Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Nehmen Sie bitte Platz . Die Sitzung ist eröffnet .
Einen wunderschönen guten Morgen wünsche ich Ihnen allen, liebe Kolleginnen und Kollegen .
Es gibt nur eine kleine zusätzliche Mitteilung bzw . die
Notwendigkeit, etwas zu vereinbaren, bevor wir in die
Tagesordnung einsteigen . Es gibt eine Vereinbarung der
Fraktionen, den Entwurf eines Gesetzes zur Flexibilisierung des Übergangs vom Erwerbsleben in den Ruhestand
und zur Stärkung von Prävention und Rehabilitation im
Erwerbsleben auf der Drucksache 18/9787 auch an den
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft zur Mitberatung zu überweisen . - Das leuchtet offenkundig fast
allen sofort ein . Dann können wir das so beschließen .
Dann wird so verfahren .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Jahresbericht der Bundesregierung zum
Stand der Deutschen Einheit 2016
Drucksache 18/9700
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({0})
Sportausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
Ausschuss Digitale Agenda
Haushaltsausschuss
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Die Linke vor .
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die
Aussprache 60 Minuten dauern . - Auch das ist unstreitig .
Dann verfahren wir so .
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Parlamentarischen Staatssekretärin Iris Gleicke .
({1})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Drei Themen waren uns in diesem Jahr beim Bericht der
Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit besonders wichtig: erstens die wirtschaftliche Entwicklung,
zweitens der dramatische Anstieg rechtsextremistischer
und fremdenfeindlicher Gewalt und drittens die Rentenangleichung .
Über die in dem Bericht zum Ausdruck gebrachte
Sorge über die Zunahme rechtsextremistischer und fremdenfeindlicher Gewalttaten und deren Auswirkungen auf
die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung
gab es eine breite Berichterstattung . Unter den verschiedenen Kommentaren, auch von politischer Seite, gab es
eine Menge Kommentare mit dem Tenor, eine so klare
Benennung der Gefahren, die vom Anstieg des Rechtsextremismus ausgehen, tue dem Osten insgesamt nicht gut .
Da war sogar von einem angeblich neuen Osthass und
dergleichen mehr die Rede .
Meine Damen und Herren, ich möchte an dieser Stelle einmal etwas zu meinem Amtsverständnis sagen . Ich
betrachte es als meine Aufgabe, die Probleme, die der
Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse entgegenstehen, klar und deutlich zu benennen .
({0})
Ja, natürlich sind das Erstarken von Rechtsextremismus,
Rassismus und Fremdenfeindlichkeit ein gesamtdeutsches Phänomen und ein gesamtdeutsches Problem; aber
die Zahlen sind eindeutig . Es gibt nichts daran zu beschönigen, dass es in Ostdeutschland erstens eine massive
Zunahme dieser Gewalttaten im Vergleich zum Vorjahr
gibt und dass zweitens laut Verfassungsschutzbericht für
2015 die Zahl der rechtsextremistischen Gewalttaten bezogen auf 1 Million Einwohner in jedem ostdeutschen
Bundesland deutlich über dem Durchschnitt der westdeutschen Länder liegt . Sollen wir vielleicht so tun, als
gäbe es diesen Befund nicht?
Nach Einschätzung des BKA ist für das Jahr 2015
vom höchsten Stand der politisch motivierten Kriminalität seit der Einführung dieses Definitionssystems im
Jahre 2001 auszugehen . Sollen wir das auch ignorieren?
Sollen wir darüber hinweggehen, in der Hoffnung, dass
sich das alles irgendwie von selbst erledigt? Sollen wir
darüber schweigen? Sollen wir es tatsächlich so machen
wie die drei Affen, die nichts sehen, nichts hören und
nichts sagen?
Wir leben in einem Land, in unserem Land, wo Flüchtlingsheime angezündet und Menschen über die Straße
gejagt werden, weil sie eine andere Hautfarbe haben .
Diese Vorkommnisse haben auch weltweit für Aufmerksamkeit und Entsetzen gesorgt . Wenn das kein Grund ist,
Alarm zu schlagen! Wann soll man das bitte schön denn
eigentlich tun,
({1})
wann, wenn nicht jetzt? Und wer sollte es denn tun, wer,
wenn nicht wir?
Ich habe es in der vergangenen Woche gesagt, und ich
wiederhole es hier: Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Intoleranz stellen eine sehr ernste Bedrohung
für die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung
der neuen Länder dar . Ein entschlossenes Handeln der
Bundesregierung, der Länder, der Kommunen und der
Zivilgesellschaft ist notwendig, um den gesellschaftlichen Frieden in Ostdeutschland zu sichern .
({2})
Meine Damen und Herren, ich betone hier nochmals
ausdrücklich: Die ganz überwältigende Mehrheit der
Ostdeutschen ist nicht fremdenfeindlich oder rechtsextrem . Aber diese überwältigende Mehrheit ist leider im
Moment noch eine zum Teil schweigende Mehrheit . Es
sind aber alle gefordert, dem braunen Spuk noch entschiedener, noch lauter, noch deutlicher entgegenzutreten und diejenigen zu unterstützen, die das schon seit
vielen Jahren tun .
({3})
Diese Menschen und die zivilgesellschaftlichen Organisationen, die sich gegen Extremismus und für Demokratie und Toleranz einsetzen, brauchen Planungssicherheit .
Das empfiehlt der Bericht des NSU-Untersuchungsausschusses, und das ist im Koalitionsvertrag festgelegt .
Auf dieser Grundlage hat Bundesministerin Manuela
Schwesig einen Entwurf für ein Demokratiefördergesetz
erarbeitet, um von der Förderung einzelner Modellprojekte hin zu einer bundesweiten, mit den Ländern abgestimmten Förderung der Präventionsarbeit zu gelangen .
Ich finde, das ist ein wichtiger und ein richtiger Schritt.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt das gute
Wort vom Aufstand der Anständigen; es steht viel auf
dem Spiel . Das ist wichtig für unsere moralische Integrität, und das ist auch deshalb wichtig, weil der wirtschaftliche Aufholprozess Ostdeutschlands, freundlich
formuliert, äußerst verhalten verläuft .
Ja, in 26 Jahren deutscher Einheit ist sehr viel erreicht
worden, wirtschaftlich und sozial . Wir sind im Osten
Deutschlands fast bei der wirtschaftlichen Stärke des
EU-Durchschnitts angekommen . Darauf können wir mit
Recht stolz sein; ich bin es jedenfalls .
({5})
Aber der Abstand zur Wirtschaftskraft Westdeutschlands
lässt sich nicht leugnen und nicht schönreden; dazu bin
ich jedenfalls auch nicht bereit .
Mir ist schon klar: Das sind alles ziemlich unbequeme
Wahrheiten . Manche Leute in diesem Land sind offenbar
der Meinung, dass man den Ostdeutschen diese Wahrheiten nicht zumuten dürfte . Deshalb macht man lieber ein
bisschen Schönfärberei hier und ein bisschen Propaganda da . Dann wundert man sich hinterher darüber, dass
so viele Leute AfD wählen, weil sie den etablierten Parteien kein Wort mehr glauben . Die Ostdeutschen halten
die Wahrheit sehr wohl aus . Sie haben schon ganz andere
Dinge ausgehalten . Sie haben einer ganzen Reihe von
widrigen Umständen zum Trotz Großartiges geleistet und
unglaublich viel erreicht . Was die Ostdeutschen wirklich
nicht mehr ertragen, ist die Unwahrheit . Ich kann deshalb
nur dringend davor warnen, bei der im Koalitionsvertrag
klar und eindeutig vereinbarten Rentenangleichung erneut Glaubwürdigkeit zu verspielen .
({6})
Ministerin Nahles hat einen Gesetzentwurf vorgelegt,
der die vollständige Angleichung bis zum Jahr 2020 vorsieht . Ich vertraue bei der Umsetzung auf die Unterstützung von Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen . Ich
vertraue da selbstverständlich auch auf unsere Bundeskanzlerin, die vor zwei Jahren in einem Interview gesagt
hat, dass die Renteneinheit 2020 erreicht sein soll und
dass sie bis 2017 ein Gesetz anstrebt, das den Fahrplan
zur vollständigen Angleichung der Rentenwerte in Ost
und West festschreibt .
Ich vertraue darauf, dass wir sagen, was wir tun, und
dass wir tun, was wir sagen .
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
({7})
Das Wort erhält nun die Kollegin Susanna Karawanskij
für die Fraktion Die Linke .
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Gäste! Wenn du etwas werden willst,
musst du in den Westen gehen . - Das hat nicht jemand
in den 90er-Jahren gesagt, sondern das habe ich letzte
Woche in meinem Wahlkreis in Oschatz zu hören bekommen . Dass das nach 26 Jahren immer noch in den Köpfen
drin ist und auch ein Teil der Wahrheit ist, ist irgendwie
schlimm .
({0})
Das erklärte Ziel, die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in Ost und West herzustellen, ist nach einer Generation noch nicht erreicht . Da frage ich mich, wie lange
der Versuch noch dauern soll . Noch eine weitere Generation, 50 Jahre? Wann wird das Ziel endlich erreicht? Das
ist doch eine Bankrotterklärung Ihrer Regierungspolitik .
Sie haben es über ein Vierteljahrhundert nicht geschafft,
dieses Ziel zu verwirklichen .
({1})
Neben der treffenden Analyse, dass vor allem der
ländliche Osten ganz schön abgehängt ist, liefern Sie
kein Zukunftsprogramm, keinen Entwurf, was man dagegen tun kann und welche Maßnahmen man ergreifen
sollte . Sie lassen die Menschen im Regen stehen . Ja, die
Menschen sind enttäuscht . Sie sind zum Teil wütend . Sie
sind auch besorgt, und manchmal haben sie resigniert .
Sie sind schlicht und ergreifend machtlos . Sie müssen
immer wieder diesen Kampf aufnehmen, immer wieder
darauf pochen, dass sie nicht wie Degradierte behandelt
werden . Das geschieht nicht durch offene Anfeindungen,
das geschieht auch nicht durch eine Ohrfeige, sondern
das geschieht ganz still, zum Beispiel auf dem Lohnzettel, auf dem Rentenbescheid und im Portemonnaie . Der
Kfz-Mechaniker bekommt immer noch durchschnittlich
500 Euro weniger, obwohl er dieselbe Ausbildung genossen hat, vielleicht sogar beim selben Ausbilder . Das ist
nicht hinnehmbar . Das ist nicht mehr erklärbar .
Der Osten wird älter . Auch das stellen Sie in Ihrem
Bericht fest, und zwar nicht zum ersten Mal . Über ein
Viertel der Pflegebedürftigen lebt im Osten. Aber auch
die Pflegekräfte bekommen im Osten durchschnittlich
500 Euro weniger . Dieses Missverhältnis wird nicht von
allein verschwinden . Es ist unglaublich, dass diese Einkommensschere immer noch vorhanden ist . Es ist eine
politische Aufgabe, dieses Gleichgewicht herzustellen .
Da kann man nicht mit einem Fingerzeig sagen, dass irgendjemand diese soziale Gerechtigkeit herstellen soll .
Es ist unsere Aufgabe, es ist die Aufgabe des Staates, diese soziale Gerechtigkeit herzustellen .
({2})
Es ist schon krass, wenn man sich die Tabellen zur
Altersarmut anschaut . Unter den Menschen, die in Rente gehen oder in 20 Jahren in Rente gehen werden, ist
das Risiko, als Rentner arm zu sein, im Osten doppelt so
hoch wie im Westen . Warum eigentlich? Das muss doch
nicht so sein; das ist änderbar . Es ist jemandem, der die
DDR nur noch aus Geschichtsbüchern kennt, doch nicht
mehr erklärbar, warum er erstens weniger verdient und
zweitens auch noch weniger Rentenpunkte sammelt . Wir
wollen die steuerfinanzierte Angleichung des Rentenwertes Ost an die allgemeinen Rentenwerte unter Beibehaltung des Umrechnungsfaktors der ostdeutschen Entgelte .
Ich kann es auch einfacher sagen: Wir wollen Augenhöhe
und Gleichheit .
({3})
Denn die Menschen arbeiten hart - auch das zeigt der
Bericht -, sie bringen sich ein und rackern . Und wozu?
Um zu erkennen und erzählt zu bekommen, dass sie immer noch anders bewertet werden als die Menschen in
den alten Ländern, dass ihre Arbeit weniger wert ist, dass
der Torgauer, Wermsdorfer oder Schkeuditzer weniger
leistet oder weniger produktiv ist?
Sie erkennen in Ihrem Bericht an, dass trotz der
Kleinteiligkeit der Wirtschaft das Wirtschaftswachstum
im Osten steigt, dass es im Vergleich zum Westen aber
stagniert, und das Ganze bei 67 Prozent . Bei der Vermögensverteilung ist es noch düsterer: 44 Prozent des
Westniveaus! Wir sehen an dieser Stelle eine Spaltung .
Wir sehen sie auch bei den Kommunen . Natürlich gibt es
auch im Westen ländliche Regionen und Kommunen, die
strukturell benachteiligt sind . Das Problem ist allerdings,
dass dies im Osten den Normalfall darstellt, im Westen
nicht . Natürlich gibt es Kommunen wie Gelsenkirchen
oder Bremen . Doch im Vergleich ist der ganze Osten Gelsenkirchen; das macht den Unterschied aus .
({4})
Die Kommunen müssen wieder handlungsfähig, überlebensfähig und zukunftsfähig gemacht werden . Da ist es
nicht sonderlich attraktiv, wenn die öffentliche Daseinsvorsorge abgebaut wird . Die Abwärtsspirale von niedrigen Einnahmen, verhältnismäßig hohen Sozialabgaben
und der lächerlichen Höhe der Investitionen - wir haben
immer noch einen Investitionsstau von über 130 Milliarden Euro - kann man nicht mit Kleckerbeträgen und
auch nicht mit finanziellen Probierportionen stoppen.
Es muss über eine umfassende Gemeindefinanzreform
nachgedacht werden . Wir Linke haben dazu Vorschläge
eingebracht .
({5})
Frau Karawanskij, würden Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Wendt zulassen?
Nein, ich bin gerade in Fahrt .
({0})
Das merken wir .
({0})
Wir wollen die Gewerbesteuer zu einer Gemeindewirtschaftsteuer weiterentwickeln . Wir haben einen Vorschlag unterbreitet, wie wir die Bund-Länder-Finanzbeziehungen tatsächlich solidarisch gestalten können . Wir
wollen auch eine langfristige Förderung von strukturschwachen Regionen in Ost und West durch einen Solidarpakt III . Wenn Sie wirklich an der Herstellung der
Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in Ost und West
interessiert sind, dann setzen Sie sich doch damit einmal auseinander, anstatt die Anträge der Linken immer
nur reflexartig abzulehnen, nur weil Ihnen der Absender
nicht passt .
({0})
Der Osten ist alt, der Osten ist arm - er wird sogar
noch ärmer -, und der Osten ist rechts . Frau Gleicke, Sie
haben gerade gesagt: Mit Erschrecken stellt die Bundesregierung fest, dass die Zahl der fremdenfeindlichen und
rechtsextremistischen Übergriffe im Osten zugenommen hat . - Das ist tatsächlich schlimm . Das ist vor allen
Dingen für die Menschen schlimm, die sich tagtäglich
engagieren, trotzdem den Mund aufmachen und Flagge
zeigen . Doch der Befund ist nicht neu, und er ist auch
nicht überraschend . Es ist seit Jahren erforscht und nachgewiesen, dass wir ein Problem mit Rassismus und rechten Einstellungen haben . Die Frage ist doch: Was folgt
daraus? Abgesehen davon, dass der Bericht dies konstatiert, geht er nicht auf die vielfältigen Ursachen ein . Es
fehlt an einer Zukunftsperspektive . Was wollen Sie denn
unternehmen, um das zu ändern? Ich muss sagen: Da haben Sie in der Vergangenheit wirklich gepennt oder das
Problem nicht ernst genommen .
({1})
Seit über 15 Jahren wissen wir, dass wir im Osten
manifeste rechte Strukturen haben . Anstatt langfristig
geeignete Institutionen zu fördern, haben Sie jahrelang
Programme mit einer Dauer von zwei bis drei Jahren
aufgelegt . Man konnte sich mit Projekten bewerben und
musste beschreiben, wie sie zur Demokratieförderung
beitragen . Das Ganze war meistens zeitlich begrenzt
und prekär . Dann wurde evaluiert, und es wurden Best
Practices gesammelt, aber sie wurden institutionell nicht
weiter fortgeführt . Was ist denn dagegen einzuwenden,
das Bekenntnis abzugeben, dass antirassistische Bildungsarbeit Grundkonsens ist,
({2})
Grundkonsens bei der Ausbildung der Lehrerinnen
und Lehrer, beim Studium, im Kindergarten und in der
Grundschule? Das ist doch gar kein Problem .
Mir geht es nicht darum, hier eine Kluft zwischen Ost
und West aufzumachen und zu sagen, was besser oder
schlechter ist .
({3})
Der Osten ist zum Teil anders . Wenn man sich zum Beispiel die Erwerbsquoten von Frauen anschaut und sieht,
dass alleinerziehende Frauen im Osten fast immer selbstbewusst Vollzeit arbeiten,
({4})
dann lässt sich schon feststellen, dass sich die biedere,
vielleicht altbackene Form des Hausfrauendaseins doch
ein bisschen gewandelt hat . Daran kann man doch anknüpfen . Das sind die Ansatzpunkte für ein fortschrittliches und zukunftsorientiertes Bild, das dann auch für
Gesamtdeutschland gelten kann .
Meine Damen und Herren, ich, meine Generation und
auch meine Fraktion, die Linke, haben keine Lust mehr,
möglicherweise noch einmal ein Vierteljahrhundert zu
warten, bis Sie die deutsche Einheit hergestellt haben .
({5})
Wachen Sie auf! Tun Sie etwas! Geben Sie den Menschen Zukunftsperspektive, Zuversicht und Vertrauen in
die Zukunft .
Vielen Dank .
({6})
Für die CDU/CSU-Fraktion erhält der Kollege Mark
Hauptmann das Wort .
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Geschätzte Zuschauer! Ich freue mich,
dass wir in dieser Stunde der Debatte über den Jahresbericht wieder einen besonderen Gast unter unseren
Zuschauern haben . Ich freue mich, einen Thüringer
Landsmann begrüßen zu können, nämlich den Bundesbeauftragten für die Stasiunterlagen . Lieber Roland Jahn,
herzlich willkommen zu dieser Debatte .
({0})
Es freut uns, dass Sie uns mit Ihrer Anwesenheit zeigen, dass wir uns schätzen . Ich glaube, es spricht für Sie,
aber auch für uns, dass wir beide sagen können: Es ist
gut, dass in diesen Jahresbericht nicht nur das Thema
„Aufarbeitung der DDR-Diktatur“ aufgenommen wurde, welches aus der Perspektive der letzten 25 Jahre beleuchtet wird, sondern dass darin vor allem auch über den
zukünftigen Umgang mit den Stasiunterlagen Aussagen
getroffen wurden . Deswegen ein herzlicher Dank auch an
die Staatssekretärin und ihr Haus .
({1})
Sehr geehrte Damen und Herren, bevor ich auf wesentliche Punkte dieses Jahresberichtes eingehe, erlauben Sie mir bitte einen kurzen Hinweis an die geschätzte
Kollegin der Linken und eine Bemerkung zum Thema
Rente .
Zur Rente ist das Zitat der Bundeskanzlerin schon genannt worden: Es gibt einen klaren Fahrplan in diesem
Land, und der besagt: Angleichung 2020 . Was wir nicht
brauchen, ist eine populistische Debatte der Linken, die
sagt: Wir wollen die Höherbewertung der Ostlöhne beibehalten, gleichzeitig sollen sich die Ost- und Westrenten aber auf demselben Niveau befinden. Fragen Sie doch
einmal jemanden aus Gelsenkirchen, Delmenhorst oder
Trier-Saarburg, was die sagen! Wo bleibt deren Lohnausgleich? Wo bleibt deren Hochstufung?
Wir wollen in Deutschland ein generationengerechtes
Rentenmodell für das gesamte Land . Deswegen verabschieden Sie sich bitte von Ihren Wunschvorstellungen!
({2})
Sehr geehrte Damen und Herren, ich kann diese Jammerei der Linken nicht mehr hören .
({3})
Ich bin stolz auf dieses Land und darauf, was wir in diesem Land in den letzten 26 Jahren erreicht haben . Bei
Ihnen ist der Jammerton zum Kammerton geworden .
({4})
Das, was wir erreicht haben, ist übrigens einmalig in
dieser Welt . Kein anderes Land weltweit hat in den vergangenen 26 Jahren eine solche Leistung vollbracht . Das
sollten wir in den Vordergrund stellen .
Natürlich ist noch nicht alles hundertprozentig erreicht . Sie sprechen aber immer vom halbleeren Glas .
Dabei ist das Glas längst mehr als dreiviertel gefüllt .
Hier müssen wir aufwachen und sagen, was wir in diesen
26 Jahren Umbruchzeit erlebt haben .
Wo einst rigide Planwirtschaft herrschte, florieren
jetzt innovative Start-ups und ein innovativer Mittelstand . Wo einst die Natur unter staatlicher Aufsicht der
DDR verseucht wurde, wandern jetzt Touristen durch
Naturschutzgebiete .
({5})
Wo einst Menschen sechs Jahre früher gestorben sind,
haben wir jetzt eine höhere Lebenserwartung . Das haben
wir in 26 Jahren deutsche Einheit erreicht .
({6})
Wenn wir uns in diesem Land einmal von Rostock
bis Sonneberg und von Frankfurt/Oder bis Eisenach
umschauen, dann erleben wir Betriebe, die international wettbewerbsfähig sind, und einen Anteil der Industrie an der Bruttowertschöpfung, der heute höher als im
EU-Durchschnitt liegt . Das alles sind Entwicklungen,
auf die wir letztendlich stolz sein dürfen .
Was richtig ist - ich glaube, hier zeigt auch der Jahresbericht kein verzerrtes Bild -, ist, dass wir, wie viele
andere Länder auch, noch Herausforderungen zu bewältigen haben . Diese Herausforderungen müssen wir mit
aller Tatkraft angehen . Wir haben in den neuen Ländern
eine höhere Arbeitslosenquote, eine niedrigere Produktivität und geringere Steuereinnahmen . Aber die Wirtschaftskraft hat sich in den letzten Jahren extrem entwickelt . Hier müssen wir mithelfen, diese Lücke weiter zu
verringern .
Ich möchte, weil wir derzeit den Gesamthaushalt für
das Jahr 2017 debattieren, sagen: Hier setzen wir nicht
auf das Gießkannenprinzip, sondern hier machen wir eine
Förderung auf den Punkt . Egal ob das bei INNO-KOM
oder bei ZIM ist, einem Programm für unseren Mittelstand: Wir fördern gezielt innovative Ideen . Wir fördern
gezielt eine mittelständische Struktur .
Eines ist in den neuen Ländern ganz klar zu sehen:
Dort ist die Wirtschaftsstruktur anders als im Westen .
Wir haben keine Supertanker im Sinne von vielen großen DAX-Firmen . Aber wir haben sehr viele mittelgroße
Unternehmen, unsere Schnellboote . Diese Unternehmen
müssen wir für den internationalen Markt und die Globalisierung fit machen. Hier haben wir seitens der Bundesregierung und auch mit Blick auf den Haushalt 2017
bereits Maßnahmen getroffen .
Herr Kollege Hauptmann, ich habe den Eindruck, Sie
sind nicht ganz so in Fahrt .
({0})
Könnten Sie sich vorstellen, eine Zwischenfrage des
Kollegen Tempel zuzulassen?
Ist das eine Aufforderung, noch weiter in Fahrt zu
kommen, Herr Präsident?
({0})
Aber ich lasse die Zwischenfrage gerne zu .
({1})
Bitte .
Danke schön . - Herr Hauptmann, einmal unter Thüringern: In meinem Landkreis, dem Altenburger Land das liegt von Ihnen aus gesehen auf der anderen Seite
von Thüringen -, muss sich gegenwärtig die Hälfte aller
Vollzeitbeschäftigten aufgrund der Löhne, die sie bekommen, und aufgrund des bestehenden Rentensystems
auf Altersarmut einstellen .
({0})
Jeder Dritte bei uns muss in den Westen fahren, um den
Lebensunterhalt für seine Familie zu verdienen, weil die
Löhne bei uns nicht ausreichen . Würden Sie auch das als
Gejammere bezeichnen? Diese Klagen nehmen wir mit
in dieses Haus . Das sind Thüringer, Leute aus dem Osten,
die bitte schön hier vertreten werden wollen .
Erstens . Geschätzter Herr Kollege, wenn ich mich
über das Altenburger Land informieren will, dann vertraue ich den Aussagen des direkt gewählten Abgeordneten des Altenburger Landes . Er sitzt in meiner Fraktion .
Zweitens . Das Bild, das Sie von Thüringen und den neuen Bundesländern zeichnen, ist doch im Jahr 2016 nicht
mehr zutreffend .
({0})
Schauen Sie sich doch bitte an, was passiert ist . Wir
haben in Thüringen die niedrigste Arbeitslosigkeit seit
26 Jahren . Wir haben die niedrigste Jugendarbeitslosigkeit in der Geschichte unseres Landes . Es gibt in meinem
Wahlkreis mehr Einpendler aus Franken als Auspendler,
das heißt aus der Thüringer Region ins benachbarte Bundesland . Das sind Beispiele dafür, dass das Programm,
der Aufbau Ost, in den letzten 25 Jahren gewirkt hat .
({1})
Sehr geehrte Damen und Herren, ich habe davon gesprochen, dass wir weiter daran arbeiten müssen, die
Infrastruktur und die Wirtschaft voranzubringen . Damit
bin ich beim Thema Infrastruktur . Man vergisst immer
so leicht, wie es früher war . Früher sind wir auf der Fahrt
von Leipzig nach Berlin über Betonplatten gepoltert .
({2})
Heute haben wir eine moderne Infrastruktur, in die seit
1991, Herr Kollege, 94 Milliarden Euro investiert wurden . Für jedermann ist der Vorteil dieser Infrastruktur
sichtbar .
({3})
Eine Fahrtdauer von einer Stunde und 45 Minuten von
Berlin nach Erfurt mit dem Schnellzug hat es noch nie
zuvor gegeben . Diese Verbesserungen in der Verkehrsinfrastruktur, die wir zu Wasser, auf der Straße und auf
der Schiene sehen, setzen wir jetzt fort, indem wir uns
auf die digitale Infrastruktur konzentrieren . Das Thema
Breitbandausbau im ländlichen Raum betrifft vor allem
den Osten dieser Republik, wo wir an dieser Infrastruktur weiter arbeiten und die Lebensbedingungen der Menschen verbessern .
Wir dürfen - das ist das Weltbild der Union in dieser Regierungskoalition - die Menschen in den Städten
und im ländlichen Raum nicht gegeneinander ausspielen;
denn für uns ist jeder Mensch, egal wo er in Deutschland
lebt, ein Individuum, das wir fördern wollen und müssen und in den Mittelpunkt unserer Gesellschaft rücken
müssen .
({4})
Deswegen brauchen wir aktive ländliche Räume .
Deswegen fördern wir sie seitens der Bundesregierung
über die GRW-Politik und über verschiedene Maßnahmen . Aber was natürlich nicht hilft - da bin ich schnell
wieder beim Kollegen der Linken -, ist eine Thüringer
Linksregierung, die das einreißt, was wir als Bund mit
Fördermitteln aufgebaut haben . Ich meine die Gebietsreform, bei der den Menschen vor Ort Infrastruktur wieder
weggenommen wird: das Landratsamt, die Kreissparkasse, verschiedene Dinge, mit denen man den ländlichen
Raum bewusst ausdünnt .
In diesen Räumen haben die Menschen das Gefühl,
zurückgelassen zu werden, Bürger zweiter Klasse zu
sein . Das schafft natürlich auch Räume für Extremismus
und Populismus und somit auch die Voraussetzung für
den Aufstieg Ihrer Partei und der AfD .
({5})
Das müssen wir verhindern, sehr geehrte Damen und
Herren! Deswegen brauchen wir eine Stärkung des ländlichen Raumes und kein Ausdünnen und kein Zurückziehen aus diesem Bereich .
({6})
Ich habe bereits angesprochen, was wir im infrastrukturellen Bereich und in der Wirtschaft erreicht haben .
Wichtig ist auch, was wir im sozialen Bereich erreicht
haben . Die Kollegin hat vorhin angesprochen, welche Unterschiede es noch zwischen Ost und West beim
Lohngefüge gibt . Man darf dabei nicht vergessen, dass
wir die Arbeitslosenzahl massiv verringert haben . Dass
97 Prozent der tariflichen Entgelte in Ostdeutschland das
Westniveau erreicht haben, zeigt doch, dass der Prozess,
den wir in den letzten 26 Jahren in Gang gesetzt haben,
erfolgreich ist .
({7})
All dies widerspricht völlig dem Vorgehen, den Menschen einzureden, dass alles schlecht und mies sei . Indem
Sie alles nur kaputtreden, erzielen Sie höchstens partikulär politische Erfolge für Ihre Seite .
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir haben in
den letzten 26 Jahren viel erreicht . Der Osten Deutschlands hat zweifelsohne - das bestätigt auch jeder Jahresbericht - von der deutschen Einheit überproportional profitiert. Wir müssen jetzt weitergehen und auf der
Grundlage der derzeitigen Ausgangslage die nächsten
Schritte einleiten . Sie bestehen darin, zu sagen: Wir brauchen maßgeschneiderte Programme für den Mittelstand .
Wir müssen ihn automatisieren, digitalisieren, internationalisieren und fit für die Weltmärkte und die Globalisierung machen .
Wenn ich in meinem Wahlkreis unterwegs bin, sehe
ich, dass man da unheimlich gut aufgestellt ist, dass wir
eine hohe Exportquote haben, dass wir innovative Ideen haben, die ihresgleichen suchen, und dass wir Hidden
Champions auch im ostdeutschen Mittelstand haben . Das
macht mich letztendlich stolz .
Herr Kollege .
Ich komme zum Schluss . - Ich bin stolz auf unser vereintes Deutschland und das, was wir geleistet haben . Ich
freue mich - genauso wie hoffentlich viele von Ihnen auf den Tag der Deutschen Einheit am 3 . Oktober .
Herzlichen Dank .
({0})
Katrin Göring-Eckardt spricht nun für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Hauptmann, ich finde es sehr schön, dass
Sie so stolz sind und sich so wohl fühlen . So schlimm
wie manch anderem in Ihrer Fraktion und aus Thüringen scheint Ihnen die rot-rot-grüne Regierung in unserem
Bundesland nicht zu bekommen .
({0})
Darüber freue ich mich sehr .
({1})
Meine Damen und Herren, wir verstehen den Bericht
zum Stand der Deutschen Einheit hier im Haus gern als
eine Art jährliches Ritual und als Pulsmesser für die Entwicklung der fünf noch immer neuen Länder . Das Interesse ist, nun ja, unterschiedlich . Es muss mehr sein als
das - zumindest wenn man das ernst nimmt, was man
meint, wenn man von der deutschen Einheit spricht,
wenn man mehr meint als die Aufholjagd des Ostens bei
den Wirtschafts- und Lebensverhältnissen mit dem Ziel
der Angleichung an den Westen . „An welchen Westen
eigentlich?“, fragt man sich da . Geht es um die Angleichung an das Ruhrgebiet, an Baden, an die Eifel, an Holstein? Manche Regionen im Westen haben heute mehr
Aufholbedarf . Manchen Regionen im Osten geht es richtig gut . Frau Karawanskij, ich nehme es Ihnen, ehrlich
gesagt, übel, dass Sie das nicht akzeptieren, dass Sie das
nicht ansprechen können .
({2})
Denn auch daraus entsteht Identität, auch daraus entsteht der Anspruch auf mehr, auch daraus entsteht, dass
es nicht allen Regionen in Ostdeutschland schlecht geht,
dass es manche geschafft haben und manche eben nicht .
Deswegen geht es nicht dem ganzen Osten schlecht . Das
ist Quatsch .
({3})
Es muss bei der Debatte über diesen Bericht um unser
ganzes Land gehen . Nichtsdestotrotz beschreibt der Bericht in diesem Jahr - und das ist richtig - alarmierend
die Zunahme der Fremdenfeindlichkeit . Er wird noch
von der Realität eingeholt . In Dresden fanden in dieser
Woche feige, abscheuliche Sprengstoffanschläge auf ein
Gotteshaus und ein Kongresszentrum statt, all das wenige Tage vor den offiziellen Einheitsfeierlichkeiten. Es
sollte eigentlich vor allem eine Feier der Wiedervereinigung zu einem weltoffenen, freiheitlichen, toleranten
Deutschland sein . Ein Zeichen sollte gesetzt werden, gegen Fremdenfeindlichkeit in Bautzen, in Freital, in Heidenau, gegen die Ausschreitungen, die nicht ein Angriff
auf Fremde waren, sondern ein Angriff auf unsere Freiheit und unsere Demokratie .
({4})
Stattdessen bestimmen Sprengstoffanschläge das Bild
des Jahrestages .
Noch wissen wir zu wenig über die Täter . Dennoch:
Die Polizei vermutet einen fremdenfeindlichen Hintergrund . 2016 - das sagt der Bericht aus - hatten wir in
Deutschland insgesamt bisher doppelt so viele fremdenfeindliche Straftaten wie im ganzen Jahr 2015 . Inzwischen sind es 1 800 . 1 800! Das ist in der Tat besorgniserregend . Und diejenigen, die den Anschlag auf die
Moschee verübt haben, haben bewusst in Kauf genommen, dass dort Menschen verletzt werden . Sie haben
signalisiert: Ihr gehört nicht hierher, ihr gehört nicht zu
uns . - Nein, das ist nicht deutsche Einheit, wie ich sie mir
vorstelle, meine Damen und Herren .
({5})
Im Jahresbericht finden sich jetzt starke Worte. Von
Radikalisierungstendenzen bis in die Mitte der Gesellschaft ist die Rede - richtig . Die Ausschreitungen in
Sachsen, die davor waren, werden benannt - richtig .
Es ist davon die Rede - auch richtig -, dass wir in Ostdeutschland den niedrigsten Ausländeranteil und die
höchste Fremdenfeindlichkeit haben . FremdenfeindlichMark Hauptmann
keit ohne Fremde, das muss man erst einmal hinkriegen,
meine Damen und Herren .
