gesamten Netz
aufgelöst wird. All das spielt keine Rolle.
({16})
Denn Bundesregierung und Koalition haben bewusst darauf verzichtet, eindeutige und nachvollziehbare Kriterien festzulegen.
({17})
So bleibt selbst die umweltschädlichste Ortsumgehung
im Spiel. Erst hinter verschlossenen Türen wird ausgekungelt, wohin das Geld tatsächlich geht. Mauscheleien
statt klarer Fakten: Das ist die Wahrheit, Herr Minister.
({18})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir hätten uns die
ganze Arbeit sparen können. Der Bundesverkehrswegeplan ist ein Instrument der Vergangenheit. Er war gut
für den Aufbau in Ost und West, aber er ist nicht mehr
brauchbar für ein modernes Land, das schon ein dichtes
Verkehrsnetz hat.
({19})
Die Antwort für die Zukunft heißt: kluge Vernetzung.
Wir müssen wirkliche Engpässe auflösen, und immer zuerst auf die Verbesserung vorhandener Wege setzen, statt
mit Neubauten einmalige Natur einfach zuzubetonieren.
Wir brauchen ein Netz, das Verkehr auf die umweltfreundlichen Verkehrsmittel Schiene und Wasserstraße
verlagert,
({20})
aber nur dort, wo die Wasserstraße wirklich vernünftig
anwendbar ist; wir brauchen keine goldenen Schleusentore am Elbe-Lübeck-Kanal, über die sogar der entsprechende Wirtschaftsverband sagt: Das Ding brauchen wir
nicht.
Wir müssen die Projekte in eine echte Rangfolge bringen und nach verfügbaren Mitteln abarbeiten. Es muss
Schluss sein mit der Willkür. Das Geld darf nicht dorthin
gehen, wo der Wahlkreisabgeordnete den besten Draht
ins Ministerium hat.
({21})
Es muss darauf ankommen, die drängendsten Verkehrsprobleme zu lösen und das Klima zu schützen.
({22})
Wir müssen uns in der nächsten Wahlperiode von dem
Mammutprojekt Bundesverkehrswegeplan verabschieden. Wir müssen stattdessen ein Zielnetz entwickeln, das
wir in kurzen Abständen regelmäßig fortschreiben müsDr. Valerie Wilms
sen. Das haben uns auch die Fachleute in den Sachverständigenanhörungen gesagt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Mehrheit in
diesem Hause ist an einer wichtigen Zukunftsfrage gescheitert. Meine Fraktion hat über 200 Änderungen vorgeschlagen, die das Schlimmste verhindern sollten.
({23})
Die Koalition hat jedoch alles wider besseres Wissen abgelehnt.
Ich danke allen meinen Kolleginnen und Kollegen in
der Fraktion und ihren Mitarbeitern, die in vielen Überstunden wirkliche Alternativen zum Betonwahn entwickelt haben.
({24})
Die Mehrheit wird heute anders entscheiden. Aber es ist
klar, dass das, was Sie heute verabschieden, keine Zukunft hat. Dieser Bundesverkehrswegeplan ist eine einzige Aufforderung, es besser zu machen. Dafür werden
wir Grüne kämpfen.
({25})
Herr Präsident, gestatten Sie mir zum Schluss noch
eine Bemerkung. Ich hoffe, dass ich im Namen aller
Kolleginnen und Kollegen sprechen darf, wenn ich meinen Dank an das Ausschusssekretariat richte. Sie haben
uns mit erheblichem persönlichem Zeitaufwand souverän durch die Tiefen des Abstimmungsmarathons im
Verkehrsausschuss geführt und das Ergebnis zügig und
sauber dokumentiert. Dafür gilt Ihnen der Dank von uns
allen.
({26})
Der Kollege Patrick Schnieder ist der nächste Redner
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich sehe mich,
nach dem Beitrag der Kollegin Wilms und angesichts
dessen, was die Grünen in den letzten Wochen in der
Vorberichterstattung in der Zeitung platziert hatten, zu
einer Vorbemerkung veranlasst. Es geht um den Vorwurf,
hier würden sich Abgeordnete der Großen Koalition die
Projekte in den Wahlkreisen zuschanzen.
({0})
Ich will hier gar nicht groß darüber reden, dass das unhaltbare Unterstellungen sind. Ich will auch gar nicht darüber reden, dass Sie die Sache in den Berichterstattungen völlig falsch dargestellt haben. Projekte, die gar nicht
im Vordringlichen Bedarf sind, haben Sie mit Hunderten
von Millionen dort angesetzt. Ich will Sie einmal ernst
nehmen und hinterfragen, was Sie sich dabei gedacht haben: Über 1 000 Projekte enthält dieser Bundesverkehrswegeplan; betroffen sind 299 Wahlkreise. Da liegt es
doch auf der Hand, dass wir flächendeckend in Deutschland, in allen Wahlkreisen Projekte haben.
({1})
Sie, die Grünen, haben ein Problem; denn Sie haben nur
ein einziges Direktmandat gewonnen. Sie vertreten nicht
einmal 20 Prozent der Wahlkreise. Deshalb können Sie
bei der Frage überhaupt nicht mitreden. Das ist Ihr großes Problem.
({2})
Wenn man Ihren Gedanken zu Ende denkt, dann wäre
ein guter Bundesverkehrswegeplan einer, der insbesondere im Bereich Straße flächendeckend überhaupt keine
Projekte vorsieht.
({3})
Das ist in der Tat entlarvend. Es ist gut, dass Sie das klargemacht haben: Sie sind weiterhin die Dagegenpartei.
Sie wollen Mobilität verhindern. Wir wollen Mobilität
ermöglichen, und das tun wir mit diesem Bundesverkehrswegeplan.
({4})
Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen, meine Regionalzeitung, der Trierische Volksfreund, schreibt heute in einer Vorberichterstattung, der heutige Tag sei ein
Feiertag für die Verkehrspolitiker, insbesondere für die
in der Region. Ich muss sagen: Genau so ist das. Heute
ist ein Feiertag, nicht nur für meinen Wahlkreis, für die
Region Trier mit dem A-1-Lückenschluss und dem Moselaufstieg - das sind ganz wichtige Projekte für Rheinland-Pfalz -, sondern für ganz Deutschland, weil wir die
Weichen für eine vernünftige, für eine zukunftsgerichtete
Verkehrspolitik bis 2030 stellen,
({5})
die uns Wohlstand, Wachstum, Mobilität und damit Arbeit in Deutschland gewährleistet.
({6})
Wir haben uns im Vorfeld ambitionierte Ziele gesetzt.
Wir haben uns nicht nur das Ziel gesetzt, auf die Umwelt
zu achten. Das haben wir getan.
({7})
Wir haben uns auch nicht nur das Ziel gesetzt, die Öffentlichkeit zu beteiligen. Auch das haben wir in einer
beispielhaften Art und Weise getan.
({8})
Wir haben Prioritäten gesetzt. Am Anfang hat keiner geglaubt, dass wir sie einhalten würden. Aber wir haben
uns an dem ausgerichtet, was wir vorher gesagt haben,
und wir lassen uns gerne daran messen. 70 Prozent der
Investitionen fließen in den Erhalt der Verkehrsinfrastruktur. Das Prinzip „Erhalt vor Neubau“ haben wir also
eingehalten. Wir haben durchgehend priorisiert. Auch
das ist die Wahrheit. 75 Prozent der Projekte, die im Bundesverkehrswegeplan stehen, beziehen sich auf überregional bedeutsame Verbindungen. Sie haben von Anfang
an bezweifelt, dass wir das hinbekommen; wir haben es
aber hinbekommen.
Dabei vernachlässigen wir die ländlichen Räume
nicht. Deshalb sind auch die Ortsumgehungen wichtig.
Wenn wir über 75 Prozent, wenn wir über drei Viertel
in überregional bedeutsame Vorhaben stecken, dann ist
es richtig, dass wir die Anbindung der ländlichen Räume
an die Metropolen nicht vernachlässigen. Deshalb sind
Ortsumgehungen, deshalb sind die örtlich wichtigen Projekte, die auch Raumbedeutsamkeit für die jeweilige Region haben, außerordentlich wichtig. Ich bin stolz darauf,
dass wir es geschafft haben, diesen wichtigen Bereich
nicht auszuklammern, dass wir auch für diese Räume
Mobilität für die Zukunft schaffen.
({9})
Schließlich haben wir es auch geschafft, den Bundesverkehrswegeplan hinsichtlich der Verteilung der Mittel
auf die Verkehrsträger ausgewogen und modern auszugestalten.
({10})
Sie bejammern immer, dass angeblich zu wenig in den
Bereich Schiene fließen würde.
({11})
Das Gegenteil ist der Fall, Herr Gastel. Lassen Sie sich
doch an dem Bundesverkehrswegeplan messen, den Sie
2003 vorgelegt haben. Wir haben das Verhältnis verbessert: Die Straße macht 49 Prozent aus, die Schiene
42 Prozent,
({12})
die Wasserstraße 9 Prozent. Dabei hat die Schiene nur
eine Transportleistung von nicht einmal 20 Prozent.
({13})
Wir stecken also im Verhältnis viel mehr in diesen Verkehrsträger, als er an Transportleistung erbringt. Das ist
doch ein Nachweis, ein Zeichen dafür, dass wir das ernst
nehmen und für eine ausgewogene Mischung sorgen.
({14})
Das hat übrigens auch etwas mit den Umweltauswirkungen dieses Planes zu tun. Es ist doch vollkommener
Humbug, zu sagen, damit würde man den Umweltzielen
nicht gerecht werden.
({15})
Schauen Sie sich die Bilanzen an: Wir sparen nachweislich CO2 ein. Entscheidend ist doch, dass es hier um den
Bau von Infrastruktur geht. Die wirklichen CO2-Einsparpotenziale hängen doch nicht mit der Schaffung einer Infrastruktur zusammen, sondern mit modernen Antrieben.
({16})
Der Effekt liegt doch darin, dass wir Staus beseitigen,
dass die Lkw nicht mehr durch die Orte fahren. Das ist
ein komisches Umweltverständnis, das Sie an den Tag
legen, wenn Sie bemängeln, dass wir die Menschen in
den Städten und Gemeinden vor Emissionen, vor Lärm
und vor Staub, schützen. Ich glaube, dass wir da genau
die richtigen Schwerpunkte setzen. Wir haben den Umweltschutz als wichtiges Ziel erkannt.
({17})
Wir werden dem, was wir uns vorgenommen haben, vollkommen gerecht.
Lassen Sie mich ein letztes Wort zur Öffentlichkeitsbeteiligung sagen. Wir hatten ja nicht nur eine Öffentlichkeitsbeteiligung, sondern wir hatten zwei. Es gab schon
2013 bei der Aufstellung der Grundkonzeption eine Öffentlichkeitsbeteiligung. Bei der Aufstellung des Bundesverkehrswegeplanes in diesem Jahr gab eine zweite
große Öffentlichkeitsbeteiligung. Fast 40 000 Eingaben
wurden gemacht.
({18})
- Das war nicht ohne jede Folge. - Sie sind geprüft und
ernst genommen worden. Da muss ich fragen, welches
Verständnis von Öffentlichkeitsbeteiligung Sie haben. Es
kann doch nicht sein, dass jede Eingabe automatisch zu
dem Ergebnis führt, das gewünscht wird, sondern natürlich müssen wir es abwägen. Das haben wir getan.
({19})
Mein Büro hat Hunderte von Briefen von Bürgern und
von Organisationen beantwortet. Es hat einen regen Dialog gegeben. Auch das Ministerium hat sich dankenswerterweise damit befasst.
({20})
Deshalb kann ich das folgende Fazit ziehen: Wir haben
hier wirklich ein tolles Werk vorliegen. Es ist ein großer
Wurf für die Infrastruktur in den nächsten 15 Jahren.
({21})
Das ist zukunftsfähige Politik. Damit schaffen wir weiterhin die Voraussetzungen für Wohlstand, für wirtschaftliche Prosperität, für Mobilität, für Arbeit in Deutschland.
Vielen Dank.
({22})
Das Wort erhält der Kollege Herbert Behrens für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer
heute über Verkehrspolitik spricht, der kann über den angeblichen Kompromiss bei der Pkw-Maut nicht schweigen. Wir müssen feststellen, dass ein weiterer Vorhang
aufgegangen ist für die Fortsetzung einer unendlichen
Geschichte, einer ungeheuerlichen Geschichte. Sie hatte
ihren Anfang genommen, als der CSU-Stammtisch meinte, mit der österreichischen Pkw-Maut ein Ärgernis zu
haben, und sich deshalb überlegt hat, wie man es hinbekommt, dass auch die Österreicher zahlen müssen. Das
hat der damalige Generalsekretär der CSU - Dobrindt
mit Namen - in ein parteipolitisches und wahlkampfpolitisches Konzept umgesetzt; dieses hat er in den Bundestag hineingetragen. Es wurde Bestandteil des Koalitionsvertrages von CDU, CSU und SPD. Es hat nach
einem über Jahre dauernden unsäglichen und quälenden
Prozess das Ergebnis, dass am Ende keiner zufrieden ist:
weder die, die es richtig wollten, noch die, die es schon
immer abgelehnt haben.
Wenn jetzt die Nachricht kommt, man habe sich in
Brüssel geeinigt, dann müssen wir sehr genau hinschauen, auf was man sich da wirklich geeinigt hat. Wir haben
gesehen, dass wir weiterhin ein Bürokratiemonster vor
uns haben. Dieses Bürokratiemonster wächst sogar noch.
Es wird künftig nicht nur drei Staffelungen bei der Maut
geben, sondern fünf. Es wird weiteren Bearbeitungsaufwand geben, um genau abwickeln zu können, wer eigentlich welche Vignette kaufen muss. Der Ertrag wird noch
kleiner.
({0})
- Ja, die Vielfalt muss aber bewirken, dass die Leute mehr
davon haben und möglicherweise auch der Staat mehr
davon hat. - Wir haben nichts davon. Wir haben Belastungen für die Bürger, und wir haben weniger Einnahmen
für den Staat. Wer in der Koalition kann eigentlich damit
zufrieden sein? Das ist mir völlig unverständlich.
({1})
Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass die Beziehung
zu unseren Nachbarstaaten in Europa schwer gefährdet
ist. Es hat großen Schaden angerichtet, so brachial vorzugehen. Das wird sicherlich noch Folgen haben, die wir
alle nicht wollen. Dieses Projekt muss sofort gestoppt
werden.
({2})
Meine Forderung an die SPD lautet: Nehmen Sie sich
selber ernst, und tun Sie jetzt im Zuge dieses Verfahrens
wirklich etwas dafür, dass die Maut blockiert werden
kann, so wie es der Verkehrsminister in Niedersachsen
gefordert hat.
({3})
Wir sind dabei.
Zur Verkehrspolitik gehört Weitsicht. Die haben Sie
bei der Pkw-Maut nicht gezeigt. Sie haben sie beim Bundesverkehrswegeplan nicht gezeigt. Sie haben sie auch
bei den Ausbaugesetzen nicht gezeigt.
({4})
Zur Weitsicht in der Verkehrspolitik gehört, dass wir uns
darüber klar sein müssen: Ein Bundesverkehrswegeplan
legt die Schwerpunkte für die nächsten 15 Jahre Verkehrspolitik fest. Was heute dort hineingeschrieben wird,
wird uns, wird die Bürgerinnen und Bürger die nächsten
15 Jahre begleiten. Entweder sie bekommen versprochen, dass eine Entlastung gebaut wird, oder sie haben
die Chance, dass es relativ schnell durchgesetzt wird.
Dieses Hinhängen an eine lange Frist - Leute, beruhigt
euch, wir kommen mit dem Projekt in dem einen oder
anderen Jahr zu euch - führt dazu, dass in der Zwischenzeit keine Alternative überlegt wird, nicht weiter geplant
werden darf, immer mit dem Hinweis: Aber es steht doch
im Bundesverkehrswegeplan, setzt euch wieder hin, wir
lösen das schon. - Das ist keine Politik mit Blick auf die
gegenwärtigen Probleme, und schon gar keine Verkehrspolitik mit Weitsicht, in die Zukunft.
({5})
- Die Leute lassen sich nicht vertrösten, sagt der Kollege Herzog - in der Tat. Darum sind sie vielfach in BürPatrick Schnieder
gerinitiativen aktiv geworden. Sie haben eingefordert, in
diesen Verfahren beteiligt zu werden, und haben vor Ort
ihre Alternativen eingebracht. Das hat nicht nur etwas
mit Blockadepolitik zu tun, das hat etwas mit kreativen
verkehrspolitischen Vorstellungen zu tun, die wir an allen
Stellen gesehen haben.
Ich nenne das Beispiel A 39. Dort haben sich die Bürgerinnen und Bürger an verschiedenen Orten entlang der
Trasse über Jahre zusammengesetzt und Pläne für Alternativen geschmiedet. Dabei kommt heraus: Die A 39 ist
verzichtbar
({6})
durch kleine Maßnahmen, durch Ausbaumaßnahmen und
teilweise durch Neubaumaßnahmen, wenn ein Ort dringend umgangen werden muss.
({7})
Das ist Planungsfantasie bei den Bürgerinnen und
Bürgern. Sie ist aber nicht im Bundesverkehrsministerium zu finden. Das muss auf jeden Fall ein Ende haben.
({8})
Das Wort erhält nun der Herr Minister für Energie,
Infrastruktur und Digitalisierung des Landes Mecklenburg-Vorpommern.
({0})
Christian Pegel, Minister ({1}):
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren Abgeordnete! Meine sehr geehrten Damen
und Herren! Zunächst darf ich mich aus Sicht eines
Landes und als derzeitiger Vorsitzender der Verkehrsministerkonferenz auch ein Stück weit für diese herzlich
dafür bedanken, hier einen Blick auf den neuen Bundesverkehrswegeplan werfen zu dürfen. Ich nehme meinen
wichtigsten Eindruck vorweg, auch wenn er nicht allen
gefallen mag. Die Länder freuen sich, dass ein längerer
Diskussionsprozess jetzt auf der Zielgeraden ist und sie
damit Planungssicherheit für die kommenden 15 Jahre
bekommen. Wir Länder können - entgegen der Aussage
in dem letzten Vortrag hier - nicht auf ihn verzichten.
({2})
Wir haben uns in der Verkehrsministerkonferenz der
vergangenen sieben Jahre mehrfach mit den Planungen
und dem Prozess befasst. Das Urteil war über alle Ländergrenzen und über alle Parteifarben hinweg weitgehend identisch: Die Länder können dem eingeschlagenen
Weg gut folgen. Unbenommen des einen oder anderen
Einzelwunsches werden die Inhalte ausdrücklich geteilt.
({3})
Dies gilt umso mehr, als sich darin in wesentlichen
Punkten die Ergebnisse vor allem der ersten Bodewig-Kommission wiederfinden. Das Ziel „Erhalt vor
Neubau“ gehört ausdrücklich in den Zielkanon der Bodewig-Kommission I.
Erlauben Sie mir einen spezifisch ostdeutschen Blick
darauf. Angesichts der erheblichen Investitionen in den
vergangenen 25 Jahren in Ostdeutschland gibt es bei uns
ein ganz dringendes Anliegen, nämlich Fehler im Osten
nicht zu wiederholen und die Infrastruktur rechtzeitig
und regelmäßig in ausreichendem Maße fit zu halten.
Deshalb gilt bei uns im Osten umso mehr der Schwerpunkt „Erhalt vor Neubau“.
({4})
Auch die restriktive Haltung des Bundes, keine
Wünsch-dir-was-Enzyklopädie zu erstellen, sondern den
Plan realistischer zu gestalten, als das in der Vergangenheit zuweilen der Fall gewesen sein mag, wird auf Länderseite ausdrücklich geteilt, auch wenn das bei jedem
Einzelnen von uns in den Ländern hier oder da nicht unerheblichen Schmerz ausgelöst hat.
({5})
Die Diskussion kenne ich bei mir daheim in Mecklenburg-Vorpommern sehr gut. In den Regionen mit den in
unserem landesinternen Vorauswahlprozess nicht weiterverfolgten Projekten - das waren bei uns ein Drittel, die
wir beim Bundesverkehrsministerium gar nicht für den
Bundesverkehrswegeplan angemeldet haben ({6})
werden Sie als Minister nicht mit Rosen empfangen, und
wenn Ihnen Rosen zugeworfen werden, hängt der Topf
leider meist noch dran.
Ich habe übrigens spannende Debatten erlebt, als wir
den Entwurf des Bundesverkehrswegeplans vorgelegt
haben. Tenor der Diskussion in unserem Land hier und
da war: Kriegen wir eigentlich prozentual, verglichen mit
anderen Regionen in Deutschland, genug ab oder doch
vielleicht zu wenig? Ich habe in diesen Debatten immer
dafür geworben, dass das nicht ernsthaft unser Weg sein
kann. Infrastrukturprojekte sind volkswirtschaftlich auszuwählen. Proporz und Himmelsrichtung sind eben keine
volkswirtschaftlich sinnvollen Kategorien, meine Damen
und Herren.
({7})
Ich will aber auch sagen: Ich bin dabei ausdrücklich
dafür dankbar, dass Sie trotz dieser richtigen und eben
genannten wichtigen Prämissen die Belange vor Ort
nicht aus dem Blick verloren haben. Natürlich gibt es
Ortsumgehungen, die weiterhin benötigt werden. Das
gilt - erlauben Sie mir bitte, auch hier einen spezifisch
ostdeutschen Blick in die Debatte einzubringen - insbesondere in den fünf ostdeutschen Bundesländern. Wenn
solche Projekte mehrere Jahrzehnte nicht denkbar waren, wenn sie seit 1990 zum Teil durchgängig vor Ort
in Verkehrswegeplänen versprochen werden und wenn
an dieser Stelle die westdeutschen Nachbarländer - ich
bin geborener Hamburger - vier Jahrzehnte Vorsprung
haben und dort deshalb viele Gemeinden schon in den
vergangenen Jahrzehnten Durchgangsverkehrsbefreiungen erhielten, dann brauchen wir für hochbelastete Ortslagen auch in den kommenden 15 Jahren weiterhin die
Möglichkeit, dringend benötigte Entlastung vor Ort zu
schaffen, meine Damen und Herren.
({8})
Wenn ich vor allen Dingen zu diesem Punkt Vorschlagslisten für beinahe orgiengleiche Streichkonzerte
gerade im Osten sehe, wäre ich dankbar, wenn Sie bei
Ihren Entscheidungen heute gerade diese besondere Situation des Ostens im Blick behalten. Ich darf nur das mir
sehr gut vertraute Beispiel der Ortsumgehung Wolgast
aufrufen.
({9})
Dort quälen sich in der gesamten Sommersaison nahezu
alle Usedom-Urlauber, wenn sie nicht mit der Bahn anreisen, durch die historische Altstadt zu mehr als 5 Millionen Übernachtungen. Wenn Sie dort die Umgehung für
wirkungslos erklären wollen, können Sie das den Menschen vor Ort, aber, wie ich glaube, auch den vielen Gästen, die dort im Sommer stau- und ampelentschleunigt
stehen, auf keinen Fall erklären.
({10})
Sie werden den Menschen das nicht vermitteln können.
Die Ideengeber für diese Streichung sollten im Übrigen
unbedingt den Eindruck vermeiden, dass sie im Ergebnis
bereit sind, dem wirtschaftlichen Aufholprozess im Osten leichtfertig schweren Schaden zuzufügen.
({11})
Die A 14 als neuer Nord-Süd-Korridor, der Häfen und
Magdeburg verbinden wird, ist ebenfalls ein Beispiel für
solche Projekte. Das Gleiche gilt für den B-96-Ausbau.
Ich werbe deutlich dafür, ihn nicht auf Streichlisten zu
setzen. Wenn Sie sich - um vorherige Beiträge aufzugreifen - Karten mit dem deutschen Verkehrsnetz anschauen,
werden Sie an diesen Stellen richtiggehende Löcher im
Verkehrsnetz entdecken - keine Betonlöcher, sondern
Mobilitätslöcher, meine sehr geehrten Damen und Herren.
({12})
Diese zu schließen, das ist die originäre Aufgabe eines
Bundesverkehrswegeplans. Die viel beschworene Netzfunktion, die ja zitiert wurde, wird gerade hier exemplarisch erfüllt. Dafür mein herzlicher Dank!
({13})
Gerade diesem rationalisierten Verfahren haben sich
die Länder über alle Länder- und Parteigrenzen hinweg in den vergangenen Monaten und Jahren sehr bewusst angeschlossen. Ganz ohne Wermutstropfen sind
die Länder dabei allerdings nicht. Sorgen bereitet uns
weiterhin - zum Teil auch gemeinsam mit Ihnen - die
Bedarfsplanung für die Schiene. Die Vorarbeiten haben
leider an vielen Stellen eine mit Straßen und Wasserwegen vergleichbare Bewertung nicht zugelassen. Der jetzt
beschrittene Weg einer Art Auffangkategorie ist daher wohlgemerkt: aus der Not geboren - ein besserer Weg,
als viele der darin vorgesehenen Projekte gar nicht in
den Plan aufzunehmen. Jetzt wird es darum gehen, sie
möglichst schnell zu qualifizieren und in die nächste Liga
aufsteigen zu lassen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Länder
haben im Oktober dieses Jahres auf der Verkehrsministerkonferenz in Stuttgart noch einmal um eine Prüfung
gebeten, wie wir im Nahverkehr Schienenwege finanzieren wollen, wenn dieser Bereich aus Ihrer Sicht nicht in
den Bundesverkehrswegeplan hineingehört, weil er den
Schienennahverkehr betrifft. Ich selbst kenne zwei Beispiele: die Karniner Brücke und den Schienenverkehr auf
dem Darß. Beides sind Dinge, die wir für die Menschen
in irgendeiner Weise wirtschaftlich abwägen müssen.
({14})
Dass See- und Schifffahrtswege für die Exportnation
Deutschland und den hiesigen Wirtschaftsstandort zentral sind, bildet der Bundesverkehrswegeplan dankenswerterweise ebenso ab. Denn der Wirtschaftsstandort
Deutschland lebt im Im- und Export von diesen Häfen
und dem dort stattfindenden Umschlag, der ein Stück
weit die Lebensader der deutschen Wirtschaft darstellt.
Auch diese Schwerpunktsetzung ist daher im Länderkreis ausdrücklich begrüßt worden. Wenn dabei jetzt im
Hinblick auf einige Projekte Sorgen und Bedenken geäußert werden, bitte ich, folgenden Vergleich zu ziehen:
Ist - um unser Beispiel aus Mecklenburg-Vorpommern
zu nehmen - eine vertiefte Zufahrt zum Wismarer oder
Rostocker Hafen ökologisch wertloser oder aber der
Transport all dieser Güter auf Tausenden von Lkws um
die halbe Ostsee herum?
({15})
Das ist nämlich die Alternative, über die wir reden.
({16})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, dieser Bundesverkehrswegeplan ist gelebte Wirtschaftspolitik, für
viele staugeplagte Gemeinden ist er gelebter Gesundheitsschutz, und er bietet in der Perspektive eine vollkommen neue Lebensqualität. Er wird uns entscheidende
Schritte voranbringen. Dafür herzlichen Dank all denen,
die an dem Prozess mitgewirkt haben.
Ihnen herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Viel
Erfolg!
({17})
Minister Christian Pegel ({18})
Matthias Gastel ist der nächste Redner für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Ich mache Bundespolitik, lieber Kollege.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Klimakatastrophe auf diesem Planeten
wird immer offensichtlicher, und es ist gut und richtig,
dass Deutschland sich zu Klimazielen bekannt und klar
gesagt hat, in welchem Ausmaß bis zu welchem Zeitpunkt die Treibhausgase reduziert werden müssen.
Leider müssen wir aber feststellen, dass der Verkehrssektor seinen Beitrag zum Klimaschutz bisher überhaupt
noch nicht geleistet hat. Der Anteil des Schienengüterverkehrs stagniert bei 17 Prozent. Im Schienenpersonenfernverkehr sieht es auch nicht nach einem Wachstum
von Verkehrsanteilen aus. Lkw und Auto sind die Marktführer.
Klimaziele sind aber nur dann erreichbar, wenn die
Schiene aufholt und Marktanteile gewinnt. Wir müssen
das Schienennetz modernisieren, wir müssen Engpässe
beseitigen, und wir müssen die Infrastruktur an Fahrplänen ausrichten und nicht umgekehrt.
({1})
Der Bundesverkehrswegeplan und das Bundesschienenwegeausbaugesetz leisten dazu aber leider keinen
Beitrag. Ganz im Gegenteil: Statt die Schiene aufs Überholgleis zu bringen, wird sie aufs Abstellgleis gesetzt.
Schon methodisch ist die Schiene im Bundesverkehrswegeplan benachteiligt. Alle angemeldeten Straßenprojekte sind bewertet und eingestuft worden. Bei der
Schiene sind gerade einmal 27 von 73 Projekten bewertet
worden. Das heißt, bei 63 Prozent der Schienenprojekte
ist noch unklar, ob und wie sie eingestuft werden.
Bei der Straße gibt es eine stundengenaue Engpassanalyse. Bei der Schiene hat man längere Zeiträume gemittelt analysiert. Das führt am Ende dazu, dass bei der
Straße ein höherer Ausbaubedarf ermittelt wurde als bei
der Schiene.
({2})
Bei der Straße sind Hunderte von Straßen hoch priorisiert worden, die nur lokal bedeutsam sind. Bei der
Schiene stellen sich die Bundesregierung und die Große
Koalition auf den Standpunkt, dass sie für Schienenwege, die überwiegend lokale Verkehre abwickeln, nicht
zuständig sind - also ein Widerspruch zwischen den Systemen.
({3})
Die Schiene wird systematisch benachteiligt. Man
kann auch davon sprechen, dass hier Schienenmobbing
betrieben wird.
({4})
Zentrale Projekte fehlen in Ihrem Ausbaugesetz, beispielsweise der Ausbau des 740-Meter-Netzes, der notwendig ist, um mehr Schienengüterverkehr zu organisieren und wirtschaftlich gegenüber der Straße und dem Lkw
abwickeln zu können. Es fehlt der Deutschland-Takt, mit
dem die Fahrgäste attraktive Umsteigeverbindungen in
den Knotenbahnhöfen hätten bekommen können. Obwohl diese Punkte hier im Hause unstrittig sind, haben
Sie unsere Anträge, beides hochzustufen, ohne jegliche
Begründung abgelehnt.
({5})
Stattdessen haben Sie kurzerhand noch einmal etwa
zwei Dutzend Straßenprojekte im Umfang von 1,4 Milliarden Euro hochgestuft. Bei den Schienenprojekten ist
lediglich ein Projekt höhergestuft worden, nämlich die
Gäubahn,
({6})
und das auch nur deshalb, weil das Land Baden-Württemberg ein Gutachten vorgelegt und damit die Hausaufgaben erledigt hat, die die Große Koalition nicht gemacht
hat.
({7})
Im Ergebnis haben wir viele Straßen und wenig Schiene. Bei den Straßen sind die Pläne völlig überzeichnet.
Bei der Schiene wird das meiste im Ungewissen gelassen. Sie bauen dem wachsenden Auto- und vor allem
Lkw-Verkehr hinterher. Die Schiene ist ohne Chance,
ihr Potenzial auszuschöpfen. Sie stellen sich damit ein
Armutszeugnis aus. Das können wir nicht unterstützen.
({8})
Das Wort erhält nun der Kollege Ulrich Lange für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja,
ein langandauernder, intensiver, aber sehr guter Abstimmungsprozess innerhalb der Koalition mit den Ländern
und mit den Behörden vor Ort geht zu Ende. Heute können wir die drei Ausbaugesetze, deren Entwürfe auf dem
Tisch liegen, verabschieden. Ich möchte das Ganze wirklich als einen großen Tag für die Verkehrspolitik und mit
als einen der größten dieser Koalition bezeichnen. Liebe
Kolleginnen und Kollegen, herzlichen Dank!
({0})
Ich schließe mich natürlich dem Dank an den Bundesminister an, aber insbesondere auch an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Haus, die uns auf jede Frage, auch wenn sie sich wiederholt hat, immer geduldig
Antwort gegeben und alles erklärt haben. Ich sage ein
Dankeschön auch den Berichterstattern, ebenso den Länderberichterstattern, die in jedem einzelnen Bundesland
dafür Sorge tragen mussten, dass man wirklich abschichtete. Und genau das, liebe Kolleginnen und Kollegen der
Grünen, haben wir getan. Wir haben uns nämlich Leitlinien und eine Grundkonzeption gegeben, die Sie einfach
ignorieren bzw. nicht wahrnehmen wollen, nämlich Erhalt vor Neubau und Engpassbeseitigung; hierzu haben
wir noch die Kategorie „Vordringlicher Bedarf - Engpassbeseitigung“ eingeführt. Eine so klare Priorisierung
wie dieses Mal gab es noch nie.
Zum Netzzusammenhang, liebe Kollegin Wilms, von
Bundesstraßen gehören nun einmal auch Ortsumfahrungen in Bundesländern. Sie werden das nicht glauben,
aber es ist so.
({1})
Wenn Sie irgendwo in Bayern mit Ihrem grünen Helikopterblick einfliegen und mit einem kleinen Grüppchen
die Leute schalu machen, dann glauben Sie doch nicht
wirklich, dass Sie verstanden haben, was vor Ort los ist.
Genau das haben Sie nämlich nicht.
({2})
Dann haben wir natürlich das Kriterium der städtebaulichen Notwendigkeit und der Verkehrssicherheit. Genau
Ihre Bürgerinitiativen stehen nämlich an den Straßen in
den Städten und Gemeinden und fragen: Warum müssen
hier Tausende von Schwerlast-Lkws durch unsere Gemeinde donnern? Auf genau diese Menschen nehmen Sie
keine Rücksicht.
Zum Ausbau der Schiene, lieber Kollege Gastel, kann
ich Ihnen nur sagen: Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht
mit Steinen werfen. Wir wollen beim Ausbau der Schiene
Taten sehen, aber vor Ort sind Sie dagegen, während Sie
hier große Reden halten. Das ist einfach unglaubwürdig
und unseriös.
({3})
Liebe Kollegen der Grünen - Sören Bartol hat es auch
schon gesagt -, dieser Verkehrswegeplan hat, weil er dieser strikten verkehrspolitischen Leitlinie folgt, insgesamt
fast 900 Straßenprojekte weniger als der, den Sie zur Zeit
der rot-grünen Bundesregierung mit zu verantworten
hatten. An Ihrer Stelle wäre ich einmal ganz ruhig, liebe
Beton-Valerie-Wilms.
({4})
Dafür, dass Sie keine Wahlkreise gewonnen haben,
können wir ja nichts.
({5})
Irgendwie kommen Sie bei den Wählerinnen und Wählern nicht so an, um Wahlkreise zu gewinnen. Aber das
Vertreten von Wahlkreisinteressen - das sage ich ganz
offen - erdet die Politik vor Ort. Das ist genau unser Anspruch: Wir sind vor Ort greifbar und kommen nicht irgendwie und von irgendwoher angeflogen.
({6})
Wenn Sie dann im Stil eines amerikanischen Wahlkampfes auf der Grundlage von Halbwahrheiten Listen
ins Internet stellen,
({7})
wenn Sie Ortsumfahrungen benennen, die nicht einmal
in den Wahlkreisen der Kollegen liegen, wenn Sie das
NKV und die Verkehrszahlen verschweigen, dann sieht
man, auf welche Art und Weise und mit welcher Methode
Sie in das Wahljahr 2017 gehen.
({8})
Ist das der neue Geist einer so moralisierenden Partei?
