Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Bitte nehmen Sie Platz . Zunächst einmal wünsche ich
Ihnen allen einen wunderschönen guten Morgen . Die Sitzung ist eröffnet.
Vor Eintritt in die Tagesordnung mache ich darauf aufmerksam, dass die für heute verlangte Aktuelle Stunde
zum Thema „Aufklärung der Umstände der Verhaftung
und des Todes im Fall Jaber Albakr“ nicht stattfindet.
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat ihren Antrag
zurückgezogen .
({0})
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 26 a und 26 b auf:
a) - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur weiteren Fortentwicklung der parlamentarischen Kontrolle der Nachrichtendienste des Bundes
Drucksache 18/9040
- Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr . André Hahn, Frank Tempel, Ulla
Jelpke, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines
Ersten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes
über die parlamentarische Kontrolle nachrichtendienstlicher Tätigkeit des Bundes
Drucksache 18/6640
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({1})
Drucksache 18/10069
b) - Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Innenausschusses ({2})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr . André
Hahn, Frank Tempel, Ulla Jelpke, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Parlamentarische Kontrolle der nachrichtendienstlichen Tätigkeit des Bundes verbessern
- zu dem Antrag der Abgeordneten Hans-Christian Ströbele, Dr . Konstantin von Notz, Irene
Mihalic, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Für eine wirksamere Kontrolle der Nachrichtendienste
Drucksachen 18/6645, 18/8163, 18/10069
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . - Ich sehe keinen Widerspruch . Dann gehe ich davon aus, dass das so
beschlossen ist .
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Clemens Binninger von der CDU/CSU-Fraktion . - Bitte
schön .
({3})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Das Parlamentarische Kontrollgremium ist eines
der wenigen Gremien, die ausdrücklich in unserer Verfassung genannt sind . Die Mitglieder dieses Gremiums
haben eine besondere Stellung, weil sie, anders als die
Mitglieder in Fachausschüssen, nicht von ihren Fraktionen benannt und dorthin entsandt werden, sondern vom
Parlament in geheimer Wahl mit Kanzlermehrheit gewählt werden . Das zeigt deutlich, dass dieses Gremium
die Kontrolle der Nachrichtendienste ausübt anstelle des
Parlamentes . Wir vertreten das ganze Parlament: nicht
Parteipolitik, nicht in erster Linie Fraktionsinteressen,
sondern die Interessen des Parlamentes .
Dieses Gremium, das es schon lange gibt und das sehr
lange nur im Geheimen getagt hat - vielleicht sogar etwas über Gebühr -, hatte 2009 eine größere Reform erfahren und hat eine Reihe von Befugnissen bekommen .
Das Parlamentarische Kontrollgremium darf die Nachrichtendienste aufsuchen, Mitarbeiter befragen, sich Akten herausgeben lassen und von der Regierung Informationen verlangen .
Aber in der Praxis war es schon so - als ehemaliges
Mitglied und jetzt Vorsitzender dieses Gremiums muss
ich das auch selbstkritisch sagen -: Wir hatten die Instrumente, aber wir hatten eigentlich nicht das Personal und
schon gar nicht die Zeit, sie entsprechend anzuwenden .
Wenn man aber eine wichtige Aufgabe erledigen will,
muss man ihr auch im gebotenen Umfang nachkommen
können .
Vielen von uns ist es bei manchen Themen, die die
Nachrichtendienste betreffen, so gegangen, dass wir in
unseren Gremiensitzungen - ich will es einmal so sagen - der Presseberichterstattung etwas hinterhergehinkt
sind . Bei dem einen oder anderen Thema haben wir uns
vielleicht auch angesehen und gefragt: Was steckt dahinter?
Das hat auch dazu geführt, dass manche Kritik, die
man an den Nachrichtendiensten üben kann, und mancher Fehler in der Vergangenheit eine Art Skandalmelodie erfahren haben, was vielleicht gar nicht notwendig
gewesen wäre, hätte vorher ein Gremium sagen können:
Diesen Fall kennen wir . Wir haben ihn untersucht . Wir
haben kontrolliert . Es mag Kritik geben, aber es ist kein
Grund zur Skandalisierung .
Deshalb war unsere Überlegung: Wie können wir die
Arbeit dieses Gremiums - nicht zuletzt auch als Reaktion auf die ganze Thematik im Zusammenhang mit NSA,
Snowden, den Erkenntnissen des Untersuchungsausschusses, aber auch unseren eigenen Erkenntnissen, weil
wir eine Taskforce eingesetzt und das untersucht haben leistungsstärker machen und verbessern und die Kontrolle dauerhaft auf ein seriöses hohes Niveau heben?
Wir sind nicht - das sage ich als Vorsitzender immer
wieder - der Durchlauferhitzer für Skandale . Wir sind
nicht dazu da, Parteipolitik zu machen . Wir sind nicht
dazu da, etwas hochzublasen, damit andere sich profilieren können .
({0})
Wir kontrollieren seriös und kompetent . Damit leisten
wir in zweierlei Hinsicht einen Beitrag . Ich bin sehr dafür - wir werden das nachher mit Blick auf den anderen
Gesetzentwurf auch noch zu besprechen haben -: Wir
brauchen leistungsfähige und starke Nachrichtendienste .
Wir brauchen aber auch Nachrichtendienste, die konsequent kontrolliert werden - im Rahmen der Dienst- und
Fachaufsicht durch die Exekutive, aber auch durch das
Parlament .
Ich will mich vor die Nachrichtendienste stellen können . Das tue ich auch . Das kann ich aber nur, wenn ich
weiß, dass ich sie gut, umfassend und seriös kontrolliere .
({1})
Deshalb beheben wir mit diesem Gesetzentwurf eine
Reihe von Mängeln, die wir festgestellt haben .
Punkt eins: mehr Personal. Wir schaffen einen Arbeitsstab mit einem Ständigen Bevollmächtigten an der
Spitze . Das ist nicht - das sage ich deutlich - der Nachrichtendienstbeauftragte des Parlaments - das sind wir,
die neun gewählten Parlamentarier -, das ist vielmehr unser Arbeitsstab . Der Bevollmächtigte ist der Chef dieses
Arbeitsstabes . Er arbeitet in unserem Auftrag dauerhaft
an dieser Aufgabe und berichtet ausschließlich uns . Damit wird eine wichtige Lücke geschlossen .
Wir fügen öffentliche Elemente ein. Manches bei den
Diensten ist zu Unrecht, wie ich finde, in einer Grauzone.
Die Dienste können sich mehr öffnen. Wir leisten dazu
einen Beitrag - unsere Sitzungen sind grundsätzlich geheim; daran wird sich nichts ändern -: Einmal im Jahr
wird es eine öffentliche Anhörung mit den Präsidenten
der Nachrichtendienste wie in den USA geben . Das
ist für beide Seiten eine Chance, ihre Arbeit darzustellen . Dadurch tragen wir zur Akzeptanz unserer Arbeit,
aber auch der Arbeit der Dienste bei . Damit tun wir den
Diensten - das glaube ich schon - einen großen Gefallen .
({2})
Wir führen eine Regelung ein, nach der Mitarbeiter
uns, das PKGr, mit Informationen über Missstände versorgen können. Wir schützen diese - der Begriff gefällt
mir zwar nicht - Whistleblower . Wir können sie aber
nicht beliebig schützen . Wir sagen: Wer uns Missstände
mitzuteilen hat, wird geschützt . Sein Name wird nicht
an die Exekutive gegeben . Solange wir ihn nicht für die
Aufklärung brauchen, bleibt der Name bei uns .
({3})
Aber ich habe schon die Erwartung, dass, wer Missstände anprangert und weiß, dass er geschützt wird, seinen Namen nennt . Für anonyme Mitteilungen ist dieses
Gremium nicht zuständig . Deshalb haben wir eine gute
Regelung gefunden: Schutz der Hinweisgeber bei klarer Benennung und Schutz des Namens, solange wir ihn
nicht unbedingt weitergeben müssen .
({4})
Ich komme zu meinem letzten Punkt; das wurde häufig kritisiert. Kollege Ströbele wird es gleich in seiner
Rede auch wieder sagen: Er wird unvollständig informiert. - Er findet oft drastischere Worte, die meistens
etwas übertrieben sein mögen .
({5})
Wir hatten in der Vergangenheit das Grundproblem:
Welche Fälle von besonderer Bedeutung teilt uns die
Bundesregierung mit? Der Streit war immer der gleiche .
Es hieß: Das kommt darauf an .
({6})
Deshalb haben wir im Gesetzentwurf eine Regelung
vorgesehen, in der wir definieren, was Fälle von besonderer Bedeutung sind . Diese muss uns die Regierung
mitteilen . Damit haben wir Rechtssicherheit und Klarheit
auf beiden Seiten . Damit ist die Zeit der Ausreden vorbei .
Deshalb kommen wir damit auch in dieser Hinsicht auf
ein neues Informations- und ein neues Qualitätsniveau
der Kontrolle .
Ich kann in Summe sagen: mehr Personal für die Aufgabe, mehr Öffentlichkeitselemente, klare Definitionen,
Schutz von Hinweisgebern . Wir stärken dieses Gremium .
Es ist das Gremium des ganzen Parlaments . Das sollten
wir nie vergessen . Es leistet einen wichtigen Beitrag .
Ich hoffe sehr, dass die Zustimmung zu diesem guten
Gesetzentwurf breit ausfällt .
Herzlichen Dank .
({7})
Vielen Dank . - Nächster Redner ist der Kollege
Dr . André Hahn, Fraktion Die Linke .
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das
Beste am Gesetzentwurf der Koalition ist der Titel: Gesetz zur weiteren Fortentwicklung der parlamentarischen
Kontrolle der Nachrichtendienste des Bundes . Die ist
auch dringend nötig . Der Inhalt des Gesetzes erfüllt den
Anspruch einer effektiveren und vor allem einer besseren
Kontrolle jedoch definitiv nicht.
({0})
Ich habe schon in der ersten Lesung darauf hingewiesen,
dass in diesem Gesetzentwurf wichtige Punkte fehlen .
Andere sollen zwar Eingang finden, werden jedoch nur
halbherzig geregelt . In einer ganz zentralen Frage wird
das Parlamentarische Kontrollgremium eher geschwächt
als gestärkt . Ich komme im Einzelnen noch darauf zurück .
Ich muss leider feststellen, dass sich die Koalition
auch in den Ausschussberatungen wieder einmal völlig
beratungsresistent gezeigt hat . Bis auf eine klitzekleine Ergänzung gab es nicht eine einzige substanzielle
Änderung am ursprünglichen Gesetzentwurf . Das wäre
aber mit Blick auf den nächsten Tagesordnungspunkt
dringend erforderlich gewesen . Wer der Massenüberwachung durch den BND Tür und Tor öffnen,
({1})
den Auslandsgeheimdienst auch im Inland einsetzen und
das Ausspähen unter Freunden nun ganz offiziell erlauben will, müsste wenigstens die parlamentarische Kontrolle stärken . Doch genau das passiert nicht .
({2})
Deshalb werden und können wir dem vorliegenden Gesetzentwurf nicht zustimmen .
({3})
Eigentlich wollte ich die Koalition zumindest in einem Punkt loben
({4})
- ich hätte es gern getan -, weil, wie von uns seit langem
gefordert, den PKGr-Mitgliedern endlich erlaubt werden sollte, zumindest den eigenen Fraktionsvorsitzenden
über wichtige Themen aus dem Gremium zu informieren . So stand es ursprünglich in einer von netzpolitik .org
geleakten Arbeitsfassung der Koalition . Im Gesetzentwurf findet sich darüber kein Wort mehr.
Dass sich Mitarbeiter der Dienste künftig - Herr
Binninger hat darauf hingewiesen - bei Missständen
oder Problemen zunächst auch ohne Unterrichtung ihrer
Vorgesetzten an das PKGr wenden können, klingt vernünftig .
({5})
Wenn deren Namen im Zweifel auf Verlangen der Bundesregierung aber dann doch wieder bekannt gegeben
werden sollen, ist das mit Sicherheit kein wirksamer
Whistleblower-Schutz .
({6})
Dass das PKGr von ihm in Auftrag gegebene Sachverständigengutachten künftig an andere Gremien des Bundestages und an Untersuchungsausschüsse der Landtage
weitergeben kann, ist eigentlich selbstverständlich . Hier
wird eine bislang vorhandene Regelungslücke geschlossen .
Völlig in die falsche Richtung geht die geplante Schaffung eines Ständigen Bevollmächtigten des PKGr . Diese
Stelle samt Stellvertreter kostet Millionen und bringt wenig bis gar nichts .
({7})
Vielmehr besteht die ernste Gefahr, dass besonders
sensible Vorgänge oder Akten künftig allein dem Bevollmächtigten vorgelegt werden und nicht mehr den
gewählten Abgeordneten; ich erinnere an den Sonderbeauftragten Graulich und die NSA-Selektoren . Damit
würde die parlamentarische Kontrolle nicht unterstützt,
sondern letztlich ausgehebelt . Auf den Mitarbeiterstab
des sogenannten Bevollmächtigten wird die Opposition
keinerlei Einfluss haben.
({8})
Ich finde es im Übrigen ziemlich perfide, dass, bevor das
Gesetz überhaupt beschlossen worden ist, die personelle
Besetzung für das noch gar nicht existierende Amt in der
Koalition schon ausgedealt wurde . So viel zum Respekt
gegenüber dem Parlament .
({9})
Dass in der Union allen Ernstes erwogen worden ist, den
derzeitigen Vizechef des BND zum neuen Geheimdienstkontrolleur umzufunktionieren, setzt dem Ganzen noch
die Krone auf .
({10})
Wer so agiert, braucht sich über Politikverdrossenheit
wahrlich nicht zu wundern .
({11})
Schließlich fehlen im Entwurf der Koalition wichtige
Punkte, so eine Stellvertreterregelung für die Mitglieder
des PKGr, die Schaffung der Möglichkeit zur Einsicht
in die elektronischen Daten und Netzwerke der Dienste - genauso wie sie die Kollegen in den Niederlanden
oder in Norwegen haben - sowie die Anfertigung eines
Tonbandmitschnitts der gesamten Sitzung des PKGr, um
später bei Bedarf die Richtigkeit und Vollständigkeit der
Angaben von Bundesregierung bzw . Geheimdiensten
prüfen zu können .
({12})
Nach dem Willen von CDU/CSU und SPD gibt es trotz
erdrückender Übermacht im Parlament auch keinerlei
Stärkung der Minderheitenrechte im Kontrollgremium .
Der künftige Ständige Bevollmächtigte kommt wohl aus
dem Bundesinnenministerium . Wer glaubt denn ernsthaft, dass der im Zweifel seinen jetzigen Chef in Schwierigkeiten bringen wird, wenn es um den Verfassungsschutz geht?
Ich habe bereits in der ersten Lesung BND-Präsident
Kahl hier zitiert, der bei seiner Amtseinführung erklärte:
Geheimer Nachrichtendienst und vollständige Transparenz schließen sich aus . - Ja, das ist wohl so, und genau
daraus resultiert unsere grundsätzliche Skepsis gegenüber Geheimdiensten . Solange es für deren Überwindung
aber keine realistische Mehrheit hier im Parlament gibt,
müssen wir sie wenigstens halbwegs vernünftig kontrollieren . Der Gesetzentwurf der Koalition leistet dazu keinen Beitrag . Der Entwurf der Linken gibt die eindeutig
besseren Antworten, selbst wenn die Mehrheit ihn heute
wieder ablehnen wird .
Herzlichen Dank .
({13})
Vielen Dank . - Für die SPD-Fraktion hat jetzt die Kollegin Dr . Eva Högl das Wort .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Einen schönen guten Morgen! Wir beraten
heute Morgen hier zu bester Parlamentszeit zwei wesentliche und sehr wichtige Reformen . Zunächst debattieren wir über neue und bessere Rechtsgrundlagen für die
parlamentarische Kontrolle der Nachrichtendienste und
über eine Reform unserer parlamentarischen Kontrolle und dann gleich im Anschluss über neue und bessere
Rechtsgrundlagen für den Bundesnachrichtendienst . Wir
wissen alle: Das sind zwei wirklich wichtige Reformen;
sie resultieren aus der Kritik, die wir hier im Deutschen
Bundestag in zwei wichtigen Untersuchungsausschüssen, dem NSU-Untersuchungsausschuss der letzten Legislaturperiode und dem NSA-Untersuchungsausschuss
dieser Legislaturperiode, herausgearbeitet haben .
Wir haben gerade in dieser Woche hier im Deutschen
Bundestag in den Ausschüssen, insbesondere im Rechtsund im Innenausschuss, wieder einmal viel Anlass zur
Kritik an den Sicherheitsbehörden gehabt, in diesem Fall
an den Behörden, insbesondere Polizei und Strafvollzug,
in Sachsen . Dort sind Fehler gemacht worden .
Aber ich möchte dies zum Anlass nehmen, hier mit
einem ganz eindeutigen Lob zu beginnen, nämlich einem ganz eindeutigen Lob für die Arbeit unserer Sicherheitsbehörden; denn wir reden immer viel über Kritik,
wenn Fehler gemacht worden sind, aber wir vergessen
ganz häufig, zu sagen, wie ordentlich an vielen Stellen
in unserem Land, in Bund und Ländern, gearbeitet wird .
Herzlichen Dank dafür .
({0})
Auch der Fall in Sachsen gibt nicht nur Anlass zur
Kritik, sondern wir müssen ganz deutlich sagen: Dort
konnte ein Anschlag verhindert werden . Das ist das ganz
Entscheidende, bei aller Dramatik des weiteren Verlaufs
des Falls . Natürlich hätte der Suizid verhindert werden
müssen . Aber dieser Fall zeigt, dass gerade unsere Nachrichtendienste - und darüber sprechen wir hier heute
Morgen - ganz hervorragend gearbeitet haben .
({1})
Die Kooperation mit den ausländischen Diensten hat
funktioniert . Das zeigt noch einmal, wie wichtig dieser
Austausch ist . Die Weitergabe der Informationen zwischen den ausländischen Diensten, Bund und Land hat
funktioniert, die Verarbeitung der Informationen und die
Konkretisierung der Informationen haben funktioniert
und letztendlich auch die Zusammenarbeit mit der Polizei . Das sind ganz wichtige Erkenntnisse . Deswegen war
es mir wichtig, das heute Morgen hier einmal zu betonen .
Unsere Nachrichtendienste haben alle eine wirklich
wichtige Aufgabe bei der Gewährleistung unserer Sicherheit und beim Schutz von Demokratie und Rechtsstaat . Deswegen ist es unsere gemeinsame Aufgabe hier
im Deutschen Bundestag, die Nachrichtendienste ganz
ausdrücklich zu stärken, sie mit Personal und Technik zu
unterstützen und gute Arbeitsbedingungen zu schaffen.
({2})
Wiederum zeigt ein aktueller Fall, nämlich der Fall
der „Reichsbürger“ nicht nur in Bayern, sondern auch in
anderen Teilen unseres Landes, wie wichtig es ist, dass
die Nachrichtendienste nahe an den Themen, an den Personen, an den Strukturen und an den Organisationen sind,
({3})
wenn sie ihrer Aufgabe nachkommen wollen, unsere
Freiheit und unsere Sicherheit zu schützen und gegen die
vorzugehen, die diese Freiheit und Sicherheit bedrohen .
Unsere Nachrichtendienste dürfen nichts aus dem
Auge verlieren, müssen alle Entwicklungen gut im Blick
haben, und deshalb brauchen sie an der Stelle unsere Unterstützung . Dafür sind - das sind die zwei entscheidenden Stichworte bei unserer Reform - Vertrauen und Kontrolle notwendig . Die Nachrichtendienste haben durch
die Ergebnisse der Untersuchungsausschüsse viel an Ansehen und Vertrauen verloren . Wir wollen mit dieser Reform an diesen beiden Stellen deutlich machen, dass es
wichtig ist, über eine wirksame, systematische und strukturelle Kontrolle dieses Vertrauen wiederherzustellen .
Denn wir mussten feststellen, dass die Kontrolle bisher nicht funktioniert hat, weder in den Nachrichtendiensten selbst noch in den zuständigen Ministerien oder
im Kanzleramt . Auch unsere parlamentarische Kontrolle hier und im Parlamentarischen Kontrollgremium war
bisher unzureichend, weil wir keine ausreichenden Möglichkeiten hatten, sie gut auszuüben .
Ich sage an dieser Stelle ganz deutlich, liebe Kolleginnen und Kollegen, auch in Richtung der Nachrichtendienste und aller Beschäftigten dort: Kontrolle schafft
Vertrauen. Kontrolle ist kein Angriff auf die Nachrichtendienste, sondern Kontrolle stärkt sie und schafft die
Grundlagen, damit sie auf der Basis von Vertrauen, das
wir ihnen geben, gut und noch besser arbeiten können .
({4})
Deswegen sind zwei Dinge so wichtig, die wir auf
den Weg bringen . Das ist auch schon erwähnt worden,
deswegen kann ich es kurz machen . Der Ständige Bevollmächtigte ist eine ganz zentrale Forderung schon
aus Zeiten des NSU-Untersuchungsausschusses . Er wird
das PKGr gut unterstützen . Die Opposition ist selbstverständlich daran beteiligt, lieber Herr Hahn .
({5})
Denn der Ständige Bevollmächtigte wird auf Vorschlag
des PKGr ernannt . Und ich gehe davon aus, dass die
Opposition auch weiterhin im PKGr vertreten sein wird .
Deswegen ist die Opposition auch an dieser Entscheidung beteiligt .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der neu zu schaffende Stab - das ist ganz wichtig - wird die Arbeit des Parlamentarischen Kontrollgremiums stützen . Er arbeitet für
alle Abgeordneten, die im PKGr sitzen - und damit auch
für die Oppositionsabgeordneten . Dieser Stab ist für alle
Bundestagsabgeordneten zuständig .
({6})
Deswegen werbe ich um Zustimmung zu dieser wichtigen Reform . Man kann es immer noch besser machen;
aber das ist ein ganz entscheidender Schritt hin zu einer
besseren Arbeitsfähigkeit . Es ist eine Chance für die
Stärkung der Nachrichtendienste. Ich hoffe, dass hier im
Bundestag, aber auch in den Nachrichtendiensten verstanden wird, wie wir diese Reform gemeint haben .
Vielen Dank .
({7})
Vielen Dank . - Christian Ströbele spricht jetzt für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Koalition wird heute dafür sorgen, dass eine reale
Chance verpasst wird, den größten deutschen Geheimdienst unter demokratische Kontrolle zu bringen und
endlich an die Leine zu legen .
({0})
Anstatt ein Gesetz zu machen, durch das die Tätigkeit
des Bundesnachrichtendienstes verfassungskonform
gestaltet wird, geben Sie dem Bundesnachrichtendienst
jetzt die Erlaubnis, die illegale Praxis, die dort seit mehr
als 15 Jahren betrieben wird, fortzusetzen .
({1})
Statt das Parlamentarische Kontrollgremium und seine Arbeit wirkungsvoller zu gestalten, schaffen Sie jetzt
zu den vier Institutionen der Kontrolle, die wir bereits haben, zwei zusätzliche . Dadurch wird die Kontrolle nicht
besser, sondern sie wird noch mehr zersplittert sein .
({2})
Als dienstältestes Mitglied des Parlamentarischen
Kontrollgremiums sage ich auch einmal etwas Positives:
Die Arbeit des PKGr hat sich in dieser Legislaturperiode
substanziell verbessert .
({3})
Wir haben nicht nur sieben AGs zu sieben Themen gegründet, sondern wir haben auch eine Taskforce eingesetzt und Sachverständigte beauftragt . Das ist gut und
richtig und war auch - das muss ich sagen - sehr ertragreich . Der Fehler ist, dass von dieser Tätigkeit und dem,
was wir da an teilweise Skandalösem herausbekommen
haben, leider nichts an die Öffentlichkeit gegeben werden darf .
({4})
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass das nicht
wirksam ist, liegt doch an etwas ganz anderem . Wir brauchen doch nicht zwei weitere Gremien, um den Fehler
zu beheben . Der Fehler ist nämlich der, dass von der
Bundesregierung und den Diensten nicht vollständig und
nicht wahrheitsgemäß berichtet wird . Wir sind aber darauf angewiesen, dass das, was von dort kommt, tatsächlich stimmt . Und das ist in der Vergangenheit nicht der
Fall gewesen .
Ich will Ihnen dazu zwei Beispiele nennen: Ich lese,
dass bei „Eikonal“
({5})
in die Akten geschrieben worden ist: Das größte Risiko
besteht darin, dass das Parlamentarische Kontrollgremium oder die G-10-Kommission von dem, was wir hier
machen, erfahren . Das ist das größte Risiko, und das
muss vermieden werden . - Diejenigen, die das geschrieben haben, sind nicht etwa rausgeschmissen worden,
sondern sie sind immer noch da . Und die Leitung des
Dienstes hat sich danach gerichtet . Das ist skandalös!
({6})
Beim Studium der Akten sehe ich die Bilder aus dem
Sommer 2013 - Juni, Juli, August, September - vor mir,
als die Bundesregierung und die Dienste dort berichtet
haben und diese Herren wie Unschuldslämmer aus dem
Tal der Ahnungslosen dasaßen und mit großen Augen
sagten: Wir wissen überhaupt nicht, wovon die Rede ist .
Prism, Tempora? Nie gehört . Ob es den Snowden und
seine Dokumente überhaupt gibt, wissen wir gar nicht .
Es gibt ja nur Kopien davon .
({7})
Und von den Telefonnummern, die da genannt werden,
fehlen ja die letzten Ziffern. - In Wahrheit war es so, dass
das alles stimmte .
({8})
Was viel schlimmer ist: Dieselben Herren haben, wenn
sie nicht berichtet haben, in den Diensten gesessen und
die Dateien gesäubert von den illegalen Selektoren, die
da drin waren,
({9})
weil sie sahen: Das wird jetzt möglicherweise ans Licht
kommen . Sie haben die Mittel ihrer Rechtsbrüche beseitigt .
({10})
Das ist die Unwahrheit gegenüber den Kontrollgremien .
Solange Sie da nicht mehr tun, wird sich nichts ändern .
({11})
Deshalb: Legen Sie Ihren Vorschlag beiseite . Der
bringt keine substanzielle Änderung . Schreiben Sie in
das Gesetz etwas Selbstverständliches hinein, nämlich
dass die Bundesregierung und die Dienste wahrheitsgemäß berichten müssen und dass es, wenn sie dies nicht
tun, Sanktionen zur Folge hat . Dann muss beispielsweise
ein Disziplinarverfahren eingeleitet werden, oder die Abgeordneten können mit solchen Skandalen an die Öffentlichkeit gehen . Nur so erreichen Sie, dass in Zukunft die
bessere Arbeit tatsächlich auch wirkungsvoll ist .
({12})
Vielen Dank . - Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt
Stephan Mayer das Wort .
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Wir haben - dieser festen Überzeugung bin ich - eine gute parlamentarische
Kontrolle unserer Nachrichtendienste . Sehr geehrter
Herr Kollege Ströbele, ich erkenne es durchaus an, dass
Sie zugestehen, dass sich die Arbeit des PKGr in dieser
Legislaturperiode substanziell verbessert hat . Aber aus
meiner Sicht gilt für das Parlamentarische Kontrollgremium dasselbe wie für viele andere Lebensbereiche: Was
gut ist, kann immer noch verbessert werden . Ich bin auch
der festen Überzeugung: Mit dem heute vorliegenden
Gesetzentwurf verbessern wir qualitativ die Arbeit des
Parlamentarischen Kontrollgremiums enorm . Wir stärken damit aber auch die Nachrichtendienste insgesamt .
Eine optimierte parlamentarische Kontrolle unserer
Nachrichtendienste in einer freiheitlich-demokratischen
Grundordnung stärkt auch die Legitimität unserer Nachrichtendienste . Deswegen ist es auch im Interesse der
Nachrichtendienste, dass wir die Qualität der Kontrolle
deutlich verbessern .
Das Herzstück dieses Gesetzentwurfes ist der Ständige Bevollmächtigte mit seinem Arbeitsstab. Wir schaffen
insgesamt zwölf zusätzliche Stellen in der Bundestagsverwaltung . Der Ständige Bevollmächtigte wird aber
kein Geheimdienstbeauftragter des Bundestages sein .
Er wird kein freies Radikal sein, das im luftleeren Raum
schwirrt, sondern er wird dem Parlamentarischen Kontrollgremium gegenüber klar weisungsgebunden sein .
Das ist aus meiner Sicht ein sehr wesentlicher und guter
Schritt nach vorne .
({0})
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, das
behaupten nicht nur wir von der Koalition, sondern das
behaupten auch die Sachverständigen, die in der Anhörung am 26 . September dieses Jahres befragt wurden .
Der ehemalige BND-Präsident Schindler hat den heute
zur Disposition stehenden Gesetzentwurf ausdrücklich
und wortwörtlich als „Meilenstein“ tituliert, und er hat
die Funktion dieses neuen Ständigen Bevollmächtigten
wortwörtlich als ein „vielversprechendes Modul“ gelobt .
({1})
Also: Auch die Sachverständigen haben sich durchweg
positiv über diesen vorliegenden Gesetzentwurf geäußert .
Meines Erachtens, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, ist es auch ein erheblicher Schritt
nach vorne, dass wir jetzt endlich auch die besonderen
Vorkommnisse, die uns die Bundesregierung im Parlamentarischen Kontrollgremium zu berichten hat, genau
spezifizieren, um, Herr Kollege Ströbele, dem Problem
entgegenzuwirken, dass es letzten Endes im Ermessen
der Bundesregierung liegt, was sie uns mitteilt oder was
sie uns nicht mitteilt .
({2})
Jetzt wird genau aufgeführt, was ein besonders erwähnens- und berichtenswerter Vorgang ist . Das ist dann der
Fall, wenn ein Vorgang in der öffentlichen Debatte eine
Rolle spielt, wenn er Gegenstand der öffentlichen Berichterstattung sein wird, wenn er das Lagebild über die
innere und äußere Sicherheit verändert oder wenn es ein
Vorgang ist, der auf die Aufgabenerfüllung der Nachrichtendienste besonderen Einfluss haben wird. Des Weiteren
bin ich der festen Überzeugung, dass es ein qualitativer
Schritt nach vorne ist, dass wir das Parlamentarische
Kontrollgremium endlich genauso behandeln wie alle
anderen Parlamentsausschüsse . Wir werden in Zukunft
zu Beginn der Legislaturperiode einen Vorsitzenden für
die gesamte Dauer der Legislaturperiode wählen . Ich bin
der Meinung, dass es nicht sehr zielführend war, dass
wir den Vorsitz und den stellvertretenden Vorsitz jährlich
gewechselt haben . Auch hier ist ein bemerkenswerter
Schritt nach vorne zu verzeichnen .
Herr Kollege Mayer gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Ströbele?
Selbstverständlich, sehr gerne .
Bitte schön, Herr Kollege Ströbele .
Danke, Herr Kollege Mayer . - Geben Sie mir recht,
dass die bisherige Regelung, die vorsieht, dass alternierend von der Koalition und dann von der Opposition die
Vorsitzenden gestellt werden, eine sehr viel demokratischere Regelung ist, die auch die legitimen Rechte der
Opposition viel mehr wahrt,
({0})
als die neue Regelung, nach der ein Vorsitzender für vier
Jahre bestimmt wird, wobei aber ein Vertreter der Opposition - das ergeben die Zahlen - niemals Vorsitzender
werden kann?
({1})
Sehr geehrter Herr Kollege Ströbele, ich sehe in keiner Weise die bisherige Regelung, die 23 Parlamentsausschüsse betrifft, als undemokratisch an.
({0})
Es wird im Vorfeld festgelegt, welcher Parlamentsausschuss von welcher Fraktion mit dem Vorsitz belegt wird .
Im Gesetz ist doch überhaupt nicht festgeschrieben, Herr
Kollege Ströbele, dass der Vorsitz im Parlamentarischen
Kontrollgremium von einer Regierungsfraktion gestellt
werden muss .
({1})
Es kann durchaus sein, dass Sie, Herr Kollege Ströbele,
möglicherweise in der nächsten Legislaturperiode Vorsitzender des PKGr werden .
({2})
Das ist durch dieses neue Gesetz nicht ausgeschlossen .
({3})
Ich hoffe, dass Sie diese Möglichkeit, die durchaus im
Raum steht - ich wünsche Ihnen auch, dass Sie dem
nächsten Parlament wieder angehören -, nicht als undemokratisch bezeichnen .
({4})
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, wir
bringen jetzt noch einen Änderungsantrag dergestalt ein,
dass wir auch dem Vertrauensgremium im Haushaltsausschuss die Möglichkeit eröffnen, auf den Ständigen
Bevollmächtigten zuzugreifen im Benehmen mit dem
Parlamentarischen Kontrollgremium .
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, es
ist aber auch festzustellen - das zeigt auch die heutige
Debatte -, dass die Opposition dieser qualitativen Verbesserung der parlamentarischen Kontrolle genau gegenteilig gegenübersteht . Herr Kollege Dr . Hahn, Sie haben
seitens der Linken einen Gesetzentwurf und einen Antrag
eingebracht, die sich mit der parlamentarischen Kontrolle beschäftigen . Was Sie nur verschweigen - hier bitte ich
Sie um mehr Ehrlichkeit -: Sagen Sie doch bitte ganz offen, dass Sie die Nachrichtendienste abschaffen wollen.
({5})
Das wäre Ehrlichkeit . Wenn die Punkte, die in Ihrem
Antrag stehen, umgesetzt würden, würden Sie die Arbeit
der drei Nachrichtendienste auf Bundesebene aushöhlen .
Das wäre aus meiner Sicht ein erhebliches SicherheitsStephan Mayer ({6})
defizit und ein erhebliches Sicherheitsrisiko für die Bundesrepublik Deutschland angesichts der jetzigen Bedrohungssituation .
({7})
Ich möchte, meine Kolleginnen und Kollegen, nur
zwei Punkte herausgreifen . Zum einen fordern Sie seitens der Linken, dass die Nachrichtendienste kategorisch
auf den Einsatz von V-Leuten verzichten . Sagen Sie es
bitte ganz offen: Sie wollen unsere Nachrichtendienste
darauf reduzieren,
({8})
dass sie nur noch Zeitungslektüre betreiben dürfen, dass
sie Zeitungsartikel lesen, ausschneiden und abheften dürfen .
({9})
Mehr sollen unsere Nachrichtendienste, wenn es nach
den Linken geht, nicht mehr machen dürfen . Das ist aus
meiner Sicht eine erhebliche Erschwernis . Wir werden
diesem Antrag deutlich entgegentreten .
Ein zweiter Punkt, der meines Erachtens dem Fass
den Boden ausschlägt: Sie fordern als Fraktion Die Linke, dass es in das Ermessen des einzelnen Bundestagsabgeordneten gestellt wird, „nach gewissenhafter Prüfung
der Sach- und Rechtslage“ - das schreiben Sie in Ihrem
Antrag -, ob ein Staatsgeheimnis öffentlich gemacht
wird . Also, Sie würden jedem Bundestagsabgeordneten
zubilligen, dass er selber entscheidet, ob er ein Staatsgeheimnis veröffentlichen darf. Gerade in der jetzigen
Bedrohungssituation wäre das eine Versündigung an der
Sicherheitslage in Deutschland .
({10})
Wir sind in einer erheblichen Anspannung . Unsere Sicherheitsbehörden stehen vor einer enormen Herausforderung .
Es ist derzeit ohnehin schon schwer genug, andere
Nachrichtendienste, auch solche, mit denen wir im Austausch stehen, immer wieder dazu zu bringen, mit uns
konstruktiv und vertrauensvoll zusammenzuarbeiten,
weil leider Gottes immer wieder Dinge die Öffentlichkeit
erreichen, die dort nicht hingehören . Das ist eine Gefahr
für die Sicherheit in unserem Lande . Ich sage zum Abschluss noch einmal ganz deutlich und ganz bewusst: Die
Linken sind insoweit aus meiner Sicht auch ein Sicherheitsrisiko für unser Land .
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit .
({11})
Vielen Dank . - Das Wort zu einer Kurzintervention
hat jetzt der Kollege André Hahn .
Frau Präsidentin! Ich kann nicht jeden Unfug richtigstellen, den Kollege Mayer eben erzählt hat . Deshalb will
ich mich auf zwei Punkte beschränken .
Erstens . Herr Mayer, Sie haben darauf hingewiesen,
dass unser Gesetzentwurf vorsieht, dass man bestimmte
Dinge an die Öffentlichkeit bringen kann. Ja, wir haben
das klar definiert, und zwar für den Fall, dass gegen die
Verfassung, das Grundgesetz, verstoßen wird; dann muss
es die Möglichkeit geben, das offenzulegen.
({0})
Da dürfen die Geheimdienste nicht im luftleeren Raum
arbeiten .
Zweitens . Finden Sie es im Ernst sinnvoll und demokratisch, dass das Parlamentarische Kontrollgremium der
Opposition eine Erlaubnis erteilen muss, wenn sie die
Regierung kritisieren will?
({1})
Die gegenwärtige Regelung lautet, dass es eines Zweidrittelmehrheitsbeschlusses bedarf, bevor öffentliche
Stellungnahmen abgegeben werden können . Das heißt,
wenn der Kollege Ströbele oder ich die Regierung kritisieren will, dann müssen Sie vorher zustimmen, dass es
diese öffentliche Stellungnahme gibt. Das hat mit demokratischen Verfahren wahrlich nichts zu tun .
({2})
Vielen Dank . - Herr Kollege Mayer zur Erwiderung .
Herzlichen Dank für diese Kurzintervention, sehr geehrter Herr Kollege Hahn . Sie gibt mir die Gelegenheit,
wirklich deutlich zu machen, dass Sie für die Arbeit von
Nachrichtendiensten einfach überhaupt nichts übrighaben und dass Sie auch das Erfordernis einer qualitativ hochwertigen parlamentarischen Kontrolle unserer
Nachrichtendienste immer noch nicht verstanden haben .
Wir, die neun Mitglieder im Parlamentarischen Kontrollgremium, tagen geheim . Was wir erfahren, hat in der
Öffentlichkeit grundsätzlich nichts verloren.
({0})
Wenn wir uns dann doch darauf verständigen - das hat
das PKGr in den letzten Jahren so häufig wie noch nie
zuvor gemacht -,
({1})
eine öffentliche Erklärung abzugeben, dann kann dies
doch nicht in das Ermessen jedes Einzelnen der neun
Mitglieder gestellt werden; vielmehr bedarf es natürlich
einer qualitativen Mehrheit, wenn wir uns als Gremium
in toto zu Wort melden .
Stephan Mayer ({2})
Natürlich bleibt es jedem einzelnen Mitglied unbenommen, ein Sondervotum abzugeben .
({3})
Ich erkenne an der in dieser Legislaturperiode geübten
Praxis - wir haben sie substanziiert noch nie so gut vollzogen wie in dieser Legislaturperiode; da bin ich vollkommen der Meinung des Kollegen Ströbele - überhaupt
nichts Undemokratisches .
({4})
Um noch einmal auf Ihren ersten Punkt, Herr Hahn,
einzugehen: Sie schreiben unter Punkt III Ziffer 7 Ihres
Antrags ganz klar, dass die Bundesregierung aufgefordert
wird, einen Gesetzentwurf vorzulegen, der es ermöglicht,
dass einzelne Mitglieder des Bundestages Staatsgeheimnisse öffentlich bekannt machen.
({5})
Sie können es doch nicht in das Ermessen von jedem von
uns 630 Abgeordneten stellen, ob er gerade einmal der
Meinung ist, dass ein Staatsgeheimnis die Öffentlichkeit
erreichen soll . Das halte ich wirklich, mit Verlaub, für
hanebüchen, für hoch riskant und für vollkommen untragbar .
({6})
Vielen Dank . - Jetzt hat der Kollege Uli Grötsch,
SPD-Fraktion, das Wort .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich glaube, in der letzten Kurzintervention wurde ein Dilemma deutlich, das wir als Mitglieder des Parlamentarischen Kontrollgremiums oftmals haben, nämlich dass
in der Öffentlichkeit keiner darüber reden oder berichten
kann, wie wirklich gehandelt wird und wie gut wir dort
im Grunde zusammenarbeiten .
({0})
Von daher halte ich es für schwierig, sich hier vorne hinzustellen, Kollege Dr . Hahn, und zu behaupten, dass wir
Ihnen im PKGr erlauben müssten, dass Sie die Bundesregierung kritisieren . Das wäre ja noch schöner . Das wollte
ich an dieser Stelle nur einmal richtigstellen .
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, laut meinem Kalender hatten wir im Jahr 2016 bisher 8 Sitzungen des
Parlamentarischen Kontrollgremiums . Im Vergleich dazu
hatten wir 15 reguläre Sitzungen des Innenausschusses,
3 Sondersitzungen und unzählige Sachverständigenanhörungen . Wäre es ein normales Jahr gewesen, hätten diese
8 Sitzungen vielleicht sogar gereicht, um die parlamentarische Kontrolle der Nachrichtendienste sicherzustellen .
2016 war bisher aber leider kein normales Jahr; es ist
vielmehr ein sehr ereignisreiches Jahr gewesen, auch für
die Nachrichtendienste . Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die Anschläge in Würzburg und Ansbach
oder an die vereitelten Anschläge wie zuletzt in Sachsen .
Wir haben es mit internationalem Terrorismus zu
tun, der unsere Nachrichtendienste rund um die Uhr in
Schach hält . Da die Bundesregierung gesetzlich verpflichtet ist, das Kontrollgremium über Vorgänge besonderer Bedeutung zu unterrichten - und wir fordern dieses
Recht natürlich auch ein -, bleibt aufgrund der Vielzahl
von Ereignissen, die in diese Kategorie fallen, kaum Zeit,
um im PKGr andere Themen zu besprechen .
Unter parlamentarischer Kontrolle verstehe ich, dass
die Vorgänge in den Behörden unter die Lupe genommen
werden, und zwar nicht nur dann, wenn die Medien einen
Skandal aufdecken .
({2})
Ziel muss doch sein, dass es gar nicht erst zu Skandalen
kommt,
({3})
weil die Dienste innerhalb des gesetzlichen Rahmens arbeiten, den wir dem BND noch heute - das betrifft den
nächsten Tagesordnungspunkt - geben werden .
Lassen Sie mich an dieser Stelle kurz erwähnen, dass
wir auch dahin gehend unsere Hausaufgaben mehr als
gemacht haben und nun endlich eine klare Rechtsgrundlage zur Fernmeldeaufklärung geschaffen haben. Mein
Kollege Burkhard Lischka hat das in der ersten Lesung
des Gesetzentwurfs herausgestellt: Es handelt sich um
nichts weniger als um ein weltweit einmaliges Gesetz .
({4})
Was ich jedoch sehr bedauere, ist, dass wir unseren
Vorschlag, das neue unabhängige Gremium vom PKGr
zu berufen und auch die Geschäftsstelle im Bundestag
anzusiedeln, nicht durchsetzen konnten . Wir hätten das
für die Unabhängigkeit der Kontrolle als sinnvoll erachtet .
({5})
Aber zurück zum Thema . In den letzten Monaten und
Jahren reagieren wir in den Sitzungen des PKGr viel zu
oft auf Medienberichte und Meldungen . Eine Fortentwicklung der parlamentarischen Kontrolle ist dringend
erforderlich, und deshalb begrüße ich ausdrücklich den
Gesetzentwurf, um den es hier heute geht . Damit greifen
wir übrigens auch eine Empfehlung des NSU-Untersuchungsausschusses der 17 . Wahlperiode auf .
Stephan Mayer ({6})
Die wohl wichtigste und gleichzeitig zielführendste
Änderung ist, dass wir das Amt eines Ständigen Bevollmächtigten des Kontrollgremiums schaffen, also einer
Person, die als verlängerter Arm des PKGr dessen Befugnisse wahrnimmt und gemeinsam mit einem spürbar
aufgestockten Mitarbeiterstab - auch das ist ein sehr
wichtiger Punkt - eine kontinuierliche, systematische
und strukturelle Kontrolle durchführt .
({7})
Wir wollen damit vor allem auch einen breiten Blick auf
das nachrichtendienstliche Alltagsgeschäft richten . Künftig müssen also alle Bereiche der Dienste damit rechnen,
jederzeit Gegenstand einer Kontrolle durch das PKGr
oder durch den Ständigen Bevollmächtigten zu werden .
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition, keinesfalls wird die Einführung des Ständigen Bevollmächtigten dazu führen, dass allein ihm exklusiv der Zugang
zu Informationen oder Akten gewährt wird . Der Ständige
Bevollmächtigte ist kein Beauftragter der Bundesregierung . Alle Akten, die er einsieht, kann natürlich auch
das Gremium einsehen . Ich sehe durch den Ständigen
Bevollmächtigten viel mehr eine große Entlastung und
einen deutlichen Gewinn an Effizienz; denn es liegt doch
an uns, welche Konsequenzen und Rückschlüsse wir aus
seinem Bericht ziehen . Sie können doch trotzdem weiterhin Kontrollbesuche bei den Diensten durchführen und
Berichte anfordern . Wenn Sie den Eindruck haben, der
Ständige Bevollmächtigte habe nicht sorgfältig gearbeitet, dann hindert Sie niemand daran, nachzuhaken .
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Union, ich bin
froh, dass wir uns sozusagen in letzter Minute noch darauf einigen konnten, dass auch das Vertrauensgremium
im Benehmen mit dem PKGr Aufträge an den Ständigen
Bevollmächtigten erteilen kann . Wir hätten uns zwar
vorstellen können, dass das Vertrauensgremium auch bei
der Auswahl des Bevollmächtigten stärker eingebunden
wird, aber das wird vielleicht die nächste Baustelle .
({8})
Es wurde eben auch schon gesagt: Eine weitere, noch
vor wenigen Jahren undenkbare Neuerung sind die jährlichen öffentlichen Anhörungen der Präsidenten der
Dienste .
({9})
Hiermit haben die Parlamente in den USA und in Großbritannien ganz hervorragende Erfahrungen gemacht .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bräuchte viel
mehr Redezeit, um all die positiven Aspekte dieses Gesetzes vortragen zu können .
({10})
Lassen Sie mich sagen: In diesem Gesetz geht es nicht
um Fraktionsinteressen, sondern es geht um die Interessen und um die Stärkung des ganzen Parlaments .
({11})
Frau Präsidentin, Sie werden wohl auch heute nicht
so gnädig sein, mir mehr Redezeit zu geben, deshalb
komme ich zum Ende . Ich bitte Sie alle um Zustimmung .
Stehen Sie nach der dritten Lesung doch einfach alle auf
({12})
und setzen Sie mit uns zum Quantensprung in der parlamentarischen Kontrolle der Nachrichtendienste an!
Vielen Dank .
({13})
Vielen Dank . - Das Wort hat jetzt Armin Schuster,
CDU/CSU-Fraktion .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich finde es beeindruckend - das ist auch, denke ich,
wichtig für die Zuhörer und Zuschauer -, wie oft heute Morgen die Leistungen der Nachrichtendienste gelobt
wurden . Es ist natürlich angesichts der tadellosen Leistungen im Fall Albakr leicht, das einmal aussprechen zu
können .
Leider können wir es sehr oft nicht aussprechen, aber
gehen Sie bitte davon aus: Das ist nicht einmalig, so etwas passiert sehr oft, und solche Leistungen erwarten wir
von Nachrichtendiensten . Leistungsfähig, selbstbewusst
modern, solche Mitarbeiter, hochmoderne Ausstattung
und eine angemessene rechtliche Möglichkeit, zu arbeiten, dafür steht die Union bei den Nachrichtendiensten .
Darin investieren wir - gleich in das Gesetz, anschließend in die Haushalte . Wir wollen genauso gut arbeitende Dienste, wie wir sie jetzt im Fall Chemnitz erlebt
haben . Deswegen, glaube ich, muss man auch einmal
ein Plädoyer halten und sich nicht nur, Herr Dr . Hahn,
abends genüsslich unter die Schutzdecke unserer Sicherheitsbehörden legen
({0})
und morgens deren Abschaffung fordern, wenn nichts
passiert ist . Das geht einfach nicht, das ist nicht unsere
Politik .
({1})
Blauäugig sind wir deswegen nicht . Da wir motivierte
Dienste wollen, wissen wir, dass diese auch über das Ziel
hinausschießen .
({2})
Das ist in jedem Gewerbe so, auch bei denen . Deshalb
passen wir auf .
Eine wirkungsvolle parlamentarische Kontrolle hatten wir nicht wirklich, wenn wir ehrlich sind . Bei neun
Abgeordneten in einem Kontrollgremium und Tausenden von nachrichtendienstlichen Mitarbeitern habe ich
mich immer gefühlt wie Sisyphos, der versucht, den
Stein aufwärts zu rollen: Es war schwer möglich . Lieber Herr Dr . Hahn, lieber Herr Grötsch, wir haben mit
Herrn Ströbele zusammen in einer Taskforce erlebt BND-Selektoren -, wie es eigentlich gehen müsste . Das
hat mir sehr viel Motivation gegeben, um genau das zu
verstetigen . Das tun wir heute mit dem Gesetzentwurf .
Eigentlich richten wir jetzt eine Dauertaskforce ein mit
der Manpower, die wir brauchen . Ich denke, besser kann
man die Empfehlungen aus dem NSU-Untersuchungsausschuss nach mehr parlamentarischer Kontrolle nicht
umsetzen, als wir es heute tun .
Was wollen wir? Wir wollen eine deutlich höhere
Transparenz; die öffentliche Anhörung wurde schon genannt . Wir wollen natürlich überwachen, ob die Regeln
und Vorschriften eingehalten werden, aber viel wichtiger
ist mir: Der Ständige Bevollmächtige und seine Mitarbeiter haben die Chance, konstruktiv zu begleiten . Was
können, was dürfen und was sollen unsere Dienste leisten? Diese Frage für das Parlamentarische Kontrollgremium ständig mit zu beurteilen, halte ich für wichtig .
Deshalb zitiere ich auch noch einmal den Ex-Präsidenten
Schindler - wenn er es sagt, hat es wirklich Gewicht -:
ein Meilenstein der parlamentarischen Kontrolle, eine
vielversprechende Lösung, die Vertrauen schaffen wird.
Mehr Lob und Referenz kann man für einen Gesetzentwurf eigentlich kaum bekommen . Dass der Vorsitzende endlich nicht mehr wechselt, ist ein Segen, meine
Damen und Herren . Ich habe mich gefühlt wie bei „Farm
der Tiere“: Jeder möchte einmal Vorsitzender werden . So
kann man doch nicht arbeiten, Entschuldigung!
({3})
Jetzt haben wir einen Vorsitzenden, der den Laden
führt . Das ist so etwa die Welt, die ich kenne, und da
kenne ich mich bestens aus, und sie hat sich auch über
Jahrzehnte bewährt; glauben Sie es mir . Herr Hahn, Sie
müssen einfach lernen, wie so etwas geht . Dass wir das
noch mit dem Vertrauensgremium verzahnen, finde ich
sehr gut .
Die Kritikpunkte: Nein, der Ständige Beauftragte ist
keine Solonummer .