Es geht aber eben auch - deswegen ist es gut, dass
Roland Jahn hier sitzt; ich freue mich darüber - immer
um die Frage: Was ist eigentlich innerhalb der DDR-Zeit
an Aufarbeitung des Nationalsozialismus passiert? Haben wir nicht einfach nur festgestellt, dass wir auf der
richtigen Seite der Geschichte stehen? Haben wir nicht
zu wenig aufgearbeitet, was das eigentlich auch für diesen Teil des Landes bedeutet hat?
Meine Damen und Herren, noch vor einigen Jahren
standen wir selbst in Ost und West uns fremd gegenüber .
Obwohl wir alle Deutsche sind, schien uns manchmal
mehr zu trennen, als uns verbunden hat . 40 Jahre Sozialismus und 26 Jahre Mauer hinterlassen tiefe Spuren,
Unsicherheit, Verunsicherung . Und ja, wir hatten Jammerossis und Besserwessis . Trotzdem kann man sagen:
Wir sind aufeinander zugegangen, wir haben voneinander gelernt, und wir haben angefangen, unser Land gemeinsam zu gestalten .
Ja, es gibt sie, die Fremdenfeinde, die Ausländerfeinde . Trotzdem ist es so, dass wir andere, die wir für Demokratie, Offenheit und Toleranz in unserer Gesellschaft
stehen, mehr sind .
({6})
Deswegen bleibe ich dabei: Wir, sie brauchen eine Stimme . - Das heißt nicht, dass der Alarm im Bericht falsch
wäre . Das heißt, wir sollten uns darauf besinnen, auch
zu sagen, was jetzt nach vorne hin geschehen muss . Das
heißt eben, dass man kein Integrationsgesetz machen
sollte, was mehr ein Integrationsverhinderungsgesetz ist
und was einen Stein nach dem anderen in den Weg legt .
Dann kriegt man nicht Einheit, sondern dann gibt man
auch noch denen Recht, die mit fremdenfeindlichen Parolen durchs Land laufen, meine Damen und Herren .
Deswegen meine große Bitte: Wenn wir deutsche Einheit ernst meinen, dann geht es um mehr als um Ost oder
West . Wenn wir deutsche Einheit ernst meinen, dann geht
es um das Zusammenleben und den Zusammenhalt in
unserem Land . Wenn wir deutsche Einheit ernst meinen,
dann geht es auch um diejenigen, die erst kurze Zeit in
diesem Land sind . Dann geht es darum, mit ihnen gemeinsam Demokratie zu bauen und auszubauen, gegen
Fremdenfeinde zu agieren und deutlich zu machen: Das
ist unser Land, das ist unsere Demokratie . Wir werden sie
verteidigen und gemeinsam, auch mit den jetzt Dazugekommenen, gestalten . Darum geht es . Dafür braucht es
Leidenschaft und gerne auch Streit .
({7})
Ich erteile das Wort der Kollegin Sabine Poschmann
für die SPD .
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Im Ruhrgebiet sagt man: In alte Gräben soll
man nicht noch Spundwände einziehen . Ich glaube, auch
das sollten wir hier im Parlament vermeiden und gemeinsam versuchen, alte Gräben zu überwinden .
Rechtsextremismus kennt keine Himmelsrichtungen
und auch keine Ländergrenzen . Es gibt ihn im Osten wie
im Westen, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung .
Rechtsextreme Gesinnung ist eine zentrale Herausforderung für unsere Demokratie geworden . Das muss uns
allen klar sein . Aber wir werden uns auch von Wirrköpfen und Straftätern nicht vom Weg abbringen lassen und
weiter daran arbeiten, für alle Menschen in Deutschland
gleichwertige Bedingungen zu schaffen .
({0})
Ein Schlüssel ist die Wirtschaftspolitik . Was wir benötigen, ist ein gesamtdeutsches Fördersystem, das strukturschwachen Regionen in Ost und West gleichermaßen
auf die Beine hilft, und zwar auch nach 2019, wenn der
Solidarpakt II ausläuft .
An den ersten Stellschrauben der aktuellen Förderarchitektur haben wir bereits gedreht . Wir haben auf den
Osten beschränkte Förderprogramme für alle Länder geöffnet . Das wird aber nicht reichen . Wir müssen vor allen Dingen die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der
regionalen Wirtschaftsstruktur“ auf neue Füße stellen .
Sie ist neben anderen Programmen das wichtigste Instrument, um strukturschwachen Regionen unter die Arme
zu greifen . Wir brauchen ein Fördersystem, das Geld in
die Regionen schickt, die es auch wirklich nötig haben .
Und wir müssen die betroffenen Regionen bzw . Kommunen in die Lage versetzen, dass sie die Kofinanzierung stemmen können, insbesondere aber auch, dass sie
personell die Projekte einstielen und nach vorne bringen
können, um die Fördergelder überhaupt abzuschöpfen .
({1})
Eine gute Wirtschaftspolitik, liebe Kolleginnen und
Kollegen, wird aber nur Erfolg haben, wenn sie auch von
einer guten Arbeitsmarktpolitik flankiert wird. Wir müssen uns intensiver um jene Menschen kümmern, die sich
bereits jetzt von jeglichem Fortschritt abgekoppelt fühlen
und für sich keine Perspektive mehr sehen . Wir müssen
dauerhaft für diejenigen Beschäftigung organisieren, denen der Weg zur Teilhabe am Berufsleben versperrt geblieben ist . Das funktioniert meiner Meinung nach am
besten mit einem neuen sozialen Arbeitsmarkt, wie er zu
Recht von vielen gefordert wird .
Die Konjunktur läuft gut, die Auftragsbücher von Unternehmen vieler Branchen sind voll. Trotzdem finden
Langzeitarbeitslose nach wie vor nur selten einen Job,
im Osten wie im Westen . In Sachsen-Anhalt sind 40 Prozent aller Langzeitarbeitslosen zwei bis fünf Jahre ohne
Job, 13 Prozent sogar länger . In anderen Regionen Ostdeutschlands sieht das ganz ähnlich aus . Und im Westen?
Sie werden Städte und Kreise finden, in denen der Anteil der Langzeitarbeitslosen über 50 Prozent liegt . Wir
sollten uns ehrlich machen und eingestehen: So sinnvoll
unsere bisherigen Instrumente sind, den harten Kern der
Langzeitarbeitslosen erreichen wir nicht . Wir brauchen
einen sozialen Arbeitsmarkt, der dauerhaft ausfinanziert
ist und feste, sozialversicherungspflichtige Beschäftigung garantiert .
({2})
Ich bin mir ganz sicher: Wenn es uns gelingt, Menschen durch Arbeit und Teilhabe die Tür zu einem neuen,
besseren Leben zu öffnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, dann wird es uns auch gelingen, das Vertrauen dieser
Menschen zurückzugewinnen .
Herzlichen Dank .
({3})
Monika Lazar ist die nächste Rednerin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Rassismus und Rechtsextremismus sind ein Problem im
ganzen Land, deren Bekämpfung die Politik aller Ebenen
als gesamtgesellschaftliche Aufgabe wahrnehmen muss .
Aber man muss auch benennen, dass es in Ostdeutschland, bezogen auf die Einwohnerzahl, im letzten Jahr
fünfmal mehr rassistische Übergriffe gab . Deshalb ist es
gut, dass im diesjährigen Bericht zum Stand der Deutschen Einheit der Rechtsextremismus als eines von drei
zentralen Problemfeldern genannt wird .
({0})
Ja, wir haben ein Rassismusproblem im Osten . Das
sage ich gerade auch als sächsische Abgeordnete . Die
Einschätzung im Bericht, Ostdeutschland werde nur als
weltoffene Region Entwicklungschancen haben, wird
am Beispiel von Dresden eindrucksvoll belegt: Der von
Pegida angerichtete Imageschaden hat Tourismus und
Wirtschaft beeinträchtigt, und die Zahl der Studierenden
ist gesunken . Aber ganz unabhängig vom wirtschaftlichen Schaden ist entscheidend, dass das Problem „rechte
Gewalt“ überall endlich ernst genommen wird .
({1})
Überall in unserem Land hat es 2015 einen dramatischen Anstieg von rechtsmotivierter Gewalt gegeben,
aber besonders die Namen einiger sächsischer Orte sind
nun bundesweit bekannt: In Heidenau, Freital, Meißen,
Bautzen, Clausnitz und an anderen Orten ist die Situation
eskaliert . Rassistinnen und Rassisten haben sich von verbalen Drohungen zu realen, teils lebensbedrohlichen Taten aufgemacht . Es scheint, als ob Teile der Gesellschaft
besonders in Ostdeutschland Gewalt gegen Geflüchtete
tolerieren und als ob Anschläge auf Unterkünfte als legitimes Ziel der politischen Auseinandersetzung akzeptiert
werden . Das dürfen wir nicht hinnehmen .
({2})
Es nützt eben nichts, die Probleme zu ignorieren und
diejenigen, die sich auch in schwierigen Gegenden für
unsere Demokratie engagieren, als Nestbeschmutzer zu
verunglimpfen, wie es leider immer noch passiert . Die
Probleme müssen offen benannt werden, und die Engagierten müssen auch von der lokalen Politik ernst genommen und unterstützt werden .
Die Verrohung und auch die immer niedrigere Hemmschwelle für Beleidigungen zeigen, wie tief die Gräben in
unserer Gesellschaft geworden sind . Als Demokratinnen
und Demokraten ist es unsere Aufgabe, für unsere Demokratie zusammenzustehen, statt nach rechts zu blinken;
denn es bringt nichts, sich Rassistinnen und Rassisten
anzubiedern . Die Wählerinnen und Wähler entscheiden
sich zum Schluss ja doch für das Original .
Gerade angesichts unserer eigenen Geschichte ist es
unverständlich, dass es offenbar schwerfällt, Menschen,
die in Not zu uns kommen, einen sicheren Platz zum Leben zu bieten .
({3})
Ich hoffe, dass auch dieser Bericht ein Anlass ist, um das
zu ändern .
Auch der Feiertag am nächsten Montag wäre eine gute
Gelegenheit, dass wir uns bewusst machen, dass Demokratie kein Automatismus ist - die Ostdeutschen unter
uns wissen, wovon wir reden -, sondern dass wir uns alle
täglich für unsere Gesellschaft engagieren und unsere
freiheitlichen Errungenschaften verteidigen müssen .
Vielen Dank .
({4})
Das Wort erhält nun der Kollege Eckhardt Rehberg für
die CDU/CSU-Fraktion .
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Frau Karawanskij, „Wer etwas werden möchte,
muss in den Westen gehen“, so hieß es . Ich habe zwei
Söhne; auch die wollten in den Westen . Ich habe sie
überzeugt, nach dem Abitur in Wismar zu studieren . Sie
haben heute beide einen guten Job in Rostock und Umgebung . Sie wollten in den Westen gehen, aber ich habe
ihnen klar gemacht: Bleibt hier, weil ihr hier alle Chancen in der Zukunft habt . Wenn Sie sagen: „Der Osten ist
arm“, dann entgegne ich Ihnen: Diese Region hat in den
letzten 25 Jahren die positivste Entwicklung einer Region in Europa und sogar auf der Welt genommen, die es je
gegeben hat - durch das Engagement der Ostdeutschen
und durch die Solidarität der Westdeutschen .
({0})
Deswegen ist der Osten nicht arm .
Der Osten ist auch nicht alt . Junge Menschen haben
dort alle Chancen . Wer so redet wie Sie, der wird nicht
dafür sorgen, dass sich mancher, der vor 10, 15 oder
20 Jahren in die alten Länder gegangen ist, womöglich
gehen musste, weil zu Hause kein Arbeitsplatz für ihn
war, entschließt, wieder zurückzukommen . Ich kann Ihnen für mein Heimatland sagen: In Rostock, in Wismar,
in Stralsund werden Arbeitskräfte, Fachkräfte gesucht .
Junge Menschen, die zurückkommen, Mann oder Frau,
Familien haben dort alle Chancen: Ein Studium ist möglich, Kitaplätze und vernünftige Schulen sind vorhanden . - Wer so redet wie Sie, der trägt zur Vergreisung
Ostdeutschlands bei .
({1})
Zum Dritten hieß es: Der Osten ist rechts . - Sie stigmatisieren mit diesem Ausspruch 16 Millionen Menschen .
({2})
Die Überschrift einer Presseerklärung von Staatssekretärin Gleicke lautete: „Rechtsextremismus ist ernste
Bedrohung für die gesellschaftliche und wirtschaftliche
Entwicklung der neuen Länder“ .
({3})
Wissen Sie, was mir am Wochenende passiert ist? Schulkolleginnen und -kollegen kamen in einem Baumarkt auf
mich zu und sagten: Ecki, ich bin aber kein Nazi . - Sie
fühlten sich stigmatisiert . Wer heute bei der Debatte über
den Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der
Deutschen Einheit 2016 seine Äußerungen auf das Thema Rechtsextremismus verengt,
({4})
dem kann ich nur sagen: Thema an dieser Stelle schlichtweg verfehlt!
({5})
Nun noch zu ein paar Fakten . Sie behaupten, dass die
Altersarmut im Osten mit Wucht zunehmen werde . Tatsächlich verhält es sich völlig anders .
({6})
Heute sind 3,1 Prozent der Rentnerinnen und Rentner in
den alten Bundesländern in der Grundsicherung . Im Osten sind es 1,7 Prozent .
({7})
Es gibt eine Studie der Uni Rostock, in Auftrag gegeben
vom Landtag Mecklenburg-Vorpommern, die auch für
das nächste Jahrzehnt keine wesentliche Zunahme erkennen lässt . Ich will Ihnen auch sagen, warum .
Ich verweise auf Seite 44 des Berichts, Punkt 4 .4 „Alterssicherung und Rentenangleichung“ . Wenn man da im
letzten Absatz von der Rentenangleichung schreibt, muss
man aber auch sagen, Frau Staatssekretärin Gleicke - Sie
haben ja von Glaubwürdigkeit gesprochen -, dass dann
6 Millionen Ostdeutsche zukünftig weniger Rente bekommen werden, weil politisch und rechtlich die Höherwertung der Löhne um aktuell 15 Prozent zwangsläufig
wegfallen muss .
({8})
Das muss man dann aber bitte auch sagen . Wenn man
dies nicht sagt, Frau Gleicke, dann werden irgendwann
6 Millionen Ostdeutsche auf ihrem Rentenbescheid mitbekommen, dass sie zukünftig weniger Rente erhalten
werden . Die eine Wahrheit gehört zur anderen dazu . Ich
kann nicht durch die politische Landschaft laufen und
den Rentnern suggerieren, dass sie die Rentenangleichung bekommen, ohne den 6 Millionen ostdeutschen
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zu sagen, dass
sie dann einen Nachteil haben werden .
({9})
Wer das gemacht hat, war die Bundesarbeitsministerin
Frau Nahles . An der sollte sich so mancher ostdeutsche
Ministerpräsident ein Beispiel nehmen .
({10})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gab zu dem Bericht einen ganz spannenden Artikel in der Zeit mit dem
Titel „Mut zur guten Laune“, in dem die Meinung vertreten wird, dass dieser Bericht, so wie er abgefasst ist,
schlechte Laune verbreitet .
({11})
Es kommt natürlich immer darauf an, welche Vergleiche
man bei der wirtschaftlichen Entwicklung zieht . Natürlich kann man immer Ost und West vergleichen . Aber
wenn man zum Beispiel Holstein oder die Pfalz ständig
mit München oder Hamburg vergleichen würde, dann
würde man für erstere auch eine unterdurchschnittliche
Wirtschaftskraft feststellen . Da sollten wir alle uns gelegentlich überlegen - das ist für mich auch Sinn dieser Debatte zum Bericht zum Stand der Deutschen EinEckhardt Rehberg
heit -: Wo standen wir vor 25 Jahren, wo standen wir vor
20 Jahren, und wo stehen wir heute?
({12})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, am beeindruckendsten finde ich die Entwicklung im Behindertenbereich.
({13})
Waren Sie 1990 mal in einer Behinderteneinrichtung?
Gehen Sie doch heute einmal hin! Es gibt einen alten
Grundsatz: Du erkennst die Gesellschaft daran, wie sie
mit ihren Schwächsten umgeht . - Wie der real existierende Sozialismus in der DDR mit Behinderten, mit Alten,
mit Kranken, mit Pflegebedürftigen umgegangen ist, das
war menschenunwürdig .
({14})
Denken Sie an moderne Krankenhäuser, moderne Universitäten, moderne Hochschulen! Kollege Hauptmann
hat auf die Infrastruktur hingewiesen. Ich finde es herausragend, dass Alexander Dobrindt und Wolfgang Schäuble
vereinbart haben, 4 Milliarden Euro für den Breitbandausbau zur Verfügung zu stellen . In mein Heimatland
fließen 700 Millionen Euro Fördermittel. Die Landesregierung wird das mit 300 Millionen Euro komplettieren .
Das ist Zukunft . In meinem Heimatland kann ich jungen
Menschen sagen, dass sie in zwei bis drei Jahren überall
50 Megabit haben werden .
({15})
Breitbandausbau ist für mich Zukunft, und das ist auch
Zukunft für die ländlichen Räume, liebe Kolleginnen und
Kollegen .
({16})
Ich habe noch einmal beim Wirtschaftsministerium
nachgefragt: Gab es in Mecklenburg-Vorpommern in den
letzten zehn Jahren wegen der NPD - sie ist 2006 in den
Landtag eingezogen - irgendeine Absage, oder ist ein
Tourist weniger gekommen? Ich kann Ihnen nur sagen:
Wir werden in diesem Jahr wahrscheinlich die 30-Millionen-Marke bei der Touristenzahl knacken . Das ist die
höchste Zahl, die es je gegeben hat . Und das Wirtschaftsministerium hat mir geantwortet: Nein, ganz im Gegenteil . Eine malaysische Investorengruppe hat drei Werften
gekauft; die Beschäftigtenzahl soll verdoppelt werden .
Auf Rügen ist die Ansiedlung eines türkischen Unternehmens, Großrohrleitungsbau, zu verzeichnen . Schweizer
Medizinfirmen kommen. - Ich könnte die Liste endlos
fortführen .
Ja, es sind kleine Unternehmen, 20, 30, 40, 50 Arbeitsplätze, aber es sind hochwertige Arbeitsplätze, die
da kommen . Es sind keine Arbeitsplätze im Dienstleistungsbereich - ganz im Gegenteil . Deswegen sollten wir
uns auch vorsehen, ehe wir davon sprechen, dass der
Rechtsextremismus eine ernstzunehmende Gefahr für
die wirtschaftliche Entwicklung sei . Wer so etwas in den
Vordergrund rückt, bringt natürlich andere zum Nachdenken, ob es sich lohnt und ob es interessant ist, in den
neuen Bundesländern zu investieren .
({17})
Für Mecklenburg-Vorpommern kann ich sagen: Der
Rechtsextremismus ist keine Gefahr gewesen .
({18})
Lassen Sie mich noch einen letzten Punkt ansprechen - ich habe ihn schon einmal vor gut zehn Jahren
hier im Bundestag angesprochen; ich glaube, es war meine erste Rede -: Wir hatten in dieser Woche ein Gespräch
mit Stiftungen . Unisono waren alle Stiftungen der Meinung, dass wir bei der politischen Bildung in der Schule
erheblichen Nachholbedarf haben . In keinem deutschen
Bundesland wird bis zur zehnten Klasse ausführlich auf
die beiden Diktaturen in Deutschland, auf die braune und
auf die rote Diktatur, eingegangen .
({19})
Es ist einfach keine Zeit . Deswegen mein Vorschlag:
Lieber etwas weniger die Antike, das Römische Reich,
das Mittelalter behandeln . Es muss doch in der neunten
und zehnten Klasse Zeit und Gelegenheit sein, 16- und
17-Jährige mit der Geschichte und Politik des 19 . und
20 . Jahrhunderts bekannt zu machen . Ich glaube, wer diese Diktaturen bzw . Unrechtsstaaten nicht im Geschichtsunterricht nahegebracht bekommt, der wird nicht den
Wert von Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat heute
einschätzen können .
Herzlichen Dank .
({20})
Stefan Zierke für die SPD-Fraktion .
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Rehberg, das ist ein Bericht der
Bundesregierung, der vom Kabinett beschlossen wurde .
Von daher sollten wir uns doch alle diesem Bericht stellen, und zwar ehrlich . Ich danke Iris Gleicke ausdrücklich, dass dieser Bericht ehrlich ist . Nur wer Ehrlichkeit
lebt, kann auch ehrlich weiterarbeiten .
({0})
Wenn wir etwas verschweigen, dann können wir die
Ursache nicht finden und nicht die entsprechenden Instrumente anwenden . Iris Gleicke hier jetzt einen Vorwurf zu
machen, ist dem eigentlich nicht angemessen . Iris ist eine
der Kolleginnen, die ich als Ostdeutscher schätze, weil
sie wirklich die ostdeutschen Interessen durchsetzt,
({1})
und zwar gegen viele andere, die noch nicht in der vereinten Bundesrepublik angekommen sind .
Ich möchte hier im Bundestag aber auch noch einmal
die Wertschätzung für die Ostdeutschen zum Ausdruck
bringen . Was die Ostdeutschen seit der Wende geleistet
haben, ist wirklich enorm . Sie haben mit Umbrüchen gekämpft . Sie haben auch damit gekämpft, dass auf einmal Naturräume, die früher zum Wirtschaften da waren,
komplett zu geschützten Kernzonen wurden . Auf all das
mussten sie sich neu einstellen . Der Tourismus wurde in
diesem Zusammenhang schon benannt .
Ich möchte für uns als SPD-Fraktion auch etwas zu
den Linken sagen .
({2})
Sie taten so, als würde die Bundesregierung gar nichts
machen,
({3})
als würden wir gar nichts für die Wertschätzung der Ostdeutschen tun . Wir haben, was Sie nie geglaubt haben,
den Mindestlohn durchgesetzt .
({4})
Der Mindestlohn verhilft 1 Million Ostdeutschen zu einer besseren Situation . Das ist etwas Gutes; das kann
man ruhig sagen .
({5})
Das hat diese Bundesregierung gemacht . Wir haben im
letzten Jahr gegen den Widerstand des Finanzministeriums dafür gesorgt, dass die Regionalisierungsmittel
auskömmlich neu verhandelt wurden . Mit 200 Millionen
Euro mehr im Jahr hat die SPD erreicht,
({6})
dass auch wieder Regionalzüge im ländlichen Raum fahren können .
({7})
Was hat die SPD noch gemacht? Dieser Bericht enthält etwas, was viele sagen: Die innere Sicherheit ist ein
Problem . - Wir haben dafür gesorgt, dass 3 000 Bundespolizisten mehr eingestellt werden sollen . Es sollen noch
mehr kommen, bis zu 20 000 fordern wir . Das ist auch
ein Beitrag, den wir dafür leisten .
Aber nun noch einmal zu den Unterschieden zwischen
Ost und West . Da muss ich auf das eingehen, was Herr
Rehberg zu den Renten gesagt hat . Die Angleichung der
Renten ist das, worauf die Ostdeutschen warten, Herr
Rehberg . Die Rentenpunkte haben nicht unbedingt etwas
damit zu tun .
({8})
Das hat etwas mit den Löhnen zu tun . Und wenn wir für
gleiche Löhne in Ostdeutschland kämpfen, dann geht es
dabei auch um das gleiche Rentenniveau derjenigen, die
heute arbeiten . Das dürfen Sie nicht verschweigen .
({9})
Das, was Sie sagen, stimmt einfach nicht . Kämpfen wir
dafür, dass es in Ostdeutschland gleiche Löhne gibt, dann
gibt es auch gleiche Renten! Das ist Fakt .
({10})
Eines noch: Sie fragen immer, wieso die Wirtschaft
nicht in Gang kommt . Dazu kann ich Ihnen aus meiner
Region ein gutes Beispiel bringen . Die Stromkosten in
Ostdeutschland sind die höchsten der ganzen Republik für die Haushalte, für den Mittelstand und das Industriegewerbe . Das kann man bei der Bundesnetzagentur
sehr gut nachschauen . Das ist ein Standortnachteil für
ostdeutsche Unternehmen und Haushalte . Lassen Sie
uns doch jetzt daran arbeiten, diesen Standortnachteil für
Ostdeutsche zu beseitigen .
({11})
Dann, glaube ich, nehmen uns die Ostdeutschen auch
wieder wahr und sagen: Ja, die machen was für Ostdeutschland .
Vielen Dank .
({12})
Arnold Vaatz ist der nächste Redner in dieser Debatte
für die CDU/CSU-Fraktion .
({0})
Lieber Herr Zierke, ich muss erst mal auf Ihren letzten
Satz eingehen . Was Sie da über die Renten erzählt haben,
das verwirrt ja mehr, als es klarstellt . Es ist doch ganz
einfach: Selbstverständlich sind die Renten von den Löhnen abhängig . Und selbstverständlich werden die Renten
höher, wenn die Löhne steigen .
({0})
Aber in dem Moment, in dem sich die Löhne angleichen,
gleichen sich nach der jetzigen Formel auch die Renten
automatisch an . Deshalb brauchen wir eigentlich überhaupt nichts daran zu ändern . Das ist der Punkt .
({1})
Selbstverständlich hatte Eckhardt Rehberg völlig
recht: Wenn Sie über höhere Renten sprechen, dann dürfen Sie das nicht nur denen gegenüber anpreisen, die dadurch Vorteile haben, sondern Sie müssen auch diejenigen ehrlich ansprechen, die Nachteile davon haben . Und
Sie müssen die Nachteile quantifizieren.
({2})
Und wenn Sie das nicht machen, dann ist das nur die halbe Wahrheit, und die halbe Wahrheit ist gleichzeitig eine
halbe Lüge, meine Damen und Herren .
({3})
Frau Karawanskij, ich muss mich auch mit Ihnen
noch kurz auseinandersetzen . Sie waren im Jahr 1989
neun Jahre alt, wie ich dem Kürschner entnommen habe .
Deshalb können Sie nichts für den Zustand, in dem die
DDR gewesen ist, als sie in die Wiedervereinigung reingeschlittert ist .
({4})
Deshalb wäre es vielleicht ganz gut, wenn Sie mal mit
den Altvorderen Ihrer Partei reden und die mal fragen
würden, weshalb sie eigentlich, nachdem sie die Wirtschaft vom Markt gefegt haben, darüber jammern, dass
die Wirtschaft weg ist . So haben wir das damals vorgefunden . Wenn diese „großartige“ Leistung Ihrer Altvorderen nicht gewesen wäre, dann hätten wir uns mit der
deutschen Wiedervereinigung gar nicht weiter befassen
müssen . Denn der Unterschied, über den wir klagen, ist
durch die Politik zustande gekommen, die die Partei, der
die Altvorderen damals angehört haben, dort gemacht
hat .
Herr Kollege Vaatz, darf Ihnen die Kollegin Wolff
eine Zwischenfrage stellen?
Ja, na klar . Selbstverständlich .
Frau Wolff, bitte .
Sehr geehrter Herr Vaatz, vielen Dank, dass ich diese Zwischenfrage stellen darf . - Ich möchte ein Stück in
Ihrer Rede zurückgehen . Sie haben vorhin gesagt: Wenn
es um die Rentenangleichung Ost/West geht, dann gehört
zur ganzen Wahrheit dazu, den jetzt berufstätigen Menschen zu sagen, dass es auch Nachteile gibt und Verlierer
geben wird .
({0})
Sie haben gleichzeitig behauptet: Wer diese ganze
Wahrheit nicht sagt, der erzählt eine halbe Lüge . - Das
möchte ich nicht so im Raum stehen lassen . Sind Sie bereit, Herr Vaatz, anzuerkennen, dass die Bundesministerin für Arbeit und Soziales, Frau Nahles, genau auf diese
Punkte hingewiesen hat und sehr wohl gesagt hat,
({1})
dass es Schwierigkeiten und Nachteile gibt und dass
wir genau an der Stelle ansetzen müssen, dass wir beim
Lohngefüge etwas tun und gemeinsam dafür arbeiten
müssen, damit Löhne in den neuen Bundesländern in der
Zukunft anders aussehen und dementsprechend auch die
Renten anders ausfallen werden?
({2})
Frau Wolff, ich antworte Ihnen gerne . Es dürfte Ihnen nicht entgangen sein, dass ich nicht die verehrte Frau
Sozialministerin Nahles angesprochen habe, sondern den
frei gewählten und nur seinem Gewissen verantwortlichen Abgeordneten Zierke . Es ging um das, was er gesagt hat, und nicht um das, was die Ministerin gesagt hat .
Was die Ministerin gesagt hat, hat mein Kollege Eckhardt
Rehberg vorher überzeugend herausgearbeitet .
({0})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte heute in dieser Debatte auf keinen Fall versäumen,
etwas zu sagen, was meines Erachtens dringend erforderlich ist . Ich möchte der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland West meinen Dank aussprechen für
die enorme Solidarleistung, die sie zustande gebracht hat,
damit der Aufbau in Ostdeutschland zur größten Erfolgsgeschichte in Europa und in der Welt werden konnte .
({1})
Im Augenblick führen wir eine Diskussion über den
aufkeimenden Rechtsradikalismus in Deutschland .
({2})
Ich kann nur sagen: Dieser Rechtsradikalismus hat tiefe
Wurzeln . Wer sich damit genauer befasst hat, weiß: Er
stammt schon aus der Zeit der DDR .
({3})
- Dann sagen wir eben „um sich greifen“ . Entschuldigung, wenn ich das falsche Wort verwendet habe; aber
Sie wissen, was ich meine . - Die Skinheads gab es damals schon .
Diese Entwicklung hat enorm an Umfang gewonnen,
und es ist tatsächlich eine Angelegenheit, die uns belastet, besonders uns aus Dresden . Uns belastet Pegida, und
uns belastet die Tatsache, dass die Demonstrationen nicht
aufhören .
({4})
Deshalb muss man sich umso mehr fragen, ob wir durch
unsere Diskussion hier tatsächlich dazu beitragen, dieArnold Vaatz
ser Entwicklung entgegenzutreten . Ich bin der Meinung,
dass das bei uns irgendwie suboptimal verläuft . Wir wären wesentlich glaubwürdiger, wenn zum Beispiel ein
einziges Wort über die Ereignisse in Connewitz, einem
Stadteil von Leipzig, fallen würde . Es gibt nämlich auch
Linksradikale, die mit Pflastersteinen Polizeistationen
angreifen; aber darüber fiel hier in der ganzen Debatte
bisher kein Wort . Ich halte es für selbstverständlich, dass
wir auch darüber reden, wenn wir glaubwürdig sein wollen .
({5})
Wir sollten auch darüber reden, wie die Hemmschwellen für Gewalt abgebaut wurden . Was war denn in Westdeutschland der 60er- und 70er-Jahre los? Die Gewalt
gegen Sachen, der Terrorismus, die Mörderbanden und
die klammheimliche Sympathie auch von politischen
Kräften gegenüber dem Extremismus - all das hat um
sich gegriffen . Das war bedauerlich, dem musste man
entgegentreten . Aber es gab leider auch einen Abbau der
Hemmschwellen für Gewalt im Osten .
({6})
Wir reden viel über Respekt . Ich will Ihnen ein Beispiel für Respekt nennen und erläutern, wie das in Ostdeutschland gewirkt hat . Allen, die damals dabei waren dazu zähle ich und meine Generation -, hat sich dieses
Bild eingeprägt, und wir werden uns daran erinnern, bis
wir gestorben sind .
Können Sie sich noch an den 18 . März 1990 erinnern?
({7})
Es fanden die ersten - und die einzigen - freien Volkskammerwahlen in Ostdeutschland statt . Wissen Sie, was
am Abend los war, nachdem die Allianz für Deutschland,
die unser Freund Franz Josef Jung damals mitgegründet
hat, die Wahlen gewonnen hatte? Am Wahlabend wurde vor laufenden TV-Kameras ein Bild gezeigt, auf dem
der damalige grüne Politiker, später SPD-Politiker Schily
zu sehen war . Er hielt eine Banane in der Hand, womit
er symbolisieren wollte: Das ist der Grund, warum die
Ostdeutschen die Wiedervereinigung wollen: Sie wollen
mal Bananen essen . - Wer auf diese Art und Weise den
Freiheitswillen, den Mut und die Bereitschaft zum Risiko
in Ostdeutschland bis zum Gehtnichtmehr herabwürdigt,
der muss sich nicht wundern,
({8})
wenn es eine Gegenreaktion auf eine solche Arroganz
und Herabwürdigung gibt, meine Damen und Herren .
({9})
Kommen wir zur nächsten Behauptung, der Osten sei
rechts . Schauen Sie sich einmal die AfD, die als rechte
Partei gilt, an . Wer sind denn die Führer der AfD? Frau
Petry kommt aus dem Westen, Herr Höcke kommt aus
dem Westen, Frau von Storch kommt aus dem Westen,
und auch Herr Gauland kommt aus dem Westen . Wunderbar, der Osten ist rechts! Ich glaube, mehr braucht
man dazu nicht zu sagen .
({10})
Eine kurze Bemerkung zum Thema Westen . Ich glaube, das Vertrauen in die intellektuelle Qualität des öffentlichen Urteils im Westen hat von Anfang an gelitten . Wer
sich noch daran erinnert, dass in den 70er- und 80er-Jahren im Westen niemand mehr Beachtung gefunden hat,
der das Thema deutsche Einheit in den Mund genommen
hat, und dass später die ganze westdeutsche Gesellschaft
nicht bemerkt hat, welchem kollektiven Irrtum sie unterlegen ist, muss sich doch nicht wundern, wenn man in
Ostdeutschland jetzt sagt: Im Westen sagen sie, die Erde
ist rund, also ist die Erde eckig .
({11})
Das ist ein Glaubwürdigkeitsproblem .
Zum Schluss will ich zum Thema deutsche Einheit
noch eine zusätzliche wichtige Bemerkung machen . Seit
langem beobachten wir, dass der Westen auf dem Weg in
den Osten ist - geistig . Dafür gibt es jetzt ein leuchtendes
Beispiel . Ich wollte gestern eigentlich einen Brief an den
Oberbürgermeister von Trier schreiben; ich habe es aber
unterlassen . Dort entsteht gerade eine Karl-Marx-Statue,
von China bezahlt, 6,50 Meter hoch .
({12})
Tolle Sache! Eigentlich wollte ich dem Oberbürgermeister dazu gratulieren und ihm den Vorschlag machen, dass
die Stadt Trier, weil ja durch die Wiedervereinigung der
Name „Karl-Marx-Stadt“ frei geworden ist,
({13})
den Antrag stellt, sich in „Karl-Marx-Stadt“ umzubenennen .
({14})
Vielleicht ist ja bei Frau Grütters auch noch ein bisschen Geld übrig . Dann könnte man ein Programm für
den Ankauf von alten Lenin-Statuen machen . Die Polen
sind froh, wenn sie sie loswerden . In mancher polnischen
Scheune ist vielleicht auch noch eine alte Stalin-Statue
unter Stroh und unter Säcken versteckt .