Nein, Sie sorgen am Ende für eine Zweiklassenrepublik,
eine Aufteilung nämlich in diejenigen, denen Sie etwas
zukommen lassen wollen, und in diejenigen, die Sie abhängen, weil Sie über Land keine Verkehre mehr organisiert haben wollen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich
noch einen Satz zum Schienenverkehr sagen. Ja, lieber
Kollege Gastel, wir haben Nahverkehrsprojekte nicht
aufgenommen.
({9})
- Nein, eben nicht. Hier gibt es einen Netzzusammenhang. Sie können das noch fünfmal sagen; es wird nicht
richtiger, weil Sie es nicht kapieren oder nicht kapieren
wollen und deswegen weiterhin die Unwahrheit sagen.
({10})
Bei den Schienenprojekten haben wir zwischen Fernverkehr und Nahverkehr unterschieden. Und es war die
Große Koalition, die in diesem Jahr die Regionalisierungsmittel auf 8,2 Milliarden Euro erhöht hat - genau
für diesen Nahverkehr und für die entsprechende Vernetzung.
({11})
Niemand anderes! Wir waren es!
({12})
Wir haben unsere Hausaufgaben gemacht: Wir haben
einen guten Verkehrswegeplan. Wir haben sehr gute Ausbaugesetze. Jetzt geht es darum, dass wir zur Umsetzung
kommen. Hier drehe ich mich schon auch in Richtung
Länderbank um; denn es liegen große Herausforderungen
bei den Bundesländern. Ich sage nur: „Planen, planen,
planen“, damit es für die von uns finanzierten Projekte
auch Baurecht gibt. Das Geld ist da. Der Investitionshochlauf steht. Wir stehen für Mobilität und Modernität.
Danke schön.
({13})
Für die SPD-Fraktion ist der nächste Redner der Kollege Gustav Herzog.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lassen Sie mich mit einem Dank beginnen - ich werde auch mit einem Dank enden -, und zwar an die Kolleginnen und Kollegen, die gestern Abend um 23 Uhr
dem Gesetzentwurf zur Ausdehnung der Lkw-Maut auf
die Bundesstraßen zugestimmt haben, weil wir damit in
den nächsten Jahren 2 Milliarden Euro pro Jahr mehr im
Pott haben werden, um das, was wir anschließend hier
beschließen, auch wirklich realisieren zu können. Vielen
Dank also an diejenigen, die auch auf der Einnahmenseite kräftig mithelfen.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein Nachrichtenmagazin hat den Bundesverkehrswegeplan als das Hochamt
für Verkehrspolitiker bezeichnet. Mir fehlt diese Spiritualität, aber es ist schon eine besondere Verantwortung, an
einem Werk mitzuarbeiten - und heute darüber zu entscheiden -, das über die nächsten drei, vier Wahlperioden
hinaus die Arbeit des Deutschen Bundestages mitbestimmen wird, wenn es darum geht, die Pläne zu realisieren.
Wir haben ja schon in der letzten Wahlperiode mit der
Grundkonzeption begonnen und einen Berg von wissenschaftlichen Studien in Auftrag gegeben und auch gelesen. Wir haben den riesigen Prozess aus Anmeldungen,
Bewertungen und Priorisierungen bewältigt und zu allem
eine öffentliche Erörterung durchgeführt. Das war eine
riesige Aufgabe.
Ich will in Bezug auf die Anmeldungen nur kurz einmal in Richtung Grüne darauf hinweisen: Über die Hälfte
der von den Ländern angemeldeten Straßenbauprojekte - nicht alle Länder waren so diszipliniert wie Ihres,
Herr Landesminister Pegel - haben wir zurückgewiesen.
Sie sind nicht im Vordringlichen Bedarf des Bundesverkehrswegeplans gelandet, weil wir schon sehr sorgfältig
auf die Vorgaben geachtet haben.
All das geschah mit Öffentlichkeitsbeteiligung, und
ich will mich hier bei all denjenigen bedanken, die den
Kontakt mit uns gesucht und deren Kontakt wir gesucht
haben: den Verbänden, den Bürgern, den Vereinen und
auch den Lobbyisten. Ich sage mal: Es wird auch dann
eine gute Sitzungswoche, wenn ich am Mittwoch vor der
Ausschusssitzung nicht bei einem vom BUND ausgerichteten Arbeitsfrühstück sein muss.
All das hat dazu beigetragen, dass wir als Arbeitsparlament unserer Verantwortung nachkommen konnten. In
fünf Ausschusssitzungen - zusammen waren es weit über
20 Stunden - haben wir viele Tausend Projekte beraten,
und es wurde auch eine öffentliche Anhörung durchgeführt. Danach kam es zum Abstimmungsmarathon.
Ich sage hier für die SPD-Fraktion und, wie ich hoffe, auch für das ganze Parlament: Lieber Martin Burkert,
du hast als Ausschussvorsitzender in großer Souveränität
durch die Sitzungen geführt. Herzlichen Dank dafür und
auch ganz herzlichen Dank an das Sekretariat für die geleistete Arbeit. Das war hervorragend.
({1})
Es wurden einige Tausend Seiten produziert, die heute
zur Abstimmung stehen. Das alles war sehr transparent.
Da wurde nicht gemauschelt. Frau Kollegin Wilms, wir
gingen von einem Volumen von 270 Milliarden Euro aus;
jetzt sind es 1 bis 2 Milliarden Euro mehr geworden. Ich
sage Ihnen: Wenn ich mauschele, dann ist das wesentlich
effektiver, als nur Zehntel Prozente draufzusatteln.
({2})
Alles, was wir da gemacht haben, war transparent. Da hat
keiner seinen eigenen Wahlkreis bedient.
({3})
Warum, liebe Kolleginnen und Kollegen? Wir haben
uns an die Leitplanken, die wir uns gegeben haben, gehalten. Es ist einfach, fromme Wünsche zu äußern. Wir
aber halten uns an die Leitplanken. - Viel schwieriger ist
es in der Realität. Ich sage offen, dass ich manchmal den
Eindruck hatte, der unbeliebteste Abgeordnete meiner
Fraktion zu sein, weil ich vielen, die mit Wünschen zu
mir gekommen sind, sagen musste: Das geht nicht nach
den Kriterien, die wir uns selbst gegeben haben.
In dem Prozess, der nach der Kabinettsbefassung kam,
haben wir uns auch an die Verabredungen gehalten und
weiterhin ein klares Prä für die Schiene abgegeben. Es
wurde bereits mehrfach gesagt: Die Schiene bekommt
ein Mehrfaches dessen, was ihrer Verkehrsleistung bei
der Güter- und der Personenbeförderung entspricht.
({4})
Das ist unsere Politik. Wir machen nicht viele Worte,
sondern lassen Taten sprechen, liebe Kolleginnen und
Kollegen.
({5})
In Richtung Linke sage ich: Wo führen Sie denn den
Dialog vor Ort? Die Grünen haben mich im Zusammenhang mit drei Ortsumgehungen in meinem Wahlkreis
erwähnt. Ich habe Ihren linken Abgeordneten noch bei
keiner Diskussion um eine Ortsumgehung gesehen, bei
der er sich vor Ort den Bürgerinnen und Bürgern hätte
stellen können.
({6})
Sie führen hier das große Wort, aber vor Ort schlagen Sie
sich in die Büsche. So kann man keine Politik machen.
({7})
Zu den Ausschussberatungen kann ich nur sagen:
Wunsch und Wolke. Man muss sich nur vor Augen führen, wie viele Anträge zur Schiene Sie zur Hochstufung
aus dem Potenziellen Bedarf gestellt haben. Natürlich
wollen auch wir so viel wie möglich umsetzen; aber der
volkswirtschaftliche Nutzen muss zuerst nachgewiesen
werden. Sie jedoch wollten pauschal eine Reihe von Projekten in den Vordringlichen Bedarf hochstufen. Wissen
Sie, woran mich das erinnert hat? Dafür muss ich nun zur
rechten Seite dieses Hauses schauen: 2003 haben Union
und FDP ebenfalls in unverantwortlicher Weise Anträge
zum Bundesverkehrswegeplan gestellt, um möglichst
viele Projekte in den Vordinglichen Bedarf zu bringen.
Wissen Sie, warum der Plan dann trotzdem gut war? Weil
verantwortliche Sozialdemokraten - damals wie heute solche Wunschkataloge abgelehnt haben.
({8})
Nun zu Ihrem Lippenbekenntnis, mehr Güter auf die
Wasserstraße zu verlagern. Mich als Rheinland-Pfälzer treibt Folgendes um - das gilt sicherlich auch für
die Hessen, die Baden-Württemberger und die Nordrhein-Westfalen -: Wie man zur Fahrrinnenanpassung im
Mittelrheintal sagen kann, dass man das nicht wolle, wie
man sich bei einer der wichtigsten, wenn nicht sogar bei
der wichtigsten Wasserstraße in Deutschland verweigern
und Nein zu einer deutlichen Erhöhung der Verlässlichkeit dieses Verkehrsträgers sagen kann, das will mir nicht
in den Kopf. Damit verleugnen Sie Ihre eigene Politik.
({9})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gab viele Dialoge
und Diskurse, auch heftige Debatten. Aber was ich am
Mittwoch in der Zeitung lesen musste, war wirklich der
traurige Höhepunkt von dem, was Sie geliefert haben.
Dort stand: Die Grünen sind empört. Die GroKo schiebt
sich Straßenbauprojekte zu.
({10})
Wir haben von Ihnen auch heute wieder nur wenige, dünne Argumente gehört. Also greifen Sie einzelne Personen
an. Da schreiben Sie, dass dem Exminister Ramsauer,
dem Exminister Friedrich, dem Exminister Röttgen und
dem amtierenden Minister Steinmeier Projekte zugeschoben würden. Wissen Sie, wenn ich jemanden bedienen
will, dann halte ich nicht nach Exministern Ausschau,
sondern nach denen, die Zukunft haben und darüber entscheiden, wie es weitergeht.
({11})
Ein Weiteres: Ich kenne jetzt nicht die Feinheiten
bei der CSU, aber ich bezweifle sehr, dass der Kollege
Dobrindt, auch wenn bald Weihnachten ist, dem Kollegen Ramsauer auch nur einen Quadratmeter Asphalt
mehr schenkt, als diesem zusteht.
({12})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist ein guter
Plan. Ich werbe um Zustimmung. Wir werden das alles in
dieser und in der nächsten Legislaturperiode umsetzen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({13})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Arnold Vaatz für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als letzter Redner möchte ich das sagen, was mir
am meisten am Herzen liegt. Wir hätten den Bundesverkehrswegeplan, dieses große Werk, und die Ausbaugesetze niemals auf den Weg gebracht, wenn wir nicht
überparteilich zusammengearbeitet hätten und wenn
wir nicht hervorragende Kontakte insbesondere auf der
Mitarbeiterebene gehabt hätten. Demzufolge möchte ich
auch einmal den persönlichen Mitarbeitern der Abgeordneten, die sich hier ins Zeug gelegt haben, ganz herzlich
danken.
({0})
Ohne sie wären wir oftmals aufgeschmissen gewesen. Da
dies noch nicht gesagt worden ist, ist es meines Erachtens
sehr wichtig, das zu tun.
Einen ganz persönlichen Dank möchte ich auch noch
in Richtung Alexander Dobrindt richten, und zwar aus
folgendem Grund: Alexander, du hast in dieser ganzen,
oftmals heftigen Auseinandersetzung eine bewundernswerte Ruhe und Übersicht bewahrt. Du hast mit BeharrGustav Herzog
lichkeit, Konzentration und Konsequenz mehr geschafft,
als viele am Anfang gedacht haben. Also ganz herzlichen
Dank dafür
({1})
und auch für die ständige Offenheit deines Ministeriums
und für die Bereitschaft, uns Informationen zu überlassen. Ich danke dir auch dafür, dass du immer für die
Einwendungen und Vorschläge, die aus unseren Reihen
gekommen sind, offen warst. Das ist meines Erachtens
so, wie man sich das vorstellt. Vielen Dank!
Gleichzeitig möchte ich mich auch bei Wolfgang
Schäuble bedanken. Durch Wolfgang Schäubles überlegte und weitsichtige Finanzpolitik ist es möglich gewesen,
endlich aus diesem Schwitzkasten ständig mangelnder
finanzieller Mittel herauszukommen und schließlich eine
Perspektive vorzulegen, die auf lange Jahre gewährleistet, dass die finanziellen Grundlagen für die Erfüllung
unserer Infrastrukturaufgaben gegeben sind. Das ist
ein ganz wichtiger Schritt nach vorne. Ganz herzlichen
Dank!
({2})
All das, was jetzt geschehen ist, wäre ohne eine beharrliche Vorarbeit, die hier stattgefunden hat, nicht
denkbar gewesen. An dieser Stelle muss ich an die langjährige Arbeit von Karl-Heinz Daehre und Kurt Bodewig
erinnern,
({3})
die es in einer zunächst nahezu vernagelt erscheinenden
Situation tatsächlich geschafft haben, sauber zu formulieren und zu begründen, wie der wirkliche Finanzbedarf für unsere Infrastruktur ist, herauszuarbeiten, was
an Erneuerung und an Bestandspflege für die Zukunft
notwendig ist. Das war eine Kärrnerarbeit, die von der
Öffentlichkeit kaum wahrgenommen worden ist. Herzlichen Dank, Karl-Heinz Daehre, herzlichen Dank Kurt
Bodewig!
({4})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte
ein paar Sachen zu meinen Vorrednern sagen.
Frau Wilms, Sie haben gesagt, das, was wir uns vorgenommen hätten, sei zu viel.
({5})
Ich muss Ihnen dann recht geben, wenn die zukünftige
Strategie von Ihnen weiterhin ist, alle möglichen Dinge
zu instrumentalisieren, um Infrastruktur zu verhindern.
Dann wird es in der Tat sehr schwer, das umzusetzen.
Aber ich habe die Hoffnung, dass es uns dieses Mal gelingt, die Endlosschleifen, die Sie uns in den letzten Jahren verordnet haben, mit Prozessen, die nicht zu Ende gegangen sind, und Einspruchsverfahren, die nicht zu Ende
gegangen sind, zu überwinden und dass wir tatsächlich
ans Bauen kommen. Das erwarten die Menschen, und
das werden wir mit aller Kraft versuchen.
({6})
Herr Minister Pegel, ich bin Ihnen sehr dankbar, dass
Sie das Ganze einmal aus der Sicht der ostdeutschen
Länder, insbesondere aus der Sicht des von starken Saisonverkehren geplagten, infrastrukturell dafür noch nicht
ausgerüsteten Mecklenburg-Vorpommerns, beleuchtet
haben. Ich halte das für einen ganz wichtigen Hinweis.
Seien Sie sicher: Wir werden alles unternehmen, damit
sich die Situation bei Ihnen entschärft und dass es tatsächlich eine Mobilität gibt, die dem Land angemessen
ist. Das soll für ganz Ostdeutschland gelten. Sie haben
uns in dieser Frage hundertprozentig auf Ihrer Seite.
({7})
Zu den Streichorgien, von denen Sie gesprochen haben, muss man meines Erachtens noch etwas klarstellen.
Die Antragsteller für dieses mehr an Projekten waren
Linke und Grüne. Man muss einmal zur Kenntnis nehmen: Das, was beide Parteien in den letzten Jahren hier
in Deutschland geboten haben, ist in der Tat ein Anschlag
auf die Mobilität.
Ich sage Ihnen, Frau Leidig und Herr Behrens: Wir
werden im nächsten Jahr im Wahlkampf stehen. In meinem Wahlkreis und in ganz Ostdeutschland gibt es sehr
viele, die aus alter Verbundenheit links wählen. Sie haben mir heute sehr geholfen. Ich werde Ihre Reden nur
eins zu eins abdrucken und verteilen. Das genügt, meine
Damen und Herren.
({8})
Dies wird dazu führen, dass viele von Ihren eingefleischten Anhängern zum Nachdenken kommen, worauf sie
sich einlassen,
({9})
wenn Sie derartig destruktive Politikansätze noch fördern. Das kommt für die meisten nicht infrage. Die
meisten täuschen sich nur darüber, dass eigentlich Sie
die Feinde der Infrastruktur sind und nicht die Grünen.
Den Herrschaften kann geholfen werden. Ich glaube, wir
schaffen das.
({10})
Meine Damen und Herren, mit den heute zu verabschiedenden Ausbaugesetzen sind wir natürlich noch
nicht am Ziel. Immer noch ist es so, dass wir langwierige Verfahren zur Erlangung des Baurechts haben und
dass wir teilweise in den Verwaltungen nicht die richtige
Ressourcenkonfiguration haben, um die Dinge schnell
umzusetzen. Deshalb kann es mit den heute vorliegenden
Ausbaugesetzen nicht sein Bewenden haben. Wir müssen
in dieser Angelegenheit noch wesentlich mehr tun. Wir
müssen den Ausbaugesetzen auch ein Verkehrswegesplanungsbeschleunigungsgesetz oder etwas in diesem Sinne
beifügen,
({11})
damit wir in der Lage sind, tatsächlich zügig zu bauen.
Leider ist es so, dass wir im Augenblick gerade wieder
in die entgegengesetzte Richtung gehen. Ich nenne nur
das Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz. Da soll zum Beispiel
die Präklusionsklausel gestrichen werden. Wenn das
stattfindet, dann können Einwendungen, die im Verfahren bis zu dem Zeitpunkt nicht geäußert worden sind, zu
dem die Präklusionsfrist abgelaufen ist, im Zuge des weiteren Verfahrens wieder eingebracht werden und müssen
gar in die Abwägung einfließen. Das heißt, da deuten sich
wieder Endlosschleifen an. Das darf natürlich nicht sein.
Deshalb muss auch hier etwas passieren.
Ich glaube, wir müssen auch darüber nachdenken, was
wir gegen die fortwährende Instrumentalisierung von
Tierschutz zur Verhinderung von Infrastrukturprojekten
tun können. Das Schlimmste, was man dem Naturschutz
antun kann, ist, dass man ihn für sachfremde Zwecke instrumentalisiert und damit von den Menschen entfremdet.
({12})
Wer tatsächlich dafür ist, dass Natur und Umwelt geschützt werden, der darf nicht fortwährend den Naturund Umweltschutz gegen Mobilität und gegen Bedürfnisse der Gesellschaft ausspielen. Wir müssen beides
zusammenführen, und das bedeutet: Wir brauchen Naturschutz, wir brauchen Umweltschutz, aber wir brauchen
auch eine vernünftige Infrastruktur. Wenn wir das nicht
haben, ist beides nicht mehr in Ordnung. Dann gibt es
keinen Naturschutz mehr, und es gibt auch keine wirtschaftliche Entwicklung mehr. Genau das wollen wir
nicht haben.
({13})
Wir brauchen einen Gang nach vorne und keinen Stillstand. Dafür haben wir heute einen guten Anfang gesetzt.
Vielen Dank.
({14})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen nun zu den Abstimmungen über den
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines
Sechsten Gesetzes zur Änderung des Fernstraßenausbau-
gesetzes.
Dazu liegen mir zahlreiche persönliche Erklärungen
zur Abstimmung vor, mit denen an der einen oder ande-
ren Stelle besondere Wünsche, die nicht berücksichtigt
werden konnten, oder Projekte, die realisiert werden,
obwohl man dafür keinen Bedarf sieht, noch einmal
ausdrücklich im Protokoll des Bundestages festgehalten
werden.1)
Der Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf der Drucksache 18/10524, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf den Drucksachen 18/9523 und 18/9853 in der Ausschussfassung anzunehmen.
Hierzu gibt es einen Änderungsantrag der Fraktion
Die Linke auf der Drucksache 18/10534. Wer stimmt für
diesen Änderungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Damit ist der Änderungsantrag mit den
Stimmen der Koalition abgelehnt.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer ist dagegen? - Wer enthält sich? - Damit
ist umgekehrt der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit
den Stimmen der Koalition angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zustimmen möchte, bitte ich, sich von den Plätzen zu erheben. - Wer ist dagegen? - Möchte sich jemand der
Stimme enthalten? - Damit ist der Gesetzentwurf mit den
Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition bei einer Enthaltung angenommen.
({0})
Wir stimmen nun über den Entschließungsantrag
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf der Drucksache 18/10535 ab. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der Entschließungsantrag abgelehnt.
Tagesordnungspunkt 30 b. Abstimmung über den von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Bundesschienenwegeausbaugesetzes. Der Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf der Drucksache 18/10513 ({1}), den Gesetzentwurf der Bundes-
regierung auf den Drucksachen 18/9524 und 18/9953 in
der Ausschussfassung anzunehmen.
Hierzu gibt es einen Änderungsantrag der Fraktion
Die Linke auf Drucksache 18/10536. Wer möchte diesem
Änderungsantrag zustimmen? - Wer stimmt dagegen? -
Wer enthält sich? - Damit ist der Änderungsantrag mehr-
heitlich bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen abgelehnt.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei-
chen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit
ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Diejenigen, die dem Gesetzent-
wurf zustimmen möchten, bitte ich, sich von den Plät-
1) Anlagen 2 bis 4
zen zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Damit ist der Gesetzentwurf gegen die Stimmen
von Bündnis 90/Die Grünen bei Stimmenthaltung der
Fraktion Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 30 c. Abstimmung über den von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes über den Ausbau der Bundeswasserstraßen und zur
Änderung des Bundeswasserstraßengesetzes. Der Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/10516,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 18/9527 und 18/9952 in der Ausschussfassung
anzunehmen. Diejenigen, die diesem Gesetzentwurf in
dieser Fassung zustimmen wollen, bitte ich um das Handzeichen. - Wer ist dagegen? - Wer enthält sich? - Damit
ist der Gesetzentwurf mit den Stimmen der Koalition in
zweiter Beratung angenommen.
Auch hier kommen wir jetzt zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, erheben sich bitte. - Wer
möchte dagegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist
der Gesetzentwurf mit den Stimmen der Koalition gegen
die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und
bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 30 d. Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr und
digitale Infrastruktur auf der Drucksache 18/10514. Der
Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung eines Antrags der Fraktion
Die Linke auf der Drucksache 18/8075 mit dem Titel
„Bundesverkehrswegeplan 2030 zurückziehen - Klimaschutz- und sozialökologische Nachhaltigkeitsziele
umsetzen“. Wer stimmt dieser Beschlussempfehlung
zu? - Wer stimmt gegen diese Beschlussempfehlung? Wer enthält sich der Stimme? - Damit ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalition mehrheitlich
angenommen.
Tagesordnungspunkt 30 e. Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr und
digitale Infrastruktur zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Deutschland-Takt
jetzt umsetzen - Weichen in der Bundesverkehrswegeplanung richtig stellen“. Der Ausschuss empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/10515,
den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 18/7554 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Damit ist die Beschlussempfehlung mit
den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen.
Tagesordnungspunkt 30 f. Wir kommen zurück zur
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr und
digitale Infrastruktur auf Drucksache 18/10514. Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf der Drucksache 18/8083
mit dem Titel „Den Bundesverkehrswegeplan zum Bundesnetzplan weiterentwickeln“. Wer stimmt dieser Beschlussempfehlung zu? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Auch diese Beschlussempfehlung ist mit
den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen.
Damit haben wir dieses große Paket jedenfalls für heute abgeschlossen. - Denjenigen, die alle übrigen Punkte
der Tagesordnung nicht annähernd so spannend finden,
wünsche ich noch eine gedeihliche Arbeit im Büro und
anschließend ein hoffentlich halbwegs ruhiges Adventswochenende.
Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Dörner, Kerstin Andreae, Dr. Franziska Brantner,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Familien stärken - Kinder fördern
Drucksache 18/10473
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({2})
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 77 Minuten vorgesehen. - Widerspruch
dagegen sehe ich nicht. Also verfahren wir so.
Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin
Franziska Brantner für die Antragsteller das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Sie haben den Titel unseres Antrags gerade vorgelesen: Wir wollen Familien stärken und Kinder
fördern. Familien brauchen unsere Unterstützung, und
Kinder gehören stärker gefördert.
Familie ist für uns klar dort, wo Menschen kontinuierlich Verantwortung füreinander übernehmen. Familie
ist da, wo Kinder sind - egal, ob die Eltern verheiratet
oder getrennt sind, noch nie zusammen waren oder im
Regenbogen zusammenleben. Kinder machen Familie
aus. Deshalb muss sich auch die Förderung von Familie
daran orientieren, wo Kinder sind. Das ist unsere zentrale
Aussage.
({0})
Wir haben ein drängendes Problem in Deutschland:
Mehr als 2,5 Millionen Kinder wachsen in Deutschland
in einer Familie auf, die von Armut bedroht ist oder
SGB-II-Leistungen für sich und ihre Kinder bezieht. Das
sind fast 20 Prozent. Fast jedes fünfte Kind ist also betroffen.
Diese Kinder sind nicht dabei, wenn die Freundinnen
zusammen ins Kino gehen. Sie spüren die Blicke der anderen, wenn zu Beginn des neuen Schuljahres der Ranzen
noch der aus der ersten Klasse ist. Wir wissen aus Studien, dass bei Kindern aus sozial benachteiligten Familien ein größeres Risiko besteht, dass sie erkranken, dass
diese Kinder häufiger unter psychischen Auffälligkeiten
leiden oder Opfer von Gewalt werden. Armut grenzt aus
Präsident Dr. Norbert Lammert
und tut weh; sie beeinflusst das Leben von Kindern und
auch ihr späteres Erwachsenenleben nachhaltig. Das
müssen wir ändern, liebe Kolleginnen und Kollegen, und
das können wir auch ändern. An diese Aufgabe müssen
wir uns endlich machen.
({1})
Die Bekämpfung von Kinderarmut ist daher ein prioritäres Ziel grüner Familien- und Sozialpolitik. Dabei geht
es uns um drei Bereiche: Kinder brauchen gute Bildung,
gute gesellschaftliche Teilhabe und auch genügend Geld.
Mit Blick auf den ersten Aspekt, die Bildung, kämpfen wir - das wissen Sie; das brauche ich hier nicht weiter auszuführen - schon lange dafür, dass der Bund mehr
Geld zur Verfügung stellt, auch um die Qualität der Kitas
zu steigern.
Zum zweiten Aspekt, der gesellschaftlichen Teilhabe:
Wir alle wissen, dass das Bildungs- und Teilhabepaket
nicht bei den Kindern ankommt. Denn die Inanspruchnahme ist so gering: Die Möglichkeit der Nachhilfe
nehmen nur 9 Prozent der anspruchsberechtigten Kinder
wahr. Die Möglichkeit, ein Musikinstrument zu erlernen
oder in einen Verein zu gehen, nehmen nur 21 Prozent
der Kinder in Anspruch. Dieses Teilhabepaket kommt bei
den Kindern also nicht an. Wir können es uns in diesem
Land aber nicht leisten, dass diese Kinder ausgeschlossen werden und nicht das bekommen, was ihnen eigentlich zusteht.
({2})
Wir wollen deswegen die Angebote dorthin bringen,
wo sich die Kinder aufhalten: in die Kitas und Schulen.
Die Debatten über das Kooperationsverbot bieten uns da
eigentlich eine ganz gute Chance.
Liebe Frau Brantner, darf der Kollege Patzelt eine
Zwischenfrage stellen?
Gerne.
Frau Dr. Brantner, danke schön, dass ich die Frage
stellen kann, auch wenn Sie im Text inzwischen schon
etwas weiter waren.
Ich war sehr verwirrt darüber, dass gerade Sie als Grüne, die hier für die grüne Fraktion mit entscheidender
Stimme sprechen, materielle Statussymbole sozusagen
als Kriterium oder Maßstab für den Wert von Kindern
sehen. Die Sache mit dem Ranzen hat mich sehr erschüttert. Ich habe meine Kinder so erzogen: Einen Ranzen,
der noch gut funktioniert, tragt ihr mit Selbstbewusstsein. - Sie sagen jetzt: Es wird zu einer Verunsicherung
der Kinder führen, wenn es keinen neuen Ranzen gibt. Könnten Sie sich dazu noch einmal äußern?
Herr Patzelt, das erste Beispiel, das ich genannt habe,
war: zusammen ins Kino gehen. Das ist für mich kein
Statussymbol, sondern klassische Kultur. Das gehört eindeutig dazu.
({0})
Zum zweiten Beispiel, das Sie jetzt angesprochen
haben. Ja, es ist für Kinder eine entscheidende Frage,
wie sie in ihrem sozialen Umfeld auftreten können und
was sie haben. Wir wissen, dass Armut relativ ist. Es ist
eine tief gehende Debatte, die wir in diesem Land haben. Wir müssen anerkennen, dass sich ein Kind zurückgesetzt fühlen kann, auch wenn es nicht hungern muss.
Wir als Grüne sind zutiefst davon überzeugt, dass Armut
auch davon abhängt, was im jeweiligen sozialen Umfeld
möglich ist. Daran macht sich das fest. Armut ist relativ,
und deswegen sind solche Aspekte für Kinder in unserer
deutschen Gesellschaft eine Frage der Teilhabe und des
Dazugehörens.
({1})
- Wir haben nie gesagt, dass Familien kein Geld brauchen.
({2})
Von daher: Natürlich braucht man auch eine materielle
Absicherung. Wir wären die letzten, die das verneinen
würden.
Der dritte Aspekt - jetzt komme ich zum Geld, Herr
Patzelt -: Die beste Armutsbekämpfung besteht weiterhin in der Erwerbstätigkeit beider Eltern. Wenn ein ausreichendes Einkommen nicht möglich ist, weil die Eltern
keinen Job finden, weil sie trotz Vollzeitjob zu wenig
verdienen oder auch mit mehreren Jobs zu wenig haben
oder weil nur ein Elternteil für die Familie sorgen kann,
müssen wir dafür Sorge tragen, dass die Kinder nicht
die Leidtragenden sind. Wir wollen, dass diejenigen, die
heute zu wenig haben, endlich mehr bekommen, nämlich
das, was sie brauchen.
({3})
Das bedeutet für uns zweierlei: dass erstens die Regelsätze zu erhöhen sind und dass zweitens Familien mit
geringem Einkommen verlässlich unterstützt werden und
das Existenzminimum gesichert bekommen.
Erstens zu den Regelsätzen. Darüber haben wir in
dieser Woche schon eine Debatte geführt; mein Kollege
Wolfgang Strengmann-Kuhn hat dazu etwas ausgeführt.
Kinder brauchen ihre tatsächlichen Bedarfe gedeckt. Da
ist eben auch mal ein Eis im Sommer mit dabei. Dazu
gehören die Sachen, die andere Kinder in diesem Land
auch haben.
Zum zweiten Punkt. Viele Familien arbeiten - vielleicht nur Teilzeit, vielleicht auch Vollzeit -, und es
reicht nicht, dass sie nicht in Armut leben. Dafür gibt es
eigentlich den Kinderzuschlag. Aber wir alle wissen: Der
kommt nicht an. Nur ein Drittel der Berechtigten hat den
am Ende des Monats wirklich auf dem Konto. 70 Prozent schaffen diese Hürde nicht. Sie leben de facto in
verdeckter Armut. Selbst der Kinderzuschlag deckt nicht
das sächliche Existenzminimum.
Sehr geehrte Damen und Herren, der Bund definiert
regelmäßig das Mindeste, was Kinder zum Leben brauchen. Das ist das Existenzminimum. Das ist im Steuerrecht freigestellt, aber das bekommen diese Kinder nicht.
Warum ist es so, dass es bei den einen im Steuerrecht
freigestellt wird, es bei den anderen finanziell aber nicht
ankommt? Das ist eine große Ungerechtigkeit, und die
müssen wir endlich beenden.
({4})
Wir wollen deswegen, dass alle Kinder das bekommen, was sie brauchen, nämlich mindestens das Existenzminimum - das auch automatisch und ohne Antrag,
genauso wie es bei den Freibeträgen ist. Wir wollen für
jedes Kind, das in einem Alleinerziehendenhaushalt aufwächst und dessen Elternteil nicht genügend oder gar
keinen Unterhalt bekommt, erreichen, dass man nicht
mehr permanent von Amt zu Amt laufen muss, dass es
nicht mehr die zeitliche Begrenzung gibt, die keiner mehr
nachvollziehen kann. Deswegen wollen wir das umstellen, sodass dieses Kind und der Elternteil das Geld direkt
bekommen, ohne große Anträge, und dass die Einkommensanrechnung beim unterhaltspflichtigen Elternteil
stattfindet.
({5})
Das würde Alleinerziehende echt entlasten, sowohl wenn
es um das Materielle geht, als auch wenn es um die psychische Belastung geht, um die Klagen, um den Streit.
Wir müssen da rauskommen und sagen: Wir sichern euch
eure Existenz, das gute Aufwachsen für eure Kinder. Das
ist die Verantwortung dieses Staates.
Frau Kollegin.
Dann kommen wir endlich, hoffentlich, zu einer besseren Bekämpfung der Kinderarmut. Das ist unser Ziel.
Lassen Sie es uns gemeinsam angehen. Ich freue mich
auf die Beratungen.
({0})
Das Wort erhält nun der Kollege Marcus Weinberg für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Danke schön. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Liebe Frau Brantner, es ist jetzt schon
beginnender Wahlkampf. Die Verkehrspolitiker haben
vorhin schon die ersten Vergleiche mit Weihnachten
gezogen. Das wäre auch hier passend. Ich sage einmal:
Im Dezember 2016 die ersten Anträge mit Blick auf den
Wahlkampf zu stellen, ist so wie mit den Lebkuchen im
Juni. Sie sehen an meiner Figur: Ich mag Lebkuchen im
Juni. Bei Ihrem Antrag bin ich allerdings nicht so euphorisch. Was das Verpacken angeht, wissen wir, dass auch
eine schöne Verpackung einen schlechten Inhalt haben
kann. Wir werden uns dennoch jetzt mit dem Thema befassen, weil wir bei gewissen Positionen und Zielsetzungen etwas Ähnliches definieren.
Natürlich ist das Thema „Kinderarmut in Deutschland“ ein Thema, das uns alle bedrückt, fraktionsübergreifend. Deswegen arbeiten wir gemeinsam daran, die
Situation aller Kinder zu verbessern. Familienpolitik
muss sich nachhaltig alle Bereiche anschauen. Solange
nur ein Kind in Deutschland missbraucht, misshandelt
oder vernachlässigt wird, so lange haben wir einen klaren
Arbeitsauftrag. Solange Kinder in Armut leben, haben
wir als Familienpolitiker einen Arbeitsauftrag hier im
Plenum. Das soll ein Ziel sein, gegen die Kinderarmut
gemeinsam zu kämpfen.
({0})
Aber die Wege sind durchaus unterschiedlich. Das
sieht man auch bei dem Antrag. Bekämpfung von Armut:
Was ist das Hauptziel bei der Bekämpfung von Armut?
Das Hauptziel muss doch sein, dass Eltern in die Lage
versetzt werden, ihr Leben eigenständig zu organisieren.
Das heißt, wir müssen Arbeitsplätze schaffen, und dazu
brauchen wir eine starke Wirtschaft. Das stärkt die Familien in diesem Land und damit auch die Kinder und sorgt
dafür, dass die Eltern ihre Kinder nicht nur materiell versorgen können, sondern auch psychologisch.
Sie haben das Beispiel mit dem Ranzen angesprochen.
Ja, es ist für ein Kind wichtig, dass es auch einmal einen
neuen Ranzen bekommt. Aber viel wichtiger ist für das
Kind, dass die Eltern in der Lage sind, diesen Ranzen
zu kaufen. Deswegen müssen wir gesamtwirtschaftlich
schauen, dass wir mit einer guten Wirtschafts- und Finanzpolitik die Voraussetzungen schaffen, um die Eltern
zu stärken.
({1})
- Darauf habe ich förmlich gewartet.
Na ja, das lässt mich natürlich eher zögern.
({0})
Aber wollen wir einmal nicht so sein. Bitte schön.