({4})
Er ist ein Erfüllungsgehilfe, von mir aus eine verlängerte
Werkbank . Aber wir führen ihn, wir geben ihm Anweisungen, wir kontrollieren ihn . Wenn Sie das auch nicht
können, Herr Dr . Hahn, wenn Sie mit Mitarbeitern nicht
umgehen können, dann kann Ihnen aber wirklich keiner
helfen . Seien Sie ehrlich: Wir haben in der Taskforce,
Herr Ströbele, beste Erfahrungen mit hervorragenden
Mitarbeitern gemacht,
({5})
die wir heute schon im PKGr haben . Ich habe da allerdings nicht wie Sie nach dem Parteibuch gefragt .
({6})
Das ist mir auch völlig wurscht . Die haben hervorragend
gearbeitet . Wissen Sie was? Ich glaube, wenn wir deren
politische Präferenzen einmal abfragen würden, würden
alle genannt, die hier vertreten sind . Trotzdem haben sie
uns klasse zugearbeitet . Das Lob muss einmal sein . Ich
habe überhaupt keine Bedenken, dass die nächsten zwölf
das nicht auch können, und das Parteibuch interessiert
mich bei denen auch nicht .
({7})
Eine Whistleblower-Regelung ist im Gesetzentwurf
enthalten . Sie ist vielleicht nicht so, wie Sie sie haben
wollen, aber wir machen die Dinge balanciert und schlau
und nicht parteipolitisch motiviert .
Die Journalisten haben uns für den Ergebnisbericht
unserer Taskforce über den grünen Klee gelobt, Herr
Ströbele. Es stimmt nicht, dass wir die Öffentlichkeit
nicht informieren .
({8})
Chapeau, hieß es, so konsequent, so dezidiert und so
schonungslos habe noch nie ein PKGr die aktuelle Regierung betrachtet, analysiert und auch kritisiert . Also,
besser kann man es wirklich nicht machen .
({9})
Genau diese Lösung verstetigen wir jetzt in einem Gesetz . „Hut ab“, „Epochale Schwelle überschritten“,
„Neues Niveau“,
Aber Sie denken an den Schluss, Herr Schuster?
- durchgehend positiv sind die Zitate der Sachverständigen aus der öffentlichen Anhörung.
Zu den Änderungsanträgen - das ist mein letzter
Satz - sagte Professor Dr. Amadeus Wolff, der auch kein
Armin Schuster ({0})
unkritischer Zeitgenosse als Sachverständiger ist: Keiner
der vorliegenden Änderungsvorschläge reicht irgendwie an den Entwurf heran, der hier vorgelegt wurde . Deswegen gehe ich gar nicht weiter darauf ein; Stephan
Mayer hat das schon prima gemacht . Das, was Sie vorgelegt haben, ist einfach nichts wert .
({1})
Es tut mir leid . Stehen Sie bitte - Uli Grötsch hat es richtig gesagt - bei Ja und nicht bei Nein auf, Herr Dr . von
Notz .
Danke schön .
({2})
Vielen Dank . - Damit ist die Aussprache beendet .
Wir kommen zur Abstimmung über den von den Frak-
tionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurf
eines Gesetzes zur weiteren Fortentwicklung der parla-
mentarischen Kontrolle der Nachrichtendienste des Bun-
des .
Zu dieser Abstimmung liegt eine Erklärung nach § 31
unserer Geschäftsordnung vor .1)
Der Innenausschuss empfiehlt unter Buchstabe a sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/10069, den
Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD
auf Drucksache 18/9040 in der Ausschussfassung anzu-
nehmen . Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-
zeichen . Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der Opposition angenommen .
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung . Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben . -
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetz-
entwurf ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis in der
dritten Beratung angenommen .
Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion
Die Linke zur Änderung des Gesetzes über die parlamen-
tarische Kontrolle nachrichtendienstlicher Tätigkeit des
Bundes. Der Innenausschuss empfiehlt unter Buchstabe b
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/10069
die Ablehnung des Gesetzentwurfs der Fraktion Die
Linke auf Drucksache 18/6640 . Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzei-
chen . - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der
Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt . Damit entfällt nach
unserer Geschäftsordnung die dritte Beratung .
1) Anlage 2
Wir setzen die Abstimmungen zu der Beschlussempfehlung des Innenausschusses auf Drucksache 18/10069
fort .
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/6645 mit dem Titel
„Parlamentarische Kontrolle der nachrichtendienstlichen
Tätigkeit des Bundes verbessern“ . Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen .
Unter Buchstabe d empfiehlt der Innenausschuss die
Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 18/8163 mit dem Titel „Für
eine wirksamere Kontrolle der Nachrichtendienste“ . Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei
Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung des Bundesnachrichtendienstes
Drucksache 18/9041
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung des Bundesnachrichtendienstes
Drucksachen 18/9529, 18/9854, 18/9879,
Nr. 5
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({0})
Drucksache 18/10068
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Debatte 38 Minuten vorgesehen . - Ich sehe, da gibt
es keinen Widerspruch . Dann ist so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin
Nina Warken, CDU/CSU-Fraktion .
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir befassen uns heute mit einem Gesetz, das nicht häufig Gegenstand der Beratungen im Plenum ist und dessen
Ausführung sich meist im Verborgenen vollzieht . Und
doch ist es ein Gesetz, das für unsere Gesellschaft von
großer Bedeutung ist .
Mit dem BND-Gesetz treffen wir als Parlament eine
Entscheidung darüber, wie weit wir als Gesellschaft gehen wollen, um uns zu schützen, welche Befugnisse wir
unseren Nachrichtendiensten einräumen, um uns unsere
freiheitliche Lebensart und unsere freiheitlich-demokraArmin Schuster ({0})
tische Grundordnung zu bewahren und zu verteidigen .
Das BND-Gesetz ist also ein Gradmesser dafür, wo wir
als Gesellschaft die angemessene Balance zwischen Freiheit und Sicherheit sehen .
Freiheit und Sicherheit - so häufig es gesagt wird, so
richtig ist es -, das sind keine Gegensätze, sondern sie
bedingen einander . Ohne Freiheit gibt es keine Sicherheit; ohne Sicherheit kann sich Freiheit nicht entfalten .
({1})
Deshalb geht es gerade nicht darum, pauschal das eine
gegen das andere auszuspielen, wie der eine oder andere Kollege es gerne tut . Nein, es geht darum, eine kluge, eine differenzierte Abwägung zu treffen. Wenn wir
heute in diesem Hohen Hause ein Gesetz zur Änderung
des BND-Gesetzes beschließen wollen, dann bezwecken
wir damit genau das: Wir treffen eine kluge Abwägung.
Wir halten die Befugnisse der Behörden im Einklang mit
den Grundrechten unserer Bürger . Und wir stärken damit
Freiheit und Sicherheit in Deutschland .
({2})
Zugleich ziehen wir die Konsequenzen aus mittlerweile drei Jahren NSA-Untersuchungsausschuss . Wir
alle haben bei unserer Arbeit festgestellt, dass es in der
Vergangenheit im BND Missstände gab und dass deshalb
an einigen Stellen Verbesserungsbedarf bestand . Von daher werden wir mit dem Gesetz ganz bewusst zum Beispiel den Schutz von EU-Bürgern stärken; denn für uns
ist klar: Die Verteidigung unserer Freiheit ist heutzutage keine rein nationale Angelegenheit mehr, sondern da
müssen wir als Europäische Union, als westliche Wertegemeinschaft zusammenstehen .
Wir leben heute in einem geeinten Europa, in einem
Europa ohne Schlagbäume . In einem solchen geeinten
modernen Europa müssen auch die Sicherheitsbehörden
über die Grenzen hinweg zusammenarbeiten .
({3})
Wenn die Belgier, die Polen, die Spanier oder wir
Deutschen eine Information über einen Terroristen, über
einen bevorstehenden Anschlag haben, dann müssen diese Informationen geteilt werden, und zwar nicht mit den
Mitteln des 20 . Jahrhunderts, nicht per Brief mit Stempel
und Unterschrift, sondern mit den Mitteln des 21 . Jahrhunderts: über Glasfaser, in einer gemeinsamen Datenbank . So sieht moderne internationale Zusammenarbeit
im 21 . Jahrhundert aus .
({4})
In einer Welt, in der Krisen und Konflikte in fernen
Regionen sich immer unmittelbarer auf unser Leben in
Europa und in Deutschland auswirken, muss der BND
in der Lage sein, mit modernsten Mitteln Informationen
zu sammeln, damit wir eben nicht von anderen Ländern
abhängig sind, sondern damit wir als Bundesrepublik
Deutschland ein breites und fundiertes Bild von dem haben, was in der Welt geschieht .
({5})
Hierzu gehört für uns ganz klar die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung; denn al-Qaida und der IS
kommunizieren heute nicht mehr per Postkutsche und
Brieftaube . Deshalb ist es wichtig, dass der BND dort
aufklärt, wo die Informationen liegen, und das sind nun
einmal im 21 . Jahrhundert die weltweiten Datenströme,
das ist nun einmal die internationale Kommunikation .
Gerade in den vergangenen Tagen haben uns diese
Aufklärung und der Austausch von Informationen mit
unseren internationalen Partnern vor einem schrecklichen Angriff bewahrt; denn der syrische Terrorist aus
Chemnitz wurde nicht durch schöne Sonntagsreden gefasst, sondern weil unsere amerikanischen Freunde uns
geholfen haben . Auch das darf und muss man in diesem
Hohen Hause einmal sagen .
({6})
Ja, man kann der Meinung sein, dass das Grundgesetz
das Telefonat eines Syrers im Irak mit einem Afghanen
in Pakistan im selben Maße schützt wie ein Ortsgespräch
in Berlin .
({7})
Dieser Meinung sind wir aber eben nicht . Diese Meinung ist weltfremd und vor allem meilenweit von dem
entfernt, was sich der Verfassungsgeber mit dem Fernmeldegeheimnis gedacht hat . Sie wissen auch ganz genau, dass das Bundesverfassungsgericht 1999 in seiner
Entscheidung über die strategische Fernmeldeaufklärung
des BND diese Ausland-Ausland-Fälle bewusst ausgespart hat .
Der wesentliche Punkt ist doch, dass die wichtige Arbeit des BND auf eine noch bessere rechtliche Grundlage gestellt werden muss, und genau das tun wir mit dem
vorliegenden Gesetzentwurf . Das tun wir auch und nicht
zuletzt für die Mitarbeiter des BND und unserer Sicherheitsbehörden, die nämlich Rechtssicherheit bei ihrer
wichtigen Tätigkeit benötigen, die sie Tag für Tag für
unser Land ausüben . Anders als es die Opposition uns
gerne glauben machen will, sind es nämlich keine finsteren James-Bond-Bösewichter, die jeden Morgen mit
dem Ziel aufstehen, Grundrechte zu verletzen und einen
Überwachungsstaat zu errichten,
({8})
sondern ganz normale Männer und Frauen mit Familien,
Hobbys und Kindern . Sie leisten eine hervorragende ArNina Warken
beit unter schwierigen Bedingungen, damit Sie und wir
alle so leben können, wie wir es tun,
({9})
nämlich in einem friedlichen und sicheren Land in Einigkeit und Recht und Freiheit .
Sie, liebe Kollegen von der Opposition, nutzen dieses
wichtige Thema zur Selbstvermarktung und zum Klamauk .
({10})
Wir als Koalition wollen aber einen starken BND und
handlungsfähige Sicherheitsbehörden . Deshalb tun wir,
was nötig ist, und stärken mit unserem Gesetz Sicherheit
und Freiheit in Deutschland .
Vielen Dank .
({11})
Vielen Dank . - Jetzt hat die Kollegin Martina Renner,
Die Linke, das Wort .
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Vor allem auch: Liebe Bürgerrechtsengagierte, die Sie draußen vor der Tür gerade protestieren!
Ich weiß noch genau, welches Bild der BND zu Beginn
der Arbeit des NSA-Untersuchungsausschusses zeichnen
wollte: Man hätte nicht so genau gewusst, was der große
Bruder NSA in Deutschland und Europa treibt . Der kleine Bruder BND würde sich hingegen immer an Recht
und Gesetz halten, nie die eigenen Bürger ausspähen
und schon gar nicht Spionage aufgrund von Wirtschaftsoder Machtinteressen durchführen . Inzwischen ist klar:
Der kleine Bruder Bundesnachrichtendienst wusste genau Bescheid . Er hat dem US-Geheimdienst die Türen
geöffnet, damit dieser an den Internetverkehr in Europa
gelangen konnte . Er hat das Parlament, manchmal auch
das Bundeskanzleramt und fast immer die betroffenen
Unternehmen getäuscht . Er tat dies absichtsvoll und im
vollen Bewusstsein der Illegalität . - Ich weiß, wovon ich
rede . Das ist das Ergebnis von zweieinhalb Jahren harter
Aufklärungsarbeit im Untersuchungsausschuss .
({0})
Für diese Praxis des Bundesnachrichtendienstes wurde
ein perfides System aus Abschirmen, Legendieren und
Nicht-Dokumentieren installiert . Vielleicht gab es dieses
System im Bundesnachrichtendienst schon immer . Tricksen, Tarnen, Täuschen - so lässt sich das Credo des BND
zusammenfassen .
Nun hat man den kleinen Bruder erwischt, angeschoben durch Edward Snowden, dokumentiert in den unzähligen Protokollen des Untersuchungsausschusses, in der
Klage der G-10-Kommission, in der Klage des Internetknotenbetreibers DE-CIX und in den Beanstandungen
der Datenschutzbeauftragten . Und was passiert jetzt?
Nichts! Keine Reue, kein Umsteuern, kein Zur-Rechenschaft-Ziehen der Verantwortlichen!
({1})
Stattdessen wird die Rechtslage nach den Wünschen des
Geheimdienstes angepasst,
({2})
und das bedeutet anlasslose Massenüberwachung .
({3})
Sehr geehrte Damen und Herren, der Bundesnachrichtendienst will nicht mehr der kleine Bruder der NSA sein .
Nein, der Gesetzentwurf der Großen Koalition macht ihn
nun zum Zwilling .
({4})
- Eineiig . - Ihnen ist das auch bewusst . Die Sachverständigen haben es Ihnen gesagt . Sie kennen die politischen
wie juristischen Argumente . Allein, es stört Sie wenig .
„Sollen sie doch klagen“, haben Sie im Innenausschuss
gesagt, „die Bürgerinnen und Bürger, die Provider, die
Opposition!“ . Sie werden heute sagen: Wir haben lediglich unterschiedliche Rechtsauffassungen, was den
Schutz der Privatsphäre von Menschen, auch denen ohne
deutschen Pass, angeht .
({5})
Wir hingegen sagen: Bürger- und Menschenrechte sind
unteilbar .
({6})
Wir sagen: Dieses Gesetz ist ein Geschenk für den BND,
weil er jetzt auch in Deutschland legal ans Kabel darf,
und zwar auch dann, wenn es keinen konkreten Verdacht
gibt . Nun braucht der Bundesnachrichtendienst nicht länger gewöhnliche deutsche Staatsbürger zu Funktionsträgern umzudefinieren, um sie bespitzeln zu können. Jetzt
darf er es - ganz legal . Nun braucht der BND nicht mehr
Satellitendaten für außerirdisch zu erklären, um sie abzufangen . Er darf es jetzt einfach - ganz legal .
Die anlasslose und umfassende politische Spionage
gegen Hilfsorganisationen, Presse, Regierungen in europäischen Ländern und Bürgerinnen und Bürger wird
durch dieses Gesetz ermöglicht . Es ist nicht so, dass
dies nur die ungeliebte Opposition sagt . Unterschiedliche Nichtregierungsorganisationen wie Reporter ohne
Grenzen, Amnesty International und die drei Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen haben Ihren Gesetzentwurf gerügt . Die bisherige Praxis, die nun legalisiert
werden soll, wurde von anerkannten Juristen und nicht
zuletzt von Deutschlands oberster Datenschützerin immer wieder als schlichtweg illegal angeprangert . Wie reagieren Sie darauf? Sie belohnen den Geheimdienst mit
mehr Befugnissen für Massenüberwachungen .
Nun werden Sie mir vermutlich erklären, dass ein
toller Filter den sogenannten deutschen Kommunikationsverkehr automatisch aussortieren wird . Aber das ist
Augenwischerei; Sie wissen es . Lesen Sie die Gutachten!
Wenn nur 5 Prozent durchrutschen, bleiben - am Beispiel
von diesem Jahr - am Schluss 34 Millionen Gigabyte
Daten, die auch deutsche Staatsbürger und Staatsbürgerinnen betreffen können.
({7})
Sie haben vorhin gesagt - Sie wiederholen das sehr
gerne -, wir kritisierten diesen Gesetzentwurf nur, weil
wir Geheimdienste abschaffen wollten. Ich sage Ihnen:
Die Dienste haben sich selbst ins Unrecht gesetzt .
({8})
Sie sind eine Gefahr für die Demokratie . Der Bundesnachrichtendienst hat sich Jahrzehnte nicht an Recht und
Gesetz gehalten . Im Falle des NSU-Komplexes hat der
Dienst selbst den Terror erst ermöglicht . Sie wissen, was
Sie heute beschließen. Sie schaffen das Fernmeldegeheimnis in Artikel 10 des Grundgesetzes faktisch ab .
({9})
Sie täuschen wissentlich die Öffentlichkeit, so wie der
BND jahrelang wissentlich das Parlament getäuscht hat .
Frau Kollegin Renner, denken Sie an die Redezeit?
Nur noch zwei Sätze, dann bin ich fertig . - Sie nennen
es Reform, wir nennen es die Legalisierung massenhafter Grundrechtsverletzungen . Sie machen das Parlament
zum Erfüllungsgehilfen der Geheimdienste . Das halte ich
einer Demokratie und eines Rechtstaats für unwürdig .
Danke schön .
({0})
Das Wort hat jetzt Christian Flisek, SPD-Fraktion .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Große Koalition hat einen gut ausverhandelten, detaillierten Koalitionsvertrag . Dieser Koalitionsvertrag
war der bisherige Fahrplan für fast alle Gesetzesvorhaben dieser Regierung . Er wird es mit Sicherheit auch
noch bis zum Ende der Legislaturperiode bleiben .
({0})
Gleichwohl beraten wir mit dem heute im Entwurf vorliegenden BND-Reformgesetz ein Vorhaben, das sich
so nicht in diesem Koalitionsvertrag findet. Das hat
gute Gründe; denn den Urknall für diese Reform finden
wir in der Arbeit des 1 . Untersuchungsausschusses der
18 . Wahlperiode, des sogenannten NSA-Untersuchungsausschusses, des Deutschen Bundestages .
({1})
- Ein bisschen, ja . Wir reden jetzt über die BND-Reform,
Herr Kollege Binninger . Ich denke, wir sind uns einig,
dass die wesentliche Arbeit im NSA-Untersuchungsausschuss geleistet wurde .
({2})
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen, in diesem Ausschuss - das ist bereits erwähnt
worden - wurden in über zweieinhalbjähriger Arbeit all
jene Erkenntnisse zutage gefördert, die wir heute zu einer
umfassenden Reform des Rechts des Bundesnachrichtendienstes verdichten . Zur Wahrheit gehört auch, dass uns
diese Erkenntnisse im Untersuchungsausschuss weder
vom Bundesnachrichtendienst noch vom Bundeskanzleramt auf dem Silbertablett serviert wurden .
({3})
Wir mussten sie uns in über 115 Sitzungen mit über
100 Zeugen und mit über 2 000 zum Teil schwer lesbaren Akten mühsam erarbeiten . Ich möchte aber betonen,
dass mit diesem Untersuchungsausschuss der Deutsche
Bundestag bisher weltweit das einzige Parlament ist, das
sich nach den Veröffentlichungen von Edward Snowden
so gründlich und so intensiv mit dieser Thematik befasst
hat .
({4})
Die Defizite innerhalb des Bundesnachrichtendienstes, die der Untersuchungsausschuss aufgedeckt hat,
waren und sind massiv . Da geht es etwa um die Ausland-Ausland-Verkehre - das ist angesprochen worden;
das findet sich auch im Titel dieses Gesetzes wieder -;
das sind beispielsweise E-Mails, die ihren Ursprung im
Ausland haben, bei denen also der Absender im Ausland
ist, mit einem Empfänger im Ausland . Bei der strategisch
wichtigen Überwachung solcher Verkehre agierte der
Bundesnachrichtendienst bisher in einer Dunkelkammer .
Das setzte sich fort in einer völlig unzureichenden
Kontrolle dieses immer wichtiger werdenden Tätigkeitsbereichs durch das Bundeskanzleramt . Wir haben
erst gestern einen Referatsleiter als Zeugen im UnterMartina Renner
suchungsausschuss gehört, dessen Aufgabe es war, die
Abteilung TA zu kontrollieren, wenn man so will, die
Aufsicht auszuüben .
({5})
Zwischen 2013 und 2015 - ich sage es Ihnen - fand sich
da zum Thema Selektoren relativ wenig .
Innerhalb des Bundesnachrichtendienstes entwickelten sich über Jahre hinweg auch völlig abstruse Rechtsinterpretationen . Die berühmteste ist die Weltraumtheorie,
die auch durch die Medien geisterte . Ich glaube, das alles
waren Interpretationen des geltenden Rechts mit einem
einzigen Ziel, sich nämlich des Ballasts des deutschen
Rechts zu entledigen .
Wir haben eklatante organisatorische Missstände in
der Abteilung Technische Aufklärung festgestellt . Wir
haben bis tief in diese Legislaturperiode hinein eine Informationspolitik des Bundeskanzleramts gehabt, zu der
man in Bezug auf die Aufarbeitung dieser Missstände sagen kann: Das war alles andere als proaktiv .
Meine Damen und Herren, ich denke, dass die sozialdemokratische Fraktion die einzige Fraktion in diesem
Hause war, die zu einem sehr frühen Zeitpunkt die richtigen Schlüsse aus dieser unerträglichen Situation gezogen
hat .
({6})
Wir haben im Sommer 2015 ein Eckpunktepapier auf
den Tisch gelegt, in dem nicht nur die damals bekannten
Mängel klar benannt worden sind; wir haben auch konkrete Lösungsvorschläge vorgelegt .
({7})
Wir hätten uns gewünscht, dass die anderen sich mit Vorschlägen beteiligen; aber da gab es nichts,
({8})
obwohl die Erkenntnisse auf dem Tisch lagen . Man war
unisono die Meinung: Lassen Sie uns doch abwarten, bis
der Untersuchungsausschuss seinen Abschlussbericht
vorlegt! - Für uns war klar: Der Abschlussbericht wird
mit hoher Wahrscheinlichkeit mit dem Ende der Legislaturperiode zusammenfallen . Ob dann irgendeine Empfehlung in der nächsten Legislaturperiode aufgegriffen
wird, das steht in den Sternen . - Deswegen haben wir gesagt: Wir gehen bereits, wenn die Erkenntnisse auf dem
Tisch liegen, mit einem Eckpunktepapier an die Öffentlichkeit . Ich sage heute sehr deutlich: Dieses Eckpunktepapier war die Blaupause für die aktuelle Reform .
Meine Damen und Herren, für uns war völlig klar,
dass ein weiteres Zuwarten nicht zumutbar ist, insbesondere nicht für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
des Bundesnachrichtendienstes; denn bei aller Kritik:
In Zeiten zunehmender terroristischer Bedrohungslagen
brauchen wir einen effizient arbeitenden Auslandsnachrichtendienst. Effizient arbeiten kann ein Auslandsnachrichtendienst nur dann, wenn er auf dem Boden rechtsstaatlich abgesicherter Legitimität arbeitet . Hierfür legen
wir heute die Grundlagen .
({9})
Ich möchte einige Punkte ausdrücklich erwähnen:
Jede Datenerfassung muss in Zukunft dem Auftragsprofil
der Bundesregierung für den BND entsprechen . Wir legen heute Standards für den Schutz von EU-Bürgern und
EU-Institutionen fest und stellen diese insoweit Deutschen gleich . Ich möchte das deswegen betonen, weil
das europaweit, weltweit einmalig ist . Wir haben nach
Snowden eine tolle Debatte in Deutschland erlebt . Sie
war ein Stück weit heuchlerisch; denn wir haben festgestellt, dass wir zum Teil ebenso wie alle anderen Dienste
dieser Welt allenfalls die eigenen Bürger schützen, dass
es aber keine Standards für Ausländer gibt . Diese Situation entschärfen wir mit der Verabschiedung des heute
vorliegenden Gesetzentwurfs zumindest für EU-Bürgerinnen und -Bürger . Ich glaube, das ist ein riesengroßer
Schritt .
Wir verbieten ausdrücklich Wirtschaftsspionage .
Wirtschaftsspionage wird verboten . Ich glaube, das ist
für ein Land wie Deutschland existenziell .
Kooperationsvereinbarungen mit anderen Diensten
müssen in Zukunft dem PKGr vorgelegt werden . Auch
hier haben wir eine Dunkelkammer gehabt . Da wird in
Zukunft erheblich mehr Licht reinkommen . Das PKGr
wird in Zukunft in Bezug auf alle Kooperationen informiert werden .
Ich wurde in den letzten Wochen oft gefragt: Kann
man einen Geheimdienst überhaupt kontrollieren? Passt
ein Nachrichtendienst überhaupt in eine parlamentarische Demokratie?
({10})
Ich sage: Ja, nämlich dann, wenn wir sicherstellen, dass
er rechtsstaatlich legitimiert ist . Für eine rechtsstaatliche
Legitimation müssen zwei Voraussetzungen erfüllt sein:
Es darf keinen einzigen Tätigkeitsbereich des Dienstes
geben, der nicht durch klare Rechtsgrundlagen bestimmt
ist, und es darf keinen Tätigkeitsbereich geben, der nicht
einer starken parlamentarischen Kontrolle unterliegt .
({11})
Für diese beiden Voraussetzungen schaffen wir mit diesem Gesetz die Grundlagen . Ich denke, da kann man bei
einiger Kritik im Detail durchaus sagen: Das ist ein mutiger Schritt nach vorne . Herr Ströbele, auch Sie müssen
sagen, dass zu Beginn dieser Legislaturperiode wahrscheinlich keiner darauf gewettet hätte, dass uns das gelingt .
Herzlichen Dank .
({12})
Vielen Dank . - Nächster Redner ist Dr . Konstantin
von Notz, Bündnis 90/Die Grünen .
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts Papier, die OSZE-Beauftragte für die Freiheit
der Medien, die deutschen Presseverbände - Presserat,
Verbände der Journalisten, Zeitungsverleger, Verdi, ARD
und ZDF -, der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen
Bundestages, die drei zuständigen UN-Sonderberichterstatter, Amnesty International, Reporter ohne Grenzen,
verschiedenste namhafte Verfassungsrechtler, vor allen
Dingen die, die in unserer Anhörung waren - all diese
Fachleute sagen: Das Gesetz, dessen Entwurf Sie heute
hier vorlegen, ist verfassungswidrig . Verfassungswidrig!
({0})
Herr Kollege von Notz, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Binninger?
Herr Binninger, Sie reden gleich; aber bitte . Ja .
({0})
Herr Kollege, ich weiß, dass ich gleich selber spreche .
Das ist gut, dass Sie das wissen .
Sie beklagen sich immer, dass Sie zu wenig Redezeit
haben; jetzt haben Sie etwas mehr .
Danke .
Da dieser Punkt nicht Teil meiner Rede ist, Sie ihn
aber gerade angesprochen haben, möchte ich etwas zu
den Sachverständigen sagen, die angeblich alle so harsche Kritik geübt haben .
({0})
Es stimmt, es gab in Teilen Kritik, auch deutliche .
Ja .
Aber man darf in der Öffentlichkeit nicht das Bild erzeugen, das Sie gerade erzeugt haben .
({0})
Ich will Ihnen ein paar Formulierungen von verschiedenen Sachverständigen zu diesem Gesetzentwurf aus
der Anhörung bzw . den Gutachten vorhalten und Sie fragen, wie Sie die bewerten . - Der Sachverständige Bäcker
sagte: Unabhängig vom Inhalt eine bemerkenswerte
Leistung, dass der Bundestag das unternimmt .
({1})
Dann der Sachverständige Wetzling: Ein Reformpaket,
das dem BND Rechtssicherheit gibt . - Der Sachverständige Wolff: Hut ab! Da können die anderen Länder sich
eine Scheibe abschneiden . Das ist erst einmal nachzumachen . - Und der Sachverständige Graulich: Dieser Gesetzentwurf führt das BND-Gesetz - ({2})
- Es scheint ja schlimm zu sein, wenn man die Fakten
vorgehalten bekommt .
({3})
Jetzt seien Sie mal nicht so empfindlich, Herr
Binninger .
Es scheint wirklich schlimm zu sein, wenn man die
Fakten vorgehalten bekommt .
Das letzte Zitat, vom Sachverständigen Graulich, zu
diesem Gesetzentwurf - Sie haben eben andere zitiert -:
Dieser Gesetzentwurf führt das BND-Gesetz „insgesamt auf ein bislang nicht vorhanden gewesenes Niveau
von systematischer Klarheit sowie Regelungsdichte im
Einzelfall“ . - Das waren die Positionen . Ich würde Sie
bitten, diese Positionen, auch wenn Sie sie nicht mögen,
zumindest nicht ganz auszublenden .
({0})
Zunächst einmal, Herr Binninger: Ihre Empfindlichkeit scheint sehr hoch zu sein, wenn Sie es bei einer
Redezeitverteilung von 80 : 20 nicht aushalten, dass die
Opposition eine Minute Ihren großartigen Gesetzentwurf
kritisiert .
({0})
- Bleiben Sie ruhig stehen, Herr Binninger!
({1})
- Nein . Seien Sie geduldig!
Natürlich haben Sie Sachverständige benannt, die Ihren Gesetzentwurf nicht nur in Bausch und Bogen verurteilt haben . Nicht nur!
({2})
Herr Graulich hat Ihnen ja schon Gefälligkeitsgutachten
zu den NSA-Selektoren geschrieben .
({3})
Aber der Kollege Bäcker, den Sie angesprochen haben,
hat Ihnen klipp und klar gesagt - so wie alle anderen,
die ich eben zitiert habe, wie der ehemalige Präsident
des Bundesverfassungsgerichts Papier -: Der von Ihnen
vorgelegte Gesetzentwurf ist verfassungswidrig . - Daran
kommen Sie nicht vorbei . Das ist bitter . Nehmen Sie es
hin!
Sie reden von großartigen Blaupausen wie vorhin der
Kollege Flisek . Frau Warken erklärt das zu einem europäischen Projekt . Das zeigt, wie grotesk die Selbstwahrnehmung der Großen Koalition inzwischen ist, meine
Damen und Herren .
({4})
Vor mehr als drei Jahren veröffentlichte Edward
Snowden Unterlagen zum globalen System der anlasslosen Massenüberwachung . Im Bundestagswahlkampf
kamen bald unangenehme Fragen auf: Was weiß die
Bundesregierung davon? Sind deutsche Dienste in dieses System involviert? Werden Bürger und Unternehmen ausreichend geschützt? - Diese Fragen kamen dem
Bundeskanzleramt sehr ungelegen, weil ja Bundestagswahlkampf war, und die Antworten von Frau Merkel und
Herrn Pofalla lauteten: Das ist ja alles ungeheuerlich .
Davon wissen wir gar nichts . Ausspähen unter Freunden,
das geht gar nicht . Sollte etwas davon stimmen, dann haben wir damit nichts zu tun . Deutsche Bürger und Unternehmen werden geschützt . Niemand muss sich sorgen,
und falls doch: Wir verhandeln - das versprechen wir ein No-Spy-Abkommen .
({5})
Nach drei Jahren Untersuchungsausschuss wissen
wir: All das entsprach nicht der Wahrheit .
({6})
Die deutschen Geheimdienste sind zentraler und wichtiger Akteur in der Überwachungsmaschinerie der FiveEyes-Staaten . Die von ihnen eingesetzten Systeme und
Programme sind identisch mit denen der USA, wie sich
aus den Snowden-Unterlagen ergibt . Anlasslos und massenhaft werden auch vom Bundesnachrichtendienst global Daten erfasst . Diese Daten werden mit Millionen von
Selektoren gerastert, und 90 Prozent dieser Selektoren
haben rein gar nichts mit Terrorismus zu tun .
Durch den weitreichenden Datenaustausch untereinander läuft die Kontrolle leer . Ausspähen unter Freunden,
das geht volle Kanne . Das ist die Wahrheit beim BND .
({7})
Das Ganze ist auch noch Baustein eines Drohnenkrieges,
an dem Deutschland über diesen Datenaustausch beteiligt ist .
({8})
All das wurde an den Kontrollgremien vorbei organisiert .
Sie wurden belogen und hinter die Fichte geführt . So haben Sie die digitale Welt zum grundrechtsfreien Raum
erklärt . Dieser Zustand, an dem die deutschen Dienste
beteiligt sind, dauert bis heute an . Das ist inakzeptabel,
meine Damen und Herren .
({9})
Obwohl wir das alles wissen, zeigen Sie bis heute mit
dem Finger in Richtung USA und legen den Entwurf
eines Gesetzes vor, das die Probleme verschärft: Er ist
voller unklarer Rechtsbegriffe. Sie geben darin die Beschränkung der Fernmeldeüberwachung auf und trauen
sich nicht, Artikel 10 auch nur anzusprechen . Aufgrund
der mangelhaften und völlig disfunktionalen Filter, die
wir haben, verletzen Sie seit über zehn Jahren die Grundrechte von Millionen von Deutschen, und zwar täglich .
Auch daran ändern Sie nichts .
({10})
Es stimmt: Wir brauchen effiziente, gute und moderne Geheimdienste, und gerade der Auslandsnachrichtendienst muss funktionieren . Aber er muss vor allen Dingen rechtsstaatlich sein .
({11})
Die Grund- und Menschenrechte unserer Verfassung sind
kein Störfaktor beim Kampf gegen den Terrorismus, sondern die Grundlage dafür .
({12})
Neben all dem Streit, der in dieses Haus und zu jeder guten Demokratie gehört, ist es etwas irritierend,
wie verbohrt Ihre Selbstwahrnehmung ist . Die Anhörung
zu diesem Gesetzentwurf war für Sie ein Desaster, Herr
Binninger .
({13})
Sie ignorieren, dass Ihnen die zuständige Kontrollbehörde, die Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die
Informationsfreiheit, ein verheerendes Zeugnis für den
Bundesnachrichtendienst ausgestellt hat . Alles ist klipp
und klar verfassungswidrig . Diese Praxis wollen Sie hier
legalisieren . Das ist inakzeptabel . Sie werden beklagt:
von der unbequemen Opposition, aber auch von der
G-10-Kommission . Seit neuestem werden Sie vom größten Internetknotenpunkt, dem DE-CIX, beklagt, gestützt
auf ein Gutachten von Herrn Professor Papier .
Drei Jahre nach Snowden haben wir ein handfestes Legitimationsproblem . Das desaströse Ansehen des
BND kann man eben nicht bei den Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern abladen . Die Verantwortung trägt die Politik . Deswegen wäre es Aufgabe dieses Parlaments, zu
zeigen, dass wir aus der Vergangenheit lernen und diese
Fehler korrigieren . Dazu leisten Sie keinen Beitrag . Ich
prophezeie Ihnen: Dieses Gesetz wird vor dem EuGH
und vor dem Bundesverfassungsgericht scheitern . Deswegen ist heute ein schlechter Tag für die Arbeit der
Geheimdienste, für den Deutschen Bundestag sowie für
unseren Rechtsstaat und die Demokratie . Das ist sehr bedauerlich .
Ganz herzlichen Dank .
({14})
Vielen Dank . - Der Kollege Clemens Binninger hat
jetzt Gelegenheit, seine Ansichten dazu darzulegen . Aber
ich darf ihn bitten, das im Rahmen der vorgegeben Redezeit zu tun .
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege von Notz, ich hätte mir gewünscht, dass
wir bei einer so wichtigen Debatte über die Regelung einer schwierigen Materie, bei der es keine einfachen und
schnellen Antworten gibt,
({0})
einen politischen Streit in der Sache hätten führen können . Stattdessen gab es eine Aneinanderreihung von
Polemik und selektiver Wahrnehmung . Das trägt nichts
dazu bei, aber auch gar nichts .
({1})
Es stimmt: Vor drei Jahren hat dieses Thema durch die
Enthüllungen von Snowden Bedeutung gewonnen .
({2})
Dann kam die Arbeit des NSA-Untersuchungsausschusses, in dem Kolleginnen und Kollegen aller Fraktionen
bewundernswerte Arbeit leisten . Dann kam die Arbeit
der Taskforce des Parlamentarischen Kontrollgremiums,
die die Selektorenpraxis des BND untersucht hat .
({3})
Dann konnte und musste man kritisieren, weil vieles
nicht in Ordnung war . Man durfte, wenn man wollte,
„Skandal“ schreien . Das bleibt jedem selbst überlassen .
({4})
Ich bin da immer etwas differenzierter. Aber kritisieren
musste man .
Drei Jahre danach wäre es jedoch angebracht, sich
nicht mehr krampfhaft an den Sommer 2013 zu erinnern
und nicht dauernd zurückzublicken, sondern zu fragen:
Wohin führt der Weg jetzt? Was tun wir, damit sich diese
Dinge nicht wiederholen? Wie schaffen wir einen guten
Rechtsrahmen für den BND? - Das wäre der Schwerpunkt einer guten Debatte .
({5})
- Ganz ruhig .
Ich benenne die Kritikpunkte:
({6})
eine unzureichende Kontrolle durch das Kanzleramt in
der Vergangenheit - das haben wir auch als PKGr gesagt -,
({7})
fehlende Richtlinien und Anweisungen für die Umsetzung der technischen Aufklärung und eine Rechtsgrundlage, Herr Kollege von Notz, die fast nichts verboten hat,
weil sie generalklauselartig war und es deshalb immer
Auslegungssache war . Das war der Grund .
({8})
Die Mitarbeiter haben sich nicht per se rechtswidrig verhalten . Sie waren in der ganz unglücklichen Situation,
dass es nur einen Paragrafen gab, nach dem Motto: Wenn
es euch hilft, dürft ihr alles . - So kann man das zusammenfassen . Das hat sie in diese Problemlage gebracht .
Das korrigieren wir, indem wir eine präzise Rechtsgrundlage geben .
({9})
Der vierte Kritikpunkt ist eine unzureichende parlamentarische Kontrolle . Dazu haben wir unter dem ersten TOP
einen Beschluss gefasst und etwas geändert .
Wir reformieren das BND-Gesetz . Ich habe vorhin
aus gutem Grund die Sachverständigen genannt . Ja,
sie haben auch Kritik geübt, vor allen Dingen an zwei
Punkten: zum einen am unabhängigen Gremium, das die
Selektorenpraxis überprüfen soll . Alle haben gesagt: Verfassungsrechtlich ist das unproblematisch . Man kann es
aber so oder anders sehen .
({10})
Einige Sachverständige fragten auch: Warum zitieren Sie
nicht Artikel 10?
({11})
Aber nennen Sie mir bitte, bevor Sie hier ein Szenario
malen, das den Eindruck erweckt, dass in diesem Land
alles drunter und drüber geht - das Gegenteil ist der
Fall -, ein Parlament auf der Welt, das sich so intensiv
mit solchen Vorgängen befasst!
({12})
Nennen Sie mir eine Regierung auf dieser Welt, die ein
Gesetz für ihren Nachrichtendienst vorgelegt hat!
({13})
Nennen Sie mir ein Parlament, das genauso die Konsequenzen gezogen hätte wie wir! Nennen Sie es! Es gibt
keines . Dann haben wir, glaube ich, einen guten Job gemacht .
({14})
Herr Kollege von Notz - über diese sehr anspruchsvolle Rechtsfrage würde ich gerne eine Diskussion führen -, gilt Artikel 10 - unser Fernmeldegeheimnis - auch
in einer Krisenregion wie Rakka, wo der IS herrscht? Darum geht es doch .
({15})
Bei der Auslandsüberwachung geht es darum, dass der
BND - eine andere Chance hat er nicht - Datenströme
zwischen zwei ausländischen Gesprächspartnern im
Ausland bzw . in einer Krisenregion analysieren können
muss . Wie wollen wir denn Terrorverdächtige entdecken,
wenn nicht so? Deshalb brauchen wir die in Rede stehende Maßnahme .
({16})
Herr Kollege Binninger, gestatten Sie jetzt eine Frage
des Kollegen von Notz?
Alles andere hätte mich überrascht . Ich gestatte sie
natürlich .
({0})
Das ist dann die Verlängerung Ihrer Redezeit .
Unsere Absprache wird jetzt offenkundig, Herr Kollege Binninger .
Irgendwann kommt’s raus .
Ich tue Ihnen den Gefallen . - Sie haben von Rakka geredet . Der Kollege Flisek hat vorhin meiner Ansicht nach
unzutreffend gesagt, die Europäer wären nun geschützt.
({0})
Ist es denn so, dass europäische Selektoren nicht mehr
gesteuert werden können? Schließen Sie das aus? Es gab
kein einziges europäisches Land, das nicht betroffen war.
Sagen Sie, dass das in Zukunft nicht mehr der Fall ist?
Geht Ausspähen unter Freunden nicht mehr, oder geht es
doch durch dieses Gesetz unter bestimmten Voraussetzungen? Dann bekennen Sie sich auch dazu, und reden
Sie nicht von Rakka .
({1})
Herr Kollege von Notz, natürlich geht es im Schwerpunkt um Krisenregionen wie Rakka, wo der IS sein Terrorregime etabliert hat .
({0})
Wir schließen im Gesetz aus, dass europäische Bürger
davon betroffen sind, es sei denn, es handelt sich um Terrorverdächtige . Wir garantieren doch keine Immunität .
({1})
Viele Terrorverdächtige kommen doch aus Europa .
5 000 IS-Kämpfer stammen aus Europa . Diese wollen
Sie als Grüne doch nicht ernsthaft schützen . Oder muss
ich Sie anders verstehen?
({2})
Herr Kollege von Notz, Sie können von mir aus auch
sitzen bleiben, obwohl ich die Beantwortung Ihrer Frage
noch nicht beendet habe . Ich sage es trotzdem .
Herr von Notz, wenn Herr Binninger noch auf Ihre
Frage antwortet, bitte ich Sie, aufzustehen .
({0})
Noch einen Satz . Wir schützen EU-Bürger und EU-Institutionen, wenn es um die strategische Fernmeldeaufklärung geht . Wenn sich aber EU-Bürger oder jemand
anders dem Verdacht der Proliferation oder des internationalen Terrors aussetzen,
({0})
dann schützen wir sie nicht . Es wäre doch verrückt, zu
sagen: Ein belgischer Terrorverdächtiger ist geschützt,
nur weil er EU-Bürger ist .
({1})
Wir haben hier eine klare und gute Differenzierung gefunden . Wenn es Bezüge zum Aufgabenfeld des BND gibt,
kann es im Interesse unserer Sicherheit keinen Schutz
geben . Wenn das aber nicht der Fall ist, sind EU-Bürger
geschützt . Das ist ein gewaltiger Schritt nach vorne .
({2})
- Über Terror zu reden, ist sicherlich nicht unseriös, Herr
Kollege von Notz .
Analog zum Kollegen Schuster, der vorhin einen flotten Spruch gemacht hat: Einerseits hätten Sie von den
Grünen gerne leistungsfähige Nachrichtendienste .
({3})
Andererseits müssen Sie bei Ihrer Community Radau
machen und sagen: Das alles ist ganz schlimm . - Den
Nutzen aus der Arbeit der Nachrichtendienste hätten Sie
schon gerne . Sie trauen sich nur nicht, das so richtig zu
sagen . Was Sie da machen, ist für mich Heldentum nach
Ladenschluss .
({4})
Sie behaupten, dass wir nun Dinge erlauben, die vorher verboten waren . Das stimmt einfach nicht .
({5})
Ich kann nur jedem empfehlen, insbesondere Ihnen, Frau
Renner: Legen Sie die beiden Gesetzentwürfe nebeneinander . Schauen Sie, was zuvor geregelt war . Zuvor gab
es nur einen Paragrafen, eine Generalklausel . Schauen
Sie, was wir nun regeln . Wir regeln nun die Anordnungswege im BND und im Kanzleramt . Es gibt ein Richtergremium, das die Selektoren prüft. Wir haben klare Definitionen, mit denen wir Aktivitäten wie Wirtschaftsspionage
ausschließen . EU-Bürger werden geschützt, und wir haben einen Paragrafen für den Kernbereichsschutz .
Man kann dann immer noch sagen: Politisch gefällt
mir das nicht . - Einverstanden, dafür sind wir unterschiedliche Parteien . Aber zu sagen, jetzt wird erlaubt,
was vorher verboten war, ist Unfug und unseriös . Ich bitte Sie wirklich, das zu lassen .
({6})
Vielen Dank . Das war jetzt vorbildlich . - Für die
SPD-Fraktion hat jetzt die Kollegin Gabriele Fograscher
das Wort .
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
In dieser Auseinandersetzung um die Nachrichtendienste geht es im Kern um drei Fragen . Die erste: Brauchen
wir Nachrichtendienste? Da sagen wir von den Koalitionsfraktionen uneingeschränkt Ja . Angesichts von mehr
als 1 000 Toten in den letzten Jahren durch Anschläge in
Deutschland und Europa, angesichts der weiterhin hohen
Bedrohungslage durch den internationalen Terrorismus,
zunehmender Cyberattacken, international organisierter
Kriminalität und nicht zuletzt zum Schutz unserer Soldatinnen und Soldaten im Ausland können wir auf die
Erkenntnisse der Nachrichtendienste nicht verzichten .
Die zweite Frage ist: Was dürfen diese Dienste? Im
demokratischen Rechtsstaat gilt auch für die Dienste das
Prinzip: Maßnahmen müssen erforderlich, verhältnismäßig und geeignet sein . Dieses Prinzip setzen wir jetzt für
die strategische Fernmeldeaufklärung um . Für die unverzichtbare Zusammenarbeit mit anderen Diensten schaffen wir klare Voraussetzungen .
Die dritte Frage: Wer kontrolliert, und ist diese Kontrolle effektiv? Auch darüber haben wir vorhin schon diskutiert. Wir schaffen einen ständigen Bevollmächtigten
mit einem Arbeitsstab, der die Mitglieder des ParlamenClemens Binninger
tarischen Kontrollgremiums bei ihren Kontrollaufgaben
unterstützt .
Mit beiden Gesetzen, die wir heute beschließen, ziehen wir die Konsequenzen aus den durch den NSA-Untersuchungsausschuss, aber auch durch die PKGr-eigenen Untersuchungen aufgedeckten Fehlentwicklungen
der letzten Jahre. Wir schaffen mit dem Gesetz zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung klare Regelungen
für den Bundesnachrichtendienst . Wir verbieten Wirtschaftsspionage, wir schützen alle EU-Bürger und -Institutionen, wir schaffen die Voraussetzung für effektive
Kontrolle und definieren die Verantwortlichkeiten. Damit
sind wir Vorreiter . Kein anderes Land in Europa, ja weltweit, hat bisher solche gesetzlichen Regelungen für seine
Dienste .
Was die Verfassungsmäßigkeit anbetrifft, die von Ihnen, Herr von Notz, und einigen Organisationen angezweifelt wird - Sie haben sie alle genannt -,
({0})
so sehen wir dem gelassen entgegen . Die Verfassungsmäßigkeit stellen nicht die Grünen oder die Linken fest,
sondern das Bundesverfassungsgericht .
({1})
Das Bundesverfassungsgericht wird darüber entscheiden
müssen, wie weit das Grundgesetz und damit auch Artikel 10, das Fernmeldegeheimnis, geht .
Wenn man die Notwendigkeit von Nachrichtendiensten bejaht, dann muss man auch dafür sorgen, dass sie
personell, technisch und finanziell so ausgestattet sind,
dass sie ihren Beitrag zur Sicherheit der deutschen Bürgerinnen und Bürger im In- und Ausland leisten können .
Auch dafür sorgt die Koalition im Haushalt 2017 .
Mit den Gesetzen zur Fortentwicklung der parlamentarischen Kontrolle und der Fernmeldeaufklärung des
BND schaffen wir mehr Rechtssicherheit, mehr demokratische Kontrolle und für die Zukunft weniger Anlass
zu Skandalisierungen . Ich bitte Sie um Zustimmung .
Danke schön .
({2})
Vielen Dank . - Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist jetzt die Kollegin Andrea Lindholz, CDU/
CSU-Fraktion .
({0})
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrte
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute wollen wir aus der Aufklärungsarbeit im NSA-Untersuchungsausschuss und auch im Parlamentarischen
Kontrollgremium unsere Konsequenzen ziehen und die
weitreichendste Reform des BND-Gesetzes seit Jahrzehnten beschließen . Mit den heute verabschiedeten Gesetzen stärken wir die parlamentarische Kontrolle, wir
verbessern die Regierungsaufsicht, und wir sorgen für
mehr Rechtssicherheit für den BND; denn Rechtssicherheit und Kontrolle schaffen auch Vertrauen.
Nachdem ich vorhin wieder einmal vernommen habe,
dass man von einem desaströsen Ansehen des BND gesprochen hat, möchte ich an dieser Stelle sagen: Ich bedanke mich heute ganz herzlich bei allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern unserer Nachrichtendienste, auch
des BND, für ihre Arbeit und möchte es nicht zulassen,
dass sie unter einen permanenten Generalverdacht gestellt werden .
({0})
Die parlamentarische Kontrolle unserer drei Nachrichtendienste haben wir bereits mit der vorhin beschlossenen Reform des PKGr-Gesetzes massiv gestärkt . Die
nun vorliegende Reform des BND-Gesetzes stellt die
Überwachung von Ausländern im Ausland von Deutschland aus auf eine völlig neue Rechtsgrundlage; denn der
BND agierte hier bisher in einer rechtlichen Grauzone .
Wir haben das immer wieder gehört, als wir im NSA-Untersuchungsausschuss sowohl Rechtsexperten als auch
verantwortliche Mitarbeiter in den Behörden - auch verantwortliche Juristen dort - angehört haben .
Wenn wir feststellen, dass Rechtsunsicherheit besteht,
ist es Aufgabe der Politik, Rechtssicherheit zu schaffen.
Das tun wir mit diesem Gesetz . Wir sind das einzige
Land, das Konsequenzen aus den Skandalen zieht, die
auch durch die Enthüllungen von Edward Snowden aufgedeckt wurden . Auch das will ich an dieser Stelle sagen:
Kein anderes Land hat bisher diesen Rechtsbereich geregelt und sich an solche Regelungen herangetraut .
Die Auslandsaufklärung ist für den BND unverzichtbar, um Terrorismus, organisierte Kriminalität und die
Verbreitung von Massenvernichtungswaffen effektiv bekämpfen zu können . Auch die Zusammenarbeit mit anderen Nachrichtendiensten ist unerlässlich . Dazu werden
wir heute ebenfalls Regelungen verabschieden . Wir haben gerade in diesen Tagen sowie in den letzten Wochen
und Monaten erlebt, wie wichtig die Zusammenarbeit
mit anderen Nachrichtendiensten ist und dass leistungsfähige Nachrichtendienste in Deutschland und Europa
unverzichtbar sind .
Wer Sicherheit anders gewährleisten will, der muss sagen, wie das in der Praxis zuverlässig funktionieren soll .
Aus unserer Sicht kann man Freiheit und Sicherheit nur
mit leistungsfähigen Nachrichtendiensten gewährleisten .