({15})
Die könnte man aufkaufen und dann ein fantastisches
Panorama in Karl-Marx-Stadt, früher Trier, errichten Karl Marx im Kreise seiner Schüler . Meine sehr verehrten Damen und Herren, damit hätten Sie einen großen
Beitrag zur deutschen Wiedervereinigung geleistet und
gleichzeitig gezeigt, wie sich die Entwicklung im Westen
vollzogen hat .
Vielen Dank .
({16})
Ich schließe die Aussprache .
Interfraktionell wird Überweisung des Berichts der
Bundesregierung auf der Drucksache 18/9700 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . Der Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke
auf der Drucksache 18/9847 soll an dieselben Ausschüsse überwiesen werden . - Das ist offensichtlich unstreitig .
Also sind die Überweisungen so beschlossen .
Dann rufe ich den Tagesordnungspunkt 23 und den
Zusatzpunkt 4 auf:
23 . Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und SPD
Antibiotika-Resistenzen vermindern - Erfolgreichen Weg bei Antibiotikaminimierung
in der Human- und Tiermedizin gemeinsam
weitergehen
Drucksache 18/9789
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft ({0})
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
ZP 4 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung und Landwirtschaft ({1}) zu dem Antrag der
Abgeordneten Friedrich Ostendorff, Kordula
Schulz-Asche, Harald Ebner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Wirksamkeit von Antibiotika erhalten - Einsatz in der Tierhaltung auf vernünftiges Maß
reduzieren
Drucksachen 18/3152, 18/4704
Auch diese Aussprache soll 60 Minuten dauern . Dazu gibt es offenkundig Einvernehmen . Dann verfahren
wir so .
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Bundesminister Christian Schmidt .
({2})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! In der Tat ist die Antibiotikaminimierungsstrategie eine schwierige Angelegenheit . Sie ist deswegen besonders wichtig, weil sie ein Thema anspricht, das uns
nicht nur in der Landwirtschaft, in der Tierproduktion,
sondern auch und insbesondere im Gesundheitswesen
betrifft . Daher besteht die sicherlich etwas außergewöhnliche Situation, dass zu dem Antrag von zwei Fraktionen
des Deutschen Bundestages gleich zwei Bundesminister
sprechen: zunächst ich als Landwirtschaftsminister und
anschließend mein Kollege Hermann Gröhe als Gesundheitsminister .
Wir unterstreichen damit auch, dass wir über die Zeiten des Gegenseitig-auf-sich-Zeigens hinweggekommen
sind,
({0})
dass wir nicht mehr die Schlichter zwischen Tierärzten
und Humanmedizinern sind, sondern erfreulicherweise
beide Seiten sowie die anderen Betroffenen auf einem
Weg zusammenführen, und zwar mit unserem - Herr
Präsident, ich bitte um Entschuldigung, dass ich einen
Anglizismus verwenden muss; auch die Bundesregierung
ist davor nicht hundertprozentig gefeit - One-Health-Ansatz, man könnte auch sagen: Ein-Gesundheit-Ansatz .
Wenn Sie diese Bitte auch noch an die Frau Präsidentin richten, dann wäre das ganz wunderbar . Dann verzeihe ich Ihnen auch den Anglizismus .
Im Hinblick auf die Vielfältigkeit der Themen wird
sich, Frau Präsidentin, sicherlich jeder hier im Hause angesprochen fühlen .
Was liegt an? Was ist wichtig? Wir müssen uns gemeinsam anstrengen, um den Kampf gegen Antibiotikaresistenzen zu gewinnen . Ich bin deswegen sehr dankbar
für den Antrag der Koalitionsfraktionen mit dem Titel
„Antibiotika-Resistenzen vermindern“ . Er gibt sehr viele
wichtige Einzelaspekte wieder und positioniert sich . Er
ist damit eine gute Ergänzung und Fortführung der Agenda der Bundesregierung und wird in diese Arbeit Eingang
finden. Der Antrag ist eine Unterstützung der Deutschen
Antibiotika-Resistenzstrategie, DART 2020, und des
Grundgedankens „Eine Gesundheit“ .
Wir alle wissen, Antibiotikaresistenzen haben multikausale Ursachen, auch wenn in der öffentlichen Debatte teilweise ein einseitiges Bild gezeichnet wird, das
zulasten der Nutztierhaltung geht . Die Vorsichtsmaßnahmen und die Reduzierung des Einsatzes von Antibiotika
werden wohl überall ein Thema sein . Jeder, der in der
jetzt beginnenden kalten Jahreszeit vorschnell mit Breitbandantibiotika vermeintliche grippale Infekte bekämpft,
wird sich die Frage nach der Notwendigkeit dieses Einsatzes genauso stellen müssen wie der Tierarzt, der die
Behandlung von kranken Tieren vornimmt .
Ich weiß aus vielen Gesprächen mit Vertretern des
landwirtschaftlichen Berufsstandes, dass sich unsere
Landwirte insgesamt ihrer besonderen Verantwortung
für Mensch und Tier bewusst sind . Ich sage das ganz bewusst heute, in dieser Woche, in der wir uns in verschiedenen Diskussionen befinden. Die Landwirte stellen sich
ihrer Verantwortung, und es ist ein Gebot des Tierschutzes, kranke Tiere zu behandeln . Eines ist aber ganz klar:
Es geht nur darum, kranke Tiere zu behandeln . Das heißt,
wenn Tiere krank sind, werden sie behandelt, sie werden
aber nicht mit Antibiotika vollgestopft, damit sie schneller wachsen .
({0})
Präsident Dr. Norbert Lammert
Diese klare Grenze darf nicht eingerissen werden; hier
sind wir uns einig . Das wird auch - ich sage das sehr
deutlich - bei internationalen Vereinbarungen und Regelungen immer die Grundlage unserer Position sein und
bleiben .
({1})
Auf dem Weg der Minimierung des Antibiotikaeinsatzes in der Tierhaltung sind wir bereits ein gutes Stück
vorangekommen . Der letzte Deutsche Bundestag hat mit
dem 16 . Gesetz zur Änderung des Arzneimittelgesetzes
ein Antibiotikaminimierungskonzept etabliert, das staatliche Kontrollen vorsieht . Wir haben das umgesetzt, und
die entsprechenden Verordnungen sind erlassen worden .
Ich freue mich sehr, dass wir feststellen können, dass sich
der Antibiotikaeinsatz im Tierbereich von 2011 bis 2016
deutlich reduziert, ja sogar halbiert hat . Seit dem letzten
Jahr, seit wir den in der Minimierungsstrategie vorgesehenen Meldepflichten nachkommen, werden 35 Prozent
der Antibiotikaeinsätze als nicht mehr notwendig, als
überflüssig betrachtet. Das ist auch ein Hinweis an die
Veterinäre und an diejenigen, die Tiere halten, dass wir
auf dem richtigen Weg sind .
Fragen der Prävention und der Haltungsbedingungen
gehören natürlich dazu . Deswegen werden wir uns die
Haltungsbedingungen anschauen und werden sie, wenn
notwendig, regeln . Ich habe da ein klares Ziel . Wir sind
auf dem Weg, aber noch nicht am Ende der Möglichkeiten . Meine Initiative „Eine Frage der Haltung - Neue
Wege für mehr Tierwohl“ setzt vor allem bei der Tierhaltung an . Wir können mit Dankbarkeit feststellen, dass
sich die Dinge verbessern .
Lassen Sie mich zu zwei weiteren Punkten etwas sagen:
Erstens . Impfstoffe sind Prävention . Wir sind in Europa gerade möglicherweise von einer Gefahr betroffen,
die von der Knötchenkrankeit der Rinder ausgeht, die bei
uns bisher nicht bekannt ist . Wir müssen überlegen, wie
wir verhindern können, dass Tiere krank werden . Das ist
eine Aufgabe, der sich die Europäische Kommission mit
meiner Unterstützung stellt .
Zweitens stellt sich die Frage, was mit den Antibiotika
passiert, die für die Behandlung von Mensch und Tier in
besonders kritischen Fällen verfügbar und wirksam sein
müssen und nicht durch Resistenzen in ihrer Wirkung
blockiert sein dürfen . Manche sagen Reserveantibiotika
dazu .
Ich stelle fest, dass wir diese Antibiotika, wie auch immer wir sie bezeichnen, auf jeden Fall weg von der allgemeinen Nutzung auf eine höhere Stufe der Wahrnehmung, Betrachtung und Entscheidung bringen müssen .
Deswegen werde ich meinen Entwurf zur Änderung der
Verordnung über tierärztliche Hausapotheken in Kürze
vorlegen . Wir werden in dieser Hausapothekenverordnung - darüber diskutieren wir gerade mit den Fachkreisen - auch die Frage von Antibiogrammen diskutieren Sie haben das in Ihrem Antrag angesprochen -, ob vorher
zu klären ist, ob ein Antibiotikum tatsächlich wirksam
ist oder ob es nicht eher zu Resistenzbildungen beiträgt .
Hierbei ist auch wichtig, dass wir international tätig
werden . Die deutsche G-7- und die G-20-Präsidentschaft
unseres Landes im nächsten Jahr werden einen Schwerpunkt darauf setzen, die Antibiotikaresistenzbildung bei
Mensch und Tier weltweit zu reduzieren; denn in der
globalen Welt gibt es nicht nur die eine Gesundheit von
Mensch und Tier, sondern eine globale Gesundheit .
({2})
Vielen Dank . - Als nächste Rednerin hat Karin Binder
von der Fraktion Die Linke das Wort .
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin . - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die deutsche
Landwirtschaft steckt in einer Krise . Das sehen wir am
Preisverfall von Fleisch und Milch; das sehen wir aber
auch anhand von Bildern über unzumutbare Verhältnisse
in deutschen Ställen - damit verbunden sind Qualen für
die Tiere -, und das sehen wir an der zunehmenden Unwirksamkeit von Antibiotika, die in unserer heutigen Medizin ein ganz wichtiger Bestandteil bei der Behandlung
von Infektionen und Krankheiten sind . Dazu wird meine
Kollegin Kathrin Vogler nachher noch mehr vortragen .
Antibiotikaresistenzen haben zwei fatale Wirkungen:
Erstens sind gefährliche bakterielle Erkrankungen von
Menschen und Tieren immer schwieriger zu bekämpfen
und zu heilen, und zweitens kosten die Folgen, die nicht
mehr wirksame Antibiotika verursachen, die Krankenkassen und die Steuerzahler jährlich Milliarden Euro .
Die Union und die SPD fordern nun mit ihrem Antrag
in einer langen Liste mehr Vorsorge, bessere Überwachung, mehr Aufklärung und mehr Forschung, um den
Einsatz von Antibiotika in der Tierhaltung zu verringern .
Das ist alles richtig; die Frage ist nur: Warum weigert
sich die Regierungskoalition, die eigentlichen Ursachen
der hohen Erkrankungszahlen in den Tierställen wirksam
zu bekämpfen?
Herr Minister, Sie haben es gerade angesprochen: Wir
müssen uns auch der Vorsorge zuwenden . Ich behaupte
eines: Wenn Sie sich zuallererst und mit wirklicher Priorität der Vorsorge zuwenden, dann können Sie damit
vieles von dem vermeiden, was man als Folgewirkung
zu bekämpfen hat .
({0})
Die krankmachende Intensivtierhaltung ist unser Problem; da müssen wir ran . Wenn wir die Gefahren ernst
nehmen und der zunehmenden Antibiotikaresistenz entgegentreten wollen, müssen wir die Haltungsbedingungen von Schweinen, von Rindern, von Geflügel ändern.
({1})
Je größer die Ställe und je dichter der Tierbestand an einem Standort, umso größer ist der Stress der Tiere, umso
größer die Gefahr, dass die Tiere krank werden, und
umso größer ist die Gefahr von Ansteckung und einer
Ausbreitung der Krankheiten . Der massive Einsatz von
Antibiotika ist damit vorprogrammiert, weil nämlich vorsorglich der ganze Bestand medikamentiert wird .
Deshalb hilft uns mehr Monitoring, helfen uns mehr
Forschungsgelder und mehr Info-Flyer nur am Rande .
Das Problem werden wir so nicht in den Griff bekommen . Das Problem ist nur zu lösen, wenn wir erstens endlich Bestandsobergrenzen für den Standort und die Region definieren und wenn wir zweitens die Bestandsdichte
verringern .
({2})
Artgerechte Haltungsformen in kleineren Gruppen mit
ausreichend Platz, mit Auslauf und mit frischer Luft
müssen zur Regel werden,
({3})
Wer behauptet, die Verwirklichung des Grundsatzes
„Vorsorge statt Antibiotika“ koste zu viel Geld, liegt
falsch . Tierhaltung, die auf das Wohl der Tiere und die
Umwelt keine Rücksicht nimmt, kommt die Gesellschaft
durch Umweltbelastung, durch belastetes Trinkwasser
und durch hohe Kosten im Gesundheitswesen teuer zu
stehen. Tierhaltung muss verpflichtend so ausgerichtet
werden, dass ein denkbar geringer Einsatz von Medikamenten ausreicht .
Ich möchte hier auch noch auf einen Brief hinweisen,
den verschiedene Tierärzteorganisationen Anfang September an das Ministerium und an das Bundesamt für
Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit geschickt
haben . Ich kann mich den Fragen der Tierärzte anschließen . Ich möchte sie hier ganz kurz vortragen:
Welche Änderungen der Kriterien zur Erfassung der
Antibiotika-Abgaben an Tierärzte und Tierärztinnen
werden Sie veranlassen?
Welche Maßnahmen werden Sie ergreifen, um den
Einsatz von Antibiotika in der Massen-Tierhaltung
generell und insbesondere der „Reserve-Antibiotika“ nachhaltig zu reduzieren?
Werden Sie sich für ein Verbot der Verwendung von
„Reserve-Antibiotika“ in der Massen-Tierhaltung
einsetzen?
Ich denke, es gibt noch viel zu beraten . Das werden
wir im Ausschuss und auch in einer weiteren Debatte tun .
Ich hoffe, dass wir noch ein paar Ergänzungen im Antrag
der Koalition vornehmen können .
Danke schön für Ihre Aufmerksamkeit .
({4})
Vielen Dank . - Als nächster Redner spricht
Dr . Wilhelm Priesmeier für die SPD-Fraktion .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als Tierarzt
und auch als Abgeordneter habe ich mich Zeit meines
Berufslebens immer mit Antibiotika auseinandersetzen
und beschäftigen müssen . Während meiner Dissertation
und besonders in der Praxis hat das angefangen . Ich glaube, es gibt niemanden in diesem Hause, der mehr Antibiotika verordnet und abgegeben hat, als mich . Aus dem
Grunde, glaube ich, bin ich kompetent, zu diesem Thema
vorzutragen und Vorschläge zu machen .
Als ich als Berufspraktiker angefangen habe, war das
Verhältnis des Berufsstandes und auch der Landwirte zu
dem Einsatz von Antibiotika wesentlich anders als heute .
Damals hat man Antibiotika noch häufig als Produktionsmittel betrachtet . Es gab Einstallungsprophylaxe, links
gab es Stresnil, rechts gab es CTP, und sieben Tage lang
gab es eine Arzneimittelvormischung, die eingemischt
wurde . Das hat dann in der Folge zu den Entwicklungen
von Resistenzen geführt, wie wir sie heute beobachten .
Denn Resistenzen, die sich einmal entwickelt haben, verschwinden nicht über Nacht wieder .
Als ich in den Bundestag gekommen bin, hatten wir
gerade die 11 . AMG-Novelle in einer Frist von sieben
Tagen umzusetzen . Hintergrund war damals der große
Arzneimittelskandal in Bayern . Es war zum Rücktritt der
damaligen stellvertretenden Ministerpräsidentin und Gesundheitsministerin gekommen, die Hinweise mehr als
zwei Jahre lang in ihrer Schublade aufbewahrt und nicht
verfolgt hatte . Das hat schon damals gezeigt, wie groß
der Handlungsdruck war . Dieser Handlungsdruck hat nie
nachgelassen .
Heute verschreiben wir Antibiotika nicht mehr so
sorglos . Ein Umdenken hat eingesetzt . Die Zusammenhänge zwischen Betriebsmanagement und Stallhygiene
und auch den betrieblichen Managementvoraussetzungen sind heute jedem Landwirt klar . Er kann an und für
sich wirtschaftlich nur überleben, wenn er das berücksichtigt . Die Zeit der Schuldzuweisungen in der Debatte
um Resistenzen ist Gott sei Dank hoffentlich vorbei .
Das Stichwort „One Health“ ist gerade schon erwähnt
worden . An dieser Stelle möchte ich mich noch einmal
bei Gitta Connemann bedanken, die in ganz besonderer
Weise dazu beigetragen hat, dass der Antrag gemeinsam
mit den Kollegen aus dem Gesundheitsbereich zustande
gekommen ist . Ich glaube, das macht deutlich, dass wir
an dieser Stelle auch für unser politisches Handeln hier
im Bundestag einen neuen Ansatz hinsichtlich der Umsetzung der notwendigen Vorgaben finden wollen.
({0})
G 7 und OECD haben die Folgekosten hochgerechnet .
Wenn wir nichts tun würden, würden die Kosten bis 2050
auf 2,9 Billionen Dollar ansteigen . Das ist eine Größenordnung, die bestimmte Wohlstandsentwicklungen in unseren Ländern im Grundsatz infrage stellen dürfte . Sie
sehen daran, wie groß der Handlungsdruck ist .
({1})
Die Forderung, die Abgabemenge von Antibiotika in
einem kurzen Zeitraum zu halbieren, gibt es . Wir sind
auf einem guten Wege, aber noch nicht am Ziel . Die Zahlen sind hier eben schon erwähnt worden; ich möchte
sie nicht wiederholen . Beunruhigend angesichts all der
Zahlen ist natürlich der Anstieg des Einsatzes von Reserveantibiotika . Das lässt sich nicht aus einer reinen Mengenbetrachtung heraus beurteilen . Auf Reserveantibiotika, zumindest auf die Wirkstoffgruppen Cephalosporine
und Fluorchinolone, werden wir in der Veterinärbehandlung und in der Veterinärpraxis nicht ohne Weiteres verzichten können . Aber ihr Einsatz muss entsprechenden
Regelungen und Beschränkungen unterworfen werden .
An sich haben wir schon mit der 16 . AMG-Novelle die
Voraussetzungen dafür geschaffen . Im Rahmen der Verordnung über tierärztliche Hausapotheken, die die ordnungsgemäße Behandlung regelt, hätten wir damit schon
beginnen können . Der Prozess ist zwar fortgeschritten;
aber irgendwie scheint mir die Umsetzung zwischen den
Bundesländern und dem Bund festgefahren zu sein . Deshalb kann ich nur appellieren, dieses Vorhaben schleunigst anzugehen und umzusetzen, um weiteren Schaden
im Hinblick auf die Resistenzentwicklung zu vermeiden .
Wir stärken mit unserem Antrag auch die Position des
Tierarztes .
({2})
Wir möchten regeln, dass jeder Bestand nur noch einen
einzigen Bestandstierarzt hat, der ausschließlich autorisiert ist, Medikamente zu verschreiben und abzugeben,
und der sich hinterher auch vom Behandlungserfolg überzeugen muss . Dazu ist es notwendig, dass wir die noch
bestehenden Defizite in der Antibiotikadatenbank beseitigen und für alle Nutztierarten und alle Haltungsformen
eine verpflichtende Regelung treffen. Gleichzeitig muss
es unsere Aufgabe sein, Impfungen als Präventionsmaßnahme grundsätzlich dann vorzuschreiben, wenn durch
sie der Einsatz von Antibiotika vermieden werden kann .
({3})
Wir wollen die Rabattierung von Antibiotika unterbinden und den Internethandel am besten ganz verbieten .
Die Entscheidungen auf europäischer Ebene sind noch
im Fluss . Aber ich hoffe, dass durch den Einsatz der deutschen Europaabgeordneten und durch unseren dortigen
Einfluss einiges zu bewirken ist. Damit sind die Instrumente des Arzneimittelrechts allerdings schon erschöpft .
Wenn wir weitergehen wollen, brauchen wir das, was
wir in den Koalitionsvertrag geschrieben haben: einen
einheitlichen Rechtsrahmen .
({4})
Die Ursachen des Problems sind der Tiergesundheitsstatus, die Produktionshygiene, Hygiene und Infektionsprophylaxe, angepasste Tierzucht und im Besonderen das eigenverantwortliche Betriebsmanagement des jeweiligen
Tierhalters . Wenn wir weiter vorankommen und über die
Instrumente des Arzneimittelrechts hinausgehen wollen,
dann müssen wir diesen Rechtsrahmen konsequent fortentwickeln . Wir sollten diesen Versuch noch in der laufenden Legislatur unternehmen . Ich glaube, das ist eine
ganz wesentliche Voraussetzung, wenn wir hier Fortschritte erzielen wollen .
Die Abgabe und Anwendung von Antibiotika mit restriktiven Vorgaben zu versehen, ist die eine Seite . Die
Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die Tiere erst
gar nicht krank werden, ist die andere Seite . Ich glaube, hier haben wir noch viel zu tun . Beratung und eine
risikoorientierte Überwachung durch eine Tiergesundheitsdatenbank, in der wir alle Befunde, die wir schon
jetzt verbindlich erfassen müssen, zusammenführen, sind
weitere Grundlagen . Die wichtigsten Aspekte für alle Beteiligten, auch in den Betrieben, sind allerdings Vertrauen
und Transparenz . Damit gewinnen wir letztendlich auch
das Vertrauen der Bevölkerung und der Konsumenten zurück, wenn es, wie ich es zum gegenwärtigen Zeitpunkt
beurteile, infrage gestellt ist .
Vielen Dank .
({5})
Vielen Dank . - Als nächste Rednerin hat Kordula
Schulz-Asche für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
das Wort .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich stimme mit all meinen Vorrednern überein, dass Antibiotikaresistenzen weltweit zu einer ernsten Bedrohung für die
Menschen geworden sind . Ein Grund für diese Bedrohung ist der leichtfertige Einsatz von Antibiotika auch in
der Tierhaltung, vor allem in der Massentierhaltung .
Ich habe Ihnen genau zugehört, Herr Minister
Schmidt . Sie haben im Hinblick auf die Maßnahmen,
die Sie bei den Reserveantibiotika planen, von erhöhter
Wahrnehmung gesprochen . Ich fordere Sie auf, endlich
dafür zu sorgen, dass Reserveantibiotika kranken, armen,
alten Menschen, die keine Widerstandskräfte haben, vorbehalten bleiben und ihr Einsatz in der Tierzucht endlich
verboten wird .
({0})
Die Weltgesundheitsorganisation spricht von der Gefahr eines postantibiotischen Zeitalters . Wir laufen Gefahr, in die Zeit vor Entdeckung des Penicillins zurückzufallen . Das heißt, dass Menschen in Zukunft - vielleicht
schon bald, in naher Zukunft - sogar an leichten Infektionen sterben werden . Das dürfen wir nicht zulassen .
Deswegen müssen jetzt endlich Maßnahmen ergriffen
werden, die zu einer tatsächlichen Reduzierung führen .
Das ist in dem Antrag, den Sie uns vorgelegt haben, leider nicht enthalten .
({1})
Wir haben glücklicherweise inzwischen auf internationaler Ebene - ich nenne zum Beispiel die G 7 - MaßDr. Wilhelm Priesmeier
nahmen vereinbart . Auch in der Deutschen Antibiotika-Resistenzstrategie sind zunehmend Verbesserungen
zu sehen . Letztendlich sehen wir aber auch an Ihrem
Antrag, dass dieser ganze Bereich in Deutschland nach
wie vor unvollständig und ungenau geregelt und unterfinanziert ist. Das muss sich ändern. Sonst kommen wir
bei diesem Thema nicht voran .
({2})
Lassen Sie mich das an einem ganz kleinen, aber sehr
wesentlichen Beispiel deutlich machen: Wenn wir von
einer Minimierung des Einsatzes sprechen, dann müssen
wir doch auch über die Reduktionsziele sprechen, die erreicht werden sollen . Leider kann ich in Ihrem Antrag
nichts darüber finden. Es wäre doch das Mindeste, zu sagen, bis wohin man kommen möchte, wenn man gemeinsame Anstrengungen unternimmt .
({3})
Das wird in der Rede, die mein Kollege Ostendorff dazu
halten wird, auch noch einmal Thema sein .
Was ist jetzt eigentlich zu tun? Wir brauchen eine verbesserte Aufklärung der Bevölkerung . Umfragen zeigen,
dass die Hälfte der Bevölkerung gar nicht weiß, gegen
welche Erreger Antibiotika helfen . In Frankreich ist es
mit einer Massenkampagne über einen längeren Zeitraum gelungen, den Antibiotikaeinsatz um ein Drittel zu
reduzieren . Warum steht das nicht in Ihrem Antrag und
in Ihrer Strategie? Warum vernachlässigen Sie diesen
Bereich?
({4})
Die meisten Verschreibungen in der Humanmedizin
erfolgen in den ärztlichen Praxen . 80 Prozent der Antibiotika werden in Praxen verschrieben . Wir wissen zum
Beispiel nicht genau, warum es regionale Unterschiede
gibt, aber wir wissen, dass es an Diagnostik und an einem Feedback zur Verschreibungspraxis unter den Ärzten fehlt . Aus anderen europäischen Ländern wissen wir,
dass ein Feedback zur Verschreibungspraxis unter den
Ärzten dazu führen kann, dass die Antibiotikaverschreibung um bis zu 50 Prozent reduziert werden kann . Warum steht das nicht in Ihrer Strategie, die Sie uns hier
heute vorlegen?
({5})
Meine Damen und Herren, viele Menschen, die ins
Krankenhaus oder Heim kommen, haben Angst vor einer
Übertragung von multiresistenten Keimen . Wir haben
das Problem, dass in Krankenhäusern und Heimen kein
vernünftiges Screening bei der Aufnahme oder davor
stattfindet. Daneben haben wir das weitere Problem, dass
natürlich vor allem die Belastung des Pflegepersonals in
diesen Einrichtungen wesentlich dazu beiträgt, dass diese multiresistenten Keime übertragen werden . Deswegen
brauchen wir endlich Personalbemessungsinstrumente,
die sicherstellen, dass genug Zeit für die Pflege von Patienten zur Verfügung steht und dass die Belastung nicht so
hoch ist, dass hier besondere Risiken entstehen .
Darüber hinaus brauchen wir sofort Mindeststandards für bestimmte Stationen, nämlich für Intensivstationen und für die Kinderintensivmedizin, weil dort die
schwächsten Patienten liegen, die am meisten von diesen
Infektionen bedroht sind . Wenn Sie sich ansehen, dass
das Verhältnis zwischen Pflegepersonen und Patienten
auf Intensivstationen in den Niederlanden eins zu eins,
während es in Deutschland eins zu vier beträgt, dann sehen Sie doch den Handlungsbedarf, den wir hier haben .
Wir brauchen sofort Mindeststandards für die Intensivund die Kinderintensivmedizin .
({6})
Seit den 70er-Jahren ist im Bereich „Forschung und
Entwicklung von Antibiotika“ nicht viel passiert . Das ist
sicher einer der Gründe dafür, dass es so viele Antibiotikaresistenzen gibt . Es gab sehr viele Antibiotika auf dem
Markt, bei denen der Patentschutz abgelaufen war, und
Reserveantibiotika, die in der Regel zurückgehalten werden sollen, um bei einer Resistenzentwicklung eingesetzt
werden zu können . Deren Einsatz hat dazu geführt, dass
wir im Moment nur noch wenige Reserveantibiotika haben - eigentlich ist es nur noch eines, das wirklich gegen
alle Keime hilft -, und es wurden noch keine neuen Wege
gefunden, wie wir in Zukunft mit Infektionen umgehen
können . - Das ist der Forschungszustand heute .
Ich finde, dass sich sowohl die Pharmaindustrie als
auch die öffentliche Forschung so starkmachen müssen,
dass wir auf internationaler Ebene zusammenarbeiten
können; denn wir brauchen neue Antibiotika und neue
Stoffe, die gegen diese Erreger helfen . Deswegen müssen
wir alle zusammenarbeiten . Aus diesem Grund schlagen
wir vor, einen internationalen sehr transparenten Fonds
einzurichten, in dem die öffentlichen und privaten Mittel
für die Forschung zusammengefasst werden . Natürlich
muss auch Deutschland hier einen Beitrag leisten .
All diese Punkte kommen bei Ihnen einfach nicht richtig vor, und sie sind nicht richtig finanziert. Das müssen
wir ganz schnell ändern .
({7})
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss .
Für mich heißt das Zauberwort „Zusammenarbeit zwischen den Gesundheitsberufen“: von der internationalen
Ebene bis runter auf die lokale Ebene des Rettungsdienstes und des Gesundheitsamtes . Wir dürfen bei dem Thema Antibiotikaresistenzen nicht mehr kleckern, sondern
wir müssen klotzen .
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit .
({8})
Vielen Dank . - Als nächster Redner hat Herr Bundesminister Hermann Gröhe für die Bundesregierung das
Wort .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Als im Juni des letzten Jahres beim G-7-Gipfel in
Elmau die deutsche Präsidentschaft das Thema Antibiotikaresistenzen auf die Tagesordnung gesetzt hat, da hat
mancher in den Medien und auch in der Politik zunächst
einmal gefragt: Antibiotika- - was? Kümmern sich die
G-7-Staats- und Regierungschefs nicht um die ganz
wichtigen Fragen wie Frieden, Wirtschaftswachstum,
Gerechtigkeit, Klimawandel? Ja, und dazu gehören eben
auch Antibiotikaresistenzen . Es ist eine Frage, die genau
in diese Dimension gehört . Deutschland ist hier Schrittmacher, und zwar nicht nur deshalb, weil wir dieses Thema auf die Tagesordnung der G 7 gesetzt haben, sondern
weil wir auch konsequent handeln im nationalen wie im
internationalen Rahmen .
({0})
Kollegin Schulz-Asche hat es ja angesprochen: Ein
Rückfall in das Vor-Penicillin-Zeitalter wäre eine Katastrophe für die Medizin . Seit dem Zweiten Weltkrieg sind
Antibiotika ein herausragendes Instrument zur Bekämpfung von Infektionskrankheiten . Viele medizinische Eingriffe, vom Hüftgelenkersatz bis zur Transplantation,
wären ohne vorbeugende Antibiotikabehandlungen nicht
möglich .
Jedes Jahr sterben weltweit 700 000 Menschen an
resistenten Keimen . Wenn die Kommission von Jim
O’Neill im Auftrag der britischen Regierung sagt: „Diese
Zahl kann bis 2050 auf 10 Millionen steigen, wenn wir
nicht gegensteuern“ - das hieße mehr Tote durch multiresistente Keime als infolge von Krebserkrankungen -,
dann macht das deutlich, wie ernst die Bedrohung ist .
Ähnlich wie beim Klimawandel ist es so, dass sich die
Entwicklung schleichend und weithin unsichtbar vollzieht . Deswegen ist es wichtig, hier gegenzuhalten .
Es geht um - es ist richtig, was Sie gesagt haben - die
lokale, die nationale und die internationale Ebene, also
um alle Ebenen . Ich will mich auf den Bereich der Medizin konzentrieren . Gleichzeitig danke ich dem Kollegen Schmidt herzlich für die gute Zusammenarbeit mit
seinem Hause und dafür, dass wir vor Ort informieren
und diskutieren . Frau Kollegin, Sie haben Kampagnen
angemahnt . Ich lade alle dazu ein, die guten Materialien
der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zu
nutzen .
Ich war vor einigen Wochen mit Apothekerinnen und
Apothekern meiner Heimatstadt mit diesen Materialien
in der Fußgängerzone . Wir haben Eltern angesprochen
und darauf hingewiesen, dass es falsch ist, ohne eine
anständige Diagnostik vorschnell auf den Einsatz von
Antibiotika zu drängen und die Behandlung nach einer
vermeintlichen Besserung vorschnell abzubrechen . Auch
damit werden Resistenzen gefördert . Natürlich betreiben
wir öffentliche Aufklärung . Natürlich gibt es auch verbesserte Weiterbildungsangebote an die Ärzteschaft . Das
Antibiotic-Stewardship-Programm mit der Universität
Freiburg als Ankerorganisation bietet diese Weiterbildungen an . Natürlich gehört die Fülle der Maßnahmen
vor Ort, die wir im Bereich Krankenhaushygiene ergreifen, auch dazu .
Herr Bundesminister, lassen Sie eine Zwischenfrage
zu? Ich habe die ganze Zeit auf eine Redepause gewartet .
Ich musste Sie jetzt aber unterbrechen .
Gerne .
Frau Schulz-Asche .
Herr Minister Gröhe, herzlichen Dank, dass Sie
konkret auf meinen Vorschlag mit der Aufklärung eingegangen sind . - Wir haben die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung . Ich möchte Sie fragen, ob Sie
beabsichtigen, nach dem Vorbild von Frankreich eine
über Jahre dauernde, sehr breit angelegte und sehr intensive Informationskampagne zu machen und nicht nur auf
die Broschüren der BZgA zu setzen?
Wir bauen diesen Bereich aus . Nicht nur die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung gibt Materialien heraus, sondern auch die örtlichen Gesundheitsämter
und die Landesregierungen . Ja, wir werden sowohl im
Bereich der Information seitens der öffentlichen Verwaltungen beharrlich und verstärkt arbeiten müssen - das ist
nicht mit der einmaligen Ausgabe von Materialien getan -, als auch die Apotheken, die Ärzteschaft und die
anderen Gesundheitsberufe mit einbeziehen müssen .
Natürlich müssen diese Arbeiten fortgesetzt und auch
verstärkt werden; das steht übrigens im Antrag der Koalitionsfraktionen . Es gibt regionale Netzwerke für diese
Arbeit, die beispielsweise durch das Robert-Koch-Institut unterstützt werden . Ja, all das gehört ausdrücklich
dazu .
({0})
- Doch . Ich habe ausdrücklich gesagt, dass wir diese
Maßnahmen nachhaltig und verstärkt durchführen . Ich
lade dazu ein, sie vielleicht erst einmal alle zur Kenntnis
zu nehmen und selber auch einzusetzen . Das lohnt sich .
Wir haben im Bereich der Krankenhaushygiene nach
den Verschärfungen des Infektionsschutzgesetzes zuletzt
die Meldepflichten verschärft, damit bereits ein erstes
Auftreten von Keimen rechtzeitig die entsprechenden
Reaktionen auslösen kann . Wir führen seit 2014 eine
Verbrauchs-Surveillance in Krankenhäusern durch, und
zwar zusammen mit dem Robert-Koch-Institut und der
Charité; über 200 Krankenhäuser machen bereits mit .