Herr Kollege Weinberg, vielen Dank, dass Sie die
Frage zulassen. - Sie haben gesagt: Wir müssen in erster
Linie dafür sorgen, dass die Eltern ein existenzsicherndes
Einkommen haben. Können Sie zur Kenntnis nehmen,
dass bei einem großen Teil der armen Kinder die Eltern
durchaus ein ausreichendes Einkommen haben und diese Kinder trotzdem Hartz-IV-Leistungen beziehen und
in Armut leben? Dies ist doch das eigentliche Problem,
das wir angehen müssen. Wir müssen dafür sorgen, dass
diese Kinder, deren Eltern eigentlich genug Einkommen
haben, nicht in die Grundsicherung rutschen. Das müssen
wir doch im Auge behalten. Dafür ist unser Vorschlag die
richtige Antwort.
({0})
Das ist das Thema Kindergrundsicherung. Ich komme gleich zu Ihrer Frage. - Nehmen Sie bitte zunächst
einmal zur Kenntnis, dass wir vor ungefähr zehn, elf
Jahren eine Situation in Deutschland hatten, in der fast
6 Millionen Menschen arbeitslos waren. Ich habe gestern
von dem wahrscheinlichen Kanzlerkandidaten der SPD vielleicht wird er es, man weiß es nicht - gehört, dass er
gesagt hat, es sei das wichtigste Ziel gewesen, dass wir
diese Menschen in den letzten Jahren wieder in Arbeit
gebracht haben. Mit einer Arbeitslosenzahl von 2,5 Millionen ist das deutlich besser geworden.
Damit komme ich zur Kindergrundsicherung, die ja
in Ihrem Antrag gefordert wird. Das wirft die Frage auf:
Ist sie sinnvoll, zielführend und sogar effizient? Ist sie
oberflächlich und etwas, was das Problem nur kaschiert,
oder ist sie tiefgehender, also etwas, was wir politisch
unterstützen sollten?
Wir sagen ganz klar: Es muss doch einen Grundsatz
in diesem Land geben. Die Lebenslage eines Kindes ist
untrennbar mit der Einkommenssituation der Eltern verbunden. Wir sollten nicht die Situation von Eltern auf der
einen Seite und die von Kindern auf der anderen Seite
voneinander trennen. Deswegen glaube ich: Wenn wir
darauf achten, dass die finanzielle Situation der ganzen
Familie stabil ist, ist das zum Wohlsein des Kindes.
Eine solche Leistung nur für das Kind, wenn es den
Eltern gleichzeitig finanziell schlecht geht, ist schlicht
der falsche Weg. Noch einmal: Viele Kinder warten auf
einen neuen Ranzen, aber es ist wichtig, dass die Eltern
ihn auch bezahlen. Die Idee, durch die Einführung einer Kindergrundsicherung die Entwicklungschancen von
Kindern vom sozialen Status ihrer Eltern abzukoppeln,
ist eher trügerisch. Das werden wir nicht unterstützen.
Ein weiterer Punkt - hier stimmen wir Ihnen zu - ist
die Kernforderung, die Wirtschaft zu stärken; denn das
ist die Voraussetzung für die Stärkung von Kindern. Es
geht um den Zugang zu Bildung, zu Ausbildung sowie
um den Zugang zu soziokultureller Teilhabe. Bestehende
Kinderarmut verschärft sich langfristig dadurch - auch
das wissen wir -, dass Kinder zunehmend in bildungsschwachen Haushalten aufwachsen. Zur Bekämpfung
von Kinderarmut reicht es deshalb nicht aus, den Familien nur mehr Geld in die Hand zu geben; vielmehr müssen
wir Bildungschancen eröffnen.
Lassen Sie mich einen Blick auf die Arbeit der Großen
Koalition in den letzten Jahren werfen. Was haben wir
denn gemacht?
({0})
Der Etat des Bildungsministeriums beträgt inzwischen
über 17,5 Milliarden Euro. Die Bereiche Familie und
Bildung sind finanziell gestärkt worden, der Etat ist aufgestockt worden. Das ist ein Ergebnis der Arbeit der Großen Koalition.
({1})
Es gibt die Programme „Frühe Bildung: gleiche Chancen“ und „Haus der kleinen Forscher“. Wir als Bund haben deutlich gesagt: Wir wollen, um die Bildungschancen
von Kindern gezielt zu erhöhen, diese Programme weiter
ausbauen. Wir als Bund haben Verantwortung übernommen, und wir sehen mit Blick auf den PISA-Schock von
2001, dass die Ergebnisse langsam besser geworden sind.
Daran haben auch die Länder und Kommunen gearbeitet,
auch wenn sie noch etwas mehr tun könnten. Wir müssen
in diesem Zusammenhang den Lehrern, den Erziehern
und all jenen, die im Bildungsbereich aktiv sind, danken.
({2})
Insgesamt ist festzustellen: Die Situation in Deutschland
ist besser geworden, weil wir die Probleme vor vielen
Jahren erkannt haben.
Zum Thema Unterhaltsvorschuss und zur Frage, wann
die Ausweitung kommt. Dazu drei ganz klare Botschaften von der Union:
Erstens. Die Ausweitung, so wie im Koalitionsausschuss und auf der Ministerpräsidentenkonferenz beschlossen - Frau Brantner, ich komme gleich darauf zurück -, wird kommen.
Zweitens. Beim Unterhaltsvorschuss handelt es sich
um die zielgerichtetste Maßnahme im Bereich der Familienpolitik. Wir alle sind optimistisch, dass die Ministerin
Schwesig es schaffen wird, konkrete Finanzierungsvereinbarungen mit den Ländern zu treffen.
Drittens. Ich bin weiterhin optimistisch, dass all diejenigen, die in den Ländern Verantwortung tragen, die
jeweiligen Ministerpräsidenten daran erinnern, dass sie
eine Zusage gegeben haben. Frau Brantner, Sie regieren
in zehn Ländern mit; Sie stellen sogar einen Ministerpräsidenten. Deswegen stelle ich Ihnen die Frage: Was
haben Sie innerhalb Ihrer grünen Fraktion dafür getan,
um dafür zu sorgen, dass sich Ihre Regierungsmitglieder
in den Ländern - von Hamburg bis in den Süden hinein Präsident Dr. Norbert Lammert
bereit erklären, die Ausweitung des Unterhaltsvorschusses zu unterstützen?
({3})
Ich finde es etwas schwierig, wenn man sich hier hinstellt und sagt: „Das muss aber kommen“, und der Bundesregierung den Schwarzen Peter zuschiebt, aber selbst
Verantwortung in den Ländern trägt. Da sollten Sie etwas
mehr tun.
({4})
Wir haben immer gesagt - und das ist das Letzte, was
ich zu diesem Thema sagen möchte -: Die Voraussetzung
ist, dass die Finanzierung stimmt, und auch die Umsetzung in den Kommunen muss stimmen. Frau Hajduk,
wir wissen beide aus Hamburg, wie viele Stellen das bedeuten wird. Das muss geregelt werden; denn nichts ist
schlimmer, als wenn Politik etwas verspricht, aber dieses
Versprechen später nicht halten kann.
Richtig ist, dass wir uns überlegen müssen - und auch
da haben Sie uns an Ihrer Seite -, wie wir längerfristig
mit der Schnittstellenproblematik umgehen, um ineffiziente Leistungen abzustellen. Wir müssen jeden Euro investieren, je früher desto besser. Wir müssen investieren,
statt später nur zu reparieren, gerade bei Kindern. Wir
müssen überlegen: Wie können Eltern gestärkt werden?
Was ist, wenn sie ein zusätzliches Einkommen haben?
Nimmt man ihnen das auf der anderen Seite gleich wieder weg? Jeder Mensch, der ein höheres Einkommen bezieht, muss dafür sorgen, dass das Geld auch bei den Kindern ankommt. Deshalb wird man sich genau anschauen
müssen: Wo gibt es noch Schnittstellenproblematiken,
die wir im Sinne der Familien noch auflösen müssen, um
die Freiheit der Familien zu stärken?
Das Gleiche betrifft die ineffizienten Leistungen. Wir
wollen Familien mit Kindern stärken, und wir wollen
Kinder in Familien stärken. Da haben Sie uns an Ihrer
Seite. Darüber wird man die Debatte führen müssen, insbesondere mit Blick auf die nächsten fünf bis zehn Jahre.
Wie muss ich in den verschiedenen Systemen umsteuern, damit ich ganz gezielt Kinder und Familien mit Kindern stärke? In diesem Zusammenhang muss man über
steuerliche Leistungen debattieren. Man muss darüber
nachdenken: Wie können wir Veränderungen bei der Einkommensteuer herbeiführen, sodass Kinder in Familien
gestärkt werden? Das machen wir. Wir befinden uns in
einem intensiven Diskurs, auch mit Blick auf den Wahlkampf, selbstverständlich.
Sie fordern allerdings, dass das Ehegattensplitting abgeschafft wird. Dazu sagen wir ganz deutlich: Das ist mit
der Union nicht zu machen.
({5})
Was wir überlegen, ist Folgendes: Wie können wir das
Ehegattensplitting von heute weiterentwickeln zu einem
Familienentlastungssplitting oder zu einem Familiensplitting? Kernaufgabe muss es sein, Familien mit Kindern zu stärken. Ich glaube, das wird in den nächsten Jahren eines der Hauptthemen sein, und zwar mit Blick auf
die Einkommensteuer, mit Blick auf die Freibeträge und
auch mit Blick auf die Sozialversicherungsbeiträge. Ich
denke zum Beispiel an die Pflegeversicherung, bei der
schon jetzt diejenigen, die keine Kinder haben, 0,25 Prozent mehr zahlen. Man wird schauen müssen, wie man
das Ziel „Stärkung von Familien mit Kindern“ erreichen
kann.
Man wird über viele Dinge diskutieren müssen - ich
will das nur kurz anreißen -, wenn es um die Frage geht,
wie wir Familien stärken können, wie wir sie vor Armut
schützen können. Armut drückt sich auch in den Lebensverhältnissen von Kindern aus, in den Wohnungen.
Wir wissen, welch hohe Mieten man gerade in urbanen
Gebieten zahlen muss. Wir müssen überlegen, wie wir
Familien in eine Situation versetzen können, dass sie Eigentum, dass sie eine selbstgenutzte Immobilie erwerben
können. Eine heute 30-jährige Frau mit einem 32-jährigen Mann kann momentan kaum eine Immobilie erwerben. Wenn die Familien in der Lage wären, Eigentum zu
erwerben, wäre das gut für die Familien, übrigens auch
für die Alterssicherung; denn die selbstgenutzte Immobilie, die nach 30 Jahren abbezahlt ist, kann eine Säule
der Alterssicherung sein. Ich glaube, hier haben wir noch
viel Potenzial, das wir in den nächsten Jahren heben sollten. CDU/CSU und SPD diskutieren ja gerade sehr intensiv über ein Baukindergeld und Ähnliches. Da wird man
noch einiges machen.
Ein weiteres Thema wird sein, wie Familien ihre Zeit,
diese neue goldene Ressource, besser einteilen können.
Wir werden in Zukunft sehr viel über Geld reden, über
materielle Werte. Ich verweise immer darauf, dass es
auch ideelle Werte gibt, über die wir mit unseren Kindern
sprechen müssen und die sich nicht an gewissen Zahlen
festmachen lassen.
({6})
Dabei geht es um die Einstellung zur Gesellschaft, zur
Demokratie, auch zu Themen wie Gleichberechtigung.
Vielleicht sollten wir auch im Deutschen Bundestag einmal einen Diskurs darüber führen, was unsere gemeinsamen Werte sind und wie wir sie stärken können, statt, so
wichtig das auch sein mag, in erster Linie über das Geld
zu sprechen.
({7})
Dann werden wir gemeinsam feststellen, dass wir die
Freiheiten der Familien stärken wollen. Die Freiheiten zu
stärken, heißt, Zeit zu bekommen, Zeit für Familie, aber
auch Zeit für Erwerbstätigkeit.
Fazit: Denken Sie bitte daran, dass bekanntermaßen
alles mit allem zusammenhängt. Es wird darauf ankommen, dass wir in diesem Land unsere wirtschaftliche
Stärke ausbauen; denn das ist die Voraussetzung für familienpolitische Leistungen. Wir brauchen wirtschaftliche Stärke; denn sie schafft finanziellen Spielraum.
Herr Kollege.
Marcus Weinberg ({0})
Herr Präsident, ich komme gern zum Schluss.
Nein, nicht gerne, aber unvermeidlicherweise, nicht
wahr?
Finanzieller Spielraum schafft auch Möglichkeiten für
die Familienpolitik.
Deswegen sage ich - ich komme zu den Lebkuchen
zurück -: Für Ihren Antrag, Ihren Wahlkampfantrag, ist
es noch ein bisschen früh. Trotzdem eröffnen wir gerne
die Diskussion. Wir machen es wie mit den Lebkuchen
und beenden die Sache schnell.
Danke schön.
({0})
Norbert Müller ist der nächste Redner für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Franziska Brantner hat es gesagt: Arme Kinder werden diskriminiert, sie werden ausgeschlossen, sie
haben eine schlechtere Gesundheit, sie werden häufig
schlechter ernährt, sie haben schlechtere Bildungschancen, sie haben weniger Zugang zu gesellschaftlicher Teilhabe - das ist nicht nur der Kinobesuch -, und sie bleiben
oft lebenslang arm. Wer lebenslang arm bleibt, der stirbt
auch früher, der hat eine geringere Lebenserwartung, der
ist auch im Alter arm. Das haben die Grünen im Feststellungsteil ihres Antrages alles sehr vorbildlich - wir
könnten das fast nicht besser - beschrieben. Ich finde die
Beschreibung völlig angemessen.
Ich weiß, dass das alles so ist. Die Grünen wissen,
dass das so ist. Sie wissen, dass das so ist. Die Bundesregierung weiß, dass das so ist. Das Bemerkenswerte an
dieser Debatte ist, dass wir über Kinderarmut nur reden,
wenn die Opposition das beantragt. Das zeigt, Herr Kollege Weinberg, welchen Stellenwert das für die Bundesregierung hat. Im Koalitionsvertrag gibt es keine einzige
Bezugnahme auf dieses Problem, und in dieser Wahlperiode fand nicht eine Debatte hier im Bundestag dazu statt,
bei der die Koalition eigene Vorschläge eingebracht hat,
wie sie Kinderarmut - das ist in erster Linie immer materielle Armut - beseitigen will.
({0})
Nein, das haben Sie nicht getan. Über Kinderarmut reden
wir hier nur, wenn Grüne und Linke es beantragen.
Die Wahrheit ist - der Eindruck drängt sich doch
auf -: Ihnen ist Kinderarmut im Grunde egal.
({1})
Warum ist Ihnen Kinderarmut im Grunde egal? Weil:
Wenn man über materielle Armut in den Familien reden
will, dann muss man am Ende auch über den unermesslichen Reichtum in diesem Lande, der in immer weniger
Händen konzentriert ist, reden.
({2})
Wenn wir Armut beseitigen wollen, dann müssen wir
darüber reden, wie wir an die unermesslichen Reichtümer von einigen wenigen rangehen. Auch das gehört zur
Wahrheit. Das heißt, wir müssen über eine Umverteilung
großer Vermögen reden, wenn wir Kinderarmut nachhaltig beseitigen wollen.
({3})
Der Antrag der Grünen hat einen guten Feststellungsteil. Er verbleibt bei den vier Beschlusspunkten
dann aber leider häufig auf der Überschriftenebene. Das
finde ich sehr bedauerlich. Ich habe ein bisschen den
Eindruck, dass Sie versuchen, sich möglichst wenig festzulegen. Man weiß ja nicht, ob man im nächsten Jahr
möglicherweise neue Partner hat, die sich bei der Frage,
wie man Kinderarmut zurückdrängt, auch nicht festlegen
wollen.
Sie fordern: Regelsätze für Kinder und Erwachsene
in der Grundsicherung müssen so ermittelt werden, dass
sie das Existenzminimum tatsächlich decken. Dann machen Sie das doch an Zahlen fest! Dazu gibt es diverse
Vorschläge, unter anderem die Vorschläge der Diakonie.
Diese haben wir übernommen. Folgende Beträge werden
vorgeschlagen - ich möchte sie hier nennen -: Kinder bis
6 Jahre 326 Euro, zwischen 7 und 13 Jahren 366 Euro
und zwischen 14 und 18 Jahren 401 Euro. Das sind fast
100 Euro für jedes Kind mehr, und das würde unmittelbar helfen, aus der Armut herauszukommen. Ich fordere
Sie auf: Machen Sie Vorschläge, wie Sie das sächliche
Existenzminimum der Kinder verlässlich sichern wollen.
({4})
Ihr zweiter Punkt. Sie wollen Familien mit niedrigem
Einkommen gezielt und bedarfsdeckend unterstützen.
Dafür haben wir mit dem Kinderzuschlag bereits ein gutes Instrument,
({5})
das entbürokratisiert werden muss und deutlich ausgebaut werden müsste. Kollege Rix, Sie haben völlig recht,
das haben Sie eingeführt. Aber es ist unzureichend.
({6})
Der Kinderzuschlag ist in den letzten Jahren erhöht worden, aber viel, viel zu wenig. Wir wissen: Der Kinderzuschlag ist das zentrale Instrument, mit dem wir relativ
einfach Familien, die Einkommen aus eigener Arbeit
haben, vor Hartz IV bewahren. Ich will es noch einmal
sagen: 900 000 Kinder in Deutschland leben in Familien,
in denen die Eltern aufstocken müssen. Sie gehen arbeiten - dadurch haben sie auch nicht so viel Zeit für ihre
Kinder, Kollege Weinberg -, aber sie müssen aufstocken.
Die Kinder sind deswegen arm.
Den vierten Punkt, liebe Kolleginnen und Kollegen
von den Grünen, verstehe ich nicht so ganz. Sie wollen
das Ehegattensplitting vielleicht ein bisschen abschaffen,
aber Sie wollen es für diejenigen offenhalten, die besonders davon profitieren. Sie schlagen dann eine Kindergrundsicherung vor, die man wahlweise durch die alten
familienpolitischen Leistungen, durch das Ehegattensplitting, ersetzen kann. Das Absurde an dem Ehegattensplitting, das ja Ehen fördern soll, ist, dass es folgende
Wirkung hat: Je mehr Kinder in einer Ehe geboren werden, desto geringer ist die steuerliche Entlastung aus dem
Ehegattensplitting. Das Ehegattensplitting ist ein zentrales Instrument, um zu verhindern, dass in Ehen Kinder
geboren werden.
({7})
Denn die steuerliche Entlastungswirkung wird geringer,
je mehr Kinder in Familien, deren Eltern verheiratet sind,
geboren werden.
({8})
Das ist als familienpolitische Leistung doch völlig irre.
Auch ich bin dafür, dass wir das beseitigen und durch
eine sinnvolle Kindergrundsicherung ersetzen.
({9})
Ich will zu den Forderungen der Linken kommen, weil
wir nicht nur meckern wollen, sondern auch Vorschläge unterbreiten, die wir für finanzierbar und für sinnvoll
halten.
Erstens. Die Grünen haben angesprochen - das finde
ich auch richtig -, dass die Leistungen für alle Kinder
gleich hoch sein sollen. Das heißt, die steuerliche Entlastungswirkung für jemanden, der von Kinderfreibeträgen
profitiert, also wir zum Beispiel, die wir Kinder haben,
muss mindestens genauso deutlich ausfallen wie das Kindergeld. Demnach ist ein Kindergeld von etwas mehr als
190 Euro für das erste Kind zu niedrig.
({10})
Ab 1. Januar 2017 würde das angesichts der aktuellen
Kinderfreibeträge 328 Euro Kindergeld bedeuten. Das
klingt nach fürchterlich viel mehr, aber das hilft unmittelbar allen Familien, die durchschnittliche und geringe
Einkommen haben. Selbst Familien mit etwas überdurchschnittlichen Einkommen hilft dies deutlich.
({11})
Zweitens. Wir müssen die Regelbedarfssätze sofort
und deutlich erhöhen. Die Zahlen habe ich Ihnen genannt. Vor allen Dingen muss Schluss sein mit den Manipulationen bei den Regelbedarfssätzen.
({12})
Es sind noch drei Wochen bis Weihnachten. Dass man
Kindern, die von Hartz IV leben, bei der Berechnung der
Regelbedarfssätze auch noch den Weihnachtsbaum herausrechnet, ist keine besonders christliche Politik.
({13})
Diese Kritik müssen Sie sich gefallen lassen. Die Manipulation der Kinderregelbedarfssätze muss aufhören. Es
kann nicht sein, dass man alle möglichen Punkte von den
Malstiften über das Eis im Sommer bis zum Weihnachtsbaum im Dezember herausrechnet.
Wir wollen den Unterhaltsvorschuss ausweiten. Das
will auch die Bundesregierung. Es scheitert an der CDU/
CSU-Fraktion. Wir wollen den Kinderzuschlag entbürokratisieren, und wir wollen, dass Leistungen aus einer
Hand gewährt werden. Wir werden in der nächsten Sitzungswoche einen konkreten Vorschlag unterbreiten, wie
das praktisch aussehen kann. Denn es ist für die Familien
eine Zumutung, für das Kindergeld zu den Arbeitsämtern
zu gehen, für die Grundsicherung zu den Jobcentern zu
gehen und für Sonderbedarfe zu anderen Ämtern zu gehen usw. usf. Das überfordert Familien, und das hilft am
Ende auch nicht.
({14})
Ich komme zum Schluss. Ich will noch einen letzten
Gedanken ansprechen. Herr Kollege Patzelt, es hat mich
wirklich betroffen gemacht, wie Sie das Thema vorhin
angesprochen haben. Sie waren Oberbürgermeister von
Frankfurt/Oder. Das ist eine Stadt in Brandenburg, in
der unglaublich viele Menschen ziemlich arm sind, vor
allen Dingen Kinder. In Schleswig-Holstein - auch dort
gibt es solche Städte - wurde vor nicht allzu langer Zeit
eine Studie durchgeführt. Man hat geschaut, was Familien für den Schulbedarf ausgeben. Die durchschnittliche Summe, die eine durchschnittliche Familie für ein
Schuljahr ausgibt, lag bei 1 500 Euro. Eine Familie, die
von Hartz IV lebt, bekommt für ihr Kind 100 Euro für
den Schulbedarf als Sonderbedarf: 70 Euro zu Beginn
des Schuljahres und 30 Euro zum Halbjahr. Familien, die
ein etwas besseres Einkommen haben, geben aber durchschnittlich 1 500 Euro aus; denn es ist nötig. Das zeigt,
wie Bildungsungerechtigkeit funktioniert. In diesem Bereich können wir auf Bundesebene unmittelbar wirken.
Wir müssen auch nicht auf die Länder warten, um sicherzustellen, dass die Kinder, die in die Schule gehen,
für die die Schulpflicht gilt, gleichgestellt werden. Sie
sollten die gleichen Möglichkeiten haben, guten Unterricht zu erhalten, aber auch die Unterrichtsausstattung,
die sie von zu Hause mitbringen, muss gleich gut sein.
Vielen Dank.
({15})
Norbert Müller ({16})
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Susann Rüthrich
für die SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wenn wir von Kindern und Familien sprechen,
haben wir meistens Bilder im Kopf, naheliegenderweise
der eigenen Familie. Wir alle, die wir hier sitzen, betrachten Familien oft aus unserem Blickwinkel. Das ist der
Blickwinkel von Erwachsenen: von Eltern, von Großeltern, von Tanten und Onkeln - nicht der von Kindern.
Das ist das Grundproblem dabei, wenn es darum geht,
Kinder wirklich zu stärken: über Kinder sprechen, aber
nicht mit ihnen, von der eigenen Perspektive ausgehen
statt von der der Kinder, von Kindern nur als „unsere Zukunft“ zu sprechen und dabei zu übersehen, dass sie jetzt
schon da sind und jetzt eigene Rechte und Bedürfnisse
haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Kinder sind eigenständige Persönlichkeiten. Wir wollen ihre Rechte endlich verbindlich und einklagbar festschreiben, und zwar
im Grundgesetz.
({0})
Dafür hat sich die Justizministerkonferenz erst vor wenigen Tagen ausgesprochen. Lieber Herr Lehrieder,
ich freue mich sehr darüber, dass sich jetzt auch Herr
Seehofer - genau wie andere prominente Menschen aus
der Union - offen dafür zeigt; denn es liegt nur noch an
Ihrer Fraktion, die die Mehrheit dafür blockiert.
Sie sagen aber auch: Nur davon wird sich das Leben
der Kinder in Deutschland noch nicht ändern. - Stimmt.
Aber wir haben dann die Verpflichtung, die notwendigen
Veränderungen umzusetzen, die Perspektive zu wechseln
und so die Kinder selbst bei den Dingen, die sie betreffen, in den Mittelpunkt zu stellen.
({1})
Der vorliegende Antrag geht auf einen Teilaspekt ein,
nämlich den der Kinderarmut. Blicken wir also einmal
nur auf die materielle Seite. Es gibt zweifelsohne viel zu
tun. Ein reiches Land, in dem Kinder arm sind, das ist um es deutlich zu sagen - peinlich. Es ist vor allem unnötig. Doch auch in diesem Antrag steht nicht das Kind im
Zentrum, sondern es sind wiederum die Eltern. Das lese
ich aus Sätzen wie: „Das beste Mittel gegen Kinderarmut
bleibt nach wie vor die Erwerbstätigkeit beider Eltern.“
Das klingt logischer, als es ist.
Wenn wir Kinderarmut wirklich abschaffen wollen,
gilt es, die vielen Stellschrauben in den Blick zu nehmen. Sie sind alle benannt worden. Jede Verbesserung
in jedem der Bereiche freut uns. Mein Problem dabei ist
folgendes: Nach all den mühsam erkämpften Verbesserungen im Einzelnen sind die meisten der armen Kinder
immer noch arm - und deren Familien auch. Um es ganz
offen zu sagen: 2 Euro Kindergelderhöhung kosten eine
ganze Menge Geld, aber die armen Kinder sind danach
immer noch arm. Ich finde, kein Kind in Deutschland
darf arm sein, und keine Familie darf durch ihre Kinder
arm werden.
({2})
Genau hier setzt das Konzept der Kindergrundsicherung an.
({3})
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Grünenfraktion, nennen den Begriff, meinen damit aber nur die
finanziellen Leistungen, die dann anders an Familien
ausgereicht werden. Das ist zu kurz gesprungen.
({4})
Die SPD Sachsen, aus der ich komme, hat sich für den
Ansatz ausgesprochen, wie er von vielen Verbänden im
Bündnis Kindergrundsicherung vorgeschlagen wird.
({5})
Kurz gefasst: Jedes Kind bekommt die Leistungen, die
es automatisch über die Armutsschwelle hebt. Die Situation der Eltern zu verbessern, Mindestlohn, Vereinbarkeit
von Familie und Beruf, Elterngeld - all das ist weiter nötig. Aber alles, was das Kind selbst braucht, um nicht in
Armut zu leben, bekommt es auch.
Der derzeitige Wert der Armutsschwelle liegt bei etwas unter 800 Euro. Das ist das Mindestniveau der Kindergrundsicherung. Der Clou daran ist: Das Geld wird
zur einen Hälfte als Einkommen an die Familien gegeben
und fließt zur anderen Hälfte in Strukturen, die ein Kind
braucht, um gut aufzuwachsen. Das hilft jedem Kind und
jeder Familie - jeder.
Die Einkommensseite hilft vor allem den Einkommensschwachen mehr, da sie durch weniger Steuern
mehr oder alles behalten. Die strukturelle Seite würde
bedeuten: Kein Kind ist darauf angewiesen, dass seine
Eltern etwas beantragen und Behörden dies bewilligen,
sondern ein Kind geht zum Mittagessen in die Schule,
nutzt den Bus, geht in den Sportverein, nimmt Nachhilfe
in Anspruch - alles das können sich bedürftige Familien
auch jetzt einzeln fördern lassen, dann aber rechnet der
Anbieter die erbrachte Leistung ab -, fertig. So weit die
Idee.
Ich höre schon die Einwände. Es fängt beim Begriff
an: „Grundsicherung“ klingt wie „Grundeinkommen“. Nein, das heißt es für mich nicht. Der Unterschied ist:
Kinder können eben nicht selbst aus ihrer Armut herauskommen. Deren Armut kann nie durch eigene Leistung
behoben werden. Das ist für mich der zentrale Aspekt,
wenn es darum geht, wirklich vom Kind aus zu denken.
({6})
Ein weiterer Einwand lautet: Ja, aber was soll denn
das kosten? - Stimmt, das müsste man einmal durchrechnen, aber bitte unter Beachtung dessen, dass auch Kinderarmut kostet: die Kinder Lebenschancen und die Familien Kraft und Zeit. Die Folgen dessen schultern wir
dann alle.
Ja, das wäre ein Systemwechsel. So etwas geht nie
von heute auf morgen. Er könnte aber jetzt anfangen, und
zwar mit einem anderen Verständnis davon, was wir Kinderarmut nennen und wie wir sie bekämpfen, nämlich bei
den Kindern direkt. Wir können bereits jetzt in Strukturen investieren und diese jedem - wirklich jedem - Kind
zur Verfügung stellen. Wir können schon jetzt ein gestaffeltes - und damit für die Ärmsten ein höheres - Kindergeld einführen.
({7})
Dann ist der Sprung, das System der Leistungen für die
Kinder umzustellen, gar nicht mehr so groß. Ob es dann
„Kindergrundsicherung“ oder anders heißt, soll mir egal
sein. Hauptsache, kein Kind in Deutschland ist mehr arm.
Vielen Dank.
({8})
Als nächster Redner hat Markus Koob für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Bürgerinnen und Bürger! „Familien stärken - Kinder fördern“, das ist eine Aussage, die sicherlich jeder
hier in diesem Haus gerne unterschreibt.
({0})
Dennoch hätte es aus unserer Sicht, aus Sicht der Union, dieses Antrags nicht bedurft. Ich möchte Ihnen auch
gerne inhaltlich sagen, warum wir dieser Meinung sind.
Auch ohne die Grünen wurde der Etat des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend seit
dem Amtsantritt unserer Bundeskanzlerin im Jahr 2005
um knapp 100 Prozent erhöht, also nahezu verdoppelt.
({1})
Er beläuft sich dank der unionsgeführten Bundesregierung auf mittlerweile 9,5 Milliarden Euro.
({2})
Diese beeindruckende Steigerung beruht wesentlich darauf, dass wir neue Leistungen für die Familien in unserem Land eingeführt haben, die sich großer Beliebtheit
erfreuen.
({3})
Die Einführung des Elterngeldes und des Elterngeldes Plus hilft den Eltern, intensiver und vor allem abgesicherter als zuvor die ersten Lebensmonate ihrer Kinder
aktiv mitzuerleben. Die stetig steigenden Mittel - im
kommenden Haushalt belaufen sie sich auf 6,4 Milliarden Euro - zeigen die Beliebtheit des Elterngeldes und
vor allem, dass die bestehenden Familienleistungen wirken. Die Familien werden entlastet.
({4})
In Deutschland kommen wieder mehr Kinder zur
Welt. Durch die Partnerschaftsmonate lassen sich sukzessive auch mehr Männer in die Pflicht nehmen, das
eigene Familienleben genießen zu dürfen. Das ist ein absoluter Erfolg und eine große Entlastung für die Familien
in unserem Land. Dafür hat die Koalition gerne die Verantwortung getragen.
({5})
Darüber hinaus gibt es weitere Verbesserungen, die
wir als Familienpolitikerinnen und Familienpolitiker in
dieser Legislaturperiode auf den Weg gebracht haben und
die explizit auch Familien mit niedrigem Einkommen zugutekommen. So haben wir bereits vor einigen Wochen
den Entlastungsbetrag für Alleinerziehende deutlich, um
ein Drittel, auf 1 908 Euro erhöht.
({6})
Dieser Umstand kommt auf keiner der sieben Seiten Ihres Antrages auch nur mit einer Silbe vor. Ihre Aussage:
„Doch seit Jahren tut sich nichts“, ist deshalb schlicht
falsch. Sie stimmt aber auch in anderen Bereichen nicht.
Erst gestern haben wir das Kindergeld, den Kinderzuschlag und den Kinderfreibetrag erneut angepasst.
({7})
Niemand in diesem Haus wird dabei eine Erhöhung des
Kindergeldes um 2 Euro - isoliert betrachtet - als einen
großen Wurf ansehen; auch wir in der AG Familie sehen
hier deutlich Luft nach oben. Aber das ist ja auch nur
eine der Leistungen, die wir erhöht haben. Gemeinsam
mit dem Ausgleich der kalten Progression haben wir die
Familien in Deutschland in dieser Wahlperiode um fast
25 Milliarden Euro bis zum Jahr 2018 entlastet.
({8})
Der Unterhaltsvorschuss wird in dieser Legislatur ebenfalls ausgebaut werden, wenn auch die Länder mit grüner
Regierungsbeteiligung - ich habe hier die Zahl elf stehen; Markus Weinberg sprach von zehn ({9})
- da müssen wir vielleicht noch einmal nachzählen - zu
ihrer finanziellen Verantwortung stehen. Denn es liegt
nicht, wie von Ihnen behauptet, an der Bundesregierung,
die die Finanzierung nicht geklärt hätte, sondern an den
Bundesländern, die sich plötzlich nicht mehr an ihre Zusagen erinnern können oder wollen.
({10})
Anders als in Ihrem Antrag behauptet, liegt dieses
Vorhaben meiner Bundestagsfraktion sehr am Herzen.
({11})
Wir wissen um die bemerkenswerte Leistung von Alleinerziehenden. Auch ich habe in meinem Freundes- und Bekanntenkreis eine ganze Reihe alleinerziehender Mütter,
vor denen ich meinen Hut ziehe. Alleinerziehende sind
in vielfacher Hinsicht Leistungsträger in unserer Gesellschaft. Neben Kindererziehung und Haushalt gehen sie
häufig noch einer zeitintensiven Erwerbsbeschäftigung
nach und versuchen, die eigene Familie damit selbst zu
versorgen. Das ist eine alltägliche Höchstleistung. Deshalb werden wir den Unterhaltsvorschuss ausbauen,
wenn alle Beteiligten die Verantwortung für ihren Anteil
übernehmen. Der Bund steht zu seiner Zusage.
({12})
Die von mir genannten familienstärkenden Maßnahmen alleine sind nicht die einzig relevanten. Ich gebe Ihnen recht, wenn Sie eine konsequentere und intensivere
Auseinandersetzung mit der Evaluation der ehe- und familienpolitischen Leistungen fordern. Aber eine Forderung daraus wurde sehr konsequent in politisches Handeln umgesetzt: der Ausbau der Kinderbetreuung.
Die Unterstützung der Länder beim Ausbau der Kinderbetreuungseinrichtungen hat den Bund trotz eigentlicher Länderkompetenz ein Vermögen gekostet; es ist
zwar sehr gut angelegt, aber es ist dennoch ein Vermögen. Der Bund hat sich mit knapp 6 Milliarden Euro am
Ausbau beteiligt. Ab 2017 beteiligt er sich zudem mit
knapp 1 Milliarde Euro an den Betriebskosten dieser
Kindertageseinrichtungen. Davon profitieren nicht nur
die Kinder erwerbstätiger Eltern, sondern auch Kinder
erwerbsloser Eltern.
Sie kreieren daher in Ihrem Antrag meiner Meinung
nach ein vollkommen falsches und darüber hinaus düsteres Bild der deutschen Familienpolitik und tragen damit
auch zur Verunsicherung in unseren deutschen Familien
bei. Hören Sie auf, Errungenschaften, die es durch die
Union in den vergangenen elf Jahren in der deutschen
Familienpolitik gegeben hat, kleinzureden und Reformen
als überfällig zu brandmarken! Noch nie wurde so viel
Geld in Familien investiert wie heute.
