Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie
herzlich zur letzten Plenarsitzung in dieser Woche .
Der Bundestag ist nicht nur, aber auch deswegen heute Morgen zusammengetreten, um dem Kollegen Ulrich
Petzold zu seinem heutigen 65 . Geburtstag zu gratulieren
({0})
und nachträglich dem Kollegen Wilfried Lorenz, der in
der vergangenen Woche seinen 74 . Geburtstag gefeiert
hat . Ihnen beiden alle guten Wünsche des Hauses für das
neue Lebensjahr .
({1})
Wir rufen jetzt den Tagesordnungspunkt 38 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung zur weltweiten
Lage der Religions- und Weltanschauungsfreiheit
Drucksache 18/8740
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe ({2})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 77 Minuten vorgesehen. - Das ist offenkundig einvernehmlich . Also können wir so verfahren .
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Kollegen Volker Kauder für die CDU/
CSU-Fraktion .
({3})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Schon vor fast 20 Jahren hat die CDU/CSU-Bundestagsfraktion das Erstellen eines Berichts über Religionsfreiheit und die Verfolgung von religiösen Minderheiten im
Deutschen Bundestag thematisiert . Das war unter der
Regierung Schröder . Die Regierung Schröder sah damals keine Veranlassung, feststellen zu lassen, dass es
eine nennenswerte Verfolgung vor allem von Christen in
der ganzen Welt gibt . Heute diskutieren wir erneut über
einen Bericht der Bundesregierung . Dieser Bericht zur
weltweiten Lage der Religions- und Weltanschauungsfreiheit ist erstmals aufgrund eines Antrages aus diesem
Parlament entstanden . Zunächst einmal muss man sagen,
dass wir dafür dankbar sind, dass die Bundesregierung
diesen Bericht verfasst hat und wir heute die Möglichkeit haben, über dieses Thema, über das wohl wichtigste
Menschenrecht überhaupt, das Recht auf Religionsfreiheit, miteinander zu diskutieren .
In diesem Bericht wird an mehreren Beispielsfällen
der Frage nachgegangen, was die typischen Verfolgungsmuster sind . Wobei in diesem Bericht auch klargestellt
wird, dass es unterschiedliche Formen der Verfolgung
gibt: Es gibt zum Beispiel die Ausgrenzung . Es gibt aber
auch schwere Strafen für Vergehen gegen die Vorgaben
eines Staates, dass nur bestimmte Religionen zugelassen
werden .
Dieser Bericht widmet ein besonderes Kapitel einem
Thema, das zunehmend Anlass für Unterdrückung und
Verfolgung ist, nämlich die Frage der Konversion . In Artikel 18 der Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen steht nämlich nicht nur expressis verbis, dass jeder
das Recht hat, seine Religion frei und öffentlich zu leben,
sondern dort steht auch, dass jeder das Recht hat - weil
dies zur Religionsfreiheit gehört -, seine Religion zu
wechseln oder auch nichts zu glauben . Es gibt eine ganze
Reihe von Staaten - vor allem islamische Staaten und
Staaten, in denen Muslime die Mehrheit darstellen -, in
denen der Wechsel vor allem aus der islamischen Religion mit Strafen, teilweise mit harten Strafen bedroht wird .
Selbst in den Ländern, in denen die Religionsfreiheit in
der Verfassung garantiert wird, gibt es in Gesetzen und
Strafgesetzbüchern harte Sanktionen bei einem Wechsel,
immer wieder auch mit dem Hinweis darauf, dass er dann
bestraft wird, wenn er öffentliches Aufsehen erregt hat.
Aber wer entscheidet darüber, was „öffentliches Aufsehen“ bedeutet? Wenn jemand die Religion wechselt und
dies in einem kleinen Dorf bekannt wird, kann das natürlich zu Aufsehen führen, weil die Angehörigen der Religion, von der man gewechselt ist, dies publik machen .
Diesem Punkt wird eine besondere Aufmerksamkeit zugewendet .
Allerdings stellt der Bericht ein gewisses Problem für
uns, die wir uns schon seit vielen Jahren und Jahrzehnten mit diesem Thema befassen, dar . Es wird nämlich
vom klassischen Muster der sogenannten Länderberichte abgewichen . Jetzt kann man sagen: Gut, man kann ja
ein neues Darstellungsverfahren wählen . - Aber warum
gerade hier und beispielsweise nicht in dem Bericht zur
Menschenrechtslage, der auch regelmäßig vorgelegt
wird und in dem Beschreibungen nach Länderkategorien oder zumindest nach regionalen Kategorien erfolgen?
Das führt dazu, dass man intensiv nachschauen muss,
wo bzw . in welchen Kapiteln die entsprechenden Länder
aufgeführt sind, und dann zusammentragen muss, was
die Bundesregierung dazu meint, wie schlimm, wie tragisch oder wie auffällig die Verfolgungssituation in den
verschiedenen Ländern ist . Das hat zur Folge, dass - sicher aus Versehen - auch das eine oder andere vergessen
wird .
Ein Beispiel . Alle, die sich intensiv mit diesem Thema befassen, wissen, dass vor allem Pakistan mit seinen
Blasphemiegesetzen eine besondere Sanktion im Bereich
der Religionsfreiheit - in Anführungsstrichen - vorsieht .
Schaue ich mir nun in diesem Bericht die verschiedenen
Stellen an, an denen Pakistan aufgeführt wird, stelle ich
fest: Dort steht, dass in Pakistan vor allem muslimische
Minderheiten verfolgt werden . Es steht dort kein einziges
Wort darüber, dass in Pakistan Christen verfolgt werden,
und dies vor dem Hintergrund - das muss ich der Bundesregierung schon sagen -, dass wir alle seit Jahren, auch
hier in diesem Haus, mit großer Sorge das Schicksal von
Asia Bibi verfolgen, die mit ihren fünf Kindern noch immer im Gefängnis sitzt . Das letzte Urteil ist noch immer
nicht gesprochen . Wir müssen immer noch bangen, dass
das Todesurteil gegen sie nicht doch vollstreckt wird .
Dass in dem Bericht im Zusammenhang mit Pakistan das
Thema „Christen und Asia Bibi“ nicht erwähnt wird, ist
nicht akzeptabel, liebe Kolleginnen und Kollegen .
({0})
Wir finden in diesem Bericht auch neue Begrifflichkeiten, die im Menschenrechtsbericht nicht auftauchen,
etwa „antimuslimischer Rassismus“ . Gleichzeitig wird
die sogenannte Christianophobie, die im Menschenrechtsbericht noch ausdrücklich benannt wird, in diesem
Bericht gar nicht aufgeführt . Der Hinweis auf antimuslimischen Rassismus ist außerordentlich schwierig . Bei
der Einführung dieses Begriffs hätte man zumindest einen Hinweis auf die sehr intensive Diskussion über diesen Begriff - ob man so etwas überhaupt sagen kann erwarten können .
Ein Letztes . Wenn wir uns anschauen, was in dieser
Welt passiert, dann sehen wir, dass Angehörige von Minderheiten bis hin zum Tod verfolgt werden . Ich denke dabei beispielsweise auch an Muslime im Irak . Allerdings
steht in diesem Bericht nur relativ wenig - um nicht zu
sagen: fast nichts - darüber, dass die Christen die größte
verfolgte Gruppe in der ganzen Welt sind - mindestens
100 Millionen Menschen -, und er enthält beispielsweise
auch keine Hinweise auf Boko Haram in Afrika . Das zeigt
schon, dass wir uns in der Diskussion im Ausschuss mit
diesem Punkt noch einmal ausdrücklich befassen müssen . Hier reicht der Hinweis auf den Bericht der beiden
großen Kirchen, der evangelischen und der katholischen
Kirche - und ich füge hinzu: auch der jährliche Bericht
von Open Doors zu diesem Thema wurde wahrscheinlich
vergessen -, nicht .
({1})
Man fragt sich, ob es in dieser Frage nicht doch notwendig wäre, dem Beispiel anderer Staaten zu folgen .
Die Vereinigten Staaten von Amerika, Kanada und Norwegen beispielsweise haben bzw . hatten einen Sonderbotschafter für Religionsfreiheit . Bisher wurde dies aus
der Bundesregierung immer mit dem Hinweis abgelehnt:
Wir haben ja einen Menschenrechtsbeauftragten . - Aber
man sieht deutlich, dass Menschenrechte im Allgemeinen und Religionsfreiheit im Besonderen unterschiedliche Ansatzpunkte haben . Gerade deshalb, weil wir jetzt
erleben, dass Religion zu einem dramatischen Thema
politischer Auseinandersetzungen wird - bis hin zu der
Frage von Krieg und Frieden -, würde ich mir wünschen,
dass wir uns mit dieser Frage noch einmal ausführlich
beschäftigen .
Wir hatten in der letzten Woche eine große internationale Parlamentarierkonferenz zum Thema Religionsfreiheit hier in Berlin in unserem Fraktionssitzungssaal . Alle
Religionen waren dort vertreten, und wir haben teilweise
dramatische Berichte von Abgeordneten gehört, die Minderheiten angehören . Besonders dramatisch war der Bericht einer Kollegin aus Pakistan, die dargelegt hat, wie
es in diesem Land aussieht . Deswegen sollten wir uns,
glaube ich, in den Beratungen des Ausschusses noch einmal ausführlich mit dieser Frage befassen .
Ich fasse zusammen: Wir sind dankbar, dass die Bundesregierung diesen Bericht erstmals vorgelegt hat . Ich
weiß aus vielen Besuchen bei deutschen Botschaften in
der ganzen Welt, dass sie unglaublich gute Informationen
über die konkrete Situation im jeweiligen Land haben
und uns darüber auch sehr pointiert berichten . Ich würde
mir wünschen, dass in einem neuen Bericht darüber mehr
zu lesen wäre .
Vielen Dank .
({2})
Der nächste Redner ist Gregor Gysi für die Fraktion
Die Linke .
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal möchte ich mich dafür entschuldigen, dass
ich nach der Rede leider gehen muss, weil ich auf einer
Europakonferenz meiner Fraktion zu sprechen habe .
({0})
Es handelt sich also nicht darum, dass mich das nicht interessiert, und ich verspreche Ihnen auch: Alle Reden zu
diesem Debattenpunkt werde ich anschließend lesen .
Wenn wir über Religions- und Glaubensfreiheit diskutieren, müssen wir auch die europäische Geschichte
betrachten . Sie alle wissen: Im Mittelalter, vom 11 . bis
zum 13 . Jahrhundert, gab es entsetzliche Kreuzzüge .
Gewaltsam wurde das Christentum durchgesetzt . Wenn
heute über Flüchtlinge gesprochen wird, sollten wir auch
an andere Teile der europäischen Geschichte denken: Es
waren die Europäerinnen und Europäer, die Nord-, Mittel- und Südamerika besetzten und die indigene Bevölkerung zum Teil grausam umbrachten und unterdrückten .
Sie brachten ihre Sprachen - Englisch, Spanisch, Portugiesisch - auf den amerikanischen Kontinent und setzten
ihre Sprachen, ihre Kultur und ihre Religion durch . Es
waren Europäerinnen und Europäer, die Australien besetzten und ihre Sprache, Kultur und Religion gegenüber
den Aborigines gewaltsam durchsetzten . Und die Kolonien?
Trotz der gegenteiligen Unkenrufe von ganz rechts:
Eine solche Gefahr besteht für Europa gegenwärtig überhaupt nicht .
({1})
Nach den demokratischen Revolutionen in Europa wurde die Religions- und Glaubensfreiheit zu einem wichtigen Gut - allerdings mit wesentlichen Einschränkungen,
wenn ich an die zahllosen Pogrome gegen Menschen
jüdischen Glaubens in vielen europäischen Ländern und
die millionenfache Ermordung von Jüdinnen und Juden
durch Nazideutschland denke . In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen wurde
die Religions- und Glaubensfreiheit nach 1945 als allgemeines Menschenrecht weltweit gefordert . Dazu gehört
auch, dass Religion freiwillig ist - wie Sie es gesagt haben, Herr Kauder -, man sich also auch entscheiden darf,
nicht religiös zu sein .
({2})
In vielen Verfassungen wird seit dieser Zeit die Religions- und Glaubensfreiheit garantiert . Aber die Praxis
sah und sieht anders aus . Die staatssozialistischen Länder
zum Beispiel benachteiligten einen Teil der gläubigen
Menschen und gewährten ihnen keine Chancengleichheit . Unvergleichlich und viel schlimmer erleben wir die
Verhältnisse heute: Al-Qaida und der „Islamische Staat“
verfolgen und jagen Schiiten, also andere Muslime, Jesidinnen und Jesiden sowie Christinnen und Christen .
Ich hätte wirklich nicht geglaubt, in meinem Leben eine
solche Verfolgung von Christinnen und Christen noch zu
erleben; aber sie geschieht auf barbarische und brutale
Art und Weise .
Die Welt ist aber gelegentlich verkehrt gestrickt . Wenn
Sie auch mit Assad nicht reden: Er schützt die Christinnen und Christen, während andere in Syrien sie jagen und
verfolgen . - Und in Europa? In Europa gibt es eine immer stärkere Diskreditierung von Menschen islamischen
Glaubens . Das widerspricht klar dem Stand unserer demokratischen und kulturellen Zivilisation .
({3})
Wir müssen die Religions- und Glaubensfreiheit auch für
Menschen islamischen Glaubens garantieren . Allerdings
wird der Islam auch von Extremisten missbraucht, um
Gewalt zu rechtfertigen . Diesen Missbrauch hat es vor
einigen Jahrhunderten, wie dargestellt, auch im Hinblick
auf das Christentum gegeben . Schon deshalb müssen wir
entschieden gegen diesen Missbrauch der Religion auftreten .
({4})
Ich wünsche mir, dass gerade die Organisationen friedlicher Muslime in Deutschland sich so entschieden wie
möglich in Verlautbarungen, auf Demonstrationen und
Kundgebungen von diesem Missbrauch ihrer Religion
distanzieren und ihn verurteilen .
({5})
Die AfD erklärt, dass der gesamte Islam nicht zu
Deutschland gehöre . Sie beschränkt sich nicht auf den
politischen Islam, auf den Missbrauch der Religion, sondern will eine gesamte Religion ausschließen . Sie will
Minarette, Schleier und Muezzinrufe verbieten . - Zu den
Schleiern werde ich noch etwas sagen . - Außerdem will
sie Spenden aus dem Ausland zum Bau von Moscheen
verbieten . Da nach dem Grundgesetz Menschen, aber
auch Religionsgemeinschaften gleichzubehandeln sind,
bedeutete das auch das Verbot von Spenden für den übrigen Kirchenbau . Wenn man allein an das Verhältnis unserer katholischen Kirche zum Vatikan oder an das Verhältnis der russisch- und griechisch-orthodoxen Kirchen
zu Russland und Griechenland denkt, wird einem die
Absurdität und Abenteuerlichkeit dieser Idee sofort klar .
({6})
Die anderen Forderungen der AfD verletzen eindeutig
und schwer den Artikel 4 Absatz 1 und 2 unseres Grundgesetzes . Ich zitiere wörtlich Absatz 1:
Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die
Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich .
Absatz 2:
Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet .
Stellen Sie sich vor, die AfD käme umfassend an die
Macht . Sie müsste entweder Artikel 4 Absatz 1 und 2
des Grundgesetzes streichen, oder, wie die polnische
Führung das polnische Verfassungsgericht, das Bundesverfassungsgericht entmündigen - dieses Gericht würde
Gesetze zur Einschränkung oder zum faktischen Verbot
der Ausübung einer Religion immer als grundgesetzwidrig aufheben -, oder sie müsste das Bundesverfassungsgericht ganz abschaffen. Als nichtreligiöser Mensch sage
ich Ihnen heute: Gott sei Dank wird die AfD einen solchen weitgehenden Einfluss wohl nicht bekommen.
({7})
Eine Bitte an die Medien: Wenn man in den Medien
Muslime sieht und hört, dann rufen sie entweder so laut
nach Allah, dass manche Menschen bei uns Angst bekommen, oder sie sprengen sich als Selbstmordattentäter in die Luft . Wie wäre es damit, einmal die Millionen
friedlich betender, arbeitender und gastfreundlicher Muslime zu zeigen, die sich um ihre Kinder, ihre Angehörigen, ihre Freundinnen und Freunde kümmern?
({8})
Das ist keine Nachricht? Ich glaube, es wäre zurzeit eine
besonders wichtige Nachricht .
Noch etwas zur Kleidung . Ich denke an das Kopftuch
und die Burka . Also, wenn es nicht unbedingt nötig ist,
sollte sich der Staat nicht in Kleiderfragen seiner Bürgerinnen und Bürger einmischen .
({9})
Wenn Mädchen und Frauen ihre Kopftücher tragen wollen, dann ist das ihre Angelegenheit . Wenn sie dazu aber
gezwungen werden, dann müssen wir sie schützen .
({10})
Dasselbe gilt für die Burka, auch wenn ich Menschen
lieber ins Gesicht sehe . Allerdings muss es hier - auch
wenn die Burka freiwillig getragen wird - Einschränkungen geben: Erzieherinnen, Lehrerinnen, Beschäftigte im
öffentlichen Dienst mit Publikumsverkehr, Richterinnen,
Staatsanwältinnen, Notarinnen, Rechtsanwältinnen und
andere müssen bei ihrer Arbeit ihr Gesicht zeigen: für die
Kinder, für andere Bürgerinnen und Bürger, für die Öffentlichkeit . Außerdem gibt es Kontrollen, bei denen das
Gesicht gezeigt werden muss .
Mit anderen Worten: Das Notwendige müssen wir
regeln und ansonsten die Freiheit der Menschen, einschließlich der Religions- und Glaubensfreiheit sowie
des Rechts auf Freiheit von der Religion, achten .
({11})
Es gilt, diese Freiheit in Deutschland durchzusetzen
und dafür weltweit zu streiten . Für Menschenrechte kann
man sich nicht je nach politischen Gegebenheiten einsetzen, wie es die Bundesregierung macht . Sie schweigt zu
vielen Menschenrechtsverletzungen von Erdogan, und
in anderen Fällen nutzt sie Menschenrechtsverletzungen
sogar als Begründung für militärische Aktionen . Das ist
höchst unglaubwürdig .
({12})
Für Menschenrechte muss man sich immer und gegenüber jedermann einsetzen, sonst wird man diesbezüglich
unglaubwürdig .
({13})
Frank Schwabe für die SPD-Fraktion ist der nächste
Redner .
({0})
Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Ich will
mich beim Auswärtigen Amt ausdrücklich dafür bedanken, dass wir diesen Bericht vorliegen haben und ihn
heute debattieren können . Ich will mich gerade deshalb
bedanken, weil er eben nicht im Detail einzelne Vorkommnisse in einzelnen Ländern beschreibt - es gibt
nämlich ganz viele solcher Berichte -, sondern weil er
uns - ich glaube, das gibt uns viel mehr Gelegenheit, in
der Tiefe zu diskutieren - die Systematik von Verletzungen des Menschenrechts auf Religionsfreiheit oder auf
Freiheit von Religion deutlich macht .
Diese Systematik fällt nicht vom Himmel, vielmehr
basiert sie maßgeblich auf der Arbeit von Herrn Professor Heiner Bielefeldt, die er seit sechs Jahren als Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für Religionsund Weltanschauungsfreiheit geleistet hat, im Übrigen
unterstützt und mitfinanziert durch die Bundesrepublik
Deutschland . Er hat, wie gesagt, maßgeblich an diesem
Bericht mitgewirkt . Ich glaube, dieser Bericht gibt eine
neue Tiefe, eine neue Schärfe und uns eine neue Möglichkeit, uns mit der Frage der Religionsfreiheit auseinanderzusetzen . Ich will an dieser Stelle, vielleicht im
Namen des ganzen Hauses, Herrn Professor Bielefeldt
für diese Arbeit ganz herzlich danken .
({0})
Ich will mich aber auch bei den Fraktionen bedanken,
die sich in unterschiedlicher Art und Weise eingebracht
haben . Dass es diesen Bericht der Bundesregierung gibt,
basiert auf einem Antrag und einem Beschluss des Bundestags . Ich will mich auch bei denjenigen bedanken, die
in den einzelnen Fraktionen für Kirchenfragen zuständig
sind: bei Herrn Dr . Jung von der Union, bei Volker Beck,
der gleich noch sprechen wird, aber auch bei Kerstin
Griese, die heute leider nicht hier sein kann, weil sie in
Kirchenfragen unterwegs ist . Es gab einen konstruktiven
Dialog über die Frage, wie der Bericht von denjenigen,
die in den Fraktionen für Kirchenpolitik zuständig sind,
und denjenigen, die sich hier im Bundestag auf umfassende Weise für Menschenrechtsfragen zuständig fühlen,
erstellt werden soll .
Es handelt sich um einen hochinteressanten Bericht,
weil er, wie gesagt, nicht enumerativ die Situation in den
einzelnen Ländern aufzeigt . Vielmehr gibt er Einblick
darin, dass Religionsfreiheit immer etwas mit der allgemeinen Lage in den einzelnen Ländern zu tun hat . In den
betreffenden Ländern ist nämlich nicht nur die Religionsfreiheit gefährdet . Vielmehr hat das auch etwas mit den
Grundstrukturen der Einschränkung von Menschenrechten zu tun; das macht dieser Bericht deutlich . Der Bericht macht im Übrigen auch deutlich - es ist spannend,
sich mit dieser Frage zu befassen; das ist die Aufgabe
von Heiner Bielefeldt in den letzten sechs Jahren gewesen -, wie unterschiedliche Grund- und Menschenrechte
sich überschneiden und miteinander kollidieren können .
So werden gelegentlich im Namen der Religionsfreiheit
andere Rechte, zum Beispiel die Rechte von Frauen in
den Bereichen Gleichberechtigung und Meinungsfreiheit, infrage gestellt . Hier einen Ausgleich herzustellen,
darüber zumindest zu reden und das zu problematisieren,
das leistet der vorliegende Bericht eben auch .
Noch einmal: Religionsfreiheit kann nicht isoliert betrachtet werden . Vielmehr hängt sie mit Menschenrechtsfragen und dem Menschenrechtsklima in den Ländern
zusammen . Deswegen wünsche ich mir für die Zukunft,
dass Menschenrechtsberichte der Bundesregierung oder
von Institutionen genau diese Abwägung vornehmen und
eine Frage, beispielsweise die Religionsfreiheit, nicht
isoliert betrachten, sondern im Zusammenhang darstellen .
({1})
Christen stellen zweifellos die größte Gruppe dar und
sind am meisten von Verfolgung betroffen. Aber in der
Tat sind alle Religionen von Verfolgung betroffen, wenn
auch auf unterschiedliche Art und Weise . Das hängt von
der spezifischen Situation in den jeweiligen Ländern ab.
Ich will ausdrücklich sagen: Es ist falsch, nur auf das
Christentum zu fokussieren, wie es gerade in Ungarn
geschieht. Dort soll eine Behörde geschaffen werden,
die sich um den Schutz verfolgter Christen in der Welt
kümmert . Das ist richtig, ganz zweifellos richtig . Aber
es hilft auch verfolgten Christen nicht so sehr, wenn man
nur darauf fokussiert . Es hilft auch Christen, wenn wir
Verfolgung aus religiösen Gründen weltweit in den Blick
nehmen .
({2})
Man muss zudem deutlich machen, dass es im Kern häufig gar nicht um religiöse Auseinandersetzungen geht.
Vielmehr geht es oft um machtpolitische Auseinandersetzungen. Ländern werden religiöse Konflikte geradezu
aufgedrückt . Auch das zu erwähnen, gehört zur Debatte .
({3})
Worum es überhaupt nicht geht - das behauptet hier
auch niemand, aber das wird ja gelegentlich draußen im
Land behauptet -, das ist die Frage, ob es einen Kampf
zwischen dem Christentum und dem Islam gibt . Wenn
man sich die Lage realistisch anschaut, dann stellt man
fest, dass es sich bei vielen Konflikten eher um inner
islamische Konflikte handelt oder es um Fragen der
Glaubensauslegung geht . Zweifellos werden Christen
in Nordkorea verfolgt . Aber ich selber habe im letzten
Jahr gesehen, dass buddhistische Mönche in Myanmar
gegen die muslimische Minderheit der Rohingya hetzen;
das hätte ich mir zuvor nicht vorstellen können . Es gibt
hinduistische Eiferer in Indien, die gegen Muslime und
Christen hetzen . Alles das gibt es leider .
Es ist wichtig, das zu betrachten, aber es fällt auch relativ leicht, nach außen zu schauen, zu gucken, was in
der Welt los ist und welche Probleme die einzelnen Länder mit der Religionsfreiheit haben . Viel schwieriger ist
jedoch, sich mit der Situation im eigenen Land - zum
Glück in anderer Ausprägung - auseinanderzusetzen . In
Deutschland gibt es Debatten darüber, die Religionsfreiheit möglicherweise einzuschränken . Es ist schwierig,
sich damit auseinanderzusetzen, weil es Mechanismen,
bei denen die Frage der Religionsausübung für machtpolitische Konflikte benutzt wird, in jedem Land der Welt,
also auch in Deutschland, gibt . Die größte Minderheit in
Deutschland sind - darauf hat Herr Gysi gerade hingewiesen - die Muslime . Man muss nicht besonders darauf hinweisen, dass in Zeiten von Terrorgefahren eine
hochkritische Debatte über das Recht von Muslimen auf
Religionsausübung geführt wird . In Deutschland gibt es
zum Glück das Grund- und Menschenrecht auf Religionsfreiheit . Das heißt - das müssen wir dann aber auch
deutlich sagen -, dass alle Menschen in diesem Land das
Recht haben, zum Beispiel Gotteshäuser zu bauen . Dazu
gehören auch Moscheen, und das sind dann Moscheen
mit Minaretten .
({4})
Damit überhaupt nicht vereinbar - da wundere ich mich
über manche aktuelle Debatte - ist die Überlegung, Quoten für Flüchtlinge nach religiöser Zugehörigkeit einzuführen . Das sind Vorstellungen, die mit der Religionsfreiheit in diesem Land überhaupt nicht vereinbar sind .
({5})
Ich wünsche mir, dass dieser wirklich hervorragende
Bericht, der, glaube ich, auch für andere Länder dieser
Welt wegweisend ist, Anlass gibt, über Religionsfreiheit
in der Welt nachzudenken, und uns ermuntert, aufzustehen und sich, wenn man in anderen Ländern der Welt
unterwegs ist, zu Wort zu melden und laut dafür einzutreten, wie zum Beispiel Herr Kauder das tut . Ich wünsche
mir auch, dass er Anlass ist, einmal innezuhalten und
darüber nachzudenken, was Religionsfreiheit gerade im
Zusammenhang mit den aktuellen Fragen auch für dieses
Land bedeutet . Es geht eben nicht nur um Kämpfe gegeneinander, sondern es geht darum, zu erkennen, dass es in
manchen Ländern bestimmte Strukturen gibt, die die Religionsfreiheit, aber auch die Menschenrechte insgesamt
gefährden . Das zusammen zu sehen, ist, glaube ich, die
große Stärke dieses Berichts .
Vielen Dank .
({6})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen erhält der
Kollege Volker Beck das Wort .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Religionsfreiheit ist immer die Freiheit der Andersgläubigen,
der religiösen Minderheiten, der Religionsfreien und der
Minderheiten in großen Religionsgemeinschaften und religiösen Gruppierungen . Die Religionsfreiheit ist in Artikel 18 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte,
im UN-Zivilpakt und in Artikel 4 unseres Grundgesetzes
verankert .
Oft wird vergessen, dass die Religionsfreiheit drei Dimensionen hat, die alle gleichermaßen für die Gewährleistung der Freiheit von Gesellschaften und der Freiheit
der Individuen von großer Bedeutung sind . Das ist zum
einen die positive Religionsfreiheit des Einzelnen . Das
ist die Religionsfreiheit von Gemeinschaften der Gläubigen, und es ist die negative Religionsfreiheit, von den
Vorstellungen im religiösen Bereich anderer unbelästigt
seine freiheitliche Lebensgestaltung verwirklichen zu
können . Nur alle drei Dimensionen zusammen konstituieren eine freiheitliche Politik für eine freiheitliche Gesellschaft .
({0})
Dies ist weltweit in Gefahr . Da, wo die Menschenrechtslage schwierig ist, ist es meistens auch um die Religionsfreiheit nicht besonders gut bestellt . Deshalb glaube
ich, dass die Diskussion um diesen Bericht und das Thema „Religions- und Weltanschauungsfreiheit“ auch eine
Chance für die Menschenrechtspolitik international und
vor allen Dingen in Genf ist .
({1})
Jede Religion weltweit ist irgendwo in der Minderheit .
Manche sind auch irgendwo in der Mehrheit . Aber da, wo
man in der Minderheit ist, ist man immer darauf angewiesen, dass die religiösen Mehrheiten einem diese Freiheit
gewähren und die Entfaltung der Persönlichkeitsrechte
respektieren .
Ich denke, dieser Bericht, der ein guter Ansatz ist, weil
er die verschiedenen Dimensionen und Konfliktfelder
von Religions- und Weltanschauungsfreiheit aufzeichnet, bleibt hier ein bisschen hinter seinen Möglichkeiten
zurück . Der Kollege Kauder hat es schon angesprochen,
und ich teile diese Auffassung. Ich denke, wenn wir die
Chance nutzen wollen, auf dem internationalen Parkett
Entwicklungen bei der Beschränkung der Religionsfreiheit rechtzeitig zu erkennen und darauf außenpolitisch
und entwicklungspolitisch zu reagieren, dann brauchen
wir länder- und regionenscharf einen Hinweis darauf, wo
etwas besser ist, was wir unterstützen können, und wo
sich etwas zum Unguten entwickelt .
({2})
Der Bericht zeigt zu Recht auf, dass mancher Konflikt, der unter der Flagge „Kampf zwischen Religionen“
daherkommt, oftmals andere Ursachen hat: regionale,
lokale Verteilungskonflikte, Konflikte zwischen Regionen und Ethnien . Es ist oftmals ein Alarmsignal für das
Fortschreiten eines Konfliktes und das Umschlagen von
Auseinandersetzungen in heiße kriegerische Auseinandersetzungen, wenn die Konfliktlage religiösideologisch
überwölbt wird . Ungleiche Machtverhältnisse ökonomischer und sozialer Art werden in dem Bericht benannt .
Die Religion dient hier nur als Begründungszusammenhang, um bestehende Verhältnisse aufrechtzuerhalten
oder Verteilungskonflikte zu legitimieren. Ich glaube,
ein anders aufgestellter Religionsbericht der Bundesregierung könnte in Zukunft, wenn wir einen solchen Bericht regelmäßig erstellen, auch ein Seismograf für Fehlentwicklungen auf dieser Welt sein und uns frühzeitig
alarmieren, um konfliktpräventiv auch politisch zu intervenieren, und er könnte damit vielleicht den Menschen
auf dieser Welt manches Elend ersparen .
({3})
Ich rate auch dazu, das Thema nicht für falsche Polarisierungen zu nutzen . Der Wettbewerb um die Frage, welche
Minderheit auf dieser Welt am stärksten religiös verfolgt
ist, bringt uns nicht weiter . Er ist zum Teil auch banal .