Auch daraus gewinnen wir wertvolle Informationen für
einen bestmöglichen Einsatz .
Wir arbeiten intensiv zusammen - neben Kollege
Schmidt war Kollegin Wanka an der Erarbeitung der
Deutschen Antibiotika-Resistenzstrategie beteiligt -,
wenn es um die Forschung geht . Eine gute Forschung,
die international zusammenarbeitet, wurde angemahnt .
Ich kann Ihnen sagen: Genau das geschieht . Das Deutsche Zentrum für Infektionsforschung, das zur Helmholtz-Familie gehört und vom Bund nachhaltig gefördert
wird, ist eine der herausragenden Forschungseinrichtungen . Gerade vor wenigen Tagen hat das in Braunschweig
beheimatete Netzwerk zusammen mit acht anderen Spitzenorganisationen in der Welt eine Allianz gegründet, um
das Erreichen der Ziele der UN-Resolution wissenschaftlich zu begleiten und anzumahnen . Die deutsche Forschung ist also an der Gründung dieser Allianz beteiligt .
Die Bundesregierung hat zusammen mit anderen im Rahmen der WHO dafür geworben, noch in diesem Monat
dieses Thema auf die Tagesordnung nicht nur der WHO,
sondern auch der Vereinten Nationen zu setzen und dazu
High-Level-Meetings und Beratungen durchzuführen .
Damit komme ich auf das zu sprechen, was wir im
Rahmen von G 7 und in der EU - hier vor allen Dingen
zusammen mit Großbritannien und den Niederlanden,
aber auch mit anderen Staaten aus der Völkergemeinschaft - tun . Bereits im nächsten Monat wird - initiiert
im Rahmen des G-7-Prozesses - ein Treffen internationaler Experten in Berlin stattfinden. Über 100 renommierte Experten werden über Forschungsanreize, den
Zusammenhang von Tier- und Humanmedizin und über
den klugen Einsatz von Antibiotika, aber auch über die
Durchsetzung einer weltweiten Verschreibungspflicht
diskutieren; auch Jim O’Neill wird daran teilnehmen .
Wir haben uns entschlossen, im Mai nächsten Jahres
erstmalig zu einer Konferenz der G-20-Gesundheitsminister einzuladen; denn wir sind der Überzeugung, dass
wir bei Fragen betreffend die Antibiotikaresistenz eine
Zusammenarbeit der forschungs- und wirtschaftsstarken
G-7-Staaten und der großen - auch großagrarisch tätigen - Länder Lateinamerikas und Asiens brauchen .
({1})
Ich bin ausgesprochen dankbar, dass die japanische
G-7-Präsidentschaft unser Thema vorangetrieben hat und
im April Indien, China und weitere asiatische Staaten eingeladen hatte, um sie für unsere Sache zu gewinnen . Unsere Anstrengungen, in denen wir nicht nur nicht nachlassen dürfen, sondern die wir auch verstärken müssen,
werden nur Erfolg haben, wenn wir es schaffen, andere
Staaten auf internationaler Ebene einzubinden . Im Gegensatz zu dem Eindruck, der gerade erzeugt wurde, wird
Deutschland - fragen Sie in der WHO und der UNO - als
Schritt- und Tempomacher und aufgrund seiner Strategie
als Vorbild gesehen .
({2})
Ich bin davon überzeugt, dass es uns gelingen wird,
die Katastrophe, die eintreten kann - zu diesem Schluss
kommt man, wenn man den Report von O’Neill und die
Berichte der Weltbank über die dramatischen wirtschaftlichen Schäden liest -, zu verhindern, wenn wir alle zusammenarbeiten und handeln . Wir werden in Kürze über
die Ergebnisse des Pharmadialogs reden . Hier wird es um
mehr Anreize für eine bessere Diagnostik, die Entwicklung neuer Antibiotika und auch um die Frage gehen, wie
wir den nachlassenden Nutzen von Generika fair bewerten .
Also: Global und vor Ort handeln, das zeichnet uns
aus . Der Antrag der Koalitionsfraktionen enthält dafür
wichtige Punkte . Er macht Tempo und mahnt, am Ball
zu bleiben . Ich begrüße dies sehr und freue mich auf die
weiteren Beratungen .
({3})
Vielen Dank . - Als nächste Rednerin spricht Kathrin
Vogler für die Fraktion Die Linke .
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin . - Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die heute
zur Diskussion stehenden Antibiotikaresistenzen sind ein
wichtiges Thema . Herr Gröhe, ich nehme Ihnen ab, dass
Sie tatsächlich etwas dagegen unternehmen wollen . Bakterien sind faszinierende Lebensformen . Sie sind quasi
überall zu finden und trotzen den widrigsten Umweltbedingungen . Die meisten sind zum Glück ungefährlich
oder sogar nützlich . Einige von Ihnen können aber eben
auch schwere Krankheiten verursachen . An Tuberkulose
etwa sterben weltweit 1,5 Millionen Menschen in jedem
Jahr . Und auch Keime, die gesunde Menschen problemlos
abwehren können - wie Staphylokokkus Aureus oder bestimmte Darmkeime -, können bei immungeschwächten
bzw . kranken Patientinnen und Patienten ganz schlimme
Folgen haben . Sie können lebensgefährlich sein .
Deswegen war die Entwicklung von Antibiotika ein
unglaublicher Erfolg der Medizin im Kampf gegen bakterielle Erkrankungen . Doch dieser Erfolg droht jetzt umzukippen; denn das biologische Erfolgsmodell Bakterium beruht auf einer unglaublichen Anpassungsfähigkeit .
Wenn nur wenige Exemplare den Angriff beispielsweise
eines Antibiotikums überleben, dann führt das dazu, dass
sich diese umso schneller vermehren . So entstehen Resistenzen . Dabei droht das scharfe Schwert der Antibiotika stumpf zu werden .
Jetzt gehen Experten davon aus, dass in Deutschland
inzwischen bis zu 25 000 Menschen jährlich durch Infektionen mit multiresistenten Erregern sterben . Hunderttausende erleben schweres Leid . Sie müssen länger
im Krankenhaus bleiben . Oder sie erleiden schlimme
Folgen, wenn zum Beispiel Gliedmaßen, die nicht mehr
gerettet werden können, amputiert werden müssen . Das
dürfen wir nicht akzeptieren . Damit dürfen wir uns nicht
abfinden.
({0})
Es ist absolut richtig, dass die Koalitionsfraktionen
in ihrem Antrag mehr Anstrengungen gegen die AusBundesminister Hermann Gröhe
breitung multiresistenter Keime verlangen und dass sie
die Entwicklung neuer Antibiotika vorantreiben wollen .
Richtig ist auch, dass das eine grenzüberschreitende Aufgabe ist, weil die Erreger auch nicht an Grenzen haltmachen . Was mich aber schon ein bisschen - nein, mehr
als ein bisschen - aufregt ist, dass Sie das, was hier in
Deutschland das wichtigste Mittel wäre, schlichtweg ignorieren .
Das wichtigste Mittel gegen die Ausbreitung antibiotikaresistenter Keime in Krankenhäusern wäre schlichtweg mehr Personal, und zwar deutlich mehr Personal . In
der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom letzten Sonntag berichtet - ich zitiere - eine anonym bleibende OP-Schwester:
Wir gefährden jeden Tag Patienten, und zwar bewusst .
Sie erzählt von schweren Hygienemängeln, von schlecht
geschulten Reinigungskräften und vom ständigen Arbeitsdruck in der Pflege, der eine sorgsame Händedesinfektion unmöglich macht . Sie rechnet vor, dass Ärzte und
Schwestern sich eigentlich etwa 150-mal am Tag - jeweils 30 Sekunden lang - die Hände desinfizieren müssten . Das ergibt 75 Minuten pro Arbeitstag . Das ist aber
bei den derzeitigen Verhältnissen in Krankenhäusern einfach illusorisch .
Viele Beschäftigte leiden psychisch darunter, dass sie
zwar genau wissen, was sie zu tun hätten, dass sie diese
Zeit aber nicht aus ihrem dichtgepressten Arbeitsalltag
herausschneiden können . Arbeitsverdichtung und Stress
in der Pflege gefährden jeden Tag Menschenleben. Dagegen müssen wir doch etwas tun .
({1})
Im Gesundheitsausschuss haben uns Sachverständige
bei einer Anhörung vorgerechnet, dass akut 100 000 Pflegekräfte in den Kliniken fehlen . Und da feiern Sie sich in
diesem Antrag für gerade einmal 6 000 zusätzliche Stellen in drei Jahren, die Sie mit dem Krankenhausstrukturgesetz geschaffen haben . Entschuldigung, das ist einfach
lächerlich!
Zum Thema Forschung . Wenn wir bei der Entwicklung neuer Antibiotika gemeinsam substanziell vorankommen wollen, dann sollten Sie unserem Änderungsantrag zum Haushalt zustimmen, in dem wir 500 Millionen
Euro für nichtkommerzielle öffentliche Arzneimittelforschung fordern . Denn wir sehen doch, dass das Interesse
der Industrie an der Entwicklung neuer Antibiotika nicht
nur für unsere Region denkbar gering ist . Das gilt auch
für die Entwicklung solcher Antibiotika, die gegen Tuberkulose eingesetzt werden könnten . Da müssen wir öffentlich investieren . Das sind wirksame Ansätze, um unser Schwert gegen Infektionskrankheiten wieder scharf
zu machen und Menschenleben zu retten . Ich würde mich
freuen, wenn Sie das in der Beratung unterstützen würden .
({2})
Vielen Dank . - Jetzt hat Martina Stamm-Fibich von
der SPD das Wort .
({0})
Verehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und
Kollegen! Verehrte Zuhörer! „Das Problem ist so ernst,
dass es die Errungenschaften der modernen Medizin bedroht .“ - So heißt es im Bericht der WHO vom Sommer 2014 . Die Gefahr ist real, und sie ist groß .
Tagtäglich sterben auch in deutschen Krankenhäusern
Menschen an den Folgen einer Infektion mit multiresistenten Bakterien . Meist sind es ältere, multimorbide Patienten, deren Immunsystem bereits stark geschwächt war .
Doch es ist denkbar, dass in Kürze auch jüngere Menschen an multiresistenten Erregern sterben . Wir müssen
sämtliche Anstrengungen bündeln, um ein solches Szenario zu verhindern .
({0})
Wie kaum ein anderes Problem ist das Problem der
Antibiotikaresistenzen zum Teil hausgemacht; denn über
Jahrzehnte hinweg hat die Gesellschaft Antibiotika im
Glauben an deren unerschöpfliche Allmacht nicht rational eingesetzt . Die meisten Patienten holen sich ein Rezept für ein Antibiotikum bei einem Arzt ihres Vertrauens .
So stellen Hausärzte und hausärztlich tätige Internisten
zwei Drittel der Antibiotikarezepte aus, die insgesamt
im ambulanten Bereich vergeben werden . Erschreckend
finde ich: Laut einer Umfrage des Robert-Koch-Instituts
ist vielen Ärzten nicht bewusst, was sie mit den Verordnungen anrichten . Etwa 64 Prozent der niedergelassenen
Mediziner glauben, dass das, was sie täglich verordnen,
keinen Einfluss auf die Anzahl und Sorte resistenter Erreger in ihrer Gegend hat . Das gibt schon zu denken .
({1})
Außerdem spielt auch das Anspruchsdenken mancher
Patienten im medizinischen Alltag eine große Rolle . Welcher Hausarzt kennt nicht die Situation, in der ein erkälteter Patient in seine Praxis kommt und um ein Antibiotikum bittet . Ob es sich dabei um eine bakterielle oder
virale Infektion handelt, ist häufig auf die Schnelle nicht
festzustellen . Daher verordnen Ärzte Antibiotika auf
Verdacht . Hinzu kommt die fehlende Compliance vieler
Patienten; sie setzen den verordneten Wirkstoff vorzeitig
ab, weil sie sich einfach besser fühlen . Liebe Kolleginnen und Kollegen, schauen Sie doch einmal zu Hause in
Ihren Medikamentenschrank . Neben den Halspastillen
und den halbleeren Hustensaftflaschen findet sich bestimmt auch ein Antibiotikum, dessen Haltbarkeitsdatum
abgelaufen ist . Einige Tabletten sind weg, aber eben nicht
alle .
Besonders gefährlich ist die Situation in den Krankenhäusern; denn hier liegen kranke Menschen dicht an
dicht, sodass die multiresistenten Erreger schnell den
Wirt wechseln können . Die Deutsche Gesellschaft für
Krankenhaushygiene schätzt die jährliche Zahl an Krankenhausinfektionen auf rund 90 000 . Das bedeutet, dass
sich jeder 20. bei uns stationär behandelte Patient infiziert . Eine kompromisslose Reinigung und Desinfektion
können die Krankenhauskeime abtöten, doch viele Kliniken stehen unter enormem Druck . Deshalb können sie
die Empfehlungen nicht immer einhalten .
Als Politik haben wir aber reagiert und mit verschiedenen Gesetzen in den vergangenen Jahren versucht, den
Einsatz von Antibiotika in der Tierzucht einzudämmen
und mehr Hygienebeauftragte in die Kliniken zu bringen .
Außerdem hat das BMG neben der Aktualisierung der
Deutschen Antibiotika-Resistenzstrategie einen ZehnPunkte-Plan zur Bekämpfung multiresistenter Keime
erarbeitet .
Auch im Pharmadialog der Bundesregierung hat das
Thema eine große Rolle gespielt . Im Abschlussdokument des Pharmadialogs wurde unter anderem festgehalten, dass das BMG die Regelungen zur Erstattung von
diagnostischen Verfahren für einen zielgenauen Einsatz
von Antibiotika verbessern soll . Zudem wurde eine Regelung auf den Weg gebracht, mit der die jeweils spezifische Resistenzsituation bei der Nutzenbewertung im
AMNOG-Verfahren durch den G-BA besser berücksichtigt werden kann . Diese beiden Punkte haben wir in diesem Antrag, den wir heute vorgelegt haben, aufgegriffen .
Ich hoffe, dass sie zum Ziel führen .
Ein weiteres Problem ist aber auch das geringe Interesse der Pharmaindustrie an der Forschung in diesem Bereich; denn obwohl Antibiotika die häufigste Wirkstoffgruppe unter den verschriebenen Medikamenten sind,
ist mit ihnen vergleichsweise wenig Geld zu verdienen .
Mir ist bewusst, dass Arzneimittelforschung kostspielig
ist, aber wir sind auf die Entwicklung neuer, potenter
Antibiotika angewiesen . Gut 1 bis 1,5 Milliarden Euro
muss ein Unternehmen in der Regel von der Entwicklung
bis zur Marktreife investieren . Das ist ein Prozess, der
mindestens zehn Jahre dauert . Doch anders als bei Medikamenten gegen chronische Leiden wie Diabetes und
Bluthochdruck, die ein Leben lang eingenommen werden
müssen, sind die Ertragsaussichten bei Antibiotika deutlich geringer,
({2})
insbesondere wenn es um die Entwicklung von Reserveantibiotika geht, die naturgemäß nur dann zum Einsatz
kommen sollen, wenn Standardarzneien versagen . Ich
appelliere daher an dieser Stelle an die soziale Verantwortung, der sich auch Pharmaunternehmen nicht entziehen dürfen .
({3})
Lassen Sie uns gemeinsam Antibiotikaresistenzen
bekämpfen . Nur wenn wir gemeinsam an einem Strang
ziehen, kann dieses Mammutprojekt gelingen .
Herzlichen Dank .
({4})
Vielen Dank . - Als nächster Redner hat Friedrich
Ostendorff für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das
Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Erst seit 2011 muss erfasst werden, wie
viel Antibiotika an Tierärzte abgegeben wird . Minister
Schmidt, es war nicht das ureigene Interesse und Bestreben Ihres Hauses, dass die Mengen erfasst und reduziert
werden . Die Novelle zum AMG war keine freiwillige
Verbesserung der Bundesregierung, ganz und gar nicht .
Die Bedrohung durch multiresistente Keime aus den
Viehställen war der Grund . Es war ein harter und zäher
Kampf, dieses Monitoring gegen Ihre ewige Schönfärberei durchzusetzen .
({0})
Der Rückgang der Abgabemenge zeigt doch, dass unser grünes Drängen richtig war, wobei die Verlässlichkeit
der Zahlen infrage steht; zu groß erscheinen die Unterschiede zwischen den einzelnen Daten, also den QS-Daten und den BVL-Daten . Hier gibt es noch viele Fragen
zu klären .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, so viel Lob muss
aber sein: Der nun vorliegende Antrag beinhaltet durchaus Positives . Es ist nämlich unbedingt erforderlich, dass
der Antibiotikaeinsatz nicht nur in der Mast, sondern
auch in der Aufzucht der Tiere und der Elterntierhaltung
dokumentiert wird . Von der Geburt bis zum Tod muss
dokumentiert werden, und die Dokumentation darf nicht
irgendwann einsetzen . Bis Ferkel und Kälber abgesetzt
sind, ist beim Antibiotikaeinsatz nämlich eine Menge
passiert .
Endlich wollen auch Sie gegen die ökonomischen
Fehlanreize beim Verkauf von Antibiotika vorgehen und
die Rabattgewährung - immerhin - überprüfen . Da hätten Sie doch aber auch einfach unserem grünen Antrag
von 2014 folgen können . Diese Problematik ist doch
schon seit langem bekannt . Da ist es aber wieder, das
Abwarten des Ministers Schmidt: Abwarten, Verzögern,
Aufschieben; macht ihr erst einmal; ich schaue es mir
dann vielleicht einmal an . - Heute sagte der Minister in
seiner unnachahmlichen Weise: Ich habe das Ziel, dass
wir auf dem Weg sind .
({1})
Apropos Aufschieben: Wo bleibt eigentlich die Liste
der Reserveantibiotika, die so lange angemahnte, die Gegenstand von Anwendungsbeschränkungen sein soll? Es
wurden 2015 immer noch 14,2 Tonnen Reserveantibiotika abgegeben, 2,4 Tonnen Reserveantibiotika mehr als in
2011 . Also: Immer schön die Kirche im Dorf lassen, liebe
Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU, bevor Sie zu
viel Lobhudelei betreiben .
Herr Minister, nicht das, was Sie heute sagten - das
Problem sollte auf eine höhere Stufe der Wahrnehmung
gehoben werden -, ist entscheidend, sondern: Reserveantibiotika müssen aus den Tierställen heraus . Das hat meine Kollegin Ihnen doch eindeutig klargemacht .
({2})
Hören Sie doch auf den Fachverstand derjenigen, die es
beurteilen können .
Im vorliegenden Antrag fehlen uns mindestens drei
Punkte .
Erstens . Statt auf mehr Hygiene zu setzen, sollten Sie
den Tieren einfach mehr Platz für ein artgerechtes Leben
bieten . Das hat doch auch die Kollegin der Linken sehr
klargemacht .
({3})
Sie sehen aber nach wie vor keine Notwendigkeit, die
Haltungsvorschriften für Schweine zu ändern .
Zweitens . Relevante Reserveantibiotika müssen klar
erfasst und ihr Einsatz muss natürlich bis auf wenige gut
begründete Ausnahmen im Stall verboten werden .
({4})
Da ist das Verbot der Umwidmung einmal mehr doch nur
Schönfärberei . Übrigens, Herr Minister, da Sie sich so
ausgebreitet über Antibiogramme ausließen: Nur bei der
Umwidmung soll ein Antibiogramm erstellt werden und
nicht grundsätzlich . Dass das bisher nicht so ist, ist nach
wie vor stark zu kritisieren .
Drittens . Die tierärztliche Bestandsbetreuung muss
endlich verstärkt werden - darüber philosophieren wir
nun schon seit zehn Jahren -, damit die Tierärzte mit ihrem Wissen ihren Lebensunterhalt verdienen können und
nicht durch den Verkauf von Antibiotika im Familienpack . Dafür brauchen wir einheitliche Abgabepreise . Wir
brauchen eine Aufhebung der Rabattgewährung .
Eines sei zum Abschluss noch gesagt . Auch wenn es
leider absolut Standard ist, 40 000 Hähnchen mit Antibiotika im Trinkwasser zu behandeln: Nur weil etwas
gemacht wird, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
CDU/CSU, ist es noch lange nicht in Ordnung .
({5})
Prophylaxe ist und bleibt verboten .
({6})
Vielen Dank . - Als nächste Rednerin spricht Gitta
Connemann für die CDU/CSU-Fraktion .
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Minister Schmidt und Gröhe! Multiresistente Keime als
größte Gefahr der Menschheit - so warnen Wissenschaftler weltweit . Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer auf
den Rängen, das ist kein Horrorszenario, sondern heute
schon globale Realität .
Menschen sterben an bakteriellen Infektionen, weil
kein Antibiotikum mehr anschlägt . Die Blasenentzündung kann zum Todesurteil werden . Bakterien sind
schlau . Sie passen sich an . Das wusste übrigens schon
der Entdecker des Penicillins, Alexander Fleming . Er
wies bereits 1945 auf die Gefahren des unkontrollierten
Gebrauchs von Penicillin hin . Zu oft, zu kurz, bei falscher Diagnose - bei Mensch und Tier -, so entstehen
multiresistente Keime . Ohne Zweifel - diese Erkenntnis
eint uns in diesem Hause -: Antibiotikaresistenzen sind
tickende Zeitbomben .
Deutschland hat darauf reagiert . 2008 wurde die erste
nationale Strategie gegen Antibiotikaresistenzen vorgelegt . Unsere Bundeskanzlerin brachte es auf die Agenda der G 7; denn Bakterien kennen keine Grenzen . Sie
machen übrigens auch keinen Unterschied zwischen
Mensch und Tier . Human- und Tiermedizin müssen
deshalb gemeinsam Lösungen entwickeln . Dafür stehen heute persönlich und beispielhaft Bundesminister
Schmidt und Bundesminister Gröhe . Sie wissen beide:
Es geht nur gemeinsam .
({0})
Gegenseitige Schuldzuweisungen helfen niemandem .
Dieses Wissen würde ich mir von so manchen Kollegen
in diesem Hause wünschen,
({1})
die immer wieder nur mit dem Finger auf die Landwirtschaft und übrigens auch auf die Tierärzte zeigen . Da
nenne ich beispielhaft den Kollegen Hofreiter; er ist heute leider nicht da .
({2})
Er verstieg sich vor kurzem zu der Aussage, dass - ich
zitiere - viele Tiere „systematisch mit Antibiotika vollgepumpt werden“ .
({3})
Wenn der Kollege Hofreiter da wäre, könnte ich ihm sagen: Sie ignorieren dabei eines: die Fakten .
Erstens . Die prophylaktische Behandlung mit Antibiotika ist seit 2006 in diesem Land verboten .
({4})
Zweitens . Der Einsatz von Antibiotika in der Tierhaltung ist seit 2011 um 53 Prozent zurückgegangen . Um
53 Prozent!
({5})
Auch der Einsatz von Reserveantibiotika sinkt stetig .
({6})
Ihm sind diese Fakten egal . Damit stellt er übrigens
den Berufsstand der Landwirte und den der Tierärzte in
toto an den Pranger und verunsichert zu Unrecht die Verbraucher .
({7})
Das ist nicht unsere Art, Politik zu machen; denn
wir wissen: Wir können die immensen Herausforderungen nur gemeinsam bewältigen . Da stehen wir alle in
der Verantwortung: Ärzte, Tierärzte, Patienten übrigens
auch, Wissenschaft, Bildung, Umwelt, aber auch die Politik . Deshalb legt Ihnen die Große Koalition heute einen
bereichsübergreifenden Katalog mit 26 Punkten vor: für
die Gesundheitspolitik, für die Agrarpolitik . Es ist das
erste Mal, dass ein solcher Antrag übergreifend vorgelegt
wird. Ich persönlich finde: Das ist auch eine Sternstunde
in der Debattenkultur dieses Hauses .
({8})
Vorausgegangen ist ein Jahr härtester Arbeit: ein Kongress der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zu diesem Thema, viele Gespräche zwischen Gesundheitsexperten und
Tiermedizinern, in der SPD, in der CDU/CSU - und am
Ende ein gemeinsamer Antrag . Dafür sage ich an dieser
Stelle auch vielen Dank an Frau Keinhorst . Unsere zentrale Forderung lautet: Wir brauchen mehr Prävention
und Hygiene bei Mensch und Tier, im Krankenhaus und
im Stall . Das wird kosten - ohne Frage -, aber es sind Investitionen, die Leben retten, und da ist kein Euro zu viel .
Information, Aufklärung, Impfungen, Hygiene- und
andere Präventionsmaßnahmen sind das A und O . Nur so
können Infektionen verhindert werden und damit überflüssige Behandlungen, übrigens auch bei Mensch und
Tier .
Für den Veterinärbereich - Herr Dr . Henke wird auf
den Bereich der Humanmedizin eingehen - fordern
wir deshalb - das ist eine Kernforderung; der Kollege
Priesmeier hat es schon angesprochen - einen einheitlichen Rechtsrahmen für ein umfassendes Hygiene-, Gesundheits- und Haltungsmanagement .
({9})
Im Sommer habe ich Rinderbetriebe in Bayern besucht . Dort habe ich gesehen, wie effektiv ein gutes
Stallmanagement und eine Topumgebung für jedes Tier
sind . Es ist übrigens mit Platz allein nicht getan, lieber
Friedrich Ostendorff .
({10})
Vielmehr geht es um Hygiene, um sehr gut ausgestattete Fressliegeboxen und um modernste Mischtechnik für
individuelle Fütterung nach Bedarf . Ich habe dort auch
gesehen, wie erfolgreich eine vertrauensvolle Zusammenarbeit von Tierärzten und Landwirten ist . Allerdings
müsste diese tierärztliche Arbeit dann auch entsprechend
bezahlt werden. Das findet heute noch nicht statt. Hier
liegt der wirkliche Schlüssel zur Antibiotikaminimierung .
({11})
Das ist übrigens auch die Antwort auf die Standardforderung nach starren Reduktionszielen . Ich sage zu diesen
Zielen: Diese sind inhaltsleer und willkürlich .
({12})
Diese leiden darunter, dass sie keine Antwort auf das
Wie geben können . Diese beschreiben nur ein Ob . Hier
setzen wir an . Wir müssen uns an dieser Stelle natürlich
darauf verlassen können, dass das Erfassungssystem, das
wir im Rahmen der AMG-Novelle 2011 auf den Weg gebracht hatten, funktioniert .
Lieber Friedrich Ostendorff, zur Wahrheit gehört dazu,
dass wir nicht gezwungen worden sind . Wir haben diese
Novelle 2011 aus eigener Kraft auf den Weg gebracht .
({13})
Eines sage ich deshalb an dieser Stelle auch: Wenn
jemand keine Ahnung hat und so etwas sagt, ist das
schlimm; aber wenn jemand Ahnung hat - du hast sie und so etwas sagt, dann grenzt das wirklich an Unwahrheit .
({14})
Wir müssen das Ganze sicherlich noch schärfen . Das
heißt für uns: Auch der Nichteinsatz von Antibiotika
muss zukünftig gemeldet werden, die jetzige Bewertung
von Kombinationspräparaten muss überprüft werden,
Mortalitätsraten müssen auch in die Erfassung einbezogen werden . Die stete Forderung, die wir auch in dieser
Debatte wieder gehört haben, dass Reserveantibiotika
aus den Tierställen verbannt werden müssen,
({15})
zeigt eindeutig, dass Sie eines nicht verstanden haben:
Auch Tiere haben ein Recht auf Behandlung . Alles andere wäre Tierquälerei .
({16})
Deshalb muss der Einsatz möglich bleiben - natürlich
nur in begründeten Fällen und nur nach Erstellung eines
Antibiogramms .
({17})
Die Liste ließe sich fortführen, auch was das Dispensierrecht angeht . Es hat sich aus Sicht unserer Fraktion
grundsätzlich bewährt . Aber wir wissen auch: Es gibt
wirtschaftliche Fehlanreize . Diese Fehlanreize müssen
abgeschafft werden . Wir fordern deshalb auch, dass seitens der Hersteller von antimikrobiell wirksamen Mitteln
die Rabattgewährung überprüft und die Preisgestaltung
überarbeitet wird .
Vor uns liegt noch ein längerer Weg, aber wir haben
schon große Erfolge erzielt . Wenn wir bereit sind, auch
unbequeme Wahrheiten zu benennen, wie wir es heute
tun,
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen .
- dann bin ich ganz sicher: Wir werden unser Ziel erreichen . Wir brauchen in Zukunft gemeinsam wirksame
Antibiotika . Das muss unser Ziel sein, und dafür setzen
wir uns ein - gemeinsam .
Vielen Dank .
({0})
Vielen Dank . - Als nächste Rednerin hat Dr . Karin
Thissen für die SPD-Fraktion das Wort .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Unser gemeinsamer Antrag „Antibiotika-Resistenzen vermindern“ ist
vor allem deswegen ein gemeinsamer Antrag, weil er von
Agrarpolitikern und Gesundheitspolitikern beider Fraktionen ausformuliert wurde .
({0})
An dieser Stelle noch einmal ein herzliches Dankeschön
an die Fachkolleginnen und -kollegen aus dem Gesundheitsausschuss .
({1})
Um Antibiotikaresistenzen zu vermindern - verhindern kann man sie nicht; aber man kann sie vermindern -, ist es erforderlich, Antibiotika so selten wie
möglich einzusetzen, und zwar in der Human- und in
der Veterinärmedizin . Deshalb freut es mich, dass wir
uns auf die Einrichtung eines ständigen veterinär- und
humanmedizinischen Fachgremiums als Schnittstelle einigen konnten, das regelmäßig die Resistenzlage bei Antibiotika evaluieren soll . Lieber Friedrich Ostendorff, du
hast den Antrag gelesen, aber vielleicht nicht verstanden;
denn genau da kann ja die Liste der Reserveantibiotika
erarbeitet werden .
({2})
Die Zusammenarbeit zwischen Human- und Tiermedizinern kann allerdings nur erfolgreich werden, wenn
jede Seite Verständnis für die jeweils andere Seite hat
und jede Seite Verantwortung für den und im eigenen Berufsstand übernimmt . Will damit sagen: Ein jeder kehre
vor seiner eigenen Haustür, statt mit dem Finger auf den
jeweils anderen Berufsstand zu zeigen .
({3})
Auch Veterinäre sind in erster Linie für die Gesundheit der Menschen verantwortlich . Tierärzte sind verantwortlich dafür, dass unsere Tierbestände gesund bleiben .
Denn nur gesunde Tiere liefern gesunde Lebensmittel,
und gesunde Tiere übertragen keine Krankheiten auf
Menschen . Deswegen ist es unsinnig, ein Verbot von Reserveantibiotika in der Veterinärmedizin zu fordern . Wir
wissen jetzt noch nicht, an welchen Krankheiten Tierbestände in Zukunft leiden könnten, und es wäre ja geradezu unsinnig, zu sagen: Die Tiere müssen krank bleiben;
wir warten darauf, dass die Infektion auf die Menschen
überschwappt, und erst wenn die erkrankt sind, behandeln wir die Tiere .
Wie sagte eine von den Grünen vorhin so schön: Hören Sie doch auf diejenigen, die Fachverstand haben und
das beurteilen können! - Ich bin eine davon .
({4})
Allerdings ist es auch richtig, dass sich die Tierärzte bei der täglichen Arbeit viel zu oft im Spannungsfeld
zwischen den Vorgaben der Landwirtschaft und den Ansprüchen der Gesellschaft an die Tierhaltung befinden.
Wie sieht es zum Beispiel mit der vielbeschworenen
Therapiefreiheit des Tierarztes - in der Realität, nicht auf
dem Papier - aus? Wenn der Tierarzt im Stall tätig wird,
dann wird er am Ende vom Landwirt bezahlt . Und wer
bezahlt, bestimmt . Und wer bestimmt, bestimmt auch
darüber, ob die immer wiederkehrenden Gesundheitsprobleme im Stall nachhaltig gelöst oder durch immer
wiederkehrende Medikamentenverabreichung kaschiert
werden .
Was kann Politik tun, und wie können wir helfen? Ich
sage es Ihnen: Die Rolle des Tierarztes muss gestärkt
werden .
({5})
Die tierärztliche Funktion für die Gesellschaft kann der
Tierarzt nur aus einer starken Position heraus wahrnehmen .
({6})
Dafür werden wir einen einheitlichen Rechtsrahmen
schaffen, und dieser Antrag ist ein erster Schritt in diese
Richtung .
({7})
Ich will an dieser Stelle auch nicht verheimlichen,
dass es ein steiniger Weg mit den Kollegen der CDU/
CSU-Fraktion aus dem Agrarausschuss war . Mit den
Kollegen der CDU/CSU-Fraktion aus dem Gesundheitsausschuss war die Zusammenarbeit deutlich einfacher .
Dafür noch mal danke!
({8})
Zum Glück für diese Koalition verfügt die SPD-Fraktion über geballten tiermedizinischen Sachverstand, den
Wilhelm Priesmeier und ich in den Antrag einfließen lassen konnten . Deswegen konnten wesentliche Kernanliegen der SPD berücksichtigt werden .
({9})
- Ja, aber Frau Dr . Flachsbarth ist ja nicht in der SPD .
({10})
- Ach so, sorry . Die Frau Dr . Flachsbarth hat aber nicht
so viel - ({11})
- Es ist aber so .
Karin Binder, ich will dir an zwei Beispielen zeigen,
warum dieser Antrag eben doch für mehr Tiergesundheit
sorgen wird .
({12})
- Nö . Aber ich verfüge über tierärztlichen Sachverstand,
Sie nicht .
({13})
- Doch, das hat damit sehr viel zu tun .
Erstens . Wir stehen für die Abschaffung ökonomischer Fehlanreize bei Tierarzneimitteln . Ganz besonders
wollen wir die Rabatte, die die Pharmaunternehmen
beim Verkauf von Antibiotika gewähren, abschaffen .
Denn von dieser Rabattgewährung profitieren in erster
Linie die Pharmaunternehmen, weil dadurch ihr Umsatz
steigt. Die Tierärzte profitieren nicht davon; das wird
zwar immer unterstellt, aber dem ist nicht so . Denn die
Tierärzte waren und sind verpflichtet, diese Rabatte an
die Landwirte weiterzugeben .
Antibiotika zum Dumpingpreis schaffen falsche Anreize für die Landwirtinnen und Landwirte; denn das
schnelle Medikament ist günstiger, als die vorbeugende
Impfung oder die erforderlichen Hygienemaßnahmen
zu veranlassen, damit die Tiere gar nicht erst erkranken .