({13})
Das sollten Sie zunächst einmal anerkennen, bevor Sie
nach immer mehr rufen.
({14})
Sicher gibt es Stellschrauben, an denen gedreht werden kann. Die Notwendigkeit milliardenträchtiger Reformen zu sehen, ist grundsätzlich legitim. Aber dann müssen Sie auch sagen, wer diese Milliarden finanzieren soll.
Das tun Sie an keiner Stelle. Das ist nicht seriös und trägt
nicht zur Umsetzung einer bedarfsorientierten Familienpolitik bei.
Auch insgesamt war nicht jede Debatte, die in der
Vergangenheit dazu geführt wurde, der Sache dienlich.
Es hilft weder, die Probleme von Armut und Armutsgefährdung zu verneinen - denn es gibt sie -, noch hilft es,
vorhandene Maßnahmen zu deren Vermeidung zu verschweigen.
Herr Koob, lassen Sie eine Zwischenfrage von Herrn
Müller zu?
Nein. - Wenn Sie in Ihrem Antrag von einem alten
Schulranzen oder nicht finanzierbaren Malstiften schreiben, dann verschweigen Sie, dass es genau hierfür das
Bildungs- und Teilhabepaket gibt.
({0})
Über die Frage, ob wir es besser und weniger bürokratisch gestalten können, können wir gerne reden. Da reiche ich Ihnen die Hand. Sie aber bringen das Kunststück
fertig, es in Ihrem Antrag mit keinem Wort zu erwähnen.
Deswegen ist es gut, dass Sie es wenigstens in Ihrer Rede
erwähnt haben.
({1})
Wir haben in dieser Woche auch viel über das Existenzminimum und dessen Berechnung im Deutschen
Bundestag debattiert, vor allem in der gestrigen Debatte
zur Berechnung der Regelsätze. Die Einschätzung von
Bündnis 90/Die Grünen und den Linken dazu kann man
teilen; man muss es aber nicht.
Überhaupt werden viele sehr real bestehende Ungleichheiten in unserem Land durch eine Umverteilung
mindestens verringert. So vergessen Sie zu erwähnen,
dass Deutschland unter den G-20-Staaten die geringste
gesellschaftliche Ungleichheit hat. Denn bereits heute
sorgen zahlreiche sozialpolitische Maßnahmen dafür,
dass Ungleichheit durch monetäre Umverteilung stark
reduziert wird. Das ist ein Erfolg, und es ist auch notwendig.
Wenn wir über die Förderung von Familien und Kindern reden, dann dürfen wir aber nicht nur über die finanzielle Förderung reden. In Ihrem Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen, gehen
Sie nur kurz, aber völlig zu Recht auch auf die Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen ein. Sie sprechen
von den nicht ausreichenden, aber sichtbaren Verbesserungen seit der PISA-Studie im Jahr 2000.
Tatsächlich sind bessere Bildungschancen für Kinder
und Jugendliche gerade aus einem sozial schwierigen
Umfeld eine Aufgabe für uns alle, an der wir arbeiten
müssen. Ich hoffe daher auch, dass Sie die richtigen
Schlüsse daraus ziehen, dass der grünen Bildungspolitik in Baden-Württemberg, Ihrem Stammland, jüngst ein
desaströses Zeugnis ausgestellt worden ist. Vom - im
wahrsten Sinne des Wortes - Musterschüler Deutschlands ist nach wenigen Jahren nicht mehr viel übrig.
Aber ich bin mir sicher, dass dieser Trend nun gemeinsam mit der baden-württembergischen CDU wieder
umgekehrt werden kann. Ich sage das ohne Häme; denn
ich komme selbst aus einem Bundesland, in dem CDU
und Grüne sehr erfolgreich regieren, und ich glaube, das
ist wirklich eine Aufgabe, der wir uns gemeinsam stellen
müssen.
({2})
Auch auf einem anderen Feld wollen wir als Union
in den nächsten Jahren Familien stärken. Vor allem kinderreiche Familien haben zunehmend Schwierigkeiten,
geeigneten Wohnraum zu finden. Gleichzeitig haben
wir in Deutschland eine sehr viel niedrigere Quote von
Wohneigentümern als andere europäische Länder. Wir
wollen beide Aspekte zum Anlass nehmen, um Familien
den Erwerb von Eigentum zu erleichtern, um damit auch
einen wichtigen Beitrag zu einer breit aufgestellten Altersvorsorge zu leisten.
Wir haben daher in der AG Familie beschlossen, dass
wir uns für ein Baukindergeld einsetzen werden, um Familien mit einer starken finanziellen Unterstützung seitens des Staates die Chance zu eröffnen, Wohneigentum
zu erwerben.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/
Die Grünen, ich weiß, dass Sie es in Ihrem Antrag mit
den Kindern, den Eltern und den ganzen Familien in
Deutschland gut meinen. Das wäre auch vonseiten der
Unionsfraktion durchaus unterstützenswert, wäre da
nicht der Haken, dass Sie mit keiner Silbe erwähnen, wer
für die Verwirklichung Ihrer Wünsche zahlen muss.
Man kann dieser Koalition aus Oppositionssicht vielleicht so einiges vorhalten, aber ihr vorzuwerfen, dass sie
bei der Unterstützung von Familien und der Förderung
von Kindern untätig geblieben wäre, ist nicht fair:
({4})
Kinderfreibetrag, Kinderzuschlag, Kindergeld, Entlastungsbetrag für Alleinerziehende, Kitaausbau, Unterhaltsvorschuss - das sind nur einige Maßnahmen. All
diese kosten sehr viele Milliarden Euro, von denen wir
der Meinung sind, dass sie notwendig sind und dass sie
wirken.
Vielleicht sind das für Sie noch nicht genügend Milliarden Euro. Es ist durchaus legitim, dass Sie fordern,
hier mehr Geld einzusetzen. Dann müssen Sie aber auch
sagen, woher es kommen soll.
({5})
Wir würden mit Zitronen handeln, wenn wir den Kindern und Jugendlichen von heute in der Zukunft höhere
Zahlungen aufbürden würden. Das wäre aber der Fall,
wenn wir keine gemeinsame Lösung fänden, um das zu
finanzieren.
Ich glaube, das wäre für Familien in keiner Weise
nachhaltig. Das ist aber der Ansatz, den wir als Union
verfolgen. Deshalb können wir als Union den Weg, den
Sie in Ihrem Antrag aufzeigen, nicht mitgehen. Ich freue
mich aber dennoch auf die Beratungen im Ausschuss;
denn viele Punkte sind durchaus diskussionswürdig und
auch von unserer Seite zu unterstützen.
Herzlichen Dank.
({6})
Jörn Wunderlich für die Fraktion Die Linke hat als
Nächster das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ja, der vorliegende Antrag ist im Grunde erforderlich.
Das heißt, eigentlich brauchen wir den Antrag nicht, aber
auf der anderen Seite muss man sagen: Wir brauchen
solche Anträge, um das Thema auf die Tagesordnung zu
setzen, weil es hier sonst nicht debattiert wird.
({0})
Das ist der erste Punkt.
Der zweite Punkt. Ich hab mir den Antrag durchgelesen und gedacht: Der Feststellungsteil ist sehr schön Frau Brantner, auch Sie haben es hier dargestellt -, etwa
die Sache mit dem Schulranzen, dem Kinobesuch und
der Darstellung der Situation im Land.
({1})
- Mein Gott, hören Sie doch einmal zu. Sie müssen nicht
immer gleich reingrätschen.
({2})
Aber was ist mit den Forderungen? Sie sind nicht konkret. Den Teil mit den Forderungen könnte man in einem
Satz zusammenfassen: Wir wollen die Teilhabe von allen
Kindern und ihren Eltern sicherstellen.
({3})
Sie sollen das bekommen, was sie brauchen. - Dabei benennen Sie keine konkreten Lösungen, die wir brauchen.
Herr Müller hat schon richtig gesagt: Das ist alles ein
bisschen schwammig. Das gilt besonders im Hinblick auf
mögliche Koalitionen, die bisher aber noch nicht konkret
sind.
({4})
Herr Weinberg, Sie sagen: Kinderarmut muss gemeinsam bekämpft werden, und wir müssen für ein gutes Einkommen der Eltern sorgen. - Es ist richtig: Kinderarmut
hängt mit der Armut der Eltern zusammen. Aber warum
macht die Regierung dann nichts in dieser Richtung?
({5})
Der Mindestlohn ist nach wie vor zu gering. Es heißt
bei Ihnen immer: Wir haben die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse gesteigert.
({6})
- „Sehr gut“, da kommt es schon wieder. - Aber Sie begreifen das nicht. In manchen Familien hat der eine Elternteil zwei oder drei Jobs, weil die Familie mit dem
Einkommen von einem Job nicht über die Runden käme;
denn die Zahl der Lohnleistungen im Land ist nicht gestiegen.
Schauen wir uns das an: Seit 2005 regiert die CDU. Es
heißt ja immer: die CDU-geführte Koalition. Seit 2005 CDU-geführte Koalition! - ist die Zahl der armen Kinder
nicht gesunken. Jetzt sagen Sie - Herr Koob, auch Sie
haben hier eine wunderbare Liste vorgelesen -, was Sie
alles geleistet und gemacht haben, um Kinderarmut zu
bekämpfen.
({7})
Da kann man nur sagen: Wenn die Regierung in elf Jahren so viel leistet, aber die Zahl der armen Kinder steigt,
statt zu sinken, dann ist das absolutes Regierungsversagen. Das, was Sie gemacht haben, ist völlig in die Hose
gegangen.
({8})
900 000 Kinder in Deutschland leben in Familien,
die aufstockende Leistungen beziehen: 900 000 Kinder.
Es ist schon gesagt worden: Der Kinderzuschlag ist ein
wichtiges Mittel. Das muss ausgebaut werden, das kann
effektiver gestaltet werden, das muss vereinfacht werden.
({9})
Nur ein Drittel der Berechtigten macht ihre Ansprüche
geltend. Die Beantragung muss viel einfacher geregelt
werden.
({10})
Dann heißt es von Ihnen: Wir, die CDU-geführte Koalition, haben die Mittel im Bildungsetat erhöht. - Toll!
Das ist ein Forschungsetat. Das hat mit Kinderarmut
weiß Gott nichts zu tun.
({11})
Ein Wort zur Reform des Unterhaltsvorschussgesetzes. In diesem Zusammenhang werden schwere Vorwürfe gegenüber der Regierung erhoben, weil das Verfahren
mit den Ländern nicht abgesprochen sei. Auf das Thema Unterhaltsvorschuss kommen wir noch im Laufe des
Tages zu sprechen, aber hier ist zu sagen: Der Vorwurf
ist nicht an die Regierung zu richten. Nein, er ist an die
Koalition zu richten, an die CDU-geführte Koalition, und
zwar ausschließlich an den CDU-Teil, der das Ganze ausbremst.
({12})
Das wäre gerade im Hinblick auf die 900 000 Kinder, die
in Familien leben, die aufstockende Leistungen beziehen,
ein wichtiges Instrument, um sie aus dieser Hartz-IV-Falle wieder herauszuholen; dazu sage ich nachher noch etwas. Aber daran sieht man wieder einmal, wie wichtig
Ihnen das Thema ist.
Jetzt kann Herr Weinberg wieder „Eierkopp“ wie das
letzte Mal rufen. Das ist mir egal. Herr Weinberg, solche
Zwischenrufe ändern nichts an den Fakten und Tatsachen, auch wenn Sie postfaktisch leben wollen.
({13})
Seit 2005 hat sich an der Kinderarmut hier in diesem
Land nichts verbessert. Darauf kann die CDU-geführte
Regierung - egal ob mit SPD oder FDP - nicht stolz sein.
Im Koalitionsvertrag mit der FDP stand damals noch:
„Wir werden“ den Unterhaltsvorschuss ausbauen, und
zwar auf 14 Jahre. - Dort steht also nicht: „Wir wollen“,
oder: „Wir möchten“.
({14})
- Sie bremsen im Moment doch nur! Hören Sie doch auf!
({15})
Damals haben Sie nichts umgesetzt. Wir werden? Wir
wollen? Wir möchten noch nicht einmal: Das ist doch
Tatsache!
Danke für die Aufmerksamkeit.
({16})
Gülistan Yüksel hat als nächste Sprecherin für die
SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Danke schön. - Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und
Herren auf den Tribünen! Eine glückliche Kindheit ist eines der schönsten Geschenke, die wir zu vergeben haben.
({0})
- Es wäre schön, wenn Sie mir auch zuhören würden,
Herr Lehrieder. Danke. - Damit Eltern ihren Kindern
dieses Geschenk machen können, müssen Staat und Gesellschaft auf ihre Bedürfnisse eingehen.
Familien brauchen Zeit: Zeit für sich, ihre Kinder,
aber auch für ihren Beruf oder die Pflege von Angehörigen. Familien brauchen auch Angebote. Sie brauchen
eine gut funktionierende, verlässliche und flexible Infrastruktur an Bildungs- und Betreuungsangeboten,
({1})
die ihren individuellen Bedürfnissen gerecht wird. Familien brauchen finanzielle Absicherung, Stabilität und
Sicherheit.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt immer etwas zu tun. Wir sind nie fertig mit unserer Arbeit für ein
besseres und gerechteres Leben in unserem Land, für ein
solidarisches und gleichberechtigtes Miteinander, für ein
gutes Aufwachsen und gesellschaftliche Teilhabe, für
Chancengleichheit bei der Bildung.
Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten wollen die Familien in ihrem Alltag unterstützen und ihnen
die Freiheit ermöglichen, ihr Leben nach ihren eigenen
Vorstellungen zu gestalten.
({2})
Das ist das Ziel unserer modernen Familienpolitik.
Wir haben in den letzten Jahren bereits viel für die
Familien und ihre Kinder in unserem Land auf den Weg
gebracht. Wir bieten Zeit, zum Beispiel mit der Familienpflegezeit, die eine bessere Vereinbarkeit von Familie
und Beruf fördert und zudem ermöglicht, sich mehr um
pflegebedürftige Angehörige zu kümmern, oder mit dem
Elterngeld Plus, welches es Eltern erlaubt, sich partnerschaftlich um Haushalt, Kinder und Beruf zu kümmern.
Wir machen Angebote, indem wir mehr in den Ausbau und die Qualität der Kinderbetreuung investieren.
So setzen wir als Bund 2017 und 2018 rund 2,5 Milliarden Euro ein, zum Beispiel für Investitionsprogramme,
Programme wie „KitaPlus“ und „Sprach-Kitas“. Damit
schaffen wir gute Startbedingungen und befördern wir
Chancengleichheit von Beginn an.
({3})
Wir sorgen dafür, dass kein Kind zurückgelassen wird.
Wir unterstützen finanziell: mit Elterngeld, Kindergeld
und Kinderzuschlag - Geld, das direkt bei den Familien
und den Kindern ankommt. Trotzdem können Notlagen
entstehen.
Wenn der Partner oder die Partnerin keinen Unterhalt
zahlt, reicht das Einkommen für die Familie oft nicht
aus. Genau hier muss der Staat besondere Unterstützung
leisten. Deshalb weiten wir den Unterhaltsvorschuss aus.
Die bisherige Höchstbezugsdauer wird aufgehoben, und
der Vorschuss wird nun bis zur Volljährigkeit gezahlt.
({4})
Dafür haben wir uns lange eingesetzt; denn gerade Alleinerziehende sind oft - Sie haben es ja erwähnt - von
Armut betroffen.
Nun sind wir auf der Zielgeraden. Bei der Umsetzung
dürfen wir jetzt nicht vor administrativen oder finanziellen Hürden kapitulieren.
({5})
Ich finde, Hürden, die einem guten Familienleben im
Weg stehen, müssen aus dem Weg geräumt werden.
Wichtig ist, dass wir alle an einem Strang ziehen - für
die Familien und die Kinder.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind auf einem
guten Weg, aber dieser Weg ist noch lange nicht zu Ende.
Wir als SPD werden uns auch weiterhin für die Familienarbeitszeit einsetzen. Mütter und Väter sollen sich
Familien- und Erwerbsarbeit besser als bisher partnerschaftlich aufteilen können. Wir wollen eine gerechtere Besteuerung von Familien. Steuerliche Entlastungen
sollten weniger einen Trauschein, sondern vielmehr das
Zusammenleben mit Kindern berücksichtigen.
Was wir neben all den Leistungen und Angeboten
brauchen, ist eine familien- und kinderfreundliche Gesellschaft, eine Gesellschaft, in der Familie und Kinder
nicht als zeitliches Problem oder Störfaktor, sondern
immer als eine Bereicherung für unsere gesamte Gesellschaft wahrgenommen werden. Lassen Sie uns nicht
vergessen: Glückliche Kinder sind eines der schönsten
Geschenke für die Eltern und für die Gesellschaft.
Herzlichen Dank.
({6})
Als nächste Rednerin hat Lisa Paus für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Bürgerinnen und Bürger! Ich bin heute Morgen wie
immer mit meinem Sohn - er ist sieben Jahre alt - zur
Kiezschule gelaufen. Wir haben über den Tag gequatscht,
seine Freunde, darüber, was sie gerade spielen und was
sie sich zu Weihnachten wünschen. Stellen Sie sich vor:
Alle Jungen und Lucy spielen gerne Fußball - was für
eine Überraschung -, und alle Kinder wünschen sich etwas von Lego. Vom Staat haben sich die Kinder nichts
gewünscht. Aber ich bin mir ganz sicher: Sie wünschen
sich vom Staat genau das Gleiche wie von der Lehrerin,
nämlich dass sie gleich und fair behandelt werden.
({0})
Wenn die Kinder wüssten, was wir gestern Abend hier
im Bundestag beschlossen haben - und zwar gegen die
Stimmen der Grünen -, dann würden sie protestieren; da
bin ich mir ganz sicher.
({1})
Was wurde beschlossen? Die Koalition hat gestern
beschlossen, dass die Mutter des Freundes meines Sohnes - sie ist Ausbilderin in der Pflege - ab Januar nächsten Jahres 192 Euro und damit 2 Euro mehr Kindergeld
im Monat bekommt. So weit, so gut. Aber Sie haben auch
beschlossen, dass ich, obwohl ich als Bundestagsabgeordnete mehr verdiene als sie, ab Januar 2017 das Doppelte bekomme, nämlich 4 Euro mehr pro Monat. Das
fänden die Kinder schon sehr ungerecht. Wenn sie aber
dann noch wüssten, dass ich schon jetzt für meinen Sohn
jeden Monat fast 100 Euro mehr bekomme als die Mutter seines Freundes - nämlich 291 Euro statt 192 Euro -,
weil ich bei meiner Einkommensteuer vom Kinderfreibetrag profitiere, dann würden die Kinder - da bin ich
mir sicher - lauthals protestieren, wie ich finde, zu Recht.
Das kann man keinem Kind und auch sonst niemandem
erklären.
({2})
Die Behandlung der Familien in diesem Land nach
dem Matthäus-Prinzip - wer hat, dem wird gegeben muss endlich aufhören. Jedes Kind ist gleich viel wert.
({3})
Deshalb fordern seit Jahren zahlreiche Organisationen
wie der Kinderschutzbund, die Arbeiterwohlfahrt, Pro
Familia oder die Diakonie eine Kindergrundsicherung,
die unabhängig vom Einkommen der Eltern den Grundbedarf jedes Kindes deckt. Das Hauptargument dagegen
ist wie immer - das wurde schon genannt - das Geld.
Eine Kindergrundsicherung sei zu teuer. Deutschland
gebe schon sehr viel für die Familienförderung aus. Das
ist auch nicht ganz falsch. Allein 20 Milliarden Euro jährlich gehen zum Beispiel in das Ehegattensplitting. Das
kommt zweifellos vielen Familien zugute. Aber leider
lässt es auch immer mehr Familien außen vor: die Familien ohne Trauschein, die Patchworkfamilien, die Alleinerziehenden. In Berlin, meinem Wahlkreis, sind die
Verheirateten inzwischen in der Minderheit. Das heißt,
eine zentrale familienpolitische Leistung geht damit an
der Mehrheit der Familien in dieser Stadt vorbei. Das ist
nicht in Ordnung.
({4})
Hinzu kommt: Das Ehegattensplitting verstärkt noch
die Ungerechtigkeit in der staatlichen Kinderförderung,
die ich eben geschildert habe; denn am stärksten profitiert davon die Alleinverdienerehe mit einem hohen Einkommen, und zwar auch, wenn die Ehe kinderlos ist. Das
Ehegattensplitting fördert dagegen die ärmsten Familien,
die Alleinerziehenden, überhaupt nicht. Das Ehegattensplitting verteilt von unten nach oben und auch von Ost
nach West. Es ist schlicht so: Diese Familienförderung
aus den 50er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts passt
einfach nicht mehr zur Realität der Familienvielfalt in
Deutschland im Jahr 2016.
({5})
Wir brauchen eine einkommensunabhängige Förderung,
die jedes Kind direkt erreicht. Sie ist angesichts der Familienvielfalt von heute die beste Form der finanziellen
Familienförderung. Sie entlastet insbesondere Familien
mit kleinen und mittleren Einkommen unbürokratisch.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich glaube,
dass eigentlich alle von Ihnen innerlich dem Satz zustimmen: Jedes Kind ist gleich viel wert. - Aber ich kenne
Ihre Bedenken: Das Ehegattensplitting mit Kinderfreibetrag und Kindergeld ist doch das eingeführte System;
Eheleute haben sich darauf eingestellt; Sie misstrauen
einem Wechsel zu einem ganz neuen System wie der
Kindergrundsicherung. Das stimmt. Deswegen möchte
ich Ihnen sagen: Niemand muss wechseln. Wir garantieren Ihnen einen umfassenden Bestandsschutz; den stellen
wir sicher. Das heißt, für bereits Verheiratete und Verpartnerte wird sich nichts ändern. Niemand wird schlechtergestellt.
Wir wollen in Zukunft wieder alle Familien erreichen.
Wir wollen damit auch viele Familien finanziell besserstellen als heute. Dafür brauchen wir in Zukunft einen
Systemwechsel durch die Einführung einer Kindergrundsicherung mit Wahlrecht.
({6})
Was ist die Idee dieser Kindergrundsicherung? Unverheiratete Familien, Alleinerziehende und zukünftig heiraGülistan Yüksel
tende Paare mit Kindern bekommen die Kindergrundsicherung und werden individuell mit einem übertragbaren
Grundfreibetrag besteuert. Familien, bei denen die Eltern
bereits verheiratet sind, dürfen das Ehegattensplitting mit
Kindergeld und Kinderfreibetrag behalten. Sie haben einen ganz klaren Bestandsschutz. Aber wenn sie wollen,
können sie zur Kindergrundsicherung wechseln, wenn
sie sich zum Beispiel dadurch besserstellen. Das Finanzamt macht für jeden eine Günstigerprüfung, stellt also
fest, was steuerlich für sie persönlich günstiger ist, das
alte Recht oder das neue mit Kindergrundsicherung.
Bei einem Betrag von über 300 Euro pro Kind würden
viele Familien gegenüber heute bessergestellt. Das wäre
eine zielgenaue Entlastung von Familien in Milliardenhöhe, teilweise durch den Wegfall des Splittingvorteils
gegenfinanziert.
Diese einkommensunabhängige Kindergrundsicherung wäre außerdem ein Beitrag zum Bürokratieabbau;
denn sie würde Kinderregelsatz, Kindergeld und Kinderfreibetrag zu einer Leistung zusammenführen. Das, verehrte Kolleginnen und Kollegen, verehrte Bürgerinnen
und Bürger, kann ich dann auch wieder meinem Sohn
und seinen Freunden erklären.
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.
Wir hatten schon einen Bundespräsidenten, der mit
seiner Patchworkfamilie im Schloss Bellevue einzog.
Wir haben derzeit einen Bundespräsidenten, der in wilder
Ehe dort residiert.
({0})
Lassen Sie uns endlich auch eine Familienförderung beschließen, die quer durch alle Einkommensschichten zu
der Familienvielfalt im Jahr 2016 passt.
({1})
Paul Lehrieder hat als nächster Redner für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen,
liebe Kollegen, insbesondere liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen! Beim Durchblättern des blauen
Planes dieser Woche habe ich mich über den von Ihnen
eingebrachten Antrag mit der Überschrift „Familien stärken - Kinder fördern“ ganz besonders gefreut; denn über
dieses wichtige Thema - hierauf haben schon einige Kolleginnen und Kollegen hingewiesen - kann man meiner
Meinung nach gar nicht genug sprechen.
Die Debatten der letzten Wochen und Monate haben
gezeigt, dass auch das öffentliche Interesse am Thema
„Familienpolitik und Familienförderung“ ungebrochen
ist. Sie brauchen nicht nur mit Ihrem Sohn oder mit seinen Kumpels im Kindergarten darüber zu sprechen; denn
es ist ein großes, ein breites gesellschaftliches Thema:
Wie erreichen wir die Familien richtig? Wie erreichen
wir das, was die Familien aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Ansätzen heraus benötigen?
Hierbei beschränkt sich die Diskussion nicht nur auf
familienpolitische Leistungen im Allgemeinen, sondern
sie rückt auch eine bestmögliche Vereinbarkeit von Familie und Beruf in den Fokus. Die Vorredner haben bereits zum Teil darauf hingewiesen.
Allen jenen Maßnahmen, die die Vereinbarkeit von
Familie und Erwerbstätigkeit verbessern, kommt die
größte Bedeutung zu. Sie tragen nicht nur zur wirtschaftlichen Absicherung von Familien bei, sondern sie fördern
auch andere familienpolitische Ziele. Die Vereinbarkeit
von Familie und Beruf steht daher im Mittelpunkt der
Familienpolitik. All das wissen Sie.
In den vergangenen Jahren sind die diesbezüglichen
Leistungen und Maßnahmen von uns stets weiterentwickelt und differenziert worden, um auf gesellschaftliche
Veränderungen und Bedürfnisse von Familien zu reagieren.
Familien wachsen, wo Menschen Vertrauen in die
eigene Zukunft besitzen und die persönliche und
gesellschaftliche Umgebung Familien und Kindern
mit Wertschätzung begegnet.
So heißt es in dem Bericht der Kommission „Familie und
demographischer Wandel“.
Das oberste Ziel unserer Familienpolitik ist daher,
Rahmenbedingungen zu schaffen, die eine Entscheidung
für das Leben mit Kindern in der Familie erleichtern. Die
Entwicklung familienfreundlicher Lebens- und Arbeitsbedingungen steht dabei im Vordergrund.
Zu dem umfangreichen Maßnahmenpaket gehört beispielsweise - auch hierauf haben die Vorredner bereits
hingewiesen - der Ausbau der Kinderbetreuungseinrichtungen für unter Dreijährige. Seit drei Jahren gibt es einen Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz für Kinder im
Alter von einem Jahr. Auch das hat es früher nicht gegeben. Das heißt, man kann sich darauf einstellen - wenn
man sich dafür entscheidet -, wieder berufstätig, zumindest in Teilzeit berufstätig zu sein, wenn das Kind ein
Jahr alt ist. All dies ist neu.
Wir haben die Flexibilisierung der Elternzeit, das
Elterngeld Plus und einen Partnerschaftsbonus für alle
Eltern, die zusätzlich zur Erziehung der Kinder 25 bis
30 Wochenstunden arbeiten. Ein weiterer Fokus unserer
Familienpolitik liegt auf der besonderen Unterstützung
Alleinerziehender und der Verankerung familienfreundlicher Bedingungen in Wirtschaft und Gesellschaft. Frau
Kollegin Rüthrich hat darauf hingewiesen, dass die Möglichkeit der Erwerbstätigkeit für beide Eltern eine wesentliche Entscheidung dafür ist, Kinder zu bekommen.
Frau Kollegin Yüksel hat die glücklichen Kinder in
ihrem Schlusswort angesprochen. Ja, glückliche Kinder
definieren sich aber nicht nur über den Ranzen und den
Kinobesuch, sondern glückliche Kinder definieren sich
auch über das Verhältnis zu ihren Eltern.
({0})
Bei der Diskussion über Armut bei Kindern möchte
ich ganz bewusst darauf hinweisen, dass wir eine Gruppe
von Kindern in unserer Gesellschaft haben, die eigentlich
keine Lobby hat. Im Zusammenhang mit der Diskussion
über Kinderarmut sollte man gelegentlich auch über sie
sprechen. Das sind Kinder in Familien mit psychischen
Belastungen. Wir müssen schon hinschauen, wie wir diesen Kindern helfen können.
({1})
Wir schätzen, dass zwischen 2,4 Millionen und
3,8 Millionen Kinder in einer derartigen Situation sind.
Ich würde es begrüßen - ich weiß, dass bei Ihnen Frau
Kollegin Walter-Rosenheimer sich sehr für dieses Thema
engagiert; ich weiß, dass bei uns Marcus Weinberg und
Eckhard Pols sich leidenschaftlich damit beschäftigen -,
dass wir diese in den Fokus rücken und uns fragen, wie
wir diesen Kindern helfen können, die nicht durch ihre
Eltern vertreten werden können, weil die Eltern selber als
Anwalt der Kinder in vielen Bereichen leider ausfallen.
Vielleicht können wir uns in den nächsten Monaten darüber verständigen.
Die Wertschätzung für Familien in unserem Lande
spiegelt sich auch im neuen Bundeshaushalt wider, den
wir dieser Tage verabschiedet haben. Meine Vorrednerinnen und Vorredner haben bereits bilanziert, dass bei den
Verhandlungen rund um den Einzelplan 17 wichtige Impulse gesetzt worden sind. Dem Etat des Bundesfamilienministeriums stehen im neuen Jahr 9,5 Milliarden Euro
zur Verfügung. Das sind über 2 Milliarden Euro mehr als
zu Beginn dieser Legislaturperiode.
Somit wird es künftig auch deutlich mehr Geld für
Familien geben. So werden die Familien in unserem
Land mit unzähligen familienpolitischen Leistungen unterstützt, die Eltern ein solides Auskommen sichern und
Kinderarmut bekämpfen.
Ja, es ist auch richtig, dass Familien mit Kindern bei
der Schaffung von Wohneigentum unterstützt werden
sollen. Was jetzt der Familie hilft, ein sicheres Nest, ein
sicheres Heim zu bauen, wird später, in 30, 40 Jahren,
die Altersarmut bekämpfen können. Da sollten wir gemeinsam hinschauen. Ich bin froh, dass die Frau Wohnungsbauministerin gesagt hat: Jawohl, wir wollen in
Ballungsgebieten Wohneigentum fördern. - Ich bin der
Meinung, wir sollten Familienwohneigentum landauf,
landab fördern.
({2})
Es gibt hierzu einen kreativen, richtungsweisenden
Vorschlag, natürlich aus Bayern: 1 200 Euro Wohnbauprämie pro Jahr für Familien. Ich bin auch der Auffassung, dass wir überlegen müssen, ob wir einer Familie
mit zu wenig Eigenkapital zu Beginn des Hausbaus oder
des Erwerbs einer Wohnung eine gewisse Eigenkapitalabsicherung über ein Bürgschaftsprogramm der KfW anbieten können. Wir sollten überlegen, wie es eine Familie
schaffen kann, tatsächlich in den eigenen vier Wänden zu
wohnen; denn der Verzicht auf Mietzinszahlungen eröffnet den Eltern finanzielle Spielräume, die diese als liebevolle Eltern in fast allen Fällen ausschließlich zugunsten
der Kinder nutzen. So hängt alles mit allem zusammen.
({3})
Das Baukindergeld habe ich angesprochen. Der
Kinderzuschlag unterstützt die Eltern im Niedrigeinkommensbereich, die im ergänzenden ALG-II-Bezug
überdurchschnittlich oft vertreten sind. Besonders Familien mit mehreren Kindern können trotz einer Vollzeiterwerbstätigkeit nur mit großer Anstrengung ein Einkommen erzielen, das oberhalb des existenzsichernden
Arbeitslosengeld-II-Bedarfs der ganzen Familie liegt.
Durch den Kinderzuschlag - auch hierauf wurde bereits von Vorrednern hingewiesen - kann der Bezug von
Arbeitslosengeld II vermieden werden. Der Kinderzuschlag wurde bereits in diesem Jahr um 20 Euro erhöht.
Auch das, Herr Kollege Müller, gehört zur Wahrheit. Er
wird zum 1. Januar 2017 auf maximal 170 Euro erhöht.
Damit sind wir von Ihrer Kindergrundsicherung in Höhe
von 300 Euro entfernt, aber zumindest haben wir da deutlich nachgelegt, überdurchschnittlich im Übrigen.
Im kommenden Jahr werden wir das neue Elterngeld
Plus und das klassische Elterngeld mit 6,4 Milliarden
Euro im Haushalt etatisieren. Diese Summe hängt auch
mit der erhöhten Geburtenrate zusammen. Darüber sind
wir sehr froh. Der Mut zum Kind in unserer Gesellschaft
ist gewachsen. Ich glaube, auch das muss in einer solchen Diskussion gesagt werden. Im vergangenen Jahr
sind erfreulicherweise so viele Kinder zur Welt gekommen wie seit den letzten 15 Jahren nicht mehr, insgesamt
738 000. Jetzt will ich nicht sagen, dass das ausschließlich die Leistung der Großen Koalition ist - jetzt habe
ich Applaus erwartet -, aber zumindest geben die Rahmenbedingungen der Familienpolitik, die in den letzten
zehn Jahre geschaffen worden sind, den Familien wieder
mehr Mut.
({4})
- Bitte? Stell eine Zwischenfrage, Jörn, dann habe ich
mehr Zeit.
Für das Sondervermögen „Kinderbetreuungsausbau“
stehen im nächsten Jahr insgesamt 446 Millionen Euro
zur Verfügung. Eine qualitativ hochwertige Betreuung
verhilft den Kindern zu einer guten frühkindlichen Bildung und legt den Grundstein für die späteren Chancen
auf dem Arbeitsmarkt.
Den wichtigsten Beitrag zu einer modernen Familienpolitik leisten daher auch weiterhin der weitere Ausbau
der Kindertagesbetreuung und die notwendigen Regelungen der Qualität dieser Betreuungseinrichtungen. Ich
glaube, man sollte in diesem Zusammenhang auf eine bestimmte Gruppe hinweisen - auf die Tagesmütter -, die
neben der institutionalisierten Betreuung wie durch Kitas
ein ergänzendes Leistungsspektrum anbieten. Auch diese Gruppe sollten wir einmal mit ihren wirtschaftlichen
Problemen und ihren Arbeitsbedingungen in den Fokus
rücken.
({5})
Gerade in dieser Zeit, in der wir sehr viele neu zugezogene Kinder aus Asylbewerberfamilien in den Kitas
unterbringen müssen, sind wir froh über die engagierten,
tatkräftigen Tagesmütter, die sicherstellen, dass wir für
jede Nachfrage ein angemessenes Angebot an Kindertagesbetreuung herstellen können. Dafür an dieser Stelle
einmal ein herzliches Wort des Dankes.
({6})
Auch dies führt dazu, dass gut betreute, gut ausgebildete,
motivierte Kinder später in der Schule und im Beruf bessere Chancen haben und, prophylaktisch gesehen, in 10
oder 20 Jahren weitaus weniger Gefahr laufen, in Armut
zu geraten.
Ich bedanke mich für den Antrag. Ich freue mich auf
die Beratungen des Antrags im Ausschuss.
Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende.
Danke schön.
({7})
Als nächste Rednerin hat Birgit Kömpel das Wort für
die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zum Thema
Kinderarmut wurden bereits viele Dinge gesagt, denen
ich hier und jetzt gar nicht widersprechen möchte und
kann.
