Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie alle herzlich zur 20. Sitzung des Deutschen
Bundestages.
Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte ich
zunächst drei Kollegen zu ihren Geburtstagen gratulieren, die sie in den vergangenen Tagen gefeiert haben: zunächst zu ihren „runden“ Geburtstagen den Kolleginnen
Dr. Herlind Gundelach und Katharina Landgraf sowie dem Kollegen Dr. Franz Josef Jung, der vor einigen Tagen seinen 65. Geburtstag gefeiert hat. Alle guten
Wünsche für die Zukunft!
({0})
Wir müssen noch eine Wahl durchführen. Für den Beirat der Stiftung Datenschutz schlägt die Fraktion der
SPD vor, die Kolleginnen Christina Kampmann und
Michelle Müntefering sowie für die ausgeschiedene Kollegin Gisela Piltz den Kollegen Gerold Reichenbach als
Mitglieder zu wählen. Sind Sie mit diesen Vorschlägen
einverstanden? - Das ist offenkundig der Fall. Dann sind
die genannten Kolleginnen und der Kollege als Mitglieder des Beirates gewählt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Haltung der Bundesregierung zur Abschaffung des Optionszwangs im Staatsangehörigkeitsrecht({1})
ZP 2 Weitere Überweisung im vereinfachten VerfahrenErgänzung zu TOP 14
Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia
Kotting-Uhl, Annalena Baerbock, Bärbel Höhn,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Für mehr Transparenz in der Internationalen
Atomenergie-Organisation
Drucksache 18/772
Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit ({2})Auswärtiger AusschussAusschuss für Wirtschaft und Energie
ZP 3 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Energie ({3}) zu dem Antrag der Abgeordneten Agnieszka Brugger, Katja Keul, Omid
Nouripour, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Keine Rüstungsexporte nach Saudi-Arabien
Drucksachen 18/576, 18/793
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Annalena Baerbock, Marieluise Beck ({4}),
Dr. Franziska Brantner, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Einsetzung einer „Parlamentarischen Kommission zur Überprüfung, Sicherung und
Stärkung der Parlamentsrechte bei der Mandatierung von Auslandseinsätzen der Bundeswehr“
Drucksache 18/775
Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss ({5})Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
GeschäftsordnungInnenausschussAusschuss für Recht und VerbraucherschutzVerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
EntwicklungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Präsident Dr. Norbert Lammert
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Gerhard Schick, Manuel Sarrazin, SvenChristian Kindler, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung einheitlicher Vorschriften und eines einheitlichen Verfahrens für die Abwicklung von
Kreditinstituten und bestimmten Wertpapierfirmen im Rahmen eines einheitlichen Abwicklungsmechanismus und eines einheitlichen
Bankenabwicklungsfonds sowie zur Änderung
der Verordnung ({6}) Nr. 1093/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates
KOM({7}) 520 endg.; Ratsdok. 12315/13
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes
Zum Schutz der Allgemeinheit vor Einzelinteressen - Für eine echte Europäische Bankenunion
Drucksache 18/774
Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss ({8})Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsauschuss
Dabei soll von der Frist für den Beginn der Beratungen, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Die Tagesordnungspunkte 6 und 14 a werden abgesetzt. Der Tagesordnungspunkt 8 wird nach dem Tagesordnungspunkt 15 und der Zusatzpunkt 5 mit einer
Debattenzeit von 38 Minuten nach dem Tagesordnungspunkt 13 aufgerufen.
Ich mache jetzt schon darauf aufmerksam, dass es
zum Tagesordnungspunkt 9 eine namentliche Abstimmung geben wird, die dann im Laufe des Nachmittags
gegen 16.30 Uhr stattfinden wird.
Schließlich mache ich Sie darauf aufmerksam, dass
die Überweisung der Unterrichtung der Bundesregierung
auf der Drucksache 18/641 Nr. 23 an den Ausschuss für
Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit zur Federführung sowie zur Mitberatung an den Ausschuss für
Recht und Verbraucherschutz, den Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sowie an den Ausschuss für Kultur und Medien aufgehoben wird. - Auch
dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 3 auf:
Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin
zum Treffen der Staats- und Regierungschefs
der Europäischen Union zur Lage in der
Ukraine am 6. März 2014
Hierzu habe ich den Botschafter der Ukraine eingeladen, der zusammen mit zahlreichen anderen Vertretern weiterer Botschaften unserer heutigen Debatte
beiwohnt und den ich auf der Ehrentribüne herzlich begrüße.
({9})
Das gilt auch für eine Delegation des Abgeordnetenhauses des Königreiches Bahrain, die ebenfalls an dieser Debatte teilnimmt. Seien Sie uns alle herzlich willkommen!
({10})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung 96 Minuten vorgesehen. - Auch dies ist offenkundig unstreitig. Dann können wir so verfahren.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
die Bundeskanzlerin, Frau Dr. Angela Merkel.
({11})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Jahrhundertelang waren die
Beziehungen der europäischen Staaten von Rivalität,
wechselnden Bündnissen und immer wieder schrecklichem Blutvergießen geprägt. Daran denken wir gerade
in diesem Jahr, 2014, dem Jahr der Gedenktage, ganz besonders.
Wir denken an den Ersten Weltkrieg, der vor 100 Jahren ausbrach. Er war die erste große Katastrophe des
20. Jahrhunderts, der alsbald die zweite folgen sollte: der
Ausbruch des Zweiten Weltkrieges vor 75 Jahren mit
dem Zivilisationsbruch durch die Schoah. Dass sich an
diese Schrecken nunmehr über ein halbes Jahrhundert
von Frieden, Freiheit und Wohlstand in weiten Teilen
Europas anschloss, das grenzt immer noch an ein Wunder. Mit der europäischen Einigung hat Europa die Lehren aus seiner leidvollen Geschichte gezogen, zunächst
im Westen Europas, nach 1989 darüber hinaus. Wir erinnern uns in diesem Jahr auch an den Fall der Berliner
Mauer vor 25 Jahren und an den Beginn der EU-Osterweiterung vor 10 Jahren. Die europäische Einigung ist
und bleibt auch im 21. Jahrhundert das große Versprechen von Frieden, von Freiheit und von Wohlstand.
({0})
Längst hat die Globalisierung unsere Welt - unsere
Art zu leben, zu arbeiten, zu wirtschaften - bis in den
letzten Winkel erfasst. Heute leben über 7 Milliarden
Menschen auf der Erde. Sie alle wollen am Wohlstand
teilhaben. Niemand kann sich mehr darauf beschränken,
nur seine eigenen Belange im Blick zu haben, und wer es
doch tut, der schadet sich selbst über kurz oder lang. Das
gilt für alle: Das gilt für Deutschland, das gilt für unsere
Nachbarn, das gilt selbst für ein so großes und starkes
Land wie die Vereinigten Staaten von Amerika, ebenso
für China und Russland. Wir sind alle, und zwar stärker
und stärker, miteinander verflochten - und eben auch
Russland.
Ausdruck dessen sind zum Beispiel jährliche deutschrussische Regierungskonsultationen, der Petersburger
Dialog, das Deutsch-Russische Rohstoff-Forum, mehr
als 20 bilaterale Abkommen Russlands mit der Europäischen Union, der Ostseerat, unsere Zusammenarbeit mit
Russland im Rahmen der G 8 und der G 20, der NATORussland-Rat, Verhandlungsmandate im Nahost-Friedensprozess und bei den Nukleargesprächen mit dem
Iran und vieles, vieles mehr.
Das alles ist gelebte Globalisierung im 21. Jahrhundert. Sie ist Ausdruck der Erkenntnis, dass wir alle in
Europa und darüber hinaus uns den großen Aufgaben gemeinsam stellen müssen. Sie ist Ausdruck dessen, dass
jeder von uns allein weniger erreicht als gemeinsam.
Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist das Umfeld,
in dem wir wie 2008 in Georgien und jetzt mitten in
Europa, in der Ukraine, einen Konflikt um Einflusssphären und um Territorialansprüche erleben, wie wir ihn eigentlich aus dem 19. oder 20. Jahrhundert kennen, einen
Konflikt, den wir für überwunden gehalten hatten.
({1})
Dass er ganz offensichtlich nicht überwunden ist, zeigen
bereits drei Nachrichten der letzten 14 Tage:
27. Februar. Das Krim-Parlament setzt in nichtöffentlicher Sitzung eine neue Regierung ein und spricht sich
in dieser Sitzung für eine Volksbefragung über den künftigen Status der Region aus, zunächst geplant für den
25. Mai. - Diese wurde dann vorverlegt auf den
30. März und schließlich auf den 16. März. Dies ist eine
Verletzung der ukrainischen Verfassung, die Sezessionsreferenden in einzelnen Landesteilen ohne Zustimmung
des Gesamtstaats nicht erlaubt.
1. März. Der Föderationsrat Russlands stimmt auf
Bitten von Staatspräsident Putin in einem Vorratsbeschluss einem Militäreinsatz auf der Krim im Grundsatz
zu, nachdem Russland zuvor, wie es heißt, um Beistand
gebeten worden sei.
11. März. Das Krim-Parlament beschließt die Unabhängigkeit der Krim von der Ukraine, womit das in der
ukrainischen Verfassung vorgesehene Verbot von Sezessionsreferenden umgangen werden soll.
Meine Damen und Herren, es ist offenkundig: Die territoriale Unversehrtheit und damit die staatliche Einheit
der Ukraine werden ganz offen infrage gestellt und verletzt.
({2})
In einer Phase großer Unsicherheit in der Ukraine hat
sich Russland nicht als Partner für Stabilität in dem mit
ihm historisch, kulturell und wirtschaftlich eng verbundenen Nachbarland erwiesen, sondern nutzt dessen gegebene Schwäche aus. Das Recht des Stärkeren wird
gegen die Stärke des Rechts gestellt, einseitige geopolitische Interessen über Verständigung und Kooperation.
({3})
Das ist Handeln nach den Mustern des 19. und 20. Jahrhunderts im 21. Jahrhundert. Denn noch einmal: Niemand, schon gar nicht die Europäische Union oder Länder wie die Vereinigten Staaten von Amerika oder auch
Russland, niemand von uns kann sich heute im 21. Jahrhundert noch darauf beschränken, nur seine eigenen Belange im Blick zu haben. Wenn er es doch tut, dann schadet er sich über kurz oder lang selbst.
({4})
Es ist ganz ohne Zweifel beklemmend, was wir derzeit mitten in Europa erleben. Ich fürchte, wir werden einen langen Atem brauchen, um den Konflikt zu lösen.
Aber wir können diese für Europa zentrale Herausforderung entschlossen annehmen. Es geht um die territoriale
Unversehrtheit eines europäischen Nachbarlandes, um
den Respekt vor den Prinzipien der Vereinten Nationen,
um Prinzipien und Methoden des Interessenausgleichs
im 21. Jahrhundert.
Weil in diesen Tagen von dem einen oder anderen der
Vergleich mit dem Kosovo-Konflikt gezogen wird
- vielleicht auch gleich in dieser Debatte -, erlaube ich
mir dazu eine kurze Nebenbemerkung. Nachdem damals
die Staatengemeinschaft den sogenannten ethnischen
Säuberungskriegen von Milosevic auf dem Gebiet des
ehemaligen Jugoslawien jahrelang mehr oder weniger
ohnmächtig zugesehen hatte, nachdem Sanktionen und
Verhandlungen keinerlei Wirkung gezeigt hatten, entschloss sich die NATO, ohne UN-Mandat militärisch
einzugreifen, auch weil Russland jeden Beschluss des
UN-Sicherheitsrates für ein UN-Mandat blockiert hatte.
Um es klipp und klar zu sagen: Die Situation damals ist
in keiner Weise mit der in der Ukraine heute vergleichbar.
({5})
Doch wenn ich mich schon auf diesen aus meiner
Sicht beschämenden Vergleich einlasse, dann hat ganz
grundsätzlich Folgendes zu gelten: Das Vorgehen Russlands in der Ukraine stellt eindeutig einen Bruch grundlegender völkerrechtlicher Prinzipien dar. Dieser würde
nicht dadurch relativiert, wenn es andere Völkerrechtsverletzungen gegeben hätte.
({6})
Es bleibt ein Bruch des Völkerrechts mitten in Europa,
nach dem wir nicht zur Tagesordnung übergehen dürfen
und nach dem wir nicht zur Tagesordnung übergegangen
sind.
In dieser spannungsgeladenen und gefährlichen Situation gilt es, Wege aus der Krise zu finden. Militärisch ist
der Konflikt nicht zu lösen. Ich sage allen Menschen, die
Angst und Sorge haben: Militärisches Vorgehen ist keine
Option für uns.
({7})
Die Politik der Bundesregierung und unserer Partner in
der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten
von Amerika folgt vielmehr einem politisch-ökonomischen Dreiklang:
Erstens. Wir arbeiten intensiv für die Einrichtung einer internationalen Beobachterkommission und einer
Kontaktgruppe bzw. Koordinierungsgruppe; Sie können
es nennen, wie Sie wollen. Wir arbeiten damit für einen
politisch-diplomatischen Weg aus der Krise.
({8})
Ziel der Beobachtermission wäre es, Behauptungen zu
überprüfen und ein objektives Bild der Lage überall in
der Ukraine zu erreichen. Ziel einer Kontaktgruppe wäre
es, einen Gesprächskanal zwischen Moskau und Kiew
unter Vermittlung internationaler Partner aufzubauen. In
solchen Gesprächen müssten all die Themen auf den
Tisch, die zum jetzigen Konflikt geführt haben oder diesen in Zukunft noch anheizen könnten. Natürlich würde
es dabei auch um Autonomierechte der Krim und Sprachenfragen gehen. Eines muss dabei aber unmissverständlich klar sein: Die territoriale Integrität der Ukraine
steht nicht zur Disposition.
({9})
In diesem Zusammenhang sei ausdrücklich erwähnt:
Auch anderen Staaten, wie der Republik Moldau oder
Georgien, gebührt in dieser Situation unsere Solidarität.
({10})
Zweitens. Bei ihrem Treffen am 6. März 2014 haben
sich die Staats- und Regierungschefs der Europäischen
Union zu umfangreichen Hilfen für die Ukraine entschlossen. Wir haben das von der Kommission vorgelegte Unterstützungsprogramm mit einem Gesamtvolumen von 11 Milliarden Euro begrüßt. Dies umfasst auch
Maßnahmen der europäischen Förderbanken EIB und
EBRD. Schnelle Hilfe ist jetzt gefragt. Dabei ist auch
eine enge Abstimmung mit dem IWF für die Unterstützung durch die EU essenziell. Eine IWF- und eine EUDelegation sind bereits vor Ort in Kiew, um sich ein
vollständiges Bild von der Lage in der Ukraine zu machen und erste Vorschläge für ein etwaiges Unterstützungs- und Reformprogramm zu erarbeiten.
Wir haben letzte Woche in Brüssel auch gemeinsam
beschlossen, den politischen Teil des EU-Assoziierungsabkommens mit der Ukraine bald zu unterzeichnen, der
wichtige Impulse vor allem im Bereich der Rechtsstaatsentwicklung gibt. Einige der wirtschaftlichen Vorteile
der im Abkommen angelegten umfassenden Freihandelszone will die EU kurzfristig durch einseitige Handelserleichterungen wie eine Senkung von Zöllen zugänglich machen.
Äußerst wichtig ist in dieser Situation natürlich auch,
die Kontakte der Menschen untereinander zu befördern.
Wir wollen die Verhandlungen zu Visaerleichterungen
für die Ukraine beschleunigt vorantreiben. Auch im
Energiebereich steht die EU bereit, die Ukraine bei einer
Stärkung ihrer Energiesicherheit zu unterstützen, etwa
durch eine größere Diversifizierung von Energiequellen
und Transportwegen und durch Modernisierungsmaßnahmen.
Ganz wichtig werden aber auch Signale der Solidarität von Mensch zu Mensch sein - dies auch und vor allem in der Ostukraine. Hier können bestehende Städtepartnerschaften - es gibt eine ganze Reihe davon - und
andere zivilgesellschaftliche Kontakte eine ganz wichtige Rolle spielen.
({11})
Ich möchte die deutschen Städte, aber auch Schulen,
Universitäten und Vereine mit Partnern in der Ukraine
dazu ermuntern, in dieser besonderen Zeit den Kontakt
noch zu vertiefen und zu schauen, ob praktische Hilfeleistungen möglich sind.
Wir unterstützen die Übergangsregierung in Kiew darin, eine Regierung für alle Ukrainer zu sein. Es geht darum, Gräben zu überwinden, erste Schritte zur wirtschaftlichen Stabilisierung zu gehen und freie und faire
Wahlen im Mai zu ermöglichen.
({12})
Die Ukraine sollte weiterhin ein Ort des friedlichen Zusammenlebens für alle ihre Bürger sein, ganz gleich, ob
sie Ukrainisch, Russisch, Tatarisch oder eine der anderen
Sprachen sprechen und welchen Glauben sie haben.
Wenn dieser Weg des Übergangs erfolgreich gemeistert werden kann, dann kann sich das europäische Angebot einer Reformpartnerschaft erfüllen, so wie sie im
Assoziierungs- und vertieften Freihandelsabkommen
niedergelegt ist. Die Zielsetzung ist sehr eng verwoben
mit den Erwartungen, die in den Protesten auf dem Maidan zum Vorschein kamen: Stärkung der Rechtsstaatlichkeit, Unabhängigkeit der Justiz, mehr Transparenz,
weniger Korruption und eine weitere Reduktion der
Handelsbeschränkungen. Dieses Angebot zur Modernisierung ist ein Ansatz der Nachbarschaftspolitik, nicht
der Geopolitik. Es ist gegen niemanden gerichtet.
({13})
Ich wiederhole in diesem Zusammenhang das, was
ich in meiner Regierungserklärung zum EU-Gipfel zur
Östlichen Partnerschaft am 18. November des letzten
Jahres hier im Deutschen Bundestag gesagt habe, nämlich,
dass sich weder die Östliche Partnerschaft noch die
bilateralen vertraglichen Beziehungen, die die EU
mit ihren Partnern abschließen will, gegen Russland richten.
Wir müssen
- so habe ich damals gesagt weiter daran arbeiten, dass es kein Entweder-oder
zwischen einer Annäherung der Länder der Östlichen Partnerschaft an die EU und dem russischen
Bemühen um eine engere Partnerschaft mit diesen
Ländern geben sollte.
Die Ereignisse in diesen Wochen scheinen darüber
hinwegzufegen: Richtig bleibt es trotzdem, auch jetzt
nichts unversucht zu lassen, genau diesen Ansatz, für
den die EU konkrete Vorschläge unterbreitet hat, weiterzuverfolgen.
({14})
Von der Stärkung und Modernisierung der Volkswirtschaften unserer osteuropäischen Partner profitierte im
Übrigen auch Russland. Daher gehört für uns natürlich
auch dazu, mit Russland über vermeintliche Nachteile
aus einer ukrainischen Assoziierung für den ukrainischrussischen Handel zu sprechen. Dazu gehört, zusammen
mit Russland an Lösungsansätzen für ungelöste Konflikte in der gemeinsamen Nachbarschaft zu arbeiten.
({15})
Dazu würde auch gehören, mit Russland über ein neues
Wirtschaftsabkommen zu beraten.
Drittens. Es gilt aber auch: Für den Fall, dass Russland nicht bereit ist, auf den Weg der Zusammenarbeit
und des Rechts zurückzukehren, für den Fall, dass Russland unverändert nicht bereit ist, zur Entspannung beizutragen, haben die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union bei ihrem Treffen in der letzten Woche
in Brüssel drei Stufen für ihr weiteres Vorgehen festgelegt.
In einer ersten Stufe haben wir die Verhandlungen
über ein neues Abkommen zu den Grundlagen der EUBeziehungen mit Russland und über Visafragen suspendiert. Wenn es in den allernächsten Tagen nicht zu Verhandlungen mit Russland kommt, und zwar zu Verhandlungen, die Resultate hervorbringen und in denen nicht
nur auf Zeit gespielt wird, dann werden die Außenminister der EU-Mitgliedstaaten in ihrem Rat am kommenden
Montag, dem 17. März 2014, als zweite Stufe weitere
Maßnahmen beschließen. Dazu gehören Einreisesperren,
Kontensperrungen und die Absage des EU-RusslandGipfels.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich denke, es ist in
Ihrer aller Namen, wenn ich an dieser Stelle die Gelegenheit nutze, unserem Außenminister Frank-Walter
Steinmeier zu danken.
({16})
Ich danke ihm für seinen unermüdlichen Einsatz in
schier endlosen, leider auch frustrierenden Gesprächen,
aber nie nachlassend in unserem gemeinsamen Bemühen, einen Ausweg aus der Krise zu finden.
Es versteht sich von selbst, dass sich der nächste reguläre Rat der Staats- und Regierungschefs neben den
Punkten auf seiner seit langem geplanten Tagesordnung
zu Klima- und Energiefragen natürlich auch mit dem
weiteren Fortgang der Ereignisse in der Ukraine befassen wird.
Für den Fall, dass Russland die Lage in der Ukraine
weiter destabilisiert - auch in der Ostukraine sehen wir
besorgniserregende Entwicklungen -, haben die Staatsund Regierungschefs bei ihrem Treffen am 6. März eine
dritte Stufe von Maßnahmen vereinbart, die wir bereit
wären, zu ergreifen. Sie könnten in vielfältiger Weise die
wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Russland betreffen.
Um es unmissverständlich klarzumachen: Niemand
von uns wünscht sich, dass es zu solchen Maßnahmen
kommt.
({17})
Doch wir alle wären zu ihnen bereit und entschlossen,
falls sie unumgänglich werden.
({18})
Wir alle, das sind die 28 Mitgliedstaaten der Europäischen Union in engster Abstimmung mit unseren transatlantischen Partnern und innerhalb der G 7. Gemeinsam
haben wir auch in der G 7 in der vergangenen Woche beschlossen, unsere Beteiligung an den Vorbereitungsprozessen für den im Juni geplanten G-8-Gipfel auszusetzen, bis ein Umfeld hergestellt ist, in dem sinnvolle
Gespräche im G-8-Rahmen wieder möglich sind.
Wenn Russland seinen Kurs der letzten Wochen fortsetzt, dann wäre das nicht nur eine Katastrophe für die
Ukraine. Dann empfänden wir das nicht nur als Nachbarstaaten Russlands als eine Bedrohung. Dann veränderte das nicht nur das Verhältnis der Europäischen
Union als Ganzes zu Russland. Nein, dann schadete das
nicht zuletzt - davon bin ich zutiefst überzeugt - massiv
auch Russland, und zwar ökonomisch wie politisch.
Denn - ich kann es gar nicht oft genug und nachdrücklich genug sagen - die Uhr lässt sich nicht zurückdrehen.
Interessenkonflikte mitten in Europa im 21. Jahrhundert
lassen sich erfolgreich nur dann überwinden, wenn wir
nicht auf Muster des 19. und 20. Jahrhunderts zurückgreifen.
({19})
Sie lassen sich nur dann überwinden, wenn wir mit den
Prinzipien und Mitteln unserer Zeit, des 21. Jahrhunderts, agieren.
({20})
Auch geopolitische Stärke entwickeln, das geht erfolgreich nur mit den Prinzipien und Mitteln unserer
Zeit. Uns allen in Europa und der Welt - auch Russland eröffnen sich auf diesem Weg so sehr viel mehr Chancen
als Risiken. Dem folgt der Dreiklang unseres Handelns
als Bundesregierung: Gespräche, Hilfen und Sanktionen,
indem Deutschland in der aktuellen Krise in enger Abstimmung mit unseren Partnern die jeweils nächsten
Schritte geht. Dafür bitte ich Sie um Ihre Unterstützung.
Herzlichen Dank.
({21})
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Gregor Gysi für die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Putin will
die gesamte Krise in der Ukraine militärisch lösen. Er
hat nicht begriffen, dass die Probleme der Menschheit
weder mit Soldaten noch mit Gewehren zu lösen sind,
ganz im Gegenteil.
({0})
Auch die Probleme Russlands lassen sich so nicht lösen.
({1})
Sein Denken und Handeln ist falsch und wird von uns
deutlich verurteilt.
({2})
Es ist aber dasselbe Denken, das im Westen vorherrschte und vorherrscht: bei Jugoslawien, Afghanistan,
dem Irak und Libyen.
({3})
An die Stelle der Systemkonfrontation sind die Interessengegensätze der USA und Russlands getreten. Der
Kalte Krieg ist beendet, aber solche Interessengegensätze können zu ganz ähnlichen Zügen führen.
Die USA wollen mehr Einfluss gewinnen und vorhandenen verteidigen, und Russland will mehr Einfluss
gewinnen und vorhandenen verteidigen. Ich sage als
Stichworte zu Russland nur: Georgien, Syrien, Ukraine.
Auch wenn man Putins Vorgehen verurteilt, muss
man sehen, wie es zur gesamten Zuspitzung und Konfrontation kam. Ich sage es Ihnen ganz deutlich: Alles,
was NATO und EU falsch machen konnten, haben sie
falsch gemacht.
({4})
Ich beginne bei Gorbatschow im Jahre 1990. Er schlug
ein gemeinsames europäisches Haus, die Auflösung der
NATO und des Warschauer Vertrages und ein Konzept
der „Gemeinsamen Sicherheit“ mit Russland vor. Das
hat die NATO ausgeschlagen. Sie hat gesagt: Den Warschauer Vertrag aufzulösen, ist okay, aber die NATO
bleibt. Und aus dem Verteidigungsbündnis NATO wurde
ein Interventionsbündnis gemacht.
Der zweite Fehler: Bei der Herstellung der deutschen
Einheit erklärten der amerikanische Außenminister, unser damaliger Außenminister Genscher und andere Außenminister gegenüber Gorbatschow, dass es keine Osterweiterung der NATO geben wird. Dieses Versprechen
ist gebrochen worden. Es gab eine vehemente Ausweitung der NATO in Richtung Russland.
Der ehemalige US-Verteidigungsminister Robert
Gates bezeichnete die eilfertige Aufnahme der osteuropäischen Staaten in die NATO als schweren Fehler und
den Versuch des Westens, die Ukraine in die NATO einzuladen, als schwere Provokation. Nicht ich, sondern der
ehemalige US-amerikanische Verteidigungsminister hat
das erklärt.
Dann kam drittens der Beschluss, Raketen in Polen
und Tschechien zu stationieren. Die russische Regierung
sagte: Das tangiert unsere Sicherheitsinteressen; wir
möchten das nicht. - Das hat den Westen überhaupt
nicht interessiert. Es wurde dennoch gemacht.
Zudem hat die NATO im Zusammenhang mit dem Jugoslawienkrieg das Völkerrecht mehrfach und schwer
verletzt. Das räumt inzwischen auch der damalige Kanzler
Schröder ein. Serbien hatte keinen anderen Staat angegriffen, und es gab keinen Beschluss des UN-Sicherheitsrates.
Es wurde dennoch mit erstmaliger bundesdeutscher Beteiligung nach 1945 bombardiert. Und die Bewohnerinnen und Bewohner des Kosovo durften in einem Volksentscheid die Loslösung von Serbien beschließen.
Ich habe damals die Völkerrechtsverletzung schwer
kritisiert und Ihnen gesagt: Sie öffnen beim Kosovo eine
Büchse der Pandora; denn wenn das im Kosovo erlaubt
ist, müssen Sie es auch in anderen Gegenden erlauben. Sie haben mich beschimpft. Sie haben es nicht ernst genommen, und zwar weil Sie glaubten, solche Sieger im
Kalten Krieg zu sein, dass alle alten Maßstäbe für Sie
nicht mehr gelten. Ich sage Ihnen: Die Basken fragen,
warum sie keinen Volksentscheid machen dürfen, ob sie
zu Spanien gehören wollen oder nicht. Die Katalanen
fragen, warum sie keinen Volksentscheid machen dürfen, ob sie zu Spanien gehören wollen oder nicht. Natürlich fragen das nun auch die Bewohnerinnen und Bewohner der Krim.
Durch Völkerrechtsverletzung kann man über Gewohnheitsrecht auch neues Völkerrecht schaffen; das
wissen Sie. Ich bleibe aber der Meinung, dass die Abtrennung der Krim völkerrechtswidrig wäre, genauso
wie die Abtrennung des Kosovo völkerrechtswidrig war.
({5})
Ich wusste aber, dass sich Putin auf den Kosovo berufen
wird, und er hat es auch getan. Jetzt sagen Sie, Frau Bundeskanzlerin: Die Situation ist doch eine völlig andere.
({6})
- Das kann schon sein. - Sie verkennen aber: Völkerrechtsbruch ist Völkerrechtsbruch.
Meine liebe Frau Roth, fragen Sie doch einmal einen
Richter, ob ein Diebstahl aus edlerem Motiv im Vergleich zu einem Diebstahl aus unedlerem Motiv kein
Diebstahl ist. Er wird Ihnen sagen: Es bleibt ein Diebstahl. - Das ist das Problem.
({7})
Herr Struck hat damals erklärt: Die Bunderepublik
muss ihre Sicherheit am Hindukusch verteidigen. - Nun
erklärt Herr Putin: Russland muss seine Sicherheit auf
der Krim verteidigen. - Deutschland hatte am Hindukusch übrigens keine Flotte und war auch wesentlich
weiter entfernt. Trotzdem sage ich: Beide Sätze waren
bzw. sind falsch.
({8})
Aber es bleibt auch Folgendes: Wenn viele Völkerrechtsverletzer dem Völkerrechtsverletzer Russland vorwerfen, das Völkerrecht zu verletzen, ist das nicht besonders wirksam und glaubwürdig. Das ist die Tatsache,
mit der wir es zu tun haben.
({9})
Obama sprach genauso wie Sie, Frau Bundeskanzlerin, von der Souveränität und territorialen Integrität der
Staaten. Aber diese beiden Prinzipien wurden in Serbien,
im Irak, in Libyen verletzt. Der Westen meinte, das Völkerrecht verletzen zu können, weil der Kalte Krieg vorbei sei. Man hat die chinesischen und die russischen Interessen grob unterschätzt. Sie haben Russland unter
Jelzin, der häufig angetrunken war, überhaupt nicht
mehr ernst genommen. Aber die Situation hat sich geändert. Sehr spät berufen Sie sich jetzt wieder auf die im
Kalten Krieg entstandenen völkerrechtlichen Grundsätze. Ich bin sehr dafür, dass sie wieder gelten - aber
dann für alle! Anders geht es nicht.
({10})
Dann gab es das Gezerre zwischen der EU und Russland an der Ukraine. Beide dachten und handelten
gleich. Barroso, der Kommissionschef der EU, hat gesagt: Entweder Zollunion mit Russland oder Verträge
mit uns! - Er hat nicht gesagt: „Beides“, sondern: „Entweder - oder!“. Putin hat gesagt: Entweder Verträge mit
der EU oder mit uns! - Beide haben gleichermaßen alternativ gedacht und gehandelt. Das war ein verheerender Fehler von beiden Seiten.
({11})
Kein einziger EU-Außenminister hat versucht, mit der
russischen Regierung zu sprechen und die berechtigten
Sicherheitsinteressen Russlands überhaupt zur Kenntnis
zu nehmen.
({12})
Russland fürchtet doch, dass nach engeren Beziehungen
mit der EU die NATO in die Ukraine kommt. Es fühlt
sich immer eingekreister. Aber es wurde nur an der
Ukraine gezerrt.
Die EU- und NATO-Außenminister haben die Geschichte Russlands und der Ukraine völlig unberücksichtigt gelassen. Sie haben die Bedeutung der Krim für
Russland nie verstanden. Die ukrainische Gesellschaft
ist tief gespalten.
({13})
Auch das wurde nicht berücksichtigt. Diese tiefe Spaltung zeigte sich schon im Zweiten Weltkrieg, und sie
zeigt sich auch heute. Die Ostukraine tendiert in Richtung Russland. Die Westukraine tendiert in Richtung
Westeuropa. Es gibt derzeit keine einzige politische Persönlichkeit in der Ukraine, die beide Teile der Gesellschaft repräsentieren könnte. Das ist eine traurige Wahrheit.
Dann gibt es noch den Europarat und die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa,
OSZE. Die haben Sie in letzter Zeit schwer vernachlässigt, Frau Bundeskanzlerin und Herr Außenminister. Die
Gelder für diese Organisationen wurden immer mehr zusammengestrichen, weil Sie meinten, dass sie nicht
wichtig sind. Das sind aber die einzigen europäischen
Organisationen, in denen sowohl Russland als auch die
Ukraine organisiert sind. Deshalb müssen wir diese Organisationen wieder stärken - auch finanziell - und dürfen nicht über einen Ausschluss Russlands faseln; das ist
völlig daneben.
({14})
Dann erlebten wir eine starke Zuspitzung auf dem
Maidan. Wir erlebten Scharfschützen und viele Tote. Es
gibt verschiedene Gerüchte. In solchen Situationen wird
viel gelogen. Deshalb schlagen wir vor, eine internationale Untersuchungskommission einzusetzen. Wir, aber
vor allem die Ukrainerinnen und Ukrainer haben ein
Recht, zu erfahren, was dort gelaufen ist und wer dort
welche Verantwortung trägt. Ich freue mich, dass Sie,
Frau Bundeskanzlerin, das unterstützen.
({15})
Auf dem Maidan gab es viele demokratische Kräfte,
aber auch Faschisten. Der Westen machte direkt und indirekt mit.
({16})
Dann haben Außenminister Steinmeier, der französische
und der polnische Außenminister mit Janukowitsch und
der Opposition einen Vertrag geschlossen. Jetzt sagen
Sie, Herr Außenminister, Janukowitsch habe die Vereinbarung durch seine Flucht hinfällig gemacht. Das ist
falsch. Die Menschen auf dem Maidan lehnten die Vereinbarung mit großer Mehrheit ab,
({17})
und Sie, Herr Außenminister, haben auf dem Platz auch
nicht für diese Vereinbarung geworben. Erst nach der
Ablehnung verließ Janukowitsch Kiew.
Dann tagte das Parlament und wählte ihn mit
72,88 Prozent ab.
Die Verfassung schreibt aber 75 Prozent vor. Nun sagen
Herr Röttgen und andere: Na ja, bei einer Revolution
kann man nicht so genau auf die Verfassung achten. Ein
paar Prozentchen mehr oder weniger … - Das kann man
ja alles machen. Nur, Putin beruft sich darauf und sagt:
„Es gab nicht die verfassungsmäßige Mehrheit für die
Abwahl“,
({18})
und stützt sich deshalb auf Schreiben, die Janukowitsch
ihm sendet.
Außerdem: Bei der Abstimmung im Parlament standen lauter Bewaffnete herum. Das ist nicht besonders
demokratisch. Bei der Volksabstimmung auf der Krim
am kommenden Sonntag stehen auch lauter bewaffnete
Soldaten herum. Auch das ist nicht besonders demokratisch.
({19})
Interessant ist, dass Sie, Frau Bundeskanzlerin, sagen,
ein solcher Volksentscheid sei nach der ukrainischen
Verfassung verboten. Wann gilt sie denn nun und wann
nicht? Bei der Abwahl des Präsidenten gilt sie nicht, und
bei der Abstimmung auf der Krim soll sie plötzlich gelten. Sie müssen schon wissen: Akzeptieren Sie die ukrainische Verfassung ganz oder nur in bestimmten Teilen,
wenn es Ihnen genehm ist? Das ist die Art, die ich kenne
und die ich nicht mag.
({20})
Dann wurde eine neue Regierung gebildet, sofort anerkannt von Präsident Obama, auch von der EU, auch
von der Bundesregierung. Frau Merkel! Der Vizepremierminister, der Verteidigungsminister, der Landwirtschaftsminister, der Umweltminister, der Generalstaatsanwalt - das sind Faschisten. Der Chef des nationalen
Sicherheitsrates war Gründungsmitglied der faschistischen Swoboda-Partei. Faschisten haben wichtige Posten und dominieren zum Beispiel den Sicherheitssektor.
Noch nie haben Faschisten freiwillig die Macht wieder
abgetreten, wenn sie einmal einen Teil davon erobert
hatten.
({21})
Zumindest die Bundesregierung hätte hier eine Grenze
ziehen müssen, schon aufgrund unserer Geschichte.
({22})
Als Haiders FPÖ in die österreichische Regierung
ging, gab es sogar Kontaktsperren und Ähnliches. Und
bei den Faschisten in der Ukraine machen wir nichts?
Swoboda hat engste Kontakte zur NPD und zu anderen
Naziparteien in Europa. Der Vorsitzende dieser Partei,
Oleg Tjagnibok, hat Folgendes wörtlich erklärt. Ich
zitiere jetzt; Sie müssen sich anhören, was er wörtlich
gesagt hat - Anführungsstriche -:
Schnappt euch die Gewehre, bekämpft die Russensäue, die Deutschen, die Judenschweine und andere
Unarten.
Ende des Zitats. - Ich wiederhole. Dieser Mann hat gesagt - Anführungsstriche -:
Schnappt euch die Gewehre, bekämpft die Russensäue, die Deutschen, die Judenschweine und andere
Unarten.
Ende des Zitats. - Es gibt jetzt Übergriffe auf Jüdinnen
und Juden und auf Linke, und gegen all das sagen Sie
nichts? Mit diesen Swoboda-Leuten reden Sie? Ich empfinde das als einen Skandal. Ich muss Ihnen das ganz
klar sagen.
({23})
Jetzt wollen Sie - auch das haben Sie angekündigt Sanktionen verhängen, wenn es nicht anders ginge, wie
Sie sagen. Aber die werden Putin nicht imponieren. Das
spitzt doch die Situation nur zu. Kissinger, der ehemalige Außenminister der USA, hat recht. Er sagt, die
Sanktionen seien nicht Ausdruck einer Strategie, sondern Ausdruck des Fehlens einer Strategie. Das gilt auch
für die eskalierenden Militärflüge über Polen und die
baltischen Republiken. Was soll das?
Konten von Janukowitsch und seinen Anhängern sind
gesperrt, weil es gestohlenes Staatsgeld ist. Meine Frage:
Das wussten Sie vorher nicht? - Zweite Frage: Warum
eigentlich nur deren Konten? Was ist mit dem Milliardenvermögen der Oligarchen, die andere Kräfte unterstützen? Warum machen Sie da nichts? Wie einseitig
läuft das eigentlich alles?
({24})
Es gibt nur den Weg der Diplomatie.
Erstens. Der Westen muss die legitimen Sicherheitsinteressen Russlands auf der Krim anerkennen, wie das
übrigens auch US-Außenminister Kerry erkannt hat. Es
muss ein Status für die Krim gefunden werden, mit dem
die Ukraine, Russland und wir leben können.
({25})
Russland muss garantiert werden, dass die Ukraine nicht
Mitglied der NATO wird.
Zweitens. Die Perspektive der Ukraine liegt in einer
Brückenfunktion zwischen EU und Russland.
Drittens. Es muss in der Ukraine ein Prozess der Verständigung und Versöhnung zwischen Ost und West eingeleitet werden, vielleicht über einen föderalen oder
konföderalen Status, vielleicht auch über zwei Präsidenten.
Was ich der EU und der NATO vorwerfe: Bis heute ist
kein Verhältnis zu Russland gesucht und gefunden worden. Das muss sich jetzt gründlich ändern.
({26})
Sicherheit in Europa gibt es weder ohne noch gegen
Russland, sondern nur mit Russland. Wenn die Krise eiDr. Gregor Gysi
nes Tages überwunden ist, könnte ein Vorteil darin bestehen, dass das Völkerrecht endlich wieder von allen Seiten respektiert wird.
Danke schön.
({27})
Für die SPD-Fraktion erhält nun der Kollege Rolf
Mützenich das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
besteht heute kein Zweifel: Dies ist eine ernste internationale Krise, und sie stellt einen tiefen Einschnitt in den
Beziehungen zu Russland dar. Genau darauf muss das
Schwergewicht in unseren Reden heute liegen, und wir
dürfen nicht einem innenpolitischen Reflex folgen, wenn
wir über Außenpolitik reden. Wir müssen dieser Situation gerecht werden, indem wir berücksichtigen, über
wen wir hier sprechen, und indem wir darüber nachdenken, welche Auswege bestehen, um unser Verhältnis zu
Russland letztlich wieder in eine friedliche Kooperation
münden zu lassen.
Es ist angemessen, auch von dieser Stelle aus zu sagen: Es ist absehbar, dass durch die Vorgänge, die wir
auf der Krim und in der Ukraine sehen und in den Beziehungen zu Russland erleben, Unsicherheit und neue
Spannungen in Europa leider wieder wachsen werden.
Ich persönlich hätte diesen Rückfall in Chauvinismus
und das Denken in Einflusszonen nicht erwartet. Gerade
von deutscher Seite haben wir viel dafür getan, um der
Entspannungspolitik zum Durchbruch zu verhelfen und
letztlich eine Verhaltensänderung in der Politik zu erreichen.
Insofern müssen wir den Bundesbürgern sagen: Es
gibt unterschiedliche Dimensionen. Nicht nur die
Ukraine ist unmittelbar betroffen - die Bundeskanzlerin
hat es gesagt -; es geht auch um andere Länder, in denen
russische Minderheiten wohnen und wo die Unsicherheit
möglicherweise wächst, etwa in Bulgarien, im Baltikum,
aber auch in Ländern Zentralasiens. Um diese Länder
herum werden sich Spannungen aufbauen.
Außerdem werden die Vorgänge in der Ukraine - das
muss man auch dem russischen Präsidenten sagen - auch
Auswirkungen auf Russland selbst haben. Auch dort leben viele Minderheiten, die sich von Putins Politik möglicherweise beeinflussen lassen und eigene Forderungen
in Richtung nationale Unabhängigkeit stellen. Natürlich
legt auch die russische Politik heute eine andere Messlatte an. Sie spricht nicht mehr allein von russischen
Staatsbürgern, sondern mittlerweile auch von ethnischen
Russen, vom Slawentum. Das bringt die Gefahr zum
Ausdruck, die für unseren Kontinent an dieser Stelle
herrscht.
({0})
Wir machen uns insbesondere darüber Sorgen, dass
sich Regierungen in anderen europäischen Ländern das
Vorgehen Russlands möglicherweise zum Vorbild nehmen. Wir dürfen nicht vergessen: Selbst innerhalb der
Europäischen Union und auch außerhalb der Europäischen Union gibt es Regierungen, die sich in diesen
Denkstrukturen bewegen und überlegen, eigene politische Hasardeurritte in Europa zu unternehmen. Deswegen müssen wir von hier aus sehr deutlich machen: Es ist
auch in unserem eigenen Interesse, zu versuchen, diesen
Konflikt so gut wie möglich zu bewältigen.
({1})
Folglich ist die Frage angemessen: Hat der russische
Präsident eine Strategie, oder ist er angesichts schwerwiegender innenpolitischer Probleme ein von Schwäche
und Willkür Getriebener? Für beides gibt es Hinweise;
für beides sprechen Fakten. Genau das ist das große Problem: Jemand, der innenpolitisch getrieben ist und sozusagen Innenpolitik über Außenpolitik machen will, birgt
in sich die Gefahr, möglicherweise internationale Spannungen zu produzieren, um von innenpolitischen Problemen abzulenken.
({2})
Auf der einen Seite scheint es aber in der Tat eine
Strategie zu geben; die Bundeskanzlerin hat darauf hingewiesen. Die von ihr genannten Daten deuten darauf
hin, dass möglicherweise bestimmte Gruppen auf der
Krim die Ereignisse frühzeitig für ihre politischen Ziele
genutzt haben.
Auf der anderen Seite dürfen wir nicht verkennen:
Russland ist in einer schweren Wirtschafts- und Modernisierungskrise. Der russische Präsident selbst hat im
letzten Jahr in der Rede zur Lage der Nation auf diese
Probleme hingewiesen. Hier bietet sich die Möglichkeit,
Angebote zu unterbreiten, um ihm bei der Bewältigung
der Wirtschafts- und Modernisierungskrise zu helfen
und im Grunde genommen also die innenpolitischen Herausforderungen aufzugreifen. Das schlägt uns auch aus
der russischen Bevölkerung entgegen. Wir kennen doch
die Meinungsumfragen. Das, was die russische Politik
heute macht, ist gar nicht so unumstritten. Wir wissen,
dass die Bürger in Russland mittlerweile auch Angst vor
dieser Situation haben. Nach meinem Dafürhalten sollten wir uns dies in weiteren Gesprächen mit Russland
zunutze machen.
({3})
Ein weiterer Aspekt. Ich wäre froh, wenn wir nicht
immer über die Ukraine reden würden und Vorschläge
machen würden, wie zukünftig ihre Verfassung aussehen
soll oder wie sie sich zukünftig verhalten soll, ob es also
zwei Präsidenten und eine Föderalregierung oder anderes geben soll.
({4})
Ich würde mich vielmehr freuen, wenn wir die Integrität
dieses Landes und die Souveränität der Bürgerinnen und
Bürger in der Ukraine anerkennen würden, egal welche
politische Verantwortung wir heute im Deutschen Bundestag sehen.
({5})
Es geht deswegen hauptsächlich darum, zu beobachten,
was in der Ukraine passiert. Die Proteste waren am Anfang friedlich. Sie waren auch der Ausdruck von Findung einer Nation, die über Sprache, gemeinsames Verhalten und natürlich auch Hoffnungen Orientierung
hatte. Natürlich ist Europa für viele dort Vorbild. Aber in
erster Linie müssen wir die nationale Identität der
Ukraine respektieren; daran müssen wir auch unser politisches Handeln messen lassen.
Natürlich hat die Regierung Janukowitsch zur Brutalisierung der Verhältnisse auf dem Maidan beigetragen.
Das müssen doch auch Sie vonseiten der Linken anerkennen. Staatliche Institutionen haben mit Brutalisierung
und Gewalt auf dem Maidan, aber auch in der Ukraine
insgesamt begonnen. Deswegen unterstützen wir die
Bundeskanzlerin, wenn sie in ihrer Regierungserklärung
fordert: Darüber muss aufgeklärt werden. Auch eine
Übergangsregierung muss die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen. Das ist aber eine Herausforderung für
die gesamte Gesellschaft in der Ukraine und eben nicht
nur für die Regierung alleine.
({6})
Meine Damen und Herren, ich bedanke mich ganz
herzlich für das, was die Bundesregierung in den vergangenen Tagen und Wochen unternommen hat. Das war
Krisenmanagement. Man hat versucht, das Blutvergießen auf dem Maidan und in der Ukraine zu stoppen. Hier
haben wir versucht, unsere moralischen Kategorien einzubringen und auch auf diplomatischem Wege den Konflikt auf dem Maidan zu beenden, der möglicherweise zu
Schlimmerem geführt hätte. Wir wollten Schlimmeres
verhindern. Die Bundeskanzlerin und insbesondere der
Außenminister haben das zusammen mit anderen, aber
nicht über die Köpfe anderer hinweg unternommen. Dafür gebührt der gesamten Bundesregierung Dank.
({7})
Beide haben in den vergangenen Tagen - auch das gehört zu einem Krisenmanagement - versucht, die verschiedenen Interessen der Europäischen Union zusammenzuhalten, zu bedenken und sozusagen auch zum
Ausdruck zu bringen. Sie, Frau Bundeskanzlerin, haben
das in Telefonaten, aber auch bei Besuchen wie gestern
in Polen getan. Der Außenminister war im Baltikum.
Gerade das sind ja Länder, die sich von dieser Situation
international herausgefordert fühlen.
Im Nachhinein kann man natürlich immer sagen, was
falsch gemacht worden ist. Aber dass das Blutvergießen
gestoppt worden ist, müssen doch auch Sie, Herr Kollege Gysi, an dieser Stelle anerkennen. Genau das hat die
Bundesregierung in den Gesprächen mit dem polnischen
und dem französischen Außenminister erreicht. Dafür
gebührt ihr in der Tat Anerkennung.
({8})
Wir dürfen nicht verkennen: Putin kann drohen, aber
er kann auf die zivilgesellschaftliche Entwicklung in der
Ukraine langfristig keinen Einfluss nehmen. Auch das
muss Präsident Putin und den handelnden Akteuren in
Moskau klar werden. Deswegen hätte ich mir gewünscht, dass auch die russische Regierung an ihren
Worten gemessen worden wäre, auch in der Auseinandersetzung über all das, was falsch gelaufen ist. Auch
Präsident Putin hat für Deeskalation geworben, und
trotzdem hat er Manöver abgehalten, trotzdem hat er
eine Interkontinentalrakete getestet, trotzdem ist er nicht
auf den Vorschlag eingegangen, eine Kontaktgruppe zu
bilden. Er hat sozusagen all die Wege, die von hier aufgezeigt worden sind, nicht angenommen. Er war eben
nicht an Deeskalation interessiert. Ich finde, das, lieber
Kollege Gysi, hätte man dem Präsidenten genauso vorhalten müssen.
({9})
In der Tat: Nach dem Ende des Kalten Krieges hat es
Entwicklungen gegeben, bei denen die Interessen Moskaus missachtet wurden - Sie, Herr Kollege Gysi, haben
darüber gesprochen -: die NATO-Osterweiterung und
vieles andere. Aber es war die letzte Große Koalition,
die damals in schwierigen Gesprächen verhindert hat,
dass neue Mitgliedstaaten in die NATO aufgenommen
werden, weil wir eben die Sicherheitsinteressen Russlands beachtet haben. Ich glaube, man muss doch würdigen, dass das gerade von hier, von der Bundesregierung
und vom Deutschen Bundestag, ausgegangen ist. Deswegen bin ich der Meinung: Wir müssen aus beiderseitigem Verhalten lernen. Russland hat eben nicht die Hand
ausgestreckt: Bezüglich eines Assoziierungsabkommens traf man in allen Gesprächen, die geführt worden
sind, auf Ablehnung von russischer Seite.
Insofern will ich Ihnen sehr deutlich sagen, Herr Kollege Gysi: Die Kritik der Linken allein um der Kritik
willen wird den außenpolitischen Herausforderungen
nicht gerecht.
({10})
Ich habe mir mal die Mühe gemacht, nachzulesen, welche Hinweise Sie in der letzten Legislaturperiode dazu
gegeben haben, was wir nach Ihrer Meinung alles falsch
gemacht haben: Sie haben keine einzige Frage, keinen
einzigen Antrag gestellt und keine Debatte im Plenum
beantragt, um über die Ukraine und ihr schwieriges Verhältnis zu Russland zu diskutieren. Das ist Ihr Versagen
als Opposition an dieser Stelle.
({11})
Es ist gut, dass wir auf Konfliktvermeidung achten,
dass wir weiter den diplomatischen Weg gehen. Für diejenigen, die immer auch das Empfinden Russlands in
ihre Arbeit einbezogen haben, waren die letzten Wochen
ein herber Rückschlag; es waren Tage der Verunsicherung und Enttäuschung. Dennoch bin ich der Überzeugung: Wir brauchen eine Entspannungspolitik in Zeiten
neuer Spannungen, vor allem über den Tag hinaus. Der
Kalte Krieg war ein Übel, das nicht nach Europa zurückkehren darf. Dafür werden wir uns weiter einsetzen.
Vielen Dank.
({12})
Katrin Göring-Eckardt ist die nächste Rednerin für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor
genau drei Wochen haben wir im Plenum des Deutschen
Bundestages schon einmal über die Lage in der Ukraine
debattiert. Das war der 20. Februar. Während wir hier
debattiert haben, starben auf dem Maidan in Kiew Menschen durch die Schüsse von Scharfschützen. 82 Menschen sind es gewesen, die an diesem Tag zu Tode gekommen sind. Wenn man sich die Biografien dieser
Menschen anschaut, dann sieht man: Menschen unterschiedlichen Alters, unterschiedlicher Herkunft, russisch- wie ukrainischsprachig haben dort ihr Leben gelassen.
Einer von ihnen ist Josef Schilling, 61 Jahre alt, Mitglied der jüdischen Gemeinde. An dem Tag, an dem wir
hier debattiert haben, wurde ihm in der Nähe des Oktober-Palastes in den Kopf geschossen. Josef Schilling ist
einer von 82, die für ihren Wunsch nach Freiheit, nach
Demokratie mit dem Leben bezahlt haben. Der Maidan,
der Ort der Revolution war, ist Ort des Gedenkens geworden, meine Damen und Herren.
Herr Gysi, wenn Sie sich heute hier noch einmal hinstellen und die Maidan-Bewegung diffamieren,
({0})
wenn Sie sich hier noch einmal hinstellen und so tun,
({1})
als wären es die rechten Kräfte gewesen, die den Maidan
bestimmt hätten,
({2})
wenn Sie so tun, als ob in der ukrainischen Regierung
diese Kräfte die Oberhand hätten,
({3})
dann will ich Ihnen eines sagen: Niemand hier im Haus
wird verkennen, dass Swoboda und der rechte Sektor in
der Ukraine Kräfte sind, mit denen es bezüglich dem,
was wir an Werten und demokratischen Vorstellungen
haben, nichts, ja, überhaupt nichts an Übereinstimmung
gibt, meine Damen und Herren.
({4})
Es hilft nichts, mit einem Zitat von 2004 zu kommen.
({5})
Es hilft auch nichts, dabei zu verschweigen, dass wir uns
mit Blick auf die Krim schon fragen müssen, warum
ausgerechnet Rechtspopulisten aus ganz Europa dort zur
Wahlbeobachtung eingeladen werden.
({6})
Das dürfen Sie nicht verschweigen; denn dann ist klar:
Die demokratische Bewegung in der Ukraine hat zu
Recht unsere Unterstützung bekommen. Wir distanzieren uns in aller Form von den rechtsnationalen Kräften.
Und es ist richtig so, dass wir trotzdem sagen: Die Demokratie und die freiheitliche Grundordnung in der
Ukraine werden ganz sicher auch damit fertig werden.
Das ist der entscheidende Punkt.
({7})
Ich sage Ihnen: Ich bin sehr dankbar, dass sich
Deutschland eben nicht neutral verhalten hat. Es war
richtig, dass der deutsche Außenminister und das Weimarer Dreieck nach Kiew gereist sind, um zu vermitteln.
Es war notwendig, dass Europa dem schamlosen Bruch
des Völkerrechts durch ein Mitglied des Sicherheitsrates
weder mit falscher Zurückhaltung noch mit militärischen
Drohgebärden, sondern mit Diplomatie und Besonnenheit begegnet ist.
({8})
Diplomatie bedeutet eben auch sichtbare Worte und
klare Konsequenzen.
Wenn an diesem Wochenende das Referendum auf
der Krim den Ausgang nimmt, den wir im Moment vermuten, dann muss man deutlich sagen: Es handelt sich
um keine Abstimmung über Unabhängigkeit, sondern
um eine ungültige Legitimation für eine völkerrechtswidrige Annexion. Das muss man so nennen. Das muss
man so sagen. Das muss auch Frau Wagenknecht verstehen, die Verständnis dafür aufbringt. Ich, meine Damen
und Herren, kann dafür kein Verständnis aufbringen.
({9})
Es ist beispiellos, wie hier eine Region militärisch besetzt wird, kritische Stimmen unterdrückt und mit Hochdruck Fakten geschaffen werden. Ein so dreister und gefährlicher Rechtsbruch kann nicht ohne Konsequenzen
bleiben. Weil wir eben keine EU wollen, die auf dem Zuschauerplatz sitzt, sondern ein einheitliches Vorgehen
der EU wollen, kann man nicht zulassen, dass man verzweifelt in Richtung NATO schaut. Deswegen ist es
auch richtig, Sanktionen in drei Stufen vorzusehen. Das
sind die Mittel, mit denen wir deutlich sagen können,
was wir wollen. Sie sind ein Mittel der Diplomatie und
nichts anderes.
Wenn man sich die Handelsbeziehungen anschaut,
dann sieht man, dass es natürlich etwas ausmachen wird.
Natürlich wird Russland nicht mehr einfach so weitermachen können wie bisher. Das ist selbstverständlich.
Das ist klar. Das ist auch die Perspektive, vor der man
steht, wenn man klar und deutlich darüber spricht.
Ich möchte noch einen kritischen Punkt ansprechen.
Ich glaube, dass wir in Deutschland, wenn wir über
Sanktionen reden, tatsächlich über unsere eigene Politik
sprechen müssen. Dabei geht es vor allem um unsere
Rohstoffimporte. Es ist nicht egal, dass wir eine große
Abhängigkeit vom russischen Gas haben. Es ist auch
nicht egal, dass wir eine große Abhängigkeit von russischem Öl und russischer Kohle haben. Wenn wir in
Deutschland die Energiewende nach wie vor mit angezogener Handbremse, wenn wir die Energiewende nach
wie vor so zurückhaltend betreiben, dann wird unsere
Abhängigkeit von solchen Rohstoffimporten weiterhin
bestehen bleiben. Das ist für mich ein weiterer und ein
sehr zentraler Grund dafür, warum wir die Energiewende
vehement vorantreiben müssen.
({10})
Wenn wir in Europa über Sanktionen sprechen, dann
können wir nicht einfach weiter wie bisher über Rüstungsexporte nach Russland reden.
Die Situation in der Ukraine ist nicht nur politisch
prekär und wirtschaftlich desolat. Deswegen ist es gut
und richtig, dass es Finanzhilfen gibt. Deswegen ist es
gut und richtig, dass es Zoll- und Visaerleichterungen
geben soll. Es muss eine klare Unterstützung für das
Volk der Ukraine geben. Es muss klar und deutlich sein,
was „europäische Perspektive“ eigentlich heißt. Diese
europäische Perspektive ist nicht gegen jemanden gerichtet. Diese europäische Perspektive heißt vielmehr in
allererster Linie, dass die Ukraine selbstständig, allein
und eigenständig entscheiden können muss und nicht irgendjemand so tut, als könne man über die Ukraine und
über die Köpfe der Ukrainerinnen und Ukrainer hinweg
entscheiden. Das ist der entscheidende Punkt: Eigenständigkeit der Ukraine. Es geht um die Ukrainer, darum,
was sie wollen und wohin sie wollen. Unser Angebot
muss sein, sie darin zu unterstützen.
({11})
Unsere Aufgabe wird es sein, Konsequenzen zu ziehen und konsequent zu bleiben. Das tun wir mit diplomatischen, mit friedlichen Mitteln.
Es geht darum, dass die Menschen in der Ukraine eine
klare Perspektive haben. Für Russland, das Verträge unterschrieben hat, in denen die Grenzen der Ukraine nicht
nur akzeptiert, sondern auch garantiert werden, muss
klar sein: Eine Annexion der Krim hat mit dem Völkerrecht nichts zu tun. Das ist unsere klare Position, und bei
der werden wir auch bleiben.
Vielen Dank.
({12})
Das Wort erhält nun die Kollegin Gerda Hasselfeldt
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Situation im Osten Europas ist gefährlich angespannt.
Die Ukraine steckt mitten in einer Zerreißprobe.
Ich danke Ihnen, verehrte Frau Bundeskanzlerin, für
Ihre besonnene und bestimmte Art, für Ihr besonnenes
und bestimmtes, klares Handeln in dieser historisch
schwierigen Situation.
({0})
Sie haben auch in Ihrer Regierungserklärung eindrucksvoll dargelegt, welche Schritte Deutschland und Europa
gehen müssen, damit wieder ein friedliches und selbstbestimmtes Zusammenleben der Völker möglich ist. Dafür möchte ich Ihnen herzlich danken.
In diesen Dank schließe ich auch den Bundesaußenminister, Herrn Steinmeier, mit ein. Was Sie in den letzten Wochen und Monaten auf europäischer Ebene durch
bilaterale Gespräche und Verhandlungen geleistet haben,
verdient unser aller Dank, Respekt und Anerkennung.
({1})
Die Menschen in der Ukraine haben in den letzten
Wochen großen Mut bewiesen. Sie haben wochenlang
unter widrigsten Bedingungen gegen die damalige Regierung demonstriert, zunächst auf dem Maidan, später
auch andernorts, im Osten des Landes. Sie haben für
Freiheit, Selbstbestimmung und Demokratie demonstriert.
Diesen Menschen in der Ukraine, die ein Stück ihres
Lebens eingesetzt haben, die immer wieder unter widrigsten Bedingungen für Freiheit und Demokratie auf die
Straße gegangen sind, gilt unser Respekt, unsere Anerkennung, unsere Solidarität, aber auch unsere Unterstützung.
({2})
Gerade wir in Deutschland wissen, was es heißt, für
Freiheit zu kämpfen. Wir wissen aus eigener Erfahrung:
Es lohnt sich. Aber es geht nicht nur darum, zu kämpfen,
sondern es geht auch darum, aufrecht zu stehen und immer wieder ein zentrales Menschenrecht einzufordern,
nämlich Freiheit und damit auch Demokratie.
Die plötzliche Entscheidung des Staatspräsidenten,
entgegen vorherigen Ankündigungen, das Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union nicht zu
unterzeichnen, hat gerade jungen Menschen die zunächst
sicher geglaubte Zukunftsperspektive genommen. Sie
gingen auf die Straße, weil sie genau das wollten, was
wir in Europa seit langem haben, nämlich Freiheit,
Sicherheit und Zukunftschancen. In dieser Zeit, denke
ich, ist es gut, sich auch daran zu erinnern, welche beeindruckende Attraktivität und Anziehungskraft Europa für
uns alle und gerade für die jüngere Generation hat.
Nun stehen sich auf der Krim russische und ukrainische Soldaten gegenüber. Russland hat auf die Freiheitsbemühungen von Anfang an mit Gegendruck reagiert,
zunächst einmal wirtschaftlich, dann aber auch völkerrechtswidrig. Erst wurden Kreditzusagen zurückgenommen. Dann wurde der Gaspreis eklatant erhöht und damit die wirtschaftliche Daumenschraube zusätzlich
angezogen. Schließlich wurde die Krim de facto durch
nicht gekennzeichnete Soldaten besetzt. Einige andere
Dinge wurden ja schon angesprochen.
All das, was in den letzten Tagen und Wochen vonseiten Russlands geschehen ist, war eindeutig eine Verletzung der territorialen Unversehrtheit eines europäischen
Staates und verstößt eindeutig gegen das Völkerrecht
und gegen bilaterale Verträge.
({3})
Aus meiner Sicht ist es ganz besonders bitter, dass damit auch all das, was in der Nachkriegsordnung und in
der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts mit der
UN-Charta, der OSZE-Charta, den bilateralen Verträgen
und im Europarat an Errungenschaften im europäischen,
aber auch im internationalen Bereich aufgebaut wurde,
durch so ein Verhalten mit Füßen getreten wird. Das
können wir nicht akzeptieren. Das dürfen wir nicht akzeptieren. Das müssen wir auch mit aller Deutlichkeit
ansprechen.
({4})
Klar ist, dass dauerhafter Frieden nur mit Russland
und nicht gegen Russland möglich ist. Deshalb ist das
Gebot der Stunde, dass wir gemeinsam mit unseren Verbündeten und Freunden Russland zu echten Verhandlungen bewegen. Die Bemühungen der Bundeskanzlerin,
des Außenministers und ihrer Kollegen auf europäischer
Ebene dazu sind bekannt. Das muss gemeinsam mit der
Europäischen Union, den G-7-Staaten, der NATO und
der OSZE geschehen. Vorrangig sind natürlich Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland.
Ich begrüße sehr die Bemühungen um die internationale Kontaktgruppe und um die Beobachtergruppe. Das
Ziel dieser internationalen Kontaktgruppe muss sein,
Vertrauen zu schaffen und Vertrauen wiederherzustellen,
aber vor allem die territoriale Integrität und Souveränität
der Ukraine und nicht zuletzt auch Menschenrechte und
Minderheitenrechte zu sichern.
Wir alle wissen, dass der Weg zur Erreichung dieser
Ziele weit und alles andere als einfach ist. Wir wissen,
dass dabei Besonnenheit und Diplomatie gefragt sind
und ein langer Atem, wie es die Bundeskanzlerin heute
ausgedrückt hat, sicher notwendig ist. Bei allem Verständnis für die historischen Entwicklungen und Zusammenhänge und für die unterschiedlichen Interessen der
einzelnen Länder muss dabei ein klarer Kompass sichtbar werden. Dieser Kompass muss meines Erachtens folgendermaßen aussehen: erstens keine Verletzung des
Völkerrechts und bilateraler Verträge, zweitens Wahrung
der territorialen Souveränität und der Integrität der
Ukraine, drittens Sicherung der Freiheitsrechte, der
Menschenrechte und der Minderheitenrechte für die
Leute dort.
({5})
Zur Erreichung dieses Ziels kann es notwendig sein,
Druckmittel einzusetzen; denn mit dem Propagieren von
Zielen allein ist es nicht getan. Verhandlungen, Gespräche, das Aufzeigen von Konsequenzen sind das eine
- bei den Verhandlungen muss man auch klare Kante
zeigen -, aber notfalls müssen eben auch entsprechende
Druckmittel eingesetzt werden. Die Stufen, die die Europäische Union vorgegeben hat, sind bekannt.