Und für die Gesellschaft rentiert sich dieses Rabattsystem erst recht nicht, weil es dazu führt, dass Antibiotika
unnötigerweise eingesetzt werden müssen . Denn die Tiere erkranken, weil man vorher keine Prophylaxemaßnahmen ergriffen hat .
Das Dispensierrecht darf der Tierarzt ruhig behalten .
Dieses Recht der Tierärzte, quasi Arzt und Apotheker in
einem zu sein, ist nämlich nicht das eigentliche Problem
bei der Entstehung von Antibiotikaresistenzen .
Die zweite sehr wichtige Maßnahme, die auch zu
mehr Tiergesundheit führen wird, ist, dass wir die Rolle
des Tierarztes stärken werden, indem wir eine bestandsgebundene tierärztliche Betreuung in der landwirtschaftlichen Nutztierhaltung auf nationaler Ebene zeitnah verbindlich vorgeben werden . Wir warten eben nicht ab, bis
uns die EU das vorschreibt, sondern machen das selbst .
Damit unterbinden wir das Ausspielen der Tierärzte gegeneinander und machen die Betreuung von Tierbeständen klarer und transparenter . Der bestandsbetreuende
Tierarzt behält den Überblick über den Gesundheitszustand und die Behandlung der Tiere . Wir unterbinden
damit auch, dass ein Tierbestand von zwei oder mehr
Tierärzten behandelt wird, die voneinander nichts wissen; das ist zurzeit nämlich möglich .
Die Probleme und Missstände in der Nutztierhaltung
und die daraus resultierenden zu häufigen Antibiotikagaben sind unter Tierärzten ein offenes Geheimnis .
Nichtsdestotrotz wird diese Tatsache von Ewiggestrigen
in der Tierärzteschaft öffentlich gern negiert . Man zeigt
mit dem Finger auf die Humanmedizin und propagiert
für den eigenen Berufsstand eine Verflechtung mit der
Landwirtschaft, die, zum Nachteil des Verbrauchers, in
Kumpanei und Klüngelei mündet .
Mit unserem Antrag „Antibiotika-Resistenzen vermindern“ fördern wir das Vertrauensverhältnis zwischen
Landwirten und ihren Tierärzten, indem der Tierarzt
seine Therapiefreiheit wiedererlangt und seine Rolle im
Verbraucherschutz und im Tierschutz ausfüllen kann .
Das kommt am Ende den Tieren zugute und der gesamten Gesellschaft .
Ich danke fürs Zuhören .
({14})
Vielen Dank . - Als letzter Redner in dieser Aussprache hat Rudolf Henke für die CDU/CSU-Fraktion das
Wort .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zunächst möchte ich eine Gemeinsamkeit mit allen meinen Vorrednern herausstellen . Mein Dank gilt den Arbeitsgruppen für die gute und lehrreiche Kooperation . Ich
schließe in meinen Dank besonders Lothar Riebsamen
und Tino Sorge aus unserer Arbeitsgruppe „Gesundheit“,
die kräftig mitgearbeitet haben, ein und auch meinen Büroleiter Herrn Böckler, der mir sehr viel geholfen hat .
Lassen Sie mich auf eine kleine Differenz hinweisen:
Ich bin kein Tierarzt, und deswegen kann ich nicht mit
tiermedizinischer Kompetenz sprechen . Aber ich glaube,
es gibt für die Tierheilkunde wie für die Humanheilkunde
einen klaren Grundsatz für den Einsatz von Antibiotika .
Er lautet: So oft wie notwendig, aber so selten wie irgend
möglich .
({0})
Mit dieser Debatte haben wir die Chance, diese Botschaft
nach draußen zu transportieren . Wenn ich mir im Bereich
der Medizin eines wünschen dürfte, dann wäre es, dass
wir mithilfe dieser Debatte der gesamten Bevölkerung
klarmachen: Antibiotika helfen nicht gegen Viren!
({1})
Antibiotika helfen gegen Bakterien . Aber Viren und Bakterien sind etwas Unterschiedliches . Eine Grippe ohne
Superinfektion, also ohne zusätzliche bakterielle Infektion, ist eine Viruskrankheit . So gerne man auch mit einem
Antibiotikum nach Hause möchte: Wenn der Arzt sagt,
das hilft nicht gegen Viren, dann ist das ein Grund, ihm
stärker zu vertrauen und nicht etwa zu sagen: Der hilft
mir nicht genug .
({2})
Viren sind keine Indikation für Antibiotika . Wenn es
eine Zusatzinfektion mit Bakterien gibt, dann wird man
natürlich Antibiotika einsetzen . Warum ist das so wichtig? Das ist so wichtig, weil Antibiotika zu den größten Errungenschaften der Medizin, zu unseren größten
Schätzen überhaupt gehören . Seit der Entdeckung des
Penicillins und seit seinem Einsatz als Medikament 1941 erstmals eingesetzt - ist es eines der wirksamsten
Instrumente, und das droht uns verloren zu gehen . Das
Weltwirtschaftsforum zählt Antibiotikaresistenzen zu
den größten Risiken der Weltwirtschaft .
Es wird eine Debatte darüber geführt, was uns die
neue Entwicklung kostet . Wir haben in unserem Antrag
zum Beispiel für den Bereich der Krankenhäuser - Minister Hermann Gröhe hat darauf hingewiesen - die
Antibiotic-Stewardship-Programme in den Mittelpunkt
gestellt . Man darf sich nun nicht vorstellen, dass diese
Antibiotic-Stewardship-Programme keine Folgen in Bezug auf den Einsatz hätten . Es gibt ein paar Kernkomponenten in diesen Programmen, die für jedes einzelne
Krankenhaus maßgeschneidert werden müssen . Kernkomponenten sind zum Beispiel die Etablierung eines
multidisziplinären Teams für Antibiotic Stewardship,
die Einrichtung der Funktion eines beauftragten Arztes
oder eines infektiologischen Konsiliardienstes, die Fortbildung des Klinikpersonals, die Durchführung von Surveillance-Aktivitäten, spezifische Maßnahmen, zum Beispiel die Bereitstellung von lokalen Therapieleitlinien,
die Erstellung einer hauseigenen Antiinfektiva-Liste, die
Durchführung einer Verordnungsanalyse .
Es reicht nicht alleine, mit Stolz und mit Recht festzustellen, dass wir in der Tierheilkunde seit 2011, seit es
die neue gesetzliche Grundlage gibt, einen Rückgang der
Antibiotikaverordnungen um 53 Prozent haben und dass
wir die Antibiotikaverordnungen in der Humanmedizin
abgesenkt haben; beispielsweise sind Antibiotika auf der
Liste der verordnungsstärksten Arzneimittel von Platz
zwei im Jahr 2013 auf Platz fünf im Jahr 2014 abgerutscht, übrigens auch unter Minderung der Verordnungen von Cephalosporinen und Fluorchinolonen, die als
Reserveantibiotika betrachtet werden .
Das sind Erfolge; aber sie alleine reichen nicht aus .
Man muss sich klar sein, welches Risiko hier besteht . Die
EU rechnet heute schon mit Kosten aufgrund von Antibiotikaresistenzen in der EU in Höhe von 1,5 Milliarden
Euro pro Jahr . Die OECD - ich schenke den Zahlen der
OECD ja nicht immer Glauben, aber in diesem Fall sind
sie sehr beeindruckend, selbst wenn es am Ende 30 Prozent Abweichung gäbe - rechnet bis 2050 mit Kosten in
Höhe von 2,9 Billionen US-Dollar, wenn nicht gegengesteuert wird, und das nur in den OECD-Staaten . Das sind
die Staaten mit den kleineren Problemen . Überall sonst
in der Welt - in Staaten, in denen es zum Teil einen völlig freien Zugang zu Antibiotika gibt und dafür gar keine
Rezepte ausgestellt werden, weil man einfach in einen
Laden gehen und sich Antibiotika kaufen kann - sind die
Probleme noch größer .
Insofern glaube ich: Ja, man braucht in der Tat auch
zusätzliches Personal . Und ja, ich glaube, dass die hohe
Arbeitsdichte das größte Risiko im Hinblick auf nosokomiale Infektionen im Krankenhaus darstellt . Aber gemessen an den Kosten von 2,9 Billionen US-Dollar, die
dort drohen, ist doch jeder Euro, den wir da reinstecken,
gut investiertes Geld . Ich glaube, das ist in der Debatte,
in der Diskussion ein ganz wichtiger Punkt .
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte gerne damit schließen, dass ich noch einmal sage, welche
Punkte von ganz besonders hoher Bedeutung sind: Wir
müssen die Wirksamkeit der vorhandenen Antibiotika erhalten . Wir müssen Infektionen durch Prävention, durch
Einhaltung allgemeiner Hygienestandards, auch durch
Steigerung der Impfquoten entgegentreten . Wir müssen
grundsätzlich für das Thema der Resistenzen sensibilisieren . Wir brauchen bessere Informationen für die Ärzte
und Tierärzte, aber vor allem auch für die Bevölkerung
und die Patienten darüber, was es mit Antibiotika, ihrem
Einsatz in der Therapie und ihrer Wirksamkeit auf sich
hat . Wir brauchen auch eine bessere Ausgestaltung des
öffentlichen Gesundheitsdienstes,
({4})
der helfen kann und vor Ort handlungsfähig sein muss; er
braucht auch von den Landesregierungen Unterstützung,
damit er weiß, was er in konkreten Situationen tun soll .
Und wir brauchen ein besseres betriebliches Gesundheits- und Hygienemanagement . Ich sage jetzt mal als
Arzt: Auch in der Nutztierhaltung brauchen wir das; wir
brauchen den Einsatz schneller diagnostischer Tests mit
hoher Spezifität und Sensitivität.
({5})
Ich schließe damit, dass ich sage: Ja, Antibiotikaeinsatz ist gut, aber nur, wenn er so oft wie notwendig und
so selten wie möglich passiert .
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit .
({6})
Vielen Dank . - Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit schließe ich die Aussprache .
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/9789 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall . Dann ist die Überweisung
so beschlossen .
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ernährung und Landwirtschaft zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen mit dem Titel „Wirksamkeit von Antibiotika
erhalten - Einsatz in der Tierhaltung auf vernünftiges
Maß reduzieren“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/4704, den
Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/3152 abzulehnen . Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist diese Beschlussempfehlung mit
den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen worden .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole
Maisch, Friedrich Ostendorff, Harald Ebner,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Missstände und Stillstand beim Tierschutz beenden - Gesellschaftlichen Konsens umsetzen
Drucksache 18/9798
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . Gibt es dazu
Widerspruch? - Das ist nicht der Fall . Dann ist das so
beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache . Als erste Rednerin hat
Nicole Maisch für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
das Wort .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In dieser
Woche diskutieren wir jetzt zum wiederholten Male über
das Thema Tierschutz . Lassen Sie mich zu den scheußlichen Bildern aus den Ställen hochrangiger Agrarlobbyisten und -funktionäre, die wir in den vergangenen
Tagen im Fernsehen sehen mussten, nur eines sagen:
Ich finde es ganz erstaunlich, dass die Union nicht diese
Tierschutzverstöße für den Skandal hält, sondern dass die
Presse darüber berichtet .
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, schlechte Nachrichten
werden nicht dadurch besser, dass man den Überbringer
verdrischt . Es müsste jetzt darum gehen, politische Konsequenzen zu ziehen, aus der Wagenburg herauszukommen und mehr Tierschutz in diesem Land durchzusetzen .
({1})
Wenn es stimmt, was Herr Priesmeier gesagt hat, nämlich
dass Sie noch nicht am Ende sind, dann müssen Sie jetzt
die Konsequenz ziehen . Dann müssen Sie 91 Prozent der
Deutschen folgen und klare und bessere Regeln für mehr
Tierschutz in diesem Land durchsetzen .
Es ist ja nicht so, dass es keinen parteiübergreifenden
Konsens dazu gibt . Die Bundesländer, der Bundesrat,
die VSMK und die Agrarministerkonferenz haben in
den verschiedenen Farbzusammensetzungen, die sich
dort finden, eine ganze Reihe von Tierschutzinitiativen
im Konsens beschlossen: Vom schwarz-grünen Hessen
bis zum rot-roten Brandenburg fordert man ein Verbot
von Wildtieren im Zirkus; man fordert, dass Nerze nicht
mehr in Pelztierfarmen gequält werden; man fordert,
dass es endlich wirksam verboten wird, trächtige Tiere
zu schlachten; man fordert ein Verbot der ganzjährigen
Anbindehaltung von Kühen . Gitta Connemann hat gesagt, sie sei in einem wunderbaren bayerischen Kuhstall
gewesen . Wenn es für die Milchkühe überall wunderbar
sein soll, dann nehmen Sie diese Tiere doch in die Tierschutz-Nutztierhaltungsverordnung auf . Lange Rede,
kurzer Sinn: Die Bundesländer haben Ihnen den Ball vor
das Tor gelegt, Sie müssen ihn nur noch reinmachen . Ich
finde, hier ist der Minister in der Verantwortung.
({2})
Schon 2011 hat der Bundesrat in all seiner Vielfalt
gefordert, die Tierheime zu entlasten und die unsägliche
rechtliche Unterscheidung zwischen herrenlosen Tieren
und Fundtieren, die dazu führt, dass die Tierheime in den
Kommunen chronisch unterfinanziert sind, endlich aufzuheben . Das können nicht die Kommunen machen, das
können auch nicht die Länder machen; hier ist der Bund
gefordert. Deshalb finde ich, dass der Minister nicht nur
einen runden Tisch zum Thema Tierheime veranstalten
sollte, sondern er sollte auch das Recht so ausgestalten,
dass die Tierheime das bekommen, was sie wirklich
brauchen .
({3})
Frau Kollegin Maisch, lassen Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Röring zu?
Ja .
Frau Maisch, Sie haben die Rolle der Presse in Bezug auf den Tierschutz angesprochen . Meine Frage lautet: Wie beurteilen Sie die Rolle der Presse, die sich in
diesem Fall mehrmals auf Bilder und Berichte von Menschen, die in Ställe eingebrochen sind, gestützt hat? Die
Presse hat die Fotos, die nächtlich illegal in den Ställen
gemacht wurden, in die Öffentlichkeit getragen . Wie beurteilen Sie die Rolle der Presse und des öffentlich-rechtlichen Fernsehens? Man stützt sich auf Menschen, die
Eigentum verletzen,
({0})
in Ställe einbrechen, Türen aufbrechen und ganze Familien in Gefahr bringen, sodass einige ihr Eigentum nachts
nicht mehr betreten wollen, weil sie schlicht Angst haben . Ist das Ihr Verständnis von Presse?
Mein Verständnis von Presse: Erst einmal ist es eine
freie Presse . Auch wenn Bilder in die Öffentlichkeit
kommen, die Ihnen und der Union nicht gefallen: Es
muss darüber berichtet werden .
({0})
Wenn es zu Hausfriedensbruch gekommen ist, dann werden die Gerichte darüber entscheiden . Das ist die Aufgabe der Gerichte in diesem Land .
({1})
Herr Stier hat am Mittwoch ausgiebig Gerichts bashing
betrieben .
({2})
Ich finde, wir müssen die Gewaltenteilung beachten. Da
ist es ganz klar: Die Presse berichtet, und Gerichte entscheiden darüber, ob es zu Rechtsübertretungen gekommen ist .
({3})
Meine Damen und Herren, die Legislaturperiode neigt
sich ja jetzt dem Ende zu . Ich weiß, dass man von großen
Koalitionen oft keine großen Lösungen erwarten kann .
Aber das, was ich Ihnen vorgetragen habe, liegt so klar
auf der Hand - dass man keine trächtigen Tiere schlachtet, dass man Nerze nicht in Farmen quält, dass man
etwas für die Tierheime tun muss, die von herrenlosen
Katzen und Hunden überquellen -, dass Sie zumindest
diese kleinen Punkte, auf die sich der Bundesrat schon
lange geeinigt hat, in die Tat umsetzen müssen . Einiges
davon hat der Minister auch schon in der Öffentlichkeit
versprochen; er hat es an die Medien gespielt . Da müssen
Sie jetzt aufhören, ihn auszubremsen, und Sie müssen
endlich für verlässlich mehr Tierschutz in diesem Land
sorgen .
({4})
Vielen Dank . - Als nächster Redner hat Dieter Stier
für die CDU/CSU-Fraktion das Wort .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren auf der Besuchertribüne! Wir beraten heute über einen Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Missstände und Stillstand beim Tierschutz beenden - Gesellschaftlichen Konsens umsetzen“ .
Mit Verlaub, liebe Frau Maisch, er gehört auch wieder
zu den Anträgen jener Art, die wir hier im Plenum schon
oft erleben durften, ohne dass er eine breite und überzeugte Anhängerschaft gefunden hätte .
({0})
Auf die Frage: „Was steht denn drin?“ reicht eine kurze
Antwort:
({1})
Es sind stetig wiederkehrende, alte Forderungen aus den
zurückliegenden Legislaturperioden, diesmal in einer anderen Reihenfolge zusammengeschrieben, viele Verbote,
Kritik an der Regierungskoalition - das steht der Opposition zu -, und dies alles, so meine ich, losgelöst von den
Erfolgen unserer aktuellen Tierwohlpolitik .
Herr Kollege Stier, lassen Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Maisch zu?
Aber selbstverständlich . - Ich habe ja noch gar nicht
alles gesagt, was ich sagen wollte, aber wenn Frau Maisch
jetzt schon Fragen hat, will ich sie gerne beantworten .
Herr Stier, vielen Dank, dass Sie meine Frage zulassen . - Sie sagen: Das sind alles Punkte, bei denen man
keine Einigkeit erreichen kann . - Deshalb möchte ich Sie
fragen, ob Sie dafür sind, dass man Nerze in Pelztierfarmen hält, und ob Sie dafür sind, dass man Kühe ganzjährig in der Anbindehaltung hält, und ob Sie dagegen sind,
dass man überprüft, ob es okay ist, Sauen in Kastenständen zu halten, und ob Sie dagegen sind, dass man die
Betäubungsmethoden bei der Schweineschlachtung verbessert, ob das alles Punkte sind, bei denen Sie glauben,
dass wir nicht zusammenkommen .
Liebe Frau Kollegin Maisch, wenn Sie mich noch ein
wenig länger ausführen lassen, werde ich auf einiges von
dem, was Sie gerade konkret gefragt haben, eingehen
und Ihnen dazu sicherlich etwas sagen . Ich sage Ihnen
jetzt aber auch eines: Wenn Sie nur Fragen beantwortet
haben wollen, die mit „Sind Sie dafür?“ oder mit „Sind
Sie dagegen?“ beginnen, dann werden wir beide nie einig . Wir sind für Lösungen; das ist meine Antwort an Sie .
({0})
Um es auch klar zu sagen und weiter auszuführen: Es
sind für mich immer wieder aufgewärmte Forderungen
von gestern, die wir zum Beispiel mit dem Start unserer
Tierwohlinitiative längst hinter uns gelassen haben .
Unser Tierschutzansatz blickt hingegen schon seit
langem nach vorn . Das heißt auch: Praxisnahe Lösungen
bestimmen bereits seit langem die Agenda . Zu mehr Tierwohl kann man selbstverständlich auf unterschiedlichen
Pfaden gelangen . Fatal ist nur, wenn man aneinander vorbeiläuft . Sie laufen mit der von Ihnen immer wieder herausgeholten Verbotskeule in die Vergangenheit; wir hingegen, meine Damen und Herren, laufen mit den Bauern
und den Landwirtschaftsbetrieben in die Zukunft dieses
Landes .
({1})
Es wird Sie deshalb auch kaum verwundern: Ich teile Ihren im Antrag beschriebenen Dauerpessimismus
auch heute wieder nicht; denn mein Blick auf unsere
Zwischenbilanz ist positiv, und er richtet sich auch nach
vorn . Seit Beginn dieser Legislaturperiode arbeiten wir
beständig, überlegt und auch planvoll die Festlegungen
aus dem Koalitionsvertrag ab . Das machen wir Stück für
Stück; das machen wir völlig unaufgeregt, Frau Maisch,
und das machen wir vor allem auch systematisch . So geht
es Ziel für Ziel voran .
Ich kann verstehen, dass diese Arbeitsweise nicht
jedem gefällt; aber sie ist, so glaube ich, von Vernunft
geprägt . Gesetzentwürfe mit realitätsfernen Inhalten zu
konstruieren, nur um den schnellen Applaus von rabiaten
Aktivisten zu erhaschen, damit ist seriösem Tierschutz
nicht gedient .
({2})
Seriöser Tierschutz, wie ich ihn verstehe, verbindet
das Wohlergehen der Tiere mit praktikablen Lösungen
für die Tierhalter . Den Fortschrittsrahmen bildet die Tierwohlinitiative von Bundesminister Christian Schmidt .
Lieber Herr Minister, wir werden daran auch weiter gemeinsam arbeiten .
Einiges ist erreicht . Ich verweise auf die laufenden
Haushaltsberatungen . Beträchtliche Mittel - das dürfte
Ihnen nicht entgangen sein - sind für die Verbesserung
des Tierwohls von der Koalition für die auch Ihnen bekannten Maßnahmen auf den Weg gebracht worden . Ich
will die Beispiele noch einmal nennen .
Forschungsförderung: Ich erinnere an die Entwicklung des Verfahrens zur Geschlechterbestimmung im Ei .
Ich erinnere an die Unterstützung von Modell- und Demonstrationsvorhaben bei der Erprobung von Maßnahmen zum künftigen Verzicht auf nicht kurative Eingriffe .
Ich erinnere Sie auch an die Verbesserung bei der privaten Tierhaltung . Eine Studie zur Haltung exotischer Tiere
und Wildtiere in Privathand ist in Auftrag . Wir haben am
7 . Juli - zu nächtlicher Stunde und ohne Debatte - einen
Antrag zum Wildtierschutz im Plenum verabschiedet . Ich
erinnere an den Aufbau des Deutschen Zentrums zum
Schutz von Versuchstieren beim Bundesinstitut für Risikobewertung . Über die Fortschritte bei der Reduzierung
des Antibiotikaverbrauchs haben wir gerade diskutiert .
Bitte nehmen Sie das doch einfach einmal zur Kenntnis .
Weitere gesteckte Ziele werden in Angriff genommen . Wir sind zum Beispiel im Gespräch, wie wir bei
Qualzuchten Verbesserungen erreichen können . Doch die
Notwendigkeit von Regelungsbedarf bedeutet nicht immer automatisch, Verbote auszusprechen oder Gesetzesänderungen vorzunehmen . Ich sehe bei der Verbesserung
des Vollzugs weiterhin große Möglichkeiten . Hier können sich auch die Bundesländer nicht entziehen . Bei diesem Thema ist auch einiges über Verordnungen möglich .
Hier muss die geeignetste Lösung ausgelotet werden;
denn eine kurzsichtige Politik können wir uns heutzutage
nicht mehr leisten .
Manchmal - da stimme ich Ihnen allerdings zu - werden wir auch mit Ordnungsrecht agieren . Das ist immer
dann der Fall, wenn gewichtige Gründe dafür sprechen .
Ich denke hier an eine viel diskutierte Problematik, nämlich die Schlachtung trächtiger Rinder . Für mich steht
fest, dass wir das weitestgehend unterbinden wollen .
Auch hier arbeiten wir an einer Lösung .
({3})
Wir blicken beim Tierschutz auch über unsere Landesgrenzen hinaus. Ende Oktober findet die Jahrestagung
der Internationalen Walfangkommission statt . Hier muss
nicht nur der Erhalt, sondern auch eine Stärkung des
Moratoriums erreicht werden . Auch hier werden wir uns
einmischen und mit einem Antrag klarmachen, dass das
Töten von Walen vollkommen inakzeptabel ist .
Im Tierschutz setzen wir auf Geradlinigkeit .
({4})
Wir verbreiten keine falschen Illusionen . Das unterscheidet uns von der Opposition . Ja, wir machen eine Tierschutzpolitik, die den Tierhalter in diesem Land nicht
außen vor lässt .
Einige Ihrer Forderungen lehnen wir aber auch weiterhin grundsätzlich ab . Ich denke da zum Beispiel an
die von Ihnen abermals geforderte Ausdehnung von
Verbandsklagerechten . Ich meine, sie sind für mehr Tierwohl nicht zielführend . Schon die bestehenden behindern
nachhaltig eine positive Entwicklung .
({5})
Jeder Stallneubau bedeutet mehr Tierwohl . Gerade deshalb ist er zügig zu genehmigen und nicht durch weitere
Möglichkeiten des Ausbremsens durch Nichtbetroffene
zu erschweren .
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die
Grünen, in Ihrem Autorenpapier „Pakt für faire Tierhaltung“ haben Sie selbst eingeräumt, dass mehr Tierwohl
nicht mit der Brechstange zu erreichen ist . Was hier heute
vorliegt, ist das Gegenteil dieser Erkenntnis . Wenn ich
lese, dass Sie - das hat jetzt mit diesem Thema nichts zu
tun - nun auch das Verbot von Verbrennungsmotoren fordern, dann kann ich nur feststellen: Sie haben aus Ihrem
Vorschlag zum Veggieday nichts gelernt . Sie bleiben die
Verbotspartei . Wir hingegen verbessern das Tierwohl mit
den Betroffenen . Ich kann Sie nur herzlich bitten, uns dabei zu unterstützen . Ich wünsche Ihnen schon heute einen
besinnlichen Tag der Deutschen Einheit, an dem Sie in
dieser Republik einmal dankbar sein sollten .
Vielen Dank .
({7})
Vielen Dank . - Als nächste Rednerin hat Birgit Menz
von der Fraktion Die Linke das Wort .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Gäste! Als ich letzten Freitag las, dass
heute der Tagesordnungspunkt Tierschutz aufgesetzt ist,
hatte ich kurz die Illusion, dass dieser Punkt von der Koalition kommt, damit sie in dieser Legislaturperiode doch
noch etwas für den Tierschutz tun kann . Dem ist leider
nicht so . Und doch hoffe und wünsche ich, dass der Antrag, der heute eingebracht wurde, nach den Beratungen
in den Ausschüssen nicht nur von der Opposition verabschiedet wird .
Auch wenn der Tierschutz seit 2002 als Staatsziel im
Grundgesetz verankert ist, sieht es in Deutschland diesbezüglich schlecht aus . Selbst die Ziele, die sich die Große Koalition in den Koalitionsvertrag geschrieben hat,
wurden kaum angegangen, geschweige denn umgesetzt .
Ich zitiere:
Wir verbessern den Wildtierschutz und gehen gegen
Wilderei sowie den illegalen Wildtierhandel und deren Produkte vor; Handel mit und private Haltung
von exotischen und Wildtieren wird bundeseinheitlich geregelt . Importe von Wildfängen in die EU
sollen grundsätzlich verboten und gewerbliche Tierbörsen für exotische Tiere untersagt werden .
Die derzeitige Tierschutzpolitik vernachlässigt den
Tierschutz und ist vielmehr am wirtschaftlichen Mehrwert der Tiere interessiert . Deutlich wird dies nicht nur
in der Landwirtschaft - darüber haben wir am Mittwoch
gesprochen -, sondern auch im Heimtierbereich . Auf gewerblichen Tierbörsen floriert das Geschäft insbesondere
mit exotischen Tierarten . In Deutschland werden jährlich
unzählige Tiere auf diesen Börsen angeboten . Oftmals
werden sie in engen Behältern zur Schau gestellt und
sind unterschiedlichsten Stressfaktoren ausgesetzt .
Heutzutage gilt es als angesagt, im Privaten exotische Tiere zu halten . Viele Tierhalterinnen und Tierhalter
unterschätzen jedoch die privat schwer zu erfüllenden,
extrem hohen Ansprüche an die Haltung der Tiere und
sind aufgrund fehlender Fachkunde folglich überfordert .
Bei vielen auf Tierbörsen angebotenen Exoten handelt es
sich zumeist nicht um Zuchttiere, sondern um sogenannte Wildfänge . Somit bedroht der Fang von Wildtieren für
den Heimtiermarkt auch das Überleben von Wildbeständen in den Herkunftsländern, und ferner geht das einher
mit hoher Sterblichkeit bei Fang, Transport und in Gefangenschaft . Wir fordern daher schon lange ein Verbot
des Handels mit Wildfängen und die Einführung einer
Positivliste für Arten, die in Privathaushalten tiergerecht
gehalten werden können .
({0})
Auch die Haltung von Wildtieren in Zirkussen und
von exotischen Tieren in Privathaushalten muss strenger
reguliert bzw . verboten werden; denn in beiden Fällen
können artgerechte Haltungsbedingungen kaum geschaffen werden . Weder Transportwaggons noch Wohnzimmer sind Freilaufgehege . Gleiches gilt für die Haltung
von Tieren zur Produktion von zum Beispiel Pelzen . Es
darf nicht sein, dass Tiere allein zur Herstellung von Luxusgütern gehalten und getötet werden .
({1})
Die Linke fordert ebenso die Einführung des Verbandsklagerechts für anerkannte Tierschutzvereine auf
Bundesebene . Tiere sollen besser vor Gesetzesverstößen
geschützt werden . Wenn sich Behörden und Betriebe
über das Tierschutzrecht hinwegsetzen, müssen anerkannte Tierschutzverbände die Möglichkeit haben, stellvertretend für die Tiere zu reden und zu klagen .
Eine der Folgen des bisher unzureichenden staatlichen
Tierschutzes ist die Ursache dafür, dass die Tierheime,
die einen großen Teil der gesellschaftlichen Aufgaben
für den Tierschutz erfüllen, in eine sehr schwierige Lage
geraten sind . Immer mehr Tiere und Tierarten werden abgegeben, und auch die Verweildauer steigt . Es wird eng
in den Tierheimen, und die Kosten für Futter und veterinärmedizinische Leistungen steigen . Für exotische Tiere
müssen extra Auffangstationen eingerichtet werden . Wir
sehen hier Bund, Länder und Kommunen gemeinsam in
der Pflicht, Finanzmittel für notwendige Investitionen
bereitzustellen, Wege zu ebnen, damit die außerordentlich wichtige Arbeit der Tierheime ausreichend gewürdigt und eine gute Versorgung der Tiere auch zukünftig
gewährleistet werden kann, zum Beispiel durch die Aufhebung der Unterscheidung zwischen Fundtieren und
herrenlosen Tieren; denn nur so können die laufenden
Kosten in Zukunft gedeckt werden .
Ein wirksamer Tierschutz kann nur gelingen, wenn
die Bedürfnisse der Tiere in jedem Fall höher bewertet
werden als ihr wirtschaftlicher Nutzen . Tiere sind und
bleiben Lebewesen und keine Sachen .
Danke .
({2})
Vielen Dank . - Als nächste Rednerin spricht Christina
Jantz-Herrmann für die SPD-Fraktion .
({0})
Frau Präsidentin! Mehr sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich sage es geradeheraus, liebe Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen: In vielen Punkten kann ich Ihren Antrag deutlich unterstützen . In ihm wird ausführlich aus
unserem Koalitionsvertrag zitiert, und in vielen Punkten
wurden darin SPD-Positionen niedergeschrieben . Der
Antrag enthält ein buntes Potpourri von Forderungen zu
verschiedenen Tierschutzthemen . Genau das ist leider
auch sein Manko, weil der Antrag den Eindruck vermittelt, dass man mit ihm die ganze Welt retten könnte .
Unser Koalitionspartner hingegen meint, dass wir
schon die besten Tierschutzregeln der Welt haben, und er
sieht auch keinen weiteren Gestaltungsanspruch . In der
Regierungskoalition - das ist sicherlich kein Geheimnis - ist die SPD die treibende Kraft in Sachen Tierschutz .
({0})
Immer wieder aufs Neue leisten wir - auch gerne - Überzeugungsarbeit . Teilweise ist das natürlich ein mühseliger Prozess, wie Sie mir glauben können .
So stemmen wir uns gerade aktuell gegen die Aufhebung des Verbotes, Fett an Wiederkäuer zu verfüttern .
Tiere, die selbst niemals tierische Fette essen würden,
sollen mit tierischen Fetten gefüttert werden, nur damit
sie schneller und besser gemästet werden können . Ich
finde das nicht nur unethisch, sondern gar widerwärtig.
({1})
Auch ziehen - das klang in dieser Woche leider auch
schon an - Minister Schmidt und seine Fraktionskollegen nicht immer an einem Strang . Wenn der Minister die
Initiative ergreift, lässt ihn seine eigene Fraktion leider
manchmal hängen . Genau das - dieses Beispiel klang
heute auch schon an - ist bei den Pelztieren und auch
beim Verbot des Tötens trächtiger Tiere der Fall .
Einige Stellen des Koalitionsvertrages zum Tierschutz
werden sicher nur behäbig im Ministerium umgesetzt .
Lassen Sie mich hier ein Beispiel nennen: Wir haben im
Koalitionsvertrag niedergeschrieben, dass wir die Sachkunde fördern möchten . Der Minister hat Anfang des
Jahres angekündigt, dass sein Ministerium genau das,
einen Sachkundenachweis, prüfe . Bisher liegt uns leider
noch kein Ergebnis vor .
Von Stillstand beim Tierschutz zu sprechen, ist trotzdem deplatziert: Der runde Tisch zur Lage der Tierheime
hat in dieser Woche erstmals getagt . Damit ist es dem
Minister gelungen, das erste Mal seit Jahren wieder alle
Ebenen an einen Tisch zu holen: Bund, Länder und Kommunen . Ihnen allen obliegt die Aufgabe, die Lage der
Tierheime zu verbessern. Aktuell befindet sich die Prüfund Zulassungsverordnung für Tierhaltungssysteme im
Verfahren .
Zudem prangern Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, im Antrag an - auch Frau Menz hat das
vorhin gesagt -, dass beim Wildtierschutz nichts getan
wurde . Auch das ist falsch; denn wir haben vor der Sommerpause einen umfassenden Antrag zum Wildtierschutz
verabschiedet . Sicherlich mussten hier Abstriche gemacht werden, aber Sie wissen: Kompromisse gehören
zum Leben, und Kompromisse gehören auch zum Regieren .
({2})
Am Beispiel der Wildtiere lässt sich übrigens ein
grundsätzliches Problem der Tierschutzpolitik aufzeigen:
Bei den Beratungen mussten wir zur Kenntnis nehmen,
dass sich gerade das von Ihnen angesprochene Verbot
der gewerblichen Tierbörsen, Frau Menz, voraussichtlich nicht verfassungsgemäß umsetzen ließe . Von daher
haben wir in unserem Antrag auch einen Prüfauftrag an
die Bundesregierung formuliert, der genau dieses Verbot
zum Ziel haben soll .