({4})
Die Christen sind die größte religiöse Gruppe auf dieser Welt . Deshalb ist es nicht besonders verwunderlich,
dass sie auch unter den Religionsverfolgten die größte
Gruppe darstellen . Eine Gruppe wie die Bahai, die weltweit nur wenige Millionen Mitglieder hat, aber eine eigenständige Weltreligion ist, kann mit den Zahlen der
Christen selbstverständlich nicht mithalten . Aber schauen wir uns an, wo die meisten Bahai leben, im Iran und
in Ägypten, dann sehen wir, dass diese Gruppe von den
staatlichen Stellen am intensivsten verfolgt wird, weil
sie unter das Apostasieverbot des Islam fällt und oftmals
sozial-bürgerrechtlich überhaupt nicht zur Kenntnis genommen wird .
Herr Kauder, Sie selber waren wegen der Kopten in
Ägypten . Sie haben sicher auch Bahai-Vertreter getroffen . Die haben oftmals keine Geburtsurkunden, sie können am wirtschaftlichen Leben nicht teilnehmen, weil sie
formalrechtlich nicht existent sind und keine Unterlagen
über ihre Existenz bekommen . Obwohl sie gut ausgebildete Leute sind, sind sie völlig ausgeschlossen und müssen immer fürchten, Opfer von Gewalttätigkeiten randalierender Banden zu werden .
Es bringt nichts, dahin zu schauen und zu sagen: Das
ist aber eine kleine Gruppe, die Christen sind eine große
Gruppe . - Wir müssen uns um jeden und jede Einzelne
kümmern, deren Religionsfreiheit in Gefahr ist,
({5})
ob das die Rohingya in Myanmar oder ob das christliche Gruppierungen im Iran sind . Es gibt nämlich das
Problem, dass in manchen Ländern, gerade im Iran, wo
die Rechte von althergebrachten orthodoxen kirchlichen
Gruppierungen durchaus respektiert werden, neue religiöse Erscheinungsformen im Christentum, insbesondere
aus dem evangelikalen Bereich - das gilt auch für die
zentralasiatischen Staaten - oftmals brutalster Verfolgung ausgesetzt sind . Deshalb ist da Präzision und genaues Hinschauen erforderlich . Ich glaube, auch im
weltweiten Dialog hört man uns nur zu, wenn wir für das
Prinzip der Religionsfreiheit streiten und es verteidigen,
nicht wenn wir uns nur um unsere Glaubensbrüder und
Glaubensschwestern in anderen Teilen der Welt bemühen, zumal das auch nicht besonders christlich wäre .
({6})
Es gibt auch die negative Religionsfreiheit; das habe
ich vorhin angesprochen. Ich finde es sehr gut und mutig - da ist der Bericht vergleichbaren internationalen Berichten deutlich voraus -, dass man erkannt hat, dass es
bei der negativen Religionsfreiheit auch um Dinge geht,
die nicht in erster Linie im Blick sind, wenn wir über
Religionsfreiheit reden . Wenn religiöse Vorstellungen
das Familienrecht und das Strafrecht eines Landes prägen, wenn es um die Rechte von Frauen geht, das Recht
auf Scheidung, das Recht auf Wiederverheiratung, das
Recht auf Schutz vor sexueller Gewalt, oder wenn es um
die Rechte von Homosexuellen und Transsexuellen geht,
geht es auch um die Frage der negativen Religionsfreiheit bzw . darum, die Möglichkeit zu haben, nicht so sein
bzw . leben zu müssen, wie die Mehrheit glaubt, dass es
ihnen ihr Gott vorgeschrieben hat .
({7})
Darauf zu achten und darüber zu reden, ermöglicht es
uns vielleicht auch, in Genf mit Ländern ins Gespräch zu
kommen, bei denen wir sonst beim Thema Frauen- und
LGBT-Rechte gleich abblitzen, wenn wir das auch nur
erwähnen .
Wir sollten einen umfassenden Religionsdialog starten und sagen, dass es um die Freiheit der verschiedenen
Haltungen und Gemeinschaften geht . Wir sollten sagen:
So, wie wir eure mehrheitliche Haltung respektieren wollen, so erwarten wir, dass ihr in euren Ländern unsere und
andere Haltungen in gleicher Weise rechtlich schützt . Ich
würde unsere Diskussion gerne in diese Richtung vorantreiben und hoffe, dass wir uns in den Fachausschüssen
zumindest unter den Fraktionen, die diesen Bericht mitgetragen haben, darauf verständigen können, zu sagen:
Wir wollen einen Bericht der Bundesregierung zur weltweiten Lage der Religions- und Weltanschauungsfreiheit
als regelmäßige Institution . Damit wir als Parlamentarierinnen und Parlamentarier aber besser damit arbeiten
können, sollte er länder und entwicklungsspezifisch aufgeschlüsselt sein; denn nur dann macht ein regelmäßiger
Bericht Sinn .
({8})
Johannes Paul II . hat gesagt:
Das Recht auf Religionsfreiheit … stellt so etwas
wie die Existenzgrundlage für die anderen fundamentalen Freiheiten des Menschen dar .
Ich weiß nicht, ob er das im Sinne des eben von mir Gesagten im Hinblick auf die drei Dimensionen meinte .
Wenn man es aber so versteht, wird ein Schuh daraus,
und es wird uns als Bundesrepublik Deutschland vielleicht gelingen, in Genf eine neue Initiative für eine bessere und fundamentalere Auseinandersetzung über die
Grundlagen der Menschenrechte zu starten .
Vielen Dank .
({9})
Für die Bundesregierung erhält nun die Staatsministerin Maria Böhmer das Wort .
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Bundesregierung hat diesen Bericht auf
Antrag des Bundestages vorgelegt . Darin werden die
weltweite Lage sowohl der Religionsfreiheit als auch der
Weltanschauungsfreiheit erfasst . Dies geschieht in der
Überzeugung, dass der Religions- und Weltanschauungsfreiheit eine große Bedeutung als Eckpfeiler einer stabilen und friedlichen Ordnung zukommt . Religionsfreiheit
und ein friedliches Zusammenleben bedingen einander .
Unser Grundgesetz, die Allgemeine Erklärung der
Menschenrechte der Vereinten Nationen und der VN-Zivilpakt, den 168 Staaten der Welt ratifiziert haben, schützen das Grundrecht auf Gewissens- und Religionsfreiheit .
Keine Frage: Die Religions- und Weltanschauungsfreiheit ist ein universelles Menschenrecht, und sie wird in
immer mehr Staaten prinzipiell rechtlich abgesichert . Die
Wirklichkeit aber sieht oft dramatisch anders aus .
Millionen von Menschen werden weltweit Tag für
Tag in ihrer Religions- und Weltanschauungsfreiheit
eingeschränkt . Viele werden verfolgt, gedemütigt und
kommen zu Tode . Religion wird missbraucht, um Unterdrückung, Gewalt und Unrecht zu legitimieren, wie
wir es in erschreckender Weise im Irak oder in Syrien
erleben . In diesen Urgebieten des Christentums sind es
besonders häufig Christen, die unter Repressionen, Gewalt und Vertreibung leiden müssen . Aber auch Jesiden
und Muslime sind Opfer des brutalen und menschenverachtenden IS-Terrors geworden . In dieser verzweifelten
Situation gilt es den Menschen zur Seite zu stehen . Zunehmend ist zu beobachten, dass schwache Staatlichkeit,
Korruption und schwierige wirtschaftliche Bedingungen
den mangelnden Schutz von Religionsgemeinschaften
mit verursachen .
Über den Stand der Religions- und Weltanschauungsfreiheit liegt uns eine Reihe von nationalen und internationalen Berichten vor . Dabei handelt es sich in der Regel um Länderberichte . Im Auswärtigen Amt haben wir
uns daher sehr intensiv die Frage gestellt: Was könnte
der Mehrwert eines solchen Berichtes sein, den wir dem
Deutschen Bundestag vorlegen? Wir haben uns für einen
neuen, strukturellen Ansatz entschieden . In diesem BeVolker Beck ({0})
richt wird anhand konkreter Länderbeispiele eine Typologie der Rechtsverletzungen entwickelt .
Ich halte es für wichtig, dass wir über diesen Ansatz
ebenso diskutieren wie über die Inhalte des Berichts .
Wir geben uns bei diesem Bericht nicht nur mit einer
Situationsbeschreibung und einer Analyse zufrieden .
Der Bericht zeigt konkrete Ansatzpunkte auf, um gegen
die Verletzungen vorgehen zu können: erstens bei der
Rechtsetzung, zweitens bei der Schaffung von Strukturen
und drittens in vielen Einzelfällen . Lassen Sie mich Engagement und konkretes Handeln der Bundesregierung
für Religions- und Weltanschauungsfreiheit anhand dieser drei Punkte zusammenfassen .
Erstens . Wo Rechtsetzung nötig ist, unterstützt die
Bundesregierung diese Prozesse . So konnten in der
EU-Ratsarbeitsgruppe Menschenrechte bereits 2013 umfassende Leitlinien zur Förderung und zum Schutz der
Religionsfreiheit beschlossen werden . Wir unterstützen
die Arbeit des OSZE-Büros für demokratische Institutionen und Menschenrechte . Wir entsenden Personal und
finanzieren Projekte.
Zweitens . Wir wollen dauerhafte Strukturen für den
Dialog, insbesondere für den religiösen Dialog, fördern .
Wenn die Kenntnisse über andere Religionen wachsen,
wenn Menschen miteinander reden, dann entwickeln sie
Respekt und Verständnis füreinander . In Deutschland
haben wir Erfahrungen mit der Deutschen Islam-Konferenz gesammelt . Sie ist jetzt zehn Jahre alt . Sie könnte
ein Beispiel für andere Länder sein, wie man aufeinander
zugeht und wie man eine solche Plattform schafft.
Wir bringen in vielen Ländern geistliche Führer und
Menschen unterschiedlicher Religionen zusammen . Das
ist kein leichtes Unterfangen . Aber ich bin davon überzeugt, dass sich solche Vorurteile und Gegensätze nur
im Dialog überwinden lassen und so ein friedliches Miteinander möglich ist . Die deutsche Präsidentschaft im
VN-Menschenrechtsrat haben wir vielfach für Religionsfreiheit genutzt, und wir haben die Fortsetzung des
sogenannten Istanbul-Prozesses unterstützt .
Drittens . In vielen Einzelfällen, etwa wenn es um
grausame Strafen oder sogar um drohende Todesstrafen
geht, setzen sich das Auswärtige Amt und seine Botschaften unmittelbar für die Betroffenen ein. Sie wissen:
Um die Opfer nicht unnötig zu gefährden, werden solche
Demarchen oft nicht öffentlich gemacht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, viele von Ihnen
sprechen auf ihren Auslandsreisen die Verletzungen der
Religionsfreiheit gezielt an und treffen sich mit Menschen, die unter religiöser Verfolgung leiden . Ihr Einsatz
ist mehr als hilfreich, und ich möchte Ihnen dafür sehr
herzlich danken .
({1})
Religion kann wunderbare positive Kräfte und Energien entwickeln . Sie ist eine Kraft des Guten, aber nur,
wenn sie frei ausgeübt, ihre Ausübung geschützt und eine
Instrumentalisierung verhindert wird . Der Staat ist dazu
verpflichtet, einen Rahmen für diese freie Ausübung zu
schaffen. Doch gerade den Religionsgemeinschaften
selbst kommt eine zentrale Verantwortung für ein friedliches Zusammenleben der Menschen unterschiedlicher
Religion zu . Außenpolitik hat hier eine unterstützende
Funktion . Unser Einsatz für Religions- und Weltanschauungsfreiheit dient der Krisenprävention und der Stabilisierung .
Die Begegnung mit der Internationalen Parlamentariergruppe für Religionsfreiheit vergangene Woche und die
heutige Debatte empfinde ich als eine große Ermutigung
auf dem zugegebenermaßen oft steinigen Weg .
Herzlichen Dank .
({2})
Angelika Glöckner erhält nun das Wort für die
SPD-Fraktion .
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Wir beraten heute über den Bericht der
Bundesregierung zur Lage der Religions- und Weltanschauungsfreiheit weltweit. Ich finde, das ist gut so; denn
gerade mit Blick auf die vielen weltweiten Krisen und
Konflikte ist dies von besonderer Bedeutung. Mein Dank
geht ebenfalls an das Auswärtige Amt und allen voran an
Herrn Außenminister Frank-Walter Steinmeier für diesen
umfassenden Bericht .
In Deutschland ist die Religions- und Glaubensfreiheit ein Rechtsgut von höchstem Rang . Danach steht es
dem Individuum frei, seinen Glauben zu bilden, danach
zu leben, ihn zu äußern, und ebenso steht es ihm frei, sich
danach zu verhalten, oder auch, sich keinem Glauben zuzuwenden . Außerdem steht es dem Individuum frei, den
Glauben zu wechseln . Das alles zeigt, wie umfassend der
Schutzzweck dieser Norm ist und was es heißt, seine Religions- und Glaubensfreiheit ausüben zu können .
Der Bericht hebt deutlich hervor, dass aufgrund der
Universalität dieses Menschenrechts der Schutz in der
ganzen Welt gelten muss . Aber dem ist mitnichten so . In
vielen Teilen dieser Welt ist Religionsfreiheit schlichtweg nicht existent oder im besten Fall bedroht . Daher
finde ich es gut, dass wir heute darüber diskutieren, wie
Lebenssituationen betroffener Menschen verändert werden können. Ich finde den Bericht in seiner Gesamtheit
sehr aufklärend . Es sind sehr viele gute Ergebnisse enthalten . Ich will auf zwei Punkte besonders eingehen .
Erstens wird darauf hingewiesen, dass es ganz unterschiedliche Formen von Verletzungen des Rechts auf
Religionsfreiheit gibt . Diese können sich zeigen im erschwerten Zugang zu Bildung, zu öffentlichen Ämtern
bzw . Mandaten oder in der Verweigerung, eine Nationalität anzuerkennen oder Pässe auszustellen . Es kann
einen Verstoß aus Familien geben, bis hin zu Folter,
Vertreibung und im schlimmsten Fall sogar Tod . Menschenrechtsverletzungen finden in allen Systemen, in
allen Regionen weltweit statt . Das zeigt aber auch, wie
folgerichtig es ist, dass der Bericht dieses Thema so differenziert beleuchtet; denn so verschieden die Formen
der Menschenrechtsverletzungen ausfallen, so unterschiedlich muss ihnen entgegengewirkt werden .
({0})
Zweitens erfolgt der Hinweis, dass Religionen von
Regimen oft missbraucht werden, um den eigenen
Machtanspruch zu untermauern und Minderheiten zu unterdrücken . Wir kennen das von den Rohingya-Muslimen
in Myanmar oder auch von der Gewalt gegen Christen
und Muslime in Indien . Es kommt auch vor, dass Staaten
ihre Bevölkerung nicht vor Menschenrechtsverletzungen schützen können oder wollen, etwa weil das Staatssystem sehr zerbrechlich ist - Syrien, Irak, Nordafrika
und die Länder der Sahelzone sind gute Beispiele - oder
weil anstelle von Staatlichkeit Korruption und Willkür
vorherrschen, so wie es in Saudi-Arabien oder Iran der
Fall ist . All diesen Gewalttaten und Einschränkungen
ist gemein, dass die Religion meist nur als Argument instrumentalisiert wird und eben nicht ursächlich ist für
Gewalt, Verfolgung und Diskriminierung .
Gemein ist all diesen Verbrechen aber auch, dass sie
fast immer in Staaten vorkommen, in denen auch weitere Menschen- und Freiheitsrechte nicht garantiert sind .
Deshalb darf Religionsfreiheit nicht losgelöst von anderen Menschenrechten betrachtet werden . Wir müssen uns
dafür einsetzen, dass Staaten sich allen Menschenrechten
verpflichtet fühlen. Das gilt insbesondere für Freiheitsrechte wie die Meinungsfreiheit oder die Pressefreiheit
und eben auch die Religions- und Weltanschauungsfreiheit . Wie stark sich Deutschland bereits heute dafür
macht, zeigt der Einsatz in vielen Gremien, etwa den Vereinten Nationen, der EU, der OSZE oder dem Europarat .
Wir sind in vielen Ländern an Projekten zur Förderung
von Bildung und einer effektiven Justiz beteiligt sowie an
Projekten im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit,
die Vertrauen zwischen religiösen Gruppen schaffen und
Vorbehalte abbauen .
Meine Damen und Herren, ich finde, das ist ein ganz
wesentlicher Punkt; denn es kommt, wenn wir über Religions- und Weltanschauungsfreiheit reden, sehr maßgeblich darauf an, dass es gelingt, unterschiedliche Religionsgemeinschaften zusammenleben zu lassen .
({1})
Ganz besonders gilt es aber auch, den Dialog mit den
Verantwortlichen und Machthabern dieser Welt nicht abreißen zu lassen und immer nach politischen Lösungen
zu suchen . Ich bin unserem Außenminister Frank-Walter
Steinmeier sehr dankbar, dass er ein vehementer Verfechter des ständigen Dialogs und politischer Lösungen
ist und zu jeder Zeit in allen Krisengebieten dieser Welt
unterwegs ist .
Bei allem, was wir tun, um Religionsfreiheit in der
Welt voranzubringen, müssen wir aber auch die Situation im eigenen Land und in Europa immer wieder selbst
reflektieren. Die Situation in Deutschland in Bezug auf
die Religions- und Weltanschauungsfreiheit ist gut . Wir
haben eine exzellent funktionierende Rechtsstaatlichkeit .
Alle Menschen in unserem Land unterstehen dem Schutz
des Artikels 4 unseres Grundgesetzes und haben das
Recht, ihre Religion oder Weltanschauung frei zu entfalten . Wenn sie sich darin beeinträchtigt fühlen, können sie
ihr Recht ohne Angst vor Repressionen einklagen . Wir
müssen alles dafür tun, dass dies auch so bleibt .
Gerade in den letzten Monaten wurden immer wieder
Vorschläge in die öffentliche Diskussion eingebracht, die
mich mit Blick auf die Religions- und Glaubensfreiheit
betroffen machen. Wir selbst wollen in unserem Land
frei leben . Wenn wir dies selbst wollen, dann müssen
wir dies aber auch für andere gelten lassen . Es gibt kein
Gleich und Gleicher; auch das gebietet unser Grundgesetz . Forderungen wie die, Zuwanderer aus dem christlich-abendländischen Kulturkreis vorzuziehen, haben
nach den Grundsätzen, über die wir heute sprechen, hier
keinen Platz .
({2})
Ich wünsche mir, dass auch der Koalitionspartner mit
Blick auf die heutige Diskussion noch einmal darüber
nachdenkt . Genau so, auf Basis dieser Werte und eingebunden in eine feste Wertegemeinschaft mit den europäischen Partnerstaaten, ist es uns gelungen, Deutschland zu
dem zu machen, was es heute ist: ein sehr wohlhabendes
und hochangesehenes Land, ein Land, auf das man stolz
sein kann . Darüber sollte man nachdenken, bevor man
jenen nacheifert, die ebendiese Werte infrage stellen .
Herzlichen Dank .
({3})
Das Wort erhält nun die Kollegin Erika Steinbach von
der CDU/CSU-Fraktion .
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Religion ist ein elementarer Teil der Identität von
Gläubigen unterschiedlichster Konfessionen . Aufgrund
von Forschungen wissen wir, dass Religiosität von Anfang an Menschen in ihrer Identitätsbildung unterstützt
und ihnen hilft, die Fragen der eigenen Existenz und zum
Platz im Leben und in der Welt zu beantworten . Darum
ist es so unverzichtbar, den eigenen Glauben artikulieren
und leben zu dürfen . Deshalb ist es richtig, dass Religionsfreiheit ein ganz zentrales Menschenrecht ist .
({0})
Leider müssen wir erkennen, dass die Unterdrückung
von Religionen und damit die Unterdrückung von Menschen in den letzten Jahren beständig zugenommen hat,
wobei insbesondere Religionsgemeinschaften, die in ihrem Land zu einer Minderheit gehören, davon betroffen
sind . Diese Einschränkungen der Religionsfreiheit sind
häufig Ergebnis gezielter Politik, etwa wenn die Mehrheitsreligion ihren Wahrheitsanspruch staatlich verankert
hat und auf jeden Fall durchsetzen will . Aber auch das
Aufkommen extremistischer und terroristischer OrgaAngelika Glöckner
nisationen in Verbindung mit schwacher Staatlichkeit
führt - für uns deutlich erkennbar - zu religiös begründeten Gewaltexzessen . Das können wir im Nahen Osten auf
tragische Weise beobachten .
Unsere Fraktion, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion,
setzt sich seit vielen Jahren im Rahmen ihrer wertegeleiteten Außenpolitik für das Menschenrecht auf Religionsfreiheit ein: für die Christen im Nahen und Mittleren
Osten genauso wie für die Jesiden im Irak, die Bahai im
Iran, die Tibeter in China oder die bedrängten Christen
und Muslime in Indien, wobei die meisten nicht wissen,
dass es dort eine Bedrängung gibt . Von der Anzahl her
sind Christen weltweit besonders häufig von Unterdrückung und Verfolgung betroffen.
Der Zustand der Religionsfreiheit ist ein deutlicher Indikator für die allgemeine Menschenrechtslage in einem
Staat . Das kann man in allen Staaten dieser Welt verfolgen . Wo es keine Religionsfreiheit gibt, sind in der Regel
auch die anderen zentralen Freiheits- und Menschenrechte in Gefahr oder schon nicht mehr vorhanden .
({1})
Der Bericht der Bundesregierung zeichnet ein globales, aber durchaus noch nicht ganz vollständiges Bild
der Herausforderungen für die Religionsfreiheit; Volker
Kauder hat darauf mit gutem Recht hingewiesen .
Für Deutschland müssen wir darüber hinaus registrieren und erkennen, dass als Folge der großen Migrationsbewegungen global zu beobachtende Defizite religiöser
Intoleranz inzwischen auch verstärkt bei uns spürbar
sind . So sind vor allem in den letzten Jahren Menschen
aus Gesellschaften nach Europa und nach Deutschland
gekommen, in denen sie ohne religiöse Toleranz aufgewachsen sind und sie gar nicht kennen; sie wissen gar
nicht, was religiöse Toleranz ist . Als Folge davon müssen
wir in Deutschland schon mit Sorge die Zunahme antisemitischer Strömungen und unverhohlener Aggressivität
gegenüber Christen, Jesiden und auch gegenüber Konvertiten in deutschen Asylunterkünften registrieren .
({2})
Frau Steinbach, darf die Kollegin Buchholz eine Zwischenfrage stellen?
Aber gerne .
Frau Steinbach, Sie sprechen hier von „religiöser Intoleranz“ . Ich will das einmal zusammen mit der Aussage
von Herrn Kauder betrachten, der bezweifelt hat, dass es
in Deutschland antimuslimischen Rassismus gibt, wie
das ja im Bericht der Bundesregierung vermerkt ist . Ich
frage Sie: Wenn sich eine junge Frau viermal öfter bewerben muss, um einen Job zu bekommen, wenn sie ein
Kopftuch trägt, als wenn sie kein Kopftuch trägt, haben
wir es nicht dann mit einem Rassismus gegen Muslime
zu tun? Ist es nicht so, dass sich Religionsfreiheit nicht
daran misst, wie die Mehrheit behandelt wird, sondern
inwieweit die Minderheiten gleiche Rechte haben? Ich
würde Sie sehr bitten, darauf einzugehen, wie es hier um
die Minderheit der Muslime und andere religiöse Minderheiten in Deutschland bestellt ist, und eher vor der
eigenen Haustür zu kehren, bevor Sie den Blick in die
große, weite Welt schweifen lassen .
({0})
Frau Kollegin, ich nehme ja gerade die Situation vor
der eigenen Haustür, nämlich Deutschland, in den Blick,
das ja in dem Bericht praktisch nicht vorkommt . Vor dem
Hintergrund wissen wir: Die Würde eines jedes Menschen ist nach unserer Verfassung unantastbar .
Berichte über Spannungen zwischen verschiedenen
religiösen Gruppen in Flüchtlingsunterkünften, selbst
zwischen Angehörigen unterschiedlicher muslimischer
Glaubensrichtungen wie Sunniten, Schiiten oder Aleviten, zeigen uns, dass das religiöse Konfliktpotenzial hier
in Deutschland angekommen ist und uns vor erhebliche
Herausforderungen stellt und stellen muss . Wir dürfen
diese Situation nicht ignorieren, und wir dürfen die Problematik auch nicht unterschätzen .
({0})
Verkennen dürfen wir auch nicht, dass es bei uns in
Deutschland inzwischen islamistische Versuche gibt nicht Versuche des Islam -, Religion als politisches Vehikel zu missbrauchen und zum Beispiel das Tragen ausgrenzender Kleidung wie Burka oder Nikab als religiös
zu begründen, obwohl dem so nicht ist .
({1})
Ein Mitglied des Hohen Geistlichen Rates der Al- AzharUniversität in Kairo hat deutlich gesagt: Der Nikab schadet dem Islam . ({2})
Das sollten wir uns hier in Deutschland dann auch einmal
vor Augen führen . Gesellschaftspolitische Vorstellungen
mithilfe von solchen extremistischen Bekleidungsvorschriften umzusetzen - ich glaube, wir sollten darüber
nachdenken, ob das unserem Land guttut .
Insgesamt macht der Bericht der Bundesregierung
deutlich, dass die Herausforderung des Menschenrechts
auf Religions- und Glaubensfreiheit sehr verschiedene
Facetten hat . Der Bericht ist in dieser Form eine Momentaufnahme, die durchaus noch verbesserungsfähig
ist, aber es ist eine gute Grundlage. Wir erhoffen uns
weitere Berichte, eine Kontinuität der Berichterstattung,
bei der dann auch die angeführten Lücken gefüllt werden . Denn eines ist uns allen deutlich - wir können es
weltweit beobachten -: Religiös motivierte Spannungen
nehmen leider zu .
Danke schön .
({3})
Nächster Redner ist der Kollege Dietmar Nietan für
die SPD-Fraktion .
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich bin der festen Überzeugung, dass der uns
von der Bundesregierung vorgelegte Bericht zur weltweiten Lage der Religions- und Weltanschauungsfreiheit
eine große Chance bietet, weil er es ermöglicht, mit einem
anderen Blick sehr differenziert und deutlich Typologien
und Wirkungsweisen der Verletzung des Rechts auf Religions- und Weltanschauungsfreiheit herauszuarbeiten .
Deshalb wäre es aus meiner Sicht nicht zielführend, in
eine Diskussion über ein Entweder-oder einzusteigen:
Muss das jetzt eine Staatenliste werden, oder kann er so
bleiben, wie er ist? Sehen wir es so, wie Frau Staatsministerin Böhmer es zu Recht gesagt hat: Er bringt einen
Mehrwert, weil er uns neue Aspekte für unseren Kampf
für Religions- und Weltanschauungsfreiheit liefert .
({0})
Ich sage das an dieser Stelle auch als jemand, der sich
als Christ in einer besonderen Weise berührt fühlt, wenn
Schwestern und Brüder in der Welt verfolgt werden .
Ich bin der festen Überzeugung, dass wir ein Problem
bekommen, wenn wir Menschenrechtsverletzungen im
Bereich der Religionsfreiheit je nach Glaubensrichtung,
die betroffen ist, je nach Anzahl der Betroffenen, je nachdem, welche handelnden Staaten mit welchem politischen System es sind, unterschiedlich intensiv bewerten .
Dann laufen wir Gefahr, direkt die Axt an den universellen Charakter der Menschenrechte anzulegen . Deshalb
muss für uns gelten: Jeder Mensch, dessen Würde mit
Füßen getreten wird, ist uns gleich wichtig, liebe Kolleginnen und Kollegen .
({1})
Es darf nicht der Eindruck entstehen - das will ich
hier niemandem unterstellen -, dass ein Parlament oder
eine Regierung sich zum Anwalt einer bestimmten Religion macht . Es darf keinen Zweifel daran geben: Wir alle
machen uns vielmehr zum Anwalt jedes einzelnen Menschen, dem ein elementares Grundrecht genommen wird .
Ich glaube, wir können den Menschen nur helfen, wenn
wir diesen Ansatz konsequent weiterverfolgen .
({2})
Dazu gehört zum Beispiel auch, dass wir bei der Aufnahme von Flüchtlingen keine Opfergruppen bevorzugen
oder zumindest den Anschein erwecken, als würden wir
eine Opfergruppe bevorzugen .
({3})
Warum betone ich diese Punkte? Ich will darauf hinweisen, dass wir möglicherweise mit einer starken Zuwendung hin zum Problemkreis der verfolgten Christinnen und Christen, der ohne Zweifel der größte ist, das
Gegenteil erreichen, nämlich dass ihre Verfolger unsere
Hinwendung als Vorwand nutzen, sie weiter zu stigmatisieren . Denn was heißt „Boko Haram“? Das heißt
übersetzt: Westliche Bildung ist Sünde . Wir sollten nicht
den Eindruck erwecken, als seien die dort Verfolgten die
fünfte Kolonne des Westens, weil wir aus dem Westen
sagen: Wir kümmern uns besonders um Christen, liebe
Kolleginnen und Kollegen .
Es geht aber auch um die Glaubwürdigkeit des Einsatzes für Religionsfreiheit als ein universelles Menschenrecht . Denn gerade diejenigen, die intolerant sind,
die Religionsfreiheit mit Füßen treten, berufen sich oft
darauf und sagen, dass die Menschenrechte ein Herrschaftsinstrument des Westens seien . So wollen sie die
Menschenrechte diskreditieren . Deshalb sollten wir
immer wieder deutlich machen, dass wir keine Gruppe
bevorzugen, dass es uns wirklich darum geht, ein universelles Menschenrecht überall auf der Welt, auch bei uns,
durchzusetzen .
({4})
Es ist hier schon öfter angesprochen worden: Wichtig
im Kampf für die Menschenrechte ist immer die eigene
Glaubwürdigkeit; denn diejenigen, die die Menschenrechte mit Füßen treten, versuchen alles, um unsere
Glaubwürdigkeit zu hinterfragen . Deshalb müssen wir
in den Debatten, die wir jetzt im eigenen Land erleben,
deutlich machen - daran darf kein Zweifel aufkommen -,
dass der Garant von Religionsfreiheit, auch bei uns, ein
säkularer, weltanschaulich neutraler Staat ist und nicht
ein christlicher oder ein muslimisch geprägter Staat . Nur
der säkulare Staat, der weltanschaulich neutral ist, kann
ein glaubwürdiger Verfechter des Rechtes auf Religionsfreiheit sein .
({5})
Ich betone das auch deshalb, weil es nicht nur um den
Kampf für das individuelle Menschenrecht geht, sondern
weil wir uns, auch im eigenen Land, in einem Kampf um
die offene Gesellschaft befinden. Natürlich müssen wir
die Dinge offen ansprechen. Natürlich ist es nicht akzeptabel, wenn es immer noch Moscheen in Deutschland
gibt, in denen jeden Freitag der Hass gegen die offene
Gesellschaft gepredigt wird . Darüber darf man nicht hinwegsehen .
({6})
Wir dürfen aber auch in unserer Außenpolitik nicht darüber hinwegsehen, dass es zum Beispiel bei unserem
Nachbarn Russland eine unheilige Allianz von Staat und
orthodoxer Kirche gibt, die gegenüber Schwulen und
Lesben mittlerweile eine Politik an den Tag legt, die pogromhafte Züge hat . Auch das muss gesagt werden .