({1})
Diese Reform legitimiert keine möglichen Rechtsverstöße in der Vergangenheit, sondern sie schafft für die
Zukunft klare Regelungen . Das stärkt das Vertrauen in
die Arbeit des BND, und es gibt auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Rechtssicherheit . Der Gesetzgeber
ist gehalten, so zu formulieren, dass wir den wehrhaften
Rechtsstaat sichern und hier auch ein ausgewogenes Verhältnis ausbalancieren .
Wir schaffen ein neues unabhängiges Gremium, das
künftig die Anordnungen kontrolliert. Wir schaffen ein
neues schlankes Anordnungsverfahren, das für klare VerGabriele Fograscher
antwortlichkeiten zwischen dem Kanzleramt und dem
BND sorgt und auch die Regierungsaufsicht verbessert .
Wir formulieren die Kooperation mit fremden Diensten
erstmals aus und stellen sie auf eine Rechtsgrundlage .
Wir regeln die in diesem Zusammenhang bestehende
automatisierte Datenübermittlung, die gemeinsame Datenerhebung . Wir ziehen neue Grenzen für den Einsatz
von Suchbegriffen - auch im Rahmen der europäischen
Kooperation - ein . Wir legen erstmals Speicherfristen
sowohl für die Anordnung als auch für die Daten, die erhoben werden, fest .
Das alles, meine sehr geehrten Damen und Herren, ist
wichtig, um den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der
Zukunft klare Handlungsanweisungen zu geben, wie wir
als Gesetzgeber uns das vorstellen .
Ja, Herr Kollege Notz, Artikel 10 des Grundgesetzes da geht es um das Fernmeldegeheimnis - wollen wir
nicht im BND-Gesetz verankern .
({2})
Dazu mag man unterschiedlicher Rechtsauffassung sein,
aber für uns gilt der Geltungsbereich unseres Grundgesetzes nicht universell, sondern er gilt auf Deutschland
bezogen - auf unser Staatsgebiet, auf die Deutschen und
die Staatsgewalt .
Mit dem neuen § 6 des BND-Gesetzes wird eine ganz
klare Zuständigkeit für das Verbot der Überwachung
Deutscher aufgenommen, es wird eine klare Regelung
im Verhältnis zu den europäischen Mitbürgerinnen und
Mitbürgern aufgenommen, und es wird eine deutliche
Abgrenzung dieses Gesetzes zum Artikel 10-Gesetz vorgenommen . Das ist der richtige Weg . Man kann der Auffassung sein, es anders haben zu wollen; aber dass wir
das regeln, ist der richtige Weg .
Ich sehe hier - auch weil wir es gut begründen - keine Verfassungswidrigkeit . Wenn mir zehn Juristen sagen würden, dass sie das für verfassungswidrig halten,
würden wir, glaube ich, auch andere finden, die sagen
würden: Genau das ist verfassungsgemäß, weil es nicht
willkürlich erfolgt, sondern gut begründet ist .
Wenn ich an die letzten drei Jahre zurückdenke: Wie
oft haben Sie schon „Verfassungswidrig!“ geschrien?
Bis jetzt ist keine einzige Ihrer Klagen, die im Zuge des
NSA-Skandals erhoben worden ist, durchgegangen . Sie
alle sind abgewiesen worden, und ich sehe auch heute
diesem Vorwurf der Verfassungswidrigkeit ganz gelassen
entgegen .
Ich bitte Sie, auch dem BND-Gesetz - dem anderen
Gesetz haben wir schon zugestimmt - zuzustimmen . Ich
glaube, es ist eine gute Reform, es ist eine wichtige Reform .
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit .
({3})
Vielen Dank . - Damit ist die Aussprache beendet .
Wir kommen zur Abstimmung über den von den Frak-
tionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Gesetz-
entwurf zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung des
Bundesnachrichtendienstes .
Zu dieser Abstimmung liegt eine Erklärung nach § 31
unserer Geschäftsordnung vor .1)
Der Innenausschuss empfiehlt unter Buchstabe a sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/10068, den
Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD
auf Drucksache 18/9041 anzunehmen . Ich bitte dieje-
nigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um
das Handzeichen . - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koa-
litionsfraktionen bei Ablehnung der Opposition und zwei
Gegenstimmen aus der SPD angenommen .
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung . Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben . -
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetz-
entwurf ist in dritter Lesung mit dem gleichen Stimmen-
verhältnis angenommen .
Abstimmung über die Beschlussempfehlung des In-
nenausschusses zu dem Gesetzentwurf der Bundesre-
gierung zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung des
Bundesnachrichtendienstes . Der Innenausschuss emp-
fiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 18/10068, den Gesetzentwurf der Bundesre-
gierung auf Drucksachen 18/9529 und 18/9854 für erle-
digt zu erklären . Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit
ist die Beschlussempfehlung einstimmig angenommen .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe die Zusatz-
punkte 10 a und 10 b auf:
a) - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Flexibilisierung
des Übergangs vom Erwerbsleben in den
Ruhestand und zur Stärkung von Prävention und Rehabilitation im Erwerbsleben
({0})
Drucksache 18/9787
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({1})
Drucksache 18/10065
- Bericht des Haushaltsausschusses ({2}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
Drucksache 18/10066
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({3})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Matthias W .
Birkwald, Sabine Zimmermann ({4}),
1) Anlage 3
Klaus Ernst, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE
Statt Rente erst ab 67 - Altersgerechte
Übergänge in die Rente für alle Versicherten erleichtern
- zu dem Antrag der Abgeordneten Markus
Kurth, Brigitte Pothmer, Beate MüllerGemmeke, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Flexible und sichere Rentenübergänge ermöglichen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Markus
Kurth, Britta Haßelmann, Kordula SchulzAsche, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Kommunales Ehrenamt stärken - Anrechnung von Aufwandsentschädigungen auf
die Rente neu ordnen
Drucksachen 18/3312, 18/5212, 18/5213,
18/10065
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . - Ich höre hier
keinen Widerspruch . Dann ist so beschlossen .
Ich darf Sie bitten, Ihre Plätze einzunehmen, und bitte
diejenigen Kollegen, die jetzt andere Aufgaben haben,
den Plenarsaal zu verlassen und ihre Gespräche außerhalb des Plenarsaals fortzusetzen .
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dr . Martin Rosemann, SPD-Fraktion . - Bitte schön .
({5})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist schon
bemerkenswert: Nahezu überall, wo man hinkommt und
über das Gesetz zu flexiblen Übergängen diskutiert, sind
die Rückmeldungen positiv . Das gilt vor allem für die
Verbesserungen bei Prävention und Rehabilitation . Der
Erste Direktor der Rentenversicherung Baden-Württemberg, Andreas Schwarz, hat in einem Interview mit den
Stuttgarter Nachrichten Folgendes gesagt - ich zitiere -:
Sehr positiv ist auch, dass mit dem Gesetz auch Präventions- und Rehaleistungen verbessert werden,
damit die Menschen auch in die Lage versetzt werden, länger zu arbeiten . Sehr positiv sehe ich auch
den berufsbezogenen Gesundheitscheck mit 45 .
Es wird nicht mehr nur gewartet, bis jemand einen
Rehaantrag stellt, sondern die Rentenversicherung
kann auf Leute zugehen, die eine Reha brauchen,
sich aber nicht selbst melden .
({0})
Auch bei der Anhörung des Ausschusses für Arbeit
und Soziales am Montag dieser Woche waren die Rückmeldungen vieler Sachverständiger positiv .
Ich darf Christof Lawall von DEGEMED zitieren:
Das ist intelligente Sozialpolitik, die jetzt auf den
demografischen Wandel reagiert und die richtigen
Akzente setzt und den Rentenversicherungsträgern
auch die Möglichkeit gibt, offensiv mit diesem Thema umzugehen .
Alwin Baumann vom „Bündnis Kinder- und Jugendreha“ sagte:
Ich kann Ihnen letztendlich sagen, ich bewerte diese Änderung als wirklich historisch - nämlich, dass
Kinder und Jugendliche Erwachsenen gleichgestellt
werden, dass wir eine Pflichtleistung haben, dass
wir die Möglichkeit der Nachsorge haben usw .
({1})
Tatsächlich, meine Damen und Herren, Prävention
und Nachsorge werden Pflichtleistungen. Das bedeutet,
dass wir eine Förder- und Unterstützungskette von der
Prävention bis zur Nachsorge bekommen . Wir stärken
Kinder- und Jugendrehabilitation, die auch Pflichtleistungen im SGB VI, also für die Rentenversicherung,
werden. Wir schaffen durch den berufsbezogenen Gesundheitsscheck einen neuen niedrigschwelligen und
individuellen Zugang zu Rehabilitation und Prävention .
Das ergänzt die Zugangswege über den Betrieb . So unterstützen wir die Menschen, gesund und fit die Regelaltersgrenze zu erreichen .
Meine Damen und Herren, neben der Stärkung von
Prävention und Reha machen wir verschiedene flexible Ausstiegswege attraktiver . Durch die sogenannte
Opt-in-Regelung können in Zukunft auch bei Bezug
einer Vollrente auch oberhalb der Regelaltersgrenze zusätzliche Rentenanwartschaften erworben werden . Vor
der Regelaltersgrenze machen wir die Teilrente attraktiver und flexibler. Statt bisher in drei starren Stufen ist
die Teilrente in Zukunft stufenlos wählbar . Für den Einzelnen ist es viel leichter, sich in Zukunft den eigenen
Hinzuverdienst auszurechnen . Auch hierfür gibt es positive Rückmeldungen aus der Expertenwelt . Ich darf noch
einmal Herrn Schwarz in besagtem Interview zitieren . Er
sagt:
Bisher war kaum vermittelbar, wie viel monatlich
hinzuverdient werden durfte, da es individuelle Grenzen gab . Jetzt gibt es einen Jahresbetrag 6 300 Euro -, den man anrechnungsfrei hinzuverdienen darf . Wer mehr verdient, muss 40 Prozent
vom Mehrverdienst abgeben . Das ist einfach, transparent und flexibel.
Recht hat der Mann .
({2})
Es gibt in Zukunft einen doppelten Vorteil: Wer als
Teilrentner mehr hinzuverdient, hat unter dem Strich
mehr in der Tasche und später mehr Rente, weil er mehr
Rentenanwartschaften erwirbt und dann noch weniger
Abschläge hat .
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
Natürlich ist klar: In der Umsetzung dieses Gesetzes
muss sich manches noch zurechtrütteln . Wir setzen mit
dem Gesetz wichtige Impulse . Die Politik hat geliefert .
Aber diese Impulse müssen jetzt auch aufgegriffen werden, indem die Möglichkeiten des neuen Reharechts von
allen relevanten Akteuren genutzt werden, indem innovative Modelle für einen besseren und niedrigschwelligen
Zugang erprobt werden, indem Strategien für eine abholende und aufsuchende Reha entwickelt und umgesetzt
werden und indem auch über die Möglichkeiten informiert wird, die dieses neue Gesetz bietet .
Meine Damen und Herren, ich finde, das ist ein wichtiger Beitrag dazu, unseren Sozialstaat zu einem stärker
vorsorgenden Sozialstaat weiterzuentwickeln und angesichts von demografischen Veränderungen und immer
rasanter werdenden Veränderungen in der Arbeitswelt
den Sozialstaat besser an individuelle Erwerbsbiografien anzupassen und gleichzeitig die Beschäftigten schon
während des Arbeitslebens zu unterstützen . Wir wissen
aus vielen Umfragen, den meisten Leuten in Deutschland
geht es nach eigener Aussage gut, aber sie haben Angst
vor der Zukunft, auch vor Veränderungen in der Arbeitswelt . Wir können diese Veränderungen nicht verhindern,
aber wir können sie gestalten, und vor allem können wir
die Leute bei der Bewältigung dieser Veränderungen unterstützen .
({3})
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen, zum Schluss will ich allen Beteiligten meinen
Dank sagen: dem Ministerium, aber auch den Kolleginnen und Kollegen des Koalitionspartners für die kollegiale und an der Sache ausgerichtete Zusammenarbeit .
Ich glaube, wir haben mit dem Gesetz zu flexiblen Übergängen sehr viel mehr hinbekommen, als uns die meisten
Skeptiker zugetraut haben .
({4})
Vielen Dank . - Für die Fraktion Die Linke spricht jetzt
der Kollege Matthias W . Birkwald .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Ihr Flexi-Rentengesetz, liebe Koalition, bietet
keine Lösungen für Menschen, die von ihrer Arbeit krank
werden, die unter zu viel Arbeit leiden, die im Niedriglohnsektor zu wenig Rentenansprüche erwerben oder die
im Alter erwerbslos werden .
Herr Kollege Linnemann, die Linke hat nichts dagegen, wenn jemand länger arbeiten kann und will, und die
Linke hat auch nichts dagegen, wenn sich manche Menschen dadurch mehr Rente erarbeiten .
({0})
Aber die Linke kämpft ganz entschieden dagegen, dass
die Menschen länger arbeiten müssen,
({1})
und die Menschen müssen heute länger arbeiten, weil
SPD, Grüne und Union das Rentenniveau abgesenkt haben, weil Union und SPD diese unsägliche Rente erst ab
67 eingeführt haben und weil sie Möglichkeiten des frühzeitigen Ausstiegs, zum Beispiel die Rente für Frauen ab
60, ebenso abgeschafft haben wie die geförderte Altersteilzeit . Das, meine Damen und Herren, ist der falsche
Weg .
({2})
Viele Menschen können gar nicht länger arbeiten:
nicht bis 63, nicht bis 65 oder 67 und schon gar nicht
bis 69, 70, 73 oder 85 - um einmal all diese Wahnsinnsvorschläge aus der Union und dem Arbeitgeberlager der
vergangenen Wochen zu nennen . Metallarbeiter müssen
zum Beispiel durchschnittlich im Alter von 60 Jahren aus
ihrem Beruf aussteigen und Gebäudereinigerinnen sogar
schon im Alter von 59 Jahren und 11 Monaten . Die können dann nicht mehr . Diese Beschäftigten, liebe Koalition, lassen Sie komplett im Regen stehen . Für solche hart
arbeitenden Frauen und Männer sollten Sie gute Altersübergänge finden.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, seit dem Jahr 2000
haben Sie das Rentenniveau bereits um gut 9 Prozent
gekürzt, und Sie werden es bis 2030 noch einmal um
7,5 Prozent kürzen . Das heißt, die Rente folgt immer weniger den Löhnen . Doch damit nicht genug: Erstens . Die
Rente erst ab 67 wird im Jahr 2031 für eine dann 63-Jährige eine drastische Rentenkürzung von 14,4 Prozent bedeuten . Zweitens . Die Erwerbsminderungsrenten werden
schon heute im Schnitt um 85 Euro gekürzt .
Ich fordere Sie auf: Streichen Sie die systemwidrigen
Abschläge bei der Erwerbsminderungsrente, und berechnen Sie die Rente so, als wenn die Menschen bis 65 Jahre
durchgehalten hätten .
({4})
Das würde kranken Menschen den flexiblen Übergang in
den Ruhestand sehr viel leichter machen .
Weil Sie so nett lächeln, verehrte Frau Ministerin
Nahles: Genau das tun Sie nicht . Ihr Flexi-Rentengesetz
atmet den Geist des Arbeitens bis zum Umfallen .
({5})
- Sinngemäß habe ich gerade Leni Breymaier, die designierte Landesvorsitzende der SPD in Baden-Württemberg, zitiert; das sei nur nebenbei bemerkt . - Darum werden wir ihm auch nicht zustimmen .
({6})
Im Einzelnen:
Erstens . Wer neben einer vorgezogenen Altersrente ab
63 Jahren bis zu 6 300 Euro im Jahr hinzuverdient, muss
künftig Beiträge in die Rentenkasse einzahlen . Damit erDr. Martin Rosemann
höht sich dann seine oder ihre Rente, und das ist - Achtung, ich lobe die Regierung - gut .
({7})
Allerdings kann man mit ungefähr 5 Euro Rente mehr im
Monat Altersarmut nicht bekämpfen . Darauf wies übrigens, liebe Union, die Sachverständige der Caritas in der
Anhörung hin .
Zweitens . Als Rentnerin oder Rentner kann man schon
heute nach Erreichen der Regelaltersgrenze weiterarbeiten - ohne jede Hinzuverdienstgrenze . Künftig darf man
nach Ihrem Gesetz als arbeitender Regelaltersrentner
auch in die Rentenkasse einzahlen und sich so die eigene
Rente erhöhen; das hat Kollege Rosemann vorgetragen .
Auch das ist gut . Aber ist es auch notwendig? Wer heute
als Rentner nach der Regelaltersgrenze unbegrenzt dazuverdienen darf, zahlt weder Arbeitslosen- noch Rentenversicherungsbeiträge . Sie oder er hat also deutlich mehr
Netto in der Tasche .
Noch attraktiver: Wer bereits heute nach geltendem
Recht erst ein Jahr oder später nach seiner oder ihrer Regelaltersgrenze in die Rente geht, erhält später eine um
fast 9 Prozent höhere Rente . Also, aus 1 000 Euro Rente
werden dann 1 090 Euro Rente - nach nur einem Jahr .
Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist nicht bekannt,
aber es ist attraktiv genug . Mehr Anreize zum Arbeiten
bis zum Umfallen, Herr Kollege Linnemann, braucht es
nun wirklich nicht .
({8})
Drittens . Richtig zweischneidig wird es bei Reha und
Prävention . Prävention und Nachsorge werden jetzt mit
der traditionellen Rehabilitation gleichgestellt . Schön,
nur: Das nötige Geld dafür geben Sie der Rentenversicherung nicht . Ich sage: Jede und jeder Kranke, die oder
der eine Rehamaßnahme braucht, muss sie auch erhalten .
Darum fordere ich Sie auf: Schaffen Sie den Rehadeckel
ab, und sorgen Sie dafür, dass genug Geld in den Rehatopf fließt.
({9})
Herr Lawall von der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Rehabilitation hat in der Anhörung gewarnt:
Prävention und Nachsorge drohen wegen der begrenzten
finanziellen Mittel gegen andere Leistungen ausgespielt
zu werden . Dazu, meine Damen und Herren, darf es nicht
kommen .
({10})
Viertens . Sie wollen die Rentenauskunft verbessern .
Das ist gut, aber mehr Informationen helfen niemandem,
wenn sie nicht verstanden werden . Darum fordere ich Sie
auf: Sorgen Sie für Renteninformationen und Rentenauskünfte in verständlicher Sprache .
({11})
Fünftens . Die Beschäftigten sollen künftig ab 50 Jahren die Möglichkeit haben, zusätzlich und freiwillig Rentenbeiträge einzuzahlen . Warum erst ab 50? Und warum
nur zum Rückkauf der Abschläge? Freiwillige Zusatzbeiträge sind eine großartige Alternative zur gefloppten
Riester-Rente . Ich fordere Sie auf: Seien Sie nicht hasenfüßig, und sorgen Sie dafür, dass auch jüngere Menschen
freiwillige Zusatzbeiträge auf ihr persönliches Rentenkonto einzahlen können .
({12})
Sechstens. Sie schaffen bei arbeitenden Rentnerinnen
und Rentnern den Arbeitgeberbeitrag für die Arbeitslosenversicherung ab . Damit wird die Beschäftigung von
Rentnerinnen und Rentnern billiger für die Unternehmen . Hören Sie auf, Ältere gegen Jüngere auszuspielen,
und verzichten Sie darauf, den isolierten Arbeitgeberbeitrag zu streichen .
({13})
Siebtens . Die Rentenversicherung und der DGB halten
Ihre Neuregelung der Teilrente für misslungen . Ich halte
sie für katastrophal . Die sogenannte Spitzabrechung ist
extrem kompliziert . Das wird niemand verstehen .
({14})
Das wird zu großem Unmut bei den Teilrentnerinnen und
Teilrentnern führen . Viele von ihnen werden nämlich regelmäßig Rente zurückzahlen müssen; denn ihre Rentenbescheide werden Jahr für Jahr wieder aufgehoben und
die Rente neu berechnet werden müssen . Irre!
Nein, liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist kein gutes Gesetz . Die Linke hingegen hat einen guten Antrag
vorgelegt .
({15})
Wir fordern: Alle Versicherten sollen wieder ab 65 ohne
Abschläge in Rente gehen dürfen .
({16})
Nach 40 Beitragsjahren, also nach 40 Jahren Arbeit und
Kindererziehung, muss man schon ab 60 abschlagsfrei in
Rente gehen können .
({17})
Dann hätten wir altersgerechte Übergänge in die Rente .
Herzlichen Dank .
({18})
Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Dr . Carsten
Linnemann .
({0})
Herzlichen Dank . - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben uns fast exakt vor drei Wochen hier getroffen und den vorliegenden Gesetzentwurf
ins parlamentarische Verfahren eingebracht . Vor einigen
Tagen fand eine entsprechende SachverständigenanhöMatthias W. Birkwald
rung statt . Herr Rosemann hat sich eben auf die Themen
Prävention und Rehabilitation bezogen .
({0})
Ich möchte Zitate aus der Anhörung wiedergeben, die
sich auf das Thema längeres Arbeiten beziehen und die
belegen, dass es attraktiv ist, im Renteneintrittsalter zu
arbeiten . Die Deutsche Rentenversicherung sagt: Wir
werden mit dem neuen Gesetz „sicherlich einen Anreiz
bekommen, jenseits der Regelaltersgrenze länger zu arbeiten“ . Die BDA, die Bundesvereinigung Deutscher
Arbeitgeberverbände, sagt: „Auf jeden Fall hat dieses
Gesetz Potenzial, das Denken der Menschen und ein
längeres Arbeiten zu fördern .“ Der ZDH, der Zentralverband des Deutschen Handwerks, hat über die neue Teilrente gesagt, dass die neue Teilrentenregelung auf jeden
Fall besser sei als die alte . Die Caritas hat die Prävention
gelobt . Kerstin Griese - sie ist keine Sachverständige,
sondern die Ausschussvorsitzende - hat zum Schluss gesagt: So viel Lob haben wir selten gehört .
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Herr Birkwald, ich
will gar nicht verhehlen, dass es in der Anhörung auch
Kritik gab, zum Beispiel in Bezug auf die eben genannte Spitzabrechung . Aber ich muss sagen: Ich habe selten
eine Anhörung erlebt, die so positiv war, auch was die
Zielsetzung angeht - das müssen auch Sie zugeben; Sie
sind ja auch schon ein paar Jahre im Parlament -, und
deshalb bin ich der festen Überzeugung, dass wir heute ein Gesetz beschließen werden, das gut ist für unser
Land . Es ist richtig, dass wir dies tun werden .
({2})
Herr Kollege Linnemann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Birkwald?
Zum Schluss, nicht während der Rede; nein, danke .
Herr Birkwald hat eben gesprochen . Herr Birkwald, ich
sage sofort noch etwas zu Ihrer Rede, dann können Sie
im Anschluss gern erwidern .
Natürlich wird dieses Gesetz - das muss man frank
und frei zugeben - keine Wunder bewirken . Natürlich ist
es ein erster Schritt hin zu einem Paradigmenwechsel .
Alter neu denken - ich denke, es muss das Ziel sein, dass
die Menschen die Freiheit haben, selbst zu entscheiden,
wann Schluss ist und wann nicht . Dafür haben wir drei
Dinge umgesetzt .
Erstens den arbeitsrechtlichen Teil: dass es in Zukunft
erlaubt ist, befristete Verträge im Rentenalter zu verabschieden . Das gilt schon seit einiger Zeit, und es gehört
auch zur Flexirente .
Zweitens - Herr Rosemann hat es angesprochen -,
dass diejenigen, die länger arbeiten, ihre Rente durch die
zusätzliche Arbeit erhöhen können; dafür arbeiten sie ja .
Im Moment geht das noch nicht . Die meisten Menschen
wollen Rente beziehen und zusätzlich arbeiten . Im Moment zahlen die Arbeitgeber Beiträge, die kommen in
einen großen Topf und sind weg . In Zukunft gibt es zusätzliche Rentenerhöhungen für zusätzliche Arbeit .
Drittens . Die Deutsche Rentenversicherung wird neu
und besser über die Möglichkeiten des längeren Arbeitens informieren . Im Moment ist es leider noch so - es
ändert sich gerade -, dass die Rentenversicherung so tut,
als ob es gar keine Alternative gebe als die des Renteneintritts, und das wird sich jetzt ändern .
Herr Birkwald, wenn Sie sagen, der Geist der Flexirente sei Arbeiten bis zum Umfallen, so muss ich schlicht
sagen, dass das erstens falsch ist, und zweitens irritiert es
mich, weil ich Ihnen nicht zugetraut hätte, dass Sie dieses
Gesetz überhaupt so falsch verstehen können .
({0})
Denn bei diesem Gesetz geht es darum, erstens die Menschen in die Lage zu versetzen, durch präventive Maßnahmen überhaupt länger arbeiten zu können, und zweitens das längere Arbeiten attraktiver zu machen .
Die Menschen - damit muss endlich Schluss sein dürfen nicht den Eindruck haben, dass wir ihnen einreden, dass es alle nur deshalb machen, um mehr Geld zu
verdienen . Ja, diese wird es geben, aber es geht im Kern
beim längeren Arbeiten um Wertschätzung, um soziale
Teilhabe . Man will nicht zum alten Eisen gehören . Man
will keine Vollbremsung in der Rente, und nicht von hundert auf null .
({1})
Diesen Geist müssen wir leben und nicht den Geist der
Linken, dass es hier um Zwangsarbeit geht, sondern es
geht um freiwillige Arbeit im höheren Alter .
({2})
Deshalb muss sich die Rentenpolitik der Zukunft an
zwei Polen orientieren: erstens für diejenigen da sein, die
nicht länger arbeiten können, aus psychischen, körperlichen oder welchen Gründen auch immer, zweitens Anreize zum längeren Arbeiten setzen, damit wir irgendwann
einmal dorthin kommen - weil wir länger leben -, die
Lebensarbeitszeit an die Lebenserwartung zu koppeln .
Die Rentenbezugsdauer beträgt heute 20 Jahre, 1960 betrug sie 10 Jahre und 1965 15 Jahre . Heute leben wir
20 Jahre länger .
Eine Gruppe habe ich jetzt nicht angesprochen, die
von diesem Gesetz auch überhaupt nicht tangiert wird:
Das sind beispielsweise die 50- bis 60-Jährigen, die unverschuldet in die Arbeitslosigkeit schlittern . Hier haben
wir offenkundig ein Problem, und dazu gibt es auch von
meiner Seite einen Appell an die Wirtschaft, hier ganz
klare Signale zu setzen, dass man den Menschen zwischen 50 und 60 Jahren, die unverschuldet in die Arbeitslosigkeit geraten sind, eine Chance gibt . Viele wissen
nicht, dass es beispielsweise eine sogenannte 52er-Regel
gibt: dass jene, die mit 52 Jahren in die Arbeitslosigkeit
gehen, auf fünf Jahre befristete Arbeitsverträge mit den
Arbeitgebern abschließen können .
({3})
Die Flexirente ist eine Brücke in die Zukunft der Rentenpolitik, und ich möchte mich sowohl bei unserer Fraktion
als auch beim Koalitionspartner bedanken . Gerade auf
der Zielgeraden war die Abstimmung konstruktiv . Ich
möchte mich bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
der Fraktionen bedanken; ich denke dabei an Thomas
Rogowski und andere .
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit .
({4})
Nun hat der Kollege Birkwald die Gelegenheit zu einer Kurzintervention .
Vielen Dank, Herr Präsident . Vielen Dank, Herr
Dr . Linnemann . Drei Minuten laut Geschäftsordnung .
Herr Dr . Linnemann, ich zitiere aus der neutralen Zusammenfassung des Bundestagspressedienstes hib: „Expertenurteil zur geplanten Flexi-Rente“: Die Regelungen
zu Reha und Prävention seien „überwiegend wohlwollend“ . Das haben Sie gesagt . Ich zitiere weiter:
. . . gab es jedoch auch Zweifel, ob durch die geplanten Neuregelungen die verfolgten Ziele, die Altersarmut zu verringern und den Fachkräftemangel einzudämmen, erreicht werden können .
. . .
Im Gegensatz zur BDA kritisierte Eckehard
Linnemann vom Deutschen Gewerkschaftsbund
({0}) mangelnde Angebote für jene, die aus gesundheitlichen Gründen oder weil sie keinen Arbeitsplatz haben, nicht bis 65 oder 67 arbeiten könnten . . . .
Eine mangelnde Information der Beschäftigten über
jetzt schon vorhandene Möglichkeiten, nach Erreichen der Regelalterszeit weiterzuarbeiten . . ., konstatierte auch der Einzelsachverständige Professor
Eckart Bomsdorf .
Der Sachverständige der Deutschen Rentenversicherung Bund sagte, die künftigen Regelungen seien „komplexer als bisher“ . Dann wird die Spitzabrechnung - das
kann ich Ihnen gleich noch einmal vortragen - zitiert .
Skeptisch zeigte sich der DRV-Vertreter, ob damit
Altersarmut verhindert werden kann . Um dieses
Ziel zu erreichen, brauche es andere Instrumente,
sagte Birgit Fix vom Deutschen Caritasverband .
Aus der Sicht von Heinz Landwehr von der Stiftung
Warentest wird alles zu einer „Verschlechterung der Situation von Teilrentnern führen“ .
Die problematische Fachkräftesituation kann aus
Sicht der Einzelsachverständigen Jutta Schmitz
„nur in sehr kleinem Umfang“ durch die Erwerbsbeteiligung von Rentnern gelöst werden .
({1})
Christof Lawall sagte, die „gut durchdachten Änderungen dürften aber schlussendlich nicht an der Finanzierung scheitern“ .
Ich halte fest: Erstens . Hier zu behaupten, in dieser
Anhörung sei dieses Gesetz nur über den grünen Klee gelobt worden, ist hanebüchener Unsinn . Es gab Lob, und
es gab auch sehr viel Kritik .
Zweitens . Ich will Ihnen kurz vortragen, damit alle
hier das einmal mitbekommen, was der Experte der
Deutschen Rentenversicherung gesagt hat:
({2})
Es wird ein entsprechender Bescheid erstellt . Am
01 .07 . des Folgejahres werden wir dann prüfen, ob
die Prognose des Zusatzeinkommens übereinstimmend mit dem war, was er tatsächlich verdient hat .
({3})
- Ja, das wollt ihr nicht hören .
({4})
Wenn wir feststellen, dass er zu viel verdient hat,
also die Rente eigentlich niedriger hätte sein müssen, heben wir den Bescheid auf und fordern das
Geld zurück . . . . Wir haben durch die Spitzabrechnung sozusagen in jedem Jahr die Aufhebung der
alten Bescheide und eine Erstellung neuer Bescheide vor uns .
Ich kann mir gut vorstellen, wie Rentnerinnen und Rentner darauf reagieren .
Zum Arbeiten bis zum Umfallen, Kollege Linnemann:
Leni Breymaier, . . .
- designierte Landesvorsitzende der SPD in Baden-Württemberg kämpft gegen die Rente mit 67 .
- So steht es hier wieder falsch .
Arbeiten bis zum Umfallen? Ein Unding, . . . Die
Gewerkschafterin ist dabei, neue Landesvorsitzende der SPD in Baden-Württemberg zu werden, und
kämpft für einen frühen Renteneintritt . „Auch im
Alter gibt es ein Recht auf Faulheit und ein angemessenes Auskommen“, . . .
({5})
Letzte Bemerkung - meine drei Minuten laufen ab -:
Was Reha angeht, hat sich gestern die designierte Vorsitzende der Deutschen Rentenversicherung geäußert .
Herr Kollege Birkwald, Sie haben zunächst völlig
richtig auf die drei Minuten für eine Zwischenintervention Bezug genommen . Diese drei Minuten sind bereits
abgelaufen .
Ich bin gleich beim letzten Satz, Herr Präsident . Ich
bin sofort fertig . Darf ich den Satz zu Ende führen?
Den Satz dürfen Sie noch zu Ende sprechen .
Sie hat gestern mitgeteilt, dass die Zahl der Anträge
für Rehamaßnahmen deutlich zurückgegangen ist, auch
bei Krebsbehandlungen, „obwohl die Entwicklung bei
den Erkrankungen entgegengesetzt verlaufe“ .
Zu tun gibt es genug . Handeln Sie!
Danke .
({0})
Herr Kollege Dr . Linnemann, Sie haben jetzt die Gelegenheit, darauf zu erwidern .
Herzlichen Dank . - Herr Birkwald, ich kenne in unserer Fraktion und auch, wenn ich das sagen darf, in der
Fraktion der Kollegen niemanden, der gesagt hat, dass
wir mit diesem Gesetz Altersarmut verhindern . Darum
geht es überhaupt nicht . Altersarmut verhindern wir, indem wir zum Beispiel die betriebliche Altersvorsorge Frau Nahles und Herr Schäuble bringen dies jetzt auf den
Weg - verbessern, indem wir Zuschläge für Geringverdiener geben . Das sind Konzepte . Die Flexirente hat damit nichts zu tun . Verunsichern Sie nicht die Menschen .
Das betrifft auch einen weiteren Punkt. Auch das
sollten Sie eigentlich wissen, Herr Birkwald . Es irritiert
mich, dass Sie das so darstellen . Die Schreiben der Deutschen Rentenversicherung werden nicht vom Deutschen
Bundestag beschlossen und erst recht nicht formuliert .
({0})
Die Schreiben kommen von der Selbstverwaltung . Da
sitzen Arbeitnehmer und Arbeitgeber . Glauben Sie mir,
dass wir mit denen gesprochen haben . Das ist übrigens
der Grund, warum die Formulierungen bereits vor zwei
Jahren geändert wurden . Früher bekam derjenige, der 55
wurde, einen Brief, und in diesem Brief stand: Du musst
jetzt Altersrente beantragen . Heute steht in diesem Brief:
Du kannst Altersrente beantragen, du kannst aber auch,
wenn du willst, länger arbeiten und bekommst zusätzliche Zuschläge .
({1})
Das muss doch entscheidend sein .
({2})
Herr Birkwald, wer etwas will, findet Wege. Wer etwas nicht will, findet Argumente. Das ist die Flexirente.
({3})
Nächster Redner ist jetzt der Kollege Markus Kurth
für Bündnis 90/Die Grünen .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen insbesondere von der Koalition! Es schien Ihnen ja eine besondere Erwähnung wert gewesen zu sein, dass die Anhörung so viel Lob für Ihren Gesetzentwurf gebracht hat .
({0})
Sie haben gesagt, Herr Linnemann und Frau Griese, selten habe es so viel Lob gegeben . Im Umkehrschluss zeigt
das, welche Qualität im Allgemeinen die Gesetze haben,
die wir im Ausschuss über uns ergehen lassen müssen .
({1})
Neben den Ausführungen zu den tauglichen Sachen
im Bereich Prävention und Reha gab es sehr wohl eine
Menge Kritik, die gerade der Kollege Birkwald, wenn
auch etwas länglich, dargestellt hat . Die BDA sagt zu
dem Flexi-Rentengesetz, das habe Potenzial . Ich bitte
Sie: Das heißt so viel wie: Wir wissen noch nicht, was da
herauskommt, aber schaden tut es uns auch nicht . Schauen wir mal. - Nichts anderes an Qualität, finde ich, hat
diese Stellungnahme .
Bevor wir immer wieder auf diesen Einzelpunkten herumreiten, sollte man sich den heutigen Vormittag einmal
insgesamt ansehen . Wir beraten heute ja nicht nur über
das Flexi-Rentengesetz, sondern wir werden heute den
sozial- und arbeitsmarktpolitischen Vormittag im Deutschen Bundestag haben .
({2})
Wir haben nachher noch ein Gesetz zur Arbeitnehmerüberlassung, also zur Regelung von Leiharbeit und Werkverträgen, und wir werden heute Mittag noch ein Gesetz
zur Ermittlung des Regelbedarfs, zur Bestimmung des
Existenzminimums haben .
({3})
Alle drei Gesetzesvorhaben, das jetzige und die angesprochenen, behandeln ja durchaus wichtige Punkte . Wir
wollen ja, dass angesichts des steigenden Renteneintrittsalters, angesichts der steigenden Lebenserwartung
längeres Arbeiten, gesundes Arbeiten möglich ist . Auch
wir Grüne wollen, dass der Missbrauch von Leiharbeit
verhindert wird . Und wir wollen ein menschenwürdiges
Existenzminimum . Es sind also alles drei wichtige zu regelnde Bereiche . Aber in allen drei Bereichen lässt sich
ein Muster erkennen, nämlich dass die Große Koalition
sich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner einigt, in der
Sache so gut wie überhaupt nicht vorwärtskommt oder
sogar wie beim Leiharbeitsgesetz Rückschritte in Kauf
nimmt und sogar jahrelangen Expertenrat wie bei der
Sicherung des Existenzminimums einfach in den Wind
schlägt .
({4})
Das ist das Muster der Großen Koalition, das ich so
fürchterlich finde.
({5})
Damit schüren Sie - Herr Rosemann, hören Sie mal
zu, auch wenn es Ihnen nicht gefällt - in der Tat eine
gewisse Politikverdrossenheit und Verzweiflung bei den
Leuten . Sie hängen ganz groß Ihre Titel raus: „Flexi-Rentengesetz“, „Wir regeln jetzt die Werkverträge“, aber in
der Substanz passiert nichts .
({6})
Der entscheidende Punkt beim Flexi-Rentengesetz
wäre, dass wir schauen, was mit denjenigen Leuten ist ich sage es zum x-ten Male von hier aus -, die aus gesundheitlichen Gründen zwar nicht die Erwerbsminderungsrente beantragen können, aber einen abgefederten,
zeitlich reduzierten Übergang in den Ruhestand brauchen . Wir Grüne haben vorgeschlagen - das wird ja heute
mit abgestimmt -: zum einen eine Teilrente ab 60, zum
Zweiten, dass wir einen früheren Rückkauf von Abschlägen auch vor dem 50 . Lebensjahr ermöglichen, und zum
Dritten, dass wir für die Gruppe der gesundheitlich besonders beeinträchtigten Beschäftigten nach Wegen suchen, wie die Abschläge ausgeglichen werden können . Wenn man das zusammen mit den zugegebenermaßen
korrekten Regelungen zu Prävention und Rehabilitation
macht, dann kann man eine größere Akzeptanz für längeres Arbeiten bei den Beschäftigten erzeugen, bzw . dann
erfahren diese, dass es reale Möglichkeiten gibt, faktisch
länger zu arbeiten . Dann ist diese ganze Diskussion weniger angstbesetzt .
({7})
Stattdessen merkt man diesem Gesetzentwurf an, dass
er Resultat eines doppelten Koppelgeschäftes ist, zum
einen zur Gesichtswahrung des Wirtschaftsflügels der
Union, die mit der Rente mit 63 ja so unglücklich war
und eigentlich im Sinn hatte, dass man jenseits der Regelaltersgrenze länger arbeiten sollte . Dazu macht dieser
Gesetzentwurf ja faktisch gar nichts . Da haben Sie es
schon einmal billig verkauft . Und der zweite Teil ist das
Arbeitnehmerüberlassungsgesetz, worüber wir hier in etwas mehr als einer Stunde beraten werden . Da haben Sie
einen Deal gemacht: Gibst du mir das, gebe ich dir das .
({8})
Und beim Arbeitnehmerüberlassungsgesetz kommt
auch nichts raus . Übrigens: Die Anhörung - das kann
ich Ihnen sagen - war wesentlich verheerender als die
zum Flexi-Rentengesetz . Meine Kollegin Beate MüllerGemmeke wird nachher mit Ihnen noch hart ins Gericht
gehen . Ich kann allen nur empfehlen, sich das anzuhören
und anzusehen .
({9})
Ich möchte, wie gesagt, nicht in Abrede stellen, dass
Sie im Bereich Rehabilitation einiges tun . Beim gesamten Komplex Teilrente versagen Sie aber nicht nur mit
Blick auf die Beschäftigten, die gesundheitlich beeinträchtigt sind . Eindeutig und im Grunde für Sie niederschmetternd, wie ich fand, war auch die Kritik an den
Anrechnungsregelungen bei der Teilrente . Unser Sachverständiger - das können Sie ja nicht ignorieren - hat
gesagt, dass es Einkommensbereiche gibt, in denen sich
die Leute mit ihrer Regelung sogar schlechterstellen als
heute .
({10})
Der andere Punkt, den Matthias Birkwald hier ja auch
schon genannt hat, ist, dass man jedes Jahr wieder sehr
kompliziert neu berechnen muss und dass es im Endergebnis womöglich immer wieder Rückforderungen der
Rentenversicherungen an die Teilrentner gibt .
Herr Kollege Kurth, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Rosemann?
Nein, danke, das möchte ich jetzt nicht . - Ich prognostiziere, dass wir in zwei Jahren sehen werden, dass
es kaum mehr Teilrentnerinnen und Teilrentner als heute
gibt .
Auch hier haben die Grünen sehr gute Vorschläge
gemacht und gesagt: Die Summe aus Zuverdienst und
Teilrente soll das frühere Gehalt nicht übersteigen . - Das
wäre einfach gewesen; das kann sich jeder einfach ausrechnen . Das ist zugänglich und niedrigschwellig . Diesem Punkt hätten Sie eigentlich folgen müssen .
Ich hoffe, wir haben in nicht allzu ferner Zukunft die
Gelegenheit, die guten Ideen, die wir haben, auch Gesetz
werden zu lassen .
Danke schön .
({0})
Vielen Dank . - Der Kollege Dr . Rosemann hat jetzt
die Gelegenheit zu einer Kurzintervention .
Lieber Herr Kollege Kurth, ich finde es bemerkenswert, dass Sie keine Zwischenfrage zugelassen haben,
aber ich kann mir gut erklären, warum nicht . Sie haben
hier nämlich eine Rede gehalten, bei der es gar nicht um
das Flexi-Rentengesetz ging. Das zeigt, dass Sie offensichtlich Schwierigkeiten hatten, Ihre sieben Minuten
Redezeit mit einer Kritik an dem Gesetzentwurf zu füllen .
({0})
Sie haben hier ein bisschen über die Anrechnungsregelungen bei Teilrenten gesprochen . Ich will Ihnen
einmal sagen: Die Sachverständige Dr . Schubert vom
Zentralverband des Deutschen Handwerks hat zur neuen
Anrechnungsregelung Folgendes gesagt:
Die Stufenlosigkeit der neuen Teilrente ist sehr viel
besser als die aktuelle Herangehensweise mit ein
Drittel, ein Halb und zwei Drittel Teilrente .
Das sagen die Sachverständigen, die sich mit der Praxis
in der Welt offensichtlich sehr viel besser auskennen als
Sie .
Ich will Ihnen auch noch einmal sagen: Selbst bei
Ihrem eigenen Sachverständigen haben Sie ein wenig
Probleme gehabt, herauszukitzeln, was die Kritik eigentlich ist . Ihr eigener Sachverständiger hat von einer
Schlechterstellung nur in ganz wenigen extremen Fällen
gesprochen - übrigens, es gibt einen Bestandsschutz -, in
denen die Betroffenen sehr hohe Renten haben und bisher im Bereich der Hinzuverdienstspitzen verdienen . Er
hat wörtlich gesagt:
Im Ergebnis kann man sagen, dass dies vor allem
Versicherte betreffen wird, die eine überdurchschnittlich hohe Rente haben und die dann sehr eng
an den jetzigen Hinzuverdienst grenzend verdienen .
Das sind nur sehr wenige Fälle .
Insofern kann ich sagen: Die wenige Kritik, die Sie
hier vorgetragen haben, löst sich bei Lichte betrachtet
doch deutlich auf .
({1})
Herr Kollege Kurth, ich vermute, Sie wollen darauf
erwidern .
Mit Ihrer Genehmigung würde ich das gerne tun,
ja . - Herr Rosemann, Sie haben kritisiert, dass ich nicht
genug zur Flexirente gesprochen habe . Ich glaube, dass
es wichtig ist, hier in diesem Hause auch einmal nicht
nur Spiegelstriche zu referieren und aus Protokollen der
Anhörungen zu zitieren, sondern eine politische Debatte
zu führen, und zwar über, wie gesagt, alle drei Gesetzentwürfe, die wir hier heute beraten, um das zu sezieren, was
dieses Land gefangen hält, nämlich den Blockadezustand
in der Großen Koalition und die Immobilität, die Sie in
der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik nicht nur mit diesem
Gesetzentwurf, sondern insgesamt aufweisen . Das ist der
entscheidende Punkt .
Ich streite ja gar nicht ab, dass die jetzt vorgeschlagenen Zuverdienstregelungen natürlich besser sind als das,
was wir mit dem Dreistufenmodell jetzt haben .
({0})
- Ja, aber das Bessere ist der Feind des Guten, und das
Gute wäre der Vorschlag von Bündnis 90/Die Grünen
gewesen, den ich eben genannt habe, dass man nämlich
sagt: Die Summe aus Zuverdienst und Teilrente soll das
Frühere nicht übersteigen . Das wäre in der Tat noch besser gewesen; das habe ich hier auch gesagt .
Im Übrigen halte ich es für sinnvoll, dann, wenn man
schon zu großen Etiketten und Schildern wie Flexirente
greift, etwas in der Substanz zu liefern und nicht nur inkrementale Veränderungen vorzunehmen .
Danke .
({1})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dagmar Schmidt für
die SPD .
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Lieber Herr
Birkwald, eigentlich bin ich von Ihnen eher seriöse Beiträge gewohnt . Aber eines möchte ich als Allererstes klarstellen: Frau Breymaier hat sich in ihrer Aussage nicht
auf unser Flexi-Rentengesetz bezogen, sondern auf die
unsägliche Debatte der Verlängerung der Arbeitszeit über
70 Jahre hinaus . Das möchte ich erst einmal festhalten .
({0})
Dinge aus dem Kontext zu reißen, ist an sich nicht Ihre
Art und kommt bei Ihnen normalerweise nicht vor .
Zweitens . Ja, Sie haben recht: Dieses Gesetz löst nicht
alle sozialen Probleme dieser Welt; das ist wahr . Wir haben mit diesem Gesetz nicht vorgehabt, alles in einem
Aufwasch zu erledigen, wir haben nicht vorgehabt, alle
Fragen, die auf der Straße liegen, mit diesem Gesetz zu
beantworten . Das ist richtig . Aber es stimmt eben nicht,
dass die Schicksale der Menschen, die Sie uns geschildert haben, von diesem Gesetz nicht beeinflusst würden.
Ihre Ansicht scheint es zu sein, dass man so lange arbeitet, bis die Gesundheit kaputt ist . Dann geht man in
Rente, egal, wann das ist . Unsere Sicht der Dinge ist: Wir
wollen den Menschen darin unterstützen, gesund arbeiten zu können, um möglichst lange im Erwerbsleben zu
bleiben und hinterher eine gute Rente zu bekommen . Das
ist ein entscheidender Unterschied .
({1})
Mal ehrlich, da haben wir verdammt viel erreicht, mehr
als das, was Sie als Opposition erwartet haben; das merkt
man an der heutigen Debatte .
Zwei Punkte möchte ich ganz besonders hervorheben .
Der erste Punkt ist die Kinder- und Jugendreha . Herr
Rosemann hat es schon gesagt: Das, was wir dort erreicht
haben, hat der Sachverständige Herr Baumann, 33 Jahre
in der Kinder- und Jugendreha tätig, als „wirklich historisch“ bezeichnet .
({2})
Aber nicht nur das hat er festgestellt . Wenn wir Gesundheit schützen möchten, statt Krankheit behandeln
zu wollen, dann müssen wir damit früh anfangen . Wenn
wir Menschen starkmachen wollen, dann müssen wir bei
den Kindern anfangen . Knapp 40 Prozent der Fälle von
Erwerbsminderung bei Krankheit entspringt psychischen
Problemen . Gerade in diesem Bereich ist die Kinder- und
Jugendreha besonders stark. Das ist eine Pflichtleistung.
Es gibt die Möglichkeit zur Nachsorge . Die Reha darf
ambulant erbracht werden . Eine Begleitperson oder die
Familie können mitkommen . Das ist ein richtig toller Erfolg
({3})
unter dem Gesichtspunkt, dass diese Menschen zukünftig
bessere Voraussetzungen haben, gesund am Arbeitsleben
teilzunehmen . Aber es ist eben vor allem auch ein toller Erfolg unter dem Gesichtspunkt, dass diesen jungen
Menschen gut und früh geholfen wird, ein selbstständiges und hoffentlich auch glückliches Leben zu führen.
Der zweite Punkt, den ich herausheben möchte, ist
die - so steht es im Gesetz - „freiwillige, individuelle,
berufsbezogene Gesundheitsvorsorge“ . Wir nennen das
den Ü45-Check-up . Wir haben zunächst, auch wenn die
Sachverständigen von der Idee so überzeugt waren, dass
sie diesen Check-up gleich flächendeckend einführen
wollten, Modellversuche verankert, weil dies wirklich
ein großes Projekt, ein Paradigmenwechsel ist .
Wir kümmern uns eben nicht erst dann, wenn das Kind
schon in den Brunnen gefallen ist, wenn also die Gesundheit bereits geschädigt ist und das Arbeiten schwer oder
gar nicht mehr möglich ist . Das tun wir auch . Aber wir
wollen möglichst verhindern, dass es so weit kommt,
dass die Arbeit krankmacht, dass man EM-Rente beantragen muss, dass man Gefahr läuft, im Alter arm zu sein .
({4})
Deswegen stellen wir die Weichen schon für Menschen
mit 45 Jahren neu .
So viel positive Rückmeldung zu einem Gesetz - das
sage ich noch einmal, Herr Kurth - haben wir selten gehabt .
({5})
Vielleicht liegt es auch daran, dass es ein Fraktionsgesetz ist . Es lohnt sich aber auch, sich Zeit zu nehmen und
ausreichend lange zu beraten . Das haben wir getan . Wir
haben gerade im Bereich Prävention, Reha, Gesundheitsschutz mit diesem Gesetz einen wichtigen und großen
ersten Schritt getan . Ich verspreche aber, das Thema wird
uns weiter begleiten .
Glückauf!
({6})
Nächster Redner ist der Kollege Peter Weiß für die
CDU/CSU .
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Der Kollege Kurth hat
vorhin eine politische Bewertung verlangt. Ich finde, die
politische Bewertung ist: Wir verabschieden heute ein
Gesetz, bei dem - das gibt es selten - alle gewinnen . Es
ist ein Gewinnergesetz, und zwar für jeden in unserer Gesellschaft, vor allen Dingen für die Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer .
({0})
Es war vielleicht früher etwas anders, aber heute ist
die überwiegende Zahl der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht an starren Grenzen und Regeln interessiert, sondern daran, das eigene Leben und damit auch
das eigene Arbeitsleben selber zu regeln, also die Fragen,
wann man aufhört, zu arbeiten, und ob man sein Arbeitsleben vielleicht langsam ausklingen lässt, selber zu beantworten . Die Möglichkeit einer solchen Entscheidung
in individueller Freiheit setzen wir heute in gesetzgeberischer Form um . Deswegen ist es ein großer Gewinn für
die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in unserem
Land, was wir an Flexibilisierung ins Rentenrecht neu
hineinschreiben .
({1})
Es ist für mich, verehrte Kolleginnen und Kollegen,
schon bezeichnend, dass die Linke im Ausschuss mit
Nein gestimmt hat .