Es gilt aber auch, den Menschen in der Ukraine zu
helfen. Es reicht nicht, unsere Solidarität zu bekunden,
sondern wir müssen sie auch sichtbar werden lassen
durch solidarische Unterstützung auf europäischer, aber
auch auf internationaler Ebene. Ich begrüße die Initiativen der Europäischen Union und des Internationalen
Währungsfonds sehr, vor allem aber auch die Bereitschaft Polens, Frankreichs und Deutschlands, im Verwaltungsbereich gemeinsam Hilfe zur Verfügung zu stellen, was gestern zum Ausdruck gebracht wurde. Das ist
Solidarität für die Menschen vor Ort, die sich nicht nur
in einer schwierigen politischen, sondern auch in einer
schwierigen wirtschaftlichen Situation befinden. Auch
dem müssen wir Rechnung tragen.
({6})
Meine Damen und Herren, ich denke, dies ist letztlich
auch die Stunde Europas. Trotz unterschiedlicher Interessen ist es gelungen, immer wieder mit einer Stimme
zu sprechen. Das ist auch das Verdienst kluger Außenpolitiker, der Bundeskanzlerin und unseres Außenministers. Europa ist das größte Friedens-, Freiheits- und Demokratieprojekt des vergangenen Jahrhunderts und der
jetzigen Zeit. Ich denke, jetzt muss Europa zeigen - das
kann es auch zeigen -, dass dieses Europa nicht nur eine
gut gemeinte Idee ist, dass es weit mehr ist als ein wirtschaftlicher Zusammenschluss, dass diese Gemeinschaft Europa sich nicht darin erschöpft, sich Regelungen für alles Mögliche im Detail auszudenken. Nein, es
muss deutlich werden: Wir sind eine Wertegemeinschaft,
deren Strahlkraft für Demokratie, deren Strahlkraft für
Freiheit über die Grenzen Europas und der Europäischen
Union hinausreicht. Deshalb müssen wir hier mit einer
Stimme sprechen, mit der Stimme der Freiheit, der Demokratie, des Selbstbestimmungsrechts der Menschen
und der Staaten. Da tragen wir alle miteinander eine
große Verantwortung.
Ich danke Ihnen, verehrte Frau Bundeskanzlerin und
Herr Bundesaußenminister, herzlich für das, was Sie bisher geleistet haben, und ich wünsche Ihnen weiterhin
eine glückliche Hand.
({7})
Das Wort erhält nun die Kollegin Marieluise Beck für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn wir heute über die Ukraine sprechen, sprechen wir
auch über die Zukunft Europas. Der große Traum von
Michail Gorbatschow, das gemeinsame europäische
Haus, war nie so bedroht wie heute. Selbst wenn es so
sein mag, dass wir 10 oder 20 Jahre zurückgeworfen
werden, und wenn das Vertrauen aktuell tief erschüttert
ist: Russland muss um seiner Bürger und Bürgerinnen
willen Teil dieses gemeinsamen europäischen Hauses
bleiben.
({0})
Es ist die jetzige russische Führung, die auf Gegenkurs
zu Europa gegangen ist. Wir alle aber wollen die Tür für
Russland offen lassen. Ich glaube, das kann ich für das
ganze Haus feststellen.
({1})
Die Krise um die Ukraine ist zugleich ein Prüfstein
für die internationale Politik. Die Ukraine ist ein Land
mit ehemals der drittstärksten atomaren Bewaffnung und
war freiwillig bereit, diese einseitig abzugeben. Im Gegenzug wurde ihr mit dem Budapester Memorandum die
Integrität der Grenzen zugesichert, und zwar durch die
USA, Großbritannien und Russland. Nun muss die
Ukraine erleben, dass das Papier, auf dem dieser Vertrag
steht, nichts wert ist. Dieser Vertrauensbruch wird uns in
unserem Bemühen, atomar abzurüsten, weit zurückwerfen. Denn wer wird sich in Zukunft noch auf vertragliche
Zusicherungen verlassen wollen?
({2})
Niemand will eine militärische Antwort auf die Aggression Russlands. Wer aber der neuen Regierung in
Kiew abverlangt, stillzuhalten und die Annexion eines
Landesteiles zunächst zu erdulden, ohne zu den Waffen
zu greifen, der muss dieser Regierung ernsthafte Zusicherungen machen. Es muss klar sein, dass der Kreml
für dieses Vorgehen einen hohen politischen und wirtschaftlichen Preis zahlen muss, auch als Abschreckung
vor einer möglichen weiteren Intervention in der Ostukraine. Die Ukrainer sagen uns: Es geht nicht nur um
die Krim, es geht vielleicht sogar nicht nur um die Ostukraine, sondern es geht um Kiew im Zusammenhang
mit der geplanten Eurasischen Union. Denn eine Eurasische Union wäre ohne die Ukraine nichts wert.
Der Dreistufenplan ist richtig, um dem zu begegnen.
Ich möchte Ihnen, Herr Gysi, sagen: Ja, es gibt rechte
Kräfte in der Ukraine, aber sie werden umso stärker werden, je aggressiver Putin vorgeht.
({3})
Dann werden im Sinne einer Self-fulfilling Prophecy die
Rechten in der Ukraine auf der Straße und in der Regierung sein. Das ist das Szenario, das Realität wird, wenn
das Völkerrecht nicht auch durch unser entschiedenes
Handeln durchgesetzt wird.
({4})
Die Marionettenregierung auf der Krim stellt die Bevölkerung vor die Wahl: Russland oder Faschismus. Herr Präsident.
Der Kollege Beck würde sich gern mit einer Zwischenfrage oder -bemerkung in die Debatte einschalten.
Frau Kollegin, Sie haben gerade das Problem angesprochen, das uns alle besorgt macht: die Auseinandersetzung auch mit rechten Kräften in der ukrainischen Regierung. Die Situation der Juden in der Ukraine macht
Volker Beck ({0})
uns alle besorgt. Dazu gibt es eine sehr unterschiedliche
Informationslage. Könnten Sie dem Hohen Hause dazu
vielleicht etwas sagen? Ich weiß, dass Sie diese Sorgen
teilen.
Schönen Dank. - Ich bin, nachdem die ersten Alarmrufe bei uns im Deutschen Bundestag angekommen sind,
in der Ukraine mehrmals mit unterschiedlichen jüdischen Organisationen zusammengetroffen und habe
mich dort informiert. Ich habe Ihnen die Informationen
zusammengestellt; alle Kollegen des Hauses können
diese von mir erhalten. Vor allen Dingen der Vorsitzende
des Vereins Jüdischer Gemeinden und Organisationen in
der Ukraine, der gleichzeitig stellvertretender Vorsitzender des World Jewish Congress ist, Herr Zissels - er
wird übrigens nächste Woche hier in Berlin sein -, hat
ganz klar dargelegt, dass hier mit einem Stereotyp, dem
vermeintlichen ukrainischen Antisemitismus, gearbeitet
wird, was sehr stark auf russische Propaganda zurückzuführen ist, und dass der Antisemitismus zu einem
Kampfinstrument in der Desinformationskampagne, die
diese Auseinandersetzung begleitet, geworden ist.
Diese jüdischen Organisationen haben dargelegt, dass
es - das sollten wir in Deutschland uns wirklich genau
anschauen - im Jahre 2013 in der Ukraine drei antisemitische Übergriffe mit vier verletzten Personen gegeben
hat. Ich wünschte mir, wir hätten in Deutschland solche
geringen Zahlen. Außerdem haben sie sehr deutlich
dargelegt, dass die zwei Überfälle auf zwei Synagogenbesucher, die es in den vergangenen Wochen gegeben
hat, vermutlich von Provokateuren der Berkut-Kräfte
verübt wurden.
({0})
Schauen Sie sich im Internet an - man kann darin ja
dankenswerterweise alles finden -, wie die FacebookSeiten der Berkut-Kräfte ausgesehen haben! Mit
faschistischen und Nazisymbolen sind dort Julija
Timoschenko, Klitschko, überhaupt der gesamte Maidan versehen worden. Ich glaube, dass wir gerade hier
sehr genau hinschauen sollten, dass wir nicht dem Missbrauch des Antisemitismus in diesem Desinformationskrieg folgen.
({1})
Ich bin damit gleich beim Thema: Die Marionettenregierung auf der Krim stellt mit ihren Plakaten die Bevölkerung vor die Wahl: Russland oder Faschismus? Das
soll die Erinnerung an den Großen Vaterländischen
Krieg hervorrufen. Aber sie steht heute nicht vor der
Wahl: Hitler-Faschismus oder Sowjetunion. Heute geht
es um den Konflikt zwischen Demokratie und Autokratie in Europa. Der Maidan ist eine antiputinistische Bewegung. Dort waren auch Armenier und Belarussen,
weil es auch um ihre Freiheit geht.
Wie sieht das Putin-Russland heute aus? Bürgerrechte
werden abgebaut, Homosexuelle werden diskriminiert,
die nationalistische Rechte wird immer stärker, der Rassismus gegenüber Minderheiten im Land nimmt zu, und
im Netz verbreitet sich die Botschaft: Die Krim war nur
der Anfang. - Putin spielt mit dem Geist des großrussischen Nationalismus, und man muss befürchten, dass er
selbst Gefangener dieser Rhetorik wird.
Es erreichen uns von der Krim Hilferufe, etwa aus Synagogen. Tatsache ist aber auch, dass tatarische Häuser mit
Kreuzen gezeichnet werden. 20 Jahre nach dem Zerfall
Jugoslawiens - ich weiß wirklich, wovon ich spreche wird wieder die ethnische Karte gespielt, um territoriale
Herrschaftsansprüche militärisch durchzusetzen. Dafür
werden Menschen gegeneinander aufgehetzt. Ich wünsche mir, dass die Ukrainer stark genug sind, dagegenzuhalten. Dabei müssen wir sie unterstützen.
({2})
Eines möchte ich noch sagen: Es gibt eine junge Generation in Europa, die sich vernetzt, die sich kulturell
nah ist, die Demokratie, Rechtsstaat und offene Gesellschaften möchte. Sie will ein Europa ohne Grenzen. Wir
schulden dieser jungen Generation, dass wir keine Mauern aufbauen. Ich bitte das Haus, ich bitte die Bundesregierung und die Europäische Union: Machen Sie für
diese jungen Menschen die Türen auf! Ein erster machbarer Schritt wäre: Lassen Sie endlich dieses kleinliche
Visaregime fallen! Lassen Sie die jungen Leute reisen!
Die Menschen auf dem Maidan sagen: Wir wollen nach
Europa. - Wir müssen ihnen sagen: Ihr seid Europa. Seid
willkommen!
Ich danke Ihnen.
({3})
Das Wort erhält nun der Kollege Andreas
Schockenhoff für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Wenn am Sonntag auf der Krim das Referendum über
die Loslösung von der Ukraine durchgeführt wird, dann
ist das eine neue Stufe der Eskalation, die Moskau betreibt. Das gilt erst recht, wenn dann eine Annexion der
Krim durch Russland erfolgt.
Welches sind die fatalen Botschaften, die von diesem
Verhalten Moskaus gegenüber der Ukraine an die Völkergemeinschaft ausgehen?
Erstens. Der Verzicht auf die Atomwaffen, den die
Ukraine gegen russische Sicherheitsgarantien eingegangen ist, rächt sich jetzt. Das wird einige Staaten in ihrer
Absicht bestärken, sich Atomwaffen anzuschaffen. Das
ist die erste fatale Botschaft Moskaus, nicht nur in Richtung Nordkorea oder Iran; es ist die Ermutigung zu nuklearer Proliferation.
Zweitens. Russische Sicherheitsgarantien, die Moskau im Budapester Abkommen der Ukraine gegeben hat,
stehen bloß auf dem Papier und sind in der Wirklichkeit
nichts wert.
Drittens. Wenn die Abspaltung der Krim vom Kreml
betrieben wird und die Krim von Russland annektiert
wird, dann lautet die Botschaft an die Völkergemeinschaft: Für Moskau hat das Völkerrecht ausgedient; es
wird willkürlich gebeugt und gebrochen.
Ein solches Verhalten Moskaus ist ein gravierendes
Vergehen gegen seine Pflichten als ständiges Mitglied
der Vereinten Nationen, den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren. Moskau tut genau das Gegenteil. Und: Das Verhalten Moskaus steht in eklatantem
Widerspruch zu den Pflichten eines führendes OSZEMitglieds, das Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa fördern und nicht Europa destabilisieren soll.
Noch ist es möglich, diese Eskalation zu vermeiden:
indem Moskau auf ein Referendum auf der Krim und
ihre Abspaltung von der Ukraine verzichtet, dem eine
klare Absage erteilt, indem es seine illegal auf der Krim
stationierten Truppen zurückzieht, indem es die OSZEBeobachter ihre Arbeit auf der Krim machen lässt, indem es direkte Gespräche mit der legitimen ukrainischen
Regierung führt und indem es der Einsetzung einer Kontaktgruppe endlich zustimmt. Wenn Moskau dazu nicht
bereit ist, werden Sanktionen, wie sie die Bundeskanzlerin vorhin als nächsten Schritt beschrieben hat, unverzichtbar. Wir können nicht darüber hinwegsehen, wenn
in Europa Völkerrecht gebrochen wird. Wir hoffen, dass
Sanktionen nicht erforderlich sind. Wir sagen aber auch:
Wenn es erforderlich ist, dann sind wir, dann ist Europa
stark genug, Sanktionen zu ergreifen, auch wenn sie uns
selbst wehtun.
In Richtung der Kritiker von Sanktionen frage ich:
Können wir tatenlos zusehen, wenn Völkerrecht gebrochen wird? Sollen wir tatenlos zusehen, wenn ein souveränes Land besetzt wird, nur weil Moskau seine politische Ausrichtung auf das freiheitliche, rechtsstaatliche
und politisch wie wirtschaftlich wesentlich attraktivere
Europa nicht passt? Was wird der nächste russische
Schritt sein, wenn Moskau die Botschaft erhält, dass
Völkerrechtsbruch ohne Konsequenzen bleibt? Wird es
dann der Osten der Ukraine sein? Was wird es dann
sein? Das können wir nicht hinnehmen. Deswegen war
die Entscheidung der Staats- und Regierungschefs vom
letzten Donnerstag notwendig und richtig.
In dieser Situation, liebe Kolleginnen und Kollegen,
ist die Geschlossenheit innerhalb der Europäischen
Union wichtig und unverzichtbar. Denn wir müssen davon ausgehen, dass Russland Gegenmaßnahmen ergreift,
allerdings nicht gegen die gesamte EU, sondern dass es
sich, wie auch in der Vergangenheit üblich, einige EULänder herauspickt - mit dem Ziel, die EU zu spalten und gegen diese Länder empfindliche Wirtschaftssanktionen verhängt. Dass Moskau uns auseinanderdividiert,
dürfen wir nicht zulassen. Deshalb waren die Besuche
von Bundeskanzlerin Merkel in Warschau und von Außenminister Steinmeier in den baltischen Staaten so
wichtig. Sie geben das klare Signal: Die EU lässt sich in
dieser Frage nicht auseinanderdividieren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die politisch
stärkste Maßnahme wird allerdings sein, dass wir unsere
Kräfte so einsetzen, dass die Ukraine zu einer Erfolgsgeschichte wird; das heißt, dass wir ihre politische und
wirtschaftliche Modernisierung entschieden fördern und
dies auch den Russen in der Ukraine, auch in der Ostukraine, zugutekommt. Denn nichts setzt die Politiker in
Moskau mehr unter Druck, als wenn die eigene russische
Bevölkerung fragt, warum es den Russen in einer demokratischen und europäischen Ukraine besser geht als den
Russen im eigenen Land.
({0})
Deshalb war es richtig, dass die EU das Hilfspaket in
Höhe von 11 Milliarden Euro so schnell zur Verfügung
gestellt hat. Die EU hat damit deutlich gemacht, dass sie
der Ukraine auf diesem schwierigen Weg nicht nur
schöne Worte mitgibt, sondern auch ganz konkret hilft.
Deshalb ist es so wichtig, dass gerade auch der Osten der
Ukraine von diesen Wirtschafts- und Finanzhilfen profitiert. Denn dann lautet die Botschaft an die Menschen
dort: Während Moskau nur mit Truppen droht, leistet
Kiew mithilfe der EU konkrete Hilfe. Herr Gysi, wir unterstützen nicht einzelne Politiker, wir unterstützen nicht
einzelne Parteien, wir unterstützen auch nicht einzelne
Regionen, sondern wir geben der gesamten Ukraine eine
wirtschaftliche und politische Perspektive.
({1})
Die Menschen auf dem Euromaidan - das ist verschiedentlich gesagt worden - haben monatelang für das Assoziierungsabkommen mit der EU demonstriert; sie haben
sich auch von den Scharfschützen des Janukowitsch-Regimes nicht davon abschrecken lassen.
({2})
Es erfüllt uns mit tiefem Respekt, wie diese Menschen
für ihre Freiheit, für ihre Zukunft und für die EU-Perspektive ihres Landes eingetreten sind; einige haben dafür sogar ihr Leben gelassen. Deshalb ist es gut, dass
die Staats- und Regierungschefs der EU klargemacht
haben, dass sie den politischen Teil des Assoziierungsabkommens so bald wie möglich unterschreiben
wollen - und auch den Handelsteil -, wenn sichergestellt ist, dass dadurch keine negativen Auswirkungen
auf die ukrainischen Exporte nach Russland entstehen.
Eine wichtige Maßnahme zur Stabilisierung und Modernisierung der Ukraine sind auch die Finanzhilfen des
IWF. Klar ist allerdings auch: Mit diesen Finanzhilfen
werden tiefgreifende politische und wirtschaftliche
Strukturreformen einhergehen müssen; sonst würden wir
viel Geld in ein Fass ohne Boden werfen, statt der
Ukraine durch die notwendige Modernisierung eine Zukunftsperspektive zu eröffnen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir dürfen uns
keine Illusionen machen: Diese Reformen werden für
die ukrainische Bevölkerung erhebliche Belastungen mit
sich bringen, beispielsweise eine deutliche Anhebung
der Energiepreise. Es ist klar, dass Moskau diese schwierige Situation mit dem Schüren neuer Unzufriedenheit
und mit neuen Demonstrationen ausnützen und jeden
Versuch zur Destabilisierung unternehmen wird, um den
Eindruck zu erwecken, eine Einverleibung in den Moskauer Machtbereich stelle für die Menschen in der
Ukraine eine bessere Alternative dar als die EU-Perspektive.
Deshalb ist es so wichtig, dass mit dem Assoziierungsabkommen die Botschaft einhergeht: Die Ukraine
hat eine klare EU-Perspektive. Ja, die Ukraine soll, wenn
sie es will, eng an die Europäische Union angebunden
werden. - Diese Botschaft muss auch konkret untermauert werden, beispielsweise durch eine schnelle Realisierung der Visafreiheit und durch Städtepartnerschaften;
die Bundeskanzlerin hat ja eine ganze Reihe konkreter
Maßnahmen genannt.
Wir wollen ein starkes Russland, wir wollen ein modernes Russland, wir wollen ein friedliches und demokratisches Russland als unseren Nachbarn haben. Wir
wollen ein Russland als Partner haben, das die Lösung
der globalen Herausforderungen mitgestaltet, statt auf
destruktive Nullsummenpolitik des 19. und 20. Jahrhunderts zu setzen, welche letztlich Russland selbst am
meisten schadet. Russland muss erkennen, dass es heute
politisch, gesellschaftlich und wirtschaftlich kein international attraktives Modell für andere Länder darstellt,
ganz im Gegenteil.
Russland muss erkennen - dies gilt auch mit Blick auf
Syrien, auf die Transformationsländer der arabischen
Welt und andere Problemzonen -: Dieses Russland hat
keine Soft Power. Dieses Russland kann zur Lösung internationaler Krisen nicht beitragen. Die Menschen auf
dem Maidan haben eben auch zum Ausdruck gebracht:
Nach diesem Modell, wie es von Moskau zurzeit propagiert wird, wollen sie nicht leben. Sie wollen europäische Werte, sie wollen Freiheit, sie wollen Souveränität,
sie wollen Selbstbestimmung. Mit militärischen Drohungen und Völkerrechtsbruch wird sich Moskau weiter isolieren und sich damit selbst schwächen. Die Politik, die
Moskau betreibt, schadet seinen eigenen Interessen und
seiner Zukunft. Das ist nicht in unserem Interesse.
Wir hoffen, dass Moskau wieder zur Vernunft kommt.
Wir wollen, dass Moskau politisch und ökonomisch ein
starker Partner ist. Auch ökonomisch kann dieses Russland langfristig kein Partner sein. Es schadet damit seinen eigenen Entwicklungschancen. Deswegen hoffen
wir sehr, dass man in Moskau wieder zur Vernunft
kommt,
({3})
eine Partnerschaft wieder möglich wird. Das würde
Russland nutzen, das würde uns nutzen, das würde der
Ukraine nutzen, das würde Chancen für eine friedliche
Gestaltung der Welt des 21. Jahrhunderts bieten.
Herzlichen Dank.
({4})
Gernot Erler ist der nächste Redner für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
alle haben das Gefühl: Die Vorgänge, die gegenwärtig zwischen der Ukraine und der Russischen Föderation ablaufen,
können zur Entstehung neuer Bruchlinien führen - Bruchlinien, die uns allen schaden werden, Bruchlinien, die sehr
kostspielig werden können, und zwar für alle Beteiligten,
Bruchlinien, die - das haben wir nicht mehr für möglich gehalten - mitten durch unseren Kontinent laufen. Wir sind in
einem Prozess, der mit wachsender Wahrscheinlichkeit
zu einem fatalen Tabubruch führen wird, nämlich zu einer mutwilligen und rechtswidrigen Veränderung von
Grenzen.
Wir befinden uns in diesem Jahr in einem Gedenkjahr, in dem an zwei Weltkriege gedacht wird; die Bundeskanzlerin hat daran erinnert. In der Vergangenheit
sind Millionen Menschen dafür gestorben, dass Grenzen
verändert werden sollten, oder beim Kampf dafür, solche
Grenzveränderungen zu verhindern. In Deutschland erinnern wir uns außerdem daran, wie wichtig es friedenspolitisch war, dass unser Land die im Zweiten Weltkrieg
neu gezogenen Grenzen anerkannt hat. Ohne diese Anerkennung, ohne die glaubhafte Selbstverpflichtung, diese
Grenzen nie wieder verändern zu wollen, hätte es die
Ost- und Entspannungspolitik von Egon Bahr und Willy
Brandt, die all ihre Nachfolger fortgesetzt haben, nicht
geben können.
Die schrittweise Grenzveränderung auf der Halbinsel
Krim - erst Unabhängigkeitserklärung, dann Referendum, dann Eingliederung in die Russische Föderation,
und das alles wahrscheinlich innerhalb von nicht viel
mehr als einer Woche - stellt einen gefährlichen Tabubruch dar.
({0})
Wenn russische Kolleginnen und Kollegen über die
Ukraine sprechen, habe ich immer wieder das Attribut
„Brudervolk“ als Ausdruck für eine besondere sprachliche, kulturelle, geschichtliche und auch emotionale
Nähe gehört.
({1})
Aber wohin soll es führen, wenn man so mit einem
Brudervolk umgeht? In der internationalen Politik gibt
es Werte, Regeln und Prinzipien, zu denen sich alle bekennen und für deren Kontrolle und Einhaltung wir
Organisationen geschaffen haben, etwa die Vereinten
Nationen, den Europarat oder die OSZE. Niemand behauptet, dass diese Regelwerke und Prinzipien immer,
auch dem Geiste nach, eingehalten werden; aber sie sind
wichtig, ja unverzichtbar für das Zusammenleben auf
unserem Planeten und auf unserem Kontinent.
Das weiß auch Russland. Es ist noch nicht lange her,
dass Moskau in zwei verlustreichen Kriegen die Separation Tschetscheniens im Nordkaukasus gestoppt hat.
Wollen jetzt unsere Duma-Kolleginnen und -Kollegen
tatsächlich einen Berufungstatbestand für künftige separatistische Bestrebungen schaffen? Ist das wirklich eine
vernünftige, nachvollziehbare Vertretung russischer Interessen?
Noch eines: Im Budapester Memorandum von 1994
und im bilateralen Vertrag über Freundschaft, Kooperation und Partnerschaft von 1997 hat Russland die Unabhängigkeit und die territoriale Integrität der Ukraine vertraglich garantiert. Wenn in den nächsten Tagen das
eintritt, was wir befürchten, dann haben wir es auch mit
einem eklatanten Vertragsbruch zu tun, und zwar durch
eine sehr starke Macht gegenüber einem Nachbarland,
das sich in der Realität nicht dagegen wehren kann.
({2})
Ich frage unsere Abgeordnetenkollegen in Moskau:
Kann es wirklich im Interesse Russlands sein, ein solch
schlechtes Beispiel für die internationale Politik zu geben?
Wie will derjenige, der selbst vertragsbrüchig wird, noch
auf Einhaltung von Verträgen pochen, wenn sie im eigenen
Interesse - und da fallen mir einige für Russland ein - sind?
({3})
Über all dies muss geredet werden, und zwar zwischen den Betroffenen: zwischen Vertretern Russlands
und der Ukraine. Die russische Kontaktsperre gegenüber
den Repräsentanten der ukrainischen Übergangsregierung ist der Brisanz der Lage nicht angemessen.
({4})
Erwachsene Nationen finden einen Weg zum wechselseitigen Dialog, auch wenn Legitimationen infrage gestellt werden. Auch dafür findet man übrigens in der
jüngsten deutschen Geschichte Beispiele, die in Moskau
wohlbekannt sind.
Die Bundesregierung hat gekämpft: sowohl die Bundeskanzlerin als auch Außenminister Frank-Walter
Steinmeier. Ich glaube, der wichtigste Erfolg war das
Abkommen vom 21./22. Februar, weil es die Gewalt in
Kiew, die zu vielen Opfern führte, beendet hat.
Die Bundesregierung hat für eine Kontaktgruppe zur
Überwindung der eskalationsfördernden Sprachlosigkeit gekämpft. Die russische Führung hat nicht einfach
Nein gesagt, aber den inzwischen von vielen anderen
Ländern unterstützten Vorschlag dilatorisch behandelt.
Das hat die Lage verschlechtert, auch deshalb, weil die
Realitätswahrnehmungen zwischen Russland und der
westlichen Welt immer weiter auseinanderdriften. Dafür
hat es auch Beispiele in dieser Diskussion gegeben: Der
Maidan ist für die einen ein faschistisch gesteuerter Umsturz mit großen Gefahren für alle russischsprachigen
Ukrainer. Für die anderen ist der Maidan ein von mutigen Menschen von unten erzwungener Regime Change,
der sich gegen keine andere Gruppe der Bevölkerung
wendet. Das sind letztlich zwei unvereinbare Wahrheitsansprüche, die möglicherweise beide korrigiert werden
müssen.
({5})
Wir wissen aber aus der Konfliktforschung, dass eine
solche Drift von Realitätswahrnehmung tendenziell zu
einer gefährlichen Dialogunfähigkeit führt, weil sich jeder in seiner Sicht der Dinge einigelt und damit sein
politisches Vorgehen legitimiert. Deswegen noch einmal: Das muss geklärt werden, darüber muss gesprochen
werden, und zwar besser heute als morgen.
Ich finde, die Politik der Bundesregierung verdient
Unterstützung vom ganzen Haus. Die EU hat einen Stufenplan von Sanktionen beschlossen. Niemand sollte
sich Illusionen über die Handlungsfähigkeit der EU machen. Zug um Zug wird dieser Stufenplan vollzogen,
wenn es keine Änderung der russischen Politik gibt.
Wir brauchen und erwarten aber, dass zwischen jedem dieser Schritte eine Tür mit der Aufschrift „Exit“
offen steht, mit der Einladung zur gemeinsamen Suche
nach einer politischen Lösung. Es ist nie zu spät, durch
diese Tür zu gehen. Das ist mein letzter Appell an die
russische Führung und an unsere Kolleginnen und Kollegen aus dem russischen Parlament.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat nun der Kollege Karl-Georg Wellmann
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen!
Es droht, in Europa politisch eiskalt zu werden. Wenn
wir nicht sehr aufpassen, dann bekommen wir eine neue
Eiszeit zwischen der EU und Russland. Ich fürchte, es
wird sehr viele Jahre dauern, um wieder zu einem geregelten Miteinander zu kommen. Ich persönlich gehe inzwischen sicher davon aus, dass Russland die Krim annektieren wird. Das widerspricht allem Völkerrecht. Die
Bundeskanzlerin hat das Notwendige dazu gesagt. Russland wird es aber trotzdem tun und sich durch nichts davon abbringen lassen.
Bisher gibt es keinerlei Zeichen Moskaus für eine
politische Kooperation. Damit stoßen sie vor allem jene
vor den Kopf, die sich für ein besseres Verhältnis mit
Russland eingesetzt haben. Ich darf daran erinnern, dass
das die große Mehrheit dieses Hauses ist. In der aktuellen Koalitionsvereinbarung steht ein ganzer Passus, der
sich mit der Verbesserung des Verhältnisses mit Russland beschäftigt.
Die russische Westpolitik und vor allem die russische
Ukraine-Politik sind krachend gescheitert. Man muss
sich einmal bei Licht ansehen, was Putin mit seiner Gewaltanwendung auf der Krim bewirkt: Erstens. Er hat
eine nie gesehene europäische Dynamik in der Ukraine
ausgelöst, vor allem bei der jungen Generation. Putin hat
damit das Gesicht der Ukraine nach Westen gedreht.
Zweitens. Putin hat mit seiner Politik Entschlossenheit
und Dynamik bei der EU hervorgerufen und dafür gesorgt, dass sich die europäische Staatengemeinschaft
herausgefordert fühlt und dass sie ungeahnte, nicht geplante Anstrengungen unternehmen wird, um den Ukrainern zu helfen. Schon nächste Woche soll das Assoziierungsabkommen abgeschlossen werden.
Putin hat auch dafür gesorgt, dass alte Vorurteile über
die Russen wieder Konjunktur haben, Vorurteile, nach
denen die Russen nur eine Sprache verstehen: die Sprache der Macht. Putin hat ironischerweise für eine Revitalisierung der NATO gesorgt. Wer von uns hat geahnt,
dass es wieder Bedrohungsgefühle gegenüber dem Osten
geben könnte, so große Bedrohungsgefühle, dass wieder
NATO-Flugzeuge an die Ostgrenzen verlegt werden?
Sogar die harmlosen Schweden fangen jetzt an, darüber
zu diskutieren, ob sie nicht größere Verteidigungsanstrengungen unternehmen und ihr Verhältnis zur NATO
positiv gestalten müssen. Putin sorgt dafür, dass Europa
mit einer Stimme redet.
Es war und bleibt richtig, dass Frau Merkel und Herr
Steinmeier alles versucht haben, um zunächst diplomatische Möglichkeiten auszuschöpfen. Das ganze Haus
sollte Steinmeier und Sikorski dafür danken, dass sie im
Februar mit großem physischen und intellektuellen Einsatz das Morden auf dem Maidan beendet haben. Allein
dafür hat sich die Mission gelohnt.
({0})
Mir macht die geradezu gespenstische Propaganda
Sorgen, die im Moment die Seelen der russischen Menschen vergiftet. Wer russisches Fernsehen sieht, muss
wirklich den Eindruck gewinnen, in Kiew hätten die Faschisten die Macht übernommen.
({1})
- Jetzt gibt es den Zuruf „Ach so!“. Ich meine, Gysi hat
ja vorhin die russische Propaganda von diesem Platz aus
wiederholt.
({2})
Danach müsste man dem russischen Militär geradezu
dankbar sein, dass es die Menschen vor marodierenden
Neonazihorden schützt. - Es wurde im russischen Fernsehen auch darüber geredet, man dürfe in der Ukraine
jetzt nicht mehr die russische Sprache benutzen, das sei
verboten, und Menschen, die das täten, liefen Gefahr, an
der nächsten Laterne aufgehängt zu werden. - Unsäglich!
Damit eines klar ist - ich sage es gerne noch einmal,
auch wenn das in diesem Haus Konsens ist -: Wir sind
strikt gegen irgendwelche rechtsradikalen oder gar antisemitischen Kräfte in der Ukraine. Keiner will sie unterstützen, und das bleibt auch so.
({3})
Es gibt noch viel schlimmere Sachen. Ein führender
russischer Politiker sagte, es gebe Hunderttausende von
Wahhabiten auf der Krim.
({4})
Ich habe erst gar nicht verstanden, was er damit meinte.
Er meint damit die muslimischen Krimtataren. Diese
Volksverhetzung, die für die Erreichung militärischer
Ziele genutzt wird, ist unglaublich.
({5})
Wie müssen wir reagieren? Es ist richtig, was die
Staatschefs in Brüssel kürzlich beschlossen haben. Wir
können keine gute Miene zum bösen Spiel machen. Wir
müssen über staatliche Sanktionen reden; das muss sein.
Aber das kommt von alleine. Es haben schon jetzt deutsche Firmen Investitionen in dreistelliger Millionenhöhe
in Russland storniert, weil sie sagen: In diesem Umfeld
können wir nicht investieren. - Banken berichten mir
von einem rasanten Abzug von Kapital aus Russland.
Ein hochrangiger russischer Gesprächspartner hat mir
am Montag gesagt, Russland bereite gerade die Exploration neuer Gasfelder im Nordmeer vor, schon im nächsten Jahr könne die Firma Exxon beginnen, dort Gas zu
fördern. - In Washington wird man das gerne hören. Es
wird nur eines einzigen Anrufs aus dem Weißen Haus
bedürfen, und Exxon wird auf diese Investitionen verzichten. Die Russen werden dann diese Erdgasvorkommen, die für sie so wichtig sind, nicht erschließen können.
Mit anderen Worten: Die ökonomischen Kosten dieses militärischen Abenteuers werden für die Russen viel
größer sein als der Nutzen, den sie durch die Besetzung
der Krim erzielen könnten. Wenn sich das - ich sage das
ganz deutlich - zu einem Kalten Krieg auswächst, dann
werden die Westeuropäer alles tun, um sich zukünftig
noch unabhängiger von Russland zu machen.
({6})
Dabei muss man die Tatsache bedenken, Frau Beck, dass
die russische Wirtschaft in einem katastrophal schlechten Zustand ist. Putin müsste eigentlich das Gegenteil
von dem tun, was er tut. Er schadet sich und den Menschen in seinem Land in hohem Maße.
Ich sage noch etwas anderes. Es gibt eine Millionen
Köpfe zählende russische Mittel- und Oberschicht.
Diese Menschen genießen den westlichen Way of Life,
das Dolce Vita, den Luxus des Westens: an der Côte
d’Azur, in Kitzbühel. Sie mögen unsere Banken, vor allem die in Zypern.
({7})
Die Familien dieser Menschen fühlen sich in London
wohl, und sie meinen, dass ihre Kinder in englischen
oder schottischen Internaten am besten aufgehoben
seien. Damit ich nicht missverstanden werde: Diese Entwicklung ist gut. Das ist Europa. Aber in Russland muss
man wissen, was auf dem Spiel steht, wenn man internationale Vereinbarungen auf diese Weise bricht und damit
Europa seine Verachtung zeigt.
Ich finde das alles tragisch, weil der Westen seit Ende
letzten Jahres zu einem echten politischen Dialog mit
Russland bereit war. Russland hätte in einem Dialog sehr
viel erreichen können, wenn man sich zusammengesetzt
und einen stabilen politischen Prozess in Europa initiiert
hätte. Ich rede von gemeinsamen Wirtschafts- und Innovationsprojekten, von Handel und Wandel, von dem alle
profitiert hätten, und ich rede von Sicherheitsfragen.
Es ist inzwischen fast unstreitig, dass man auch über
eine mögliche NATO-Mitgliedschaft der Ukraine hätte
sprechen können. Auch in der Ukraine ist das inzwischen offenbar herrschende Meinung. Man hätte auch
gemeinsam über eine Verfassungsreform reden können:
über eine Föderalisierung nach deutschem Modell. Wo
welche Sprache in welchen Ämtern oder Schulen gesprochen wird, kann in den Regionen entschieden werden.
Wir sollten der jetzigen Regierung auch mit auf den
Weg geben, schnell einen öffentlichen Verfassungsdialog zu beginnen und den Menschen in allen Landesteilen
den Eindruck zu geben, dass sie gut aufgehoben sind.
Ich sage Ihnen noch etwas anderes voraus: Wir werden nächste Woche, wenn es zu dem Annexionsbeschluss gekommen ist, intensive außenpolitische Aktivitäten der russischen Regierung und Angebote an den
Westen erleben, und wir müssen überlegen, wie wir damit umgehen. Wir müssen darüber reden, wie wir reagieren, wenn sich die Bevölkerung auf der Krim möglicherweise mit großer Mehrheit für einen Anschluss
aussprechen wird.
Wir müssen einen kühlen Kopf behalten. Es gibt
viele, die jetzt versuchen, mit strammer Haltung scharfe
Maßnahmen gegen Russland zu fordern. Das sagt sich
von Washington aus möglicherweise leichter als anderswo. Wir müssen auch daran erinnern, dass wir irgendwann wieder Politik machen müssen und nicht alle
Türen zuschlagen können.
Herr Kollege Wellmann, darf Ihnen der Kollege
Dehm eine Zwischenfrage stellen?
Sehr gerne.
Kollege Wellmann, ich freue mich über die nachdenklichen Töne, die ich von Ihnen im Unterschied zu anderen Beiträgen gehört habe. Sie können sicher sein: Es
geht nicht nur in der Bevölkerung jede Sympathie für
ethnische und rassistische Vorbehalte zurück, sondern
auch in diesem Hause ist mir kein Kollege bekannt, der
in der von Ihnen angesprochenen Frage nicht meint, dass
es gegen Muslime keine solche Stimmung geben darf.
Dennoch möchte ich Sie etwas fragen. Sie haben die
Rede des Kollegen Gysi vorhin verfolgt und das Zitat
des Swoboda-Vorsitzenden gehört, und Sie wissen, dass
die Regierung in der Ukraine 11 Milliarden Euro Unterstützung von der EU bekommen soll. Ist es das Gleiche,
mit solchen Geldern eine Regierung, in der in Größenordnung Faschisten vertreten sind - auch viele Provinzgouverneure gehören der faschistischen Partei an -, zu unterstützen, wie eine Regierung zu unterstützen, in der keine
Faschisten sind? Können Sie sich vorstellen, dass über
verbale Bekundungen hinaus auch erheblicher Druck
eingesetzt werden muss, damit in ganz Europa der Faschismus, der sich noch nie freiwillig aus einer Regierung verabschiedet hat, zurückgedrängt wird?
({0})
Ich sage es noch einmal: Zwei Dinge sind für uns
wichtig. Erstens. Wir werden nie faschistische oder gar
antisemitische Politiker, Parteien oder Gruppen in irgendeiner Weise dulden. Wir werden sie bekämpfen.
Zweitens. Ich habe keinen Zweifel daran, dass die Bewegung auf dem Maidan eine Volksbewegung war. Sie
wollten - Herr Erler hat es schon gesagt - einen Regime
Change.
Herr Gysi, Sie haben vorhin gesagt, eigentlich sei die
Absetzung von Janukowitsch verfassungswidrig. Sie
wollen doch diesem Hause und der Öffentlichkeit nicht
im Ernst vorschlagen, diesen Herrn wieder als Präsidenten zu reinstallieren.
({0})
Das wäre die Konsequenz dessen, was Sie gesagt haben.
Ich will Ihrer Frage gar nicht ausweichen, Herr
Dehm. Es gibt leider nicht nur in der Ukraine rechtsradikale Tendenzen. Wir machen uns große Sorgen, was in
Frankreich bei den nächsten Wahlen passieren könnte.
Es gibt sie nach wie vor auch in Italien und Griechenland.
({1})
Wir werden sie bekämpfen. Aber wir können doch nicht
deshalb von einer Unterstützung dieser Regierung, die
offenbar die breite Zustimmung der Bevölkerung hat,
absehen, nur weil es einige unästhetische Figuren gibt,
die mit einbezogen werden mussten, um die Maidan-Bewegung zu integrieren. Davon können wir nicht absehen.
({2})
Zum Schluss. Wenn wir über die Vorschläge, die in
der nächsten Woche von der russischen Regierung kommen werden, sprechen, dann muss eines klar sein: Das
Ergebnis kann nur sein, dass die Russen letztendlich den
europäischen Weg der Ukraine, ihre Integration bzw. Assoziierung, anerkennen müssen. Ohne das wird es nicht
gehen. Die russische Regierung hat nun die Wahl zwischen einem neuen Kalten Krieg und einem geregelten,
zivilisierten Nebeneinander im Europa des 21. Jahrhunderts.
Danke für die Aufmerksamkeit.
({3})
Das Wort erhält nun der Kollege Franz Thönnes für
die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Manchmal muss man Handelnde an ihre Worte erinnern,
die sie vor kurzer Zeit ausgesprochen haben. Präsident
Putin hat am 12. Dezember 2013 in seiner Jahresbotschaft an die Föderale Versammlung der Russischen Föderation unter anderem gesagt:
Wir mischen uns nicht in fremde Interessen ein. Wir
zwingen uns niemandem auf. Wir sagen niemandem, was er tun oder was er lassen soll. Aber wir
werden bestrebt sein, eine Führungsrolle innezuhaben, indem wir das Völkerrecht schützen und uns
für die Achtung der nationalen Souveränität,
Selbstständigkeit und Eigenart der Völker einsetzen. Für einen Staat wie Russland ist es absolut objektiv und nachvollziehbar - bedenkt man seine
große Geschichte und Kultur sowie seine jahrhundertelange Erfahrung -, nicht in sogenannter Toleranz, geschlechtslos und unfruchtbar, sondern in
dem organischen Miteinander unterschiedlicher
Völker in einem ungeteilten Staat zu leben. Wie die
Situation um Syrien und nunmehr um den Iran
zeigt, kann und muss jedes internationale Problem
ausschließlich mit politischen Mitteln gelöst werden, ohne den Einsatz von Gewalt, die perspektivlos ist und in den meisten Ländern der Welt auf Ablehnung stößt.
({0})
Lassen Sie es mich bitte noch einmal unterstreichen: Russland ist bereit, mit allen Partnern im Interesse einer gemeinsamen, gleichen und unteilbaren Sicherheit zusammenzuarbeiten. Wir zwingen
niemandem etwas auf.
Ich denke, daran muss der Präsident heute erinnert werden, wenn ich sehe, dass auf der Krim Soldaten in Uniform
ohne Nationalitätsabzeichen eingesetzt werden. Wir wissen, nachdem die OSZE ihren Bericht vorgelegt hat, dass
es sich dabei - das haben wir schon vermutet - um russische Soldaten handelt. Damit werden die Worte des russischen Präsidenten von Dezember 2013 unglaubwürdig.
({1})
Es ist auch zu kritisieren, dass die Entwaffnung der illegalen Waffenträger in der Ukraine und insbesondere in
Kiew gemäß dem Abkommen vom 21. Februar nicht
umgesetzt worden ist. Wenn diese sogenannten maskierten Selbstverteidigungskräfte in Uniform ukrainische
Kasernen umstellen, ukrainische Soldaten und Polizeikräfte bedrohen und von diesen erwarten, ihre Waffen
abzugeben, dann wird der letzte Rest des in der Ukraine
existierenden staatlichen Gewaltmonopols zunichtegemacht. Auch das führt die Worte von Präsident Putin ad
absurdum.
({2})
Vor diesem Hintergrund lautet die zentrale Botschaft:
Herr Putin, tun Sie das, was Sie im Dezember gesagt haben! Ermöglichen Sie dem ukrainischen Volk ein organisches Miteinander unterschiedlicher Völker in einem ungeteilten Land!
({3})
Die Umsetzung dessen, was im Dezember gesagt wurde,
muss nun eingefordert werden. Herr Putin, wenn Sie angeblich bereit sind, mit allen Partnern zu reden, dann fordere ich Sie auf: Stimmen Sie einer OSZE-Vermittlung
zu! Stimmen Sie der Einrichtung einer Kontaktgruppe
zu! Setzen Sie sich an einen Tisch, und sprechen Sie miteinander! Seien Sie bereit, sich auf Vermittlungslösungen einzulassen! Hören Sie auf, mit Gewalt zu drohen
oder Gewalt gar anzuwenden!
({4})
In der gleichen Rede vom Dezember wird gesagt,
man müsse Russland wirtschaftlich neu aufstellen und es
modernisieren. Nun wird all das infrage gestellt, was
eingeleitet werden soll; denn der Investitionsstandort
Russland wird aufgrund der nun vorgesehenen Maßnahmen unattraktiv. Kapital wird zurückgehalten oder fließt
ins Ausland. Der russische Präsident handelt hier gegen
die Interessen seines eigenen Landes und widerspricht
damit seinen eigenen Worten von Dezember 2013.
({5})
Deswegen gilt es, im Kern daran zu arbeiten und dafür zu sorgen - das war die Philosophie von Willy
Brandt und Egon Bahr -, dass die Stärke des Rechts gilt
und nicht das Recht des Stärkeren, dass das, was an Völkerrecht verabredet worden ist, auch eingehalten und
das, was am 21. Februar aufgeschrieben worden ist,
ebenfalls eingehalten wird. Das heißt für die Ukraine,
möglichst bald durch Neuwahlen zu einer inklusiven
Regierung zu kommen, die den wirklichen Willen des
Volkes widerspiegelt. Dann löst sich vielleicht das
Problem mit den Nationalisten und Faschisten ganz von
alleine.
({6})
Es ist auch notwendig, dass die Rechte neutraler
Minderheiten geachtet werden. Minderheiten müssen
das Recht erhalten, ihre Sprache zu sprechen. Militanter
Antisemitismus und Rechtsextremismus dürfen in einer
Ukraine, die ihren Blick nach Europa richtet, keinen
Platz haben.
({7})
Die tragischen Ereignisse vom Februar dieses Jahres mit
rund 100 Toten und mit Hunderten von Verletzten sind
aufzuarbeiten, und die Verantwortlichen sind zur Rechenschaft zu ziehen.
Für Russland gilt, dass wir erwarten, dass die Integrität der Ukraine respektiert und das Völkerrecht und die
bestehenden Abkommen geachtet werden. Die zusätzlichen Truppen auf der Krim sind abzuziehen. Es geht der
Appell an die russische Regierung, im direkten Gespräch
mit der aus dem Parlament heraus legitimierten Regierung in Kiew zusammenzukommen und zu verhandeln.
Präsident und Regierung in Moskau sind nun aufgerufen, der Bildung einer Kontaktgruppe, einer FactFinding-Commission und einer OSZE-Beobachtergruppe zuzustimmen. Auch angesichts der angespannten
Lage, die wir zurzeit haben, gilt der Rat von Willy
Brandt: „Der Frieden ist nicht alles, aber alles ist ohne
den Frieden nichts.“
({8})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Christoph
Bergner, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Frau
Bundeskanzlerin hat uns in ihrer Regierungserklärung
aufgefordert, die Herausforderung dieser schwierigen,
krisenhaften Situation entschlossen anzunehmen.
Aus meiner Sicht müssen wir die Entschlossenheit
auf drei Feldern zeigen. Zum einen besteht die Notwendigkeit, zu einer entschlossenen Reaktion gegenüber der
russischen Regierung bereit zu sein, um ihrer völkerrechtswidrigen Einverleibung der Krim in die Russische
Föderation entgegenzutreten. Die gleiche Entschlossenheit wünsche ich mir zum anderen aber auch bei der
selbstkritischen Analyse der bisherigen EU-Politik der
Östlichen Partnerschaft und schließlich, drittens, bei der
Frage - das ist sicher besonders wichtig -: Was können
wir tun, um der Ukraine, das heißt dem Land und den
Menschen, dabei zu helfen, zu Stabilität, Demokratie
und Rechtsstaatlichkeit zu finden?
Wenn wir uns dieser letzten Frage zuwenden, so sollten wir die kritische Lage der Ukraine nicht unterschätzen. Medizinisch gesprochen befindet sich das Land
momentan in der Gefahr, ins Koma zu fallen. Gleichzeitig soll eine so ernste Diagnose nicht ausgesprochen
werden, ohne auf die Potenziale des Landes hinzuweisen: Die Ukraine ist reich an Kulturen, Sprachen und
Landschaften, sie besitzt fruchtbare Böden. Bergbau,
Schwerindustrie und Maschinenbau haben in der
Ukraine eine lange Tradition, und - das ist wohl das
Wichtigste - das Land hat begabte und weltoffene Menschen, die das Glück haben, aus verschiedenen Kulturen
gleichzeitig zu schöpfen.
Damit will ich zum Ausdruck bringen, dass dieses
Land eine gute Voraussetzung für eine erfolgreiche
Entwicklung hat. Aber zu dieser Feststellung gehört wiederum die Analyse, weshalb das Wirtschaftswachstum
dieses Landes im Unterschied zu den meisten anderen
Staaten der ehemaligen Sowjetunion unter seiner Produktivität zu Sowjetzeiten liegt. Die Ursachen dafür sind
vielfältiger Natur.
Die größten Probleme in der Ukraine haben die Menschen zum Protest auf den Maidan gebracht. Es waren
Korruption, Selbstbedienungsmentalität der Politiker,
Schattenwirtschaft, Oligarchie, und das - meine Damen
und Herren, das sollten wir aussprechen - nicht nur in
den Zeiten Janukowitschs.
Leider hat auch die Orangene Revolution, die gerade
in Europa groß gefeiert wurde, nicht die vom Volk erwünschten Erfolge und Fortschritte gebracht. Das begründet Skepsis gegenüber manchen der Protagonisten
von damals. Aber diese berechtigte Skepsis darf uns
nicht davon abhalten, in der Regierung Jazenjuk gegenwärtig den legitimen Vertreter des Landes zu sehen. Niemand sonst verfügt momentan über eine vergleichbare
Legitimität.
Meine Damen und Herren, als jemand, der sich über
acht Jahre mit europäischer Minderheitenpolitik beschäftigt hat, möchte ich nun eine Sorge noch einmal
besonders aussprechen und vertiefen - das ist eine
Sorge, die die Zukunft der Ukraine, aber auch andere
Regionen in der ehemaligen Sowjetunion betrifft -: Wir
müssen uns in der Debatte über die Krise in der Ukraine
kategorisch gegen jeden Versuch der Ethnisierung des
Konfliktes wenden. Es ist eine große Gefahr, dass dieser
Konflikt in einen Konflikt zwischen Nationen und
Ethnokulturen umgedeutet wird. Die größte Gefahr dieser Umdeutung geht von einer Propaganda Russlands
aus, die die russische Bevölkerung der Ukraine, genauer
gesagt: die ukrainischen Russen auf der Krim, über ihre
Volkszugehörigkeit für hegemoniale Ziele instrumentalisieren möchte.
({0})
Meine Damen und Herren, Kampf gegen Ethnisierung des Konfliktes bedeutet aber auch, dass wir an die
Regierung Jazenjuk appellieren, sich von nationalistischen Radikalen, teilweise auch in den eigenen Reihen,
zu distanzieren. Denn es ist kein Konflikt zwischen
Nationalitäten, den wir erleben. Die Ukraine hat trotz
schwieriger wirtschaftlicher Situationen - ich habe es
über Jahre beobachtet - eine gute Minderheitenpolitik
betrieben. Es gibt keine nachweisbare Diskriminierung
ethnischer Russen auf der Krim, die Hilferufe nach militärischem Schutz durch den großen Nachbarn rechtfertiDr. Christoph Bergner
gen würde. Der Konflikt ist kein Konflikt zwischen
Ethnien. Es ist ein Konflikt zwischen denen, die auf
europäische Werte setzen, und denen, die sich vom
Kreml Schutz versprechen. Es ist höchst bedauerlich,
dass dieser Konflikt sich so zugespitzt hat.
Deshalb lassen Sie uns bitte nicht auf den Leim der
russischen Propaganda gehen. Das bedeutet auch: Simplifizieren wir den Konflikt nicht dahin gehend, dass wir
in der einen Region von einer prorussischen Haltung und
in der anderen Region von einer prowestlichen Haltung
ausgehen und diese unterstellen. Spaltungsszenarien
dürften weiteres Öl in das Feuer der Ethnisierung
gießen.
Noch ein Wort zu dem Sezessionsreferendum. Sezessionsreferenden waren nach dem Ersten Weltkrieg eine
Methode des Völkerbundes, die neue Grenzziehungen,
aber auch neue Minderheiten schufen, die Nachfolgekonflikte und ethnische Säuberungen zum Resultat
hatten. Der Europarat hat mit gutem Grund - sowohl
Russland wie die Ukraine sind Unterzeichner des entsprechenden Rahmenübereinkommens - die Sicherung
nationaler Minderheitenrechte als eine innenpolitische
Aufgabe der Nationen angesehen und nicht als eine Aufgabe, die durch Grenzkorrekturen erfüllt werden sollte.
Dies ist ein ausgesprochen wichtiger Punkt, auf den hier
hingewiesen werden muss.
Wir sollten, wenn wir der Ukraine helfen wollen, der
Regierung Jazenjuk die Bereitschaft zur Partnerschaft
immer wieder deutlich machen. Aber wir sollten dabei
die bisherige Anwendung der Instrumente der Östlichen
Partnerschaft der EU selbstkritisch überprüfen. Dazu
gehört die Aufarbeitung der Zuspitzung vor der Ratssitzung in Vilnius. Aber dazu gehört auch die Frage, ob die
EU mit dem Assoziierungsabkommen überhaupt die
Erwartungen der leidgeprüften Ukrainer hätte erfüllen
können. In der Neigung, komplexe Verhältnisse und
mehrschichtige Sachverhalte zu vereinfachen, wurde das
Assoziierungs- und Freihandelsabkommen in der öffentlichen Meinung der Ukraine oft genug als goldener Weg
zur Mitgliedschaft im europäischen Klub dargestellt,
was es so natürlich nicht ist. Das Assoziierungs- und
Freihandelsabkommen im Rahmen der Östlichen Partnerschaft sollte zwar weitreichende Beteiligungsmöglichkeiten eröffnen, aber keine definitive Beitrittsperspektive. Auch da müssen wir uns nicht wundern, dass
falsche Erwartungen zu eigentlich vermeidbaren Konflikten geführt haben.
({1})
Umgekehrt ist zu fragen, ob denn durchaus problematische Spezifika - ich denke beispielsweise an das Phänomen der Oligarchenwirtschaft, das eine Bürde nicht
nur für die wirtschaftliche, sondern auch für die zivilgesellschaftliche Entwicklung ist - in den Instrumenten
unserer Partnerschaftspolitik hinreichend berücksichtigt
wurden.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich bei meinem Überdenken der Partnerschaftspolitik mit folgendem Punkt schließen: Die Bemühungen der russischen
Regierung um Einverleibung der Krim verfolgen zweifellos ein völkerrechtswidriges Ziel, das wir konsequent
zurückweisen müssen. Diese Feststellung und die konsequente Ablehnung des Vorgehens Russlands entheben
uns nicht der Frage, wie die EU bei ihrer östlichen Nachbarschaftspolitik mit Inkompatibilitäten mit den Plänen
der russischen Regierung umgehen wird. Frau Bundeskanzlerin hat darauf hingewiesen, dass die europäische
Einigung der Versuch war, Lehren aus den Katastrophen
der Geschichte zu ziehen.
Im Jahre 2012 erhielt die Europäische Union den
Friedensnobelpreis. Sie erhielt diese Auszeichnung in
Würdigung ihrer friedensstiftenden Wirkung bei der
Überwindung der Folgen zweier Weltkriege, die unseren
Kontinent in Katastrophen stürzten. Wenn die Europäische Union auch einen Beitrag zur Überwindung der
Folgen des Kalten Krieges leisten will, dann muss es
gelingen, den Dialog mit Russland fruchtbarer zu gestalten, als es in der jüngeren Zeit der Fall war. Deshalb begrüße ich ausdrücklich, dass die Bundesregierung neben
der notwendigen klaren, unzweideutigen Reaktion auf
russisches Fehlverhalten die ständige Bereitschaft zu
Gespräch und Dialog mit Russland wachhält.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Abschließender Redner in dieser Debatte ist der
Kollege Nobert Spinrath, SPD, dem ich damit das Wort
erteile.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren!
Russland und die EU müssen ab sofort an einem
Strang ziehen: zur Verhinderung eines Bürgerkriegs
in der Ukraine - im Interesse der demokratischen
Kräfte, im Interesse der Menschen in der Ukraine.
Das war der Schlussappell meiner letzten Rede zum
Thema Ukraine am 20. Februar, am blutigen Donnerstag
in Kiew. Die Außenminister des Weimarer Dreiecks aus
Frankreich, Polen und Deutschland haben es durch harte
Verhandlungen einen Tag später geschafft, das Blutvergießen in Kiew zu beenden. Ihnen ist berechtigterweise
dafür heute viel Anerkennung ausgesprochen worden.
({0})
Das von ihnen vermittelte Abkommen vom 21. Februar hingegen wurde in der Ukraine nicht so in die Tat
umgesetzt wie vereinbart. Schon am nächsten Tag überschlugen sich durch eine Lawine von Entscheidungen
des Parlaments der Ukraine die Ereignisse. An jenem
Wochenende war nicht abzusehen, was sich daraus entwickeln würde, und nur drei Wochen später scheint sich
dort die Welt vollkommen verändert zu haben. Alle Di1540
plomatie der letzten Wochen konnte nicht bewirken, die
Eskalation der Situation insbesondere auf der Krim zu
verhindern.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, vor dem düsteren
Hintergrund zweier Weltkriege wurde die Europäische
Union geschaffen. Deren wesentliches Fundament und
auch deren wesentliches Erfolgsergebnis ist der unerschütterliche Wille der beteiligten Mitgliedstaaten, Konflikte ohne militärische Gewalt zu lösen. Nie wieder soll
Krieg in Europa herrschen - diesen Satz haben wir auch
in diesem Hause häufig gehört.
({1})
Und dies gelingt - in der EU durch Beachtung der nationalen Eigenheiten und der nationalstaatlichen Souveränität, durch engmaschige Verknüpfungen der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, durch den Willen zur
Angleichung der Lebensstandards, durch das Schaffen
selbstgewählter Abhängigkeiten und durch das Monitoring der gemeinsamen Politik.
Der Europäischen Union wird nun von interessierter
Seite vorgeworfen, dass sie die Lage in der Ukraine
falsch eingeschätzt habe, dass sie mit ihrem Drängen auf
ein einseitiges Assoziierungsabkommen zur Entwicklung der Situation beigetragen und im Vorgarten Russlands gegrast habe. Jedoch, liebe Kolleginnen und Kollegen: Die Welt hat sich in den letzten 25 Jahren, nach
dem Zerreißen des Eisernen Vorhangs und dem Ende des
Kalten Krieges, verändert. Auch die Europäische Union
hat sich entwickelt. Sie hat es verstanden, dem Frieden
einen eigenständigen Wert zu geben. Sie hat es verstanden, über einen gemeinsamen Binnenmarkt, durch Freizügigkeit, durch gemeinsame Regelwerke, durch einen
Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts und
durch Regulierungen ein Geflecht von gemeinsamen Interessen zu knüpfen. Dieses Geflecht macht es nahezu
unmöglich, mit den früher üblichen kriegerischen Mitteln Tatsachen zu schaffen.
Russland dagegen ist nach Ende des Kalten Krieges
noch auf der Suche; es muss seine neue Rolle im Weltgefüge noch definieren und sieht nun sein Projekt der Eurasischen Union durch die Hinwendung der Ukraine zu einer Assoziierung mit der Europäischen Union in Gefahr.
Jedoch sage ich mit allem Nachdruck: Wenn sich die
Welt verändert hat, dann darf man nicht einfach zu altem
Blockdenken zurückkehren. Vielmehr muss man zum
Wohle aller Beteiligten bei gemeinsamen Interessen,
aber auch zum Wohle der unterschiedlichen nationalen
Interessen zusammenarbeiten.
({2})
Vor dem Hintergrund dieses Gebots ist es nicht hinnehmbar, dass Russland mit falschen Behauptungen
Schutzinteressen für einen Teil der Krim-Bevölkerung
vorgibt. Es ist nicht hinnehmbar, dass Russland die Krim
faktisch besetzt hat. Es ist nicht hinnehmbar, dass Russland als Folge des für Sonntag geplanten Referendums
die Annexion der Krim plant. Und es ist nicht hinnehmbar, dass Russland trotz aller Warnungen aus dem Rest
der Welt dieses Szenario unverändert umsetzt.
Europa hat die erste Stufe von Sanktionen in Kraft gesetzt. Weitere werden folgen, wenn Russland nicht auf
Absetzung des Referendums hinwirkt. Europa hat diese
Konfrontation nicht gewollt. Aber Verletzungen des
Völkerrechts sind nie hinnehmbar, gleich, auf welcher
Seite sie geschehen. Deshalb müssen wir ihnen Einhalt
gebieten, aber ausschließlich mit den Mitteln, die seit
fast 70 Jahren Garant für den Frieden in Europa sind,
nämlich mit den Mitteln der Demokratie. Es stimmt, was
Frau Merkel heute Morgen sagte: Militärisches Vorgehen darf keine Option sein.
Russland muss seine eigene Isolation verhindern,
muss auf die Gesprächsebene zurückkehren, muss sich
einer realpolitischen Diskussion stellen und auf das Angebot der EU zur Zusammenarbeit eingehen. Ziel muss
es sein, eine politische Kultur der Kompromisse zu entwickeln, die dann auch in der Ukraine die Grundlage für
einen Dialog schafft, der es ermöglicht, das Abkommen
vom 21. Februar umzusetzen, das unter anderem rasche
Neuwahlen vorsieht, damit es zu einer Übergangsregierung der nationalen Einheit kommen kann.
Lieber, werter Kollege Gysi, ich will Ihnen in Bezug
auf die Vertreter der Swoboda-Partei durchaus recht geben; sie haben auch nach meinem Empfinden in der Regierung nichts zu suchen. Aber auch deshalb will ich
schnelle Parlamentsneuwahlen in der Ukraine: damit die
Menschen, die den Protest auf dem Maidan so vorbildlich friedlich begonnen haben, die Chance der Korrektur
nutzen können. Ich frage Sie und Ihre Fraktion dann aber
auch, wie man mit dieser Situation die völkerrechtswidrige Annexion der Krim durch Russland rechtfertigen
kann. Ihre oft kruden Diskussionen der letzten Wochen,
Ihre Reminiszenzen an altes Blockdenken und Ihre Nibelungentreue zu alten Freunden machen es mir und vielen in diesem Haus oftmals hinreichend schwer, Sie ernst
zu nehmen.
({3})
In den Dialog in der Ukraine müssen alle Bevölkerungsgruppen einbezogen werden, auch die russischstämmigen. Es bedarf dringend der Bildung einer internationalen Kontaktgruppe. Dabei kann und muss
Deutschland eine wichtige Rolle als aktiver Vermittler
spielen.
Herr Kollege Spinrath, Sie denken an die Redezeit?
Gerne. Ich komme zum Ende. - Ich sage aber auch:
Es bedarf des sofortigen Handelns durch Russland, nämlich zu bewirken, dass das Referendum auf der Krim abgesagt wird.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit dem Dank für
Ihre Aufmerksamkeit formuliere ich vier Tage vor dieNorbert Spinrath
sem Referendum: Wenn es gelingt, eine Zusammenarbeit aller Beteiligten nicht gegen, sondern mit Russland
zu organisieren, dann kann es auch gelingen, den wichtigsten Grundwert der modernen Demokratie im
21. Jahrhundert zu bewirken und dauerhaft zu sichern den Frieden.
({0})
Damit schließe ich die Aussprache.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Oliver
Krischer, Annalena Baerbock, Bärbel Höhn,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Die Energiewende europäisch verankern
Drucksache 18/777
Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({0})Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
ReaktorsicherheitAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 96 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Als ersten Redner rufe ich den Kollegen Dr. Anton
Hofreiter, Bündnis 90/Die Grünen, auf.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wer in den vergangenen Wochen und Monaten aufmerksam die Zeitung verfolgt hat, konnte lesen,
dass über Großbritannien und Irland über Wochen und
Monate immer wieder schwere und schwerste Stürme
niedergegangen sind, dass in vielen Regionen seit Monaten Häuser und ganze Ortschaften unter Wasser stehen
und dass nach dem fünften schweren Orkan an der Westküste Irlands inzwischen diskutiert wird, welche Ortschaften aufgegeben werden müssen und welche gegen
das sich ändernde Wetter und Klima gehalten werden
können. Das ist nicht etwas, das in ferner Zukunft passiert, sondern etwas, das gerade jetzt passiert.