({7})
Ja, wir brauchen Toleranz, und wir brauchen vor allen Dingen Respekt gegenüber glaubenden Menschen,
auch wenn sie einen Glauben vertreten, den wir ganz
und gar nicht teilen können . Wir dürfen Toleranz aber
nicht mit Relativismus und Gleichgültigkeit verwechseln. Zur Toleranz gehört, dass wir zu Fragen der offenen Gesellschaft, der Demokratie, der Meinungsfreiheit,
der Gleichberechtigung von Mann und Frau einen klaren
Standpunkt haben, und diesen klaren Standpunkt müssen
wir immer wieder deutlich machen . Es darf nicht sein,
dass wir aus Angst, wir würden religiöse Gefühle anderer verletzen, schweigen, wenn zum Beispiel unter dem
Vorwand der Religion Frauenrechte mit Füßen getreten
werden . Da müssen wir dann auch klar und deutlich sein .
({8})
Wir müssen uns auch darüber Gedanken machen, wie
es in diesem Land insgesamt um die Toleranz gegenüber
religiösen Minderheiten steht . Es ist nicht akzeptabel,
dass jüdische Mitbürger es sich zweimal überlegen, ob
sie eine Kippa in der Öffentlichkeit tragen, weil das dazu
führt, dass sie sich nicht sicher fühlen können . Es kann
auch nicht sein - auch das will ich an dieser Stelle sagen;
denn auch da beginnt Intoleranz gegenüber dem Religiösen -, dass sich zum Beispiel eine junge Studentin,
eine Christin, die sich in einer Mensa, also im öffentlichen Raum, vor dem Essen bekreuzigt, von Teilen der
Mehrheitsgesellschaft anhören muss, sie sei mittelalterlich und rückschrittlich und so etwas passe nicht . Es darf
nicht sein, dass sich Menschen beim Ausüben ihrer Religion in der Öffentlichkeit verletzt fühlen und Teile der
Mehrheitsgesellschaft fordern, Religion als Privatsache
zu behandeln und sie im öffentlichen Raum nicht mehr
zu zeigen . Auch da müssen wir deutlich machen: Religion hat ihren Platz auch im öffentlichen Raum. Wenn das
Zeigen von Religion im öffentlichen Raum nicht mehr
möglich sein sollte, beginnt die Religionsfeindlichkeit .
({9})
Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Dies ist ein
wichtiges Thema . Deshalb bin ich dankbar, dass wir
uns in einer, wie ich finde, sehr differenzierten Debatte
mit diesem Thema auseinandersetzen . Ich möchte zum
Schluss um eines bitten: Wir alle wissen, wie das mit der
parteipolitischen Brille ist . Wir sind Politikerinnen und
Politiker . Wir alle schauen hin und wieder durch diese
parteipolitische Brille . Für die Religionsfreiheit und die
offene Gesellschaft tun wir aber am meisten, wenn wir
hinsichtlich unserer Empörungsbereitschaft und Kritik
nicht selektiv sind .
Herr Kollege .
Es ist kein Widerspruch - im Gegenteil: es gehört zusammen -, wenn wir uns genauso klar, wie wir gegen
Hassprediger in Moscheen vorgehen, äußern, wenn eine
Partei wie die AfD den Islam als Religion diskriminiert,
verallgemeinernd als Gefahr darstellt und damit den Zusammenhalt in unserem Land gefährdet . Beides muss
gesagt werden . Wir sollten an dieser Stelle nicht selektiv
sein . Manchmal habe ich den Eindruck, dass wir die Verfehlungen der einen verschweigen, während wir bei den
Verfehlungen der anderen besonders laut sind . Wenn wir
an dieser Stelle Glaubwürdigkeit zeigen, dann, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist das die beste Waffe für eine
offene Gesellschaft und mehr Religionsfreiheit.
Vielen Dank .
({0})
Thomas Silberhorn ist der nächste Redner für die Bundesregierung als Parlamentarischer Staatssekretär in einem der beteiligten Ministerien . - Bitte schön .
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident . - Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Drei Viertel der Menschheit lebt in Staaten, in
denen die Religionsfreiheit und Weltanschauungsfreiheit
nicht gewährleistet wird oder erheblich eingeschränkt ist .
Die Repressalien sind vielfältig . Sie reichen von administrativen Hindernissen, etwa kein Zugang zu öffentlichen Ämtern, über soziale Stigmatisierungen bis hin zu
drakonischen Strafen, etwa der Todesstrafe bei Wechsel
der Religion .
Wir setzen uns in der Entwicklungspolitik dafür ein,
dieses Menschenrecht auf Religions- und Weltanschauungsfreiheit zu schützen und die Gesellschaften zu stärken, die für Toleranz und ein friedliches Miteinander
eintreten; denn wir wollen und wir brauchen eine Welt,
in der wir alle im gegenseitigen Respekt und in Achtung
vor Kulturen und Religionen ein friedliches Auskommen
haben .
Der Schutz und die Gewährleistung der Religionsund Weltanschauungsfreiheit haben genauso wie alle
anderen Menschenrechte einen festen Platz in unserer
Entwicklungspolitik . Dafür wollen wir die Religionsgemeinschaften als Partner gewinnen . Wir dürfen das Feld
nicht den Extremisten und den Fanatikern überlassen, die
Terror predigen, denen es nicht um Glauben geht, sondern die Religion für ihre politischen Zwecke missbrauchen .
Wir müssen deshalb auch die religiösen Führer und die
Gläubigen stärken, die sich in ihren Gesellschaften für
Toleranz und für Freiheit einsetzen . Ich möchte an dieser
Stelle an die Worte erinnern, die vor wenigen Tagen der
marokkanische König Mohammed VI . gefunden hat, als
er sich in einem eindringlichen Appell an alle Muslime
gewandt hat . Er hat ausdrücklich alle Formen des Terrorismus, Extremismus und Radikalismus verurteilt . Er
verurteilt die Prediger - ich zitiere -, „die junge Muslime
benutzen, speziell in Europa, . . . um ihre Irrlehren und abDietmar Nietan
wegigen Versprechen zu verbreiten und Gesellschaften
anzugreifen, die Freiheit, Offenheit und Toleranz wollen“. Ich finde, das ist ein außerordentlich beeindruckendes Statement des marokkanischen Königs . Stimmen wie
diese sollten wir in unseren internationalen Beziehungen
stärker beachten und in unsere Arbeit einbeziehen .
({0})
Wir müssen das positive Potenzial von Religionsgemeinschaften in unsere internationale Zusammenarbeit
einbeziehen . Deshalb haben wir im Februar dieses Jahres
zum ersten Mal überhaupt für unser Ministerium eine international vielbeachtete neue Strategie zum Thema „Religionen als Partner in der Entwicklungszusammenarbeit“ vorgestellt . Wir haben sie zusammen mit Vertretern
aller Weltreligionen, der Wissenschaft, der Zivilgesellschaft aus dem In- und Ausland erarbeitet . Sie wird von
vielen internationalen Akteuren als Vorbild genommen .
Wir wollen damit zeigen, dass Religion ein Katalysator
für Entwicklung sein kann .
Meine Damen und Herren, religiöse Gemeinschaften sind in vielen Ländern oft näher an den Menschen
dran als Politiker . In vielen Ländern wären die Gesundheitsversorgung und das Bildungswesen überhaupt nicht
funktionsfähig, wenn es nicht das breite Engagement von
vielen Religionsgemeinschaften gäbe . 80 Prozent der
Weltbevölkerung gehören einer Religionsgemeinschaft
an - 80 Prozent! Das kann Politik nicht ignorieren, wenn
wir die Lebenswirklichkeit einer großen Mehrheit der
Weltbevölkerung wirklich erfassen wollen . Wir sehen
das in vielen unserer Partnerländer . In Gesprächen vor
Ort merken wir natürlich auch, dass Religionsfreiheit oft
ein höchst sensibles Thema ist . Deswegen setzen wir auf
den Dialog der Religionen und starten gezielt neue Vorhaben, die diesen interreligiösen Dialog fördern .
Wir wollen dazu ausdrücklich religiöse Autoritäten
einbeziehen; denn sie haben großen Einfluss. In vielen
Regionen kennt man keine Regierungsvertreter, aber die
religiösen Führer aus der Nachbarschaft . Wenn diese in
ihren Gemeinden zu gegenseitigem Respekt und zu Toleranz ermutigen, dann hat das ein viel größeres Gewicht
als alle anderen Stimmen . Deswegen setzen wir auf diesen Dialog .
Ich will Ihnen gern einige Beispiele nennen: Auf den
Philippinen fördern wir den Dialog zwischen Christen,
Muslimen und Vertretern indigener Gemeinschaften . In
Ägypten bringen wir christliche und muslimische Geistliche mit Publizisten, Künstlern und Lehrern zusammen .
Im Tschad unterstützen wir ein Kulturzentrum für christliche und muslimische Vereinigungen . In Jordanien fördern wir die soziale Teilhabe von Flüchtlingen . Ich hatte
Kontakt mit einem katholischen Bischof und einem muslimischen Stammeshäuptling aus Nigeria, die im Norden
des Landes, wo Boko Haram wütet, ein positives Beispiel für Toleranz und friedliches Miteinander setzen .
Ich möchte in diesem Zusammenhang auch die zahlreichen Aktivitäten der kirchlichen Hilfswerke aus
Deutschland nennen, die wir seit vielen Jahren unterstützen und die vor Ort segensreich wirken .
({1})
Meine Damen und Herren, wo Dialog stattfindet, kann
Vertrauen entstehen, und wo Vertrauen geschaffen wird,
kann das Zusammenleben gelingen . Dass in vielen Ländern der Weg dorthin noch weit ist, das legt der Bericht
der Bundesregierung in aller Deutlichkeit dar . Aber daraus müssen wir die richtigen Schlüsse ziehen, und wir
sollten uns nicht entmutigen lassen . Wir müssen mit Vertretern der Religionsgemeinschaften enger zusammenarbeiten . Lassen Sie uns gemeinsam dafür Sorge tragen,
dass wir der weltweiten Verfolgung und Diskriminierung
von Menschen aufgrund von Religion und Weltanschauung ein Ende setzen können .
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
({2})
Letzter Redner in der Debatte zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Heribert Hirte für die CDU/
CSU-Fraktion .
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Werfen Sie einmal einen Blick auf die Uhr: Es ist jetzt
gleich halb elf . Das ist sozusagen die Primetime in den
Plenardebatten . Dass wir hier heute im Deutschen Bundestag an so prominenter Stelle über die Religions- und
Glaubensfreiheit reden können, und das, um im Bild zu
bleiben, fast in voller Spielfilmlänge, das freut mich.
Es freut mich als Christ, es freut mich als Vorsitzender
des Stephanuskreises, und es freut mich auch als Jurist .
Denn es zeigt: Wir sehen das Menschenrecht der Religions- und Glaubensfreiheit nicht als bloße Rechtsgrundlage, die in zahlreichen internationalen und regionalen
Menschenrechtskonventionen und natürlich in unserer
eigenen Verfassung verankert ist, nein, wir sehen die Religionsfreiheit als ein Freiheitsrecht jedes Einzelnen an,
ein Freiheitsrecht, das besonders lebendig in einer Gesellschaft gelebt werden kann, wenn wir es in die Hand
nehmen und so wie hier heute in die Höhe halten .
Für uns ist das selbstverständlich . Aber Religions- und
Glaubensfreiheit ist kein Thema, das irgendeine Region
dieser Welt auf ihrer To-do-Liste abhaken könnte, selbst
wenn wir nicht Gegenstand des vorliegenden Berichts
sind . Angesichts einer religiös und kulturell vielfältiger
werdenden Gesellschaft spüren wir es deutlich: Die Religionsfreiheit ist ein umkämpftes Recht . Dabei ist nach
meiner Einschätzung in unserem christlich geprägten
Deutschland das, was uns ernsthaft zu schaffen macht,
vor allen Dingen die religiöse Bildungslücke in unserer
eigenen Gesellschaft . Immer mehr junge Menschen können auf den lieben Gott ganz gut verzichten, aber nicht
auf das Internet . Doch eine Gesellschaft, die ihre eigenen religiösen Wurzeln nicht mehr kennt, teilweise sogar
bewusst ignoriert, kann kaum Verständnis für Menschen
aufbringen, die offen und mit Nachdruck für ihren eigenen Glauben eintreten,
({0})
seien es zu uns geflüchtete Muslime, Christen oder Angehörige anderer Religionsgruppen .
Um das an dieser Stelle gleich klar zu sagen: Bei uns
in Deutschland und in ganz Europa ist die Religions- und
Glaubensfreiheit besser umgesetzt als in vielen anderen
Regionen dieser Welt . Deshalb haben wir eine besondere
Vorbildfunktion und Verantwortung . Wir Parlamentarier
sind in der Lage, mit dem Finger auf Missstände in anderen Ländern zu zeigen - das tun wir hier jetzt gerade
auch -, aber dieser Fingerzeig sollte vor allen Dingen als
Handreichung dienen, damit Parlamentarier aus anderen
Staaten von uns lernen können und umgekehrt wir auch
von ihnen .
Ein gelungenes Beispiel für dieses gegenseitige Andie-Hand-Nehmen ist die Parlamentarierkonferenz, die
letzte Woche hier in Berlin zur Religionsfreiheit stattgefunden hat . Auf Einladung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion konnten wir hier in Berlin über 100 Parlamentarier verschiedenster Glaubensrichtungen, aller
Glaubensrichtungen, aus über 50 Ländern dieser Welt
begrüßen . Wir werden und wollen uns auch in Zukunft
regelmäßig treffen. Wir werden weiter den Finger in die
Wunde legen, und wir werden weiter gemeinsame Appelle an die Regierungen richten, die die Religionsfreiheit
missachten . Wir werden nicht aufhören, dieses Freiheitsrecht weiter einzufordern, so lange, bis es für alle gilt .
({1})
Je enger wir uns international vernetzen und je enger wir zusammenarbeiten, desto erfolgreicher sind wir .
Denn - das muss man klar sagen - öffentlicher Druck
von allen Seiten hilft . Kein Staat der Welt, auch nicht
Nordkorea, möchte ewig am Pranger stehen . Das zweite
Land, das in diesem Zusammenhang zu nennen ist, ist
Saudi-Arabien .
Unsere Fraktion setzt sich mit Volker Kauder an der
Spitze bereits seit vielen Jahren engagiert für die Religionsfreiheit in aller Welt ein .
({2})
Seit dieser Legislaturperiode leite ich den Stephanuskreis, an dem sich ein Drittel unserer Fraktion aktiv beteiligt . Hier legen wir den Fokus auf Christen, die aufgrund ihres Glaubens diskriminiert und verfolgt werden .
Wir laden diese Menschen zu uns ein . Wir reisen zu ihnen in die verschiedenen Regionen der Welt und zeigen
ihnen so: Wir sind für euch da . Wir hören euch und sehen
euer Leid . Wir setzen uns für euch ein .
Wenn wir den Fokus auf die Christen richten, dann
heißt das aber nicht, dass wir andere Religionsgruppen
benachteiligen . Wenn wir für die Rechte von Christen
kämpfen, dann kämpfen wir für alle religiösen Minderheiten, damit alle ihren Glauben frei und offen leben
können . Denn überall dort, wo Religionsfreiheit fehlt Volker Beck hat das eben deutlich gesagt -, sind auch
Meinungsfreiheit, Pressefreiheit und Versammlungsfreiheit beeinträchtigt und die Freiheit von Mann und Frau
in Gefahr .
Unsere effizienteste Waffe im Kampf für die Religionsfreiheit - ich kann das nicht oft genug sagen - ist das
Wort. Der interreligiöse Dialog öffnet Türen, die einem
durch Drohungen und Sanktionen verschlossen bleiben;
das hat Kollege Silberhorn eben schon angesprochen .
Wir sind dankbar dafür, dass die Bundeskanzlerin
auf ihren vielen Reisen auch dieses Themenfeld immer
wieder anspricht . Auch die Entwicklungspolitik unserer
Regierung besteht zu einem erheblichen Teil aus dem
Eintreten für die Religions- und Weltanschauungsfreiheit . Aber die Frage ist: Wie soll es weitergehen? Ein
wichtiges Signal ist, dass auf unsere Initiative der europäische Sonderbotschafter Figel bestellt wurde . Aber
ich glaube, wir müssen noch einen Schritt weitergehen Volker Kauder hat es angesprochen -: Wir müssen über
eine ähnliche Institution auch bei der Bundesregierung
nachdenken .
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben einen
umfassenden Bericht der Bundesregierung vorliegen, der
deutlich macht, welche Maßnahmen unternommen wurden und welche Aufgaben noch vor uns liegen . Deshalb
müssen wir unseren Worten Taten folgen lassen, damit
Christen, Muslime, Juden, Aleviten, Jesiden, Bahai und
die vielen anderen unterdrückten Religionsgruppen endlich so leben können - da zitiere ich den Kölner Kardinal
Woelki -, „wie es Gott gefällt: aufrecht und frei“ .
Vielen Dank .
({4})
Ich schließe die Aussprache .
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf der
Drucksache 18/8740 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen . - Dazu darf ich Ihr
Einvernehmen feststellen . Also ist die Überweisung so
beschlossen .
Wir kommen nun zu den Tagesordnungspunkten 9 a
und 9 b:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Beck ({0}), Özcan Mutlu, Manuel Sarrazin,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Britische Staatsangehörige rasch und unkompliziert einbürgern
Drucksache 18/9669
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Volker
Beck ({2}), Özcan Mutlu, Luise Amtsberg,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Erleichterung der Einbürgerung und zur Ermöglichung der mehrfachen Staatsangehörigkeit
Drucksache 18/5631
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({3})
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Auch diese Aussprache soll nach einer interfraktionellen Vereinbarung 77 Minuten dauern . - Auch dazu sehe
ich keinen Widerspruch . Also verfahren wir so .
Ich eröffne die Aussprache und erteile Volker Beck für
die antragstellende Fraktion das Wort .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir wollen heute darüber reden, wie wir beim Thema „Integration und Einbürgerung“ besser vorankommen . Dazu
haben wir zwei Initiativen vorgelegt . Zum einen geht es
um eine umfassende Liberalisierung des Staatsangehörigkeitsrechts unter der Überschrift „Wir wollen mehr
Mehrstaatigkeit wagen“, zum anderen wollen wir eine
Antwort auf die Auswirkungen der anstehenden Brexit-Verhandlungen auf die britischen Bürger geben .
Der italienische Regierungschef Renzi hat hierzu
vorgeschlagen, dass die Briten, die in den europäischen
Staaten leben, schnell eingebürgert werden sollen . Das
haben wir in einem Antrag aufgeschrieben . Schon das
gegenwärtige Recht erlaubt es, europäische Staatsbürger,
die sich kürzer als sechs Jahre hier in Deutschland aufhalten, unter Hinnahme der Doppelstaatigkeit einzubürgern .
Dies sollten wir hier tun, auch wenn die Anwendungshinweise des Bundesinnenministers etwas anderes besagen . Wir sollten das Signal setzen: Die Briten gehören zu
Europa; die Briten sind uns in Deutschland willkommen .
({0})
Nach Auskunft der Bundesregierung betrifft das
107 000 britische Staatsbürger, die gegenwärtig in
Deutschland leben . Davon haben wir in den vergangenen
Jahren 5 000 eingebürgert . Wir schlagen vor, auch den
anderen etwa 100 000 Briten dieses Angebot zu machen .
({1})
Dann wären alle Fragen, die sich aus den Verhandlungen
über den Austritt Großbritanniens aus der EU womöglich
ergeben, zumindest für diese Menschen geklärt . Sie hätten dann gleiche Rechte und gleiche Möglichkeiten, und
sie wären Teil unseres Landes .
Herr Gabriel hat das ja auch gefordert, und ich rechne
deshalb damit, dass zumindest die SPD-Fraktion mit der
Linken dafür sorgt, dass das hier eine Mehrheit findet. Da
wir uns vorhin bei der Religionsfreiheit so gut verstanden
haben, hoffe ich aber, dass die gesamte Große Koalition
diesen Schritt mit uns gemeinsam gehen wird .
Der Bundesrat diskutiert heute über ein Einwanderungsgesetz . Wir haben in der letzten Woche unter
Führung von Katrin Göring-Eckardt eine umfassende
Anhörung zu dem Thema durchgeführt, wie ein modernes Einwanderungsrecht aussehen muss . Zu einem modernen Einwanderungsland gehört nicht nur die Ermöglichung, nach Deutschland zu kommen, sondern es gilt
auch, gerade für die hochgebildeten und gut qualifizierten Menschen eine attraktive Atmosphäre auszustrahlen,
und dazu gehört das Staatsangehörigkeitsrecht .
Deshalb schlagen wir Ihnen heute vor, im jetzigen
Staatsangehörigkeitsrecht ganz wesentliche Veränderungen vorzunehmen:
Wir wollen von dem Prinzip der Vermeidung der
Mehrstaatigkeit grundsätzlich abrücken . Wir halten das
in einer globalisierten Welt nicht für zeitgemäß . Springen Sie über Ihren Schatten! Ein Pass bzw . eine Staatsangehörigkeit ist kein Religionsbekenntnis, sondern die
Ermöglichung der gleichberechtigten Teilhabe für die
Menschen, die hier arbeiten, leben und Steuern zahlen .
({2})
Wir wollen die Fristen bei der Anspruchseinbürgerung
herabsetzen . Wir wollen, dass fortan Menschen, die einen Aufenthaltstitel oder eine Niederlassungserlaubnis
haben, einen leichteren Zugang erhalten .
Wir wollen bei jungen Menschen, die gerade ihre
Ausbildung beendet haben und bei uns zur Schule, zur
Universität gegangen sind, vielleicht aber noch nicht so
viel verdienen, Ausnahmen beim Nachweis der Lebensunterhaltssicherung machen . Das soll kein Hinderungsgrund dafür sein, hier von Anfang an gleichberechtigt als
Staatsbürgerinnen und Staatsbürger der Bundesrepublik
Deutschland mitzuwirken . Ähnliches wollen wir für ältere Menschen, die aufgrund des Eintritts ins Rentenalter
nicht mehr so leicht die entsprechenden Anforderungen
erfüllen können .
({3})
Bei den Kenntnissen der deutschen Sprache wollen
wir grundsätzlich keine Abstriche machen . Für Menschen, die aufgrund von Krankheit, Behinderung oder
Alter die erforderlichen Sprachniveaus nicht erreichen
können, wollen wir aber ein Auge zudrücken und sagen:
Das hindert nicht daran, dass sie als gleichberechtigte Bürgerinnen und Bürger unseres Landes mitmischen
können .
({4})
Der Einbürgerungstest ist umstritten .
({5})
Präsident Dr. Norbert Lammert
Ich habe bei seiner Einführung nicht viel davon gehalten .
Wir schlagen Ihnen vor, dass zumindest Menschen, die
hier Abitur gemacht, zur Universität gegangen sind, nicht
mit so etwas Albernem konfrontiert werden .
({6})
Das ist ein schlechtes Signal, ein Misstrauenssignal . Hier
wollen wir mehr Liberalität wagen .
({7})
Meine Damen und Herren von der Union, wir hatten in
diesem Jahr angesichts der Demonstrationen für Erdogan
in meiner Heimatstadt Köln eine Diskussion darüber, ob
die deutsch-türkischen Doppelstaatler ein Loyalitätsproblem mit unserem Land haben .
({8})
Ich muss Ihnen sagen: Bei der Anzahl der Doppelstaatler liegen die Menschen aus der Russischen Föderation
vorne . Die Türken liegen an dritter oder vierter Stelle bei
der Anzahl der Personen, die von der Doppelstaatigkeit
Gebrauch machen durften .
Wir wissen nicht, wer da demonstriert hat, ob das welche mit türkischem Pass, mit deutschem Pass oder mit
einem deutschen und einem türkischen Pass waren, und
selbstverständlich muss es doch durchaus auch möglich
sein, sich zu den Verhältnissen im Herkunftsland der Eltern politisch zu artikulieren .
Wer sich da artikuliert hat und wie sie sich artikuliert
haben: Damit habe ich auch einen Dissens . Das gehört
aber zu einer Auseinandersetzung in einer demokratischen Einwanderungsgesellschaft dazu . Nicht alle
Migranten sind gleich . Nicht alle denken das Gleiche genauso wie die Leute, die schon seit Generationen hier
leben, auch nicht alle das Gleiche denken .
Ich habe mit einem AfDler den gleichen Dissens wie
mit einem AKPler . Beide Formen des Nationalismus sind
mir zuwider, und ich will als Demokrat auch politisch
dagegen argumentieren . Das tue ich aber nicht über das
Staatsangehörigkeitsrecht .
({9})
Man muss sich schon einmal die Frage stellen, was
geschähe, wenn der Satz richtig wäre, dass jemand, der
von woanders herkommt, sich in politische Debatten seiner Herkunftsregion nicht mehr einmischen sollte . Wollen wir allen Ernstes, dass ein deutsch-britischer Doppelstaatler hier in Deutschland nicht dafür wirbt, dass die
Entscheidung für den Brexit falsch ist und dass Großbritannien besser in der Europäischen Union aufgehoben wäre? Wollen wir allen Ernstes einem deutsch-französischen Doppelstaatler sagen, es wäre falsch, dass er
seine Regierung unterstützt, wenn sie sich gegen rechtsradikale und antisemitische Politiker in ihrem Lande
wendet? Wollen wir einem deutsch-costa-ricanischen
Doppelstaatler untersagen, dass er seine Regierung dabei unterstützt, wenn sie sich für Biodiversität und erneuerbare Energien einsetzt? Was wollen wir sagen, wenn
ein deutsch-kolumbianischer Doppelstaatler die kolumbianische Regierung unterstützt, wenn diese sich für den
Ausgleich und für Friedensverhandlungen mit der FARC
einsetzt?
Niemand käme auf diese Idee . Dann sollten wir es
aber auch bei den Türken nicht anders diskutieren und
das als Argument für ein ewiges No-Go bei der Liberalisierung des Staatsangehörigkeitsrechtes verwenden .
Vielen Dank, meine Damen und Herren .
({0})
Stephan Mayer ist nun der nächste Redner für die
CDU/CSU-Fraktion .
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Man könnte es sich leicht
machen oder lapidar sagen: „olle Kamellen“ oder „alter
Wein in neuen Schläuchen“ . Die Grünen legen einen
Gesetzentwurf zur Liberalisierung des Staatsangehörigkeitsrechts vor und sprechen sich für die generelle Anerkennung der Mehrstaatigkeit aus . Aber, meine sehr
verehrten Kolleginnen und Kollegen, so leicht möchte
ich es mir nicht machen, weil aus meiner Sicht insbesondere dieser Gesetzentwurf, den Sie heute in erster Lesung
vorlegen, auf eine parteipolitische, aber auch eine gesellschaftspolitische Geisterfahrt führt . Es geht nicht nur um
Detailregelungen, die Sie im Staatsangehörigkeitsrecht
ändern wollen, sondern - dieser festen Überzeugung bin
ich - Ihr Ansatz hat eine gesellschaftspolitische Dimension .
({0})
Sie, die Grünen, wollen sich ein neues Staatsvolk schaffen . Wenn man in die Begründung zu Ihrem Gesetzentwurf blickt, erkennt man, dass Sie sehr unverblümt Ihr
Ansinnen offenbaren. Sie wollen eine „größtmögliche
Kongruenz“ - so schreiben Sie - zwischen dem Staatsvolk und der Bevölkerung .
({1})
Ich sage Ihnen ganz offen: Dafür wird Ihnen die CDU/
CSU nicht die Hand reichen . Dafür sind wir nicht zu haben .
({2})
Volker Beck ({3})
Die Grünen wollen generell den Grundsatz der Mehrstaatigkeit anerkennen und sich insoweit von der bisherigen, bewährten rechtlichen Grundlage abkehren, dass die
Mehrstaatigkeit die Ausnahme ist. Sie offenbaren dies
sehr verräterisch in Ihrer Begründung, indem Sie ganz
dezidiert von einer Einbürgerungsoffensive sprechen.
Sie wollen in Deutschland eine Einbürgerungsoffensive
vornehmen . Ich bin der felsenfesten Überzeugung: Der
überwiegende Teil, der Großteil der deutschen Bevölkerung will dies nicht . Wir brauchen keine Einwanderungsoffensive.
Gerade in einer Zeit, in der wir ohnehin in schwierigem Fahrwasser sind, in der sich unsere Gesellschaft
ohnehin eher auseinanderdividiert, in der wir eine Polarisierung unserer Gesellschaft erleben,
({4})
in der die Zentrifugalkräfte, die Fliehkräfte in unserer
Gesellschaft zunehmen, wäre es genau kontraproduktiv,
wenn wir jetzt, wie von Ihnen intendiert und gefordert,
eine Einwanderungsoffensive vornähmen.
({5})
Der Gesetzentwurf, den Sie vorlegen, würde genau
das Gegenteil dessen bewirken, was er Ihnen zufolge
bewirken würde: Er wirkt nicht integrationsfördernd; er
wirkt integrationshemmend . Wenn die Regelungen so
umgesetzt würden, wie Sie sie vorschlagen, würde genau
das Gegenteil entstehen; es würden nämlich Parallelgesellschaften gefördert und in ihrer Gegensätzlichkeit intensiviert werden .
({6})
Ich darf Ihnen einige Beispiele nennen . Sie wollen
generell auf das Erfordernis des Nachweises der Sicherung des Lebensunterhalts bei jungen Menschen, die in
Ausbildung sind, verzichten . Was bedeutet das? Dass ein
junger Mensch, der gerade in der Ausbildung ist,
({7})
im Hinblick auf die Einbürgerung nicht mehr nachweisen muss, dass er seinen eigenen Lebensunterhalt selbst
generieren kann . Das wäre genau kontraproduktiv . Wir
wollen doch, dass die jungen Menschen in die Lage versetzt werden, dass sie ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten können . Wir wollen keine Einwanderung in die
Sozialsysteme . Genau das würde eintreten, wenn Ihr Gesetzentwurf umgesetzt würde . Sie würden der Einwanderung in die Sozialsysteme Vorschub leisten . Ich sage
Ihnen hier ganz offen: Dafür hat auch die deutsche Bevölkerung kein Verständnis. Dies findet in der deutschen
Bevölkerung auch keine Akzeptanz .
Des Weiteren wollen Sie bei einigen Personengruppen
auf den Nachweis von Deutschkenntnissen verzichten .
Dafür gilt das Gleiche . Auch diese Regelung wäre nicht
integrationsfördernd, sondern integrationshindernd . Wir
wollen doch gerade, dass Menschen, die zu uns kommen, möglichst schnell Deutsch lernen . Das Erlernen
der deutschen Sprache ist die Grundvoraussetzung, um
in Deutschland Fuß zu fassen, um in Deutschland erfolgreich zu sein, um sich einen Freundeskreis aufzubauen,
({8})
um in bestimmte soziale Schichten aufsteigen zu können,
um Arbeit zu finden.
({9})
Sie wollen genau das Gegenteil . Sie wollen bei bestimmten Personengruppen auf den Nachweis von Deutschkenntnissen verzichten, wenn es darum geht, ob diese
Person eingebürgert werden kann .
({10})
Damit würden Sie der Integration einen Bärendienst erweisen .