({2})
Dagmar Schmidt ({3})
- Doch!
({4})
- Ihr habt euch auch enthalten .
({5})
Die Linke jedenfalls kritisiert dieses Gesetz sehr und will
mit Enthaltung stimmen, weil sie nach alter DDR-Manier
({6})
lieber alles haarklein vorschreibt, anstatt individuelle
Freiheit zu gewähren . Das ist der Punkt .
({7})
Ich mache Ihnen das an einem Beispiel deutlich .
Der Daimler-Konzern fährt schon heute ein Senior-Experts-Programm . Ein mittlerweile 70-jähriger Rentner,
ehemaliger Facharbeiter, hat sich bereit erklärt, noch
einmal einzusteigen, und zwar für die Integration von
Flüchtlingen in die Ausbildungsgänge . Er macht das
nicht, weil er muss, sondern weil er Spaß und Freude daran hat, sich in der Flüchtlingsintegration noch einmal
beruflich zu engagieren. Ich finde, es ist eine Unverschämtheit, in einem solchen Fall von „Arbeiten bis zum
Umfallen“ zu reden, wie es die Linke tut . Das ist eine
Beleidigung für diesen Arbeitnehmer .
({8})
Der Daimler-Konzern muss in seinem Flyer, in dem
er über dieses Senior-Experts-Programm informiert - ich
zeige ihn: er sieht so aus -, natürlich darauf hinweisen,
dass derjenige, der zwischen 63 und 65 alt ist und in eine
solche Sache einsteigen will, maximal 450 Euro hinzuverdienen kann, weil ansonsten das Fallbeil der Rentenkürzung zum Tragen kommt . Da der Daimler-Konzern
nicht ganz unvermögend ist, kann er in dem Fall sogar
aushelfen, indem er einen pauschalen Rentenausfallzuschuss gewährt; das kann nicht jeder .
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ab morgen
können solche Broschüren geändert werden . Wir schaffen das Fallbeil der automatischen Rentenkürzung ab .
({9})
Das ist ein großartiger Erfolg für die Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer in unserem Land .
({10})
Es ist schon dargestellt worden: Man kann auf jeden
Fall nach dem 63 . Lebensjahr 6 300 Euro im Jahr ohne
Anrechnung hinzuverdienen . Von dem Hinzuverdienst,
der darüber hinausgeht, kann man 60 Prozent behalten;
40 Prozent werden auf die Rente angerechnet . So kann
man das individuell gestalten .
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich finde es
ungeheuerlich, dass die Oppositionsfraktionen mit dem
Schreckwort „Spitzabrechnung“ den Leuten jetzt vor
dieser Regelung Angst machen .
({11})
Entschuldigung, wenn ich als Arbeitnehmer eine Teilrente beziehe und weiß, dass ich Geld hinzuverdienen kann,
dann interessiert mich sehr wohl, was exakt dabei herauskommt, und zwar möglichst für jedes Jahr . Was wir machen, ist: Wir sorgen dafür, dass der Arbeitnehmer, der so
etwas macht, also Teilrente bezieht und Teilzeit arbeitet,
exakt weiß, was nach einem Jahr dabei herauskommt .
Das ist Transparenz, die notwendig ist, die auch richtig
ist und die ich nicht als „Spitzabrechnung“ diffamieren
würde .
({12})
Die Redner der Koalitionsfraktionen sind zum Teil
auf einen Vorschlag aus der Anhörung eingegangen, mit
dem wir uns über Monate auseinandergesetzt haben, und
haben gefordert, das anders zu regeln . Ich will Ihnen einmal sagen, was die andere Regelung, die Alternative, bedeuten würde . Dann würde es die Spitzabrechnung nicht
geben, und es würde nach Renteneintritt 26 Jahre dauern,
bis das ausgeglichen ist, was eventuell zu viel oder zu
wenig verdient worden ist . Meine sehr geehrten Damen
und Herren, derjenige, der sich exakt an die Regeln gehalten hat und bei dem nichts auszugleichen ist, wird sich
herzlich dafür bedanken, dass es Kollegen gibt, die ein
bisschen getrickst haben - in Anführungsstrichen - und
das über 26 Jahre ausgeglichen bekommen . Entschuldigung, aber die Kampagne der Bild-Zeitung gegen eine
solche Regelung möchte ich nicht erleben . Was wir machen, ist gerecht, ist transparent, ist das, was, wie ich
glaube, die meisten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben wollen . Die Alternative ist schlichtweg ein
Ungetüm . Deswegen haben wir sie abgelehnt .
({13})
Entschuldigung, Herr Kurth, ich verstehe auch die
Welt der Grünen nicht mehr . Gerade Ihr Parteiprogramm
ist doch geprägt von der Forderung nach mehr individueller Freiheit und mehr Gestaltungsmöglichkeiten .
({14})
Dass die Grünen einen Gesetzentwurf, der genau das ermöglicht, ablehnen, verstehe ich nicht . Das ist im Grunde genommen ein Attentat auf euer eigenes Parteiprogramm, Entschuldigung .
({15})
Es ist doch so - das ist in Ihrer Rede deutlich geworden;
auch der Kollege Rosemann hat das angesprochen -, dass
Sie verzweifelt nach einem Haar in der Suppe suchen,
das dort aber gar nicht zu finden ist, um nachher mit Enthaltung stimmen zu können .
({16})
Ich finde, es ist beschämend, dass die Grünen sich nicht
einmal dazu durchringen können, zu sagen, dass wir genau das machen, was Grundtenor des Parteiprogramms
der Grünen ist .
({17})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wenn man
den Übergang aus dem Arbeitsleben in die Rente flexibel gestalten möchte und die Möglichkeit schaffen will,
dass man sich auch nach Eintritt in die Rente entscheiden kann, vielleicht noch einmal für ein paar Monate ins
Erwerbsleben einzutreten, um zum Beispiel wie der von
mir erwähnte Daimler-Mitarbeiter bei der Flüchtlingsintegration zu helfen, dann kommt es natürlich im Wesentlichen darauf an, dass man gesund ist und Spaß an
der Arbeit hat . Deswegen - das möchte ich noch einmal
betonen - stärken wir mit diesem Gesetz die Prävention
und die Rehabilitation . Wir erlauben der Rentenversicherung, früher und stärker im Bereich der Prävention tätig
zu werden .
Außerdem wenden wir uns der zukünftigen Arbeitnehmerschaft zu, also den jungen Menschen, die die Zukunft unseres Landes sind, indem wir die Kinder- und Jugendreha zu einer Pflichtleistung machen. Ich darf Ihnen
sagen: Ich persönlich war als kleines Kind gesundheitlich
schwächlich, habe sieben Lungenentzündungen gehabt .
Man hat mich zu einer Kinderkur nach Bad Dürrheim im
Schwarzwald geschickt . Ich muss sagen: Seither habe ich
nie mehr eine Lungenentzündung gehabt und bin bis zum
heutigen Tage ein relativ gesunder Mensch . Das zeigt,
Kinder- und Jugendreha ist manchmal notwendig und
wichtig, um jemanden für die Zukunft, für sein Arbeitsleben gesundheitlich zu stärken und zu schützen . Dass
wir der Kinder- und Jugendreha im vorliegenden Gesetzentwurf diesen Stellenwert geben, ist ein großartiger
Fortschritt, der jeden zur Zustimmung veranlassen sollte .
Vielen Dank .
({18})
Der Kollege Ralf Kapschack spricht jetzt für die SPD .
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Markus Kurth hat
zu Recht gefordert, dass wir eine politische Diskussion
führen und keine Spiegelstrichdiskussion . Damit bin ich
sehr einverstanden; aber das Leben ist konkret, und deshalb muss man auch über Spiegelstriche reden .
({0})
Auch wenn die Opposition es anders sieht: Wir unternehmen heute einen großen Schritt - einen großen
Schritt, damit Frauen und Männer besser selbst bestimmen können, wie sie in Rente gehen und wann sie in Rente gehen . Das Hauptproblem ist ja nach wie vor nicht,
dass es rechtliche Hindernisse gibt, wenn Menschen länger als bis zum 65 . Lebensjahr arbeiten wollen,
({1})
sondern das Hauptproblem ist, dass nach wie vor viele,
zu viele vor dem gesetzlichen Rentenalter aus dem Beruf
ausscheiden oder nur mit ganz großer Mühe bis zum letzten Tag durchhalten .
({2})
Wir brauchen flexible Lösungen für individuelle Lebenssituationen. Dieses Gesetz schafft Voraussetzungen
dafür . Es ist ein Riesenschritt in die richtige Richtung;
denn zum ersten Mal werden Prävention und Rente wirklich zusammengedacht .
({3})
Dabei ist die Erkenntnis, dass, wer gesund ist, länger arbeiten kann, doch gar nicht so originell .
Dies ist ein gutes Gesetz; aber es bleibt noch einiges
zu tun . Wir hätten gerne die Idee des Arbeitssicherungsgeldes bereits jetzt umgesetzt - Arbeitssicherungsgeld,
um den Arbeitsplatz und die Arbeitsfähigkeit zu erhalten
und um Arbeitslosigkeit zu vermeiden . Wer gesundheitliche Beeinträchtigungen hat, könnte in Teilzeit gehen statt
in Arbeitslosigkeit . Die entstehenden Lohneinbußen sollen durch das Arbeitssicherungsgeld ausgeglichen werden. Auch hier gilt: Es ist besser, Arbeit zu finanzieren
als Arbeitslosigkeit .
({4})
Immerhin haben wir uns darauf verständigt, dass das
konkrete Konzept zur Umsetzung eines Arbeitssicherungsgeldes jetzt geprüft wird .
Peter Weiß ({5})
Noch eines, um es deutlich zu sagen: Wir halten es
nach wie vor für sinnvoll, über eine Teilrente bereits ab
60 nachzudenken . Eine Teilrente ab 60 könnte aus unserer Sicht einen noch besseren Beitrag dazu leisten, die
unterschiedliche Belastung von älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und die unterschiedlichen Bedingungen in den Betrieben unter einen Hut zu bringen .
Teilrente ab 60 ist eben kein Programm zum Ausstieg aus
dem Berufsleben . Ganz im Gegenteil: Sie könnte eine
Antwort auf die Frage sein, wie Menschen länger in den
Betrieben beschäftigt bleiben können .
({6})
Wenn man die zeitlichen Spielräume vergrößert, vergrößert man auch die Chance, dass Männer und Frauen ihre
Arbeitszeit und ihre Arbeitsbelastung so anpassen können, dass sie die Regelaltersgrenze erreichen . Gerade
weil landauf und landab über Fachkräftemangel geklagt
wird, wundere ich mich schon über den heftigen Widerstand bei Teilen unseres Koalitionspartners .
Unter dem Strich ist es ein guter Gesetzentwurf . Trotzdem heißt es: Weitermachen!
Vielen Dank .
({7})
Zum Abschluss dieser Beratungen hat die Kollegin
Dr . Astrid Freudenstein für die CDU/CSU das Wort .
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident . - Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Ein Thema, das alle westlichen Industrienationen gleichermaßen beschäftigt, dreht sich um
die Frage, wie wir damit umgehen, dass wir alle immer
älter werden, dass immer mehr Leben jenseits der Regelaltersgrenze bleibt und dass es immer weniger Junge und
immer mehr Alte gibt . Daran ist nicht diese Regierung
schuld und auch nicht die vorherige; das sind europaweite Phänomene . Wir hatten nie den Anspruch, mit diesem
einen Flexi-Rentengesetz all diese Probleme zu lösen .
Wir drehen an einer Stellschraube, und an dieser Stelle
wird unser Rentensystem auch tatsächlich besser .
({0})
Wir müssen darauf reagieren, dass immer mehr Menschen länger arbeitsfähig und auch länger arbeitswillig
sind . Wir müssen darauf reagieren, dass immer mehr
Menschen sich mit 65 oder 67 noch zu jung fühlen, um
in den Ruhestand zu gehen .
({1})
Wir müssen auch darauf reagieren, dass es Unternehmen
mitunter schwer haben, genug geeigneten Nachwuchs zu
finden.
Wir haben in dieser Großen Koalition schon einiges
unternommen . Mit einem Rentenpaket zu Beginn der
Legislaturperiode haben wir bereits Verbesserungen
für Millionen Versicherte erreicht . Herr Kollege Kurth,
Immobilität bzw . Unbeweglichkeit in der Rentenpolitik
kann man dieser Großen Koalition weiß Gott nicht vorwerfen .
({2})
Ich darf Sie daran erinnern: Wir haben eine bessere
Absicherung für Erwerbsgeminderte und eine Anhebung
des Rehabudgets, angepasst an die demografische Entwicklung, erreicht, und wir haben mit der sogenannten
abschlagsfreien Rente mit 63 für eine bessere Anerkennung der Leistungen derjenigen gesorgt, die durch ihre
sehr langen Beitragszeiten einen großen Anteil daran haben, dass die Rentenversicherung solide dasteht . Und wir
haben - auch dies ist ein Verdienst dieser Koalition - mit
der Mütterrente eine Gerechtigkeitslücke bei der Anerkennung von Erziehungszeiten geschlossen . Die Leistung von Frauen, die Kinder großgezogen haben, wird
seitdem besser anerkannt . Gerade diese Frauen hatten es
durch unterbrochene Erwerbsbiografien schwer, zu einer
auskömmlichen Rente zu kommen .
All diese Verbesserungen haben unser Rentensystem
schon gerechter gemacht . Jetzt folgt also die Flexirente . Wir machen die Teilrenten viel einfacher und anwendungsfreundlicher . Die Teilrente und der Hinzuverdienst
werden flexibel und individuell miteinander kombinierbar . Der Hinzuverdienst wird in einer Jahresbetrachtung
stufenlos bei der Rente berücksichtigt, auch bei der wegen verminderter Erwerbsfähigkeit . Damit machen wir
dieses Modell deutlich interessanter und vergrößern die
Wahlfreiheit und damit die Freiheit des Einzelnen . Wir
geben individuell dem Versicherten mehr Freiheit . Dagegen kann man eigentlich nichts haben .
Darüber hinaus möchten wir auch die Wahlfreiheit derer vergrößern, die bereits in Rente sind, sowohl bei der
vorgezogenen Altersrente als auch nach der Regelaltersgrenze . Das bedeutet zum einen: Wer eine vorgezogene
volle Rente bezieht und weiterarbeitet, erhöht dabei auch
künftig seinen Rentenanspruch . Zum anderen bedeutet
das, dass wir nun ermöglichen, auch nach Erreichen der
Regelaltersgrenze auf die Versicherungsfreiheit zu verzichten . Wir setzen also starke Impulse, weiterzuarbeiten . Denn nur dann, wenn sich das Weiterarbeiten lohnt,
wird es auch eine echte Option .
Als Kulturpolitikerin, die ich auch bin, freue ich mich
übrigens darüber, dass diejenigen, die über die Künstlersozialversicherung versichert sind, auch künftig die
Möglichkeit haben, nach der Regelaltersgrenze weitere
Entgeltpunkte zu sammeln . Das kann dem einen oder anderen weiterhelfen; denn in diesen Branchen fallen die
Renten ohnehin nicht besonders üppig aus .
Sie sehen: Wir stellen im vorliegenden Gesetzentwurf
den einzelnen Versicherten noch mehr in den Mittelpunkt
als bisher . Er bekommt mehr Flexibilität und mehr Freiheit bei der Planung seines Ruhestands bzw . beim Planen
seines Übergangs in den Ruhestand .
({3})
Das hilft allen, auch denen, die in Zeiten des hohen Fachkräftebedarfs vielleicht gerade die älteren Arbeitnehmer
brauchen, um das Unternehmen am Laufen zu halten .
Meine Damen, meine Herren, schon jetzt ist jeder
siebte Rentner in Deutschland erwerbstätig - aus unterschiedlichen Gründen . Manche arbeiten auch wirklich
deswegen, weil sie noch arbeiten wollen . Mit der Flexirente können Rentner erwerbstätig bleiben, freiwillig
Beiträge einzahlen und mehr Rente beziehen . Arbeitgeber müssen für ihren Flexirentner keine Beiträge mehr in
die Arbeitslosenversicherung zahlen .
Das heißt: Die Flexirente macht unser Rentensystem
moderner, individueller, generationengerechter . Sie hilft
den Arbeitgebern, sie hilft den Arbeitnehmern, sie hilft
den Alten, und sie hilft den Jungen . Deshalb ist das Gesetz, das wir heute verabschieden werden, ein gutes Gesetz .
Herzlichen Dank .
({4})
Damit schließe ich die Aussprache .
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den von
den Fraktionen von CDU/CSU und SPD eingebrachten
Gesetzentwurf zur Flexibilisierung des Übergangs vom
Erwerbsleben in den Ruhestand und zur Stärkung von
Prävention und Rehabilitation im Erwerbsleben .
Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/10065, den Gesetzentwurf der Fraktionen der
CDU/CSU und SPD auf Drucksache 18/9787 anzunehmen . Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen . - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in
zweiter Beratung mit den Stimmen von CDU/CSU und
SPD bei Enthaltung der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen angenommen .
Wir kommen jetzt zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung . Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben . Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit angenommen mit den Stimmen von
CDU/CSU und SPD bei Enthaltung der Fraktionen Die
Linke und Bündnis 90/Die Grünen .
({0})
Wir kommen jetzt zum Zusatzpunkt 10 b . Wir setzen
dabei die Abstimmung zu den Beschlussempfehlungen
des Ausschusses für Arbeit und Soziales auf Drucksache 18/10065 fort .
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/3312 mit dem Titel
„Statt Rente erst ab 67 - Altersgerechte Übergänge in die
Rente für alle Versicherten erleichtern“ . Wer für diese
Beschlussempfehlung des Ausschusses stimmt, den bitte
ich um ein Handzeichen . - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und
Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion
Die Linke .
Des Weiteren empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/5212
({1})
mit dem Titel „Flexible und sichere Rentenübergänge ermöglichen“ .
({2})
Wer für diese Beschlussempfehlung des Ausschusses
stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen . - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen mit den Stimmen von CDU/
CSU und SPD gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die
Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke .
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe d seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/5213 mit dem Titel „Kommunales Ehrenamt
stärken - Anrechnung von Aufwandsentschädigungen
auf die Rente neu ordnen“ . Wer für die Beschlussempfehlung des Ausschusses stimmt, den bitte ich um ein
Handzeichen . - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen
mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die
Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der
Fraktion Die Linke . Damit können wir diesen Tagesordnungspunkt verlassen .
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 29 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Klaus Ernst, Matthias W . Birkwald, Susanna
Karawanskij, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE
Managergehälter beschränken
Drucksache 18/9838
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz ({3})
Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({4})
Finanzausschuss
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Federführung strittig
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 38 Minuten vorgesehen . - Widerspruch
ist nicht erkennbar . Dann ist diese Redezeit so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Katja Kipping für die Fraktion Die
Linke das Wort .
({5})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Linke möchte Ihnen heute einen Vorschlag unterbreiten:
Zukünftig sollen die Gesamtbezüge einer Führungskraft
nicht mehr als das 20-Fache der untersten Gehaltsgruppe
im gleichen Unternehmen betragen dürfen . Kurzum: Wir
wollen Managerbezüge begrenzen . Wir wollen eine Vergütungsobergrenze .
({0})
Wenn also ein Manager mit 1 Million Euro am Ende
des Jahres nach Hause gehen will, dann muss die Reinigungskraft oder der Pförtner in diesem Unternehmen
wenigstens ein Zwanzigstel davon bekommen, sprich
50 000 Euro . Schließlich sind es die Beschäftigten, die
die Gewinne miterwirtschaften . Ich meine: Wer die unteren und mittleren Gehaltsgruppen nicht ordentlich
bezahlen kann, der hat auch keine Millionenvergütung
verdient .
({1})
Um eines klarzustellen: Es geht uns nicht um einen
Einheitslohn; es soll natürlich eine Staffelung der Gehälter geben . Wer mehr Risiko in Kauf nimmt, kann auch
mit einer höheren Vergütung rechnen . Jedoch müssen
Einsatz und Entlohnung noch irgendwie in einem Verhältnis stehen . Das Verhältnis ist doch hierzulande komplett aus den Fugen geraten .
({2})
Die Vorstände der DAX-Unternehmen verdienen 57-mal
so viel wie ein einzelner Beschäftigter mit durchschnittlichem Einkommen . Natürlich verdienen sie nicht so viel,
sondern sie bekommen nur so viel .
({3})
Das kann man doch nicht mehr mit Leistung erklären .
Schauen wir uns einmal ganz konkret die Gesundheitsbranche an . Der Vorstand eines privaten Krankenauskonzerns erhält im Jahr 4,4 Millionen Euro . Das ist
mehr als das 200-Fache dessen, was ein Krankenpfleger
bekommt, wenn er denn Tariflohn bekommt. Die Frage
ist doch: Leistet ein einzelnes Vorstandsmitglied tatsächlich mehr als das 200-Fache eines Krankenpflegers oder
einer Krankenschwester, der bzw . die Nachtschichten
macht und auch am Wochenende im Einsatz ist?
Es kann ja sein, dass Ihnen diese Fragen unbequem
sind . Aber die Politik muss sich diesen Fragen stellen .
({4})
Denn immer mehr Menschen in diesem Land haben das
Gefühl, dass die Mitte und die oberen Führungsetagen
mit zweierlei Maß gemessen werden . Menschen, die wenig bis nichts haben, werden schon bei kleinsten Fehlern
zur Kasse gebeten oder sind im Fall einer Pechsträhne
ganz schnell von Armut bedroht . Einem Hartz-IV-Beziehenden, der seine Betriebskostenrückzahlung nur einige
Monate zu spät meldet, droht schnell ein Bußgeld . Einem
Kleinstunternehmer droht im Fall einer Auftragslücke vielleicht witterungsbedingt - sehr schnell die Insolvenz,
ohne dass der Staat einspringt . Aber in den oberen Führungsetagen gelten offensichtlich andere Regeln. Da gibt
es extrem hohe Vergütungen, ohne dass man persönlich
Verantwortung übernehmen muss für die Fehler, die man
mit verursacht .
Schauen wir uns nur einmal die Investmentbanker an .
Auch die BaFin, die Finanzaufsichtsbehörde, hat bereits
die hohen Boni bei Investmentbankern kritisiert, und das
zu Recht .
({5})
Nehmen wir nur einmal die Deutsche Bank . Die muss
sich nicht nur wegen mutmaßlicher Beteiligung an verschiedenen kriminellen Machenschaften wie Steuerbetrug oder Geldwäsche vor Gerichten verantworten, sie
befindet sich auch tief im Minus. Und es wird schon darüber spekuliert, ob nun wieder der Staat aushelfen muss .
Dabei hatte diese Bank in den vergangenen Jahren Gewinne . Aber was ist mit diesen Gewinnen passiert? Die
sind vorrangig in Form von Boni an Investmentbanker
ausgeschüttet worden . Ich meine, es ist nicht hinnehmbar, dass diejenigen, die die größten Schäden anrichten,
die höchsten Vergütungen bekommen, aber für die Folgen der Schäden allein die Beschäftigten oder die öffentliche Hand aufkommen müssen .
({6})
Meine Damen und Herren, wir unterbreiten Ihnen den
Vorschlag einer Vergütungsobergrenze auch vor dem
Hintergrund einer großen Einkommensungleichheit hierzulande . Auf der einen Seite gibt es extreme Armut und
auf der anderen Seite extremen Reichtum .
({7})
Einst glaubten viele an den Fahrstuhleffekt des Kapitalismus, wonach alle Schichten in der Gesellschaft als Ganze
kontinuierlich nach oben befördert werden, es also nach
und nach allen besser geht .
({8})
Inzwischen - das zeigen verschiedene Studien wie der
WSI-Verteilungsbericht - fährt der Fahrstuhl für die Mitte eher nach unten als nach oben . Für die Mittelschichten ist es inzwischen wahrscheinlicher, abzusteigen als
aufzusteigen . Viele befürchten, dass es ihren Kindern
schlechter geht .
Ich finde, meine Kollegen von der SPD, da gibt es
überhaupt nichts zu lachen . Das ist ein ernstes Problem .
Dem müssen wir uns stellen .
({9})
Vizepräsident Johannes Singhammer
Wenn dieses Land für immer mehr Menschen zu einer
Abstiegsgesellschaft wird, dann dürfen wir uns damit
nicht zufriedengeben . Die gute Nachricht ist: Es gibt
Alternativen zu dieser Entwicklung . Mehr Einkommensgerechtigkeit ist möglich . Die Vergütungsobergrenze, die
wir als Linke hier vorschlagen, ist ein Instrument dafür .
({10})
Ja, wir als Linke sagen auch: Was dieses Land braucht,
ist ein grundlegender Kurswechsel . Armut beseitigen, die
Mitte besserstellen, Reichtum begrenzen - das ist das
Gebot der Stunde . Dafür kämpfen wir als Linke mit aller
Entschiedenheit .
Vielen Dank .
({11})
Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Professor
Dr . Heribert Hirte .
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Kipping, ich dachte eigentlich, wir reden hier über
Ihren Antrag . Ich habe ihn mir angesehen . Aber das,
was Sie gesagt haben, hatte mit dem Antrag nur sehr
wenig zu tun . Das beginnt damit, dass ich beim besten
Willen nicht erkennen kann, wie das, was in der Begründung des Antrags steht - ich habe ihn vorsorglich
mitgebracht -, mit dem, was Sie daraus schlussfolgern
wollen, zusammenhängt . Was Sie hier erzählt haben, ist
allgemeines Blabla .
({0})
- Nein, es ist allgemeines Blabla gewesen . - Das ist eigentlich kein Ansatz für eine Diskussion . Ich will deshalb jetzt über Ihren Antrag reden .
({1})
- Ja, Sie können gespannt sein .
Fangen wir einmal hinten an . Da gibt es vier Zeilen, in
denen steht, was Sie eigentlich wollen . Sie fordern, „die
gesetzlichen Voraussetzungen dafür zu schaffen“. Da frage ich mich: Warum legen Sie hier keinen Gesetzentwurf
vor?
({2})
Das wäre doch dann die Aufgabe von Ihnen . Bringen Sie
einmal das, was Sie wollen, in Worte, und dann können
wir darüber richtig beraten .
({3})
- Schön, wunderbar . Das ist der nächste Punkt . Hier heißt
es zu dem, was Sie wollen:
Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,
({4})
die gesetzlichen Voraussetzungen … zu schaffen …
Ich hatte eigentlich gedacht, wir als Parlament machten
die Gesetze . In Ihrer Vorstellung ist das die Bundesregierung .
({5})
Das ist doch altes DDR-Sprech, das ist doch vorbei . Gott
sei Dank ist es vorbei .
({6})
Dann gehen Sie weiter und fordern „das Zwanzigfache“ . Das haben Sie eben dargestellt . Ich habe mich gefragt: Warum nicht das Zehnfache? Sie haben wenigstens
nicht gesagt, Manager sollten dasselbe wie die unterste
Lohngruppe erhalten . Okay, dasselbe wollen Sie also
nicht, aber warum nicht das Zweifache, das Dreifache
oder das Vierfache? Alles das begründen Sie nicht .
({7})
- Ich komme jetzt gleich zu den Dingen, die Sie eigentlich hätten vorstellen können, die Sie aber nicht vorgestellt haben .
Jetzt gehen wir einmal in die Begründung Ihres Antrags rein . Da geht es um alles Mögliche, aber nicht um
das, was die Schlussfolgerung ist . Es geht nämlich eigentlich nur um Volkswagen . In der Tat, die Lage bei
Volkswagen ist nicht gut; denn neben den eigentlichen
Abgasskandal, über den wir in den verschiedensten Ausschüssen immer wieder geredet haben und bei dem wir
im Augenblick noch nicht einmal genau sagen können,
wo die Verantwortlichkeiten liegen, ist inzwischen auch
die Frage getreten, ob die entsprechenden Informationen
rechtzeitig in den Kapitalmarkt gegeben wurden . Die
Fehler aus beiden Verhaltensweisen führen zu Risiken
für Volkswagen in Milliardenhöhe . Da stimme ich Ihnen, was den Ausgangspunkt anbelangt, zu . Es stellt sich
natürlich die Frage, welche Auswirkungen das auf die
Vorstandsvergütungen hat . Man muss sich also fragen:
Ist die Vorstandsvergütung - das schreiben Sie selbst in
Ihrem Antrag - dann auch noch angemessen?
Es ist nur so: Um dem entgegenzusteuern, haben wir
schon in der letzten Legislaturperiode mit dem Gesetz
zur Angemessenheit der Vorstandsvergütung im Jahr
2009 Abhilfe geschaffen. Ich kann dazu aus Ihrem Antrag zitieren:
Ziel des Gesetzentwurfs ist es, die Anreize in der
Vergütungsstruktur für Vorstandsmitglieder in Richtung einer nachhaltigen und auf Langfristigkeit
ausgerichteten Unternehmensführung zu stärken .
Zugleich sollen die Verantwortlichkeit des AufKatja Kipping
sichtsrats für die Ausgestaltung der Vorstandsvergütung gestärkt und konkretisiert werden sowie
die Transparenz der Vorstandsvergütung verbessert
werden .
Genau das haben wir gemacht . Und jetzt betone ich:
Bei der Festlegung der Vergütung ist dem seither auch
bei negativen Entwicklungen Rechnung zu tragen . Es ist
darauf zu achten, dass die Vergütung des Vorstands dem
entspricht . Das, was Sie wollen, steht heute schon im Gesetz . Wenn aber das Gesetz - ein gutes Gesetz - nicht
beachtet wurde, dann ist es an den bei VW Verantwortlichen und nicht an uns, das durchzusetzen .
Diese Verantwortung liegt beim Gesamtaufsichtsrat,
beim Plenum des Aufsichtsrats von Volkswagen . Das
haben wir 2009 auch so klargestellt: Handelt der Aufsichtsrat nicht, stehen den Aktionären alle möglichen
Rechtsbehelfe zur Verfügung, um ein Nichthandeln einer
Kontrolle zuzuführen . Da gilt es also, abzuwarten . Und
es gibt da, anders als Sie sagen, kein Grund für ein Einschreiten des Gesetzgebers .
Dass das Gesetz greift, schreiben Sie selbst in Ihrem
Antrag . Wir haben damals ein Vergütungsvotum bzw .
eine Mitsprachemöglichkeit der Aktionäre in der Hauptversammlung eingeführt . Sie schreiben in Ihrem Antrag:
Die Kritik an Vorstandsvergütungen wurde jüngst
zwar selbst von Aktionären der tief im Minus befindlichen und wegen krimineller Handlungen von
Gerichtsprozessen überzogenen Deutschen Bank
gestützt, indem sie
- die Aktionäre das neue Vergütungssystem für den Vorstand abgelehnt haben .
Das ist genau das, was wir wollten, als wir diese Regelung eingeführt haben, und was sich jetzt durchsetzt .
Wunderbar! Aber Sie kritisieren, dass es nicht da sei . Sie
sollten sich einmal das Gesetz ansehen .
Wir haben mit dem Gesetz im Übrigen auch den hoffentlich nicht eintretenden Fall im Auge, dass sich die
Lage einer Aktiengesellschaft wirtschaftlich verschlechtert. Dafür haben wir Vorsorge getroffen. Dann nämlich
soll der Aufsichtsrat eine einseitige Entscheidung über
die Kürzung der Vorstandsbezüge treffen. Auch hier haben wir eine klare Regel, die von uns geschaffen wurde
und mit der das von Ihnen geschilderte Problem schon
seit Langem gelöst werden kann .
Wenn wir jetzt aber einmal unterstellen, dass die Regeln nicht funktionieren, dann müssen wir über neue
Reformen nachdenken . Dazu zitiere ich einmal aus dem
Koalitionsvertrag:
Um Transparenz bei der Feststellung von Managergehältern herzustellen, wird über die Vorstandsvergütung künftig die Hauptversammlung auf Vorschlag des Aufsichtsrates entscheiden .
Jetzt schaue ich noch einmal in Ihren Antrag . Da kritisieren Sie nämlich - das ist der Satz, der sich an das, was
ich eben vorgelesen habe, anschließt - Folgendes:
Der Vorstand ist an solche Stimmungsäußerungen
- der Aktionäre jedoch rechtlich nicht gebunden .
Genau das wollen wir einführen . Ich schaue zu den
Vertretern des Justizministeriums hinüber . Die werden
uns mit Sicherheit bald einen entsprechenden Gesetzesvorschlag vorlegen, damit wir genau das beschließen
können, dass nämlich die Aktionäre als die eigentlichen
Verantwortlichen bzw . Inhaber der Gesellschaft auch
über die Zahlung der Vorstandsvergütungen zu entscheiden haben .
({8})
Deshalb bin ich gespannt, ob und wann das kommt . Wir
werden reagieren, wenn es da Defizite gibt.
Wenn Sie dann in Ihrem Antrag weiter schreiben, dass
die unvorstellbar hohen Zahlungen von den Aktionären
nicht grundsätzlich infrage gestellt wurden, ist das natürlich widersprüchlich . Denn natürlich dürfen die Aktionäre mit ihrem Geld machen, was sie wollen . Allerdings
geht das nur - und das ist das kleine Körnchen Wahrheit
in Ihrem Antrag -, solange es nicht zulasten Dritter geht,
zu denen die Gläubiger und auch die Arbeitnehmer gehören . Dann müsste der Fall eingetreten sein, dass die
Firma kurz vor der Pleite steht . An diesem Punkt stehen
wir aber nicht . Natürlich muss man über die Frage nachdenken, ob eine Aktionärsmehrheit allein ein solches
Vergütungsvotum abgeben kann oder ob wir da nicht
vielleicht auch noch in irgendeiner Weise die Minderheit
miteinbeziehen müssen .
Ich komme noch einmal auf Ihren Antrag zurück . Sie
haben ja mittelbar gesagt, dass Sie in Wirklichkeit etwas
ganz anderes erreichen wollen . Sie wollen indirekt die
geringste Lohnstufe nach oben hinziehen, um sozusagen
die Spreizung aufzuheben . Aber nicht einmal das würde
funktionieren; denn die einfache Reaktion wäre, andere
Konzernstrukturen zu schaffen und die Arbeitnehmer
anschließend in unterschiedlichen Gesellschaften auszugliedern . Das bedeutet zusammengefasst: Nicht einmal
Ihre eigene Klientel würde von diesem Antrag profitieren . Auf gut Deutsch: Ein untauglicher Versuch!
({9})
Insofern ist eines klar: Wir werden Ihren Antrag ablehnen und wollen einmal sehen, wie die Diskussion weitergeht .
Vielen Dank .
({10})
Vielen Dank . - Jetzt hat der Kollege Dr . Thomas
Gambke für Bündnis 90/Die Grünen das Wort .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Zuschauer auf den Rängen und außerDr. Heribert Hirte
halb des Plenarsaals! Das Thema der hohen Managergehälter treibt uns um - gar keine Frage . Wenn man sich
einzelne Medienberichte - leider gibt es nicht so viele - oder die Studie der Hans-Böckler-Stiftung über das
Anwachsen der Managergehälter im Vergleich zu den
durchschnittlichen Löhnen ansieht, dann muss man sagen: Das ist ein Thema, das man auf keinen Fall nur auf
Volkswagen oder andere Unternehmen begrenzen darf,
und schon gar nicht auf Fälle, wo es möglicherweise
sogar um strafrechtlich relevante Bezüge geht, die man
prüfen muss .
Richtig ist, dass wir gerade im Bankenbereich viele
Hinweise darauf haben, dass die dort gezahlten Gehälter
und vor allem die Boni in keinem Verhältnis zur erbrachten Leistung stehen, wobei diese Bewertung ja immer
sehr schwierig ist . Der liebe Gott hat uns nicht gesagt, ob
das Verhältnis 1 : 20, 1 : 40 oder 1 : 50 sein soll .
({0})
Ich habe 25 Jahre in einem Unternehmen gearbeitet, in
dem dieses Verhältnis vom Stifter des Unternehmens
auf 1 : 10 begrenzt war - übrigens ein sehr erfolgreiches
Unternehmen . Das ist mit Sicherheit nicht die Messlatte .
Aber falsch ist es, dass der Gesetzgeber so etwas vorschreibt .
({1})
Mich hat ein bisschen schockiert, dass Sie so lapidar
sagten: Es müssen gesetzliche Rahmen für Gehälter geschaffen werden. - Bei uns herrscht doch Vertragsfreiheit . Ich brauche das alles gar nicht auseinanderzuklamüsern . Den Ansatz, den Sie gewählt haben, kann man
eigentlich nicht diskutieren .
({2})
Wir sollten aber darüber reden, was man machen
kann . Wir Grüne haben den Vorschlag gemacht, ob sehr
hohe Boni bzw . Gehälter vom Gesetzgeber eigentlich im
Sinne eines vernünftigen Aufwands anerkannt werden
sollten . Der Gesetzgeber schaut sich zum Beispiel sehr
genau an, ob über Verrechnungspreise Unternehmensgewinne von Deutschland in Niedrigsteuerländer verlagert werden, und greift ein . Das ist zum Beispiel dann
der Fall, wenn über eine sogenannte Lizenzbox Gewinne in andere Länder verschoben werden . Da müssen wir
steuerlich eingreifen . Insofern ist der Vorschlag, den wir
gemacht haben, dass man Managerboni und -gehälter nur
bis zu einer bestimmten Grenze steuerlich geltend machen kann, eine Möglichkeit, wie der Gesetzgeber eingreifen kann . Ich glaube, wir sollten uns diesem Thema
noch einmal sehr genau widmen .
({3})
Ein anderer Punkt betrifft die Familienunternehmen.
Da schaue ich in die Richtung der Union und frage mich,
warum von Ihnen kein Impuls kommt; denn wir reden ja
vom sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft .
({4})
Von Ihnen wird immer das Hohelied der Familienunternehmer gesungen . Mit Recht! Denn der Familienunternehmer schaut eben nicht auf das kurzfristige, sondern
auf das langfristige Ergebnis . Es wird in diesem Zusammenhang immer die nächste Generation zitiert . Boni orientieren sich aber nur an einer relativ kurzfristigen Entwicklung .
({5})
Wieder ein Beispiel aus meiner Vergangenheit: Wenn das
Jahresergebnis gut war, habe ich als Manager ein gutes
Gehalt bekommen, und wenn es schlecht war, war es
nicht so gut . Das ist in Ordnung . Aber es wurde nicht
gefragt: Wie nachhaltig waren denn die Entscheidungen,
die ich in diesem Jahr getroffen habe?
Wie sieht das denn heute zehn Jahre nach dem Ausscheiden aus? Ich bin sehr froh, dass ich wahrscheinlich
immer noch meine Boni verdienen würde, weil es dem
Unternehmen sehr gut geht . Das ist doch die entscheidende Frage . Man könnte beispielsweise Boni im Sinne
einer Einbettung in eine betriebliche Rente für einen langen Zeitraum wirksam werden lassen und auch mit dem
Erfolg des Unternehmens atmen lassen . Das wäre eine
Sache, die wir uns vornehmen sollten .
({6})
Lassen Sie mich aber noch einmal ganz deutlich darauf hinweisen: Die Frage „Ist die Verteilung von Gehältern, von Einkünften vernünftig und richtig?“ ist nicht
durch Begrenzungen, sondern am besten dadurch zu
beantworten, dass wir Chancengleichheit und Bildung
fördern, dass wir aktiv dazu beitragen, dass es nicht nur
oben Begrenzungen gibt, sondern dass auch unten die
Möglichkeit besteht, gutes Geld zu verdienen .
Wir sind hier in Deutschland an einer entscheidenden
Schwelle . Wir müssen uns nämlich fragen, ob der Weg in
die Konsumgesellschaft, den zum Teil die Engländer und
Amerikaner gegangen sind, richtig ist . Wir in Deutschland sind die Macher geblieben, die Facharbeiter, die gutes Geld verdienen . In dieser Richtung sollten wir weiter
gehen . Das sage ich in Ihre Richtung: Die Kluft zwischen
niedrigen und hohen Gehältern, die Sie beschreiben, darf
nicht ausschließlich dadurch begrenzt werden, dass wir
bei den Managergehältern hinsehen, sondern vor allen
Dingen dadurch, dass wir bei den Facharbeiterlöhnen
hinsehen .
Ich glaube, es ist unsere Aufgabe als Gesetzgeber,
dafür zu sorgen - ich sage es noch einmal -, Chancengleichheit und Bildung zu fördern . Dann sind wir auf einem richtigen Weg und brauchen uns hoffentlich nicht
mehr über eine nicht durchsetzbare gesetzliche Begrenzung von Managergehältern zu unterhalten .
Vielen Dank .
({7})
Der Kollege Christian Petry spricht jetzt für die SPD .
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Antrag der Linken mit dem Titel „Managergehälter beschränken“ ist ein interessanter Antrag .
Bei mir kommt er auch gut an; denn ich könnte mit einer
Beschränkung leben . Die Frage ist nur: Wie beschränken wir es, wie machen wir es? Eine Gesellschaft muss
sich mit diesen Dingen beschäftigen und darf nicht auseinanderdividiert werden . Wir müssen darüber reden, ob
es noch geht, dass das 200- bis 300-Fache an Gehältern
gezahlt wird . Ufert hier etwas aus? Darin liegt sozialer
Brennstoff.
Wenn man sieht, dass die Durchschnittszahlen der
Managergehälter gegenüber dem durchschnittlichen
Verdienst der Beschäftigten von dem 42-Fachen im Jahr
2005 - die Hans-Böckler-Stiftung hat dies ja festgestellt auf das 62- bis 80-Fache in der heutigen Zeit gestiegen
sind, dann weiß man, dass die Kluft weiter wächst . Auch
hier ist die Frage erlaubt: Was können wir tun?
Wir haben bereits 2013 einen Vorschlag gemacht .
Lothar Binding hat ihn damals hier vorgetragen . Ich kann
das nicht so gut wie Lothar Binding; denn er hat damals
eine Grafik dabeigehabt und hat den Vorschlag anhand
dieser Grafik erläutert.
Wie können wir zu dem Ziel kommen? Was ist der
Unterschied zu dem Antrag? Einfach in das Gesetz „20fach“ zu schreiben - Professor Hirte hat es gesagt -, ist
ein bisschen schwierig . Ich halte von einer solchen Festlegung nicht sehr viel . Aber die Verantwortlichkeiten
sollten dort, wo sie sind, auch an Kriterien festgemacht
werden .
Ein Kriterium, das wir damals eingebracht haben, war
ein steuerliches Kriterium; das wollten wir zusätzlich
noch bearbeiten . Es ging um die steuerliche Abzugsfähigkeit der Managergehälter; denn sie sind Einkünfte aus
nichtselbstständiger Tätigkeit im Sinne des Einkommensteuerrechts . Wir haben damals vorgeschlagen, Bezüge
in Höhe von über 500 000 Euro pro Jahr nur noch hälftig
als Betriebsausgabe einer Aktiengesellschaft abziehbar
zu machen . Es ist nicht einsehbar, dass unsere Steuerzahlerinnen und Steuerzahler mit diesem Betriebsausgabenabzug diese Gehälter mitfinanzieren. Das ist ein Punkt,
über den wir in den Beratungen ernsthaft diskutieren
müssen; wir müssen auch darüber reden, ob wir in dieser
Art und Weise vorangehen können .
({0})
Auch über die Frage „Wer entscheidet darüber, und
was steht im Koalitionsvertrag?“ diskutieren wir . Ich
glaube, dass diese Entscheidung bei den Aufsichtsräten,
die bisher nach § 87 des Aktiengesetzes die Zuständigkeit
haben, gut aufgehoben ist, auch mit den entsprechenden
Erweiterungen, wie sie von Professor Hirte schon angesprochen worden sind .
Die Frage ist aber: Woran orientieren wir die Höhe
von Managergehältern? Immer ausschließlich an Umsätzen, an Gewinnen, an Aktienkurssteigerungen? Könnten
nicht auch Bildung, Beschäftigung, Ausbildung, Karrieremöglichkeiten der Beschäftigten, Durchlässigkeit der
Hierarchien, gewünschte Strukturen ein Maßstab dafür
sein, wie man das Gehalt eines Managers festlegt? Wäre
das nicht sehr sinnvoll? Können wir hier etwas tun, auch
im rechtlichen Rahmen? Ich denke, auch diese Fragen
sollten wir uns stellen und ernsthaft diskutieren .
Ich war vor vier Wochen im Baskenland und habe dort
die Firma Mondragón besucht . Das ist die größte Produktivgenossenschaft der Welt . Sie hat 74 000 Beschäftigte .
80 Prozent davon sind Mitglieder der Genossenschaft .
Sie wählen die Mitglieder der verschiedenen Vorstandshierarchien in entsprechenden Versammlungen . Die Genossenschaftsmitglieder haben sich selbst, was die Höhe
der Managergehälter angeht, für einen Schlüssel von
1 : 8 entschieden .
Es handelt sich um eines der wenigen Unternehmen in
Spanien, das bisher halbwegs gut durch die Krise gekommen ist und das sehr stabil ist . Dieses genossenschaftliche Modell, das sich auch um die Höhe der Gehälter
kümmert - wie gesagt, es wurde, was die Höhe der Managergehälter angeht, ein Schlüssel von 1 : 8 festgelegt -,
hat sich bewährt . Diese Genossenschaft hat mittlerweile
101 Firmen; auch in Deutschland ist man tätig . Diese Firmen sind stabil am Markt .
Die Genossenschaft wurde im Übrigen von einem katholischen Pfarrer gegründet - zugrunde lag also keine
sozialistische Idee -, der gesagt hat: Die Menschen helfen sich gegenseitig selbst, und sie legen auch ihr sozialverträgliches Gefüge fest . - Ich glaube, auch diese Beispiele sollte man berücksichtigen, wenn es darum geht,
im Hinblick auf die Höhe der Managergehälter einen
gangbaren Weg zu beschreiten .
({1})
Ich finde, dass Ihr Antrag auf jeden Fall ein wichtiger
Anstoß ist, worüber wir hier in unseren Gremien beraten . Managergehälter sind ein Dauerthema im Deutschen
Bundestag . Wir brauchen für das soziale Klima, für die
soziale Gerechtigkeit ein Lohngefüge, das von der Bevölkerung akzeptiert wird .
In diesem Sinne freue ich mich auf die anstehende
Diskussion und danke Ihnen für die Aufmerksamkeit .
Glück auf!
({2})
Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Dr . Volker
Ullrich .
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Diskussion um Managergehälter muss komplexer geführt werden, weil es den Manager so nicht gibt,
wie Sie, Frau Kipping, es uns hier haben vermuten lassen . Es gibt Mitglieder des Vorstands von börsennotierten Unternehmen . Es gibt Geschäftsführer von GmbHs .
Es gibt Vorstände von Genossenschaften . Es gibt die
zweite oder dritte Führungsebene in Unternehmen . Die
Frage der Führungsverantwortung in Unternehmen ist
viel komplexer als das, was Sie uns hier haben glauben
lassen .
In der Tat steht die Frage der Vorstandsvergütung in
einem Spannungsverhältnis zwischen der Vertragsfreiheit und dem Recht auf Eigentum der Unternehmer einerseits und der sozialen Bindung und Verantwortung der
Führungsebene andererseits .
Wir dürfen auch ein Phänomen nicht außer Acht lassen, für das erst letzte Woche der Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften verliehen wurde: dass die Managementvergütung in der Tat Regeln braucht, damit
keine Situation entsteht, in der ein Geschäftsführer oder
ein Vorstand zu sehr risikogeneigten Geschäften greift,
einfach deswegen, weil er schlichtweg nicht haftet . Das
ist der Sachverhalt, über den wir sprechen .
Der Gesetzgeber in Deutschland hat darauf schon reagiert: Seit mehr als sieben Jahren ist § 87 des Aktiengesetzes in Kraft .
({0})
Frau Kipping, ich darf Ihnen einfach noch einmal etwas
vorlesen, weil Sie offensichtlich in Unkenntnis dieses Paragrafen argumentieren - ich zitiere -:
Der Aufsichtsrat hat bei der Festsetzung der Gesamtbezüge des einzelnen Vorstandsmitglieds . . .
dafür zu sorgen, dass diese in einem angemessenen
Verhältnis zu den Aufgaben und Leistungen des
Vorstandsmitglieds sowie zur Lage der Gesellschaft
stehen und die übliche Vergütung nicht ohne besondere Gründe übersteigen .
({1})
Die Vergütungsstruktur ist bei börsennotierten Gesellschaften auf eine nachhaltige Unternehmensentwicklung auszurichten .
In § 87 Absatz 2 Aktiengesetz ist klar geregelt, was
passiert, wenn sich die Verhältnisse der Gesellschaft verschlechtern . Daher ist festzustellen: Wenn Sie die jetzige
Rechtslage kennen,
({2})
aber trotzdem so einen Antrag basteln, dann fällt das auf
Sie zurück . Wenn Sie die Rechtslage nicht kennen und
einen solchen Antrag vorlegen, dann ist das schlichtweg
Populismus und, ich meine, sogar ein ziemlich plumper
obendrein .
({3})
Ich will nicht verhehlen, dass es auch in Deutschland
Beispiele für Managervergütungen gibt, die weder etwas
mit dem Leistungsgedanken noch mit sozialer Marktwirtschaft zu tun haben . Das muss und das kann bereits
nach geltendem Recht bearbeitet werden . Wenn Sie als
Mitglied eines Aufsichtsrates eine zu hohe Vorstandsvergütung festlegen, dann sehen Sie sich unter Umständen
den Vorwürfen der Untreue ausgesetzt .
({4})
Unser Recht ist in diesem Bereich schon scharf genug .
Wir brauchen deshalb keine undifferenzierten Regelungen, die weit hinter dem zurückbleiben, was im Aktienrecht bereits seit Jahren anerkannt ist .
Ich möchte kurz auf das eingehen, was Frau Kipping
eben gesagt hat . Sie schlagen vor, dass die Vergütung
eines Managers nicht das 20-Fache eines durchschnittlichen sozialversicherungspflichtigen Lohns übersteigen
darf .
({5})
Ich stelle zunächst einmal fest: Das wird in keiner Weise
den praktischen Verhältnissen gerecht; denn Sie stülpen
Organisationen irgendwelche Zahlen über, ohne zu beachten: Wie ist die Struktur im Unternehmen? Welche
Mitarbeiter mit welchen Qualifikationen sind beschäftigt? Hat ein Unternehmen neben den Arbeitnehmern aus
akademischen, technischen Berufen sehr viele Arbeitnehmer aus niedrigen Lohngruppen, dann werden Sie
dem Unternehmer durch eine Festlegung auf das 20-Fache nicht gerecht .
Sie machen sogar Folgendes: Sie vergrößern den Anreiz für das Management, gerade die unteren Lohngruppen auszulagern, outzusourcen oder in andere Gesellschaften zu verschieben, sodass die Gefahr besteht, dass
die Mitarbeiter am Ende sogar viel weniger verdienen .
({6})
Wenn Ihnen daran gelegen ist, dass Menschen in den
unteren Lohngruppen ihr Gehalt halten oder sogar mehr
verdienen, dann können Sie das übrigens beweisen, indem Sie unserem Gesetz zur Arbeitnehmerüberlassung
zustimmen .