Wenn wir uns am wunderschönen Frühlingswetter der
letzten Wochen erfreuen, sollten wir bedenken - wir hatten am 9. März 2014 einen neuen Temperaturrekord von
fast 24 Grad in Nordrhein-Westfalen zu verzeichnen -:
Eigentlich ist noch Winter. Temperaturen von 24 Grad
im Winter sind mehr als ungewöhnlich. Jetzt mögen
Skeptiker argumentieren: Einzelne Wetterereignisse stellen noch keine Klimaveränderung dar. Wenn wir uns
aber die Häufung dieser Wetterereignisse - schwerste
Orkane und Wirbelstürme in Südostasien, schwerste
Überschwemmungen in Großbritannien, Extremstwinter in Nordamerika, extrem warme Sommer bei uns - anschauen, dann erkennen wir, dass diese Ereignisse vollkommen in Übereinstimmung mit den Erkenntnissen der
Klimawissenschaft stehen. Diese besagen nämlich, dass
die Klimakatastrophe längst begonnen hat.
({0})
Es ist eine ganz entscheidende Aufgabe für uns, die
Klimakatastrophe - verhindern können wir sie eh nicht
mehr - so zu bremsen, dass die Lebenschancen auf unserem Planeten für künftige Generationen erhalten bleiben.
({1})
Dieses Jahr ist ein ganz entscheidendes Jahr. 2015 findet in Paris die internationale Klimakonferenz statt, und
2014 legt die Europäische Union ihre Klimaschutzziele
bis zum Jahr 2030 fest. Es muss uns bewusst sein: Die
Klimakonferenz 2015 in Paris wird nur ein Erfolg, wenn
Europa ehrgeizige Ziele vorgibt. Nur so haben wir die
Chance, die Klimakatastrophe bzw. den Klimawandel zu
bremsen, sodass er unsere Ökosysteme und damit unsere
Lebensgrundlage nicht überfordert.
({2})
Was sind die zentralen Bausteine, damit uns das gelingt? Zum einen müssen wir dafür sorgen, dass der
CO2-Zertifikatehandel, der sogenannte Emissionshandel,
wieder funktioniert. Es kann nicht sein, dass eine Tonne
des Klimakillers CO2 nur ein bisschen mehr kostet als
eine Schachtel Zigaretten; was zur Folge hat, dass die
schmutzige Braunkohle am Markt boomt. Den Emissionshandel müssen wir reparieren.
({3})
Was ist des Weiteren notwendig? Des Weiteren ist
notwendig, dass wir starke CO2-Minderungsziele bis
2030 beschließen. Die Bundesrepublik Deutschland darf
ihre armseligen nationalen Ziele nicht auf die EU übertragen. Vielmehr brauchen wir ehrgeizige Ziele, Ziele,
mit denen wir das sogenannte 2-Grad-Ziel erreichen
können.
({4})
Es ist ferner notwendig, dass wir den Ausbau der erneuerbaren Energien beschleunigen; denn sie sind ein
Schlüssel dafür, den CO2-Ausstoß zu senken und uns
von Importen fossiler Energien unabhängig zu machen.
Es ist dringend notwendig, dass wir die Energieeffizienz verstärken; denn die billigste Kilowattstunde
Strom ist die Kilowattstunde, die ich gar nicht benötige.
({5})
Die Bundesregierung allerdings ist in den letzten
Wochen und Monaten - man muss leider sagen: in den
letzten Jahren - auf EU-Ebene nur durch armselige Lobbypolitik für Ausnahmen innerhalb des EEG aufgefallen. Diese Ausnahmen sind inzwischen so zahlreich,
dass sie bald die Regel darstellen. Das ist nicht nur klimaschädlich, sondern das führt auch zu einer Wettbewerbsverzerrung; denn man muss sich fragen: Wer be1542
zahlt für diese Ausnahmen? Das sind jene Unternehmen,
die den kompletten Preis zahlen müssen, sowie die Verbraucher. Das ist skandalös.
({6})
Die Koalition behandelt die Energiewende so, als
wäre sie nicht in der Lage, ihre Chancen zu erkennen. In
der Energiewende liegen große Chancen, aber Sie beharren auf alten Strukturen.
({7})
Ökologie und Ökonomie sind eben kein Widerspruch,
wenn ich kluge Politik gestalte. Mit grünen Ideen lassen
sich schwarze Zahlen schreiben.
({8})
Die Energiewende kann eine große Chance für die europäische Wirtschaft sein.
({9})
Nehmen wir als Beispiel die Stahlindustrie. Die europäische Stahlindustrie leidet unter massiven Überkapazitäten. Aber diese bekommen Sie dadurch, dass Sie versuchen, den Industriestrom noch etwas günstiger zu
machen, nicht in den Griff.
({10})
Überkapazitäten bekommen Sie nur durch eine entsprechende Nachfrage bzw. Investitionen in den Griff.
({11})
Wenn Sie eine moderne Windkraftanlage bauen
- vielleicht wissen Sie nicht, dass das inzwischen ein
großes Industrieprodukt ist -, dann benötigen Sie dafür
so viel Stahl wie für 500 Automobile. Man sieht: Investitionen in erneuerbare Energien sind eine Chance für die
europäische Stahlindustrie. Deswegen darf der Ausbau
nicht gebremst werden.
({12})
Wenn man es richtig macht, dann passen alte Industrien
und neue Energien wunderbar zusammen.
({13})
Die Menschen in Deutschland erkennen auch, welche
Chancen in einer innovativen Energiepolitik liegen. Deshalb fordern über 80 Prozent von der Bundesregierung,
ehrgeizigere Ziele zu setzen;
({14})
denn sie wissen, wie wichtig das für die Zukunft ihrer
Kinder und für ihre Jobs ist.
Es gibt einen weiteren Grund, einen Grund, den ich
schon angesprochen habe: Europa importiert für circa
500 Milliarden Euro fossile Energieträger. Allein
Deutschland importiert für 33 Milliarden Euro fossile
Energieträger aus Russland, Erdgas und Erdöl.
({15})
Wind und Sonne schicken uns keine Rechnung.
({16})
Das System Putin schickt uns durchaus eine Rechnung.
({17})
Setzen Sie deshalb auf die Beschleunigung der Energiewende! Setzen Sie auf den Ausbau der erneuerbaren
Energien! Dann wird das Geld hier investiert, dann wird
lokal investiert. Das ist eine Chance für unser Handwerk,
und das macht uns entsprechend unabhängig.
({18})
Zum Abschluss: Man muss sich vielleicht einmal
klarmachen, welche Verantwortung wir hier haben. Ganz
Europa und die ganze Welt schauen darauf, ob in
Deutschland die Energiewende gelingt. Die ganze Welt
schaut darauf, ob sie in Deutschland und in Europa gelingt. Wenn die Energiewende in Deutschland und in Europa, diesem reichen Kontinent, gelingt und die Klimaschutzziele eingehalten werden, dann kann sie weltweit
gelingen. Es muss auch weltweit gelingen. Wenn wir
nämlich unsere Lebensgrundlagen zerstören, dann hinterlassen wir unseren Kindern und Kindeskindern einen
zerstörten Planeten. Das darf nicht unsere Politik sein.
({19})
Ich gestehe gern zu, dass das kein leichtes Projekt ist.
Deutschland und Europa stehen vor großen Herausforderungen. Aber es lohnt sich, diese Herausforderungen anzupacken, für den Klimaschutz, für eine lebenswerte
Welt und für unsere und die Zukunft unserer Kinder und
Kindeskinder.
Vielen Dank.
({20})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Joachim Pfeiffer,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn man den Antrag in die Hand bekommt und
den Titel „Energiewende europäisch verankern“ liest,
dann hört sich das zunächst gut an. Wenn man dann aber
den Antrag liest, stellt sich leider heraus, dass der Inhalt
eigentlich im genauen Gegensatz zum Titel steht. Die
konkreten Vorschläge, die Sie dort machen, sind nämlich
keine europäisch verankerte Energie- und Klimapolitik.
Sie setzen auf nationale Kleinstaaterei, staatlichen
Zwang und planwirtschaftliche Instrumente, die immer
nur zu weiteren Belastungen führen, aber sicher nicht im
europäischen Sinne sind, statt auf die Harmonisierung
von wettbewerblich organisierten und effizienzsteigernden Fördersystemen. Auch auf EU-Ebene wollen Sie
ideologiebetriebene Verbots- und Gebotspolitik umsetzen.
Sie sprechen sich in Ihrem Antrag beispielsweise gegen die Überlegung der EU-Kommission aus, nur ein
Klimaschutzziel festzulegen und dieses entsprechend zu
untermauern. Wenn die Lage so ist, wie gerade von
Herrn Hofreiter beschrieben, dass nämlich der Weltuntergang in Irland und anderen Ländern der Europäischen
Union unmittelbar bevorsteht, dann müsste es doch richtig sein, genau an diesem Ziel anzusetzen und ein europäisches Emissionsreduktionsziel festzulegen, das technologieoffen im Wettbewerb Reduktionen ermöglicht.
Genau das aber wollen Sie nicht. Sie wollen, dass in Europa mehrere Ziele nebeneinander bestehen und zum
gleichen Ergebnis wie in Deutschland führen, wo sich
zahlreiche Ziele gegenseitig konterkarieren. Ein Beispiel
dafür ist KWK. Mit großer Mehrheit haben wir hier im
Haus 2008 ein KWK-Ziel von 25 Prozent beschlossen.
Wir sind weit davon entfernt, dieses Ziel zu erreichen,
weil es durch andere Ziele, beispielsweise das EEG, konterkariert wird. Im Ergebnis führt das dazu, dass heute
Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen nicht nur nicht neu gebaut werden, sondern bestehende, sowohl im industriellen Bereich als auch bei Stadtwerken, nicht rentabel
sind. - Da bemüht sich jemand schon seit längerem um
eine Wortmeldung.
Herr Kollege Pfeiffer, sind Sie mit einer Zwischenfrage der Kollegin Baerbock einverstanden?
Selbstverständlich, gerne.
Herr Pfeiffer, vielen Dank für die Möglichkeit, eine
Zwischenfrage zu stellen. - Sie haben gerade angeführt,
dass Sie es komisch finden, dass wir uns für drei Ziele
auf europäischer Ebene einsetzen. Es verwundert mich
sehr, dass unser Antrag diesbezüglich bei Ihnen auf Verwunderung stößt. Schließlich hat sich die deutsche Bundeskanzlerin dafür eingesetzt, dass wir bezogen auf das
Jahr 2020 eine Zieltrias formulieren, die auch hinsichtlich der Ausbauziele im Bereich der erneuerbaren Energien und hinsichtlich der Ziele in Bezug auf die Energieeffizienz verbindlich ist. Halten Sie die damalige
Position Ihrer Bundeskanzlerin für falsch? Wie kann
man Ihrer Meinung nach ein ambitioniertes CO2-Ziel
umsetzen, wenn man nicht zeitgleich in Energieeffizienz
und den Ausbau der erneuerbaren Energien investiert?
In der Tat ist es richtig, dass man 2007, glaube ich, die
drei 20-Prozent-Ziele festgelegt hat: Reduktion der
Emissionen auf europäischer Ebene um 20 Prozent als
einseitige Vorleistung, Steigerung der Energieeffizienz
um 20 Prozent bis 2020 und ein Anteil der erneuerbaren
Energien von 20 Prozent bis 2020. In der Zwischenzeit
hat man aber hinzugelernt. Auch die EU-Kommission
versucht, hinsichtlich dieser Frage hinzuzulernen. Ich
habe das gerade am Beispiel der KWK in Deutschland
erläutert: Wir waren der Überzeugung, dass es richtig ist,
mehrere verbindliche Ziele festzulegen, stellen jetzt aber
bei der Umsetzung fest, dass das so nicht funktioniert,
dass sich die Ziele zum Teil gegenseitig konterkarieren.
Deshalb ist die Frage: Was ist richtig, wenn wir weiter in
die Zukunft denken? Wir haben Ziele festgelegt, die bis
2020 erreicht werden sollen. Damit haben wir die
Grundlage gelegt. Wenn es jetzt um die Frage geht, was
wir 2030, 2040 und 2050 machen, dann müssen wir auch
die Frage stellen - dieser Diskussionsprozess findet gerade in Europa statt -, was sinnvoll ist.
Das entscheidende Thema ist der Klimaschutz - darauf komme ich nachher noch einmal zu sprechen -, der
nicht nur auf europäischer Ebene realisiert werden muss.
Es nützt uns und dem Weltklima nämlich gar nichts,
wenn nur wir in Europa Klimaschutz betreiben. Der Klimaschutz muss weltweit betrieben werden. Ein zentrales
Element dafür ist der Emissionshandel, der in den betroffenen Sektoren die Zielerreichung entsprechend einem klaren und verbindlichen Reduktionspfad gewährleistet. Das ist der richtige Weg. Selbstverständlich kann
man flankierend integrative Ziele vereinbaren - das wird
ja auch vorgeschlagen -, zum Beispiel hinsichtlich der
Energieeffizienz oder in anderen Bereichen. - Vielen
Dank für die Gelegenheit, dies an dieser Stelle etwas zu
vertiefen.
Jetzt komme ich auf die Emissionen zu sprechen, die
Sie auch angesprochen haben. Sie wollen die Emissionen bis 2030 um 55 Prozent reduzieren. Wie sieht die
Realität aus? Die EU hat sich verpflichtet, die CO2Emissionen bis 2020 um 20 Prozent im Vergleich zu
1990 zu reduzieren. Sie hat in Aussicht gestellt, die
Quote auf 30 Prozent zu erhöhen, wenn es gelingt, ein
Kioto-Nachfolgeregime zu vereinbaren. Leider sind wir
im Moment von der Festlegung auf ein solches Nachfolgeregime weit entfernt. Ich bin sehr skeptisch, dass es
gelingt, im nächsten Jahr in Paris diesbezüglich entscheidend weiterzukommen.
Bis 2020 wollen wir die CO2-Emissionen gegenüber
1990 um 20 Prozent reduzieren. In diesen Zeitraum von
30 Jahren fallen die Deindustrialisierung, die quasi stattgefunden hat, und der völlige Neuaufbau der Konversionsländer Osteuropas. Das betrifft auch die fünf neuen
Bundesländer. In der Quote von 1990 sind auch die damaligen Emissionen in den fünf neuen Bundesländern
enthalten, die bereits - das war einmalig - reduziert wurden. Wir sagen: Zwischen 2020 und 2030 wollen wir
quasi das Gleiche erreichen, nämlich noch einmal eine
Reduktion um 20 Prozent. Ich glaube, das ist mehr als
ambitioniert. Sie sagen jetzt, dass Sie eine Reduktion um
55 Prozent bis 2030 erreichen wollen. Ich halte das, ehrlich gesagt, für weltfremd und nicht erreichbar.
In Deutschland haben wir die Emissionen bereits um
weit über 20 Prozent reduziert. Der Anteil der Emissionen in Deutschland lag 1990 im weltweiten Vergleich
bei 4,7 Prozent. Heute beträgt er 2,4 Prozent. Die EU
insgesamt hat ihre Emissionen um über 16 Prozent reduziert. Der Anteil der EU am globalen CO2-Ausstoß liegt
heute bei gerade einmal 10 Prozent. Das ist die Hälfte
der Quote von 1990. Damals lag sie bei 20 Prozent. Das
heißt, selbst wenn wir in Europa um 100 Prozent reduzieren - das betrifft alle industriellen Prozesse; da
kommt man auch an physikalische Grenzen -, dann würden wir dem Weltklima damit im Ergebnis kaum helfen.
Wer etwas anderes suggeriert, der erzählt bewusst etwas
Falsches.
China hat seit 1990 seine Emissionen vervierfacht, Indien hat seine Emissionen vervierfacht und auch in den
ASEAN-Ländern steigen die Emissionen. Insofern nutzt
es uns in Europa nichts, Zahlenfetischismus zu betreiben. Vielmehr müssen wir den Rest der Welt davon überzeugen, mitzumachen. Wie machen die anderen Länder
mit? Am besten, indem wir hocheffiziente Kraftwerkstechnologien dorthin liefern, sodass in diesen Ländern die
Energieeffizienz steigt und der CO2-Ausstoß reduziert wird.
Es nutzt nichts, wenn wir die weltweit Klimaschonendsten
und Energieeffizientesten sind. - Da möchte schon wieder
jemand meine Redezeit verlängern.
Der Kollege Janecek würde gerne eine Zwischenfrage
stellen. Ich vermute aufgrund seines Hinweises, dass
Kollege Pfeiffer diese Zwischenfrage zulässt.
({0})
Es ist ja schön, dass Sie, Herr Pfeiffer, sich so über
den Dialog freuen. - Ich habe, weil Sie es direkt angesprochen haben, eine Frage zu China. Ich möchte Sie
fragen, ob Sie zur Kenntnis nehmen, dass China - heute
kam die Meldung - mittlerweile mehr Strom aus Windkraft produziert als aus Atomenergie und dass China in
diesem Jahr Photovoltaikanlagen mit einer Kapazität
von insgesamt 14 Gigawatt installieren will. Das ist fast
doppelt so viel wie in der gesamten EU. Daher kann man
nicht sagen, dass wir in Deutschland diesen Weg nicht
weiter beschreiten sollten, weil die Chinesen die Produktion von Treibhausgasen vorantreiben. Wo auf der Welt
ist eigentlich momentan der Pfad gegeben? In China, in
Europa und in den USA geht man auf diesem Pfad voran.
Gott sei Dank machen die Chinesen das. Die Chinesen setzen übrigens ohne Scheuklappen auf alle Technologien. Sie bauen die Kernkraft genauso wie die erneuerbaren Energien und Kohlekraft massiv aus; denn sie
haben bei der Industrialisierung ihres Landes einen enormen Nachholbedarf. Sie hatten 1990 - ich weiß es nicht
genau auswendig - Emissionen in einer Größenordnung
von vielleicht 2 oder 3 Tonnen CO2 pro Person. Heute
haben sich die Emissionen bereits mehr als verdoppelt.
Das gleiche Problem gibt es in Indien. Deshalb ist es natürlich richtig, dass sie die erneuerbaren Energien ausbauen. Aber es gibt in der Welt noch viel mehr Möglichkeiten, wo wir Beiträge dazu leisten können, die
Energieeffizienz voranzubringen.
Tatsache ist, dass es trotz dieser massiven Investitionen in die erneuerbaren Energien und in die Energieeffizienz, was in China heute durchaus stattfindet - das erkenne ich ja auch an -, zu dieser Vervierfachung der
Emissionen gekommen ist. Wenn Sie die Prognosen für
die Wachstumsraten in China betrachten, dann sehen
Sie, dass die Emissionen dort weiter steigen werden.
Den Chinesen gelingt es in den nächsten 20 Jahren vielleicht, das zu erreichen, was wir von 1970 bis 1990 erreicht haben, nämlich das Wirtschaftswachstum vom
Emissionswachstum bzw. das Wirtschaftswachstum vom
Energieverbrauch zu entkoppeln. Wir haben unsere
Energieeffizienz verdoppelt. Das heißt, wir produzieren
die gleiche Einheit Bruttosozialprodukt nur noch mit der
Hälfte an Energieeinsatz. Das war in China bis 2010
noch nicht der Fall. Dort ist der Energieverbrauch im
Vergleich zum Wirtschaftswachstum überproportional
gestiegen. Sie sind jetzt massiv dabei, dieses Problem
anzugehen. Das ist richtig; denn sonst würden die Emissionen explosionsartig ansteigen. Faktenlage aber ist,
dass die CO2-Emissionen weltweit leider nicht gestoppt
wurden oder gar rückläufig sind, sondern weiter ansteigen. Es geht jetzt darum, sie zu bremsen.
Um Ihnen hier noch eine Zahl zu nennen: In ganz Europa hatten wir im Rahmen des Kioto-Protokolls von
1990 bis 2012 - dieser Zeitraum ist jetzt leider vorbei CO2-Emissionen in Höhe von rund 350 Millionen Tonnen eingespart. - Ich bin übrigens immer noch bei der
Beantwortung der Frage; schließlich hatten Sie mich zu
China gefragt. - 350 Millionen Tonnen CO2 sind durch
das Kioto-Protokoll in Europa eingespart worden. Wissen Sie, wie viel das ist? Das entspricht genau dem halbjährlichen Zuwachs an Emissionen in China im Jahr
2006. Das heißt, die CO2-Emissionen, die wir in Europa
durch das Kioto-Protokoll in 22 Jahren eingespart haben,
hat man quasi in China in 2006 in einem halben Jahr dazubekommen. Das ist leider die Realität. Deshalb ist es
notwendig, dass wir hier nicht nur einen europäischen
Ansatz suchen, sondern einen weltweiten Ansatz.
Sie fordern in Ihrem Antrag, dass das EEG mehr oder
weniger so erhalten bleibt, wie es jetzt ist, und dass das
Einspeiseregime so fortgeführt wird. Dass das nicht
funktioniert, haben wir in Deutschland, glaube ich, mittlerweile begriffen. Die jährliche Belastung allein durch
die EEG-Umlage beträgt inzwischen 24 Milliarden
Euro. Um sich das noch einmal zu vergegenwärtigen:
Nach den neuesten Zahlen summiert sich die Gesamtbelastung durch das EEG für die Zeit von 2014 bis 2030
- so die heutige Vorausschau; durch die langen Laufzeiten ist ja vieles schon festgelegt - auf rund 450 Milliarden Euro. Das ist das Eineinhalbfache des Bundeshaushalts.
Wenn Sie angesichts dieser Zahlen ernsthaft der Meinung sind, dass wir das in ganz Europa so betreiben können, muss ich Ihnen sagen: Das wird nicht funktionieren.
Wir haben gerade erfahren, dass bei dem Aland-Verfahren zwischen Schweden und Finnland der Generalanwalt
beim EuGH leider die Meinung vertritt, dass es europarechtswidrig und binnenmarktrechtswidrig ist, wenn
man eine Förderung der Erneuerbaren nur national betreibt. Wenn der EuGH so entscheiden sollte, dann
würde das bedeuten, dass unser EEG quasi für ganz Europa zur Verfügung stünde. Was das wiederum bedeuten
würde, ist, glaube ich, jedem klar: So kann es nicht weitergehen. Deshalb brauchen wir in Europa die Harmonisierung der Fördersysteme im Bereich der Erneuerbaren.
Nicht 28 unterschiedliche Regime der Förderung erneuerbarer Energien und am besten noch 28 Kapazitätsmärkte darf es geben. Den Binnenmarkt müssen wir entsprechend stärken. Es gilt, einheitliche Preiszonen - die
zentraleuropäische Preiszone ist hier Vorbild - sukzessive auszuweiten, sodass wir einen europäischen Strompreis haben. Dazu brauchen wir Interkonnektoren. Dazu
brauchen wir einen europäischen Netzausbau und, wie
gesagt, die Harmonisierung der Marktsysteme statt nationaler Kleinstaaterei. Es geht nicht an, zu sagen: „Wir
müssen das EEG so erhalten, wie es bisher besteht“, weil
es uns dann nicht nur in Deutschland, sondern auch in
Europa um die Ohren fliegt.
Leider machen Sie in Ihrem Antrag immer die Industrie, insbesondere die energieintensive Industrie, für den
angeblichen Anstieg der Strompreise verantwortlich und
führen das auf eine unsachgemäße Ausweitung des Fördertatbestands zurück; vorhin hat das der Kollege
Hofreiter auch wieder so dargestellt. Was ist der Sachverhalt? Wir haben in der Tat die Zahl der durch das EEG Begünstigten 2012 ausgeweitet; das waren vor allem mittelständische Unternehmen. Begünstigt ist jetzt nicht nur
eine dreistellige, sondern eine mittlere vierstellige Zahl
von Unternehmen. Nur: Die Strommenge, die zusätzlich
begünstigt ist, beträgt gerade einmal 10 Prozent.
({0})
Sie fordern, dass über die EU-Stromkompensationsrichtlinie entsprechend entlastet wird.
({1})
Was würde das bedeuten? Das würde bedeuten, dass beispielsweise die Bauindustrie oder die Zementindustrie in
Deutschland nicht mehr entlastet würde. Was wäre die
unmittelbare Folge? Das ist alles nachzulesen; das ist alles untersucht. Rund 60 Prozent der Zementproduktion
in Deutschland wären sofort gefährdet, und dann würde
aus dem Ausland nach Deutschland geliefert. Dem
Klima würde das überhaupt nichts nützen.
({2})
- Natürlich ist es so. Sie wollen die Entlastung abschaffen. Das Ergebnis wäre: Sie würden Hunderttausende
von Arbeitsplätzen vernichten, und Sie würden die Wertschöpfungsketten durchtrennen. Wir in der Bundesregierung sind gerade in intensivsten Gesprächen mit der EUKommission, damit dies nicht passiert.
Sie reden der Deindustrialisierung Deutschlands das
Wort.
({3})
Vielleicht ist das aber auch der wahre Hintergrund; denn
nur dann, wenn Sie die Industrie so vernichten, wie Sie
es vorschlagen, können Sie Ihre Reduktionsziele erreichen. In der Tat, wenn wir keine Aluminiumproduktion,
keine Stahlproduktion, keine Chemie mehr in Deutschland und Europa haben, können wir diese Reduktionsziele erreichen. Das ist aber nicht unser Weg.
Wir wollen den Ausbau der erneuerbaren Energien
wirtschaftlich vernünftig gestalten, in einem wettbewerblichen Rahmen. Wir wollen den Industriestandort
Deutschland und Europa erhalten, und das werden wir
auch tun. Das ist das Gegenteil von dem, was Sie in Ihrem Antrag vorschlagen. Diese Bundesregierung wird
dies in der nächsten Woche in und mit Brüssel hoffentlich auch erreichen.
({4})
Sie bekämpfen mit Ihrem Antrag eher den Standort
Deutschland, als dass Sie die europäische Energiepolitik
voranbringen.
({5})
Für die Linke erteile ich nun der Kollegin Eva
Bulling-Schröter das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
steht viel auf dem Spiel, und wir haben nicht viel Zeit.
Europäische Energiepolitik muss deshalb Klimaschutzpolitik sein.
({0})
Diese muss sich am 2-Grad-Ziel orientieren. Wenn ich
mir aber die Vorschläge der EU-Kommission zum Rahmen der Klima- und Energiepolitik anschaue, muss ich
sagen: Ich halte sie für eine Bankrotterklärung. Denn das
Ziel einer Minderung um 40 Prozent bis 2030 bedeutet
nichts anderes, als dass wir 2050 maximal bei minus
70 Prozent statt bei minus 80 bis 95 Prozent herauskommen. Wenn ich mir dann vorstelle, wie wir als EU-Verhandlungsdelegation nächstes Jahr in Paris dastehen
- wir sind ja mit dabei -, kann ich nur sagen: Eigentlich
können wir uns da gar nicht blicken lassen. Ich finde
das, was hier passiert, ganz peinlich.
({1})
Statt der nun vorgeschlagenen Reduzierung um 40 Prozent bräuchten wir als Ziel bis 2030 mindestens eine Re1546
duzierung um 55 bis 60 Prozent der CO2-Emissionen gegenüber 1990.
({2})
Auch der Vorschlag der Kommission im Hinblick auf
ein Reförmchen des europäischen Emissionshandels ist
absolut ungenügend. An den derzeit 2 Milliarden Überschüssen an Zertifikaten, die eigentlich sofort stillgelegt
werden müssten, wird mit der sogenannten Marktstabilitätsreserve eben kaum gerüttelt; das funktioniert alles
nicht, Herr Pfeiffer. Deshalb werden die CO2-Preise weiterhin im Keller bleiben; sie sind übrigens sogar niedriger als der Preis für eine Schachtel Zigaretten.
Auf gut Deutsch heißt das, dass weitere 10 bis
15 Jahre aus dem Emissionshandel kein Klimaschutz erwachsen wird. Wir rechnen es einmal hoch: Bis 2030
gibt es dann immer noch einen Überschuss von 650 Millionen Zertifikaten. Das kann einfach nicht sein; das
funktioniert nicht. Das ist eine weitere Bankrotterklärung. Da kann man nur noch baff sein. Schließlich sollte
der Emissionshandel das wichtigste Klimaschutzinstrument sein. Ich sage Ihnen: Er hat absolut versagt. Die
Dimension dieses Totalversagens ist bisher aber noch
gar nicht so öffentlich. Wir müssen auch die Bevölkerung darüber aufklären, was hier wirklich passiert.
({3})
Vor dem Hintergrund der deutschen Entwicklung bekommen diese EU-Bankrotterklärungen wirklich ein besonderes Geschmäckle. Denn Deutschland verabschiedet sich selbst von den Klimazielen; wir haben es ja
gehört, Herr Pfeiffer. Die Bundesregierung tut eben
nichts, um die dramatische Entwicklung der Kohleverstromung in Deutschland aufzuhalten. Mit hoffnungsvollen Augen hat man im Ausland auf die deutsche Energiewende geblickt. Sie war bislang ein Modell mit
Vorbildfunktion; „Energiewende“ ist ein Wort, das auch
im Ausland verwendet wird. Doch die Chance der Erneuerbaren, wegzukommen von monopolistischen
Kohle- und Atomkonzernen, hin zu kommunalen Stadtwerken, zur Bürgerenergie, wird gerade verzockt.
Ich sage Ihnen: Die massive Kohleverstromung ist
nicht der Preis, zu dem wir die Erneuerbaren haben wollten. Das ist Konsens in der Bevölkerung; das wollen die
Menschen nicht. Das ist auch nicht nur ein Wermutstropfen beim Ausbau der Erneuerbaren. Das ist eine völlig
verfehlte Politik, eine Politik, die vor der Kohlelobby
einknickt. Denn während Kohle so billig ist wie nie und
die Klimaziele in weite Ferne rücken, sind klimafreundlichere Gaskraftwerke nicht konkurrenzfähig. Wer will
ein solches Modell dann in Europa anpreisen?
Die Energiewende soll ausgebremst werden, und dadurch soll die Kohleverstromung weiter gestärkt werden.
Deshalb fordern wir ein nationales Kohleausstiegsgesetz. Wir wollen uns dabei unter anderem an Großbritannien orientieren.
({4})
Dort wird für jedes Kraftwerk ein festes CO2-Budget
festgelegt.
({5})
Somit werden also nicht direkt Kapazitäten begrenzt,
sondern produzierte Strommengen. Das ist dringend notwendig.
({6})
Ich sage Ihnen: Das würde im Übrigen auch einen erheblichen Teil des Netzausbaus einsparen. Die Proteste
werden Ihnen noch große Sorgen machen. Denn die
Menschen vor Ort wollen keine Stromleitungen für Kohlestrom, sondern höchstens solche für regenerative Energien.
({7})
Das ist auch gut so. Es muss diskutiert werden.
({8})
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Nächster Redner ist für
die SPD der Kollege Wolfgang Tiefensee.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Mit dem uns vorliegenden Antrag widmen sich
die Grünen einem wichtigen Aspekt der deutschen Energiewende, nämlich ihrer europäischen Einbindung. Wir
wollen diese Einbindung. Wir wollen genauso wie Sie,
Herr Hofreiter, dass der Kampf gegen den Klimawandel
in Deutschland Erfolg hat. Wir wollen, dass er in Europa
Erfolg hat; wir wollen auch, dass er international Erfolg
hat. Mit Blick auf Ihren Antrag müssen wir uns aber zunächst fragen: Was sind eigentlich die Voraussetzungen
für eine europäische Einbindung der deutschen Energiewende? Ich will drei Voraussetzungen nennen, die mir
zentral scheinen:
Erstens. Wir müssen uns vor Augen führen, dass die
energiepolitischen Rahmenbedingungen in den Mitgliedsländern der EU unterschiedlich sind.
Zweitens. Voraussetzung für eine europäische Verankerung der Energiewende ist ein kritischer Blick auf unsere eigene Energiepolitik, auf unsere Erfolge, die zweifellos vorhanden sind, aber auch auf unsere Irrtümer.
Drittens. Nicht zuletzt brauchen wir für die europäische Energiepolitik eine Vorstellung von einem gemeinsamen Rahmen, der den unterschiedlichen Bedingungen
in den verschiedenen europäischen Ländern Rechnung
trägt und schrittweise ausgebaut wird.
Auf diese Unterschiede - das ist meine Hauptkritik gehen Sie in Ihrem Antrag viel zu wenig ein. Dies führt
dann zu unterschiedlichen Einschätzungen, wie die
Energiewende auf europäischer Ebene verankert werden
kann. Das will ich im Einzelnen ausführen.
Deutschland wird sich für eine Reduktion der Treibhausgasemissionen innerhalb der EU um mindestens
40 Prozent bis 2030 einsetzen,
({0})
als Teil einer Zieltrias aus Reduktion der Treibhausgasemissionen, Ausbau der erneuerbaren Energien und Steigerung der Energieeffizienz.
({1})
Die Bundesrepublik macht sich stark für ein verbindliches Ziel für den Ausbau der erneuerbaren Energien
- das Ziel sind 30 Prozent -; das ist Bestandteil unseres
Koalitionsvertrages,
({2})
und das sagt auch die Bundesregierung bzw. der Minister an jeder Stelle.
Meine Damen und Herren, wenn wir von Europa reden, dürfen wir nicht nur die Europäische Kommission
im Blick haben. Der Ansatz, den ich geschildert habe,
deckt sich mit dem des Europäischen Parlaments. Das
Europäische Parlament hat im Februar dieses Jahres mit
drei verbindlichen Zielen der EU für das Jahr 2030 Akzente gesetzt, nämlich Reduktion der CO2-Emissionen
um mindestens 40 Prozent, Ausbau der erneuerbaren
Energien auf 30 Prozent und eine Senkung des Energieverbrauchs um 40 Prozent. Die Ziele im Antrag der Grünen sind zum Teil ambitionierter; ansonsten sind wir hinsichtlich der Zieltrias nicht weit auseinander.
({3})
Unseres Erachtens ist es wichtig, sicherzustellen, dass
jeder Mitgliedstaat einen verlässlichen Beitrag zum Erreichen dieser Zieltrias leistet. Ich kann Ihnen allerdings
nicht zustimmen, wenn Sie die nationale Energiewende
auch in Europa verankern wollen, um ihren Fortgang damit effizienter und schneller zu gestalten. Ich fürchte,
dass wir bei einer Erhöhung der Geschwindigkeit Gefahr
laufen, die Zustimmung der Bevölkerung zu verlieren,
weil wir sie und uns überfordern. Die Sicherheit der
Energieversorgung und die Bezahlbarkeit von Energie
müssen immer im Blick behalten werden.
Auch wenn wir Vorreiter sind, müssen wir die Belange unserer Partner berücksichtigen; denn wir sind auf
unsere Partner angewiesen. Beispielsweise haben wir die
Synchronisationsaufgaben im Rahmen unserer Energiewende noch nicht gelöst, also die Abstimmung von Angebot und Nachfrage. Derzeit bringen wir sozusagen unkontrolliert Strom aus erneuerbaren Energien zu unseren
Nachbarn. Das bringt beispielsweise Polen in Schwierigkeiten, weil dann dort die eigenen, konventionellen
Kraftwerke heruntergefahren werden müssen und rote
Zahlen schreiben.
Ein anderes Beispiel ist der EU-Emissionshandel. Die
Grünen fordern in ihrem Antrag, die von der EU-Kommission vorgeschlagene Marktstabilitätsreserve schon
deutlich vor 2020 einzuführen. Wir sind im Prinzip mit
dem Backloading, ja auch mit dem Set-aside einverstanden. Aber wir müssen innerhalb Europas auch die Belange der osteuropäischen Staaten berücksichtigen. Das
bereits anvisierte Backloading im Rahmen der vorübergehenden Herausnahme von 900 Millionen CO2-Zertifikaten macht den Staaten in Osteuropa große Sorgen.
Die größten Kooperationsmöglichkeiten in den Ländern der EU sehen wir darüber hinaus im Bereich der
Energieeffizienz. Deutschland zählt zu den wenigen Industrieländern, die es geschafft haben, wirtschaftliches
Wachstum und Energieverbrauch zu entkoppeln. Mit
diesem technologischen Pfund wollen wir wuchern. In
der zweiten Jahreshälfte wird das Bundeswirtschaftsministerium einen Gesetzentwurf zur Umsetzung der
EU-Effizienzrichtlinie in nationales Recht vorlegen.
({4})
Ein Weiteres: die EEG-Umlage bei energieintensiven
Unternehmen. Wir können nicht auf der einen Seite die
bestehenden Ausnahmeregelungen für die Industrie als
fehlgeleitete Politik bezeichnen und auf der anderen
Seite die Bundesregierung auffordern, sich mit Nachdruck für den Fortbestand der gültigen und erfolgreichen
Einspeisevergütung für erneuerbare Energien in Brüssel
einzusetzen. Auch wir sind für eine Verringerung der
Anzahl der Unternehmen, die unter die Ausgleichsregelung fallen. Aber dieser Zusammenhang muss auch mit
Blick auf Brüssel gesehen werden.
Ein weiterer Punkt betrifft die Einführung der Ausschreibungssysteme. Ja, es stimmt: Derzeit kommen die
Ausschreibungssysteme in der Praxis nicht gut weg. Wir
sollten aus den Fehlentwicklungen lernen. Wichtig ist,
dass wir unser Pilotvorhaben in einer Größenordnung
von 400 Megawatt für Photovoltaik-Freiflächenanlagen
starten, die Pilotversuche auswerten und dann gemeinsam nach Lösungen suchen, wie wir die kleinen Bürgerwindparks, gegebenenfalls zusammen mit den Stadtwerken, in ein solches Ausschreibungssystem bringen.
Dann können wir zum richtigen Zeitpunkt die Einführung von Ausschreibungssystemen diskutieren.
({5})
Zurück zu den Voraussetzungen. Ich plädiere dafür,
dass wir die unterschiedlichen europapolitischen Rahmenbedingungen im Blick behalten, dass wir einen kritischen Blick auf unsere eigene Energiepolitik bewahren
und dass wir eine Vorstellung für einen gemeinsamen
europäischen Rahmen entwickeln.
Wir lehnen den Antrag ab, da er die deutsche Energiewende unreflektiert in den Mittelpunkt einer europäischen Verankerung stellt
({6})
und durch das Ausblenden der unterschiedlichen Rahmenbedingungen in den Ländern einer europäischen
Energiewende nicht förderlich ist.
Vielen Dank.
({7})
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Kollegin Dr. Julia Verlinden, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Ich bin schon etwas verwundert:
Heute führen wir eine Debatte über ein solch wichtiges
Thema, aber weder die Umweltministerin noch der
Energieminister sind anwesend. Das finde ich sehr
schade.
({0})
Sie hätten vielleicht zu etwas Aufklärung beitragen können, was die Diskussion über die Zieltrias angeht. Das
scheint zwischen den Koalitionspartnern der Großen
Koalition noch nicht ganz geklärt zu sein.
Mein Kollege Toni Hofreiter hat es schon sehr treffend beschrieben: Wenn es um mehr Klimaschutz, um
mehr erneuerbare Energien und um mehr Energieeffizienz geht, dann ist von der Regierung des größten Landes in der EU, nämlich von unserer Bundesregierung, in
Brüssel nichts zu sehen und nichts zu hören. Das finde
ich beschämend.
({1})
Ganz anders sieht es aus, wenn es beispielsweise darum geht, neue CO2-Grenzwerte für die Automobilindustrie abzuwenden. Dann nämlich ist unsere Kanzlerin
Merkel ganz schnell in Brüssel, um allzu ambitionierte
Vorgaben zu verhindern. Liebe Frau Merkel, wollen Sie
wirklich von der einst gefeierten Klimakanzlerin jetzt
zur Klimaschutzblockiererin werden?
Herr Pfeiffer, ich bin sehr irritiert, was Sie zur Zieltrias gesagt haben. Wie gesagt, ich hätte mir hierzu etwas Aufklärung gewünscht. Ich habe Herrn Tiefensee,
aber auch die Umweltministerin in den letzten Wochen
und Monaten immer so verstanden, dass sie sich für eine
Zieltrias einsetzen wollen. Ich erwarte jetzt Taten. Beim
EU-Gipfel gibt es ja die Gelegenheit dafür. Auch
darüber hinaus gibt es sehr viele Möglichkeiten, gute
und effektive Klima- und Energiepolitik aus Brüssel zu
unterstützen - insbesondere in Bezug auf die Energieeffizienz.
Herr Pfeiffer hat das Thema Energieproduktivität angesprochen. Sie sagen, wir seien bei der Energieproduktivität schon sehr viel besser geworden. Herr Pfeiffer, Sie
machen bei der Statistik aber einen ganz großen Fehler:
Sie rechnen sie schön, wenn die Herstellung der Produkte, die wir importieren, in der Energiebilanz des Auslandes angerechnet wird. Sagen Sie doch einmal ganz
ehrlich, wie unsere Energieproduktivität tatsächlich aussieht. Bei der Energieeffizienz haben wir noch sehr viel
Potenzial.
({2})
Ich fordere von der Bundesregierung also, dass sie
sich jetzt mit Nachdruck für ein neues EU-Ziel zur Senkung des Energieverbrauchs einsetzt. Hier fordern wir
Grüne auch verbindliche nationale Ziele. Alles andere
wären einfach nur fromme Wünsche und keine ambitionierte und verlässliche Politik.
Wir wollen auch, dass Sie jetzt endlich die EU-Effizienzrichtlinie umsetzen. Es ist doch eine große gesellschaftliche und wirtschaftliche Chance, Einsparpotenziale zu nutzen und Innovationen voranzutreiben. Das ist
auch das Gegenteil von einer sogenannten Deindustrialisierung, die Sie uns vorwerfen, Herr Kollege Pfeiffer. Es
ist Fortschritt, wenn man effizienter wirtschaftet.
({3})
- Genau, man spart nämlich Energiekosten, wenn man
die Energie effizienter nutzt. Das ist richtig.
({4})
Die Bundesregierung hat das Thema Energieeffizienz
jahrelang verschlafen, Herr Fuchs, und vernachlässigt es
auch weiterhin. Ihr Prinzip lautet offenbar: Zuerst werden die Richtlinien in Brüssel verwässert, und dann werden sie in Deutschland nur leidlich oder verspätet oder
als Papiertiger umgesetzt. Das war in der Vergangenheit
bei der EU-Gebäuderichtlinie so, und das ist jetzt auch
bei der EU-Energieeffizienzrichtlinie zu befürchten.
({5})
- Ja, das werden wir sehen. Setzen Sie sich dafür ein,
Herr Becker.
({6})
Was zusätzlich den Eindruck vermittelt, dass es unserer Bundesregierung mit einer echten Energiewende
nicht ernst genug ist - das Thema wurde auch schon angesprochen -: Obwohl die geplanten Vorgaben der EU
für neue Beihilferichtlinien noch in der Diskussion sind
und Deutschland Einfluss nehmen könnte, plant Minister
Gabriel die von der Kommission nur vorgeschlagenen
Ausschreibungen für erneuerbare Energien in vorauseilendem Gehorsam schon einmal in seinem Gesetzentwurf zur EEG-Novelle mit ein. Genau das verhindert
doch, dass sich auch künftig BürgerenergiegenossenDr. Julia Verlinden
schaften und kleinere Unternehmen am Ausbau der erneuerbaren Energien beteiligen. Wollen Sie etwa keinen
Wettbewerb im Energiemarkt? Das würde mich doch
sehr wundern.
({7})
Herr Minister Gabriel - leider ist er jetzt nicht da,
aber vielleicht kann Frau Zypries ihm das ausrichten -,
ich wünsche mir, dass Sie aufhören, mit dem Finger auf
Brüssel zu zeigen und so zu tun, als könnten Sie nichts
ausrichten. Das Beispiel der CO2-Grenzwerte für Neuwagen zeigt doch: Deutschland kann sehr wohl Einfluss
nehmen. Sie haben es in der Hand, sich mit der Kommission in der EU zu einigen.
({8})
Es gibt ganz aktuell noch einen Punkt, wo Sie Europa
in die richtige Richtung lenken können: Wenn Kommissar Oettinger, den Sie ja nach Brüssel geschickt haben,
liebe Frau Merkel, jetzt nach Fracking ruft, dann antworten Sie ihm doch einfach: Fracking brauchen wir nicht.
({9})
Wir setzen lieber auf Energieeffizienz und erneuerbare Energien, auch im Wärmesektor. Nur so schaffen
wir dauerhafte Unabhängigkeit von Öl-, Kohle- und
Gasimporten, und nur so erreichen wir Versorgungssicherheit als nachhaltige Grundlage für unsere Wirtschaft.
Vielen Dank.
({10})
Nächster Redner ist der Kollege Thomas Bareiß,
CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine
Herren! Zu Beginn möchte ich der Fraktion der Grünen
ein Dankeschön für ihren Antrag aussprechen, weil ich
glaube, dass wir hier im Parlament viel zu wenig über
die Verankerung der Energiewende im europäischen
Kontext reden.
Nach dem Dankeschön muss ich aber gleich betonen,
liebe Frau Verlinden, dass Sie leider wieder auf halber
Strecke stehen bleiben. Ich möchte hier nur einmal einen
kleinen Satz aus Ihrem Antrag zitieren, weil er Ihre
Denke entlarvt und zeigt, dass Sie genau in die andere
als in die europäische Richtung gehen wollen. Ich zitiere:
Verbindliche nationale Ziele sind zudem … ein
wichtiger Schritt, die sich abzeichnende Renationalisierung der Energiepolitik abzuwenden.
Das ist genau das Gegenteil dessen, was Sie wollen.
Sie wollen keine europäische Energiepolitik. Sie konterkarieren mit diesen Sätzen Ihren guten Ansatz, mehr für
Europa zu tun. Wir brauchen gerade in der Energiewirtschaft mehr Europa. Wir brauchen gemeinsame verbindliche Ziele. Wir brauchen eine Harmonisierung der Gesetzgebung. Wir brauchen einen gemeinsamen stärkeren
Binnenmarkt. Wir brauchen eine gemeinsame Infrastruktur. Sprich: Wir brauchen mehr und nicht weniger
Europa in der Energiewirtschaft. Daran wollen wir gemeinsam arbeiten.
({0})
Lieber Herr Hofreiter, ich war angesichts Ihrer Rede
überrascht. Sie haben gesagt: Wir brauchen eine Beschleunigung der Energiewende. Frau Bulling-Schröter
hat von „Totalversagen“ gesprochen. Noch einmal: Wir
in Deutschland sind energiepolitisch Vorreiter in Europa.
Es gibt kein Land in Europa, es gibt kein Land in der
Welt, das so hohe energiepolitische Ziele hat wie
Deutschland. Wir wollen bis 2025 den Anteil der erneuerbaren Energien am Strommarkt auf 40 bis 45 Prozent
erhöhen, bis 2050 sogar auf 80 Prozent. Im Bereich des
Klimaschutzes wollen wir in Deutschland als nationales
Ziel bis 2020 die Emission von Treibhausgasen um
40 Prozent reduzieren. Wir wollen im Bereich Energieeffizienz bis 2020 20 Prozent des Primärenergieverbrauchs einsparen.
({1})
Diese drei Bereiche machen deutlich: Wir sind Schrittmacher in Europa. Wir sind Schrittmacher in der europäischen und weltweiten Energiepolitik.
Nicht nur in der Zielsetzung sind wir Schrittmacher
und an der Spitze, sondern auch in der Umsetzung.
({2})
Wir sind Weltmeister im Ausbau von erneuerbaren Energien. Wir haben einen so hohen Anteil an erneuerbaren
Energien wie kein anderes Land in der Welt: 24 Prozent
in 2013.
({3})
Wir hatten in den letzten Jahren einen Boom, den noch
nicht einmal Sie, Herr Krischer, vorhergesehen haben.
Das hat uns nicht immer nur gutgetan; auch das muss
man einmal sagen. Aber wir haben in den letzten Jahren
enorm viel aufgebaut.
Wir sind Weltmeister im Bereich der Energieeffizienz. Keine Volkswirtschaft ist trotz eines starken Wirtschaftswachstums 2011 so effizient wie Deutschland.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Baerbock?
Ja, gerne.
Weil Sie gesagt haben, wir seien in allem Weltmeister,
auch beim Ausbau der Erneuerbaren und beim Anteil der
Erneuerbaren am Strommarkt: Vielleicht können Sie einmal ein paar Zahlen aus anderen Ländern nennen, um zu
sehen, wo diese stehen.
Ich möchte ein paar Zahlen nennen, die mir bekannt
sind: In Costa Rica liegt der Anteil an erneuerbaren
Energien am Strommarkt bei fast 100 Prozent,
({0})
in Portugal bei 55 Prozent, und auch Dänemark können
Sie in dieser Hinsicht einmal googeln. Was sind denn
Ihre Zahlen, um zu vergleichen, wo die anderen Länder
stehen?
Sie sagen einfach, wir seien hier an der Spitze. Sie
könnten das bei einer Wirtschaftsmacht differenzieren.
Das haben Sie aber nicht getan. Deswegen möchte ich
eine Klarstellung bei solchen Behauptungen, die einfach
nicht stimmen.
({1})
Wissen Sie, Ihre Frage ist zugleich auch eine Antwort. Wenn Sie Costa Rica mit Deutschland vergleichen
wollen, dann kann ich nur sagen: Wir sind eines der
wichtigsten Industrieländer der Welt. Wir sind Exportweltmeister. Wir haben eine Bevölkerung von 80 Millionen Menschen.
({0})
Eine solche Volkswirtschaft wie unsere gibt es nicht
noch einmal in Europa. Wir sind der Motor Europas. Insofern sage ich: Für uns sind die Zahlen ganz anders zu
bewerten als für Costa Rica oder andere Länder. Insofern
möchte ich Sie bitten, auch einmal die Größenmaßstäbe
zu berücksichtigen. Daher nehme ich die Frage gerne zur
Kenntnis. Aber ich kann sie, offen gesagt, nicht ganz
ernst nehmen.
({1})
Wir sind Weltmeister auch im Bereich der Energieeffizienz. Ich möchte es noch einmal betonen: Wir haben
trotz unseres Wirtschaftswachstums 2011 - das war sehr
gut - den Energieverbrauch um 4,8 Prozent gesenkt. Wir
haben die Energieproduktivität seit 1990 um rund
40 Prozent erhöht. Die deutschen Maschinen- und Anlagenbauer sind in der Welt berühmt und geschätzt für ihre
Produkte mit hoher Energieeffizienz. Auch da haben wir
die Nase vorn.
Wir sind Weltmeister auch im Bereich des Klimaschutzes. Das Kioto-Ziel, das Deutschland vorrangig mit
unterstützt, haben wir trotz anderer Aussagen längst
übertroffen. Deutschland hatte sich vorgenommen, beispielsweise bis 2012 den Ausstoß der Treibhausgase um
21 Prozent zu reduzieren. Tatsächlich haben wir ihn um
25,5 Prozent reduziert.
({2})
Wir sind also nicht nur im Fahrplan mit unserer Reduktion des CO2-Ausstoßes, sondern wir sind sogar über das
hinausgegangen, was wir uns vorgenommen haben, liebe
Frau Höhn.
Ich bitte Sie, anzuerkennen, dass wir hier Vorreiter
sind, unsere Ziele nicht nur einhalten, sondern sie sogar
übertreffen. Ich fordere Sie nicht auf, darauf stolz zu
sein, aber Sie müssen immerhin anerkennen, dass die
Zahlen für uns sprechen und dass wir im Bereich des
Klimaschutzes wie kein anderes Land nach vorne kommen.
({3})
Bei all den Zielsetzungen, die wir haben, und bei der
Umsetzung tun wir das auch als Industrienation, wie ich
vorhin beschrieben habe. Wir wollen auch in den nächsten Jahren Industrienation bleiben, mit einem Industrieanteil von 23 Prozent oder vielleicht sogar noch mehr.
Wenn man berücksichtigt, dass mit 50 Prozent ein
Großteil des von uns produzierten Stroms in die Industrie fließt, dann muss man anerkennen, dass die Energiewirtschaft die Grundlage nicht nur für die Wettbewerbsfähigkeit unserer Produkte, sondern auch für unsere
Arbeitsplätze ist. Deshalb ist es nicht nur unser Anspruch, sondern auch unsere Verpflichtung, verantwortungsvoll mit dem Thema Energiepreise und Energiesicherheit umzugehen.
Eine Volkswirtschaft muss auch die Kraft haben, eine
solche enorme Herausforderung, wie sie schon von meinen Vorrednern beschrieben worden ist, stemmen zu
können. Bei all den Erfolgen, die wir erzielt haben, dürfen wir nicht vergessen: Wir haben beim Ausbau der erneuerbaren Energien meines Erachtens inzwischen die
wirtschaftliche und technische Belastbarkeitsgrenze erreicht. Denn Deutschland ist zwischenzeitlich nicht nur
Spitzenreiter in allen Ausbauzielen und Umsetzungsmaßnahmen geworden, sondern wir sind auch Spitzenreiter im Bereich der Stromkosten. Im Durchschnitt liegen die deutschen Strompreise 45 Prozent über dem EUSchnitt. Die Industriestrompreise liegen über 20 Prozent
über dem EU-Schnitt. Die neuesten Zahlen zeigen, dass
nur noch Dänemark, Malta und Italien höhere Industriestrompreise haben.
Deshalb müssen wir jetzt den Schwerpunkt auf Wirtschaftlichkeit und Energiesicherheit legen. Die Phase der
Markteinführung von erneuerbaren Energien ist überschritten. Wir müssen jetzt in eine neue Phase kommen.
({4})
Deshalb besteht auch Änderungsbedarf beim EEG.
Aktuell liegen schon Vorschläge vor. Wir brauchen jetzt
einen Systemwechsel. Einen verlässlichen Zubaukorridor für erneuerbare Energien packen wir jetzt an. Im
ersten Schritt müssen wir jetzt dafür sorgen, dass die Erzeuger erneuerbarer Energien verpflichtet werden, ihr
Produkt direkt am Markt zu platzieren. Damit schaffen
wir Systemintegration für erneuerbare Energien, und wir
schaffen Markt und Wettbewerb, der auf beiden Seiten
dringend gebraucht wird.
Im zweiten Schritt müssen wir den zukünftigen Zubau ausschreiben, also auch hier einen Systemwechsel
einleiten. Damit bekommen wir Verlässlichkeit für die
Planung der Infrastruktur auch im Bereich der fossilen
Kraftwerke und im Bereich der Speicher. Wir schaffen
darüber hinaus ein System, in dem der Preis für erneuerbare Energien vom Markt statt vom Deutschen Bundestag festgelegt wird. Auch das ist ein ganz wichtiger Systemwechsel, den wir einleiten wollen.
Herr Kollege Bareiß, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage der Kollegin Bulling-Schröter?
Ja, gerne.
({0})
Danke schön. - Sie haben gerade davon gesprochen,
dass die Industriestrompreise in Europa so hoch wären.
In einem Artikel der Berliner Zeitung von gestern ging
es um die Frage, ob die Energiewende die Aluminiumindustrie bedroht. Wir beide wissen, Aluminium ist sehr
energieintensiv. In dem Artikel steht, dass man in der
Aluminiumindustrie selbst in der Energiewende überhaupt keine Bedrohung sieht. Das schreibt die Berliner
Zeitung, die ja keine linke oder grüne Zeitung ist.
In dem Artikel heißt es weiter - ich zitiere -:
Derzeit ist die Energie für Industrieunternehmen so
billig zu haben wie seit neun Jahren nicht mehr.
Hinzu kommt, dass sich die Alu-Erzeuger von der
Ökostrom-Umlage befreien lassen können.
Soweit mir bekannt ist, liegen die Strompreise an der
Strombörse bei 3,5 Cent. Ich kann mich noch an meine
letzte Rede erinnern: Zu der Zeit lag Frankreich mit
Atomstrom bei 5 Cent.
Frau Kollegin Bulling-Schröter, Sie wollten eine
Frage stellen.
Meine Frage ist: Sind Sie der Meinung, dass in diesem Artikel gelogen wird?
({0})
Ich bin der Meinung, dass dieser Artikel ebenso wie Sie
die Lage verzerrt darstellt. Sie müssen sehen, dass der
Strombörsenpreis nicht die einzige Grundlage der Stromrechnung ist - das gilt auch für eine Aluminiumhütte -,
sondern es kommen noch weitere Faktoren hinzu. Eine
Aluminiumhütte zahlt zwar eine vergünstigte EEG-Umlage
in Höhe von 0,05 Cent pro Kilowattstunde Strom. Aber
diese Umlage ist angesichts eines Stromverbrauchs, der im
Terawattstundenbereich liegt, viele Millionen Euro hoch.
Damit sind die Kosten pro Arbeitsplatz in einer Aluminiumhütte mit 10 000 bis 20 000 Euro zu veranschlagen.
Ich bitte Sie, einfach mit Gewerkschaftsvertretern und
Betriebsräten von Aluminiumhütten zu sprechen. Diese
werden Ihnen die Situation deutlich darlegen. Dann werden Sie auch verstehen, dass wir hier Wettbewerbsnachteile haben, die wir dringend beseitigen müssen. Sonst
gehen die entsprechenden Wertschöpfungsketten verloren. Das ist weder in unserem Sinne noch im Sinne der
Energiewende und des Klimaschutzes.
({0})
Wir trauen den erneuerbaren Energien zu, sich dem
Markt zu stellen. Wir brauchen in diesem Bereich mehr
Markt und Wettbewerb. Die Vorschläge des Ministers
liegen nun auf dem Tisch. Wir werden hier den Minister
unterstützen und ihm helfen, diese Vorschläge Schritt für
Schritt umzusetzen. Je früher wir das anpacken, desto
besser ist es für die Energiewende.
Angesichts dessen, was wir in den nächsten Wochen anpacken, ist es wichtig, dass wir die Probleme im europäischen Kontext schrittweise lösen. Nur so können wir das
Thema Wettbewerb und Markt ganzheitlich angehen. Wir
knüpfen mit dem europäischen Gedanken auch an unsere
Geschichte an; denn es war immer Aufgabe der Europäischen Gemeinschaft, die Energieversorgung ganzheitlich
zu sehen und die Probleme, die wir bei Energiesicherheit
und Bezahlbarkeit der Energie sowie bei Umwelt- und
Klimaschutz haben, gemeinsam zu lösen.
Ich sehe hier viele Möglichkeiten der Zusammenarbeit, zum Beispiel beim Zubau von erneuerbaren Energien. Dieser wird oft sehr kritisch gesehen. Aber man
muss einfach anerkennen, dass wir in Deutschland
durchschnittlich 800 Sonnenstunden im Jahr haben,
während es in Spanien 2 600 bis 2 800 Sonnenstunden
sind. Deshalb stellt jede Photovoltaikanlage, die in Spanien und nicht in Hamburg oder Berlin gebaut wird, einen viel höheren Gewinn für die gesamteuropäische
Energiewende dar. Das wäre viel effizienter und günstiger. Wir müssen daher darüber nachdenken, wie wir gemeinsam die Potenziale Gesamteuropas Stück für Stück
besser nutzen können. Wir werden zwangsläufig zu einer
schrittweisen Harmonisierung gewisser Fördersysteme
kommen müssen.
Wir brauchen außerdem einen Ausbau der Infrastruktur. Gerade Deutschland als Herzland in Europa wird
von einem Ausbau der Infrastruktur profitieren, insbesondere von einer stärkeren Energiesicherheit, aber auch
von mehr Effizienz, die wir dadurch erzielen.
Herr Kollege Bareiß, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Lenkert?
Also gut, gerne.
Vielen Dank, Kollege Bareiß. - Ich möchte Sie fragen: Sie schlugen gerade vor, Solarenergie nicht in
Deutschland, sondern in Spanien zu produzieren, weil es
dort mehr Sonnenstunden gibt. Das stimmt. Aber ist Ihnen bekannt, dass die Entfernung zwischen Spanien und
der Bundesrepublik Deutschland etwa 2 500 bis 3 000
Kilometer beträgt und dass pro 1 000 Kilometer mit
Übertragungsverlusten in Höhe von 30 Prozent beim
Strom zu rechnen ist? Ist Ihnen weiterhin bekannt, dass
diese Übertragungsverluste mitnichten von den Solarstromproduzenten und der Großindustrie in Deutschland
- diese sind schließlich von den Netzentgelten befreit -,
sondern von den Verbraucherinnen und Verbrauchern
getragen werden müssen, die an den Stromtrassen leben?
Wenn der Stromverlust beim Transport von Spanien
nach Deutschland drei mal 30 Prozent beträgt, die Kosten aber nur auf die Verbraucherinnen und Verbraucher
umgelegt werden und neue Stromtrassen notwendig werden, ist es dann aus Ihrer Sicht wirtschaftlich noch sinnvoll, Solarstrom aus Spanien mithilfe der bestehenden
Netze nach Deutschland zu transportieren?
({0})
Lieber Kollege, ich erkenne an, dass wir beide anscheinend das gleiche Ziel haben, Strom zu bezahlbaren
Preisen zu produzieren. Wenn wir sehen, dass andere
Länder in Europa drei- bis viermal so viele Sonnenstunden haben wie wir in Deutschland, dann muss uns das
zum Nachdenken anregen. Sie wissen genauso gut wie
ich, dass es schon heute Technologien gibt, die die Übertragungsverluste deutlich verringern. Bei einer Hochspannungsgleichstromübertragung liegt der Verlust nicht
bei 30 bis 40 Prozent, sondern bei maximal 3 bis 4 Prozent.
Angesichts dessen ist es bedenkenswert, ob solche Leitungen in Europa Sinn machen und dafür geeignet sind, zukünftige starke Produktionszentren mit Lastzentren zu verbinden, die zum Beispiel in Süddeutschland liegen. Das
machen wir auch schon in Deutschland. Wir versuchen, in
den nächsten Jahren den Zubau von Windenergieanlagen in
Norddeutschland besser zu organisieren, weil es dort mehr
Volllaststunden gibt. Damit der Süden Deutschlands genügend Strom bekommt, brauchen wir aber Gleichstromübertragungsleitungen. Das machen wir auch hier. Deshalb
glaube ich, dass wir nicht nur national denken sollten,
sondern dass wir mehr europäisch denken sollten. Das
betrifft aber auch andere Bereiche, in denen wir die Nase
vorne haben. Es macht Sinn, darüber nachzudenken. Unter dem Strich wäre eine solche Lösung vielleicht sogar
günstiger als das, was wir heute machen.
({0})
Wir brauchen neben dem Ansatz einer ganzheitlichen
Betrachtung der erneuerbaren Energien auch einen Ansatz, der die konventionellen Kraftwerke berücksichtigt.
Wir werden auch in den nächsten Jahren stärker schauen
müssen, wie wir den Zubau von effizienten konventionellen Kraftwerken, die wir als Ergänzung zu volatilem
Sonnen- und Windstrom auch noch brauchen, gemeinsam
in Europa angehen. Wir brauchen gemeinsame Mechanismen - ich möchte nicht von Kapazitätsmechanismen sprechen - und Überlegungen, wie wir nicht nur national, sondern auch international vorgehen. Wir schaffen Instrumente
und Rahmenbedingungen, damit die Errichtung von solchen Kraftwerken möglich wird.
Wir werden auch in dem zukünftigen Strommix Kernenergie haben, Strom aus Kernenergie wird also auch
nach Deutschland gehen. Deshalb müssen wir auch hier
gemeinsame Standards finden. Das liegt in unserem gemeinsamen Sicherheitsinteresse. Auch das ist mir ein
wichtiges Anliegen.
Mein letzter Punkt betrifft den Klimaschutz. Auch
den müssen wir gemeinsam anpacken. Das habe ich
schon zu Beginn erwähnt. Wir brauchen auch in diesem
Bereich gemeinsame europäische Ziele. Der Kollege
Pfeiffer hat zu Recht gesagt, wir müssten überlegen, ob
wir das CO2-Ziel als oberstes Ziel thematisieren. Wir
brauchen nicht zwei oder drei Ziele, sondern es macht sicherlich Sinn, sich auf ein Ziel zu konzentrieren. Andere
Ziele werden sich diesem obersten Ziel unterordnen.
Unsere Ziele sind anspruchsvoll und eine Herausforderung. Wir haben Enormes vor. Noch einmal: Die Energiewende kann nur gelingen, wenn wir sie besser europäisch einbetten. Wir wollen dieses Projekt gemeinsam
starten.
Herzlichen Dank.
({1})
Vielen Dank, Herr Kollege Bareiß. - Ich erteile jetzt
der Kollegin Caren Lay, Fraktion Die Linke, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich möchte gerne auf das Thema der Industrieprivilegien zu sprechen kommen. Wir haben es gehört: Über 2 000 Industrieunternehmen sind inzwischen
von diversen Bestandteilen ihrer Stromrechnung befreit,
die dann die Verbraucherinnen und Verbraucher und die
nicht befreiten Unternehmen für sie mitbezahlen. Das
überprüft gerade die EU. Die Bundesregierung klagt dagegen. Ich habe von den Rednern der Koalition bisher
fast nichts dazu gehört, außer dass sie das in der bisherigen Form verteidigt haben; denn sie haben gesagt, das
sichere Arbeitsplätze und den Standort Deutschland.