Ich möchte hier auch betonen, dass in den letzten
Jahren gerade auf Druck der CDU/CSU die Ausgaben
für Deutsch- und Integrationskurse deutlich erhöht wurden . Im Jahr 2015 hat der Bund 260 Millionen Euro für
Deutsch- und Integrationskurse ausgegeben . Wir haben
die Mittel für die Kurse von 2015 auf 2016 mehr als verdoppelt, nämlich auf 570 Millionen Euro in diesem Jahr .
Die Bundesregierung hat in ihrem Gesetzentwurf noch
einmal 40 Millionen Euro zusätzlich bereitgestellt .
({11})
Im nächsten Jahr werden mindestens 610 Millionen Euro
für Sprach- und Integrationskurse ausgegeben . Das ist
richtig verstandene Integration, nicht der von Ihnen vorgeschlagene Weg .
({12})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, darüber hinaus wollen Sie, dass eine Anspruchseinbürgerung bereits nach fünfjährigem Aufenthalt in Deutschland möglich ist . Sie wollen also die Frist von acht auf fünf Jahre
reduzieren . Was hinzukommt - das ist aus meiner Sicht
völlig unlogisch und nicht nachvollziehbar -: Sie würden
Flüchtlinge und ihnen gleichgestellte Personen noch einmal dadurch privilegieren, dass bei Flüchtlingen allein
schon ein dreijähriger Aufenthalt ausreichen würde, um
die deutsche Staatsbürgerschaft erlangen und daneben
die bisherige Staatsbürgerschaft beibehalten zu können .
Stephan Mayer ({13})
Das ist aus meiner Sicht der falsche Weg . Dafür sind wir
in keiner Weise zu haben .
Das Gleiche gilt für Ihren Vorschlag, auf den Einbürgerungstest zu verzichten . Sie, Herr Kollege Volker
Beck, haben gesagt: Na ja, der Einbürgerungstest ist umstritten . - Der Test wird von Ihnen nicht anerkannt .
({14})
Aber ich sage hier ganz deutlich: Der Einbürgerungstest
hat sich bewährt .
({15})
Es ist gut, wenn vor der Einbürgerung ein entsprechender Nachweis in Form einer Prüfung erbracht werden muss, um zu beweisen, dass man zumindest Grundkenntnisse der deutschen Geschichte, des deutschen
Sozialaufbaus und des deutschen Staatsgefüges besitzt .
({16})
Darauf jetzt zu verzichten, wäre aus meiner Sicht der völlig falsche Weg und wäre vollkommen kontraproduktiv .
({17})
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, wir
haben in dieser Legislaturperiode unser Staatsangehörigkeitsrecht bereits grundlegend geändert . Ich mache
keinen Hehl daraus: Es war nicht der Wunsch der CDU/
CSU, in Teilen auf das Optionsmodell zu verzichten . Wir
haben aber aus meiner Sicht einen verträglichen Kompromiss dahin gehend gefunden, dass das Optionsmodell
nur in den Fällen obsolet ist und nicht mehr angewandt
wird, in denen konkrete Nachweise erbracht sind, dass
eine Person in Deutschland Fuß gefasst hat,
({18})
wenn sie sich also mindestens acht Jahre in Deutschland
aufgehalten hat, wenn sie sechs Jahre in Deutschland zur
Schule gegangen ist oder wenn sie in Deutschland einen
erfolgreichen Schulabschluss oder einen erfolgreichen
Berufsschulabschluss vorweisen kann . Das sind ganz
konkrete Indizien dafür, dass jemand in Deutschland
angekommen ist und sich in die deutsche Gesellschaft
erfolgreich integriert hat, sodass aus meiner Sicht unter
diesen Voraussetzungen auf das Optionsmodell verzichtet werden kann . Weiter gehende Wünsche im Hinblick
auf eine Liberalisierung werden wir auf jeden Fall nicht
mittragen .
({19})
Die angesprochenen Loyalitätskonflikte gibt es natürlich .
({20})
Sie haben die Deutschen aus Russland angesprochen .
Wir haben doch gerade in diesem Jahr erlebt, wie die
Deutschen aus Russland vom Putin-Regime teilweise instrumentalisiert werden . Es geht darum, dass sie in erster
Linie Russia Today und nicht deutsches Fernsehen sehen .
Ich erinnere an den Fall Lisa, der sich hier in Berlin
im Januar dieses Jahres ereignet hat . Es hat nur wenige
Stunden gedauert, bis in über 100 Städten Deutschlands
angeblich spontane Demonstrationen von Deutschen aus
Russland stattgefunden haben . Mir macht keiner weis,
dass die Deutschen aus Russland, losgelöst und unkoordiniert, in über 100 Städten in wenigen Stunden von alleine auf die Straße gegangen sind . Das war natürlich, meine sehr verehrten Damen und Herren, von langer Hand
geplant . Da sieht man doch genau an diesem konkreten
Fall, wie es dann bei Anerkennung der doppelten Staatsbürgerschaft zu Loyalitätskonflikten kommen kann.
Ich möchte auf einen weiteren konkreten Fall der Praxis zu sprechen kommen, bei dem sich ebenfalls Loyalitätskonflikte zeigen könnten - wohlgemerkt: könnten -,
der aber noch nicht endgültig ausermittelt ist . Seit dem
Putschversuch in der Türkei im Juli dieses Jahres befinden sich sechs deutsche Staatsangehörige in der Türkei in
Haft . Ob zu Recht oder zu Unrecht, steht mir nicht zu zu
bewerten . Es ist noch nicht klar, ob diese neben der deutschen die türkische Staatsangehörigkeit haben . Ich nehme an, dass es dem Erdogan-Regime ziemlich egal ist, ob
die Betreffenden, wenn sie die türkische Staatsangehörigkeit haben, auch die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen; denn allein das Vorhandensein der entsprechenden
Staatsangehörigkeit reicht für viele Staaten auf der Welt
aus - so auch die Türkei -, die betreffenden Personen als
ihre Staatsangehörigen zu behandeln . Diesen Personen
bringt es in einem Konfliktfall überhaupt nichts, auch die
deutsche Staatsangehörigkeit zu besitzen .
({21})
Es gibt überhaupt keinen Grund, nun einer weiteren
Liberalisierung des Staatsangehörigkeitsrechts näherzutreten . Wir fordern in Teilen sogar eine Verschärfung, insbesondere wenn es darum geht, potenziellen IS-Kämpfern oder Kämpfern, die sich in Kampfhandlungen des
Dschihad engagieren, die deutsche Staatsangehörigkeit
zu entziehen, sofern sie über eine weitere Staatsangehörigkeit verfügen .
({22})
Wir von der Union werden Ihnen von der SPD sehr bald
einen entsprechenden Gesetzentwurf vorlegen . Ich bitte
Sie eindringlich, diesem wichtigen und sachgerechten
Anliegen näherzutreten .
Stephan Mayer ({23})
Zum Schluss noch ein kurzes Wort zu Ihrem Antrag,
britische Staatsangehörige rasch und unkompliziert einzubürgern . Ich habe mich in meiner Funktion als Vorsitzender der Deutsch-Britischen Parlamentariergruppe
nach dem Referendum vom 23 . Juni dahin gehend geäußert, dass es wünschenswert ist - demgegenüber sind
wir aufgeschlossen -, dass britische Staatsangehörige in
Deutschland auch die deutsche Staatsangehörigkeit beantragen . Man kann das aber derzeit mit Gelassenheit
sehen . Zum einen sind die Verhandlungen bezüglich des
Austritts Großbritanniens aus der Europäischen Union
noch gar nicht angelaufen . Zum anderen besteht aus meiner Sicht überhaupt kein Grund für eine Zwangsgermanisierung der Briten in Deutschland .
({24})
Ich glaube, wir sollten das alles mit britischer Gelassenheit sehen . Für das in Ihrem Antrag geäußerte Ansinnen
besteht überhaupt kein Anlass . Briten in Deutschland haben ohnehin aufgrund ihrer britischen Staatsangehörigkeit alle Rechte, bis auf das Wahlrecht bei Bundestagsund Landtagswahlen . Deswegen ist Ihr Antrag völlig
überflüssig. Er wird dementsprechend unsere Ablehnung
erfahren .
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit .
({25})
Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin
Dağdelen das Wort.
({0})
Verehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und
Kollegen! Herr Mayer, die allermeisten in Deutschland
lebenden Migrantinnen und Migranten sind loyaler gegenüber dieser Gesellschaft und dem Grundgesetz
({0})
als der Nazimob, der Flüchtlinge durch die Straßen jagt
und Unterkünfte in Brand steckt, oder CSU-Politiker,
die über ministrierende, fußballspielende Senegalesen in
unserer Gesellschaft schwadronieren . Das ist nicht loyal
gegenüber unserer Gesellschaft, Herr Kollege Mayer .
({1})
Zur Redlichkeit gehört, zum Thema zu sprechen . Warum sprechen Sie, wenn mein Kollege Volker Beck von
Einbürgerungsoffensive spricht, von Einwanderungsoffensive? Sie bauen hier einen Pappkameraden auf, um
Stimmung gegen das Thema Einbürgerung zu machen .
Hören Sie mit solchen unfairen Sachen auf!
({2})
Wir sprechen hier über Einbürgerung . Das Gleiche gilt für
Ihre Stimmungsmache gegen Russlanddeutsche . Wahrscheinlich wissen Sie gar nicht, worüber wir hier reden .
Wir sprechen über Einbürgerung . Russlanddeutsche sind
doch gar nicht eingebürgert worden . Wo leben Sie überhaupt? Haben Sie überhaupt Ahnung von diesem Thema?
({3})
Russlanddeutsche haben die deutsche Staatsangehörigkeit bekommen . Da spielt Einbürgerung keine Rolle .
({4})
Lernen Sie dazu, bevor Sie über dieses Thema sprechen,
und machen Sie nicht einfach Stimmung gegen dieses
Thema!
Sie haben gesagt, dass die deutsche Sprache erlernt
werden muss . Ich kann Sie beruhigen: Sie sind seit 2005
in der Bundesregierung, nicht wir .
({5})
Gemäß der Schlagzeile in der heutigen Ausgabe der Süddeutschen Zeitung hat nicht einmal jeder Zweite einen
Platz in einem Integrationskurs .
Das ist Ihre desaströse Bilanz in der Integrationspolitik .
Sie sind es, die die Plätze nicht zur Verfügung stellen . Wir
haben seit 2005 die Integrationskurse, und seit 2005 gibt
es mehr Anfragen nach diesen Kursen, als es Plätze gibt,
und das wissen Sie. Also schaffen Sie ausreichend Plätze,
wenn Sie von den Menschen möchten, dass sie die deutsche Sprache erlernen! Machen Sie hier keine Stimmung!
({6})
Ich möchte noch etwas zum Thema Loyalität und Loyalitätsappelle hinzufügen. Ich finde es wirklich absurd:
Während die Bundeskanzlerin von den hier lebenden
Deutschtürken Loyalität fordert, macht sie gemeinsame
Sache mit dem türkischen Despoten Erdogan, der mithilfe seines Netzwerks alles tut, um die Integration hier lebender Deutschtürken zu hintertreiben . Fragen Sie doch
lieber Ihre Kanzlerin, was sie dafür tut, um die Integration hier zu hintertreiben!
({7})
Stephan Mayer ({8})
Sie sollte damit aufhören, mit Erdogan gemeinsame
Sache zu machen, weil es sein Netzwerk ist, das die Menschen hier von der Integration abhält und dagegen Stimmung macht . Das wäre ein Beitrag zur Integration statt
der Zusammenarbeit mit einem Despoten . Hören Sie auf
mit Appellen zur Loyalität, während Sie das Ganze dadurch hintertreiben, dass Sie gemeinsame Sache machen!
Wir, die Linksfraktion, jedenfalls unterstützen den
vorliegenden Antrag der Grünen, weil die Erleichterung
der Einbürgerung in dieser Gesellschaft längst überfällig
ist .
({9})
Wer auf Dauer in Deutschland lebt, soll auch gleichberechtigt am politischen Leben teilhaben können und darf
im Berufsleben nicht benachteiligt werden . Hier lebende
Migrantinnen und Migranten dürfen nicht länger Bürgerinnen und Bürger zweiter Klasse sein, egal seit wann sie
hier leben und arbeiten . Wer hier lebt und arbeitet, wer
hier zur Schule geht oder gegangen ist, eine Ausbildung
gemacht oder eine Universität besucht hat, aber keinen
deutschen Pass hat, darf beispielsweise nicht verbeamtet werden oder ein Schöffenamt übernehmen. Das sind
nur zwei Diskriminierungsbeispiele dafür, warum die erleichterte Einbürgerung längst überfällig ist .
Die Integrationsbeauftragte Ihrer Bundesregierung,
Aydan Özoğuz, schätzt, dass fast drei Viertel der 7,6 Millionen Ausländer einen deutschen Pass beantragen können . Allein, das ist nicht gewollt, und die Hürden werden
bewusst hoch gelegt, etwa indem unsinnigerweise gefordert wird, je nach Herkunft die Herkunftsstaatsangehörigkeit abzugeben .
Die Einbürgerungsquote in Deutschland liegt unter
dem Durchschnitt der Europäischen Union . Wenn Sie
dieses Land europäisieren wollen, dann müssen Sie auch
die Einbürgerung erleichtern . Im vergangenen Jahr sind
gerade einmal 107 000 Menschen rechtlich gleichgestellt
worden . Schweden, Ungarn, Portugal, Spanien, Polen
und sogar die Niederlande: Sie alle liegen in diesem Bereich punkteweit vor Deutschland .
Wenn Sie einen Schritt zu mehr Europa wollen - wenn
Sie schon Europa mit der Europäischen Union gleichsetzen, wie es, meiner Meinung nach fälschlicherweise,
oftmals getan wird ({10})
und wenn Sie dieses Land europäisieren wollen, dann
müssen Sie die Einbürgerung erleichtern . Das wäre ein
Schritt zu mehr Integration, aber nicht diese Stimmungsmache in diesem Haus .
Vielen Dank .
({11})
Das Wort erhält nun der Kollege Rüdiger Veit für die
SPD-Fraktion .
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist kein Versehen, dass ich mich zweimal auf die Rednerliste habe setzen lassen, aber eigentlich braucht der Gegenstand der Debatte nicht so viele Worte, dass ich dafür
eine Redezeit von 16 Minuten bräuchte. Ich hoffe, es geht
kürzer, aber möglicherweise ergibt sich die Notwendigkeit - das hängt von den weiteren Rednern ab -, noch
einmal etwas zu dem zu sagen, was in der Zwischenzeit
von diesem Pult aus geäußert worden ist .
Es geht hier und heute nicht um eine Zwangsgermanisierung von Briten, lieber Stephan Mayer - das war,
glaube ich, ein verbaler Ausrutscher -,
({0})
sondern es gilt der Satz von Volker Beck, dass Briten uns
grundsätzlich sehr willkommen sind - da macht sicherlich auch die Union keine Ausnahme - und es damit im
Prinzip wünschenswert wäre, wenn sich viele von ihnen,
die die Voraussetzungen erfüllen, bei uns einbürgern lassen . Ich glaube, das ist ein Ziel, das uns eint .
Es wird Sie nicht wundern, dass wir Sozialdemokraten
dem grundsätzlich offen gegenüberstehen. Denn schließlich war es unser Parteivorsitzender, der das Urheberrecht für diese Idee in Anspruch nehmen kann .
({1})
- In der Tat, Claudia Roth . Ich habe das Zitat in meinen
Unterlagen . Ich kann es gerne noch einmal heraussuchen
und dir geben . Er hat das in der Tat vorgeschlagen, und
es ist richtig: grundsätzlich und für alle diejenigen, die
schon in Deutschland leben .
Aber es bedarf hier weder einer Rechtsänderung - das
haben die Grünen richtig erkannt - noch irgendwelcher
Beschlüsse des Bundestages oder irgendwelcher Initiativen des Bundesinnenministers, weil nach den vorläufigen
Verwaltungsvorschriften sehr wohl die Möglichkeit besteht, jedenfalls im Rahmen der Ermessenseinbürgerung,
schon heute die Voraufenthaltszeiten von sieben bzw .
acht Jahren auf drei Jahre deutlich zu verkürzen . Das ist
ein Angebot, das jetzt schon für alle Briten auf dem Tisch
liegt . Ich kann mir vorstellen, dass alle Einbürgerungsbehörden so vernünftig sind, auf diese besondere Situation, die nach dem Brexit entstanden ist, entsprechend
zu reagieren und dann auch Ermessenseinbürgerungen
auszusprechen .
({2})
Die geltende Rechtslage und auch die hierzu ergangenen Verwaltungsvorschriften, übrigens auch die vorläufigen Anwendungshinweise aus dem letzten Jahr, müssen
nicht noch einmal gesondert klargestellt werden .
({3})
Da reicht es im Übrigen auch völlig aus, wenn die Einbürgerungsbehörden bei ihren gelegentlichen Zusammenkünften sich inhaltlich austauschen .
Ich will Ihnen aber auch sagen, wo nach meinem Dafürhalten ein bisschen Vorsicht angebracht ist . Ich habe
eben gesagt: Für die bereits hier lebenden Briten sollten
wir ein Angebot machen und eine flexible Lösung finden.
Wovon ich aber nichts halte - das ist meine persönliche
Auffassung -, ist, etwa über die Dauer eines dann vollzogenen Brexits hinaus den Briten Sonderrechte gegenüber
allen anderen Europäern zu gewähren . Das wäre pädagogisch, glaube ich, der falsche Ansatz .
({4})
Das würde einen Anreiz in die falsche Richtung bieten .
Stattdessen wäre es wesentlich besser - Augenblick,
ich komme jetzt zu eurem Antrag; hier grenze ich mich
deutlich von Stephan Mayer ab, der für die Union gesprochen hat -,
({5})
wenn wir insgesamt im Staatsbürgerschaftsrecht weitere Erleichterungen generell vornehmen würden, so wie
es euer Gesetzentwurf, wie ich finde, richtigerweise an
sehr vielen Stellen vorschlägt: genereller Verzicht auf das
Verbot von Mehrstaatlichkeit, Verkürzung des Voraufenthaltes, Anrechnung von Voraufenthaltszeiten, Erleichterungen für Junge und Alte im Bereich der Notwendigkeit, den Lebensunterhalt zu bestreiten, und dergleichen
Dinge mehr .
({6})
Alles, was in eurem Gesetzentwurf steht, ist aus der
Sicht von Sozialdemokraten grundsätzlich zu unterstützen .
({7})
Wenn wir denn gekonnt hätten, hätten wir das nicht schon
1999, sondern vielleicht auch in der Folgezeit gemacht .
Wenn wir denn gekonnt hätten heißt, wenn wir dafür die
entsprechenden Mehrheiten hier in diesem Haus und im
Bundesrat gehabt hätten . Das war aber leider nicht so .
Ich setze die Geschichte als bekannt voraus und muss das
jetzt nicht endlos wiederholen .
Jetzt ist es nicht unbedingt so, dass mich schon der
beginnende Schmerz über die Trennung von dieser Koalition überkommt, wenn ich an das nächste Jahr denke .
Aber eines muss klar sein: Wenn sich die Mehrheitsverhältnisse hier in diesem Haus nicht ändern und wenn es
keine tragfähige Mehrheit gibt, die auch gegenüber einer Reform des Staatsbürgerschaftsrechts offen ist, dann
wird sich, jedenfalls mit der Union, nichts ändern lassen .
Wir haben - um das klipp und klar zu sagen - im
Rahmen der Koalitionsvereinbarungen bekanntlich erreicht und hier entsprechend umgesetzt, dass das Optionsrecht liberalisiert worden ist, wenigstens für die hier
in Deutschland geborenen Kinder und Jugendlichen . Das
betrifft roundabout, so schätze ich, 95 Prozent. Mehr war
mit der Union nicht zu machen .
Umgekehrt, Stephan Mayer, werden auch wir nicht
von Vorschlägen der Union zur Änderung des Staatsbürgerschaftsrechts - Stichwort „Terrorbekämpfung“ -, die
über das, was in der Koalitionsvereinbarung steht, hinausgehen, begeistert sein . Auch das muss klar sein .
Aber um diesen Teil meiner Rede abzuschließen: Wir
alle, die wir später noch im Parlament sitzen und im
nächsten Jahr den Wahlkampf vor uns haben, müssen
dafür sorgen, dass es die parlamentarischen Mehrheiten
und eine darauf gestützte Regierung beim nächsten Mal
gibt, um derartige Vorschläge, wie sie die Grünen jetzt
gemacht haben, umsetzen zu können . In der derzeitigen
Koalition geht das leider nicht . Ich betone das Wort „leider“, aber ich setze als bekannt voraus, dass wir dem Koalitionsvertrag bis zum Schluss treu sein müssen .
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit .
({8})
Tim Ostermann ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion .
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In dem Gesetzentwurf und in dem Antrag der Grünen werden im
Wesentlichen drei Dinge gefordert: erstens eine generelle Ermöglichung der Mehrstaatlichkeit, zweitens ein
Aufweichen der Einbürgerungsregeln und drittens eine
besonders unkomplizierte Einbürgerung hier ansässiger
Briten, weil es die ja derzeit angeblich nicht geben würde . Zu diesen drei Forderungen möchte ich in meinem
Debattenbeitrag Stellung nehmen .
Zunächst zur Mehrstaatlichkeit: Es wird Sie nicht
überraschen - Stephan Mayer hat das auch schon zum
Ausdruck gebracht -, dass die CDU/CSU-Bundestagsfraktion nach wie vor
({0})
es konsequent ablehnt, die doppelte Staatsbürgerschaft
zum Regelfall zu machen .
({1})
Ich möchte kurz auf die letzte Debatte - solche Debatten
wurden in diesem Hause ja häufiger geführt - zu sprechen kommen, die wir zum Thema Staatsangehörigkeitsrecht geführt haben . In dieser Debatte hat die damalige
Kollegin Christina Kampmann - sie ist mittlerweile Landesministerin in NRW - gesagt, zugegebenermaßen mit
einer anderen Intention: Für die meisten Menschen ist die
Staatsangehörigkeit viel mehr als ein Pass . - Genau das
ist der Punkt . Die Staatsangehörigkeit drückt die Loyalität zur Gesellschaft und den in ihr vorhandenen Werten
und Regeln aus . Damit ist sie Ausdruck einer ganz besonderen Verbundenheit . Und diese Verbundenheit ist für
uns als Union nicht teilbar .
({2})
Die Folge ist, dass wir Mehrstaatlichkeit zulassen, aber
eben nur in eng begrenzten Ausnahmefällen, die auch
jetzt schon geregelt sind . Für eine Abkehr von diesem
Prinzip stehen wir nicht zur Verfügung .
Was die Aufweichung der Einbürgerungsregeln angeht, sind es vor allem zwei Dinge, mit denen Sie die
Einbürgerung erleichtern wollen . Zum einen wollen Sie
sämtliche Arten an Aufenthaltserlaubnissen gleichstellen . Das soll zum Beispiel auch für Fälle von vollziehbar Ausreisepflichtigen gelten, nachdem es also ein Verwaltungsverfahren gab, das BAMF festgestellt hat, dass
es hier keinen Aufenthaltsstatus gibt, und Gerichte das
meistens auch bestätigt haben . Selbst in den Fällen, wo
es nur aus humanitären Gründen eine Aufenthaltserlaubnis gibt, soll eine Gleichstellung erfolgen . So etwas ist
mit uns nicht zu machen .
Sie sprachen die Einbürgerungstests an . Unter bestimmten Voraussetzungen soll das Erfordernis, einen
solchen Test durchzuführen, wegfallen, etwa wenn in
Deutschland ein Berufs- oder Schulabschluss gemacht
worden ist .
({3})
- Das ist absolut nachvollziehbar und vernünftig . Darum wird das auch jetzt schon so gemacht, Herr Beck .
Es ist auch jetzt schon so geregelt, dass bei einem Schulabschluss - dazu gehört ebenfalls ein Berufsschulabschluss, also eine abgeschlossene Berufsausbildung - auf
den Einbürgerungstest verzichtet wird . Das ist gängige
Praxis . Und darum ist Ihr Gesetzentwurf in diesem Punkt
kalter Kaffee.
({4})
Ich komme zuletzt zu Ihrer Forderung nach Einbürgerung der in Deutschland lebenden Briten . Sie fordern
ja, dass die Einbürgerung unkompliziert erfolgen müsse,
und erwecken damit den Anschein, dass britische Bürger derzeit nicht schnell und unkompliziert eingebürgert
würden . Das entspricht nicht den Tatsachen . Sie schreiben ja selbst in Ihrem Antrag, dass Großbritannien bis auf
Weiteres Mitglied der Europäischen Union sein wird . Es
ist noch kein Austrittsgesuch eingegangen . Hier in diesem Saal wird niemand sagen können, wann das der Fall
sein wird, also wann es dieses Austrittsgesuch gibt und
vor allem wann dieses Austrittsgesuch wirksam wird .
Das ist in keiner Weise absehbar . Darum besteht für uns
jetzt nicht der Bedarf, hier an dieser Stelle tätig zu werden .
In meinem Wahlkreis - dem Kreis Herford und der
Stadt Bad Oeynhausen - hat es viele britische Soldaten
gegeben . Die Streitkräfte sind mittlerweile größtenteils
abgezogen . Nicht wenige Soldaten sind trotzdem bei uns
geblieben . Einige von ihnen interessieren sich - gerade
nach dem Referendum in Großbritannien - dafür, eingebürgert zu werden . Ich habe bisher von keinem einzigen
Betroffenen gehört, dass es hier Probleme - lange Wartezeiten usw . - gibt . Die Problemlage, auf die Sie versuchen hinzuweisen, gibt es einfach nicht . Darum sagen
wir: Man muss nicht schon jetzt auf hypothetische Folgen eines in der Zukunft liegenden ungewissen Ereignisses reagieren . Bloßen Aktionismus halten zumindest wir
in der Union selten für ein Erfolgsrezept .
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, Sie
wollen mit Ihrem Gesetzentwurf das Prinzip der Mehrstaatlichkeit in unserer Rechtsordnung verankern und die
Voraussetzungen für den Erhalt der deutschen Staatsbürgerschaft verbessern . Gleichzeitig greifen Sie mit Ihrem
Antrag ein Problem auf, das es überhaupt nicht gibt .
Daher wird es Sie nicht überraschen, dass wir als Union Ihren Antrag und auch Ihren Gesetzentwurf ablehnen
werden .
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
({5})
Das Wort erhält nun die Kollegin Ulla Jelpke für die
Fraktion Die Linke .
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vielleicht
sollte man für die Öffentlichkeit noch einmal festhalten:
Wir reden hier jetzt nicht über Geflüchtete, die im vergangenen oder im vorletzten Jahr gekommen sind, sondern wir reden hier über Menschen, die in diesem Land
zum Teil viele Jahre leben und arbeiten und endlich das
Recht haben müssen, eingebürgert zu werden, damit sie
in dieser Gesellschaft wirklich gleichgestellt sind . Darum
geht es .
({0})
Man muss einfach noch einmal festhalten, dass im
vergangenen Jahrzehnt gerade einmal 2 Prozent der
hier in Deutschland lebenden Migranten einen Antrag
auf Einbürgerung gestellt haben . Diese blamabel geringe Quote kann und darf nicht, Herr Mayer, als Zeichen
mangelnder Integrationsbereitschaft gewertet werden,
sondern sie ist vielmehr die Folge - das gilt auch im Vergleich mit anderen EU-Staaten - besonders restriktiver
Einbürgerungskriterien, hoher bürokratischer und vor allen Dingen auch finanzieller Hürden. Dass daran bisher
nichts geändert wurde, daran sind vor allen Dingen Ihre
Fraktion, die Union und die Regierung schuld . Das ist
wirklich ein Skandal .
({1})
Ich will einfach einmal ein paar Unterschiede zu anderen EU-Staaten nennen . Im Unterschied zur Bundesrepublik akzeptieren 12 EU-Staaten grundsätzlich die
Mehrstaatlichkeit . 11 verlangen keinen Nachweis auf
eigenständige Lebensunterhaltssicherung . In 15 Staaten
beträgt die Mindestaufenthaltsdauer fünf Jahre oder weniger . In 16 EU-Staaten gibt es keinen Einbürgerungstest .
7 verzichten auf Einbürgerungsgebühren oder verlangen
nur einen symbolischen Beitrag . Die Kollegen von der
Union sollten angesichts solcher Vergleichszahlen wirklich einmal einfach in sich gehen
({2})
und nicht immer auf angeblich einbürgerungsunwillige Migranten zeigen . Sie sollten sich vielmehr an ihren
eigenen Kopf fassen und fragen, wie so etwas zustande
kommt .
Meine Damen und Herren, von den Betroffenen wird
immer wieder gesagt, dass für sie die Kosten für die Einbürgerung ein großes Hemmnis sind . Diese betragen im
Schnitt 500 Euro einschließlich der Gebühren für Übersetzungen, Urkunden usw ., die sie aus den Herkunftsländern beschaffen müssen. Das ist zum Beispiel für eine
Familie nicht wenig . Die Senkung der Einbürgerungsgebühren wäre wirklich ein symbolisches Zeichen; so
könnte man Familien, die wenig Geld haben, hier die
Einbürgerung ermöglichen .
Zwei Drittel derjenigen, die keinen Einbürgerungsantrag stellen, haben dafür zum Beispiel den Grund angegeben, dass sie ihre alte Staatsbürgerschaft nicht verlieren
wollen, aber auch die deutsche gerne hätten .
({3})
- Herr Wendt, ich habe Ihren Zwischenruf leider nicht
verstanden .
({4})
Das hat übrigens eine Studie des BAMF ergeben . Diese Entscheidung ist in der Regel eben keine Frage der Loyalität zu diesem oder jenem Staat . Vielmehr gibt es ganz
pragmatische Hintergründe dafür, warum Menschen ihre
alte Herkunftsstaatlichkeit behalten wollen . Es geht zum
Beispiel um Rentenansprüche, um Vermögensansprüche .
Es handelt sich also um ganz einfache Gründe . Diese Realität will die Union hier einfach nicht akzeptieren . Man
muss wirklich sagen: Anstatt sich ständig mit Argumenten aus der Mottenkiste gegen die generelle Möglichkeit
der Mehrstaatlichkeit zu sträuben, sollten Sie wirklich
einfach einmal ein modernes Einbürgerungsrecht schaffen .
({5})
Die Grünen haben anlässlich ihres Antrags zur Einbürgerung britischer Staatsbürger darauf hingewiesen, dass
das geltende Recht Handlungsmöglichkeiten für eine erleichterte Einbürgerung bietet . Das ist richtig . Die Linke
hat bereits seit 2013 hier im Bundestag immer wieder gefordert, dass solche vorhandenen Handlungsspielräume
konsequent umgesetzt werden . Aber auch dazu braucht
es einfach den politischen Willen der Verantwortlichen
in der Bundesregierung und in den entsprechenden Fraktionen . Dafür will ich gerne noch zwei Beispiele bringen .
Hier geborene Flüchtlingskinder könnten im Regelfall ab dem dritten Lebensjahr eingebürgert werden,
um ihnen ein gleichberechtigtes Leben, beispielsweise
an den Schulen, in den Kitas usw ., zu ermöglichen . Das
schreibt im Übrigen auch die UN-Kinderrechtskonvention vor . Aber die Bundesregierung hat sich in diesem
Punkt schon immer über die UN-Kinderrechtskonvention hinweggesetzt, und es interessiert sie überhaupt nicht,
welche Rechte die Kinder haben . Gerade hier fordere ich
Sie auf, endlich etwas zu tun .