Ich möchte den Fokus auf unsere Familien und ein
Stück weit auch auf unsere Frauen richten; denn Kinderarmut ist in erster Linie Familien- und Frauenarmut.
Ja - da haben die Grünen recht -, Erwerbstätigkeit beider
Elternteile ist der beste Schutz vor Kinderarmut.
({0})
Gemeinsame Erwerbstätigkeit setzt aber Partnerschaftlichkeit voraus, also das Aufteilen von Arbeit und Kindererziehung zwischen Mutter und Vater.
Seien wir doch einmal ehrlich: Noch immer sind es
die berufstätigen Frauen, die sich hauptsächlich um die
Hausarbeit und die Kindererziehung kümmern. Aber wir
stellen Gott sei Dank fest: In unserer Gesellschaft ändert
sich etwas. Immer mehr junge Väter wünschen sich mehr
Zeit für ihre Kinder, und das ist sehr gut so.
({1})
Hier haben wir bereits in den Koalitionsverhandlungen angesetzt und die Belange von unseren Familien und
Kindern ganz oben auf die Agenda gesetzt. Die Voraussetzungen für gelebte Partnerschaftlichkeit haben sich
daher in dieser Legislatur fortlaufend verbessert. Ich
möchte als Beispiel nur das Elterngeld Plus und den weiteren Betreuungsausbau nennen. Daneben haben wir mit
dem gesetzlichen Mindestlohn endlich die Grundlage für
gute Löhne geschaffen. Auch damit sind wir einen entscheidenden Schritt in der Bekämpfung der Kinderarmut
gegangen.
In puncto Frauenförderung werden wir auch nicht
nachlassen; denn auch sie hat ein großes Potenzial, um
Kinderarmut in Deutschland zu verringern. Rund 20 Prozent der Kinder in Deutschland wachsen mit nur einem
Elternteil auf, und rund 90 Prozent der Alleinerziehenden
sind Frauen. Diese Frauen brauchen unsere Unterstützung, wenn wir Kinderarmut eindämmen wollen.
Alleinerziehende Erwerbstätige sind nun einmal doppelt belastet. Sie arbeiten aufgrund ihrer Kinder in der
Regel eben nicht Vollzeit. Und sagt dann der Vater zwar
A, aber zahlt keine Alimente, ist Kinderarmut einfach
vorprogrammiert. Hier ist es ganz wichtig, dass wir - es
wurde schon mehrfach erwähnt - vor allem die Regelungen zum Unterhaltsvorschuss reformieren. Unterhalt für
volle 18 Jahre fordern wir als SPD, und wir kämpfen mit
Hochdruck dafür.
({2})
- Na ja.
({3})
Mit dem Gesetz zur gleichberechtigten Teilhabe von
Männern und Frauen in Führungspositionen haben wir
Präsenzkultur und männlich dominierte Netzwerke infrage gestellt und auf die strukturelle Benachteiligung von
Frauen aufmerksam gemacht. Meine Damen und Herren,
wir müssen weg von der Präsenzkultur und hin zu einer
Ergebniskultur. Wenn Mütter nämlich auch in Teilzeit
Führungspositionen ausüben können, dann schützt das
viele Kinder wirksam vor Armut.
Ich wünsche mir auch ein gesellschaftliches Umdenken. Menschen mit Kindern verfügen über viele wertvolle Fähigkeiten im Bereich der sogenannten Soft Skills,
die jedem Team und jedem Unternehmen guttun. Wir
von der SPD gehen sogar noch weiter: Wir möchten,
dass Frauenberufe besser bezahlt werden und Frauen
durch das Lohngerechtigkeitsgesetz endlich das bekommen, was sie schon lange verdienen, meine Damen und
Herren.
({4})
Unsere Unternehmen sollten im Kampf um die besten
Köpfe darauf achten, ihre Arbeitszeiten den Bedürfnissen von Familien anzupassen. Ich bin überzeugt: Nur ein
Bündel aufeinander abgestimmter Maßnahmen wird helfen, die Kinderarmut in Deutschland zu verringern.
Ich freue mich auf die Beratungen und bedanke mich
für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Als nächste Rednerin hat Ingrid Pahlmann für die
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe
Kolleginnen! Meine Damen und Herren! Der uns vorliegende Antrag ruft ein absolut wichtiges Thema auf die
Tagesordnung. Da sind wir uns - davon gehe ich ganz
fest aus - nicht nur hier im Hohen Hause einig. Es muss
uns gemeinsam gelingen, Kinder vor Armut zu beschützen. Wir als Regierungsfraktionen nehmen dieses Thema
ernst; das wurde bereits von meinen Vorrednern deutlich
gemacht.
Wir haben viel Geld in die Hand genommen, sowohl
für direkte Förderung von Kindern und Familien als auch
für die Förderung von Infrastruktur. Die Schlagworte
sind und bleiben: die Erhöhung des Kindergeldes, die Erhöhung des Kinderzuschlages, die Erhöhung des Kinderfreibetrags, die Einführung von Elterngeld Plus, weitere
Milliarden für den Ausbau der Kinderbetreuung und vor
allem auch die Steigerung der Qualität in Kitas.
Aber eins muss uns auch klar sein: Mit Geld allein
werden wir unsere Kinder nicht stark machen und vor
Armut schützen. Einmal Hand aufs Herz: Wenn Sie in
Ihrem Antrag von den Blicken sprechen, die ein Kind
zu spüren hat, wenn der Ranzen zu Beginn eines neuen
Schuljahres noch der alte vom Vorjahr ist, dann sprechen
Sie nicht von zu wenig finanziellen Mittel, sondern von
ganz anderen Herausforderungen, die wohl eher in unserem menschlichen Wertesystem zu suchen sind.
({0})
Aber zurück zu Ihrem Antrag mit der scheinbar simplen Gleichung: mehr Geld gleich mehr Gerechtigkeit und
starke Familien. So einfach ist es aber nun einmal leider
nicht. Es ist vielmehr auch eine gesellschaftliche Haltung
notwendig, die klar zeigt: Ja, wir wollen Kinder! Ja, wir
wollen Familien dabei unterstützen, ihren Nachwuchs
gut ins Leben zu bringen! Man kann an der Stelle immer
wieder das afrikanische Sprichwort „Um ein Kind großzuziehen, braucht es ein ganzes Dorf“ zitieren. Wir brauchen eine Gesellschaft, die hinschaut, die sich einmischt,
die Kinder und Familien unterstützt.
({1})
Nicht nur bei mir im Wahlkreis haben sich in den
vergangenen Jahren engagierte Bürgerinnen und Bürger, Unternehmen, die ihre soziale Verantwortung ernst
nehmen, Kirchen und Wohlfahrtsverbände zusammengeschlossen, um ganz gezielt für mehr Gerechtigkeit für
unsere Kinder zu sorgen.
Im Jahr 2008 hat sich in meiner Heimatstadt Gifhorn
eine Initiative unter dem Motto „Kleine Kinder immer
satt“ gebildet. Ihr Ziel war es damals, allen Kindern in
den Kindertagesstätten und Ganztagsschulen ein warmes
Mittagessen zu ermöglichen. Und richtig, ich sagte: Es
war ihr Ziel. - Mittlerweile wurde dieses Ziel auch durch
das von Ihnen, liebe Opposition, gerne kritisierte Bildungs- und Teilhabepaket erreicht.
Natürlich kann man sagen: Es ist eine Schande, dass
wir in unserem Land überhaupt engagierte Menschen
benötigen, um allen Kindern ein warmes Mittagessen
ermöglichen. Und ich sage Ihnen als Berichterstatterin
meiner Fraktion für bürgerschaftliches Engagement auch,
dass wir in unserem Land natürlich nicht jedes Problem
über freiwilliges Engagement lösen können und es auch
die eine oder andere Tendenz diesbezüglich einzufangen
gilt. Doch wir müssen uns auf der anderen Seite auch
klarmachen: Der Staat alleine kann nicht alles richten,
und er hat auch nicht immer für alles die beste Lösung.
({2})
Die Geschichte des Gifhorner Kinderfonds geht nämlich noch weiter. Man hat sich immer neue Ziele gesteckt.
Mittlerweile unterstützt man beispielsweise auch den Besuch kultureller Veranstaltungen, ist man in die Hausaufgabenhilfe eingestiegen, bietet man Sportprogramme in
Kooperation mit örtlichen Sportvereinen an, setzt man
Projekte zur Gewaltprävention und Selbstbewusstseinsförderung der Kinder und vieles mehr um. Kurzum: Aus
„Kleine Kinder immer satt“ wurde: Kleine Kinder immer
satt hinsichtlich Ernährung, Bildung, Bewegung und sozialer Teilhabe.
Noch viel wichtiger ist: Der Fokus hat sich erweitert.
Es profitieren - anders als es nach Ihrem Antrag sein
würde - nicht mehr ausschließlich benachteiligte Kinder,
sondern alle Kinder völlig unabhängig von ihrer Herkunft, ihrem sozialen oder finanziellen Hintergrund. Es
werden mit dem Projekt alle Kinder gestärkt und nicht
mehr einzelne stigmatisiert.
Eine starke Zivilgesellschaft kann mehr leisten, als wir
mit jedem neuen Gesetz schaffen können. Vor allem ist
sie in der Lage, zielsichere Lösungen zu entwickeln. Allein in meiner Heimat, dem Landkreis Gifhorn, liegt der
Anteil von Kindern in SGB-II-Bezug je nach Gemeinde
zwischen unter 1 Prozent und über 15 Prozent. Dass pauschale Lösungen hier nicht die besten sind, denke ich,
liegt absolut auf der Hand. Eine starke Zivilgesellschaft
mit engagierten Bürgerinnen und Bürgern erzeugt veränderte Blickwinkel, sieht, wo etwas fehlt, setzt neue Anreize und kann Probleme vor Ort anders angehen als wir
mit unserer doch immer etwas weit entfernten Sicht der
Berliner Politik.
Sie können mir glauben: Ein Austausch mit diesen
engagierten Menschen, deren Arbeit ich wirklich sehr
schätze, ist immer wieder eine Herausforderung, und, am
Rande, kann manchmal ziemlich anstrengend sein. Dennoch profitieren alle von diesen Gesprächen.
Die Mitglieder des Kinderfonds sind zu starken Vertretern der Kinder geworden. Sie fordern beispielsweise - in den ersten Jahren war das wohl auch nicht ganz zu
Unrecht - weitere Vereinfachungen bei der Beantragung,
Bewilligung und Auszahlung der Leistungen für Bildung
und Teilhabe.
({3})
Da hat sich aber in den letzten Jahren einiges verbessert;
Klammer auf: auch weil die zuständigen Kommunen
mittlerweile ausreichend Zeit hatten und sich gut auf ihre
neuen Aufgaben einstellen konnten; Klammer zu.
({4})
Es gibt selbstverständlich auch bei anderen Programmen immer wieder Möglichkeiten für eine bessere Handhabung der bürokratischen Anforderungen. Darauf müssen wir natürlich achten.
Anders als das in Ihrem Antrag der Fall ist, fordern die
Menschen, die sich tagtäglich mit dem Thema auseinandersetzen, nicht ein Mehr an pauschalen Geldleistungen
an die Eltern, sondern ein Mehr an Direktzahlungen zum
Wohl der Kinder - ohne den Umweg über das Konto der
Eltern.
({5})
Ganz sicher gibt es noch vieles zu verbessern. Gerade
bei Alleinerziehenden müssen wir noch mehr tun, um ihr
meist unverschuldetes Armutsrisiko zu senken. Der Ausbau der Kinderbetreuung ist hier ein wichtiger Beitrag,
ebenso das „KitaPlus“-Programm; wir haben es schon
gehört.
Wie ich in meiner Rede vor ziemlich genau einem
Jahr bereits gesagt habe, sind auch Unternehmen in der
Pflicht; darauf müssen wir immer wieder hinweisen. Sie
müssen Alleinerziehenden flexiblere Arbeitszeitmodelle
anbieten. Dafür möchte ich allerdings keine staatlichen
Zwangsmaßnahmen. Ich bin der Überzeugung, dass es
beim sich abzeichnenden Fachkräftemangel auch im
Interesse der Unternehmen ist, Alleinerziehenden gute
Rahmenbedingungen und Verdienstmöglichkeiten zu
bieten. Damit wäre der Wirtschaft, den Alleinerziehenden, aber vor allen den Kindern geholfen.
Grundsätzlich möchte ich an dieser Stelle einmal ganz
klar sagen: Ich finde das Thema zu wichtig, um es parteipolitisch auszureizen. Sie wissen doch ganz genau anders als Sie es in Ihrem Antrag schreiben -, dass die
Unionsfraktion hinter der wichtigen Ausweitung des Unterhaltsvorschusses steht und das Vorhaben in den letzten
Monaten auch vorangetrieben hat.
({6})
Sie wissen aber auch ganz genau, dass eine überstürzte
und vor allem schlecht geregelte Umsetzung des Vorhabens unsere Kommunen vor große Probleme stellt, dass
die Bundesländer in der Finanzierung mitzureden haben - die stehen zum Teil auf der Bremse - und dass
am Ende schlichtweg niemandem geholfen ist und Frust
aufgebaut wird, wenn sich die Auszahlung durch diese
Probleme womöglich verzögert.
({7})
- Reden Sie nicht immer alles schlecht - das möchte ich
vor allen Dingen an die linke Ecke des Hauses richten -,
was wir in diesem Hause anpacken! Sicherlich kann und
muss man alles weiterentwickeln; aber das, was wir geschafft haben, darf man auch einmal benennen und als
gut anerkennen.
({8})
Denn das Aufreißen neuer Gräben stärkt nicht die linke
Seite dieses Hauses, sondern wird dafür sorgen, dass auf
der rechten Seite etwas Einzug hält, was uns allen hier
im Haus nicht gefallen wird und was die Schwächsten in
unserem Land weiter schwächen würde.
({9})
Abschließend bleibt mir noch zu sagen: Wir brauchen
kluge, durchdachte Konzepte, um unsere Familien und
Kinder wirklich zu stärken. Die finde ich trotz vieler
Worte in Ihrem Antrag leider nicht. Deshalb kann ich
dem Antrag trotz des guten Ansinnens nicht zustimmen.
({10})
Aber ich freue mich wie viele meiner Kollegen auf gute
weitere Beratungen. Dann werden wir auch zu Lösungen
kommen.
Danke schön.
({11})
Als nächste Rednerin spricht Ulrike Bahr für die
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Kein Kind darf verloren gehen. - Das ist unser sozialdemokratisches Leitbild. Dazu gehört natürlich
auch die wirtschaftliche Absicherung von Familien, und
zwar von allen Familien. Dazu gehören auch Alleinerziehende, Patchworkfamilien und alle, die Sie genannt
haben. Aber aus meiner beruflichen Erfahrung heraus
weiß ich, dass die Investition in direkte Unterstützungsleistungen nicht ausreicht und nicht immer der beste Weg
ist, um Kinder zu fördern, um ihnen Bildung und echte
Teilhabe zu eröffnen. Teilhabe braucht zweifellos Geld,
aber darüber hinaus noch viel mehr. Wir brauchen Geld,
Zeit und Infrastruktur und müssen immer vom Kind aus
denken, egal wie es im Geldbeutel der Eltern aussieht.
({0})
Neben direkten finanziellen Hilfen müssen wir strukturell ansetzen, um Armutskarrieren zu durchbrechen
und die soziale Spaltung der Gesellschaft nicht weiter
voranzutreiben. Die Armut in zweiter, dritter und vierter
Generation ist es, die in allen Berichten über Familienarmut vom Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband
bis hin zur Bertelsmann-Stiftung besonders alarmierend
wirkt. Gegen solche über Generationen hinweg verfestigte Armut brauchen wir an allererster Stelle nach meiner
Überzeugung von klein an gute und kostenfreie Angebote für Bildung, Kultur und Sport.
({1})
Die SPD-Bundestagsfraktion hat sich in ihrem Zukunftsprojekt für beitragsfreie Ganztagskitas ausgesprochen. Dies fördert und integriert Kinder und entlastet gleichzeitig Eltern und besonders Alleinerziehende
enorm, weil sie dann auch Zeit für Arbeit oder Aus- und
Weiterbildung haben, und zwar ohne entwürdigende Antragstellung und Bedürftigkeitsprüfung. Einige sozialdemokratisch geführte Bundesländer wie Rheinland-Pfalz
oder Berlin gehen hier mit gutem Beispiel voran. In meinem Heimatland Bayern ist man davon leider noch weit
entfernt.
In dieser Wahlperiode haben wir eine ganze Reihe von
Anstrengungen unternommen, um in der frühen Bildung
auch qualitativ gute Angebote zu schaffen, zum Beispiel,
wie erwähnt, mit dem Ausbau der erfolgreichen Sprachkitas, in denen Kinder mit Schwierigkeiten in der Schlüsselkompetenz Sprache die nötige Unterstützung erhalten,
ohne dass die Eltern etwas beantragen müssen; denn
Sprache ist der Schlüssel zu jeder Form von Bildung und
damit zur Selbstermächtigung, neudeutsch: „Empowerment“.
({2})
Zur Stärkung von Kindern und ihren Eltern gehört in
jedem Fall eine gute niedrigschwellige Beratung über
Unterstützungsansprüche wie zum Beispiel den Kinderzuschlag, aber auch über die Bildungs- und Unterstützungsangebote vor Ort. Die Zivilgesellschaft engagiert
sich hier zahlreich in Initiativen, die wir unterstützen
sollten. Auch viele Mehrgenerationenhäuser leisten in
der Beratung und in der Vernetzung von Familienangeboten eine hervorragende Arbeit. Auch sie haben wir
mit unseren letzten Haushaltsbeschlüssen gestärkt. Denn
gerade Familien mit wenig Geld, Eltern wie Kinder, profitieren besonders von kostenfreien Treffpunkten, Vernetzung, Tauschbörsen, offenen Angeboten und den damit
verbundenen Kontakten.
Zur Stärkung von Familien gehört es auch, wenn
Kinder, Jugendliche und Eltern einen Anspruch auf gute
und einfache Lösungen bei Konflikten haben. In unserer
geplanten SGB-VIII-Reform müssen wir deshalb auch
unabhängige Ombudsstellen verankern. Sie unterstützen
Kinder, Jugendliche und ihre Familien dabei, Probleme
mit den Jugendämtern und Trägern zu klären und auszuräumen.
Und schließlich: Zum Anspruch „Kein Kind zurücklassen!“ gehören auch Teilhabeangebote und Unterstützung für Kinder, die bisher vollkommen durchs Raster
fallen und die, wie ich finde, Helden des Alltags sind.
Betroffen sind geschätzt 2 bis 3 Millionen. Ich meine,
wie schon erwähnt, Kinder psychisch kranker Eltern oder
Kinder, deren Eltern im Strafvollzug sitzen. Hier haben
wir noch viel Arbeit und sollten uns möglichst pragmatisch und fraktionsübergreifend auf die Suche nach tragfähigen Lösungen mit aufsuchenden Beratungsstrukturen und vernetzten Hilfen machen. Unsere Kinder haben
einen Anspruch darauf.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Sönke Rix hat als letzter Redner in dieser Aussprache
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Natürlich haben wir in dieser
Großen Koalition viel erreicht, um Familien zu entlasten
und zu fördern. Natürlich dürfen die Fraktionen der Opposition auch kritisieren und mehr fordern. Das gehört
zu ihrer Aufgabe. Aber ich will gleich eine Sache vorwegnehmen: Es kommt immer darauf an, wie wir diese
zusätzlichen Förderungen, diese zusätzlichen Mittel und
diese zusätzlichen Forderungen finanzieren. Das kommt
bei dem vorliegenden Antrag - auch wenn ich weiß: es
gibt parallel dazu andere Finanzierungsvorstellungen leider zu kurz.
Aber wir dürfen auch stolz darauf sein, was wir in unserer Koalitionszeit für Familien erreicht haben.
({0})
- Doch, das darf man durchaus machen. Denn wir haben
Dinge angestoßen, die auch Sie fordern und die auch die
Grünen fordern.
({1})
Vielleicht nicht in dem geforderten großen Maße, aber
wir machen es.
Wir haben zum Beispiel den Kinderzuschlag erweitert
und ausgebaut.
({2})
Das sind Forderungen, die von Grünen und von Linken
kommen. Man kann mehr machen, gar keine Frage - es
ist immer die Frage, wie viel Geld Herr Schäuble zur Verfügung stellt -, aber wir haben es getan. Ich finde, das
kann man durchaus lobend erwähnen.
Sie führen immer an, wenn es um Familienarmut geht,
dass eine gute und vernünftige Bezahlung für die Menschen notwendig ist. Sie sagen, dass der Mindestlohn,
der eingeführt worden ist, als Grundlage viel zu niedrig
ist. Aber wir haben ihn immerhin eingeführt, liebe Kolleginnen und Kollegen, und damit einen großen und wichtigen Schritt gemacht, um Familien zu entlasten und um
Kinderarmut zu bekämpfen.
({3})
Das Gleiche gilt für die Entlastung von Alleinerziehenden. Jahrelang ist dieses Thema nicht angefasst worden. Wir haben in der Großen Koalition für eine Erhöhung des Freibetrags für Alleinerziehende gesorgt und so
Familien entlastet. Das hilft auch gegen Kinderarmut.
({4})
Natürlich kann man weitergehen. Koalitionen stellen
immer auch - das wissen Sie aus Hessen, das wissen Sie
aus rot-grünen Koalitionen, das wissen Sie aus Brandenburg; Sie werden es auch in Berlin erfahren und in
Thüringen - Kompromisse dar, und man freut sich, wenn
man nach Wahlen andere Mehrheiten bekommt oder
wenn man Koalitionspartner auch mal überzeugen kann.
Das ist durchaus der Fall. - Wir als Sozialdemokraten
sind bei Ihnen und sagen: Das Ehegattensplitting ist eine
ungerechte Maßnahme. Auch wir wollen das Ehegattensplitting Schritt für Schritt abschaffen.
({5})
Im Moment kommen wir da mit unserem Koalitionspartner nicht zusammen,
({6})
aber als eigenständige Fraktion darf man das durchaus
sagen.
({7})
Das Gleiche gilt übrigens für das, was meine Kollegin
Uli Bahr gerade zum Schluss angesprochen hat. Armutsbekämpfung bedeutet, Menschen, insbesondere Kinder,
in die Lage zu versetzen, teilhaben zu können. Das fängt
damit an, dass wir sagen: Bildung und Betreuung müssen
vom ersten Lebensjahr an beitragsfrei sein.
({8})
Und es sind sozialdemokratische Bundesländer, die gemeinsam mit Grünen, beispielsweise in Rheinland-Pfalz
oder auch in Hamburg, genau diese Beitragsfreiheit
Schritt für Schritt einführen.
({9})
Das ist eine vernünftige und richtige Entlastung, die den
Familien zugutekommt. Schleswig-Holstein wird sich
diesem guten Beispiel im Übrigen anschließen.
Herr Rix, der Kollege Weinberg wünscht eine Zwischenfrage.
Aber jetzt keine Koalitionsverhandlungen, lieber
Marcus.
({0})
Danke schön. - Lieber Sönke Rix, keine Angst, ich
habe nur eine kurze Zwischenfrage; wenn du Hamburg
erwähnst, dann muss ich mich einfach zu Wort melden.
Ich will nur daran erinnern, dass in Hamburg die Eltern für die fünfstündige Betreuung ihres Kindes von den
Gebühren freigestellt sind. Vielen Dank, davon profitiere
ich persönlich, auch mit meinem Einkommen. Ich will
aber auch daran erinnern: Hamburg hat den mit Abstand
schlechtesten Betreuungsschlüssel, was die Relation von
Erzieherinnen und Kindern angeht, in Westdeutschland.
Wäre es nicht sinnvoller gewesen, das Geld in Qualitätssteigerung zu investieren,
({0})
damit die Kinder endlich vernünftig betreut werden, statt
den Eltern, die ohnehin viel Geld verdienen, noch eine
Entlastung zu schenken?
({1})
Wenn ich dieser Begründung folge: Dann bist du, lieber Marcus Weinberg, wahrscheinlich auch dafür, dass
du für deine schulpflichtigen Kinder irgendwann Gebühren zahlen musst, weil man nicht genügend Mittel für die
Verbesserung der Infrastruktur in den Schulen zur Verfügung hat.
({0})
Nein, es bleibt bei dem Grundsatz: Gebührenfreiheit
für Bildung und Betreuung von Anfang an. Ich warne
davor, die Entlastungen von Familien gegen Infrastrukturausbau und gegen Beitragsfreiheit auszuspielen, lieber
Kollege Marcus Weinberg.
({1})
Meine Damen und Herren, es ist zum Schluss der Debatte richtigerweise angesprochen worden, dass wir eine
starke Zivilgesellschaft brauchen. Die Zivilgesellschaft
wird im Übrigen immer sehr stark von Kommunen unterstützt, und somit ist jede kommunale Entlastung, die
wir vornehmen, eine Entlastung zugunsten von Familien.
Das betrifft unter anderem das Thema Beitragsfreiheit,
aber auch das sehr gute Beispiel, das Sie vorhin, Frau
Pahlmann, in Ihrer Rede angesprochen haben.
Natürlich ist Zivilgesellschaft wichtig, und alles, was
Zivilgesellschaft selbst erreichen kann, ist wichtig. Aber
wenn wir die Infrastruktur von Zivilgesellschaft nicht unterstützen - was wir im Übrigen jetzt im Bundeshaushalt
viel besser tun als vorher -, dann werden aus guten Projekten keine wirklich guten Projekte. Deshalb ist es richtig und notwendig, die Zivilgesellschaft zu unterstützen,
damit auch die Zivilgesellschaft Familienarmut bekämpfen und Familien fördern kann.
({2})
Ich will einen allerletzten Punkt ansprechen, weil es
zu Beginn der Debatte um gute Bezahlung ging, insbesondere um die Frage, ab wann eine Familie in der Lage
ist, für sich selbst zu sorgen. Ein Kollege hat vorhin in
einer Zwischenfrage gesagt, dass es viele Eltern gibt, die
eigentlich ein auskömmliches Einkommen haben, aufgrund ihrer familiären Situation aber trotzdem Hartz IV
beziehen bzw. deren Kinder Hartz IV beziehen. Ich finde,
dann haben sie kein ausreichendes Einkommen, lieber
Kollege.
({3})
Für mich ist es so: Ein ausreichendes und gutes Einkommen muss dazu beitragen, dass sich eine Familie, auch
unabhängig von staatlicher Förderung, eine Existenz sichern kann. Daran müssen wir arbeiten: dass durch eine
entsprechende Lohnentwicklung dieses Problem behoben wird.
({4})
Ich danke Ihnen für den Antrag, auch weil er zu dieser
Debatte geführt hat; denn wir müssen immer mal wieder
über Familien- und Kinderarmut sprechen. Ich freue mich
auf die Debatte im Ausschuss und weitere Vorschläge.
Herzlichen Dank.
({5})
Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage
auf Drucksache 18/10473 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom
19. Mai 2016 zum Nordatlantikvertrag über
den Beitritt Montenegros
Drucksache 18/9989
Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses ({0})
Drucksache 18/10332
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. Gibt es dazu
Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so
beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner in dieser Debatte hat Josip Juratovic für die SPD-Fraktion das
Wort.
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Gestern früh kam die parlamentarische Freundschaftsgruppe
für Südosteuropa zusammen. Zu Gast waren Forscher
und Aktivisten aus dem Bereich der Pressefreiheit. Unser
Thema war die Freiheit der Medien auf dem Westbalkan.
Das Urteil der Experten fiel sehr schlecht aus. Das ist
kein gutes Zeichen.
Gestern Nachmittag saß ich im Gesprächskreis Südosteuropa. Der Direktor der Friedrich-Ebert-Stiftung in
Pristina und ein Wissenschaftler aus dem Kosovo berichteten über den zunehmenden Einfluss der Türkei auf dem
Westbalkan. Das ist ebenfalls kein gutes Zeichen.
Dieser Tage durfte ich auch mit oppositionellen Abgeordneten aus Podgorica sprechen. Dabei musste ich feststellen, dass die Bedeutung der repräsentativen Demokratie und der Respekt vor der parlamentarischen Arbeit
dort von unserem Verständnis leider um einiges entfernt
sind. Auch dies ist für mich kein gutes Zeichen.
Vor einer Stunde kamen wir mit dem montenegrinischen Staatssekretär für Europa zusammen. Seine Vision - eine Annäherung an die EU - wird in der Praxis
leider nicht so umgesetzt, wie wir uns das wünschen würden. Ein viertes Mal muss ich sagen: Kein gutes Zeichen.
Kolleginnen und Kollegen, der Deutsche Bundestag
wird heute darüber entscheiden, ob wir unsere europäischen Nachbarn aus Montenegro in die nordatlantische
Gemeinschaft der NATO aufnehmen wollen. Die soeben
beschriebenen Gespräche hinterlassen bei mir eine gemischte Gefühlslage. Ich frage mich: Ist es wirklich richtig, Montenegro angesichts der immer noch vorhandenen
Herausforderungen in die NATO aufzunehmen?
Warum werben wir für die Mitgliedschaft eines nicht
immer einfachen Partners in einem Bündnis, das selbst
bei nicht allen von uns unumstritten ist? Jenen, die sich
hierbei angesprochen fühlen, möchte ich drei Antworten mit auf den Weg geben: Es geht um uns. Genauer
gesagt, es geht um unsere guten sicherheitspolitischen
Erfahrungen mit dem Bündnis NATO, um die strategischen Interessen unseres Landes und vor allem um die
Werte der deutschen Außenpolitik. Kolleginnen und Kollegen, unsere Erfahrung zeigt uns: Deutschland und die
anderen NATO-Mitglieder profitieren seit über einem
halben Jahrhundert vom gegenseitigen Beistand. Die
NATO ist eine jener Organisationen, die uns neben der
EU seit 70 Jahren Frieden sichert, genau jenen Frieden,
den Deutschland und Europa davor über Generationen
nicht hatten.
({0})
Die NATO hat das Leben ihrer aktuell 920 Millionen
Einwohner sicherer gemacht. Sicherheit im Frieden ist
das wichtigste Gut, das wir haben.
Wenn wir Montenegro in die NATO aufnehmen, ist
dies ein Weg, unsere ureigenen Interessen zu verfolgen.
Zu unseren Interessen gehört zunächst die eben beschriebene Sicherheit. Zu unseren Interessen gehört aber auch
ein zusammenhängendes Bündnisgebiet. Wir wollen
Partner einbinden, die sich sonst womöglich für andere
Wege entscheiden. Um es deutlich zu sagen: Der Westbalkan ist bereits Spielball unterschiedlicher globaler
und regionaler Mächte - auf einem Spielfeld direkt vor
unserer Tür. Wir wollen jene Staaten in unsere sicherheitspolitischen Bündnisse einbeziehen, die sich ohnehin
auf den Weg Richtung EU gemacht haben.
({1})
Denn zu unseren Interessen gehört auch ein starkes
Europa. Wenn wir ein Europa haben möchten, das auf
globaler Ebene auf Augenhöhe agieren kann, müssen
wir geschlossen sein. Wenn wir geschlossen sein wollen,
können wir uns keine Insel der Instabilität mitten in Europa leisten. Instabilität macht Europa angreifbar. In der
Gesetzesbegründung heißt es:
Die Bundesregierung ist davon überzeugt, dass der
NATO-Beitritt Montenegros einen Beitrag zu Sicherheit und Stabilität im euro-atlantischen Raum
leisten wird.
Genau diese Überzeugung teilen wir Sozialdemokraten.
Bei allen Zwängen und sicherheitspolitischen Notwendigkeiten basiert unsere Außenpolitik vor allem auf
Werten. Dabei ist das Nordatlantische Bündnis einerseits
Wert an sich, weil es für Kooperation steht. Darüber hinaus geht es um die großen demokratischen Werte. Es ist
richtig: Gewaltenteilung, aber auch Pressefreiheit sind in
Montenegro noch sehr ausbaufähig. Doch Montenegro ist
bereits im Prozess des Beitritts zur EU. Die dazugehörige
Demokratisierung kann sich in Montenegro umso besser
entwickeln, wenn sich das Land der schwarzen Berge im
Rahmen der NATO sicher fühlen kann. Das gemeinsame Sicherheitssystem erleichtert Demokratisierung und
EU-Annäherung. Es stimmt: Montenegro ist kein lupenreiner demokratischer Staat. Aber um es mit den Worten
eines großen Sozialdemokraten zu sagen: Wir wollen den
Wandel durch Annäherung.
({2})
Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sehen auf dem Westbalkan die Chance, in unserer Nachbarschaft Frieden und Stabilität zu bewahren. Das ist im
Interesse der Menschen vor Ort und in unserem eigenen
Interesse. Wichtig ist auch: Wir sind 25 Jahre nach dem
Zerfall Jugoslawiens. Irgendwann - am besten so bald
wie möglich - müssen die geschundenen Völker des
Westbalkans ihre Ruhe bekommen. Sie sollen sich zugehörig fühlen. Keine gute Entwicklung wäre es, weiterhin
ohne feste Perspektive zwischen unterschiedlichen globalen und regionalen Einflüssen hin- und hergerissen zu
sein.
Der Westbalkan gehört in die NATO, weil der Westbalkan zu Europa gehört. Der Beitritt Montenegros zur
NATO ist ein weiterer Schritt bei der Heranführung des
Westbalkans an Europa. Daher bitte ich um Ihre Zustimmung.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Als nächster Redner hat Dr. Alexander Neu für die
Fraktion Die Linke das Wort.
({0})
Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrte Frau
Präsidentin! Montenegro soll also der NATO beitreten.
Damit wird die NATO ein weiteres Mal ihren Einflussund Kontrollbereich erweitern, hier um ein Balkanland.
Die NATO-Erweiterung insgesamt ist einem politischen
Ansatz geschuldet, der davon ausgeht, dass Sicherheit in
Europa ohne Russland oder vielleicht auch gegen Russland möglich und wünschenswert ist. Es ist ein konfrontatives Sicherheitskonzept.
Es geht aber auch anders, und zwar mit einem kooperativen Sicherheitskonzept, das vorsieht, Sicherheit in
Europa mit Russland herzustellen. Das ist nachhaltiger.
({0})
Nach den Verlautbarungen der CDU oder der SPD,
also der Regierungsparteien, favorisieren sie sogar das
kooperative Sicherheitskonzept,
({1})
zumindest verbal.
So heißt es beispielsweise in dem außenpolitischen
Positionspapier der SPD-Bundestagsfraktion vom
Juli 2016 - ich zitiere -: „Stärke zeigen allein genügt
nicht“. - Was für eine Einsicht! - „Für eine glaubwürdige und kooperative Sicherheits- und Friedenspolitik in
und für Europa“.
Auch Kanzlerin Merkel steht dem nicht hinterher.
In ihrer Regierungserklärung vor dem NATO-Gipfel in
Warschau sagte sie - ich zitiere -:
Wir als NATO-Partner sind uns einig, dass dauerhafte Sicherheit in Europa nur mit und nicht gegen
Russland zu erreichen ist.
Schöne Worte.
Die Wirklichkeit sieht anders aus, sehr geehrte Damen
und Herren. Da tun Sie genau das Gegenteil. Statt einer
friedensichernden, statt einer sicherheitspolitischen Kooperation bauen Sie den NATO-Einflussraum aus, zum
Beispiel mit Hilfe der NATO-Osterweiterung. Sehr geJosip Juratovic
ehrte Damen und Herren, das ist nichts anderes als primitive Geo- und Machtpolitik, die Sie hier betreiben.
({2})
- Hören Sie einfach einmal zu! - Montenegro ist ein
Staat mit der Einwohnerzahl von Düsseldorf. Ich bin
im Sommer dieses Jahres mit der Kollegin Höger nach
Montenegro geflogen. Wir haben uns dort mit politischen
Parteien und Vertretern der Zivilgesellschaft getroffen.