Ich finde, wir müssten all denjenigen, die dieser Debatte zuhören, die ganze Wahrheit sagen. Die ganze
Wahrheit bedeutet, dass die Anzahl der befreiten UnterCaren Lay
nehmen nicht nur enorm angestiegen ist, sondern dass
die gesamte Konstruktion dieser sogenannten Industrierabatte auch erhebliche Pferdefüße hat. Erstens. Sozialpolitisch heißt das nichts anderes, als dass beispielsweise
der Hartz-IV-Empfänger oder die alleinerziehende Mutter für den Braunkohlekonzern Vattenfall die Stromrechnung mitbezahlen. Finden Sie das sozial gerecht? Wir
nicht.
({0})
Zweitens. Großbäckereien sind zum Teil von Stromkosten befreit, der Handwerksbäckerbetrieb an der Ecke
ist es aber nicht. Das hat doch nichts mit dem Standort
Deutschland zu tun. Das ist einfach nur wirtschaftspolitischer Unsinn.
({1})
So manches Unternehmen nimmt die derzeitige Regelung zu Industrierabatten zum Anlass, um feste Beschäftigung in Leiharbeitsverhältnisse umzuwandeln. Warum? Sie rechnen ihre Arbeitskosten künstlich herunter
und können dann als Ergebnis dieser sinnlosen Regelung
auch noch Stromkosten auf Kosten aller anderen Verbraucher einsparen. Das hat mit guter Arbeitsmarktpolitik überhaupt nichts zu tun. Das ist eine Einladung zum
Lohndumping. Deswegen lehnen wir das ab.
({2})
Andere Firmen rechnen ihre Stromkosten künstlich
hoch. Festtagsbeleuchtung am Wochenende, man lässt
auch einmal eine Maschine über Nacht laufen. Am Ende
wird man auch noch dafür belohnt. Wir sagen: Das ist
eine Einladung zur Energieverschwendung. So wie bisher kann es nicht bleiben.
({3})
Meine Damen und Herren, zur ganzen Wahrheit gehört, dass über 5 Milliarden Euro von Otto Normalverbraucher und Erika Mustermann für die privilegierten
Unternehmen an Stromkosten mitbezahlt werden. Wir
müssen an die Industrieprivilegien in der bestehenden
Form herangehen; denn so kann es nicht bleiben.
({4})
Herr Pfeiffer, wenn Sie hier schon den Standort
Deutschland bemühen, dann möchte ich dazu etwas sagen. Wenn wir über Wirtschaftspolitik und Arbeitsplätze
reden, dann möchte ich, bitte schön, dass wir auch über
die 400 000 Arbeitsplätze sprechen, die im Bereich der
erneuerbaren Energien in den letzten Jahren entstanden
sind. Die Vorgängerregierung hat mit ihrer verfehlten
Politik dafür gesorgt, dass schon Zehntausende Arbeitsplätze in der Solarbranche eingegangen sind, viele davon
in Ostdeutschland. Das ist eine Form von Deindustrialisierung, die wir als Linke ablehnen.
({5})
Deswegen muss ich auch sagen: Das, was Sie derzeit in
Form der EEG-Novelle vorhaben, hat mit einer nachhaltigen Wirtschaftspolitik nichts, aber auch überhaupt
nichts zu tun.
Ich sage: Wenn diese Regierung nur halb so viel
Energie darauf verwenden würde, das System der Industrieprivilegien zu reformieren anstatt den Ausbau der erneuerbaren Energien zu deckeln, dann wären wir schon
ein ganzes Stück weiter.
({6})
Meine Damen und Herren, auch wir Linke lehnen die
Industrieprivilegien nicht komplett ab; aber wir wollen
sie an sinnvolle Kriterien koppeln. Das erste Kriterium
wäre, dass ein Unternehmen tatsächlich im internationalen Wettbewerb steht. Das zweite Kriterium wäre, dass
ein Unternehmen technologiebedingt energieintensiv
produziert. Entschuldigen Sie, das kann ich weder bei
einer H&M-Filiale noch bei einem Golfplatz noch bei
einer Saunaanlage erkennen. Das dritte Kriterium wäre
- da gehen wir über die Vorschläge im Antrag der Grünen hinaus -:
({7})
Industrierabatte kann es nur dann geben, wenn es tatsächlich verbindliche Energieeinsparziele gibt. Ansonsten bleibt es nämlich bei dieser Einladung zur Energieverschwendung, und das kann so nicht bleiben.
({8})
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss.
Dieser Vorschlag wäre EU-konform. Er wäre sozial gerecht und würde uns dieses Beihilfeverfahren ersparen.
Mit unseren Vorschlägen zur Energiepolitik, die wir gestern vorgestellt haben, würde eine durchschnittliche
deutsche Familie im Jahr über 180 Euro an Stromkosten
sparen, ohne dass wir den Ausbau der erneuerbaren
Energien aufs Spiel setzen würden. Daran könnten Sie
sich vielleicht einmal ein Beispiel nehmen.
({9})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Kollegen Dirk Becker, SPD.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn so viele Redner vor einem gesprochen haben,
besteht immer das Problem, dass man von seinem Redemanuskript eigentlich abweichen muss, weil es einiges
klarzustellen gibt.
({0})
- Danke, Herr Staatssekretär.
Ich darf feststellen, dass sich die Frage stellt: Wo ist
eigentlich der Minister? Während wir hier Anträge beraten, während sich einige lohnenswerte Gedanken machen, verhandelt er derzeit mit der EU. Niemand weiß,
wie das Ganze ausgeht. Sie alle wissen ja, bereits seit
Dezember wird verhandelt. Also brauchen wir jetzt
keine Empfehlung, genau dies zu tun. Wir gehen davon
aus, dass wir mit Blick auf die Besondere Ausgleichsregelung relativ zeitnah Erfolg haben.
({1})
- Herr Krischer, Sie werden wissen, was die Bundesregierung will, wenn man sich mit der EU geeinigt hat.
Eines ist, strategisch gesehen, relativ clever:
({2})
Wenn man unterschiedliche Positionen zueinanderbringen will, dann sollte man den anderen nicht über die
Öffentlichkeit in die eigenen Karten gucken lassen.
({3})
Seien Sie sich sicher, dass folgende Dinge gelten:
Wir brauchen ein europarechtskonformes EEG. Die
Besondere Ausgleichsregelung, Frau Lay, ist einer der
Punkte, weswegen das EEG-Beihilfeverfahren läuft. Sie
haben recht: Die Ausweitung der Besonderen Ausgleichsregelung, die zu Fehlentwicklungen geführt hat
- deren Beurteilung ich teile -, ist der Grund dafür. Wir
werden dafür sorgen, dass die stromintensiven Unternehmen im internationalen Wettbewerb mit Blick auf die
Arbeitsplätze in Deutschland erhalten bleiben, dass es
aber in den Bereichen zu einer Reduzierung kommt, wo
eine solche Regelung einfach nicht verantwortbar ist.
Das dafür notwendige Vertrauen hat der Minister.
({4})
Ähnlich wie der Kollege Pfeiffer danke ich den Grünen für diese Debatte. Ich danke ihnen aber auch, weil
wir endlich wieder über Klimapolitik und Wirtschaftspolitik reden. Das sind keine Gegensätze, sondern wir
müssen sie beide gemeinsam erfolgreich betreiben.
({5})
Frau Verlinden, ich will über das Thema Zieltrias,
über die Ziele der Bundesregierung hier jetzt nicht mehr
groß reden. Sie haben vom Ministerium eine schriftliche
Stellungnahme zu Ihrer Anfrage bekommen. Darin steht,
dass die Regierung für die Zieltrias ist. Wir sind also
auch hier für ambitionierte Werte.
({6})
- Lieber Oliver Krischer, es ist doch so einfach, sich
hierhinzustellen und zu behaupten: Die Regierung verhindert, dass die EU sich auf das Ziel festlegt, die CO2Emissionen bis 2030 um mindestens 55 Prozent zu reduzieren.
Schauen wir einmal zurück auf die Verhandlungen.
Das Schlimme ist: Sie wissen ja, wie das Ganze gelaufen
ist. Dass überhaupt 40 Prozent erreicht wurden, ist nicht
gegen, sondern wegen Deutschland erreicht worden.
({7})
In den Verhandlungen, in denen die Naturschutzverbände 55 Prozent gefordert haben und wir bei unter
40 Prozent waren, hat es SMS-Verkehr zwischen den
Organisationen und den Verhandlungspartnern gegeben.
Dort hieß es: Wenn ihr 40 Prozent abschließen könnt,
dann macht das. In diesem Moment ist es dann genug. Dann kann man sich nicht zwei Stunden später hinstellen
und sagen: Es ist alles zu wenig. Hier muss man einmal
sagen: Wir danken dieser Bundesregierung, die dies
möglich gemacht hat. Das gehört zum Verfahren.
({8})
Ich bin aber auch bei Ihnen. Europäische Energiepolitik hört sich super an.
({9})
- Das Einzige, was bitter ist, ist, dass Sie nicht mitspielen können. Deshalb sind Sie sauer. Opposition ist Mist.
Ich weiß das.
({10})
Herr Krischer, ich will Ihnen Folgendes sagen. Es ist
einfach, sich hierhinzustellen und zu sagen, die Bundesregierung ist schuld, dass die 55 Prozent nicht durchgesetzt wurden. Das habe ich gerade gesagt. Es ist beispielsweise auch einfach, zu sagen: Ihr müsst sehen, dass
das Thema Kernenergie als Klimaschutzinstrument
herausgenommen wird.
Ich will eines ganz klar sagen: Ich bin in der Sache
bei Ihnen. Aber: Wenn Deutschland sagt: „Wir machen
keine Vereinbarungen mit, in denen das Thema Kernenergie als Klimaschutzinstrument steht“, dann versagen
uns im Gegenzug die Briten die Zustimmung zu den
40 Prozent. In Europa haben wir ein Einstimmigkeitsverfahren und kein Mehrheitsverfahren. Europa besteht
aus mehr Staaten als aus Deutschland. Wir können im
Bundestag nicht Richtung Europa gehen und sagen:
Macht das mal alle nach. - Die Realität der Energiepolitik in Europa ist eine andere. Gucken Sie nach Polen,
gucken Sie nach England, gucken Sie nach Frankreich.
Da ist es zu leicht, zu sagen: Die Bundesregierung ist
schuld, dass nichts passiert. - Der Unterschied zu
Deutschland ist: Bei uns wird die Energiewende sehr
stark von den Menschen im Land getragen. Im Endeffekt
hat die Politik das aufgenommen, was die Menschen in
diesem Land wollten. Fukushima war der entscheidende
Funke, dass alle mitgemacht haben. Nehmen wir doch
bitte einmal zur Kenntnis, dass in Polen, Frankreich und
Großbritannien die Debatte anders läuft.
Gestern hatte ich eine Delegation aus Asien zu Gast.
Sie sagten: Wir finden super, was ihr macht. Wir wollen
das auch. Bei uns zu Hause interessiert es keinen Menschen. Wie können wir Anreize schaffen? Wenn wir dies
politisch durchsetzen wollen, bekommen wir keine Unterstützung.
Wenn wir die Ziele in weiten Bereichen teilen, dann
müssen wir einen europäischen Prozess in Gang setzen,
der von den Menschen getragen wird. Wir Deutsche dürDirk Becker
fen nicht sagen: Wir stülpen euch etwas über. - Dafür
bekommen wir keine Mehrheit. Das muss man in der
realistischen Einschätzung der Europapolitik aussprechen.
({11})
Ich möchte kurz auf ein paar weitere Punkte eingehen.
Ich habe gerade etwas zur Besonderen Ausgleichsregelung gesagt. Hier erspare ich mir weitere Ausführungen.
Wir haben ein zweites großes Problem: Das ist der
Emissionshandel. Der Emissionshandel ist ein Hauptgrund, warum viele andere geplante Maßnahmen zurzeit
finanziell erschwert werden. Wir sehen zur Börse. Der
Emissionshandel hat unmittelbare Auswirkungen auf
den Börsenstrompreis in Deutschland. Es ist aber auch
Tatsache, dass der Anteil des Braunkohlestroms und die
CO2-Emissionen zunehmen. Es ist doch völlig klar, dass
wir dort handeln müssen. Ich verweise auf die Bundesumweltministerin, die das getan hat. Sie hat eindeutig
gesagt: Wir müssen beim Emissionshandel nicht die
900 Millionen Zertifikate aus dem Handel nehmen - ich
will dem Kollegen Schwabe nicht alles vorwegnehmen;
er wird das gleich noch ausführen -, wir brauchen die
2 Milliarden, und zwar schon 2016. Dann muss man in
den Verhandlungen die Mehrheiten organisieren. Klar ist
doch, dass auch wir diese Entwicklung kritisch sehen.
Wenn es so weitergeht, haben wir ein Problem mit den
Klimazielen; das muss man einmal aussprechen.
Ich sage Ihnen eines: Die EEG-Novelle zu kritisieren,
sie würde es an dieser Stelle verhindern, geht fehl. Das
ist nicht zutreffend. Diese Bundesregierung hat an mehreren Stellen, auch durch den Bundesminister für Wirtschaft und Energie, deutlich gemacht, dass das Thema
Energieeffizienz jetzt wieder den Platz auf der Tagesordnung einnimmt, den es verdient und den es beim letzten
Bundeswirtschaftsminister in dieser Form nicht gehabt
hat, wenn es bei ihm überhaupt einen hatte. Das will ich
zugestehen. Wir werden - das hat der Minister zugesagt - bezüglich der Umsetzung der Energieeffizienzrichtlinie so schnell wie möglich liefern. Vielleicht warten Sie die Lieferung ab und entscheiden dann. Ich
glaube, dass auch Sie an diesem Punkt viel Übereinstimmung finden werden.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({12})
Nächster Redner ist der Kollege Alexander Ulrich,
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist schon bedauerlich, wie es manchmal so mit dem Gedächtnis ist. Ich glaube, es ist ganz wichtig, dass wir
nicht mit doppelten Standards agieren. Der Beschluss
zum Atomausstieg in Deutschland, der mit dem Beschluss verbunden war, viel mehr erneuerbare Energien
zu erzeugen, und auch die Bestrebungen der Europäischen Union werden natürlich konterkariert, wenn der
Bundeswirtschaftsminister in die Ukraine fährt und sagt,
die Europäische Union solle Strom aus der Ukraine importieren. Denn über 90 Prozent der Stromerzeugung der
Ukraine stammen aus Kohle und Atom. Wie man dann
noch als Energieminister im Deutschen Bundestag eine
glaubwürdige Politik betreiben will, ist vollkommen
fraglich.
({0})
Eine europäische Energiewende im Interesse der
Menschen und der Umwelt hat eine klare Absage an nukleare und fossile Energieträger zur Voraussetzung. Aber
Gabriels doppelgleisige Irrfahrt durch die Energie- und
Klimapolitik und auch die Vorliebe für nukleare und fossile Energieträger bilden leider keine Ausnahme, weder
auf deutscher noch auf EU-Ebene. Eine Schwäche für
fossile Energieträger offenbaren die jetzt von der EUKommission vorgeschlagenen EU-Energie- und -Klimaziele. Sie spiegeln deutlich die Interessen der energieintensiven Industrie und der Stromkonzerne wider, und
zwar zulasten eines sozial-ökologischen Umbaus der europäischen Energieversorgung. Bleibt die EU bei diesem
kaum ambitionierten Kurs, blockiert sie damit alle noch
verbleibenden Möglichkeiten, den Klimawandel und
seine katastrophalen Auswirkungen auf Menschen und
Umwelt einzudämmen.
({1})
Ganz offensichtlich ist das von der EU-Kommission
aber genau so gewollt. Nicht die Interessen der Menschen und der Umwelt, sondern die Interessen der energieintensiven Industrien und der Atomlobby werden mit
solchen Zielen geschützt. Das zeigt sich zum Beispiel
daran, dass Fracking als europaweite Alternative gehandelt wird. Die Linke lehnt diese Technologie ab, die unverantwortliche Risiken für Bevölkerung und Umwelt
birgt, insbesondere auch für das Trinkwasser.
({2})
Weil hier so viel von dem Problem geredet wird, dass
unsere Nachbarländer noch auf Atomstrom setzen,
möchte ich sagen: Es ist zwingend notwendig, dass wir
endlich mit Euratom Schluss machen.
({3})
Es kann doch nicht sein, dass über Euratom in den letzten fünf Jahren fast 4 Milliarden Euro in eine Energieform investiert wurden, die wir eigentlich abschaffen
wollen. Deshalb müssen wir aus Euratom aussteigen.
Dazu eine Kritik am Grünen-Antrag: Sie wollen die
Energiewende europäisch verankern, aber gehen in Ihrem Antrag überhaupt nicht auf Euratom ein.
({4})
Aber man erreicht keine Energiewende, ohne das Thema
anzufassen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es muss auch endlich damit Schluss sein, dass wir den Bau von Atomreaktoren in der ganzen Welt mit Hermesbürgschaften finanziell absichern. Wenn das weiterhin betrieben wird, ist
das eine unglaubwürdige Politik.
({5})
Der Klimawandel, aus dem globale Probleme erwachsen, ist nur mit konsequenten und ehrgeizigen Klimazielen zu stoppen. Die Linke fordert deshalb die Bundesregierung auf, sich auf EU-Ebene für eine Reduktion der
Treibhausgasemissionen um mindestens 60 Prozent,
({6})
für eine Steigerung des Anteils der erneuerbaren Energien an der Stromversorgung auf 45 Prozent und für eine
Energieeinsparung von 40 Prozent im Endenergieverbrauch bis zum Jahr 2030 einzusetzen. Die Linke fordert
eine europaweite Energiewende, bei der auf nachhaltige
Energiequellen gesetzt wird, um eine klimafreundliche,
für alle Menschen bezahlbare und sichere Energieversorgung zu ermöglichen. Mit der jetzigen EU-Energie- und
-Klimapolitik werden wir dieses Ziel jedenfalls nicht erreichen.
({7})
Morgen wird EU-Energiekommissar Günther
Oettinger mit Mitgliedern des EU-Ausschusses sprechen. Seine Zuneigung zu gefährlichen Technologien
wie der Atomenergie und dem umstrittenen Fracking ist
allseits bekannt. Es bleibt nur zu hoffen, dass seine
Amtszeit als EU-Kommissar für Energiefragen in diesem Jahr endgültig abläuft.
({8})
Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. - Die Energiewende europäisch zu verankern, ist mit einem solchen EU-Kommissar nicht möglich.
Vielen Dank.
({9})
Als nächster Redner spricht für die CDU/CSU der
Kollege Karl Holmeier.
({0})
Sehr verehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Wir wollen das Zeitalter der erneuerbaren Energien so
schnell wie möglich erreichen. Bis 2050 wollen wir unsere Energieversorgung zu 80 Prozent aus erneuerbaren
Energien decken. Gleichzeitig wollen wir aber auch,
dass Energie bezahlbar, sicher und umweltverträglich ist
und bleibt. Anders als Sie, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, arbeiten wir mit
Nachdruck an der Erreichung dieses Zieles. Wir stellen
keine Anträge mit inhaltlich verfehlten Forderungen,
sondern wir handeln. Deshalb sind wir auch an der Regierung.
({0})
Klar ist, dass es die für den Umbau der Energieversorgung notwendigen Maßnahmen natürlich nicht zum
Nulltarif gibt. Daraus haben wir auch niemals einen
Hehl gemacht. Im Gegensatz zu Ihnen haben wir den
Kostenanstieg kommen sehen. Hinzu kommt, dass wir
uns mit einer Menge von Altlasten aus Ihrer Regierungszeit herumschlagen müssen.
({1})
Ich könnte hierbei noch auf die Bereiche Netzausbau,
Ersatzkapazitäten und Speicher eingehen. Denn dort haben Sie vieles versäumt.
Ich möchte mich auf den Bereich der erneuerbaren
Energien beschränken, weil alles andere zum Teil schon
angesprochen worden ist. Nehmen wir doch einmal die
Photovoltaik und die Entwicklung der Vergütungssätze
bei den Freiflächenanlagen als Beispiel. 2003/2004 waren es 45,7 Cent pro Kilowattstunde. 2005 waren es 43,4
Cent pro Kilowattstunde. Nachdem wir das EEG 2009
und 2012 novelliert haben, liegen wir aktuell bei einem
Vergütungssatz von 13,5 Cent pro Kilowattstunde. Diese
Zahlen muss man wahrscheinlich nicht weiter kommentieren.
Einen weiteren wichtigen Schritt zur Beseitigung Ihrer Altlasten und hin zu einer Dämpfung des Kostenanstiegs bei den erneuerbaren Energien gehen wir mit der
jetzt anlaufenden Reform des EEG.
({2})
Mit der Einführung der verpflichtenden Direktvermarktung und der Festschreibung des Systemwechsels hin
zum Ausschreibungsmodell werden wichtige Grundlagen für eine marktwirtschaftlichere Ausrichtung des
künftigen EEG gelegt. Auch wenn es an der einen oder
anderen Stelle noch Änderungsbedarf geben wird, gehen
die Regulierungen sicherlich in die richtige Richtung.
Wir sollten darüber hinaus den Mechanismus zur Berechnung der EEG-Umlage unter die Lupe nehmen.
({3})
Wenn eine feste Einspeisevergütung gezahlt wird, die erneuerbaren Energien aber gleichzeitig eine strompreisdämpfende Wirkung an den Spotmärkten entfalten, wird
die EEG-Umlage zwangläufig immer weiter steigen.
Das kann so nicht bleiben.
({4})
In den Strompreisen wird sich eine Überarbeitung des
EEG erst mittel- und langfristig bemerkbar machen.
Deshalb müssen wir auch darüber nachdenken, wie wir
die Verbraucher kurzfristig entlasten können. Denkbar
wäre zum Beispiel, dass die EEG-Umlage bei einem bestimmten Betrag gedeckelt und der durch diese Einnahmen nicht gedeckte Teil der Kosten anderweitig finanziert würde.
({5})
Zwei Modelle wären denkbar, auch wenn sie von
manchen zurzeit vielleicht noch kritisch gesehen werden. Möglich wären die Zwischenfinanzierung über einen Fonds oder die Finanzierung durch Einnahmen aus
der Stromsteuer. Bei der Zwischenfinanzierung durch einen Fonds würde der Betrag, der einen jährlichen Deckel
übersteigt, zunächst aus dem Fonds und nicht durch die
Stromkunden beglichen. Sobald die EEG-Umlage nominell wieder unter den Deckel sinkt, würde der Fonds
seine Auslagen erstattet bekommen. Dazu würde die
Umlage so lange bei dem Deckel belassen, bis der Fonds
auf null zurückgeführt ist. Denkbar wäre auch eine Finanzierung des den Deckel übersteigenden Betrags
durch die Stromsteuer.
Warum sollte man in der Debatte zum EEG nicht auch
über solche Modelle diskutieren? Auf diese Weise ließe
sich die Belastung für den Stromkunden durch die Kosten für das EEG konstant und damit kalkulierbar halten.
Das Verfahren würde somit eine Glättung und gegebenenfalls eine zeitliche Streckung der Belastung für die
Stromverbraucher bewirken und könnte damit große Belastungsunterschiede zwischen den Generationen vermeiden.
Sie sehen dies wahrscheinlich ganz anders, verehrte
Damen und Herren von den Grünen.
({6})
Das zeigt sich auch deutlich an den Forderungen in Ihrem Antrag. Sie bezeichnen das bisherige Einspeisevergütungssystem als effizient und fordern seine Fortsetzung.
({7})
Zudem fordern Sie die Rücknahme der geplanten Umstellung auf Ausschreibungsverfahren. Man sieht an dieser Stelle deutlich, dass Sie immer noch nicht verstanden
haben, worum es eigentlich geht.
({8})
Das zeigt sich auch am Beispiel der Entlastungen der
energieintensiven Industrien. Wir verfolgen den Ansatz,
dass wir die Bezahlbarkeit von Energie für alle Verbraucher, das heißt, für unsere Bürgerinnen und Bürger genauso wie für unsere Wirtschaft, gewährleisten wollen.
Das ist gerade in der Zukunft absolut notwendig.
Hierzu gehört auch, dass wir der energieintensiven Industrie unter die Arme greifen, damit sie ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit erhalten kann. Zwischen den
Zeilen Ihres Antrags muss ich lesen, dass Sie daran nicht
interessiert sind;
({9})
denn Sie sprechen sich für Einschränkungen an dieser
Stelle aus. Ich frage mich allerdings, wie Sie dann sicherstellen wollen, dass Deutschland ein wettbewerbsfähiger Industriestandort bleibt und unsere Unternehmen
- wie von den Linken angesprochen - nicht ins Ausland
abwandern.
({10})
Lassen Sie mich ein Beispiel nennen. Die Chemieproduzenten in Deutschland zahlen 61 Prozent höhere
Strompreise als ihre Wettbewerber in Frankreich.
Deutschland liegt mit 14 Prozent deutlich über dem
Durchschnitt aller 28 EU-Staaten. Diesen staatlich begründeten Wettbewerbsnachteil dürfen wir nicht weiter
verschärfen.
Es ist interessant, dass gerade Sie von den Grünen
diese Entlastungen ständig verteufeln, obwohl Sie diese
selbst eingeführt haben; was auch richtig war.
({11})
Darüber hinaus waren Sie es, die 2003 mit der zweiten
Novelle zum EEG die Ausnahmen ausgedehnt haben.
Ich darf eine Rede von Herrn Trittin aus der dritten
Lesung vom 13. November 2003 zitieren:
({12})
Deswegen haben wir dafür Sorge getragen, dass
beispielsweise nicht nur große, sondern auch mittlere Unternehmen von der Härtefallregelung profitieren können …
({13})
Hier sieht man einmal mehr, dass Sie Politik nicht mit
Vernunft, sondern nach Belieben machen.
({14})
Dabei nehmen Sie sogar in Kauf, sich selbst zu widersprechen.
({15})
Wir jedenfalls sind der Meinung, dass es vor dem
Hintergrund der neuesten Entwicklungen der EEG-Umlage - sie liegt jetzt bei 6,24 Cent pro Kilowattstunde umso gerechtfertigter ist, die energieintensiven Industrien zu unterstützen. Deshalb setzen wir uns in den laufenden Gesprächen mit der EU-Kommission dafür ein,
zu einer angemessenen Lösung zu kommen.
Wir wollen das Zeitalter der erneuerbaren Energien so
schnell wie möglich erreichen. Wir wollen die Bezahlbarkeit der Energieversorgung auch in Zukunft sicherstellen. Wir sind die Koalition, die das kann. Mit unserer
Energiepolitik sind wir auf dem richtigen Weg. Deshalb
lehnen wir den Antrag der Grünen ab.
Danke schön.
({16})
Als nächste Rednerin spricht die Kollegin Dr. Nina
Scheer, SPD.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Energiewende ist eine grenzüberschreitende Aufgabe. Insofern ist, wie alle Vorredner bereits verdeutlicht haben, das Thema des Grünen-Antrags
„Die Energiewende europäisch verankern“ richtig und
wichtig. Bei der Betrachtung, wie sich dies in und für
Europa vollzieht, sollte auch einbezogen werden, welche
Mechanismen in der Vergangenheit wie gewirkt haben.
Die Thematik verlangt von uns, das Verhältnis zwischen EU-Vorgaben und nationalen Regelungen grundlegend und sinnvoll auszutarieren und die auf europäischer Ebene zu verankernden Regelungsinhalte
umfassender und genauer zu benennen. Hierzu zählt
auch, eine europaweite Koordinierung der Best-PracticeErfahrungen vorzunehmen, statt Europa nur als eine
Harmonisierung „von oben“ zu begreifen. Der auf
Grundlage der Zieltrias für Klimaschutz, erneuerbare
Energien und Energieeffizienz etablierte Systemwettbewerb hat sich mehr als bewährt und sollte nicht grundlos
aufgegeben werden.
({0})
Mit dem EEG und der Vorrangregelung für erneuerbare Energien hat Deutschland bei einigen ErneuerbareEnergien-Trägern, insbesondere bei Wind-Onshore,
Photovoltaik, aber auch bei Biogastechnologie und Wasserkraft, entscheidend zur technologischen Weiterentwicklung beigetragen, sodass diese Technologien nun an
der Schwelle zum wirtschaftlichen Durchbruch stehen.
Allein hierdurch trägt Deutschland schon zu einer europäischen und internationalen Energiewende bei. Um ein
effektives Ineinandergreifen zwischen Europäischer
Union und nationaler Ebene für die Energiewende zu gewährleisten, hat es sich bewährt, auf der europäischen
Ebene die gemeinsame Richtung für die Energie- und
Klimapolitik vorzugeben, aber die jeweilige Ausgestaltung den Mitgliedstaaten zu überlassen, sowohl mit
Blick auf die sektorale Aufteilung als auch auf die Wahl
der Mittel. Dies entspricht auch den Erfordernissen des
Vertrags von Lissabon und dem dort festgeschriebenen
Subsidiaritätsprinzip. Die Notwendigkeit, das hiermit
benannte Verhältnis zwischen EU-Vorgaben und mitgliedstaatlichem Handeln sinnvoll auszutarieren, möchte
ich an folgenden Beispielen kurz benennen.
Mithilfe des Entwurfs der Beihilfeleitlinien, der unter
anderem Ausschreibungen für erneuerbare Energien vorsieht, versucht die Wettbewerbsdirektion derzeit, über
einen Beihilferahmen eine Art EU-Förderpolitik für erneuerbare Energien zu etablieren. Dies ist weder systematisch noch politisch akzeptabel und kann mit Blick
auf das Subsidiaritätsprinzip auch rechtlich nicht zulässig sein. Insofern, Herr Pfeiffer, möchte ich an dieser
Stelle kurz noch einmal klarstellen: Wenn unser Bundeswirtschafts- und -energieminister sich derzeit dafür einsetzt, im Kontext der Besonderen Ausgleichsregelung
mit der EU-Kommission zu einer Einigung zu gelangen,
dann bedeutet das keineswegs, dass an dieser Stelle Souveränitäts- und Gestaltungshoheiten abgegeben werden
sollen und hiermit eine Harmonisierung vorgenommen
wird. Diese ist eben nicht Kern des Auftrages, den er
dort wahrnimmt.
Am Beispiel des Energiebinnenmarktes möchte ich
auch noch auf etwas anderes hinweisen: In einem EUEnergiebinnenmarkt können mittels einer verstärkten
Vernetzung der Energie- und Strommärkte und durch einen stärkeren Austausch mit den Nachbarstaaten die
Kosten für den Umbau unseres Stromsystems deutlich
gesenkt werden. Mit einer größeren Verteilung gerade
der fluktuierenden erneuerbaren Energien wird die Netzund Systemintegration erleichtert, da es sowohl bei der
Prognose als auch bei der Bereitstellung von Ergänzungskraftwerken zu Ausgleichseffekten kommt. Dieser zutreffende Umstand wird aber leider häufig - fehlgeleitet - als
Argument für zentrale Versorgungsszenarien angeführt.
An dieser Stelle an meinen Koalitionspartner doch
auch die leise Kritik an den von Ihnen, Herr Bareiß, angeführten Szenarien. Dass es effizienter ist, Photovoltaik
insbesondere in Spanien auszubauen mit einem Minus
hierzulande - so habe ich Sie jedenfalls verstanden -,
wage ich doch zu bezweifeln.
({1})
Richtigerweise funktionieren die genannten Ausgleichseffekte einer verstärkten Vernetzung aber nur bei
einer dezentralen Strom- und Energieversorgung. Das
habe ich mit meiner Kritik gerade schon angemerkt. Der
Großteil der Strom- und Energiebereitstellung erfolgt
nämlich in Regionen, die damit jeweilig die Potenziale
für einen gegenseitigen Austausch vorhalten können.
Dieser erfolgt zwischen den Regionen. Folglich muss
die Möglichkeit zur dezentralen Steuerung für den Ausbau erneuerbarer Energien in den Händen der Mitgliedstaaten liegen. Weil es bei zeitweiligen Stromüberschüssen zu nicht geplanten Übertragungen in benachbarte
Stromsysteme kommt - das sind die sogenannten Ringflüsse über Polen und Tschechien bis nach Süddeutschland -, gibt es vonseiten der EU-Kommission derzeit Erwägungen, diesem Umstand in Form einer Abschaffung
der einheitlichen Preiszone Deutschland/Österreich
Rechnung zu tragen. Damit gäbe es innerhalb Deutschlands unterschiedliche Preiszonen und damit unterschiedliche Großhandelspreise.
Eine effektivere Antwort auf die genannte Problematik, die gleichzeitig einen kosteneffizienten Ausbau der
erneuerbaren Energien und damit auch eine entsprechende Auslegung der Erneuerbare-Energien-Anlagen
gewährleisten würde, wäre die Einführung einer sogenannten Generator- oder G-Komponente, so wie sie auch
der Koalitionsvertrag vorsieht. Danach würden sich alle
zukünftigen Erzeuger, auch die von erneuerbaren Energien, an den von ihnen mit verursachten Netzausbaukosten beteiligen. Dies vermittelt ein Allokationssignal für
die optimale Standortwahl mit den geringsten Gesamtsystemkosten. Die Wahl solcher Instrumente setzt aber
voraus, dass die Handlungsoption zur Wahl der besten
Mittel für Mitgliedstaaten oder Regionen erhalten bleibt
und nicht einzelne Instrumente EU-weit vorgegeben
werden; denn das würde der Möglichkeit zur Wahl entgegenstehen.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass aufgrund des
zunehmenden Anteils erneuerbarer Energien die Regeln
für die Ausgestaltung von Ausgleichsenergiesystemen
und der Netzentgeltstruktur angeglichen werden müssen.
Bei der Ausgestaltung dieser Netzkodizes im Rahmen
der europäischen Verankerung der Energiewende muss
darauf geachtet werden, dass der Umstieg auf erneuerbare Energien nicht erschwert bzw. verteuert wird.
({2})
Dem muss man sich insbesondere bei der Bundesnetzagentur - damit möchte ich auch meine Kollegen im
Beirat der Bundesnetzagentur ansprechen - widmen.
Die Energiewende europäisch verankern heißt also
- das sage ich abschließend und zusammenfassend -,
das Augenmerk stärker auf die Aufteilung der Verantwortlichkeiten auf den verschiedenen Ebenen zu lenken,
auf der europäischen und der nationalstaatlichen Ebene,
und den mit der Energiewende veranlassten Systemwandel vorzunehmen.
Vielen Dank.
({3})
Danke schön, Frau Kollegin. - Einen schönen guten
Tag von mir! - Die nächste Rednerin in der Debatte ist
Dr. Herlind Gundelach für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die zuverlässige Versorgung mit bezahlbarer Energie ist
für Europa von ganz entscheidender Bedeutung. Die Herausforderungen - Klimawandel, zunehmende Einfuhrabhängigkeit und höhere Energiepreise - betreffen
sämtliche EU-Staaten. Es reicht heutzutage eben nicht
mehr aus, energiepolitische Entscheidungen auf nationaler Ebene zu treffen. Das reicht nicht nur nicht aus, sondern wir müssen uns in Europa auf eine gemeinsame
Energiepolitik verständigen. Nur eine wirklich europäische Energiepolitik kann dauerhaft für Wettbewerbsfähigkeit, Nachhaltigkeit und Sicherheit der Energieversorgung in ganz Europa sorgen. Deshalb muss Europa
gemeinsam handeln, um die Versorgung mit wettbewerbsfähiger Energie nachhaltig sicherzustellen.
Diesbezüglich stimme ich auch den werten Kollegen
von der Fraktion der Grünen uneingeschränkt zu.
({0})
Was mich allerdings schockiert, ist Ihr Wie. Ihr gesamter
Antrag wird durchzogen von dem Leitmotiv „am deutschen Wesen soll die Welt genesen“.
({1})
Wir können unsere nationale Energiewendestrategie Europa nicht aufdrängen, selbst wenn wir noch so sehr von
ihr überzeugt sind. Sie jedoch fordern das in Ihrem Antrag ausdrücklich.
Ich möchte zunächst auf die europäische Rechtslage
eingehen. Über Jahrzehnte galt Energiepolitik in der EU
vornehmlich als Sache der Mitgliedstaaten, und Vereinbarungen wurden meist bilateral getroffen. Bis zum
Grünbuch 2006 gab es gar keine formale Grundlage für
gemeinsame Ziele. Erst mit dem Vertrag von Lissabon,
also 2009, wurde in den europäischen Verträgen eine explizite Zuständigkeit für Energie normiert. Vorher gab es
lediglich Regularien zu Kohle und Atomkraft. Mit dem
Art. 194 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union wurde 2009 im Rahmen des Lissabonner
Vertrags schließlich eine klare Kompetenz der EU für
Energie verankert, die ihr erstmals die Möglichkeit gab,
gesetzgeberisch tätig zu werden. Bis zu diesem Zeitpunkt beschäftigte sich die EU vornehmlich mit der Verwirklichung des Energiebinnenmarkts. Dies erklärt auch
die bis heute sehr unterschiedlichen nationalen energiepolitischen Strategien, beispielsweise bei der Nutzung
von Atomkraft, aber auch bei der Nutzung fossiler Energien und erneuerbarer Energien.
Als Ziele und Kompetenzbereiche wurden in Art. 194
folgende Punkte definiert: Vollendung des liberalisierten
Energiebinnenmarkts, Versorgungssicherheit, transeuro1560
päischer Netzausbau, weitere Förderung und Ausbau des
Bereichs der erneuerbaren Energien sowie die Steigerung der Energieeffizienz. Daraus folgt, dass die Entscheidungshoheit über den nationalen Energiemix und
die Wertigkeit der einzelnen Energiearten ausschließlich
Sache der Mitgliedstaaten ist und bleibt.
Hier kommen wir zu einem wichtigen Punkt. Sie fordern in Ihrem Antrag, dass die Bundesregierung in Brüssel darauf hinwirkt, dass die neuen Beihilferegelungen
Großbritannien daran hindern, eine Einspeisevergütung
für Strom aus Kernenergie einzuführen, weil sie der
Energiewende in Deutschland entgegenstehe.
({2})
- Die Energiewende ist in dieser Form, glaube ich, momentan ausschließlich in Deutschland ein Projekt.
({3})
Kurz: Sie erwarten, dass die Mitgliedstaaten in der Europäischen Gemeinschaft sich an unserer Energiepolitik
und unserer Energiewende orientieren, obwohl wir diese
ohne die Konsultation unserer europäischen Nachbarn
beschlossen haben. Das war rechtlich möglich, eine
Konsultation war nicht erforderlich; das möchte ich ausdrücklich betonen.
Wir müssen in Deutschland zur Kenntnis nehmen ob uns das freut oder nicht freut, steht in diesem Zusammenhang nicht zur Debatte -, dass in zahlreichen Ländern Europas und der Welt Kernenergie als nachhaltige
Energie betrachtet wird. Auf der ganzen Welt gibt es
Lehrstühle, die Sustainable Energy, also nachhaltige
Energie, erforschen und dabei zu dem Schluss kommen,
dass auch Kernenergie sustainable, also nachhaltig, ist.
Diese Sichtweise müssen wir zur Kenntnis nehmen, und
wir müssen akzeptieren, dass andere Länder deswegen
andere Wege einschlagen. So weit möchte ich dem Kollegen Becker von der SPD durchaus zustimmen.
({4})
- Das obliegt dann der nationalen Gestaltung und nicht
der europaweiten Gestaltung. Wenn diese Länder das als
sustainable einschätzen, dann ist das ihre Sicht der
Dinge, genauso wie wir unsere Sicht der Dinge haben.
({5})
Der Ausstieg aus der Kernenergie in Deutschland war
und ist parteiübergreifender Konsens und Wunsch der
Bevölkerung. Diese Entscheidung wird heute bei uns
von niemandem mehr infrage gestellt. Aber bisher beschreiten wir diesen Weg durchaus als Vorreiter in Europa mit allen Chancen, aber auch mit allen Risiken. Aus
meiner Sicht ist für eine erfolgreiche Energiewende immer noch die beste Strategie, andere Länder für unseren
Weg zu begeistern, woran wir in diesem Haus gemeinsam arbeiten sollten.
({6})
Wir müssen uns auch weiterhin darüber im Klaren
sein, dass unsere ambitionierten Klima- und Energieziele
nicht so einfach auf ganz Europa zu übertragen sind, insbesondere auch in Anbetracht der finanziellen Lage in
vielen Ländern nach der Wirtschafts- und Finanzkrise.
Wie wollen Sie zum Beispiel Spanien, Portugal und
Griechenland erklären, dass sie noch erheblich höhere
Investitionen für den Ausbau der erneuerbaren Energien
und der Steigerung der Energieeffizienz tätigen sollen?
Selbstverständlich bedeutet das auch neue Beschäftigung im Land. Aber was soll man tun, wenn sich ein
Land bereits jetzt die zu erbringenden Maßnahmen kaum
leisten kann? Was machen wir, wenn aufgrund unserer
strengen Ziele Teile der Industrie abwandern oder Betriebe schließen müssen? Dann haben wir in diesen Ländern letztlich mehr Arbeitslose, weniger Einnahmen und
damit auch weniger Geld für den Klimaschutz.
Einige Staaten liegen schon heute hinter den Zielen des
Klimaschutzabkommens. Schauen wir uns beispielsweise
die Förderung der Energieeffizienz im Gebäudebereich
an. Mit der EU-Gebäuderichtlinie von 2002 wurden in einigen Ländern erstmals energetische Grundanforderungen im nationalen Baurecht festgeschrieben. Nationale
Richtlinien existierten zuvor nur in Österreich, Belgien,
Dänemark, Finnland, Frankreich, Deutschland, den Niederlanden und Großbritannien.
({7})
Trotz dieser inzwischen einheitlichen Anforderungen
herrscht innerhalb der EU noch immer eine riesige Kluft
in Bezug auf die Einsparung von Energie.
({8})
So weist Bulgarien im Vergleich zu Dänemark beispielsweise eine zehnfach so hohe Energieintensität auf. So
weit zu der höchst unterschiedlichen Gemengelage, die
wir in Europa haben.
Kehren wir noch einmal zur Rechtslage in Europa
und zur europäischen Energiepolitik zurück. Die EU
setzt den Rahmen, und die Länder füllen ihn aus.
({9})
- Das ist ihre Aufgabe. - Folglich brauchen wir eine nationale Politik, die eine integrierte und nachhaltige europäische Strategie befördert und den Energiemarkt und
das Netz harmonisiert. Wir müssen unsere Politik in die
europäische Energiepolitik einbetten und nicht Europa
unsere Politik aufzwingen.
({10})
Wir müssen uns auf einen gemeinsamen Weg einlassen; denn sonst droht uns die Gefahr, irgendwann alleine
dazustehen. Diese Gefahr ist durchaus realistisch. Derzeit prüfen unsere Nachbarn in Polen und den Niederlanden den Bau von Stromsperren, sogenannten Phasenschiebern, da sie befürchten, dass unser schneller
Ausbau der erneuerbaren Energien ihre Netze überlasten
und damit zu einem Zusammenbruch ihrer Stromversorgung führen könnte. Wenn ich die Zeitungen heute richtig verstanden habe, dann haben sich die Bundeskanzlerin und ihr polnischer Kollege zu genau dieser Frage auf
einen Weg verständigt.
Wenn es also unser gemeinsames Ziel ist, unsere
Energiewende auf europäischer Ebene dauerhaft und
nachhaltig zu verankern, dann müssen wir unsere Instrumente auf den Prüfstand stellen. Dazu gehört auch das
EEG. Wir können nicht sagen, dass das EEG sakrosankt
ist und sich alle Rahmenbedingungen diesem Gesetz anpassen müssen. Wenn wir davon überzeugt sind, dass der
Markt noch immer die erfolgreichsten Lösungen hervorbringt, kann die Devise nicht lauten: „Wir passen den
Markt dem EEG an“, sondern sie muss lauten: „Wir machen das EEG marktkompatibel“.
({11})
In den Eckpunkten von Minister Gabriel, die auch
dem in Abstimmung befindlichen Referentenentwurf zur
Änderung des EEG zugrunde liegen, ist für neue Anlagen ab einer gewissen Größenordnung und in einem gestuften Verfahren die Direktvermarktung vorgesehen
und damit das Verlassen der Schutzglocke. Sollten wir
nicht auch darüber nachdenken, wie Bestandsanlagen
schneller an den Markt herangeführt werden können?
Eine sichere Stromversorgung zu wettbewerbsfähigen und sozial verträglichen Preisen ist mit einer
Dauersubvention von Erzeugungskapazitäten nicht
zu erreichen.
Wer langfristig eine nicht marktfähige Stromerzeugung aufbaut, zementiert Unwirtschaftlichkeit als
Prinzip der Energieversorgung.
({12})
Die letzten beiden Sätze sind nicht meine Worte, sondern das sind die Worte des Vorsitzenden der IG Bergbau, Chemie, Energie, Michael Vassiliadis, denen ich allerdings voll zustimme.
({13})
Denn ich bin davon überzeugt: Je marktwirtschaftlicher
wir das EEG ausgestalten, desto besser werden wir vermutlich auch mit dem EU-Beihilfeverfahren zurechtkommen, das die Kommission gegen die Bundesrepublik wegen des EEG und der damit im Zusammenhang
stehenden Besonderen Ausgleichsregelung eingeleitet
hat.
Sie gehen in Ihrem Antrag auch auf dieses Verfahren
ein und weisen es als unberechtigt zurück; denn die Sache sei ja schon entschieden, und das deutsche EEG-Fördersystem sei europarechtskonform. Damit sprechen Sie
vermutlich das PreussenElektra-Urteil des EuGH vom
März 2001 an. Der EuGH hatte damals festgestellt, dass
die gesetzliche Abnahmepflicht der Elektrizitätsversorger zu Mindestpreisen keine unerlaubte staatliche Beihilfe im Sinne des EU-Vertrages darstelle. Wie wir alle
wissen, stellt die EU-Kommission aber genau diese Entscheidung heute infrage.
Nun möchte ich mir nicht anmaßen, hier festzustellen,
ob diese Zweifel berechtigt sind. Fest steht allerdings,
dass 2001 der Anteil der Erneuerbaren an der Stromerzeugung bei nur wenigen Prozent lag; heute liegt er bei
knapp 25 Prozent. Von einer Nische - das war damals
ein Teil der Argumentation - kann also heute nicht mehr
die Rede sein. Insofern kann man sich durchaus die
Frage stellen, ob der EuGH heute noch zu dem gleichen
Urteil käme.
Ich möchte das auch noch durch ein paar Zahlen untermauern, die heute zwar schon gefallen sind, die die
Kostendimension aber noch einmal nachdrücklich verdeutlichen: 2001 betrugen die Umlagen nach dem EEG
noch 1,6 Milliarden Euro. In 2013 lagen wir bei
22,9 Milliarden Euro. Bis zum Jahr 2030 bedeuten das
knapp 400 Milliarden Euro an EEG-Ausgleichszahlungen, und dabei sind die Netzausbaukosten noch gar nicht
eingerechnet.
Bei meinen Überlegungen, das EEG durch eine Reform marktkonformer zu machen, möchte ich nicht so
weit gehen - das sage ich ganz bewusst - wie die Expertenkommission Forschung und Innovation der Bundesregierung, die die Abschaffung des EEG empfohlen hat.
Aber gerade in Anbetracht der gesamteuropäischen Situation müssen wir Anpassungen vornehmen, und diese
Anpassungen müssen mit dem EU-Rechtsrahmen übereinstimmen.
Ich denke, wir alle hier im Hause sind der Auffassung, dass wir auch weiterhin Besondere Ausgleichsregelungen für unsere energieintensiven und im internationalen Wettbewerb stehenden Unternehmen brauchen.
Wir brauchen sie gewiss nicht für alle Unternehmen, die
heute davon profitieren - da stimme ich mit Ihnen überein -, aber wir brauchen sie auch weiterhin für eine stattliche Zahl, und das erreichen wir nur mit der Kommission gemeinsam und nicht dann, wenn wir mit dem Kopf
durch die Wand gehen.
Insofern stimme ich der Überschrift Ihres Antrags
durchaus gerne zu, nicht aber dem Tenor Ihres Antrags,
der aus meiner Sicht wenig europäischen Geist aufweist.
Herzlichen Dank.
({14})
Danke, Frau Kollegin. - Nächster und letzter Redner
in dieser Debatte: Frank Schwabe für die SPD.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich glaube, auch in der Debatte ist deutlich geworden:
Die Grünen haben recht mit ihrer Auffassung,
({0})
dass das, was wir zum Thema Energiewende in Deutschland diskutieren und auch alle gemeinsam durchsetzen
wollen, eng verbunden ist mit dem, was auf europäischer
Ebene passiert. Das ist einfach so. Das ist bei den EU2030-Zielen so. Das ist bei den erneuerbaren Energien
so. Das ist auch im Emissionshandel so. Unsere Sorge ist
allerdings, auch anlässlich der Debatte innerhalb der Europäischen Union, dass Europa in dem Bemühen, internationaler Vorreiter zu sein, zurückfällt. Dafür gibt es
Gründe.
Ein Grund ist, dass wir mittlerweile eine sehr heterogene Europäische Union haben - mit 28 Staaten mit
ganz unterschiedlichen Interessen; Polen sei nur beispielhaft genannt. Ein Grund ist aber auch - ich kann
dem Koalitionspartner nicht ersparen, das zu sagen -,
dass wir eigentlich vier verlorene Jahre hatten
({1})
für den Klimaschutz und für eine innovative Klimapolitik in Deutschland und, finde ich, auch in der EU, weil
Deutschland ja eine bestimmte Position innerhalb der
EU einnimmt. Ich will das der Einfachheit halber einmal
der FDP und vielleicht gar nicht der Union zuordnen.
({2})
Es gab durchaus Umweltminister der Union, die das Bemühen zeigten und denen ein gewisser guter Wille nicht
abzusprechen war, eine ambitionierte Politik zu machen.
Aber die Union war am Ende gefesselt, und zwar europäisch. Das hat dazu geführt, dass sich Deutschland,
wenn es um bestimmte energiepolitische und klimapolitische Fortschritte ging, an den entscheidenden Stellen
verweigert und mit Nein gestimmt oder sich der Stimme
enthalten hat.
({3})
Ich glaube, das ist ein zentrales Argument dafür, dass
man der EU-Kommission - jedenfalls ein bisschen Hasenfüßigkeit unterstellen kann, was eine ambitionierte
Politik für die nächsten Jahre betrifft.
Zusammen mit den Kolleginnen Höhn und Baerbock
war ich vor einigen Tagen in Washington auf einer Konferenz von GLOBE, einer internationalen Parlamentarierorganisation. Wir haben uns die Ergebnisse einer
Studie über 66 Staaten auf der Welt und ihre Bemühungen im Bereich des Klimaschutzes sowie bei der Entwicklung hin zu einer innovativen, progressiven Energiepolitik vorlegen lassen. Im Juni dieses Jahres wird es
eine neue Studie geben - ihre Ergebnisse werden uns in
Mexiko vorgestellt -, in der die entsprechenden Bemühungen von über 100 Staaten in der Welt untersucht wurden. Insofern: Wir sind nicht alleine, sondern wir diskutieren über dieses Thema auch in den USA und in China.
Wer sich darüber näher informieren will, kann das dort
vor Ort tun. Es ist unglaublich spannend, was sich gerade in China auf diesem Gebiet entwickelt.
({4})
Ich finde, man muss das Wettbewerbsargument zumindest relativieren. Die anderen Länder bewegen sich,
auch wenn sie international an vielen Stellen nicht bereit
sind, sich zu verpflichten; das hat andere internationale
Gründe. Aber sie befinden sich durchaus in einer Entwicklung. Ich finde, es wäre genau richtig und wichtig,
wenn Europa eine progressive Klima- und Energiepolitik betreiben würde. Das wäre gut, nicht nur für den
Klimaschutz, sondern auch im Hinblick darauf, dass
Deutschland eine innovative Volkswirtschaft sein will;
dafür müssen wir auch die politische Kraft haben. Es
entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass Deutschland,
obwohl in den letzten vier Jahren eher Bremser in der
Europäischen Union, mittlerweile wieder progressiv ist
und auch als progressive Kraft wahrgenommen wird.
Ich will schon sagen, auch in Richtung der grünen
Fraktion: Ich glaube, man kann nicht bestreiten, dass
Deutschland in allen Debatten, die in der Europäischen
Union aktuell geführt werden, als eher progressiv wahrgenommen wird
({5})
und dass zur Kenntnis genommen wird, dass Barbara
Hendricks als Ministerin deutlich gemacht hat: Wir
wollen ein Sofortprogramm für den Klimaschutz in
Deutschland, und wir wollen auch einen Klimaschutzplan mit gesetzlichen Elementen innerhalb Deutschlands. - Außerdem haben wir uns beim Thema Backloading klar positioniert, und zwar schon im Rahmen der
Koalitionsverhandlungen. Es gab eine neue und - da bin
ich mir sicher - dauerhafte Harmonie zwischen dem
Umwelt- und dem Wirtschaftsministerium. Das tat unserer Position gut, auch innerhalb der Europäischen Union.
Aber - da haben Sie durchaus recht - das reicht nicht.
Wenn wir mittelfristig eine Entwicklung weg von fossilen Energieträgern einleiten wollen - ich sage ausdrücklich: nicht sofort, aber mittelfristig sehr wohl -, dann
geht das nur mit einem funktionstüchtigen Emissionshandel. Zurzeit ist er schlichtweg nicht funktionstüchtig.
Ministerin Hendricks hat vollkommen recht: Um ihn
funktionstüchtig zu machen, muss das Backloading dauerhaft sein, brauchen wir eine weitere Herausnahme von
2 Milliarden Zertifikaten, brauchen wir den Mechanismus der sogenannten Marktstabilitätsreserve nicht erst
2021, sondern schon 2016. Ich persönlich füge hinzu:
Diejenigen, die einen funktionstüchtigen Emissionshandel haben und das Ganze marktwirtschaftlich regeln
wollen, müssten ein Rieseninteresse daran haben. Denn
es gibt gar keine Alternative dazu, auch über Mindestpreise, CO2-Steuern und andere Steuerungsmöglichkeiten zu diskutieren, auch im nationalen Kontext; das ist
doch völlig klar.
({6})
Wenn der Emissionshandel nicht funktioniert, dann werden wir ganz automatisch andere Diskussionen bekomFrank Schwabe
men, oder wir müssen unsere Klimaschutzambitionen
beiseitelegen.
In der Tendenz haben die Grünen, glaube ich, recht.
Bei den 2030-Zielen ist die Kommission bisher zu unambitioniert gewesen. Deshalb will ich betonen: Es ist
die Große Koalition, die sich in Übereinstimmung mit
Forderungen des EU-Parlaments im Koalitionsvertrag
vorgenommen hat, im Rahmen der zukünftigen Politik
der Europäischen Union drei Ziele zu verfolgen: ein
CO2-Ziel, ein Ziel hinsichtlich der erneuerbaren Energien und ein Energieeffizienzziel.
({7})
Was das CO2-Ziel angeht, will ich ausdrücklich betonen: Wir reden von mindestens 40 Prozent. Es kann im
Zweifelsfall auch ein bisschen mehr sein. Hier geht es
nicht um Belieben; wir würfeln uns ja kein Ziel. Das hat
vielmehr damit zu tun, dass wir das 2-Grad-Ziel einhalten wollen. Dazu haben wir uns völkerrechtlich verbindlich verpflichtet. Wenn man dieses Ziel einhalten will,
dann muss man sich entsprechend bewegen.
Auch wenn über den Antrag der Grünen heute noch
nicht abgestimmt werden soll, war die Debatte darüber,
glaube ich, gut und sinnvoll; denn sie hat deutlich gemacht, dass wir im Bundestag fraktionsübergreifend eine
bestimmte Position, eine bestimmte Erwartungshaltung
haben. Mit dieser Debatte stärken und ermuntern wir die
Bundesregierung und die Bundeskanzlerin, sich auf dem
in der nächsten Woche stattfindenden europäischen Gipfel für zweierlei einzusetzen: Erstens. Wir brauchen, um
die Energiewende in Deutschland umsetzen zu können,
dringend einen funktionierenden europäischen Emissionshandel. Das ist die Aufgabe, die wir ihr gemeinsam
mit auf den Weg geben. Zweitens. Wir brauchen mit
Blick auf 2030 starke Ziele für den europäischen Klimaschutz. Solche Ziele täten auch unserer Innovationskraft
und unserer Wettbewerbsfähigkeit gut.
Glückauf!
({8})
Vielen Dank, Kollege Schwabe.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/777 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind sicher damit
einverstanden. - Ja; ich sehe nichts anderes. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Joachim Pfeiffer, Hansjörg Durz, Axel
Knoerig, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Wolfgang Tiefensee, Lars Klingbeil, Matthias
Ilgen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Technologie-, Innovations- und Gründungsstandort Deutschland stärken - Potenziale
der Digitalen Wirtschaft für Wachstum und
nachhaltige Beschäftigung ausschöpfen und
digitale Infrastruktur ausbauen
Drucksache 18/764 ({0})
Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({1})Ausschuss Digitale Agenda ({2})-
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur-
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung-
Ausschuss für Kultur und Medien-
Federführung strittig
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Halina
Wawzyniak, Herbert Behrens, Dr. Petra Sitte,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Digitale Gründungen unterstützen - Zukunftsfähige Rahmenbedingungen für die
digitale Wirtschaft schaffen
Drucksache 18/771
Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({3})Ausschuss Digitale Agenda ({4})Ausschuss für Verkehr und digitale InfrastrukturFederführung strittig
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. - Auch da höre
ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort
Brigitte Zypries für die Bundesregierung.
({5})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Ich möchte den Koalitionsfraktionen zunächst Dank sagen für diesen umfassenden Antrag. Er ist
eine Zusammenstellung von allen möglichen, quer durch
die Ressorts gehenden Themen, die uns diese ganze
Legislaturperiode begleiten werden und an denen wir
uns abarbeiten werden. Vor allen Dingen gibt er uns die
Gelegenheit, jetzt, kurz nach der Einsetzung des Ausschusses für Digitale Agenda, wieder in diesem Haus
über die digitale Agenda zu diskutieren. Das finde ich
gut. Dieses Thema ist nämlich hochaktuell.
Sicherlich waren die meisten von Ihnen wie ich auf
der CeBIT und haben sich dort informiert. Die CeBIT
steht in diesem Jahr unter dem Motto „Datability“; das
ist ein Kunstwort, das sich zusammensetzt aus „Big
Data“, „Responsibility“ und „Sustainability“, also Big
Data in Verbindung mit Verantwortung und Nachhaltigkeit. Ich denke, das Kunstwort „Datability“ umreißt sehr
gut, vor welche Aufgaben die IT-Branche uns stellt. Es
werden inzwischen große Datenmengen verarbeitet, und
diese Datenmengen werden immer größer. Bei der Verarbeitung muss die Sicherheit gewährleistet sein. Die
Menschen müssen sich darauf verlassen können, dass
ihre Daten nicht unrechtmäßig gebraucht werden. Wenn
doch, funktionieren auch zahlreiche Geschäftsmodelle
nicht, wie man gerade in den letzten Tagen gut sehen
konnte. Von daher, glaube ich, sollten wir uns alle damit
beschäftigen, welche Voraussetzungen und Rahmenbedingungen die IT-Branche braucht.
Ich will ein paar Worte sagen zu dem, was die Bundesregierung vorhat. Wir haben in Deutschland, wie in
dem Antrag zutreffend dargestellt wird, eine gute
Ausgangslage: Deutschland zählt zu den 15 wichtigsten
IT-Standorten, die IT-Branche ist ein enormer Beschäftigungsfaktor und vieles mehr; ich will das jetzt nicht alles
wiederholen. Ich will Ihnen sagen, dass die Bundesregierung mit der digitalen Agenda die Rahmenbedingungen
dafür schaffen wird, dass geschieht, was Sie in Ihrem
Antrag fordern: dass Deutschland zum digitalen Wachstumsland Nr. 1 wird.
Am Montag haben sich auf der CeBIT der Wirtschaftsminister, der Innenminister und der Minister für
Verkehr und digitale Infrastruktur zu den zentralen
Punkten der digitalen Weiterentwicklung von Gesellschaft und Wirtschaft erstmals gemeinsam geäußert und
damit quasi gemeinsam die notwendigen Punkte für die
digitale Agenda vorgetragen.
Wir haben in der Bundesregierung die Einrichtung eines festen Koordinierungsmechanismus verabredet, um
die verschiedenen Maßnahmen der einzelnen Häuser
wirksam aufeinander abzustimmen. Das ist nötig und hat
nichts mit Streitereien zwischen den Häusern zu tun, wie
der eine oder andere Journalist einem jetzt schon wieder
in den Mund legen will; denn selbstverständlich bleiben
Überschneidungen nicht aus, wenn alle Häuser irgendwie mit diesem Thema befasst sind. Ich denke zum
Beispiel an die Bereiche digitale Wirtschaft, Ausbau der
Infrastrukturen, Datenschutz oder Datensicherheit in
Unternehmen. Daran sind notwendigerweise verschiedene Häuser beteiligt. Dafür brauchen wir Mechanismen
der Abstimmung. Das kennen wir, und das können wir.
Alle Ressorts werden die verschiedenen politischen
Vorhaben in ihrem Bereich konkretisieren. Das werden
wir dann gemeinsam diskutieren. Wir haben nämlich
auch das erklärte Ziel, dass diese digitale Agenda nicht
allein an Beamtenschreibtischen in den Ministerien entsteht, sondern wollen sie gemeinsam entwickeln, gemeinsam zunächst mit dem Deutschen Bundestag, wie
Sie das in Ihrem Antrag richtig fordern, aber auch gemeinsam mit allen anderen relevanten Akteuren, mit den
Gewerkschaften, den NGOs usw. Wir werden dazu auch
die bestehenden Plattformen nutzen, sowohl den Nationalen IT-Gipfel wie auch Gremien wie den Beirat „Junge
Digitale Wirtschaft“. Gemeinsam wollen wir gleichermaßen innovative wie gesellschaftlich akzeptierte
Lösungsansätze für die Datenwirtschaft und die private
Onlinekommunikation erarbeiten.
Lassen Sie mich kurz noch einige Stichworte zu den
Schwerpunkten sagen, die wir im Bundesministerium
für Wirtschaft und Energie setzen wollen. Ein wichtiger
Punkt, der auch auf der CeBIT deutlich adressiert wird,
ist das Thema „Industrie 4.0“. Wir werden uns Anfang
nächsten Monats auf der Hannover-Messe etwa ansehen
können, wie die Datenverarbeitung und die Zuordnung
von Internetadressen zu einzelnen Maschinen neue Produktionsmöglichkeiten eröffnet. Das ist ein wichtiges
Thema, das wir vorantreiben wollen. Das machen wir
auch deutlich durch eine Umorganisation in unserem
Hause.
Wir wollen das hohe IT-Sicherheitsniveau, das wir in
Deutschland schon haben, weiter ausbauen. Sichere
Informationstechnologie Made in Germany soll eines
der Markenzeichen werden.
Wir wollen natürlich die Unterstützung der jungen
kreativen und innovativen Unternehmen und des Mittelstandes. Insofern finde ich, dass der Antrag der Linken
zu diesem Thema etwas zu kurz greift; denn er bezieht
sich nur auf die Rahmenbedingungen zur Gründung von
Start-ups im Bereich der digitalen Wirtschaft. Ich meine
aber, dass wir durchaus auch die jungen Kreativen und
Kulturschaffenden mit ihren Start-ups mit einbeziehen
sollten und nicht nur an die digitale Wirtschaft denken
sollten. Wir sehen das Ganze etwas breiter.
({0})
Wir hoffen und wünschen, dass wir in allen Punkten
gut zusammenarbeiten werden. Gerade bei den Start-ups
sollten wir die Kreativität und die Innovationskraft
locken. Wir wissen ja: Es gibt eine Weiterentwicklung in
diesen Technologiefeldern im Grunde nur mit den
jungen innovativen Unternehmen. Das ist uns wichtig.
Daran werden wir weiter arbeiten. In diesem Sinne freue
ich mich auf einen anregenden Gedankenaustausch mit
Ihnen allen in den nächsten knapp vier Jahren.
({1})
Vielen Dank, Frau Kollegin Zypries. - Nächster Redner ist Herbert Behrens für die Linken.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Menschenleere Fabriken, papierlose Büros oder LaptopKlassen, das waren früher unsere Vorstellungen, wenn
wir uns mit den Bildern der digitalen Welt von morgen
befasst haben. Heute kommen das selbstfahrende Auto,
der Computer im oder am menschlichen Körper oder die
Datenbrille hinzu. Wir machen die Erfahrung, dass so
manche Erfindung schneller verschwindet, als deren
Entwicklung dauerte. Dabei wird viel Wissen und Kreativität entwickelt, aber eben genauso viel vernichtet.