({6})
Wichtig wäre es beispielsweise auch, Menschen, die
Sozialhilfeempfänger sind, hier aber seit vielen Jahren
leben, großzügiger einzubürgern . Ich halte es wirklich
für einen Skandal, dass man im Grunde genommen die
Erlangung gleicher Rechte durch Einbürgerung vom Einkommen abhängig macht und die soziale Lage nicht berücksichtigt . Das kann einfach nicht gehen .
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen .
Ja, ich komme zu meinem letzten Satz . - Ich möchte
abschließend einfach noch einmal sagen: Ein deutscher
Pass ist weder ein Integrations- noch ein Demokratiezeugnis . Es geht hier schlicht um eine demokratische
Selbstverständlichkeit . Deswegen: Erleichtern Sie endlich die Einbürgerung für Menschen, die hier seit vielen
Jahren leben .
Ich danke Ihnen .
({0})
Als nächster Redner hat Detlef Müller von der
SPD-Fraktion das Wort .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, natürlich erkennen wir
die lobenswerte Zielrichtung Ihres Antrages zur raschen
Einbürgerung britischer Staatsbürger . Sie wären nicht die
Grünen und wir wären keine Sozialdemokraten, hätten
wir im Rahmen der Brexit-Debatte nicht gerade auch das
Los der Menschen im Auge, die von der unseligen BrexitEntscheidung direkt betroffen sind, nämlich derjenigen, die darauf vertraut haben, dass sie sich auf Dauer
in Europa frei bewegen und niederlassen können, derjenigen, die darauf vertraut haben, dass sie ihr Leben als
Europäerinnen und Europäer planen und leben können .
Von jetzt an gerechnet in etwa zwei Jahren hätten wir in
diesem Hohen Haus einen Antrag von Ihnen in ähnlicher
Form gerne unterstützt . Aber heute, am 23 . September
2016, ist Ihr Antrag, mit Verlaub, Theaterdonner und Beschäftigungstherapie .
({0})
Ihr Antrag ist außerdem handwerklich ungenau . Mit
großer Geste schreiben Sie, die Bundesregierung solle
darauf hinwirken,
dass in Deutschland lebende britische Staatsangehörige rasch und unkompliziert eingebürgert werden,
wenn sie es beantragen; …
und
dass britische Staatsangehörige auch bei einer Aufenthaltsdauer von weniger als sechs Jahren eingebürgert werden, wenn sie die sonstigen Voraussetzungen für die Einbürgerung erfüllen; …
Weiterhin solle die Bundesregierung
im Rahmen ihrer Informationspolitik verstärkt darauf aufmerksam … machen, dass die Einbürgerung
britischer Staatsangehöriger unter Beibehaltung der
britischen Staatsangehörigkeit erfolgt .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, selbst wenn wir diesen Antrag heute hier beschließen würden: Gut gemeint
ist halt noch nicht gut gemacht .
({1})
Nur hinwirken und informieren würde bei einer so komplexen Materie eben nicht ausreichen .
({2})
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der Grünen,
noch hat Großbritannien nicht einmal nach Artikel 50
EU-Vertrag seinen Austritt aus der Europäischen Union
angezeigt . Wir stehen aber schon jetzt vor einem Berg
von Fragen, die im kommenden Austrittsprozess geregelt
werden müssen . Und dabei wissen wir noch nicht einmal,
wann dieser mindestens zweijährige Prozess denn je beginnen wird .
Sie wissen genau wie ich, dass erst in einem fortgeschrittenen Stadium der Verhandlungen endgültig gelöst werden kann, wie mit der Staatsangehörigkeit und
Einbürgerung britischer Staatsbürger umzugehen ist, die
schon bisher in einem anderen EU-Mitgliedstaat lebten .
Sie wissen genau wie ich, dass die SPD natürlich alles
dafür tun wird, hier menschliche, europäische Lösungen
im besten Sinne zu finden, nämlich den hier lebenden
Britinnen und Briten zu ermöglichen, auch weiter mit
weitestgehenden Rechten und Pflichten unter uns zu leben .
({3})
Wir würden gut daran tun, dieses Problem schon
gleich zu Beginn der Verhandlungen auf den Tisch zu
legen und möglichst früh zu lösen, und zwar im Sinne
eines fairen Deals . Wenn unsere Bürger in Großbritannien bleiben können, dürfen Britinnen und Briten auch bei
uns bleiben .
Und Sie wissen genau wie ich, dass wir vor extrem
komplizierten Verhandlungen stehen, in denen es darum
gehen wird, Großbritannien möglichst eng an die EU und
den Binnenmarkt zu binden, aber Großbritannien gleichzeitig auch Pflichten aufzuerlegen.
Man hat den Eindruck, dass manche britischen Regierungsvertreter bzw . Austrittsbefürworter momentan
mit großen Kinderaugen erkennen, wie unendlich kompliziert dieser Austrittsprozess werden wird, und wie
schwierig es werden wird, die hochtrabenden Versprechen aus dem Referendumswahlkampf zu erfüllen, auch
wenn das Boris Johnson, blond und blauäugig, anders
sieht . Theresa May hat bisher nicht erkennen lassen, dass
die britische Regierung überhaupt schon eine grundsätzliche Strategie für die Austrittsverhandlungen gefunden
hat . Allerdings werden wir uns an dieser neuen „Eisernen
Lady“ möglicherweise noch die Zähne ausbeißen .
Es ist gut und richtig, dass Deutschland und die EU
sich jetzt noch nicht auf Vorverhandlungen einlassen
wollen . Die EU wird das Vereinigte Königreich kommen
lassen; denn Großbritannien muss sich darüber klar werden, wie sein Verhältnis zur EU und zum Binnenmarkt
sein soll . Großbritannien muss sich darüber klar werden,
welchen Preis es bereit ist zu zahlen, dass es sich aus
dem Geltungsbereich der Grundfreiheiten zurückzieht .
Die Personenfreizügigkeit als eine der vier Grundfreiheiten bildet eine der Säulen des Binnenmarktes der Europäischen Union . Nimmt man diese Säule weg, bricht das
Gebäude Europäische Union, wie wir es kennen, zusammen .
Tun Sie uns also bitte den Gefallen und verschleudern Sie nicht Ihre parlamentarische Energie in Anträge,
von denen Sie wissen, dass sie das Problem nicht lösen .
Verschleudern Sie nicht Ihre Argumente, die Sie und wir
noch dringend brauchen werden . Sparen Sie sich Ihre
Energie für die schwierigen Verhandlungen und Debatten, die noch kommen werden . Wir wollen kein kaltes
Europa mit neuen Grenzen . Wir wollen kein Europa, das
sich nur über die Zollfreiheit definiert.
({4})
Wir wollen kein Europa aus eifersüchtigen Einzelstaaten,
die sich nur deswegen regelmäßig an einen Tisch setzen,
um über Handelsquoten und Fördermittel zu feilschen .
Detlef Müller ({5})
Stichwort „Eifersucht“: Ja, der Brexit ist schon so etwas wie eine Ehescheidung . Wir sind enttäuscht, fühlen
uns unverstanden, hintergangen . Wir wissen, dass wir
uns scheiden lassen werden, dass wir uns scheiden lassen müssen . Aber der Scheidungsantrag ist noch nicht
gestellt . Trotzdem darf es nicht zu einem Rosenkrieg
kommen . Wir sollten also alles vermeiden, was den
Scheidungsprozess beeinflussen, erschweren oder sogar
vergiften könnte .
Es waren 43 gute Ehejahre - mit Höhen und Tiefen
und nicht ohne Konflikte; aber so ist das eben in einer
Ehe . Und nun geht sie zu Ende, der Partner will sich
trennen . Aber wir haben noch immer Respekt vor dem
Partner, und, ja, wir schauen auch noch etwas wehmütig
auf die gemeinsamen Jahre zurück . Deswegen sollten wir
uns so trennen, dass wir uns danach trotzdem noch in die
Augen schauen und sagen können: Ach komm, lass uns
Freunde bleiben!
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
({6})
Vielen Dank . - Als nächste Rednerin - sorry -, als
nächster Redner hat Özcan Mutlu von der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen das Wort .
({0})
Das wird er verkraften, wie ich ihn kenne .
Das werden wir noch bereden müssen . Ich habe jetzt
Gesprächsbedarf mit meiner Fraktionsvorsitzenden .
Nein, Sie haben einen Freibrief, mich einmal mit
„Herr“ anzureden .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Im Jahre 2000 haben wir unter Rot-Grün Schluss
gemacht mit dem wilhelminischen Staatsangehörigkeitsrecht, das auf dem Blutsrecht aufgebaut war . Die damaligen rot-grünen Reformvorschläge zur Liberalisierung
des Staatsangehörigkeitsrechts waren überfällig . Leider
wurden damals aber unsere Reformvorschläge durch die
Koch’sche „Ausländer raus!“-Unterschriftenkampagne
und die schwarz-gelbe Bundesratsmehrheit in weiten
Teilen verhindert . Seither haben wir auch die Debatte
um die doppelte Staatsbürgerschaft . Sie haben das im
Jahr 2000 verhindert . Aber das ist heute für uns immer
noch wichtig .
({0})
Heute, 16 Jahre danach, sehen wir alle, dass weiterhin
großer Reformbedarf besteht . Daran hat auch die Mogelpackung der Großen Koalition aus dem Jahr 2014 nichts
geändert, als Sie die leidige Optionspflicht leicht liberalisiert haben . Nach wie vor ist die doppelte Staatsbürgerschaft nur in Ausnahmefällen möglich . Deshalb verstehe
ich auch die ganze Hysterie nicht, die Sie von der CDU/
CSU in Sachen doppelte Staatsbürgerschaft in diesem
Sommer verbreitet haben . Ich verstehe nicht, wie die
CDU/CSU etwas abschaffen will, was de jure gar nicht
existiert . Wir haben keine doppelte Staatsbürgerschaft in
diesem Land . Es gibt nur Ausnahmefälle . Das sollten Sie
als Abgeordnete dieses Hohen Hauses, als Gesetzgeber,
bestens wissen . Ich sage Ihnen, Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU: Hören Sie auf, Angst zu schüren!
Hören Sie auf, das Klima des Zusammenlebens in diesem Land zu vergiften!
({1})
Mit dieser Kampagne, die Sie in diesem Sommer gefahren haben, fördern Sie nämlich nur eines: die Desintegration . Mit dieser Kampagne und Ihrem Kampf
gegen die doppelte Staatsbürgerschaft verhindern Sie
auch, dass Deutschland Heimat wird für Millionen von
Migrantinnen und Migranten . Sie reden auch in diesem
Zusammenhang ständig von den Türkinnen und Türken
oder der Türkei und zeichnen ein Schreckensszenario
nach dem anderen an die Wand . Sie schwadronieren von
Loyalität und Loyalitätskonflikten und stellen Hunderttausende Menschen, die aus der Türkei stammen, die
unserem Land gegenüber loyal sind und das Grundgesetz anerkennen, unter Generalverdacht . Im Übrigen: Ich
stamme auch aus der Türkei und diene dem deutschen
Volk und allen Menschen, die in diesem Land leben . Sie
sollten das endlich mal akzeptieren
({2})
und damit aufhören, diese Menschen zu denunzieren und
unter Generalverdacht zu stellen .
({3})
Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen, erreichen mit
diesen Kampagnen genau das, was Sie eigentlich verhindern wollen . Sie lassen nicht zu, dass diese Menschen in
unserem Land ankommen . Sie treiben damit viele Türkinnen und Türken in die Hände von Erdogan, weil Sie
nicht zulassen, dass diese Menschen sich endlich mit unserem Land identifizieren können. Das ist schädlich, und
das ist schäbig, liebe Kolleginnen und Kollegen .
({4})
Ich schaue insbesondere in die Reihen der CDU/CSU
und sage nochmals: Es geht hier um staatsbürgerschaftliche Rechte .
({5})
Es geht zum Beispiel um das elementare Bürgerrecht des
Wahlrechts . Hier in Berlin waren vor fünf Tagen Wahlen .
Mein Vater, der seit 50 Jahren in diesem Land lebt, durfte
nicht einmal mitentscheiden, wer im Bezirk Mitte, wer
im Bezirk Kreuzberg den Bürgermeister oder die BürgerDetlef Müller ({6})
meisterin stellt . Im Übrigen sind es demnächst in beiden
Fällen Grüne . Darauf sind wir stolz .
({7})
Sie haben mit Ihren Restriktionen verhindert, dass
mein Vater, der eine besondere Identifikation auch mit
der Türkei hat, obwohl sein Sohn die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt und MdB ist, die deutsche Staatsbürgerschaft kriegen kann .
({8})
- Sie haben verhindert, dass er Deutscher werden kann,
({9})
weil Sie fordern, dass er die türkische Staatsbürgerschaft
aufgibt .
({10})
Er will sie nicht aufgeben . Akzeptieren Sie, dass für eine
bestimmte Bevölkerungsgruppe die doppelte Staatsbürgerschaft ein Angebot ist, und lassen Sie uns gemeinsam
dieses Angebot machen .
({11})
Mein Appell an Sie: Hören Sie mit den Scheindebatten auf! Hören Sie auf, mit populistischen Forderungen
der AfD nachzueifern! Lassen Sie uns stattdessen ein
modernes Staatsbürgerschaftsrecht für unser Land etablieren, damit sich jeder hier zu Hause fühlen kann und
damit jeder in unserem Land, der schon eine bestimmte Zahl an Jahren in unserem Land lebt, endlich staatsbürgerschaftliche Rechte bekommt! Um nicht mehr und
nicht weniger geht es hierbei .
({12})
Als nächster Redner hat Marian Wendt von der CDU/
CSU-Fraktion das Wort .
({0})
Mit den zwei Ehefrauen . - Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was nichts
kostet, ist auch nichts wert .
({0})
Wenn die deutsche Staatsangehörigkeit immer leichter zu
haben ist, dann ist auch ihr Inhalt, die damit verbundene Verantwortung und die Identifikation damit nicht von
Substanz .
({1})
Eine Staatsangehörigkeit ist kein Bonbon, das man einfach mal so nebenbei mitnimmt .
({2})
Auch wenn der Druck bzw . die Nachfrage danach groß
sein mag, so sollten wir dies nicht als Grund sehen, unsere Standards für eine Einbürgerung zu senken . Es sollte
eher Bestärkung sein, hohe Standards für den Erwerb der
deutschen Staatsangehörigkeit zu setzen
({3})
und diesen wenigstens ein kleines bisschen zeremoniell
zu gestalten .
Die Beantragung und die Erlangung der deutschen
Staatsbürgerschaft sind für mich schließlich ein Symbol
des finalen Ankommens in unserem Land.
({4})
Gegen die sehr pragmatische Überlegung „Ich nehme
einfach den Pass, der mir die größte Freiheit bietet“ wehre ich mich . Denn das entspricht nicht dem, was eine
Staatsbürgerschaft für mich ausmacht . Eine Staatsbürgerschaft ist ein Ausweis der Verantwortung, die man für
ein Land - in diesem Fall für unser Land - übernimmt .
Einbürgerung dient eben nicht nur der Herstellung einer größtmöglichen Übereinstimmung zwischen der in
Deutschland lebenden Bevölkerung und dem wahlberechtigten Staatsvolk .
Das Argument der Grünen, Menschen wären von politischer Teilhabe ausgeschlossen, obwohl sie hier schon
lange leben, ist meiner Meinung nach Unsinn .
({5})
Es ist erstens auf vielen Ebenen möglich, sich direkt
zu beteiligen .
Zweitens ist politische Teilhabe, die eine Staatsbürgerschaft voraussetzt, auch mit Bedacht und mit Recht
dieser Hürde unterworfen . Denn die notwendige Identifikation mit Deutschland, die mit der deutschen Staatsbürgerschaft einhergehen muss, und die entsprechende
Verantwortung sind eben auch Voraussetzung für die Beteiligung an politischen Prozessen .
({6})
Denn nur wer unsere Grundwerte teilt und achtet, sollte
auch politisch hier teilhaben .
({7})
Außerdem - und hier schließt sich der Kreis - besteht
ja die Möglichkeit, sich um die Staatsbürgerschaft zu bemühen . Wenn sie dann erworben wurde - ich wiederhole
für die Grünen: erworben -, dann ist sie die Eintrittskarte für Mitbestimmung auf größerer Ebene . Wer 20 Jahre in unserem Land lebt, der hätte schon seit 12 Jahren,
wenn er möchte, deutscher Staatsbürger sein können . Wir
schaffen ja die Voraussetzungen, aber er muss sich auch
entscheiden und bekennen, zu welchem Land er gehört .
({8})
Die deutsche Staatsangehörigkeit ist ein Anreiz zur
Integration gemäß unserer Philosophie des Förderns und
Forderns gegenüber Menschen, die neu in unserem Land
leben . Diesen Anreiz dürfen und wollen wir nicht aus der
Hand geben . Eine weitere Vereinfachung des Erlangens
wäre nämlich ein Vorschuss auf Integrationsleistungen,
und einen solchen Vorschuss dürfen wir nicht geben .
({9})
Frau Präsidentin, der Kollege Mutlu möchte eine Zwischenfrage stellen . Bitte .
Herr Kollege Mutlu, Sie dürfen .
Ach so, Entschuldigung!
Das macht nichts . Wenn Sie Ja sagen, dann kann der
Kollege Mutlu seine Zwischenfrage stellen .
({0})
Herr Kollege Wendt, danke, dass Sie die Frage zulassen . Ich habe eine ganz simple Frage: Ist Ihnen bekannt,
dass die Bundrepublik Deutschland mit 53 Ländern dieser Erde sogenannte Doppelstaatsbürgerschaftsabkommen abgeschlossen hat
({0})
und dass in unserem Land bereits über 4 Millionen Menschen eine doppelte Staatsbürgerschaft besitzen, von
denen keine Gefahr für unser Land ausgeht? Außer mit
den 53 Partnerländern haben wir auch ein „Abkommen“
mit dem Iran . Hier müssen wir die doppelte Staatsbürgerschaft de facto akzeptieren, weil der Iran nicht ausbürgert . Ist Ihnen all das bekannt? Wo sehen Sie in diesem
Zusammenhang die Gefahr für unser Land?
Herr Kollege, mir ist bekannt, dass es doppelte Staatsbürgerschaften in unserem Land gibt und dass es diese
Abkommen gibt . Wir haben aber einen Grundsatz, und
davon gibt es, wie es manchmal im Recht der Fall ist,
Ausnahmen .
Wir sollten aber erstens an dem Grundsatz festhalten,
dass es grundsätzlich eine Staatsbürgerschaft geben sollte . Das ist, glaube ich, auch für die Menschen einfacher .
Und der Iran - Sie haben es selber erwähnt - bürgert
nicht aus, auch wenn Iraner nicht mehr Staatsbürger des
Iran sein wollen . Solche Gegebenheiten müssen wir akzeptieren, auch wenn sie nicht unserer Rechtsauffassung
entsprechen .
Ich finde es zweitens wichtig, daran festzuhalten, dass
die deutsche Staatsbürgerschaft etwas bedeutet, dass sie
nicht nur ein Stück Papier ist, nicht nur ein Stück Reisefreiheit, sondern dass dahinter auch Werte stehen, eine
Kultur, eine Idee . Ich werde dazu noch ausführen .
({0})
- Es geht bei der Idee um unsere Grundwerte . Ich werde
gleich darauf eingehen, Herr Beck, immer mit der Ruhe .
({1})
Der Grundsatz des Förderns und Forderns, den wir im
Integrationsgesetz als Prämisse unserer Bemühungen um
eine bessere Integration festgelegt haben, ist genau deshalb so viel wert, weil sich eigene Leistung lohnt . Und
Integration lohnt sich . Aktives persönliches Bemühen
um Integration lohnt sich für jeden Menschen, der legal
zu uns kommt . Für Menschen, die sich nicht integrieren,
muss die Erlangung der deutschen Staatsbürgerschaft
unmöglich sein . Hier gibt es ein Abstandsgebot, schon
allein aus Gründen der Gerechtigkeit .
Mit dem Integrationsgesetz haben wir genau den richtigen Weg eingeschlagen, Anreize für Integration zu geben . Eine erfolgreiche Integration kann dann auch mit
der deutschen Staatsbürgerschaft belohnt werden . Vereinfachungen bei der Erlangung der deutschen Staatsbürgerschaft, wie hier gefordert - frei nach dem Motto: wir
geben dir die Staatsbürgerschaft in der Hoffnung, dass
du dich gut integrierst -, liefen diesem Zweck zuwider
und sind daher schlicht abzulehnen . Das kann nicht unser
Weg sein; denn wir müssen ja bedenken, dass die Einbürgerung unumkehrbar ist . Wenn sich jemand nach Erlangung der deutschen Staatsbürgerschaft nicht integriert
hat, dann können wir nach zehn Jahren nicht sagen: Wir
nehmen sie dir wieder weg . - Von daher wäre es fatal, so
vorzugehen .
({2})
- Das ist vielleicht manchmal auch gut .
Wir sollten die Verleihung unserer Staatsbürgerschaft
also nicht als Vorschuss auf Integration handhaben, sondern genau andersherum . Denn sonst würde der Druck
fehlen, sich in unsere Gesellschaft zu integrieren . Und
Integration bedeutet für mich dabei die Anerkennung
unserer christlich-jüdischen Werte, die Anerkennung der
besonderen Geschichte unseres Landes und die Annahme
der Verantwortung, die wir mit ihr tragen, und selbstverständlich auch die Anerkennung unserer deutschen Leitkultur .
({3})
Noch ein paar Gedanken zu dem Antrag zur einfacheren Erlangung der deutschen Staatsbürgerschaft für britische Staatsangehörige . Jetzt für britische Bürger eine
Sonderregelung, eine Lex Britannica, wie an verschiedenen Stellen zu lesen war, einzuführen, halte ich für einen
Fehler .
Erstens: Wie wäre diese Ungleichbehandlung gegenüber anderen EU-Bürgern zu rechtfertigen?
({4})
Zweitens gibt es bereits heute ausreichend rechtliche
Möglichkeiten für alle Unionsbürger, sich um die deutsche Staatsbürgerschaft zu bemühen . Der dritte Grund:
Es kann nicht sein, dass der Wunsch, am Flughafen nicht
in der langen Schlange derer stehen zu müssen, die nicht
dem Schengen-Raum angehören, dazu führt, die deutsche Staatsangehörigkeit zu beantragen .
Die Bürgerinnen und Bürger Großbritanniens haben
demokratisch darüber entschieden, dass sie nicht Teil
dieser Europäischen Union bleiben möchten . Diese Entscheidung haben wir zu akzeptieren . Deswegen sind Ihre
Anträge nicht zuvorderst und nicht in einfacher Weise zu
behandeln .
Der Antrag der Grünen und ihr Gesetzentwurf sind
abzulehnen, nicht nur, weil sie eine vernünftige Überzeugung davon vermissen lassen, was Staatsangehörigkeit
bedeutet .
({5})
Staatsangehörigkeit ist mehr als der deutsche Pass . Ihre
Vorschläge laufen auch den Maßnahmen zuwider, die wir
zur Bewältigung der Herausforderungen, die sich aus der
Vielzahl von Flüchtlingen ergeben, beschlossen haben .
Für die CDU/CSU-Fraktion ist Integration der Weg
und Einbürgerung das Ziel, nicht andersherum .
Vielen Dank .
({6})
Als nächster Redner hat Rüdiger Veit von der
SPD-Fraktion das Wort .
Frau Präsidentin! Das war eine vorsorgliche Wortmeldung für den Fall, dass sich die Notwendigkeit aus der
weiteren Debatte ergeben hätte . Diese Notwendigkeit
sehe ich nicht, sodass wir alle hier neun Minuten mehr
von unserer Lebensarbeitszeit haben .
({0})
Das ist ungewöhnlich, aber akzeptabel .
({0})
Frau Barbara Woltmann von der CDU/CSU-Fraktion
hat dann das Wort .
({1})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Präsidentin hat schon gesagt, dass das sehr
ungewöhnlich war; aber ich fand es schon ungewöhnlich,
dass Sie zweimal auf der Rednerliste standen, Herr Veit .
Die Begründung war sehr interessant . Nun gut .
Wir haben eine recht lange Debattenzeit für dieses
Thema vorgesehen . 77 Minuten - ich bin die letzte Rednerin zu diesem Thema - sind schon eine lange Zeit . Wir
diskutieren über das Einbürgerungsrecht hier nicht zum
ersten Mal . Ich glaube, es ist deutlich geworden, dass wir
dabei nicht einer Meinung sind, dass die Opposition ein
sehr viel offeneres Herangehen für richtig hält.
({0})
- Ja, in der Tat haben wir in den Koalitionsverhandlungen hart um die Optionsregelung gerungen . Wir haben
dann eine Lösung gefunden und gleich zu Beginn dieser
Legislaturperiode, 2014, das Staatsangehörigkeitsrecht
geändert . Wir sehen - das wird Sie von der Opposition
nicht wundern - keine Notwendigkeit, jetzt wieder eine
Änderung in Angriff zu nehmen.
Die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt, wer Deutscher im Sinne des Gesetzes ist . Wir haben im Staatsangehörigkeitsgesetz in immerhin 42 Paragrafen sehr detailliert geregelt, wie man deutscher Staatsbürger werden
kann, wenn man es nicht von Geburt an ist .
Das Optionsrecht hatte ich schon angesprochen . In
der Tat hätten wir das, wenn wir alleine hätten entscheiden können, nicht so geändert . Wir hätten das nicht ins
Gesetz geschrieben; aber wir hatten das mit der SPD so
ausgehandelt, und wir verhalten uns - Herr Veit hat es
schon gesagt - natürlich vertragstreu . Daher haben wir
das Recht entsprechend geändert .
Eine weitere Veränderung lehnen wir aber ab . Deswegen, liebe Kollegen von den Grünen, wird es Sie nicht
wundern, dass wir Ihren Antrag und Ihren Gesetzentwurf
ablehnen . Wir haben einfach eine ganz andere Vorstellung davon, wer wann wie deutscher Staatsbürger werden kann, der es noch nicht ist, der aber den Wunsch hat,
Deutscher zu werden .
Ihre Intention scheint mehr zu sein, die Türen für eine
Einbürgerung für alle weit zu öffnen, indem Sie die Mindestaufenthaltsdauer bei der Anspruchseinbürgerung auf
fünf Jahre senken; bei anerkannten Flüchtlingen wollen
Sie die Mindestaufenthaltsdauer auf drei Jahre senken .
({1})
Sie machen auch keinen Unterschied mehr zwischen
den verschiedenen Aufenthaltstiteln; Hauptsache, es gibt
überhaupt einen Titel . Also, Sie wollen die Tür sehr weit
öffnen.
({2})
Ihren Hinweis auf die globalisierte und mobile Welt,
der sich unser Staatsangehörigkeitsgesetz anpassen müsse, halte ich für völlig fehl am Platze . Sie scheinen sich
damit - so kommt mir das vor - einem Mainstream bestimmter Gruppen anschließen zu wollen, ihm vielleicht
auch nachlaufen zu wollen - nach dem Motto: Wir alle
sind Weltbürger und brauchen die Bindung an unseren
Heimatstaat nicht mehr . - Da, glaube ich, verkennen
Sie die Bindungswirkung einer Staatsangehörigkeit . Die
meisten Menschen nennen das „Heimat“ .
({3})
Das ist ihnen auch sehr wichtig . Das sollte nicht der Beliebigkeit anheimgegeben werden . Von daher gesehen ich darf es wiederholen - lehnen wir das ab .
Genau das Umgekehrte ist doch der Fall . In einer globalisierten Welt braucht man Bindung, Zugehörigkeitsgefühl
({4})
und nicht in allen Lebensbereichen grenzenlose Ungebundenheit .
({5})
Sie setzen mit der von Ihnen gewünschten Gesetzgebung
ein völlig falsches Signal, gerade in der heutigen Zeit, da
durch Ihre Vorschläge weitere PullEffekte, die wir nicht
wollen, zu erwarten sind .
Des Weiteren besteht auch keinerlei Notwendigkeit,
britischen Staatsangehörigen - meine Vorredner haben
schon auf Ihren Antrag dazu hingewiesen - eine Sonderbehandlung zuteilwerden zu lassen, weil sie auch jetzt
schon alle Rechte genießen, die jedem europäischen oder Schweizer - Staatsbürger in Deutschland bezüglich
einer Einbürgerung eingeräumt worden sind . Das gilt
zumindest so lange, wie ihr Land Mitglied der Europäischen Union ist .
Im Moment wissen wir auch noch gar nicht, wann der
Antrag gestellt wird, wie er gestellt wird . Dass er gestellt
wird, davon können wir ausgehen, weil die britische Premierministerin das noch einmal deutlich gemacht hat .
Wenn der Antrag gestellt wird, schließen sich noch zweijährige Verhandlungen an. Auch insofern finde ich: Ihr
Antrag ist überflüssig, vergebene Liebesmüh.
({6})
Es ist von Vorrednern schon darauf hingewiesen
worden, dass es auch eine Ermessensentscheidung geben kann, um die Zeit von sechs Jahren, die ein Brite in
Deutschland leben und arbeiten muss - das ist die Voraussetzung -, eventuell zu verkürzen;
({7})
er hätte dann nach § 12 Absatz 2 Staatsangehörigkeitsgesetz die Möglichkeit, Deutscher zu werden . Insofern
sehen wir gar keinen Handlungsbedarf für eine Privilegierung in Europa; das wäre nur der Einstieg für eine generelle Öffnung, und das wollen wir nicht.
({8})
Wir halten das nicht für notwendig .
Nur noch ein kleiner Einschub, wenn wir schon über
den Brexit sprechen . Von der Opposition wurde schon
vorgeschlagen, weitere direktdemokratische Elemente
in die Verfassung einzuführen . Wir haben im Juni die
entsprechende Debatte gehabt . Wir haben das seinerzeit
abgelehnt . Wozu es führen kann, wenn man solche Elemente einführt - ich kann das hier nur noch einmal wiederholen -, haben wir gesehen . Scharlatane versuchen,
auch mit falschen Informationen, die Leute zu einer
Entscheidung zu bringen, die letztendlich nicht gut für
das Land - in dem Fall für Großbritannien - und für die
Menschen dort ist . Insofern bin ich froh, dass wir das in
unserer Verfassung so haben, wie wir es haben . Unsere
parlamentarische Demokratie ist da sehr stabil, und das
wollen wir auch so erhalten .
Das Staatsangehörigkeitsrecht haben wir, wie gesagt,
durch eine maßvolle Anpassung der Optionspflicht für
in Deutschland aufgewachsene Kinder geändert . Herr
Mutlu, es ist auch nicht so - das möchte ich noch einmal
deutlich sagen -, wie Sie es gerade geschildert haben,
dass Ihr Vater nicht Deutscher werden kann . Er kann naBarbara Woltmann
türlich Deutscher werden, aber das ist eben damit verknüpft, dass er dann seine türkische Staatsangehörigkeit
abgeben muss .
({9})
Das wollen Sie nicht; das ist uns schon klar . Da haben wir
eine ganz andere Auffassung von unserem Staatsangehörigkeitsrecht und sagen: Wer Deutscher werden möchte,
sollte sich auch voll und ganz zu diesem Land bekennen .