Ergebnis: Montenegro ist ein zutiefst zerrissenes Land
zwischen NATO-Gegnern und NATO-Befürwortern.
Die Oppositionsparteien und auch zivilgesellschaftliche
Gruppen haben uns erklärt, dass die Mehrheit der Menschen gegen einen NATO-Beitritt und für die Neutralität Montenegros sei. Aber einen Volksentscheid darüber
lehnt das autoritäre Djukanovic-Regime ab - er ist zwar
jetzt nicht mehr Ministerpräsident, aber das Regime ist
nach wie vor an der Macht -, wohl wissend, dass dieses
Referendum in einer Niederlage enden würde und ein
NATO-Beitritt passé wäre.
Die parlamentarische und die außerparlamentarische
Opposition gegen den NATO-Beitritt sind Repressionen ausgesetzt. Der Sprecher der NGO „Nicht in die
NATO“ - so heißt diese Organisation - wurde von der
Polizei misshandelt. Andere werden willkürlich verhaftet. Was sagt der Westen? Was sagt Berlin dazu? Man
drückt wieder einmal alle Augen zu.
Die „Bewegung für Neutralität“ Montenegros - auch
eine NGO - verfügt über Informationen von WikiLeaks,
({3})
nach denen klare Anweisungen aus Washington, Brüssel und Berlin kommen, wie eine effektive Öffentlichkeitsarbeit gemacht werden kann, um die Stimmung in
Montenegro zugunsten der NATO umzudrehen. So soll
die Bevölkerung, die noch vor 17 Jahren von der NATO
bombardiert wurde, jetzt dazu gebracht werden, die
NATO lieb zu haben. Das ist unfassbar, sehr geehrte Damen und Herren.
({4})
Unser Fazit ist: Die Äußerungen der CDU und der
SPD zur kooperativen Sicherheitspolitik bleiben Lippenbekenntnisse; denn die NATO-Osterweiterung ist ein
geo- und sicherpolitisches Konfrontationsprojekt, das
weiter vorangetrieben wird. Montenegro fehlt als letzter
Staat der europäischen Mittelmeeranrainer, um das nördliche Mittelmeer zum NATO-Meer zu machen. Dafür
schaut man auch großzügig über die Verletzung westlicher Werte hinweg - wie so häufig, wenn es um Interessen und Machtpolitik geht, siehe Türkei.
Wir als Linke fordern ein Umdenken. Beenden Sie
die NATO-Osterweiterung, und fangen Sie endlich mit
einem Kurswechsel an! Beginnen Sie mit einer ehrlichen
sicherheitspolitischen Kooperation für den gesamten europäischen Kontinent!
Danke.
({5})
Als nächster Redner spricht Peter Beyer für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Das Debattenthema jetzt lautet: NATO-Mitgliedschaft
Montenegros. Das ist das wichtigste außenpolitische
Ziel dieses Landes in den vergangenen Jahrzehnten, so
muss man es sagen. Es ist nun erreicht. Es ist ein langer
Weg, an dessen Ende aus ehemaligen Feinden Verbündete werden. Insgesamt ist dieser Prozess in die Westannäherung des Landes eingebettet. Dabei stehen auch die
EU-Beitrittsverhandlungen im Zentrum.
Bei allen Herausforderungen, die das Land noch zu
bestreiten hat, ist Montenegro auf einem richtigen Weg
und auf einem guten Kurs hin zur Vollmitgliedschaft in
der Europäischen Union. Man kann sich durchaus die
Frage stellen: Was kann ein sehr kleines Land wie Montenegro - wir haben es gerade gehört: ich habe es nicht
nachgezählt, mit der Einwohnerzahl Düsseldorfs; - zum
Bündnis, zur NATO beitragen? Wir müssen uns vor Augen halten, dass Montenegro bereits dabei ist, beizutragen, ohne NATO-Mitglied zu sein, und zwar beim Afghanistan-Einsatz ISAF und bei der Nachfolgemission
Resolute Support Mission.
Darüber hinaus hat Montenegro angekündigt, sich im
Rahmen des KFOR-Einsatzes zu beteiligen. Das zeigt,
dass Montenegro bereit ist, seine sicherheitspolitische
Verantwortung mit großer Ernsthaftigkeit wahrzunehmen. Es ist natürlich auch klar, dass für das Bündnis, für
die NATO selbst, die Aufnahme von Montenegro symbolischen Charakter hat. Die NATO gibt damit aber auch
ein Statement ab. Zum Beispiel unterstreicht die NATO
damit die Relevanz des Balkans für den Westen, und sie
bekennt sich zur Politik der offenen Tür.
Man muss sich auch vor Augen halten, dass der östliche Teil der Adriaküste mit der Aufnahme Montenegros
und der schon im Jahre 2009 erfolgten Aufnahme Albaniens und Kroatiens geschlossenes NATO-Gebiet ist.
Herr Kollege Neu, es mag Sie erzürnen, dass Montenegro - aus meiner Sicht: richtigerweise - das Ansinnen der
russischen Regierung abgelehnt hat, die Bucht von Kotor für die russische Marine zu nutzen. Dass sie jetzt geschlossen ist, ist, glaube ich, eine richtige Entscheidung.
Es ist in diesem Zusammenhang auch wichtig, zu sagen, dass es darum geht, Stabilität zu schaffen und die
Staaten des ehemaligen Jugoslawiens bei ihrer Westanbindung zu unterstützen. Es geht darüber hinaus um die
Zugehörigkeit zur transatlantischen Wertegemeinschaft,
zu der sich Montenegro - übrigens nicht gezwungenerDr. Alexander S. Neu
maßen, sondern in freier Selbstbestimmung - bekannt
hat.
({0})
Es ist ein gutes, wichtiges, aber auch notwendiges
Zeichen, dass sich auch die neue, gerade frisch ins Amt
gekommene Regierung Montenegros zu dieser Wertegemeinschaft bekannt und zum Ausdruck gebracht hat, dass
das Land dazugehören will, dass es weiterhin den Weg
der Reformen beschreiten will, wie es namentlich durch
den Premierminister Dusko Markovic geschehen ist.
Es ist aber auch richtig, dass wir in unserem Appell
nicht nachlassen dürfen, die Regierung in Montenegro
dabei zu bestärken, dass man den einmal beschrittenen
Weg der Reformen nicht verlassen darf und dass es jetzt
darauf ankommt, dabei nicht nachzulassen. Es müssen
über den Zeitpunkt der Aufnahme in die NATO hinaus sie kommt ja erst noch, vielleicht im Frühjahr nächsten
Jahres - alle Anstrengungen unternommen werden, den
Weg von Reformen und Stabilität beherzt und ernsthaft
weiter zu beschreiten.
Vielleicht sogar wichtiger als der Beitritt zur NATO
war letztlich der Vorbereitungsprozess. Denn er hat zum
Beispiel dazu geführt, dass deutliche Schritte unternommen wurden, um politisch unbelastete Nachrichtendienste zu schaffen. Dies war - neben der Schaffung von
demokratischen Strukturen und von Rechtsstaatlichkeit eine der zentralen Forderungen und Voraussetzungen für
die NATO-Mitgliedschaft. Durch die jetzt umgesetzten
Reformen hat Montenegro seine Bündnisfähigkeit unter
Beweis gestellt. Die vollständige Anpassung der eigenen
Strukturen an NATO-Standards braucht aber noch Zeit,
übrigens auch, was die Schließung von durchaus noch
vorhandenen Fähigkeitslücken anbelangt.
Eine Regierung kann keine Politik an der eigenen
Bevölkerung vorbei machen. Deswegen ist es wichtig,
dass die neue Regierung nicht nachlässt, die eigene Bevölkerung mit guten Argumenten zu überzeugen - Herr
Kollege Neu hat es beschrieben: in dem Punkt gibt es
eine Spaltung in der Gesellschaft -, dass es richtig war,
den Weg in die NATO und damit zur Stabilität weiter zu
beschreiten.
Meine Damen und Herren, ich möchte mit einem
Punkt, der vorhin schon angeklungen ist, schließen. Sowohl in der letzten Wahlperiode als auch und gerade in
der neuen Wahlperiode des montenegrinischen Parlaments zeigte sich, dass die Opposition, zumindest weite
Teile der Opposition, die Plenarsitzungen boykottiert. Ich
würde mir wünschen - dies vielleicht als Appell von Parlamentarier zu Parlamentarier -, dass die Kollegen der
Opposition in Montenegro den politischen Diskurs dorthin verlagern, wo er hingehört, nämlich in einen solchen
Saal, ins Parlament. Denn dort findet der demokratische
und parlamentarische Wettstreit der Ideen und der politischen Überzeugungen statt, und nicht auf der Straße.
Ich glaube, dann kann man konstruktiv zum Wohle des
Landes beitragen.
Vielen Dank.
({1})
Als nächster Redner hat Dr. Tobias Lindner für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit Montenegro nehmen wir ein Land in die NATO auf, das kleiner ist
als Schleswig-Holstein. Die Armee von Montenegro ist
gerade einmal 2 000 Soldaten stark. Wenn sich die NATO
dadurch gestärkt fühlen würde, dann wäre das genauso
albern, als würde sich Russland dadurch bedroht fühlen.
({0})
Genauso albern ist es, Herr Kollege Neu, wenn Sie hier
sagen, das würde die Sicherheitsarchitektur in Europa signifikant verändern.
({1})
Es geht bei diesem Beitritt natürlich um Symbolik. Es
geht auch darum - da hätten Sie vielleicht auf Ihren Genossen Michail Sergejewitsch Gorbatschow hören sollen,
als er von freier Bündniswahl gesprochen hat -, dass wir
uns die Beitrittsbedingungen nicht diktieren lassen. Jedes
Land in Europa hat das Recht auf freie Bündniswahl,
({2})
und jedes Bündnis entscheidet souverän darüber, wer bei
ihm Mitglied sein darf und wer nicht.
({3})
Montenegro hat sich für die NATO entschieden, und
heute stimmen wir darüber ab, Montenegro in die NATO
aufzunehmen. Aber gerade weil Montenegro dann
NATO-Mitglied sein wird, müssen wir genau hinschauen
und dürfen nicht schweigen.
Wir mussten in diesen Tagen schmerzlich erfahren:
Eine NATO-Mitgliedschaft ist keine Garantie für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.
({4})
Wer gedacht hatte, dass die Zeiten einer Militärdiktatur
in Griechenland oder des Franquismus in Spanien vorüber sind und unter den NATO-Mitgliedern nur Demokratien sind, der wird in diesen Tagen von Herrn Erdogan
eines Schlechteren belehrt. Wenn die NATO es ernst damit meint, eine Wertegemeinschaft zu sein, dann darf sie
nicht so leisetreterisch auftreten wie ihr Generalsekretär
kürzlich in Istanbul.
({5})
Ein NATO-Generalsekretär, der dazu schweigt, dass die
Türkei zurzeit im Nordirak das Völkerrecht bricht, der
dazu schweigt, dass die Türkei Soldaten des NATO-Partners USA militärisch attackiert, der dazu schweigt, dass
türkische NATO-Offiziere so verfolgt werden, dass sie
in anderen NATO-Ländern - auch in Deutschland - um
Asyl bitten müssen, der macht nicht seinen Job, liebe
Kolleginnen und Kollegen.
({6})
Wer die Wertegemeinschaft NATO ernst nimmt, der darf
an dieser Stelle nicht schweigen.
Man muss sagen: Montenegro ist nicht die Türkei.
Aber mit seinem Beitritt sind wir natürlich nicht aus der
Verantwortung entlassen. In Montenegro herrscht - das
wurde angesprochen - massive Korruption. Die Strafverfolgung ist ineffektiv. Auf dem Pressefreiheitsindex
von Reporter ohne Grenzen nimmt das Land den unrühmlichen Rang 106 von 180 ein. Im letzten Jahr gab es
19 Übergriffe auf Journalisten. Auch der Mord an Dusko
Jovanovic, dem Eigentümer der größten regimekritischen
Zeitung, im Jahr 2004 ist bis heute nicht aufgeklärt. Es
kann nicht sein, dass wir von der Idee ausgehen: Was im
Bündnis passiert, bleibt im Bündnis. - Im Gegenteil: Wir
müssen Missstände klar und deutlich ansprechen und
Montenegro dabei unterstützen, Korruption zu bekämpfen und die Rechtsstaatlichkeit im Land zu verbessern.
({7})
Lassen Sie mich zum Schluss noch drei Bemerkungen
machen:
Erstens. Wenn es Russland ernsthaft an einer vernünftigen Sicherheitspartnerschaft in Europa gelegen
ist, dann sollte Herr Putin hier keinen Pappkameraden
aufstellen. Sein Land ist durch diesen Beitritt in keiner
Weise bedroht.
({8})
Zweitens muss man sagen: Dieser Beitritt ist kein Präjudiz für die Länder Georgien und die Ukraine. Deren
Beitritt steht kurz- und mittelfristig nicht auf der Agenda.
Man kann aus dem Beitritt Montenegros nichts ableiten.
Drittens - das ist der letzte Punkt, liebe Kolleginnen
und Kollegen -: Das alles befreit die NATO nicht aus
der Verantwortung, wenn sie von Abschreckung und Dialog spricht, den Dialog ernst zu nehmen. Wir müssen
weitere Anstrengungen zeigen, was beispielsweise den
NATO-Russland-Rat und Instrumente der Rüstungskontrolle anbetrifft. Da ist die NATO meiner Meinung nach
in der Bringschuld, jede Mühe an den Tag zu legen, um
Russland zu Gesprächen darüber zu zwingen.
Herzlichen Dank.
({9})
Als letzte Rednerin in dieser Aussprache hat Julia
Obermeier für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! 1949 haben sich zwölf Staaten zur Nordatlantischen Allianz zusammengeschlossen. Sie eint nach
wie vor der Wunsch, gemeinsam eine friedliche, freie
und sichere Welt zu gestalten. Zudem versichern sie sich
gegenseitigen Beistand. Das Bündnis verstand und versteht sich auch als Wertegemeinschaft der freien demokratischen Staaten. Die NATO ist als Werte- und Verteidigungsgemeinschaft so attraktiv, dass sich mittlerweile
14 weitere Staaten souverän und aus freien Stücken dem
Bündnis angeschlossen haben.
({0})
So war es auch bei den zwölf Staaten aus Osteuropa.
({1})
Sie alle haben ihre Freiheit der Bündniswahl in Anspruch
genommen. Das tut nun auch Montenegro, das im Mai
dieses Jahres das NATO-Beitrittsprotokoll unterzeichnet
hat.
Warum nimmt die NATO Montenegro auf? Militärisch hat das kleine Land mit etwa 620 000 Einwohnern
nur überschaubare Fähigkeiten und Ressourcen. Die Armee, bestehend aus Heer, Marine und Luftwaffe, umfasst
etwa 2 000 Soldaten, verfügt über 16 Transportpanzer,
15 Mehrzweckhubschrauber und 5 Patrouillenboote.
Der Verteidigungsetat beträgt 42 Millionen Euro. Auch
kämpft Montenegro mit wirtschaftlichen Problemen, mit
Korruption und organisierter Kriminalität. Allerdings ist
das Land ein wichtiger Stabilitätsfaktor in der Region.
Montenegro bekräftigt mit dem NATO-Beitritt, dass es
zur Gemeinschaft der rechtsstaatlichen und pluralistischen Demokratien des Westens gehört.
({2})
Dieser Kurs wurde durch die Parlamentswahl in Montenegro im Oktober dieses Jahres bestätigt. Die Demokratische Partei der Sozialisten des prowestlichen Regierungschefs Milo Djukanovic hat mit 41 Prozent zwar die
absolute Mehrheit verfehlt, ist aber als eindeutiger Sieger
aus der Wahl hervorgegangen.
({3})
Die größte Oppositionspartei, die prorussische Demokratische Front, kam auf lediglich 20 Prozent.
Gerade angesichts der langwierigen Annäherung des
Westbalkans an die EU ist die Aufnahme Montenegros in
die NATO ein wichtiges politisches Signal. Wir machen
damit deutlich: „Wer sich zu unseren Werten bekennt,
kann Teil der Gemeinschaft werden“ und „Der Westbalkan gehört zur euro-atlantischen Gemeinschaft“.
({4})
Dieses Signal schwächt zugleich auch ein Stück weit den
langen Arm Putins, der sich mehr und mehr nach den vermeintlichen Bruderstaaten des Westbalkans auszustrecken versucht. Insgesamt bedroht die aggressive Politik
Russlands durchaus die europäische Friedensordnung.
Die dramatischen Entwicklungen im Nahen Osten und
in Nordafrika zeigen die massiven sicherheitspolitischen
Veränderungen. Die Bedrohungen haben insgesamt zugenommen.
Meine Damen und Herren, gerade in diesen Zeiten
ist die Stärke der NATO gefordert - nach außen, aber
auch nach innen. Die NATO ist, wie ich eingangs sagte, auch eine Wertegemeinschaft. Die Grundlagen für die
NATO-Mitgliedschaft sind der Respekt vor der Verfassung, dem Rechtsstaat und den Grundfreiheiten. Wir als
Parlamentarier des Deutschen Bundestages werden nicht
müde, daran immer wieder zu erinnern, auch aktuell gegenüber der Türkei, wie wir dies vor zwei Wochen auf
der NATO-Tagung in Istanbul deutlich getan haben.
({5})
- Sie waren ja nicht dabei.
Kommende Woche tagt das NATO-Parlament in Washington. Aber unabhängig vom Ausgang der Präsidentschaftswahlen in den USA müssen wir uns in Europa
unserer internationalen Verantwortung stellen und bereit
sein, mehr Lasten zu übernehmen. Wir müssen hier nicht
nur mehr Geld investieren, sondern unsere Mittel auch
wirksamer einsetzen, als wir das bisher getan haben.
Die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik steht keinesfalls im Widerspruch, sondern in Ergänzung zur NATO. Angesichts der vielen internationalen
Krisen und Konflikte brauchen wir ein starkes Europa
und eine starke NATO.
({6})
Mit Montenegro erhält die NATO ihr 29. Mitglied. Dass
die NATO wächst und ihre Tür offenbleibt, stärkt die
NATO und stärkt auch die Werte, auf denen die NATO
aufbaut. Das fördert Friede, Freiheit und Sicherheit in
unserer Welt. Deshalb bitte ich Sie um Ihre Zustimmung
zum Gesetzentwurf der Bundesregierung.
Vielen Dank.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit schließe ich
die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zu
dem Protokoll vom 19. Mai 2016 zum Nordatlantikvertrag über den Beitritt Montenegros. Der Auswärtige
Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 18/10332, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/9989 anzunehmen. Ich weise
darauf hin, dass es sich hier um ein Vertragsgesetz handelt. Deshalb gibt es nur eine zweite Lesung, also keine
dritte.
Zweite Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Enthält sich jemand? - Das ist nicht
der Fall. Dann ist der Gesetzentwurf mit den Stimmen
der Koalition und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen
worden.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 33 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur
Änderung des Gentechnikgesetzes
Drucksache 18/10459
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft ({0})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. Gibt es dazu
Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so
beschlossen.
Wenn die Kolleginnen und Kollegen ihre Plätze eingenommen haben, beginnen wir mit der Aussprache.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Bundesminister Christian Schmidt für die Bundesregierung das Wort.
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die große Mehrheit der Bürgerinnen
und Bürger in unserem Land lehnt den Anbau gentechnisch veränderter Pflanzen ab. Deshalb haben wir in unsere Koalitionsvereinbarung geschrieben - ich zitiere -:
Wir erkennen die Vorbehalte des Großteils der Bevölkerung gegenüber der grünen Gentechnik an.
Die Konsequenz, die ich als Bundeslandwirtschaftsminister aus dem Auftrag der Koalitionsvereinbarung
ziehe, lautet: Ich will und werde den kommerziellen Anbau Grüner Gentechnik auf unseren Äckern rechtsstaatlich organisiert und rechtsstaatlich strukturiert unterbinden; ich will keinen kommerziellen Anbau. Schon heute
bauen deutsche Landwirte keine gentechnisch veränderJulia Obermeier
ten Pflanzen an, und das ist nach meiner Kenntnis auch
nicht geplant. Ich will, dass das so bleibt. - Dazu nutze
ich die Verbotsmöglichkeiten, die uns nunmehr die sogenannte Opt-out-Regelung auf europäischer Ebene eröffnet. Insofern freue ich mich, heute den Entwurf eines
Gesetzes zur Änderung des Gentechnikgesetzes in die
Beratungen des Hohen Hauses einzubringen. Denn nur
damit können wir den Anbau von gentechnisch veränderten Pflanzen in Deutschland rechtssicher und flächendeckend untersagen - jenseits der Frage, wie der Einzelne
zu diesen Vorstellungen steht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, eines voran: Es
handelt sich um schwierige Rechtsfragen, weil wir bei
dieser Problematik auf verschiedenen Ebenen, die ineinander verknüpft sind, arbeiten, handeln und entscheiden
müssen. Aber wenn wir Rechtssicherheit haben wollen,
dann müssen wir eine nationale Regelung treffen, die
vor Gericht auch standhält. Genau deshalb müssen Bund
und Länder beim Anbauverbot für Grüne Gentechnik
gemeinsam Verantwortung tragen. Wir nehmen unsere
Verantwortung für den Bund auch wahr, weil wir den
Ländern helfen wollen, die bei Fehlen einer Bundesregelung das Anbauverbot alleine umsetzen müssten; die
rechtsstaatliche Möglichkeit dazu haben sie. Dieses Prinzip der gemeinsamen politischen Verantwortung ist das
zentrale Element des Gesetzentwurfs, und es ist auch die
gemeinsame Linie der Länder und sogar der Umweltminister- und Agrarministerkonferenz.
Wie genau sieht das Bund-Länder-Zusammenspiel
nach meinem Gesetzentwurf aus? Grundsätzlich soll
der Bund die Anbauverbote flächendeckend für ganz
Deutschland verhängen. Die zwingenden Gründe, die
hierfür nach europäischer Verordnung angeführt werden
müssen, werden von Bund und Ländern gemeinsam zusammengetragen, weil sie regional unterschiedlich bewertet und gewichtet werden können. Wir haben kein
einheitliches Land, was die Ökologie und die Topografie
betrifft.
({0})
- Ja, so ist es. Flach ist es mehr bei euch im Norden, während es bei anderen eher bergig ist. Diese Unterschiede
bedingen auch andere Arten.
({1})
Wenn man Ökologiepolitik betreiben will, muss man sich
schon die Mühe machen, auf die Details zu schauen, und
darf keinen großen Überflug machen.
({2})
Ich freue mich - darin bin ich mir auch sicher -, dass die
Länder gerne mithelfen. Die Länder müssen im eigenen
Interesse eine gemeinsame Regelung erarbeiten.
Das Gesetz gibt dem Bund in allen Verfahrensstufen
eine klare Richtung vor. Sofern alle gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind, soll der Bund tätig werden,
wenn sich die Länder mehrheitlich dafür aussprechen.
Die Voraussetzungen sind unter anderem zwingende
Verbotsgründe für das gesamte Bundesgebiet sowie ein
Verbot im Einklang mit dem EU-Recht und dem WTORecht, und zwar begründet, verhältnismäßig und nicht
diskriminierend, also so, wie Gesetze bei uns gemacht
werden müssen. Von dieser vorgegebenen Entscheidung
für ein Handeln des Bundes kann nur in Ausnahmefällen
abgewichen werden. Mit den sogenannten Sollvorschriften geht der Entwurf sogar noch über die Eckpunkte der
Bund-Länder-Arbeitsgruppe, die ich angeregt hatte und
die getagt hat, hinaus, die auch eine Kannregelung zugelassen hätte. Doch das wichtigste Argument für den hier
vorgelegten Entwurf ist: Wir schaffen dadurch Rechtssicherheit, dass wir die Verbotsgründe sorgfältig zusammentragen und nicht darauf warten, dass ein Gericht uns
das Verbot aus den Händen schlägt.
Noch ein Wort zu einem aktuellen Thema, den Maissorten, weil ich spüre, dass die eine oder andere Diskussion kommt, die nicht immer von vertiefter Sachkenntnis
geprägt ist, wie ich aufgrund meiner Erfahrungen leider
vermuten muss. Sie werden ab und zu sicherlich ebenfalls Anfragen zu den drei bekannten Maislinien 1507,
Bt 11 und MON 810, die in diesem Haus sehr gut bekannt sind, bekommen. Wie Sie wissen, hat Ilse Aigner
den Anbau der Maissorte MON 810 gestoppt. Wenn es
um rechtssichere Anbauverbote geht, sind wir sehr aufmerksam. Deswegen habe ich in der ersten Phase der
Opt-out-Regelung erreicht, dass zu den bereits gestoppten Sorten kein erneuter Antrag gestellt werden kann.
Das heißt, aktuell besteht - Gott sei Dank - keine Notwendigkeit, sozusagen ein Krisengentechnikverbot zu
erlassen. Wir haben nämlich Vorsorge getroffen, sodass
heutzutage faktisch kein gentechnisch veränderter Mais
angebaut werden kann.
({3})
Weil ein weiterer Punkt immer wieder von Kritikern
vorgetragen wird, möchte ich auch dazu Stellung nehmen. Es geht um den Anbau von genveränderten Organismen zu Forschungszwecken. Wir haben den Forschungsanbau von der auf den kommerziellen Anbau
ausgerichteten Opt-out-Regelung ausgenommen.
({4})
Das ist aber kein Einfallstor für die Gentechnik, sondern
gerade das Gegenteil; denn der Forschungsanbau ist zentral, um uns die Kompetenz für eine eigene Bewertung
von Chancen und Risiken gentechnisch veränderter Organismen in Deutschland zu erhalten. Vor zwei Jahren,
als in Brüssel noch über die Opt-out-Richtlinie verhandelt wurde, hat der Deutsche Bundestag in einem Antrag die Bundesregierung aufgefordert - ich zitiere mit
Genehmigung der Präsidentin -, „Möglichkeiten zum
nationalen Ausstieg aus dem GVO-Anbau rechtssicher
zu verankern“. Dieser sehr berechtigten und fundierten
Forderung des Parlaments kommen wir mit diesem Gesetzentwurf nach. Das Ergebnis liegt Ihnen vor. Wir müssen den Begriff der Rechtssicherheit im Blick behalten.
Deklamation ist das eine, Dauerhaftigkeit das andere.
Dauerhaftigkeit muss hier Vorrang haben.
Herzlichen Dank.
({5})
Als nächste Rednerin hat Karin Binder für die Fraktion Die Linke das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Worüber reden wir heute?
Wir reden über ein gefährliches Bürokratiemonster. Mit
einem Eingriff in die DNA der Verwaltung von Bund und
Ländern schafft Minister Schmidt dieses Monstrum, das
er dann das Vierte Gesetz zur Änderung des Gentechnikgesetzes nennt. Nach meinem Dafürhalten versucht er,
mit allen Mitteln Gentechnik in der deutschen Landwirtschaft durchzusetzen.
({0})
Damit stellt er sich gegen den ausdrücklichen Wunsch
der Bundesländer, die ein Anbauverbot von Gentechnik mit einer einfachen, unbürokratischen Regelung
flächendeckend bundesweit haben wollten. Herr Minister Schmidt stellt sich gegen die Verbraucherinnen und
Verbraucher. Eine überwiegende Mehrheit der Menschen
lehnt, wie Sie es gesagt haben, Gentechnik auf dem Feld,
im Stall und auf ihrem Teller ab.
({1})
Er sieht sich offensichtlich in einer Zwickmühle. Der
Gesetzentwurf soll eine EU-Richtlinie umsetzen und regeln, wie Deutschland als EU-Mitgliedstaat den Anbau
von genmanipulierten Pflanzen einschränken oder verbieten kann. Da das Bundeslandwirtschaftsministerium
die Umsetzung von EU-Recht nicht verweigern und verhindern kann, hat man sich folgende absurde Regelungen
ausgedacht:
Erstens. Sechs Bundesministerien müssen in kürzester
Zeit nach dem Antrag eines Saatgutkonzerns im Einvernehmen entscheiden, ob der Anbau einer Genpflanze in
Deutschland zugelassen werden soll.
Zweitens. In derselben Zeit soll die Mehrheit der Bundesländer zwingende Gründe benennen, um ein Anbauverbot durchzusetzen.
Drittens. Alle Beteiligten müssen sich innerhalb von
knapp sechs Wochen einigen - wie das gehen soll, ist mir
absolut unklar -:
({2})
das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft im Einvernehmen mit Bildung und Forschung, mit
Wirtschaft und Energie, mit Arbeit und Soziales, mit Gesundheit und letztendlich auch mit Umwelt, Naturschutz
und Bauen. Ich weiß nicht, wie das gehen soll. Wenn in
dieser Zeit keine Einigung erzielt wird - was man mit
hoher Wahrscheinlichkeit annehmen kann -, müsste jedes der 16 Bundesländer selbst ein Anbauverbot erlassen. Das alles gilt für jeden einzelnen Antrag und für jede
neue Gentech-Pflanze der Konzerne. Das ist ein absurdes
Arbeitsbeschaffungsprogramm, nicht nur für die Landwirtschafts- und Umweltministerinnen und -minister der
Länder.
Die Folgen sind gravierend: Deutschland wird zu einem Gentech-Flickenteppich. Einzelne Bundesländer
erlassen ein Anbauverbot, andere möglicherweise nicht.
Das Problem ist: Wind und Bienen interessiert das nicht.
Sie tragen die manipulierten Pollen trotzdem über die
Ländergrenzen hinweg. Ein gentechnikfreier Anbau wird
damit unmöglich. Eine saubere Ernte ist nicht mehr gewährleistet. Der ökologische Landbau, bei dem Gentechnik ausgeschlossen bzw. verboten ist, kann nicht mehr
für saubere Erzeugnisse garantieren. Die Kennzeichnung
„Ohne Gentechnik“ ist damit für die Katz’. Hier wird
Verbraucherinnen und Verbrauchern der Genuss von
Gentechnik über bürokratische Winkelzüge aufgezwungen. Das macht die Linke nicht mit, Herr Schmidt.
({3})
Herr Minister, wenn Sie die Grüne Gentechnik unbedingt haben wollen, dann sagen Sie es auch. Sagen Sie es
vor allem Ihren Bauern in Bayern. Ich kenne kein Bundesland, in dem es schon seit vielen Jahren so viele gentechnikfreie Regionen gibt wie im schönen Bayern.
({4})
Aus gutem Grund: Die Menschen wissen um die Gefahren, die mit solchen Eingriffen in die Natur verbunden
sind.
Nur zur Erinnerung: Gentechnik in der Landwirtschaft
schafft Probleme; sie löst sie nicht. Gentechnik lohnt sich
nur auf großen Anbauflächen. Monokulturen werden gefördert. Das führt erfahrungsgemäß zu einem höheren
Einsatz von Pestiziden. Das krebsverdächtige Glyphosat
gefährdet nicht nur Mensch und Umwelt; auch die Vielfalt von Insekten und Kleinstlebewesen geht zurück. Wenige gentechnisch hochgezüchtete Pflanzen verdrängen
viele alte robuste Sorten. Dadurch wird die Vielfalt der
Nutzpflanzen reduziert. Das gefährdet auch langfristig
die Ernährungs- und Versorgungssicherheit der Bevölkerung.
Nach wie vor sind die Risiken der Grünen Gentechnik
nicht abschließend und ausreichend erforscht. Letztendlich geraten Bauern durch diese patentierten Genpflanzen
in die Abhängigkeit von Agrarkonzernen, die mit Knebelverträgen die Existenzen kleinbäuerlicher Landwirte
gefährden. Dass Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von
der SPD, so etwas mitmachen, ist für mich nicht nachvollziehbar. Wir fordern deshalb, dass die einfache Mehrheit der Bundesländer für ein deutschlandweites Anbauverbot gentechnisch manipulierter Pflanzen ausreicht.
Ziehen Sie diesen Gesetzentwurf zurück!
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Elvira Drobinski-Weiß hat als nächste Rednerin für
die SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer auf der Tribüne!
Vor etwas mehr als einem Monat habe ich hier das letzte
Mal zum Thema Gentechnik gesprochen. Damals habe
ich gesagt: Wir werden den Gesetzentwurf genau prüfen. - Inzwischen haben wir genau geprüft. Eines kann
ich ganz sicher sagen: So wie das Gesetz jetzt aussieht,
wird es mit uns nicht durchgehen.
({0})
Wir - das gilt bestimmt auch für den Minister und den
Koalitionspartner - wollen ein rechtssicheres bundesweites Verbot von Gentechnik auf den Weg bringen.
({1})
Was wir nicht wollen, ist ein Flickenteppich, in dem einige Bundesländer Anbauverbote erlassen und andere eben
nicht, sei es aus politischen Gründen, weil der Prozess
zu kompliziert ist, sei es, weil die Behörden mit Klagen
von Gentechnikkonzernen überzogen werden, denen sie
nicht standhalten können; denn Pollen machen schließlich nicht an der Landesgrenze halt.
Herr Minister Schmidt, Sie haben immer wieder und
auch gerade zu Beginn Ihrer Rede betont, dass Sie das
Gesetz für die Länder und mit den Ländern machen wollen. Gegen diesen Entwurf aber laufen die Länder Sturm.
Sie werden die zahllosen Änderungsanträge aus dem
Bundesrat wohl kennen. Ein Gesetz, das so sehr auf die
Mitwirkung der Länder baut, muss deren Bedenken berücksichtigen.
({2})
Bedenken Nummer eins: In Phase 1, in der das BMEL
die Saatgutkonzerne bitten soll, Deutschland von Anbauanträgen auszunehmen, müssen sechs Ministerien
ein Einvernehmen herstellen. Das ist kompliziert, das
ist zeitaufwendig und störanfällig. Keines der Bundesländer, egal in welcher Regierungskoalition, will diese
Regelung. Das Landwirtschafts- und das Umweltministerium daran zu beteiligen, das reicht völlig.
({3})
Warum um Himmels willen soll zum Beispiel das
Forschungsministerium eingebunden werden? Die Forschung ist doch vom Verbot überhaupt nicht betroffen.
Im Gegenteil: Sie ist ausdrücklich ausgenommen. Ich
finde es reichlich befremdlich, wenn so getan wird, als
bedeute ein Verbot des kommerziellen Anbaus für gentechnisch verändertes Saatgut auf freiem Feld, das die
Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger in diesem Land
will, das Ende des Forschungsstandorts Deutschland.
Das ist einfach Unfug. Wer so argumentiert und gleichzeitig immens hohe Hürden für Anbauverbote ins Gesetz
schreibt, ist offenbar gar nicht wirklich bemüht, für gentechnikfreie Äcker zu sorgen.
({4})
Wenn in der Kabinettssitzung dem Vorsorgeprinzip
dann noch mal eben ein Innovationsprinzip in der Gesetzesbegründung an die Seite gestellt wird, etwas, was sich
unter anderem die großen Chemie- und Saatgutkonzerne
ausgedacht haben, dann frage ich mich schon, wohin das
Landwirtschaftsministerium bzw. das Forschungsministerium eigentlich will.
({5})
Geht es hin zu einer Aufweichung des Vorsorgeprinzips?
Das kann wohl nicht allen Ernstes das Ziel sein.
Für die SPD gilt: Der Schutz der Umwelt, der Ökosysteme und der Gesundheit der Menschen und Tiere hat
oberste Priorität. Sie, Herr Minister, haben selbst immer
betont, Phase 1 solle der Regelfall sein; denn sie bietet
hohe Rechtssicherheit. Ich sehe es deshalb als unsere
Pflicht an, Phase 1 so praktikabel zu machen, dass sie
überhaupt angewendet werden kann. Wir brauchen eine
schlanke, eine unbürokratische, eine klare und eine
schnell umsetzbare Regelung.