Wir messen den Wert der Veränderungen in Richtung
einer digital geprägten Welt daran, wie die Lebensbedingungen der Menschen verbessert werden. Gute Ausbildung, gute Arbeit und ein gutes Leben sind unsere Maßstäbe für eine digital geprägte Welt von morgen, und
zwar nicht nur im eigenen Land und in Europa.
({0})
Kolleginnen und Kollegen, Wünsche allein reichen
nicht aus, um die Wirklichkeit zu verändern. Deshalb haHerbert Behrens
ben wir hier im Parlament die Chance, aber auch die
Pflicht, rechtzeitig, also ab sofort, die notwendigen Rahmenbedingungen zu schaffen.
Die elektronische Vernetzung von der Planung bis zur
Auslieferung wird die industrielle Produktion weiter rationalisieren. Das Thema „Industrie 4.0“ wurde eben
genannt. Werkstücke werden durch Chips automatisch
gesteuert und fließen fast selbstständig durch die Produktion. Darum müssen junge Menschen anders ausgebildet werden, und die älteren Beschäftigten müssen die
Chance haben, sich zu qualifizieren.
({1})
Wir brauchen eine Bildungsoffensive, um die digitale
Welt zu gestalten. Die Menschen sollen die digitalen Instrumente beherrschen und nicht von ihnen beherrscht
werden. Wir fordern die Bundesregierung auf, gemeinsam mit den Bundesländern mehr Studienplätze für Informatik zu schaffen und angrenzende Disziplinen wie
Natur-, Kultur- und Technikwissenschaften auszubauen.
({2})
Gründer im Bereich der digitalen Wirtschaft haben
viele gute Ideen und oft nur wenig Geld. Nötig ist eine
gezielte Initiative der Bundesregierung, damit Gründer
finanziell auf die Beine kommen. Sie sollen ihre eigenen
Ideen eigenständig entwickeln können, ohne gezwungen
zu sein, sie so schnell es geht an den nächsten Investor
zu verkaufen.
Die Regierungsfraktionen sind in dieser Frage allerdings im vergangenen Jahrhundert stecken geblieben. In
den 90er-Jahren sollte Deutschland zu einem führenden
Finanzplatz in der Welt gemacht werden. Die Finanzmärkte wurden dereguliert, Hedgefonds und Steuersenkungen bei hohen Einkommen sollten Risikokapital lockermachen.
({3})
Die Internetwirtschaft boomte, bis die Dotcom-Blase
platzte. Viele junge Unternehmen waren von heute auf
morgen vom Geldmarkt abgeschnitten.
Vor gut zehn Jahren aber waren die Fondsgesellschaften schon wieder am Start. Sie versprachen Risikokapital
für Ideen, an die sich Banken und Sparkassen leider
nicht herantrauten. Die Bundesregierung unterstützte
Risikokapitalisten seinerzeit mit Steuererleichterungen.
Doch schon 2008 kam wieder einmal die Stunde der
Wahrheit, als die vermeintlichen Geldvermehrungsmaschinen in sich zusammenfielen.
Und heute schon wieder das gleiche Programm: Der
Investitionszuschuss Wagniskapital aus der Regierungszeit Merkel/Rösler soll fortgesetzt und die Attraktivität
des Fondsstandortes Deutschland für Wagniskapital erhöht werden. Sogar ein eigenes Börsensegment mit dem
Titel „Markt 2.0“ soll es geben. Dieser Weg ist falsch.
Existenzgründungen brauchen Kapital und kein Risiko,
({4})
und die Gründerinnen und Gründer brauchen Sicherheit,
um ihre kreativen Ideen in Produkte und Dienstleistungen umsetzen zu können.
In der Tat, Frau Zypries, mit dem Antrag der Koalition ist ein umfangreiches Papier vorgelegt worden aber ohne jegliche Priorität und ohne jeglichen Zeitplan,
dafür mit Finanzvorbehalt.
Unsere Antworten auf die Herausforderungen lauten:
mindestens 1 Milliarde Euro jährlich für den Breitbandausbau, ein Kreditprogramm für private, gemeinwirtschaftliche und kommunale Initiativen für eine flächendeckende Versorgung mit Glasfaser, Mikrokredite,
Förderprogramme mit dem Schwerpunkt Teamgründungen und eine stärkere Förderung von Frauen beim Gründungsgeschehen.
Vielen Dank.
({5})
Danke, Herr Kollege. - Nächster Redner ist der Kollege Axel Knoerig für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der amerikanische Ökonom Robert Solow hat einmal
geschrieben: „Die entscheidende Triebfeder für Wirtschaftswachstum ist nicht Arbeit und Kapital, sondern
technologischer Fortschritt.“ - Und genau da setzen wir
mit diesem Antrag an. Wollen wir also der Solow’schen
Logik folgen, dann müssen wir Technologien und Innovationen massiv fördern.
Vor dem Hintergrund begrenzter Ressourcen bei uns
in Deutschland muss es nur ein Ziel geben: Wir sind digitales Wachstumsland Nummer eins bis 2017.
({0})
Die entscheidende Schlüsselbranche dafür ist die Informations- und Kommunikationstechnologie. Sie muss
jetzt mit Hochdruck gefördert werden, damit modernste
Soft- und Hardware sowie Dienstleistungsangebote entwickelt werden, um die Digitalisierung wirklich in allen
Wirtschaftsbereichen voranzutreiben.
Wenn wir uns die Entwicklung des IKT-Sektors in
Europa und in der Welt anschauen, dann stellen wir fest,
dass in Amerika und auch in Asien, zum Beispiel in Indien und Brasilien, Marktzuwächse von 9 bis 14 Prozent
möglich sind, während die Rate in Europa bedenklich
tief liegt, nämlich bei unter 1 Prozent. Wie können wir
also das Innovationspotenzial unserer IKT-Branche optimal ausschöpfen? Bevor wir die Frage beantworten können, müssen wir, wie ich denke, uns als Erstes die speziellen Eigengesetzlichkeiten dieser Branche anschauen
und sie entsprechend berücksichtigen.
Punkt eins: Im Vergleich zu vielen anderen Wirtschaftszweigen ist hier der Zeitrahmen für Innovationen
erheblich enger. Bei Internetunternehmen dauern die
Projekte oft nur wenige Wochen. Dadurch entstehen natürlich hohe Forschungs- und auch Entwicklungskosten.
Da ist die Frage aufzuwerfen: Liegt es nicht in unserem
eigenen Interesse, steuerliche Förderung zur Unterstützung anzubieten? Die Zeit drängt, und wir sollten die
Programmförderung diesen schnellen Prozessen entsprechend anpassen.
({1})
Punkt zwei: Im Vergleich zu den USA und Asien sind
die meisten IKT-Unternehmen hierzulande kleinere Betriebe. Nur 1 Prozent der Softwarefirmen hat über 100 Mitarbeiter. Wir haben in Deutschland nun einmal keine Internetriesen wie Facebook oder Google. Also sind wir
im Grunde genommen gezwungen, uns auf unsere eigenen Stärken zu konzentrieren. Und das sind die klassischen Wirtschaftsbereiche: unsere kleinen und mittelständischen Unternehmen. Sie betreiben ebenfalls Forschung
und Entwicklung auf einem internationalen Spitzenniveau. Das sollten wir auch entsprechend herausstellen.
({2})
Ich stelle fest, dass allein in den letzten vier Jahren
8 Millionen Euro an Forschungsförderung in meinen
Wahlkreis geflossen sind. Da sage ich: Das ist nur ein
Anfang. Die Mittelstandsförderung muss zukünftig noch
intensiver mit der Innovationspolitik verbunden werden.
Punkt drei: Wir müssen die IKT-Branche als weltweites soziales Netzwerk begreifen. Da reichen nationale
Regelungen nicht aus, insbesondere was die Sicherheit
betrifft. Ein Schritt in die richtige Richtung ist das geplante Freihandelsabkommen mit den USA. Daraus werden sich, denke ich, viele wirtschaftliche Impulse für unsere Branche ergeben. Dabei ist entscheidend, wie die
Bundeskanzlerin festgehalten hat, dass wir hierbei unsere hohen Sicherheitsstandards beibehalten möchten.
Punkt vier: Mehr als andere Branchen ist die IKTBranche vom Risikokapital abhängig. Gerade Asien und
Amerika bieten hier den jungen Hightechunternehmen
weitaus günstigere Voraussetzungen. Damit kommt es
zur schnelleren Anschlussfinanzierung, um neue Produkte auf die Märkte zu bringen. Daher müssen wir hinterfragen: Warum ist das bei uns nicht annähernd möglich? Sollten nicht auch unsere Banken gerade diesen
kleinen und mittleren Unternehmen solche Risikofinanzierungen erleichtern?
Dieses muss in Crowdfunding, meinem fünften
Punkt, eingebunden werden. Dieses Thema ist erwähnenswert, weil damit die digitale Wirtschaft eine neue
Form der Eigenkapitalbeschaffung umgesetzt hat. Es ist
zu hoffen, dass diese private Form der Finanzierung von
den Start-ups weiter ausgebaut wird und sich damit
wirklich eine Alternative zur öffentlichen Finanzierung
etabliert.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht hierbei aber
nicht nur um die IKT-Branche als Kernbranche, sondern
sie strahlt wie eine Querschnittstechnologie auch in andere Bereiche hinein: in den Automobilbau, die Elektrotechnik, die chemische Industrie und sogar die Landwirtschaft. Ein Beispiel: Schon heute besteht ein Auto zu
30 Prozent aus elektronischen Bauteilen. Dieser Anteil
wird in den nächsten 15 Jahren bis auf 50 Prozent ansteigen. Oder schauen wir uns den Maschinen- und Anlagenbau an: Deutschland ist der führende Fabrikausstatter
in der Welt. Hier werden bis zu 200 Milliarden Euro umgesetzt, und dieses Ergebnis sichert fast 15 Millionen
Menschen direkt und indirekt Beschäftigung.
Deswegen war es zielgerichtet, Frau Staatssekretärin
Zypries, dass hier das BMBF über die Forschung gerade
das Projekt „Industrie 4.0“ mit unterstützt. Auf 15 Jahre
ist dieses Programm angelegt und hat einen besonders
hohen Stellenwert, weil wir uns davon versprechen, die
Marktführerschaft vor Asien und Amerika zu sichern.
Ich denke, meine sehr verehrten Damen und Herren,
das ist vorausschauende und verantwortliche Innovationspolitik zur Sicherung von Leitbranchen an unserem
Wirtschaftsstandort Deutschland. Deswegen ist es wichtig, dass wir den Ordnungsrahmen der digitalen Wirtschaft international wettbewerbsfähig ausrichten. Dazu
gehört natürlich im Allgemeinen, die digitale Infrastruktur in den Bereichen Verkehr, Energie, Gesundheit und
öffentliche Verwaltung entsprechend auszubauen. Ich
sage als Vertreter des ländlichen Raumes immer wieder
gern: Genauso wie es in Ballungszentren selbstverständlich ist, muss es im Grunde genommen auch im ländlichen Raum selbstverständlich sein, dort auf das schnelle
Internet zurückgreifen zu können.
Hier ist das Stichwort CeBIT gefallen. Allein auf der
CeBIT sind dieses Jahr 1 500 Veranstaltungen und
Workshops zu IT-Sicherheit und Datenschutz abgehalten
worden. In Hannover wurden heute 30 mittelständische
Unternehmen im Bereich IT und Softwareentwicklung
ausgezeichnet.
Trotz alledem stellen wir fest, meine sehr verehrten
Damen und Herren, dass - man höre und staune - durch
Cybercrime der deutschen Wirtschaft tagtäglich Schäden
in Höhe von einer Viertelmilliarde Euro entstehen. Deswegen müssen wir die mittelständischen Betriebe weiter
sensibilisieren und vor allem das neue IT-Sicherheitsgesetz zügig voranbringen. Das ist ein politischer Impuls,
der aus den Reihen der Politik kommen muss. Wir brauchen keine Verbundnetze, sondern diesen politischen
Impuls.
Aber es ist auch wichtig, dass wir die Mitarbeiter mitnehmen. Wir brauchen interkulturelle Kompetenzen. Immer mehr Berufsschulen - zum Beispiel auch die in
Syke in meinem Wahlkreis - bieten europäische Ausbildungsangebote an. Die Bundesregierung hat sich ja zum
Ziel gesetzt, die Zahl der Auszubildenden, die einen
Auslandsaufenthalt absolvieren, zu verdoppeln.
Meine Zeit ist abgelaufen.
({4})
Ich fasse zusammen: In dem ersten Antrag der Großen
Koalition zur digitalen Wirtschaft geht es darum, dass
wir unsere Ziele in Bildungs-, Forschungs- und Arbeitsmarktpolitik intensiv miteinander verknüpfen müssen.
Dann bleibt auch unsere deutsche IKT-Wirtschaft wettbewerbsfähig.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Danke, Herr Kollege. Ich glaube nicht, dass Ihre Zeit
abgelaufen ist, sondern Ihre Redezeit. Ich möchte auf
diesen Unterschied hinweisen.
Nächster Redner ist Dieter Janecek für die Grünen.
„Diese Welt ist in einem rasanten Wandel; wir erleben
eine permanente technologische Revolution“ - mit diesen Worten hat der britische Premier David Cameron am
vergangenen Sonntag auf der CeBIT den digitalen Wandel, wie ich finde, treffend beschrieben. Aber wir sollten
auch bedenken: Als wir Ende Januar die erste Generaldebatte zur Wirtschaftspolitik geführt haben, war ich
nach meiner Erinnerung ziemlich der Einzige, der das
Thema angesprochen hatte. Wir haben also in diesem
Hause im Verständnis für die Digitalwirtschaft noch
Nachholbedarf.
Mittlerweile - das ist das Positive - hat der Ausschuss
Digitale Agenda seine Arbeit aufgenommen, wenn auch
gestern leider nicht mit vielen Inhalten, weil wir die Beratung abbrechen mussten. Aber es geht voran. All die
Schlagworte wie Big Data, Industrie 4.0 und Internet der
Dinge beschäftigen uns. Für manch einen sind das noch
wenig greifbare Dinge. Die Kanzlerin hat auf der CeBIT
durchaus technologiekritisch die „Selbstbehauptung des
Menschen vor seiner Überflüssigkeit“ angemahnt. Ich
finde, das ist ein interessanter Punkt. Auch Nachdenkliches gehört zur Debatte. Dafür hat sie meinen vollsten
Respekt.
Aber bei aller gemeinsamen Analyse zum Beispiel
zur Veränderung der Arbeitswelt oder zur fehlenden Exportstärke - ein Großteil der Internetfirmen ist nicht bei
uns angesiedelt, sondern in den USA oder in China; das
ist ein Problem, das wir angehen müssen - fehlen mir in
Ihrem Antrag zwei wesentliche Orientierungen. Das ist
die Erkenntnis, dass wir in Deutschland zwei ganz
wesentliche Standortvorteile gegenüber den USA und
China haben, die es auszubauen gilt und die auch für die
weitere Entwicklung des freien Internets von entscheidender Bedeutung sein werden. Das eine ist das Thema
Sicherheit, Daten- und Vertrauensschutz, und das andere
ist unsere Technologieführerschaft bei Energieeffizienz
und Ressourcenwende.
Wer auf der CeBIT mit Unternehmensvertretern gesprochen hat - ich habe mit einer ganzen Reihe gesprochen -,
konnte feststellen, dass die informationelle Selbstbestimmung nicht nur ein Grundrecht ist, sondern es inzwischen
für viele Unternehmen eine Frage des wirtschaftlichen
Erfolgs ist, dass sie die Sicherheit ihrer Daten gewährleisten können. Das heißt auch, dass sich die Verheißungen von Big Data oder Datability - dieses Kunstwort ist
jetzt auf der CeBIT aufgetaucht - nur dann verwirklichen können, wenn wir diese Daten konsequent schützen.
Nehmen wir das Beispiel WhatsApp: Innerhalb von
24 Stunden hat der kleine Schweizer Konkurrent
Threema seine Nutzerzahlen mehr als verdoppeln können und führt nun die iTunes-Charts in Deutschland und
Österreich an. Das ist ein Beispiel, wie man Alternativen
schaffen kann, wie also auch wir erfolgreich sein können.
Laut der jüngst erschienenen Studie des Bundesverbands Digitale Wirtschaft sind der Schutz und die Sicherheit von Daten für 43 Prozent der befragten Unternehmen ein zentrales wirtschaftliches Thema. Es ist
damit das zweitwichtigste Thema neben der Netzneutralität. Das heißt, rund um Datenschutz und IT-Sicherheit
ergeben sich zahlreiche neue Geschäftschancen, beispielsweise die Anwendungen für sichere Telefonie oder
die Abschirmung von Firmennetzwerken. Wir reden
auch noch über ein No-Spy-Abkommen und über Spionage. Überall dort haben wir Vorteile, die wir voranbringen müssen.
({0})
Das fehlt mir in Ihrem politischen Handeln - Stichwort
„Vorratsdatenspeicherung“. Um glaubwürdig zu sein,
muss man insgesamt so agieren, wie man es nach außen
darstellt.
Es gibt noch einen weiteren Punkt. Wir hatten vorhin
eine Debatte zur Energiewende. Auch sie hängt elementar mit der digitalen Agenda zusammen. Ressourcenschonung und Energieeffizienz, das waren auch Themen
auf der CeBIT. Stichwort „Smart Housing“: Hier geht es
ja um die Frage, wie wir künftig unser Zuhause per intelligenter Energiesteuerung vernetzen und die damit verbundenen Potenziale nutzen. Wir sollten auch über die
intelligente Steuerung von Kraftwerken und Netzen reden, über Lastmanagement in der Industrie und Smart
Metering in den Haushalten. So funktioniert Energiewende 2.0, also all das vernetzt sich miteinander. Auch
das müssen wir strategisch und konsequent nutzen.
({1})
Die digitale Kommunikation ermöglicht es, dass wir
vieles einfach teilen und nutzen können, anstatt es besitzen zu müssen. Beispiel Carsharing: Am Anfang hat
man darüber gelacht. Heute nutzen das viele, und sie
können es nutzen, weil sie ein Handy haben, womit eine
intelligente Steuerung und Nutzung möglich ist. Auch
das sind Potenziale, die wir heben können.
Ich komme zum Schluss. Die digitale Wirtschaft ist
auch ein Treiber für die ökologische Transformation.
Das Auto wird in Zukunft ein rollendes Rechenzentrum
sein. VW-Chef Winterkorn hat in seiner Rede auf der
CeBIT zwei Herausforderungen für die Automobilindustrie genannt: zum einen das automatische Fahren und
zum anderen die Vernetzung des Autos mit der Umwelt.
All das müssen wir im Rahmen der Technologieführer1568
schaft, die wir haben und ausbauen sollten, zusammendenken und als Standortvorteile für uns begreifen.
Vielen Dank.
({2})
Danke, Herr Kollege. - Nächster Redner in der Debatte ist Christian Flisek für die SPD.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber
Kollege Janecek, ich teile Ihre Einschätzung nicht. Ich
glaube, die digitale Agenda ist in der deutschen Politik
angekommen. Das ist die eindeutige Botschaft, die die
Koalition mit dem Koalitionsvertrag aussendet. Das ist
die Botschaft, die wir mit der Einsetzung und Konstituierung des Ausschusses Digitale Agenda ausgesendet
haben. Das ist auch die Botschaft, die wir mit unserem
heutigen Antrag - parallel zur weltgrößten IT-Messe, der
CeBIT in Hannover - an die Bürgerinnen und Bürger
aussenden.
({0})
Schon im Koalitionsvertrag haben wir festgeschrieben, dass wir „eine digitale Agenda für die Jahre
2014-2017 beschließen und ihre Umsetzung gemeinsam
mit Wirtschaft, Tarifpartnern, Zivilgesellschaft und Wissenschaft begleiten“ werden. Die Konstituierung des
neuen Vollausschusses Digitale Agenda vor wenigen
Wochen hat deutlich gemacht, dass dieses komplexe
Querschnittsthema einen sichtbaren Platz im Herzen des
deutschen Parlaments bekommt. Mit unserem Antrag
zum Technologie-, Innovations- und Gründungsstandort
Deutschland und zu den Potenzialen der digitalen Wirtschaft in Deutschland machen wir einen weiteren
Schritt, den Arbeitsauftrag aus dem Koalitionsvertrag
umzusetzen. Mit unserem Antrag stecken wir wichtige
Handlungsfelder für die weiteren Schritte in dieser Legislaturperiode ab.
Meine Damen und Herren, wenn wir über die Wachstumspotenziale der digitalen Wirtschaft sprechen, dann
sollten wir vor allem die Menschen in den Mittelpunkt
stellen, die diese Wachstumspotenziale heben sollen.
Das sind zum einen die qualifizierten Fachkräfte, die
in den Wertschöpfungsketten der Industrie, in den
Dienstleistungsbetrieben und im Handel beschäftigt
sind, in Wertschöpfungsketten, die sich immer stärker
und schneller digitalisieren. Diese Beschäftigten werden
sich auch, egal ob sie in einem Start-up-Unternehmen
oder in einem Industriebetrieb arbeiten, in der digitalen
Arbeitswelt dafür einsetzen müssen, dass sie nicht nur
Arbeit haben, sondern dass sie gute Arbeit haben, mit
guter Bezahlung und zu guten Arbeitsbedingungen. Wir
Sozialdemokraten werden sie dabei unterstützen.
({1})
Genau deshalb haben wir in unseren Antrag hineingeschrieben, dass auch in der digitalen Welt, also in einer
Welt permanenter Erreichbarkeit, das Prinzip der Kernarbeitszeit nicht ausgehöhlt werden darf. Gute digitale
Arbeit immer wieder neu zu definieren und den Veränderungen anzupassen, muss auch in Zukunft im Dialog
zwischen Politik, Gewerkschaften und Wirtschaft intensiv erarbeitet werden.
Neben den qualifizierten Fachkräften in der deutschen Wirtschaft prägt eine zweite Gruppe die digitale
Wirtschaft wie keine andere. Das sind die Gründer, Menschen jeden Alters, die, mit einer frischen Idee ausgestattet, versuchen, sich auf eigene, auf selbstständige Beine
zu stellen, und dabei Verantwortung für sich und ihre
Mitarbeiter übernehmen. Hier gibt es viel Licht und
Schatten. Wir haben äußerst starke und attraktive Gründerszenen etwa hier in der Hauptstadt und in einigen
deutschen Metropolregionen.
Es muss uns aber doch alarmieren, dass die Gründerzahlen insgesamt in den letzten fünf Jahren rückläufig
waren und dass heute - es liegen Studien und Umfragen
vor, aus denen das hervorgeht - von den deutschen Universitätsabsolventen eines Jahrgangs nur noch 7 Prozent
sich überhaupt vorstellen können, ein Unternehmen zu
gründen. Angesichts dieser Zahlen muss man kein Prophet sein, um festzustellen: Selbstständigkeit verliert vor
dem Hintergrund des demografischen Wandels und eines
drohenden Fachkräftemangels zunehmend an Attraktivität. Diesen Trend müssen wir umdrehen.
({2})
Die Attraktivität der Selbstständigkeit wird man nicht
alleine durch einzelne Maßnahmen erhöhen. Das ist
meine Überzeugung. Was wir brauchen, ist eine grundsätzlich neue Einstellung in unserer Gesellschaft. Für
eine neue Gründerzeit in Deutschland, wie es im Koalitionsvertrag steht, brauchen wir vor allem einen neuen
Gründergeist. Wir brauchen eine viel höhere gesellschaftliche Anerkennung der Selbstständigkeit, und wir
brauchen eine Kultur der zweiten, der dritten Chance
und keine Stigmatisierung des Scheiterns.
({3})
Erst dann, meine Damen und Herren, werden wir wieder
mehr Gründer bekommen, und zwar solche, die aus Lust
gründen und nicht aus Frust. Die Gründer von heute sind
der Mittelstand von morgen. Ohne Gründungen werden
wir kein Wachstum in Deutschland haben.
Neben diesem Mentalitätswechsel braucht es auch
klare Bedingungen, um das zu gewährleisten. Geld ist
eine davon. Wir müssen deshalb die Finanzierungsbedingungen verbessern, und zwar für alle Phasen einer
Gründung, insbesondere für die wichtige Wachstumsphase. Hier haben wir Lücken im deutschen Finanzierungssystem. Es ist angesprochen worden: Alternative
Finanzierungsformen wie das Crowdfunding müssen
stärker unterstützt werden. Und, ja, es braucht auch ein
neues Börsensegment zur Belebung von Börsengängen
junger, wachstumsstarker Unternehmen. Wir brauchen
einen Rechtsrahmen; insbesondere müssen die Eckpunkte für ein Venture-Capital-Gesetz zügig vorgelegt
werden.
({4})
Schlussendlich - ich komme zum Schluss - gehört
vor allem der Abbau von bürokratischen Hürden dazu.
Wer gründet und wer mit Gründern spricht, weiß: Es
müssen sehr viele Hürden überwunden werden. Wir sollten daher die bürokratischen Hürden in der Gründungsphase so niedrig wie möglich halten und die Ansprechpartner für Gründer in der Verwaltung konzentrieren;
denn eine überbordende Verwaltung und eine überbordende Bürokratie können aus jeder Lustgründung auch
wieder eine Frustgründung machen.
Herzlichen Dank.
({5})
Danke, Herr Kollege. - Das Wort hat Halina
Wawzyniak für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen
und Kollegen! Wir reden über Gründungsbedingungen
in der digitalen Wirtschaft, wir reden über Rahmenbedingungen für die digitale Wirtschaft. Beide vorliegenden Anträge befassen sich nun mit Themen, die deutlich
über die klassischen wirtschaftspolitischen Themen hinausgehen. Ich will das einmal benennen: Haftungsregelungen für WLAN-Betreiber, digitale Bildung, Entwicklung von Open Access, Urheberrecht, Open-DataGesetz, Medienkompetenz - das alles kommt nicht nur
im Antrag der Großen Koalition vor, sondern auch in unserem Antrag. Ehrlich gesagt, ich finde, das spricht alles
dafür, dass das federführend im Ausschuss Digitale
Agenda behandelt wird und nicht im Wirtschaftsausschuss.
({0})
Es macht, ehrlich gesagt, auch wenig Sinn, hier einen
pompösen Antrag vorzulegen, über den dann nächste
Woche - nach der vorläufigen Tagesordnung im Übrigen
ohne Debatte - abgestimmt werden soll. Das orientiert
nicht auf eine seriöse Beratung eines solchen Antrags.
({1})
Digitale Gründungsbedingungen zu verbessern oder
die Potenziale der digitalen Wirtschaft auszuschöpfen,
beginnt unseres Erachtens in der Schule. Nur wer versteht, wie es funktioniert, wird selbstbestimmt und souverän mit dem Internet und seinen Möglichkeiten umgehen können. Deshalb fordern wir ein Förderprogramm
für digitales Lernen und die Ausstattung der Schülerinnen und Schüler mit entsprechender Hardware sowie die
Erarbeitung digitaler und offener Lehr- und Lernmaterialien. Das ist deutlich konkreter als Ihr Allgemeinplatz.
({2})
Wir wollen Netzneutralität gesetzlich festschreiben.
Wir sagen auch konkret, wie wir uns das vorstellen,
nämlich indem eine Priorisierung unterschiedlicher
Dienste- und Inhalteklassen nur bei zeitkritischen Diensten und ausschließlich zur technischen Effizienzsteigerung zulässig sein soll. Ergriffene Netzmanagementmaßnahmen sollen von den Netzbetreibern gegenüber den
Nutzerinnen und Nutzern begründet und transparent und
nachvollziehbar dargestellt werden. Wenn auch Sie von
der Koalition das jetzt fordern, begrüßen wir das. Dann
sind wir uns ja einig; denn Netzneutralität ist eine der
wichtigsten Voraussetzungen für die Gründung von
Start-ups.
({3})
Die Enquete-Kommission Internet und digitale Gesellschaft hatte empfohlen, bei Bundesorganen OpenSource-Software zu fördern und ihre Weiterentwicklung
gezielt zu unterstützen. Leider ist in Ihrem Antrag davon
nicht die Rede. Das finde ich ausgesprochen schade;
denn die Förderung und der Einsatz von Open Source
sind nicht nur eine wichtige Gründungsbedingung, sondern sie sichern auch die Zukunft mittelständischer digitaler Unternehmen.
({4})
Sie schreiben in Ihrem Antrag, dass das Urheberrecht
wissenschafts- und innovationsfreundlich weiterzuentwickeln ist. Da sind wir uns alle einig. Eine erste Möglichkeit, das umzusetzen, wäre, das aus unserer Sicht
innovationsfeindliche Leistungsschutzrecht für Presseverlage abzuschaffen.
({5})
Zu Recht weisen Sie darauf hin, dass ein Fokus auf
die soziale Absicherung der Kreativen zu legen ist. Wie
Sie das innerhalb einer Woche durch eine Ausschussberatung klären wollen, ist mir schleierhaft - aber gut. Ein
konkreter Weg hierzu wäre beispielsweise, das Urhebervertragsgesetz zu ändern.
({6})
Wir haben in der letzten Legislaturperiode einen Vorschlag vorgelegt
({7})
- die Grünen auch -, wie die Geltendmachung des
Rechts auf angemessene Vergütung von Urheberinnen
und Urhebern erleichtert werden kann.
({8})
Zur sozialen Absicherung der Kreativen gehört aber
auch, dass diese die Möglichkeit bekommen oder behalten, in die KSK einbezogen zu werden, und dass derjenige, der mit einem Start-up scheitert, nicht in Hartz IV
stürzt; denn das ist keine Ermunterung, aktiv zu werden.
Eine repressionsfreie soziale Grundsicherung könnte
hier ein Anfang sein, um Kreativen eine soziale Absicherung zu bieten.
Wir sollten uns darüber hinaus wenigstens dazu entschließen, eine Enquete-Kommission zum bedingungslosen Grundeinkommen noch in dieser Legislaturperiode
einzusetzen, um diese Idee, deren Befürworterin ich persönlich bin - sie ist bei uns umstritten; aber ich finde sie
gut -, mit ihren Vor- und Nachteilen in Ruhe zu erörtern.
({9})
Sie sehen: Das Themenspektrum ist umfassender. Es
gehört in den Ausschuss Digitale Agenda, und es
braucht mehr Zeit, es zu behandeln.
({10})
Danke, Frau Kollegin. - Der nächste Redner ist
Hansjörg Durz für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Ich freue mich, heute meine erste Rede vor diesem Hohen Hause über ein Thema halten zu dürfen, das für die
Zukunft des Wirtschaftsstandortes Deutschland ganz
wesentlich ist, nämlich die Frage, wie wir den Technologie-, Innovations- und Gründungsstandort Deutschland
stärken und wie wir die enormen Potenziale der digitalen
Wirtschaft für Wachstum und nachhaltige Beschäftigung
ausschöpfen - ein Ziel, das uns sicher alle eint.
Unsere Wirtschaft ist in guter Verfassung und befindet
sich auf einem stabilen Kurs. Angesichts der Prognose für
das aktuelle Jahr dürfen wir positiv gestimmt sein. Alle
Indikatoren deuten auf ein weiteres Wachstum der deutschen Wirtschaft hin. Die Lage und die Stimmung sind
gut.
Ein Wachstumstreiber der gesamten deutschen Wirtschaft ist die Digitalisierung, auch weil sie immer mehr
wirtschaftliche und gesellschaftliche Lebensbereiche
durchdringt und verknüpft, weit über die klassischen Bereiche der Informations- und Technologiebranche hinaus.
Ein aktuelles und sehr anschauliches Beispiel der unaufhaltsamen Digitalisierung unserer starken Wirtschaft
ist die Automobilindustrie. Beim Auto-Salon in Genf
wurde einmal mehr deutlich, dass die Digitalisierung die
Autoindustrie antreibt. In Genf stand schon beinahe
nicht mehr das Auto im Vordergrund, sondern vielmehr die
Vernetzung des Autos mit den unterschiedlichen Internetdiensten. Dort wurde von einer revolutionären Entwicklung gesprochen. Volkswagenchef Martin Winterkorn hat
dies als einen der größten Umbrüche seit Bestehen des
Automobils bezeichnet. Wir können uns also der bahnbrechenden Bedeutung, die diese digitale Entwicklung
für unser wirtschaftliches Wachstum und unsere Arbeitsund Lebenswelten mit sich bringt, nicht entziehen; und
das wollen wir auch gar nicht.
Die Bedeutung der digitalen Wirtschaft wird durch
die eindrucksvollen Zahlen in den Monitoring-Berichten
der letzten Jahre deutlich unterstrichen. Eine für mich
sehr bemerkenswerte Information lautet, dass den Deutschen der Zugang zum Netz 5,6-mal so viel wert ist, wie
er sie derzeit kostet. Das zeigt den Stellenwert, den das
Netz, den die Digitalisierung für die Menschen mittlerweile einnimmt.
Das enorme Potenzial, das uns die Digitalisierung beschert, gilt es beim Schopfe zu packen; denn Deutschland braucht verstärkt Innovationen, um im globalen
Wettbewerb weiterhin erfolgreich bestehen zu können.
In den vergangenen Jahrzehnten war unser Unternehmertum ein wesentlicher Erfolgsfaktor für die deutsche
Wirtschaft. Ohne die vielen Unternehmer - vom kleinen
Betrieb über den Mittelständler bis hin zum global agierenden Unternehmen - stünden wir heute nicht so gut da.
Wir haben es neben den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern vor allem den hervorragenden Innovationen,
dem Mut und Fleiß, insbesondere aber auch dem besonderen Unternehmergeist zu verdanken, dass wir auch
heute wirtschaftlich wieder im Aufschwung sind. Diesen
Unternehmergeist brauchen wir auch in Zukunft.
({0})
Auch heute gibt es viele junge Menschen, die bereit
sind, etwas zu unternehmen. So wurden zum Beispiel
seit 2009 jährlich knapp 9 000 Unternehmen der Informations- und Kommunikationstechnik gegründet. Wir
müssen und wollen aber die Zahl der Gründungen in den
nächsten Jahren deutlich steigern, auch weil wir wissen,
dass insbesondere inhabergeführte Unternehmen enorme
Innovationskraft haben und Innovationen schaffen. Gerade vor diesem Hintergrund ist es umso dringlicher,
dass wir die Chancen und Potenziale der Digitalisierung
ergreifen und das Unternehmertum vorantreiben. Die
jungen Köpfe in der digitalen Welt bilden das Kapital
unserer wirtschaftlichen Zukunft. Sie treiben die Innovationen voran und schaffen Arbeitsplätze. Wir wollen die
Gründerkultur und damit den Mittelstand von morgen
stärken.
({1})
Nun mangelt es in Deutschland nicht an fleißigen
Menschen und auch nicht an guten Ideen. Vielmehr sind
es oftmals die Rahmenbedingungen, die es Existenzgründern nicht ganz leicht machen. Dazu gehören
sicherlich Themen wie die Entbürokratisierung der
Antragsverfahren, eine bessere Vernetzung von Wissenschaft und Wirtschaft oder der Auf- und Ausbau der
Netzwerke für Start-ups. In Bayern besteht beispielsweise
ein Netzwerk von 45 Gründerzentren, darunter 23 technologischen. Hier finden Existenzgründer und junge
Unternehmen die Hilfe, die sie in der Gründungs- und
Frühphase benötigen. Hier finden auch innovative Entwicklungen den Weg in die Wirtschaftlichkeit. Rahmenbedingungen, die den Erfindergeist aktiv unterstützen,
sind sicher der Schlüssel zum Erfolg. Dazu gehört auch,
dass genügend Kapital für die Umsetzung neuer, auch
wagemutiger Ideen zur Verfügung gestellt wird. Jungen,
innovativen Unternehmen ist noch zu häufig der Weg zu
den klassischen Finanzierungsquellen versperrt, weil für
eine Kreditfinanzierung die Risiken zu hoch und die Sicherheiten zu gering sind. Zweifellos gibt es eine Reihe
erfolgreicher Modelle der Förderung innovativer Unternehmen, die fortgesetzt werden müssen. Mit dem HighTech Gründerfonds II mit einem Fondsvolumen von
301,5 Millionen Euro wurden richtige Weichen gestellt.
Auch der Innovationszuschuss Wagniskapital ist sicherlich ein guter Weg, den wir weiter ausbauen müssen.
({2})
Aber wir brauchen ein durchgängiges Angebot an Finanzierungsmöglichkeiten für die unterschiedlichsten
Phasen der Entwicklung eines jungen Unternehmens:
von der Frühphase bis hin zur Wachstumsfinanzierung.
Ich bestätige: Da gibt es Lücken.
({3})
Dabei müssen wir uns neben den Möglichkeiten staatlicher Fördermodelle vor allem um die Gewinnung privater Investoren kümmern. Das im Koalitionsvertrag
festgehaltene Instrument des Crowdfunding ist ein Instrument zur Frühphasenfinanzierung, in welchem viele
kleine Beträge einer Geschäftsidee zur Umsetzung verhelfen. Es ist ein Modell, das gerade in jüngster Zeit an
Dynamik gewinnt. Aber sogenanntes Wagniskapital
führt in Deutschland im Vergleich zu anderen Industrienationen immer noch ein Schattendasein. Auch wenn die
Venture-Capital-Investitionen in IT-Start-ups 2013 leicht
zugelegt haben, haben wir in Deutschland relativ wenig
Gründerkapital. Deswegen müssen wir den gesetzlichen
Rahmen dafür schaffen, dass mehr Business Angels in
junge innovative Unternehmen investieren, dass unseren
intelligenten Köpfen mehr Wagniskapital zur Verfügung
gestellt wird und dass in einer späteren Unternehmensphase auch Anteile innovativer, wachstumsstarker Unternehmen in einem neu eingeführten Börsensegment
gehandelt werden können.
Deutschland kann international mit den besten und
kreativsten Köpfen konkurrieren. Wir haben die nötige
Manpower und hervorragendes Know-how. Wir müssen
unsere Ressourcen nur besser nutzen und vor allem die
Rahmenbedingungen für Innovationen und Investitionen
fördern. In der Digitalisierung stecken für unsere Wirtschaft und für unsere Gesellschaft große Potenziale und
Chancen. Gehen wir sie an!
Vielen Dank.
({4})
Lieber Herr Kollege, im Namen des ganzen Hauses
wünschen wir Ihnen, unserem Augsburger bzw. Neusäßer Kollegen, alles Gute für die nächste Zeit als Abgeordneter und gratulieren Ihnen zu Ihrer ersten und sicherlich nicht letzten Rede im Deutschen Bundestag.
({0})
Die nächste Rednerin ist Tabea Rößner für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Wenn man ein Symbol für die digitale Kompetenz der
Großen Koalition bräuchte, wäre dies ein herausgezogener LAN-Stecker. Den bekam man nämlich am Montagnachmittag um Punkt 15 Uhr zu sehen, falls man gerade
dabei war, die Pressekonferenz der Minister Gabriel, de
Maizière und Dobrindt im Internet zu verfolgen. Da stellen sich die drei Minister hin und wollen Einigkeit und
Kompetenz demonstrieren - und nach einer halben
Stunde wird ihnen der Stecker gezogen, weil die Leitung
für den Stream nicht lang genug reserviert worden war.
So viel zur vereinten Internetkompetenz der Minister. In
Sachen Netzpolitik schaut man bei der GroKo in die
Röhre.
({0})
Aber selbst als der Stream lief, redeten die drei Minister viel und sagten äußerst wenig.
({1})
Minister Dobrindt blieb beim Breitbandausbau im Vagen so wie übrigens auch Sie in Ihrem Antrag. Das Ziel, bis
2018 flächendeckend eine Downloadgeschwindigkeit
von 50 Megabit pro Sekunde zu erreichen, klingt sehr
gut; aber schon 2011 hatte Bundeskanzlerin Merkel versprochen, es werde Highspeedinternet für drei Viertel aller Haushalte bis zum Jahr 2014 geben. Jetzt haben wir
das Jahr 2014, aber immer noch kein Highspeednetz.
({2})
2018 ist also das neue 2014. Ist es eigentlich Zufall, dass
Sie als Zeitpunkt immer das Jahr nach der Bundestagswahl nennen?
Aber gut, das Ziel ist klar; wie Sie es erreichen wollen, ist jedoch nicht klar. Ein Kaffeeklatsch mit den Telekommunikationsunternehmen hilft da auch nicht weiter.
Noch immer ist kein Geld da, und auf die Erlöse einer
weiteren digitalen Dividende zu setzen, ist nur scheinbar
eine Lösung. Es ist völlig unklar, ob es überhaupt hohe
Einnahmen geben wird. Das ist ungefähr so, als wollte
ich mein Eigenheim mit einem zukünftigen Lottogewinn
finanzieren. Das ist unseriös und planlos.
({3})
Immerhin gibt es im Antrag zwei Hoffnungsschimmer: Netzneutralität soll gesetzlich festgeschrieben wer1572
den, und es soll hinsichtlich der Verbreitung von lokalen
und offenen WLAN-Netzen klare Haftungsregelungen
geben. Beides darf nicht halbherzig angegangen werden.
Es wäre nämlich ein echter Fortschritt, wenn wir das bekämen. Auf die konkrete Umsetzung bin ich allerdings
ziemlich gespannt.
Ich möchte noch auf einen zweiten Aspekt eingehen:
die Kreativwirtschaft. Ich finde es schon sehr bemerkenswert, dass Sie die „Gründer von heute“ als den
„Mittelstand von morgen“ bezeichnen. Die Wahrheit ist
doch etwas differenzierter; denn das Ergebnis vieler
Gründungen durch Kreative im digitalen Bereich sind
Klein- und Kleinstunternehmen, und diese haben häufig
ganz andere Sorgen. Sie benötigen zum Beispiel für die
Gründung oft gar kein großes Risikokapital, sondern
eher eine kleine Anschubfinanzierung. Das, Herr
Jarzombek, hat auch die Arbeit der Enquete-Kommission ergeben; darüber haben wir schon einige Diskussionen geführt. Hier könnten zum Beispiel Mikrokredite
schnell und wirksam helfen.
({4})
Ebenso mangelt es oft an Platz, an Räumen für das eigene Unternehmen.
Diese Probleme betreffen insbesondere Unternehmen
rund um die Kreativwirtschaft, und für die haben Sie
auch sonst nicht viel im Angebot. Sie machen keine konkreten Angaben, wie Sie die dringend notwendigen Reformen im Urheberrecht, im Urhebervertragsrecht oder
bei der Künstlersozialkasse angehen wollen. Mir fehlt
ein Signal, das den Kreativen, den Einzelkämpfern, den
Kleinstunternehmern, frei nach dem britischen Künstler
Astley, zeigt: Wir werden euch niemals aufgeben, niemals im Stich lassen, verletzen oder verlassen.
Liebe SPD-Kollegen, ich kann mich an einen Antrag
aus der letzten Legislaturperiode erinnern.
Frau Kollegin, bitte denken Sie an Ihre Redezeit.
Ich bin gleich fertig. ({0})
Ich kann mich an Ihren Antrag zur Kreativwirtschaft
2020 erinnern. Da waren Sie deutlich weiter. Ich verstehe nicht, warum Sie an dieser Stelle jetzt so zögerlich
sind.
„Agenda“ heißt wörtlich übersetzt: das zu Tuende.
Wenn es bei den vielen vagen Andeutungen ohne Konzept dahinter bleibt, dann werden Sie sich mit der digitalen Agenda in dieser Legislatur jedenfalls nicht überarbeiten.
Vielen Dank.
({1})
Danke, Frau Kollegin. - Die nächste Rednerin ist
Nadine Schön für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es ist gut, dass wir heute im Plenum über die
Potenziale der digitalen Wirtschaft und über die Potenziale für Wachstum, Innovation und Beschäftigung in
Deutschland sprechen. Es passt sehr gut, weil gerade
zeitgleich in Hannover die CeBIT, die weltgrößte ITMesse, stattfindet. Auf der CeBIT wird gezeigt, wie die
Zukunft im digitalen Bereich aussieht und welche Produktinnovationen und technischen Innovationen es gibt.
Es wäre aber zu kurz gesprungen, wenn wir die
CeBIT nur als Leistungsschau der IT-Branche betrachten
würden. Die CeBIT ist viel mehr. Jeder, der da war, wird
die gleiche Erfahrung gemacht haben. Man hat auf der
CeBIT gespürt, wie radikal die Digitalisierung unser Leben, unser Arbeiten, unseren Alltag, die Gesellschaft
und die Wirtschaft verändert. An dieser Veränderung
wollen wir teilhaben.
Wir waren mit unserem Ausschuss Digitale Agenda,
mit dem Ausschussvorsitzenden Koeppen, mit dem
Sprecher Jarzombek und mit vielen interessierten Kollegen, vor Ort. Wir haben gesehen, was Digitalisierung im
Einzelnen heißt, zum Beispiel miteinander kommunizierende Autos. Wir haben gesehen, dass es Roboter geben
wird, die zukünftig sowohl im Weltall als auch in Krisengebieten eingesetzt werden sollen. Wir haben eine
Frau mit einer digitalen Handprothese getroffen, die
durch diese Handprothese eine ganz neue Lebensqualität
gewonnen hat. Wir haben gesehen, wie etwa in meinem
Bundesland, dem Saarland, die Antragstellung für den
Schwerbehindertenausweis, die Bewilligung und die
Korrespondenz mit den Ärzten, also das gesamte Verfahren, digitalisiert wird. Das heißt, die Verwaltung wird
schlanker, die Antragstellung wird erleichtert, und dem
Betroffenen kann viel schneller geholfen werden.
Das alles wurde durch innovative Forschungsinstitute
und durch eine Menge Unternehmen ermöglicht, sowohl
durch große Player, die man kennt, als auch durch viele
innovative Start-ups. Es war schön, zu sehen, dass es
sehr viel Forschung und Business made in Germany gibt
und dies weltweit erfolgreich ist. Ich finde, darauf können wir sehr stolz sein.
({0})
Wir waren auch an den Ständen des Partnerlandes
Großbritannien und sind durch die Asien-Hallen gegangen. Wir haben also gesehen, wie die Dynamik in diesen
Ländern ist. Die Konkurrenz schläft nicht. Deshalb müssen wir künftig noch mehr Kraft und Energie in die digitale Wirtschaft stecken. Der IKT-Standort Deutschland
liegt derzeit auf einem guten fünften Platz. Wir sind nach
Umsätzen der viertgrößte Standort der Welt. Das ist ein
respektables Ergebnis. Wir kennen aber die Dynamik in
Nadine Schön ({1})
anderen Ländern. Wir wissen, wie etwa die USA oder
China beim Thema Industrie 4.0 Gas geben. Da wollen
wir den Anschluss nicht verlieren. Deshalb haben wir im
Koalitionsvertrag eine Reihe von Maßnahmen vereinbart, um zum digitalen Wachstumsland Nummer eins zu
werden.
Im vorliegenden Antrag haben wir vier Schwerpunkte
herausgegriffen. Ein Schwerpunkt ist der Breitbandausbau. Frau Kollegin Rößner, Sie haben kritisiert, dass Ihnen das nicht schnell genug geht und dass zu wenig getan wird. Ich hätte mich wirklich sehr gefreut, wenn Sie
einen Vorschlag gemacht hätten, wie es denn schneller
gehen kann.
({2})
Wir haben die Netzallianz. Wir, das Parlament, werden
die Rahmenbedingungen schaffen, damit es noch schneller geht. Wir werden den Unternehmen und auch der Regierung, die die Regulierungen vornehmen muss, die
richtigen Werkzeuge an die Hand geben, damit es
schneller geht.
({3})
Wenn Sie in der Zwischenzeit noch konkrete Vorschläge
haben, sind wir sehr dankbar und nehmen diese sehr
gerne auf. Nur zu meckern, dass es nicht schnell genug
geht, aber keinen einzigen konkreten Vorschlag zu machen, Frau Rößner, das ist wirklich zu wenig.
({4})
Ein weiterer Schwerpunkt ist das Thema digitale Sicherheit. Auf der CeBIT wurde deutlich, dass die Forschung in Deutschland in diesem Bereich sehr gut ist. Es
gibt sehr viele kleine und mittelständische Unternehmen,
die etwa das Kanzlerhandy entwickelt haben oder sehr
erfolgreich im Bereich Ende-zu-Ende-Verschlüsselung
sind. Wir haben in Deutschland sichere Router, die von
deutschen Unternehmen hergestellt werden. Auf all
diese Entwicklungen müssen wir setzen. Die Kompetenz
dafür ist in Deutschland vorhanden.
Eines muss klar sein: Vertrauen in die Digitalisierung
und Vertrauen in IT können wir nur erreichen, wenn wir
durch entsprechende Angebote für Sicherheit sorgen.
Deutschland hat in diesem Bereich sehr große Chancen.
Sicherheit darf aber nicht nur ein Luxus für wenige sein.
Ein sicheres Handy gehört nicht nur in die Hände der
Kanzlerin und der Minister. Sicherheit muss für alle, die
IT nutzen, zum Standard werden; denn nur so werden
die Unternehmen und auch die Bürger das notwendige
Vertrauen haben, um sich an diesem Prozess zu beteiligen. Nur so werden wir den Anschluss an andere Länder
halten können.
({5})
Wir müssen verstärkt in Fachkräfte im eigenen Land
investieren. Wir müssen aber auch Fachkräfte von außen
werben. Außerdem müssen wir - das wurde heute schon
sehr oft gesagt - die jungen, innovativen Köpfe in unserem Land weiter fördern. Wir müssen für ein besseres
Gründungsklima in unserem Land sorgen. Wir müssen
den Menschen Mut machen. Sie sollen nicht nur abhängig beschäftigt arbeiten, sondern ein eigenes Unternehmen gründen, sich selbstständig machen, das eigene
Schicksal in die Hand nehmen, Mitarbeiter einstellen
und für sich und andere Verantwortung übernehmen. Der
IT-Bereich ist dafür sehr gut geeignet. Wir haben in
Deutschland eine lebendige Gründungskultur. Das wollen wir weiter unterstützen und fördern.
Im Koalitionsvertrag haben wir dafür die Einführung
einer „Gründungszeit“ vereinbart. Wir wollen das ganze
Gründungsverfahren endlich entbürokratisieren. Wenn
man bedenkt, wie lange es in Deutschland dauert, ein
Unternehmen zu gründen, und wie schnell und effizient
das in anderen Ländern geht, dann wird eines deutlich:
Wir als Politiker haben unsere Hausaufgaben zu machen.
Wir wollen den Unternehmergeist stärken, wir wollen
Gründungen vereinfachen und bei den dafür notwendigen Instrumenten nachbessern.
({6})
Die Kollegen von der Linken haben leider nicht so
ganz verstanden, wie das heutzutage läuft. Liebe Kollegen von der Linken, es ist zwar richtig, dass es Gründungen in Deutschland gibt. Aber leider können die Unternehmen irgendwann nicht mehr wachsen und sind
deshalb gezwungen, ins Ausland, zum Beispiel in die
USA, zu gehen, um sich dort von einem Venture-Capital-Unternehmen finanzieren bzw. aufkaufen zu lassen.
Sie haben also nur dort eine Zukunft; denn in Deutschland bekommen sie kein Venture Capital.
Nun sagen Sie: Venture Capital ist in Deutschland
kein Thema, das ist alles Kapitalismus und ganz furchtbar.
({7})
Das ist genau der falsche Ansatz. Wir brauchen das Venture Capital in Deutschland, wir brauchen sogar mehr
Venture Capital in Deutschland.
Ich weiß nicht, welche Studien Sie zitieren.
({8})
Wenn Sie auf der CeBIT mit jungen Start-up-Unternehmern sprechen, dann sagen Ihnen alle, dass das Venture
Capital, die Wachstumsfinanzierung, das zentrale Problem in Deutschland ist. Die deutschen Unternehmen
kommen ab einem gewissen Punkt in Deutschland und
auch in Europa nicht mehr weiter. Das wollen wir ändern. Wir brauchen das Venture Capital, wir brauchen
das Wachstumskapital.
Frau Kollegin.
Dafür wollen wir sorgen.
({0})
Genau, und wir brauchen jetzt langsam das Ende Ihrer
Rede.
Herzlichen Dank, Frau Präsidentin, dass Sie mich an
das Ende meiner Redezeit erinnern.
({0})
Viele Aufgaben liegen vor uns. Wir wissen, was wir
anpacken müssen. Wir haben große Ambitionen. Wir
wollen die Neugier in unserem Land stärken und den
jungen, aber auch den klassischen Unternehmen dazu
verhelfen, dass sie die Chancen der Digitalisierung
Frau Kollegin, das war aber nicht nur ein Erinnern,
sondern Sie müssen wirklich zum Ende kommen!
- durch Vernetzung und Internationalisierung nutzen.
({0})
Tja, aber dann muss ich es Ihren Kollegen von der
Redezeit abziehen. So ist nun einmal das Leben: gerecht.
Jetzt hat das Wort Lars Klingbeil für die SPD.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich freue mich, dass wir den Koalitionsantrag zur digitalen Wirtschaft heute im Plenum diskutieren können. Das
ist ein wichtiges Signal, das die Große Koalition setzt.
Ich will hier auch einmal deutlich sagen: Während
Grüne und Linke noch meckern bei der Frage „federführend oder mitberatend“,
({0})
hat der Ausschuss angefangen, zu arbeiten, und zusammen mit dem Wirtschaftsausschuss hier einen wirklich
wegweisenden Antrag vorgelegt, der sich mit der digitalen Wirtschaft befasst.
({1})
Wenn ich mir die Reden von Linken und Grünen anhöre, in denen moniert wird, was alles in diesem Antrag
fehlt - es hat mir jetzt gerade noch gefehlt, dass kritisiert
wird, dass da nichts zum Thema Genmais drinsteht -,
({2})
dann will ich Ihnen sagen: Das ist ein Antrag, der sich
um das Thema „digitale Wirtschaft“ kümmert und der
auch andere Themen anschneidet. Aber seien Sie sich sicher: Es wird von der Großen Koalition noch viele weitere Anträge geben, die sich mit Teilaspekten der digitalen Agenda beschäftigen. Staatssekretärin Zypries hat
vorhin angesprochen, wie umfassend dieses Thema ist.
Es wird jetzt von der Bundesregierung bearbeitet. Auch
wir als Parlament werden daran arbeiten.
Ich kann Ihnen berichten: Wir haben in der Koalition
vereinbart, dass es bald einen Antrag zu dem gesamten
Komplex der Datensicherheit und zur Frage der IT-Sicherheit, des Datenschutzes geben wird. Lassen Sie uns
heute aber bitte über das diskutieren, wovon dieser Antrag handelt, nämlich über die digitale Wirtschaft und die
Frage: Wie können wir eigentlich die Potenziale, die in
diesem Bereich liegen, stärken? Wie können wir sie hervorheben? Wie können wir Arbeitsplätze hier in
Deutschland, aber auch in Europa schaffen?
({3})
Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie sich den Antrag
anschauen, den wir in den letzten Wochen mit Hochdruck erarbeitet haben, dann sehen Sie, dass er im Bereich der digitalen Wirtschaft zwei Schwerpunkte hat.
Der eine ist die Frage: Wie können wir Existenzgründungen in Deutschland stärken? Wie können wir die
Rahmenbedingungen dafür verbessern? Der andere
Schwerpunkt liegt auf der Frage: Wie können wir im Bereich der Wirtschaftsförderung in Bezug auf die klassischen Industriebereiche, die ja auch vor großen Umbrüchen durch die Digitalisierung stehen, zu Veränderungen
kommen? Wie können wir hier Digitalisierungsmechanismen fördern und für bessere Rahmenbedingungen
sorgen?
Es gibt dann aber auch eine ganz spannende dritte
Frage, die wir in diesem Antrag anfangen zu beantworten: Wie können wir die unterschiedlichen Bereiche
- Start-ups auf der einen Seite und Industrie 4.0 auf der
anderen Seite - zusammenbringen? Eine ganz entscheidende Plattform wird der IT-Gipfel sein; das hat die
Staatssekretärin vorhin angesprochen. Auch der Wirtschaftsminister hat es im Rahmen der CeBIT gesagt. Wir
wollen, dass der Nationale IT-Gipfel breiter aufgestellt
wird, dass er geöffnet wird, dass dort auch die klassische
Industrie viel stärker vertreten sein wird und dass wir
Themen stärker zusammen diskutieren.
Wenn wir über digitale Wirtschaft reden, dann müssen wir uns klarmachen: Es ist eine Wirtschaft, die vor
allem auf Ideen basiert, auf Innovationen, auf Kreativität. Es ist ganz wichtig, sich das bewusst zu machen,
wenn wir darüber nachdenken, wie wir die Potenziale
dieser Wirtschaft stärken können.
Auf der CeBIT konnte ich mit vielen jungen Gründern sprechen. Man muss schon feststellen: Das ist eine
sehr ruhige Branche. Die haben nicht viele Forderungen.
Aber wenn man die Gründer fragt: „Was ist für euch
wichtig? Welche Rahmenbedingungen müssen verbessert werden?“, erhält man eigentlich immer nur zwei
Antworten. Das Erste ist der Zugang zu Kapital, und das
Zweite ist die Frage der Fachkräfte.
({4})
Das sind die Fragen, die junge Gründer in Deutschland
bewegen. Auch dazu gibt es in diesem Antrag viele Antworten, die wir als Große Koalition geben.
Wir wollen den Zugang zu Kapital verbessern. Dabei
geht es nicht nur um die Wachstumsphase. Auch hier haben wir Antworten, etwa beim Thema Crowdfunding;
das wollen wir rechtlich besser absichern. Aber es geht
auch um die Wachstumsphase. Das ist das, was uns
Start-ups sagen. Das ist ein großes Problem. Wenn man
sich entschieden hat, zu wachsen, wenn die Idee vielleicht auch europäisch oder international interessant
werden soll, dann stellt sich nämlich die Frage: Wie
kann man dieses Wachstum absichern? Deswegen wollen wir das Venture-Capital-Gesetz auf den Weg bringen.
Es soll Eckpunkte dazu formulieren. Wir wollen auch
die Einführung eines neuen Börsensegments Markt 2.0
prüfen. Wir wollen den Bereich des Wagniskapitals
staatlicherseits ausbauen. Das ist ein ganz wichtiger
Punkt, den wir mit diesem Antrag auf den Weg bringen
und den wir von der Bundesregierung einfordern.
({5})
Das Zweite ist dann in der Tat der Bereich der Fachkräfte. Da geht es um eine Willkommenskultur in
Deutschland, auch um die Frage der Zuwanderung, die
wir anpacken werden. Wir wollen darüber reden: Wie
können wir Fachkräfte herholen? Aber es geht auch um
die Fachkräftegeneration von morgen.
Das Thema „digitale Bildung“ taucht ebenfalls in diesem Antrag auf, aber noch nicht so ausführlich, wie wir
das in dieser Legislatur behandeln wollen, auch gemeinsam mit den Ländern. Aber wir haben damals in der Enquete-Kommission viele gute Beschlüsse zur digitalen
Bildung gefasst, etwa wenn es darum geht, dass Schülerinnen und Schüler Zugang zu einem eigenen Laptop
oder Tablet haben sollen, dass die Lehrerausbildung verändert werden muss, dass die Bildungsmaterialien digitalisiert werden müssen. In Bezug auf die digitale Bildung und die Fachkräftegeneration von morgen liegt
also noch viel Arbeit vor uns. Auch das wollen wir anpacken.
Was neben Talents und Capital zur Stärkung von
Gründungen und zur Stärkung der Industrie 4.0 gehört,
sind die Themen Breitband - das ist schon angesprochen
worden - und IT-Sicherheit, die wir in einem eigenen
Antrag bearbeiten werden.
Ich sage Ihnen: Lassen Sie uns schauen, wie wir gemeinsam die digitale Wirtschaft in Deutschland stärken
können. Das sind die Arbeitsplätze von morgen. Das
sind neue Arbeitsplätze, auch neue Arbeitsmodelle, die
wir fördern müssen. Es geht insgesamt darum, in
Deutschland eine neue Gründerzeit beginnen zu lassen.
Mit diesem Antrag wollen wir dafür ein deutliches Signal setzen. Ich freue mich auf die Beratung hier im Parlament und auf die Verabschiedung.
Vielen Dank.
({6})
Danke schön, Herr Kollege. - Letzter Redner in dieser Debatte ist Thomas Viesehon für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Verehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen
und Kollegen! Ich freue mich sehr, dass ich in meiner
ersten Rede in diesem Hohen Hause die Gelegenheit
habe, zur Bedeutung der digitalen Wirtschaft zu sprechen. Als Mitglied des Ausschusses für Verkehr und digitale Infrastruktur möchte ich dabei den Fokus auf den
weiteren Ausbau der digitalen Netze legen.
({0})
Nicht umsonst wurde der Kompetenzbereich des Verkehrsausschusses um dieses Thema ergänzt. Die Einbindung der digitalen Infrastruktur war sinnvoll und wird
Früchte tragen. Nachdem es uns in den letzten Jahren gelungen ist, eine fast flächendeckende Internetversorgung
sicherzustellen, steht nun der qualitative Ausbau im Mittelpunkt. Denn nicht nur unsere Verkehrsinfrastruktur
muss funktions- und leistungsfähig sein; auch die Anbindung an digitale Netze muss diesen Anforderungen
entsprechen. Beide Schwerpunkte unserer Arbeit im
Ausschuss sind wesentliche Bausteine der positiven
Weiterentwicklung Deutschlands. So werden wir erfolgreich Mobilität und Modernität für unser Land und die
hier lebenden Menschen ermöglichen.
({1})
Meine Vorredner sind bereits ausführlich auf die Potenziale, die die digitale Wirtschaft in Deutschland hat,
eingegangen. Ich kann mich ihnen nur anschließen.
Deutschland muss die Chancen, die sich in der digitalen
Wirtschaftswelt bieten, konsequent nutzen. Wir als Verantwortliche im Bund müssen zusammen mit unseren
Mitstreitern auf den anderen politischen Ebenen die richtigen Rahmenbedingungen setzen, um auch in Zukunft
global wettbewerbsfähig zu bleiben. Neben der Klärung
von rechtlichen Fragen, die zum Beispiel im Beihilferecht oder bei der Öffnung von WLAN-Netzen bestehen,
gehört zu den Rahmenbedingungen insbesondere die
schon genannte flächendeckende und funktionsfähige digitale Infrastruktur.
Das Ziel der nächsten vier Jahre ist gesetzt: in allen
Teilen Deutschlands leistungsfähige Breitbandanschlüsse mit mindestens 50 Mbit/s, und das so schnell
wie möglich. Vom Erreichen dieses Ziels wird insbesondere der ländliche Raum profitieren; denn während in
den Ballungszentren der Breitbandausbau mit Glasfaserkabeln zum großen Teil abgeschlossen oder weit fortgeschritten ist, gibt es im ländlichen Raum immer noch Lücken.
({2})
Hier gilt es, Abhilfe zu schaffen. Ich komme aus dem
ländlichen Raum.
({3})
Es gibt durchaus auch dort Fortschritte. Diesbezüglich
hat die digitale Agenda schon etwas gebracht. Die Digitale Dividende war kein Lottogewinn, sondern sie wurde
gezielt eingesetzt, wenn mir das Wort erlaubt ist. Alle
unsere Bürgerinnen und Bürger - Sie können sich darauf
verlassen, dass das meine Marschrichtung sein wird -,
auch die auf dem Land, sollen einen uneingeschränkten
Zugang zur digitalen Welt haben, und zwar in dem benötigten Umfang und in der zuvor genannten Zeit.
Wir sind uns darüber im Klaren, dass eine flächendeckende Versorgung bis 2018 ausschließlich über Glasfasernetze aufgrund der damit verbundenen Kosten nicht
zu realisieren ist. Wie können wir das Versorgungsziel
alternativ erreichen? Die Lösung ist die Nutzung von
Innovationen im Bereich der bereits vorhandenen Kupferdraht-, Mobilfunk-, Kabel- und WLAN-Netze. Zudem müssen die bisherigen Instrumente für den Breitbandausbau überprüft und neue Ansätze entwickelt
werden. Bezogen auf das Festnetz gehört dazu, für alle
eingesetzten Technologien eine weitere Reduzierung der
Grabungskosten als einem der größten Kostentreiber zu
erreichen. Zur vollen Netzabdeckung können wir zudem
gering besiedelte Gebiete über den weiteren Ausbau des
LTE-Netzes erschließen. Hierfür gilt es weitere Funkfrequenzressourcen im Breitbandbereich vorzuhalten.
Dies alles soll verdeutlichen: Nur mit dem richtigen
Technologiemix wird es einen schnellen und bezahlbaren flächendeckenden Breitbandausbau geben.