({7})
Frau Kipping, auch das ist ein Gesetz, mit dem die Union
deutlich macht, dass uns viel an Menschen mit niedrigen
und mittleren Einkommen gelegen ist . Ich bitte Sie, das
zur Kenntnis zu nehmen .
Kollege Ullrich, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Ernst?
Ja .
Herr Kollege Ullrich, danke, dass Sie die Frage zulassen . - Sie haben eben davon gesprochen, dass es heute
schon möglich sei, einen Aufsichtsrat anzugehen, weil er
zu hohe Vorstandsvergütungen zugelassen hat . Erstens .
Ist Ihnen irgendein Fall bekannt, der belegt, dass das
schon einmal stattgefunden hat?
Zweitens . Sie haben gesagt, das 20-Fache sei falsch .
Wir haben gerade gehört, es gibt erfolgreiche Unternehmen, die sogar nur das Achtfache zahlen . Sind Sie bereit,
zur Kenntnis zu nehmen, dass das Verhältnis zwischen
den untersten Einkommen und den höchsten Einkommen im selben Unternehmen immer größer wird und
eine immer größere Diskrepanz entsteht? Sind Sie bereit,
zur Kenntnis zu nehmen, dass sich dieses Verhältnis offensichtlich trotz der Gesetze, die Sie ansprechen - Sie
werfen der Kollegin Kipping vor, sie hätte diese nicht
gelesen -, weiter vergrößert? Oder muss ich aufgrund
Ihrer Ausführungen annehmen, dass Sie es völlig in Ordnung finden, dass ein Sparkassendirektor inzwischen das
Mehrfache unserer Bundeskanzlerin verdient?
({0})
Sind Sie weiterhin bereit, zur Kenntnis zu nehmen das konnte ich Ihren Ausführungen nicht entnehmen im
Gegensatz zu dem, was wir vorher gehört haben -, dass
das überhaupt ein Problem darstellt? Denn die Bürgerinnen und Bürger und die von Frau Kipping erwähnte
Krankenpflegerin fragen sich irgendwann, was ihre Arbeit eigentlich noch wert ist im Verhältnis zu demjenigen,
der in der Chefetage eines Unternehmens sitzt .
({1})
Natürlich verrichtet er seine Tätigkeit, aber im Verhältnis
zum Lohn desjenigen, der die Arbeit wirklich erbringt,
wird er unverhältnismäßig entlohnt .
({2})
Sind Sie bereit, überhaupt das Problem zu erkennen?
Denn was Sie hier machen, ist ja, so zu tun, als sei eigentlich alles in Ordnung . Für Sie ist die Rechtslage in Ordnung; aber die Praxis zur Kenntnis zu nehmen, verweigern Sie sich . Ich frage Sie: Sind Sie bereit, zur Kenntnis
zu nehmen, wie die Probleme sind, oder sehen Sie das
gar nicht als Problem?
({3})
Herr Kollege Ernst, ich bin bereit, zur Kenntnis zu
nehmen, dass Sie nicht gewillt sind, sich wirklich mit
dem Thema auseinanderzusetzen,
({0})
sondern dass Sie schlichtweg in einer Abfolge von Suggestivfragen alles vermischen: die gesamtwirtschaftliche
Lohnentwicklung, die Frage der Lohnspreizung in einer
Gesellschaft, die Frage der Durchsetzung der angemessenen Vorstandsvergütung .
Es gab natürlich in den letzten Jahren genügend Fälle, in denen wegen Untreue und wegen überhöhter Geschäftsführerbezüge gegen einige GmbH-Gesellschafter
sowie gegen Aufsichtsratsmitglieder ermittelt worden ist,
({1})
weil nämlich das Interesse des Unternehmens an einer
risikogeeigneten Vergütung ein schützenswertes Interesse ist . Ich möchte Ihnen nur deutlich machen, dass Sie
durch Ihre Vorschläge nicht die Menschen schützen, die
Sie hier vorgeben zu schützen,
({2})
nämlich den Arbeiter, den Handwerker, die Krankenschwester, sondern dass Sie eine Debatte um Exzesse
führen, die man mit dem geltenden Recht bereits in den
Griff bekommen kann. Aber durch die Debatte, die Sie
führen, hat keine einzige Krankenschwester 1 Euro mehr
im Geldbeutel .
Ich bitte Sie, zur Kenntnis zu nehmen, dass gerade die
Lohnentwicklung der letzten Jahre unter dieser Bundesregierung stark angestiegen ist, dass es den Menschen in
Deutschland insgesamt gut geht und dass diese Bundesregierung eine Mindestlohnregelung geschaffen hat. Dies
alles sind Fortschritte für die Arbeitnehmer, die mit Ihnen
nicht möglich gewesen wären .
({3})
Um noch auf einen letzten Punkt hinzuweisen: Sie
kritisieren in Ihrem Antrag auch die zu hohen Boni und
die Gehaltsstrukturen bei den deutschen Großbanken . Ja,
daran ist vielleicht ein Körnchen Wahrheit; aber ich bitte
Sie, zur Kenntnis zu nehmen, dass auch hier mittlerweile eine gesetzgeberische Aktivität entfaltet wird, die Sie
überhaupt nicht ansprechen, weil Sie möglicherweise gar
keine Kenntnis davon genommen haben .
({4})
Es gibt einen Gesetzentwurf der Bundesregierung zur
Neuordnung der Aufgaben der Bundesanstalt für Finanzmarktstabilisierung . Damit werden EU-Richtlinien umgesetzt und in nationales Recht übertragen . Mit dieser
Neuregelung wird der Kreis der regulierten Banken in
Bezug auf die Boni von etwa 50 auf 3 000 Institute erhöht, und gleichzeitig wird die Frage, wie Boni gestaltet
werden und wie sie ausgezahlt werden dürfen, wesentlich
stärker reguliert . So dürfen zukünftig nur noch 60 Prozent der Boni direkt ausbezahlt werden, bei mindestens
50 Prozent der Boni brauchen Sie eine Nachhaltigkeitskomponente . Das Verhältnis von fester und variabler Vergütung darf nur noch 1 : 1 betragen . Das ist ein klarer
und deutlicher Schritt, auch die Vergütung in Banken
risikoadäquat anzupassen, und es ist ein Schritt, der viel
weiter geht als das, was Sie sich jemals hätten vorstellen können . Aber es ist natürlich wohlfeil, hier groß zu
reden, ohne Kenntnis von den Aktivitäten zu haben, die
bereits geschehen sind . Das ist weder diesem Haus noch
den Menschen gegenüber ehrlich .
({5})
Wir setzen, meine Damen und Herren, auf eine angemessene und klare Regulierung der Vorstandsbezüge .
Wir setzen aber auch darauf, dass sich insgesamt das
Gehaltsniveau der Menschen in diesem Land - das gute
Niveau, das wir haben - weiter verbessert, dass insbesondere durch eine gute wirtschaftliche Entwicklung die
Menschen in den Unternehmen deutlich mehr verdienen;
denn nur durch eine gute gesamtwirtschaftliche Entwicklung werden wir auch weiterhin am Wohlstand teilnehmen können .
Vielen Dank .
({6})
Zum Abschluss der Aussprache hat der Kollege Klaus
Barthel für die SPD das Wort .
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube schon, dass es ein Problem ist, wie es Frau Kipping
dargestellt hat, und teilweise auch ein Skandal ist, wie
sich die Managergehälter und die anderen Einkommen
auseinanderentwickelt haben .
({0})
In der Tat: 2005 bis 2014 ist dieser Faktor, der eine Relation zwischen den durchschnittlichen Löhnen und den
Managervergütungen ausdrückt, bei den DAX-30-Unternehmen von dem 42-Fachen auf das 57-Fache angestiegen . 2015 war die Tendenz weiter steigend . Leider ist es
nach der Finanzkrise, nach all dem Desaster, so weitergegangen .
Ich will auch daran erinnern, dass in den Hochzeiten
des demokratischen Sozialismus, 1987, also zu Zeiten
von Helmut Kohl, dieser Faktor bei 14 lag .
({1})
Das heißt, es gibt eine Vervierfachung des Abstands zwischen dem Einkommen des Managements und dem der
Arbeitnehmer .
({2})
In der Tat führt diese Spaltung zu moralischen und
gesellschaftlichen Problemen . Ein großer Teil der Bevölkerung sagt, egal ob Allensbach oder die Friedrich-Ebert-Stiftung die Befragung macht, dass die soziale Ungleichheit zu groß ist . Es lähmt die Motivation zur
Arbeit . Das beschäftigt uns auch bei der Rentendiskussion: Die einen sinken immer mehr in Richtung Grundsicherung ab, und andere gehen mit dem goldenen Handschlag, gehen mit Millionen aus einem Unternehmen
heraus . Es ist auch ein ökonomisches Problem, weil die
Ungleichheit das Wachstum bremst und weil durch diese
Art der Vergütung in den Unternehmen Fehlanreize entstehen . Wir haben eine Investitionsblockade . Sie hat unter anderem etwas damit zu tun, dass Manger womöglich
lieber entscheiden, sofort einen Gewinn einzustreichen
als zu investieren . Wichtige Zukunftsentwicklungen sind
verschlafen worden . Ich verweise nur auf die Energiewende, den Umbau der Mobilitätsindustrie usw .
Rechtfertigungen dafür fehlen . Auch der Leistungsbezug fehlt . Das ist dargestellt worden; das will ich nicht
weiter vertiefen . Man kann es auch nicht damit rechtfertigen, dass wir im internationalen Vergleich noch ein bisschen hinten liegen und die Managergehälter in den USA
und in Großbritannien das 365-Fache betragen . Dort arbeitet ein Manager nicht eine Woche, um so viel Geld zu
verdienen wie ein Arbeitnehmer im ganzen Jahr, sondern
einen Tag . Das kann es alles nicht sein .
Auch mit der Verantwortung ist es nicht so weit her .
Das sehen wir, wenn wir uns jetzt einmal die Bilanz der
Finanzkrise anschauen . Welcher Manager ist denn entsprechend seiner großen Verantwortung wirklich herangezogen worden für den Mist, den er gebaut hat? Es gibt
kaum Verurteilungen, und keiner sitzt im Gefängnis . Alle
sind gut abgesichert . Bei anderen Betrugs- und Eigentumsdelikten, die es bei uns gibt, sieht die Situation ganz
anders aus . Egal ob bei VW oder den Banken oder einem
Mittelständler, wenn die Probleme das Unternehmen erreichen, dann sind die Manager, die die Probleme zu verantworten haben, längst weg . - Das ist das eine .
Jetzt stellt sich die Frage - sie richtet sich an die
Linksfraktion -: Was ist zu tun? Was kann man machen?
Erstens . Es stimmt nicht, dass unser Gesetz zur Angemessenheit der Vorstandsvergütungen von 2009 völlig
wirkungslos war .
({3})
Denn seit dieses Gesetz wirkt, seit 2011, ist dieser Faktor,
den ich genannt habe, tatsächlich zurückgegangen, und
zwar von einem Höhepunkt von 62 auf jetzt wieder 57 .
Das heißt, wir sollten uns als Gesetzgeber nicht kleiner
machen, als wir sind, und nicht immer so tun, als wäre
alles, was wir hier machen, für die Katz . - Das ist das
Erste .
({4})
Zweitens . Wenn Sie in Ihrem Antrag von Skandalen
sprechen - am Anfang schreiben Sie ja, dass es um Skandale, kriminelle Machenschaften und organisierten Betrug geht -, wenn Sie das zum Ausgangspunkt machen,
dann muss ich sagen: Das ist ein Fall für die Staatsanwaltschaft, für die Gerichte und für den Justizvollzug und
betrifft nicht die Frage von Managervergütungen. Das
sollte man sauber trennen .
({5})
Drittens . Es gibt erhebliche Unterschiede zwischen
den Betrieben und Unternehmen, sogar zwischen den
DAX-30-Unternehmen . Den höchsten Faktor gibt es jetzt
mit 141 bei VW . Es gibt auch Konzerne im DAX, die den
Faktor 17 haben . Daran sieht man, dass das nicht alles
über einen Kamm zu scheren ist, sondern dass das von
Unternehmen zu Unternehmen unterschiedlich ist . Es ist
eine Frage der Transparenz im Unternehmen und eine
Frage der Mitbestimmung .
({6})
Es hängt auch nicht nur von der Entscheidung der Vollversammlung ab, sondern eben auch von der Mitbestimmung im Aufsichtsrat .
Viertens . Das richtet sich jetzt an den Kollegen Klaus
Ernst, weil wir als Gewerkschafter immer schauen müssen, welche Gesetze wo wirksam werden . Wir greifen
hier in die Vertragsfreiheit ein . Das ist äußerst problematisch . Die Frage ist dann immer: Wie sieht so etwas
aus? Bemessungsgrundlage? Lohn? Lohn wo? Lohn in
Bangladesch von irgendeinem Konzern - hier könnte es
zum Beispiel das 20-Fache sein - oder Lohn einer engen Führung einer Aktiengesellschaft mit 100 GmbHs,
wo sowieso nur Spitzeneinkommen gezahlt werden? Das
heißt, hier haben wir ein praktisches Problem . Das ist
dargestellt worden .
Es gibt eine Menge Umgehungsmöglichkeiten . Die
Kreativität, irgendwelchen Managern irgendetwas außer
Geld zukommen zu lassen, ist grenzenlos . Die Frage am
Ende ist: Wer soll das alles kontrollieren? Diese ganz
konkreten Fragen sollte man sich bitte stellen, wenn man
hier solche Anträge stellt .
Statt Symbolpolitik schlagen wir insbesondere vor Kollege Petry hat es genannt -, erstens die steuerlichen
Möglichkeiten zu nutzen, also die Absetzbarkeit steuerlich zu begrenzen . Wir wollen keinen Milliardär in den
Golfstaaten oder die Familie Quandt daran hindern, ihr
Milliardenvermögen mit Spitzenmanagern zu teilen, aber
sie sollen es nicht steuerlich absetzen können .
Das Zweite ist die Anhebung des Spitzensteuersatzes .
({7})
Ich finde, darüber muss man auch reden. Wenn man
15 Millionen Euro im Jahr bekommt und die Hälfte davon an Steuern zahlen muss, dann hat man 7,5 Millionen
und ist immer noch nicht arm . Da ist also Luft nach oben .
({8})
Schließlich, weil wegen des letzten Tagesordnungspunktes auch die Sozialpolitikerinnen und Sozialpolitiker hier sind: bitte einkommensbezogene Heranziehung
der Managervergütungen im Rahmen der Bürgerversicherung zur gesetzlichen Krankenversicherung
({9})
und im Rahmen der Erwerbstätigenversicherung auch
zur Rentenversicherung .
({10})
Dann haben alle etwas davon, und dann können wir uns
solche Anträge sparen .
({11})
Damit schließe ich die Aussprache .
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/9838 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen . Die Federführung ist
jedoch strittig . Die Fraktionen von CDU/CSU und SPD
wünschen die Federführung beim Ausschuss für Recht
und Verbraucherschutz . Die Fraktion Die Linke wünscht
die Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und
Energie .
Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
Fraktion Die Linke abstimmen, also Federführung beim
Wirtschaftsausschuss . Wer für diesen Überweisungsvor-
schlag stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen . - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Gibt es keine . Der
Überweisungsvorschlag ist damit mit den Stimmen von
CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der Fraktionen
Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt .
Ich lasse jetzt über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen von CDU/CSU und SPD abstimmen, näm-
lich die Federführung beim Ausschuss für Recht und
Verbraucherschutz anzusiedeln . Wer stimmt für diesen
Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Da-
mit ist dieser Überweisungsvorschlag angenommen mit
den Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stim-
men der Fraktion Die Linke und vom Bündnis 90/Die
Grünen .
Ich rufe jetzt die Zusatzpunkte 11 a und 11 b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes und anderer Gesetze
Drucksache 18/9232
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({0})
Drucksache 18/10064
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({1})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus Ernst,
Jutta Krellmann, Matthias W . Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Etablierung von Leiharbeit und Missbrauch von Werkverträgen verhindern
- zu dem Antrag der Abgeordneten Beate
Müller-Gemmeke, Corinna Rüffer, Katja
Keul, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Missbrauch von Leiharbeit und Werkverträgen verhindern
Drucksachen 18/9664, 18/7370, 18/10064
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . - Widerspruch
dagegen erhebt sich nicht . Dann ist das so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache und erteile zuerst das Wort
der Parlamentarischen Staatssekretärin Anette Kramme
für die Bundesregierung .
({2})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sie alle kennen die jahrelangen Debatten um
die Leiharbeit: Stammbelegschaften, die sich durch Leiharbeitnehmer unter Druck gesehen haben, Leiharbeitnehmer, die sich ausgenutzt gefühlt haben, aber auch Betriebsräte und Gewerkschaften, die der Auffassung sind,
dass sie nicht hinreichend Rechte haben .
Meine Damen und Herren, wir stärken die Rechte der
Stammbelegschaften . Wir stärken die Rechte der Leiharbeitnehmerinnen und Leiharbeitnehmer . Und wir schaffen mehr Handlungsoptionen für die Gewerkschaften
und Betriebsräte .
({0})
Lassen Sie mich das anhand einiger Beispiele verdeutlichen:
Erstens . Die Arbeitnehmerüberlassung muss künftig durch die Verleiher und Entleiher immer offengelegt
werden . Es ist künftig also nicht mehr möglich, die Arbeitnehmerüberlassung als Werkvertrag zu tarnen, um
den Beschränkungen bei der Leiharbeit zu entgehen und
es, falls das Ganze auffliegt, als Leiharbeit abzuwickeln.
Zweitens . Wir verbessern die Informationsrechte der
Betriebsräte . Betriebsräte haben künftig ein Recht auf
Information darüber, in welchem zeitlichen Umfang, an
welchem Ort und mit welchen Aufgaben Fremdpersonal
in ihrem Betrieb eingesetzt wird . Außerdem hat der Betriebsrat das Recht, die Vorlage der dem Einsatz zugrundeliegenden Verträge zu verlangen . Diese Informationsrechte stärken den Betriebsrat in seinem Wächteramt .
Drittens . Erstmals seit dem Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuches vor über einhundert Jahren definieren
wir den Begriff „Arbeitsverhältnis“, und wir definieren,
was ein Arbeitsvertrag ist . Wir haben es endlich geschafft, diese Gesetzeslücke zu schließen und damit mehr
Rechtssicherheit zu schaffen.
({1})
Viertens . Unser Gesetzentwurf setzt neue Leitplanken
bei der Bezahlung und bei der Überlassungshöchstdauer von Leiharbeitnehmern . Der Grundsatz „Equal Pay“
greift regelmäßig nach neun Monaten . Die Höchstüberlassungsdauer ist jenseits von Möglichkeiten der Tarifvertragsparteien der Entleiherbranche auf 18 Monate
festgelegt .
Fünftens . Wir sichern die Möglichkeit, faire Tarifvertragsverhandlungen zu führen, indem wir den missbräuchlichen Einsatz von Leiharbeitnehmerinnen und
Leiharbeitnehmern als Streikbrecher verhindern .
({2})
Bereits jetzt gibt es bekanntermaßen ein Leistungsverweigerungsrecht für Leiharbeitnehmer im Falle eines
Streikes im Einsatzbetrieb. Wir haben es aber zu häufig
erlebt, dass Leiharbeitnehmer und Leiharbeitnehmerinnen in diesem Fall unter Druck gesetzt und gezwungen
werden, den Streik von Kollegen zu unterlaufen . Mit diesem Gesetzentwurf ergänzen wir das Leistungsverweigerungsrecht für Leiharbeitnehmer durch das gesetzliche
Verbot, Leiharbeitskräfte als Streikbrecher tätig werden
zu lassen .
({3})
Sechstens . Dieser Punkt, bei dem es um die Unternehmensmitbestimmung geht, ist mir persönlich sehr wichtig, weil damit etwas für die Landschaft der Betriebe in
diesem Land getan wird: Durch die Berücksichtigung
der Leiharbeitnehmerinnen und Leiharbeitnehmer bei
den Schwellenwerten der Unternehmensmitbestimmung
werden zahlreiche Unternehmen in die drittelparitätische
oder sogar in die paritätische Mitbestimmung hineinrutschen . Das bedeutet, dass es dadurch tatsächlich Mitbestimmung in diesen Unternehmen geben wird .
Meine sehr geehrten Damen und Herren, lassen Sie
mich abschließend Folgendes sagen: Ich bin der festen
Überzeugung, dass das Gesetz wirken wird, und zwar
deshalb, weil wir scharfe Sanktionen für diejenigen vorgesehen haben, die sich nicht an die neuen Regeln halten
wollen .
Dafür haben wir Ordnungswidrigkeiten mit Geldbußen eingeführt: Bei einer verdeckten Arbeitnehmerüberlassung und bei einem Verstoß gegen die Überlassungshöchstdauer beträgt die Geldbuße jeweils bis zu
30 000 Euro . Bei einem Einsatz der Leiharbeitskräfte als
Streikbrecher beträgt die Geldbuße bis zu 500 000 Euro .
Vor allen Dingen haben wir aber geregelt, dass bei bestimmten Verstößen kraft Gesetzes ein Arbeitsverhältnis
zwischen Leiharbeitnehmer und Entleiher entsteht . Das
ist bisher schon der Fall, wenn der Verleiher keine Verleiherlaubnis hat .
({4})
Künftig gilt das auch, wenn die Arbeitnehmerüberlassung nicht offengelegt wird oder wenn die Überlassungshöchstdauer überschritten wird .
Meine sehr geehrten Damen und Herren, aus meiner Sicht handelt es sich hier um einen ausgewogenen
Gesetzentwurf, mit dem wir nach meiner Überzeugung
etwas tun, um mehr Ordnung auf dem Arbeitsmarkt zu
schaffen. Wir bekämpfen damit den Missbrauch von
Vizepräsident Johannes Singhammer
Leiharbeit und Werkverträgen und stärken die Sozialpartnerschaft in diesem Land .
({5})
Ich bitte Sie deshalb um Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf und bedanke mich herzlich für die Aufmerksamkeit .
({6})
Der Kollege Klaus Ernst spricht jetzt für die Fraktion
Die Linke .
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Kramme, das war wieder eine Rede nach dem
Motto: Dem Unterbewusstsein ist es egal, wer einem auf
die Schulter klopft . - Dass Sie sich bei diesem Gesetzentwurf selber loben, wundert mich allerdings wirklich .
Die Zuschauer, die hier sitzen, sind durch den Vordereingang in dieses Parlamentsgebäude hereingegangen,
nicht wie wir, die wir wie die Maulwürfe unterirdisch hereinkommen . Wenn man vorne hereinkommt, dann liest
man: „Dem deutschen Volke“ . Das deutet darauf hin,
dass nicht nur diese Halle dem deutschen Volk gehört,
sondern dass hier auch Gesetze gemacht werden sollen,
die im Interesse der Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger sind . Das ist der Sinn dieses Spruches .
({0})
Meine Damen und Herren, jetzt fragen wir einmal:
Liegt die Lage in diesem Lande denn im Sinne des Gemeinwohls? Bei der Leiharbeit liegt das mittlere Einkommen bei 1 700 Euro, bei Menschen mit einem normalen
Job sind es 2 960 Euro . Ist das im Sinne des Gemeinwohls? Das sind 1 260 Euro weniger . Wir wissen, dass
Leiharbeitnehmerinnen und Leiharbeitnehmer bei derselben Tätigkeit deutlich schlechter entlohnt werden und
dass sie unter deutlich schlechteren Bedingungen arbeiten . Das alles ist bekannt .
Was ändert nun dieses Gesetz daran? Wir stellen uns
die Frage, ob dieses Gesetz im Interesse des Gemeinwohls ist oder ob sich bei dieser Gesetzgebung offensichtlich andere Interessen durchgesetzt haben . Sie von
der SPD haben einmal gesagt: Gleicher Lohn bei gleicher
Arbeit . Sie waren ja mal auf dem richtigen Weg; in Ihrem
Wahlprogramm steht ja das Ziel „Gleicher Lohn bei gleicher Arbeit“ . Das ist eine sinnvolle Lösung . Sie schlagen
hier aber einen Gesetzentwurf vor, in dem gleicher Lohn
bei gleicher Arbeit erst nach neun Monaten Ausleihzeit
im selben Betrieb erfolgen soll . Das hat doch nichts mit
gleichem Lohn bei gleicher Arbeit zu tun . Sie wissen
doch, dass nur 25 Prozent der Beschäftigten überhaupt
neun Monate oder länger in einem Betrieb beschäftigt
sind . Das ist Etikettenschwindel, was Sie hier betreiben,
meine Damen und Herren .
({1})
Ich habe vorhin das Wahlprogramm der SPD erwähnt .
Ich weiß, ihr wolltet eine andere Lösung . Ich weiß, dass
es die CDU/CSU-Fraktion ist, die das nicht will, weil
diese Fraktion sich eben nicht am Gemeinwohl, sondern
am Interesse der Leiharbeitsfirmen orientiert. Das ist das
Problem in diesem Lande, meine Damen und Herren .
({2})
Jetzt wollen wir uns das einmal im Detail ansehen .
Erster Punkt . Wem nützt es denn, dass Leiharbeit in
diesem Land überhaupt akzeptiert wird? Wo ist der Unterschied zu einer normalen Beschäftigung? Wenn ein
Unternehmer jemanden beschäftigt, dann muss der Beschäftige für den einen Unternehmer eine Leistung erbringen . Dieser Arbeitgeber will an ihm verdienen . Bei
der Leiharbeit haben wir das Problem, dass am selben
Beschäftigten zwei verdienen wollen: derjenige, der ihn
verleiht, und derjenige, für den er arbeitet . Deshalb ist
die Forderung der Linken schon richtig, einmal darüber
nachzudenken, ob dieses System einen Sinn hat und ob
es überhaupt im Gemeinwohlinteresse liegt .
({3})
Zweiter Punkt . Denken wir einmal darüber nach:
Wem nützt es denn, dass bis zu neun Monate lang kein
gleicher Lohn bei gleicher Arbeit gezahlt wird? Das nützt
natürlich den Leiharbeitsunternehmen . Es nützt auch den
Unternehmen, bei denen die Leiharbeiter beschäftigt
werden, weil die Unternehmen ihnen natürlich geringere
Löhne als demjenigen zu zahlen haben, der in dem Betrieb normalerweise vollzeitbeschäftigt wird . Das ist der
Zusammenhang . Diesen wollen Sie mit Ihrem Gesetzentwurf nicht ändern .
Im Übrigen: Leiharbeit könnte vielleicht durch eine
Begrenzung funktionieren . Man könnte zum Beispiel anführen, dass Vollzeitarbeit nicht durch Leiharbeit ersetzt
werden darf. Auch da treffen Sie keine Regelung, weil
Sie eine Höchstüberlassungsdauer von bis zu 18 Monaten zulassen, aber nicht bezogen auf den einzelnen Arbeitsplatz, sondern bezogen auf den einzelnen Beschäftigten . Das bedeutet: Derselbe Arbeitsplatz kann immer
wieder mit einem Leiharbeiter besetzt werden . Wem
nützt das? Ist das im Interesse des Gemeinwohls? Nein,
das ist nur im Interesse der Verleihfirmen und derer, die
solche Arbeitnehmer beschäftigen . Mit Gemeinwohl hat
das nichts zu tun, meine Damen und Herren .
({4})
Wenn es darum geht, flexibel zu sein, dann verweise ich auf die Rechtslage in diesem Lande . Sie können
befristet Beschäftigte nahezu ohne Einschränkungen in
einem Betrieb beschäftigen, wenn es dafür einen sachlichen Grund gibt . Eine Auftragsspitze wäre ein sachlicher Grund . Sie könnten diese Spitzen mit befristeter
Beschäftigung ausgleichen . Nein, das machen Sie nicht,
weil dann nämlich gleicher Lohn bei gleicher Arbeit gezahlt werden müsste . Alle Beschäftigten im Betrieb würden nach demselben Tarif arbeiten und dieselben Löhne
erhalten . Das wollen Sie nicht . Sie machen ein Gesetz im
Interesse der Leiharbeitsunternehmen und im Interesse
der Unternehmen, die Leiharbeiter beschäftigen .
Letzter Punkt . Schauen wir uns VW an . Es gab eine
Debatte darüber, dass VW die Leiharbeiter nicht übernehmen, sondern rausschmeißen will . Man weiß, wem
das dient . Das ist kein Gesetz im Sinne des deutschen
Volkes . Das ist ein Gesetz im Sinne der Leiharbeitsunternehmen .
({5})
Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Karl
Schiewerling .
({0})
Im Koalitionsvertrag haben wir vereinbart, Herr Präsident, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen, dass wir die missbräuchlichen Entwicklungen
im Bereich von Leiharbeit und Werkverträgen angehen
wollen . Das machen wir mit diesem Gesetz . Dieses Gesetz ebnet neue Wege . Ich halte das für richtig . Allerdings
fangen wir damit nicht erst an; wir haben bereits in der
letzten Koalition unter den damaligen Bedingungen eine
ganze Menge organisiert . Wir setzen das fort . Wir wollen
faire Bedingungen - daran arbeiten wir -, aber wir wollen auch die Chancen nutzen, die die Leiharbeit bietet .
Lieber Herr Kollege Ernst, ich finde es schon abenteuerlich, wie Sie „Gemeinwohl“ definieren. Für uns heißt
Gemeinwohl, dass wir Menschen, die sonst keine Perspektive haben, in Beschäftigung bringen . Für uns heißt
Gemeinwohl, dass wir den Menschen, die Hilfe brauchen, Hilfe geben . Für uns heißt Gemeinwohl nicht unbedingt, ein starres System zu schaffen, in dem sich keiner
mehr bewegen kann und in dem die Wirtschaft hinterher
keine Luft mehr bekommt .
({0})
Meine Damen und Herren, das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz, das wir hier verändern, richtigerweise verändern, ist ein Schutzgesetz, es muss aber auch Chancen
eröffnen, dass Menschen über diesen Weg in Beschäftigung kommen . Dass Sie das hier ständig so darstellen,
als sei das alles Ausbeutung, dazu muss ich sagen: Das ist
purer Unfug . Viele der Menschen, die jetzt in Leiharbeit
tätig sind, wären sonst möglicherweise nicht erwerbstätig, weil nämlich keineswegs gesichert wäre, dass sie
über andere Wege im Arbeitsmarkt untergekommen wären .
({1})
Diese Fragen sind hinten und vorn nicht geklärt . Dies so
darzustellen, wie Sie es getan haben, halte ich für grundfalsch .
Meine Damen und Herren, wir wollen die Chancen
für die Menschen nutzen . Wir wollen mit der Reform des
Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes gleichzeitig Dinge in
Ordnung bringen . Frau Kramme hat das eingangs dargestellt . Das kann ich nur unterstreichen und sagen, dass
das auch unsere Ziele sind . Unser Ziel ist allerdings auch,
dass wir an bestimmte Dinge mit Augenmaß herangehen .
Die Frage, wie und wann Sanktionen greifen, haben wir
im Ausschuss noch einmal vernünftig geklärt .
({2})
Ich will nur sagen, dass von allen Menschen, die in
Zeitarbeit tätig sind, 98 Prozent unter einem Tarifvertrag
arbeiten, 90 Prozent in Vollzeit arbeiten, 70 Prozent aus
der Arbeitslosigkeit kommen und 29 Prozent keinen Berufsabschluss haben . Ich sage Ihnen: Für diese Menschen
brauchen wir auch weiter den Weg über die Zeitarbeit in
Beschäftigung .
({3})
Wir werden erleben, dass wir dieses Instrument auch in
Zukunft benötigen, wenn uns zum Beispiel die Aufgabe
gestellt ist, viele Flüchtlinge auf dem Arbeitsmarkt unterzubringen . Ich möchte gern, dass wir dieses Instrument
dafür nutzen können .
Viele Betriebe halten sich daran, haben eigene Dinge
entwickelt und eigene Schwerpunkte gebildet . In meinem
Wahlkreis zahlt zum Beispiel die Firma Schmitz Cargobull 2 000 Beschäftigten, knapp 560 Leiharbeitnehmern,
Zeitarbeitnehmern, bereits ab dem ersten Tag Equal Pay .
({4})
Warum hat die Firma das so gemacht? Nicht deshalb,
weil sie Auftragsspitzen auffangen will, sondern deshalb,
weil sie aus den Erfahrungen mit der Finanzkrise 2008
gelernt hat, dass die gesamte Firma in Gefahr ist, wenn
sie die Flexibilität für die Beschäftigten nicht hat . Die
Bedingungen, die für die Menschen gelten, die dort als
Leiharbeitnehmer tätig sind, sind fair und tarifvertraglich
abgesichert . Das wird mitgetragen . Der Betriebsrat - mit
dem habe ich mich heute Morgen noch einmal ausführlich unterhalten - hat diese Dinge ausdrücklich mitgetragen .
({5})
Auch wir haben Verleiharbeitsfirmen, die entsprechende klare Regelungen haben . Ich glaube, dass das, was
dort tarifvertraglich geregelt ist, vernünftig angepackt ist .
Meine Damen und Herren, Inhalt des Gesetzentwurfes
ist: nach 9 Monaten Einsatzdauer Equal Pay; Überlassungshöchstdauer von 18 Monaten . In Fortführung anderer Gesetze, die wir in dieser Legislatur miteinander
beschlossen haben, machen wir auch hier etwas, worauf
wir als Koalition großen Wert legen: Wir stärken die Tarifautonomie . Wir lassen nämlich Ausnahmen nur zu, sofern tarifvertragliche Vereinbarungen dies ermöglichen .
Ich halte das für einen richtigen Schritt, weil wir auf diesem Wege den Arbeitgebern sagen, dass es sich lohnt, im
Arbeitgeberverband zu sein und über Tarifverträge die
Bedingungen am Arbeitsmarkt gemeinsam mit den Gewerkschaften ordentlich und vernünftig auszuhandeln .
Deswegen halte ich diesen Schritt auch für richtig .
({6})
Noch ein Punkt lag uns sehr am Herzen . Wir alle kennen die Fälle: Einsatzbetriebe schließen einen Werkvertrag, und erst wenn die Finanzkontrolle Schwarzarbeit
kommt, fällt ihnen ein, dass das eine Arbeitnehmerüberlassung sein könnte . - Diesen Spurwechsel wollen wir
nicht . Es muss klar sein, was Werkvertrag, was Zeitarbeit
und Leiharbeit ist, schon alleine, um die Arbeitnehmer zu
schützen . Mit diesem Gesetz führen wir dies ein .
({7})
Viele haben übrigens die Sorge, sie könnten plötzlich
unter die Regelungen des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes fallen . Wir haben im Ausschuss noch einmal
deutlich erklärt und dargelegt, dass zum Beispiel alle,
die Beratungsdienstleistungen erbringen oder Implementierungen von neuen Projekten in einem Betrieb vornehmen, nicht darunterfallen, sondern für sie weiterhin die
werkvertragliche Regelung gilt . Das ist vernünftig und
klug . Wir sollten an dieser Stelle auch sagen: Ja, wir wollen, dass faire Bedingungen am Arbeitsmarkt herrschen;
wir wollen aber auch das Kind nicht mit dem Bade ausschütten, sondern Beschäftigung ermöglichen . Ja, wir als
CDU/CSU-Fraktion wollen vor allen Dingen mit diesem
Gesetzentwurf, den wir gemeinsam mit unserem Koalitionspartner, der SPD, auf den Weg gebracht haben und
heute beschließen, Menschen Wege in Beschäftigung
eröffnen und damit eine Grundlage für eine gute wirtschaftliche Entwicklung schaffen. Ich bin sicher, dass wir
mit diesem Gesetz gemeinsam einen wichtigen Schritt
nach vorne gehen .
({8})
Als Nächstes spricht die Kollegin Beate MüllerGemmeke, Bündnis 90/Die Grünen .
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Bis zur ersten Lesung hat es ja extrem
lange gedauert, und jetzt muss wieder alles ganz schnell
gehen . Am Montag erst war die Anhörung der Sachverständigen - da gab es viel Kritik, und zwar von allen
Seiten; jetzt gibt es auch noch Kritik vom Wissenschaftlichen Dienst -, und doch landete der Gesetzentwurf in
dieser Woche überraschend im Ausschuss, und schon
heute finden die zweite und die dritte Lesung statt. Was
soll eigentlich die Eile? Wenn so viel Kritik kommt, dann
sollten Sie, die Regierungsfraktionen, einfach einmal innehalten und die Kritikpunkte ernsthaft prüfen .
({0})
An einer Stelle haben Sie immerhin mit einem Änderungsantrag auf die Kritik reagiert . Dabei geht es um den
Missbrauch von Werkverträgen . Das vorgesehene Widerspruchsrecht für Arbeitgeber in der ursprünglichen Form
wäre für die Beschäftigten von Werkvertragsfirmen extrem fatal gewesen . So wäre ein neuer Anreiz für Betriebe entstanden, die bewusst verdeckte Leiharbeit einsetzen . So wäre auch ein neuer Schutz der Unternehmen vor
Rechtsfolgen entstanden . Deshalb gab es hierzu richtig
heftige Kritik . Auch meine Kleine Anfrage hat gezeigt,
dass die Rechtsauffassung der Bundesregierung sich
nicht wirklich mit dem deckt, was tatsächlich im Gesetzentwurf steht . Mit einem Änderungsantrag wurde jetzt
diese strittige Frage eindeutig geklärt: Bei Scheinwerkverträgen entsteht trotz Verzichtserklärung ein Arbeitsverhältnis mit dem Entleiher . Das ist gut so . Das haben
wir auch so gefordert . Deshalb war der Änderungsantrag
richtig und wichtig .
({1})
So, das war das Lob . Jetzt habe ich nur noch Kritik . Im
Gesetz fehlen weiterhin eindeutige Kriterien, um Leiharbeit und Werkverträge abzugrenzen, und zwar im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz . Wir fordern ein Zustimmungsverweigerungsrecht für Betriebsräte . Wir wollen
ein Verbandsklagerecht . Es wäre auch ganz wichtig, dass
eine Beweislastumkehr eingeführt wird; die stand schon
einmal im Gesetzentwurf, ist dann aber wieder herausverhandelt worden . - Das alles sind wirksame Maßnahmen, um den Missbrauch von Werkverträgen tatsächlich
zu verhindern; aber nichts davon steht im Gesetzentwurf .
Daher wird er seiner eigenen Zielsetzung nicht gerecht .
({2})
Sehr geehrte Regierungsfraktionen, wirklich dringend
notwendig ist eine echte Reform der Leiharbeit . Das
haben die Fakten in der Stellungnahme des WSI noch
einmal deutlich gemacht: Durch Leiharbeit entsteht „ein
erhöhtes Armutsrisiko, während des Erwerbslebens, aber
auch im Rentenalter“ . Leiharbeitskräfte haben deutlich
schlechtere Arbeitsbedingungen, sie sind häufiger krank,
und es gibt auch mehr Arbeitsunfälle . Sie werden schneller arbeitslos. Der Brückeneffekt hingegen ist mit 7 bis
14 Prozent gering .
Die Leiharbeitskräfte fühlen sich zu Recht benachteiligt und ähnlich wie die Arbeitslosen nur schlecht in
die Gesellschaft integriert . Der Handlungsbedarf ist also
groß . Eine Mogelpackung wie der vorliegende GesetzKarl Schiewerling
entwurf wird aber wenig daran ändern . Das kritisieren
wir scharf .
({3})
Frau Ministerin, Sie versprechen Equal Pay; doch
gleichen Lohn für gleiche Arbeit gibt es frühestens nach
neun Monaten . Das war übrigens immer die Position der
FDP . Es ist bekannt, dass drei Viertel der Leiharbeitsverhältnisse höchstens neun Monate dauern . Zudem sind
auch Rotationslösungen möglich . Das hat der Wissenschaftliche Dienst auch bestätigt .
Der Gesetzentwurf ist ein reiner Etikettenschwindel .
Denn von diesem Equal Pay wird kaum jemand profitieren .
({4})
Frau Ministerin, Sie versprechen auch, dass die Betriebe zukünftig Leiharbeit nur vorübergehend, also zeitlich begrenzt, bei Auftragsspitzen einsetzen können . Die
Höchstüberlassungsdauer ist aber nicht an den Arbeitsplatz, sondern an die Leiharbeitskraft gebunden . Das kritisiert auch der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages . Ich zitiere:
Im Ergebnis wird es nach dem Gesetzentwurf möglich bleiben, Arbeitsplätze langfristig mit Leiharbeitnehmern zu besetzen, sofern diese spätestens
nach 18 Monaten ausgetauscht werden . … Insoweit
sind ähnliche „Rotationslösungen“ wie beim EqualPay-Anspruch denkbar …
Auch die Höchstüberlassungsdauer geht also an der
Zielsetzung vorbei . Leiharbeit ist für die Betriebe zukünftig nicht nur vorübergehend, sondern dauerhaft
möglich . So wird der Missbrauch nicht verhindert, sondern gesetzlich legitimiert, und das geht gar nicht .
({5})
Ich möchte einen weiteren Aspekt nochmals ansprechen; denn hier hat mich vor allem die Begründung geärgert. Auch nicht tariflich gebundene Betriebe können
durch Bezugnahme von Equal Pay abweichen und so von
den Tarifverträgen profitieren. Wir haben in unserer Kleinen Anfrage nachgefragt und die Begründung zur Antwort bekommen, dass so Tarifverträge flächendeckender
angewendet werden . Ich weiß gar nicht, ob ich diese Antwort als unwissend, dreist oder auch zynisch bezeichnen
soll . So werden gerade nicht die Sozialpartner gestärkt
und schon gar nicht die Leiharbeitskräfte . Denn bei der
Leiharbeit gilt doch per Gesetz der Tarifvorrang . Ohne
Bezugnahme müssten sich die Leiharbeitsfirmen organisieren und auch Tarifverträge abschließen . Sonst würde
zum Vorteil der Leiharbeitskräfte Equal Pay ab dem ersten Tag gelten . Die geplante Regelung und diese Begründung sind unsäglich und nicht akzeptabel .
({6})
Sehr geehrte Regierungsfraktionen, ich sage es immer wieder: Wir Grünen haben für die Leiharbeit eine
einfache und zugleich effektive Lösung. Leiharbeit muss
sich für die Unternehmen lohnen - das ist klar -, aber sie
muss sich auch für die Leiharbeitskräfte auszahlen . Deshalb fordern wir gleichen Lohn für gleiche Arbeit ab dem
ersten Tag und einen Flexibilitätsbonus von 10 Prozent .
Über den Preis macht Leiharbeit dann betriebswirtschaftlich auch nur vorübergehend Sinn, und zwar ohne bürokratische Höchstüberlassungsdauer . Diese Regelungen
sind eindeutig, zielführend und vor allem gerecht .
({7})
Der Gesetzentwurf verspricht viel, aber Anspruch und
Wirklichkeit gehen weit auseinander . Professor Sell hat
die Kritik in seiner Stellungnahme gut auf den Punkt gebracht . Ich zitiere nochmals:
Arbeitgeber können damit Aufgaben und Arbeitsbereiche dauerhaft von niedrig entlohnten Leiharbeitern bearbeiten lassen, und die Risiken des flexiblen Arbeitsmarktes tragen allein die Beschäftigten,
nicht die Arbeitgeber .
Damit hat er recht .
An dieser Stelle ist der kleinste gemeinsame Nenner
der Großen Koalition besonders klein . Im Mittelpunkt
stehen hier vor allem die Interessen der Wirtschaft und
eben nicht die Menschen . Das Gesetz wird die Situation
der Leiharbeitskräfte nicht verbessern, sondern eher verschlechtern . Deshalb lehnen wir den Gesetzentwurf ab .
Vielen Dank .
({8})
Waltraud Wolff hat als nächste Rednerin für die
SPD-Fraktion das Wort .
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin . - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Meine Damen und Herren! Für die SPD
kann ich sagen: Wir arbeiten nicht erst seit letzter Woche
an dem Thema, sondern wir haben schon in der letzten
Legislaturperiode einen Antrag dazu eingebracht, Frau
Müller-Gemmeke .
Aber, meine Damen und Herren, wenn wir oder Sie
zu Hause von Leiharbeit oder Werkverträgen reden, dann
denkt niemand zuerst an gute Arbeitsbedingungen; man
denkt vielmehr an Lohndumping; man denkt daran, dass
Menschen als Streikbrecher eingesetzt werden usw .
Genau weil das so ist, haben wir gesagt: Wir wollen
die Leiharbeit heute wieder auf ihre Kernfunktion hin
orientieren .
({0})
Das ist richtig, und das ist wichtig . Das ist ein Anfang .
Meine Damen und Herren, das ist mir ganz besonders
wichtig im Hinblick auf die neuen Bundesländer, weil
das ein wichtiges Signal für die Tarifbindung darstellt .
({1})
Für uns ist ganz klar: Soziale Marktwirtschaft gibt es
nur mit starken Sozialpartnern . Soziale Marktwirtschaft
läuft in die falsche Richtung, wenn immer mehr Unternehmen die Arbeitgeberverbände verlassen; das ist in
meinem Bundesland Sachsen-Anhalt Tatsache . Sie setzen auf unsichere Arbeitsverhältnisse . Deshalb setzen
wir ein klares Signal . Wir setzen auch Grenzen, nämlich
bei der Höchstüberlassungsdauer und auch beim Lohn:
gleicher Lohn für gleiche Arbeit .
Herr Ernst, ich möchte ein Beispiel nennen . Ich war
unlängst in Thüringen bei Kali und Salz . Es gibt auch andere Beispiele für Leiharbeitsfirmen; ich nenne die Firma
jetzt einfach, weil das ein gutes Beispiel war: Technicum .
Diese Firma arbeitet für Kali und Salz im Verbundwerk
Werra . Sie hat den Tarifvertrag von Kali und Salz für ihre
Mitarbeiter übernommen . Da sage ich: Weiter so! Wenn
Leiharbeitsfirmen so arbeiten, ist es etwas Gutes.
({2})
Meine Damen und Herren, wir begegnen dem Missbrauch von Leiharbeit und Werkverträgen genau auf diese Weise . Wir sagen aber auch, dass Betriebe und Gewerkschaften bei ihren Verhandlungen den Spielraum
bekommen sollen, damit sie abweichen können . Die
IG Metall zum Beispiel hat explizit darum gebeten .
Wir sagen: Hoffentlich schafft das Anreize, dass Arbeitgeber wieder in den Arbeitgeberverband und an den
Verhandlungstisch zurückkehren . Das stärkt die Tarifbindung .
({3})
„Spielraum schaffen“ heißt aber auch, dass die Situation der Hälfte der Leiharbeitnehmerinnen und Leiharbeitnehmer verbessert werden kann, nämlich die Situation
derjenigen, die weniger als neun Monate im Leihbetrieb
arbeiten . Auch darüber kann am Verhandlungstisch gesprochen werden, an dem nun auch die Betriebsräte
gestärkt sitzen, weil sie besser über die Zahlen und
Aufgaben des Fremdpersonals auf dem Firmengelände
Bescheid wissen .
Leiharbeitnehmerinnen und Leiharbeitnehmer - das
hat auch die Staatssekretärin vorhin gesagt - werden in
Zukunft mitgezählt, wenn es darum geht, freigestellte
Betriebsräte zu wählen und Aufsichtsratsposten zu besetzen .
({4})
Auch das, meine Damen und Herren, stärkt die Position von Beschäftigten .
Ich weiß - mir geht es auch so -, dass dieser Gesetzentwurf nicht das Nonplusultra ist . Wir haben auch klarere Regeln erwartet . Dennoch ist der Gesetzentwurf zu
dieser Zeit richtig . Wir kommen dem Ziel, Leiharbeit
und Werkverträge zu bekämpfen, ein Stück näher . Wir
als SPD bleiben jedenfalls dran .
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen .
Ich habe meinen Sprechzettel schon zusammengefaltet .
Wunderbar .
({0})
Ich will nur sagen, dass für die SPD das Thema so
wichtig ist, dass wir es auf jeden Fall nicht aus den Augen verlieren .
Vielen Dank .
({0})
Ich bitte noch einmal, etwas mehr auf die Uhr zu achten . Zeitlich liegen wir schon eine halbe Stunde zurück .
({0})
Es wäre nicht so gut, wenn ich zum Schluss mit meinen
Kolleginnen hier oben und den Redenden allein wäre,
weil alle anderen schon auf dem Weg in ihren Wahlkreis
sind . Daher bitte ich, das auch ein wenig zu berücksichtigen .
Frau Krellmann hat jetzt das Wort für die Fraktion Die
Linke .
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Bundesregierung peitscht dieses Gesetz
mit einem Affenzahn durch den Bundestag,
({0})
als ginge es um die Agenda 2010; das hatten wir doch
schon einmal . Seit es Leiharbeit und Werkverträge gibt,
gibt es zwei Klassen von Belegschaften in den Betrieben .
Trotzdem unternimmt die Bundesregierung nichts, und
bei Werkverträgen und Leiharbeit bleibt praktisch alles
beim Alten . Das ist absoluter Beschiss an den Beschäftigten .
({1})
Im Supermarkt sehen wir das Zweiklassensystem direkt . Die Stammbelegschaft trägt weiße Kittel, WerkverWaltraud Wolff ({2})
tragsbeschäftigte tragen schwarze T-Shirts . Alle machen
die gleiche Arbeit . Die Beschäftigten in Weiß haben geregelte Arbeitszeiten und einen Tariflohn. Ihre Kolleginnen
und Kollegen in Schwarz können oft nur davon träumen .
Aber anstatt diese himmelschreiende Ungerechtigkeit zu
beseitigen, passiert nichts . Selbst zu einer Umkehr der
Beweislast zugunsten der betroffenen Beschäftigten sind
Sie nicht bereit. Sollte sich ein Betroffener doch einmal
vor Gericht trauen, hat er vermutlich keine Chance . Er
kann nicht wirklich nachweisen, dass es sich um einen
Scheinwerkvertrag handelt . Die dafür notwendigen Dokumente hat in der Regel nur der Arbeitgeber . Damit ist
klar: Beschäftigte, die über Scheinwerkverträge ausgebeutet werden, bekommen von der Bundesregierung keine Hilfe . Aber auch legale Werkverträge werden genutzt,
um ganze Produktionslinien auszulagern . Ziel dabei ist,
Lohnkosten zu sparen und Belegschaften zu spalten .
Die beste Möglichkeit, gegen Missbrauch von Werkverträgen vorzugehen, ist die Stärkung der zwingenden
Mitbestimmung . Informationsrechte der Betriebsräte
sind keinen Pfifferling wert, wenn diese nichts tun können, um Ungerechtigkeiten zu beenden .
({3})
Damit fallen Sie den Betriebsräten in den Rücken .
Ich selbst bin seit 44 Jahren Mitglied der Gewerkschaft . Wenn ich von Ihnen höre, dass „die Gewerkschaften“ das eingefordert haben, dann schwillt mir der
Kamm . Sich bei den Gewerkschaftsvorsitzenden im
Ministerium für Arbeit und Soziales die Zustimmung
zu holen, bedeutet nicht, dass gleichzeitig alle Gewerkschaftsmitglieder diese Positionen mittragen . Hören Sie
auf, ständig Millionen Beschäftigte für Ihre Interessen
zu vereinnahmen! Die Beschlusslage auf den Gewerkschaftstagen zu Leiharbeit und Werkverträgen ist ganz
klar: Gleiches Geld für gleiche Arbeit ab dem ersten Tag!