({6})
Das zweite große Problem in diesem Entwurf ist die
Aufgabenverteilung bei der Formulierung der Begründungen für die Anbauverbote. Die Länder sagen ganz
klar, dass sie damit überfordert sind. Ja, kein Wunder, in
den Landesministerien ist in der Regel ein einziger Referent dafür zuständig, der meist auch noch andere Aufgaben hat. Der soll dann im Zweifelsfall gegen Monsanto
oder Bayer antreten und darlegen, warum die Begründung nicht wasserdicht ist. Das Bundesministerium und
die Bundesbehörden haben einen großen Personalstab
und ganz andere Ressourcen. Deshalb muss im Gesetzestext unmissverständlich klargestellt werden: Die Länder
müssen nur die wesentlichen Punkte ihrer Entscheidung
zuliefern, und in Phase 2, dem gesetzlichen Verbotsverfahren, trägt der Bund die Verantwortung für die Begründung. Die Länder werden vom Bund unterstützt. Das,
denke ich, ist doch in unser aller Interesse, wenn wir
tatsächlich gentechnikfreie Äcker in Deutschland haben
wollen.
Ich hoffe sehr, dass wir gemeinsam noch zu einer guten Lösung kommen, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der CDU/CSU. Ich möchte an das erinnern, was im
Koalitionsvertrag steht - auch der Minister hat vorhin daran erinnert -: Wir nehmen die Bedenken der Menschen
gegenüber der Grünen Gentechnik ernst.
({7})
Wenn wir es wirklich ernst meinen, müssen wir jetzt
auch liefern. Dazu braucht es noch ein paar Änderungen,
über die wir sicher konstruktiv sprechen werden. Wie hat
es unser Kollege Peter Struck früher so treffend formuliert: Kein Gesetz verlässt den Bundestag so, wie es eingebracht worden ist.
In diesem Sinne: Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat der Kollege Harald Ebner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und
Kollegen! Herr Minister Schmidt, das Loblied, das Sie
gerade auf Ihr Gesetz gesungen haben, hat sich schön angehört. Es freut uns auch, dass Sie sich heute so freuen aber es gibt dazu leider keinen Anlass. Denn gut findet
dieses Gesetz außer Ihnen wirklich niemand ({0})
wir nicht - das wundert Sie nicht -, auch die SPD angeblich nicht - wo war eigentlich Ministerin Hendricks beim
Kabinettsbeschluss? -, die Bundesländer genauso wenig
wie die Umwelt- und Bioverbände und sogar der Deutsche Bauernverband nicht. Niemand hält dieses Gesetz
also für gelungen, Herr Minister.
({1})
Das stimmt allerdings nicht ganz; denn die Industrie freut sich. Von der haben Sie sich ja - wir haben es
schon gehört - ganz neue Begriffe ins Gesetz diktieren
lassen. Auf deren ausdrücklichen Wunsch wollen Sie mit
einem nicht definierten „Innovationsprinzip“ das Vorsorgeprinzip abschießen. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion
haben Sie einen Abschnitt zur neuen Gentechnik in letzter Minute vor der Kabinettsabstimmung in das Gesetz
geschmuggelt. Die Nadel, mit der das gestrickt wurde,
war so heiß, dass Sie dann auch noch den falschen Text
an den Bundesrat übermittelt haben. Das ist ja wirklich
oberpeinlich.
({2})
Was steht in dem Abschnitt, den auch die Verbände
und Ihr Koalitionspartner offenbar lieber nicht zu Gesicht bekommen sollten? Sie wollen tatsächlich neue
Gentechnikverfahren nicht wie Gentechnik behandeln.
Sie wollen tatsächlich neue Gentechnikpflanzen unkontrolliert auf unsere Äcker und Teller lassen. Aber auch
neue Gentechnik ist Gentechnik; da gibt es kein Vertun.
Das haben juristische Gutachten auch im Auftrag der
Bundesregierung schon längst klargestellt. Und wo Gentechnik drin ist, muss auch „Gentechnik“ draufstehen.
({3})
Dass Bayer und Monsanto das nicht wollen, konnten
wir diese Woche in einem großen taz-Interview mit Bayer-Vorstand Condon lesen. Die wollen Gentechnik ohne
Regulierung und Auflagen anwenden, und Sie, Herr Minister, machen das mit und schreiben es gleich dienstbeflissen in Ihr Gesetz.
Aber auch ohne diesen Coup ist Ihr Gesetz schlicht
untauglich. Ein derart vorsätzlich dysfunktionales Gesetz
ist eine Zumutung für jeden Gesetzgeber. Sie haben die
Eckpunkte aus den Verhandlungen mit den Ländern eben
nicht berücksichtigt. Das hat auch der Ausschuss für
Agrarpolitik und Verbraucherschutz des Bundesrates am
Montag eindrucksvoll klargestellt. Sie haben Schikanen
ins Gesetz eingebaut, die Anbauverbote effektiv verhindern, und stattdessen die Einfallstore für Gentechnik weit
geöffnet. Sage und schreibe sechs Bundesministerien
müssen sich in kurzer Frist über Gründe für Anbauverbote einigen, und da schaffen Sie ein explizites Vetorecht
für einzelne Ministerien, obwohl ein Handeln der Bundesregierung reichen würde. Wie soll das denn klappen,
wenn man sich schon über Einzelregelungen für dieses
Gesetz über ein Jahr nicht einigen kann?
({4})
Außerdem wollen Sie den Bundesländern die ganze
Last der juristischen Begründung aufbürden. In Phase 1,
wo das nach EU-Recht überhaupt nicht erforderlich ist,
satteln Sie ohne Not auf EU-Recht drauf und erschweren das Verfahren. Aber zum Ausstieg aus dem Ausstieg
reicht schon ein einzelnes Bundesland, und schwups
wird ein bestehendes nationales Anbauverbot wieder
aufgehoben. Dieses Verbot wurde zunächst mühsam auf
den Weg gebracht, einer schert aus, und ein Land kippt
das ganze Verbot. Das ist kein Anbauverbot. Das ist doch
ein Pseudogesetz.
Verbot geht nimmer, Anbau immer. Da hilft es auch
nicht, dass aktuell drei Genmaissorten bereits in Phase 1 vom Anbau in Deutschland ausgenommen sind. Der
Gentechnik-Flickenteppich ist damit vorprogrammiert.
Das kritisiert auch der Deutsche Bauernverband.
({5})
Herr Schmidt, Sie wollten doch von Anfang an nicht,
dass es rechtssichere, flächendeckende Anbauverbote
auf Bundesebene gibt. Ihr Credo ist doch ohnehin: Soll
doch jeder machen, was er will! Außerhalb Bayerns die
Sintflut!
Die Anbauverbote sollen ja - das hat die SPD gerade
schon gesagt - ganz offensichtlich nicht funktionieren.
Mit den Worten „mehr Murks als Kompromiss“ oder
„Angst vor Konzernen“ haben die Medien Ihr Gesetz
kommentiert. Diesen Murks braucht außer Bayern, Bayer und Monsanto wirklich niemand.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Ihr
Koalitionspartner kämpft ganz offensichtlich für Gentechnikanbau in Deutschland.
({7})
Befreien Sie sich spätestens jetzt aus der großen Gentechnik-Koalition. Besser gar kein Gesetz als dieses schlechte Gesetz. Dieses Gesetz darf - frei nach Struck - den
Bundestag gar nicht erst verlassen. Die bessere AlternaElvira Drobinski-Weiß
tive gibt es ja schon. Es gibt den Gesetzentwurf des Bundesrates. Den haben Sie einfach liegen lassen. Beenden
Sie doch endlich diesen Affront gegenüber den Bundesländern! Lassen Sie uns zusammen diesen vernünftigen
und im Übrigen funktionsfähigen Gesetzentwurf für dauerhaft gentechnikfreie Äcker in Deutschland umsetzen,
und schreddern Sie Ihr verschwurbeltes Machwerk, Herr
Minister!
Danke schön.
({8})
Das Wort hat der Kollege de Vries für die Fraktion der
CDU/CSU.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Zuhörer auf den Tribünen!
Meine sehr verehrten Kollegen und Kolleginnen! Ich
habe hier einen wunderbaren Vortrag liegen, den ich jetzt
in die Tonne kloppen kann. Ich habe mich einfach geirrt.
Ich habe gedacht, dass man, wenn eine Koalition einen
Gesetzentwurf beschlossen hat, darauf vertrauen kann.
Offenbar ist das nicht der Fall.
({0})
- Natürlich sind wir das Parlament. Aber ich kann doch
davon ausgehen, dass auch die SPD in Abstimmung mit
ihrem Minister ist. Aber anscheinend ist das nicht der
Fall.
({1})
Frau Binder hat gefragt, worüber wir hier eigentlich
reden. Ich will mal versuchen, klarzustellen, worüber wir
hier eigentlich reden. Wir reden hier über ein Verbot, das
fachlich eigentlich nicht zu begründen ist. Ich hätte das
hier in einem anderen Zusammenhang nennen wollen,
aber auch Sie alle haben diesen Prospekt bekommen. Da
steht: „Eine Blockade der Gentechnik ist ein Verbrechen
gegen die Menschlichkeit.“
({2}): Oh!)
Unterschrieben, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist das inzwischen von mehr als 140 Nobelpreisträgern. Darin gipfelt diese Problematik jetzt. Zum Glück
gibt es in Europa noch vernünftige Leute. Das, was wir
eigentlich wollten, nämlich ein Totalverbot in Europa, ist
nicht zu handhaben. Da haben wir es.
({3})
- Ja, Herr Ebner, ich sehe die Gentechnik nicht als dieses
gefährliche Schreckgespenst, das Sie immer an die Wand
malen und womit Sie offenbar auch Erfolg haben. - Sogar die SPD hat sich irreführen lassen.
({4})
Was soll das hier eigentlich?
Frau Drobinski-Weiß, nehmen Sie es mir nicht übel,
aber: Wenn Sie Ihren Verstand und Ihre Vernunft, die Sie,
glaube ich, doch haben, genutzt hätten, dann hätten Sie
hier heute etwas anderes vorgetragen. Wir müssen anscheinend damit leben, dass wir diese Diskussion heute
noch nicht abschließen können. Das wollte ich eigentlich
vortragen.
({5})
Wir werden wahrscheinlich noch einmal über etwas
diskutieren müssen, was nach wie vor fachlich eigentlich
nicht zu begründen ist. Aber wir haben der Opt-out-Regelung zusammen zugestimmt. Lassen Sie mich das auch
klar sagen: Wir haben das hier beschlossen, und zwar
nicht aus fachlichen Gründen. Wir haben nur gesagt:
Wenn 88 Prozent unserer Bevölkerung dagegen ist, dann
müssen wir darauf eingehen. Das ist keine fachliche Begründung. Jetzt sind wir in der Verlegenheit, einen Beschluss, den wir nicht fachlich begründen können,
({6})
fachlich begründen zu müssen. Da kommt es. Da hat
unser Minister einen sehr vernünftigen Kompromiss
gefunden. Er sagt: Okay, wir übernehmen jetzt die Verantwortung. Aber ich sehe das Problem, dass wir die
Begründung nicht liefern können. Liebe Länder - ich
wiederhole: 88 Prozent der Bevölkerung sind dagegen -,
wir müssen das aber territorial begründen. Also gebe ich
Ihnen die Chance, das noch zu machen.
({7})
Herr Ebner, Sie sagen: Affront gegen die Länder.
Gleichzeitig sagen Sie: Wir bekommen die Einheitlichkeit in den Ländern nicht hin. - Was ist denn eigentlich
mit den Ländern? Sind die nun für oder gegen Gentechnik?
Wenn 88 Prozent gegen Gentechnik sind, wo liegt
dann das Problem mit dieser Gesetzgebung? Ich verstehe
das nicht. Wenn das einmal kippt - das ist wahrscheinlich
das, wovor Sie Angst haben, nämlich dass die Menschen
irgendwann einmal zur Vernunft kommen und anders
nachzudenken anfangen -, dann wäre es angebracht,
noch einmal neu zu diskutieren.
({8})
Wo liegt das Problem?
({9})
Ich habe Ihnen immer wieder gesagt: Ich bin nicht für
die Herbizidresistenz. Ich sehe zurzeit kein GVO-Produkt, das ich als Landwirt anbauen will. Aber ich sage
auch: Diese Grüne Gentechnik bietet uns Chancen.
Irgendwo in meinem Vortrag sage ich auch immer:
Deutschland war immer führend. Über Jahrhunderte war
Deutschland bei der Entwicklung moderner Landwirtschaft führend.
({10})
Dazu haben unter anderem Gregor Mendel und Justus
von Liebig wesentlich beigetragen. Jetzt wollen Sie diese
Position, diese Ausnahmeposition Deutschlands einfach
hinwegfegen.
({11})
Ich habe gedacht, dass wir diese eigentlich schon
überholte Diskussion hier nicht mehr führen. Die konventionelle Grüne Gentechnik - so nenne ich sie jetzt
einmal - ist eigentlich schon vorbei. Wir reden eigentlich schon über die neue Gentechnik und über die neuen
Züchtungstechniken.
({12})
- Genau. CRISPR/Cas9, ohne Artensprung, Herr Ebner!
Aber auch das wollen Sie schon verbieten. Ich verstehe
die Welt hier nicht mehr.
({13})
Wir leben immer noch in einer Demokratie.
({14})
Wenn es dann notwendig ist, dass wir noch einmal diskutieren, dann soll es eben so sein. Meine Aussage ist:
Das von unserem Minister vorgelegte Gesetz ist ausgewogen und sicher. Es ist das Resultat eines demokratischen Prozesses, wie er zu führen ist, wenn in diesem
Hohen Hause unterschiedliche Meinungen herrschen.
Ich dachte: Wir haben einen Beschluss. - Ich stehe zu
diesem Beschluss.
({15})
Ich bitte hier immer noch um Zustimmung zu diesem Beschluss. Alles andere muss ich jetzt abwarten.
Vielen Dank.
({16})
Das Wort hat der Kollege Matthias Miersch für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das ist doch wieder eine Sternstunde der Demokratie.
Die Zuschauerinnen und Zuschauer können sehen, wie
unterschiedlich die Meinungen sind. Nur, Herr De Vries,
für Ihre vielen Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU
will ich in Anspruch nehmen: Es sind ganz wenige, die
über Grüne Gentechnik so denken wie Sie. Viele, glaube
ich, die in diesem Raum sitzen, haben genau die gleiche
Kritik, die wir hier auf dem linken Spektrum geäußert
haben.
({0})
Ganz viele in diesem Haus haben ein großes Selbstbewusstsein und sagen: Wenn die Regierung einen Gesetzentwurf vorlegt, dann fängt die Arbeit des Parlaments
erst an. Wir sind hier doch nicht ein Abnickverein, sondern wir beschäftigen uns mit Gesetzen; das ist unsere
Aufgabe.
({1}) - Harald Ebner [BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wäre doch mal
schön!)
Um Ihnen noch ein bisschen Orientierungsmöglichkeit zu geben - Sie haben von Spickzetteln gesprochen -:
Einen Spickzettel sollten Sie sich immer vornehmen, und
zwar ganz am Anfang einer Legislaturperiode, und das
ist der Koalitionsvertrag.
({2})
In diesem Koalitionsvertrag steht eindeutig, dass wir die
Sorgen und Ängste ernst nehmen. Insofern passt Ihre
Rede überhaupt nicht zu dem, was wir am Anfang dieser
Legislaturperiode miteinander vereinbart haben, Herr De
Vries.
({3})
Nun zu dem Gesetzentwurf. Elvira Drobinski-Weiß
hat das Notwendige in Sachen Durchsetzungsfähigkeit
bereits gesagt. Herr Schmidt, als Kollege von Ihnen,
als Jurist, sage ich Ihnen: Ich werde immer ein bisschen misstrauisch, wenn das Argument kommt: Es muss
rechtssicher sein.
({4})
Rechtssicherheit würde ich mir in der Form wünschen,
dass Sie zum Beispiel da, wo Sie feststellen können, dass
die Bundesrepublik Deutschland gegen Gesetze verstößt,
aus Ihrem Hause heraus ganz schnell Abhilfe schaffen.
Warum machen wir nichts gegen das VertragsverletKees de Vries
zungsverfahren, bei dem es um die Nitratbelastung des
Grundwassers geht?
({5})
Wenn man dem Recht anhängt, müsste man als Minister
doch ganz schnell tätig werden, oder nicht?
Insofern glaube ich: Wir müssen schon ein bisschen
Mumm haben miteinander; denn hier - da haben Sie
vollkommen recht - betreten wir teilweise juristisches
Neuland. Aber warum, Herr Minister Schmidt, machen
Sie sich so klein? Es fehlt irgendwie nur noch, dass Sie
auch die Verteidigungsministerin noch fragen, wenn Sie
ein Anbauverbot durchsetzen wollen.
({6})
Eine Einvernehmensregelung mit sechs Ministerien! Warum haben Sie nicht den Mumm und sagen: „Wir sind
das federführende Ministerium. Wir wollen Landwirte
vor Kontaminationen schützen. Deswegen machen wir
das selbst“? Wir brauchen doch kein Einvernehmen.
Dann fragen Sie vielleicht auch noch den Verkehrsminister, weil Sie Rapspflanzen an den entsprechenden
Grün flächen feststellen können. Das kann doch kein wirkungsvoller Vorschlag sein, Herr Minister Schmidt.
({7})
- Harald Ebner, jetzt lass mich doch erst einmal reden.
Wenn du eine Frage hast, dann frage.
({8})
Ich beantworte sie dir auch, ich brauche noch ein paar
Minuten.
({9})
Aber eine Sache, Herr Minister Schmidt, müssen wir
miteinander sehr genau besprechen. Der Kollege Ebner
hat in der Tat recht. Es ist in einer, soweit ich recherchiert
habe, Nacht-und-Nebel-Aktion eine Begrifflichkeit in
den Begründungstext gekommen,
({10})
die lautet, dass wir neben dem Vorsorgegrundsatz plötzlich das sogenannte Innovationsprinzip berücksichtigen
sollen. Hier, liebe Kolleginnen und Kollegen, muss ich
sagen, gehen alle Alarmglocken an. Dann sehen wir uns
einmal an, was das eigentlich soll. Wir haben gerade im
Rahmen der Debatten um Freihandelsabkommen immer
wieder rauf und runter betont, wie wichtig das Vorsorgeprinzip der Bundesrepublik Deutschland ist. Das Bundesverfassungsgericht hat ein hervorragendes Urteil in
Sachen Grüne Gentechnik gefällt, wo es vor allem mit
dem Vorsorgeprinzip, also mit dem Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers, operiert. Wie kommt es nun zu
dem „Innovationsprinzip“?
({11})
Elvira Drobinski-Weiß und ich haben den Wissenschaftlichen Diensten einen Auftrag gegeben. Das Ergebnis ist sehr spannend zu lesen.
({12})
Es fängt offenkundig mit einem Brief der Wirtschaft vom
24. Oktober 2013 an die EU-Institution an, wo man sagt,
es muss so etwas wie ein Innovationsprinzip neben das
Vorsorgeprinzip gestellt werden, um Innovationen walten zu lassen. Da haben sie auf Granit gebissen. Dann
haben sie am 4. November 2014 einen weiteren Brief geschrieben. Dann gibt es ein sogenanntes European Risk
Forum. Auch dort wird immer wieder lobbyiert. Bis jetzt
habe ich keine gesetzliche Grundlage gefunden, die das
im Rahmen der EU aufgreift.
({13})
Das deutsche Bundeslandwirtschaftsministerium macht
als Erstes überhaupt - wir werden das erforschen; ich
habe erst gestern das Gutachten bekommen - den Versuch, indem sie in diesem Gentechnikgesetz neben dem
verfassungsrechtlich verbrieften Vorsorgegrundsatz das
„Innovationsprinzip“ benennt.
Herr Minister Schmidt, wir werden viel miteinander
aufzuklären haben, was Sie damit machen.
({14})
Ich sage Ihnen allerdings, die SPD-Bundestagsfraktion
wird Ihnen das nicht durchgehen lassen. Der Vorsorgegrundsatz ist für uns unverrückbar.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({15})
Der Kollege Stephan Albani hat für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ein Forschungspolitiker verirrt sich unter die Landwirte.
({0})
- Alles gut. - Den Forschern ist zu eigen, dass sie zwar
genauso leidenschaftlich, aber in der Regel wesentlich
ruhiger sind.
({1})
Ich möchte an dieser Stelle und zu diesem Zeitpunkt
im Jahr einen Vorschlag für zwei Unworte machen. Das
eine ist „postantibiotisch“, und das andere ist „postfaktisch“.
({2})
Um es einmal deutlich zu machen: Wer diese Worte
führt, verniedlicht zwei Dinge, die uns große Angst machen sollten. „Postantibiotisch“ bedeutet, dass wir an dieser Stelle keine Antibiotika, keine Möglichkeiten mehr
haben. Wir kapitulieren vor den Resistenzen. Das darf
nicht sein.
({3})
Das heißt, an dieser Stelle müssen wir vonseiten der
Forschung in Zukunft neue Wirkstoffe entwickeln. Wir
haben mit diesem Haushalt erste Schritte in die richtige
Richtung gemacht.
Das zweite Wort macht mir viel größere Sorge. „Postfaktisch“ bedeutet, dass wir uns mehr von Emotionen,
mehr von Sorgen und Ängsten leiten lassen als von den
Fakten, die wir in aller Gemütsruhe bewerten.
({4})
Den Gesetzentwurf, der hier vorliegt, fasse ich so zusammen, dass er auf der einen Seite die Gentechnikskepsis innerhalb der Bevölkerung bewertet und berücksichtigt, auf der anderen Seite aber die föderale Zuständigkeit
in Deutschland weiterhin wahrt und zu guter Letzt die
breiten Ressortkompetenzen der Bundesregierung vom
Bundesministerium für Ernährung für Landwirtschaft bis
hin zum BMBF mit in die Entscheidung einfließen lässt.
({5})
Ob das dann sechs sein müssen oder nicht, darüber kann
man diskutieren, aber mir ist es insbesondere wichtig,
dass die Forschung mit ihrer Kompetenz in diesem Zusammenhang gewahrt bleibt. Das ist wichtig, und das ist
richtig so.
({6})
Wir wollen auch über die Zukunft der Landwirtschaft
und der Pflanzenzüchtung reden. Anders als Rote und
Weiße Gentechnik hat die Grüne Gentechnik ein erhebliches Problem; das wissen wir alle nur zu gut. Früher
war es bei Innovationen in der Roten Gentechnik ähnlich.
Ein Beispiel aus der Geschichte zeigt ein typisch deutsches Problem: Synthetisch hergestelltes Insulin war in
den 1980er- und 1990er-Jahren eine Biotech-Innovation.
Frankfurter Forscher entwickelten 1982 die massenproduktionstaugliche Insulinsynthese mit Mikroorganismen.
Damals gab es Ressentiments, und zwei Jahre später
verbot das hessische Umweltministerium den Betrieb
einer ersten Versuchsanlage. Erst 1999 kam das neue
Humaninsulin schließlich zum Patienten, allerdings zunächst aus den USA. - Chance verpasst, könnte man an
dieser Stelle sagen.
Heute genießt das synthetische Humaninsulin breite
Akzeptanz in der Bevölkerung. Kaum ein Patient würde
es ablehnen und auf Rinder- und Schweineinsulin bestehen. Warum? Weil es einen gewaltigen Nutzen hat: Kein
Tier muss für die Herstellung sterben, es kommt zu keinen Versorgungsengpässen, es ist verträglicher und bioidentisch zum natürlichen Humaninsulin. Genau darum
geht es: GVO-Produkte müssen einen klaren Mehrwert
für die Endverbraucher haben.
({7})
- Das habe ich doch gerade gesagt; hätten Sie einmal den
nächsten Satz abgewartet.
({8})
Das ist das große Defizit, das wir momentan bei
GVO-Innovationen im Bereich der Landwirtschaft haben.
Gentechnik aus Menschenhand als Eingriff in die
DNA von Pflanzen und damit von Nahrungsmitteln und
Ähnlichem ist nicht prinzipiell ein Eingriff in den göttlichen Bauplan, der etwas Dramatisches darstellt. Pflanzenzüchtungen beruhen auf der Tatsache, dass man spontane Mutationen abwartet, selektiert und beobachtet: Was
ist nützlich, was ist risikoarm usw. usf.? Wir provozieren
diese Mutationen mit Chemie und mit Strahlung, um auf
diese Art und Weise schneller voranzukommen. Und was
wir jetzt mit CRISPR/Cas9 und anderen Methoden haben
ist gezielt und keine Genomlotterie mehr. Wir können
Genome direkt ändern, das heißt aber nicht, dass wir die
Risiken an dieser Stelle, wie wir sie im Medikationsbereich und in anderen Bereichen genau im Fokus haben,
nicht berücksichtigen müssen. Das ist eine elementare
Grundvoraussetzung! Denn: Man sollte es nur tun, wenn
wir wissen, was wir tun. Und es ist notwendig, dass wir
Forschung dabei berücksichtigen.
({9})
Ich schließe mich, wie bereits einer meiner Vorredner,
der Meinung von 113 Nobelpreisträgern an - bei mir sind
es 113, vielleicht sind es jetzt mehr geworden -, die sagen, dass eine Blockade der Gentechnik auf Dauer nicht
sinnvoll ist und die Menschlichkeit an dieser Stelle dahin
gehend gewahrt bleiben muss, dass wir die Chancen, die
diese Techniken bieten, auch in der Zukunft wahrnehmen
können. Es ist unsere Verantwortung, das Verhältnis zwischen Chancen und Risiken, Forschung und Folgenabschätzung, Hoffnung und Sorgen wieder ins Lot zu bringen - auf der Basis von Fakten.
Bei einem Expertengespräch in dieser Woche brachte
es Herr Dr. Rehberger vom Forum Grüne Vernunft auf
den Punkt, als er die Motivation für sein Engagement für
die Gentechnik erläuterte. Er sagte: Nicht für mich als
78-Jährigen wird dies noch Nutzen bringen, aber für die
zukünftigen Generationen ist es eine Verpflichtung.
Dieser Verantwortung und dem notwendigen Gleichgewicht wird der Entwurf des Vierten Gentechnikänderungsgesetzes aus meiner Sicht gerecht. Er ermöglicht
die Anwendungsforschung, aber auch Anbauverbote,
wenn die Risiken zu groß erscheinen oder nicht absehbar
sind.
Herzlichen Dank.
({10})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 18/10459 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 34 a und 34 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Möhring, Katja Kipping, Sigrid Hupach, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Alleinerziehende entlasten - Umgangsmehrbedarf anerkennen
Drucksache 18/10283
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Jörn Wunderlich, Cornelia
Möhring, Sigrid Hupach, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE
Lebenssituation von Alleinerziehenden deutlich verbessern
Drucksachen 18/6651, 18/10106
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Das Wort hat der Kollege Jörn Wunderlich für die
Fraktion Die Linke.
({2})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir bereden heute zwei Anträge. Zu dem Antrag zum
Mehrbedarf beim Umgang wird nachher meine Genossin
Hupach sprechen. Ich rede zu der Beschlussempfehlung
des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zu unserem Antrag.
Dieser Antrag ist ein bunter Strauß von familienpolitischen Maßnahmen.
({0})
- „Ein wohlduftender bunter Strauß“, vielen Dank, Herr
Vorsitzender des Familienausschusses. - Dieser Antrag
ist schon über ein Jahr alt. Wir wollten der Bundesregierung Gelegenheit geben, zu zeigen, dass sie Vorschläge
umsetzen kann, dass sie unsere Anregungen aufnimmt
und umsetzt. Das hat sie partiell auch getan: Beim
Kitaausbau ist die Bundesregierung zumindest partiell in
die Spur gekommen, und die Kürzungen im Bereich Jugendhilfe sind zurückgenommen worden; dahin gehend
hat sich der Antrag sogar erledigt.
In dem Antrag geht es auch um das Gender Pay Gap,
also darum, Lohnlücken zu schließen. Es geht ferner um
Rahmenbedingungen für die berufliche Orientierung und
die Verbesserung der Qualifikation von Alleinerziehenden.
({1})
- Die Union quatscht wieder. Sie scheint das nicht zu interessieren; aber das wundert mich nicht. Darauf komme
ich gleich zurück.
({2})
Außerdem geht es darum, das Elterngeld nicht auf Transferleistungen anzurechnen, und um den Unterhaltsvorschuss.
Aufgrund der Kürze meiner Redezeit will ich mich
auf ein Thema fokussieren, nämlich auf das Unterhaltsvorschussgesetz. In der letzten Woche haben wir in der
Haushaltsdebatte hier im Haus über dieses Thema gesprochen. Die Debatte, die hier dazu stattgefunden hat,
ist mir nicht aus dem Kopf gegangen. Mir ging immer
wieder durch den Kopf, was dazu gesagt worden ist - das
wurde auch heute gesagt -: Alle wollen das ändern.
Als ich vor elf Jahren frisch vom Familiengericht als
Familienrichter hier in den Bundestag kam, lautete mein
allererster Antrag, das Unterhaltsvorschussgesetz zu ändern, die Altersgrenze auf 18 Jahre heraufzusetzen und
die Bezugsdauer zu entfristen. Seit elf Jahren wird das
permanent abgelehnt.
Die Grünen wollen das, auch die CDU will das. Letzte Woche hat Herr Weinberg gesagt, das sei schon lange
Programm bei der CDU.
({3})
Frau Pahlmann von der CDU hat heute Mittag gesagt:
Das haben wir in den letzten acht Monaten vorangetrieben.
({4})
Die SPD hat einen Gesetzentwurf erarbeitet. Der Koalitionsausschuss hat sich darauf verständigt, und die
Ministerpräsidenten aller Länder haben das im Rahmen
der Neugestaltung der Bund-Länder-Finanzausgleichsregelungen einstimmig beschlossen.
({5})
Dann brachte Frau Schwesig den Gesetzentwurf dazu
im Kabinett ein. Man kann sagen: Das Kindergeld wird
noch immer voll angerechnet, das ist ein Mangel; aber
das ist auch der einzige Mangel. - Im Kabinett wurde der
Gesetzentwurf beschlossen. Dann sollte er hier auf die
Tagesordnung, doch er wurde wieder zurückgenommen.
Und warum? Weil die CDU blockt.
({6})
Die CDU blockt. Kauder sagt: Ich bringe den Gesetzentwurf nicht ein, solange die Finanzierung nicht steht.
({7})
Auf der anderen Seite sagt die CDU: Seit acht Monaten treiben wir das voran. - Jetzt steht die Finanzierung
nicht, die Länder sagen: Wir haben dafür nicht das Personal. Wer soll das bezahlen? - Schäuble zieht sich aus der
Verantwortung zurück.
({8})
Er hat zwar 18 Milliarden Euro Überschuss, sagt aber:
Ach Gottchen, dafür haben wir kein Geld. - Vorher hat er
gesagt: Wir haben Spielraum.
({9})
- Die Länder und Kommunen, ja, natürlich.
Aber wissen Sie, das ist ein Argument, das vor fünf
Jahren - blöd, dass ich mich so gut erinnern kann - nicht
galt. Da wurde die Zahl der Amtsmündel auf 50 reduziert
und eine Garantie der Amtsvormünder für das gedeihliche Fortkommen ihrer Mündel eingeführt. Damals habe
ich gesagt, als das sofort umgesetzt werden sollte: Dafür
haben die Jugendämter überhaupt nicht das Personal. Da hieß es: Wir müssen das jetzt machen; denn wenn
wir so ein Gesetz nicht haben, dann machen die Länder
nichts.
({10})
Das scheint ja auch so zu sein. Es wurde gesagt, dass der
Gesetzentwurf zum Unterhaltsvorschuss seit acht Monaten vorangetrieben wird. Aber in den Ländern ist nichts
passiert. Also brauchen wir dieses Gesetz, damit in den
Ländern endlich was passiert.
({11})
Am 8. Dezember, also in sechs Tagen
({12})
- ja, ich bin sofort fertig - trifft sich Finanzminister
Schäuble wieder mit den Ländervertretern. Ich hoffe,
dass ihr von der CDU ihm einen ordentlichen Schubs
gebt, damit er nicht wie Gollum auf seinem Geldberg
sitzt, sondern endlich sein Portemonnaie aufmacht und
das finanziert ({13})
Kollege Wunderlich.
- im Interesse der betroffenen Kinder.
Das Wort hat die Kollegin Gudrun Zollner für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Die vorliegenden Anträge der Fraktion
Die Linke vom November 2015 und November 2016
geben mir heute die Gelegenheit, aufzuzeigen, dass die
Bundesregierung bei der Unterstützung und Entlastung
von Alleinerziehenden keineswegs versagt hat, wie Sie
in Ihren Anträgen unterstellen.
({0})
Vielmehr schafft die Regierung im Rahmen einer modernen und zukunftsweisenden Familienpolitik kontinuierlich Bedingungen, um den sorgenden Eltern die nötige
Anerkennung zukommen zu lassen und ihnen eine Perspektive für die eigenständige Gestaltung ihres Lebens
zu geben.
Wir investieren massiv in unsere Familien. Ich nenne
hier nur den Ausbau der Kinderbetreuung für unter Dreijährige sowie das Programm „KitaPlus“ für erweiterte
Öffnungszeiten. Wir haben den Entlastungsbetrag für
Alleinerziehende erhöht. Gleiches gilt für den Kinderzuschlag, den wir 2017 nochmals aufstocken werden. Insgesamt macht der Familienetat im nächsten Jahr 9,5 Milliarden Euro aus
({1})
und liegt damit vor den Etats des Bundesinnenministeriums, des Wirtschafts- und des Finanzministeriums.
({2})
Sie sprechen in Ihrem Antrag auch die Vereinbarkeit
von Familie und Beruf an. Natürlich haben die Alleinerziehenden besondere Bedürfnisse. Dabei profitieren alle
Familien von der verbesserten Betreuungsinfrastruktur.
Da die Unternehmen sehr wohl wissen, was sie an gut
ausgebildeten Frauen haben, bieten sie längst eine flexible Arbeitszeitgestaltung an, was im Übrigen auch den
Vätern zugutekommt. Die von Ihnen geforderte Teilzeitausbildung gibt es längst, und die bestehende Lohnlücke wird durch das Entgeltgleichheitsgesetz geschlossen,
wenn Familienministerin Schwesig ihren Gesetzentwurf
vorlegt.
({3})
Am Anfang dieser Wahlperiode wurde der gesetzliche
Mindestlohn eingeführt. Auch das ist eine Verbesserung
für Alleinerziehende. Ihre Forderung, den gesetzlichen
Mindestlohn unverzüglich auf 10 Euro anzuheben, sollten Sie besser in einem anderen Antrag stellen.
({4})
Da ich bei jeder familienpolitischen Debatte hören
muss, dass die Union angeblich den Unterhaltsvorschuss
blockiert, möchte ich hier klarstellen: Im Juli 2016 haben wir Familienpolitiker der CDU/CSU uns schriftlich
an den Bundesfinanzminister gewandt, um die Erhöhung
des Bezugsalters von 12 auf 18 Jahre sowie den Wegfall
der Bezugsdauer von 72 Monaten voranzutreiben. Auch
ich benutze jetzt dieses Wort.
({5})
Danach hat auch das Familienministerium unsere Forderung unterstützt. Keine andere Maßnahme kommt den
Alleinerziehenden so zugute wie diese.
Es ist mir völlig unverständlich - das ist auch nicht
hinnehmbar -, dass sich 50 Prozent aller Unterhaltspflichtigen der finanziellen Unterstützung ihrer Kinder
entziehen und gar nichts zahlen und weitere 25 Prozent
nur unregelmäßig und nicht in voller Höhe zahlen. Das
müssen wir ändern, und das werden wir ändern.