Für 2016 ist im Rahmen der Digitalen Dividende 2
die Versteigerung eines weiteren LTE-Frequenzblocks
mit guten Ausbreitungsmöglichkeiten geplant. Dieser
Zeitplan ist ambitioniert, denn bei diesen Maßnahmen
handelt es sich um Frequenzen aus dem Rundfunkbereich. Da stoßen wir schon jetzt auf Widerstände von
Rundfunkanstalten und Interessenverbänden, die die
klassische Kultur- und Medienlandschaft gefährdet sehen. Deswegen müssen wir frühzeitig den Dialog aufnehmen und gemeinschaftlich Lösungen erarbeiten, damit es nicht zu unnötigen Verzögerungen kommt.
Dabei ist auch klar, dass wir die Vergabe der neuen
Frequenzen an eine unmissverständliche und eindeutige
Versorgungsauflage für den ländlichen Raum koppeln
und die Erträge aus der Frequenzvergabe zweckgebunden für den flächendeckenden Ausbau der Netze einsetzen müssen. Das heißt: keine Frequenzvergabe ohne die
Sicherstellung der Versorgung ländlicher Räume.
({4})
Aber wir wollen auch den offenen Dialog mit den Verantwortlichen. Deshalb bin ich froh, dass Bundesminister
Alexander Dobrindt am vergangenen Freitag mit der Initiative „Netzallianz Digitales Deutschland“ hierfür den
Startschuss gegeben hat. Denn nur wenn wir die großen
Telekommunikations- und Netzunternehmen mit an den
Tisch holen, können wir gemeinsam und auf schnellem
Wege unser Ziel der funktions- und leistungsfähigen
Breitbandversorgung in ganz Deutschland erreichen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns alle
diesen Weg beschreiten und die Chancen der Digitalisierung zum Wohle unseres Landes und der hier lebenden
Menschen nutzen.
Danke schön.
({5})
Vielen herzlichen Dank, lieber Kollege. Sie hätten eigentlich noch eine halbe Minute weiterreden können.
Vielleicht das nächste Mal; denn mit Sicherheit war das
nicht Ihre letzte Rede. Auch Ihnen sage ich Glückwunsch zu Ihrer ersten Rede und wünsche Ihnen viel Erfolg bei Ihrer Arbeit hier im Deutschen Bundestag. Mit
Ihnen hat heute ein Kollege seine erste Rede gehalten,
der bei der Raiffeisenbank ausgebildet worden ist. Ein
anderer Kollege, der vorhin ebenfalls seine erste Rede
gehalten hat, war bei der Sparkasse.
({0})
Also ist alles gut austariert. Wir sind in guten Händen.
Ich gratuliere Ihnen sehr.
({1})
Wir kommen zu den Abstimmungen über die Überweisungsvorschläge.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf
Drucksache 18/764 ({2}) an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Die Federführung ist jedoch strittig. Deswegen müssen wir abstimmen. Die Fraktionen der CDU/CSU und SPD wünschen
die Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und
Energie, die Fraktion Die Linke wünscht Federführung
beim Ausschuss Digitale Agenda.
Ich lasse zuerst abstimmen über den Überweisungsvorschlag der Fraktion Die Linke, also Federführung
beim Ausschuss Digitale Agenda. Wer stimmt für diesen
Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Damit ist der Überweisungsvorschlag abgelehnt bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen und
Ablehnung von CDU/CSU und SPD.
Ich lasse nun abstimmen über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD, Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Energie.
Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich?
({3})
Vizepräsidentin Claudia Roth
- Ja, die wollen wir alle, aber jetzt geht es um die Überweisung.
({4})
Dieser Überweisungsvorschlag ist angenommen:
Zustimmung von CDU/CSU und SPD, Ablehnung der
Linksfraktion und Enthaltung von Bündnis 90/Die Grü-
nen.
Wir kommen jetzt zur Vorlage auf Drucksache 18/771.
Sie soll an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-
schüsse überwiesen werden. Auch hier ist die Federfüh-
rung strittig, same procedure. Die Fraktionen der CDU/
CSU und SPD wünschen Federführung beim Ausschuss
für Wirtschaft und Energie, die Fraktion Die Linke
wünscht Federführung beim Ausschuss Digitale
Agenda.
Ich lasse zuerst abstimmen über den Überweisungs-
vorschlag der Fraktion Die Linke, also Federführung
beim Ausschuss Digitale Agenda. Wer stimmt für diesen
Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Der Überweisungsvorschlag ist abge-
lehnt: Zustimmung von Linksfraktion und Bündnis 90/
Die Grünen und Ablehnung von der Mehrheit von CDU/
CSU und SPD.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen von CDU/CSU und SPD - Federführung
beim Ausschuss für Wirtschaft und Energie - abstim-
men. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? -
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der
Überweisungsvorschlag angenommen: Zustimmung von
CDU/CSU und SPD und Ablehnung von Linken und
Bündnis 90/Die Grünen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 b sowie Zusatz-
punkt 2 auf:
14 b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Halina Wawzyniak, Jan Korte, Matthias W.
Birkwald, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE
Parteispenden von Unternehmen und
Wirtschaftsverbänden verbieten, Parteispenden natürlicher Personen begrenzen
Drucksache 18/301
Überweisungsvorschlag:Innenausschuss ({5})Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia
Kotting-Uhl, Annalena Baerbock, Bärbel Höhn,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Für mehr Transparenz in der Internationalen
Atomenergie-Organisation
Drucksache 18/772
Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit ({6})Auswärtiger AusschussAusschuss für Wirtschaft und Energie
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15 a bis 15 h auf.
Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen,
zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 15 a:
Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Erneute Überweisung von Vorlagen aus früheren Wahlperioden
Drucksache 18/770
Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dieser Antrag ist einstimmig
angenommen.
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des
Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 15 b:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({7})
Sammelübersicht 14 zu Petitionen
Drucksache 18/594
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Sammelübersicht 14 ist damit einstimmig
angenommen.
Tagesordnungspunkt 15 c:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({8})
Sammelübersicht 15 zu Petitionen
Drucksache 18/595
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Sammelübersicht 15 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 15 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({9})
Sammelübersicht 16 zu Petitionen
Drucksache 18/596
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Sammelübersicht 16 ist angenommen:
Zustimmung von CDU/CSU und SPD-Fraktion, Neinstimmen der Linken und Enthaltung von Bündnis 90/Die
Grünen.
Tagesordnungspunkt 15 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({10})
Sammelübersicht 17 zu Petitionen
Drucksache 18/597
Vizepräsidentin Claudia Roth
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Sammelübersicht 17 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 15 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({11})
Sammelübersicht 18 zu Petitionen
Drucksache 18/598
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Sammelübersicht 18 ist angenommen:
Zustimmung von CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die
Grünen und Ablehnung der Linken.
Tagesordnungspunkt 15 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({12})
Sammelübersicht 19 zu Petitionen
Drucksache 18/599
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Sammelübersicht 19 ist angenommen:
Zustimmung von CDU/CSU, SPD und Linken und Ablehnung von Bündnis 90/Die Grünen.
Tagesordnungspunkt 15 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({13})
Sammelübersicht 20 zu Petitionen
Drucksache 18/600
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Sammelübersicht 20 ist angenommen:
Zustimmung von CDU/CSU und SPD, Ablehnung von
Bündnis 90/Die Grünen und Linken; keine Enthaltungen. - Jetzt sind wir damit durch.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Abkommen vom 8. April 2013 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und der Republik Östlich des Uruguay über Soziale Sicherheit
Drucksache 18/272
Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales ({14})Auswärtiger AusschussAusschuss für GesundheitAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort Kollegin Waltraud Wolff für die SPD.
({15})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Am 5. Juli 1930
lief die „Conte Verde“ in Montevideo ein. An Bord
waren die europäischen Teilnehmer der ersten Fußballweltmeisterschaft. Uruguay hatte sich bereit erklärt, die
Weltmeisterschaft auszutragen.
Als das Schiff am Kai festlag
- so ist vom belgischen Schiedsrichter Jan Langenus zu
lesen -,
empfing uns eine vieltausendköpfige Menschenmenge, deren herzliches Willkommen nur übertroffen wurde von der Geschäftigkeit der Photographen
…
Deutsche Fußballspieler waren nicht an Bord. Deutschland trat 1930 nicht an.
Bis zum Jahr 2014 hat sich sehr viel geändert. Mindestens 10 000 Deutsche und 40 000 Menschen mit
deutschen Wurzeln leben in Uruguay. Ich finde, das ist
eine ungewöhnlich hohe Zahl, wenn man sich einmal
vorstellt, dass die Bevölkerung Uruguays circa 3,4 Millionen Menschen umfasst. Auch die wirtschaftlichen
Beziehungen zu Deutschland sind sehr eng. Wir sind in
Europa der größte Abnehmer von Produkten aus Uruguay; weltweit sind wir der sechstgrößte Abnehmer.
Heute, meine Damen und Herren, beraten wir in erster Lesung einen Gesetzentwurf über ein Sozialabkommen zwischen Deutschland und der Republik Östlich des
Uruguay. Mit diesem Abkommen vertiefen wir die ohnehin schon sehr gute Zusammenarbeit. Wir schaffen in
gegenseitigem Einvernehmen soziale Sicherheit. Dabei
geht es um soziale Errungenschaften für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die zum Arbeiten in das
jeweils andere Land entsandt werden. Außerdem werden
die Rentensysteme koordiniert. Das heißt, Doppelversicherungen sollen vermieden werden, und Lücken im
Rentenverlauf werden geschlossen. Das macht es dann
natürlich einfacher: für die entsendenden Unternehmen,
weil sie mit weniger Bürokratie zu tun haben, und für die
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, weil sie oftmals
von doppelter Beitragsbelastung betroffen sind. Das alles wird besser.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, Uruguay hat
nach einer sehr schweren Wirtschaftskrise wieder Anschluss an die Weltwirtschaft gefunden. Die Wirtschaft
wuchs. 2010 - man wundert sich - gab es ein Wachstum
von 4 Prozent. Armut und Arbeitslosigkeit nahmen in
dieser Zeit sehr stark ab. In Berichten über Uruguay ist
immer von dem Musterknaben in Lateinamerika die
Rede. So hat die Wirtschaftswoche 2012 mit Blick auf
das krisengeschüttelte Europa zum Beispiel die Frage
gestellt, was Griechenland von Uruguay lernen könnte.
Dieses Land in Südamerika hat seinen wirtschaftlichen Aufschwung geschafft, indem es notwendige
Reformen beherzt angepackt hat. Es ist darauf hinzuweisen, dass der Staat dabei ein ganz aktiver Motor war und
gehandelt hat. Man hat nämlich gesagt: Wir wollen
Uruguay zur Logistikdrehscheibe Lateinamerikas
Waltraud Wolff ({0})
machen. - Gleichzeitig hat man das Steuersystem, den
Arbeitsmarkt und das Gesundheitssystem reformiert. Im
Jahr 2002, als mit der Frente Amplio ein Mitte-LinksBündnis gewählt wurde, war völlig klar, in welche Richtung man geht. Man wollte die Lebenssituation der
breiten Bevölkerungsschicht verbessern. Die Menschen
haben erwartet, im Zuge des wirtschaftlichen Aufschwungs an dieser Verbesserung teilzuhaben.
2004 waren in Uruguay noch 40 Prozent der arbeitenden Bevölkerung im informellen Wirtschaftssektor tätig;
das heißt, diese Menschen haben ohne Arbeitsvertrag,
ohne Sozialversicherung, ohne irgendwelche Rechte gearbeitet. Deshalb war es dann auch ausgemachtes Ziel
der Regierung, genau hier anzusetzen und die Arbeitsmarktreformen so anzulegen, dass reguläre Arbeitsplätze
entstehen. Man kann das kaum glauben: Es ist gelungen.
Wenn Sie mich danach fragen, wie, kann ich ganz einfach die Antwort geben: Der Staat und die Gewerkschaften haben hier an einem Strang gezogen.
({1})
Die kollektiven Tarifverhandlungen wurden gestärkt.
Die Löhne stiegen zwischen 2005 und 2009 um 24 Prozent. Heute arbeiten nur noch 23 Prozent im informellen
Sektor. Alle anderen Beschäftigten arbeiten sozialversicherungspflichtig. Ich glaube, das ist ein echter Erfolg.
({2})
Sie werden sich jetzt fragen: Warum erzählt Frau
Wolff das in epischer Breite? Das kann ich Ihnen sagen:
In Deutschland wird immer wieder behauptet, eine Stärkung der Arbeitnehmerrechte führe dazu, dass Arbeit abwandert. Uruguay erzählt uns eine andere Geschichte.
({3})
Ich glaube, dieses Land hat gezeigt, dass sich Wirtschaftswachstum und Arbeitnehmerrechte unter einen
Hut bringen lassen.
Frau Wolff, denken Sie bitte an Ihre Redezeit?
Ja, ich denke daran; vielen Dank für die Erinnerung.
Meine Damen und Herren, wir haben gesehen: Eine
gute Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik trägt dazu bei, dass
die Menschen am wirtschaftlichen Erfolg teilhaben. Ich
glaube, wir in Deutschland können auch einmal einen
Blick über den Tellerrand werfen; deshalb freue ich
mich, dass wir die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt nicht zu Protokoll geben. Wenn wir uns fragen:
„Wie macht Uruguay das?“, erweitert das vielleicht auch
unseren Blick für andere Lösungsmöglichkeiten.
Vielen herzlichen Dank.
({0})
Danke, Frau Kollegin. - Das Wort hat Azize Tank für
die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Soziale Grundrechte sind eine unabdingbare Voraussetzung für ein würdiges Leben, egal in welchem Land. Sie
sind auch eine Verpflichtung für Regierungen, ihre Innen- und Außenpolitik mit diesen Rechten in Einklang
zu bringen; denn auch soziale Sicherheit gehört zu den
Grund- und Menschenrechten.
({0})
Durch das Abkommen mit Uruguay können bei Rentenansprüchen die Versicherungszeiten beider Länder
berücksichtigt werden. Die deutsche Seite berücksichtigt
sogar Rentenansprüche, die in einem anderen Mitgliedstaat der EU erworben wurden. Fortschrittlich ist auch
die Gleichstellung des gewöhnlichen Aufenthaltsorts der
Leistungsempfänger: Ich begrüße, dass das Abkommen
die uneingeschränkte Zahlung von Renten in den anderen Staat vorsieht; das ist mit dem sogenannten Leistungsexportprinzip gemeint.
Derartige Abkommen zwischen Deutschland und anderen Ländern müssten angesichts der fortschreitenden
Globalisierung eigentlich selbstverständlich sein.
({1})
Ich frage mich: Warum pflegt die Bundesrepublik eine
solche Kooperation bei der Sozialversicherung nicht mit
allen Staaten, egal ob es lateinamerikanische oder europäische Staaten wie beispielsweise Andorra, Moldawien
oder Georgien sind? Es ist erst zwei Monate her, dass der
Europäische Ausschuss für Soziale Rechte die Bundesrepublik wegen Verletzungen der Europäischen Sozialcharta gerügt hat, weil Deutschland solche Abkommen
mit mehreren Staaten in Europa gerade nicht abgeschlossen hat.
Bereits abgeschlossene Rentenabkommen wie das mit
der Republik Polen von 1975 dürfen dabei nicht dazu
führen, Ghetto-Arbeitern ihre berechtigten Rentenansprüche zu verweigern. Dies ist aber die gegenwärtige
Praxis der Bundesrepublik gegenüber polnischen Juden,
die in Ghettos gearbeitet haben. Leider sieht der neue
Referentenentwurf der Bundesregierung auch hier keine
Änderungen vor.
Die Gewährleistung des Rechts auf soziale Sicherheit
ist in der Europäischen Sozialcharta festgeschrieben,
also die Gleichbehandlung von Staatsbürgern verschiedener Staaten in Europa hinsichtlich der Ansprüche bei
der sozialen Sicherheit. „Soziale Sicherheit“ heißt es in
der Überschrift des Gesetzentwurfs und in dem zugrunde
liegenden Abkommen. Sie ist für Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer in der Tat von zentraler Bedeutung.
Aber die Vermeidung doppelter Beitragsbelastung und
die Berücksichtigung von Versicherungszeiten bei den
Rentenansprüchen sind nur ein Teil wirklicher sozialer
Absicherung.
({2})
Soziale Sicherheit ist ein Grund- und Menschenrecht
und Bestandteil der sozialen Menschenrechte, wie sie im
UN-Sozialpakt von 1966 längst festgeschrieben sind.
Deshalb erlaube ich mir, abschließend an dieser Stelle
darauf hinzuweisen, dass das Zusatzprotokoll zum UNSozialpakt endlich auch von der Bundesregierung ratifiziert und umgesetzt werden muss,
({3})
wie dies übrigens schon durch mehrere lateinamerikanische und europäische Staaten geschehen ist. Mit dem Ja
zu diesem Gesetzentwurf verbinde ich also den Appell,
endlich die überfällige Umsetzung der EU-Sozialcharta
und des UN-Sozialpaktes vorzunehmen.
Danke.
({4})
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Das Wort hat
Dr. Martin Pätzold für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion unterstützt den Entwurf eines Gesetzes der Bundesregierung
zu dem Abkommen vom 8. April 2013 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und der Republik Östlich
des Uruguay über Soziale Sicherheit.
Freier Handel und freier Austausch sind für die Entwicklungen von Volkswirtschaften von besonderer Bedeutung. Dabei sind unsere in Deutschland gelebten sozialen
Standards die Richtschnur für internationale Abkommen.
Soziale Marktwirtschaft und ihre Errungenschaften schlagen sich bei diesen transnationalen Vereinbarungen nieder.
Durch den freien Handel und die Ausweitung unserer internationalen Abkommen und Beziehungen wollen wir
durch die Ausnutzung komparativer Vorteile nicht nur
uns, sondern auch den Partnerländern einen möglichst
hohen Wohlstand ermöglichen.
Wir wollen eines: die Chancen der Globalisierung
nutzen;
({0})
denn die Globalisierung verknüpft die Lebensverhältnisse der Menschen in der ganzen Welt immer enger miteinander. Aber auch hier brauchen wir Regeln, um etablierte Industrien, junge Industrien, strategisch wichtige
Industrien und heimische Arbeitsplätze zu schützen.
Demnach sollen die deutschen wirtschaftlichen Interessen in der Welt gleichzeitig gefördert, geschützt und weiterentwickelt werden zu einer gerechten und nachhaltigen globalen Wirtschaftskooperation.
({1})
Uruguay ist traditionell ein wirtschaftsliberales Land
mit entsprechenden Institutionen. In der ersten Hälfte
des 20. Jahrhunderts war es eine der reichsten Volkswirtschaften Lateinamerikas. Nach einer Phase wirtschaftlicher Schwäche - Frau Wolff hat es schon angesprochen ist Uruguay heute ein aufstrebendes Land mit einem beeindruckenden Wirtschaftswachstum. Egal ob es um Demokratie, Transparenz oder Wettbewerbsfähigkeit geht:
Uruguay steht im internationalen Ranking relativ weit
vorn.
Zu Deutschland pflegt Uruguay traditionell sehr gute
Beziehungen. In Montevideo, der Hauptstadt Uruguays,
besteht seit 1916 eine Deutsch-Uruguayische Handelskammer mit über 500 Mitgliedern. In Uruguay leben
derzeit - das wurde auch schon angesprochen - ungefähr
10 000 Deutsche. Hinzu kommen 40 000 Deutschstämmige. Gemessen an der Gesamtbevölkerung ist das ein
relativ hoher Anteil.
Bereits seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
haben Deutsche dort auch einen wichtigen Beitrag zur
Entwicklung geleistet. Daher ist es wenig überraschend
- auch das hat Frau Wolff schon angesprochen -, dass
wir in Europa der größte Importeur uruguayischer Waren
sind. Laut Statistischem Bundesamt haben wir 2002 Güter im Wert von 291 Millionen Euro aus Uruguay importiert, und gleichzeitig führten wir Waren im Wert von
247 Millionen Euro dorthin aus.
Aktuell sind 30 deutsche Unternehmen in Uruguay
aktiv, vor allem im Industriebereich - Chemie- und
Pharmaindustrie - sowie im Transport- und Logistikbereich. In der Regel versorgen deutsche Unternehmen den
Markt dort durch lokale Partner, aber auch aus Drittländern wie Argentinien und Brasilien. All das spricht dafür, dass es gelungen ist, nachhaltige Beziehungen zu
Uruguay aufzubauen.
Das vorliegende Abkommen verfolgt daher das Ziel,
eine Doppelversicherung zu vermeiden und damit eine
indirekte Doppelversteuerung zu verhindern. Das ist
gleichermaßen im Interesse deutscher Arbeitnehmer und
der Arbeitnehmer aus Uruguay.
({2})
Deshalb stellen die Regelungen für die Zuordnung und
Abwicklung von Versicherungsverhältnissen im Bereich
der gesetzlichen Rentenversicherung zwischen beiden
Staaten einen Vorteil für betroffene Arbeitnehmer, Rentner und Betriebe dar, da es zu Verwaltungsvereinfachungen und weniger Bürokratie kommt.
Das Abkommen sieht außerdem die uneingeschränkte
Zahlung von Renten in das jeweils andere Land vor. Das
Abkommen zwischen der Republik Östlich des Uruguay
und der Bundesrepublik Deutschland schließt hier eine
Lücke. Rentner aus beiden Ländern können ihre Versicherungsleistungen erhalten und so von diesem Abkommen profitieren. All das sind wichtige Fortschritte
für die soziale Sicherheit.
Ich habe ja noch ein wenig Redezeit, und deswegen
möchte ich die Chance nutzen, noch ein persönliches
Wort zu sagen: Uruguay wird in meinem Herzen bleiben,
weil ich zu diesem wichtigen Abkommen und zu diesem
wichtigen Land meine erste Rede im Deutschen Bundestag halten durfte.
({3})
- Danke. - Deswegen werde ich in Zukunft natürlich besonders darauf achten, wie sich Uruguay wirtschaftlich,
kulturell und sozial entwickelt.
({4})
Ich glaube, dass wir mit diesem Abkommen einen guten
Beitrag zu dieser Entwicklung leisten.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Danke, Herr Kollege Dr. Pätzold. Wir alle gratulieren
Ihnen zu Ihrer ersten Rede und freuen uns auf Ihre
zweite Rede - möglicherweise wieder zu Uruguay. Viel
Erfolg bei Ihrer Arbeit als Abgeordneter hier im Deutschen Bundestag.
Der nächste Redner ist Markus Kurth für Bündnis 90/
Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Herr Dr. Pätzold, zunächst einmal auch von
meiner Seite herzlichen Glückwunsch zu Ihrer ersten
Rede.
Dieses internationale Sozialschutzabkommen gibt uns
Gelegenheit, einmal über den Tellerrand zu gucken und
generell zu schauen, wie der Sozialstaat jenseits Europas
eigentlich wahrgenommen wird und welche Funktion
dem Sozialstaat in anderen Ländern, gerade in den wirtschaftlich aufstrebenden Ländern Südostasiens und Lateinamerikas, zukommt.
In Gesprächen darüber habe ich sehr interessante Erfahrungen gemacht. Wir als Mitglieder des Ausschusses
für Arbeit und Soziales empfangen ja auch regelmäßig
Delegationen, zuletzt etwa aus China; aber auch aus
Indonesien und vielen anderen Ländern waren schon Delegationen da. Die soziale Absicherung - dafür sind sozialstaatliche Regelungen notwendig - wird dort als Voraussetzung für wirtschaftlichen Erfolg gesehen. Es war
für mich wirklich hochinteressant, dass uns die Vertreter
und Vertreterinnen dieser Delegationen gesagt haben:
Wir brauchen jetzt die soziale Absicherung, um wirtschaftlich weiterzukommen. Es ist ein Wachstumshemmnis, wenn wir nicht die Sozialausgaben steigern
und sichere, trittfeste Sozialsysteme etablieren.
Dieser Zusammenhang zwischen Sozialstaatlichkeit
und Ökonomie wird unmittelbar deutlich, wenn wir uns
etwa die gegenwärtige Lage in der Volksrepublik China
anschauen. Der dortige Immobilienboom hat elementar
etwas damit zu tun, dass es kein vernünftiges Umlagesystem in der Rentenversicherung gibt. Die entstehende
Mittelschicht investiert in Wohnungen, von denen inzwischen Hunderttausende, ja sogar Millionen einfach leer
stehen. Trotzdem wird in diese Wohnungen investiert,
weil es keine andere angemessene Möglichkeit der Altersvorsorge gibt. Das hat man inzwischen auch in China
erkannt.
Kehren wir zurück zum südamerikanischen Kontinent. Argentinien hat das Umlagesystem zunächst abgeschafft und versucht, es durch ein kapitalgedecktes System
zu ersetzen. Das ist gründlich gescheitert. Jetzt etabliert Argentinien wieder ein Umlagesystem. Uruguay hat zu weiten
Teilen - wir haben es von Frau Wolff gehört - seinen wirtschaftlichen Erfolg einer Verschlankung, aber vor allen
Dingen einer Stützung und Stärkung der sozialstaatlichen
Systeme zu verdanken.
Wir sehen also, dass die Debatte über Sozialstaatlichkeit in diesen wirtschaftlich aufstrebenden Ländern häufig anders abläuft als hier im medialen Mainstream. Sozialstaat wird hierzulande häufig als Belastung, als
Bürde, als Kostgänger der Wirtschaft dargestellt. Dabei
sind wirtschaftlicher Erfolg und soziale Absicherung
zwei Seiten einer Medaille. Soziale Absicherung ist Voraussetzung für wirtschaftlichen Erfolg.
({0})
Wenn wir einen kurzen Blick auf die USA werfen, sehen wir, dass Sozialversicherungen die Wirtschaft entlasten. In den USA gibt es trotz der Ansätze einer gesetzlichen Krankenversicherung keine flächendeckende
gesetzliche Krankenversicherung. Die Betriebe müssen
dort selbst über Gruppenverträge mit privaten Versicherungen für die Krankenversicherung ihrer Beschäftigten
sorgen. Das ist sehr, sehr teuer. Beschäftigte verlieren,
wenn sie ihren Arbeitsplatz verlieren, auch ihren Gesundheitsschutz. Wir sehen also: Es ist sogar im Sinne
des kapitalistischen Wirtschaftens dysfunktional, wenn
man - in dem Fall - auf eine gesetzliche Krankenversicherung, auf eine Sozialversicherung verzichtet.
Darum wünsche ich mir, dass wir öfters über den Tellerrand hinausblicken, uns die Funktion von sozialer Sicherung vor Augen führen und dies auch in den hiesigen
Debatten stärker berücksichtigen. Wir sollten eine
schlichte, reduktionistische Sicht auf soziale Sicherung
vermeiden und sehen, dass soziale Sicherung und insbesondere auch die Sozialversicherung mit dazu beitragen,
dass es uns hier in Deutschland wirtschaftlich relativ gut
geht.
Vielen Dank.
({1})
Herzlichen Dank. - Als Nächstes hat der Kollege
Michael Gerdes von der SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich erinnere mich an die vergangene Legislaturperiode: Da sind
aus Zeitgründen jede Menge Debattenbeiträge und Reden zu Protokoll gegangen, obwohl es sich bei vielen
Themen gelohnt hätte, zu debattieren; nicht nur, um unterschiedliche Argumente auszutauschen oder in der Sache zu streiten, nein, auch, um die vielen positiven Errungenschaften unserer Gesellschaft hervorzuheben und
deutlich zu machen. Deswegen freue ich mich, dass ich
das heute an dieser Stelle tun kann. Mir ist es wichtig,
aufzuzeigen, wie umfangreich die soziale Sicherheit unseres Staates ist, weil sie nämlich die unterschiedlichsten
Lebens- und Arbeitsformen berücksichtigt.
Das Sozialversicherungsabkommen mit Uruguay
scheint für unser politisches Tagesgeschäft weniger
wichtig zu sein. Aber es zeigt deutlich, was unser Sozialstaat leistet und wie das Leben im Sinne der Menschen
gestaltet werden kann. Waltraud Wolff und Dr. Pätzold
haben uns dankenswerterweise das Land dargestellt und
seine Strukturen aufgezeigt. Durch den vorliegenden Gesetzentwurf wird der soziale Schutz der Staatsangehörigen beider Länder geregelt.
({0})
Doppelversicherungen und Lücken im Rentenverlauf
werden vermieden. Das kann nur von Vorteil sein, insbesondere in einer globalisierten Welt, in der die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer immer flexibler sein
müssen und Arbeitsaufenthalte im Ausland immer häufiger werden, nicht nur bei Ingenieuren oder Monteuren.
Auch wenn die Republik Östlich des Uruguay geografisch sehr fern ist, gibt es viele Menschen, wie wir heute
gehört haben, für die das Abkommen wichtig ist.
Schließlich ist der Anteil der Personen mit deutschem
Migrationshintergrund in Uruguay sehr hoch. Somit begrüßen wir das Abkommen.
({1})
Zu Uruguay wurde schon sehr viel gesagt. Lassen Sie
mich deshalb etwas grundsätzlicher werden. Sozialversicherungsabkommen haben eine gewisse Tradition. Als
Bergmann und Abgeordneter aus dem Ruhrgebiet ist mir
besonders das Sozialversicherungsabkommen mit der
Türkei ein Begriff. Es besteht bereits seit 1964, und wir
haben damit gute Erfahrungen gemacht.
Gerade bei dem Sozialversicherungsabkommen mit
der Türkei spielten die Tarifpartner, insbesondere die damalige IGBE und die Bergbaubetriebe, eine besondere
Rolle. Ich erinnere daran, dass die Menschen als Gastarbeiter gerufen wurden. Viele blieben, andere gingen
nach dem Arbeitsleben wieder zurück in ihre Heimat.
Ohne entsprechende Verträge stünden diese Menschen
deutlich schlechter da.
Ähnliches gilt für die deutschstämmige Bevölkerung,
die beispielsweise aus Polen zu uns gekommen ist, oftmals mit einer nicht unerheblichen Arbeitsbiografie.
Dank des Sozialversicherungsabkommens können solche Personen problemlos ihre Altersrente klären und Ansprüche geltend machen.
Deutschland hat mit einer Reihe von Ländern zweiseitige Sozialversicherungsabkommen geschlossen.
Dazu gehören große Staaten wie die USA und Brasilien,
aber auch kleinere Länder wie Montenegro und Mazedonien. Im Grundsatz geht es bei allen Abkommen um den
Erwerb von Rentenansprüchen und die Zahlung von
Renten in den jeweiligen Staaten. Es geht also um die
Vorsorge fürs Alter. Wer zeitlich begrenzt im Ausland
arbeitet, aus welchen Gründen auch immer, soll später,
wenn es um seine Rente geht, keine Nachteile erleiden.
Gleiches gilt im Übrigen für die Unfall-, Kranken- und
Arbeitslosenversicherung.
Frau Tank hat die Frage gestellt: Warum werden nicht
mehr Länder mit einbezogen? - Sicherlich ein berechtigtes, aber nicht immer einfaches Unterfangen. Aber ich
weiß, dass wir schon mit einer ganzen Reihe von Ländern Sozialversicherungsabkommen geschlossen haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sozialversicherungsabkommen sind absolut sinnvoll,
({2})
auch deshalb, weil Deutschland auf Fachkräfte aus dem
Ausland angewiesen ist. Nur dann, wenn wir es schaffen, ausreichend Fachkräfte für Arbeit und Leben in
Deutschland zu begeistern, bleiben wir wettbewerbsfähig und können langfristig unseren Wohlstand und unsere Lebensqualität sichern. Insofern verstehe ich jedes
Sozialversicherungsabkommen als Teil einer guten Willkommenskultur. Lassen Sie uns daran arbeiten, dass
nicht nur das Sozialversicherungsabkommen mit Uruguay, sondern auch weitere Abkommen hier erfolgreich
debattiert werden.
In diesem Sinne vielen Dank. Glück auf!
({3})
Als Nächstem erteile ich das Wort dem Kollegen
Tobias Zech, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Kurth, Sie haben vorhin einen sehr klugen und interessanten Blick auf die Welt geworfen und uns mitgeteilt,
wie wichtig es ist, dass wir positiv über unser deutsches
Sozialsystem sprechen und das auch immer wieder untermauern. Ich freue mich schon darauf, dass Sie das in
diesem Hohen Hause wiederholen, wenn wir die Rentenpakete verabschieden werden. Denn auch das gehört zur
positiven Sozialpolitik.
({0})
Die Unterzeichnung des Sozialversicherungsabkommens zwischen Deutschland und der Republik Östlich
des Uruguay jährt sich nächsten Monat. Damals wurde
dieses Abkommen noch von Guido Westerwelle unterTobias Zech
schrieben. Es hat sich für uns bis heute vieles verändert,
nicht aber die Sinnhaftigkeit und Wichtigkeit dieses Abkommens.
Uruguay - das haben wir heute schon mehrmals gehört - ist als Einwanderungsland seit vielen Jahrzehnten
eng mit Deutschland verbunden. Über 10 000 Deutsche
und 40 000 Deutschstämmige leben in diesem Land. Das
ist im Verhältnis zur Größe des Landes - es ist ungefähr
halb so groß wie Deutschland - und zur Einwohnerzahl
- vergleichbar mit der Berlins - ein ungewöhnlich hoher Anteil. Pro Jahr wandern circa weitere 400 Deutsche ein.
Uruguay ist nach dem Global Peace Index Report das
friedlichste Land in Lateinamerika. In der ersten Hälfte
des 20. Jahrhunderts eine der reichsten Volkswirtschaften Lateinamerikas, ist Uruguay nach einer langen Phase
wirtschaftlicher Schwäche heute wieder ein aufstrebendes Schwellenland mit einer Mischung aus marktwirtschaftlichen und sozialen Elementen. Uruguay ist trotz
seiner geringen Größe eines der wachstumsstärksten
Länder der Region. Seit sechs Jahren wächst die Wirtschaft stärker als der lateinamerikanische Durchschnitt.
Das Wirtschaftswachstum betrug 2012 3,9 Prozent. Das
Bruttoinlandsprodukt erreichte damit knapp 50 Milliarden US-Dollar. Die Wachstumsschätzungen für 2013 belaufen sich auf 3,5 bis 4 Prozent. Uruguay setzt damit
seine positive Entwicklung seit dem Krisenjahr 2003 fort
und wird zunehmend ein wichtiger Standort für deutsche
Unternehmen.
Es bestehen enge wirtschaftliche Beziehungen zwischen unseren beiden Staaten. Deutschland ist in Europa
der größte Abnehmer von Waren aus Uruguay; weltweit
gehört die Bundesrepublik Deutschland zu den wichtigsten Abnehmerländern. Die gegenseitigen Beziehungen
sind von Sympathie und Vertrauen geprägt, sodass beste
Voraussetzungen für eine gute und dauerhafte Partnerschaft bestehen. Wir müssen diese Partnerschaft pflegen
und weiter ausbauen, um dem politischen Dialog in allen
Politikbereichen eine neue Qualität zu verleihen. Neben
dem Blick nach China, Indien und Amerika darf der
Blick nach Südamerika nicht verloren gehen. Umso erfreulicher finde ich es, dass dieses Abkommen nunmehr
seinen gesetzlichen Rahmen findet.
Das Abkommen ist ein sogenanntes offenes Abkommen, das auf alle Personen Anwendung findet, für die
die Rechtsvorschriften einer der Vertragsstaaten gelten.
Inhaltlich bezieht es sich vorrangig auf die gesetzliche
Rentenversicherung. Die Bundesrepublik Deutschland
hat mit einer Reihe von Ländern solche zweiseitigen Sozialversicherungsabkommen geschlossen. So werden
derzeit zum Beispiel auch Verhandlungen mit Argentinien und den Philippinen geführt. Diese Abkommen regeln im Wesentlichen den Erwerb von Rentenansprüchen und die Zahlung von Renten in dem jeweiligen
Staat. Sie enthalten Bestimmungen über das anzuwendende Recht, die Gleichbehandlung der vom persönlichen Geltungsbereich erfassten Berechtigten, über die
Wahrung der erworbenen Ansprüche sowie über gegenseitige Amts- und Rechtshilfe.
Die Themen Rente und soziale Sicherheit sind nach
wie vor für uns alle Themen mit höchster Priorität. Daher gilt es insbesondere auch den Menschen, die nicht in
ihrem Heimatland leben und arbeiten, Sicherheit zu gewährleisten und damit das Arbeiten in einem anderen
Land zu ermöglichen. In der heutigen Zeit, in der der Arbeitsmarkt von einem stetigen Austausch mit anderen
Nationen lebt, ist die soziale Absicherung besonders
wichtig. Das internationale Arbeiten rückt durch weltweit agierende Unternehmen immer mehr in den Fokus.
Wir müssen es unterstützen, wenn deutsche Firmen den
uruguayischen Markt entdecken und sich dort mit deutschen Arbeitnehmern niederlassen wollen. Im Rahmen
solcher Gründungen von Unternehmen und Tochterfirmen wird es immer wieder dazu kommen, dass deutsche
Fachkräfte für einige Zeit in Uruguay tätig sind. Mit diesem Abkommen sorgen wir dafür, dass dies so unkompliziert wie möglich vonstattengehen kann. Der deutsche
Arbeitnehmer, der in Uruguay arbeitet, kann weiterhin
im deutschen Rentensystem bleiben. Das Abkommen
unterstützt in höchstem Maße den regen Austausch deutscher und uruguayischer Arbeitnehmer, eine Entwicklung, die wir gerade in Anbetracht unseres Fachkräftemangels nur begrüßen können.
Durch dieses Abkommen wird der soziale Schutz der
Staatsangehörigen beider Länder innerhalb der jeweiligen Rentenversicherungssysteme sichergestellt und koordiniert. Arbeitnehmer, die bis zu 24 Monate in Uruguay bzw. in Deutschland eingesetzt werden, können im
Rentensystem ihres Heimatlandes bleiben. Eine Doppelversicherung und Lücken im Rentenverlauf werden somit verhindert. Darüber hinaus sieht das Abkommen die
uneingeschränkte Zahlung von Renten in dem anderen
Staat vor. Dies ist für einen aktiven Wechsel der Arbeitnehmer unerlässlich, von dem sowohl Deutschland als
auch Uruguay in höchstem Maße profitieren. Es gilt daher, bürokratische Hindernisse abzubauen und einen
Übergang in einen neuen südamerikanischen Arbeitsvertrag für Arbeitnehmer so einfach wie möglich zu gestalten. Das ermöglicht dieses Abkommen nunmehr. Aber
nicht nur für die deutschen Arbeitnehmer ist diese Sicherheit von besonderer Bedeutung. Gerade unter dem
Aspekt der Internationalität des deutschen Arbeitsmarktes ist es unser Anliegen, uruguayische Arbeitnehmer
willkommen zu heißen. Wir sind ein offenes Land und
können mit diesem Abkommen unsere Willkommenskultur für Fachkräfte nur noch unterstreichen und weiter
ausbauen.
Der Bildung wird in Uruguay ein sehr hoher Stellenwert eingeräumt, besonders im Bereich der Informationstechnik. Wir werden hier auch von uruguayischen
Fachkräften profitieren können.
Es ist an der Zeit, dass wir dieses Abkommen in den
parlamentarischen Gremien beider Staaten absegnen und
zum Beschluss führen.
Herzlichen Dank.
({1})
Zur letzten Rede zu diesem Tagesordnungspunkt erteile ich einer Kollegin das Wort, die ihre erste Rede im
Deutschen Bundestag hält. Kollegin Gabriele Schmidt
hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zwischen dem Schwarzwald, wo ich herkomme, und
dem Cerro Catedral in Uruguay liegen über 11 000 Kilometer Luftlinie. Diese Entfernung hindert aber weder
Deutschland noch Uruguay, enge wirtschaftliche Beziehungen miteinander zu unterhalten und vor allem Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in das jeweils andere
Land zu entsenden, im Gegenteil: Die Bundesrepublik
- wir haben einige dieser Informationen heute schon gehört - ist der wichtigste EU-Handelspartner Uruguays,
und Deutschland steht auf Platz sechs der wichtigsten
Abnehmerländer Uruguays weltweit.
Um diese Bindung zu festigen und vor allem um die
Bedingungen dafür zu schaffen, wurde das Abkommen
über die soziale Sicherheit geschlossen. Mit dem vorliegenden Vertragsgesetz, das heute in der ersten Lesung
ist, schaffen wir nun die innerstaatlichen Voraussetzungen für die Ratifizierung des Abkommens. Die Welt ist
global geworden, und die Globalisierung macht auch
nicht halt vor der Arbeitswelt. Heute sind es nicht mehr
nur Rucksacktouristen und Abenteurer, die ein exotisches Land wie Uruguay besuchen, sondern Kaufleute
und Techniker oder Landwirte oder Ingenieure. Die arbeiten dort und erwerben Rentenanwartschaften. Für
diese Lebenssituationen bietet das Sozialversicherungsabkommen konkrete Lösungen an.
Das auf uruguayische Initiative zustande gekommene
bilaterale Sozialversicherungsabkommen, das am 8. April 2013 zwischen dem damaligen Bundesaußenminister
und seinem uruguayischen Amtskollegen in Berlin unterzeichnet wurde, hätte genauso gut eine deutsche Initiative sein können; denn beide Seiten werden von der zu
erwartenden Verbesserung der bilateralen Handels- und
Wirtschaftsbeziehungen profitieren. Die CDU/CSUBundestagsfraktion begrüßt daher ausdrücklich die
Ratifizierung des Sozialversicherungsabkommens mit
Uruguay. Damit wird der soziale Schutz der Staatsangehörigen beider Länder innerhalb der jeweiligen Rentenversicherungssysteme sichergestellt und koordiniert.
Wenn Beschäftigte nur vorübergehend in den jeweils
anderen Staat entsandt werden, bleibt es beim Versicherungsverhältnis im Heimatstaat. Damit können Doppelversicherungen und Lücken im Rentenverlauf verhindert
werden. Der Entsendezeitraum kann dabei bis zu 24 Kalendermonate betragen. Das Abkommen bringt Verwaltungsvereinfachungen für betroffene Arbeitnehmer,
Rentner und deren Angehörige und für Betriebe. Wir
können davon ausgehen, dass zum Beispiel Ingenieure,
Techniker oder Monteure in dieses Land entsandt
werden und dort arbeiten, und das nicht nur für wenige
Wochen, sondern vielleicht für viele Monate. Für genau
die ist dieses Sozialversicherungsabkommen gedacht.
({0})
Die Bundesrepublik Deutschland hat mit vielen Ländern Sozialversicherungsabkommen - es sind schon
einige aufgezählt worden -, darunter mit Brasilien und
Indien, zwei riesigen Ländern mit Millionen von Arbeitnehmern. Dagegen ist die Republik Östlich des Uruguay,
wie der Name des Landes in der korrekten Übersetzung
lautet, mit ihren rund 3,4 Millionen Einwohnern vergleichsweise klein. Uruguay - auch das haben wir schon
gehört - hat so viele Einwohner wie Berlin, allerdings
auf einer Fläche, die fast 200-mal größer ist.
Der Anteil der Deutschen und der Deutschstämmigen
ist gemessen an der Einwohnerzahl sehr hoch. Als Einwanderungsland ist Uruguay seit Jahrzehnten eng mit
unserem Land verbunden. Damit gibt es eine starke
kulturelle Verbundenheit zwischen Deutschland und
Uruguay, und es gibt auch, wie schon mehrfach betont,
enge wirtschaftliche Beziehungen. Nach meinem Wissen
sind derzeit 30 deutsche Firmen in Uruguay aktiv. Das
Land ist nach der Wertehaltung seiner Bürger ein fast europäisches Land. So lag Uruguay im Demokratie-Index
Lateinamerika der Konrad-Adenauer-Stiftung auf Platz
eins beim Vergleich der Länder Lateinamerikas im
Jahr 2013.
Wir können also davon ausgehen, dass in Zukunft
noch mehr Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer das jeweils andere Land besuchen und dort die Arbeit aufnehmen werden. Sie werden von diesem neuen Abkommen
profitieren. Das Abkommen verbessert die Vereinbarkeit
der beiden Rentensysteme und trägt insbesondere den
Interessen der Rentner und einer neuen Migrationsrealität Rechnung.
Herzlichen Dank.
({1})
Liebe Frau Kollegin Schmidt, der ganze Deutsche
Bundestag gratuliert Ihnen zu Ihrer ersten Rede und
wünscht Ihnen ein fröhliches, lebendiges, diskursreiches
parlamentarisches Wirken.
({0})
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 18/272 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es andere
Vorschläge dazu? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Susanna
Karawanskij, Klaus Ernst, Dr. Dietmar Bartsch,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Den Grauen Kapitalmarkt durchgreifend
regulieren
Drucksache 18/769
Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss ({1})Ausschuss für Recht und VerbraucherschutzAusschuss für Wirtschaft und Energie
Vizepräsident Peter Hintze
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre
hierzu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Da wir gleich zu Beginn dieser Debatte wieder eine
Erstrednerin haben, bitte ich, die Gratulationscour bei
Frau Schmidt zügig abzuschließen. Ich erteile das Wort
der Kollegin Susanna Karawanskij, Die Linke, zu ihrer
ersten Rede.
({2})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Ich kann mich noch gut
daran erinnern, dass die Bundeskanzlerin die umfassende Regulierung der Finanzmärkte gefordert hat und
ankündigte, dafür zu sorgen. Das war im Jahr 2009. Ich
habe damals die Bundestagsreden nicht hier im Plenarsaal verfolgt, sondern, wie so viele, im Fernsehen. Auch
wenn dies meine erste Rede hier im Plenarsaal ist, kann
ich mit Kritik an der Finanzpolitik der Bundesregierung
leider nicht sparen.
Der Graue Kapitalmarkt mutet ein wenig an wie ein
schwelendes Feuer, aus dem immer wieder einmal eine
Stichflamme herauskommt. Die jüngste Stichflamme
war Prokon mit seinen Genussrechten, durch die rund
75 000 Anlegerinnen und Anleger rund 1,4 Milliarden
Euro zu verlieren drohen. Das ist ein Beispiel des
Grauen Kapitalmarkts, welcher seit Jahren hinsichtlich
Finanzmarktstabilität und Verbraucherschutz hoch problematisch ist. Anlegern gingen Gelder in Milliardenhöhe verloren. Die vergangenen Bundesregierungen haben, wenn überhaupt, nur zögerlich reagiert. Gewiss gab
es in der letzten Wahlperiode einige Verbesserungen, das
allerdings in homöopathischen Dosen, die augenscheinlich im Endeffekt nur sehr wenig gebracht haben.
Nun, nach dem Insolvenzantrag von Prokon, verkündet die Bundesregierung, Anleger besser schützen zu
wollen, indem die Finanzaufsicht, die BaFin, Geschäftsmodelle prüfen und Produktverbote bzw. Vertriebsbeschränkungen aussprechen soll. Die BaFin hingegen
spielt den Ball zurück: Es sei nicht ihre Aufgabe, Renditeversprechen von Unternehmen oder gar Geschäftsmodelle zu prüfen. - Ein Hin und Her, ein Nullsummenspiel, bei dem am Ende wie so oft die Verbraucherinnen
und Verbraucher in die Röhre schauen und die Finanzmärkte immer noch unzureichend reguliert sind. Während die Bundesregierung in handlungsunfähiger Starre
verharrt, gehen weitere Unternehmen wie Infinus, Quantum, Wölbern und Windwärts in die Insolvenz.
Meine Damen und Herren, das kann so nicht weitergehen, das darf so nicht weitergehen. Wir müssen den
Grauen Kapitalmarkt durchgreifend regulieren, um die
Finanzmärkte zu stabilisieren und die Verbraucherinnen
und Verbraucher besser zu schützen.
({0})
Es gibt dabei noch ein grundsätzliches Problem, und
zwar die Tatsache, dass es immer noch ein Aufsichtsund Regulierungsgefälle gibt. Es besteht neben dem sogenannten Weißen, halbwegs regulierten Finanzmarkt
ein unregulierter Grauer Kapitalmarkt, und auf dem
kaum regulierten Grauen Kapitalmarkt tummeln sich
eben auch fragliche und vermehrt unseriöse Anbieter
und Abzocker. Die Linke schlägt deshalb vor, jede Geldanlage, jedes Kreditgeschäft und auch jede Vermögensanlage in den einschlägigen, zum Teil schon existierenden
Gesetzen zu regulieren und dadurch einem inhaltlichen
Prüfungsrecht der Finanzaufsicht, also der BaFin, zu unterstellen. Dazu muss infolgedessen natürlich das Personal bei der BaFin aufgestockt werden. Aber das reicht
noch nicht aus.
({1})
Es gibt nach wie vor einfach viel zu viel Finanzschrott auf den Märkten, und es wird noch mehr - tagtäglich. Das wiederum liegt daran, dass auf den Finanzmärkten immer noch jedes Finanzinstrument erlaubt ist,
das nicht ausdrücklich verboten ist. Es ist ein nahezu unüberblickbarer Wust an Finanzinstrumenten, den weder
Profis noch Privatanleger durchdringen. Dieses Dickicht
müssen wir lichten; da müssen wir Ordnung hineinbringen. Das geschieht am besten durch die Errichtung eines
Finanz-TÜVs.
({2})
Das bedeutet ganz einfach, dass alle Finanzinstrumente,
-akteure und -praktiken vor ihrer Zulassung dahin gehend untersucht werden, ob das gesamtwirtschaftliche
Risiko beherrschbar ist und ob diese auch verbraucherfreundlich sind. Uns ist es an dieser Stelle wichtig, dass
wir die Beweislast umkehren: Es kommt nur das auf den
Markt, was ausdrücklich zugelassen wurde, wobei die
Beweislast beim Ausgebenden, bei den Emittenten,
liegt.
({3})
Hochspekulative bzw. hochriskante, auch intransparente
und leider auch unseriöse Finanzinstrumente werden damit erst gar nicht zugelassen oder vom Markt genommen. In der Folge würden wir die Finanzmärkte weniger
komplex gestalten, entzerren und in Richtung einer der
Realwirtschaft dienenden Funktion entschlacken.
Mit einem Finanz-TÜV hätte man schon viel eher die
Gefahren des Grauen Kapitalmarkts eindämmen können.
Es ist ein präventives Instrument. Was immer Sie gegen
einen Finanz-TÜV vorbringen werden: Sie müssen die
Frage beantworten, wie man es erreichen kann, dass man
den Finanzinnovationen, die auf den Markt drängen,
nicht immer hinterherhechelt und dann versucht, diese
zu regulieren. Wir Linke sind auf Ihre Antworten sehr
gespannt.
({4})
Darüber hinaus setzen wir, die Linke, uns für die Stärkung einer unabhängigen Finanzberatung durch Verbraucherzentralen oder Honorarberatungen ein. Der provisionsbasierte Verkauf von Finanzinstrumenten und der
Verkaufsdruck, der durch die produktbezogenen Vertriebsvorgaben auf die Anlageverkäufer entsteht, müssten gesetzlich unterbunden werden. Daher fordere ich
Sie auf, meine Damen und Herren von der Regierungsbank: Werden Sie aktiv. Regulieren Sie endlich den
Grauen Kapitalmarkt, und zwar durchgreifend. Wir
brauchen eine einheitliche und umfassende, effektive
Finanzaufsicht. Wir brauchen einen Finanz-TÜV. Wir
brauchen eine unabhängige und qualifizierte Finanzberatung. Schützen Sie die Verbraucherinnen und Verbraucher vor windigen und unseriösen Anbietern. Schützen
Sie sie auch vor hochriskanten und intransparenten Geschäftsmodellen auf dem Finanz- und Kreditmarkt. Und
sorgen Sie für stabilere Finanzmärkte, indem wirklich
kein Finanzinstrument und keine Finanzpraxis unreguliert bleiben.
Vielen Dank.
({5})
Herzlichen Dank. - Auch Ihnen, liebe Frau Kollegin,
herzlichen Glückwunsch zu Ihrer ersten Rede und eine
interessante parlamentarische Zeit.
({0})
Als Nächstem erteile ich das Wort dem Kollegen
Dr. Frank Steffel, CDU/CSU-Fraktion. Er ist schon freiwillig zum Rednerpult geeilt. Er ahnte, dass er aufgerufen wird.
({1})
Nicht nur freiwillig, Herr Präsident, sondern besonders gerne, weil ich glaube, dass gerade bei dem Thema
neben allen Gesetzen und Regulierungen, die wir teilweise gemeinsam, teilweise nicht ganz gemeinsam in
den letzten Jahren verabschiedet haben und in den
nächsten Jahren weiter verabschieden werden, die öffentliche Debatte, durch die Aufklärung und Sensibilität
bei Verbraucherinnen und Verbrauchern in Deutschland
erzeugt werden kann, ein ganz wichtiger Beitrag ist. Insofern bin ich der Fraktion Die Linke dankbar, dass wir
heute wieder einmal die Gelegenheit haben, zu diesem
Thema öffentlich zu diskutieren.
Wir bleiben seit Jahren, so auch in dieser Legislaturperiode, unserer Devise treu: Kein Finanzprodukt und
kein Anbieter dürfen in Deutschland unreguliert bleiben.
({0})
Diesem Kernsatz ordnen wir alles unter. Das haben wir
in den vergangenen vier Jahren getan, und das werden
wir auch in den kommenden vier Jahren tun.
({1})
Deshalb haben wir bereits Schutzmechanismen, die
sich auf dem regulierten Kapitalmarkt bewährt haben,
für den sogenannten Grauen Kapitalmarkt übernommen.
Unser Ziel ist ja nicht, den Grauen Kapitalmarkt zu regulieren; vielmehr ist unser Ziel, dass es möglichst keinen
Grauen Kapitalmarkt gibt, sondern einen Weißen Kapitalmarkt, das heißt einen Kapitalmarkt, von dem die
Menschen vorher wissen, was drin ist, was sie kaufen,
und wo sie die Risiken kennen, für die sie sich dann
- bewusst oder unbewusst - selbst entscheiden.
({2})
Deshalb haben wir Dokumentationspflichten, Sachkundenachweise, die Pflicht zur Haftpflichtversicherung,
scharfe Prüfungs- und Registrierungsverpflichtungen
aus dem Weißen Kapitalmarkt auf den Grauen Kapitalmarkt weitestgehend eins zu eins übertragen. Aber
natürlich, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen
und Kollegen von der Linksfraktion, müssen wir wachsam bleiben; denn eines haben wir auch gelernt: Der
Kreativität der Anbieter und übrigens auch der Gier der
Konsumenten scheinen wenige Grenzen gesetzt zu sein.
Insofern ist der Gesetzgeber immer gefordert, zu prüfen:
Ist das, was wir gestern beschlossen haben, heute noch
aktuell, oder müssen wir möglicherweise nachjustieren
oder ganz neue Regelungen einführen? - Aber eines ist
auch klar: Wir können nicht aus Angst vor Bankräubern
die Banken abschaffen,
({3})
sondern müssen schon schauen, dass wir in Deutschland
einen normalen Finanz- und Kapitalbetrieb ermöglichen.
({4})
Gerade weil heute viele junge Menschen zuhören,
möchte ich eines sehr deutlich sagen - ich komme gleich
noch zum Thema Kreditmarkt -: Wir können nur sicherstellen, dass der Konsument über die Risiken vollumfänglich aufgeklärt ist. Die Entscheidung können wir
dem sogenannten mündigen Bürger nicht abnehmen. In
Deutschland steht auf jeder Zigarettenpackung wirklich
nicht übersehbar, was die Risiken sind, wenn man
raucht. Trotzdem gibt es Millionen Menschen, die sich
in vollem Bewusstsein und in Kenntnis dieser Risiken
dafür entscheiden, Zigaretten nicht nur zu kaufen, sondern auch zu konsumieren. Insofern liegt die Entscheidungsfreiheit schlussendlich beim Konsumenten. Wir
können nur die Risiken ausweisen und davor warnen.
Aber Schutz und Information sind nach unserem Freiheitsbild wichtiger als Bevormundung. Das heißt, ein
Verbot kann nur die Ultima Ratio sein.
({5})
Die Verbraucher müssen wissen - das sage ich sehr
bewusst in öffentlicher Debatte -, dass natürlich der alte
Satz gilt: Je höher der Zinssatz, desto höher das Risiko.
Man muss wissen: Wenn der Zinssatz der Europäischen
Zentralbank bei gut 0 Prozent liegt, lässt sich das Versprechen von 5, 8, 10 oder 15 Prozent Zinsen eben nur
mit Produkten erfüllen, die mit einem höheren oder hohen Risiko behaftet sind. Insofern muss der Appell an
die Menschen sein: Prüfen Sie insbesondere bei hohen
Zinsen, ob das Produkt auf dem Grauen oder Weißen
Kapitalmarkt vertrauenserweckend ist, oder entscheiden
Sie sich bewusst, eine risikobehaftete Anleihe zu wählen!
Ich möchte ein zweites Thema ansprechen, das mir im
Grundsatz noch wichtiger ist: die Überschuldung, also
die Frage des Kreditmarktes. Wir können hier sehr erfreut zur Kenntnis nehmen, dass die Arbeitslosigkeit, die
Hauptursache für Überschuldung, in den letzten Jahren
deutlich abgenommen hat. Das heißt, immer weniger
Menschen in Deutschland geraten in wirtschaftliche Probleme, weil sie arbeitslos sind. Das ist gut. Gleichzeitig
müssen wir jedoch feststellen, dass die Zahl der Fälle, in
denen Konsum - also zu viel Konsum - die Ursache von
Überschuldung und Privatinsolvenzen ist, dramatisch
zunimmt, insbesondere übrigens, liebe Kolleginnen und
Kollegen, bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen.
Das heißt, wir haben immer mehr junge Menschen, die ganz volkstümlich gesagt - mehr ausgeben, als sie einnehmen, also Leasing- und Kreditraten vereinbaren, die
höher sind als das zur Verfügung stehende Nettoeinkommen. Mittlerweile sind in Deutschland - die meisten von
Ihnen werden es wissen - ziemlich stabil 10 Prozent der
über 18-Jährigen überschuldet. Ich finde, das ist eine
Zahl, die uns nicht kaltlassen kann. Jeder zehnte Deutsche ist überschuldet; jeder zehnte Deutsche ist damit
nicht mehr Herr seines Einkommens, seines Vermögens,
mit all den Konsequenzen, die wir hinreichend kennen.
Wir müssen hier sehr deutlich machen, dass es eben
nicht das Ziel sein kann, dass jeder Junge und jedes
Mädchen, jede junge Familie den schönsten Fernseher
und das modernste Smartphone hat und versucht wird,
diesen Wohlstand mit Ratenkrediten bis zum SanktNimmerleins-Tag zu finanzieren. Auch hier sind Regulierung und Gesetzgebung wichtige Aspekte; aber der
wichtigere Aspekt ist Aufklärung. Hier sind Elternhäuser, Schulen und übrigens auch Unternehmen gefordert.
Wir müssen deutlich machen, dass sich gerade junge
Menschen jede Entscheidung für Konsumkredite dreimal überlegen müssen, dass sie genau überlegen müssen,
was sie sich und ihrer Familie damit zumuten, übrigens
vielfach in der Hoffnung, dass die junge Ehe hält. Wir
wissen alle: 50 Prozent der Ehen in Deutschland halten
nicht. Die mit einer Überschuldung verbundenen Probleme und Konsequenzen wirtschaftlicher und emotionaler Art treffen die junge Familie, übrigens vielfach
auch noch die Kinder, zusätzlich.
Wir, die Koalitionsfraktionen, werden deshalb die
Mittel für die Stiftung Warentest erhöhen. Wir wollen
die Verbraucherschutzzentralen mit einer Marktwächterfunktion nicht nur ausbauen, sondern deutlich stärken.
Denn wir sind der Auffassung, dass gerade junge Menschen zu Recht von uns erwarten dürfen, dass sie schonungslos über die Risiken eines Kredits aufgeklärt werden, dass wir sie zumindest warnen. Ich möchte von
dieser Stelle aus noch einmal appellieren: Man möge es
sich gut überlegen, bevor man einen vermeintlich lukrativen Leasing- oder Ratenkreditvertrag unterschreibt.
Das bittere Ende trifft zurzeit 10 Prozent der Deutschen.
Wir müssen gemeinsam verhindern, dass es jeden Tag
mehr werden.
Herzlichen Dank.
({6})
Als Nächstem erteile ich Kollegen Dr. Gerhard
Schick, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ihre Rede, Herr Steffel, war voller Appelle an
Unternehmen, an Familien und an alle möglichen Leute.
Der Teil, in dem Sie sich damit beschäftigt haben, was
hier im Parlament zu tun wäre, ist in Ihrer Rede relativ
kurz gekommen.
({0})
Wichtig ist aber, dass wir uns über folgende Frage verständigen: Warum müssen wir uns eigentlich in regelmäßigen Abständen mit dem Grauen Kapitalmarkt beschäftigen? Das ist offensichtlich der Fall, weil die letzten
Runden der Beschäftigung des Hauses mit diesem
Thema nicht ausreichend waren. Wir müssen deshalb die
bestehenden Lücken und das, was konkret zu tun ist, ansprechen, statt auf allgemeine Appelle auszuweichen.
({1})
Es gibt eindeutig Lücken bei der Aufsichtspraxis und
der Rechtsdurchsetzung. Die BaFin hat bereits 2008/
2009, als sie gegenüber Prokon das Erbringen eines unerlaubten Bankgeschäftes monierte, Handlungsspielräume gehabt. Sie hätte sie - so sagen mir Juristen - nutzen können, um die Geschäftstätigkeit zu untersagen.
Stattdessen aber hat sie eine leichte Veränderung des Geschäftsmodells, und zwar in Form einer erlaubnisfreien
Ausgestaltung, angeregt. Es heißt, das sei ständige Verwaltungspraxis. Mich würde an dieser Stelle schon interessieren, in wie vielen anderen Fällen die BaFin das
Abtauchen in erlaubnisfreie Geschäfte angeregt hat. Ich
meine, wir müssen der Aufsicht hier genauer auf die Finger schauen.
({2})
Das gilt auch für die Frage, warum man eigentlich
vonseiten der BaFin noch 2013 einen Prospekt von Prokon durchgehen ließ, in dem keine Angaben darüber zu
finden waren, dass die Geschäftsführer dieses Unternehmens früher schon Ärger mit der Aufsicht hatten. Ein
Prospekt ist doch genau dafür da, dass der Kunde sich
ein Bild machen kann. Das kann er aber nur, wenn relevante Aspekte auch wirklich erwähnt werden.
({3})
Es gibt auch Lücken, die in der Gesetzgebung selbst
liegen. Wir müssen zum Beispiel kritisch auf das im Jahr
2012 in Kraft getretene Gesetz zur Novellierung des Finanzanlagenvermittler- und Vermögensanlagenrechts
zurückblicken. Da gibt es einige Probleme. Im Antrag
der Linken wird eine ganze Reihe von Maßnahmen vorgeschlagen, von denen ich zwei hervorheben möchte:
Zum einen wird ein Finanz-TÜV gefordert, der alle
Finanzinstrumente daraufhin untersuchen soll, ob sie
- ich zitiere - „gesamtwirtschaftlich keine unerwünschten Nebenwirkungen haben, ob das gesamt- und betriebswirtschaftliche Risiko beherrschbar ist und ob sie
verbraucherfreundlich sind“. Das klingt schön. Ich
denke aber, dass es nicht umsetzbar ist. Denn eine solche
Wirtschaftlichkeitsprüfung hätte hohe Prognoserisiken.
Außerdem könnte ein positives Urteil eines solchen
Finanz-TÜVs praktisch als eine Erfolgsgarantie missverstanden werden. Das halte ich, ganz zu schweigen von
der Amtshaftung, die damit einhergehen würde, für problematisch. Es gehört auch nicht zur Aufgabe der BaFin,
bei jeder Vermögensanlage eine Wirtschaftlichkeitsprüfung durchzuführen. Denn ob das Geschäftsmodell betriebswirtschaftlich sinnvoll ist oder nicht, müssen schon
die Anleger selbst überprüfen.
Es gibt aber etwas, das die Aufsicht tun muss. An dieser Stelle muss man genau unterscheiden. Ich nenne als
Vergleich gern den Lebensmittelbereich, um das klarzumachen. Die eine Seite des Hauses sagt häufig, der
Kunde solle bitte mündig sein. Im Antrag wird aber gefordert, dass die Aufsicht praktisch alles überprüfen soll.
Hier ist es aber wie im Lebensmittelbereich: Es gibt Sachen, die der Kunde nicht erkennen kann. Die Salmonelle im Eierprodukt oder die Trichine im Fleisch kann
der Kunde nicht sehen. Deswegen brauchen wir eine Lebensmittelaufsicht, die sicherstellt, dass hygienisch sauber gearbeitet wird und dass sich der Kunde, wenn Mängel nicht erkennbar sind, darauf verlassen kann, dass er
korrekte Produkte bekommt. Es wird zwar nicht jedes
einzelne Produkt von der Lebensmittelaufsicht am Verkaufsschalter gegengecheckt. Es gibt aber ausreichend
Stichproben, die sicherstellen, dass das Hygieneniveau
insgesamt stimmt.