Und: Stopp des Missbrauchs von Werkverträgen durch
Stärkung der Mitbestimmung!
Frau Wolff, Sie haben gesagt, es handele sich um eine
Stärkung der Tarifverträge . Ich habe gelernt, dass Tarifverträge dazu da sind, bessere Regelungen zu schaffen,
keine schlechteren. Was nun passiert, schafft schlechtere Bedingungen für die Beschäftigten . In meiner Region
gibt es Tarifverträge, die gleiches Geld für gleiche Arbeit
vorsehen . Das ist also möglich . Ich kenne das aus eigener Erfahrung . Aber das, was hier passiert, ist das genaue
Gegenteil . Das wird sich gegen die Gewerkschaften wenden . Sie vertreten als Bundesregierung und Große Koalition nicht meine Interessen als Gewerkschafterin . Sie
vertreten nicht die Interessen vieler Beschäftigter und
Betriebsräte, erst recht nicht die Interessen aller Beschäftigten .
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen .
Ich habe gehofft, dass Sie mir zusätzliche Zeit geben,
wenn ich schon keine Frage stellen kann . Aber ich habe
auch nur noch einen Satz zu sagen .
Die Linke lehnt diesen Gesetzentwurf ab, weil er keine Verbesserung für die Betroffenen, sondern eine Verschlechterung darstellt .
({0})
Als nächster Redner hat Wilfried Oellers von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir beraten heute in zweiter und dritter Lesung den Gesetzentwurf zu den Werkverträgen und der Zeitarbeit . Im
Koalitionsvertrag haben wir seinerzeit vereinbart, dem
Missbrauch von Werkverträgen und Zeitarbeit entgegenzuwirken . Dabei bestand die Besonderheit der Gesetzesinitiative darin, dass auf der einen Seite dem Missbrauch
entgegengewirkt werden sollte und auf der anderen Seite die Werkverträge und die Zeitarbeit als Flexibilisierungsinstrument in handhabbarer Weise erhalten bleiben
sollten, da sie in der heutigen Arbeitswelt und für unsere
Wirtschaft einfach unverzichtbar sind .
Anzuerkennen ist, dass gerade die Zeitarbeitsbranche
bzw . die Tarifpartner in den letzten Jahren viele Maßnahmen umgesetzt haben, um diesen Bereich zu regeln und
Missbrauch entgegenzuwirken .
Zudem weise ich auch an dieser Stelle ausdrücklich
auf die positiven Aspekte der Zeitarbeit hin: Brückenfunktion für Arbeitslose in den Arbeitsmarkt,
({0})
der hohe Klebeeffekt hin zur festen Anstellung beim
Entleiher, auch Fahrdienste für Mitarbeiter gerade in
ländlichen Bereichen mit ungünstigen Verbindungen im
öffentlichen Nahverkehr, Qualifizierung der Mitarbeiter
durch die Zeitarbeitsunternehmen . Kleine Unternehmen
ohne Personalabteilung bedienen sich der Zeitarbeitsunternehmen im Wege des Personalrecruitings, und junge
Menschen und Absolventen finden über Zeitarbeitsunternehmen zum Teil schneller eine feste Anstellung bei
Unternehmen .
({1})
Zeitarbeitsunternehmen können in diesen Fällen passgenaue Lösungen bieten . Das hilft nicht nur den Unternehmen, sondern allen voran den Menschen, in Arbeit zu
kommen. Diese positiven Effekte der Zeitarbeit wurden
mir im Rahmen meiner Sommertour durch meinen Wahlkreis häufig bestätigt.
Neben all den positiven Auswirkungen verkenne ich
selbstverständlich nicht, dass es an der einen oder anderen Stelle auch Missbrauch gibt . Diesem werden wir mit
diesem Gesetz weiter entgegenwirken . Neben den bereits
genannten Regelungen möchte ich ergänzend Folgendes
erwähnen: Als Jurist sei es mir erlaubt, zunächst auf die
Regelung des § 611a BGB hinzuweisen, die im parlaJutta Krellmann
mentarischen Verfahren überarbeitet wurde und nun in
der Systematik des BGB hilft, den Arbeitsvertrag vom
Werkvertrag besser abzugrenzen .
Im Betriebsverfassungsgesetz haben wir die Informationsrechte des Betriebsrates konkretisiert . Nach § 80
Absatz 2 Satz 3 Betriebsverfassungsgesetz hat der Unternehmer dem Betriebsrat den Vertrag vorzulegen, den
er mit dem Werkunternehmen bzw . mit dem Zeitarbeitsunternehmen geschlossen hat . Nicht gemeint sind damit
jedoch die Arbeitsverträge, die der Werkunternehmer
wiederum mit seinen Mitarbeitern geschlossen hat .
Nun zu den Regelungen in der Zeitarbeit . Equal Pay
nach 9 Monaten und eine Höchstüberlassungsdauer von
18 Monaten gepaart mit einer tariflichen Öffnungsklausel
eröffnen Möglichkeiten, branchenspezifische Regelungen zu treffen, und stärken die Tarifautonomie.
({2})
Eine wichtige Rechtsklarstellung wurde in die Protokollerklärung des Ausschusses dahin gehend aufgenommen, dass Beratungsunternehmen und Unternehmen
im Bereich der IT, die zum Beispiel bei Optimierungs-,
Entwicklungs- und IT-Einführungsprojekten eingesetzt
werden, nicht unter die Arbeitnehmerüberlassung des
§ 1 AÜG fallen . Gleiches gilt auch klarstellend für die
DRK-Schwesternschaft .
Das aufgenommene Streikbrecherverbot ist so gestaltet, dass Zeitarbeitnehmer, die vor Beginn eines Streiks
bereits in dem bestreikten Entleiherunternehmen arbeiten, weiter ihre Tätigkeit verrichten dürfen, wenn sie es
wollen, und in Betriebsteilen, die nicht bestreikt werden,
auch weiter neue Zeitarbeitnehmer eingesetzt werden
dürfen . Vorausgesetzt ist allerdings stets, dass sie nicht
die Arbeitsleistung der streikenden Mitarbeiter übernehmen .
Die Sanktionen haben unter anderem mit dem Entzug der Verleiherlaubnis ein sehr scharfes Schwert . Im
Rahmen der Protokollerklärung wurde auch hier klarstellend darauf hingewiesen, dass ein erstmaliger oder
geringfügiger Verstoß nicht zum Entzug der Verleiherlaubnis führt . Mit dem Inkrafttreten des Gesetzes erst
zum 1 . April nächsten Jahres wird allen Beteiligten die
Gelegenheit gegeben, sich auf das Gesetz einzustellen .
Es wäre sicherlich nicht angemessen gewesen, wenn wir
uns hier im Parlament zwei Jahre Zeit nehmen, um das
Gesetz zu verabschieden, und das Gesetz dann einen Monat später vollständig umgesetzt werden muss .
Neben vielen Klarstellungen ist es mir ein besonderes
Anliegen, darauf hinzuweisen, dass hinsichtlich des Widerrufsrechts nach § 9 AÜG im parlamentarischen Verfahren noch ein weiteres Verfahren gesetzlich geregelt
werden konnte, mit dem dem Missbrauch von vorzeitig
abgegebenen Blankoerklärungen entgegengewirkt werden kann . Somit konnte im parlamentarischen Verfahren
mehr Rechtsklarheit erreicht werden, eine Schutzregelung gegen Missbrauch aufgenommen werden, der Übergang in das neue Gesetz praxisfreundlicher und § 611a
BGB rechtssystematisch korrekt gestaltet werden .
Mit der gesetzlich aufgenommenen Evaluation für das
Jahr 2020 macht der Gesetzgeber deutlich, dass er die
Entwicklung des Gesetzes aufmerksam beobachten und
er gegebenenfalls korrigierend eingreifen wird . Es ist in
meinen Augen nun geboten, die Wirkung des Gesetzes
zunächst einmal abzuwarten, anstatt die Zeitarbeit und
die Werkverträge stets an den Pranger zu stellen . Es sollte nach den langen und intensiven Diskussionen, die wir
geführt haben, nun einmal auch Ruhe im Rahmen dieser
Thematik eintreten können .
({3})
Abschließend bedanke ich mich ausdrücklich bei Ministerin Nahles, bei der Staatssekretärin Kramme, bei den
Mitarbeitern des BMAS - namentlich darf ich hier Frau
Loskamp erwähnen - sowie bei unseren Kolleginnen und
Kollegen des Koalitionspartners für die konstruktiven
Gespräche .
Herzlichen Dank .
({4})
Markus Paschke hat als nächster Redner für die
SPD-Fraktion das Wort .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Bevor ich in das Inhaltliche einsteige, Folgendes: Kollegin Krellmann, ich hatte bei Ihrem Beitrag den Eindruck,
dass Sie hier - nach dem Motto, dass es gute und schlechte Gewerkschafter gibt - versuchen, die Gewerkschaften
so ein bisschen zu spalten. Ich finde, dass das nicht so
ist . Die Gewerkschaften sind die einzige Kraft, die ausschließlich die Arbeitnehmerinteressen vertritt . Und Sie
wissen genauso wie ich, dass die Absenkung des Standards durch Scheingewerkschaften und Gefälligkeitstarifverträge verursacht wurde - und nicht durch die Gewerkschaften, die jetzt versuchen, da eine Besserung für
die Arbeitnehmer zu erreichen .
({0})
Wir haben im Koalitionsvertrag vereinbart, dass wir
Missbrauch bekämpfen wollen . Und das ist uns mit diesem Gesetz auch ein richtig gutes Stück weit gelungen .
Wir sind Realisten: Es wird immer jemanden geben, der
sich um Gesetze und Regeln nicht schert . Aber um diese
Pappenheimer haben wir uns besonders gekümmert, und
das ist auch gut so . Wenn zukünftig gegen Arbeitnehmerschutzrechte, die im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz
verankert sind, verstoßen wird, wird es nicht mehr nur
einen Klaps auf die Finger geben, sondern es werden ordentliche Sanktionen verhängt . Das ist, glaube ich, das,
was dieses Gesetz so wertvoll macht .
Es gibt hohe Geldstrafen von 30 000 Euro bis zu
500 000 Euro . Weiterhin ist es möglich, bei härteren bzw .
nachhaltigen Verstößen die Überlassungserlaubnis zu
entziehen . Bei Überschreitung der Höchstüberlassungsdauer, bei Scheinwerkverträgen oder unerlaubter ÜberWilfried Oellers
lassung kommt zukünftig ein Arbeitsverhältnis mit dem
Einsatzbetrieb zustande . Das ist doch die ganz entscheidende Frage .
({1})
In diesem Zusammenhang gibt es für die Arbeitnehmer ein Widerspruchsrecht . Es ist auch ganz klug, das
zu machen . Denn es gibt doch den einen oder anderen
Fall, wo ein Arbeitnehmer gar nicht in einen Einsatzbetrieb wechseln möchte . Das kann der Fall sein, wenn er
weiß, dass dieser Betrieb kurz vor der Insolvenz steht,
oder wenn sich der Chef dieses Betriebes nicht besonders
wertschätzend gegenüber seinen Mitarbeitern verhält .
Dieses Widerspruchsrecht wurde im Vorfeld häufig
kritisiert . Es wurde befürchtet, dass das ein Einfallstor
ist, um neue Umgehungstatbestände zum Beispiel durch
Blankowidersprüche zu schaffen.
({2})
- Nein, Jutta, überhaupt nicht . - Wir wissen auch, dass
es Urkundenfälschung ist - das ist heute schon verboten -, jemanden zu nötigen, etwas blanko zu unterschreiben . Aber wir wissen auch, dass diejenigen, die gegen
Gesetze verstoßen bzw . sie umgehen wollen, sich darum
nicht scheren . Deswegen haben wir deutlich gemacht,
dass Widersprüche nur gegenüber der Bundesagentur
für Arbeit abgegeben werden können . Das ist auch gut
so; denn dann sind Blankowidersprüche ausgeschlossen . Weiterhin ist wichtig, dass die Aufsichtsbehörde
zukünftig immer gleich Kenntnis von solchen Verstößen
bekommt . Das ist, glaube ich, ein ganz deutliches Signal
dahin gehend, dass wir es ernst meinen, den Missbrauch
zu bekämpfen .
({3})
Last, but not least haben wir in das Gesetz eine Überprüfungsklausel hineingeschrieben . Das heißt, dass wir
darauf schauen werden, ob die Regeln, die wir jetzt aufgestellt haben, wieder missbraucht werden . Wir werden
das überprüfen . Und wenn das der Fall ist, werden wir
nachsteuern und das verschärfen . Das ist, glaube ich, der
richtige Ansatzpunkt .
Damit, Herr Kollege, müssen Sie auch zum Schluss
kommen .
Ich komme zum Schluss . - Das gibt den Tarifparteien die Chance, zu beweisen, dass sie sich an die Regeln
halten . Wenn das der Fall ist, dann ist es gut . Wenn nicht,
werden wir da wieder herangehen .
Ich danke allen Beteiligten - insbesondere denen aus
dem Ministerium -, die sich an der Erstellung des Entwurfs beteiligt haben, und wünsche uns ein schönes Wochenende .
Danke schön .
({0})
Als letzter Redner in der Debatte hat Tobias Zech das
Wort .
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn
man den Kollegen der Opposition zuhört, könnte man
glauben, wir sprechen hier über moderne Sklaverei .
({0})
Wenn ich über Zeitarbeit und Werkverträge nachdenke,
dann denke ich an Flexibilität und an Wettbewerbsfähigkeit und nicht per se an Lohndumping und das Ausnehmen von Arbeitnehmern .
({1})
Ich denke daran, dass wir mit der Zeitarbeitsbranche eine
Branche haben, die sich in den letzten 14 Jahren von einer arbeitsmarktpolitischen Maßnahme zu einer Branche
mit fast 1 Million Mitarbeiter emanzipiert hat, von denen
82 Prozent ein unbefristetes Arbeitsverhältnis haben und
98 Prozent unter einen Tarifvertrag fallen .
({2})
Darauf kann man stolz sein .
({3})
Dass Sie hier versuchen, Zeitarbeit per se schlechtzureden, lassen wir nicht zu . Zeitarbeit ist eine Stütze der
deutschen Wirtschaft .
({4})
Deswegen brauchen wir ein aktuelles und zukunftsgerichtetes Gesetz . Das hat die Koalition aus SPD, CDU
und CSU heute vorgelegt .
({5})
Viel mehr noch: Zeitarbeit schafft auch Jobs. 70 Prozent aller Mitarbeiter in der Zeitarbeit waren vorher arbeitslos,
({6})
20 Prozent davon länger als ein Jahr .
({7})
Das heißt: Wir haben mit der Zeitarbeit ein Tool, um
Menschen wieder in Arbeit zu bringen, um Menschen
wieder in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren .
Stichwort „Werkverträge“ . Das, was wir bei der ersten
Lesung im Ausschuss mit Ihnen zum Thema Werkverträge diskutiert haben, hatte, entschuldigen Sie, mit der
Realität nichts zu tun . Werkverträge sind kein Instrument
für Lohndumping .
({8})
Werkverträge sind die Grundlage der deutschen Wirtschaft . Jeder Handwerker, jeder Dienstleister lebt von
Werkverträgen .
({9})
Sie reden die per se schlecht . Das entspricht nicht dem,
was wir uns für Deutschland wünschen . Das hat nichts
mit der Wettbewerbsfähigkeit dieses Landes zu tun . Das
schafft keine Arbeitsplätze. Das ist Überregulierung. Was
Sie hier fordern, schafft Arbeitslosigkeit. Das werden wir
nicht zulassen .
({10})
Wir dürfen und müssen Zeitarbeit und Werkverträgen
einen Rahmen setzen . Das haben wir getan, und zwar
mit straffen Sanktionen, mit dem Entzug der vorläufigen
Überlassungserlaubnis, mit der klaren Aussage, was ein
Werkvertrag und was Zeitarbeit ist .
Aber eines sage ich Ihnen auch: Die Entscheidung
„Make or Buy“ ist eine unternehmerische Entscheidung .
Da gehört sie auch hin . Wer die Verantwortung trägt,
muss auch die Entscheidungskompetenz haben . Auch
dem werden wir mit diesem Gesetz gerecht .
Ziel des Gesetzes ist es, so viel Sicherheit wie nötig,
aber vor allem auch so viel Flexibilität wie möglich zu
schaffen. Wir wollen gute sozialversicherungspflichtige
Arbeitsplätze erhalten und deren Zahl weiter ausbauen .
Das ist das Ziel, und das sollte uns hier allen in diesem
Haus ins Stammbuch geschrieben werden .
Die CSU hat sich, glaube ich, wie keine andere Partei
in diesem Parlament immer wieder für eine Verbesserung
und für eine Optimierung der ersten Gesetzesentwürfe
eingesetzt . Wir haben um bessere Lösungen gerungen .
Ich kann nur sagen: Das ist uns auch gelungen . Ich darf
daran erinnern, dass im ersten Entwurf die OT-Betriebe überhaupt nicht erfasst waren . Diese haben wir jetzt
einbezogen . Somit fällt der Mittelstand auch unter das
Gesetz . Wir haben die im ersten Entwurf vorgesehenen
Regelungen zum Streikrecht der Realität angepasst . Wir
haben diese unsägliche Positivliste aus dem ersten Entwurf komplett gestrichen und stattdessen eine vernünftige Definition des Arbeitnehmerbegriffs sowie eine praxistaugliche Übergangsregelung festgeschrieben .
Wie jedes Gesetz ist auch dieses Gesetz ein Kompromiss, ein Ringen von unterschiedlichen Auffassungen.
Ich bin mit der Equal-Pay-Definition nicht ganz zufrieden . Dagegen sind andere Kollegen wahrscheinlich mit
der Widerspruchsregelung nicht ganz zufrieden .
({11})
In drei Jahren schauen wir uns das Ganze noch einmal
an in der Evaluation . Bis dahin geben wir dem Gesetz
die Möglichkeit, zu wirken . Ich denke, die Koalition hat
heute ein gutes Gesetz vorgelegt . Das Gesetz ist zeitgemäß . Es hilft, Arbeitsplätze in der Zukunft zu sichern .
Deutschland muss wettbewerbsfähig bleiben . Deutschland muss fit für die Zukunft bleiben.
({12})
Dazu gehört auch der Arbeitsmarkt . Ich kann Ihnen nur
die Zustimmung empfehlen .
Herzlichen Dank .
({13})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die
Aussprache .
Wir kommen zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes und anderer Gesetze . Der Ausschuss für Arbeit und Soziales
empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 18/10064, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/9232 in der Ausschussfassung anzunehmen . Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen,
um das Handzeichen . - Wer stimmt dagegen? - Enthält
sich jemand? - Dann ist dieser Gesetzentwurf in zweiter
Beratung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen worden .
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung . Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben . Wer stimmt dagegen? - Enthält sich jemand? - Damit ist
der Gesetzentwurf in dritter Lesung mit den Stimmen der
Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen worden .
({0})
Wir setzen die Abstimmung zu der Beschlussemp-
fehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales auf
Drucksache 18/10064 fort . Unter Buchstabe b seiner Be-
schlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ableh-
nung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksa-
che 18/9664 mit dem Titel „Etablierung von Leiharbeit
und Missbrauch von Werkverträgen verhindern“ . Wer
stimmt für die Beschlussempfehlung des Ausschusses? -
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist die
Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalition
gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthal-
tung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen
worden .
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchsta-
be c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des An-
trags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksa-
che 18/7370 mit dem Titel „Missbrauch von Leiharbeit
und Werkverträgen verhindern“ . Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthält
sich jemand? - Dann ist diese Beschlussempfehlung mit
den Stimmen der Koalition und den Stimmen der Frak-
tion Die Linke gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die
Grünen angenommen worden .
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 30 a und 30 b auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen sowie zur Änderung
des Zweiten und des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch
Drucksache 18/9984
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur
Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes
Drucksache 18/9985
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({2})
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . - Ich höre keinen Widerspruch . Dann ist das so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die
Parlamentarische Staatssekretärin Lösekrug-Möller für
die Bundesregierung das Wort .
({3})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Alle fünf Jahre legt
das Statistische Bundesamt neue Daten über das Ausgabeverhalten in Deutschland vor, die Einkommens- und
Verbrauchsstichprobe . Auf dieser Grundlage müssen
die Leistungssätze sowohl im Sozialgesetzbuch II und
im Sozialgesetzbuch XII als auch im Asylbewerberleistungsgesetz angepasst werden .
Mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Ermittlung der
Regelbedarfe und mit dem Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes
setzen wir diesen gesetzlichen Auftrag um . Für viele
Menschen bringen die Anpassungen Verbesserungen mit
sich . Nach dem Entwurf für ein Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz steigen die Regelbedarfe für Alleinstehende
zum 1 . Januar 2017 um 5 Euro auf 409 Euro .
Von den neuen Regelsätzen werden Kinder der Regelbedarfsstufe 5 besonders profitieren. Das sind Kinder im
Alter von 6 bis 13 Jahren . Sie erhalten künftig in jedem
Monat 21 Euro mehr . Dort, wo die Regelbedarfe nach
der EVS 2013 geringer wären als bislang - nämlich bei
Kindern bis zum Alter von 5 Jahren - stellen wir sicher,
dass die Leistungen nicht sinken .
Weiterhin regelt der Gesetzentwurf nunmehr endgültig, dass volljährige Menschen mit Behinderungen im
Haushalt der Eltern, Freunde oder Verwandten künftig
dauerhaft die höhere Regelbedarfsstufe 1 erhalten . Daneben können künftig volljährige Personen, die zum Haushalt gehören, auch dann pauschalierte Unterkunftskosten
geltend machen, wenn sie nicht verpflichtet sind, Unterkunfts- und Heizkosten zu tragen .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Asylbewerberleistungsgesetz sinken durch die notwendigen Anpassungen aufgrund von Besonderheiten unter dem Strich die
in Geld ausbezahlten Leistungssätze . Ich will dafür ein
Beispiel geben . Zukünftig wird insbesondere auch der
Bedarf für Strom - wie heute schon der für Hausrat - aus
dem Leistungssatz ausgegliedert, weil auch der Strom in
der Regel als Sachleistung erbracht wird . Im Ergebnis
sinken deshalb die Leistungssätze für den notwendigen
Bedarf .
Wir regeln auch die Bedarfsstufen im Asylbewerberleistungsgesetz neu . Es wird eine neue niedrigere Bedarfsstufe für erwachsene Leistungsberechtigte in Sammelunterkünften festgelegt .
({0})
Sie trägt dem Umstand Rechnung, dass der Wohnraum
gemeinschaftlich genutzt wird und bestimmte Kosten,
etwa für Mediennutzung, aufgeteilt werden . Zugleich
stärken wir mit einem neuen Freibetrag für Einnahmen
aus ehrenamtlicher Tätigkeit das Engagement der Flüchtlinge und damit ihre Integration . Damit die höheren Regelbedarfe im SGB II und im SGB XII sowie die veränderten Bedarfsstufen im Asylbewerberleistungsgesetz
zum 1. Januar 2017 in Kraft treten können, hoffen wir auf
eine gute und zügige Beratung .
Vielen Dank .
({1})
Als nächste Rednerin spricht Katja Kipping für die
Fraktion Die Linke .
({0})
Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir beraten hier über die Neuberechnung der Hartz-IV-Regelsätze . Davon sind nicht nur Langzeiterwerbslose betroffen, sondern eben auch arme Rentner, Alleinerziehende,
die aufstocken müssen, oder Asylbewerber . Kurzum:
8,5 Millionen Menschen sind von diesen Gesetzen direkt
betroffen. Ich finde, das, was Sie als Regierung hier vorgelegt haben, geht nicht .
({0})
Es geht bei den Regelsätzen doch nicht um ein Almosen, das die Regierung den armen Menschen in diesem
Land großzügig zugesteht . Wir reden hier über das soziokulturelle Existenzminimum . Ich weiß, „soziokulturelles
Existenzminimum“ ist ein etwas sperriger Begriff. Gemeint ist: Wir reden hier über ein Grundrecht, nämlich
das Recht, nicht nur materiell zu überleben, sondern auch
ein Mindestmaß an kultureller Teilhabe in diesem Land
zu erhalten . Die vorgesehenen Regelsätze werden diesem
Anspruch nicht gerecht . Ich sage es ganz klar: Mit diesen
Regelsätzen leistet Schwarz-Rot Beihilfe zur Verarmung
ganzer Bevölkerungsschichten . Da machen wir, die Linke, nicht mit .
({1})
Vergegenwärtigen wir uns noch einmal, wie die Regelsätze berechnet werden sollen . Diese Regierung hat
sich für das Statistikmodell entschieden . Das heißt, verschiedene Haushalte müssen über drei Monate hinweg in
einem Haushaltsbuch all ihre Ausgaben festhalten . Von
diesen Haushalten nimmt man dann die untersten 15 Prozent der Einkommenshierarchie; den entsprechenden
Personenkreis nennt man dann Referenzgruppe .
Da haben wir bereits das erste Problem . Wir wissen
inzwischen dank einer Berechnung von Irene Becker,
dass das durchschnittliche Einkommen dieser Gruppe
bei 764 Euro im Monat liegt . Das heißt, wir leiten von
den Ausgaben, die wirklich arme Menschen haben, die
Berechnung der Hartz-IV-Regelsätze ab . Kurzum: Wir
befinden uns in diesem Land in einer Verarmungsspirale.
Doch wir als Linke wollen heraus aus der Verarmungsspirale .
({2})
Aber es geht weiter mit dem Kleinrechnen . Sie kommen dann noch mit Abschlägen. In der Öffentlichkeit
wird immer nur von Abschlägen für Alkohol und Zigaretten gesprochen . Was im Hause Andrea Nahles immer
gern verschwiegen wird, ist ja, dass Sie auch Ausgaben
für Gartenarbeiten als nicht regelsatzrelevant einstufen .
Im Klartext heißt das: Erwerbslosen gestehen Sie nicht
das Recht zu, in einem Nachbarschaftsgarten oder in
einem Schrebergartenverein aktiv zu sein oder auf dem
Balkon Tomaten zu züchten .
({3})
Außerdem legen Sie fest: Ausgaben für Beherbergung
sind nicht regelsatzrelevant . Wir sind uns doch einig,
dass es bei dieser Gruppe eh nicht um Menschen geht, die
sich irgendeinen Wellnessurlaub in einem Viersternehotel leisten können . Wir reden hier aber darüber, dass man
sich mit seinem Kind auch dann, wenn man in Hartz IV
ist, vielleicht eine Woche auf einem Zeltplatz leisten
kann. Ich finde, das ist das Mindeste, und es macht mich
wütend, dass Sie das den Leuten nicht zugestehen .
({4})
Bewirtungskosten gelten bei Ihnen als nicht regelsatzrelevant . Wir reden hier doch nicht über Essen in einem
Sternerestaurant . Worüber reden wir? Wir reden darüber,
dass sich auch Erwerbslose, die in einem Verein aktiv
sind, bei einem Treffen in der Vereinskneipe eine Tasse Kaffee leisten können. Sollen diese Menschen denn
immer ihren Instantkaffee und eine Thermoskanne mit
heißem Wasser mitbringen, um dazuzugehören? Wenn
Erwerbslose ihr Kind von der Kita abholen, an einer Eisdiele vorbeigehen und alle anderen Kinder eine Kugel
Eis bekommen, sollen sie dafür dann kein Geld haben,
weil Sie als Ministerin sagen: „Es tut uns leid; Sie sind in
Hartz IV; die Ausgaben dafür sind Bewirtungskosten und
gelten daher als nicht regelsatzrelevant“?
({5})
Oder nehmen wir die Kosten für Haustiere . Wenn es nach
dieser Regierung geht, wenn es nach Schwarz-Rot geht,
dann sind die Kosten für Haustiere nicht regelsatzrelevant . Wer also in Hartz IV fällt, der muss seinen Hund
womöglich im Tierheim abgeben oder aber er muss sich
das Geld für Hundefutter im wahrsten Sinne des Wortes
vom Munde absparen .
Kurzum: Was Sie hier machen, ist eine große Bevormundung über materielle Not . Wissen Sie: Selbst nach
dieser fragwürdigen Statistikmethode müssten die Regelsätze bei mindestens 560 Euro liegen, wenn man allein
auf die bevormundenden Abschläge verzichtet .
({6})
Ich sage eines in aller Deutlichkeit: Was diese Gesellschaft braucht, ist eine grundlegende Alternative zum
Hartz-IV-System . Deswegen streiten wir als Linke für
eine sanktionsfreie, individuelle Mindestsicherung in
Höhe von 1 050 Euro .
({7})
Um es zusammenzufassen: Andrea Nahles rechnet die
Regelsätze nach Gutdünken klein . Als die SPD noch in
der Opposition war, haben Sie all diese Tricks, als Ihre
Vorgängerin Ursula von der Leyen sie angewandt hat,
noch heftigst als Kleinrechnerei kritisiert .
({8})
Das kann ich nachweisen . Es gibt entsprechende Zeitungsartikel, mir liegen Ihre Anträge und Redebeiträge
vor. Heute wenden Sie die Tricks selber an. Ich finde,
das ist schäbig . Das ist übler vorauseilender Gehorsam
gegenüber der schwarzen Null von Herrn Schäuble .
({9})
Ich komme zum Schluss . Wir als Linke werden uns
nicht damit abfinden. Wir werden keine Ruhe geben, bis
in diesem Land alle Menschen frei von Armut sind . Ja,
Freiheit von Armut und Sanktionsfreiheit, das ist das
Ziel, für das wir mit aller Entschiedenheit kämpfen .
({10})
Nun geht es bei diesem Tagesordnungspunkt auch
um Änderungen im Asylbewerberleistungsgesetz . Dazu
kann ich aus Zeitgründen nichts mehr sagen . Ich will nur
darauf hinweisen: Dieser Gesetzentwurf bringt etwas
Schlimmes zum Ausdruck . Was Sie hier machen, das ist
eine migrationspolitische Relativierung der Menschenwürde, und das werden wir als Linke heftigst kritisieren .
Vielen Dank .
({11})
Jana Schimke hat als nächste Rednerin für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort .
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Jeder in
unserem Land kann darauf vertrauen, bei Hilfebedürftigkeit durch den Staat und durch die Gemeinschaft unterstützt zu werden . Das ist das Selbstverständnis und die
Grundlage unseres Sozialstaates . Das Prinzip „Hilfe zur
Selbsthilfe“ leitet unsere Institutionen bei der sozialen
Unterstützung und Integration der Menschen in den Arbeitsmarkt . Doch auch in Zeiten einer guten Konjunktur,
eines prosperierenden Arbeitsmarktes und eines stabilen
Haushaltes gibt es Menschen, die auf Unterstützung angewiesen sind . Deshalb sind wir dazu angehalten, in aller Regelmäßigkeit die Standards der sozialen Sicherung
in Deutschland zu überprüfen . Anlass dazu gibt uns die
neue Einkommens- und Verbraucherstichprobe
({0})
als wichtige amtliche Statistik über die Lebensverhältnisse privater Haushalte in Deutschland .
In unserer heutigen Debatte betrifft dies Menschen,
die Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II, sogenannte Langzeitarbeitslose, und nach dem Sozialgesetzbuch XII beziehen . Darunter fallen unter anderem
Rentner, die Grundsicherung beziehen, erwerbsgeminderte Menschen oder auch Personen in stationären Einrichtungen . Wir diskutieren zudem über Menschen, die
durch Leistungen gemäß Asylbewerberleistungsgesetz
unterstützt werden .
Grundsätzlich bleibt festzuhalten, dass auch Bedürftige in unserem Land von der guten gesamtwirtschaftlichen
und arbeitsmarktpolitischen Lage profitieren. Deshalb
werden ab kommendem Jahr die Regelsätze im SGB II
und im SGB XII um durchschnittlich 5 Euro erhöht . Für
Kinder im Alter von 7 bis 14 Jahren werden wir die Regelsätze um 21 Euro anheben . Unser Ziel ist und bleibt,
Kinder aus bedürftigen Familien zielgerichtet und durch
eine chancengerechte Politik zu unterstützen; denn zu oft
überträgt sich die Bedürftigkeit in Familien auf spätere
Generationen . Das wollen und das müssen wir ändern .
Bildung ist eine entscheidende Voraussetzung für den
Weg in Arbeit und aus Hartz IV . Hier unterstützen unsere
Behörden, zum Beispiel mit den Jugendberufsagenturen .
Dabei muss man ganz nüchtern sagen - gestatten Sie mir
diese Bemerkung am Rande meiner Ausführungen -,
dass auch die Arbeit unserer Arbeitsvermittler in den
Agenturen vor Ort immer mehr der Arbeit von Sozialarbeitern gleicht . Deshalb sind an dieser Stelle vor allen
Dingen die Eltern gefragt . Sie tragen die Verantwortung
dafür, staatliche Angebote für ihre Kinder in Anspruch
zu nehmen .
Meine Damen und Herren, auch die Regelsätze nach
dem Asylbewerberleistungsgesetz sind Gegenstand des
vorliegenden Gesetzentwurfes . Man kann sicher sagen,
dass wir in diesem und im letzten Jahr eine Vielzahl notwendiger Regelungen im Bereich der Asylpolitik auf den
Weg gebracht haben . Das Ergebnis ist, dass wir heute das
schärfste Asylrecht haben, das wir in der Bundesrepublik
Deutschland je hatten .
({1})
Die Verfahren wurden beschleunigt und vereinfacht und
Fehlanreize beseitigt . Seitdem erhalten Asylbewerber
vorrangig Sach- statt Geldleistungen .
Das berücksichtigen wir jetzt auch bei der Berechnung der Regelbedarfe . Wir werden die Regelsätze beim
sogenannten notwendigen Bedarf - was ist das? das ist
der Bedarf für Nahrung, für Kleidung, für die Unterkunft,
für die Gesundheitspflege oder auch für Haushaltsprodukte - ab 2017 um durchschnittlich 17 Euro reduzieren . Denn gerade in den Sammelunterkünften - in ihnen
leben nun einmal Menschen, die Leistungen nach dem
Asylbewerberleistungsgesetz beziehen ({2})
werden nicht alle notwendigen Leistungen von den Bewohnern selbst erbracht .
({3})
Dazu zählen zum Beispiel die Kosten für das Wohnen,
für Strom oder auch die Wohnungsinstandsetzung .
({4})
Mit der Reduzierung des Regelsatzes beim notwendigen Bedarf schaffen wir somit Klarheit und auch mehr
Gerechtigkeit im Sinne aller, die in Deutschland auf staatliche Hilfen angewiesen sind . Wohlgemerkt ist dies auch
ein ganz konkretes Beispiel dafür, wie wir Fehlanreize in
der bisherigen Asylpolitik reduzieren und abbauen .
({5})
Meine Damen und Herren, ich möchte eindringlich
davor warnen, die soeben erläuterten Anpassungen und
Kürzungen zu kritisieren . Sozialpolitik ist immer etwas,
was sich eine Gesellschaft leisten muss und sich auch
leisten können muss .
({6})
Ich denke hier gerade an jene Menschen, die sie mit ihren Steuern und mit ihrem Einkommen ermöglichen . Die
große Solidarität gegenüber Hilfebedürftigen, aber auch
die sozialen Standards, die wir uns geben, sind eine Besonderheit unserer Gesellschaft .
({7})
Deshalb sollten wir alles dafür tun, dass es diese Solidarität auch morgen noch gibt .
({8})
Meine Damen und Herren, wir regeln im Gesetzentwurf aber nicht nur die Anpassung der jeweiligen Regelbedarfe . Vorgesehen ist auch eine Neuabgrenzung
bei den Regelbedarfsstufen . So richtet sich der Umfang
sozialer Unterstützung in Deutschland danach, wie viel
Hilfe man tatsächlich benötigt . Besteht eine Ehe oder
eine Lebensgemeinschaft oder gibt es andere Ressourcen, auf die man selbst zurückgreifen kann, ist der Bedarf an staatlicher Hilfe entsprechend geringer . So haben
Menschen mit Behinderung, die bei ihrer Familie oder in
einer Einrichtung leben, bisher einen geringeren Regelsatz erhalten als Alleinlebende . Das Bundessozialgericht
hat uns beauftragt, das zu ändern .
({9})
Ich halte das für richtig . Denn Menschen mit Behinderung haben oft nicht die Wahl zwischen einem Leben in
der Gemeinschaft oder als Alleinlebende .
({10})
Sie sind ein Leben lang auf die Hilfe anderer angewiesen .
Strittig stellen möchte ich jedoch die Frage, ob Personen, die zwar nicht liiert sind, aber in einer Wohngemeinschaft leben, künftig wie Alleinlebende behandelt werden sollten . Konkret hätte dies zur Folge, dass Ehepaare
und Lebenspartnerschaften einen geringeren Regelsatz
erhalten und damit benachteiligt würden .
({11})
Jeder von uns weiß, dass das Leben in der Gemeinschaft - und zwar unabhängig davon, ob man verheiratet
oder Single ist - immer Einsparungen mit sich bringt .
({12})
Denken Sie an die geteilten Kosten für Strom und Kommunikation oder an die Möbel und Geräte in Küche und
Bad . Wir sollten deshalb davon absehen, eine Regelung
zu treffen, die in der Sozialgesetzgebung eine Privilegierung von Alleinstehenden in einer Wohngemeinschaft
gegenüber Lebenspartnerschaften bedeutet . Auch das
werden wir in den anstehenden Beratungen thematisieren .
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
({13})
Dr . Wolfgang Strengmann-Kuhn hat für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen als nächster Redner das Wort .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Schimke, Sie haben die Kürzungen im Asylbewerberleistungsgesetz eben mit dem Abbau von Fehlanreizen begründet . Das möchte ich im Protokoll deutlich
vermerkt haben .
({0})
Wenn das die Begründung ist, dann ist die Änderung verfassungswidrig .
({1})
Das Bundesverfassungsgericht hat deutlich gemacht,
dass die Festlegung der Höhe der Regelsätze nicht von
migrationspolitischen Überlegungen geleitet sein darf .
Denn es handelt sich hier um ein Grundrecht: um ein
Grundrecht auf Existenzsicherung und ein Grundrecht
auf soziale und kulturelle Teilhabe .
({2})
Es ist das Ziel der Grundsicherung, soziale und kulturelle
Teilhabe zu ermöglichen .
Vielleicht noch eine Vorbemerkung, weil sowohl Katja
Kipping als auch Jana Schimke sich so ausgedrückt haben, als wären Hartz-IV-Empfänger überwiegend Langzeitarbeitslose . Dem ist nicht so . Nur eine Minderheit der
Hartz-IV-Beziehenden sind Langzeitarbeitslose . Es gibt
sogar mehr Erwerbstätige als Langzeitarbeitslose, die
Hartz IV beziehen . Diese Gruppe ist deutlich größer als
die Gruppe der Langzeitarbeitslosen . Insgesamt beziehen
fast 8 Millionen Menschen Grundsicherungsleistungen .
Darum geht es heute .
({3})
Ich habe gesagt: Ziel muss es sein, soziale und kulturelle Teilhabe zu ermöglichen . Die Bundesregierung
macht genau das Gegenteil . Vielleicht kurz für die Zuschauerinnen und Zuschauer auf den Tribünen und diejenigen, die sich die Debatte später ansehen: Die Idee des
Statistikmodells, das hier angewandt wird, ist eigentlich
relativ einfach . Man betrachtet die Ausgaben einer Gruppe von Menschen, die etwas mehr als Grundsicherung
haben, also gerade so im untersten Teil der Einkommensverteilung liegen, die keine Grundsicherung beziehen .
Anhand ihrer Ausgaben soll der neue Regelsatz berechnet werden . Das ist die Grundidee des Statistikmodells .
Die Bundesregierung schlägt jetzt vor - wir als Parlament müssen das noch ausführlich beraten -, dass
das Einkommen dieser Referenzgruppe erst einmal dadurch reduziert wird, dass nun auch noch Personen in
der Gruppe sind, die Grundsicherung beziehen . Dadurch
wird das Einkommen also schon ein bisschen geringer .
Dann sollen Personen zur Gruppe gehören, die Anspruch
auf Grundsicherung haben, diesen Anspruch aber nicht
wahrnehmen, also noch weniger als Grundsicherung haben . Dadurch wird das Einkommen der Referenzgruppe
noch einmal geringer . Dabei bleibt es nicht . Von den Ausgaben, die diese Gruppe hat - Katja Kipping hat schon
gesagt, dass es eine Gruppe ist, die im Durchschnitt ein
Einkommen an der Armutsgrenze oder sogar darunter
hat -, werden noch Ausgaben abgezogen . Das hat das
Bundesverfassungsgericht erlaubt, obwohl es methodisch eigentlich fragwürdig ist . Es hat dabei aber enge
Grenzen gesetzt . Was die Bundesregierung vorschlägt,
ist eine wahre Kürzungsorgie: Zimmerpflanzen, Haustiere, Gartenpflege, Weihnachtsbaum, Handy, Taschen,
Regenschirme, Adventsschmuck, das Speiseeis im Sommer, Fotografien, Campinggeräte, Malstifte für Kinder in
der Freizeit, Kleidung für Familienfeste usw . usw . Sie ermöglichen nicht soziale Teilhabe, sie verhindern soziale
Teilhabe mit dem, was Sie hier vorschlagen .
({4})
Ich könnte jetzt noch diverse weitere Themen ansprechen . Die Kürzung bei den Leistungen für Asylbewerber wurde schon angesprochen . Es handelt sich um eine
Kürzung um 10 Prozent, die meines Erachtens nicht vernünftig begründet ist . Frau Schimke hat deutlich gesagt,
was der eigentliche Grund ist, nämlich der Abbau von
Fehlanreizen . Das darf nicht sein .
Die Stromkosten werden im Regelsatz nicht vernünftig abgedeckt . Das hat das Bundesverfassungsgericht
angemahnt und wird jetzt in vielen Stellungnahmen erwähnt . Sie werden in der EVS nicht ausreichend ermittelt . Sie sollten separat vom Regelsatz behandelt werden .
Das Problem, dass Hartz-IV-Empfänger auch einmal
einen kaputten Kühlschrank oder eine kaputte Waschmaschine haben, ist nicht gelöst . Für das Problem der sogenannten Weißen Ware bräuchten wir auch eine Lösung .
Der Umgangsmehrbedarf für Kinder, die bei Eltern,
die getrennt leben, aufwachsen, wird nicht abgedeckt; da
ist das Existenzminimum nicht gesichert . Das Bildungsund Teilhabepaket müsste eigentlich komplett reformiert
und verändert werden . Auch das wird nicht angegangen .
Die Regelbedarfsstufen sind schon angesprochen worden . Das ist völlig unsystematisch . Es gibt viele Punkte
in diesem Gesetzentwurf, die unbedingt geändert werden
sollten .
({5})
Ich will noch einmal zum Kern zurückkommen,
nämlich zum Regelsatz . Was müsste gemacht werden?
Es müsste eine Referenzgruppe betrachtet werden ohne
diese Zirkelschlüsse, die Sie machen - so sagt man es
technisch -, also eine Referenzgruppe, bei der klar ist,
dass sie keine Grundsicherungsbeziehenden und dass sie
keine verdeckten Armen umfasst; die Personen in der
Referenzgruppe sollten etwas mehr haben als die derzeitigen Bezieher von Grundsicherung . Dann darf diese
Kleinrechnerei der Ausgaben nicht so stattfinden, wie Sie
das gemacht haben . Wenn wir das so machen würden,
dann hätten wir endlich wieder eine Grundsicherung, die
das schafft, wofür sie eigentlich da ist, nämlich Armut
zu bekämpfen und soziale und kulturelle Teilhabe zu ermöglichen .
Vielen Dank .
({6})
Dagmar Schmidt hat als nächste Rednerin für die
SPD-Fraktion das Wort .
({0})
Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Zunächst möchte
ich einmal aus meiner Sicht einordnen, worüber wir hier
heute reden . Wir haben in der Großen Koalition große
Sozialreformen gemacht und machen sie noch: Mindestlohn, Rente, Bundesteilhabegesetz und Bekämpfung der
Leiharbeit . Eine grundlegende Reform der Regelbedarfe
machen wir nicht. Eine grundsätzliche Neufassung findet
mit dem Gesetzentwurf nicht statt . Die Anmerkungen,
die Kritik des Bundesverfassungsgerichts wurde aufgenommen, und eine Reihe von Verbesserungen wurde erzielt . Frau Staatssekretärin Lösekrug-Möller hat darauf
hingewiesen .
Aber es gilt das Struck’sche Gesetz . Wir möchten noch
an einigen Stellen Verbesserungen erzielen . Uns geht es
dabei vor allem um konkrete Probleme, die Menschen im
Transferleistungsbezug haben . Da ist zum Beispiel die
sogenannte Erstrentenproblematik . Menschen, die vom
Sozialhilfe- oder Arbeitslosengeld-I-Bezug in die Rente
wechseln, müssen einen Monat überbrücken, denn ErsteDr. Wolfgang Strengmann-Kuhn
res wird vorschüssig gezahlt und die Rente erst am Ende
des Monats . Das Problem müssen wir lösen .
Auch gibt es oftmals Probleme - Herr StrengmannKuhn hat es angesprochen - mit der Weißen Ware .
Waschmaschinen und Kühlschränke verursachen einmalig hohe Kosten, wenn sie neu angeschafft werden müssen . Eigentlich ist vorgesehen, dass für diesen Fall aus
dem Regelsatz angespart werden soll, aber jeden Monat
etwas zurückzulegen, beiseitezulegen, das gelingt nur
schwer oder gar nicht . Es ist inakzeptabel, dass eine alleinerziehende Mutter ohne Waschmaschine und Kühlschrank zurechtkommen soll . Auch dafür brauchen wir
eine Lösung .
({0})
Ein anderes Problem entsteht, wenn die Stromkosten
steigen, eine Anpassung an die Preise aber erst im Folgejahr stattfindet. Auch das darf nicht dazu führen, dass
Menschen der Strom abgeschaltet wird . Deswegen haben
wir Erleichterungen für Direktzahlungen erreicht . Sprich:
Das Geld wird direkt vom Jobcenter überwiesen, wenn
das Konto nicht gedeckt ist . Es muss aber auch möglich
werden, die Nachzahlung zu begleichen . Wir könnten
uns für alle diese Fragen erleichterte Darlehensregelungen vorstellen, die die Betroffenen zwar nicht aus der
Verantwortung lassen, sie aber auch nicht überfordern .
Ein weiterer Punkt, der uns wichtig ist, ist die Mobilität im ländlichen Raum . Wie können wir erreichen, dass
Menschen auch dort mobil bleiben, wo es einen schlechten oder gar keinen öffentlichen Personennahverkehr
gibt, wenn sie also nicht nur mit Blick auf die Erwerbstätigkeit auf einen Pkw angewiesen sind, sondern auch zur
Bewältigung des ganz normalen Alltaglebens?
Ein weiteres und sehr wichtiges Thema ist der Umgangsmehrbedarf für Alleinerziehende .
({1})
Wir wollen nicht, dass der Umgang mit dem anderen Elternteil dazu führt, dass die Mutter - meistens ist es ja die
Mutter - finanzielle Einbußen hat. Jeder weiß, dass es
mehr kostet, wenn Kinder bei getrennt lebenden Elternteilen aufwachsen . Dem wollen wir Rechnung tragen .
({2})
Ein weiterer Punkt, der die Kinder betrifft, ist folgender: Bisher ist es leider gängige Praxis, dass aus dem
Bildungs- und Teilhabepaket nur Nachhilfe bezahlt wird,
wenn das Kind akut davon bedroht ist, sitzen zu bleiben .
Wir würden gerne klarstellen, dass auch dann, wenn
die Chance besteht, dass das Kind sich verbessert, vom
B- in den A-Kurs, von der Realschule aufs Gymnasium
kommt, eine Unterstützung möglich wird .
({3})
- Ja, aber es wird nicht gemacht . Die Länder, auch die, in
denen Sie regieren, machen es leider nicht . Die sind für
die Umsetzung verantwortlich . Wir wollen das im Gesetz deutlich klarstellen, damit die Länder den Hinweis
verstehen - auch die, in denen die Grünen mitregieren -,
dass man auch die unterstützen kann, die aufsteigen wollen .
({4})
Gerade bei den Kindern gibt es noch einen großen
Handlungsbedarf . Jedes siebte Kind lebt in Armut oder
ist von Armut bedroht . Immer noch hängt der Bildungserfolg vom Einkommen der Eltern ab . Wir werden mit
den Verbesserungen beim Unterhaltsvorschuss für Alleinerziehende schon einiges erreichen . Hier ist nicht nur
der Bund gefragt, sondern genauso die Länder und Kommunen . Wir brauchen eine verbesserte soziale Infrastruktur: Ganztagsschulen, kleine Klassen, gemeinsames Lernen, aber auch eine bessere Ausstattung der Kinder- und
Jugendhilfe, des Erfolgsprogramms „Soziale Stadt“ und
vieles mehr . Da haben wir, Bund, Länder, Kommunen,
noch einen weiten Weg vor uns, aber Chancengleichheit
für alle Kinder herzustellen, bleibt unser Ziel .
({5})
Ich fasse zusammen: Wir haben keine grundsätzlichen
Veränderungen vorgenommen, aber Verbesserungen erreicht . Wir wollen im Rahmen der Beratungen noch weitere Verbesserungen erzielen, die die konkreten Probleme lösen . Mit der Bekämpfung von Kinderarmut und der
Herstellung von Chancengleichheit haben wir noch drängende und große Aufgaben vor uns, an denen ich gerne
mit allen in diesem Haus weiterarbeiten möchte .
Glück auf!
({6})
Als nächster Redner hat Professor Dr . Matthias
Zimmer für die CDU/CSU-Fraktion das Wort .
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn
man am Schluss einer Debatte zu Wort kommt - nicht
ganz, es kommen ja noch zwei Redner -,
({0})
ist man doch sehr versucht, auf die Argumente der vorherigen Rednerinnen und Redner einzugehen, was ich an
dieser Stelle auch einmal machen will .
Frau Kollegin Schmidt, wir hatten ein sehr konstruktives Gespräch über die Punkte, die Sie angesprochen
haben . Ich bin eigentlich sehr zuversichtlich, dass wir da
zu einer Einigung kommen werden, weil wir viele Dinge
ganz ähnlich sehen .
({1})
Dagmar Schmidt ({2})
Zweiter Punkt . Ich höre dem Kollegen StrengmannKuhn immer sehr gerne zu und möchte eine Anmerkung
zu dem machen, was er gesagt hat . Es geht um die Weiße
Ware. Er hat recht: Es ist ein Problem, dass die Betroffenen Waschmaschinen und ähnliche Dinge nicht per Zuschuss bekommen, sondern dafür über ein Ansparmodell
selbst ansparen müssen, was in der Regel vermutlich den
wenigsten gelingen wird . Das hängt aber, lieber Kollege
Strengmann-Kuhn, sehr ursächlich mit einer Gesetzesänderung zusammen, die Rot-Grün im Jahr 2005 zu verantworten hatte; denn das ist damals eingeführt worden .
({3})
Da das Sein das Bewusstsein bestimmt
({4})
- das gesellschaftliche Bewusstsein; vielen Dank -, wünsche ich mir, dass die Lernerfolge, die es in der Opposition gibt, auch bei einigen anderen Dingen noch etwas
stärker ausgeprägt sein mögen .