({6})
Dazu gibt es einen Kabinettsbeschluss. Bei der Konferenz der Regierungschefs von Bund und Ländern im
Oktober dieses Jahres wurde das bei der Neuregelung
des bundesstaatlichen Finanzausgleichssystems auch so
beschlossen.
Aber eines muss uns auch klar sein: Wir können nicht
im Dezember ein Gesetz verabschieden, das bereits im
Januar umgesetzt werden soll. Damit würden wir die
Kommunen administrativ überfordern. Wir von der Union nehmen die Anliegen der Kommunen ernst.
({7})
Diese müssten erheblich mehr Personal einstellen, um
die steigende Anzahl an Anträgen bearbeiten zu können.
({8})
Meine Kollegin Christina Schwarzer hat vergangene Woche an dieser Stelle die Zahlen ihrer Kommune Neukölln
vorgerechnet, wonach sich die Mitarbeiterzahl verdoppeln würde.
Verdoppeln und erhöhen sollten die Länder auch die
Rückholquoten. Bayern liegt mit 36 Prozent weit an der
Spitze,
({9})
wogegen zum Beispiel Bremen mit nur 11 Prozent dauerhaft das Schlusslicht bildet.
Dabei bleibt aber immer noch das Hauptproblem.
Sie wissen so gut wie ich, dass der Bund nicht alleine
in Vorleistung geht. Der Bund zahlt nur ein Drittel der
Kosten, die Länder zahlen zwei Drittel. Bei den Ländern
regt sich Unmut über die Finanzierung. Familienministerin Schwesig konnte hier leider noch keine Einigung
erzielen. Deshalb bitte ich Sie, wehrte Kolleginnen und
Kollegen, einmal ein Wörtchen mit ihren Vertretern im
Bundesrat zu reden.
({10})
In elf Bundesländern sind die Grünen, in drei Bundesländern die Linke an der Regierung beteiligt, beide Parteien stellen je einen Ministerpräsidenten. Warum stellen
Sie Ihre Forderungen nicht einmal nachdrücklich an Ihre
Landesvertreter?
({11})
Noch einmal: Nicht die CDU/CSU blockiert hier, sondern die Verantwortlichen der anderen Parteien. Beschließen und Ankündigen allein reicht nicht. Man muss
schon dafür sorgen, dass die Umsetzung und die Finanzierung gesichert sind. Das ist mein Verständnis von verantwortungsvoller Politik.
({12})
Deshalb ist es vernünftig, wenn das Gesetz zur Ausweitung des Unterhaltsvorschusses zum 1. April oder
1. Juli mit Rückwirkung zum 1. Januar beschlossen wird.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der Opposition, für vieles, was von Ihnen gefordert wird, ist der Bund
nicht zuständig. Dort, wo Sie in Verantwortung sind, hindert Sie niemand daran, Ihre Forderungen umzusetzen.
Deshalb lehnen wir, wie aus der Beschlussempfehlung
ersichtlich ist, Ihren Antrag ab.
Sie schreiben immer wieder Anträge, ohne die Finanzierung mit einem Wort zu erläutern.
({13})
Im Gegensatz dazu bringen wir Unionspolitiker Gesetze
ein, die umgesetzt werden und - wichtig - finanzierbar
sind. Wir reden nicht nur, wir handeln.
({14})
Weil wir Familienpolitiker der CSU nicht nur an die
Alleinerziehenden von heute denken, sondern auch an
die, die vor 1992 Kinder zur Welt gebracht haben, fordern wir die Gleichstellung aller Mütter bei der Rente.
({15})
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, was alleinerziehende Mütter und Väter im Alltag an Herausforderungen bewältigen, um neben allem anderen für ihre Kinder
da zu sein und sie bestmöglich zu unterstützen, weiß ich
aus eigener Erfahrung. Deshalb sehe ich es als meinen
größten Arbeitsauftrag hier im Deutschen Bundestag, so
viel wie möglich für die Einelternfamilien zu ermöglichen. Seien Sie versichert: Dafür werde ich mich auch
künftig voll und ganz einsetzen.
Ich wünsche Ihnen allen noch einen gesegneten zweiten Advent und bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({16})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Franziska Brantner für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Bürgerinnen und Bürger! Alleinerziehende sind die am schnellsten wachsende Familienform, aber leider auch die ärmste. Viele Alleinerziehende
rutschen in die Armut, da drei Viertel von ihnen keinen
oder keinen ausreichenden Kindesunterhalt vom anderen Elternteil bekommen. Hier springt der Staat mit dem
Unterhaltsvorschuss ein - wir haben es heute gehört -,
bisher für maximal sechs Jahre und nur bis zum zwölften Lebensjahr des Kindes. Diese Absurdität wurde zum
Glück mittlerweile von allen erkannt. Seit dem Sommer
haben wir ein Zickzack, ein Hin und Her.
Erst wurde von der Ministerin verkündet, das Alter
werde auf 14 angehoben, ein paar Wochen später, auf
16. Dann mischte sich Herr Gabriel ein und sagte: auf
18. Dann sagte Frau Schwesig: Ach, doch, auch auf 18.
Irgendwann kündigte Frau Schwesig auch noch an, man
würde den säumigen Vätern den Führerschein entziehen. - Das war Teil dieser ganzen Debatte.
Dann kam das Versprechen: Ab dem 1. Januar 2017
fallen alle Beschränkungen. Dann kam es ins Kabinett wir haben es gehört -, aber ohne eine finanzielle Einigung
mit den Ländern. Sehr geehrte Damen und Herren, das
nennt man klassischerweise einen ungedeckten Scheck.
Es ist ein leeres Versprechen, wenn das Geld dafür nicht
gesichert ist.
({0})
Jetzt haben wir die Situation, dass sich CDU und
SPD gegenseitig den Schwarzen Peter zuschieben. Frau
Schwesig sagt: Es sind die Länder. Das machen Teile von
Ihnen auch und sagen: Er war’s, er war’s, sie war’s, sie
war’s! - Das ist doch kein konstruktives Politikmachen
und Regieren, sondern ein verantwortungsloses Handeln
auf dem Rücken der Alleinerziehenden.
({1})
Es bleibt festzuhalten: Frau Schwesig hat spät agiert
und zweifelhafte Zahlen für die Länder vorgelegt. Diese
haben gesagt, die stimmten nicht. Die Vereinbarungen
wurden nicht genügend schriftlich festgehalten. Jetzt haben wir das Chaos.
Wir wollen keine Engel der Alleinerziehenden, sondern gutes Regieren. Das können wir von Ihnen erwarten. Das haben wir in diesem Fall leider nicht gesehen.
({2})
Jetzt gibt es in diesem Chaos weitere Vorschläge aus
den Ländern, zum Beispiel: Einsparungen durch die Abschaffung der Vorrangigkeit des Unterhaltsvorschusses.
Das ist die aktuelle Debatte. Man sagt: Wir sparen das
Geld bei Kommunen und Ländern, indem der Bund das
alles einfach aus dem SGB II zahlt. - Unserer Meinung
nach ist das ein falsches Signal. Den Unterhaltsvorschuss
bekommen Alleinerziehende nämlich nicht, weil sie arm
sind, sondern weil sich der andere Elternteil nicht an
der Existenzsicherung des Kindes beteiligt. Das ist ein
großer Unterschied. An ihm sollten wir auch weiterhin
festhalten.
({3})
Außerdem: Wer prüft denn dann wirklich, ob der Unterhaltsvorschuss nicht reicht, um aus dem SGB-II-Bezug
herauszukommen? Das muss doch unser Ziel sein. Dafür
braucht es diese Prüfungen.
Wenn wir über die Rückholquote sprechen, muss ich
sagen: Wir alle wissen, dass es da falsche Anreize gibt.
Die Kommunen machen sozusagen die Arbeit vor Ort,
müssen dafür Gelder zur Verfügung stellen und haben eigentlich nichts davon. Jedes Jugendamt sagt: Dann gehe
ich lieber direkt in die Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen. - Das ist vor Ort nachvollziehbar. Wenn wir
jetzt noch sagen: „Das Geld kommt eh aus dem SGB-IITopf“, welche Kommune wird denn dann noch in die
Rückholung investieren? Keine Kommune! Das Signal
an die Elternteile, die nicht zahlen, wäre: Macht euch
keine Sorgen, liebe Damen und Herren, ihr braucht nicht
zu zahlen. Der Staat zahlt schon. Es gibt ja das SGB II. Gudrun Zollner
Das ist unserer Meinung nach ein komplett falsches Signal.
({4})
Es gibt Vorschläge, zu sagen: Statt „zwei Drittel, ein
Drittel“ machen wir „fifty-fifty“. - Solche Vorschläge
halten wir für besser. Wir sind da auch in Verhandlungen
mit den Bundesländern; denn ich glaube, das geht uns
alle an. Das ist jetzt kein Appell an eine bestimmte Partei,
sondern an uns alle: Wir müssen dafür kämpfen, dass diese Leistung nicht einfach ins SGB II abgeschoben wird,
sondern eine eigenständige Leistung bleibt. Dafür sollten
wir gemeinsam kämpfen. Ich finde, das wäre ein gutes
Ziel.
({5})
Ein weiterer Punkt, den ich ansprechen möchte, ist der
Umgangsmehrbedarf. Wir haben dieses Jahr schon viele
Debatten darüber geführt: Was bedeutet es, wenn Eltern
getrennt leben und vielleicht sogar beide das Elternsein
leben und ihre Zeit gemeinsam mit ihren Kindern verbringen wollen? Wie geht der Staat damit um? Gibt es
dafür eher Anreize, oder wird das sogar noch bestraft,
indem dann zum Beispiel das Sozialgeld aufgeteilt wird?
Wir waren uns hier eigentlich alle einig: Das soll nicht
bestraft werden. Es gab hier im Haus sogar eine Zeit ich erinnere mich an die Debatten -, in der wir gesagt
haben: Das soll belohnt werden; das ist ja eigentlich im
Sinne des Kindes. - Dann hat die SPD richtigerweise
den Vorschlag zum Umgangsmehrbedarf vorangetrieben.
Jetzt hören wir: An 60 Millionen Euro scheitert es. - Das
kann doch wirklich nicht sein. Es muss doch möglich
sein, hier die richtigen Anreize zu setzen, damit sich Eltern gemeinsam um ihre Kinder kümmern können. Diese
60 Millionen Euro müssen drin sein.
({6})
Ich fände es sehr wichtig, dass wir gemeinsam das Signal an Herrn Schäuble senden: 60 Millionen Euro für
Eltern, die ihre Kinder gemeinsam erziehen wollen, müssen möglich sein. Existenzsicherung geht vor.
Ich danke Ihnen.
({7})
Das Wort hat die Kollegin Hiller-Ohm für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren auf den Zuschauertribünen! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Ja, alleinerziehende Eltern müssen entlastet werden; denn sie sind ohne Wenn und Aber die Heldinnen und Helden des Alltags.
({0})
Glauben Sie mir: Ich weiß, wovon ich rede.
Die Linke fordert in beiden vorliegenden Anträgen
weitere Verbesserungen für Alleinerziehende. Ich werde mich auf den Antrag zum Umgangsmehrbedarf beschränken. Es ist gut, liebe Kolleginnen und Kollegen
der Linken, dass Sie sich mit diesem Thema befassen. Es
ist richtig, dass wir hier im Bundestagsplenum darüber
debattieren. Es ist ganz wichtig, dass wir uns für Alleinerziehende und deren Kinder starkmachen; denn sie sind
in ihren Lebenschancen immer noch stark benachteiligt.
({1})
Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, müssen wir ändern. Wir wollen eine Gesellschaft, in der Eltern - Mütter, Väter - und Kinder gut leben können.
({2})
Uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ist
ganz wichtig, dass sich Eltern die Verantwortung für ihre
Kinder teilen, egal ob sie als Paar oder getrennt leben.
({3})
Das muss für alle möglich sein und natürlich auch für
Eltern gelten, die Sozialleistungen erhalten, also auch für
arme Eltern. Alleinerziehende Eltern müssen finanziell
so ausgestattet sein, dass die Kinder bei beiden Eltern
leben und bei ihnen zu Besuch sein können. Es ist ganz
wichtig, dass das für die Kinder möglich ist. Ich finde,
das ist eine Selbstverständlichkeit, und das darf nicht am
Geld scheitern.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Antrag der
Linken zum Umgangsmehrbedarf geht in die richtige
Richtung. Auch wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten wünschen uns einen finanziellen Ausgleich
für den Mehrbedarf, der bei alleinerziehenden Eltern, die
Hartz IV beziehen, durch die wechselseitige Betreuung
der Kinder anfällt.
({4})
Derzeit ist es so, dass die Sozialleistungen für die Kinder genau abgerechnet und dem Elternteil zugeschlagen
werden, bei dem sich das Kind gerade aufhält. Wenn das
Kind also normalerweise bei der Mutter lebt und nur am
Wochenende beim Vater ist, wird der Mutter das Geld
für die Wochenendtage von den Hartz-IV-Leistungen abgezogen. Das ist eine wirklich schlechte Lösung; denn
die Mutter hat weiterhin Kosten für das Kind, auch dann,
wenn es beim Vater zu Besuch ist.
({5})
Diese Regelung ist ungerecht und verhindert oft sogar
den Kontakt der Kinder zu beiden Elternteilen. Das finden wir schlecht. Hier brauchen wir also eine Lösung, die
gut für die Eltern und gut für die Kinder ist. eine Lösung,
die obendrein den Amtsschimmel entlastet, den die derzeitige bürokratische Last der tage- und stundenweisen
Abrechnungen schon jetzt fast zusammenbrechen lässt.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, leider haben wir bei
dieser wichtigen Forderung unseren Koalitionspartner
nicht - ich möchte sagen: noch nicht - an unserer Seite.
Das ist wirklich schade; denn hier könnten wir gemeinsam mehr Gerechtigkeit für Menschen schaffen, die ganz
dringend auf unsere Unterstützung angewiesen sind.
({7})
Wir werden aber nicht lockerlassen, und vielleicht gelingt es uns, in diesem Punkt noch etwas auf die Beine
zu stellen.
({8})
Dass dies nicht unmöglich ist, zeigen die letzten drei gemeinsamen Regierungsjahre.
({9})
Mit der CDU/CSU haben wir als treibende Kraft viel
auf die Beine gestellt.
({10})
So haben wir erreicht, dass berufstätige alleinerziehende Eltern steuerlich deutlich entlastet werden. Wir haben
durchgesetzt, dass der Kinderzuschlag für Alleinerziehende um 20 Euro auf 160 Euro angehoben wurde und
damit viele Mütter aus Hartz IV herauskommen.
({11})
Wir investieren weiter in den Ausbau von Kitas. Mit
dem Bundesprogramm „KitaPlus“ haben wir ein Förderprogramm entwickelt, mit dem Kitas längere Öffnungszeiten in den Morgen- und Abendstunden sowie an den
Wochenenden anbieten können. Ich wäre froh gewesen,
wenn es das schon vor 20 Jahren gegeben hätte. Denn
ich bin selber alleinerziehende Mutter, und es war wirklich ein Spagat, bei den damaligen Öffnungszeiten der
Kindertagesstätten die Berufstätigkeit mit guter Kinderbetreuung zu vereinbaren. Da gibt es dringenden Handlungsbedarf, und ich finde es gut, dass wir dieses Programm auf den Weg gebracht haben.
({12})
Denken Sie zum Beispiel an eine alleinerziehende
Kellnerin. Sie ist auf erweiterte Öffnungszeiten angewiesen, um überhaupt berufstätig sein zu können. Deshalb
müssen wir hier flexible Möglichkeiten schaffen.
Mit dem geplanten Unterhaltsvorschussgesetz wollen
wir eine weitere wichtige Verbesserung für Alleinerziehende durchsetzen. Ich hoffe, dass uns das gelingen wird.
Ganz wichtig ist uns auch, dass wir in dieser Regierungszeit noch hinbekommen, dass Eltern bessere Möglichkeiten und Rechte haben, wenn sie Teilzeit oder
Vollzeit arbeiten wollen. Dafür wollen wir einen Rechtsanspruch auf befristete Teilzeit schaffen, die ein Recht
auf Rückkehr in Vollzeit bzw. in die frühere Arbeitszeit
für die betroffenen Frauen beinhaltet.
({13})
Ein großer Erfolg wäre es, wenn wir endlich auch
ein Lohngerechtigkeitsgesetz auf den Weg bringen, um
die Lohnlücke und damit die Ungerechtigkeit zwischen
Männer- und Frauenlöhnen zu beseitigen.
({14})
Wir haben es im Koalitionsvertrag vereinbart. Ich hoffe, wir können das noch auf die Beine stellen. Das wäre
wirklich prima.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen, wir haben viel auf den Weg gebracht, und das ist gut. Aber wir
haben immer noch großen Handlungsbedarf. Deshalb
müssen wir an diesem Thema weiter arbeiten, um die Benachteiligung vor allem von alleinerziehenden Müttern
in diesem Land endlich zu beseitigen.
({15})
Das Wort hat die Kollegin Jutta Eckenbach für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Alleinerziehend in Deutschland zu sein, ist nicht mit einem
prekären Schicksal am wirtschaftlichen Ende der Gesellschaft gleichzusetzen.
({0})
Es ist zwar richtig, dass Alleinerziehende bestimmte Ausgaben im Zusammenhang mit der Versorgung eines Kindes
oder mehrerer Kinder allein zu tragen haben; das liegt nun
einmal in der Natur der Sache. Aber man kann doch nicht
sagen, dass alle Alleinerziehenden vom SGB-II-Bezug leben. Ich bin sehr froh, dass ein großer Teil der Alleinerziehenden in Vollzeit oder in Teilzeit ihren Lebensunterhalt
bestreiten kann und nicht auf Sozialhilfe angewiesen ist.
Auch an sie sollten wir einmal denken.
({1})
Die Förderung von Alleinerziehenden, die Leistungen
nach dem SGB II beziehen, erfolgt im Wesentlichen an
drei Stellen; das ist gerade schon genannt worden. Es
gibt erst einmal den grundsätzlichen Mehrbedarf. Darüber hinaus werden die Alleinerziehenden im Rahmen der
sogenannten temporären Bedarfsgemeinschaft entlastet.
Auch werden die angemessenen Kosten für Unterkunft
und Heizung ermittelt und gegebenenfalls erstattet.
Letztendlich bedeutet das, dass Alleinerziehende, die
Leistungen nach dem SGB II erhalten, 50 Prozent mehr
als Paare bekommen. Wir fördern sie also schon heute.
Insofern verstehe ich vieles von dem, was gesagt worden
ist, nicht. Es ist nicht so, als würden wir dieses Problem
in dieser Legislaturperiode nicht angehen. Wir haben hier
einen guten Ansatz, den wir auch bezahlen können.
({2})
Eines ist fragwürdig in der Diskussion, die wir führen - darüber haben wir noch nicht debattiert -: Diese
50 Prozent mehr an Leistungen gehen an die Eltern, die
getrennt leben. Bei einem Familienverbund oder bei Lebensgemeinschaften werden diese 50 Prozent an Mehrbedarfskosten nicht gezahlt.
({3})
Wir sollten uns darüber Gedanken machen, dass wir an
dieser Stelle eine Ungleichgewichtung haben. Ich wäre
eher für die Förderung von Gemeinschaften, als nur auf
die Unterstützung von Menschen zu setzen, die eine gewisse Mitverantwortung für ihre Situation tragen, wenn
ihre Lebensplanung nicht funktioniert hat.
({4})
Diese Verantwortung kann nicht auf den Staat abgewälzt
werden. Auch hier werden wir darauf verweisen können,
was wir alles schon gemacht haben.
({5})
Es ist heute von mehreren Rednern schon ausgeführt
worden, dass Alleinerziehende im SGB-II-Bezug einen
zusätzlichen Anspruch bei Einrichtungsgegenständen für
das Kind bei einem temporären Aufenthalt haben. Wir erstatten die zusätzlichen, durch das Umgangsrecht bedingten Fahrtkosten. Wir erstatten höhere Aufwendungen für
Unterkunft und Heizung, wenn das Kind zu Besuch ist,
plus andere Bedarfe, je nach Besonderheit des Einzelfalls.
Meine Damen und Herren, wir sollten uns vergegenwärtigen, was der Sinn und Zweck des SGB II ist. Zu unterscheiden ist davon der allgemeine Unterhaltsanspruch
aus dem Familienrecht. Es kann nicht Aufgabe des Staates sein - darauf habe ich schon einmal hingewiesen -,
mit einer zusätzlichen Leistung den Streit der Eltern zu
befrieden. Das kann nicht unser Anspruch sein.
({6})
Gegenwärtig drehen wir uns hier im Kreis, wenn wir
immer nur von der Bedürftigkeitssicht der Eltern ausgehen. Mit der Berechnung von Pauschalen, so wie es die
Linke fordert, schaffen wir Ungerechtigkeiten gegenüber anderen Bedarfsgemeinschaften mit Kindern. Eine
auf den Tag genaue Abrechnung des Regelsatzes für ein
Kind führt schon heute zu einem riesigen Verwaltungsaufwand für die Jobcenter vor Ort.
({7})
Nicht nur die Mehrkosten für die Berechnung sind unverhältnismäßig, auch die Personalbindung innerhalb der
Jobcenter ist enorm.
({8})
Deswegen haben wir bereits im Rahmen der Beratungen zum 9. SGB-II-Änderungsgesetz einen Vorschlag seitens des BMAS für eine Vereinfachung der Aufteilung des
Kinderregelbedarfes diskutiert. Dabei ging es ganz und
gar nicht um eine Verringerung des Regelbedarfes, wie es
in der Öffentlichkeit fälschlicherweise behauptet worden
ist. Das führte schließlich dazu, dass das Bundesministerium einen neuen Regulierungsvorschlag erarbeiten musste. Dieser Regulierungsvorschlag stellte aber im Ergebnis
eine erneute finanzielle Bevorteilung für getrennt lebende
Eltern dar. Ergebnis: Die bisherige Rechtslage blieb bestehen. Nach meiner persönlichen Ansicht wäre es durchaus
wichtig, die Bedarfe für Kinder auch aus deren Sicht zu sehen. Ich denke, das wäre etwas, worüber wir uns wirklich
noch einmal unterhalten sollten.
Ansätze, wie sich eine veränderte Sicht auswirken
kann, zeigen die Regelungen beim Bildungs- und Teilhabepaket. Allerdings bin ich der Meinung, dass wir hier
auch noch einmal über das Bildungs- und Teilhabepaket
reden müssen,
({9})
damit es noch verbessert werden kann. Aber es folgt dem
Ansatz, vom Kind aus zu denken. Ich denke, das ist ein
vernünftiger Ansatz, den wir weiter verfolgen sollten.
({10})
Meine Damen und Herren, wie eingangs gesagt, sehe
ich auch die Notwendigkeit, Alleinerziehende noch mehr
zu entlasten, hier aber nicht nur Alleinerziehende im
Leistungsbezug. Wichtig sind für mich vor allem die Väter und Mütter, die morgens allein ihr Kind versorgen, es
zur Kita oder zur Schule bringen, dann zur Arbeit hechten, um rechtzeitig fertig zu sein, damit sie wieder fürs
Kind da sind, wenn die Kita schließt oder die Schule aus
ist. Dabei habe ich noch nicht genannt, dass es auch noch
zu pflegende Angehörige geben kann, dass das bisschen
Haushalt erledigt werden muss und der eigene Freundeskreis aufrechterhalten werden möchte.
Schwerpunkt unserer politischen Arbeit wird daher
weiterhin sein, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf
zu stärken. Ich werde auch nicht müde, immer wieder an
die Wirtschaft und an die Unternehmen zu appellieren,
dass sie uns dabei unterstützen müssen. Aus meinem eigenen Wahlkreis, aus Essen, weiß ich, dass Evonik hier
ganz viel macht und ganz flexibel ist, dass es also auch
schon Arbeitgeber gibt, die sich auf diesem Wege befinden. Aber es wird nicht gehen, dass wir Alleinerziehende
nur im SGB-II-Bezug unterstützen, sondern wir müssen
sie aus der Sozialhilfe herausholen. Wir müssen ganz viele Wege finden, damit uns das gelingt.
({11})
Wir als Parlament sollten diese Ansätze unterstützen.
So kann ein guter beruflicher Werdegang trotz der Fülle
an Aufgaben im Privaten auch für Alleinerziehende ermöglicht werden. Das sollte letztendlich unser Ziel sein,
nicht die Spaltung der Gesellschaft, so wie es die Linke
mit ihrem Antrag offensichtlich vorhat. Dem können und
wollen wir heute nicht zustimmen.
({12})
Ich darf Ihnen 1 Minute und 40 Sekunden von meiner
Redezeit schenken, einen schönen zweiten Advent wünschen und mich für Ihre Aufmerksamkeit bedanken.
({13})
Das Wort hat die Kollegin Sigrid Hupach für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben in der Debatte nun schon einiges darüber gehört, wie die Lebenssituation von Alleinerziehenden aussieht und wie schwierig diese ist. Mit unserem Antrag „Alleinerziehende
entlasten - Umgangsmehrbedarf anerkennen“ sprechen
wir eine ganz konkrete Baustelle an und machen einen
Lösungsvorschlag, der eine erhebliche Verbesserung für
die Betroffenen bringt.
In Deutschland leben inzwischen 2,2 Millionen Kinder in den 1,7 Millionen Familien mit einem Elternteil.
Alleinerziehend zu sein, gehört noch immer zu einem der
größten Armutsrisiken in Deutschland. 39 Prozent der
Alleinerziehenden mit minderjährigen Kindern beziehen
Leistungen nach dem SBG II. Diese Menschen haben
es - und das wissen wir alle - schon schwer genug, den
Lebensalltag zu bewältigen. Und gerade jene, die versuchen, dem Kind auch einen Umgang mit dem anderen
Elternteil zu ermöglichen, werden in vielen Fällen von
den Jobcentern bestraft.
Zu Recht haben umgangsberechtigte Elternteile, die
im SGB-Il-Bezug stehen, einen Mehrbedarf für ihr Kind
geltend gemacht. Dies darf aber doch nicht dazu führen,
dass genau dieser Anteil bei dem anderen Elternteil abgezogen wird, bei dem sich das Kind hauptsächlich aufhält.
Wie lebensfremd ist das denn?
({0})
Jeder weiß doch, dass Fixkosten so heißen, weil sie eben
fix, fest, konstant, also unveränderlich, sind. Die Miete
fürs Kinderzimmer muss man schließlich auch bezahlen,
({1})
wenn sich das Kind jedes zweite Wochenende beim anderen Elternteil aufhält.
({2})
- Es geht darum, dass ihnen nichts abgezogen wird.
({3})
Jobcenter ziehen den Anteil ab, wenn der andere Elternteil einen Mehrbedarf geltend macht. Das wird praktiziert.
({4})
Der Mitgliedsbeitrag für den Sportverein, die Musikschule und Ähnliches - all das bleibt konstant und reduziert sich leider nicht entsprechend, nur weil das Kind
am Wochenende mal gerade beim anderen Elternteil ist.
Zum Glück wurde im Frühjahr dank einer Petition
von Anna-Maria Petri-Satter und des großen öffentlichen
Protestes auf die geplante Gesetzesänderung verzichtet,
die den Regelsatz strikt nach den einzelnen Aufenthaltstagen aufteilen sollte. Das war richtig.
({5})
Aber die damalige Debatte hat dazu geführt, dass manche
Jobcenter jetzt erst recht die unklare Gesetzeslage ausnutzen und dass sich die Situation für alleinerziehende
Hartz-IV-Empfängerinnen oder -Empfänger sogar noch
verschärft hat. Leider geht dieses Feilschen immer zulasten der Kinder.
Wir sollten doch eigentlich alles unterstützen, was
Kindern ermöglicht, in regelmäßigem Kontakt mit beiden Elternteilen aufzuwachsen, auch wenn die Eltern getrennt leben.
({6})
Deswegen brauchen wir hier eine klare gesetzliche Regelung, damit kein Elternteil finanzielle Einbußen befürchten muss, wenn sich das Kind einige Tage woanders
aufhält.
Wir schlagen mit unserem Antrag eine klare Lösung
vor: voller Regelsatz für den Elternteil, in dessen HausJutta Eckenbach
halt das Kind überwiegend lebt, und halber Regelsatz für
den Elternteil, der umgangsberechtigt ist. Zugleich muss
dies auch bei den Kosten der Unterkunft und der Heizung
entsprechend berücksichtigt werden.
({7})
Dies bringt nicht nur Rechtssicherheit für die Alleinerziehenden wie für die umgangsberechtigten Elternteile,
sondern entlastet auch entscheidend die Bürokratie und
vor allem: Es hilft den Kindern.
Die Zahl der Alleinerziehenden wird weiter wachsen,
einfach weil die Lebensformen anders sind als früher,
und sie werden sich auch weiterhin ändern.
({8})
Kollegin Hupach, auch wenn es ein Zeitgeschenk aus
der Unionsfraktion gegeben hat, müssen Sie jetzt zum
Schluss kommen.
({0})
Dem müssen wir auch in Zukunft gerecht werden und
zum Beispiel auch die Tatsache berücksichtigen, dass
sich Menschen bewusst entscheiden, allein zu erziehen.
Alle diese Lebensformen müssen wir endlich auch in der
Politik akzeptieren und deren Realität in den gesetzlichen
Rahmenbedingungen berücksichtigen.
({0})
Ich bitte Sie jetzt wirklich, zum Schluss zu kommen.
({0})
Ich höre auf, Frau Präsidentin. - Eigentlich brauchen wir dafür einen Systemwechsel, nämlich weg von
Hartz IV.
({0})
Wir machen Ihnen hier den Vorschlag, wenigstens eine
Baustelle zu erledigen.
Vielen Dank.
({1})
Der Kollege Dr. Fritz Felgentreu hat für die SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Alle
Fraktionen des Bundestages - wir haben es gemerkt sind sich einig: Wir wollen nicht hinnehmen, dass Alleinerziehende und ihre Kinder ein höheres Risiko tragen, in
Armut zu leben.
Für die Koalition ist die Verbesserung der Lebensbedingungen für solche Familien ein zentrales Thema. Und
das beste Mittel gegen Armut ist Arbeit. Deshalb war es
uns besonders wichtig, die Bedingungen zu verbessern,
damit Alleinerziehende die Betreuung ihrer Kinder mit
einer Berufstätigkeit vereinbaren können. Wir haben den
Ländern und Kommunen zusätzliche Milliarden zur Verfügung gestellt, damit sie mehr Kitas und Horte bauen
und sie besser ausstatten. Mehr und bessere Betreuung
für Kinder hilft allen Eltern, aber den Alleinerziehenden
natürlich am meisten.
({0})
Wir haben den Anspruch auf Teilzeitarbeit gestärkt und
erweitert, und wir haben das Elterngeld Plus eingeführt.
Wir haben den Mindestlohn eingeführt und den Kinderzuschlag erhöht, damit Eltern mit niedrigem Einkommen
nicht als Aufstocker zum Jobcenter gehen müssen.
({1})
Die Liste ließe sich fortsetzen, liebe Kolleginnen und
Kollegen. Aber ich möchte Sie nicht mit Dingen langweilen, die Sie alle kennen. Ein bisschen Anerkennung
für die vielen Fortschritte in den letzten drei Jahren stünde aber auch der Opposition einmal ganz gut zu Gesicht.
({2})
Die Linksfraktion, lieber Herr Wunderlich, hat jetzt
ein Sammelsurium von weiteren Verbesserungsvorschlägen vorgelegt. All das lässt sich so nicht umsetzen, schon
gar nicht sofort. Aber es sind durchaus Denkanstöße dabei, über die wir weiter diskutieren können.
Ich möchte mich nun auf den Punkt konzentrieren,
bei dem wir einen Durchbruch erreicht haben, den Unterhaltsvorschuss. Einen Unterhaltsvorschuss zahlt der
Staat Alleinerziehenden - in der Regel alleinerziehenden
Müttern - dann aus, wenn in der Regel die Väter aus welchen Gründen auch immer nicht zahlen, wozu sie verpflichtet sind. Der Vorschuss ist überall eine große Hilfe.
Allein in meinem Wahlkreis Berlin-Neukölln profitieren
davon 2 300 Kinder.
In den Fällen, in denen die Mütter ein niedriges Arbeitseinkommen haben, kann der Vorschuss der Grund
sein, warum es ihnen erspart bleibt, als Aufstocker Arbeitslosengeld II zu beantragen. Deswegen wollen wir
auch nicht, dass diese Leistung in das SGB II kommt.
({3})
Das Geld ist nicht geschenkt, sondern der Staat versucht,
sich den Vorschuss von den Vätern zurückzuholen. Im
Schnitt können aber nur etwa ein Viertel der Kosten
eingetrieben werden. Deshalb kostet der Unterhaltsvorschuss Geld, das zu einem Drittel vom Bund und zu zwei
Dritteln von den Ländern kommt.
({4})
Fachleute und Politik kritisieren schon lange, dass der
Unterhaltsvorschuss bisher nur maximal sechs Jahre lang
und nur bis zum zwölften Lebensjahr gezahlt wird; denn
Kinder kosten nun einmal länger als sechs Jahre etwas,
und Jugendliche kosten in der Regel mehr als kleine Kinder.
({5})
Aber bisher sind sich Bund und Länder über die sinnvolle und notwendige Ausweitung nie einig geworden. Der
Grund dafür: das Geld.
Umso größer die Freude, dass am 14. Oktober zusammen mit der Neuregelung der Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern auch entschieden wurde, vom
1. Januar an ohne zeitliche Befristung bis zur Volljährigkeit Unterhaltsvorschuss zu zahlen.
({6})
Mit diesem gemeinsamen Beschluss von Bund und Ländern ist aus unserer Sicht die Entscheidung gefallen.
Aber sie muss jetzt auch umgesetzt werden.
({7})
Eine Formulierungshilfe des Familienministeriums liegt
vor. Wir können das Gesetz also unverzüglich beschließen.
Meine Damen und Herren, lieber Herr Wunderlich,
ich wundere mich, dass es in dieser Situation noch Bundesländer gibt - ich sage offen: auch SPD-geführte Bundesländer -, die jetzt die Gesetzgebung verzögern,
({8})
weil Finanzierungs- und Verwaltungsfragen noch geklärt
werden müssen.
({9})
Alle Beteiligten wussten schon am 14. Oktober, als sie
die Beschlüsse gefasst haben, dass der Unterhaltsvorschuss Geld kostet und Arbeit macht.
({10})
Damals hätten die Bedenken vorgetragen werden müssen, nicht jetzt, da Tausende Familien die dringend benötigte und zugesagte Unterstützung erwarten.
Vor diesem Hintergrund habe ich noch weniger Verständnis für die Haltung der Unionsfraktion,
({11})
die auch hier im Bundestag die Gesetzgebung blockiert.
({12})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, uns steht doch nichts
im Wege, das umzusetzen, was in größter Eindeutigkeit
verabredet worden ist.
({13})
Wir haben den Alleinerziehenden in Deutschland gemeinsam ein Versprechen gegeben. Helfen Sie mit, dass
wir es auch halten!
Vielen Dank.
({14})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/10283 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zu dem
Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Lebenssituation von Alleinerziehenden deutlich verbessern“. Der
Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
({0})
auf Drucksache 18/10106, den Antrag der Fraktion Die
Linke auf Drucksache 18/6651 abzulehnen.
({1})
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 14. Dezember 2016, 13 Uhr, ein.
Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende und für
alle, die ihn feiern, natürlich einen gesegneten zweiten
Advent.
({2})
Die Sitzung ist geschlossen.