({10})
Ich glaube auch nicht, dass es hilft, wenn wir sagen:
Jeder darf eine doppelte Staatsbürgerschaft haben . - Für
eine bestimmte Anzahl von Ländern ist das möglich; da
haben wir das geregelt . Aber wir wollen - akzeptieren Sie
es doch nun einfach einmal - nicht diese völlige Öffnung,
sondern wir wollen bei der Einstaatlichkeit bleiben; denn
die Staatsangehörigkeit ist ein besonderes Band zu dem
Staat, dem ich angehöre . Die lege ich nicht einfach wie
ein Kleidungsstück an oder auch wieder ab .
({11})
Es hat doch eine Bedeutung, ob ich sage, dass ich jetzt
Deutsche werden möchte, oder ob ich sage, dass ich
Schweizerin werden möchte . Das unterliegt doch nicht
der Beliebigkeit . Vielmehr geht es um ein klares Bekenntnis zu dem Staat, in dem ich leben möchte, in dem
ich Teil der Gesellschaft sein möchte, in dem ich wählen
kann . Das alles gehört zusammen . Das unterliegt doch
nicht der Beliebigkeit .
({12})
- Ja, wir haben einige . Das dann aber auch mit gutem
Grund .
Wir wollen eben nicht eine völlige Freigabe, sondern
wir wollen, dass die doppelte Staatsbürgerschaft weiterhin die Ausnahme bleibt . Die deutsche Staatsangehörigkeit soll ein klares Bekenntnis zur Bundesrepublik
Deutschland beinhalten . Dadurch soll der Zusammenhalt
in unserer Gesellschaft gestärkt werden .
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
({13})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die De-
batte .
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/9669 und 18/5631 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen .
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall . Dann
sind die Überweisungen so beschlossen .
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 40 a bis 40 c auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes
zur Stärkung der pflegerischen Versorgung
und zur Änderung weiterer Vorschriften
({0})
Drucksache 18/9518
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({1})
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Pia
Zimmermann, Sabine Zimmermann ({2}),
Matthias W . Birkwald, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE
Pflege teilhabeorientiert und wohnortnah gestalten
Drucksache 18/8725
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({3})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Elisabeth Scharfenberg, Kordula Schulz-Asche,
Maria Klein-Schmeink, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Pflege vor Ort gestalten - Bessere Bedingungen für eine nutzerorientierte Versorgung
schaffen
Drucksache 18/9668
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({4})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . - Ich höre dazu
keinen Widerspruch . Dann ist das so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Rednerin in dieser Aussprache hat die Parlamentarische Staatssekretärin
Ingrid Fischbach für die Bundesregierung das Wort .
({5})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich glaube, ich verkünde nichts Neues, wenn ich sage:
Die Pflege steht in dieser Legislaturperiode prioritär ganz
oben auf unserer Tagesordnung . Wir haben mit unseren
Pflegestärkungsgesetzen schon einiges Gutes auf den
Weg gebracht. Mit dem Ersten Pflegestärkungsgesetz haBarbara Woltmann
ben wir die Pflegeleistungen erheblich ausgeweitet, die
Leistungen - das war ein besonderer Punkt; das war uns
ganz wichtig - flexibler nutzbar gemacht und natürlich
die Hilfen für die pflegenden Angehörigen deutlich verbessert .
({0})
Mit dem Zweiten Pflegestärkungsgesetz haben wir
dann den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff und das dazugehörige Begutachtungsverfahren eingeführt . Ab dem
1. Januar werden fünf Pflegegrade die überholten drei
Pflegestufen ablösen. Niemand wird dabei benachteiligt.
Im Gegenteil: Für sehr viele Menschen werden sich die
Leistungen ab Januar nächsten Jahres erhöhen .
Das PSG III, das Dritte Pflegestärkungsgesetz, das wir
heute einbringen, ist sozusagen der letzte Baustein, um
das Ganze abzurunden . Das heißt, wir müssen jetzt die
Maßnahmen ergreifen, die vor Ort benötigt werden . Mit
dem Dritten Pflegestärkungsgesetz stärken wir die Rolle
der Kommunen in der Pflege. Die zu pflegenden Personen und ihre Angehörigen benötigen eine gute Unterstützung und vor allen Dingen eine, die maßgeschneidert ist .
Die Strukturen und Rahmenbedingungen der Pflege müssen stimmen, damit sie für die Pflegenden und Angehörigen ein Leben gewährleisten, das in Selbstbestimmtheit
und auch in Würde geführt werden kann .
Dazu müssen die Länder und die Kommunen Handlungsspielräume haben . Diese geben wir ihnen mit dem
PSG III . Wir sorgen dafür, dass wir ein gutes Miteinander von Pflegekassen und kommunalen Strukturen vor
Ort haben . Das war auch die Empfehlung der Bund-Länder-Arbeitsgruppe, die dazu getagt hat . Kommunen
können künftig Beratungsleistungen in der Pflege selbst
anbieten. Sie können die Einrichtung weiterer Pflegestützpunkte auf den Weg bringen, damit die Menschen,
die Beratung brauchen, entsprechende Anlaufstellen haben . Die Kommunen haben die Möglichkeit, in 60 Modellvorhaben neue Formen der Beratung zu erproben,
und sie erhalten die Möglichkeit, die Beratung der Pflegekassen selber zu erbringen .
Das verlangt aber auch, dass die Zusammenarbeit
aller Beteiligten vor Ort verbessert wird . Oft gibt es in
den Kreisen und Kommunen bereits regionale Pflegeausschüsse . Wir werden mit dem PSG III dafür sorgen,
dass die Kassen in diesen Pflegeausschüssen verpflichtend mitarbeiten, weil wir zum einen wollen, dass sie ihr
Wissen und ihre Erfahrung einbringen, und weil wir zum
anderen wollen, dass sie die Empfehlungen, die die Ausschüsse auf den Weg bringen, mittragen und umsetzen .
Vor der Sommerpause, meine Damen und Herren,
war der Abrechnungsbetrug in der Pflege ein wirklich
ausschlaggebendes und bestimmendes Thema . Wenige
schwarze Schafe - das möchte auch ich deutlich sagen haben eine ganze Branche in Misskredit gebracht . Betrug
in der Pflege ist wirklich besonders verachtungswürdig,
weil er nicht nur zulasten der Pflegebedürftigen, sondern
auch zulasten der Beitragszahler und vor allen Dingen
zulasten der vielen ehrlichen Anbieter, die wir haben,
geht . Das, glaube ich, sollten wir deutlich sagen . Hier ist
der Gesetzgeber gefordert .
({1})
Bereits im Rahmen des Zweiten Pflegestärkungsgesetzes haben wir wichtige Maßnahmen zur Verhinderung
und Entdeckung von Abrechnungsbetrug in der Pflege
auf den Weg gebracht, insbesondere die Verpflichtung
des Medizinischen Dienstes, neben der Qualität regelmäßig auch die Abrechnungen zu prüfen . Die Vorkommnisse im Frühjahr dieses Jahres haben aber gezeigt, dass dies
nicht ausreicht . Deswegen wird es nun auch im SGB V
ein systematisches Prüfrecht geben . Künftig werden alle
Pflegedienste regelmäßig geprüft, auch jene, die nur Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung erbringen .
Alle Patienten werden in die Stichproben mit einbezogen, also auch Menschen, die ausschließlich Leistungen
der häuslichen Pflege beziehen.
Darüber hinaus können Abrechnungsprüfungen in Zukunft auch unabhängig von Qualitätsprüfungen durchgeführt werden. Wir geben der Pflegeselbstverwaltung auf
Landesebene vor, Regelungen zur Verhinderung von Abrechnungsbetrug in die Rahmenverträge aufzunehmen .
Damit kann zum Beispiel vermieden werden, dass sich
betrügerische Pflegedienste unter einem anderen Namen
wieder neu auf den Markt begeben . Das sind die Dinge,
die wir tun können . Aber es müssen weitere Schritte im
Bereich des Strafrechts und der Kriminalitätsbekämpfung von den Ländern unternommen werden; auch da
bitten wir um große Unterstützung .
Das PSG III setzt den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff auch im Recht der Hilfe zur Pflege in der Sozialhilfe
um. Denn Pflegebedürftige, die finanziell bedürftig sind,
müssen auch nach Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffes die Leistungen und Hilfen bekommen,
die notwendig sind . Deshalb regeln wir im PSG III auch
das Verhältnis von Eingliederungshilfe und Pflegeversicherung. Dies ist notwendig, weil mit dem neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff die ambulanten Leistungen der
Pflegeversicherung erweitert werden und wie die Eingliederungshilfe Aspekte der Betreuung beinhalten . Deshalb brauchen wir gute Regelungen zur Abgrenzung der
beiden Systeme . Das hat der Expertenbeirat bereits in der
letzten Wahlperiode deutlich gemacht .
({2})
Weitere Regelungen sind notwendig, weil durch die
geplante Personenzentrierung im Rahmen des Bundesteilhabegesetzes ein Anknüpfungspunkt für die Zahlung der Pauschalleistungen der Pflegeversicherung für
Bewohnerinnen und Bewohner von stationären Einrichtungen der Eingliederungshilfe entfällt . Hier brauchen
wir Anpassungen. Denn sonst würden wir die Pflegeversicherung mit Mehrausgaben in Milliardenhöhe belasten,
ohne dass sich - das ist der ausschlaggebende Punkt auch nur etwas mehr an den Leistungen für die Menschen mit Behinderungen verbessern würde .
Die zu Pflegenden und ihre Angehörigen, liebe Kolleginnen und Kollegen, brauchen passgenaue Angebote,
die gut abgestimmt sind und vor Ort von allen Beteiligten
gemeinsam verantwortet werden . Sie müssen sicher sein
können, dass sie bei der Suche nach der richtigen und
wirksamen Unterstützung und Pflege nicht allein gelassen werden . Insofern bildet das PSG III den Abschluss
einer, wie ich finde, wirklich guten Verbesserung für die
Menschen, die Pflege benötigen. Lassen Sie uns jetzt gemeinsam in die parlamentarischen Beratungen gehen und
sie zu einem vernünftigen Ergebnis bringen!
Ich danke den Berichterstattern und den Sprechern der
Fraktionen sehr herzlich - wie ich sehe, sind Mechthild
Rawert, Erwin Rüddel und Erich Irlstorfer da -, ich danke dem Haus für die gute Zuarbeit, und ich wünsche uns
allen, die wir an den Beratungen teilnehmen, dass wir zu
einem guten Ergebnis kommen .
Danke schön .
({3})
Vielen Dank . - Als nächste Rednerin hat Pia
Zimmermann von der Fraktion Die Linke das Wort .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Werte Frau Fischbach, das, was Sie uns hier gerade vorgetragen haben, ist kein Paradigmenwechsel in der Pflege - auf jeden Fall nicht im positiven Sinne -;
({0})
denn mit dem Pflegestärkungsgesetz III manifestieren
Sie einen weiteren Meilenstein in der Zweiklassenpflege, und das ist ein weiterer Schritt zur Aushöhlung des
Sozialstaates .
({1})
Ihr Pflegegesetz verdient auch nicht den Zusatz „Stärkung“, weil es niemanden in der Pflege wirklich stärkt ({2})
nicht die Menschen mit einem Pflegebedarf, nicht die
Pflegekräfte und nicht die pflegenden Angehörigen.
Die Pflege wird noch immer nicht am tatsächlichen
Bedarf und an den individuellen Wünschen, sondern ausschließlich an den zur Verfügung gestellten Mitteln orientiert. Die Pflege bleibt markt und profitorientiert. Alle
Betroffenen gemeinsam sollen das Geld einsparen, das
Sie den Betreibern und Investoren von Pflegeheimen und
den Pflegeversicherungen versprochen haben.
Dieses Gesetz wird auch niemandem nützen, der auf
professionelle Unterstützung angewiesen ist und dessen
Rente nicht ausreicht, um die Eigenbeteiligung in der
Pflegeversicherung, die steigenden Investitionskosten für
die Pflegeeinrichtungen, die Miete, die Lebenshaltungskosten oder was auch immer zu bezahlen .
({3})
Wer auf Hilfe zur Pflege angewiesen ist - das ist die
schöne Umschreibung für Menschen, die eigentlich Sozialhilfe benötigen -, wird zukünftig noch stärker auf das
Wohlwollen seiner Mitmenschen angewiesen sein, als es
bisher der Fall gewesen ist . Durch dieses Gesetz werden
Menschen, die Hilfe zur Pflege brauchen, gesetzlich gezwungen, ehrenamtliche Hilfe in Anspruch zu nehmen,
weil ihnen sonst gar keine Unterstützung zusteht . Damit
kommen die Angehörigen nicht nur finanziell für die
Menschen mit Pflegebedarf auf, indem sie ihr Einkommen und ihr Vermögen zur Verfügung stellen müssen,
sondern sie sollen auch die Pflegearbeit übernehmen, und
zwar unentgeltlich, in ihrer Freizeit und ohne Anspruch
auf irgendeine Sozialversicherung .
Meine Damen und Herren, Sie können einwenden,
dass es doch mehr Pflegegeld und mehr Sachleistungen
gibt; Frau Fischbach, Sie haben es gesagt . Ich entgegne
Ihnen aber, dass all das nicht gegen die Ohnmacht helfen
wird, wenn der 90-jährige Vater 200 Kilometer entfernt
allein in seiner Wohnung ist und dann vielleicht doch einmal vergisst, den Gasherd abzustellen . Hier würde es helfen, wenn sich die Angehörigen darauf verlassen könnten, dass es Strukturen gibt, innerhalb derer man sich um
ihren Vater kümmert . Es würde helfen, wenn sie wüssten,
dass die Menschen, die sich um ihren Vater kümmern,
gut ausgebildet und anständig bezahlt werden .
({4})
Es würde helfen, zu wissen, dass ihr Vater selbst entscheiden kann, ob er zu Hause oder in einer Einrichtung
versorgt wird, und dass seine Wünsche und Würde respektiert werden .
({5})
Dieses Gesetz verspricht solche Strukturen, aber diese Versprechen werden nicht gehalten . Die Kommunen
sollen gestärkt werden . Sie sagen, dafür bekommen sie
die Möglichkeit, mehr Beratungsangebote einzurichten . Aber gerade einmal 60 Modellkommunen von über
11 000 Kommunen kommen in den Genuss . Was für ein
Hohn! Außerdem: Eine echte Entscheidung über die Versorgungsangebote dürfen die Kommunen gar nicht treffen, und Pflegesatzverhandlungen finden weiterhin hinter
verschlossenen Türen statt .
Der neue Pflegebegriff soll für alle Menschen gelten sagen Sie. Aber: Alle Menschen, die auf Hilfe zur Pflege
angewiesen sind, werden durch dieses Gesetz strukturell
benachteiligt, weil ihnen nicht die gleichen Leistungen
zustehen . Das ist das, was ich am Anfang schon einmal
gesagt habe: Mit diesem Gesetz verabschiedet sich die
Bundesregierung vom Bedarfsdeckungsprinzip in der
Sozialhilfe .
Meine Damen und Herren, mit unserem Antrag „Pflege teilhabeorientiert und wohnortnah gestalten“ legen
wir realistische Handlungsoptionen vor, die für Gerechtigkeit in der Pflege sorgen können. Wir fordern gleichwertige Lebensbedingungen in der Pflege für alle Menschen mit Pflege, Unterstützungs und Assistenzbedarf
und gute Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten in
allen Regionen .
({6})
Wir wollen die Kommunen tatsächlich in die Lage
versetzen, für Menschen, die Pflege und Unterstützung
brauchen, wohnortnah und individuell passende Angebote bereitzustellen und auch zu finanzieren. Lassen Sie die
Kommunen bitte nicht wieder auf den Kosten sitzen, wie
es so gerne gemacht wird!
Wir wollen vor allen Dingen die Mitbestimmung der
Menschen mit Pflegebedarf und ihrer Angehörigen stärken . Denn diese Menschen wissen doch am besten, was
gewünscht wird und was nötig ist .
({7})
Wir wollen den Pflegemindestlohn erhöhen und die Arbeitsbedingungen der Pflegekräfte verbessern, weil nur
so dem Fachkräftemangel entgegengetreten werden
kann . Das ist absolut notwendig .
Unser Ziel ist es auch, meine Damen und Herren, dass
Menschen sich vor Pflege nicht fürchten müssen, weil sie
wissen, dass sie gut versorgt werden . Sie dürfen nicht davor Angst haben, dass sie einmal auf die Unterstützung
von anderen Menschen angewiesen sind, sondern es
muss eine gute Versorgung geben . Es ist auch unser Ziel,
dass sich Freunde, Nachbarn und Familien gerne um ihre
Angehörigen kümmern und füreinander da sind, weil sie
es wollen, und nicht, weil sie es müssen .
({8})
Unser Ziel ist es, dass Menschen so leben können, wie
sie es sich wünschen, und nicht, wie es ihr Geldbeutel
erlaubt .
Herzlichen Dank .
({9})
Vielen Dank . - Als nächste Rednerin hat Mechthild
Rawert von der SPD-Fraktion das Wort .
({0})
Liebe Bürgerinnen und Bürger! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Unser Ziel, die Vollendung einer großen
Pflegereform mit ihren zahlreichen Gesetzen, ist in Sichtweite, und das ist auch gut so .
An dieser Stelle, Frau Zimmermann, muss ich doch
auf Ihren Beitrag eingehen . Erstens ist heute noch nicht
die Zeit für großes Wahlkampfgetöse . Zweitens empfehle
ich Ihnen, Ihr Recht als Versicherte auf Pflegeberatung das haben Sie seit 2009 - auch in Anspruch zu nehmen;
denn dann würden Sie erfahren, wie viel Gutes im PSG I,
wie viel Gutes im PSG II und auch im PSG III steht . Ich
kann sagen: Beratung erhöht das Wissen - und das gilt
für uns alle .
({0})
Mit den Pflegestärkungsgesetzen I bis III stellen wir
uns den demografischen Herausforderungen in unserer
immer älter werdenden Gesellschaft . Wir machen Ernst
mit der Aussage „Gute Pflege ist ein Menschenrecht“.
Und das ist auch gut so; denn wir brauchen eine zukunftsfeste Pflege im Interesse der heute schon über 2,5 Millionen pflegebedürftigen Menschen - mit stark steigender
Tendenz -, im Interesse der pflegenden Angehörigen
inklusive ihrer besseren sozialversicherungsrechtlichen
Absicherung und im Interesse der Hauptamtlichen, die
da, wo es einen Tariflohn gibt, tatsächlich den Tariflohn
bezahlt bekommen . All das haben wir geregelt, und das
ist gut so und stärkt die Pflege.
Beim Pflegestärkungsgesetz III werden wir auf jeden
Fall in diesem Jahr noch die Zielgerade erreichen - das
garantiere ich hier -, obwohl wir im parlamentarischen
Verfahren noch große Baustellen zu bearbeiten haben
und das Struck’sche Gesetz auch hier gilt, das lautet:
„Kein Gesetz kommt aus dem Parlament so heraus, wie
es eingebracht worden ist .“
Frau Fischbach hat schon ganz verschiedene Bereiche
und Felder dieses Gesetzes erwähnt, auf die ich an dieser
Stelle nicht mehr eingehen möchte .
Neu ist - das wird also noch kommen -: Dieses Gesetz
dient auch als ein Omnibusgesetz . Denn wir senden mit
ihm berufspolitische Signale aus, indem wir vorhandene
Modellklauseln für die Ergotherapeutinnen und Ergotherapeuten, für die Hebammen und Entbindungspfleger, für
die Logopädinnen und Logopäden, für die Masseure und
Physiotherapeuten verlängern. Wir treffen Regelungen
für die Verbesserung der Qualität unter den Heilpraktikerinnen und Heilpraktikern .
An dieser Stelle eine Anmerkung von mir als sozialdemokratische Gesundheits- und Gleichstellungspolitikerin: Ich verstehe nicht, dass wir den Medizinerinnen und
Medizinern rund 1 Milliarde Euro Honorar mehr geben,
aber für die vielen zumeist von Frauen ausgeübten Gesundheitsberufe keine professionelleren Strukturen von
nachhaltigem Bestand schaffen.
({1})
Wir wollen eine Stärkung der Gesundheitsfachberufe .
Das ist auf jeden Fall unser Credo . Dazu sage ich auch:
Das sich ärgerlicherweise immer noch im parlamentarischen Verfahren befindliche Pflegeberufereformgesetz
soll dazu dienen, dass wir auch hier zu einer besseren
Qualität kommen. Hier hoffe ich doch auf professionelle
Einsicht in Teilen der Reihen unseres Koalitionspartners .
Eingehen will ich auf einige Punkte zum PSG III . Ein
Thema sind die Hilfen zur Pflege. Das Ziel ist, dass die
Regelungen aus dem PSG II, die wir bis jetzt beschlossen haben, auch für die Menschen Wirklichkeit werden,
die Hilfen zur Pflege laut SGB XII, also dem Sozialhilferecht, erhalten. Das heißt, der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff und das neue Begutachtungsverfahren gelten
auch hier . Weiterhin soll gelten: Körperlich, kognitiv und
psychisch Pflegebedürftige werden gleichgestellt, mit
dem Ergebnis, dass mehr Individualität und Gerechtigkeit für alle, unabhängig vom Geldbeutel, gelten .
({2})
Zum PSG III gehören auch die Stärkung der örtlichen
Pflegeinfrastruktur und der Ausbau der Pflegeberatung;
Fälle, in denen das notwendig ist, habe ich schon erwähnt . Mit diesen Punkten setzen wir Forderungen der
SPD aus der letzten Legislaturperiode um . Wir stärken
die kommunale Verantwortung . Wir stärken die Infrastruktur vor Ort .
Auf eines möchte ich Sie hinweisen: Viele von Ihnen
mögen den Begriff „Pflegestützpunkt“ noch gar nicht gehört haben, aber auch in Ihren Kommunen gibt es diese
Pflegestützpunkte.
({3})
Aber es gibt noch nicht genug davon . Hier muss noch
mehr Beratung erfolgen . Daher sind auch die 60 Modellvorhaben von so herausragender Bedeutung . Wir wollen
die Vernetzung vor Ort stärken .
({4})
Wir wollen die individuellen Bedarfe besser abdecken .
Wir wollen natürlich auch dazu beitragen, dass kulturelle
Hintergründe berücksichtigt und alle Menschen über alle
Möglichkeiten vor Ort umfassend informiert werden .
Mit dem PSG III machen wir deutlich: Die Pflegeberatung spielt in der Politik eine zentrale Rolle . Wir wollen,
wie gesagt, mehr Pflegeschutzpunkte vor Ort, initiiert
von Kommunen . Wir wollen mehr Qualität durch bessere
Beratung. Dabei soll nicht nur über Angebote der Pflege
beraten werden, sondern auch über Angebote der Altenhilfe, der Eingliederungshilfe und auch über die der Pflegeversicherung . Es soll eine „Beratung aus einer Hand“
erfolgen .
Frau Kollegin, lassen Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Zimmermann zu?
Selbstverständlich, ja .
Liebe Mechthild Rawert, ich mache kein Wahlkampfgetöse, wenn ich Wahrheiten ausspreche . Mir hätte es eigentlich schon gereicht, wenn die Sozialdemokratinnen
und Sozialdemokraten das umgesetzt hätten, was sie vor
der letzten Wahl versprochen haben, statt sich durch die
Koalition Fußfesseln anlegen zu lassen .
({0})
Aber meine Frage zielt ganz direkt auf die Beteiligung und auf die Beratungsangebote in den Kommunen .
Wir wissen doch ganz genau - Mechthild, auch du weißt
das -, dass viele von diesen Beratungsstellen gar nicht
mehr geöffnet haben. Da muss man sich einmal fragen,
woran das liegt .
Jetzt sollen 60 Modellkommunen von insgesamt über
11 000 Kommunen in unserem Land verstärkt Beratungsangebote bereitstellen; das habe ich in meinem Redebeitrag gesagt . Da frage ich mich: Was ist das für ein Ansatz? Das ist ja Kleckern und nicht Klotzen . Wir müssen
in der Pflege aber klotzen, um einen Paradigmenwechsel
tatsächlich zu erreichen .
Zudem ist für eine Pflegekampagne, mit der wir darauf aufmerksam machen könnten, was wir alles haben du hast es so schön gesagt: die Vernetzung soll wiederhergestellt werden -, im Haushalt kein Geld eingestellt .
Im Haushalt steht an dieser Stelle eine Null . Wie soll ich
das denn verstehen?
({1})
Es täte mir leid, wenn in Niedersachsen Pflegestützpunkte tatsächlich schließen . Ich kann nur sagen: Hier in
Berlin eröffnen wir stetig welche. Ich bin erst vor kurzem
bei der Eröffnung des dritten Pflegestützpunktes in meinem Bezirk gewesen .
Zum Thema Wahlkampfgetöse . Ich bin mir nicht ganz
sicher, ob es nicht doch Wahlkampfgetöse gewesen ist .
({0})
Zum Thema Beratung und Vernetzung . Ja, ich fordere
jede Kommune auf, sich hier starkzumachen . Wie man
weiß, hatten wir hier in Berlin Wahlkampf und auch eine
Wahl . Im Vorfeld habe ich zum Beispiel stetig versucht,
für den Begriff „Ausbau der Pflegeinfrastruktur“ in meiner Partei zu werben, weil wir - dem Ziel stimme ich
zu - eine stärkere Vernetzung brauchen . Wir brauchen
eine Aufhebung der Unterteilung in Bereiche; denn das
Ziel ist eine „Beratung aus einer Hand“ . Mit den Modellprojekten erproben wir diese Beratung . Sie sind dazu da,
qualitativ bessere Schritte zu gehen und qualitativ bessere Strukturen zu etablieren . Das soll dann auf alle Kommunen übertragen werden . Ich wünsche mir, dass nach
Abschluss der Modellvorhaben jede der 11 000 Kommunen in Deutschland über ein, zwei Pflegestützpunkte in
guter bis hoher Qualität verfügt . Dazu sind die Modellvorhaben gut .
({1})
Die SPD will eine erstklassige Pflegeinfrastruktur. Mit
den neu einzurichtenden Pflegeausschüssen verzahnen
wir die ambulante und die stationäre, die medizinische
und die pflegerische Versorgung besser miteinander - für
eine lückenlose, wohnortnahe und effektive Versorgung.
Das ist ein großer Fortschritt, liebe Bürgerinnen und Bürger. Wir wollen eine gute und würdige Pflege für alle.
Wir schaffen die Voraussetzungen, dass alle Verbesserungen auch für alle gelten; denn wir wollen in Deutschland gleiche Lebensverhältnisse für alle - unabhängig
vom Wohnort - auch in der Pflege. Wir wollen eine hohe
Versorgungsqualität überall und für jede und jeden, und
das in allen Lebensbereichen, unabhängig davon, ob ein
Mensch über ein eigenes Einkommen verfügt oder Hilfen
zur Pflege empfängt. Dafür setzt sich die SPD im Rahmen dieses Dritten Pflegestärkungsgesetzes ein. Ich danke der Koalition, dass das im Wesentlichen gelungen ist .
Die große Pflegereform greift. Über alles andere wird im
weiteren parlamentarischen Verfahren entschieden .
Danke für Ihre Aufmerksamkeit .
({2})
Vielen Dank . - Als nächste Rednerin hat Elisabeth
Scharfenberg für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
das Wort .
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau Staatssekretärin
Fischbach! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem
Dritten Pflegestärkungsgesetz wird alles geregelt, was
bisher noch nicht geregelt ist . Was zur Umsetzung des
neuen Pflegebegriffs noch geändert werden muss, steht
im PSG III . Was zur Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes parallel im Bereich der Pflege geändert werden
muss, steht im PSG III . Es gibt zudem diverse Regelungen zur Bekämpfung des Abrechnungsbetrugs in der
Pflege. Das sind viele Baustellen. Da kann man schon
einmal das Wesentliche aus dem Blick verlieren .
Das Wesentliche, also der Kern des Gesetzes, ist nämlich die Stärkung der Rolle der Kommunen in der Pflege.
Das liegt natürlich nahe; denn die Kommunen sind näher am Menschen als die Pflegeversicherungen. In den
Kommunen weiß man, welche Angebote es vor Ort gibt,
welche Angebote für ambulante und stationäre Pflege,
welche Angebote für Betreuung und für ehrenamtliche
Begleitung vorhanden sind, in welchen Quartieren es
Nachbarschaftstreffs gibt, welche Kirchengemeinde Kaffeenachmittage für Ältere anbietet . Man weiß aber auch,
welche Angebote fehlen . Diese Kompetenzen der Kommunen werden noch viel zu wenig genutzt .
({0})
Das PSG III will das ändern . Leider wurden bei diesem
Gesetz mehrere Dinge nicht bedacht .
Die Kommunen erhalten ein befristetes Initiativrecht
bei der Einrichtung von Pflegestützpunkten. 60 Modellkommunen können neben der Beratung zur Eingliederungshilfe und Hilfe zur Pflege und Altenpflege auch
Pflegeberatung und Pflegekurse anbieten. Beratung rund
um Alter und Pflege aus einer Hand, das sollte eigentlich
selbstverständlich sein .
({1})
Angesichts der zahlreichen Angebote für pflegebedürftige und ältere Menschen, die zunehmend unübersichtlicher werden, gehört zur Beratung aus einer Hand
eine individuelle Beraterin oder ein individueller Berater .
Wir schlagen übrigens schon seit vielen Jahren vor, die
rechtlichen Grundlagen für einen Anspruch auf ein individuelles Case Management zu schaffen, das Pflegebedürftige und Angehörige berät und gemeinsam mit ihnen
die Angebote aussucht, die am besten zur jeweiligen Situation passen; denn jede Pflegesituation ist ganz individuell . Ein individueller Beratungsanspruch ist gesetzlich
geregelt . Aber es fehlt an Verbindlichkeit . Die Länder legen das dementsprechend sehr unterschiedlich aus . Das
muss anders werden .
({2})
Jeder muss die Möglichkeit haben, sich von einem unabhängigen Case Manager oder einer Case Managerin,
die sich sehr gut mit den Angeboten vor Ort auskennen,
umfassend beraten und begleiten zu lassen .
Mehr Kompetenzen allein bei der Beratung aber reichen nicht aus . Die Kommunen brauchen auch mehr
Kompetenzen bei der Pflegeplanung. Sie wissen, welche
Angebote es vor Ort braucht und ob ein neues Pflegeheim in der Gemeinde wirklich gewünscht ist . Vielleicht
sind barrierefreie Wohnungen in der jeweiligen Region
sehr viel wichtiger .
Kommunen sollen bestehende Angebote vernetzen
und da, wo sie Lücken erkennen, Angebote anstoßen
können . Das sind zusätzliche Aufgaben für die Kommunen, genau wie die im PSG III vorgesehene Übernahme
der Beratung . Dafür ist aber kein zusätzliches Geld vorgesehen . So wird das nicht funktionieren . Kommunen
brauchen eine Förderung, um etwas Neues aufzubauen .
({3})
Kommunen brauchen verlässliche Finanzhilfen für Beratung und Pflege sowie Leben und Wohnen im Alter.