({5})
Auf einen Punkt sollte man noch einmal hinweisen,
nämlich auf die Berechnung der Regelsätze . Wenn ich in
die Anlage zum Gesetzentwurf schaue, habe ich schon
den Eindruck, dass man sich sehr große Mühe gegeben
hat, das alles methodisch sauber abzuleiten .
({6})
Mir ist auch völlig klar, dass es in der Wissenschaft sehr
unterschiedliche Ansätze gibt, wie man das sauber berechnet . Ich glaube aber, eines sollte man nicht machen das hat der Kollege ja auch nicht getan -: Wir sollten
denjenigen, die diesen Gesetzentwurf vorbereitet und mit
wissenschaftlicher Expertise eine Berechnung durchgeführt haben, nicht die Wissenschaftlichkeit abstreiten .
Das wäre sicherlich nicht richtig .
Ebenso wenig sollten wir uns darüber aufregen, dass
das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber einen
Ermessensspielraum gegeben hat . Diesen Ermessensspielraum hat das Ministerium bei der Formulierung des
Gesetzentwurfs genutzt . Es hat nicht den höchstmöglichen Regelbedarf zugrunde gelegt, sondern vernünftige
Abschläge formuliert .
({7})
Ich glaube, insgesamt ist etwas herausgekommen, was
angemessen und vertretbar ist .
Meine Damen und Herren, ich möchte auch noch eine
Bemerkung zu Ihnen, Frau Kipping, machen, weil mich
Ihre Ausführungen etwas verwundert haben . Sie sprachen von den 8,5 Millionen
({8})
indirekt Betroffenen, die über das SGB II Leistungen
beziehen . Frau Kipping, wenn wir den Regelsatz deutlich erhöhen würden, so wie Sie das wollen - sagen wir
einmal: auf 560 Euro -, hätten wir das große Problem,
dass es dann nicht nur 8,5 Millionen, sondern weit über
10 Millionen Berechtigte geben würde, weil natürlich
auch andere Anspruch auf diese Leistungen hätten und
in die Gruppe der Bezieher fallen würden . Dann müssten
wir uns von Ihnen anhören, dass durch unsere Politik die
Armut in Deutschland steigt. Das finde ich eine ziemlich
verrückte Nummer .
({9})
- Frau Kipping, ich weiß nicht, ob Sie auch einmal das
Zuhören gelernt haben .
({10})
Wir haben es hier mit einer Rationalitätenfalle zu tun,
die von Ihnen sehr populistisch genutzt wird. Das finde
ich eigentlich sehr schade .
({11})
- Nein, heute möchte ich sie nicht zulassen .
Ich will noch einen Gedanken aufgreifen, den Jana
Schimke formuliert hat . Es geht um die Frage, ob wir
mit den Regelbedarfsätzen Eltern bzw . Familien diskriminieren . Ich glaube, das ist hier der Fall; wir müssen
uns noch sehr genau darüber unterhalten . Mit diesem
Gesetzentwurf ist die Regelbedarfsstufe 2 in der Regel
für die Betroffenen vorgesehen, die einen gegenseitigen
Einstandswillen bekundet haben, während für die „unabhängigen Erwachsenen“ die Regelbedarfsstufe 1 vorgesehen ist, in der mehr gezahlt wird . Ich glaube, das ist der
falsche Weg . Das wäre, wenn man es überspitzt formulieren wollte, der endgültige Sieg der Kommune über das
Elternhaus . Das halte ich für familienpolitisch falsch und
für gesellschaftspolitisch hoch bedenklich .
Meine Damen und Herren, ich glaube, wir haben hier
in Bezug auf die Berechnung der Regelsätze einen insgesamt ausgewogenen Gesetzentwurf vorgelegt . Im parlamentarischen Verfahren haben wir aber, wie die Kollegin
Schmidt es formuliert hat, noch einiges zu tun . Ich bin
zuversichtlich, dass wir das in der dafür vorgesehenen
Zeit schaffen werden und zum 1. Januar 2017 die neuen
Regelsätze in Kraft treten lassen können .
Vielen Dank .
({12})
Daniela Kolbe hat als nächste Rednerin für die
SPD-Fraktion das Wort .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wenn die Deutsche Post die Portogebühren
anhebt oder die Deutsche Bahn und die Leipziger Verkehrsbetriebe die Fahrkartenpreise erhöhen, dann müssen wir alle miteinander tiefer in die Tasche greifen und
mehr Geld bezahlen . Das ist natürlich für diejenigen, die
auf Hilfe angewiesen sind, besonders spürbar . Deswegen
ist es richtig und gut, dass es regelmäßig eine Einkommens- und Verbrauchsstichprobe gibt, dass es Menschen
gibt, die sich bereit erklären, all ihre Einkäufe zu notieren, anhand dessen wir berechnen können, was die unteren Einkommensschichten ausgeben . Entsprechend können wir die Leistungssätze anpassen .
({0})
Das gilt auch für Geflüchtete und Geduldete, die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz bekommen . Das hat jedenfalls das Bundesverfassungsgericht
2012 in seinem Urteil klargestellt . In der Begründung,
Frau Schimke, steht - ich habe gerade einmal hineingesehen -, dass einem jeden nach dem Grundgesetz ein
Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums zusteht . Ich muss sagen: Darauf
bin ich sehr stolz. Ich finde es gut und richtig, dass wir
das in Deutschland so handhaben .
({1})
Die Berechnung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz ist geringfügig anders . Außerdem wird dort zwischen notwendigem Bedarf, etwa für Wohnen und Essen,
und persönlichem Bedarf, etwa für kulturelle Aspekte,
unterschieden .
Was genau ändern wir jetzt im Asylbewerberleistungsgesetz? Die Leistungen werden zunächst einmal nach der
EVS angepasst, also nach oben . Wir hatten in der Koalition im Rahmen des Integrationsgesetzes vereinbart, den
notwendigen Bedarf anders zu regeln und die Bedarfe für
Strom und Wohnungsinstandhaltung aus dem Leistungssatz auszugliedern, wie das schon beim Hausrat der Fall
ist . Das heißt, die Leistungen werden als Sachleistungen
erbracht und sind nicht mehr im Regelsatz enthalten .
Es wird eine neue Bedarfsstufe für erwachsene Leistungsberechtigte geschaffen, die in Sammelunterkünften
untergebracht werden . Erwachsene unter 25 Jahren, die
unverheiratet sind und bei ihren Eltern leben, kommen in
die Bedarfsstufe 3 .
Wir haben endlich - darüber freue ich mich sehr die Ehrenamtspauschale für Asylsuchende umgesetzt .
Mit Inkrafttreten des Gesetzes dürfen Geflüchtete bis zu
200 Euro, die sie als Ehrenamtspauschale erhalten, wenn
sie zum Beispiel im Fußballverein Jugendliche trainieren, behalten . Dadurch haben wir einen Gleichklang mit
dem SGB II . Damit wird die Integrationsleistung, die von
ganz vielen, die zu uns gekommen sind, erbracht wird,
gewürdigt. Ich finde es richtig toll, dass wir das umsetzen
werden .
({2})
Wir werden sicher einiges noch diskutieren müssen,
insbesondere die neue Bedarfsstufe . Da habe ich persönlich noch einige Fragen . Immerhin reden wir darüber, dass Menschen nicht freiwillig mit vielen anderen
Menschen anderer Nationen zusammenleben . Wie genau
hier Synergien aussehen könnten, fände ich spannend,
zu diskutieren . Ich möchte nicht, dass wir diejenigen
Kommunen über höhere Leistungssätze bestrafen, die
die Menschen dezentral, also, damit sie sich besser integrieren können, in Wohnungen unterbringen . Ich fände
es gut, wenn wir hierüber noch einmal in die Diskussion
miteinander gingen, um keine Fehlanreize zu setzen .
Ich will das, worüber wir reden, ins Verhältnis setzen:
Im Vergleich zu den aktuellen persönlichen Bedarfen
werden die Menschen in der neuen Bedarfsstufe 4 Euro
weniger erhalten . Sie werden also weniger Leistungen
bekommen und auch von der Steigerung in der Regelbedarfsstufe 1 nicht profitieren. Wir reden hier also über
4 Euro .
Es gab in den Stellungnahmen noch einige andere Kritikpunkte . Es wurde befürchtet, dass UMAs und minderjährige Mütter durch das Gesetz schlechtergestellt würden . Diese Sorge ist mittlerweile ausgeräumt; das will ich
ganz deutlich sagen . Darüber freue ich mich sehr .
Ansonsten haben wir hier, denke ich, eine gute Grundlage für intensive Diskussionen, die es ja noch braucht .
Darauf freue ich mich . Ich freue mich auch auf die zweite
und dritte Lesung hier im Plenum .
Schönes Wochenende Ihnen!
({3})
Als letzter Redner in dieser Aussprache hat Matthäus
Strebl für die CDU/CSU-Fraktion das Wort .
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Kolleginnen und Kollegen! Nachdem sich meine Kollegin Schimke und mein Kollege Zimmer ausführlich mit
der Ermittlung der Regelbedarfe nach dem Sozialgesetzbuch II und dem Sozialgesetzbuch XII befasst haben,
möchte ich einige Worte zu den geplanten Änderungen
des Asylbewerberleistungsgesetzes sagen .
Betroffen sind hier insbesondere Asylbewerberinnen
und Asylbewerber, Geduldete und vollziehbar Ausreisepflichtige. Auch für diese Leistungen spielt die neue Einkommens- und Verbrauchsstichprobe aus dem Jahr 2013
eine signifikante Rolle. Die Leistungen werden aufgrund
dieser Stichprobe ermittelt und nicht einfach wahllos
festgelegt . Die Leistungen passen wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf an .
Mit dem Gesetzentwurf tragen wir insbesondere dem
Umstand Rechnung, dass die Leistungen für Erwachsene
in Sammelunterkünften geringer ausfallen . Es ist davon
auszugehen, dass das gemeinsame Zusammenleben in
Sammelunterkünften Einspareffekte ermöglichen kann.
Ich halte es für sinnvoll, ja, ich halte es für nachvollziehbar, dass bei einzelnen Leistungen differenziert werden muss, ob jemand in einer Gemeinschaftsunterkunft
oder in einer Wohnung lebt . Deshalb besteht hier für die
Asylbewerber eine abweichende Bedarfslage . Diese Bedarfslage findet sich zukünftig in der Regelbedarfsstufe 2
wieder . Ich begrüße es außerordentlich, dass die in Bayern weitverbreitete Praxis von mehr Sachleistungen nun
auch bundesweit praktiziert werden kann .
Mit den Änderungen fördern wir auch die ehrenamtliche Tätigkeit von Asylbewerbern . Durch die Freibetragsregelung werden sie ermutigt, sich in die Gesellschaft
einzubringen und gleichzeitig Sprache und Kultur kennenzulernen .
Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie
mich als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
die Gelegenheit nutzen, einige Sätze zur Situation von
geflüchteten Menschen allgemein zu sagen.
Wir alle wissen, dass die Bürgerkriege und die politischen Krisen in anderen Staaten und Regionen Konsequenzen nicht nur, aber auch für Deutschland haben .
Deutschland wird dadurch in den nächsten Jahren vor
besonderen Herausforderungen stehen . Viele Menschen
sorgen sich, ob wir diese Herausforderungen meistern
können . Es besteht Unsicherheit, ob es Deutschland weiterhin gut gehen wird und wie sich das Land verändern
wird . Ich kann diese Sorgen der Menschen gut nachvollziehen. Aber gerade deshalb sind wir verpflichtet, die
Veränderungen richtig zu gestalten und den Rechtspopulisten entgegenzuwirken .
Gute Sprachkenntnisse - um auf das Thema zu kommen - und Teilnahme am Arbeitsmarkt sind zweifelsfrei
unerlässliche Schlüssel für eine erfolgreiche Integration .
Zwischenzeitlich wurden durch die Bundesagentur für
Arbeit und das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die Angebote für die speziellen Bedürfnisse der Zielgruppen weiterentwickelt und die Kapazitäten angepasst .
Natürlich gibt es regionale Engpässe und Möglichkeiten
zur Verbesserung . Inzwischen wird den Flüchtlingen
aber ein großes Angebot an Kursen unterbreitet . Ich
möchte nur nennen: normale Integrationskurse, Alphabetisierungskurse, Frauenintegrationskurse, Jugendintegrationskurse, berufsbezogene Deutschsprachförderung und
viele andere . Durch die Regelung des § 421 im Sozialgesetzbuch III hat die Bundesagentur für Arbeit die Möglichkeit, auch Asylbewerberinnen und Asylbewerbern
mit guter Bleibeperspektive Sprachkurse anzubieten . Bis
zum letzten Monat haben über 190 000 Teilnehmerinnen
und Teilnehmer diese Kurse besucht . Das beweist, dass
die Maßnahmen zu greifen beginnen .
Eine erfolgreiche Integration von Flüchtlingen - diese Aufgabe muss und wird gelingen . Den Grundsatz aus
dem Sozialgesetzbuch II „Fordern und Fördern“ halte ich
auch hier für angebracht und vollkommen richtig . Die
Änderungen des Asylbewerberleistungsgesetzes werden
dazu beitragen .
Herzlichen Dank .
({0})
Ich schließe die Aussprache .
Interfraktionell wird die Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 18/9984 und 18/9985
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
vorgeschlagen . Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das
ist nicht der Fall . Dann sind die Überweisungen so beschlossen .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 32 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr . Franziska Brantner, Katja Dörner, Ulle
Schauws, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Damit Kinder gut aufwachsen - Kinderschutz
und Prävention ausbauen
Drucksache 18/9054
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0})
Innenausschuss
Sportausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Gesundheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . Gibt es dazu
Widerspruch? - Das ist nicht der Fall . Dann ist das so
beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache und erteile Frau
Dr . Franziska Brantner für die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen als erster Rednerin in dieser Aussprache das
Wort .
Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Damen und Herren!
Wir reden heute über Kinderschutz und Möglichkeiten,
Kinder in diesem Land besser zu schützen vor all den
grausamen Dingen, die wir hier immer nur wahrnehmen,
wenn es wieder einzelne Fälle gibt, die in den Medien
aufpoppen; dann sind sie Gesprächsthema, verschwinden
danach aber auch wieder . Wir haben gesagt: Wir setzen
das Thema auf die Tagesordnung, auch wenn es gerade
keinen schlimmen Fall gibt, weil wir wollen, dass man
präventiv und rechtzeitig bessere Strukturen erarbeitet .
Nach Aussagen des Unabhängigen Beauftragten für
Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs könnten in
Deutschland rund 1 Million Kinder von sexualisierter
Gewalt betroffen sein. Das ist fast jedes zehnte Kind.
Man muss sich das einmal vorstellen: fast jedes zehnte
Kind . Das ist eine Zahl, die wir nicht hinnehmen wollen .
Wir sagen: Da müssen wir unserer Verantwortung besser
gerecht werden .
({0})
Gewalt oder Vernachlässigung prägen die Kinder ihr
Leben lang . Das bleibt . Das, was mit den Kindern geschieht, tragen sie ihr Leben lang mit sich . Nachdem der
runde Tisch seine Arbeit abgeschlossen hatte, wurde das
Bundeskinderschutzgesetz verabschiedet . Dann wurde
das Bundeskinderschutzgesetz evaluiert . Diese Evaluierung hat eindeutig gezeigt: Es gibt enormen Handlungsbedarf; denn zwischen den gesetzlichen Regelungen und
der Praxis vor Ort klaffen weiterhin riesige Lücken.
Eine der größten Baustellen ist nach wie vor die Zusammenarbeit zwischen der Kinder- und Jugendhilfe und
dem Gesundheitswesen . Es wurde von Anfang an gesagt,
dass es dabei Schwierigkeiten gibt . Jetzt haben wir evaluiert und sehen: Es gibt immer noch große Schwierigkeiten . Da wollen wir ansetzen .
({1})
Wir wissen, dass es nicht immer einfach ist, diese Kooperation verbindlich zu gestalten, die Ressourcen zu den
richtigen Akteuren zu bekommen und die Vernetzung zu
garantieren . Wir haben uns deswegen mit den Gesundheitspolitikern unserer Fraktion zusammengesetzt und
miteinander gerungen . Wir haben gemeinsam nach Möglichkeiten gesucht, die umsetzbar und praktikabel sind .
Wir fordern, die Beteiligung von Vertretern der Ärzteschaft in kommunalen und landesweiten Gremien verbindlicher zu gestalten . Uns schwebt analog zur Sozialpsychiatrie-Vereinbarung eine Vereinbarung zwischen
den gesetzlichen Krankenkassen und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung vor . Wir haben lange überlegt,
wie wir Möglichkeiten schaffen können, an dieser Netzwerkarbeit teilzunehmen . In der Sozialpsychiatrie-Vereinbarung, die es schon gibt, werden Anforderungen an
die Qualität der Behandlung definiert; es gibt aber auch
eine Aufwandspauschale . Das ist auch die Idee für diesen Bereich: Wir wollen Qualität definieren; dafür gibt
es aber auch eine Aufwandspauschale . Netzwerkarbeit
ist nicht einfach so nebenbei zu leisten, sondern ist auch
Arbeit und gehört deswegen als solche berücksichtigt .
({2})
Wir würden uns sehr freuen, wenn Sie sich dieser Forderung anschließen und wir darüber hier gemeinsam diskutieren könnten .
Wir haben auch über den Tellerrand geschaut, nach
Österreich . Die Kinderschutzgruppen, die dort eingerichtet wurden, halten wir für sehr vielversprechend . Diese
Gruppen sind direkt an den Kliniken tätig, um Kindern
bei Verdacht auf Gewalt, Missbrauch und Vernachlässigung Hilfe und Schutz anzubieten . Sie übernehmen die
Schnittstellenfunktion zwischen medizinischem Personal, Sozialarbeit, Jugendämtern und anderen Institutionen . Wir halten die Kinderschutzgruppen in Österreich
für ein gutes Modell, mit dem wir diese Schnittstellenfunktion auch bei uns umsetzen können .
Wichtig sind auch - dieser Punkt wurde in der Evaluierung immer wieder angemahnt - verpflichtende Weiterbildungs- und Qualifizierungsangebote für alle Fachkräfte nicht nur im Gesundheitswesen, sondern auch für
Richter, Verfahrensbeistände und alle, die in diesem Bereich tätig sind - wichtig ist auch, bei den Gutachtern
mit den Standards voranzukommen -, damit es in den
Berufsgruppen, die mit Kindern in diesem Bereich zu
tun haben, endlich die entsprechende Qualifikation gibt.
Das ist zurzeit nicht sichergestellt, und dafür müssen wir
sorgen .
({3})
Eine weitere Forderung in unserem Antrag ist - das
hat auch der Bundesbeauftragte schon mehrfach angemahnt -, dass Kinder nur einmal befragt werden . In vielen Ländern ist es schon Usus, dass es - statt mehrfach
und mit unterschiedlichen Akteuren - nur einmal und
dann auch gemeinsam zu einer Befragung kommt . Ich
glaube, diesen Anspruch überall vor Ort realisieren zu
können, ist mittlerweile ein internationaler Standard, den
wir auch in Deutschland umsetzen sollten .
Wir müssen uns auch dringend für die Prävention
einsetzen . Hier geht es um die Frage von Kinderrechten .
Kinder müssen ihre Rechte nicht nur kennen, sondern
sie auch verinnerlichen und leben können . Sie müssen
wissen, wie stark sie sind und an wen sie sich wenden
können, wenn ihnen etwas nicht passt . Das fängt in der
Kita an mit dem Wissen: Ich kann mich beschweren; das
ist okay. Ich darf etwas sagen, und danach gibt es hoffentlich sogar eine positive Reaktion . - Kinderschutz fängt
an, wenn Kinder erfahren: Ich kann mich beschweren .
Ich darf meine Meinung äußern . Ich weiß, an wen ich
mich wenden kann . - Das ist die beste Präventionsarbeit .
Diese Stärkung von Kindern müssen wir gemeinsam voranbringen .
({4})
Zum Schluss will ich einen Punkt noch kurz ansprechen . Wir wissen, es ist auch immer eine Geldfrage .
Die Beratungsstellen vor Ort brauchen eine sichere und
kontinuierliche Finanzierung und wesentlich mehr Geld .
Insofern sollten wir über die gesetzlichen Regelungen
hinaus auch entsprechende Mittel zur Verfügung stellen,
damit sie diese Arbeit vor Ort leisten können . Sie sind
häufig die Lebensretter von Kindern und ihren Familien, und wir müssen sie stärken. Sie sind häufig überlastet
und haben nicht genügend Ressourcen . Dabei machen sie
unglaublich viel für uns und unsere Zukunft, damit hier
alle gut aufwachsen können .
Ich danke Ihnen und freue mich auf die Beratungen in
den Ausschüssen .
({5})
Marcus Weinberg hat für die CDU/CSU-Fraktion als
nächster Redner das Wort .
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin . - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Ich freue mich ebenfalls auf die Beratungen, weil Sie - das ist ein Kompliment an die Grünen, an
Frau Brantner - tatsächlich auch für uns in weiten Teilen
wichtige Themen angesprochen haben . Wir werden noch
viel darüber debattieren und überlegen, wo wir noch
Handlungsansätze weiterentwickeln . Insofern haben Sie
einen interessanten Antrag vorgelegt. Einen Satz finde
ich besonders gut:
In den zurückliegenden Jahren hat sich der Kinderschutz erheblich weiterentwickelt .
Das ist ein Ergebnis der Arbeit der Großen Koalition .
Dass Sie das bestätigen, sehe ich als Erfolg unserer Arbeit an .
({0})
Was haben wir erreicht? Sie haben vieles angesprochen . Ich will das gerne wiederholen . Anfang 2016 wurde die Aufarbeitungskommission beim Unabhängigen
Beauftragten für sexuellen Kindesmissbrauch eingerichtet und damit erstmals - ich glaube, das ist wichtig - eine
auf nationaler Ebene angesiedelte unabhängige Kommission .
Sie haben das Sachverständigenrecht und die Qualifizierung der Gutachter angesprochen . Das war uns auch
besonders wichtig, gerade mit Blick auf die Bedeutung,
die Sachverständige und Gutachter im Familienrecht
haben; denn sie entscheiden über ihre Gutachten darüber, was mit einem Kind passiert . Insoweit war und ist es
wichtig, dass wir mit der Änderung des Sachverständigenrechts den richtigen Weg eingeschlagen haben .
Wir diskutieren zurzeit sehr intensiv und auch manchmal etwas strittig über eine Studie zum Thema Kindeswohl, die uns wichtig war, weil wir unabhängig und
objektiv erkennen müssen, wie es Kindern nach Trennungen geht und was sie danach erleben . Ich glaube übrigens, dass in dem Bereich Kinderschutz der Komplex
Forschung noch unterentwickelt ist . Ich halte sehr viel
davon, immer genau zu wissen, was passiert, um die richtigen Maßnahmen auf den Weg zu bringen .
Das Bundeskinderschutzgesetz wurde angesprochen .
In weiten Teilen konnten wir schon Erkenntnisse umsetzen .
Sie haben die Teamarbeit zwischen den im Kinderschutz und in der Jugendhilfe tätigen Gruppen angesprochen . Für die Union kann ich sagen, dass wir, weil
das auch unser Gedankengang war, mit der Kinderschutz-Hotline, glaube ich, das Richtige auf den Weg
gebracht haben . Was ist denn wichtig bei der Vernetzung
von Jugendhilfe und Gesundheit? Wichtig ist, denjenigen, die mit Kindern arbeiten, und denjenigen, die den
Auftrag haben, zu überprüfen, was den Kindern passiert
ist - gab es eine Vernachlässigung, gab es einen Missbrauch oder Ähnliches? -, die größtmögliche Unterstützung anzubieten .
Ein Arzt in einer Notfallambulanz am Wochenende
muss, wenn ein Kind zu ihm kommt, das erkennbar eine
Verletzung hat, beraten werden: Wie geht es weiter? Wie
kann er mit der rechtsmedizinischen Analyse medizinisch
beraten werden? Es geht auch um die Frage: Was muss
Jugendhilfe leisten? - Viele Mediziner haben uns gesagt,
dass Misshandlungen und Missbrauch erkannt werden
müssen . Deswegen ist diese Kinderschutz-Hotline so
wichtig, die im April 2017 starten wird . Wenn Ärzte nicht
wissen, was genau passiert ist, können sie sich dort Informationen holen. Das betrifft auch die rechtliche Frage:
Was müssen sie machen, wenn sie einen Missbrauch oder
eine Misshandlung erkennen? Die Kinderschutz-Hotline
ist ein großer Erfolg der Großen Koalition . Die Union
hatte das vorgeschlagen . Das wird kommen .
Wichtig ist die Qualifizierung von Ärzten, von Jugendamtsmitarbeitern und von Familienrichtern - auch
mit Blick auf rechtsmedizinische Grundkenntnisse . Das
ist auch im Kontext der Kinderschutz-Hotline eine wichtige Forderung .
Ich finde Ihre Einlassung mit Blick auf die Kinderschutzgruppen hochinteressant . Dazu haben wir alle eine
klare Position . Die Modelle von Kinderschutzgruppen in
Krankenhäusern sind sehr positiv . In Deutschland, auch
hier in Berlin, haben wir einige Modelle . Dort wird auf
mehreren Ebenen zusammengearbeitet . Diese Kinderschutzgruppen sind noch ausbauwürdig, weil man so auf
strukturierte Art und Weise nicht nur analysieren kann,
was passiert ist, sondern auch die Folgewirkung bespricht . Dafür braucht man einen Psychologen und vielleicht einen Sozialarbeiter . Aber man braucht natürlich
Mediziner . Das Modell der Kinderschutzgruppen werden
wir uns demnächst noch intensiver anschauen .
Zum Kinderschutz gehört auch, was uns momentan
sehr intensiv bewegt . Natürlich haben wir eine Diskussion über die anstehende Reform zum Achten Buch Sozialgesetzbuch - Kinder- und Jugendhilfe . Wir können
aus meiner Sicht stolz darauf sein: Das KJHG, wie es so
schön heißt, ist eine Errungenschaft der Kinder- und Jugendhilfe . Es wurde vor 25 Jahren auf den Weg gebracht
nach intensiver Diskussion mit den Betroffenen, mit den
Trägern und mit den Verbänden . Was ist in der aktuellen
Diskussion zu beachten? Für uns - das sagen wir ganz
deutlich - stehen zwei zentrale übergeordnete Punkte im
Mittelpunkt .
Erstens reden wir über Hilfe zur Erziehung . „Unterstützung“ oder „Leistung“ ist keine Hilfe . Bei der
SGB-VIII-Reform gibt es Reformvorhaben und Reformschritte, die wichtig sind . Die Jugendhilfe muss früher,
zielgenauer und bedarfsorientierter arbeiten . Aber auf eines werden wir niemals verzichten, nämlich auf einen individuellen Anspruch auf eine Hilfeleistung . Das ist Kern
des KJHG . Die Kinder, die Familien, die Eltern sollen
wissen: Es gibt nicht irgendwo Unterstützung, wenn eine
Notfallsituation eintritt, sondern klar Hilfe . Das werden
wir in die Diskussionen einbringen .
Zweitens ist für uns wichtig, dass der kooperative
Gedanke der Jugendhilfe - gemeinsam mit Jugendamt,
Trägern, Eltern und Kindern - bestehen bleibt . Wenn wir
eine Reform durchführen, werden wir das ganz deutlich
so formulieren: Alle müssen mitarbeiten im Sinne des
Kindes .
({1})
Das heißt: Wir werden in den nächsten Wochen und
Monaten intensiv darüber diskutieren, wie es mit dieser
Reform weitergeht .
Wir hatten 124 000 Gefährdungseinschätzungen im
Jahr 2014, in denen der Verdacht aufgekommen ist, dass
Kinder psychische, physische oder sexuelle Gewalt erleben bzw . vernachlässigt sind . Das sind 7 Prozent mehr
als im Vorjahr . Das ist für unsere Gesellschaft nicht hinnehmbar . Dass diese Zahlen weiter steigen, ist nicht hinnehmbar . Das wird uns als Jugend- und Kinderpolitiker
weiterhin bewegen müssen .
({2})
Wir dürfen es nicht zulassen, dass Kinder in einer Anzahl,
die der Einwohnerzahl einer mittleren Stadt vergleichbar
ist, Jahr für Jahr gefährdet sind . Deswegen müssen wir
genau überlegen, was wir machen . Das tun wir auch .
Die SGB-VIII-Reform - wie und wann auch immer;
das werden wir sehen - könnte einen Fortschritt bedeuten . Ich bin auch sehr dankbar für den Antrag und den
Impuls, eine Diskussion zum Thema „Kinderschutz, Vernetzung, Gesundheit, Medizin, Jugendhilfe“ zu führen .
Wir haben in der Großen Koalition bereits viel erreicht
und Gutes gemacht . Aber das Gute kann man ja auch ausweiten und noch besser machen .
({3})
Deswegen freue ich mich genauso wie Sie auf die gute
Diskussion im Ausschuss .
Danke .
({4})
Norbert Müller hat für die Fraktion Die Linke als
nächster Redner das Wort .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir beraten
heute über einen Antrag der Grünen zum Kinderschutz .
Herr Kollege Weinberg, ich habe Ihnen aufmerksam zugehört und habe Ihrer Rede entnommen, dass wir in diesem Haus die seltene Chance haben, gemeinsam einem
Antrag der Grünen zuzustimmen . Die Fraktion Die Linke
sieht dieses Chance genauso wie Sie .
({0})
Die UN-Kinderrechtskonvention kennt drei große
Stützen: Schutz, Förderung und Beteiligung . Wir sind
im internationalen Vergleich in allen Bereichen nicht
schlecht . Wir können und müssen aber besser werden .
Sie haben bereits einige Punkte in der Debatte angesprochen: das Bundeskinderschutzgesetz oder die Einsetzung
des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen
Kindesmissbrauchs . Diesem möchte ich für seine hervorragende Arbeit danken .
({1})
Herr Rörig als Unabhängiger Beauftragter hat in den letzten Monaten eine ganze Reihe von Themen aufgeworfen,
bei denen es nicht nur um Aufarbeitung, sondern auch um
Prävention geht und wir im gesetzlichen Rahmen nacharbeiten müssen . Ich will zwei Punkte ansprechen, bei
denen Sie wahrscheinlich etwas schwerhöriger werden .
Das Erste ist die Umsetzung der EU-Aufnahmerichtlinie
und der Schutz besonders schutzbedürftiger Menschen,
also von minderjährigen Flüchtlingen und Frauen, insbesondere von alleinreisenden Frauen, in Erstaufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften . Hier müssen
wir besser werden . Ich empfehle Ihnen, nachzulesen, was
die Kinderkommission des Deutschen Bundestags insbesondere zum Schutz von Flüchtlingskindern - mit Unterstützung von Herrn Rörig - aufgeschrieben hat .
({2})
Zweitens . Ein großes Thema ist der sexuelle Missbrauch in Schulen . Wie können wir auch in diesem riesigen Bereich, in dem sich aufgrund der zehnjährigen
Schulpflicht so gut wie alle jungen Menschen aufhalten,
Prävention betreiben? Hier läuft die Kooperation mit den
Ländern bereits an . Wir sollten darüber nachdenken, wie
der Bund besser unterstützend tätig sein kann .
Ich war 2013/14 Mitglied des Bildungsausschusses
des brandenburgischen Landtags, als Brandenburg die
drei Einrichtungen der Haasenburg GmbH geschlossen
hat . Diese stationären Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe hatten einen geschlossenen Bereich, der dazu
geeignet war, Kinder zu missbrauchen; das wurde auch
praktiziert . Kinder wurden dort missbraucht, geschlagen, misshandelt, unterworfen und gedemütigt . Es war
richtig, diese Einrichtungen zu schließen . Ich sage Ihnen
aber auch: Das war ziemlich schwierig; denn die gesetzlichen Grundlagen waren nicht so, wie wir sie brauchten .
Deswegen sind die Vorschläge der Grünen, insbesondere
was das Betriebserlaubnisverfahren angeht, aber auch die
Ergebnisse der Bund-Länder-Gruppe, was die Betriebsaufsicht und die Heimaufsicht angeht, entscheidend . Wir
sollten dafür sorgen, dass nicht nur die stationären Einrichtungen besser kontrolliert werden, sondern dass alle
Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe engmaschiger
kontrolliert werden . Wir müssen das Betriebserlaubnisverfahren deutlich verbessern, um sicherzustellen, dass
es in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe weder
zu Übergriffen noch zu Missbrauch kommt.
({3})
Ein wichtiges Instrument für den Kinderschutz ist das
in den letzten Jahren vorgeschriebene Führungszeugnis für ehrenamtlich Tätige . Wie Sie aber wissen, greift
Marcus Weinberg ({4})
dieses Instrument viel zu kurz . Das kann nur ein erster
Anfang sein . Seit Monaten liegen uns Vorschläge des
Bayerischen Jugendrings und des Deutschen Bundesjugendrings vor. Wir finden es sehr gut, dass die Grünen
diese Vorschläge aufgreifen . Wir müssen dieses Führungszeugnis weiterentwickeln . Es ist bislang zu bürokratisch und zu aufwendig für die Verbände . Es ist viel
zu schwierig zu handhaben . Wie Sie wissen, gab es vor
anderthalb Jahren dazu eine Anhörung im Familienausschuss . Die Ergebnisse möchte ich noch einmal kurz zusammenfassen; Sie können sie auch im Antrag der Grünen nachlesen .
Das Führungszeugnis für ehrenamtlich Tätige zum
Beispiel in Sportvereinen soll zugunsten einer Unbedenklichkeitsbescheinigung, basierend auf dem Bundeszentralregister, abgeschafft werden, die nicht mehr jeder
x-Beliebige auf Antrag bekommt und die deutlich macht,
ob der Betreffende mit Kindern arbeiten darf oder ob davon abzusehen ist, weil es einen entsprechenden Eintrag
im Bundeszentralregister gibt . Der Vorschlag der Grünen ist gut . Diesen könnten wir sofort umsetzen, Herr
Weinberg .
({5})
Die Grünen stärken in ihrem Antrag den Beratungsanspruch. Das finden wir richtig. Ja, die Beratung muss
entbürokratisiert und ausgeweitet werden . Sie muss für
alle Kinder und Jugendlichen geöffnet werden. Wenn wir
aber - das fehlt mir ein Stück weit in Ihrem Antrag; das
werden wir noch einmal in die Beratungen einbringen die Beratungsansprüche ausweiten, die Aufsicht über
Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, insbesondere die Heimaufsicht, ausbauen sowie die Betriebsgenehmigungsverfahren qualitativ verbessern wollen, dann
brauchen wir eine bessere Kinder- und Jugendhilfe . Das
heißt, wir brauchen mehr Geld in Ländern und Kommunen für Aufsichtsbehörden und Jugendämter . Wir müssen
den kompletten Bereich der Kinder- und Jugendhilfe stärken . Die anstehende Reform des Achten Buches Sozialgesetzbuch bietet eine gute Gelegenheit, Herr Weinberg,
die Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland insgesamt zu
stärken . Diese Signale sollten Sie aufnehmen . Dann hätten Sie uns als Linke an Bord . Das können Sie mit Geld,
einer Entlastung der Kommunen an dieser Stelle und mit
besseren gesetzlichen Grundlagen tun .
Vielen Dank .
({6})
Als nächste Rednerin hat Ulrike Bahr für die
SPD-Fraktion das Wort .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen
und Kolleginnen! Equal Pay - hochaktuell . Viele Kolleginnen und Kollegen waren in der letzten Woche bei den
Auftaktveranstaltungen zum Equal Pay Day 2017 . Zum
Titel Ihres Antrags - keine Sorge, ich habe mich nicht
im Thema vertan -, „Damit Kinder gut aufwachsen“, fiel
mir spontan ein ganz ähnliches Schlagwort ein, nämlich:
Equal Grow Up .
Das ist zweifelsfrei ein mindestens genauso wichtiges
Thema; denn genauso wie es ungerechte Lohnlücken
gibt, gibt es auch weiterhin ungleiche Startbedingungen,
was das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen betrifft. In der Gewerkschaftsarbeit haben wir dazu immer
ein einfaches, aber dafür sehr eindrucksvolles Bild benutzt . Stellen Sie sich eine Startlinie vor, an der nebeneinander ein Rabe, ein Affe, ein Pelikan, ein Elefant, eine
Robbe und ein Dackel stehen . Vor ihnen sitzt ein Lehrer am Pult und sagt: Aus Gerechtigkeitsgründen lautet
für Sie alle die Aufgabe gleich: „Klettern Sie auf einen
Baum!“ - So viel zur Chancengleichheit in der Realität .
Dabei haben wir in der Vergangenheit natürlich schon
viele „Prothesen“ und Hilfsmittel entwickelt, um Nachteile auszugleichen und gerechtere Startchancen für alle
Kinder zu schaffen, auch mithilfe unseres über die Landesgrenzen hinaus anerkannten Kinder- und Jugendhilfesystems, bei dem wir auch in Zukunft keinerlei Standardsenkungen akzeptieren werden .
({0})
„viel wert . gerecht . wirkungsvoll“ - das waren die
Schlagworte des letzten Kinder- und Jugendhilfetages,
wenige Worte, die aber alles sagen . Seit mittlerweile einem Vierteljahrhundert stellen wir so das Kind und seine
bestmögliche persönliche Entwicklung in den Mittelpunkt . Wir sprechen hier nicht ohne Grund von einem
Paradigmenwechsel; denn seitdem gehört es zum Verständnis von gutem Aufwachsen, dass wir die Kinder in
ihrer Persönlichkeit und als Individuen stärken . Es geht
darum, Stärken zu fördern und auszubauen, und eben
nicht darum, vermeintliche Defizite auszumerzen. Auch
das ist für mich Kinderschutz .
Dabei scheint uns das heute oft selbstverständlich . Erinnern wir uns: Wie war es denn noch in der Mitte des
letzten Jahrhunderts, wenn man beispielsweise Linkshänder war? Ich bin mir sicher, dass sich hier im Saal einige „Umgedrehte“ finden, jene, denen mit Zwang, nicht
selten mit Schlägen, beigebracht wurde, mit der „schönen“ Hand zu schreiben und guten Tag zu sagen .
Für mich ist diese Abkehr davon, dass man nur „richtig“ ist, wenn man in eine bestimmte Norm passt oder
gepresst wird, wirklich eine Errungenschaft zum Nutzen
und auch zum Schutz vieler späterer Kindergenerationen .
Unsere Kinder lernen, dass es völlig normal ist, unterschiedlich zu sein, dass jeder Schwächen hat . Aber noch
wichtiger ist: Jeder hat Stärken, die wir fördern können
und müssen . Jedes Kind soll die gleichen Chancen auf
diese Förderung haben . Das gilt für Mädchen und Jungen, für Aufgeweckte und Ruhige, für hier Geborene und
für Zugezogene, kurz: für alle Kinder - und das auch unabhängig vom Geldbeutel ihrer Eltern .
({1})
Wenn wir eine inklusive Gesellschaft wollen, dann
brauchen wir genauso ein System mit Hilfe- und Unterstützungsleistungen, das für alle Kinder und JugendNorbert Müller ({2})
lichen gilt, egal ob behindert oder nicht behindert . Wir
brauchen auch die inklusive Lösung im SGB VIII, damit
die verschiedenen Schubladen bei den Eingliederungshilfen endgültig zu sind .
Zweifelsohne ist viel passiert in den letzten Jahren in
Richtung inklusive Gesellschaft mit den Frühen Hilfen,
integrativen Kitas, Programmen wie „Jugend Stärken
im Quartier“ oder, gerade neu, mit dem schon jetzt sehr
erfolgreichen Bundesprogramm „Sprach-Kitas“ . Wir haben also durchaus Erfolge zu verzeichnen . Heutzutage ist
das katholische Mädchen vom Lande nicht mehr zwangsläufig bildungsbenachteiligt. Frau kann sogar Bundestagsabgeordnete werden .
Aber es gibt weiterhin jene und auch neue Gruppen,
für die wir noch breitere Zugänge zu mehr Bildung, zu
mehr Schutz und zu mehr Partizipation schaffen müssen.
Das gilt für Kinder aus einkommensschwachen und bildungsfernen Familien, das gilt für Jugendliche, die uns
teils an den Übergängen von der Schule in die Ausbildung verloren zu gehen drohen und schlimmstenfalls
durch alle Netze fallen, und das gilt nicht zuletzt für diejenigen jungen Menschen, mit deutschem genauso wie
mit Migrationshintergrund, die sich von unserer Gesellschaft nicht angenommen fühlen und für extremistisches
Gedankengut anfällig werden . Deshalb gehören für mich
politische Bildung und Demokratieerziehung unbedingt
auch dazu, wenn es um gutes Aufwachsen, Schutz und
Prävention geht .
({3})
Ein weiteres Instrument, das vor Ort im Bereich der
Kinder- und Jugendhilfe dazu beitragen kann, Ungleichgewichte auszubalancieren, sind Ombudsstellen . Für
alle, denen dieser Begriff - einfach auch deswegen, weil
es diese leider noch nicht flächendeckend gibt - nicht so
geläufig ist: Ombudsstellen sind unabhängige Anlaufstellen, die den Anspruchsberechtigten in der Kinder- und
Jugendhilfe offenstehen. Hier gibt es Beistand und Hilfe, wenn es Unklarheiten, Probleme und Konflikte in der
Kinder- und Jugendhilfe gibt .
Ich bin seit dem letzten Jahr stellvertretende Vorsitzende eines neuen Vereins in Bayern, der das Thema
„unabhängige Ombudschaft“ weiter vorantreiben will . In
dieser kurzen Zeit habe ich eine Menge gelernt, vor allem
von den vielen engagierten Fachkräften, die sich hauptwie ehrenamtlich für dieses Thema starkmachen . Ich bin
überzeugt, dass eine Verankerung von Ombudsstellen im
SGB VIII der absolut richtige Weg ist .
Aber was ist eigentlich mit den Kindern? Wissen wir
immer so ganz genau, was für die Kinder selbst gutes
Aufwachsen ist? Eine Umfrage der Deutschen Bahn im
Sommer hat dazu interessante Ergebnisse geliefert . Die
Hauptfrage war: Was wünschen sich Kinder am meisten?
Man hat sowohl die Kinder als auch ihre Eltern gefragt .
Die Eltern lagen da - wenn wundert es? - nicht immer
richtig . Natürlich stehen Süßigkeiten, Computerspiele
und Hunde ziemlich weit oben auf der Skala . Am Schluss
aber kam heraus: Das, was Kinder sich wirklich am
meisten wünschen, ist Zeit, Zeit mit der ganzen Familie .
Deshalb wünsche ich mir auch, dass künftig - möglichst
bald - auch die Familienarbeitszeit zum guten Aufwachsen dazugehört .
In diesem Sinne vielen Dank .
({4})
Als nächste Rednerin spricht Christina Schwarzer für
die CDU/CSU-Fraktion .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sieben Monate alt durfte die kleine Lena aus Berlin-Neukölln werden, bevor ihr junger Vater der Meinung war, dass ihn ihr Schreien so sehr nervt, dass er
sie durchschütteln könnte . Und er tat es . Fünf Sekunden
lang . Lena hatte keine Chance . Sie ist einen Tag später
an ihren schweren Gehirnverletzungen gestorben . Dieser
unglaublich traurige Fall passierte hier bei uns in Berlin im Jahre 2012, allerdings nicht in einer Familie, die
durch das Hilfenetz fiel, auch nicht in einer Familie, die
von unseren Regeln und Gesetzen nicht erreicht wurde .
Es passierte in der Obhut des Jugendamtes, in einer Berliner Jugendhilfeeinrichtung, einem sogenannten MutterKind-Haus .
Fälle wie der der kleinen Lena gibt es leider immer
wieder in Deutschland . Viel zu oft wird dann - vielleicht
auch aufgrund der Hilflosigkeit der Verantwortlichen nach bundesgesetzlichen Regelungen gerufen . Sehr geehrte Kollegen der Grünen, Sie sagen es in Ihrem Antrag
ja selbst: Der gesetzliche Kinderschutz hat sich erheblich
weiterentwickelt, auch und insbesondere durch das Bundeskinderschutzgesetz . Zwischen diesen gesetzlichen,
vor allem bundesgesetzlichen Regelungen und dem damit verbundenen Anspruch sowie der Praxis vor Ort klaffen dennoch Lücken . Das beschreiben Sie ebenfalls in
Ihrem Antrag .
Mein Heimatbezirk Neukölln hat aus diesem Fall gelernt . Unser Jugenddezernent hat dieses Thema zur Chefsache erklärt, den Fall sehr intensiv und mit zahlreichen
Experten aufgearbeitet und vor Ort wichtige Maßnahmen
umgesetzt . Die vielleicht wichtigste Maßnahme ist die
Einrichtung eines Kinderschutzteams mit zusätzlichem
Personal . Das war ein Novum in Berlin . Die Etablierung einer Präventionskette - und damit eine rechtzeitige frühe familiäre Präventionsarbeit am besten schon in
der Schwangerschaft - konnte ebenfalls erreicht werden .
Eine frühe Unterstützung der jungen und werdenden Familien bewahrt in den allermeisten Fällen die Kinder vor
späten negativen Entwicklungen .
Um es noch einmal sehr deutlich zu sagen: Wir haben
in den vergangenen Jahren unsere Regeln und unsere Gesetze zum Kinderschutz zum Glück und zu Recht erheblich weiterentwickelt, nicht zuletzt - das sagte auch der
Kollege Weinberg - durch das Bundeskinderschutzgesetz . Mir persönlich ist dabei das System „Frühe Hilfen“
ganz wichtig . Ich glaube, da sind wir hier einer Meinung .
Auch die Möglichkeit für Ärzte und andere Berufsgeheimnisträger, bei Verdacht auf Kindesmisshandlungen
die Jugendämter einzuschalten - also ihre Schweigepflicht zu brechen -, ist eine bedeutende Maßnahme. Sie
müsste nur noch viel stärker genutzt und publik gemacht
werden . Die Ärzte müssten über ihren Nutzen wie auch
über Merkmale und Folgen von Kindesmisshandlungen
stärker aufgeklärt werden . Auch hier stehen wir immer
wieder vor der großen Herausforderung, ob der Datenschutz dem Kinderschutz entgegensteht .
Noch recht aktuell im großen Feld Kinderschutz ist
die so wichtige Verschärfung des Sexualstrafrechts . An
Letzterem können wir - diese Nebenbemerkung sei mir
erlaubt - meines Erachtens ruhig noch ein bisschen weiterarbeiten . Ich würde mir wünschen, dass wir das Thema „Versuchsstrafbarkeit beim Cybergrooming“ noch
einmal angehen . Spätestens nachdem viele von uns den
Film Das weiße Kaninchen gesehen haben, wissen wir
alle, was für Dinge im Internet passieren . Am Ende sind
wir uns jedoch aber alle einig: Kinder brauchen und
verdienen unseren besonderen Schutz . Und egal, wie
hoch die Schutzstandards bei uns sind: Gesetze müssen
eben auch eingehalten und gut umgesetzt werden . Dafür braucht es Kontrollmechanismen in den Ländern und
Kommunen . Wir alle, die wir hier sitzen, können uns dafür verantwortlich zeigen und uns in den Heimatregionen, aus denen wir kommen, dafür starkmachen .
Einen Punkt würde ich gerne noch aufgreifen - meine
Vorredner haben ihn schon erwähnt -: das Führungszeugnis. Hierzu gibt es sehr unterschiedliche Auffassungen
der Fraktionen in unserem Haus. Ich teile die Auffassung
der Vereine und Verbände, die auch in der Expertenanhörung Anfang des letzten Jahres, also vor rund anderthalb
Jahren, deutlich wurde . Die Vorlage des Führungszeugnisses sollte durch eine sogenannte bereichsspezifische
Auskunft beim Bundeszentralregister ersetzt werden .
Diese Bescheinigung würde dann nur Auskunft darüber
geben, ob eine Person nach dem Bundeskinderschutzgesetz haupt- oder ehrenamtlich mit Kindern arbeiten
darf oder nicht, ergo, ob sie nach den in § 72a Absatz 1
SGB VIII genannten Straftatbeständen verurteilt sind .
Hierbei handelt es sich im Wesentlichen um Sexualdelikte . Andere Vergehen wie zum Beispiel Diebstahl,
Drogenhandel oder auch Mord würden dem Vereinsvorsitzenden nicht bekannt . Das Bundeskinderschutzgesetz
nennt diese aber auch nicht als Ausschlussgründe für die
Arbeit mit Kindern und Jugendlichen .
Weil ich auch die Gegenargumente, unter anderem der
zuständigen Ministerien kenne, möchte ich gleich noch
etwas klarstellen: Die Gegner einer möglichen Gesetzesänderung argumentieren, dass es einem Vereinsvorstand
möglich sein müsse, auch in andere Straftatbestände Einsicht zu nehmen, die nicht von § 72a Absatz 1 SGB VIII
abgedeckt sind . Dann solle er im Einzelfall entscheiden,
ob, sagen wir, ein ehemaliger Drogenhändler Kinderund Jugendarbeit in einem Verein machen darf . Um das
noch etwas deutlicher zu machen: Wir verlangen vom
Vereinsfunktionär hier eine Entscheidung, die wir als
Gesetzgeber nicht treffen wollen. Wir haben den Funktionären doch gar keine Entscheidungsgrundlage an die
Hand gegeben, also kann der eine ehemalige Drogenhändler ruhig die Fußballmannschaft trainieren, weil der
Vereinsvorsitzende der Meinung ist, er sei ausreichend
bekehrt, ein anderer darf das aber nicht .
Ich muss aber auch kritisch hinterfragen, wie dieser
Punkt in einen Antrag passt, in dessen Titel es „Kinderschutz und Prävention ausbauen“ heißt . Ich denke, wir
sind uns einig, dass wir auf keinen Fall die Kinderschutzstandards senken dürfen . Ich würde mir in diesem Zusammenhang im Übrigen auch noch wünschen, dass wir
das Erfordernis der Vorlage eines entsprechenden Nachweises auf all diejenigen ausweiten, die im Haupt- oder
Ehrenamt mit Kindern arbeiten, egal ob diese Jugendarbeit nun öffentlich gefördert ist oder nicht. Gleiches gilt
im Übrigen auch für Berufsgruppen, die vermehrt mit
Kindern arbeiten . Ich denke hier zum Beispiel an Kinderärzte und Kinderpsychologen . Weil wir ein Land von
Bürokraten sind, gehen wir immer wie selbstverständlich
davon aus, dass so etwas bei uns geklärt ist . Ist es aber
nicht .
Ich freue mich ebenfalls auf die guten Beratungen .
Herr Müller, vielleicht können wir ja noch gemeinsam
gute Ideen entwickeln .
Vielen Dank .
({0})
Als nächste Rednerin spricht Gülistan Yüksel für die
SPD-Fraktion .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Bürgerinnen
und Bürger! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Kein
Kind zurücklassen!“, diesen Titel trägt ein erfolgreiches
Projekt in NRW. Es schafft durch sogenannte kommunale Präventionsketten niedrigschwellige Angebote zur
Unterstützung von Kindern und Familien, und zwar
möglichst lückenlos und von der Schwangerschaft bis
zum Eintritt ins Berufsleben . „Kein Kind zurücklassen“
umschreibt auch unser aller Anliegen: Kinder zu schützen und ihnen zu ermöglichen, dass sie gut aufwachsen
können . Unser Schutzsystem mit seinen Beratungs- und
Unterstützungsangeboten ist zwar grundsätzlich gut und
wirksam, weil aber jeder Fall von Kindesmissbrauch
einer zu viel ist, müssen wir kontinuierlich an weiteren
Verbesserungen arbeiten .