Leider ignorieren Sie, die Grünen, genau diese verfassungsrechtlichen Bedenken auch in Ihrem aktuellen Antrag . Glauben Sie mir: Ich wäre natürlich sofort für ein
solches Verbot, aber es muss vor Gericht Bestand haben .
In dem Wildtier-Antrag wurde ein weiteres wichtiges
Thema ausgeklammert, nämlich das Verbot von Wildtieren im Zirkus . In unserer Fraktion ist die Haltung klar .
Hier blockiert leider immer noch die Union, obwohl jedem, der mit Herz und Verstand bei der Sache ist, eigentlich klar sein müsste, dass Wildtiere nicht artgerecht in
einem Zirkus gehalten werden können .
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich die unterschiedlichen Positionen im Tierschutz auf den Punkt
bringen:
Wir erleben auf der einen Seite eine schwarze Ideologie, die eher blockiert und sich damit auch Verbesserungen in den Weg stellt, und wir erleben auf der anderen
Seite eine grüne Ideologie, die häufig leider über das Ziel
hinausschießt .
({3})
Das sind zwei Haltungen, die sich absolut konträr gegenüberstehen und der Situation in Deutschland nicht
gerecht werden .
Liebe Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die
Grünen, versuchen Sie doch einmal, auf die konventionelle Landwirtschaft zuzugehen und sie mitzunehmen,
anstatt ihr immer nur frontal zu begegnen, und liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, stellen Sie sich
doch bitte endlich den Herausforderungen, und öffnen
Sie sich für eine zukunftsfähige Landwirtschaft .
Die SPD steht für eine Tierschutzpolitik mit dem
Willen zur Verbesserung, aber auch für eine Politik mit
Augenmaß . Wir stehen für Transparenz, und deswegen
ist uns auch ein mehrstufiges staatliches Tierschutzlabel
wichtig . Es wäre ein Instrument für die Landwirte, deren
Tiere gut gehalten werden, um diese guten Haltungsbedingungen zu dokumentieren . Es wäre das Instrument
für die Verbraucher, die auf dieser Grundlage ihre Kaufentscheidung verlässlich treffen können, sodass sie sich
nicht nur am Preis orientieren .
({4})
Genau dieses Label hat Minister Schmidt nun endlich
angekündigt . Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Wir begrüßen
das ausdrücklich . Aber erlauben Sie mir an dieser Stelle
eine kleine Spitze: Wir wollen die Hoffnung nicht aufgeben, dass dieser Ankündigung auch Taten folgen .
({5})
Viele Debatten in der Vergangenheit haben gezeigt,
dass wir zudem eine Novellierung des Tierschutzgesetzes
benötigen . Auch hier hoffe ich weiter auf den Erkenntnisgewinn und den Mut meiner Unionskollegen und seitens
des Ministers .
Einen Punkt möchte ich in diesem Zusammenhang
nennen: die Qualzucht . Meine Damen und Herren, Sie
alle kennen sicherlich die kleinen Hunde, die Möpse, deren Nasen entweder so weit zurückgezüchtet sind, dass
sie kaum noch Luft bekommen, oder deren Augen schon
aus den Augenhöhlen hervortreten . Das ist ein Punkt, an
dem wir dringend etwas tun müssen . Hier bin ich einigermaßen optimistisch, dass wir gemeinsam auch mit unserem Koalitionspartner einen guten Schritt weiterkommen . Liebe Unionskollegen, bitte enttäuschen Sie mich
an dieser Stelle nicht .
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit .
({6})
Vielen Dank . - Als nächster Redner hat Waldemar
Westermayer für die CDU/CSU-Fraktion das Wort .
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute auf
Antrag der Grünen den Tierschutz in Deutschland . Das
ist - so weit sind wir uns wohl alle einig - ein wichtiges
Thema . Keiner will leidende Tiere in Deutschland und in
Europa. Ich bezweifle allerdings, ob Ihr Antrag tatsächlich einen Beitrag dazu leistet, das Tierwohl und die Tiergesundheit in Deutschland zu verbessern .
Sie fordern zum Beispiel ein Verbandsklagerecht für
Tierschutzorganisationen . Davon geht es leider keinem
einzigen Tier besser .
({0})
Dadurch wird nur mehr Bürokratie geschaffen . Die
Landratsämter haben bereits alle Hebel in der Hand, um
Fehlentwicklungen im Tierschutz zu verhindern .
Als Landwirtschaftsmeister habe ich in der Ausbildung Sachkunde erlernt . Ich habe 40 Jahre selbst Rinder
im Allgäu gehalten . Ich weiß also, wovon ich rede . Für
mich war dabei immer wichtig, dass es den Tieren gut
geht und dass sie gesund sind . Meiner Erfahrung nach
hängt der nachhaltige Erfolg eines Betriebs nämlich entscheidend davon ab, dass das Wohl des Tieres gewährleistet ist .
({1})
Das Thema Tierwohl ist dabei hochkomplex . Deswegen bin ich dagegen, die Anbindehaltung bei Rindern
pauschal zu verteufeln . Anbindehaltung mit Weide und/
oder Laufhof kann eine gute Alternative zu Laufställen
sein . Bei mir im Stall hatte jedes Rind seinen Platz oder
war auf der Weide .
({2})
- Ich habe das schon gelesen . - Das gefährdet aus meiner Sicht nicht das Tierwohl . Vielmehr sind die Rinder
froh, ihren eigenen Bereich zu haben und vor dominanten
Tieren geschützt zu sein . Sie müssen auch nicht enthornt
werden: Alle meine Tiere haben noch ihre Hörner .
({3})
Beim Thema Kennzeichnung hingegen bin auch ich
der Auffassung, dass sie durchaus Sinn machen kann .
Mit den QS- und QM-Standards haben wir bereits gute
Erfahrungen gemacht . Klar ist dann aber auch, dass die
Kennzeichnungspflicht nicht nur Produkte aus Deutschland erfassen darf, sondern auch importierte Fleisch- und
Milchprodukte erfassen muss . Ich denke darüber hinaus,
dass wir langfristig ein Umdenken in der Tierzucht sehen
müssen: weg von kurzfristigen Leistungssteigerungen in
der Zucht, hin zu einer konstanten und insgesamt längeren Lebensleistung der Tiere .
({4})
Sie beklagen schließlich einen angeblichen Stillstand
im Bereich Tierschutz . Das ist schlichtweg falsch . Die
Cross-Compliance-Regelungen in der GAP werden fortlaufend verschärft . Viele gute und wichtige Projekte sind
außerdem auf den Weg gebracht worden . Es gibt zahlreiche Forschungsprogramme, welche die Verbesserung des
Tierwohls und der Tierzucht zum Ziel haben . So wurden
seit 2006 in der Bundesrepublik Deutschland 117 Projekte im Bereich der Nutztierhaltung mit über 80 Millionen Euro gefördert, die das Tierwohl und die Tiergesundheit noch weiter verbessern sollen .
Aktuell wird unter anderem die Entwicklung neuer
Tierwohlindikatoren und neuer Haltungssysteme gefördert . Neben diesem wichtigen Forschungsansatz wirken
wir auf der Regelungsebene auf Verbesserungen hin .
Auf europäischer Ebene setzen wir uns für tierspezifische Richtlinien in Bezug auf die Haltung ein, welche
einzelne Besonderheiten bestimmter Gattungen besser
erfassen können . Außerdem wollen wir das europäische
Tierrecht weiterentwickeln, indem wir unter anderem die
Tierschutztransportverordnung und die Richtlinie zum
Tierschutz bei der Schweinehaltung ändern . Dieser ganzheitliche und auf ganz Europa zentrierte Ansatz ist aus
meiner Sicht das einzig Richtige .
Tierschutz darf nicht an der Grenze aufhören . Wir
gelangen nur dann zu wirklichen Verbesserungen, wenn
diese in der gesamten Europäischen Union Bestand haben . Ansonsten schaffen wir Wettbewerbsnachteile für
deutsche Betriebe, die letztlich nur zu einer Verlagerung
der Nahrungsmittelproduktion ins Ausland führen; ich
erinnere nur an das Verbot der Käfighaltung. Das kann
nicht Ziel einer nachhaltigen Tierschutzpolitik sein .
Schließlich müssen die bereits bestehenden Regeln
durchgesetzt werden . Beim Vollzug sind nun einmal vor
allem die Bundesländer, insbesondere die von den Grünen mitregierten, gefordert . Hier darf man es sich nicht
einfach machen und die Verantwortung einseitig auf den
Bund schieben . Das gehört zur Wahrheit dazu .
Abschließend möchte ich noch klar sagen, dass es viele Betriebe gibt, die trotz massiven Preisdrucks hervorragend arbeiten und alle Standards einhalten . Das ist nicht
einfach . Wir sollten unseren Bauern und Bäuerinnen deshalb nicht nur zwei Tage vor dem Erntedankfest danken,
sondern das ganze Jahr anerkennen, mit welch hochwertigen Lebensmitteln sie die Verbraucherinnen und Verbraucher in der Bundesrepublik Deutschland versorgen .
Herzlichen Dank .
({5})
Das Wort hat der Kollege Friedrich Ostendorff für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! „Den Tieren muss es am Ende der
Legislaturperiode besser gehen als heute .“ Das versprach
2014 Minister Schmidt . Nichts, aber auch gar nichts außer großen Ankündigungen ist passiert . Wir debattieren
nicht etwa wegen eines aktionistischen Agrarministers,
sondern trotz eines nichts tuenden Agrarministers, der
jegliche Verantwortung von sich weist und Verbesserungen in der Tierhaltung einzig der Branche überlässt, und
das Ganze immer freiwillig . Unzählige Aufforderungen
vonseiten der Wissenschaft, der Opposition, der Agrarministerkonferenz und der Gesellschaft stehen auf der
Tagesordnung, die Lebensbedingungen für Nutztiere in
Deutschland endlich zu verbessern . Im Koalitionsvertrag
wurde versprochen, deutlich höhere Tierschutzstandards
durchzusetzen . Doch Papier ist bekanntlich geduldig .
Das Ministerium und Sie, Kolleginnen und Kollegen von
der CDU/CSU, verweigern jeglichen Fortschritt und ziehen stattdessen die Mauern der Wagenburg immer höher .
({0})
Wir fragen uns wirklich: Wie lange wollen Sie das noch
fortsetzen?
({1})
Die ganzjährige Anbindehaltung von Rindern, die
Haltung von Sauen in Kastenständen, das Kükenschreddern, die Missstände in der Putenhaltung, das Schlachten
hochträchtiger Tiere, das Amputieren von Gliedmaßen
usw ., die Liste der dringend verbesserungsbedürftigen
Bereiche ließe sich leider noch sehr lange fortsetzen .
Nichts, aber auch gar nichts ist passiert . Noch 2014
hielten Sie es, Herr Minister, für nicht sinnvoll, das Kupieren von Schweineschwänzen zu verbieten, wenn die
Tiere gleichzeitig eng beieinander leben . Da können wir
als Grüne Ihnen nur zustimmen . Das geht in der heute
üblichen Haltung in der Tat nicht; da sind wir gleicher
Meinung . Aber, Herr Minister, das Kupieren der Schweineschwänze muss beendet werden . Das ist die gesellschaftliche Forderung, die Forderung der Menschen, die
kritisch eingestellt sind . Sie von der CDU/CSU können
nicht so weitermachen und 100 Kilogramm schwere
Schweine auf einer Vollspaltenfläche von 0,75 Quadratmeter einsperren . Solange Sie das nicht ändern, werden
immer wieder Bilder wie in der letzten Woche in Panorama zu sehen sein . Das kann Sie doch nicht gleichgültig
lassen . Sie führen doch ein C in Ihrem Parteinamen .
({2})
Empfindsame, fühlende Lebewesen so leiden zu sehen,
nur weil Sie ihnen nicht ein bisschen mehr Platz, ein bisschen mehr Stroh und ein bisschen mehr Auslauf gönnen
wollen - das muss beendet werden .
({3})
Wir Grüne müssen Sie leider immer wieder dazu
zwingen, hier im Bundestag über Tierschutz zu sprechen .
Wir wissen, dass Ihr tierschutzpolitischer Sprecher bei
unseren Anträgen Schnappatmung kriegt, weil er immer
wieder gezwungen ist, zu bekennen, dass im Tierschutz
nichts gemacht wird . Und er muss sich so ausdrücken,
dass das draußen vielleicht noch irgendeiner versteht .
Wir werden Sie - da können Sie gewiss sein - immer
an Ihre Ankündigungen und Versprechen erinnern . Das
werden wir so lange machen, bis Sie endlich beginnen,
Ihre Verantwortung wahrzunehmen, die Bedingungen für
die Tiere zu verbessern und eine zukunftsfähige nationale
Nutztierstrategie für eine artgerechte Tierhaltung vorzulegen . Das ist die Forderung der Zeit .
({4})
Das Wort hat die Kollegin Dr . Karin Thissen für die
SPD-Fraktion .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Ich schon wieder! Für die
Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen
möchte ich kurz erklären, warum ich den Antrag als
solchen eigentlich ganz gut finde, ihn aber trotzdem ablehnen werde: Um den Bundesminister zu unterstützen,
dass es den Tieren am Ende der Legislaturperiode besser
geht als heute, brauchen wir eine handlungswillige CDU/
CSU-Fraktion, keine grünen Anträge .
({0})
Um systemimmanente Probleme zu lösen, brauchen wir
echte Kontrollen und echte Sanktionen von Verstößen
sowie ein Umdenken in der Landwirtschaft und in der
Tierärzteschaft .
({1})
Die SPD blockiert keine Gesetzentwürfe; die SPD
steht bereit .
({2})
- Ja, dann hören Sie zu! - Wenn wir Missstände und
Stillstand beim Tierschutz beenden wollen, dann ist es
wichtig, dass wir die Einhaltung schon bestehender Gesetze kontrollieren und Verstöße dagegen sanktionieren .
Da wäre es zum Beispiel eine sehr gute Möglichkeit,
die Flaschenhalsfunktion Schlachthof zu nutzen . Jedes
landwirtschaftliche Nutztier kommt ja irgendwann zum
Schlachthof . An jedem Schlachthof sind zwei amtliche
Tierärzte: einer an der Schlachtlinie und einer bei der
Anlieferung . Der Tierarzt bei der Anlieferung schaut auf
die Tiere, weil er die Erlaubnis zur Schlachtung erteilen
muss . Nur gesunde Tiere dürfen geschlachtet werden . Er
sieht natürlich, in welchem Zustand die Tiere ankommen .
Aufgrund des Zustandes, den er dokumentiert, kann er
Rückschlüsse ziehen, wie die Tiere gehalten wurden .
Da bestünde eine ganz einfache Möglichkeit, zu dokumentieren und das Dokumentierte an die Behörde weiterzugeben . Gegebenenfalls könnte dann die Tierhaltung
überprüft und könnten Verstöße sanktioniert werden . Das
würde auch kein Geld kosten; denn man müsste nicht extra Strukturen schaffen .
Man könnte sich fragen: Warum wird das nicht schon
genutzt? Meine Redezeit würde nicht reichen, das jetzt
zu erklären . Sie können aber auf meine Homepage gehen . Panorama und WISO haben sich schon im April
dieses Themas angenommen und das in Fernsehbeiträgen gebracht . Ich habe das kommentiert und erklärt . Das
kann man da einsehen .
Ich möchte meine Redezeit nutzen, um mich ganz gezielt an die Tierärzteschaft zu wenden; denn kein anderer
Berufsstand ist aufgrund seiner Ausbildung geeigneter,
sich für Tierschutz einzusetzen und ihn umzusetzen . Immer wenn ich mich über Vollzugsdefizite am Schlachthof - die Themen sind in der Tierärzteschaft bekannt; das
ist ein offenes Geheimnis - öffentlich äußere, bekomme
ich hinterher Briefe, E-Mails und Anrufe aus meinem
Berufsstand . Darunter sind viele, die sagen: Prima, endlich thematisiert es jemand . Weiter so! Das muss aufhören . - Je höher aber die Tierärzte in der Hierarchie stehen - Amtsleiter, aber auch solche, die hohe Posten in
Berufsverbänden oder der Tierärztekammer bekleiden -,
desto mehr kritisieren sie die Tatsache, dass ich das thematisiere . Sie kritisieren nicht die Missstände . Auch werfen sie mir keine Übertreibung vor, sondern sie kritisieren, dass ich es thematisiere . Den Gipfel stellt dann dar,
dass diejenigen, die mit mir noch nicht einmal eine Diskussion führen wollen, mich in öffentlichen Kammerversammlungen diskreditieren und diffamieren . All diesen
honorigen Herren möchte ich an dieser Stelle sagen: Ich
lasse mir den Mund nicht verbieten .
Ich danke Ihnen fürs Zuhören .
({3})
Das Wort hat der Kollege Artur Auernhammer für die
CDU/CSU-Fraktion .
({0})
Verehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Erlauben Sie mir, dass ich zu Beginn der Debatte auch die
Menschen grüße, die für den Tierschutz mitverantwortlich sind, alle Tierhalter in unserem Land, die mit ihrer
täglichen Arbeit dafür sorgen, dass es den Tieren in unserem Land sehr gut geht . Diese Menschen sollen heute
gegrüßt sein .
({0})
Frau Kollegin Menz, wenn Sie mir kurz Ihre Aufmerksamkeit schenken: Es ist in meinem politischen
Umfeld nicht üblich, dass man Sie lobt; aber ich bin Ihnen dankbar für Ihre Ausführungen über die Haltung von
Heimtieren, die Haltung von Tieren, die nicht in unsere
Breitengrade gehören . Darauf sollten wir etwas mehr den
Fokus legen . Viele Tiere in unserem Land werden von
Menschen gehalten, die nicht die Sachkunde haben wie
zum Beispiel eine Bäuerin oder ein Bauer . Darauf müssen wir in Zukunft besser achten .
({1})
In den letzten Tagen ist sehr viel über Tierschutz geredet worden, auch in den Medien . Was ich da teilweise
vermisst habe, waren der nötige Sachverstand und die
nötige Fairness gegenüber den Menschen, die mit den
Tieren arbeiten . Ich denke dabei gerade an unsere Bauernfamilien auf dem Land, die wirklich keine einfache
Zeit haben . Wir haben hier schon über die Milchpreise,
über die Erzeugerpreise diskutiert . Wenn die Bauernfamilien diese Bilder sehen und die Diskussion in der Öffentlichkeit verfolgen, dann machen sie sich Sorgen und
fragen sich: Was passiert mit unserem Berufsstand? Wie
wird mit unserem Berufsstand umgegangen? Warum
werden wir von einzelnen Parteien instrumentalisiert, die
aus unserer Situation politisches Kapital schlagen?
({2})
Die ehrliche Arbeit unserer Bäuerinnen und Bauern
verdient höchste Anerkennung und höchsten Respekt .
Da geht es nicht nur um das Thema Tierschutz . In meiner
Heimat stehen sechs Maishäcksler, Maiserntemaschinen
in den Werkstätten, die von Aktivisten - ich muss sagen:
von kranken Menschen - durch Metallteile dermaßen
demoliert worden sind, dass sie den Fahrer gefährdet haben . Diese Aktivisten haben hohe wirtschaftliche Schäden verursacht . Meine sehr verehrten Damen und Herren,
das sind die Auswüchse von Diskussionen, die wir hier in
diesem Hause teilweise sehr emotional führen .
({3})
Ich möchte sagen: Wir sollten die Emotionen etwas herunterfahren und wieder auf eine sachliche Ebene in der
Diskussion kommen .
({4})
Meine lieben Freunde von den Grünen, ich habe Ihren Antrag gelesen und auch Ihr Lieblingsthema, die
Anbindehaltung, zur Kenntnis genommen . Kollege
Westermayer hat es schon erklärt: Wenn wir einen Blick
auf die deutsche Landwirtschaft werfen, dann stellen wir
fest, dass circa 50 Prozent der bayerischen Milchviehhalter ihre Tiere noch in Anbindehaltung halten .
({5})
Es gibt viele Betriebe im Allgäu und in Oberbayern - ich
habe hier Freunde aus Österreich gesehen, wo das auch
gilt -, wo die Tiere auf die Weide gebracht werden können . Aber wir haben auch Regionen in unserem Land das ist nicht nur in Franken, sondern auch in Mitteldeutschland so -, wo wir enge Dorflagen haben und alte
Betriebsleiter sagen: Ich möchte meine Tiere noch in den
nächsten 10 bis 15 Jahre halten; aber verbietet mir bitte
nicht die Anbindehaltung . Wenn ihr sie verbietet sind,
dann muss ich meinen Betrieb zusperren . - Es sind gerade die kleinbäuerlichen Betriebe, die Sie mit dem Verbot
der Anbindehaltung zur Aufgabe zwingen . Das darf doch
nicht sein .
({6})
Wenn man über Tierschutz redet, dann muss man wissen, dass Tierschutz auch etwas mit der Wertschätzung
für unsere Lebensmittel zu tun hat, für die Wertschätzung
dessen, was wir täglich essen und trinken . Da haben wir
einen Partner, den wir stärker in die Pflicht nehmen müssen . Das ist der Lebensmitteleinzelhandel . Ich begrüße
es, dass die landwirtschaftliche Branche Initiativen gestartet hat, um gemeinsam nach besseren Lösungen zu
suchen . Ich begrüße, dass es vorangeht . Aber ich möchte
auch die deutschen Verbraucher und Verbraucherinnen in
die Pflicht nehmen. Wer glaubt, er könne ein Schweineschnitzel für einen Cent-Betrag im Supermarkt kaufen,
der gibt sein Recht auf, über Tierschutz mitreden zu können . Das muss man ganz klar hier betonen .
({7})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir stehen
wenige Tage vor dem Erntedankfest . Es ist nicht selbstverständlich, dass wir in Deutschland mit so guten, hervorragenden Lebensmitteln versorgt sind . Wir sollten
dieses Erntedankfest nutzen, dankbar zu sein für die politische Arbeit, die hier geleistet wird für unsere Bäuerinnen und Bauern, dankbar zu sein auch für die Arbeit unseres Bundesministers, dankbar zu sein für die angeregte
Diskussion, die wir hier führen, und besonders dankbar
zu sein für die Arbeit unserer Bäuerinnen und Bauern .
Sie haben es wirklich verdient .
Vielen Dank .
({8})
Ich schließe die Aussprache .
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/9798 an den in der Tagesordnung aufgeführten Ausschuss vorgeschlagen . Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall . Dann ist die Überweisung so
beschlossen .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes
zur Änderung des Vereinsgesetzes
Drucksache 18/9758
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Sportausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . - Ich höre keinen Widerspruch . Dann ist so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache . Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Dr . Ole Schröder .
({1})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Kriminelle Rockergruppierungen sind im Bereich der schweren und organisierten Kriminalität tätig .
Die polizeilichen Lagebilder zeigen uns, dass sie Drogen
verkaufen, Bordelle betreiben und Geld waschen . Ein
wirksames Instrument gegen die kriminellen Rockergruppierungen sind Vereinsverbote nach dem Vereinsgesetz . Der Bundesinnenminister und die Landesinnenminister haben eine erhebliche Anzahl von Verboten gegen
verschiedene Rockergruppen ausgesprochen . Dieser
Weg soll auch künftig weiter beschritten werden .
Rockergruppierungen treten in der Öffentlichkeit
aggressiv und bedrohlich auf . Ihr Verhalten wirkt außerordentlich einschüchternd . Das löst bei den Bürgern
zu Recht Ängste und Besorgnisse aus . Es ist dringend
erforderlich, auch gegen die Selbstdarstellung krimineller Rockergruppen vorzugehen . Nahezu alle kriminellen
Rockergruppen tragen die sogenannten Kutten . Die Westen mit den speziellen Aufnähern sind Grundlage ihrer
Gruppenidentität .
Mit der Verschärfung des Vereinsgesetzes wollen wir
gegen diese Selbstdarstellung krimineller Rockergruppen
vorgehen . Mit dem Tragen von Kennzeichen verbotener
Vereinigungen zeigt man öffentlich, dass man mit diesen
Gruppen sympathisiert . Das Tragen ihrer Kennzeichen
ist immer auch eine Art Werbung für diese kriminellen
Gruppen . Wir verbieten also auch eine Form der Sympathiewerbung .
Der Gesetzentwurf sieht vor, dass Kennzeichen verbotener Vereinigungen von anderen Gruppierungen im
Bundesgebiet nicht mehr genutzt werden dürfen . Gleiches gilt für solche Kennzeichen, die mit denen bereits
verbotener Vereine im Zusammenhang stehen . Das entspricht dem Auftrag aus dem Koalitionsvertrag . Mit der
Verschärfung des Kennzeichenverbots ist gleichzeitig
eine Strafschärfung verbunden . Außerdem wird eine
Strafbarkeitslücke geschlossen . Der Bundesgerichtshof
hatte diese mit Blick auf das Verbot, Rockerkutten zu tragen, festgestellt . Um unsere Ziele zu erreichen, werden
wir folgende Änderungen im Vereinsgesetz vornehmen:
Erstens . Das Kennzeichenverbot wird so ausgestaltet,
dass die Polizei anhand objektiver Kriterien feststellen
kann, ob ein Kennzeichen „in im Wesentlichen gleicher Form“ verwendet wird . Dazu wird das subjektive
Merkmal des „Teilens der Zielrichtung“ des verbotenen
Vereins gestrichen . Zusätzlich wird erläutert, wann ein
Kennzeichen „in im Wesentlichen gleicher Form“ verwendet wird .
Zweitens . Das Verwenden von Kennzeichen verbotener Vereine wird explizit unter Strafe gestellt .
Die Polizeien in Bund und Ländern können damit
künftig bundesweit einheitlich vorgehen . So wird insbesondere die sogenannte Kutte leichter beschlagnahmt
werden können . Außerdem kann eine Freiheitsstrafe von
bis zu einem Jahr oder eine Geldstrafe verhängt werden .
Abschließend möchte ich noch zwei Aspekte betonen:
Es handelt sich hier erstens nicht um eine Lex Rocker .
Das Kennzeichnungsverbot gilt selbstverständlich auch
für alle verbotenen terroristischen und extremistischen
Vereinigungen . Die Bundesregierung ist sich zweitens
bewusst, dass es sich hier nur um eine punktuelle Änderung des Vereinsgesetzes handelt . Wir verschließen uns
damit nicht der Bitte des Bundesrats, das öffentliche Vereinsrecht auf weitere Bedürfnisse der Praxis zu prüfen
und gegebenenfalls zügig fortzuentwickeln .
Vielen Dank .
({0})
Das Wort hat die Kollegin Ulla Jelpke für die Fraktion
Die Linke .
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der
Tat stehen manche Motorradklubs heute leider nicht
nur für die Freiheit auf zwei Rädern oder für die EasyRider-Romantik . Einige bekannte international agierende Rockerklubs dienen auch als Deckmantel für die
organisierte Kriminalität . Ein Teil ihrer Mitglieder sind
in Schutzgelderpressung, Drogenhandel, Zuhälterei, ja
sogar in Menschenhandel verstrickt . Immer wieder gibt
es Tote bei Bandenkämpfen . Deswegen ist die Linke sehr
dafür, diesem Teil der Rockerszene den Kampf anzusagen .
({0})
Doch Verbote von Symbolen oder Kennzeichen greifen
oft ins Leere,
({1})
weil die kriminellen Rocker sich schnell unter anderem
Namen neu formieren und sich einfach die Kutte eines
Nachbarklubs überstreifen . Notwendig und legitim wäre
es, gegen einen Rockerklub, wenn er denn als Deckmantel für schwere Kriminalität dient, mit den Mitteln des
Straf- und Vereinsrechts vorzugehen .
Die Bundesregierung aber will es sich einfach machen . Sie will selbst dann, wenn nur eine einzelne Ortsgruppe eines Vereins verboten wird, deren Symbole
gleich bundesweit für alle Mitglieder unter Strafe stellen .
Das ist eine völlig unverhältnismäßige Maßnahme, die
noch dazu mit dem föderalen Prinzip meines Erachtens
nicht vereinbar zu sein scheint .
({2})
Es geht hier nicht nur um kriminelle Rockergruppierungen, wie uns der Gesetzestext fälschlicherweise suggeriert; denn diese werden nur als ein Beispiel genannt .
Man muss sagen, dass eigentlich jedes Mal, wenn wir
über Gesetzesverschärfungen im Bereich der inneren
Sicherheit diskutieren, eine Gruppierung als Begründung angeführt wird . Wir sind uns hier aber sicherlich
alle einig, dass Nazis, Dschihadisten, Kinderpornoringe
und natürlich auch kriminelle Rocker bekämpft werden
müssen . Doch in der Praxis trifft eine Gesetzesverschärfung jedes Mal auch ganz andere Gruppierungen als die
ursprünglich zur Rechtfertigung der Verschärfung angeführten . Nehmen wir einmal an, eine Hooligan- oder
Ultragruppe wird verboten, weil sie regelmäßig Gewalttaten verübt . Sollen nun auch andere, friedliche Fangruppen von Fußballvereinen in Sippenhaft genommen
werden, nur weil sie die gleichen Logos und Farben wie
die verbotene Ultragruppe verwenden? Auch einige Beispiele aus dem politischen Bereich, von links bis rechts,
würden mir hier einfallen . Diese Unbestimmtheit des
Gesetzes eröffnet der Behördenwillkür einmal mehr Tür
und Tor, und deswegen können wir diesem Gesetz nicht
zustimmen .
Meine Damen und Herren, seien wir mal realistisch!
Kriminelle Rockerbanden werden ihre Straftaten doch
nicht deswegen einstellen, weil sie ihre Kutte nicht mehr
tragen dürfen . Soweit sie überhaupt eines äußeren Erkennungszeichens bedürfen, werden sie auf unverfängliche
Symbole ausweichen . Die meisten Verbrecher agieren
gänzlich ohne verräterische äußere Kennzeichnung, da
diese einer kriminellen Aktivität ja in der Regel eher abträglich erscheint .
Der Kern des Problems mit den kriminellen Rockerbanden ist ein anderer . Es ist ein offenes Geheimnis, dass
manche der in organisierte Kriminalität verwickelten Rockergruppen gute Kontakte zur Politik, zur Polizei, aber
auch zum Justizapparat pflegen. Ich nenne hier nur als
Beispiel Hannover; aus zeitlichen Gründen kann ich das
leider nicht ausführen . Ermittlungen gegen diese Banden
verlaufen also oft im Sande, weil diese zum Beispiel von
der Polizei vor einer Razzia gewarnt worden sind . Ich
finde, diesen Saustall muss man ausmisten. Man muss
etwas Vernünftiges tun, damit das nicht mehr passiert .
Doch dazu braucht es den nötigen politischen Willen,
und den vermissen wir hier .
Dieser Gesetzentwurf ist zum einen untauglich, weil er
sich auf Symbolpolitik beschränkt . Zum anderen schießt
er über das Ziel hinaus, weil durch das großzügige Verbot von Vereinswappen und Ähnlichem auch viele Unschuldige betroffen sind . Insofern denken wir, dass wir
noch einmal im Ausschuss darüber beraten sollten . Es ist
jedenfalls keine effektive Bekämpfung von organisierter
Kriminalität, wenn man Symbole bekämpft .
Danke .
({3})
Das Wort hat der Kollege Uli Grötsch für die
SPD-Fraktion .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Manchmal merkt man geradezu, dass es mit den objektiven Argumenten eng wird, wenn es darum geht, einen
Antrag der Regierungskoalition abzulehnen .
({0})
Ich will nicht verhehlen, dass uns das manchmal andersherum genauso geht, liebe Kollegin Ulla Jelpke . Aber bei
diesem Gesetzentwurf geht es ja nicht um eine Gruppe,
sondern um ein Phänomen, auf das ich im Folgenden eingehen will .
Es geht hier um die Hells Angels, die Bandidos, die
Outlaws, die Mongols . Bei diesen Rockergruppierungen
geht es doch nicht mehr ums Motorradfahren, um Tattoos
oder Machotum, sondern um organisierte Kriminalität .
Es geht um Drogengeschäfte, um Schutzgelderpressung
und um Menschenhandel . Weil die Mitgliedschaft in so
einer Rockergruppe offenbar so lukrativ ist, gründen die
besagten Rockerklubs immer neue Ortsvereine, sogenannte Chapter oder Charter, die mancherorts wie Pilze
aus dem Boden schießen . Bundesweit gibt es inzwischen
mehr als 9 300 solcher Rocker in mehr als 600 örtlichen
Chaptern . Diesen Kriminellen sagen wir mit diesem Gesetz den Kampf an, liebe Kolleginnen und Kollegen .
({1})
Auch wenn das auf den ersten Blick etwas ambitioniert klingen mag: Mit diesem Gesetz werden wir einen
wesentlichen Beitrag dazu leisten, diesen Strukturen
das Handwerk zu legen . Wir beraten heute in erster Lesung eine notwendige Anpassung, eine Verschärfung des
Vereinsgesetzes . Bislang ist es so, dass zwar einzelne
Ortsvereine verboten wurden, die Rockerklubs aber das
generelle Vereinssymbol mit einer anderen Ortsbezeichnung weiterverwenden konnten . Letztes Jahr musste der
Bundesgerichtshof in einem einschlägigen, die Rockergruppierung Bandidos betreffenden Fall entscheiden,
dass das Tragen einer Kutte mit den von allen Chaptern
der Bandidos benutzten Kennzeichen, nämlich dem Wort
„Bandidos“ und dem sogenannten Fat Mexican, zusammen mit dem Ortszusatz eines nicht verbotenen Chapters
nach derzeitiger Rechtslage nicht strafbar ist .
Wenn wir dieses Gesetz verabschieden, wird es so etwas in Zukunft nicht mehr geben .
({2})
Kennzeichen verbotener Vereinigungen können dann
nicht mehr von anderen Gruppierungen im Bundesgebiet
genutzt werden . Verbotene Chapter können dann nicht
im nächsten Ort einen neuen Ortsverein gründen, um das
Vereinsverbot zu umgehen . Das könnte im besten Fall
das Ende des Mythos um Hells Angels oder Bandidos
bedeuten, weil sie dann kein gemeinsames, öffentlich
sichtbares, verbindendes Vereinssymbol mehr haben,
liebe Kolleginnen und Kollegen . Das vereinfacht auch
die Arbeit der Polizeien, die künftig ganz einfach und
objektiv feststellen können, ob ein Verein ein Kennzeichen in im Wesentlichen gleicher Form verwendet wie
ein verbotener Schwesterverein . Damit zeigen wir: Wir
lassen uns nicht auf der Nase herumtanzen, wenn es um
verbrecherische Parallelstrukturen im Rockermilieu oder
gar um verfassungsfeindliche Tendenzen geht .
({3})
Apropos verfassungsfeindlich: Was mir nicht zuletzt
Sorgen im Zusammenhang mit dem Rockermilieu macht,
ist seine Verflechtung mit der rechtsextremen Szene.