Ein solches Verfahren ist genau das, was wir im Finanzaufsichtsbereich brauchen. Gerade das, was ein
Kunde nicht sehen kann, muss die BaFin verstärkt in den
Blick nehmen, zum Beispiel, wenn Interessenkonflikte
bestehen, wenn Partner unter einer Decke stecken, sodass die Erträge nicht dem Kunden zugutekommen, oder
wenn ein Geschäftsführer nicht verlässlich ist, weil er
schon mehrfach Ärger mit der Aufsichtsbehörde hatte.
Wir erwarten, dass es auch hier eine laufende Aufsicht
gibt, die sich mit der materiellen Produktprüfung befasst.
Wir brauchen aber keinen umfassenden Finanz-TÜV;
denn ich glaube nicht, dass das leistbar ist.
({4})
Ich möchte auf einen weiteren Punkt eingehen. Wir
brauchen dringend eine Korrektur in Bezug auf die Aufsicht über den freien Finanzbetrieb. Hier liegt ein Fehler
der alten Gesetzgebung vor, der dringend korrigiert werden muss. Ich erinnere an eine Sachverständigenanhörung, in der ein Mitarbeiter der Bremer Gewerbebehörde
deutlich gemacht hat, dass er als einzelner Mitarbeiter,
der auch noch für alle möglichen anderen Bereiche zuständig ist, zum Beispiel für Eisdielen, für etwa 1 000
Finanzvermittler zuständig ist. So ist ein relevanter
Schutz für Kundinnen und Kunden undenkbar. Deswegen bedarf es hier dringend einer Korrektur. Das muss
die Finanzaufsicht machen.
({5})
Einen letzten Satz zur Ankündigung des Justiz- und
Verbraucherschutzministers, dass es einen stärkeren Anlegerschutz im Bereich des Grauen Kapitalmarktes geben soll. In den letzten vier Jahren hatten wir im Bereich
Verbraucherschutz lediglich eine Ankündigungsministerin. Für die nächsten vier Jahre hoffen wir, dass es nicht
bei Ankündigungen bleibt, sondern dass es zu relevanten
Änderungen in der Praxis kommt. Die Erwartung ist da.
Den Kollegen der SPD möchte ich sagen: Ich hoffe, dass
manche Forderungen aus der letzten Legislaturperiode
nicht plötzlich in irgendeiner Schublade verschwinden,
sondern wirklich durchgesetzt werden.
Danke.
({6})
Als Nächstem erteile ich das Wort dem Kollegen
Dr. Carsten Sieling, SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst
möchte ich den letzten Satz des Kollegen Schick aufnehmen und ihm versichern: Darauf können Sie sich verlassen. Schon der Blick in den Koalitionsvertrag hilft; denn
dann werden Sie feststellen, dass wir eine ganze Reihe
von wichtigen Maßnahmen vereinbart haben, die in der
Tat noch umgesetzt werden müssen. Alle hier im Hohen
Hause wissen das. Deswegen braucht man das nicht besonders zu betonen.
Gegenstand der heutigen Debatte ist der Antrag der
Fraktion Die Linke. Dazu möchte ich Folgendes sagen:
Es ist sicherlich gut, dass das Thema Prokon und die damit zusammenhängenden Schwierigkeiten, die es nach
wie vor gibt, im Bundestag öffentlich debattiert werden.
Wenn man sich den Antrag durchliest, dann gewinnt
man aber schon den Eindruck, als hätten Sie unter dem
Stichwort „Anlegerschutz“ ein wenig gegoogelt, eine
Reihe von Stichwörtern gefunden und diese dann alle in
Ihrem Antrag untergebracht.
({0})
Ehrlich gesagt, habe ich nicht ganz verstanden, was die
Themen Deckung von Verbraucherkreditverträgen, Dispozinsen, Vorfälligkeitsentschädigung und anderes mehr
mit dem Fall Prokon zu tun haben. Wir müssen bei unserer Arbeit schon zielgerichteter vorgehen.
({1})
Ich brauche nicht zu betonen, dass ich die Einschätzung des Kollegen Schick zum Thema Finanz-TÜV
teile. Dieses Instrument ist zu unscharf. Wir müssen uns
auf Maßnahmen verständigen, die mehr leisten können.
Es kann auch nicht sein, dass die Verantwortung an
staatliche Behörden delegiert wird. Das ist jedenfalls unsere Herangehensweise in dieser Angelegenheit.
Kollege Steffel hat sehr deutlich auf die Beschlüsse
und Verabredungen, die in der letzten Legislaturperiode
getroffen bzw. durchgesetzt wurden, hingewiesen. Sie
werden mir zugestehen, dass ich diesbezüglich naturgemäß nicht ganz so optimistisch bin. Wir brauchen das
aber nicht weiter zu vertiefen. Allein die Tatsache, dass
wir in unserem Koalitionsvertrag einige Maßnahmen zur
Regulierung des Anlegerschutzes und des Grauen Kapitalmarktes vereinbart haben, zeigt doch, dass wir noch
nicht so weit sind, alle Märkte, alle Akteure und alle
Produkte zu regulieren. Das ist die Aufgabe, vor der wir
jetzt stehen, und ich bin froh, dass wir das in dieser Großen Koalition gemeinsam angehen werden.
({2})
Es wurde behauptet, dass hier nur allgemein geredet
und lediglich Appelle formuliert werden. Nein, das ist
nicht der Fall. Werfen Sie einen Blick in den Koalitionsvertrag. Ich will Ihnen drei Punkte nennen, die wir konkret vereinbart haben.
Erstens - das ist neu - wird die BaFin künftig auch
für den Verbraucherschutz zuständig sein. Diese Maßnahme ist notwendig. Die BaFin wird sich quasi als öffentliche Einrichtung darum kümmern und ihre Kompetenzen, die sie in diesem Bereich hat, einsetzen; denn
Finanzmarktregulierung und Ordnung an den Finanzmärkten bedeutet auch Schutz für die Verbraucherinnen
und Verbraucher in unserem Land.
Zweitens. Wir brauchen einen Finanzmarktwächter.
Das haben wir als Sozialdemokraten in der letzten Legislaturperiode mehrfach thematisiert. Ich bin froh, dass
dieser Aspekt im Koalitionsvertrag verankert wurde.
Kollege Steffel hat das eben positiv hervorgehoben. Der
Finanzmarktwächter dient als Frühwarnsystem für den
Markt. Dies wird weiterentwickelt werden müssen, damit die Ungleichgewichte zwischen den Anbietern und
den Anlegern, den Verbraucherinnen und Verbrauchern,
behoben werden.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich
auch den dritten Punkt nennen. Wir haben im Koalitionsvertrag vereinbart, dass besonders riskante und risikoreiche Produkte verboten werden müssen und verboten
werden können.
Das sind die drei Schritte, mit denen diese Koalition
beim Verbraucherschutz vorangeht: BaFin als Aufsicht,
Marktwächter und Verbot von gefährlichen Produkten.
Kollege Schick, das sind mehr als Parolen. Das sind
klare Aufträge, an denen sich diese Koalition auch messen lassen wird.
({4})
Ich möchte zum Schluss noch den Fall Prokon ansprechen, weil das, glaube ich, ein ganz wichtiger Punkt
ist. Auch da finde ich, dass der Antrag die Gefahr beinhaltet, zu viele Erwartungen zu wecken. Der Fall Prokon ist ja kein Thema des Grauen Kapitalmarktes im
engeren Sinne. Im Fall von Prokon - Frau Kollegin
Karawanskij hat das angesprochen - ist Anlegern massenhaft Kapitalbeteiligung über sogenannte Genussrechte verkauft worden. Das ist größtenteils über den Direktvertrieb von Prokon geschehen. Hier geht es eher
nicht um die Frage der Aufsicht, nicht um den Grauen
Kapitalmarkt. Es wird vielmehr Aufgabe der Staatsanwaltschaft sein, zu prüfen, ob hier nicht Schwarzer
Kapitalmarkt vorherrscht, ob hier nicht gegen Recht und
Gesetz verstoßen worden ist, ob hier nicht eine Straftat
vorliegt.
Prokon ist sicherlich ein richtiger Anstoß, um mehr zu
tun. Ich will zum Schluss sagen: Es steht unserer Koalition gut an - ich bin sicher, dass wir da gemeinsam Seit’
an Seit’ stehen -, dass wir aktuelle Entwicklungen aufnehmen, um weiterzudenken und weiterzugehen. Natürlich müssen wir uns auch mit den Aufsichtsfragen
beschäftigen, beispielsweise mit der Tatsache der Zersplitterung der Aufsicht, zum einen gegenüber den Banken und zum anderen gegenüber den freien Vermittlern
und Beratern. Ich wäre froh, wenn wir zu dem zurückkämen, was Bundesminister Schäuble Anfang der letzten
Legislaturperiode einmal in einen ersten Gesetzentwurf
geschrieben hat. Ich glaube, wir haben da viel zu tun und
müssen etwas voranbringen.
Diese Koalition wird den Verbraucherschutz stärken.
Wir als SPD wollen die Rolle wahrnehmen, Motor für die
Rechte der Verbraucherinnen und Verbraucher zu sein.
Vielen Dank.
({5})
Herzlichen Dank. - Liebe Kolleginnen und Kollegen,
als Nächstes hören wir die Rede eines Kollegen, der
schon wichtige Reden im Europäischen Parlament und
im Bayerischen Landtag gehalten hat, heute aber seine
erste Rede im Deutschen Bundestag hält. Kollege
Radwan, Sie haben für die CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident, besten Dank für die Einführung! Es ist eine Premiere für mich, hier reden zu
dürfen, aber nicht, parlamentarisch reden zu dürfen, wie
Sie ja schon gesagt haben.
Die heutigen Themen sind Prokon und Grauer Kapitalmarkt. Ich wundere mich, warum man das Thema Prokon als Beispiel dafür heranzieht. Herr Schick hat ja
bemerkenswerterweise den Prospekt angesprochen und
angeführt, was nicht drinstand. Vielleicht können wir
uns auch einmal darüber unterhalten, was drinstand.
Dann können wir nämlich feststellen, dass in diesem
Prospekt durchaus Risiken herausgearbeitet und dargestellt wurden,
({0})
nämlich dass es keine Einlagensicherung gibt, dass es
keine Garantie auf Rückzahlung gibt. Darüber hinaus
müssen wir uns regelmäßig die Frage stellen: Können
Produkte, die eine gewisse Rendite versprechen, ohne
Weiteres als risikofrei eingestuft werden? Von daher:
Wenn wir das Thema Prokon aufgreifen, sollten wir uns
schon die Frage stellen, ob es das richtige Beispiel ist, ob
hier die Verbraucherschützer vielleicht sogar rechtzeitig
gewarnt haben und wie es dann beim Kunden entsprechend angekommen ist.
Zu den Vorschlägen, die jetzt gemacht wurden. Den
Finanz-TÜV haben meine Vorredner schon angesprochen. Sehen Sie es mir nach, wenn ich das jetzt ein bisschen salopp sage: Bei TÜV denke ich immer an Autos.
Es kommt mir jetzt vor, als bekomme jemand, der für
sein Auto das TÜV-Siegel bekommt, damit die Garantie,
die nächsten Jahre unfallfrei zu fahren.
({1})
- Jetzt bleiben wir einmal beim Auto. Jetzt rede ich, und
dann können wir auch über Stecker reden. - Es ist schon
bemerkenswert. Es ist eine Momentaufnahme, und die
Welt ändert sich.
({2})
- Doch. Vielleicht nicht bei Ihnen, aber für den Rest der
Menschen ändert sie sich täglich. Vielleicht ist das das
Problem.
({3})
Von daher ist es schon spannend, zu wissen und nachzuvollziehen: Wie soll ein solcher TÜV eigentlich in langfristiger Perspektive eine entsprechende Sicherheit bringen? Herr Schick hat zu Recht - ausnahmsweise hatte er
recht; das hat mich irritiert - die Haftungsfrage angesprochen: Was bedeutet es, wenn ich ein solches Gütesiegel vergebe? Was bedeutet es, wenn es dann doch
schiefgeht?
Die Instrumente, die in dem Antrag vorgeschlagen
werden, sind aus meiner Sicht unbrauchbar, und auch
das Beispiel ist unbrauchbar. Im Koalitionsvertrag steht,
dass wir uns vorgenommen haben, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen: Kein Produkt ohne Regulierung!
Da die Finanzmärkte keine starre Angelegenheit sind
- weiß, grau, schwarz -, müssen wir aber aufpassen,
dass durch unser Vorgehen in den Bereichen Banken,
Versicherungen und Aufsicht - in diesen Bereichen waren wir sowohl auf nationaler als auch auf internationaler
Ebene tätig - keine neuen Grauen Kapitalmärkte als
Ausweichmärkte entstehen. Wir müssen ganz gezielt sagen: Die Produkte müssen transparent sein; sie müssen
nachvollziehbar sein.
Vorhin wurde gesagt, dass die frühere Verbraucherschutzministerin - sie war quasi meine Vorgängerin; das
haben Sie jetzt nicht gesagt, Herr Präsident - in diesem
Bereich des Verbraucherschutzes nichts gemacht hat.
Wenn ich mir anschaue, wie viele Dokumentationspflichten und Vorgaben für den Kapitalmarkt in den letzten vier Jahren erlassen wurden, dann kann ich nicht sagen, dass das nichts ist.
({4})
Es wurde viel gemacht. Auf diesem Weg gehen wir jetzt
weiter.
Das Thema Marktwächter wurde bereits angesprochen, auch vom Koalitionspartner. Ich denke, dieses
Thema ist wichtig. Wir sollten darauf achten, dass die
Wächter eine gewisse Neutralität haben; sie sollten weder dem einen noch dem anderen Lager angehören. Wir
sollten sagen können: Sie sind verlässliche Partner.
In der nationalen Gesetzgebung wird etwas geschehen. Nach der Wahl zum Europäischen Parlament, nach
Einsetzung der Europäischen Kommission wird es auch
auf europäischer Ebene ein entsprechendes Vorgehen geben. Die Vorgaben, die wir auf nationaler Ebene haben,
sind zusammen mit dem, was sich die Koalition vorgenommen hat, aus meiner Sicht umfassend.
Transparenz ist mir wichtig. Die Produkte dürfen
nicht nur etwas für akademische Fachkreise sein. Auch
der normale Bürger, der sich mit diesen Themen auseinandersetzt, muss nachvollziehen können, was er von diesem Produkt zu erwarten hat. Rückblickend auf meine
Tätigkeit im Bayerischen Landtag möchte ich in diesem
Zusammenhang Folgendes sagen: Mir ist die Bildung
wichtig. Wir müssen ein Bildungsniveau erreichen, das
den Umgang mit solchen Produkten ermöglicht.
Lassen Sie mich abschließend Folgendes sagen: Ich
glaube nicht, dass der Staat geeignet ist, letztendlich zu
entscheiden, welche Produkte richtig und welche falsch
sind. Der Verbraucher hat zu entscheiden, welches Produkt er möchte. Er braucht eine Auswahl. Sie wollen
ihm keine Auswahl geben. Sie wollen staatlicherseits bestimmen, was richtig für ihn ist. Wir wollen ihm die
Möglichkeit geben, ein Produkt zu wählen, das er nachvollziehen kann. Er soll sagen können: Ich gehe ein höheres Risiko ein und erwarte dafür eine höhere Rendite.
Oder er soll sagen: Ich möchte ein geringeres Risiko.
Wir wollen das nicht von staatlicher Seite vorgeben. Wir
sind nicht die besseren Aufseher in diesem Bereich.
({5})
Vor allen Dingen wollen wir dem Markt letztendlich
seine Entwicklungsmöglichkeiten lassen und ihn nicht
komplett abwürgen.
Besten Dank für die Aufmerksamkeit.
({6})
Das ganze Haus gratuliert Ihnen, lieber Herr Kollege
Radwan, zu Ihrer ersten Rede hier im Deutschen Bundestag. Glückwunsch!
({0})
Vizepräsident Peter Hintze
Wir haben einen weiteren Kollegen, der heute seine
erste Rede im Deutschen Bundestag hält. Ich erteile das
Wort zur ersten Rede hier Christian Petry von der SPDFraktion. - Bitte schön, Herr Kollege.
({1})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir reden heute aufgrund eines Antrags der Linken über den Grauen Kapitalmarkt. Warum sollen wir
darüber reden? Das ist natürlich eine Reaktion auf den
aktuellen Fall Prokon und eine Reaktion auf die Finanzkrise der vergangenen Jahre; das ist doch klar. Alle
Märkte, alle Produkte, alle Akteure stehen unter Beobachtung und sollen stärker reguliert werden. In der
Hochphase der Finanzkrise haben dies sogar die Akteure
auf dem Finanzplatz gefordert. Jetzt sind sie wieder etwas zurückhaltender. Vielleicht ist das berühmte Spielkasino noch größer und noch offener, als es in der Hochphase gewesen ist. Ob Wertpapiere, Anleihen, Derivate,
Geldmarkt- oder Investitionsfonds, ob Börsenhandel, außerbörslicher Handel oder Hochfrequenzhandel - alle
Produkte, alle Märkte, alle Akteure stehen auf dem Prüfstand. Wir wollen in all diesen Bereichen mehr Transparenz, mehr Kontrolle, mehr Aufsicht, eine bessere Prüfung bei der Produktzulassung und mehr Stabilität der
Märkte.
({0})
Ziel ist es, einen besseren Schutz der Anleger, einen
besseren Verbraucherschutz zu erreichen. Herr Kollege
Steffel, das hätte schon in der vergangenen Wahlperiode
umgesetzt werden können. Herr Sieling hat in der vergangenen Wahlperiode oft genug darauf hingewiesen.
Wir haben jetzt einen Koalitionsvertrag, in dem wir dies
Gott sei Dank vereinbart haben. Ich denke, das ist auch
gut so. Wir müssen diese Vereinbarung zügig umsetzen.
Da sind Sie jetzt mit im Boot, und das ist schön so.
Herr Kollege Radwan, natürlich haben wir hier eine
stärkere Aufsichtsfunktion gefordert. Das, was Sie eben
vorgetragen haben, deckt sich aus meiner Sicht nicht
ganz mit dem, was im Koalitionsvertrag steht. Ich denke,
darauf sollten wir hinweisen. Wir wollen einen besseren
Anlegerschutz und einen besseren Verbraucherschutz.
({1})
- Das glaube ich auf jeden Fall. Da bin ich mir sicher.
Deshalb haben wir auch einen gemeinsamen Koalitionsvertrag.
({2})
- Das glaube ich jetzt weniger. Aber das werden wir in
den nächsten Jahren sehen.
In diesem Zusammenhang kann ich Herrn Dr. Schick
beruhigen. Herr Dr. Schick, ich kann Ihnen garantieren:
Wir werden uns zügig um die Umsetzung des Koalitionsvertrages bemühen. Die Befürchtung, es werde wieder nicht viel passieren, teile ich nicht. Ich glaube, wir
sind hier auf einem guten Weg.
({3})
Der Antrag der Linken zum Grauen Kapitalmarkt
zielt natürlich auch in diese Richtung. Insoweit ist das
der Weg, den auch wir beschreiten wollen. Allerdings ist
der Antrag, wie Kollege Sieling gesagt hat, zu unscharf,
zu ungenau und nicht treffsicher. Der Vergleich mit der
Grubenlampe und den Scheinwerfern ist durchaus berechtigt; diesen nehme ich gerne mit auf. Alle Geschäfte,
die vom geregelten Finanzmarkt noch nicht erfasst sind,
sollen betrachtet werden. Kritisiert werden die fehlende
Transparenz dieses Marktes und die daraus resultierenden Möglichkeiten des Missbrauchs und der Täuschung
sowie die Risiken für die Anleger. Natürlich ist hoher
Zins eine Folge von Risiko; das ist ja klar. Das lernt
man, glaube ich, schon im ersten Semester. Man lernt es
sogar in der Schule, wenn man dort aufpasst.
({4})
- Ja, es haben auch nicht alle studiert. - Trotzdem ist es
unsere Aufgabe, den Verbraucher weitestgehend zu
schützen, Unseriösität abzuwenden und hier die entsprechenden rechtlichen Grundlagen für Kontrolle und Aufsicht zu schaffen, damit sich nicht jeder auf einem unkontrollierten Markt tummeln kann.
({5})
Im Antrag wird der vermutete Schaden mit 50 bis
100 Milliarden Euro beziffert.
Ich begrüße die Forderung nach einem Prüfrecht,
nach einer Produktaufsicht, nach der Unterstellung des
Marktes unter die Finanzaufsicht statt wie bisher die Gewerbeaufsicht. Ich begrüße ebenso die Forderung, dass
provisionsbasierter Verkauf unterbunden werden soll
und dass künftig echte Marktwächter zur Transparenz
und Kontrolle beitragen sollen.
Frau Karawanskij, nicht erst seit Prokon behandeln
wir dieses Thema. Wir befassen uns damit schon seit der
Krise. Viele hier im Haus haben sich in der vergangenen
Wahlperiode dazu zu Wort gemeldet. Ich denke, darauf
sollte hingewiesen werden. Die SPD ist hier die treibende Kraft.
({6})
- An Ihrer Reaktion merke ich, liebe Kolleginnen und
Kollegen der CDU/CSU, dass ich damit richtig liege.
Danke für diese Reaktion.
({7})
Ich unterstütze ausdrücklich die Vorstellung von Verbraucherminister Heiko Maas bei der Umsetzung der im
Koalitionsvertrag hierzu getroffenen Vereinbarung zur
Reform der Finanzmärkte, auch des Grauen Kapitalmarkts. Er plant Aufsichtsbefugnisse auch in diesem
Bereich durch die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, die BaFin, und eine echte Marktwächterfunktion durch Verbraucherschutzorganisationen. In diesem Zusammenhang befürworte ich persönlich auch die
Einführung eines Verbandsklagerechts. Viele dieser
Maßnahmen sind im Übrigen auch eine Umsetzung von
künftigem bzw. bestehendem europäischen Recht im
Finanzdienstleistungssektor. Deshalb müssen zum Beispiel - darüber ist hier nicht diskutiert worden - auch die
Verjährungsfristen für diese Produkte angepasst werden.
Sie wissen, dass diese sehr kurz sind: drei Jahre, nachdem die Produkte auf dem Markt sind. Zehn Jahre - in
anderen Bereichen ist dies bereits geändert worden - wären angemessen. Ich freue mich, dass der Minister, der
aus dem Saarland stammt - auch ich komme von dort und den ich gerne unterstütze, Heiko Maas, dies aufgreift und hier eine entsprechende Rechtsänderung auf
den Weg bringen will.
({8})
Die Verbraucher müssen klar erkennen, auf was sie
sich einlassen. Die Aufsicht soll künftig durch die BaFin
erfolgen und nicht mehr durch andere. Die BaFin soll
nicht nur die Produkte überprüfen, sondern auch die Art
und Weise der Bewerbung und der Aufklärung über die
Risiken. Eine schärfere Prüfung bei der Zulassung neuer
Produkte und die Veränderung der Verjährungsfristen
sind hier notwendig und stehen auf der Tagesordnung.
Der Antrag der Linken geht in die richtige Richtung.
Er geht allerdings nicht weit genug.
({9})
Wir werden gemeinsam mit der Bundesregierung, mit
Minister Maas, eine Regulierung im Sinne eines echten
Verbraucherschutzes auf den Weg bringen, um nicht nur
am Grauen Kapitalmarkt Verbesserungen zu erreichen.
({10})
In der vergangenen Wahlperiode hat die SPD dies immer
gefordert. Es ist schön, dass Sie, die Kolleginnen und
Kollegen der CDU/CSU, jetzt mit im Boot sind; das
freut mich. Im Koalitionsvertrag haben wir eine Regelung dazu vereinbart. Es freut mich, dass auch die Linken in diese Richtung gehen wollen. Lassen Sie uns dieses Gebiet und diesen Antrag in diesem Jahr gemeinsam
mit der notwendigen Gründlichkeit bearbeiten!
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. Glück auf!
({11})
Glückwunsch, lieber Herr Kollege Petry, zu Ihrer ersten Rede! Wir wünschen Ihnen alles Gute für die parlamentarische Arbeit.
({0})
Die liebevolle Bitte des Präsidiums lautet, in Zukunft
den Blick nicht nur auf das Manuskript, sondern auch
auf die Uhr zu richten. Wir haben Ihnen heute einen
Erstredezuschlag gegeben.
Die Kollegin Mechthild Heil, CDU/CSU-Fraktion,
hat als Letzte in dieser Debatte zum Grauen Kapitalmarkt das Wort.
({1})
Vielen Dank, Herr Präsident. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Sehr verehrter Herr Präsident! Anders als
die Linken in ihrem Antrag behaupten, ist der Graue Kapitalmarkt nicht unreguliert. Denn auch geschlossene
Fonds zum Beispiel sind ab Juli 2014 der Aufsicht unterworfen; dafür haben wir mit dem Kapitalanlagegesetzbuch
gesorgt. Aber Regulierung allein hilft den Verbrauchern
nicht. Eigenverantwortung ist auch hier - wie in jedem Bereich des Lebens - gefragt. Wir reden von erwachsenen,
selbstbestimmten Menschen. Sie behandeln alle Bürger in
Deutschland ohne Ausnahme wie kleine Kinder, denen
man das Leben in kleinen Häppchen servieren muss, damit sie sich nicht verschlucken.
Natürlich kennt sich nicht jeder mit hochriskanten Finanzprodukten aus. Nicht jeder weiß, was ein Genussschein ist und wie diese Anlage funktioniert. Das muss
er auch nicht. Aber das ist noch lange kein Grund, solche
Anlagen zu verbieten. Wenn allerdings jemand sein erspartes Geld in risikoreichen Produkten anlegt, zum Beispiel in Genussscheinen, dann sollte er sich vorher natürlich informieren.
({0})
Da kann man keinen Verbraucher aus der Verantwortung
entlassen.
Alleingelassen wird der Verbraucher aber nicht, wie
Sie das in Ihrem Antrag an einer Stelle behaupten. Immerhin revidieren Sie diese von Ihnen getroffene Aussage eine Zeile später schon wieder, indem Sie auf die
Verbraucherorganisationen hinweisen, die zum Beispiel
vor Prokon gewarnt haben. Ja, Verbraucherorganisationen haben immer wieder darauf hingewiesen, dass Genussscheine im Falle einer Insolvenz ungeschützt sind,
dass der Totalverlust des Geldes drohen kann. Die Stiftung Warentest - immerhin die Stiftung Warentest! - hat
Prokon deshalb schon im Jahr 2011 auf ihre Warnliste
„Geldanlageangebote“ gesetzt.
Zur Erinnerung, vielleicht auch für die SPD zur Erinnerung: Wir haben die Stiftung Warentest mit 2 Millionen Euro zusätzlich ausgestattet. Wir haben im Koalitionsvertrag festgelegt, dass die Stiftung Warentest
weiterhin Geld bekommt. Wir haben also dafür gesorgt,
dass die Verbraucher besser unterstützt und vor unseriösen Produkten gewarnt werden.
Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren von der
Linken, fordern nun einen Finanz-TÜV. Wer soll denn
all die Finanzprodukte, die es auf dem Markt gibt, prüfen? Wer soll Hunderte, Tausende Finanzprodukte prüfen? Wie soll das seriös funktionieren? Wie sieht es am
Ende dann mit der Haftung aus? Ihre Antwort - klar -:
Die Verbraucherzentralen sollen prüfen. Die VerbrauMechthild Heil
cherzentralen sind für Sie immer die Allzweckwaffe. Sie
sollen nicht nur prüfen; nein, sie sollen dann auch noch
die Seite wechseln und gleichzeitig beraten. Konflikte
sind damit vorprogrammiert.
Ihr Antrag zeigt, dass Sie die Struktur und die Komplexität des Finanzmarktes vollkommen verkennen. Wie
immer denken Sie auch hier nur schwarz und weiß. Aber
Finanzprodukte kann man nicht einfach in gute und
schlechte einteilen.
({1})
Es kommt immer auf den jeweiligen Anleger an. Es
kommt immer auf seine Risikofreudigkeit an. Es kommt
immer auf seine Kapitaldecke an. Es kommt immer auch
auf seine Lebenssituation an.
Als Verbraucherpolitikerin ist für mich nicht nur der
Geldbeutel der Menschen schützenswert, sondern für
mich sind die Entscheidungsfreiheit und die Selbstbestimmung der Menschen genauso schützenswert. Dazu
gehört eben auch die Freiheit, in riskante Geldanlagen
investieren zu können. Wer hohe Renditen erwartet, geht
auch ein hohes Risiko ein. Auch das hat am ganz langen
Ende der Fall Prokon wohl gezeigt.
Wir haben im Koalitionsvertrag auch darauf hingewiesen und uns darauf verständigt, dass der Verbraucherschutz ein vorrangiges Ziel der Aufsichtstätigkeit
der BaFin werden soll. Auch für die Große Koalition ist
es ein vorrangiges Ziel, die Rechte der Verbraucher zu
stärken - aber eben nicht auf Kosten der Eigenverantwortung und nicht auf Kosten ihrer Wahlfreiheit. Wir
sind eben Christdemokraten. Wir sind keine Sozialisten,
die es weder mit der Wahlfreiheit noch mit der Eigenverantwortung jemals besonders ernst genommen haben.
({2})
Unser Ziel ist es, für eine bessere Finanzkompetenz
bei den Verbrauchern zu sorgen. Wir können nicht alle
Gefahren der Welt wegregulieren. Aber wir können dafür sorgen, dass die Verbraucher besser einschätzen können, welche Produkte für sie infrage kommen und welche nicht. Als Verbraucherschutzbeauftragte der CDU/
CSU-Bundestagsfraktion setze ich die Verbesserung der
Finanzkompetenz als vorrangiges Ziel auf meine Agenda
für diese Legislaturperiode.
Vielen Dank.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/769 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung und Landwirtschaft ({0}) zu dem Antrag der
Abgeordneten Harald Ebner, Renate Künast,
Nicole Maisch, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2001/110/EG des Rates
über Honig
KOM({1}) 530 endg.; Ratsdok. 13957/12
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes
Wahlfreiheit für Verbraucherinnen und Verbraucher herstellen - Honig mit gentechnisch
veränderten Bestandteilen kennzeichnen
Drucksachen 18/578, 18/792
Über die Beschlussempfehlung werden wir später namentlich abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Als erstem Redner erteile ich das Wort dem Kollegen
Kees de Vries, CDU/CSU-Fraktion.
({2})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Auf Antrag der Fraktion der Grünen
steht heute das Thema Honig auf der Tagesordnung, das
Naturprodukt Honig, wichtig für unsere Kulturlandschaft und für unsere Landwirtschaft. Die Biene ist nämlich nach Rind und Schwein das drittwichtigste Nutztier
in unserer Volkswirtschaft. Durch ihre Bestäubungsarbeit wird in der Landwirtschaft ein Wert geschaffen, der
den Erlös aus Wachs und Honig um das 10- bis 15-Fache
übersteigt. Landwirtschaft und Imkerei sind dadurch
aufs Engste miteinander verbunden.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, mit
ihrem Antrag deuten die Grünen an, Pollen nicht als natürlichen Bestandteil des Honigs zu sehen. Es gibt aber
mittlerweile eine Klarstellung durch das Europäische
Parlament, dass Pollen in der Tat ein natürlicher Bestandteil des Honigs und nicht eine Zutat sind. In zwei
informellen Trilogen wurde über die offenen Fragen verhandelt, und es wurde eine Einigung erzielt. Sogar der
für den internationalen Handel bedeutsame Honig-Standard des Codex Alimentarius stuft Pollen als natürlichen
Bestandteil des Honigs ein. Damit ist, hoffe ich, diese
nur schwer nachvollziehbare Diskussion wohl beendet.
({0})
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, die
Transparenz durch Kennzeichnung von Lebensmitteln
und die Wahlfreiheit der Verbraucherinnen und Verbraucher beim Einkauf von Lebensmitteln haben für uns als
CDU/CSU-Fraktion einen hohen Stellenwert. Daher begrüßen wir die europäische Vorgabe, alle GVO-veränderten Lebensmittel zu kennzeichnen.
({1})
Alle Lebensmittel, die einen GVO-Gehalt von mehr als
0,9 Prozent aufweisen, werden somit gekennzeichnet.
Da der Pollengehalt von Honig maximal 0,01 bis
0,5 Gramm - im Normalfall ungefähr 0,03 Gramm - je
Kilogramm Honig beträgt, ist eine GVO-Kennzeichnung
ohnehin nicht erforderlich. Hinzu kommt: Bei Lebensmitteln, die mit dem Ohne-Gentechnik-Siegel gekennzeichnet werden, liegt die Nachweisschwelle für zugelassene
gentechnisch veränderte Bestandteile bei 0,1 Prozent;
sogar diese Grenze wird von gentechnisch verändertem
Pollen im Honig nicht überschritten.
Aber nehmen wir einmal an, Pollen wäre eine Zutat;
dann müsste er ab einer Menge von circa 0,00027 Gramm
je Kilogramm Honig gekennzeichnet werden. Bei „Fair
Trade“- und Ökoprodukten liegt der Schwellenwert für
die Kennzeichnung bei 9 Gramm je Kilogramm. Der
Schwellenwert für Tofu aus Soja läge also 30 000-mal
höher. Außerdem würde ein technisch schwieriger und
finanziell aufwendiger Nachweis von Zutaten im Honig
erforderlich. Das würde zu einem einfach nicht mehr
vertretbar hohen bürokratischen Aufwand führen.
Mögliche Kennzeichnungspflichten wurden von den
betroffenen Handelspartnern bereits in den zuständigen
Ausschüssen der WTO als Handelshemmnis gerügt. Vor
diesem Hintergrund wäre bei Einführung einer Kennzeichnung von gentechnisch verändertem Pollen im Honig mit einem WTO-Streitbeilegungsverfahren zu rechnen. Dies wäre - auch wegen der schon erwähnten
Regelung im Codex Alimentarius - für die EU und ihre
Mitgliedstaaten mit erheblichen Risiken behaftet.
({2})
Es ist gut, dass das Honig-Urteil des Europäischen
Gerichtshofs, das zu großer Verwirrung und Unsicherheit geführt hat, vom EU-Parlament korrigiert wurde
und damit zumindest in diesem Punkt Sachlichkeit in
diese Diskussion gekommen ist. Mit der Entscheidung
von Parlament und Kommission haben wir endlich Klarheit über den rechtlichen Status von Pollen. Das ist
wichtig für die Imker, die durch die Diskussion einen
nicht unerheblichen Imageschaden haben, aber auch für
die Verbraucher, auf deren Rücken hier eine unnötige,
ideologische Debatte ausgetragen wird.
({3})
Ich kritisiere ausdrücklich den Versuch der Grünen,
mit dem von ihnen ins Spiel gebrachten Vorschlag die lebensmittelrechtliche Behandlung des Honigs zu ändern.
Das führt nicht zur notwendigen Versachlichung der Diskussion, sondern wird nur zu weiterer Verunsicherung
und Ängsten bei den Bürgerinnen und Bürgern beitragen.
({4})
Ich frage mich: Ist das unseren Kolleginnen und Kollegen von den Grünen nicht bewusst, oder ist es sogar gewollt?
Vergessen wir nicht: Pollen aus GVO ohne EU-Zulassung sind in Honig wie in allen anderen Lebensmitteln
weiterhin nicht zugelassen. Hier gilt weiterhin die Nulltoleranz. Damit ändert der Kommissionsvorschlag nicht
die Vorgabe der EU, dass in Honig nur gentechnisch veränderte Pollen enthalten sein dürfen, die in der EU als
Lebensmittel zugelassen sind. Deren gesundheitliche
Unbedenklichkeit ist im Rahmen des EU-Zulassungsverfahrens seitens der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit, EFSA, auch für den Pollen in importiertem Honig bereits mehrfach nachgewiesen worden.
Aus den genannten Gründen ist der Antrag der Grünen nicht zielführend und deshalb einfach abzulehnen.
Vielen Dank.
({5})
Als Nächster erteile ich das Wort der Kollegin Frau
Dr. Kirsten Tackmann, Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Gäste! Ich würde ja gern einmal auf der
Besuchertribüne eine Umfrage machen: Wollen Sie Honig essen, in dem Gentechpollen enthalten sind, ohne
dass Sie das wissen, weil es nämlich nicht auf dem Etikett steht?
({0})
Ich bin mir ziemlich sicher, dass die Mehrheit das, völlig
zu Recht, nicht will.
({1})
Nach den Änderungsvorschlägen der EU-Kommission
zur Honigrichtlinie müsste Gentechnikhonig aber nicht
gekennzeichnet werden.
Die Linke lehnt das ab. Wir folgen hier dem Europäischen Gerichtshof. Nach einem Urteil von 2011 haben
Verbraucherinnen und Verbraucher das Recht auf Kennzeichnung von Honig mit Gentechpollen.
Aus meiner Sicht könnte ich meine Rede jetzt eigentlich beenden. Aber ich mache die Erfahrung, dass viele
Menschen gar nicht verstehen, worum es bei diesem
Streit überhaupt geht. Deswegen möchte ich einmal versuchen, das zu erklären; denn die Kennzeichnungsregeln
für Agrogentechnik sind ziemlich kompliziert, oder
- besser gesagt - sie sind kompliziert gemacht worden.
Bei nicht zugelassenen Gentechpflanzen ist es noch
leicht; denn die dürfen in Lebensmitteln nicht vorhanden
sein. Hier gilt die Nulltoleranz. Lebensmittel von Tieren,
die mit Gentechnikpflanzen gefüttert wurden, müssen
nicht gekennzeichnet werden. Aber man kann freiwillig
das Label „Ohne Gentechnik“ aufdrucken, wenn die
Tiere gentechnikfrei gefüttert wurden. Bei einer Verunreinigung durch zugelassene Gentechpflanzen wiederum
müssen Lebensmittel gekennzeichnet werden, es sei
denn, sie liegt unter 0,9 Prozent, ist zufällig oder technisch unvermeidbar. Dann muss das Lebensmittel nicht
gekennzeichnet werden.
Haben alle mitgekriegt, worum es hier geht?
({2})
Vermutlich haben es nicht alle verstanden. Warum ist die
Kennzeichnung eigentlich nicht einfach und verständlich
geregelt? Ich finde, wo Agrogentechnik drin ist, muss es
auch draufstehen.
({3})
Dann klappt es nämlich auch mit der Wahlfreiheit ganz
gut.
Doch so viel Transparenz will die EU nicht, weil dann
klar wäre, dass in vielen Lebensmitteln ungewollt Agrogentechnik drin ist. Verunreinigungen sind nämlich
an der Tagesordnung. Die Koexistenz zwischen Agrogentechnik und gentechnikfreier Landwirtschaft hat sich
doch längst als Märchen entlarvt. Bei Ernte, Transport,
Lagerung, Verarbeitung und Handel sind Verunreinigungen nicht oder nur mit einem hohen Kostenaufwand zu
vermeiden. Um das nicht kennzeichnen zu müssen, hat
man die 0,9-Prozent-Grenze erfunden. Deshalb muss
man eigentlich entscheiden: Will man eine Gentechnik
oder eine Kennzeichnung, die Monsanto-freundlich ist,
oder will man eine, die im Interesse der Verbraucherinnen und Verbraucher ist?
({4})
Die wollen nämlich zu 80 Prozent keine Lebensmittel
aus Agrogentechnik. Das heißt, sie wollen Lebensmittel,
die nicht mit Agrogentechnik hergestellt wurden.
Deshalb sagt die Linke ganz klar: Wir wollen eine
Kennzeichnung im Interesse der Verbraucherinnen und
Verbraucher, im Interesse der gentechnikfreien Landwirtschaft und Lebensmittelwirtschaft sowie im Interesse der Imkerinnen und Imker.
({5})
- Insulin ist aber Rote Gentechnik. Da haben Sie etwas
verwechselt.
Beim Honig ist die Kennzeichnungsfrage noch komplizierter. Dabei geht es nämlich um den Pollen in dem
Honig. Stammen Pollen aus Gentechpflanzen ohne
Lebensmittelkennzeichnung, muss der Honig als Sondermüll entsorgt werden.
({6})
Bei Pollen von Gentechnikpflanzen mit Lebensmittelzulassung zieht wiederum die 0,9-Prozent-Grenze nicht,
weil Honig nämlich nur bis zu 0,5 Prozent Pollen enthält, also unter 0,9 Prozent.
({7})
Bei dieser Regelung müsste also der Honig nicht gekennzeichnet werden, es sei denn, Pollen würde als Zutat
bezeichnet oder die Beimengung von Pollen wäre nicht
zufällig oder technisch unvermeidbar - noch einmal: der
Pollen wird durch die Bienen eingetragen - oder der
Pollengehalt würde im Verhältnis von Gentechpollen zu
natürlichem Pollen berechnet oder - noch strenger Gentechpollen würde auf den Maispollen bezogen. In all
diesen Fällen müsste Honig dann doch gekennzeichnet
werden, sagen manche Juristinnen und Juristen.
Alles klar? Wenn nicht, dann liegt es ganz bestimmt
nicht an Ihnen; denn so etwas ist nicht verständlich.
({8})
Deshalb hilft eigentlich nur ein klarer Rechtsgrundsatz: Im Zweifel für Verbraucherinnen und Verbraucher
und für die Imkerei. Die Linke fordert deshalb klipp und
klar: Wenn Gentechpollen im Honig drin sind, muss es
auch draufstehen.
({9})
Von den juristischen Debattierklubs erwarte ich konstruktive Vorschläge, wie man dieses Ziel erreicht, und
keine juristischen Winkelzüge, um es zu verhindern.
Dem Antrag der Grünen stimmen wir deswegen zu.
Vielen Dank.
({10})
Als Nächstem erteile ich das Wort dem Kollegen
Dr. Matthias Miersch, SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Um
es gleich vorwegzusagen: Für die SPD-Fraktion steht
fest, dass Wahlfreiheit im Bereich der Gentechnologie
ein ganz entscheidender Grundsatz für Verbraucherinnen
und Verbraucher ist.
({0})
Zur Wahlfreiheit gehört auch, dass man Kennzeichnungspflichten hat, die für Verbraucherinnen und Verbraucher nachvollziehbar sind. Insofern freue ich mich,
dass es gelungen ist, in diesen Koalitionsvertrag hineinzuschreiben, dass wir darin einig sind, dass die Bundesregierung auf europäischer Ebene für die Kennzeichnungspflicht von Tieren, die mit Gentechnikpflanzen
gefüttert worden sind, votieren soll. Das ist ein eindeutiger Fortschritt, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({1})
Beim Thema Honig - das gehört auch offen gesagt ist dies aber komplizierter. Ausgehend von einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs haben wir in
den letzten zwei Jahren auf vielen politischen Ebenen
intensiv darüber diskutiert. Herr Kollege de Vries, Sie
sagen, es gibt nur eine Richtung. Es gibt aber auch noch
eine andere. Die andere hat sich aus einer Grundsatzentscheidung des Europäischen Gerichtshofs ergeben.
Ich sage auch hier ganz klipp und klar: Die Sozialdemokratie hat nicht nur auf nationaler Ebene - nicht nur
im Bundesrat und teilweise sogar zusammen mit der
CSU -, sondern vor allen Dingen auch im Europäischen
Parlament für eine Kennzeichnungspflicht im Sinne der
Grundsatzentscheidung des Europäischen Gerichtshofs
votiert, und das ist nach wie vor auch richtig.
({2})
Herr Ebner, jetzt komme ich dazu, was Ihr Antrag beinhaltet. Ich kann nur sagen: Ich kann von einer Bundesregierung nichts verlangen, was sie nicht erfüllen kann.
Nach dieser langen Zeit haben wir auf der europäischen
Ebene ein sogenanntes Trilogverfahren durchgeführt.
Das ist so etwas wie das Vermittlungsverfahren zwischen dem Bundestag und dem Bundesrat, das wir alle
kennen. Dieses Verfahren ist abgeschlossen, und es gibt
den Brauch, dass dieses Verfahren auch nicht wieder eröffnet werden kann. Das gab es in der europäischen Geschichte noch nie. Insofern können wir dem Willen der
Grünen an dieser Stelle nicht entsprechen, weil wir hier
schlichtweg zur Kenntnis nehmen müssen, dass auf europäischer Ebene jedenfalls derzeit die Messe gesungen
ist. Es gehört zur Ehrlichkeit dazu, zu sagen, dass dieses
Thema auf europäischer Ebene im Augenblick nicht zu
bewegen ist.
({3})
Jetzt kann man natürlich Anträge stellen und eine namentliche Abstimmung fordern; das wissen wir alle, die
wir schon mal in der Opposition waren, Herr Ebner. Als
Nächstes wird es dann Musterpresseerklärungen in den
Wahlkreisen geben, in denen man sagt, der und der sei
unglaubwürdig.
({4})
- Lassen Sie mir zumindest die Möglichkeit, Ihnen einen
Vorschlag zu machen.
Ich sage, wir sollten uns in diesem Parlament die
Frage stellen, wie wir in der Sache weiterkommen. Wir
müssen hier in vier Bereichen eine Einigung erzielen:
Erstens. Ich habe das schon vor wenigen Wochen
gesagt: Wir haben hier in diesem Haus und auch in den
Koalitionsfraktionen offenkundig einen Dissens, wenn
es um das Thema Grüne Gentechnik geht. Die CSU- und
die SPD-Minister haben zum Beispiel eindeutig gegen
die Zulassung votiert, die CDU dafür. Ich glaube, dass
wir das ernst nehmen müssen, was wir in den Koalitionsvertrag geschrieben haben, nämlich dass wir die Zweifel
der Bevölkerung in Sachen Grüne Gentechnik anerkennen.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,
ich sage auch ganz offen: Wir müssen darum ringen, was
das bedeutet. Aus meiner Sicht kann das nicht bedeuten,
dass wir uns in Brüssel bei der Abstimmung über eine so
zentrale Frage wie die Zulassung enthalten.
({6})
Deswegen erwarten wir, dass wir, wie wir das im Koalitionsvertrag auch vereinbart haben, in den nächsten
Wochen im Einvernehmen miteinander klären, was zukünftig geschieht, wenn die Bundesregierung nicht
sprechfähig ist, weil sie widerstreitende Interessen hat.
Zweitens. Ich erwarte eine Diskussion darüber, ob es
Sinn macht, eine sogenannte Opt-out-Klausel einzuführen, wonach einzelne Mitgliedstaaten, obwohl die Zulassung erfolgt ist, davon absehen können. Im Bundesrat
und bei der CSU gibt es tolle Bewegungen dazu, und wie
ich jetzt gehört habe, bewegt sich auch die CDU in
Baden-Württemberg, Herr Strobl, sodass der Kurs der
Sozialdemokratie hier möglicherweise übernommen
werden kann.
({7})
Ich werbe dafür, dass wir offen darüber reden - im Übrigen auch mit der Opposition.
Drittens. Wir müssen schnell das umsetzen, was wir
im Koalitionsvertrag hinsichtlich der Kennzeichnungspflicht vereinbart haben, nämlich dass tierische Produkte
gekennzeichnet werden müssen, wenn die Tiere mit
GVO gefüttert wurden. Dafür müssen wir uns auf europäischer Ebene einsetzen.
({8})
Viertens. Schließlich geht es um den Honig, über den
wir hier diskutieren. Herr Ebner, ich glaube, es passiert
nichts, ob der Antrag durchgeht oder nicht. Wir müssen
in Brüssel dicke Bretter bohren und uns vor allen Dingen
die Frage stellen, was wir hier im Parlament tun können.
Auch dazu mache ich Ihnen einen Vorschlag.
({9})
- Nein. Ich nehme zur Kenntnis, wie im Moment der
Sachstand ist, Herr Krischer; das wissen Sie so gut wie
ich. Frau Künast musste schon vor längerer Zeit, also vor
uns, die Erfahrung machen, dass in Brüssel bestimmte
Geschichten so sind, wie sie eben sind, und dass man da
nicht eingreifen kann. Aber ich lade Sie ein, zu überleDr. Matthias Miersch
gen, wie wir die Imker national durch Regelungen schützen können.
Diese vier Bereiche, Zulassung, Opt-out, Kennzeichnung, Fleisch und Imkerei, möchte ich in diesem Parlament offen diskutieren. Ich glaube, wir haben dafür eine
Grundlage, indem wir im Koalitionsvertrag festgehalten
haben, dass die Skepsis der Bevölkerung anerkannt wird.
Diese Debatte fordern wir ein. Ich denke, wir werden sie
in den nächsten Wochen gemeinsam mit der CDU/CSU
und der Opposition führen. Dazu meine Einladung.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({10})
Als Nächstem erteile ich das Wort dem Kollegen
Harald Ebner, Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und
Kollegen! Kürzlich hat die Große Koalition gegen die
hier schon zitierten Regelungen im Koalitionsvertrag,
haben vor allem SPD und CSU gegen ihre eigenen
Programme gestimmt und einem weiteren Anbau von
gentechnisch veränderten Pflanzen Tür und Tor geöffnet.
({0})
Viele von Ihnen haben dann in den Wahlkreisen beteuert,
sie seien selbstverständlich weiterhin gegen Gentechnik,
obwohl sie gerade dafür gestimmt hatten. Jetzt wollen
Sie die gleiche Nummer ein zweites Mal durchziehen?
({1})
Eigentlich - jetzt komme ich auf das zurück, was
Renate Künast erreicht hat - könnten wir dieser Tage ein
schönes zehnjähriges Jubiläum feiern. Im April 2004 trat
die Kennzeichnungsverordnung der EU für gentechnisch
veränderte Lebensmittel in Kraft. Erst seitdem haben wir
die Möglichkeit, Lebensmittel mit Zutaten aus gentechnisch veränderten Organismen überhaupt zu erkennen.
({2})
Diese Kennzeichnungspflicht für Gentechprodukte ist
die Grundlage jeder Wahlfreiheit beim Essen. Seither
stehen sie auch nicht mehr in unseren Regalen, und das
ist gut so.
({3})
Was passiert denn heute? Zehn Jahre später wirkt die
Bundesregierung in Brüssel aktiv daran mit, diese Transparenzregelung auszuhebeln. Auf solche Festreden kann
die Jubilarin ganz gut verzichten.
({4})
Wie auch beim Genmais 1507 liegt leider auch hier der
Verdacht nahe - der Kollege de Vries hat es schon bestätigt -, dass hier ein weiteres Stück Verbraucherschutz als
Handelshemmnis für die Verhandlungen über das Freihandelsabkommen mit den USA aus dem Weg geräumt
werden soll. Ich sage Ihnen: Verbraucherinnen und Verbraucher und ihr Recht auf Information sind eben keine
Handelshemmnisse.
({5})
Hinter der laufenden Änderung dieser EU-Honigrichtlinie steckt nichts anderes als das Ziel, die Kennzeichnung von Honig mit Pollen gentechnisch veränderter Pflanzen grundsätzlich zu verhindern und damit
- auch Kollege de Vries hat es schon bestätigt - das
sogenannte Honigurteil des EuGH zu unterlaufen oder
zu korrigieren. Sie unterstützen das. Damit beschneiden
Sie die Freiheit der Menschen beim Einkauf, Honig ohne
Gentechnik auswählen zu können.
({6})
Damit schränken Kanzlerin Merkel und ihre Koalition
die Wahlfreiheit der Verbraucherinnen und Verbraucher
und die Lebensmittelkennzeichnungspflicht deutlich ein.
Gegen Ihre Transparenz ist die Stahltür von Fort Knox
eine Milchglasscheibe.
({7})
Verbraucherinnen und Verbraucher haben aber einen
Anspruch auf Transparenz. Wir teilen deshalb das in Ihrem Koalitionsvertrag, Herr Miersch, verankerte Ziel,
auch eine Kennzeichnung tierischer Produkte zu erreichen, die mit Genfuttermitteln erzeugt wurden. Doch Sie
machen jetzt das genaue Gegenteil dessen. Sie sorgen
nicht für mehr, sondern für weniger Kennzeichnung bei
tierischen Produkten; denn Pollen gentechnisch veränderter Pflanzen gelangt eben in unveränderter Form in
den Bienenstock und in den Honig mit dem kompletten
Erbgut, inklusive aller Veränderungen, die man vorgenommen hat. Damit ist dieser Honig Genfood.
Da kommen Sie und wollen den Menschen im Land
weismachen, Gentechpollen sei, Herr Kollege, „ein
natürlicher Bestandteil“ von Honig. Solches Gentecherbgut ist ausnahmslos patentiert. Wir sagen: Eine
patentierte Erfindung kann nie und nimmer ein natürlicher Bestandteil eines Lebensmittels sein.
({8})
Da wird gern abgewiegelt und erklärt, der Pollenanteil im Honig sei sehr gering. Wenn aber die Menschen
keine Gentechnik in ihrem Essen haben wollen, dann ist
das ihr gutes Recht. Und Ihre Pflicht als Bundesregierung ist es, durch eine klare Kennzeichnungsregelung
echte Wahlfreiheit zu ermöglichen.
({9})
Aber was tun Sie? Sie befürworten deren Einschränkung, Frau Connemann. Wir wollen jedenfalls nicht,
dass Rapshonig, der vollständig von Gentechpflanzen
stammt, ohne jede Kennzeichnung im Regal steht. Das
geht nicht.
({10})
Aber das wird die Folge sein.
Es wird gesagt, die Messe sei gesungen. Denen, die
das erzählen, sage ich: Das stimmt doch gar nicht. Wo
waren Sie denn bisher? Wo war die Stimme der CSU,
({11})
wo war die Stimme der SPD gegen die Gentechnik und
für die Wahlfreiheit der Menschen?
Sie handeln zum wiederholten Mal in Brüssel glasklar
gegen die Interessen der Menschen, gegen die Wahlfreiheit beim Essen
({12})
und auch gegen Ihren eigenen Koalitionsvertrag,
({13})
und dann haben Sie die Stirn, uns vorzuhalten, es sei zu
spät. Das finde ich unerträglich.
Dieser Honig ist noch lange nicht gelöffelt. Denn Trilog hin oder her: Der Rat muss erst noch darüber abstimmen. Dass es unüblich ist, dass man dann gegen das bisherige Abstimmungsverhalten handelt, mag sein. Aber
der Rat muss abstimmen. Deshalb kommt unser Antrag
zur richtigen Zeit.
({14})
Ich appelliere an Sie: Denken Sie jetzt gleich bei der
Abstimmung an die Menschen in diesem Land! Denken
Sie an ihre Wahlfreiheit! Tauschen Sie Ihr Stimmkärtchen noch einmal um! Stimmen Sie mit unserem Antrag
für die Wahlfreiheit auch beim Honig!
({15})
Als Nächstem erteile ich das Wort dem Kollegen
Alois Rainer, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrter
Herr Kollege Ebner, ich verkneife es mir, auf Ihre Ausführungen näher einzugehen. Dann würde meine Redezeit nicht reichen; denn ich könnte einiges zum Thema
Lebensmittel und Gentechnik sagen und sofort widerlegen, was Sie gesagt haben. Davon stimmt fast gar nichts.
({0})
Bei der Abstimmung vor einigen Wochen ging es um
einen Schaufensterantrag wie heute auch.
({1})
Aber heute bleibe ich bei der Sache.
({2})
- Ja, ich bleibe bei der Sache.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich will es
klar an den Anfang stellen: Das Wohl der Menschen in
unserem Land liegt uns in jeder Hinsicht ganz besonders
am Herzen. Wir nehmen die Sorgen und Ängste der
Menschen sehr ernst. Das gilt auch für die Bewertung aller modernen Technologien.
Oberstes Prinzip bei der Anwendung ist und bleibt die
Sicherheit von Mensch, Tier und natürlich auch der Umwelt.
({3})
Damit es genau in diesem Verhältnis bestehen bleibt,
setze ich mich nach wie vor für eine vernünftige und,
meine lieben Kolleginnen und Kollegen der Oppositionsfraktionen, realistische Kennzeichnung ein.
Das Europäische Parlament - das wurde schon gesagt hat am 15. Januar 2014 klargestellt, dass Pollen ein natürlicher Bestandteil und keine Zutat von Honig ist. Das
war eine Reaktion auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs, wonach Pollen als Zutat von Honig hätte gekennzeichnet werden müssen. Aus eigener Erfahrung
habe ich die Transparenz in der Kennzeichnung von Lebensmitteln und die Wahlfreiheit der Verbraucherinnen
und Verbraucher beim Einkauf von Lebensmitteln schätzen gelernt.
Es ist gut und richtig, dass Lebensmittel, die gentechnisch veränderte Zutaten enthalten, entsprechend gekennzeichnet werden müssen. Aber schon jetzt gilt: Enthält importierter Honig gentechnisch veränderten Pollen,
der in der EU nicht als Lebensmittel zugelassen ist, ist
der Honig gar nicht erst verkehrsfähig. Eines muss man
klar sagen: Unser regional produzierter Honig ist ein reines Naturprodukt.
({4})
- Jetzt schon noch. Wenn wir die Opt-out-Regelung ziehen, wird es auch in Zukunft so sein.
({5})
Das werden wir sehen. Warten wir es ab!
({6})
Es ist festgelegt, dass eine Zutat ein Stoff ist, der einem Lebensmittel absichtlich hinzugefügt wird. Darüber
hinaus sind Pollen ein unvermeidbarer natürlicher Bestandteil des Honigs. Das Vorhandensein des Pollens im
Honig ist zufällig und technisch nicht vermeidbar, weil
die Bienen von Natur aus Nektar, Honigtau und Pollen
sammeln und dieser Vorgang vom Imker nicht wie bei
einer Zutat beeinflusst werden kann. Der Anteil der Pollen im Honig liegt im Normalfall bei 0,003 Prozent.
({7})
- Stimmt, aber ich wiederhole das gerne, damit Sie sich
das merken, Herr Kollege.
({8})
- Sie waren vorhin genauso sarkastisch.
Der Anteil gentechnisch veränderter Pollen liegt gewöhnlich deutlich unter diesem Prozentwert, wie Sie alle
wissen. Deshalb kann man nicht davon ausgehen, dass
die Bienen nur gentechnisch veränderte Pollen sammeln.
({9})
Der gültige, für die Kennzeichnung maßgebliche
Schwellenwert für gentechnisch veränderte Organismen
in Lebensmitteln liegt - das haben wir bereits gehört bei 0,9 Prozent. Ich wiederhole gerne, was vorhin gesagt
wurde: Die Nachweisgrenze für zugelassene gentechnisch veränderte Bestandteile von Lebensmitteln liegt
bei 0,1 Prozent. Das gilt auch für das Siegel „Ohne Gentechnik“ oder für das Fair-Trade-Siegel. Eine Pflicht zur
Kennzeichnung des Honigs ist in der Praxis auch nicht
umsetzbar, da es wegen der extrem geringen Mengen an
möglichen gentechnisch veränderten Pollen im Honig
derzeit keine zuverlässigen Analysemethoden für die
Quantifizierung gibt. Ähnlich schwierig wäre es, ein Zuckerstück im Bodensee zu finden.
({10})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, vielleicht erinnern Sie sich: Im November 2002 war es die
damalige Ministerin Renate Künast, die dem Schwellenwert von 0,9 Prozent zugestimmt hat.
({11})
- Sie sind vorhin auch ausgewichen.
Der Anteil des Importhonigs liegt in Deutschland bei
70 bis 75 Prozent. Das heißt, 25 bis 30 Prozent werden
national hergestellt. Durch eine zusätzliche Kennzeichnungspflicht würden neue und hohe Analysekosten sowie bürokratische Kontrollaufwendungen auf unsere Imker zukommen. Gerade deshalb bin ich mir sicher, dass
eine Ausweitung der Kennzeichnung viele kleine und
mittlere Imkereien belasten wird. Zumindest da könnten
wir uns einig sein. Wir alle wollen doch, dass die Imker
nicht zusätzlich belastet werden.
({12})
Denn gerade das sollte bei einem Anteil des nationalen
Honigs von 25 bis 30 Prozent in Deutschland dringend
vermieden werden.
Bei allem Verständnis für größtmögliche Transparenz
ist es in diesem Fall aus den vorgenannten Gründen zurzeit nicht sinnvoll und auch nicht notwendig, eine Änderung der EU-Honigrichtlinie durchzuführen. Dies würde
vor allem dem Verbraucher keinen weiteren Nutzen bringen, sondern lediglich unnötige Zusatzkosten und bürokratische Mehraufwendungen für die Imker bedeuten.
Im Hinblick auf die besondere Situation sollten wir
dringend über eine Zutatenliste diskutieren. Wir müssen
uns in Zukunft diesem Thema widmen. Nehmen wir die
Emotionen heraus, und treffen wir uns mit Interessenvertretern der Imker und den Verbraucherschützern!
({13})
Machen wir ein tragfähiges Konzept für alle!
({14})
Mir persönlich ist es sehr wichtig, dass wir über diese
Themen sachlich und fachlich diskutieren und nicht den
Konsumenten im Zuge von Informationsdefiziten oder
Irritationen verunsichern und unnötige Ängste schüren.Wir müssen den Verbrauchern sagen: Kauft deutschen Honig! - Dann haben sie mit Sicherheit jetzt noch
gentechnikfreien Honig.
({15})
- Noch und weiterhin.
Danke schön.
({16})
Herzlichen Dank. - Als letzter Rednerin zum Thema
Honig, aber zur ersten Rede in ihrem parlamentarischen
Leben im Deutschen Bundestag gebe ich das Wort Kollegin Rita Hagl-Kehl.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Lassen Sie mich auch die Gäste und Bürgerinnen und Bürger auf den Zuschauertribünen des Deutschen Bundestages begrüßen; denn Transparenz ist die
Idee, die hinter der Architektur dieses Hauses steht. Die
Transparenz von Vorgängen und Prozessen, letztlich die
Transparenz von Politik ist die Voraussetzung für demokratisches Handeln. Nicht nur frei entscheiden zu dürfen,
sondern auch frei entscheiden zu können, muss das Ziel
sein.
Heute sprechen wir über Honig und die Änderung der
Honigrichtlinie der Europäischen Union. Seit Men1600
schengedenken gehört Honig zu unseren Grundnahrungsmitteln. Die älteste bekannte Darstellung von Bienen ist eine etwa 8 000 Jahre alte Höhlenmalerei in
Ostspanien, die einen Honigsammler bei der Ernte zeigt.
Bereits die alten Ägypter kannten den Zusammenhang
zwischen Bienen und Bestäubung.
Zwei Drittel der Verbraucher in Deutschland essen regelmäßig Honig. Der Pro-Kopf-Verbrauch von Honig
liegt bei 1,4 Kilogramm pro Jahr. Aufgrund des hohen
Honigverbrauchs kann nur ein kleiner Teil des Bedarfs
mit heimischem Honig gedeckt werden. Ich kenne keine
Familie, die nicht ein Glas Honig zu Hause hat. Warum
ist das so?
({0})
Weil Honig einen Urinstinkt in uns Menschen weckt.
Honig steht für Natur und Gesundheit. Genau das
möchte der Bürger: ein unverfälschtes Naturprodukt, das
ein gesunder Bestandteil der Ernährung ist.
({1})
Einen kleinen Moment, Frau Kollegin.
Liebe Kollegen, es wäre sehr nett, wenn wir es noch
schaffen würden, drei Minuten der Kollegin bei ihrer
ersten Rede im Deutschen Bundestag zuzuhören
({0})
und die sicherlich hochinteressanten und extrem wichtigen Gespräche dann nach der Abstimmung draußen zu
führen.
Frau Kollegin, bitte schön.
({1})
Es ist unsere Verantwortung, dass es auch so bleibt.
Der Europäische Gerichtshof hat die Rechte der Verbraucher und der europäischen Imker in dieser Frage mit
dem sogenannten Honigurteil vom 6. September 2011
grundlegend gestärkt.
Ich möchte klarstellen: Der EuGH hat nicht darüber
befunden, ob Pollen ein natürlicher Bestandteil von Honig ist. Der EuGH hat entschieden, dass genveränderter
Pollen im Honig wie eine Zutat im Sinne der entsprechenden EU-Verordnung zu behandeln ist. Drei Argumente für die Neuregelung der Honigverordnung werden
regelmäßig ins Feld geführt. Diese möchte ich einmal in
Klartext übersetzen.
Das erste Argument lautet, alle Pollen seien natürlicher Bestandteil des Honigs, und deshalb sei Honig per
se ein Naturprodukt. Der Satz: „Pollen ist ein natürlicher
Bestandteil von Honig“, ist absolut richtig. Kein Imker
würde das je bestreiten. Es geht aber hier darum, ob genetisch veränderter Pollen ein natürlicher Bestandteil
von Honig ist, und das ist absolut zu verneinen.
({0})
Der Satz: „Gentechnisch veränderter Pollen ist ein natürlicher Bestandteil von Honig“, ist falsch.