Erfolgreiche Bausteine unserer aktuellen Kinderschutzpolitik sind unter anderem das Gesamtkonzept für
den Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexueller
Gewalt; Initiativen wie „Trau dich!“, die bundesweit Eltern und Kinder über ihre Rechte und das Thema Missbrauch informieren; oder die Frühen Hilfen, die Eltern
bei der Erziehung ihrer Kinder in puncto Gewaltschutz
und gesundes Aufwachsen unterstützen . Außerdem wird
es eine neue zentrale medizinische Kinderschutzhotline
geben, die Ärztinnen und Ärzten 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche bei Verdachtsfällen der Kindeswohlgefährdung unterstützend zur Seite steht .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch der Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs leistet wichtige Arbeit im Bereich der Hilfe, Beratung und Prävention . Seine Initiative „Kein Raum für
Missbrauch“ gibt den Anstoß dazu, dass Einrichtungen
und Organisationen Orte werden, an denen Kinder und
Jugendliche vor sexueller Gewalt geschützt sind sowie
Hilfe und Unterstützung bekommen . Ein besonderer
Schwerpunkt wird auf den Ort gelegt, an dem die meisten Kinder und Jugendlichen erreicht werden können: die
Schule . Gerade Schulen müssen geschützte Räume sein,
in denen Probleme sensibel wahrgenommen und gelöst
werden .
Besonders schutzbedürftig sind in diesen Tagen geflüchtete Kinder und Jugendliche. Sie haben kriegs- und
fluchtbedingte Gewalterfahrungen gemacht; viele sind
traumatisiert . Es ist unsere Aufgabe, dass sie bei uns endlich Ruhe und Schutz finden.
({0})
Die SPD-Bundestagsfraktion unterstützt die Bundesfamilienministerin in ihrer Forderung, Schutzkonzepte in
Asylunterkünften als Standard bundesweit vorzuschreiben .
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Kinderschutz und
gutes Aufwachsen müssen ganzheitlich gedacht werden .
Politik hat die Aufgabe, die Rahmenbedingungen dafür
zu schaffen, dass Eltern ihren Kindern ein körperlich,
seelisch und sozial gesundes Aufwachsen ermöglichen
können . Zu „Kein Kind zurücklassen“ gehört auch, jedes Kind bestmöglich zu fördern . Alle Kinder brauchen
vollen Zugang zu frühkindlichen Bildungsangeboten,
Schulen sowie zur Kinder- und Jugendhilfe . Deshalb
war es wichtig und richtig, dass wir die Kinderbetreuung weiter ausgebaut haben, dass wir bei den jüngsten
Bund-Länder-Verhandlungen zusätzliche Investitionen
im schulischen Bereich sowie eine Verbesserung des
Unterhaltsvorschusses durchgesetzt haben, dass wir die
Grundsicherung und den Kinderzuschlag verbessern und
dass wir die hohen Standards der Kinder- und Jugendhilfe für alle Kinder und Jugendlichen erhalten .
({2})
Durch Programme wie KitaPlus oder staatliche Leistungen wie dem Elterngeld Plus ermöglichen wir Familien außerdem eine zeitlich flexiblere Ausgestaltung des
Alltags . Wie meine Kollegin Ulrike Bahr bereits ausgeführt hat, wünschen sich Kinder mehr Zeit mit der Familie . Als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten
nehmen wir diesen Wunsch ernst und werden uns weiterhin für das zukunftsweisende Familienarbeitszeitmodell
starkmachen .
({3})
Schade, dass sich noch nicht alle dafür haben erwärmen
können .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, verantwortungsvolle und vorbeugende Politik ist nicht nur gut für Kinder
und Familien . Verantwortungsvolle und vorbeugende
Politik spart auch soziale Folgekosten, etwa bei Kinderund Jugendhilfen und Grundsicherungsleistungen . Dem
Kindeswohl muss bei allem staatlichen Handeln der Vorrang eingeräumt werden . Für uns als SPD ist deshalb eine
Stärkung der Rechte von Kindern ein wesentliches Ziel .
({4})
Um diese Rechte im Alltag besser durchzusetzen und
Kinder somit zu stärken und auch besser zu schützen,
brauchen wir als einen wichtigen Schritt Kinderrechte im
Grundgesetz .
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir dürfen kein
Kind zurücklassen . Das heißt für uns: früh handeln, gezielt fördern, ganzheitlich helfen. Das ist unsere Pflicht.
Danach handeln wir . Auch wir freuen uns auf die Diskussionen in den Ausschüssen .
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit .
({6})
Als nächster und letzter Redner in der Debatte hat
Eckhard Pols für die CDU/CSU-Fraktion das Wort .
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als Vater von
fünf Kindern fühlt man sich im Familienausschuss am
richtigen Fleck . Ich vermag hier all meine praktischen
Erfahrungen als Elternteil mit einzubringen . Ebenso verhält es sich mit dem Blick auf meine Mitgliedschaft in
der Kinderkommission seit Beginn der 17 . Legislaturperiode des Deutschen Bundestages .
In der Zeit meines Vorsitzes in der Kinderkommission
habe ich etwas gesagt, zu dem ich auch heute noch stehe:
„Ohne Kinder ist kein Staat zu machen, ohne Kinder gibt
es keine Zukunft .“ Deshalb ist es überaus wichtig, dass
vor allem wir Familienpolitiker das Wohl der Kleinen in
unserer Gesellschaft stets im Auge behalten . Dabei handelt es sich natürlich um einen fortwährenden Prozess
der Analyse, wie wir die bestmögliche Entwicklung unserer Kinder gewährleisten können . „Kinderschutz“ und
„Prävention“ lauten hier die zentralen Begriffe.
Vor diesem Hintergrund halte ich Ihren Antrag sogar
grundsätzlich für lobenswert . Ich bin mir ziemlich sicher,
dass Sie damit auch zu einem besseren Kinderschutz beitragen wollen . Sie sprechen auch wichtige Themen an .
Da sind zum Beispiel eine bessere Kooperation zwischen
Kinder- und Jugendhilfe und dem Gesundheitswesen sowie die bestmögliche Integration von Ehrenamtlichen in
die Kinder- und Jugendarbeit .
Als aufrichtiger Kollege muss ich Ihnen aber leider
auch sagen, dass Sie mit Ihrem Antrag an vielen Stellen
Gefahr laufen, das eigene Ziel zu verfehlen . Ich möchte
meine Position an zwei Punkten erläutern .
Zum einen wollen Sie die Pflicht zur Vorlage des erweiterten Führungszeugnisses aufheben . Sie sprechen in
diesem Zusammenhang überwiegend von Ehrenamtlichen, die in der Tat Außergewöhnliches im Bereich der
Kinder- und Jugendhilfe leisten . Die Gesellschaft - ebenso wie wir Abgeordnete - kann sich wahrhaftig glücklich
schätzen, ein solch bewundernswertes ehrenamtliches
Engagement vorzufinden. Deshalb plädiere auch ich dafür, Ihnen die Aufnahme eines entsprechenden Ehrenamtes so leicht wie möglich zu machen . Da sind sich Union
und Grüne sogar einig .
Was uns jedoch unterscheidet, ist das Augenmaß .
Ausgerechnet beim Kindeswohl - ich betone: beim Kindeswohl - wollen Sie die gesetzlich vorgeschriebene
Pflicht zur Vorlage eines erweiterten Führungszeugnisses
abschaffen - ohne Prüfung, ob dies auch zweckdienlich
wäre . Dabei sollten wir jedoch stattdessen reinen Gewissens in den Spiegel schauen und sagen können: Unsere
Kinder befinden sich in guten Händen. So vermag es allerdings nur zu sein, wenn wir den Personen, in deren
Obhut wir unsere Kinder geben, wirklich vertrauen können .
Natürlich sehe auch ich das Unbehagen derjenigen, die
sich um unsere Kinder kümmern, wenn sie dem Träger
ihr erweitertes Führungszeugnis vorlegen müssen . Dies
gilt laut Gesetz für die hauptamtlichen Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter der Kinder- und Jugendhilfe wie auch
für Ehrenamtliche gleichermaßen . Allerdings muss zuerst geprüft werden, ob gleichwertige Alternativen zur
derzeitigen Vorlagepflicht wirklich bestehen. Ich sage Ihnen: Gerade beim Thema Kindeswohl muss Sorgfalt vor
Schnelligkeit gehen .
Angesichts dessen will ich vielmehr unserer unionsgeführten Bundesregierung ein großes Lob aussprechen .
Sie geht äußerst bedächtig und verantwortungsvoll mit
dem Kindeswohl um . Sie wird die Zweckdienlichkeit
des sogenannten Negativ-Attestes, welches die Grünen
in ihrem Antrag vielleicht schon als der Weisheit letzter
Schluss verkaufen wollen, eingehend prüfen .
Eine Prüfung wird die Regierung auch hinsichtlich der
Frage vornehmen, ob bestimmte andere schwere Straftaten, die heutzutage noch nicht zum Ausschluss von Tätigkeiten aus der Kinder- und Jugendhilfe führen, mit in
den Katalog der ausschlussrelevanten Straftaten einbezogen werden sollten . Von dieser Überprüfung sind Delikte
etwa des Totschlags und der schweren Körperverletzung
betroffen, und das finde ich gut.
Der zweite kritische Punkt, den ich sehe, ist, dass Sie
die Verantwortung für die Unterhaltung von Hilfenetzwerken anscheinend allein dem Bund auferlegen wollen,
und zwar mit der Begründung, dass Präventionsnetzwerke Schwierigkeiten bei ihrer langfristigen Finanzierung
hätten . Meine Damen und Herren von den Grünen, ich
sage Ihnen einmal Folgendes: Kinderschutz und Prävention sind eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, an der
sich sowohl der Bund als auch die Länder zu beteiligen
haben .
Wenn sich Ihre eigenen Landesregierungen dieser
Verantwortung entziehen, ist das ein Problem, das vor
allem die Länder zu lösen haben und nicht die Bundesebene . Wie auch in anderen Politikbereichen nach dem
Bund zu rufen, wenn man wieder einmal nicht weiterweiß, ist zwar immer sehr einfach, ich halte das aber an
dieser Stelle für deplatziert .
Ungeachtet dessen bekennt sich der Bund zu seiner
Verpflichtung, wie etwa die Anschubfinanzierung des
Präventionsnetzwerkes „Kein Täter werden“ zeigt, das
sich an Pädophile richtet . Diese übernahm das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz . Sogar das rot-schwarz regierte Berlin hat übrigens die Anschlussfinanzierung für das Jahr 2017 übernommen. Das
nenne ich verantwortungsvoll .
Aber zu guter Letzt möchte ich tatsächlich einen Sozialdemokraten zitieren, nämlich unsere Familienministerin Manuela Schwesig - leider ist sie gerade nicht da -,
die einmal gesagt hat: „Jedes Kind hat ein Recht darauf,
gut und sicher aufzuwachsen .“ Und das wollen wir doch
alle .
Vielen Dank .
({0})
Ich schließe die Aussprache .
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
der Drucksache 18/9054 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall . Dann ist die Überweisung
so beschlossen .
Ich rufe den tagesordnungspunkt 31 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und SPD
Gartenbau sowie Garten- und Landschaftsbau als innovativen Wirtschaftszweig stärken
und zukunftsfest machen
Drucksache 18/10018
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft ({0})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . - Ich höre keinen Widerspruch . Dann ist so beschlossen .
Sobald alle Kolleginnen und Kollegen, die an dieser
Debatte teilhaben wollen, einen Platz gefunden haben,
könnte ich die Aussprache eröffnen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Thomas Mahlberg für die CDU/CSU-Fraktion .
({1})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren, die dieser Debatte auf
der Tribüne oder vor dem Fernseher beiwohnen! Wir
haben die Initiative für den Gartenbau deshalb ergriffen,
weil es wichtig ist, wie ich finde, einen innovativen, einen klein- und mittelständisch strukturierten Wirtschaftszweig hier in Deutschland zu stärken und ihn auch weiterhin zukunftsfest zu machen .
Manch einer reibt sich die Augen und fragt sich: Im
Deutschen Bundestag wird über Gartenbau debattiert?
Man reibt sich noch mehr die Augen, wenn man mit den
Hard Facts des Gartenbaus konfrontiert wird; denn der
Gartenbau bei uns im Land hat eine Bruttowertschöpfung
von rund 20 Milliarden Euro . Er macht einen Umsatz
von etwa 78 Milliarden Euro . Rund 700 000 Menschen
arbeiten in dieser Wertschöpfungskette . Der Gartenbau
in Deutschland stellt etwa 13 000 Ausbildungsplätze zur
Verfügung und ist damit einer der größten Ausbilder in
der Agrarbranche .
({0})
Sie sehen also: Der Gartenbau verdient unsere volle Unterstützung . Gartenbaubetriebe bereichern unser Leben;
ich glaube, diese Erfahrung hat jeder schon ganz persönlich gemacht .
Das Thema Ernährung ist derzeit in aller Munde . Wir
haben auch in dieser Woche Debatten über dieses Thema
geführt . Wenn Sie morgen wie ich und meine Kolleginnen und Kollegen selber einkaufen gehen, dann erfahren
Sie wieder, welche tollen und innovativen Produkte unser Gartenbau hervorbringt, beispielsweise Obst und Gemüse auf dem Wochenmarkt oder in den Geschäften . So
gehören gartenbauliche Betriebe mit ihren Erzeugnissen
zu unserem Alltag .
Aber es gibt nicht nur Obst und Gemüse vom Gartenbau, sondern der Gartenbau ist viel mehr . Es gibt neben
Essbarem, neben viel Gesundem, das produziert wird,
auch Zierpflanzen, es gibt den Friedhofsbereich - ein
sehr großer Bereich - und Einzelhandelsgärtnereien sowie den Garten- und Landschaftsbau, kurz: GaLa-Bau .
Als Arbeitgeber spielt der Gartenbau eine wichtige
Rolle in unserem Land - das habe ich eben deutlich gemacht -, vor allen Dingen in den ländlichen Regionen
unseres Landes, aber nicht nur dort: Er leistet auch Großartiges im Bereich der Integration . Ich komme aus Nordrhein-Westfalen . Dort gibt es beispielsweise ein sehr großes Integrationsprojekt, von dem gerade junge Menschen
sehr profitieren, aber nicht nur die jungen Menschen,
sondern auch die Betriebe, weil so die entsprechenden
Fachkräfte für den Garten- und Landschaftsbau ausgebildet werden .
Neben den Integrationsmöglichkeiten im Rahmen dieser Projekte findet auch eine alltägliche Integration statt,
zum Beispiel in den vielen Kleingartenanlagen, die wir
haben; davon ist natürlich auch der städtische Raum betroffen. Ich möchte in diesem Zusammenhang ein großes
Lob und einen großen Dank den vielen Kleingärtnern
aussprechen, die wir bei uns im Land haben; denn sie
tragen mit Urban Gardening, mit Urban Farming und mit
ihren Kleingärten dazu bei, viel Grün in unsere Städte zu
bringen, viel Grün in unser Land zu bringen, und damit
sorgen sie für die entsprechende Lebensqualität in unseren Städten .
({1})
Sie steigern damit die Attraktivität unserer urbanen Räume . Und nicht nur das: Sie verbessern auch das Stadtklima . Das Stadtgrün ist nämlich auch eine wichtige Voraussetzung für ein gesundes Klima, das wir in unseren
Städten brauchen .
Natürlich gibt es auch viele Herausforderungen für den
Gartenbau, zum Beispiel die gestiegenen Anforderungen
an die Energieeffizienz. Dabei steht vor allen Dingen die
ressourcenschonende Produktion im Vordergrund . Wir
können es nur begrüßen - das darf ich an dieser Stelle
ganz persönlich sagen -, dass im Haushalt zusätzliche
Gelder insbesondere für die Förderung von Energieberatung und energiesparenden Investitionen für den Gartenund Landschaftsbau vorgesehen sind . Somit unterstützt
der Bund die schnelle Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse in die Praxis . Deshalb an dieser Stelle ein großes Lob an unseren Bundesminister Christian Schmidt!
Ich denke, stellvertretend wird der Staatssekretär Peter
Bleser dieses Lob weiterleiten .
({2})
Es gibt viele Aufgaben, die wir gemeinsam mit der
Bundesregierung lösen müssen . Das gilt auch mit Blick
auf die europäische Ebene . Dazu zählt die weitere
Angleichung wettbewerbsrelevanter Regelungen genauso wie der europäische Patent- und Sortenschutz . Wir
fordern die Bundesregierung deshalb auf, auf europäischer Ebene darauf hinzuwirken, dass Erzeugnisse aus
konventioneller Zucht und alle herkömmlichen biologischen Zuchtverfahren von der Patentierbarkeit ausgeschlossen sind .
Im Bereich der Absatzförderung sind die Stellung und
die Förderfähigkeit aller Produkte des Gartenbaus zu
verbessern und Selbstvermarkter - ich glaube, da sind
wir uns einig - stärker zu unterstützen . Letztendlich geht
es ja darum, dass unsere leistungsfähige Gartenbauwirtschaft einen leichteren Zugang zu den Märkten gerade
in Drittstaaten bekommt . Das heißt, wir müssen die Zahl
der nichttarifären Handelshemmnisse weiter reduzieren .
Im Jahre 2013 hat es einen großen Kongress des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft gegeben . Wichtig erscheint mir, dass wir die Ergebnisse,
die wir dort erzielt haben, weiterhin umsetzen: im Bereich der Energieeffizienz, zum Beispiel, was die Reduktion von Torf in Substraten angeht, in der Züchtungsforschung und gerade auch bei der Erforschung neuer
Gefahren durch Krankheiten und Schädlinge sowie der
Gefahren der Bodenmüdigkeit . Deshalb haben wir in unserem Antrag, den wir gemeinsam mit der SPD formuliert haben, der Forschung ein großes Kapitel gewidmet .
Kontraproduktiv ist, wie ich finde - auch das darf an
dieser Stelle erwähnt werden; aber ich hoffe, dass wir da
noch eine gemeinsame Lösung finden -, die existenzielle
Frage des Leibniz-Instituts für Gemüse- und Zierpflanzenbau am Standort Erfurt . Dort gibt es massive Probleme . Wir haben ja bereits verabredet, im November dieses
Jahres ein gemeinsames Gespräch zu führen. Ich hoffe,
dass wir dann eine Lösung finden. Ich glaube, die Schließung dieses Instituts wäre ein großer Verlust - da sind
wir uns wahrscheinlich parteiübergreifend einig -, nicht
nur für die Branche, sondern auch im Hinblick auf die
politischen Ziele, die wir verfolgen .
({3})
Auch was das Thema „Grün in der Stadt“ angeht, gibt
es viele Fragen, die einer wissenschaftlichen Klärung bedürfen . Wir glauben, wie gesagt, auch hier weiter fördern
zu müssen . Wir brauchen ein eigenständiges Förderprogramm Stadtgrün . Die Grünentwicklung, gerade quartierbezogen in den Städten, ist eine wichtige Aufgabe,
der wir uns widmen müssen . Vor allem diejenigen, die
aus Städten kommen, wissen, dass das Grün ein Bereich
ist, der aus Kostengründen - weil es vielen Kommunen
wirtschaftlich nicht so gut geht - oft stark vernachlässigt
wird . Ich glaube, an dieser Stelle brauchen wir gemeinsame Anstrengungen, weil gerade das Grün in der Stadt den
Lebensraum für die Menschen ausmacht .
Abschließend und zusammenfassend: Ich finde, den
Antrag, den wir formuliert haben, hat sich der Gartenbau in Deutschland redlich verdient . Er ist ein innovativer Wirtschaftszweig. Ich hoffe, dass wir diesem Antrag
über die Parteigrenzen hinweg tatsächlich gemeinsam
zustimmen werden . Ich glaube, er ist ein gutes Zeichen
für unseren Gartenbau . Die ersten Stellungnahmen, die
ich dazu schon gehört habe, sind sehr positiv . Insofern
freue ich mich auf die Beratungen, die wir im Ausschuss
haben werden, und hoffe, dass wir alle diesem Antrag
zustimmen werden, um dem Gartenbau gemeinsam eine
gute Zukunft zu bieten .
Herzlichen Dank .
({4})
Das Wort hat der Kollege Ralph Lenkert für die Fraktion Die Linke .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geehrte Kolleginnen
und Kollegen! Wir alle schätzen Grünanlagen und Parks
in Städten und Dörfern . Ich esse gern Tomaten, Gurken
und Paprika aus heimischer Produktion .
({0})
Zierpflanzen verschönern Gärten und Balkons und
machen unsere Wohnungen bunter . Gartenbau ist ein
wichtiger Wirtschaftszweig mit, wie schon gesagt, fast
700 000 Beschäftigten . Die Initiative, den Gartenbau zu
stärken, unterstützt die Linke .
({1})
Aber Gartenbau ist noch viel mehr . Bäume, Sträucher und Grünanlagen vermindern Lärm und Staubbelastungen in Städten und schaffen Abkühlung in heißen Sommern . In Auswertung der Abgasskandale bei
Dieselfahrzeugen muss man jetzt von deutlich höheren
Feinstaub- und Stickoxidbelastungen ausgehen . Da können mehr und bessere Grünanlagen in Ballungszentren
Abhilfe schaffen.
({2})
Bei der Planung von Grünanlagen, aber auch generell
im Landschafts- und Gartenbau stehen Fragen an: Welche Pflanzen sind wo am besten geeignet? Wie kann ein
Gewächshaus energieeffizient betrieben werden? Welche
Arten verkraften den Klimawandel? Welche Gefahren
gehen eventuell von Zier- und Gartenpflanzen aus? In
einigen Städten empfehlen Ämter Baumsorten, die vom
Bundesamt für Naturschutz als invasive Arten eingestuft
sind, also Arten, die einheimische Pflanzen und Bäume
verdrängen und gefährden können . Wir brauchen mehr
Information, Koordination und vor allem Forschung .
Denn Antworten auf all diese Fragen sind notwendig .
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition, Sie
fordern in Ihrem Antrag folgerichtig mehr Ressortforschung für Gartenbau . Dem stimmt die Linke zu .
({3})
Bis zum Jahresende gibt es in Deutschland zwei Standorte, an denen außeruniversitär im Bereich Gartenbau
geforscht wird . Beide gehören zum Leibniz-Institut für
Gemüse- und Zierpflanzenbau, IGZ. Einer dieser Standorte ist Großbeeren in Brandenburg, der andere ist Erfurt
in Thüringen . Sollen unsere Gartenbaubetriebe weiter
erfolgreich sein, brauchen sie die Ergebnisse der Forschung, und zwar anwendungsbereit .
({4})
Ein gelungenes Experiment, ein Nachweis, dass eine
speziell gekreuzte Pflanze über Triebe vermehrt werden
kann, reicht vielleicht Wissenschaftlern für ihre Expertise und ihr Renommee in der Grundlagenforschung, es
reicht aber nicht für den Gartenbaubetrieb Meier, der diese Pflanzen tausendfach in Städten einsetzen will.
({5})
Das IGZ verbindet derzeit beides: die Grundlagenforschung in Großbeeren und die Fähigkeit, Forschungsergebnisse in die Breite zu überführen, in Thüringen . Die
Leibniz-Gemeinschaft legt ihren Schwerpunkt leider
nunmehr auf die Grundlagenforschung und wird deshalb den Standort Erfurt zum Jahresende abwickeln .
Der Zentralverband Gartenbau befürchtet wie die Linke,
dass sich damit die Innovationskraft des gesamten Wirtschaftszweiges verschlechtert . Die rot-rot-grüne Thüringer Landesregierung kämpft für den Erhalt dieser Forschung für Gemüse und Zierpflanzen in Erfurt.
({6})
Aber allein und ohne Bundesmittel kann Thüringen
diese eigentliche Bundesaufgabe nicht schaffen. Gegenüber dem Landwirtschaftsministerium hat Thüringen in
Gesprächen und Protokollen stets bestätigt, dass es den
Neustart einer wissenschaftlichen Forschungseinrichtung in Nachfolge des IGZ in Erfurt unterstützen wird .
Im Landeshaushalt für 2017 sind die Mittel eingestellt .
In der mittelfristigen Finanzplanung des Freistaates Thüringen sind die Mittel enthalten . Am 23 . September 2016
hat der Staatssekretär des Thüringer Ministeriums für
Infrastruktur und Landwirtschaft in Berlin vor Leitung,
Betriebsräten und Beschäftigten des IGZ die Bereitschaft
zur anteiligen Weiterfinanzierung einer Forschungseinrichtung durch Thüringen bestätigt .
Herr Staatssekretär Bleser, Thüringen steht wie der
Zentralverband Gartenbau zur Garten- und Zierpflanzenforschung in Erfurt . Minister Schmidt bestätigte
zuletzt am Mittwoch im Landwirtschaftsausschuss des
Bundestages, dass solch eine Einrichtung zu erhalten
und finanziell zu unterstützen ist. Hier reden wir gerade über den im Antrag dokumentierten Willen der Koalitionsfraktionen, die Gartenbauforschung zu stärken .
Wenn jedoch das Bundesministerium für Ernährung und
Landwirtschaft nur Projektförderung anbietet und sich
abweichend von den Aussagen des Ministers im Landwirtschaftsausschuss um eine institutionelle Förderung
drückt, dann wird das Ministerium dem Willen der Koalition nicht gerecht .
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition, die
Linke unterstützt Sie bei der Konkretisierung und Umsetzung dieses Antrags . Verhindern wir gemeinsam einen
Verlust an Forschungskapazitäten für eine innovative
heimische Gartenwirtschaft . Geben wir als Bundestag
der Regierung auf, den gewachsenen Gartenbauforschungsstandort in Erfurt dauerhaft zu sichern .
Danke .
({7})
Der Kollege Johann Saathoff hat für die SPD-Fraktion
das Wort .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! In der Stadt Wiesmoor in Ostfriesland, einem
Zentrum des Gartenbaus in Deutschland, findet jedes
Jahr ein Blütenfest statt . Es ist eine wundervolle Veranstaltung mit gesteckten Wagen, mit Dahlien, die dort
in ehrenamtlicher Arbeit gesteckt werden . Es gibt einen
Blütenkorso und die Wahl einer Blütenkönigin . Das Ganze endet mit einer eindrucksvollen Veranstaltung „Kanal
in Flammen“ . Ich lade Sie alle herzlich nach Wiesmoor
ein; denn ein Besuch lohnt sich zu jeder Zeit, aber natürlich auch zum Blütenfest .
In Ostfriesland ist der Gartenbau wie in vielen ländlichen Regionen Deutschlands ein wichtiger Bestandteil;
denn er generiert Arbeitsplätze und Wertschöpfung . Wir
von der SPD, meine Damen und Herren, wollen, dass das
auch so bleibt . Das sage ich hier ganz deutlich .
({0})
Dieser wertvolle Beitrag des Gartenbaus schlägt sich
natürlich auch in Zahlen nieder . Die will ich jetzt nicht
im Einzelnen nennen, die können Sie aber in unserem
Antrag nachlesen . Herr Kollege Mahlberg hat ja auch
darauf hingewiesen . Nur so viel: Deutschland bietet seit
Jahrzehnten den größten europäischen Verbrauchermarkt
für Blumen und Pflanzen. Der Gartenbausektor ist eine
innovative Branche, ohne die der ländliche Raum nicht
nur ein kleines, sondern ein großes Stück ärmer wäre .
Deswegen ist er für uns im ländlichen Raum wichtig .
({1})
Das Wetter ist und bleibt aber der größte Unsicherheitsfaktor für den Gartenbau . Das eint den Gartenbau
mit den erneuerbaren Energien, neben dem Gartenbau
einer der weiteren wichtigen Wertschöpfungsfaktoren
in ländlichen Regionen . In Ostfriesland gibt es nicht nur
viele Gartenbaubetriebe, es gibt auch viele Windenergieanlagen . Die Übertragungsnetzbetreiber haben kürzlich
die EEG-Umlage für das nächste Jahr bekannt gegeben .
Sie ist mit 6,88 Cent pro Kilowattstunde erneut leicht gestiegen . Gleichzeitig steigen die Netzentgelte, was den
Strompreis zusätzlich belastet .
Natürlich ist das alles auch von den Gartenbaubetrieben zu zahlen, so wie ein großer Teil der Einnahmen
des EEG-Kontos aus den mittelständischen Betrieben
stammt . Denn anders, als es im Allgemeinen wahrgenommen wird, ist nur ein kleiner Teil der deutschen
Wirtschaft von der EEG-Umlage als privilegiert zu betrachten . So leisten auch die Gartenbaubetriebe einen
essenziellen Beitrag zum Gelingen der Energiewende in
Deutschland .
({2})
Bei der Energiewende geht es zuallererst um Klimaschutz . Die Branche weiß ganz genau, was Klimawandel
bedeutet, und stellt sich schon darauf ein, zum Beispiel
mit neuen Sorten . Dafür ist eine breit aufgestellte Forschung notwendig . Deswegen heißt es in der Antragsüberschrift: „ . . . Garten- und Landschaftsbau als innovativen Wirtschaftszweig stärken und zukunftsfest machen“ .
Der Bund tritt weiterhin für eine leistungsfähige Forschung im Gartenbau ein und setzt sich gemeinsam mit
den zuständigen Ländern dafür ein, dass die Forschung
auf diesem hohen Niveau erhalten bleibt .
Aber die Branche trägt nicht nur mit der Zahlung der
EEG-Umlage zur Energiewende bei, sie arbeitet auch aktiv am Klimaschutz mit, indem sie hilft, die Klimaziele
zu erreichen, wie zum Beispiel durch die Senkung des
Primärenergieverbrauchs . Wir alle unterstützen sie dabei,
liebe Kolleginnen und Kollegen . Das Bundesprogramm
zur Förderung von Effizienzmaßnahmen in Landwirtschaft und Gartenbau ist sehr erfolgreich .
({3})
Es läuft seit dem 1 . Januar 2016 und erfährt seitdem zunehmenden Zuspruch aus der Branche . Antragszahlen
und Antragsvolumen haben sich sehr erfreulich entwickelt . Aktuell liegen 483 Anträge mit einem Gesamtvolumen von 11,8 Millionen Euro vor . Dafür, dass es so
erfolgreich bleibt, wollen wir im nächsten Jahr die Mittel
deutlich aufstocken .
({4})
Damit lässt sich vor allem im Unterglasgartenbau eine
Menge Energie und damit eine Menge Geld, aber auch
eine Menge CO2 einsparen . Dem Klimaschutz möchte
ich mich an dieser Stelle aber noch mehr widmen wollen .
Der Ausstoß von CO2 ist nämlich bislang quasi kostenlos .
Es gibt keine Gebühr für die Ablagerung von CO2 in der
Deponie, die Atmosphäre heißt . Als ehemaliger Bürgermeister kann ich Ihnen aber sagen: keine Ablagerung und
keine Abfallentsorgung ohne Gebühr .
Natürlich begeben wir uns damit in ein Spannungsfeld . Beispielhaft für das Spannungsfeld stehen die Ziele
im Klimaschutzplan der Bundesregierung, deren Erreichen eine Umstrukturierung der gesamten Wirtschaft voraussetzt und eben auch den Gartenbau betreffen wird.
In Ostfriesland sagt man: „Van lüttje Fisken worden
Heekten groot“, was sehr frei übersetzt heißt: Kleinvieh
macht auch Mist . - Zu den kleinen Maßnahmen im Entwurf des Klimaschutzplans der Bundesregierung gehört
im Bereich Gartenbau vor allem die Reduktion des Torfeinsatzes .
In meiner Heimat Ostfriesland gibt es eben nicht nur
viele Gartenbaubetriebe, viele Windenergieanlagen und
viele andere einmalige, sehenswerte Dinge, sondern traditionell auch viel Torf . Torf wurde früher in den ärmsten
Regionen unter bittersten Umständen gestochen, über die
Kanäle in die Städte gebracht und gegen Lebensmittel
getauscht . Torf ist ein essenzieller Bestandteil des Gartenbaus . Wir alle wissen aber, dass der, der Torf abbaut,
dem Klima extrem schadet .
In Niedersachsen wurde deshalb beispielsweise ein
Programm ins Leben gerufen, das dem Schutz und der
Entwicklung der niedersächsischen Moorlandschaften
dient . Es besteht ein vielschichtiger Maßnahmenkatalog
zur Verringerung der Torfzehrung und Torfsackung und
damit zur Reduzierung der Treibhausgasemissionen . Das
Programm umfasst Maßnahmen zum Moorschutz und
zur moorschonenden Bewirtschaftung . Dabei geht es beispielsweise um Wiedervernässung nach dem Torfabbau
und um die Optimierung des Wasserhaushalts auf bereits
renaturierten Flächen .
Ich weiß, dass der Gartenbau enorme Anstrengungen
leistet, um Torf zu substituieren . Am Beispiel des Ökowerks in Emden möchte ich Ihnen heute demonstrieren,
dass sich Klimaschutz, Torfsubstitution und Wirtschaftlichkeit nicht gegenseitig ausschließen:
Im Pomarium des Ökowerks werden rund 600 Apfelsorten kultiviert . Es gibt Apfelsorten, die so klein
wir Kirschen sind, und es gibt Apfelsorten, die so groß
wie kleine Kürbisse sind . In diesem Pomarium gibt es
600 verschiedene Geschmäcker, also deutlich mehr als
die 25 Sorten, die es im Einzelhandel üblicherweise zu
kaufen gibt . Als das Pomarium vor einigen Jahren eingerichtet wurde, bestand es noch komplett aus Topfkulturen . Mittlerweile stehen die jungen Bäume komplett in
Beeten im Freiland - und das alles ohne den Einsatz von
Torf .
Sicher werden jetzt einige sagen: Das geht doch gar
nicht . Das ist viel zu teuer . Das kann man nur in Ostfriesland machen . - So ist es aber eben nicht . Im Gegenteil:
Der Arbeitsaufwand hat sich durch die Umstellung reduziert . Man muss zum Beispiel am Wochenende nicht
mehr nachschauen, ob die Tropfanlage irgendwo verstopft ist. Die Pflanzen bekommen auch so ganz natürlich
genügend Feuchtigkeit .
Ich sehe hier also erst einmal die Schutzreaktion von
Menschen, die umstellen müssen, nach dem Motto: Watt
de Buur neet kennt, dat freet he neet . - Es kann aber
eben doch funktionieren . Genau deshalb steht im Klimaschutzplan nicht nur irgendein Verbot, sondern dass man
Beratungs- und Informationsmaßnahmen zur Nutzung
von Torfersatzstoffen durchführen soll, damit sich diese
Erkenntnis dann auch über Emden hinaus in Deutschland
verbreiten kann .
Selbstverständlich sind in diesem Zusammenhang
noch enorme Forschungsanstrengungen notwendig, aber
so sicher, wie wir irgendwann unseren Strom komplett
aus erneuerbaren Energien gewinnen werden, wollen wir
den Torf zum Schutz des Klimas da lassen, wo er hingehört .
Ein großes Thema ist aktuell auch das Stadtgrün .
Der Gartenbautag stand dieses Jahr unter dem Motto:
„Mensch . Stadt . Grün .“ Urbanes Grün trägt unmittelbar
zu einer guten Nachbarschaft und einem sozialen Quartier bei . Deshalb unterstützt die SPD auch die Bestrebungen, dem Grün in der Stadt einen wichtigen Stellenwert
einzuräumen .
So wie wir mit dem Mieterstrom die Erzeugung grünen Stroms in den Städten fördern und auch Menschen,
die kein eigenes Haus besitzen, auf der Erzeugungsseite
an der Energiewende beteiligen wollen, haben wir mit
dem Stadtgrün vor, mehr Teilnahme am Grün zu ermöglichen . Das bedeutet bessere Freizeit, bessere Luft und
damit ein gutes und soziales Leben miteinander im Quartier. Grünflächenparks, Spielplätze und andere Naturerholungsräume tragen zu einem guten Miteinander bei .
Ein weiteres wichtiges Thema, das gerade in allen
Wirtschaftsbereichen diskutiert wird, ist „Digitalisierung
und Industrie 4 .0“ . Die Digitalisierung verändert unser
Leben, und sie verändert, wie wir arbeiten . Manche Menschen haben aber auch berechtigte Befürchtungen, dass
die Digitalisierung dazu führt, dass sie im Endeffekt gar
keine Arbeit mehr oder nur noch eine viel schlechter bezahlte Arbeit haben .
Im Gartenbau bietet die Digitalisierung Möglichkeiten
zur Optimierung von Bestandserfassung, Orderprozessen
und bedarfsgerechter Planung der Produktion . Diese Prozesse können also deutlich effizienter ausgestaltet werden, wodurch Aufwand und Geld gespart werden . Der
Kundenkontakt kann ebenfalls substanziell weiterentwickelt werden . Ich habe in den vergangenen Wochen und
Monaten mit ganz vielen Start-up-Unternehmen gesprochen . So wie vor 15 Jahren noch niemand an Smartphones und die Apps dachte, die dazugehören, wird es in den
nächsten Jahren viele Entwicklungen geben, die heute
bestenfalls schemenhaft zu erkennen sind .
Darin besteht eine große Chance für die wirtschaftliche Entwicklung . Aber diese Chance birgt natürlich wie
jede Chance in gesellschaftlichen Umbrüchen gewisse
Gefahren . Deswegen ist es für die SPD ganz wichtig,
dass solche Weiterentwicklungen möglich gemacht werden, aber der Mensch bei der Weiterentwicklung in diesen Bereichen immer fest in den Blick genommen wird .
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
({5})
Das Wort hat der Kollege Friedrich Ostendorff für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Gartenbaubranche erfüllt in ihrer Vielfalt wichtige gesellschaftliche Aufgaben . Die Früchte des Erwerbsobst- und
-gemüsebaus sind Teil unserer Ernährung . Den Ausbau
und die Instandsetzung des öffentlichen Grüns leistet der
Garten- und Landschaftsbau . Der Freizeitwert wird vom
Sport- und Spielstättenbau befördert . Auch andere Bereiche wie Friedhofsgärtnereien, aber auch Baumschulen,
Staudengärtnereien oder Zierpflanzenbau sind wichtige
Kulturträger .
Nicht zu vergessen: Der Gartenbau ist Träger positiver Emotionen, meine Damen und Herren . Das bedeutet,
der gesellschaftlichen Erwartungshaltung und der gesellschaftlichen Akzeptanz ist nachzukommen . Inzwischen
spüren wir eine breite Bewegung und gerade auch bei
jungen Familien den Wunsch nach einer eigenen Anbauparzelle, nach einem eigenen Sehnsuchtsort; sei es Urban
Gardening - Stichwort: Tempelhofer Feld -, sei es der
klassische Kleingarten im Ruhrgebiet . Da gibt es in den
Kleingärtenvereinen inzwischen wahre Kulturrevolutionen .
Der Garten- und Landschaftsbau verdient viel stärkere
Aufmerksamkeit; denn die Branche muss zukunftsorientiert denken und handeln . Dafür braucht sie aber Perspektive . Das ist die politische Aufgabe, die wir haben . Es ist
gut, dass es diesen Antrag der Koalitionsfraktionen gibt .
Deshalb können wir diese Debatte, meine Damen und
Herren, nur sehr begrüßen .
Liebe Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU und
der SPD, wo liegen denn die Prioritäten in der Förderung
der Branche? Was wir im Antrag lesen, ist ein wärmender, wohlwollender Rundumschlag nach dem Motto: Wir
stehen immer hinter euch, heute und gestern . - Was fehlt,
sind natürlich die Wegweiser, wo es in der Zukunft hingehen soll .
Die Umstellung auf regenerative Energien ist den
Gartenbaubetrieben wahrlich nicht fremd . Sie sind schon
lange auf dem Weg. Durch Energieeffizienz und Energiesparen können Kosten eingespart werden, Energie kann
aber auch ein wichtiger Kostentreiber sein .
Bei Ökologisierung und Nachhaltigkeit müssen wir
die Betriebe viel stärker unterstützen . Darum müssen
wir uns kümmern . Da geht es nicht nur um den knappen
Rohstoff Torf, der aus dem Gartenbau weiter verbannt
werden muss; darin sind wir uns durchaus einig . Es geht
um viel mehr .
Ein Thema ist zum Beispiel die EU-weite Harmonisierung der Pflanzenschutzgesetzgebung. Im Obstbau führt
die nichteinheitliche EU-Regulierung immer wieder zu
enormen Wettbewerbsverzerrungen . Mittel, die hier in
Deutschland zu Recht längst verboten sind, kommen in
Nachbarländern noch immer zum Einsatz, durch den Import von Früchten aber leider auch zu uns . Umgekehrt
ist es aber genauso . Auch wir müssen hier tätig werden
und haben da noch einiges zu tun . Dieses Problem muss
endlich angegangen werden, meine Damen und Herren .
Im Zierpflanzenbau muss der Einsatz von bestimmten Wachstumsregulatoren endlich geregelt werden . Hier
erfährt die Branche aufgrund fehlender EU-Regelungen
ebenfalls große Benachteiligungen . Eine Harmonisierung der EU-Pflanzenschutzvorgaben wird die Forschung
nach Alternativen und die EU-weite Ökologisierung des
Gartenbaus endlich voranbringen .
Ein weiteres dringendes Thema ist die Förderung des
Ökozierpflanzenbaus. Hier stecken Forschung und Lehre noch in den Kinderschuhen, obwohl der Markt diese
Produkte zunehmend fordert, wie auch im Übrigen der
Ökomarkt .
Meine Damen und Herren, diesen Bereich an Gartenbauforschungszentren anzugliedern, ist längst überfällig .
Da gilt es, endlich Fahrt aufzunehmen . Die unterschiedliche Branchenausrichtung auf Produktion, Handel und
Dienstleistung oder auch deren Kombination erfordert
vielfältige betriebliche Strukturen . Eine Stärkung kleiner
und mittlerer, direktabsetzender Betriebe ist zur Erhaltung der Branchenstruktur unabdingbar . Was wir in den
bäuerlichen Strukturen erfolgreich vorangebracht haben,
geht im Gartenbau im Moment noch sehr stark verloren .
Diese Entwicklung muss gestoppt werden . Die Politik
muss dafür sorgen, dass die Chancen der kleinen und
mittleren Betriebe, sich gegenüber Gartencenterketten,
Baumärkten und dem Lebensmitteleinzelhandel durchzusetzen, die sich hier ja auch im Verkauf sehr stark engagieren, und zwar nur da, verbessert werden .
({0})
In den direktabsetzenden Betrieben finden wir die Innovation, die wir in der Branche brauchen . Diese Betriebe stellen auch eine große Zahl der Ausbildungsplätze für
den so wichtigen Fachkräftenachwuchs . Diese attraktiven Berufe des Gartenbaus haben absolute Nachwuchsprobleme . Das kann uns doch nicht egal sein .
Gesellschaftlich liegt Garten voll im Trend . Eine professionelle Ausbildung in diesem Bereich, vor allem im
produktiven Gartenbau, ist leider bei jungen Leuten out .
Da müssen wir gemeinsam Anstrengungen unternehmen
und innovative Marketingideen hineinstecken, um dieJohann Saathoff
sen spannenden, abwechslungsreichen, kreativen und
gesellschaftlich wertgeschätzten Bereich voranzubringen . Natürlich bedeutet das auch, Betrieben zu helfen,
die sich darum mühen, jungen Flüchtlingen, die oft gute
Voraussetzungen mitbringen, das Berufsfeld Gartenbau
zu öffnen. Das könnte, wenn es gelingt, auch ein wichtiger Beitrag zur Integration werden .
({1})
Das Wort hat der Kollege Artur Auernhammer für die
CDU/CSU-Fraktion .
({0})
Danke schön . - Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon fast sehr harmonisch
zu nennen, wie hier ein Thema unseres Ausschusses debattiert wird . Bei anderen Themen sind wir etwas leidenschaftlicher . Vielleicht eint uns ja das Thema, das wir
hier haben .
Ich begrüße zu dieser Debatte auch Menschen aus einem Bundesland, die alles können außer Hochdeutsch .
Ich begrüße die Mitglieder des Kreistages Göppingen
und meinen Kollegen Hermann Färber . Schön, dass Sie
dieser Debatte beiwohnen! Ich kann Ihnen versprechen:
Nicht immer ist es so harmonisch hier .
({0})
Der Gartenbau hat in Deutschland eine lange Tradition . Es war früher eine Selbstverständlichkeit, einen eigenen Hausgarten anzulegen und für den eigenen Bedarf
anzupflanzen. Das war gerade in den neuen Bundesländern der Fall . Die Versorgungssituation hat es ja bedingt
notwendig gemacht, sein eigenes Obst und Gemüse im
Schrebergarten mit einer kleinen Datsche anzubauen .
Auch und gerade im ländlichen Raum und auf unseren
Bauernhöfen gehört der Gartenbau wie selbstverständlich dazu . Der eigene Garten ist das wahre „Bio“ . Gerade
die junge Generation entdeckt den eigenen Garten wieder
vollkommen neu für sich . Wahre Kleinbauern sind sie .
Als Landwirt begrüße ich die Ziele des vorliegenden
Antrags ausdrücklich . Mit den aufgeführten Maßnahmen
unterstützen wir die Inklusion von Urbanität und Landwirtschaft . In der Landwirtschaft und im heimischen
oder urbanen Garten geht es um die gleichen Dinge . Der
richtige Umgang mit Pflanzen ist Voraussetzung, damit
aus der Saat ein genießbares Produkt wird . Die Vorarbeit ist wichtig, ebenso die Pflege, der Schutz, auch der
Pflanzenschutz.
Wir haben hier Potenzial für mehr Wertschätzung der
Produktion von Lebensmitteln, wir haben Potenzial für
Akzeptanz der Preise, und wir haben Potenzial für geringere Verschwendung . Der Gartenbau, der in der Bevölkerung selbst stattfindet, erzeugt ein größeres Verständnis
für Lebensmittel bei uns . Gerade Kinder können nicht
früh genug entsprechende Erfahrungen machen, etwa in
der Schule einen Apfel zu verzehren, der aus dem eigenen Garten kommt und selbst gepflückt worden ist. So
kann man die heimische Produktion wesentlich besser
wertschätzen .
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich freue
mich über das starke Verlangen der Verbraucher nach regionalen Produkten . Auch hier handelt es sich nicht um
eine moderne Entwicklung, sondern um Altbewährtes,
das wieder auflebt. Gesundheitsbewusste Stadtbewohner, vorwiegend junge Familien, wollen wieder ökologisch angebautes Obst und Gemüse vom Bauernhof in
ihrer Region . Mit diesem Antrag wollen wir die regionale
Produktion von Lebensmitteln unterstützen .
Gerade kleine und mittelständische Agrarbetriebe, die
sich auf ökologische Landwirtschaft spezialisieren, sind
auf die Forschungsergebnisse angewiesen, die der Bund
mit seinen Programmen zu Saatgut und zur Schädlingsbekämpfung unterstützt . Mit diesem Antrag wollen wir
hier für eine Verstetigung sorgen . Wer im 21 . Jahrhundert
nicht Möhren und Zwiebeln im Wechsel anpflanzt, um
einen natürlichen Schädlingsbefall zu verringern, ist auf
die Forschungsergebnisse im Bereich Saatgut und Schädlingsbekämpfung angewiesen .
Meine sehr verehrten Damen und Herren ich komme
auf Landschaftsbau und Städtebau bzw . Grün in der Stadt
zu sprechen . Berlin ist - das muss man gnadenlos anerkennen - das Paradebeispiel für Grün in der Stadt . Ich
spreche jetzt nicht von der Partei .
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Den einen oder anderen von uns trifft man ja morgens
immer im Tiergarten beim Joggen . Da können Sie das
hautnah erleben . Wenn ich in meine Heimat schaue, kann
ich feststellen, dass auch dort in den Städten immer mehr
auf Grün in der Stadt geachtet wird . Wir sorgen diesbezüglich mit den Städtebaufördermitteln für gute Ansätze .
Heute kommt aber dem Thema „Grün in der Stadt“
noch eine ganz andere Bedeutung zu . Grün in der Stadt
ist Staubfilter, ist Lärmdämpfer, ist Sichtschutz und vor
allem Klimaschutz . Ich freue mich, dass sich im Deutschen Bundestag eine Parlamentsgruppe „Kulturgut Alleen“ gegründet hat, die sich den Schutz unserer Alleebäume an den Straßen auf die Fahne geschrieben hat .
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sprechen in diesem Haus oft über ökologische Ausgleichsflächen . Wie wir wissen, regeln wir mit der Kompensationsverordnung diese ökologischen Ausgleichsmaßnahmen .
Gerade wenn neue Straßen, wenn neue Gebäude gebaut
werden müssen, ist der ökologische Ausgleich von Bedeutung. Wir müssen aber leider immer häufiger feststellen, dass gerade die Städte in Ballungsräumen in ländlichen Räumen landwirtschaftliche Nutzflächen kaufen
und damit diese landwirtschaftlichen Nutzflächen den
Landwirten und damit der Lebensmittelproduktion entziehen . Es besteht Bedarf, darüber zu diskutieren . Hier
müssen wir nachsteuern .
Meine Damen und Herren, es ist wichtig, dass wir innerhalb der Städte einen ökologischen Ausgleich schaffen und nicht außerhalb, irgendwo in der Ferne . Deshalb
ist bei Baumaßnahmen auf das Thema „Grün in der
Stadt“ durch innovative Ideen der Architekten und eine
verstärkte Pflege während der Baumaßnahmen zu achten . Zugleich muss dafür gesorgt werden, dass die Sache
mit extern ausgelagerten Ausgleichsflächen, mit ökologischen Ausgleichsflächen im ländlichen Raum ein Ende
hat . Die biologische Vielfalt muss innerhalb der Stadt gewährleistet sein; ein Ausgleich irgendwo auf dem flachen
Land hilft da nicht weiter .
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Gartenbau hat einen großen Energiebedarf; Kollegen sind
schon darauf eingegangen . Es freut mich allerdings, dass
sehr viele Gartenbaubetriebe auf regenerative Energieversorgung umgestellt haben . Ich kenne viele Gartenbaubetriebe, die eine eigene Hackschnitzelheizanlage
oder Bioenergieanlagen betreiben oder an Biogasanlagen
angeschlossen sind, um die Wärme zu nutzen . Das sogenannte regenerative Zusammenspiel funktioniert im
Gartenbaubereich bereits hervorragend . Das sollten wir
weiter unterstützen, damit wir hier vorankommen .
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Garten- und Landschaftsbau ist für mich neben der deutschen Landwirtschaft - er ist ja eigentlich ein Teil der
deutschen Landwirtschaft - Garant für das freundliche
Gesicht Deutschlands . Lassen Sie uns gemeinsam daran
arbeiten, dass dieses Gesicht weiterhin freundlich bleibt .
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit .
({2})
Ich schließe die Aussprache .
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/10018 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall . Dann ist die Überweisung
so beschlossen .
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung .
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 9 . November 2016, 13 Uhr, ein .
Ich wünsche Ihnen alles Gute bis dahin .
Die Sitzung ist geschlossen .