Nach Erkenntnissen des Bundeskriminalamtes und des
Bundesamtes für Verfassungsschutz gibt es zunehmend
Neonazis in den Rockerklubs . Über 500 einschlägig
bekannte Neonazis gehören zu Rockergruppen wie den
Hells Angels oder dem Gremium MC, aber auch zu den
Bandidos und den Outlaws MC. Neonazikonzerte finden
in den Klubhäusern der Rocker statt, die dann teilweise
noch von Rockern als Securities bewacht werden .
Während es vor einigen Jahren noch hieß, dass kein
Rockerklub in Gänze als rechtsextrem gelte, weil Rockerklubs ja per Satzung unpolitisch seien, zeigt uns
etwa der Fall des inzwischen verbotenen Rockerklubs
Schwarze Schar MC Wismar aus Mecklenburg-Vorpommern das Gegenteil . Hier haben einschlägige Neonazis
den Klub gegründet, um ihre kriminellen Machenschaften zu organisieren . Beim Gremium MC sind auch bereits
Durchmischungen mit Nazis bekannt geworden; zumindest haben sie Ordnerpersonal für ein Neonazikonzert in
Thüringen gestellt .
Diese Verflechtung - leider ganz speziell in den ostdeutschen Bundesländern, aber natürlich auch anderswo
in Deutschland - halte ich für hochgradig besorgniserregend .
Ich komme zum Schluss . Ich bin froh, dass der Bundesrat uns bei unserem Anliegen, das Vereinsgesetz zu
verschärfen, unterstützt, Ich bitte auch die Oppositionsparteien, hier im Sinne der Sache mit uns gemeinsam diese Erweiterung des Kennzeichenverbots zu tragen .
Vielen Dank .
({4})
Das Wort hat die Kollegin Irene Mihalic für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Sie haben es vorhin schon angesprochen: Wir beraten zwar jetzt das Vereinsgesetz, aber
im Kern geht es natürlich um organisierte Kriminalität .
Denn wenn kriminelle Organisationen in vereinsrechtlichen Strukturen aufgehen, dann liegt natürlich im Vereinsrecht ein möglicher Hebel, um anzusetzen .
Rauschgiftkriminalität, Menschenhandel, Schutzgelderpressung durch sogenannte Rockerbanden sind
Formen schwerster Kriminalität, die wir auf jeden Fall
ernst nehmen müssen . Ihre Verbrechen und ihre Strukturen sind in jedem Fall auch der organisierten Kriminalität zuzurechnen . Ich glaube, es ist unbestritten, wenn ich
sage, dass wir es hier wirklich mit großen Herausforderungen für die Polizeien in Bund und Ländern zu tun haben . Wir müssen auch davon ausgehen, dass sich dieses
Problem weiter sehr dynamisch entwickeln wird . Deswegen ist es natürlich richtig, dass sich der Rechtsstaat
auf solche Entwicklungen einstellt . Dazu gehört auch die
Frage, wie solche Rockerbanden als Vereine verboten
werden können .
({0})
Deswegen finde ich den Hinweis des Bundesrates
richtig, dass auf jeden Fall geklärt werden muss, welche
Behörde im Einzelfall für ein Vereinsverbot zuständig
ist . Dasselbe gilt natürlich auch für das Verbot, Kennzeichen eines verbotenen Vereins öffentlich zu tragen .
Auch darum geht es in dieser Debatte; denn die bisherige
Regelung hat nicht in jedem Fall dazu geführt, dass verbotene Kennzeichen, wie zum Beispiel die Kutten von
Rockerbanden, nicht mehr getragen werden durften .
Nur darf man sich natürlich auch nichts vormachen:
Auch wenn Rockerbanden oder solche Vereine verboten
werden und das Tragen solcher Abzeichen künftig umfassender verboten werden kann, heißt das nicht, dass
solche Banden dann nicht mehr da sind .
({1})
Natürlich können wir es nicht hinnehmen, dass Mitglieder von Rockerbanden oder entsprechender Vereinigungen durch ihr Auftreten mit solchen Abzeichen und Symbolen, mit ihren Kutten in der Öffentlichkeit Angst und
Schrecken verbreiten . Schließlich ist es nicht zuletzt eine
Lehre aus der deutschen Geschichte, dass wir einschüchternde Uniformierungen und Abzeichen ernst nehmen
und aufs Schärfste ablehnen .
({2})
Wir müssen uns - darauf habe ich vorhin schon hingewiesen - auf jeden Fall darüber im Klaren sein, dass die
Gefahren, die von solchen Gruppen und ihren Mitgliedern ausgehen, durch das vorliegende Gesetz leider nicht
geringer werden . Deswegen liegt in einem möglichen Erfolg eines Verbotes solcher Abzeichen vielleicht auch die
größte Gefahr: nämlich dass wir, weil wir sie nicht mehr
sehen können, vergessen, dass sie da sind . Diese Gefahr
scheint mir nicht allzu klein zu sein, wenn man bedenkt,
wie lange es gedauert hat, bis der Rechtsterrorismus als
das erkannt wurde, was er ist, und wie groß die Zahl der
Opfer ist . Wir alle wissen, wie viel Kraft der Kampf gegen die Verdrängung dieser schlimmen Wahrheit braucht
und welche Aufklärungsdefizite und Wissenslücken
damit bis heute verbunden sind . Denn viele Menschen
glauben, nur weil sie keine Männer mehr mit Glatzen
und Springerstiefeln auf den Straßen sehen, dass es kaum
noch Neonazis gibt . Aber das ist ein Trugschluss .
({3})
Auch im Bereich der organisierten Kriminalität bestehen sehr große Wissenslücken . Ich persönlich habe
den Eindruck, dass diesem Thema nicht genug Aufmerksamkeit gewidmet wird bzw . dass wir uns damit nicht
ernsthaft genug auseinandersetzen . Wir müssen meines
Erachtens dringend die nötigen Rahmenbedingungen
schaffen, damit dieser wichtige Teil der Polizeiarbeit entsprechend gestärkt wird .
({4})
Kollege Grötsch, Sie haben darauf hingewiesen: Eigentlich wissen wir noch viel zu wenig über Interaktionen zwischen Rockerbanden und der international
organisierten Kriminalität oder der rechten Szene . Das
ist ja auch eine Frage, mit der wir uns im NSU-Untersuchungsausschuss auseinandersetzen: Welche Bezüge gibt
es eigentlich? Das könnte zum Beispiel auch den illegalen Waffenhandel betreffen .
Es gibt viele offene Fragen in diesem Bereich, zum
Beispiel die Frage: Rüsten Rockerbanden auf? Gibt es
Verbindungen in andere Szenen hinein? Wie sind eigentlich die internationalen Zusammenhänge? Gibt es
Überschneidungen mit rechtsextremistischen Strukturen? Es wäre gut, wenn die Bundesregierung, wenn das
Bundesinnenministerium die Öffentlichkeit und uns hier
im Parlament über solche Entwicklungen umfassender
informieren würde, damit wir sehen, welche Handlungsbedarfe es über Symbolverbote hinaus noch gibt .
Herzlichen Dank .
({5})
Das Wort hat der Kollege Oswin Veith für die CDU/
CSU-Fraktion .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn wir heute schon über Vereine sprechen, dann will
ich ein bisschen ausholen und damit beginnen, dass wir
Deutsche, und zwar nicht nur bei unseren europäischen
Nachbarn, durchaus als Vereinsmeier gelten . Rein statistisch gesehen ist jeder Deutsche in mindestens einem
Verein, so auch viele von uns, ich auch .
Wir wissen, wie es mit der Entstehung der Vereine
losging . In der frühen ersten Hälfte des 19 . Jahrhunderts
gab es aufgrund der bürgerlichen Bewegungen die ersten
Vereinsgründungen .
Hier möchte ich einen kleinen eigenen Werbeblock
einschieben . Neun Jahre lang hatte ich die Ehre, Bürgermeister der Hessentagsstadt Butzbach sein zu dürfen, einer Stadt mit damals 204 Vereinen . Die erste Vereinsgründung gab es bei uns 1839 . Die Stadt Butzbach
ist die Stadt von Dr . Friedrich Ludwig Weidig, einem der
engsten Weggefährten von Georg Büchner . Zusammen
verfassten sie den Hessischen Landboten mit dem Aufruf: „Friede den Hütten! Krieg den Palästen!“ Beide sind
1837 gestorben, Weidig in der Haftanstalt in Darmstadt .
Allein über das Thema Vormärz und die Demokratiebestrebungen könnte man abendfüllend reden .
Über Vereine wie Gesangsvereine, Sportvereine,
Turnvereine und Musikvereine reden wir jedoch nicht .
Verfassungsrechtlich ist das, worüber wir heute reden, in
Artikel 9 unseres Grundgesetzes freilich besonders geschützt . Die restlichen Regelungen, was unsere Vereine
betrifft, stehen alle im Bürgerlichen Gesetzbuch .
Das Vereinsgesetz, über das wir heute reden, ist dafür
gedacht, die Voraussetzungen zu schaffen, um bestimmte
Vereine verbieten zu können . Gelten Vereine zwar gemeinhin als friedliche Freizeitbetätigung, so sind manche Gruppierungen trotz vorhandener Vereinsstrukturen
jedoch als gefährlich einzuordnen; wir haben es gerade
ausführlich gehört .
Wird ein Verein begründbar verboten, gilt dies auch
für die öffentliche Zurschaustellung der Vereinskennzeichen . Mitglieder eines Vereins bringen oft und aus
Überzeugung ihre Zugehörigkeit mittels Kennzeichen
in Form von bestimmten Vereinsfarben, Symbolen und
Vereinskleidung zum Ausdruck . Man bekennt sich öffentlich zu einem Verein und zu dessen Werten . Handelt es sich um etwas Harmloses wie einen Sport-, Gesangs- oder Musikverein, ist dies auch völlig legitim und
in Ordnung . Meist dient das Tragen von Vereinsfarben
und -kleidung auch der Mitgliederwerbung . Was ist aber,
wenn bestimmte Vereinssymbole und Kleidungsstücke
mit Werten und Strukturen in Verbindung gebracht werden, hinter denen manchmal erhebliche kriminelle Energie steckt?
2014 hatte Nordrhein-Westfalen daher das öffentliche
Zeigen von Rockersymbolen vielerorts untersagt . Mitglieder von Rockergruppierungen werden mit Gewalt,
Straftaten und rechtsstaatswidrigem Verhalten in Verbindung gebracht . Das damals erlassene Verbot umfasste
nicht nur das Zeigen bereits verbotener Abzeichen, untersagt wurde auch das Tragen von Emblemen mit Bezug
auf sogenannte Schwestervereine, also Teilgruppen, die
an einem Ort bereits verboten waren .
Mit dem Hinweis, dass dieses umfassende Verbot
nicht mit der derzeitigen Rechtslage in Einklang zu bringen war, hatte der Bundesgerichtshof diesem Verbot eine
deutliche Absage erteilt . Um nun auch dem sympathiebekennenden Tragen von bestimmten Vereinszeichen einen
Riegel vorzuschieben, verschärfen wir im Vereinsgesetz
den § 9 zum sogenannten Kennzeichenverbot und passen
ebenfalls die entsprechende Strafvorschrift in § 20 an .
Natürlich ist nicht jede Vereinigung von Menschen,
die sich dem Motorradfahren verschreiben, eine Verbindung von Kriminellen . Wird aber gegen bestimmte Gruppierungen ein Verbot erlassen, eben weil sie kriminelle
Strukturen aufweisen, dann muss auch die Zurschaustellung von Symbolen und Kleidungsstücken, die diese
kriminellen Vereinigungen verherrlichen, unterbunden
werden . Menschen, die die freiheitliche Grundordnung
unseres Landes offensichtlich ablehnen, auch wenn sie
sich in Form eines Vereins zusammentun, dürfen ihre
Vereinszeichen und die ihrer Schwestervereinigungen,
die auch nichts Besseres im Schilde führen, nicht ungestraft zur Schau stellen . Das wollen wir nicht, und deshalb wollen wir es heute verbieten .
({0})
Klar ist, dass man nicht alles verbieten kann, was man
nicht mag - um den Bundesinnenminister an dieser Stelle ebenfalls zu zitieren . Aber bei organisierter Kriminalität hört für mich und für uns der Spaß auf . Organisierte
Kriminelle sind eine Bedrohung für die innere Sicherheit
unseres Landes .
Genauso wie wir unser Land vor Gefahren für die innere Sicherheit von außerhalb, wie Terrorgefahr, schützen, schützen wir unser Land vor den Gefahren, die vom
Inneren ausgehen . Gerade im Bereich innerer Sicherheit
haben wir vieles vorangebracht . Ein großer Teil dieser
Maßnahmen geht auf die Initiative der Union zurück . So
sind die heutigen Änderungen im Vereinsgesetz zwar nur
ein kleiner Schritt; aber wir meinen, er ist völlig richtig,
um den kriminellen Strukturen das Wasser abzugraben
und klar für unsere freiheitlichen und rechtsstaatlichen
Werte einzustehen . Deshalb würde ich mir wünschen,
dass dieser Ansatz, dieses Gesetz eine breite Basis findet.
Danke schön .
({1})
Das Wort hat die Kollegin Susanne Mittag für die
SPD-Fraktion .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wenn man sich die Liste der verbotenen Motorradklubs der vergangenen Jahre ansieht, dann fühlt
man sich leicht an den Geografieunterricht erinnert. Hier
nur ein kleiner Auszug: 2012 Hells Angels MC Cologne,
2012 Hells Angels MC Berlin City, 2013 Hells Angels
Bremen, 2016 Hells Angels MC Bonn . Es ginge beliebig
so weiter . In den vergangenen 15 Jahren haben Landesinnenminister insgesamt zwölf sogenannte Charter der
Hells Angels verboten . Und das sind nur die Fälle der
Hells Angels . Es gibt noch ein paar andere; Bandidos,
Gremium MC, Mongols MC, Satudarah MC habe ich
noch nicht einmal erwähnt . Da gibt es jede Menge .
Was auffällt, ist, dass der anscheinend größte Unterschied zwischen den nun verbotenen Gruppierungen allenfalls der angehängte Ort ist . Ansonsten sind sie sich
ähnlich . Aber Hells Angels nennen sich viele; die Strukturen sind identisch . Genau das ist das Problem, dem
wir mit dem nun vorliegenden Entwurf eines Zweiten
Gesetzes zur Änderung des Vereinsgesetzes begegnen
wollen . Bisher musste gemäß höchstrichterlicher Rechtsprechung die Polizei im Bund und in den Ländern nachweisen, dass zum Beispiel die Bonner Hells Angels die
gleiche Zielrichtung verfolgten wie die Rocker des bereits verbotenen Hells-Angels-Charter in Berlin . Das war
für die Behörden äußerst schwierig und für die Rocker
äußerst günstig .
Wir dürfen uns hier nicht von den Namen der Motorradklubs täuschen lassen . Das hat nichts mit Freiheit
und Abenteuer zu tun . Das sind einfach nur knallharte
Strukturen der organisierten Kriminalität . Ob Rotlicht,
Drogen, Waffen oder Schutzgeld - es ist schon erwähnt
worden -, überall sind diese kriminellen Vereinigungen
dabei, und das seit Jahrzehnten . Einige der Mitglieder
der angeblichen Motorradklubs haben nicht einmal einen
Führerschein oder ein Motorrad - aber das nur nebenbei .
Das macht sie nicht weniger gefährlich, zeigt aber deutlich auf, dass das Motorradfahren nicht im Fokus dieser
vermeintlichen Vereine steht . Das angeblich so coole
Image, das diesen Vereinen oft in der Öffentlichkeit zugeschrieben wird, trifft nicht einmal ansatzweise zu .
Im Jahr 2015 hat Innenminister de Maizière dem
aus den Niederlanden stammenden Satudarah MC jede
Tätigkeit in Deutschland untersagt und die deutschen
Teilorganisationen des Vereins komplett verboten . Das
war das erste Mal, dass ein Rockerklub als Ganzes in
Deutschland verboten wurde . Das war ein sehr guter und
wichtiger Schritt; denn Satudarah agierte nicht im luftleeren Raum, sondern versuchte ganz massiv, andere Reviere zu übernehmen . Daraus resultierten zum Teil sehr
gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen den rivalisierenden Gruppen, teilweise mit Todesfällen, aber das
ist auch bei anderen Rockergruppen der Fall .
Die Leidtragenden - das möchte ich noch einmal erwähnen - sind oftmals die Polizisten, die zu diesen Auseinandersetzungen gerufen werden und sich dann dazwischenwerfen dürfen . Das führt oftmals zu sehr schwer
Verletzten . Aber auch unbeteiligte Menschen, die zufällig getroffen werden, und Menschen im Umfeld dieser
angeblichen Vereine, die das kriminelle Verhalten ertragen müssen, gehören zu den Leidtragenden . Das wird
völlig unterschätzt . Das wollen wir nicht mehr .
Wir nehmen gerne die Anregungen des Bundesrates
in unsere Beratungen auf . Wir werden prüfen, inwieweit
wir den Gesetzentwurf mit Blick auf den Fall, dass ein
Verein in Organisation und Tätigkeit über Bundesländergrenzen hinaus in Erscheinung tritt, noch konkreter
ausgestalten können .
Auch wenn Verbote dieser Klubs nach Vereinsrecht
wichtig und richtig sind, lösen sie natürlich nur die wahrnehmbaren Probleme . Man sieht den Schutzgelderpressern, Türstehern und Waffenschiebern dann natürlich
nicht mehr an, dass sie von einem bestimmten Rockerverein kommen. Die Machtdemonstration findet dann
nicht länger derart öffentlich statt, aber die Kriminellen
verschwinden natürlich nicht einfach und ihre Netzwerke
lösen sich auch nicht automatisch auf . Straftaten werden
weiter begangen - das wissen wir -, aber eben nicht in
Kutte, sondern in normaler Kleidung . Ein Allheilmittel ist das Verbot nicht, aber ein wichtiger und richtiger
Schritt zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität .
Da muss es mehrere Maßnahmen geben .
Gerade die Zahl der Straftaten in diesem Deliktsfeld
der organisierten Kriminalität steigt seit Jahren an . Es ist
richtig, dass wir die Sicherheitsbehörden im vergangenen
Jahr mit einem deutlichen Stellenaufwuchs zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus versehen haben .
Wir haben Bundespolizei, BKA und die Nachrichtendienste gestärkt und werden das auch im Haushalt für das
kommende Jahr tun . Leider bleibt dabei die Bekämpfung
der organisierten Kriminalität immer ein klein wenig auf
der Strecke, vor allem die Bekämpfung der sogenannten
Alltags-OK, die es schon seit Jahren gibt . Dabei geht
es um genau die Kriminalitätsfelder, in denen die Rockergruppen Straftaten begehen . Ich wünsche mir - das
hat die Bundestagsfraktion der SPD im Innenausschuss
schon sehr deutlich gesagt -, dass wir die Zahl der Stellen im BKA zur Bekämpfung dieser Alltags-OK endlich
deutlich anheben .
({0})
- Das ist nett . - Die Koordinierungsstelle OK braucht
mehr Personal- und Sachmittel . Das muss ein ganz massiver Aufwuchs sein . Ich hoffe auf die Unterstützung .
Wir müssen und wollen das BKA in seiner Koordinierungsfunktion stärken, um in Zusammenarbeit mit den
Ländern, die wir dann unterstützen können, gegen diese
kriminellen Strukturen vorzugehen . Nur so schaffen wir
es zum Beispiel in Flensburg, Kiel, Köln, Berlin, Bremen, Frankfurt, Bonn und sehr vielen anderen Städten
in Deutschland, der organisierten Kriminalität entgegenzutreten .
Herzlichen Dank .
({1})
Die Kollegin Andrea Lindholz hat für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir beraten heute eine kleine, aber weitreichende Änderung im Vereinsgesetz . Die Bundesregierung will mit
dem Gesetzentwurf das Kennzeichenverbot in § 9 des
Vereinsgesetzes praxistauglicher ausgestalten und eine
Schwachstelle in unserem Vereinsgesetz beheben . Die
Polizei soll damit gleichzeitig ein neues Instrument für
den Kampf gegen die organisierte Kriminalität erhalten .
Ein Verein kann verboten werden, wenn ihm eine
schwerwiegende Gefährdung der Allgemeinheit und entsprechende Straftaten nachgewiesen wurden . Mit dem
Verbot wird dann auch das Tragen des Abzeichens dieses
Vereins strafbar . Wenn der verbotene Verein allerdings
lediglich eine Ortsgruppe einer größeren Dachorganisation ist, dann gilt das nicht gleichermaßen auch für die gesamte Organisation, und auch das Tragen gemeinsamer
Abzeichen - das sind zum Beispiel Fahnen, Uniformstücke und andere Abzeichen dieses Dachverbandes - ist
dann nach geltendem Recht nicht strafbar, auch dann
nicht, wenn mehrere Unterorganisationen als kriminelle
Vereinigung verboten wurden . Der Koalitionsvertrag sah
daher bereits eine Änderung in diesem Bereich vor, und
der Bundesgerichtshof hat auch erst im Juli letzten Jahres
auf diese Strafbarkeitslücke hingewiesen . Es ging dabei
um das Tragen von Rockerkutten, die verschiedene Ortsbezeichnungen, aber das gleiche Kennzeichen hatten .
Diese Lücke wollen wir jetzt schließen . Dies ist sicherlich kein Allheilmittel, aber es ist absolut richtig,
es ist wichtig und ein weiterer Beitrag im Kampf gegen
organisierte Kriminalität . Das Vereinsgesetz soll künftig
objektive und klar definierte Kriterien enthalten, anhand
derer die Polizei feststellen kann, ob ein im Wesentlichen gleiches Kennzeichen verwendet wird, das bereits
verboten wurde . Subjektive Merkmale wie die Auslegung, ob es vielleicht die gleiche Zielrichtung ist, werden gestrichen - subjektive Merkmale sind in der Regel
auch wenig praxistauglich -, sodass diese Änderung ein
wichtiges Instrument für unsere Behörden ist . Die entsprechende Strafnorm in § 20 des Vereinsgesetzes soll
angepasst werden, indem sie ausdrücklich auf das Kennzeichenverbot in § 9 des Vereinsgesetzes verweist .
Warum brauchen wir diese Verschärfung? Sie kann
vor allem im Kampf gegen Rockergruppen helfen . Sie
nennen sich selbst verharmlosend „Motorradclub“; tatsächlich sind es aber Klubs, die für schwerste Verbrechen
wie Drogen- und Menschenhandel, für Erpressung und
brutale Gewalttaten bis hin zu Mord verantwortlich sind .
8,4 Prozent aller Verfahren im Zusammenhang mit der
organisierten Kriminalität in Deutschland entfallen auf
diese Gruppierungen . Das Bundeskriminalamt hat in seinem letzten Lagebild zur organisierten Kriminalität auch
von einem deutlichen Anstieg der Verfahren gegen diese
Rockergruppierungen berichtet .
Trotz Verboten werden ständig neue Ortsgruppen
gegründet . Zuletzt war die Presse auch wieder voll von
Gewaltexzessen in diesem Rockermilieu . Die Mitglieder glauben, dass sie sich in ihrer Gemeinschaft vor dem
Gesetz verstecken können . Mit dem Kennzeichenverbot,
mit der Verschärfung im Vereinsgesetz, können wir dem
zumindest ein Stück weit entgegenwirken . Sie haben es
gesagt, Frau Kollegin Mihalic: Deshalb sind sie nicht
gleich von der Bildfläche verschwunden. Aber ich halte
es für ein wichtiges Zeichen, auch seitens des Rechtsstaats, dass man dieses gemeinsame Kennzeichen in diesen schweren Fällen der organisierten Kriminalität auch
für alle, die damit irgendwo im Zusammenhang stehen,
verbieten sollte . Ich halte das für den richtigen Schritt .
Liebe Frau Kollegin Jelpke, nicht nachvollziehen kann
ich, wie man dem nicht zustimmen kann und das Ganze
mit Fußballvereinen vergleicht . Es geht hier um das Tragen eines gemeinsamen Kennzeichens, eines bestimmten
Symbols, das auch für organisierte Kriminalität steht, für
schwerste Verbrechen, die dort begangen worden sind .
Ich kann deshalb nicht nachvollziehen, wie man einer
solchen Änderung nicht zustimmen kann .
Unsere Polizei steht heute vor großen Herausforderungen . Islamistische Terroristen, gewaltbereiter Linksund Rechtsextremismus und organisierte Kriminalität,
die wir allesamt mit ganzem Einsatz verhindern und bekämpfen müssen, fordern von unserer Polizei Höchstleistungen . Mit diesem kleinen Beitrag können wir unseren
Sicherheitsbehörden auch effektivere Mittel an die Hand
geben . Deshalb bitte ich, die Beratungen konstruktiv zu
begleiten . Vielleicht können wir am Ende des Verfahrens
doch allesamt dieser Änderung zustimmen .
Vielen Dank .
({0})
Ich schließe nun die Aussprache .
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 18/9758 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall .
Dann ist die Überweisung so beschlossen .
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 26 a und 26 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Harald
Weinberg, Sabine Zimmermann ({0}),
Matthias W . Birkwald, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE
Gerechte Krankenkassenbeiträge für Selbstständige in der gesetzlichen Krankenversicherung
Drucksache 18/9711
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({1})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Harald
Weinberg, Sabine Zimmermann ({2}),
Matthias W . Birkwald, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE
Gerechte Krankenkassenbeiträge für freiwillig in der gesetzlichen Krankenversicherung
Versicherte
Drucksache 18/9712
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({3})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . - Ich höre keinen Widerspruch . Dann ist so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache . Das Wort hat die Kollegin
Sabine Zimmermann für die Fraktion Die Linke .
({4})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Der konservative Teil der Koalition rühmt
sich ja gerne, etwas für die Selbstständigen zu tun . Tatsächlich haben aber viele der Selbstständigen das Gefühl,
von der Bundesregierung gerade hinsichtlich ihrer sozialen Absicherung im Stich gelassen zu werden . Über viele
Jahre höre ich jetzt schon die Klagen, aber verbessert hat
sich an der Situation nichts . Im Hinblick auf Ihre angebliche Vertretung der Interessen von Selbstständigen ist das
schon einigermaßen dürftig . Für die Linke ist das völlig
inakzeptabel .
({0})
Ein Problem, das bei vielen Selbstständigen für
schlaflose Nächte sorgt, sind die hohen Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung; hier werden sie benachteiligt . Meine Damen und Herren der Koalition, nehmen
Sie bitte einmal zur Kenntnis, dass hier etwas getan werden muss .
({1})
Die Bundesregierung geht offensichtlich davon aus, dass
Selbstständige und Kleinunternehmer zu den Gutverdienern gehören . Das ist aber mitnichten der Fall . Dies zeigt
auch die hohe Zahl der Selbstständigen, die ergänzend
Hartz-IV-Leistungen bekommen . Im Jahre 2015 waren
es 117 000 .
Besonders prekär ist die Situation oft für Solo-Selbstständige . In vielen Fällen verlagern Unternehmen Aufgaben und das gesamte Risiko auf alleinarbeitende
Selbstständige . Der Weg in die Selbstständigkeit ist für
viele ein Weg in die prekäre Tätigkeit, von der man seine
Familie einfach nicht ernähren kann . Solo-Selbstständige verfügen nun einmal über ein unterdurchschnittliches
Einkommen . Ich glaube, da sind wir uns auch in diesem
Hause einig . Insbesondere bei Solo-Selbstständigen ist
die Selbstständigkeit auch Ausdruck zu weniger sozialversicherungspflichtiger Arbeitsplätze oder auch einer
Outsourcing-Mentalität der Unternehmen .
Oft war die Entscheidung zur Selbstständigkeit keine
freiwillige . Durch die Einführung der Förderung als sogenannte Ich-AG im Zuge der Hartz-Gesetze wurden die
Solo-Selbstständigen als Allzweckwaffe gegen Erwerbslosigkeit auserkoren; dies endete aber für viele in einer
Sackgasse . Zudem führte es zu Wettbewerbsverzerrungen und sorgte für einen ruinösen Wettbewerb . Doch das
war der Bundesregierung damals egal und ist es ihr auch
heute noch . Viele Selbstständige fühlen sich mit ihren
Problemen alleingelassen und zu wenig gefördert . Insbesondere für Kleinselbstständige müssen bessere Rahmenbedingungen geschaffen werden . Dies betrifft vor
allem auch die Verbesserung der Einkommenssituation .
Mit unserem Antrag wollen wir einen wichtigen
Beitrag zu mehr Gerechtigkeit leisten . Derzeit wird bei
Selbstständigen ein Krankenkassenbeitrag erhoben, der
ein Einkommen von über 4 000 Euro annimmt . Erst bei
Nachweis niedrigerer Einnahmen wird die Beitragsbemessung auf 2 178 Euro gesenkt, sodass rund 400 Euro
Beitrag zu leisten sind . Nur in wenigen Ausnahmefällen
kann der Beitrag darunterliegen .
Ein Beispiel: Wenn Sie als Selbstständiger ein Einkommen von 800 Euro haben, zahlen Sie die Hälfte als
Beitrag für die Krankenversicherung, also einen Beitragssatz von 50 Prozent. Ich finde, das ist nicht gerecht.
({2})
Ich weiß nicht, wie Sie es finden würden, wenn Sie die
Hälfte Ihrer Diäten als Beitrag zur Krankenkasse zahlen
müssten . Wir möchten einen realistischen und fairen Beitrag zur Krankenversicherung für Selbstständige, der bezahlbar und leistbar ist . Auch Sie werden sicherlich mit
vielen Selbstständigen reden . Daher wissen Sie, dass das
schon lange ein Problem in dieser Gesellschaft darstellt .
({3})
Wir fordern, dass sich der Mindestbeitrag an der Geringfügigkeitsgrenze von 450 Euro orientiert . Das wäre
ein Beitrag von rund 70 Euro zur Krankenversicherung
und 12 Euro zur Pflegeversicherung. Oberhalb davon soll
wie bei den Angestellten entsprechend dem Einkommen
gezahlt werden . Das ist aus unserer Sicht eine Frage der
Gerechtigkeit .
Eine weitere Gerechtigkeitslücke muss geschlossen
werden . Für freiwillig Versicherte mit geringem Einkommen, etwa freiwillig versicherte Rentnerinnen und Rentner, Studierende mit über 14 Semestern oder über 29 JahVizepräsidentin Petra Pau
re alt und auch Promovierende, ist der Mindestbeitrag
von derzeit rund 177 Euro einfach zu hoch und entbehrt
jeder Grundlage . Auch hier wollen wir den Mindestbeitrag auf rund 70 Euro senken .
Die beiden vorliegenden Anträge sind ein weiterer
Baustein für mehr soziale Gerechtigkeit in diesem Land .
Vielleicht entdecken Sie, meine Damen und Herren von
der Union, Ihr Herz für die Selbstständigen wieder - nicht
nur für die, die überdurchschnittlich verdienen, sondern
auch für die, die unterdurchschnittlich verdienen -, und
vielleicht entdecken Sie, meine Damen und Herren der
Sozialdemokratie, die soziale Gerechtigkeit wieder . Ich
fürchte aber, dass Sie alle davon nichts wissen wollen
und Ihre Politik weiter so fortsetzen . Meine Damen und
Herren, ich sage Ihnen: Sozial geht anders, und das geht
nur mit der Linken .
Danke schön .
({4})
Das Wort hat der Kollege Tino Sorge für die CDU/
CSU-Fraktion .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Beide debattierten Anträge der Fraktion Die Linke laufen
unter der Überschrift „Gerechte Krankenkassenbeiträge
für Selbstständige und freiwillig gesetzlich Versicherte“ . Da drängt sich natürlich die Vermutung auf, dass die
Linke entgegen der Klassenkampfrhethorik, die Sie hier
gerade wieder vom Stapel gelassen haben,
({0})
wirklich ein Interesse an den unternehmerisch Tätigen
hat . Das überrascht schon, weil Sie hier im Haus bisher
nicht als diejenigen bekannt waren, die Sachwalter der
Interessen der Selbstständigen und der Freiberufler sind.
({1})
Ich finde es sehr gut, dass Sie die Bedeutung der
selbstständig Tätigen offenkundig erkannt haben .
({2})
Aber nehmen Sie auch einmal zur Kenntnis, dass nicht
nur die Selbstständigen wichtig sind, sondern dass wir
mittlerweile auch insgesamt eine Beschäftigung haben über 41 Millionen Menschen sind in Deutschland in Beschäftigung -, die in dieser Höhe bisher noch nie dagewesen ist . Was Sie hier getan haben, ist, wieder einmal
zu versuchen, uns alten Wein in neuen Schläuchen zu
verkaufen .
({3})
Meine Kollegen von der CSU würden angesichts des Oktoberfestes sagen: Das ist eine abgestandene, schale Diskussion . Es geht Ihnen nur um die Abschaffung der PKV
und die Einführung der Bürgerversicherung .
({4})
Sie sprachen von vermeintlicher Solidarität und von
einer solidarischen Gesundheitsversicherung, wie Sie sie
nennen . Wie sie aussehen soll, haben Sie gesagt; das steht
ja auch in Ihrem Antrag . Sie wollen, dass die Solidargemeinschaft über die Krankenversicherung beispielsweise
Langzeitstudierende alimentiert . Wenn es Ihre Vorstellung von Solidarität ist, zu sagen: „Der Auszubildende,
der Handwerksmeister, die Kassiererin, der Frisör sollen
durch ihre Beiträge dafür sorgen, dass die Langzeitstudenten geringere Beiträge zahlen müssen“, dann, finde
ich, ist das echt ein Armutszeugnis .
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie suggerieren
wieder einmal, die Bürgerversicherung sei die eierlegende Wollmilchsau zur Lösung aller Probleme . Da kann ich
Ihnen gleich zu Beginn sagen: Dafür werden Sie von uns
keine Zustimmung bekommen .
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich gebe zu: Auch
mich treibt das Problem um, dass Existenzgründer und
Solo-Selbstständige mit geringem Einkommen durch
starre Beitragsbemessungsgrenzen über Gebühr belastet
werden . Mich treibt auch das Problem um, dass gerade
Existenzgründer und Selbstständige, deren Laden noch
nicht so brummt, vom Einkommen her betrachtet prozentual überdurchschnittlich hohe Krankenkassenbeiträge
zahlen sollen .
({7})
Aber ich bin dafür, dass wir genau hinschauen und auch
genau prüfen . Genau das haben wir in der Vergangenheit
getan .
({8})
Sabine Zimmermann ({9})
Schauen Sie sich einmal die aktuelle Rechtslage an .