Es gibt viele Kommunen, die sich sehr gerne mehr
in diesem Bereich engagieren würden, aber genau dafür Unterstützung und Beratung bräuchten, weil sie dem
ganzen Pflegesetting noch relativ hilflos gegenüberstehen . In einigen Ländern gibt es bereits Beratungsangebote, beispielsweise in Nordrhein-Westfalen oder Rheinland-Pfalz . So kann man Kommunen gewinnen, die sich
bisher noch nicht engagiert haben oder sich bisher noch
nicht an dieses umfassende Thema herangetraut haben .
Bei den Modellvorhaben im PSG III ist zwar vorgesehen, dass die Hälfte der 60 Modellkommunen keine
mehrjährige Erfahrung in der Beratung haben sollen,
aber ohne Unterstützung für diese Kommunen könnte
es dazu kommen, dass diese Kommunen die statistische
Performance verschlechtern und damit auch das Evaluationsergebnis verzerren werden . Dieses Ergebnis der
Evaluation ist doch die Grundlage für die Überführung
der Modellprojekte in die Regelversorgung .
Besonders absurd bei diesen Modellprojekten finde
ich übrigens die Tatsache, dass der Spitzenverband Bund
der Pflegekassen über die konkreten Voraussetzungen,
Ziele, Inhalte und Durchführung der Modellvorhaben
beschließt . Keine Unterstützung der Kommunen, weder
finanziell noch ideell, keine Definitionen der Ziele der
Modellprojekte und keine Planungskompetenz: So stärkt
man weder die Kommunen noch die Pflegebedürftigen.
Mein Fazit ist: Es ist in den letzten Jahren sehr, sehr
viel im Bereich Pflege gemacht worden - das stimmt -,
aber Veränderungen bedeuten nicht gleichzeitig Verbesserungen . Ich denke, wir werden am Ende des Tages die
Koalition nicht an den Veränderungen, sondern an den
Verbesserungen messen .
Danke schön .
({4})
Vielen Dank . - Als nächster Redner hat Erwin Rüddel
von der CDU/CSU-Fraktion das Wort .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Die Rede, die Frau Zimmermann eben gehalten hat, hätte man, denke ich, Anfang der 90er-Jahre
halten können, als es die Pflegeversicherung noch nicht
gab . Jetzt haben wir seit über 20 Jahren den großen Segen einer Pflegeversicherung. Wir haben in dieser Legislaturperiode durch unsere bisherige Gesetzgebung die
größte finanzielle Veränderung herbeigeführt, die es in
Deutschland jemals in der Sozialversicherung gegeben
hat . Ich denke, das muss man auch einmal anerkennen .
({0})
Wir haben die Leistungen deutlich verbessert . Wir haben sie flexibler gemacht. Wir haben Pflegebedürftigkeit
neu definiert. Wir haben Demenzkranke gleichgestellt,
eine große Gerechtigkeitslücke beseitigt und all denen
Bestandsschutz zugesichert, die heute schon pflegebedürftig sind, sodass also niemand schlechtergestellt wird,
aber sehr viele deutlich bessergestellt werden .
Ich denke, wir sind dabei auf einem guten Weg, und
ich möchte, bevor ich in die Details des PSG III einsteige, noch ein Bekenntnis zu den Gesundheitsberufen abgeben . Wir stehen hinter der Modellklausel .
({1})
Wir wollen die Gesundheitsberufe stärken . Ich bin der
festen Überzeugung - und meine Fraktion mit mir -, dass
Kern einer guten Gesundheitsversorgung in der Zukunft
eine gute Vernetzung von Kompetenzen ist . Deshalb
wollen wir die Gesundheitsberufe stärken, und wir vertrauen auch auf ihre Kompetenzen .
({2})
Das PSG II beinhaltet bereits Beratungsaufträge für
die Kassen . Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf eines
PSG III übertragen wir den Kommunen zusätzliche Beratungsaufgaben, indem wir die Ergebnisse der Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Stärkung der Rolle der Kommunen
in der Pflege umsetzen. Zusammen mit den Flexibilisierungen, die wir mit dem PSG I und dem PSG II bereits
geschaffen haben, werden die zusätzlichen Angebote der
Kommunen - hier denke ich an eine gute Vernetzung mit
den Seniorenbeiräten, mit der Altenhilfe, mit den Mehrgenerationenhäusern und den Pflegestützpunkten - eine
aufsuchende und umfassende Beratung für Pflegebedürftige und deren Familien sicherstellen .
Auf diese Weise kann in jedem einzelnen Fall ein individuelles Paket geschnürt werden, das optimal auf die
Bedürfnisse der Pflegebedürftigen und deren Familien
zugeschnitten ist . Damit tragen wir zugleich dazu bei,
pflegebedürftigen Menschen so lange wie irgend möglich ihre vertraute Umgebung zu erhalten . Ausdrücklich
begrüße ich auch die zusätzlichen Anreize für niedrigschwellige Betreuungs- und Entlastungsleistungen .
({3})
Ein klares Wort zu Fragen der Qualitätskontrollen: Sie
dürfen nicht zum Schaden der Pflegeversicherung verhindert werden. Wer Leistungen aus der sozialen Pflegeversicherung erhält, muss bereit sein, die erbrachten Leistungen auf ihre Qualität hin überprüfen zu lassen . Wer
solchen Überprüfungen nicht zustimmt, hat sein Recht
verwirkt, Leistungen aus der sozialen Pflegeversicherung
zu erhalten. Wir verschärfen die Kontrollen, damit Pflegebedürftige, ihre Familien und die Pflegekräfte besser
vor betrügerischen Pflegediensten geschützt werden.
Im weiteren Verfahren werden wir ferner darauf zu
achten haben, dass sich die kommunalen Haushalte nicht
zulasten der Pflegeversicherung ihrer Aufgaben aus der
Eingliederungshilfe entledigen . Die Beitragsgelder der
Versicherten sind für gute Pflege gedacht und für nichts
anderes, sie sind nicht dazu da, die kommunalen Haushalte zu entlasten . Deshalb bestehen wir auf eindeutigen
Abgrenzungsregelungen an den Schnittstellen zwischen
Pflegeversicherung und Eingliederungshilfe.
Mit Blick auf die drei Pflegestärkungsgesetze soll nicht
unerwähnt bleiben, dass wir bei allen Gesundheitsgesetzen in dieser Legislaturperiode flankierende Regelungen
getroffen haben, um die Pflegelandschaft insgesamt zu
verbessern und rundzuerneuern . Ich erinnere hier an den
Bürokratieabbau, den PflegeTÜV, die Medikamentensicherheit oder an das Palliativ- und Hospizgesetz .
({4})
Durch das E-Health-Gesetz haben gerade Senioren
und Pflegebedürftige ab dem 1. Oktober, also in wenigen
Tagen, einen verbrieften Anspruch auf einen einheitlichen Medikationsplan .
({5})
Die Menschen in Deutschland haben Zugang zu einer
spürbar besseren Hospizarbeit und einer flächendeckenden Palliativversorgung . Wir halten unsere Versprechen
aus dem Koalitionsvertrag ein .
Mit den gesetzlichen Neuregelungen in Sachen Heilund Hilfsmittel stellen wir sicher, dass Pflegebedürftige
Anspruch auf eine anständige Versorgung haben und
nicht länger der schlechten Qualität von Windeln und
Rollstühlen ausgesetzt sind .
Wir haben in der Koalition zu Beginn der Legislaturperiode mehr Qualität, mehr Geld, mehr Betreuung und
mehr Hände für gute Pflege in unserem Land versprochen, und wir halten Wort .
({6})
Ich wiederhole meine bereits früher getroffenen Feststellungen, dass wir in dieser Legislaturperiode mit allen
Gesetzen im Gesundheitsbereich den Versuch unternommen haben - der uns auch gelungen ist -, eine Runderneuerung der Pflege sicherzustellen. Das ist eine große
Kraftanstrengung gewesen. Ich finde, darauf können wir
stolz sein; denn es handelt sich über 20 Jahre nach der
Einführung bei dem Gesamtpaket, das wir abgeliefert
haben, um nichts Geringeres als einen Quantensprung
in der sozialen Pflegeversicherung. Ich danke hier auch
dem Ministerium - und ganz besonders der Frau Staatssekretärin Ingrid Fischbach -, dass es diesen Quantensprung sozusagen auf den Weg gebracht hat .
({7})
Vielen Dank . - Als nächste Rednerin hat Heike
Baehrens für die SPD-Fraktion das Wort .
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Seit Einführung der Pflegeversicherung hat es schon einige Gesetze zur Änderung und Weiterentwicklung gegeben; aber eine so umfassende Reform mit drei Gesetzen
zur Stärkung der Pflege in drei Jahren auf den Weg gebracht zu haben, ist einzigartig .
({0})
Das ist gut für diejenigen, die auf Pflege und Zuwendung
angewiesen sind, und diejenigen, die pflegen. Und es ist
gut für alle, denen eine würdevolle Pflege und Versorgung ein Herzensanliegen ist . Es unterstreicht, dass es
dieser Koalition mit der konsequenten Verbesserung der
Rahmenbedingungen in der Pflege ernst ist.
({1})
Umso trauriger ist es, dass wir mit dem heutigen Gesetz Regelungen verschärfen müssen, um schwarzen
Schafen im Gesundheitswesen den Boden zu entziehen . Was vor einigen Monaten als Abrechnungsbetrug
in der Pflege durch die Medien ging, hat sich als Form
organisierter Kriminalität entpuppt, an der mehrere unlautere Partner beteiligt sind: einzelne Pflegedienste,
intensivpflegebedürftige Patienten, Familienangehörige
und sogar Ärzte . Das zeigt, dass wir mit dem kürzlich in
Kraft getretenen Gesetz zur Bekämpfung von Korruption
im Gesundheitswesen einen richtigen Schritt gegangen
sind . Mit den heute vorliegenden Regelungen machen
wir einen weiteren Schritt, um Missbrauch und Betrug
im konkreten Fall schneller aufdecken und konsequent
verfolgen zu können .
({2})
Zukünftig werden auch jene Pflegedienste regelmäßig
geprüft, die ausschließlich Leistungen der häuslichen
Krankenpflege erbringen. Wir werden als SPD besonders
darauf achten, ob die neuen Regelungen zielgenau diejenigen treffen, die sich auf Kosten anderer bereichern.
({3})
Die allermeisten der rund 13 000 Pflegedienste in unserem Land leisten nämlich eine sehr gute Arbeit . Und es
kann nicht sein, dass einige schwarze Schafe dafür sorgen, dass allen mit Misstrauen begegnet wird .
({4})
Im Gesundheitsausschuss haben wir uns am Mittwoch
von Vertretern des Bundeskriminalamtes und der Staatsanwaltschaft sowie einem Berliner Sozialstadtrat berichten lassen . Dabei ist klar geworden, dass weitergehende
Konsequenzen zu ziehen sind . Denn wer sich an kriminellen Machenschaften beteiligt, die auch zu einer Gefährdung von Leib und Leben führen können, dem muss
der Versorgungsvertrag mit Kranken und Pflegekassen
und dauerhaft auch die Gewerbezulassung entzogen werden .
Meine Damen und Herren, parallel zum Dritten Pflegestärkungsgesetz beraten wir im Deutschen Bundestag
auch über die große Reform der Eingliederungshilfe für
Menschen mit Behinderungen, also das sogenannte Bundesteilhabegesetz . Es ist gut, dass beide Gesetze praktisch zeitgleich beraten werden; denn mit dem neuen
Pflegebegriff, der noch mehr als bisher auf Selbstbestimmung und Teilhabe zielt, entstehen neue Abgrenzungsfragen . So müssen Regelungen, die Menschen mit Leistungsansprüchen aus beiden Gesetzbüchern betreffen,
gut aufeinander abgestimmt werden . Dass dieses Thema
Zündstoff enthält, bekommen wir gerade durch so manche Briefe und Stellungnahmen übermittelt . So wird in
unserer Fraktion längst intensiv nach Lösungen gesucht .
Leistungen der Pflegeversicherung und teilhabeorientierte Leistungen der Eingliederungshilfe dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden .
({5})
Denn erklärtes Ziel des Bundesteilhabegesetzes ist es,
dass es für Menschen mit Behinderungen nicht zu Leistungseinschränkungen kommen darf . Dafür werden wir
als SPD uns starkmachen . Ich bin sicher, dass wir da gute
und tragfähige Lösungen finden werden.
({6})
Lassen Sie mich zum Schluss noch einmal auf die
Unkenrufe der Opposition eingehen . Mit der umfassenErwin Rüddel
den Reform in drei Schritten und der noch anstehenden
Pflegeberufereform setzen wir Maßstäbe für die Pflege
in Deutschland. Wir laden alle ein, die sich in der Pflege
engagieren: Lasst uns gemeinsam die Zukunft der Pflege
gestalten .
Vielen Dank .
({7})
Vielen Dank . - Als letzter Redner in dieser Aussprache hat Erich Irlstorfer von der CDU/CSU-Fraktion das
Wort .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Als letzter Redner in dieser Debatte muss ich feststellen, dass sich Opposition und Koalition in vielen Dingen einig sind . Ich glaube, wir sind uns vor allem darin
einig, dass es in dieser Legislaturperiode viele Verbesserungen für pflegebedürftige Menschen, für ihre Angehörigen, aber auch für die Pflegekräfte gegeben hat.
Ich glaube auch, dass wir uns einig sind, dass wir mit
dem Ersten Pflegestärkungsgesetz die Leistungen der
Pflegeversicherung deutlich ausgeweitet und noch passgenauer gemacht haben und dass wir mit dem Zweiten
Pflegestärkungsgesetz, dessen Kernstück der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff war, gute und richtige Dinge auf
den Weg gebracht haben . Mit dem Entwurf eines Dritten
Pflegestärkungsgesetzes, welches wir hier diskutieren,
führen wir den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff nun
auch in die Sozialhilfe ein . Damit stellen wir sicher, dass
künftig auch finanziell schlechtergestellte Menschen
pflegerische Leistungen nach diesen verbesserten Regelungen erhalten . Diese Ausweitung ist alles andere als
trivial; vielmehr stellt sie eine weitreichende sozialpolitische Errungenschaft dar .
Wir haben schon vom Abrechnungsbetrug gesprochen; ich möchte das nicht alles wiederholen . Neu in diesem Gesetzentwurf ist, dass ein Recht zur systematischen
Prüfung durch die Krankenkassen auch im Bereich der
häuslichen Krankenpflege gegeben ist. Der Medizinische Dienst der Krankenkassen kann und soll auch hier
künftig regelmäßig die Qualität und die Abrechnungen
von Leistungserbringern kontrollieren . Damit stellen wir
sicher, dass die Beitragsgelder der Versicherten dort ankommen, wo sie hingehören . Schließlich sind wir kein
Selbstbedienungsladen .
({0})
Für mich sind hier noch drei weitere Punkte bedenkenswert .
Erstens . Das Prüfrecht darf nicht einfach dadurch
unterwandert werden können, dass Betroffene dazu gebracht werden, die Einwilligung zur Datenweitergabe zu
verweigern .
Zweitens . Wir sollten darüber nachdenken, ob wir
nicht vielleicht sogar ein in gleicher Weise gestaltetes
Recht zur Prüfung durch die Träger der Sozialhilfe ermöglichen .
Drittens . Die Zulassungsvoraussetzungen für die
Gründung von Pflegediensten müssen wir hier verschärfen . Ich möchte dem schon jetzt entgegnen, dass man
hier gleich wieder sagt, das, was wir da vorhätten, sei
schädlich für Investitionen und Innovationen . Ich kann
Ihnen nur eins sagen: Es ist einfach unanständig, wenn
Betreiber, denen bereits einschlägige Betrugsdelikte
nachgewiesen wurden, einfach unter einem anderen Namen hier wieder Dienste anbieten . Das ist ein Etikettenschwindel, und den bekämpfen wir .
({1})
Ein weiteres Anliegen dieses Gesetzentwurfs ist es,
die Pflegeberatung in Deutschland noch besser verfügbar zu machen . Frau Scharfenberg hat ausgeführt, dass
hierbei die Kommunen unsere Spezialisten vor Ort sind;
das sehen wir genauso . Einen Anfang machen wir mit
60 Modellkommunen . Das Ganze wird ordentlich evaluiert, und dann sehen wir auf jeden Fall weiter . Wichtig
ist, dass sich die Länder in diesen Evaluierungsprozess
einbringen, dass man diese Möglichkeiten nutzt . Wir
werden sehen, inwieweit echte Verbesserungen bei der
Beratung der Betroffenen eintreten.
Von Betroffenen sowie von verschiedenen Organisationen und Verbänden wurde ich auch auf Befürchtungen
aufmerksam gemacht, der heute diskutierte Gesetzentwurf führe im Verbund mit dem Bundesteilhabegesetz
zu Nachteilen an den Schnittstellen zwischen Pflegeversicherung, Hilfe zur Pflege und Eingliederungshilfe. Diese Hinweise nehmen wir sehr ernst . Laut Gesetzentwurf
sollen die Leistungen der Pflegeversicherung im häuslichen Bereich den Eingliederungsleistungen vorgehen, es
sei denn - das ist wichtig -, bei der Leistungserbringung
steht die Erfüllung von Aufgaben der Eingliederungshilfe im Vordergrund . Im weiteren gesetzgeberischen Verfahren wird zu klären sein, ob der Blick auf das Ziel der
pflegerischen Leistung - Eingliederung oder Pflege - ein
ausreichendes Unterscheidungsmerkmal darstellt .
Entscheidend ist für mich in diesem Zusammenhang das möchte ich zum Schluss noch einmal klar zum Ausdruck bringen - folgender Gedanke: Wir regeln, dass die
betroffenen Menschen, also die Leistungsempfänger, keinen eigenen Abstimmungsaufwand zu betreiben haben .
Die Abstimmungen zwischen der Pflegeversicherung
und den Sozialhilfeträgern werden gewissermaßen geräuschlos ablaufen müssen, sozusagen hinter den Kulissen, was aber nichts mit mangelnder Transparenz zu tun
hat; das möchte ich sofort in Richtung Opposition sagen .
Neben der verbesserten Beratung ist es für Pflegebedürftige und ihre Angehörigen entscheidend, dass sie bei der
Beantragung keinem übermäßigen bürokratischen Mehraufwand ausgesetzt sind .
({2})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich denke,
mit dem Dritten Pflegestärkungsgesetz machen wir heute
vor allem einen Schritt in die richtige Richtung . Ich freue
mich auf konstruktive Diskussionen mit den Pflegebedürftigen, aber auch mit den Menschen mit Behinderung
und mit all denjenigen, die ein Interesse daran haben,
dass wir Verbesserungen schaffen.
Herzlichen Dank .
({3})
Vielen Dank . - Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich
schließe die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt .
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/9518, 18/8725 und 18/9668 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall . Dann sind die Überweisungen so beschlossen .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 41 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Deutsches Engagement beim Einsatz von Polizistinnen und Polizisten in internationalen
Friedensmissionen stärken und ausbauen
Drucksache 18/9662
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . Gibt es dazu
Widerspruch? - Das ist nicht der Fall . Dann ist das so
beschlossen .
Wenn die Kolleginnen und Kollegen sich gesetzt haben, können wir mit der Aussprache beginnen .
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat
Anita Schäfer von der CDU/CSU-Fraktion das Wort .
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Mit dem vorliegenden Antrag wird
eine Debatte zum Abschluss gebracht, die uns schon in
der vergangenen Legislaturperiode beschäftigt hat . Aus
meiner Sicht ist es erfreulich, dass sich die CDU/CSU
mit der SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf den gemeinsamen Text einigen konnte . Gerade unter dem Eindruck von weltweit 65 Millionen Flüchtlingen kann uns
allen die Entwicklung in anderen Ländern nicht egal sein,
vor allem, wenn eine Vielzahl instabiler Staaten vor unserer Haustür liegt . Welche Sprengkraft die Wanderungsund Fluchtbewegungen haben, mussten wir in der EU in
den vergangenen Monaten leider erleben . Und die Zahl
der Flüchtlinge wird sicherlich in den kommenden Jahren nicht weniger werden . Mauern werden die Menschen
nicht von der Flucht abhalten . Wir müssen in den Heimatländern ansetzen und die Fluchtursachen bekämpfen .
Meine Damen und Herren, für die friedliche und wirtschaftlich positive Entwicklung eines Landes und damit
für eine Bekämpfung von Fluchtursachen ist die Rechtsstaatlichkeit von entscheidender Bedeutung . Dabei spielt
insbesondere eine gut ausgebildete Polizei eine wichtige
Rolle . Dies konnte ich unter anderem als Vorsitzende der
Parlamentariergruppe Östliches Afrika bei meinen diversen Besuchen in afrikanischen Ländern immer wieder
feststellen . Gerade deutsche Polizisten mit ihrem rechtsstaatlichen Selbstverständnis und ihren Erfahrungen in
einem föderalen Staatssystem können im Rahmen von
EU- und UNO-Einsätzen einen wichtigen Beitrag für
eine Entwicklung von Staaten im Sinne eines demokratischen und rechtsstaatlichen Gemeinwesens leisten .
Deutschland genießt in der internationalen Zusammen- und Aufbauarbeit ja bereits ein hohes Ansehen .
Und das haben wir nicht zuletzt unseren Polizeibeamten
zu verdanken, die sich über ihren Kernauftrag in der inneren Sicherheit hinaus für internationale Einsätze entscheiden, die nicht immer ungefährlich sind . Damit das
aber den gewünschten langfristigen Erfolg hat, bedarf es
aus meiner Sicht nicht nur einer guten Vorbereitung im
Einsatzland und der uneingeschränkten Unterstützung
unserer Polizeikräfte durch die dortige Regierung, sondern ebenso wichtig sind auch Ausbildungsstrukturen
und ein positives politisches Klima für die Vorbereitung
in Deutschland, damit die Polizisten guten Gewissens in
den Einsatz gehen können . Damit befasst sich auch der
vorliegende Antrag . Auf einige dieser Aspekte möchte
ich gern näher eingehen .
Grundlage eines jeden erfolgreichen Auslandseinsatzes ist eine exzellente, allumfassende Ausbildung . Dabei
ist das polizeiliche Handwerkszeug eine Selbstverständlichkeit . Weitaus wichtiger aber dürften sprachliche und
interkulturelle Kompetenzen sein . Dabei gilt es auch, aus
den Erfahrungen von anderen Ländern, vor allem aber
aus den Erfahrungen, die Beamte in vergangenen Einsätzen gemacht haben, zu lernen und darauf aufzubauen . Daher ist es begrüßenswert, wenn es zur Einrichtung
eines Fachgebiets für internationale Polizeimissionen an
der Deutschen Hochschule der Polizei kommt . Damit
wären die Auswertung von Einsatzerfahrung, Forschung
und Ausbildung zentral an einem Ort vereint .
({0})
In diesem Zusammenhang wäre es sicher nicht falsch,
wenn es auch zu einem Erfahrungsaustausch mit der
Bundeswehr kommen würde . Die Universitäten und
Fachschulen der Bundeswehr wären sicher ein guter Ansprechpartner .
Ein weiterer wichtiger Aspekt - gerade auch aufgrund
der Erfahrungen mit Auslandseinsätzen der Bundeswehr - ist das Thema Nachsorge . Trotz noch so guter
Ausbildung können Polizisten im Einsatz körperliche
Verwundungen und Verletzungen davontragen oder Erfahrungen im Einsatzland machen, die sie nicht so einfach wegstecken können . Als Stichwort möchte ich hier
nur posttraumatische Belastungsstörungen nennen . Als
Mitglied des Verteidigungsausschusses weiß ich, welche
Probleme wir gerade in diesem Bereich hatten und zum
Teil noch haben . Hier gilt es anzusetzen und ähnliche Lösungen wie bei der Bundeswehr zu finden.
Uns allen muss klar sein: Polizisten gehen freiwillig
in den Auslandseinsatz . Und ich kann mir nicht vorstellen, dass wir auf Dauer Freiwillige finden, wenn es hier
Versorgungslücken gibt . Auch in dieser Hinsicht ist der
Antrag in seiner Forderung nach einer noch besseren
Nachsorge erfreulicherweise eindeutig .
Aber wir sollten nicht nur mögliche Probleme beseitigen . Vielmehr sollte ein Engagement in Auslandseinsätzen aktiv gefördert werden, indem man Vorteile, etwa
bei Beförderungen, erlangt; denn die Beamten nehmen ja
damit erhebliche Belastungen in Kauf . All das sollte auch
im Interesse der Bundesländer sein, aus deren Polizeien
ein großer Teil dieser Beamten kommt .
Es wäre daher gut, wenn Bund und alle Bundesländer
hier im Sinne der gemeinsamen Aufgabe an einem Strang
zögen .
({1})
Zwischen beiden Seiten gibt es bereits eine intensive
Zusammenarbeit, ohne die solche komplexen und in der
Vorbereitung sehr aufwendigen Missionen überhaupt
nicht durchzuführen wären . Unser gemeinsamer Antrag
stellt nach meiner Überzeugung eine gute Grundlage für
die weitere Verbesserung dar .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit diesem nun zur
Abstimmung stehenden Antrag werden wir sicherlich
einen großen Schritt machen, um die zivile Unterstützung von fragilen Staaten durch deutsche Polizisten auf
ein gutes Fundament zu stellen . Ich würde es begrüßen,
wenn ihm das gesamte Haus zustimmen könnte, damit
Bund und Länder mit der Umsetzung der angedachten
Maßnahmen umgehend beginnen können .
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
({2})
Das Wort hat die Kollegin Ulla Jelpke für die Fraktion
Die Linke .
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Um hier
gleich Missverständnisse zu vermeiden: Die Linke lehnt
internationale Polizeimissionen und bilaterale Einsätze
nicht per se ab .
({0})
- Klatschen Sie nicht zu früh . - Natürlich wollen auch
wir, dass im Ausland Straftaten effektiv verfolgt werden
können, sich Polizisten menschenrechtskonform verhalten . Aber - das sage ich an alle Fraktionen, die diesen
Antrag im Hause mitunterzeichnet haben; es waren alle
außer die Linke -: Ihrem Antrag fehlt die klare Ansage,
dass Regime, die systematisch Menschenrechte verletzen, von deutschen Polizisten künftig keine Unterstützung mehr zu erwarten haben .
({1})
Weil Sie hier von sogenannten Friedensmissionen
reden, will ich eines gleich klarstellen: Es geht in dem
vorliegenden Antrag um die Durchsetzung außenpolitischer Interessen Deutschlands mithilfe von Polizistinnen
und Polizisten . Es geht darum, Bundeswehreinsätze im
Ausland noch umfangreicher mittels Polizeieinsätze zu
ergänzen . Da verlieren Sie kein Wort über Menschenrechte, schon gar nicht über die Befugnisse, die der Bundestag in diesem Zusammenhang hat . Deswegen wird die
Linke diesen Antrag ablehnen .
({2})
Sie führen im Antrag aus, eine gut ausgebildete Polizei sei ein wichtiger Garant für Rechtsstaatlichkeit . Aber
das ist nur die Hälfte der Wahrheit . Immer wieder stehen
Auslandseinsätze der Polizei im Dienste von Diktatoren
und tragen zum Aufbau der Festung Europa bei . Ich darf
Sie zum Beispiel daran erinnern: Seit 2009 sind Bundespolizisten in Saudi-Arabien . Während der Rüstungskonzern EADS ein Milliardengeschäft mit dem Aufbau von
Grenzanlagen macht, bilden Bundespolizisten den dortigen Grenzschutz aus . Falls Sie es nicht mitbekommen
haben: Saudi-Arabien ist eine feudale Diktatur, in der
Regimekritiker ausgepeitscht oder sogar geköpft werden .
Im Krieg im Jemen werfen saudische Truppen blindlings
Bomben, und einem solchen Regime helfen deutsche Polizisten; sie vermitteln den dortigen Sicherheitskräften
den sicheren Umgang mit dem Sturmgewehr G3 . Das ist
doch echt ein Skandal .
({3})
Deswegen fordert die Linke, diesen schändlichen Einsatz
wirklich sofort zu beenden .
({4})
Auch in Afghanistan gibt es eine Polizeimission . Faktisch leisten dort deutsche Polizisten einen Beitrag zum
Bürgerkrieg; denn die wichtigste Aufgabe afghanischer
Polizisten ist es, als Kanonenfutter im Kampf gegen die
Taliban zu dienen .
({5})
Unsere regelmäßigen Quartalsanfragen an die Bundesregierung zeigen, dass es häufig um Hilfe für Grenzschützer geht, insbesondere auf dem Balkan, aber auch
in Nordafrika . Dort wird der Grenzschutz ausgebildet
und technisch aufgerüstet, um Flüchtlinge an der Flucht
nach Europa zu hindern . Ich muss vor diesem Hintergrund sagen, dass ich überhaupt nicht verstehe, warum
die Grünen bei diesem Antrag mitmachen. Ich finde, das
ist wirklich ein Armutszeugnis für eine Partei, die sich
hier eigentlich immer sehr flüchtlingsfreundlich gibt. Es
tut mir echt leid, aber das finde ich unmöglich.
({6})
Anita Schäfer ({7})
Ich will einen weiteren Punkt ansprechen . Sie fordern,
dass die Polizeieinsätze noch mehr zum Mittel der Außenpolitik werden, aber Sie wollen kein Mitspracherecht
des Bundestages .
({8})
Die Linke hat hierzu schon vor Jahren den Antrag eingebracht, dass der Bundestag mitentscheiden soll, wenn
bewaffnete Polizisten in die Welt geschickt werden - genauso wie bei Soldaten .
Es geht hier, wie gesagt, vor allen Dingen um Bürgerkriegsszenarien wie in Afghanistan, aber auch um
Kumpanei mit diktatorischen Regimen . Ich will an dieser Stelle nebenbei die Türkei nennen, auch wenn ich
das jetzt nicht weiter ausführen kann . Wenn hier in aller Stille solche Einsätze durchgewinkt werden - wie es
ja zum Beispiel im Zusammenhang mit dem Einsatz in
Saudi-Arabien geschehen ist -, dann können wir da nicht
mitmachen .
({9})
Sie sagen in Ihrem Antrag, dass Sie einmal im Jahr
eine Unterrichtung wünschen . Damit fallen Sie hinter die
Position der Gewerkschaft der Polizei zurück, die ganz
klar und zu Recht einen Parlamentsvorbehalt für solche
Einsätze fordert .
({10})
Zum Schluss will ich noch einmal ganz klar die Forderungen der Linken nennen: Es müssen bei solchen Polizeieinsätzen ein Menschenrechtsvorbehalt, ein strikter
ziviler Charakter und eine effektive Mitsprache des Bundestages gewährleistet sein . Das muss die Messlatte für
solche Polizeieinsätze sein . Nichts anderes kann in einer
demokratischen Gesellschaft funktionieren .
Danke schön .
({11})
Das Wort hat die Kollegin Edelgard Bulmahn für die
SPD-Fraktion .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Am 1 . Juni, also vor knapp vier Monaten, fand
im Auswärtigen Amt eine wirklich großartige Veranstaltung statt . Ich hätte mir gewünscht, liebe Frau Jelpke,
dass Sie an dieser großartigen Veranstaltung teilgenommen hätten . Auf dieser Veranstaltung haben wir nämlich
neun Menschen, Polizistinnen und Polizisten, Entwicklungshelfer und Juristen, für ihr ganz besonderes Friedensengagement ausgezeichnet und geehrt . Wir haben
sie stellvertretend für 4 500 Deutsche ausgezeichnet, die
sich in den Krisenregionen dieser Welt, oft unter Gefährdung ihres eigenen Lebens, einsetzen, engagieren und
dafür arbeiten, dass Konflikte beigelegt und nicht mit Gewalt ausgetragen werden, dass Rechtsstaatlichkeit entwickelt und durchgesetzt wird . Sie setzen sich außerdem
für bessere soziale und wirtschaftliche Bedingungen ein .