Das zweite Argument lautet, eine fehlende Kennzeichnungspflicht spare Geld, weil Analysen und der
Nachweis von Genpollen hohe Kosten verursachen würden. Fakt ist: Die vermeintliche Kostenersparnis bei der
Kennzeichnung macht den europäischen Imkern mit ihren wertvollen Qualitätsprodukten und hohen Standards
den Markt kaputt. Die Analysetechnik steht nicht nur bei
den deutschen Honigimporteuren bereit, sie wird seit
dem Honig-Urteil auch genutzt.
({1})
Zudem ist der Nachweis - der Kollege Rainer sollte
vielleicht zuhören; denn genau das hat er gesagt - ({2})
- Ach so, er sitzt da. Das sind die anderen Kollegen, die
ratschen. Jetzt weiß ich es.
({3})
- Der Kollege Rainer war verdeckt durch die Kollegen,
die in der ersten Reihe geratscht haben.
({4})
Zudem ist der Nachweis über den Abstand des Bienenstocks zu genmanipulierten Pflanzen in Deutschland
nahezu kostenfrei über die Standortregister für GVOFelder möglich.
Drittes Argument: Die neue Regelung bringt Bürokratieabbau und Erleichterungen. Klar, wenn ich den TÜV
abschaffe, dann können Autos länger gefahren werden.
Der Verkehr wird dadurch aber nicht sicherer.
({5})
Hinter dem Argument des Bürokratieabbaus bei der Honigverordnung versteckt sich die Schwächung des Verbraucherschutzes. In Wirklichkeit wird die Wahlfreiheit
der Bürger abgebaut.
Noch ein Wort zur Lebensmittelkennzeichnung. Bei
der Einführung der Gentechnik unter freiem Himmel
wurden den Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes
drei Dinge versprochen. Um es knapp zu machen - die
Zeit drängt -: Die Koexistenz von natürlicher und genetisch manipulierter Produktion ist eines dieser drei Versprechen. Die EU-Kommission kann allerdings nicht erklären, warum Genhonig aus Kanada zu 100 Prozent aus
Gentechnik bestehen kann und nach der vorgeschlagenen Neuregelung keine Kennzeichnung benötigt. Zugleich wird dem Import von Honig aus genetisch veränderten Pflanzen Tür und Tor geöffnet. Der Vorschlag der
EU-Kommission zur Honigverordnung ist ein Angriff
auf die Koexistenz von Gentechnik und natürlicher Produktion.
Nun zum Antrag vom Bündnis 90/Die Grünen. Wie
sollen wir mit ihm verfahren?
({6})
Dieser Antrag fordert im Wesentlichen, dass sich
Deutschland im Trilogverfahren für Erhalt der Wahlfreiheit beim Honig einsetzt. Das Trilogverfahren ist abgeschlossen, und das wissen Sie auch.
({7})
Dieser Antrag ist entweder als grüner Europawahlkampf
zu verstehen, oder er kommt einfach zu spät.
({8})
Die nächste Entscheidung in dieser Sache wird nicht
heute im Bundestag gefällt, sondern am 19. März 2014
im Umweltausschuss des Europaparlaments. Den Antrag
der Grünen können wir deshalb ohne schlechtes Gewissen ablehnen.
Vielen Dank.
({9})
Das war die erste Rede der Kollegin Rita Hagl-Kehl,
zu der wir ihr gratulieren.
({0})
Sie hatte das Privileg, vor einem vollen Haus zu spre-
chen, und das Problem, dass nicht alle gründlich zuge-
hört haben. Das ist aber immer das Problem, wenn man
kurz vor einer Abstimmung spricht.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Ernährung und Landwirtschaft zu dem An-
trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel
„Wahlfreiheit für Verbraucherinnen und Verbraucher
herstellen - Honig mit gentechnisch veränderten Be-
standteilen kennzeichnen“. Zu der Abstimmung liegen
mehrere Erklärungen nach § 31 unserer Geschäftsord-
nung vor.1)
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 18/792, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/578 abzuleh-
nen. Auf Verlangen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
stimmen wir nun namentlich über die Beschlussempfeh-
lung des Ausschusses ab. Ich bitte die Schriftführerinnen
und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze an den Urnen
einzunehmen. - Darf ich fragen, ob alle Urnen ord-
nungsgemäß besetzt sind? - Das ist der Fall. Ich eröffne
die Abstimmung über die Beschlussempfehlung.
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme nicht abgegeben hat? - Damit schließe ich die
Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und
1) Anlagen 2 bis 4
Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Er-
gebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt gege-
ben.2)
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b so-
wie den Zusatzpunkt 3 auf:
10 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan
van Aken, Wolfgang Gehrcke, Christine
Buchholz, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE
Waffenexporte in die Golfregion verbieten
Drucksache 18/768
Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({1})Auswärtiger Ausschuss ({2})-
Verteidigungsausschuss-
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe-
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung-
Federführung strittig
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über ihre
Exportpolitik für konventionelle Rüstungsgüter im Jahr 2012
({3})
Drucksache 18/105
Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({4})Auswärtiger AusschussVerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
ZP 3 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Energie ({5}) zu dem Antrag der Abgeordneten Agnieszka Brugger, Katja Keul, Omid
Nouripour, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Keine Rüstungsexporte nach Saudi-Arabien
Drucksachen 18/576, 18/793
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre dazu
keinen Widerspruch und bitte die Kolleginnen und Kollegen, die dieser Debatte nicht folgen wollen, sich entweder hinzusetzen oder den Plenarsaal zu verlassen.
({6})
Bitte verlassen Sie den Plenarsaal, oder besser: Bleiben
Sie hier und lauschen Sie der interessanten Debatte.
Als Erste hat die Kollegin Inge Höger, Fraktion Die
Linke, das Wort.
({7})
2) Ergebnis Seite 1603 A
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Exporte
von deutschen Waffen in alle Welt sind ein Skandal.
({0})
Sie sind eine Bankrotterklärung für eine verantwortungsvolle Außenpolitik. Firmen, die Waffen liefern, und Regierungen, die diese Lieferungen genehmigen, leisten
Beihilfe zu Krieg und Mord - weltweit. Das ist ein Skandal.
Die Absurdität der deutschen Rüstungsexportpolitik
zeigt sich ganz aktuell in der Ukraine. Sollte es tatsächlich zu einem Krieg um die Krim kommen, was niemand
von uns hofft, kommen deutsche Waffen, deutsche Munition und deutsche Militärfahrzeuge auf der ukrainischen und der russischen Seite zum Einsatz. Und die
Offiziere beider Seiten werden wahrscheinlich mit deutschen oder anderen NATO-Soldaten gemeinsame Übungen für den Ernstfall absolviert haben. Nun werden ja
Sanktionen gegen Russland diskutiert. Die weitere Belieferung der Ukraine wird jedoch trotz Kriegs- und Bürgerkriegsgefahr nicht infrage gestellt. In Spannungsgebiete sollten generell keine Waffen geliefert werden, egal
an welche Seite.
({1})
Wenn mehr Waffen mehr Sicherheit bedeuten, wie so
oft behauptet wird, dann müsste der Nahe und Mittlere
Osten eine besonders stabile Region sein. Das Gebiet
rund um den Persischen Golf ist das am stärksten militarisierte Gebiet der Welt. Es ist Kriegs- und Krisengebiet.
Die Bundesrepublik ist einer der bedeutendsten Waffenlieferanten dieser Region. Deutsche Waffen kommen
weltweit viel zu oft zum Einsatz, nicht selten auf allen
Seiten eines Krieges oder Bürgerkrieges. Ich nenne hier
nur beispielhaft einige Länder, in die - historisch oder
aktuell - tödliche Systeme verkauft wurden: Die Liste
reicht vom Iran über den Irak, Indien, Pakistan bis nach
Libyen. Überall wurde mit deutscher Rüstungstechnologie Öl ins Feuer gegossen. Dieser Irrsinn muss endlich
ein Ende haben.
({2})
Nur ein Stopp der Rüstungsexporte wäre eine verantwortungsvolle Außenpolitik. Von der im Wahlkampf insbesondere von der SPD beschworenen „Kultur der
Zurückhaltung“ hat sich die neue Regierung bereits öffentlich verabschiedet. Es ist nun von einer neuen „Politik der Verantwortung“ die Rede. Bei Waffenexporten
soll das Parlament früher und zweimal im Jahr informiert werden. Das Parlament soll aber nach wie vor
nicht über die Voranfragen für Rüstungsexporte informiert werden; es wird weiterhin erst im Nachhinein vor
vollendete Tatsachen gestellt. Demokratie und Verantwortung sehen anders aus.
({3})
Insgesamt liefert die deutsche Genehmigungspraxis
Anlass zu großer Sorge. Lieferungen an Drittländer sollten ursprünglich die Ausnahme sein. Inzwischen werden
Panzer, Kriegsschiffe, Maschinengewehre und andere
Kriegswaffen mehrheitlich an Staaten außerhalb der EU
und der NATO geliefert. Allerdings sind auch Lieferungen an EU- und NATO-Staaten keineswegs unbedenklich. Das gilt nicht nur für Griechenland und die Türkei.
Nahezu alle EU- und NATO-Verbündeten befinden sich
in Kriegs- und Besatzungseinsätzen. Es gibt schlichtweg
keine unbedenklichen Waffenexporte.
({4})
Unter den Top Ten der Empfängerländer finden sich
zahlreiche Länder in Spannungsgebieten oder Staaten,
die Menschenrechte und Demokratie mit Füßen treten.
Mehr als 20 Prozent der Exportgenehmigungen im Jahr
2012 entfielen auf Entwicklungsländer. Diese Länder
brauchen Entwicklungshilfe und keine Waffen.
({5})
Der Umfang der genehmigten Exporte von Kleinwaffen wie Maschinengewehre und Pistolen hat sich fast
verdoppelt. Damit ist Deutschland inzwischen weltweit
der zweitgrößte Exporteur von Kleinwaffen. Kleinwaffen sind die neuen Massenvernichtungswaffen unserer
Zeit. Diese Geschäfte sind wirklich beschämend.
Warum werden Waffen nach Algerien, Singapur, Südkorea oder in die Vereinigten Arabischen Emirate geliefert? Warum ist zwischenzeitlich Saudi-Arabien der
größte Abnehmer deutscher Rüstungsprodukte? Das einzige Kriterium scheint die Zahlungsfähigkeit der Empfängerstaaten zu sein. Ein weiteres Verkaufsargument
sind ähnliche Interessen; das ist die neue Merkel-Doktrin. Aus ähnlichen Interessen können aber in kürzester
Zeit Interessengegensätze werden. Die einzigen Profiteure dieser hochriskanten Politik sind Rüstungskonzerne und deren Börsenwerte; die steigen gerade wieder.
Ist das die werteorientierte Politik der Bundesregierung?
Bei der Lieferung von 70 Schnellbooten, 33 Patrouillenbooten sowie 34 weiteren Booten an Saudi-Arabien
geht es angeblich nur um Piraterie- und Terrorismusbekämpfung.
({6})
Wahrscheinlich wird es eher um die Abwehr von Flüchtlingen gehen. Glaubt hier wirklich jemand, Saudi-Arabien würde Flüchtlinge entsprechend humanitären Regeln behandeln?
({7})
Glaubt jemand, Piraten könnten in Saudi-Arabien auf
rechtsstaatliche Verfahren hoffen? Und wer garantiert,
dass die Schnellboote nicht auch für Interventionen in
Nachbarländer wie Jemen oder Bahrain eingesetzt werden? Jeder Export von Waffen ist einer zu viel.
({8})
Politische Verantwortung drückt sich nicht in Militärinterventionen und Rüstungsexporten aus. Es gibt keine
Alternative zu einer zivilen Politik des fairen Interessenausgleichs zwischen den Regionen dieser Welt. Deshalb
fordert die Linke ein Verbot von Waffenexporten in die
Golfregion und alle Teile dieser Welt.
({9})
Herzlichen Dank.
Das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über
die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ernährung
und Landwirtschaft zu dem Antrag der Abgeordneten
Harald Ebner, Renate Künast, Nicole Maisch, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen
Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie
2001/110/EG des Rates über Honig - KOM({0}) 530
endg.; Ratsdok. 13957/12 -, hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Art. 23 Abs. 3 des
Grundgesetzes, mit dem Titel „Wahlfreiheit für Verbraucherinnen und Verbraucher herstellen - Honig mit gentechnisch veränderten Bestandteilen kennzeichnen“, liegt
vor: abgegebene Stimmen 567. Mit Ja haben gestimmt
448, mit Nein haben gestimmt 110, Enthaltungen 9. Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 559;
davon
ja: 440
nein: 110
enthalten: 9
Ja
CDU/CSU
Stephan Albani
Katrin Albsteiger
Peter Altmaier
Artur Auernhammer
Dorothee Bär
Norbert Barthle
Julia Bartz
Günter Baumann
Maik Beermann
Manfred Behrens ({1})
Veronika Bellmann
Sybille Benning
Dr. André Berghegger
Ute Bertram
Peter Beyer
Clemens Binninger
Peter Bleser
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexandra Dinges-Dierig
Alexander Dobrindt
Michael Donth
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Jutta Eckenbach
Dr. Bernd Fabritius
Hermann Färber
Uwe Feiler
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Axel E. Fischer ({2})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Thorsten Frei
Michael Frieser
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Cemile Giousouf
Reinhard Grindel
Ursula Groden-Kranich
Hermann Gröhe
Klaus-Dieter Gröhler
Michael Grosse-Brömer
Astrid Grotelüschen
Markus Grübel
Manfred Grund
Oliver Grundmann
Monika Grütters
Fritz Güntzler
Olav Gutting
Christian Haase
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Matthias Hauer
Mark Hauptmann
Dr. Stefan Heck
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Frank Heinrich ({3})
Mark Helfrich
Jörg Hellmuth
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Ansgar Heveling
Christian Hirte
Dr. Heribert Hirte
Robert Hochbaum
Franz-Josef Holzenkamp
Dr. Hendrik Hoppenstedt
Margaret Horb
Bettina Hornhues
Charles M. Huber
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Erich Irlstorfer
Thomas Jarzombek
Sylvia Jörrißen
Dr. Franz Josef Jung
Xaver Jung
Andreas Jung ({4})
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kanitz
Alois Karl
Anja Karliczek
Bernhard Kaster
Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Dr. Georg Kippels
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Jens Koeppen
Markus Koob
Carsten Körber
Kordula Kovac
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Roy Kühne
Uwe Lagosky
Dr. Karl A. Lamers
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Dr. Silke Launert
Paul Lehrieder
Dr. Katja Leikert
Dr. Philipp Lengsfeld
Philipp Graf Lerchenfeld
Dr. Ursula von der Leyen
Antje Lezius
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Andrea Lindholz
Patricia Lips
Wilfried Lorenz
Dr. Claudia Lücking-Michel
Dr. Jan-Marco Luczak
Karin Maag
Yvonne Magwas
Thomas Mahlberg
Gisela Manderla
Matern von Marschall
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({5})
Reiner Meier
Dr. Michael Meister
Jan Metzler
Maria Michalk
Dr. Mathias Middelberg
Dietrich Monstadt
Karsten Möring
Elisabeth Motschmann
Carsten Müller
({6})
Stefan Müller ({7})
Dr. Philipp Murmann
Dr. Andreas Nick
Michaela Noll
Helmut Nowak
Dr. Georg Nüßlein
Wilfried Oellers
Florian Oßner
Dr. Tim Ostermann
Henning Otte
Ingrid Pahlmann
Sylvia Pantel
Ulrich Petzold
Sibylle Pfeiffer
Ronald Pofalla
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Kerstin Radomski
Alois Rainer
Eckhardt Rehberg
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Erwin Rüddel
Anita Schäfer ({8})
Dr. Wolfgang Schäuble
Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Jana Schimke
Vizepräsident Peter Hintze
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Heiko Schmelzle
Gabriele Schmidt ({9})
Patrick Schnieder
Nadine Schön ({10})
Dr. Ole Schröder
Dr. Kristina Schröder
({11})
Dr. Klaus-Peter Schulze
Uwe Schummer
Christina Schwarzer
Detlef Seif
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Tino Sorge
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Wolfgang Stefinger
Albert Stegemann
Peter Stein
Erika Steinbach
Sebastian Steineke
Johannes Steiniger
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Rita Stockhofe
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Matthäus Strebl
Karin Strenz
Thomas Strobl ({12})
Michael Stübgen
Dr. Sabine Sütterlin-Waack
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Astrid Timmermann-Fechter
Dr. Hans-Peter Uhl
Dr. Volker Ullrich
Arnold Vaatz
Oswin Veith
Michael Vietz
Volkmar Vogel ({13})
Sven Volmering
Christel Voßbeck-Kayser
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Nina Warken
Kai Wegner
Albert Weiler
Marcus Weinberg ({14})
Dr. Anja Weisgerber
Peter Weiß ({15})
Sabine Weiss ({16})
Marian Wendt
Kai Whittaker
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Heinz Wiese ({17})
Elisabeth WinkelmeierBecker
Oliver Wittke
Barbara Woltmann
Heinrich Zertik
Emmi Zeulner
Dr. Matthias Zimmer
Gudrun Zollner
SPD
Niels Annen
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heike Baehrens
Ulrike Bahr
Heinz-Joachim Barchmann
Dr. Katarina Barley
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Dr. Matthias Bartke
Sören Bartol
Bärbel Bas
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding ({18})
Burkhard Blienert
Willi Brase
Dr. Karl-Heinz Brunner
Martin Burkert
Dr. Lars Castellucci
Petra Crone
Bernhard Daldrup
Dr. Daniela De Ridder
Dr. Karamba Diaby
Sabine Dittmar
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Michaela Engelmeier-Heite
Petra Ernstberger
Saskia Esken
Karin Evers-Meyer
Dr. Johannes Fechner
Dr. Fritz Felgentreu
Christian Flisek
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Ulrich Freese
Dagmar Freitag
Martin Gerster
Iris Gleicke
Ulrike Gottschalck
Kerstin Griese
Michael Groß
Uli Grötsch
Wolfgang Gunkel
Bettina Hagedorn
Metin Hakverdi
Ulrich Hampel
Sebastian Hartmann
Michael Hartmann
({19})
Dirk Heidenblut
Hubertus Heil ({20})
Gabriela Heinrich
Marcus Held
Wolfgang Hellmich
Dr. Barbara Hendricks
Heidtrud Henn
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz ({21})
Thomas Hitschler
Dr. Eva Högl
Matthias Ilgen
Christina Jantz
Frank Junge
Josip Juratovic
Thomas Jurk
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Christina Kampmann
Ralf Kapschack
Gabriele Katzmarek
Ulrich Kelber
Marina Kermer
Cansel Kiziltepe
Arno Klare
Daniela Kolbe
Birgit Kömpel
Anette Kramme
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Helga Kühn-Mengel
Christine Lambrecht
Christian Lange ({22})
Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Hiltrud Lotze
Kirsten Lühmann
Dr. Birgit Malecha-Nissen
Katja Mast
Susanne Mittag
Bettina Müller
Michelle Müntefering
Dietmar Nietan
Ulli Nissen
Mahmut Özdemir ({23})
Aydan Özoğuz
Markus Paschke
Jeannine Pflugradt
Sabine Poschmann
Joachim Poß
Florian Post
Achim Post ({24})
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Dr. Simone Raatz
Martin Rabanus
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Andreas Rimkus
Sönke Rix
Dennis Rohde
Dr. Martin Rosemann
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth ({25})
Bernd Rützel
Johann Saathoff
Annette Sawade
Dr. Hans-Joachim
Schabedoth
Axel Schäfer ({26})
Udo Schiefner
Dr. Dorothee Schlegel
Ulla Schmidt ({27})
Matthias Schmidt ({28})
Dagmar Schmidt ({29})
Carsten Schneider ({30})
Ursula Schulte
Swen Schulz ({31})
Ewald Schurer
Stefan Schwartze
Andreas Schwarz
Rainer Spiering
Svenja Stadler
Martina Stamm-Fibich
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Claudia Tausend
Michael Thews
Wolfgang Tiefensee
Carsten Träger
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Dirk Vöpel
Gabi Weber
Andrea Wicklein
Dirk Wiese
({32})
Gülistan Yüksel
Dagmar Ziegler
Dr. Jens Zimmermann
Manfred Zöllmer
Nein
CDU/CSU
Josef Göppel
Hans-Georg von der Marwitz
Martin Patzelt
DIE LINKE
Dr. Dietmar Bartsch
Karin Binder
Matthias W. Birkwald
Christine Buchholz
Roland Claus
Wolfgang Gehrcke
Vizepräsident Peter Hintze
Annette Groth
Dr. André Hahn
Heike Hänsel
Andrej Hunko
Sigrid Hupach
Ulla Jelpke
Kerstin Kassner
Katja Kipping
Jan Korte
Jutta Krellmann
Sabine Leidig
Michael Leutert
Stefan Liebich
Dr. Gesine Lötzsch
Cornelia Möhring
Niema Movassat
Dr. Alexander S. Neu
Thomas Nord
Petra Pau
Harald Petzold ({33})
Richard Pitterle
Martina Renner
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Azize Tank
Frank Tempel
Dr. Axel Troost
Kathrin Vogler
Harald Weinberg
Katrin Werner
Birgit Wöllert
Jörn Wunderlich
Hubertus Zdebel
Pia Zimmermann
Sabine Zimmermann
({34})
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Marieluise Beck ({35})
Volker Beck ({36})
Dr. Franziska Brantner
Agnieszka Brugger
Katja Dörner
Katharina Dröge
Dr. Thomas Gambke
Matthias Gastel
Anja Hajduk
Britta Haßelmann
Bärbel Höhn
Uwe Kekeritz
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Stephan Kühn ({37})
Christian Kühn ({38})
Renate Künast
Monika Lazar
Steffi Lemke
Dr. Tobias Lindner
Peter Meiwald
Irene Mihalic
Beate Müller-Gemmeke
Özcan Mutlu
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Cem Özdemir
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Claudia Roth ({39})
Corinna Rüffer
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Ulle Schauws
Dr. Frithjof Schmidt
Kordula Schulz-Asche
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Doris Wagner
Beate Walter-Rosenheimer
Dr. Valerie Wilms
Enthalten
CDU/CSU
Steffen Bilger
Alexander Hoffmann
Armin Schuster ({40})
Johannes Selle
SPD
Gabriele Groneberg
Dr. Bärbel Kofler
Hilde Mattheis
Stefan Zierke
Das bedeutet - ich sage das für unsere Zuhörerinnen und
Zuhörer -, dass der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen abgelehnt wurde, weil die Beschlussempfehlung
die Ablehnung empfohlen hat.
Wir fahren mit unserer Tagesordnung fort. Der
nächste Redner ist Kollege Dr. Joachim Pfeiffer, CDU/
CSU-Fraktion.
({41})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir debattieren heute wieder einmal, wie fast jede
Woche, über das Thema Waffenexporte.
({0})
Die Linken haben einen Antrag vorgelegt, der vorsieht,
die Waffenexporte in die Golfregion komplett zu verbieten.
({1})
Sie haben eben den Vorwurf erhoben, Deutschland
würde eine unverantwortliche Rüstungsexportpolitik betreiben. Das ist absurd und geht ins Leere.
({2})
Die Bundesrepublik Deutschland betreibt seit ihrer
Gründung eine äußerst verantwortungsvolle Rüstungspolitik,
({3})
schon aufgrund der Vorgaben des Grundgesetzes. So lautet Art. 26 Abs. 2:
Zur Kriegführung bestimmte Waffen dürfen nur mit
Genehmigung der Bundesregierung hergestellt, befördert und in Verkehr gebracht werden.
({4})
Deutschland hat unzweifelhaft das weltweit restriktivste
Rüstungsexportregime.
(Lachen des Abg. Jürgen Trittin ({5})
- Wenn wir es doch nur wären! Aber wir sind es nicht.
Das ist abwegig.
({6})
Herr Pfeiffer, lassen Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Höger zu?
Ja, gerne. Bitte schön.
Wenn Deutschland eine der restriktivsten Rüstungsexportgenehmigungspolitiken der Welt betreibt, wie
kann es dann sein, dass Deutschland der drittgrößte Rüstungsexporteur der Welt ist?
({0})
Sie wissen genau - weil wir diese Frage schon zigmal
debattiert haben -, dass diese Aussage falsch ist. Den
Zahlen des SIPRI-Instituts liegen bestimmte Kriterien
zugrunde. Zum Beispiel wird gebrauchten Waffen der
gleiche Wert zugemessen wie neuen. Insofern ist die Beweiskraft dieser Zahlen mehr als fraglich.
({0})
Ich frage Sie in aller Offenheit:
({1})
Selbst wenn wir der größte Rüstungsexporteur wären,
wo wäre denn das Problem, wenn wir die zugrunde liegenden Kriterien erfüllten, die eine sorgfältige Abwägung ermöglichen,
({2})
zum Beispiel bei Dual-Use-Gütern? Da haben wir eine
europäische Regelung.
Ich wünsche mir im Übrigen eine solche europäische
Regelung auch im Bereich des Kriegswaffenexports.
Wenn wir eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik betreiben wollen, dann müssen wir nicht nur in
Bezug auf den Rüstungsexport von Dual-Use-Gütern,
sondern auch in Bezug auf den von Kriegswaffen europäisch denken und gemeinsam handeln. Wenn wir dann
die besten Produkte liefern können: Wo ist denn dann
das Problem?
({3})
Dann sind wir doch froh, dass wir mit deutscher Unterstützung einen Beitrag dazu leisten können, dass Frieden
in der Welt erhalten bzw. geschaffen wird.
({4})
Ich komme zu Ihrem Antrag und auf Saudi-Arabien
zurück. Falls die Zeit nicht reicht, können Sie gerne eine
Zwischenfrage stellen. Dann kann ich das weiter ausführen. Sie fordern jedenfalls ein Totalverbot von Waffenexporten in eine bestimmte Region.
({5})
Dies ist weder mit nationalem Recht noch mit dem EUAusfuhrkontrollrecht vereinbar. Wie Sie wissen, widerspricht die von Ihnen beabsichtigte pauschale Untersagung dem Gemeinsamen Standpunkt der EU von 2008,
der eine Einzelfallprüfung vorsieht. Das käme einem
Waffenembargo gleich, was im Übrigen nur der EU-Rat
entscheiden kann.
({6})
Zentrale Kriterien für die Ausfuhrentscheidung sind Art
des konkreten Exportgutes sowie außen-, sicherheits-,
technologie- und menschenrechtspolitische Argumente,
die im Einzelfall sorgfältig abgewogen werden.
({7})
Kommen wir zu Saudi-Arabien bzw. zum Nahen
Osten. Saudi-Arabien ist ja wohl unzweideutig seit Jahrzehnten ein verlässlicher Partner des Westens
({8})
und auch ein verlässlicher Partner der Bundesrepublik
Deutschland.
({9})
Saudi-Arabien ist ein stabilisierender Faktor im Mittleren Osten. Wenn Sie nach Libyen schauen, wenn Sie
nach Syrien schauen
({10})
- Herr Trittin, Sie haben vorhin selber das Thema Iran
angesprochen -, dann ist Saudi-Arabien ein moderater
und stabilisierender Partner in der Region.
({11})
Wenn wir der Meinung sind, dass Saudi-Arabien ein stabilisierender Partner ist, dann sollten wir es vielleicht
auch in die Lage versetzen, dieser Aufgabe nachzukommen.
({12})
Wenn Saudi-Arabien Küstenschutz betreibt und - das
wurde ja dargelegt ({13})
zum Schutz gegen Piraterie am Roten Meer Patrouillenboote ordert - die ordern sie in Deutschland, weil wir
hier die geeigneten haben, um die Küsten zu schützen -,
wo liegt dann das Problem?
({14})
Ganz im Gegenteil: Ich bin stolz darauf, dass wir in der
Lage sind, diese an Saudi-Arabien zu liefern.
({15})
Wenn Sie sehen, dass auch in die Golfregion - können Sie ja im Rüstungsexportbericht nachlesen - 2011
105 und 2012 118 Ausfuhranträge nach der Prüfung der
Kriterien, die zugrunde gelegt wurden, abgelehnt wurden, dann erkennen Sie, dass hier nicht nach Schema F
vorgegangen, sondern sehr differenziert untersucht wird,
was man erlaubt und was nicht.
({16})
Das Gleiche gilt beispielsweise für Katar. Es wäre doch
absurd, wenn wir Katar bei der Modernisierung seiner
Sicherheitskräfte, auch in der Vorbereitung der FußballWM 2022, nicht unterstützen würden. Warum sollen wir
das denn nicht tun?
({17})
Rüstungsexporte sind - ich wiederhole es noch einmal - aus meiner Sicht ein legitimes Instrument der Außen- und Sicherheitspolitik,
({18})
wenn dafür entsprechende Kriterien vorhanden sind und
auch eingehalten werden. Betrachten wir einmal ein aktuelles Beispiel, über das wir in diesen Wochen auch
schon diskutiert haben: Mali.
({19})
In Mali sind bisher unsere französischen Verbündeten
und zum Teil auch die Bundeswehr im Einsatz. Wenn
wir der Meinung sind, dass wir Mali in die Lage versetzen wollen, das Gewaltmonopol des Staates durchzusetzen,
({20})
und dafür sogar die Streit- und Sicherheitskräfte ausbilden, dann müssen wir sie auch so ausstatten, dass sie in
der Lage sind, dieses Gewaltmonopol des Staates durchzusetzen. Alles andere ist verlogen. Die Scheinheiligkeit
der Argumentation,
({21})
die hier von den Linken und auch von den Grünen in
dieser Angelegenheit an den Tag gelegt wird, ist wirklich himmelschreiend.
({22})
Es ist auch deshalb im nationalen Interesse Deutschlands, weil wir mit den Rüstungsexporten auch die
Sicherung der Wehrfähigkeit Deutschlands und des
Technologiestandortes Deutschland gewährleisten.
({23})
Von einstmals 1,5 Millionen Beschäftigten in der Rüstungsindustrie gibt es jetzt gerade einmal noch 400 000
in ganz Europa. In Deutschland waren es einmal
500 000. Jetzt sind es noch 80 000. Ich will nicht abhängig werden von Technologien anderer. Das sehen wir gerade beim Thema Ukraine, über das wir vorhin schon
diskutiert haben. Ich will, dass wir in Europa und dass
wir in Deutschland weiterhin über Kernfähigkeiten verfügen, um unsere Sicherheits- und Verteidigungsindustrie dauerhaft am Leben zu halten und uns so auszustatten, dass wir nicht von Technologien anderer, weder von
denen unserer Freunde aus Amerika noch von chinesischen oder denen anderer Länder, abhängig werden.
Wir nehmen damit auch sicherheitspolitische Interessen und unsere Bündnispflichten wahr, indem wir unsere
Verbündeten, sei es innerhalb der NATO, der Europäischen Union oder sonst wo auf der Welt, entsprechend
ausstatten. Das halte ich geradezu für natürlich
({24})
und richtig. Wir sollten nicht nur darüber reden, sondern
wir müssen und sollten dieses natürlich auch weiterhin
tun.
({25})
Sie haben vorhin von einer Politik der Verantwortung
gesprochen. Wir nehmen diese Politik der Verantwortung ernst. Das heißt: Wenn wir mit unseren Verbündeten zu dem Ergebnis kommen, dass es in unserem gemeinsamen außen- und sicherheitspolitischen Interesse
liegt - nehmen wir noch einmal das Beispiel Mali -, uns
für die Sicherung des Friedens einzusetzen, dann sind
wir auch dazu bereit. Dann können wir aber eben nicht
nur mit humanitären Einsätzen agieren, sondern müssen
auch bereit sein, einen weiteren Beitrag zu leisten. Wenn
ich das richtig sehe, sitzen Soldaten auf der Tribüne. Daher sage ich auch ganz klar: Wenn wir unsere Soldaten
nicht in Mali oder an anderer Stelle einsetzen wollen
- wir können die Bundeswehr sicherlich nicht im Rahmen aller Militäreinsätzen der NATO oder der UNO einsetzen; denn wir stehen mit dem Einsatz in Afghanistan seit
Jahren an der Grenze dessen, was wir leisten können -,
dann müssen wir andere Instrumente wählen. Daher ist
es selbstverständlich, dass wir unsere Technologien an
die Partner liefern, die in der Lage und willens sind, die
Politik der Verantwortung vor Ort umzusetzen.
({26})
Insofern sind die linke Moralkeule oder auch die
vereinfachte Weltsicht mancher Gutmenschen in dieser
Debatte wirklich fehl am Platz.
({27})
Deutschland wird weiterhin eine verantwortungsbewusste Politik betreiben, die einen richtigen Ausgleich
schafft zwischen notwendiger Exportkontrolle und der
Wahrung der außen-, sicherheits-, wehr- und industriepolitischen Interessen unseres Landes.
Vielen Dank.
({28})
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Katja Keul das
Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Herr Pfeiffer, wenn man Ihnen zuhört, sehnt
man sich richtig nach Martin Lindner von der FDP zurück.
({0})
Wir reden heute über zwei Anträge, die beide darauf
zielen, keine Kriegswaffen nach Saudi-Arabien bzw. auf
die Arabische Halbinsel zu liefern.
({1})
Beide Anträge sind berechtigt und wohlbegründet.
({2})
Der Antrag der Linken kritisiert völlig zu Recht den
Export ganzer Waffenfabriken.
({3})
Lizenzen zum Bau von Maschinengewehren wie dem
G36 an Drittstaaten zu exportieren, ist wirklich die Krönung der Kurzsichtigkeit.
({4})
Das bekommen Sie nie wieder unter Kontrolle, egal wer
in dem jeweiligen Land die Macht ergreift.
Zur Menschenrechtslage in Saudi-Arabien ist schon
viel gesagt worden. Ich will heute ausnahmsweise etwas
Positives über Saudi-Arabien vorbringen.
({5})
Im Gegensatz zur Bundesregierung haben die Saudis
nämlich inzwischen erkannt, dass es vor allem ihr Nachbar Katar mit der Förderung von islamistischen Kämpfern in allen Krisenländern der Welt - von Mali bis
Syrien - deutlich übertreibt. Während Krauss-Maffei
Wegmann demnächst 160 Leo-Kampfpanzer mit Genehmigung der Bundesregierung nach Katar liefert, haben
die Saudis ihren Nachbarn mit dem Entzug der Überflugrechte gedroht, wenn sie nicht endlich aufhören, den
internationalen Terrorismus zu fördern.
({6})
Das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen: Saudi-Arabien verhindert Lieferungen von deutschen Waffen nach Katar.
({7})
Vielleicht sind die aber auch nur sauer, weil sie selbst
bislang keine bekommen haben.
({8})
Nichtsdestotrotz gilt ohne Zweifel: Die Arabische Halbinsel ist eine Spannungsregion, und der internationale Terrorismus wird auch aus Saudi-Arabien heraus gefördert.
Solange Sie den Wortlaut der Rüstungsexportrichtlinie
ignorieren, kann ich es Ihnen leider nicht ersparen, aus ihr
zu zitieren: „Der Export von Kriegswaffen“ außerhalb von
NATO und EU „wird nicht genehmigt, es sei denn, dass
im Einzelfall besondere außen- und sicherheitspolitische
Interessen der Bundesrepublik Deutschland … für eine
ausnahmsweise Genehmigung sprechen.“ - Zitatende.
({9})
Warum es im sicherheitspolitischen Interesse Deutschlands liegen soll, eine Spannungsregion aufzurüsten,
können und wollen Sie bis heute nicht erklären.
({10})
Zu den Kriegswaffen gehören eben auch Kriegsschiffe, wie die Lürssen Werft sie baut. Es gibt eindeutige Kriterien, nach denen man ein militärisches von einem zivilen Schiff unterscheiden kann. Nicht nur die
Bewaffnungsmöglichkeiten, sondern die ganzen Bauteile entsprechen militärischen Standards. Da können Sie
noch so oft von Patrouillenbooten sprechen, weil sich
das netter anhört, es sind und bleiben Kriegsschiffe.
({11})
In der Rüstungsexportrichtlinie steht eben nicht: Alles,
was schwimmt, geht. Nein, da steht: Der Export von
Kriegswaffen an Drittstaaten ist nicht zu genehmigen.
Und das steht aus gutem Grund in der Richtlinie.
({12})
Die Lürssen Werft baut übrigens auch wunderschöne
Luxusjachten. Wenn die Saudis darin investierten,
({13})
könnten mindestens genauso viele Arbeitsplätze gesichert werden, und weder die Grünen noch Herr Lürssen
hätten irgendetwas dagegen.
Zur Hermesbürgschaft. Bürgschaften werden in der
Regel erteilt, wenn Zahlungsausfälle zu befürchten sind.
Jetzt frage ich Sie: Wer in aller Welt rechnet damit, dass
Saudi-Arabien kurzfristig seine Rechnungen nicht bezahlen kann? Das ist doch wohl nicht Ihr Ernst, oder?
Und wenn Sie politische Risiken, eine Revolution oder
Ähnliches, befürchten, dann dürfen Sie den Waffenexport doch erst recht nicht genehmigen.
({14})
Wir Grüne finden, Rüstungsexporte sollten grundsätzlich nicht von der öffentlichen Hand abgesichert werden.
Die SPD flüchtet sich jetzt in die Aussage, der Wirtschaftsminister sei leider an den Vorbescheid der Vorgängerregierung gebunden und müsse deshalb die Exportgenehmigung erteilen. Das finde ich schon deshalb
interessant, weil Sie bislang die Beantwortung unserer
Fragen zu Vorbescheiden immer damit ablehnen, dass
diese ja noch gar keine abschließende Entscheidung
seien und der Entscheidungsprozess nicht gefährdet werden dürfe. Offensichtlich ist es ja wohl so, dass der Vorbescheid doch eine erhebliche Bindungswirkung und
damit auch eine Außenwirkung entfaltet. Merkwürdigerweise war die SPD ja bis September 2013 auch der Auffassung, der Bundestag habe ein Anrecht auf diese
Antworten. Im April werden wir hören, was das Bundesverfassungsgericht dazu sagt. Darauf bin ich sehr gespannt.
Dann hat die Koalition freundlicherweise den Rüstungsexportbericht 2012 an den Antrag der Linken angehängt und zu einem Tagesordnungspunkt verbunden. So
kann man das natürlich schnell mit erledigen. Wir fordern schon seit langem, dass die Rüstungsexportberichte
von der Koalition als eigener Debattenpunkt aufgesetzt
werden, wie wir das zum Beispiel vom Abrüstungsbericht kennen.
({15})
Viel Transparenz ist im Vergleich zu den früheren Forderungen der SPD nicht übrig geblieben.
({16})
Man kann die Union schon verstehen. Es ist wirklich
nicht schön, zu erklären, warum die Exporte an Drittstaaten immer mehr zur Regel werden, statt die Ausnahme zu bleiben. Auch 2012 sind von den Rüstungsexporten mit einem Wert von 4,7 Milliarden Euro mehr als
die Hälfte, nämlich Rüstungsexporte im Wert von
2,6 Milliarden Euro, an Drittstaaten gegangen und davon
wiederum die Hälfte an Saudi-Arabien.
({17})
Alarmierend war 2012 außerdem der Anstieg bei den
Kleinwaffenexporten: Maschinengewehre, Maschinenpistolen und Munition im Wert von 76 Millionen Euro,
das ist ein Allzeitrekord. Davon gingen Kleinwaffen im
Wert von 37 Millionen Euro an Drittstaaten.
Während sich das Auswärtige Amt bemüht, in Postkonfliktregionen Waffen einzusammeln, werden sie an
anderer Stelle munter und lustig weiter verteilt. Etwas
Sinnloseres kann man sich kaum noch vorstellen.
({18})
Hören Sie endlich auf, Exporte von Kriegswaffen in
Krisenregionen zu genehmigen. So groß ist der Nutzen
für die deutsche Wirtschaft an der Stelle wirklich nicht.
Der Schaden auf der anderen Seite ist einfach zu hoch
und für uns alle zu teuer.
Vielen Dank.
({19})
Als nächster Redner hat der Kollege Bernd Westphal
das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren auf den Besuchertribünen! Die Themenreihenfolge hier im Bundestag ist ja manchmal etwas skurril.
({0})
Beim letzten Mal haben wir diese Rüstungsdebatte nach
der Debatte über das Schulobstgesetz geführt, dieses
Mal führen wir sie nach der Debatte zum Thema Honig.
({1})
Wie schön wäre es, wenn man auf der Welt Frieden
ohne Waffen schaffen könnte. Wenn man sich die Zeit
nimmt und etwas genauer nachdenkt, zeigt sich, dass die
Realität oftmals anders aussieht. Die Welt, gerade auch
in der Golfregion, ist nicht so friedlich, wie wir sie uns
wünschen. Recht und Gesetz lassen sich in der Realität
nach dem Ausschöpfen aller diplomatischen Möglichkeiten leider oft nur mit Waffengewalt oder zumindest
mit der Androhung von Waffengewalt durchsetzen. Hier
irrt die Kollegin Höger mit ihrer Einschätzung gewaltig.
Es gibt weltweit einen Bedarf an Waffen. Deshalb
werden Waffen produziert und auch exportiert. Auch
Deutschland benötigt Waffen zur Landesverteidigung
und zur Wahrnehmung seiner internationalen Verantwortung. Wenn Deutschland nicht selbst aktiv in Krisenregionen eingreift, sollen zuverlässige Partner mit
Rüstungsexporten in die Lage versetzt werden, selbst
für politische Stabilität zu sorgen; denn der Besitz von
Rüstungsgütern führt eben auch aus Gründen der Abschreckung zur Befriedung in den Regionen.
({2})
Export von Sicherheits- und Rüstungsgütern bedeutet
nicht gleich Krieg. Dieser Export geschieht in Deutschland nach klaren Regeln und hohen Maßstäben.
({3})
Die Bundesrepublik Deutschland betreibt seit ihrer
Gründung eine verantwortungsvolle Rüstungsexportpolitik. Der Export von Rüstungsgütern in Drittländer
wird in Deutschland allein durch die Vorgaben im
Grundgesetz sehr restriktiv gehandhabt. Die Grundlage
für die Entscheidungen der Regierung über den Export
von Rüstungsgütern bilden die Politischen Grundsätze
der Bundesregierung für den Export von Kriegswaffen
und sonstigen Rüstungsgütern. Diese wurden 2000 von
der damaligen rot-grünen Regierung verschärft und besitzen weiterhin ihre Gültigkeit. Sie stellen die Leitlinien
für die Genehmigung von Rüstungsexporten durch die
Bundesregierung dar.
Die Beachtung von Menschenrechten ist dabei von
herausragender Bedeutung.
({4})
Genehmigungen für Exporte werden laut Exportleitlinien nicht erteilt - ich zitiere -,
wenn hinreichender Verdacht besteht, dass diese
zur internen Repression im Sinne des EU-Verhaltenskodex für Waffenausfuhren oder zu sonstigen
fortdauernden und systematischen Menschenrechtsverletzungen missbraucht werden.
({5})
Außerdem wird durch die Leitlinien sichergestellt,
dass in eine solche Prüfung der Menschenrechtsfrage
Feststellungen der EU, des Europarates, der Vereinten
Nationen, der OSZE und anderer internationaler Gremien einbezogen werden. Auch Berichte internationaler
Menschenrechtsorganisationen werden ausdrücklich berücksichtigt.
({6})
Damit ist ausgeschlossen, dass Waffen an Länder geliefert werden, in denen zum Beispiel Bürgerkrieg herrscht.
Unrechtsregime erhalten deshalb keine Waffen, die gegen die eigene Bevölkerung eingesetzt werden könnten.
Gerade für Staaten außerhalb der NATO und der EU sind
die Regeln besonders streng.
({7})
Diese deutsche Position hat Wirtschaftsminister
Sigmar Gabriel vor einiger Zeit noch einmal bekräftigt
und eine Einzelfallprüfung für jedes Waffengeschäft angekündigt. Dadurch ist sichergestellt, dass das deutsche
Exportkontrollsystem auch weiterhin als eines der
strengsten weltweit gilt.
Herr Westphal, lassen Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Gehrcke zu?
Bitte.
Schönen Dank, Frau Präsidentin. Schönen Dank, lieber Kollege. - Könnten Sie mir vielleicht erklären, ob
ich mit Blick auf Saudi-Arabien künftig nicht mehr von
einem Unrechtsregime zu sprechen habe - dort herrscht
die Scharia, dort gibt es körperliche Züchtigung, Entfernung von Gliedmaßen als Strafe, in den gesellschaftlichen Versammlungen sind keine Frauen -, sondern von
einem Rechtssystem sprechen muss, da nach Saudi-Arabien deutsche Waffen geliefert werden? Erklären Sie mir
Ihre Definition von „Unrechtssystem“ und „Rechtssystem“!
({0})
Ich habe in meinen Ausführungen darauf hingewiesen, welche Kontrollmaßnahmen angewendet werden.
Ich gehe davon aus, dass genau die Aspekte, die Sie genannt haben, dort berücksichtigt werden.
({0})
Deutsche Rüstungsexporte in die Golfregion sind immer wieder Gegenstand kontroverser Diskussionen. Das
sieht man hier im Parlament. Vor allem Saudi-Arabien
hat sich in den letzten Jahren zu einem großen Absatzmarkt für deutsche Rüstungsexporte entwickelt.
({1})
So waren laut Rüstungsexportbericht 2012 mehr als ein
Viertel aller genehmigten Lieferungen für Saudi-Arabien
bestimmt. Die Aufträge hatten einen Wert von insgesamt
1,2 Milliarden Euro. Dazu gehört allerdings auch die Sicherung und Befestigung der 9 000 Kilometer langen
Grenzanlagen. Das, denke ich einmal, sind keine Kriegswaffen, wie Sie sie hier beschreiben.
({2})
Laut der deutschen Rüstungsexportleitlinien werden
Ausfuhren von Kriegswaffen nur gestattet, wenn im Einzelfall besondere außen- oder sicherheitspolitische Interessen Deutschlands dafür sprechen. Zu berücksichtigen
sind zum Beispiel die legitimen Sicherheitsinteressen eines Empfängerlandes.
({3})
Genau dies ist hier der Fall. Wir haben vor einiger Zeit
einen Antrag diskutiert. Da ging es um Boote, die zum
Schutz von Hoheitsgewässern, internationalen Seewegen, Häfen oder Offshoreanlagen geeignet sind.
Diese Beispiele zeigen anschaulich, dass bei der politischen Bewertung im Bundessicherheitsrat sorgfältig
abgewogen werden muss, zumindest wann was und zu
welchem Zweck geliefert wird. Nicht jedes Rüstungsgut
trägt automatisch zur Eskalation einer Situation bei oder
ist eine potenzielle Bedrohung für die heimische Bevölkerung.
Bei den Staaten in der Golfregion handelt es sich um
souveräne Staaten mit eigenen außen- und sicherheitspolitischen Interessen. Diese Staaten nehmen legitime
staatliche Aufgaben wahr und haben das legitime Recht,
sich zu schützen.
({4})
Das legt das Beispiel der Patrouillenboote nahe.
Rüstungsexporte sind deshalb ein legitimes Instrument der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik.
({5})
Deutschland hat als Industrie- und Exportnation hier berechtigte Interessen. In der Verteidigungs- und Sicherheitsindustrie - darauf hat bereits der Vorredner hingewiesen gibt es mehr als 80 000 Arbeitsplätze für qualifizierte Arbeitskräfte. Aber das ist nicht allein die Legitimation für
Rüstungsexporte.
({6})
Ich bin mir sicher, dass sich durch die deutschen Rüstungsexportleitlinien eine verantwortungsvolle Politik
weiterhin fortsetzen lässt. Da bin ich mir bei unserem
Wirtschafts- und Energieminister Sigmar Gabriel sogar
sehr sicher.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Vielen Dank für den Hinweis. - Wir müssen allerdings die Transparenz bei einigen hochsensiblen Entscheidungen zu Rüstungsexporten erhöhen; hierbei
stimme ich der Kollegin Keul zu. Die Koalition ist unterwegs, etwas zu vereinbaren, dass wir diesem berechtigten öffentlichen Interesse nachkommen.
Ich freue mich auf die Debatte im Ausschuss und
danke für die Aufmerksamkeit.
({0})
Als nächster Redner spricht jetzt Klaus-Peter Willsch.
({0})
Danke schön. - Frau Präsidentin! Liebe Kollegen!
Auf die bemerkenswerten Parallelitäten bei der Aufsetzung der Tagesordnung ist mein Kollege Westphal ja
schon eingegangen. Das liegt natürlich daran, dass es in
diesem Haus eine breite Übereinstimmung gibt, wenn es
darum geht, dass wir den Export von Waffen und Rüstungsgütern restriktiv handhaben, dass wir aber nicht daran denken, ihn zu verbieten. Vielmehr wollen wir, dass
unsere Firmen die guten Produkte, die sie in diesem Bereich haben, in der Welt verkaufen können.
({0})
Wir debattieren den 14. Rüstungsexportbericht der
Bundesregierung; er bezieht sich auf das Jahr 2012. Nun
werden Sie sagen, dass er spät veröffentlich wurde, nämlich gegen Ende des letzten Jahres.
({1})
Dass wir erst heute über ihn diskutieren, liegt an der
Dauer der Regierungsbildung und des Wiederanfahrens
des parlamentarischen Normalbetriebs.
({2})
Aber unabhängig hiervon sind wir schon in den Koalitionsverhandlungen darin übereingekommen - Herr
Kollege Westphal hat das angedeutet -, dass diese Berichte zukünftig zügiger vorgelegt werden sollen, und
zwar vor der Sommerpause des auf das Berichtsjahr
folgenden Jahres. Außerdem soll es auch Zwischenberichte geben. Ich glaube, damit haben wir viel guten
Willen gezeigt, dass wir es mit der Information des Parlaments ernst meinen. Gleichzeitig werden der Schutz
derer, die nach Genehmigungen fragen, und der Konkurrenzschutz weiterhin gewährleistet.
Dass die Rüstungsexportpolitik der Bundesrepublik
zurückhaltend ist, ist mehrfach betont worden; das will
auch ich unterstreichen. Die politischen Grundsätze,
Frau Keul, auf deren Grundlage wir cum grano salis
nach wie vor arbeiten, wurden übrigens in der Zeit Ihrer
Regierungsbeteiligung, nämlich am 19. Januar 2000, zuletzt verabschiedet und bestätigt.
({3})
Ich will für die Öffentlichkeit transparent machen,
dass es bei Exportgenehmigungen nicht so ist, als würde
sich jemand zum Ablesen des Zählerstandes der Heizung
anmelden. Es ist ein kompliziertes Verfahren notwendig,
bis man in den Genuss einer Exportgenehmigung
kommt. Jede Rüstungsexportgenehmigung ist eine Einzelfallentscheidung. Nach dem Außenwirtschaftsgesetz
und der Außenwirtschaftsverordnung ist die Ausfuhr aller Rüstungsgüter genehmigungspflichtig. Einige Rüstungsgüter sind zugleich Kriegswaffen im Sinne von
Art. 26 Abs. 2 des Grundgesetzes und des Kriegswaffenkontrollgesetzes. Welche Rüstungsgüter dies sind, ist in
einer Ausfuhrliste aufgeführt, die der Außenwirtschaftsverordnung beigefügt ist. Dort sind 22 Positionen aufgeführt. Es handelt sich hierbei um Handfeuerwaffen,
Bomben, Torpedos, Granaten, Flugkörperabwehrsysteme, biologische und chemische Waffen, Panzer usw.,
usw.
({4})
Diese Liste umfasst 28 DIN-A4-Seiten.
Hinzu kommt, dass in der Kriegswaffenliste, die dem
Kriegswaffenkontrollgesetz beigefügt ist, 62 Positionen
von Kriegswaffen enthalten sind. Die Gliederung ist etwas anders, aber inhaltlich ist das weitgehend deckungsgleich.
({5})
Sie sehen also, dass das nicht so einfach ist, nach dem
Motto: Wir können da einen großen Deal machen. Jetzt
wollen wir mal! - Vielmehr haben wir ein dichtes Regelwerk, das die Entschlossenheit Deutschlands, Genehmigungen in diesem Bereich keinesfalls leichtfertig zu erteilen, unterstreicht. Wir sind uns der Verantwortung, die
wir haben, sehr bewusst.
Die Prüfung und Genehmigung der Ausfuhr von
Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern obliegt dem
Bundessicherheitsrat. Den Vorsitz hat die Bundeskanzlerin. Zusätzlich sind vertreten: Verteidigungsminister,
Auswärtiges Amt, Innenminister, die Minister der Bereiche Justiz, Finanzen, Wirtschaft und Technologie, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung sowie der
Chef BK.
({6})
Auch Informationen geheimdienstlicher Art sind dort
zugänglich. Diese Entscheidungen können also jeweils
unter Beteiligung eines großen Straußes des exekutiven
Wissensstandes getroffen werden. Außerdem kann das
Ganze so in die wirtschaftspolitischen, außenpolitischen
und sicherheitspolitischen Interessen, die wir als Bundesrepublik Deutschland haben, eingefügt werden.
Es handelt sich bei der Erteilung einer Ausfuhrgenehmigung nicht nur um einen formellen Akt. Die Opposition versucht zwar immer, es so darzustellen, als sei das
alles ein Kinderspiel. Es besteht aber kein Anspruch auf
Erteilung einer Ausfuhrgenehmigung. Vielmehr sind die
vielen Gesetze und Vereinbarungen, die ich bereits kurz
angerissen habe, zu beachten.
Wir als Bundesrepublik Deutschland sind darüber hinaus im Rahmen der OSZE und der EU, etwa beim Verhaltenskodex der Europäischen Union für Waffenausfuhren,
weitere weitreichende Selbstbindungen eingegangen,
weil wir nicht wollen, dass mit diesem Thema fahrlässig
umgegangen wird.
({7})
Aber wir wollen eben auch nicht fahrlässig industrielle
und sicherheitspolitische Interessen Deutschlands gefährden. Deshalb wird es weiterhin eine Ausfuhr von
Rüstungsgütern bzw. von Waffen geben.
Ich will - ich bitte Sie, einmal einen Moment darüber
nachzudenken, auch wenn das jetzt nicht direkt mit dem
Bericht zusammenhängt - auf die Boote für Saudi-Arabien zurückkommen, über die wir kürzlich gesprochen
haben. Schauen Sie sich die Region doch an! Das Interesse, auch dort auf Gewässern Grenzsicherung zu betreiben, ist völlig legitim.
({8})
- Ja, natürlich; Sie brauchen ja wirksame Mittel, wenn
Sie die Grenze sichern wollen.
({9})
Wenn Saudi-Arabien die Grenzsicherung selbst übernimmt, ist mir das, ehrlich gesagt, sehr viel sympathischer, als wenn wir unsere Soldaten dorthin schicken
müssten, wie es beim Libanon, wo es keinen wirksamen
Küstenschutz gibt, im Rahmen der UNIFIL-Mission der
Fall ist.
({10})
Ich finde schon, dass legitime Staaten
({11})
wie jedes andere Völkerrechtssubjekt ihre staatliche
Existenz sichern dürfen. Wenn sie bei uns nachfragen,
ob sie bei uns Technologie erwerben können, die sie
dazu in die Lage versetzt, und ob sie sie dafür einsetzen
dürfen, dann halte ich das für ein völlig legitimes Interesse. Diese Anfrage ist darüber hinaus ein Ausweis der
Leistungsfähigkeit der deutschen Industrie in diesem Bereich. Ich freue mich, dass auch deutsche Produkte aus
diesem Bereich nach wie vor nachgefragt sind - wie
Pkw oder Produkte aus dem Maschinenbau oder aus anderen Bereichen.
({12})
Das ist ein Ausweis unserer Ingenieurskapazitäten, unserer Leistungsfähigkeit im Bereich der Hochtechnologie.
({13})
Die Rahmenbedingungen haben sich in den vergangenen Jahren nicht geändert, in Bezug auf die Rüstungsexportpolitik ist auf unserer Seite eine große Stabilität festzustellen. Frau Keul, Sie wissen genau, dass das in
diesem Jahr berichtete Wachstum des Exportvolumens
im Bereich Drittländer - das sind Staaten, die weder zur
EU noch zur NATO gehören noch wie Neuseeland und
Australien befreundete Staaten sind - im Wesentlichen
auf die vom Kollegen Westphal schon angesprochenen
Grenzsicherungsanlagen zurückzuführen ist, die allein
einen Wert von - wenn ich mich richtig erinnere - 1,3
Milliarden Euro haben. Was ist denn, bitte schön, dagegen zu sagen, dass auch dort versucht wird, Grenzen sicherer zu machen und mögliche Wanderbewegungen im
terroristischen Bereich überhaupt erfassen, beobachten
zu können und Ähnliches?
({14})
Wir halten dieses Vorgehen für richtig.
Wir denken, dass die Bundesregierung mit dem gesetzlichen Rahmenwerk für Rüstungsexporte, das wir
alle gemeinsam errichtet haben, verantwortlich umgeht.
Wir beglückwünschen die deutsche Industrie, die trotz
dieser restriktiven Bedingungen noch Geschäfte machen
kann, ausdrücklich dazu. Wir hoffen, dass sich das fortsetzt. Wir sind zuversichtlich, dass die Regierung in diesem Bereich weiterhin eine rationale, an deutschen Sicherheitsinteressen orientierte Politik verfolgen wird.
({15})
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({16})
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Ute FinckhKrämer das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer auf den Tribünen! Ich freue mich sehr, meine erste Rede im Deutschen Bundestag zu dem wichtigen Thema Rüstungsexportbericht halten zu dürfen.
({0})
Rüstungsexporte werden zu Recht öffentlich kontrovers diskutiert. Der Dank dafür gilt den engagierten Bürgerinnen und Bürgern, insbesondere denen, die sich in
Bündnissen wie der Aktion Aufschrei zusammengeschlossen haben, um ihren Finger immer wieder in diese
Wunde zu legen.
Die deutschen Rüstungsexportrichtlinien bilden die
politische Vorgabe für eine restriktive Rüstungsexportpolitik. Die rechtlichen Rahmenbedingungen sind durch
das Außenwirtschaftsgesetz und das Kriegswaffenkontrollgesetz gegeben. Darüber hinaus gibt es Regularien
der Europäischen Union, die jedoch weniger streng sind
als die nationalen Richtlinien.
Der Rüstungsexportbericht, der jährlich über zurückliegende Rüstungsexporte bzw. positiv beschiedene Voranfragen berichtet, ist unter anderem von kirchlichen
Gruppen gefordert und dann von der rot-grünen Koalition eingeführt worden. Dass es ihn gibt, ist ein Fortschritt; allerdings erfüllt er bisher nicht all das, was wir
uns im Hinblick auf Transparenz gewünscht und erhofft
haben.
Der Bericht wurde dem Deutschen Bundestag bisher
viel zu spät vorgelegt, teilweise erst anderthalb Jahre
nach dem Berichtsjahr. Es macht jedoch politisch wenig
Sinn, über Rüstungsexporte zu reden, die weit in der
Vergangenheit liegen, während aufgrund von Presseveröffentlichungen in der breiten Öffentlichkeit über aktuell
anstehende Entscheidungen oder Lieferungen diskutiert
wird. Deswegen wurde im aktuellen Koalitionsvertrag
beschlossen, dass der Rüstungsexportbericht noch vor
der Sommerpause des Folgejahres erscheinen soll, damit
sich der Deutsche Bundestag damit zeitnäher beschäftigen kann. Darüber hinaus soll ein zusätzlicher Zwischenbericht vorgelegt werden. Das sind aus unserer
Sicht Schritte in die richtige Richtung.
({1})
Die Koalition verhandelt außerdem darüber, wie die
im Koalitionsvertrag vereinbarte größere Transparenz
umgesetzt werden soll, und wird dem Bundestag dann
einen entsprechenden Vorschlag vorlegen.
Deutschland wird in verschiedenen Statistiken und
Bewertungen, zum Beispiel von SIPRI oder vom Congressional Research Service des US-Kongresses, als einer der führenden globalen Rüstungsexporteure geführt.
Allerdings ist der Umfang der Rüstungsexporte, bezogen
auf den Wert der gesamten deutschen Exporte, gering. Er
liegt bei ungefähr 1 Prozent. Das muss man bedenken,
wenn von der volkswirtschaftlichen Relevanz der Rüstungsexporte gesprochen wird.
({2})
Die Bundesregierung hat sich in den letzten Jahren für
den Internationalen Waffenhandelsvertrag - Arms Trade
Treaty, ATT - eingesetzt. Der Vertrag wurde am 2. April
letzten Jahres, also nach dem Berichtszeitraum des vorliegenden Berichtes, von der Generalversammlung der Vereinten Nationen mit der überwältigenden Mehrheit der
Stimmen der Mitgliedstaaten angenommen. Er bietet erstmalig einen rechtlichen Rahmen für den internationalen
Handel mit konventionellen Waffen und wurde noch in
der letzten Legislaturperiode vom Bundestag verabschiedet.
Das Auswärtige Amt unterstützt Staaten, die dem
Vertrag beitreten wollen, beim Aufbau der notwendigen
Behörden und der Schaffung der gesetzlichen Grundlagen, damit sie den Vertrag umsetzen können. Darüber
wird hoffentlich im nächsten Rüstungsexportbericht der
Bundesregierung berichtet.
Einen besonderen Akzent in der Diskussion über die
deutschen Rüstungsexporte setzt der jährlich erscheinende Bericht der Gemeinsamen Konferenz Kirche und
Entwicklung, GKKE, der eine gute Ergänzung und Bewertung des Rüstungsexportberichtes darstellt. Er erschien im Dezember 2013 in seiner 17. Ausgabe. Er
wird von einer Expertengruppe erstellt, die sich aus
Fachleuten aus der Friedensforschung und kirchlichen
Organisationen zusammensetzt. Den Autorinnen und
Autoren möchte ich an dieser Stelle herzlich danken.
({3})
Der Bericht der GKKE bewertet die deutschen Rüstungsexporte nach ethischen Maßstäben und bringt damit eine wichtige Dimension in die deutsche Debatte
ein. Darüber hinaus entwickelt er auch Vorschläge für
den zukünftigen Umgang mit Exporten, die wir in die
politische Debatte einfließen lassen sollten. Einen der
Vorschläge aus dem aktuellen Bericht der GKKE möchte
ich besonders hervorheben: Die Experten schlagen vor,
dass eine Bedingung für die Genehmigung von Rüstungsexporten die Unterzeichnung des ATT durch das jeweilige Empfängerland sein soll. Damit würde Deutschland seine Unterstützung für den ATT fortsetzen.
Unser Ziel ist es, die Rüstungsexporte mithilfe der
restriktiven Rüstungsexportrichtlinien zu reduzieren.
Wir haben aber gerade erst mit der Arbeit begonnen. Daher ist es jetzt noch zu früh, die Rüstungsexportpolitik
der Großen Koalition zu beurteilen oder schon von vornherein zu verurteilen.
Vielen Dank.
({4})
Herzlichen Glückwunsch zur ersten Rede, liebe Frau
Kollegin!
({0})
Damit schließe ich die Debatte.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt interfraktionell Übereinstimmung, dass die Vorlage auf Drucksache 18/768 an die Ausschüsse überwiesen wird. Hingegen gibt es keine Übereinstimmung darüber, welcher
Ausschuss federführend sein soll. Deshalb müssen wir
zunächst darüber abstimmen. Die Fraktionen der CDU/
CSU und SPD wünschen Federführung beim Ausschuss
für Wirtschaft und Energie. Die Fraktion Die Linke
wünscht Federführung beim Auswärtigen Ausschuss.
Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
Fraktion Die Linke abstimmen, also Federführung beim
Auswärtigen Ausschuss. Wer stimmt diesem Überweisungsvorschlag zu? - Die Linke und die Grünen. Wer
stimmt dagegen? - Die SPD-Fraktion und die CDU/
CSU-Fraktion. Enthaltungen? - Keine. Damit ist der
Überweisungsvorschlag mit den Stimmen der Koalition
abgelehnt worden.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU und der SPD abstimmen, also
Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Energie. Wer stimmt diesem Überweisungsvorschlag zu? CDU/CSU und SPD. Wer stimmt dagegen? - Die Linke
und die Grünen. Wer enthält sich? - Niemand. Damit ist
dieser Überweisungsvorschlag angenommen worden
und der Entwurf somit an den Ausschuss für Wirtschaft
und Energie federführend überwiesen.
Tagesordnungspunkt 10 b. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 18/105 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Damit ist die Überweisung so beschlossen.
Zusatzpunkt 3. Wir kommen jetzt zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Energie zu
dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit
dem Titel „Keine Rüstungsexporte nach Saudi-Arabien“.
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/793, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/576 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Die
Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? - Bündnis 90/
Die Grünen und Die Linke. Wer enthält sich? - Niemand.
Damit ist die Beschlussempfehlung des Ausschusses angenommen worden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 14. März 2014, 9 Uhr,
ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen noch
einen schönen Abend.