Derzeit ist es so, dass die beitragspflichtigen Einnahmen
im Regelfall auf Grundlage des aktuell vorliegenden Einkommensteuerbescheids ermittelt werden; da sind wir
uns ja einig . Rückwirkende Änderungen der Beitragsfestsetzung sind nur in absoluten Ausnahmefällen möglich .
Das ist unbefriedigend; das gebe ich zu . Allerdings hat
der GKV-Spitzenverband in seinen Beitragsverfahrensgrundsätzen für Selbstzahler, die seit dem 1 . Januar 2009
für alle Krankenkassen verbindlich gelten, auch Ausnahmen zugelassen, zum Beispiel für Existenzgründer und
bei Vorliegen einer unverhältnismäßigen Belastung . Sie
liegt beispielsweise dann vor, wenn ein Gewinneinbruch
um mindestens 25 Prozent erfolgt ist, wenn also der
vorliegende Einkommensteuerbescheid und die tatsächlichen Einnahmen um über 25 Prozent voneinander abweichen . Wir haben also schon Härtefallregelungen . Es
besteht beispielsweise auch die Möglichkeit, in dem Jahr,
in dem der Gewinn eingebrochen ist, eine rückwirkende
Nachberechnung der zu zahlenden Beiträge vorzunehmen . Insofern gab es da schon eine Reaktion .
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der Linken, bei dieser Thematik, die die Bereiche Gesundheit,
Wirtschaft und Steuerrecht betrifft, müssen wir sagen:
Flexibilität ja, aber keine Schnellschüsse . Dann können
wir beispielsweise auch die Frage stellen, ob die auf
60 Prozent reduzierte Beitragsbemessungsgrenze noch
zeitgemäß ist . Wir müssen dann aber auch darüber reden,
dass die Absenkung auf die einheitliche Mindestbemessungsgrundlage, die Sie ja wollen, mindestens 1 Milliarde Euro Beitragsmindereinnahmen zur Folge haben
würde . Darüber müssen wir eben auch sprechen, und das
tun Sie nicht .
({10})
Man kann ebenso die Frage stellen, ob das Berechnungsverfahren schnell genug ist, um gerade durch die
Digitalisierung herausgeforderte Unternehmen adäquat
zu unterstützen .
Kollege Sorge, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung der Kollegin Vogler?
Ja, sehr gerne .
Vielen Dank, Herr Sorge, dass Sie meine Zwischenbemerkung zulassen . - Sie rechnen hier mit angeblichen
Verlusten für die Krankenkassen . Ich möchte auf der
einen Seite schon noch einmal darauf hinweisen, dass
dieses Geld den Menschen, die davon betroffen sind,
natürlich konkret im Geldbeutel fehlt, um ihre Lebenshaltungskosten zu decken und sich vielleicht auch eine
reguläre Alterssicherung aufzubauen . Sie sind ja immer
große Freunde davon, sich auch privat für das Alter abzusichern . Viele junge Selbstständige schaffen das nicht .
Auf der anderen Seite möchte ich auch noch einmal
darauf hinweisen, dass gerade ein abgesenkter Mindestbeitrag für junge Selbstständige, die gerade damit anfangen, selbstständig zu werden, dazu beitragen könnte, sie
dafür zu gewinnen, in das solidarische System der gesetzlichen Krankenversicherung einzutreten und eben
nicht den Lockvogelangeboten der PKV auf den Leim zu
gehen, die für den Anfang, wenn man jung und gesund
ist, mit niedrigen Beiträgen werben, während das später
den Betroffenen möglicherweise auf den Fuß fällt - sei es
in Form von eingeschränkten Leistungen, weil man eben
nicht genau ins Kleingedruckte geguckt hat, oder sei es
auch in Form von im Alter massiv steigenden Beiträgen,
wie sie die PKV jetzt ja auch zum 1 . Januar nächsten Jahres für viele Menschen wieder angekündigt hat .
({0})
Vielleicht wäre das ja auch eine Möglichkeit, wieder
mehr Geld ins solidarisch finanzierte Umlagesystem zu
bekommen .
Sie behaupten immer, mit Ihrer solidarischen Gesundheitsversicherung würde jedes Problem gelöst sein . Wir
müssen aber auch einmal darüber reden, dass wir im Bereich der Unternehmen natürlich gerade auch diejenigen
ein bisschen vor sich selbst schützen müssen, deren Unternehmung auch nach einer gewissen Anlaufphase nicht
zum Erfolg führt . Deshalb habe ich ja das Beispiel der
Existenzgründer gebracht . Ich habe gesagt, es besteht
die Möglichkeit, diesen Beitrag herabzusetzen, wenn die
tatsächlichen Umstände noch nicht so gut sind, wie sie
sein sollten . Wir können aber natürlich nicht, wie Sie das
wollen, über die Solidargemeinschaft und die Beiträge
der anderen Versicherten irgendwelche Liebhabereien,
Hobbys oder unternehmerische Aktivitäten, die nicht zu
einem Erfolg führen, dauerhaft subventionieren, und das
ist genau das, was Sie möchten .
({0})
Lassen Sie uns diese Thematik doch in Ruhe und mit
Besonnenheit anschauen . Ich habe ein paar Beispiele genannt, über die wir sprechen könnten - auch, inwieweit
wir gegebenenfalls bei der angemessenen Berücksichtigung der Beiträge weitere Komponenten berücksichtigen könnten . Was man aber nicht machen sollte, ist das,
was Sie immer machen, nämlich verschiedene Aspekte
zu vermischen . Sie kochen einen linken Eintopf, würzen
ihn mit Ideologie, und zum Schluss haben Sie eine Dauersubventionierung auf Kosten der Solidargemeinschaft .
Das wird mit uns nicht passieren .
({1})
Weil wir immer von Solidarität - Sie ja besonders und von Ehrlichkeit reden, müssen wir uns auch einmal
ehrlich machen . Das heißt - wie ich es gesagt habe -, wer
nach dieser gewissen Zeit so geringe Einkünfte hat, dass
er seinen Lebensunterhalt - und wir reden hier nicht über
den gesamten Lebensunterhalt, sondern über die Krankenversicherungsbeiträge - nicht finanzieren kann, der
muss sich auch einmal fragen und hinterfragen lassen, ob
das Geschäftsmodell, mit dem er tätig ist, das richtige am
Markt ist . Wir wollen keine Vortäuschung selbstständiger
Aktivität . Wir wollen Qualität bei Selbstständigen, sichere Einkünfte, langfristige Geschäftsmodelle und keine
Schnellschüsse .
Ich sage es deshalb zum Schluss noch einmal ganz
klar: Angesichts der Komplexität wollen wir alle Komponenten beachten . Wir wollen auch interessante Ansätze, wie gegebenenfalls eine zeitliche Staffelung von Beiträgen für Gründer, in Betracht ziehen, und wir können
über die Beschleunigung von Berechnungsverfahren,
über eine gewisse Flexibilität und darüber sprechen, inwieweit bestimmte Komponenten bei der angemessenen
Berechnung zusätzlich berücksichtigt werden können .
Wir wollen die Diskussion aber sachgerecht, zielgruppenorientiert und vor allen Dingen ideologiefrei führen gerne mit Ihnen, wenn Sie das wollen .
Insofern: Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
({2})
Das Wort hat die Kollegin Maria Klein-Schmeink für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Anders als Kollege Sorge gerade geäußert hat,
finden wir, dass das Problem, das in den Anträgen der
Linken aufgeworfen wird, ein gravierendes und bedeutsames Problem ist, dem wir uns mit aller Sorgfalt stellen
sollten .
({0})
Sie haben eigentlich mehr Problemabwehr und Ideologie in den Raum gestellt .
({1})
Genau darum geht es nicht . Ein Blick auf den Antrag
zeigt: Er ist sehr sachgerecht und sachlich und zeigt die
Problemlinien auf . Streiten kann man vielleicht darüber,
wie wir die Problemlösungen angehen wollen . Das ist
eine andere Sache .
Grundsätzlich muss man sagen: Es ist tatsächlich so,
dass wir eine Schräglage haben bei den vielen Selbstständigen mit geringem Einkommen, die eben nicht mehr
die klassischen Unternehmer sind . Vielmehr gibt es bei
Selbstständigen vielfältige Formen am Arbeitsmarkt .
Diese führen oft dazu, dass es Zeiten selbstständiger
Arbeit gibt, dass dann wieder als Angestellter gearbeitet
wird, vielleicht auch ein kleiner Laden aufgemacht wird,
der dann doch nicht oder nur sehr schleppend läuft . Vielleicht ist man Sprachkursleiterin oder Sprachkursleiter in
einem der Kurse des BAMF und wird schlecht bezahlt .
({2})
Vielleicht ist man auch Schneiderin oder Schneider und
hat ganz unterschiedliche Auftragslagen und muss damit
klarkommen . Da muss man ganz klar sagen: Unser Sozialsystem wird diesen unterschiedlichen sozialen Lagen
nicht gerecht . Da müssen wir besser werden .
({3})
Es ist richtig, dass die wirklich grundlegende Lösung
mit einer Bürgerversicherung als gemeinsames System
gefunden werden könnte, weil man dann nicht mehr unterscheiden muss, ob jemand angestellt oder selbstständig arbeitet . Aber dieser Schritt würde länger brauchen .
Wir brauchen aber jetzt eine Lösung für die vielen Selbstständigen mit geringem Einkommen in der Kreativwirtschaft und in vielen anderen Bereichen . Angesichts der
Beitragsschulden in der Krankenversicherung, die sich
mittlerweile auf 5,4 Milliarden Euro belaufen, sehen wir,
dass es für viele Selbstständige ein ernsthaftes Problem
ist, die hohen Beiträge zu zahlen .
({4})
Da müssen wir etwas tun . Diese hohen Beitragssätze
haben damit zu tun, dass die Krankenversicherung ein
Einkommen unterstellt, das die meisten Selbstständigen
tatsächlich gar nicht haben . Wenn für die Berechnung des
Beitragssatzes davon ausgegangen wird, dass ein Selbstständiger mindestens 4 236 Euro verdient, dann ist das
heute nicht mehr adäquat, weil viele das nicht schaffen,
wie alle Statistiken zeigen . Deshalb müssen wir da etwas
tun .
({5})
Das Mindeste, was jemand selbst mit Nachweis einer
Notlage erreichen kann, ist, dass ihm gesagt wird: Zur
Berechnung deines Beitragssatzes legen wir ein Einkommen von 2 148 Euro zugrunde . - Auch das haben ganz
viele nicht . Dieser Tatsache müssen wir gerecht werden .
Dafür brauchen wir eine Lösung .
({6})
Ob die Lösung, die die Linke vorgeschlagen hat, dass
sich die Beitragsbemessung an der Geringfügigkeitsgrenze orientiert, geeignet ist, müssen wir überprüfen .
Ich habe da durchaus Zweifel .
({7})
Das Kernproblem ist: Wir vergleichen bei der Verbeitragung Nettoeinkommen und Bruttoeinkommen . Arbeitnehmer zahlen ihre Beiträge auf ihr Bruttoeinkommen,
Selbstständige auf das versteuerte Einkommen und damit
auf das Nettoeinkommen . Da müssen wir eine Regelung
finden. Das wird nicht ganz so einfach sein.
({8})
Aber dafür, Herr Sorge, sind die Anhörungen sehr hilfreich, die wir durchführen werden . Dann ist es Zeit, sich
festzulegen und zu sagen: Okay, die Lösung sieht so oder
auch anders aus .
({9})
Aber das Mindeste, was ich hier erwarte, ist das Signal, dass man sich an die Problemlösung macht .
({10})
Ich meine, das sollte hier selbstverständlich sein . Die
Zahlen sprechen eine deutliche Sprache .
({11})
Das Wort hat die Kollegin Heike Baehrens für die
SPD .
({0})
Verehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken! Frau Klein-Schmeink! Mit den beiden hier vorliegenden Anträgen formulieren Sie tatsächlich ein berechtigtes Anliegen . Gerechte Krankenkassenbeiträge für
freiwillig Versicherte und Selbstständige in der gesetzlichen Krankenversicherung: Das wollen wir ebenso wie
Sie . Das muss man allerdings nach oben wie nach unten
in den Blick nehmen .
Solidarität als Grundprinzip unserer gesetzlichen
Krankenversicherung heißt: Jede und jeder Versicherte
zahlt seinen Beitrag entsprechend seiner wirtschaftlichen
Leistungsfähigkeit. Punktuelle Schieflagen und Ungerechtigkeiten in einem solch riesigen System sind für uns
permanente Herausforderung, nachzujustieren und Anpassungen vorzunehmen . Aber eigentlich geht es hier um
noch viel mehr; denn das Gesundheitswesen zählt zum
Kernbereich der öffentlichen Daseinsvorsorge .
({0})
Deshalb muss unser gemeinsamer Anspruch als Bundestag sein, mutige Schritte zu gehen, um solche strukturellen Ungerechtigkeiten auszumerzen .
({1})
Als SPD haben wir hierfür längst die notwendigen
Reformoptionen erarbeitet und setzen für die Zukunft
auf eine solidarische Bürgerversicherung; denn wir haben seit langem einen Wandel in der Arbeitswelt zu verzeichnen . Er wurde eben beschrieben . Die Formen der
Erwerbstätigkeit verändern sich . Insbesondere die Zahl
der Solo-Selbstständigen nimmt zu . Die Einkommensunterschiede innerhalb dieser Gruppe sind allerdings
sehr groß . Es gibt Einzelne, die sehr schnell reich werden, und es gibt viele, die so wenig verdienen, dass sie
nicht die finanzielle Möglichkeit haben, ihre Lebensrisiken abzusichern und Vorsorge zu betreiben . Trotz der
bereits bestehenden Möglichkeiten, sich im gesetzlichen
System der Krankenversicherung versichern zu lassen,
sehen sich viele Solo-Selbstständige finanziell überfordert . Hierfür - da haben Sie recht - brauchen wir eine
tragfähige Antwort, eine Antwort, die dauerhaft zu mehr
Gerechtigkeit führt .
({2})
Wir plädieren für den Einstieg in eine Bürgerversicherung; denn eine solche Krankenversicherung für alle
bezieht selbstverständlich auch alle Selbstständigen ein .
Das tatsächliche Einkommen aus selbstständiger Arbeit würde in die Bemessungsgrundlage einfließen. Die
Bemessung des Mindestbeitrags würde auf das Niveau
oberhalb der Geringfügigkeitsgrenze abgesenkt . Gleichzeitig werden dann gut verdienende Selbstständige entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit einen angemessenen
Beitrag zu zahlen haben .
Wir sind davon überzeugt: Die Zeit ist reif für eine Zusammenführung von gesetzlicher und privater Krankenversicherung . Darin werden wir gerade durch die aktuelle Berichterstattung und die Krisensignale der privaten
Versicherer nachdrücklich bestärkt .
({3})
Die Beiträge vieler Privatversicherter werden im kommenden Jahr gehörig steigen, weil auf dem Kapitalmarkt
keine Gewinne mehr zu erwirtschaften sind . Wir alle
müssen aufpassen, dass die gesetzliche Krankenversicherung nicht zum Ausfallbürgen wird für ein privatwirtschaftliches Versicherungsmodell,
({4})
das nicht mehr allen seinen Versicherten eine gute Gesundheitsversorgung zu bezahlbaren Beiträgen bieten
kann . Ja, die Zeit ist reif für den Übergang zu einer solidarisch, von allen finanzierten Bürgerversicherung.
Mit ihr wollen wir als SPD fortsetzen, was wir schon in
dieser Legislaturperiode auf den Weg gebracht haben .
Mit ihr wollen wir die GKV zukunftsfest machen und
in die richtige Richtung weiterentwickeln, zugunsten
einer wohnortnahen Versorgung, zugunsten einer hohen
medizinischen Versorgungsqualität, für einen höheren
Stellenwert von Gesundheitsprävention und nicht zuletzt
für eine weitere Aufwertung der Pflege. Im Unterschied
zu den heutigen Antragstellern haben wir aber auch im
Blick, dass dieses Versorgungsniveau zukunftsfest finanziert werden muss . Es gilt, die richtige Balance aus guter
Qualität und nachhaltiger Finanzierbarkeit herzustellen,
damit auch unsere Enkelkinder noch in gleicher Weise
versorgt werden können .
Wir hätten uns eine Lösung der angesprochenen Fragen in der laufenden Legislaturperiode durchaus vorstellen können . Aber ich bin überzeugt: Die Zeit dafür
wird kommen . Unser Konzept für eine solidarische Bürgerversicherung als Weiterentwicklung der gesetzlichen
Krankenversicherung wird in nicht allzu ferner Zukunft
eine Mehrheit in diesem Hause finden. Wir als SPD, werden den Weg dafür bereiten .
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
({5})
Das Wort hat der Kollege Dietrich Monstadt für die
CDU/CSU-Fraktion .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Meine Damen! Meine Herren! Als ich die
beiden Anträge, die wir heute diskutieren, gelesen habe,
habe ich mich gefragt: Was soll das? Erst ganz am Ende
wird klar, worum es geht . Den Antragstellern geht es
doch gar nicht um die Selbstständigen oder die freiwillig
Versicherten . Sie wollen mit uns zum wiederholten Male
die Bürgerversicherung diskutieren . Und das machen wir
auch immer gerne mit Ihnen - im Übrigen auch mit Ihnen, Frau Baehrens .
({0})
Mich wundert allerdings, dass Sie noch immer nicht realisiert haben, dass eine Bürgerversicherung mit einer
unionsgeführten Bundesregierung nicht kommen wird ({1})
schon aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht kommen kann .
({2})
- Wünsche darf man haben .
Verehrte Kolleginnen und Kollegen der Opposition,
legen Sie doch endlich einmal ein tragfähiges Konzept
vor, das den Bürgerinnen und Bürgern erklärt, wie Sie die
verfassungsrechtlichen Probleme lösen wollen . Was ist
mit der Eigentumsgarantie des Artikel 14 Grundgesetz?
Wie wollen Sie zum Beispiel mit den Altersrückstellungen in der PKV umgehen? Wollen Sie diese den Versicherten wegnehmen? Hierauf wollen die Bürgerinnen
und Bürger Antworten, keine Ideologien, die Sie nicht
einmal schlüssig erklären können .
({3})
Antworten auf das Wie sind Sie uns über Jahre hinweg
schuldig geblieben .
({4})
Bis jetzt haben Sie vor diesem Hintergrund rein gar
nichts vorgestellt, mit dem man sich auch nur ansatzweise sachgerecht auseinandersetzen könnte .
({5})
Hieran sollten Sie arbeiten .
Meine Damen und Herren, wir sind davon überzeugt,
dass sich das Konzept eines dualen Gesundheitssystems
mit GKV und PKV bewährt hat .
({6})
Mit diesem Wettbewerb können wir Effizienzreserven
im Gesundheitswesen heben . Darüber hinaus stehen wir
als CDU/CSU-Bundestagsfraktion für ein freiheitliches
Gesundheitswesen . Wir wollen Vielfalt und Wahlmöglichkeiten im Sinne der Versicherten sicherstellen und
den Menschen nicht vorschreiben, wie und wo sie sich
zu versichern haben .
({7})
Also lassen Sie uns bitte daran konstruktiv weiterarbeiten, und ersparen Sie uns Ihre Schaufensteranträge .
Meine Damen und Herren, seit längerer Zeit diskutieren wir darüber, die Mindestbemessungsgrundlage
für Selbstständige abzusenken oder gar abzuschaffen .
Mindestbeiträge sind sinnvoll und notwendig, weil niedrige Beiträge nicht kostendeckend sein können . Auch
freiwillig Versicherte haben für den umfassenden Versicherungsschutz in der GKV angemessene Beiträge
zu zahlen . Dies gilt bei Selbstständigen umso mehr, da
das Steuerrecht den Selbstständigen anders als Arbeitnehmern eine gewisse Gestaltbarkeit des Einkommens
erlaubt . Sie, Frau Kollegin Klein-Schmeink, haben dankenswerterweise darauf hingewiesen . Selbstständige
können zum Beispiel ihre Betriebsausgaben abziehen .
Es werden also lediglich die Nettoeinkommen herangezogen, während die anderen freiwillig Versicherten Beiträge auf der Grundlage ihres Bruttoeinkommens zahlen
müssen . Diese steuerrechtlichen Möglichkeiten dürfen
sich nicht in Form ungerechtfertigt niedriger Beiträge auf
die GKV auswirken .
Es diene der Beitragsgerechtigkeit, wenn dieser steuerliche Vorteil für Selbstständige durch eine besondere Mindestbemessungsgrenze ausgeglichen werde . So
urteilte das Bundesverfassungsgericht schon im Jahre 2001 . Und es sei rechtmäßig, das Unternehmerrisiko
eines Selbstständigen nicht über die Beitragsbemessung
auf die Solidargemeinschaft der gesetzlichen Krankenversicherung abzuwälzen . So das Bundesverfassungsgericht weiter .
Meine Damen und Herren, das Beitragsrecht der gesetzlichen Krankenversicherung beruht auf dem Solidarausgleich zwischen sozial schwächeren und sozial
stärkeren Mitgliedern . Mit diesen Anträgen wollen Sie
freiwillig versicherte Selbstständige mit anderen freiwilligen Mitgliedern beitragsrechtlich gleichstellen . Sie
wollen sie mit denjenigen gleichstellen, die tatsächlich
über geringe Einkünfte verfügen, wie etwa freiwillig versicherte Studenten oder Rentner . Das ist Ihre Gerechtigkeit . Mit uns geht das nicht .
({8})
Gerade aus Gerechtigkeitsgründen können wir nicht
zulassen, dass freiwillig Versicherte, die der gesetzlichen
Krankenversicherung nach eigener Entscheidung angehören, sich zu unangemessen niedrigen Beiträgen - zulasten der anderen in der GKV Versicherten - versichern
können . Dennoch ist es eine Tatsache, dass es Selbstständige gibt, die noch nicht oder nicht mehr über eine
wirtschaftliche Stabilität verfügen und dementsprechend
ihren Lebensunterhalt auch nicht bestreiten können . Darauf haben wir bereits reagiert . Im Übrigen haben wir mit
dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz des Jahres 2007
die Möglichkeit einer verringerten Mindestbemessungsgrundlage geschaffen . Für Existenzgründer, die zudem
auch einen Anspruch auf den monatlichen Gründungszuschuss nach SGB III haben, sowie für geringverdienende
Selbstständige gilt eine verringerte Mindestbemessungsgrundlage, wenn Bedürftigkeit vorliegt .
Aufgrund der gesellschaftlichen Entwicklung steht
auch bei uns die Verbeitragung von freiwillig und selbstständig in der GKV Versicherten auf dem Prüfstand .
Auch wir meinen: Sie muss weiterentwickelt werden .
Der Kollege Sorge hat dies bereits ausgeführt . Dabei
müssen mögliche Kosten und Auswirkungen auf die Solidargemeinschaft der Beitragszahler sehr genau geprüft,
bewertet und berücksichtigt werden . Auch hier gilt: Erst
die Situation bewerten, dann denken und dann komplexe Lösungsansätze entwickeln, die wirklich das ganze
Problem in all seinen Facetten angehen . Dies, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, lassen Ihre Anträge nicht erkennen . Deshalb werden wir beide Anträge
ablehnen .
Vielen Dank .
({9})
Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Marina
Kermer das Wort .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der
heutigen Debatte diskutieren wir zwei Anträge, die inhaltlich den SPD-Beschlüssen des Bundesparteitags 2011
entsprechen .
({0})
Ich darf feststellen: Schön, dass Sie sich unserer Meinung angeschlossen haben . Das ist gut .
({1})
Der Situation geschuldet, werden wir dennoch Ihre Anträge am Ende der Beratungen wohl ablehnen müssen .
Warum? Das möchte ich gern an dieser Stelle erläutern .
({2})
Als Koalitionspartner haben wir zu Beginn der Legislaturperiode einen Vertrag geschlossen, der die Ziele und
Formen unserer Zusammenarbeit vereinbart . Wir waren
und sind bereit, Kompromisse zu schließen, um keine
politische Starre zuzulassen, sondern um unsere Gesellschaft zukunftssicher zu gestalten . Das heißt auch, dass
wir Koalitionsfraktionen im Bundestag einheitlich abstimmen, wie unter Punkt 8 im Koalitionsvertrag zu den
Arbeitsweisen der Koalition festgelegt ist . Das bedeutet,
wir können nicht zustimmen, es sei denn, Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Union, überdenken Ihre Auffassung bis dahin .
({3})
So möchte ich heute die Gelegenheit nutzen, um unsere Positionen im Gesamtzusammenhang darzustellen .
Was Sie in Ihren Anträgen vorschlagen, sollte unserer
Meinung nach tatsächlich Teil einer grundsätzlichen
Neuaufstellung der Finanzierungsgrundlage der Gesundheitsversorgung werden .
Eine immer älter werdende Gesellschaft ist eine Entwicklung, auf die wir gerade in der Gesundheitspolitik
bewusst hingearbeitet haben . Unsere Sozialversicherungssysteme sind beispielhaft .
({4})
Damit sie zukünftig den Anforderungen standhalten, haben wir in dieser Legislaturperiode einiges auf den Weg
gebracht . Gerade als Berichterstatterin für die Krankenhausstrukturreform ist mir bewusst, dass die beschlossenen Maßnahmen Kosten verursachen . Wir sind uns
mehrheitlich einig, dass diese Investitionen der maßgeblichen Verbesserung der Qualität der Versorgung dienen
und die Patientinnen- und Patientenrechte stärken .
({5})
Mit den drei Pflegestärkungsgesetzen werden wir
die Versorgung im Alter verbessern und sichern . Alle
beschlossenen Maßnahmen sind wichtig und richtig,
um unser Gesundheitssystem auf die Herausforderungen unserer älter werdenden Gesellschaft vorzubereiten .
Um die Standards zu sichern, werden wir vermutlich die
Ausgaben nicht absehbar senken können . Das heißt, wir
müssen sozial gerechte und verträgliche Lösungen finden, um die Einnahmeseite zu sichern . Da stellt sich die
Frage: Wie? Ich bin überzeugt, dass das am besten mit
einer Bürgerversicherung gelingen kann .
({6})
Als erste Partei haben wir 2003 die Entscheidung zur
Einführung einer solidarischen Bürgerversicherung getroffen . Zwischenzeitlich haben sich auch andere mit
dem Gedanken beschäftigt und teilen unser Konzept .
Liebe Frau Klein-Schmeink, vielen Dank für Ihren Beitrag dazu .
Was ist der Kerngedanke? Alle gesetzlich Versicherten werden zu Mitgliedern einer Bürgerversicherung,
({7})
auch Beamte und Selbstständige, genau wie Studierende, Herr Sorge . Gemeinsam sollen hohe und niedrige
Einkommen von einem solidarischen Sicherungssystem
profitieren. Übergangsregelungen sollten gelten, Herr
Monstadt, sodass privat Versicherte wählen können, ob
sie der Bürgerversicherung beitreten oder in der privaten
Versicherung bleiben wollen . Für viele Private würde das
allerdings auch eine Chance eröffnen, im Alter aus einer
Privatversicherung herauszukommen, wenn sie in Tarifstrukturen mit hohen Beitragssätzen festsitzen .
Außerdem wollen wir die paritätische Beitragsfinanzierung .
({8})
Arbeitgeber und Arbeitnehmer müssen zu gleichen Teilen an den Gesundheitskosten beteiligt werden, so wie in
der Debatte gestern ausführlich erklärt .
({9})
Denn eine sichere und solidarische Finanzierungsgrundlage ist die Voraussetzung für eine gerechte Gesundheitsversorgung .
Gestatten Sie noch einen Gedanken: Der Zugang zu
guter medizinischer Versorgung für alle ist eine Grundvoraussetzung für Chancengleichheit im Leben . Ein gesunder Start ins Leben ist die Voraussetzung für ein erfolgreiches und selbstbestimmtes Leben . Das ist das Ziel,
um das es eigentlich geht . Gesundheit ist deshalb nicht
nur das Gegenteil von Krankheit, sondern maßgeblich in
allen Lebensbereichen . Wir brauchen ressortübergreifende Zusammenarbeit; dann können wir es schaffen, dass
Gesundheit und ein gutes Leben unabhängig von Herkunft und Einkommen sein werden .
Vielen Dank .
({10})
Das Wort hat der Kollege Michael Hennrich für die
CDU/CSU-Fraktion .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir beraten
heute zwei Anträge zum Thema „Krankenkassenbeiträge
für freiwillig in der gesetzlichen Krankenversicherung
Versicherte“ .
({0})
Es geht um Selbstständige, und es geht um Menschen,
die nicht pflichtversichert sind und keinen anderweitigen
Anspruch auf Krankenversicherung haben . Beiden Gruppen ist gemeinsam - Sie sprachen es an -, dass es um
Menschen mit niedrigem Einkommen geht .
Frau Klein-Schmeink, dieses Thema ist viel zu ernst,
als dass man es wieder für Schaufensterreden oder sonst
etwas benutzen darf; vielmehr sollte man sich der eigentlichen Thematik nähern .
({1})
- Stopp, lassen Sie mich doch ausreden . - Es geht um die
Frage der individuellen Bezahlbarkeit; es geht aber auch
um die Frage, wie wir das Gesundheitssystem insgesamt
bezahlbar halten, also um die Frage der gerechten Finanzierbarkeit eines solchen Systems .
({2})
Beides - individuelle Bezahlbarkeit und gerechte Finanzierbarkeit - ist eng miteinander verknüpft, und wir suchen alle nach vernünftigen und praktikablen Lösungen .
Was ich am Antrag der Linken schade finde, ist - ich
sage es ganz offen -, dass die Linken sich auf das Thema
„niedrige Einkommen“ beschränkt haben und dass sie
nicht dargelegt haben, wie ein fairer Interessensausgleich
stattfinden kann,
({3})
weil zu hohe Krankenversicherungsbeiträge Menschen
mit niedrigem Einkommen, aber mittlerweile auch Menschen mit höherem Einkommen extrem belasten können .
Frau Baehrens, Sie haben es vollkommen zu Recht angesprochen: Auch in der privaten Krankenversicherung
gibt es solche Fälle, denen wir uns stellen müssen .
({4})
Die Frage ist: Kann die Bürgerversicherung das Allheilmittel sein?
({5})
- Stopp! - Ich glaube - das sage ich ganz offen -, dass
wir bisher eine gute Lösung hatten .
({6})
Wir haben für die Privatversicherten eine Lösung,
wir haben für die gesetzlich Versicherten eine Lösung,
die vom Bundesverfassungsgericht übrigens abgesegnet
wurde; über sie wurde verlautbart, dass sie richtig ist . Es
wurde ja heute schon im Einzelnen dargelegt, wie die
Mechanismen funktionieren, wie die Mindestbemessung
bei schlechter Einkommenssituation auf 265 Euro bzw .
177 Euro reduziert wird .
({7})
- Stopp! Jetzt lassen Sie mich doch ausreden .
In § 240 SGB V ist geregelt, wie die Bemessung des
Beitrags freiwillig versicherter Mitglieder erfolgt und
wie er gegebenenfalls abgestaffelt wird . Wir haben da berücksichtigt, dass der zur sozialen Sicherung vorgesehene
Teil des Gründungszuschusses nicht angerechnet werden
darf. Wir haben berücksichtigt, dass das an eine Pflegeperson weitergereichte Pflegegeld nicht herangezogen
werden soll . Aber - das sage auch ich noch einmal - es
geht auch darum, dass wir die, die dieses System heute
mit ihren hohen Beiträgen stützen, nicht überfordern und
dass wir auch da einen fairen Ausgleich schaffen .
Ich möchte einmal ein ganz spezielles Thema aufgreifen . Wenn wir Ihrem Antrag folgen würden, den
Mindestbeitrag für freiwillig Versicherte auf 70 Euro zu
reduzieren ({8})
- 70 Euro; das steht in Ihrem Antrag -, dann haben wir
dergestalt ein Problem, dass wir in einem gewissen Wertungswiderspruch stehen, da die Zuweisung des Bundes
pro Arbeitslosengeld-II-Empfänger und pro Flüchtling
90 Euro monatlich beträgt . Wir Gesundheitspolitiker
haben momentan alle ein Interesse daran, dass der Steuerzuschuss an die gesetzliche Krankenversicherung für
Arbeitslosengeld-II-Empfänger und Flüchtlinge erhöht
wird . Wie soll ich das rechtfertigen, wenn dann der Eigenbeitrag bei 70 Euro für Solo-Selbstständige, für Rentnerinnen und Rentner - ({9})
- Das ist nicht völliger Blödsinn .
({10})
Setzen Sie sich doch einmal ernsthaft mit dem Thema
auseinander . Diese Frage bekommen Sie an diesem
Punkt nicht gelöst .
({11})
Im Kern geht es darum, dass wir das nur über Steuern
lösen können . Wir müssen vernünftig schauen, dass wir
das nicht nur sozusagen über das Krankenversicherungssystem regeln . Das steht für mich für solidarischen Ausgleich zwischen Gesund und Krank . Der Ausgleich zwischen Einkommensstarken und Einkommensschwachen
findet im Steuersystem statt. Deswegen wäre eigentlich
der richtige Ansatz - das haben Sie in Ihrem Antrag überhaupt nicht berücksichtigt -, dass wir schauen: Wie kriegen wir das über die Steuer vernünftig geregelt?
Ich möchte einen Punkt zum Schluss erwähnen, und
zwar noch einmal zum Thema Bürgerversicherung . Mir
kommen da die Worte der Bundeskanzlerin von vor, ich
glaube, zehn Tagen in Erinnerung . Sie hat im Zusammenhang mit dem Satz „Wir schaffen das“ von einer Leerformel gesprochen . Beim Stichwort „Bürgerversicherung“
({12})
- den Eindruck habe ich - arbeiten und hantieren wir
auch nur noch mit einer Leerformel .
({13})
Der Punkt, den ich erwähnen möchte, ist: Gestern
wurde ein Gutachten vom Wissenschaftlichen Beirat
des Bundeswirtschaftsministeriums - ein SPD-geführtes
Haus - veröffentlicht, und dieses hat nicht eine Bürgerversicherung favorisiert,
({14})
sondern eine Prämie mit Steuerausgleich .
({15})
Vielleicht wäre es an der Zeit, dass wir uns einfach mal
von diesen Floskeln wegbewegen würden und versuchen, uns den Themen inhaltlich zu nähern .
Herzlichen Dank .
({16})
Ich schließe die Aussprache .
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/9711 und 18/9712 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen .
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall . Dann
sind die Überweisungen so beschlossen .
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung .
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 19 . Oktober 2016, 13 Uhr, ein .
Ich wünsche Ihnen bis dahin alles Gute .
Die Sitzung ist geschlossen .