Liebe Frau Jelpke, wenn Sie die Berichte dieser Menschen gehört hätten, dann hätten Sie heute etwas anderes
gesagt . Ich bitte Sie, den Menschen einmal zuzuhören,
dann wüssten Sie, dass diese Menschen unter härtesten
Bedingungen mit ungeheurem Mut, mit ungeheurem Engagement und mit wahnsinnig viel Geduld und Beharrlichkeit ihre Arbeit leisten .
({0})
Darunter sind eben auch viele Polizistinnen und Polizisten. Ich finde, sie alle haben unsere Anerkennung und
unseren Dank verdient .
({1})
Sie leisten nämlich eine ungeheuer wichtige Arbeit für
die Menschen in den Krisenregionen, für den Aufbau
und die Entwicklung einer hoffentlich dauerhaften Zivilgesellschaft .
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe mich bei
Ihrer Rede, Frau Jelpke, wirklich gefragt: Wie wollen Sie
Rechtsstaatlichkeit, Sicherheit und Schutz durchsetzen,
wenn Sie keine gut ausgebildete Polizei in den betreffenden Ländern haben?
({3})
In Mali, in Somalia, im Südsudan oder in Teilen der
Ukraine zeigt sich doch überall ein vergleichbares Bild:
Die staatlichen Strukturen sind verfallen,
({4})
unterschiedliche Gruppierungen kämpfen wirklich mit
allen Mitteln der Macht um Privilegien und Besitz,
Amtsmissbrauch und organisierte Kriminalität sind an
der Tagesordnung. In diesen Ländern ist es häufig so,
dass mächtige Clans ihre jeweiligen Regionen im wahrsten Sinne des Wortes ausplündern . Um die Rechte von
Menschen kümmern sie sich überhaupt nicht . Das führt
dazu, dass Sicherheit zu einem Privileg für ganz wenige
wird; wenn sie überhaupt noch existiert .
Es zeigt sich immer deutlicher - auch das kann man
doch nicht verkennen -, dass die vielfältigen Konflikte
und innerstaatlichen Auseinandersetzungen sich nicht allein mit militärischen Mitteln lösen lassen; da werden Sie
mir wahrscheinlich zustimmen . Das geht nicht . Soldaten
können einen Waffenstillstand erzwingen, sie können
manchmal auch Volksgruppen schützen - das ist wichtig -, aber sie können keinen Frieden schaffen, und das
wissen die Soldaten selbst am besten .
Die Wiederherstellung staatlicher Strukturen, die
Schaffung von Rechtsstaatlichkeit, gutes Regieren, das
ist doch das, worüber wir hier reden . Die Etablierung
von Zivilgesellschaften, der Schutz von Frauen und KinUlla Jelpke
dern, die Wiederherstellung von Sicherheit und die nachhaltige Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen
Lebensbedingungen, das bedarf eben vielfältiger ziviler
Anstrengungen .
({5})
Dazu gehört die Polizei, aber das wird sie nicht alleine
leisten können . Deshalb unterstützen wir auch andere
Gruppierungen .
({6})
Der Polizei, und zwar einer funktionierenden, dem
Gesetz und dem Rechtsstaat verpflichteten Polizei und
nicht einer einzelnen Machthabern verpflichteten Polizei,
kommt eine ganz wichtige Bedeutung zu . Die Menschen
können nämlich nur solchen Polizeiorganen wieder vertrauen, und das tun sie . Nur so ist es möglich, Korruption und organisierte Kriminalität effektiv zu bekämpfen.
Dem kommt eine Schlüsselrolle zu . Es geht also nicht
darum, dass Polizei militärische Aufgaben übernimmt das kann sie nicht, das soll sie auch nicht -, sondern es
geht darum, Sicherheit in einem umfassenden Sinne für
die Zivilbevölkerung zu schaffen und Rechtsstaatlichkeit
herzustellen .
({7})
Sie haben in der Debatte das Beispiel Saudi-Arabien gebracht . Ich bitte Sie, unseren vorliegenden Antrag
einmal zu lesen . Hätten Sie es getan, dann wüssten Sie,
dass wir vorschlagen, dass wir uns in Zukunft jährlich
umfassend über die Art der Einsätze berichten lassen und
dass wir darüber hier an prominenter Stelle im Deutschen
Bundestag diskutieren. Ich finde, genau das ist überfällig.
({8})
Wenn Sie das wollen, dann müssen Sie den Antrag unterstützen, Frau Jelpke, und hier nicht so destruktiv einfach
Nein sagen . Dann müssen Sie ihn unterstützen und sagen: Ja, genau diese Diskussion wollen wir im Bundestag
führen . - Genau das wollen wir .
({9})
Die deutsche Polizei - Frau Schäfer hat das vorhin
gesagt - genießt international ein großes Ansehen . Das
hat Gründe: Die Polizistinnen und Polizisten - das erleben wir immer wieder, wenn wir vor Ort sind - sind hervorragend ausgebildet und bestens vorbereitet . Das sind
Stärken, die in den Ländern, in die wir Polizistinnen und
Polizisten entsenden, außerordentlich geschätzt werden .
Darüber hinaus ist die deutsche Polizei - das habe ich
vorhin schon gesagt; ich glaube, das ist ein ganz wichtiger Punkt - aufgrund ihres Selbstverständnisses und ihrer
gesellschaftlichen Einbindung - sie versteht sich nämlich
als Vertreter eines demokratischen Rechtsstaats und begreift sich nicht als Durchsetzer von Gewalt - in einer
ganz besonderen Art und Weise geeignet, einen wichtigen Beitrag zu einer inklusiven Entwicklung in diesen
Krisenländern zu leisten .
Auch die wirksame Bekämpfung von Korruption, organisierter Kriminalität und Terrorismus ist zwingend
verbunden mit Rechtsstaatlichkeit, mit der Schaffung
und Entwicklung von Rechtsstaatlichkeit und damit einer
gut arbeitenden Polizei und Justiz . Die Nachfrage nach
Spezialisten - das erleben wir in Gesprächen immer wieder -, zum Beispiel nach Forensikern oder Spezialisten
für Datensicherheit oder für die Bekämpfung von organisierter Kriminalität und Korruption, ist gerade in diesen
Ländern ganz besonders groß, und sie wird wahrscheinlich auch nicht abnehmen .
Wenn einige immer noch fragen - das könnte ja
sein -: „Warum entsenden wir deutsche Polizei in diese
Länder?“, dann sage ich, dass organisierte Kriminalität,
Waffen und Drogenschmuggel und Menschenhandel inzwischen nicht mehr auf einen Staat begrenzt sind . Die
Gruppen, die das tun, sind international vernetzt, und wir
können sie nur international bekämpfen . Mit diesen Einsätzen helfen wir diesen Ländern; wir helfen auch uns
selbst - das stimmt -, aber wir helfen vor allem diesen
Ländern .
({10})
Kurz gesagt: Die Männer und Frauen, die wir gemeinsam am 1 . Juni 2016 geehrt haben, leisten wirklich etwas
Großartiges . Aber ich glaube, wir sind uns alle einig, dass
es nicht ausreicht, die Polizistinnen und Polizisten einmal
im Jahr für ihre Leistungen auszuzeichnen und deutlich
zu machen, was hier geschafft wird, sondern es kommt
darauf an, dass wir die Rahmenbedingungen und Voraussetzungen für diese so wichtigen Einsätze noch weiter
verbessern . Ich bin deshalb sehr froh - ich möchte mich
an dieser Stelle bei den Kolleginnen und Kollegen aus
dem Innenausschuss und dem Auswärtigen Ausschuss
ausdrücklich bedanken -, dass wir gemeinsam einen Antrag erarbeitet haben, der genau das zum Ziel hat .
Ich will nicht alle Punkte dieses Antrags ansprechen,
weil schon einige angesprochen worden sind . Einen
Punkt, der mir ganz besonders wichtig zu sein scheint,
will ich aber hervorheben: In einem Land wie unserem,
in einem föderalen Staat, gibt es einerseits eine klare Zuständigkeit des Bundes für Außenpolitik, internationale
Organisationen und zwischenstaatliche Vereinbarungen
und andererseits eine klare Zuständigkeit der Länder für
die Polizei, bis auf die Bundespolizei . Hieraus ergeben
sich für die Entsendung deutscher Polizeikräfte, weil
ein großer Teil von der Landespolizei entsendet werden
muss und soll - auch in Zukunft -, einige strukturelle
Hürden im Dienstrecht . Sie haben auf das Versorgungsrecht hingewiesen, auf die Nachsorge . Da haben wir ein
Problem . Deshalb sagen wir: Da wollen wir Angleichungen . Wir wollen nicht zwei unterschiedliche Stufen haben . Wir wollen ein vergleichbares Recht herstellen, vor
allem auch hinsichtlich der Finanzierung . Solange der
vermehrte Einsatz von Polizistinnen und Polizisten im
Ausland angesichts einer unzureichenden PersonalausEdelgard Bulmahn
stattung im Inland, also in den Ländern selbst, mit einer
großen zusätzlichen Belastung für die Kolleginnen und
Kollegen vor Ort verbunden ist, wird es keine zufriedenstellenden Lösungen geben . Deshalb sagen wir: Der
Bund muss bei dem Auslandseinsatz deutscher Polizeikräfte eine deutlich größere Verantwortung übernehmen,
auch eine finanzielle Verantwortung, wenn wir unseren
internationalen Verpflichtungen besser gerecht werden
wollen .
({11})
Wir schlagen deshalb eine umfassende Bund-Länder-Vereinbarung vor, mit der die notwendigen dauerhaften finanziellen Voraussetzungen erfüllt und die organisatorischen Strukturen geschaffen werden. In dieser
Vereinbarung soll neben der Bereitstellung ausreichender finanzieller Mittel auch die Schaffung eines neuen
Finanzierungsmodells mit einem vom Bund finanzierten
virtuellen Personalpool - Planstellen aufseiten der Landespolizei - geregelt werden . Wir wollen außerdem gemeinsame Entwicklungsformate und Inhalte erarbeiten
und entsprechende Änderungen im Dienstrecht zur Gewährleistung der Vergleichbarkeit, die Sie angesprochen
haben, vornehmen .
Ich will einmal auf das Beispiel Schweden verweisen .
Schweden entsendet 1 Prozent seiner Polizistinnen und
Polizisten ins Ausland, nicht jedes Jahr; Schweden hält
einen solchen Pool vor . Auf Deutschland übertragen hieße das: 3 000 Polizistinnen und Polizisten . Die Kosten
für diesen Einsatz sollte unserer Auffassung nach entsprechend seiner Zuständigkeit - für die Außenpolitik ist
der Bund zuständig - künftig der Bund übernehmen . Die
Kostenübernahme darf sich nicht allein auf die sogenannten Mehrkosten für den Auslandseinsatz beziehen - das
ist nämlich das Hauptproblem -, sondern sie muss sich
auf die Vorhaltung dieses Personalpools insgesamt beziehen . Nur so kommen wir endlich aus dem Zwiespalt, aus
der Zwickmühle heraus, die ich eben beschrieben habe .
Deshalb ist es ein ganz wichtiger Schritt, den wir hier
machen wollen . Wir wollen durch eine Vereinbarung genau das erreichen . Wir wollen sicherstellen, dass wir gut
qualifizierte, gut versorgte Polizistinnen und Polizisten
auf Länderebene in ausreichender Zahl haben, damit wir
das Ziel, das wir uns selbst gesetzt haben - wir wollen
nämlich bis zu 910 Polizistinnen und Polizisten, roundabout 1 000, zur Verfügung stellen -, erreichen . Wenn
man Vorsorge und Nachsorge dazunimmt, dann ist man
ungefähr bei einem Personalpool von 3 000 Stellen . Das
ist also keine fiktive Größe, sondern eine sehr realitätsnahe Größe .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen darüber hinaus sicherstellen - das ist ein zweiter wichtiger
Vorschlag; ich möchte ihn nur kurz anreißen -, dass die
Erfahrungen, das Wissen, die Kompetenzen, die die Polizistinnen und Polizisten bei ihren Auslandseinsätzen
gewinnen, nicht verloren gehen, sondern systematisch
ausgewertet werden, systematisch gesichert werden und
systematisch auch für die Weiterentwicklung der Konzepte genutzt werden . Deshalb wollen wir - auch da
sind wir uns einig - ein Fachgebiet bei der Hochschule
der Polizei schaffen, mit der entsprechenden personellen
Unterstützung, damit die Wissens- und Kompetenzsicherung auch wirklich dauerhaft stattfindet. Das ist ein
großer Wunsch der Polizistinnen und Polizisten, und ich
finde, da sind wir in der Pflicht. Das werden wir machen,
liebe Kolleginnen und Kollegen .
({12})
Wir werden bei den Haushaltsberatungen einen entsprechenden Antrag einbringen - das ist ein erster wichtiger Schritt -, und dann geht es in die Verhandlungen über
die Bund-Länder-Arbeitsgruppe .
Frau Kollegin .
Ich komme zum Schluss . - Liebe Kolleginnen und
Kollegen, wir können so gemeinsam dazu beitragen, den
berechtigten Wünschen und Anliegen der Polizistinnen
und Polizisten endlich gerecht zu werden . Ich weiß, dass
der Staatssekretär im Innenministerium und das Innenministerium da gute Verbündete sind . Das werden wir
gemeinsam machen . Ich glaube, dass wir damit auch den
Ansprüchen, die wir an uns selbst haben, den Ansprüchen des Parlaments, wirklich ein ganzes Stück besser
gerecht werden, und darauf kommt es an . Das wollen wir .
Wir wollen es wirklich besser machen .
Ich bedanke mich ganz herzlich für Ihre Aufmerksamkeit .
({0})
Das Wort hat die Kollegin Dr . Franziska Brantner für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Sehr geehrte Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Ich möchte an dieser Stelle Frau Almut
Wieland-Karimi begrüßen - Sie alle kennen sie -, die
Vorsitzende des ZIF, des Zentrums für Internationale Friedenseinsätze, die in diesem Bereich sehr viel für
Deutschland leistet . Schön, dass Sie heute bei uns sind!
({0})
Wir haben es schon gehört: Warum diskutieren wir
dieses Thema heute? Uns geht es dabei um Frieden . Wir
wollen in den Ländern der Welt, in denen es leider häufig
nicht friedlich zugeht, einen Beitrag dazu leisten, dass
ein staatliches Gewaltmonopol wieder aufgebaut werden
kann . Das ist die Forderung, die wir damit inhaltlich hinterlegen . Es geht uns nicht darum, an sich mehr Polizistinnen und Polizisten ins Ausland zu schicken . Aber: Es
gibt keine funktionierende Staatlichkeit ohne ein Gewaltmonopol . Wir wollen nicht, dass dieses nur militärisch
gesichert wird, sondern wir wollen, dass es zivil, durch
Polizistinnen und Polizisten, gesichert wird . Dafür brauEdelgard Bulmahn
chen wir funktionierende Polizeistrukturen in den Ländern, die vom Zerfall bedroht sind oder in denen nach einem Konflikt mit großen Schwierigkeiten versucht wird,
wieder eine Staatlichkeit aufzubauen . Das ist das Ziel .
Dazu wollen wir unseren Beitrag leisten .
({1})
Die Vereinten Nationen sind da momentan der größte
Akteur . 13 200 Polizistinnen und Polizisten sind weltweit
im Einsatz der Vereinten Nationen unterwegs . Deutschland stellt von diesen 13 200 genau 24 . 24 Polizistinnen
und Polizisten - für ein großes und reiches Land wie
Deutschland ist das blamabel . Anders kann man das nicht
nennen .
({2})
Wir waren zusammen mit dem Unterausschuss bei
den Vereinten Nationen in New York . Dort wurde uns
stark und eindeutig signalisiert, wie sehr deutsche Polizistinnen und Polizisten geschätzt sind, auch weil wir
einen besonderen Ansatz haben und vor Ort häufig präventiv arbeiten . Unsere Polizisten gehen auch anders mit
Demonstrationen um . Das unterscheidet sich manchmal
vom Vorgehen der Polizisten aus anderen Ländern . Da
haben wir eine wichtige Rolle; darin sind wir uns alle
einig . Deswegen ist es gut, dass wir heute diesen Antrag
gemeinsam stellen .
({3})
Es ist gut, dass wir gemeinsame Antreiber sind, aber
eigentlich auch traurig, dass wir überhaupt Antreiber
sein müssen . Ich zitiere aus dem Koalitionsvertrag vom
November 2013 - dort finden sich lesenswerte Passagen
über die Vereinten Nationen -:
Wir wollen die rechtlichen, organisatorischen und
finanziellen Voraussetzungen für den Einsatz von
Polizistinnen und Polizisten in Friedensmissionen
verbessern . Hierzu wird die Bundesregierung in der
nächsten Legislaturperiode mit den Bundesländern
eine umfassende Bund-Länder-Vereinbarung verhandeln, die der gemeinsamen Verantwortung gerecht wird .
Jetzt haben wir das Jahr 2016, es ist nicht mehr ganz
ein Jahr bis zur Wahl, und wir haben immer noch keine
Bund-Länder-Vereinbarung . Da fragen wir uns schon:
Warum kommt das nicht? Die Frage richtet sich auch an
Sie, Herr Schröder . Woran hängt es denn? Wir glauben,
dass dort dringend Handlungsbedarf besteht . Kommen
Sie Ihren eigenen Zusagen endlich nach! Machen Sie
das, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition!
Wir brauchen das . Deutschland leistet bis jetzt einfach
zu wenig .
({4})
In dem Antrag werden richtige Forderungen zur strukturellen Verbesserung gestellt; wir haben es gerade schon
gehört . Dabei geht es um die rechtliche Absicherung,
finanzielle Fragen, Wissenstransfer und sicherung und
eine stärkere Einbindung im Parlament . Frau Jelpke, Sicherheitsbedenken und Menschenrechte - die Sorge teilen wir doch alle .
({5})
Es ist aber auch ein schwieriges Umfeld, in dem diese
Polizistinnen und Polizisten unterwegs sind .
Klar ist: Wir müssen Einsätze in Zukunft auch abbrechen . Das ist gar nicht die Frage . Es wird Einsätze
geben, und es gibt schon heute Einsätze, bei denen wir
sagen: Da müssen wir aufhören . Dort ist es nicht mehr
der richtige Weg . Dort unterstützen wir nicht Frieden und
Rechtsstaatlichkeit, sondern Akteure, die den Menschenrechten zuwiderhandeln . Ja, wir werden Einsätze abbrechen müssen . Aber das ist doch kein Argument dagegen,
strukturelle Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass wir
Polizistinnen und Polizisten in gute Einsätze entsenden
können . Das kann doch kein Argument dagegen sein .
({6})
Falsche Einsätze können doch kein Argument gegen gute
Einsätze sein .
({7})
Das ist das, worum es uns geht . Wir sagen jetzt nicht,
dass wir alle schlechten Einsätze mittragen .
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition,
noch einmal: Wir alle wissen, dass eine gute Polizei auch
eine gute Justiz braucht, dass wir ein gutes Umfeld brauchen, in dem die Polizei agieren kann . Deswegen hatten
wir noch einen Antrag gestellt, der diesen Bereich behandelt . Schade, dass er nicht aufgesetzt wurde . Vielleicht
können wir bei anderer Gelegenheit trotzdem über diesen
Antrag diskutieren; denn wir wissen, dass es zusammengehört . Hier geht es jetzt um einen Teil; andere gehören
dazu .
({8})
Wir alle wissen auch, dass das, was wir hier fordern,
nicht für umme zu haben ist . Das kostet Geld . Wenn wir
1 Prozent zum Ziel haben, wenn wir einen Lehrstuhl an
der Hochschule der Polizei zum Ziel haben, dann kostet
das Geld . Ich würde mich sehr freuen, wenn wir es in
dem Haushaltsverfahren, das gerade läuft, gemeinsam
schaffen, diese Forderungen nicht auf dem Papier zu belassen, sondern umzusetzen und Geld für den Lehrstuhl,
für das 1 Prozent zur Verfügung zu stellen . Dann haben
wir wirklich etwas erreicht . Das ist der Schritt, den wir
noch gehen können . Dabei brauchen wir nicht auf Sie zu
warten . Das ist in unserer Verantwortung . Lassen Sie uns
diesen Schritt gemeinsam gehen .
Ich danke Ihnen .
({9})
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär
Dr . Ole Schröder .
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich freue mich zunächst, dass der Unterausschuss
für Zivile Krisenprävention einen fraktionsübergreifenden Beschlussantrag zum Einsatz von Polizeibeamtinnen
und Polizeibeamten in internationalen Friedensmissionen vorgelegt hat . Die zehn Punkte des Antrags greifen
wichtige Themen auf . Deren Umsetzung wird unser Polizeiengagement in mandatierten Friedensmissionen und
bilateralen Polizeimissionen stärken .
Gerade angesichts der aktuellen Migrationslage gewinnt der Antrag eine besondere Aktualität . Polizeimissionen leisten in den Krisenregionen einen Beitrag zur
Bekämpfung von Fluchtursachen . Polizeiprojekte in Krisenstaaten legen die Basis für den Aufbau von Sicherheitsstrukturen; dort werden rechtsstaatliche Strukturen
aufgebaut . Sicherheit ist eben auch die Voraussetzung dafür, dass sich überhaupt wirtschaftliche Prosperität entwickeln kann. Sicherheit eröffnet den Menschen somit eine
Bleibeperspektive, und damit werden auch die Fluchtursachen bekämpft . Ich bekenne mich an dieser Stelle eindeutig zu einem größeren Engagement Deutschlands in
internationalen Polizeieinsätzen .
Wir haben zurzeit - da möchte ich auf das eingehen,
was Frau Brantner eben gesagt hat - 148 Beamtinnen
und Beamte im Einsatz, also nicht nur 22 .
({0})
Es gibt zwischen Bund und Ländern vereinbarte Leitlinien; das ist also geübte Praxis . Aber natürlich kann man
sich auch über konkrete Vereinbarungen unterhalten . Ich
sage nur eines: Das wird an der geübten Praxis nicht viel
ändern . Wichtig ist, dass auch die Länder bereit sind, solche Vereinbarungen einzugehen . An uns soll es jedenfalls
nicht scheitern .
Wenn jetzt allerdings mehr Engagement gefordert
wird, dann müssen wir natürlich auch berücksichtigen,
dass wir eine zivile Polizei haben
({1})
und eben keine Gendarmerie oder sonstige robuste Einheiten . Wenn die Grünen jetzt wild entschlossen sind und
sagen: „Wir wollen viel mehr“, dann ist das eine Ansage .
Dann müssen wir uns natürlich auch über die Ausrüstung
der Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten Gedanken
machen: Brauchen wir nicht robustere Einheiten, was
bedeutet das für die Abgrenzung von Militär und Polizei
in den Krisenregionen, und was kann unsere zivile Polizei überhaupt leisten? Man darf also nicht nur fordern,
sondern muss auch die konkreten Schlussfolgerungen
berücksichtigen .
({2})
Ich jedenfalls bedanke mich bei allen Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten für das großartige Engagement,
das sie in vielen Staaten zeigen . Wir wissen, was das für
jeden Einzelnen bedeutet . Wir wissen, dass die Akzeptanz der örtlichen Polizeidienststellen nicht immer so ist,
wie wir sie uns vorstellen . Wir wissen, was das auch für
das gesamte Umfeld und die Familien bedeutet . Vielen
Dank für diesen Einsatz!
({3})
Unsere Polizeibeamten tragen dazu bei, dass die Sicherheitslage in den Regionen, die von Konflikten,
Krisen und Chaos geprägt sind, stabilisiert wird . Damit
sorgen sie nicht nur für Sicherheit und Ordnung in den
Regionen, sondern mittelbar auch für Sicherheit hier in
Deutschland . Ein Blick auf die Krisenherde der Welt
zeigt, dass wir künftig noch mehr Friedensmissionen und
bilaterale Polizeiprojekte brauchen . Wir müssen aber
auch Rücksicht darauf nehmen, dass wir begrenzte Ressourcen haben und zurzeit über eine zivile Polizei verfügen, die dann natürlich auch die Ausrüstung hat, die
gesetzlich vorgegeben ist .
Wir müssen uns daher auf Schwerpunkte konzentrieren . Im Vordergrund stehen für uns solche Gebiete, in
denen die Ursachen von Flucht, Vertreibung und Migration bekämpft werden können . Zwei Regionen genießen
dabei unsere besondere Aufmerksamkeit .
Zum Ersten geht es um Nordafrika und die Sahelzone .
Wir haben unsere Beteiligung an der Mission der Vereinten Nationen in Mali bereits deutlich ausgebaut . Wir
würden sie noch weiter ausbauen . Die Anforderungen,
insbesondere an die Sprachkenntnisse, sind allerdings
sehr, sehr hoch . Wir setzen uns dafür ein, dass sie realistischer ausgelegt werden, insbesondere was die französischen Sprachkenntnisse angeht .
Wir stellen uns auch darauf ein, Polizisten nach Libyen
zu entsenden, sobald die Sicherheitslage es zulässt . Die
Vorbereitungen laufen bereits, und wir engagieren uns im
Rahmen der Vorbereitungen . Wir legen großen Wert darauf, dass ein Kernauftrag dieser Mission die Stärkung
des libyschen Grenz- und Küstenschutzes wird, damit die
Tragödie auf dem Mittelmeer auch von dieser Seite her
beendet werden kann, meine Damen und Herren .
Zum Zweiten kommt nach wie vor Afghanistan eine
besondere Bedeutung zu . Das bilaterale Polizeiprojekt in
Afghanistan haben wir noch stärker auf die Bekämpfung
der Schleuserkriminalität und auf die Bekämpfung der
illegalen Migration ausgelegt .
Unsere Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten leisten - darauf möchte ich zum Schluss eingehen - auch
einen wichtigen Beitrag in Europa . In der Ukraine sind
wir an zwei Missionen der EU und an einer der OSZE
beteiligt . Durch die Teilnahme an diesen Missionen tragen wir dazu bei, dass sich die Situation in der Ukraine
stabilisiert und die Polizeibehörden bei ihren Reformen
unterstützt werden . Das ist dringend erforderlich .
Ich bin davon überzeugt, dass der gestellte Antrag uns
bei unseren Bemühungen unterstützen wird, und bedanke
mich für die konstruktive Begleitung aus dem parlamentarischen Raum . Die Linke ist hier natürlich ausgenommen .
({4})
Das, was wir von ihr erleben, ist eher destruktiv, aber ich
denke, das sind wir auch sonst nicht anders gewohnt .
Insofern freue ich mich auf die gemeinsamen Beratungen .
({5})
Das Wort hat der Kollege Thorsten Frei für die CDU/
CSU-Fraktion .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich möchte am Ende der Debatte noch einmal zusammenfassend sagen, dass es aus meiner Sicht überhaupt
nichts Verwerfliches ist, wenn wir mit der Entsendung
deutscher Polizisten in internationale Friedensmissionen
natürlich auch unsere eigenen Interessen vertreten .
Es ist angesprochen worden: Es geht darum, dem
internationalen, auch islamistischen, Terrorismus, den
Nährboden zu entziehen und Fluchtursachen zu bekämpfen . Natürlich ist es richtig, dass eine so internationalisierte Gesellschaft und Volkswirtschaft wie unsere, die
mehr als die Hälfte ihres Wohlstandes außerhalb unseres
Landes erwirtschaftet, in besonderer Weise davon profitiert, wenn wir es schaffen, mehr Frieden, mehr Sicherheit und mehr Stabilität zu erreichen .
Der nächste Punkt, den ich ansprechen möchte: Wir
stehen hier in der Tat nicht an einem Nullpunkt, sondern
wir haben in der Vergangenheit schon messbare Erfolge
verzeichnen können . 1989 wurden deutsche Polizisten
das erste Mal in einer internationalen Friedensmission
eingesetzt, nämlich in Namibia . In der Zwischenzeit ist
unheimlich viel passiert . Ein Meilenstein war hier mit Sicherheit auch der Aktionsplan „Zivile Krisenprävention“
aus dem Jahr 2004, aus dem das Zentrum für Internationale Friedenseinsätze und auch die Bundesakademie
für Sicherheitspolitik hervorgegangen sind . Das waren
Meilensteine . Wir sind vorwärtsgekommen und haben
messbare, nachvollziehbare Erfolge erzielen können .
Heute sind wir der viertgrößte Geber für internationale
Friedensmissionen der Vereinten Nationen .
Trotzdem ist es richtig, dass wir noch nicht an dem
Punkt angekommen sind, an dem wir sein könnten und
auch sein sollten . Deswegen ist richtig, diese Debatte mit
dem vom Auswärtigen Amt initiierten Leitlinienprozess
und auch diesem interfraktionellen Antrag fortzusetzen,
den wir heute hier beraten und hoffentlich auch beschließen werden .
Es geht eben nicht nur um Geld - da sind wir schon
sehr gut -, sondern es geht auch darum - das ist von
Vorrednern einige Male erwähnt worden -, das spezielle
Know-how und die speziellen Kenntnisse deutscher Polizistinnen und Polizisten mit den spezifischen Qualitäten,
die sie haben, zum Einsatz zu bringen . Wenn ich mir einmal anschaue, was internationale Polizeimissionen bei
den Vereinten Nationen heute leisten, dann, glaube ich,
tut dies auch wirklich not .
Wie sieht es derzeit aus? Es gibt einen deutlichen Aufwuchs an Polizisten in solchen Missionen . 1995 waren
es noch 5 800, heute sind es mehr als 16 000 . Was sind
das für Polizisten, und wo kommen sie her? Sie kommen
aus Ruanda, Indien, Jordanien, Nepal, Burkina Faso . Das
sind die Länder, die die meisten Polizisten stellen . Sie
kommen überwiegend - zu mehr als der Hälfte - aus geschlossenen Verbänden .
Das ist im Zweifel aber nicht das, was die Vereinten
Nationen brauchen, und das ist auch nicht das, was wir
für internationale Polizeieinsätze brauchen . Wir brauchen Spezialisten und spezielle Kenntnisse im Bereich
der Beweissicherung, bei der Bekämpfung von Sexualstraftaten und im Bereich der organisierten Kriminalität .
Solche Kompetenzen werden verlangt, und die können
und die sollten wir liefern . Das ist mehr wert als Geld .
({0})
Es ist bereits angesprochen worden, dass wir eine Beschlusslage haben: Im Europäischen Rat haben wir im
Jahr 2000 in Santa Maria da Feira gemeinsam vereinbart,
EU-weit 5 000 und aus Deutschland 910 Polizisten bereitzustellen . Das muss die Richtgröße sein, an der wir
uns orientieren . Wenn man sich den Entwurf des Bundeshaushalts für das kommende Jahr anschaut, kann man sehen, dass im Bereich des Innenministeriums zusätzliche
Mittel für den Einsatz von Bundespolizisten außerhalb
Deutschlands bereitgestellt sind . Wir haben hier einen
Mittelaufwuchs .
Und auch wenn es zwischen Bund und Ländern vereinbarte Leitlinien gibt, ist klar, dass ein Großteil der
Kompetenzen, von denen ich gesprochen habe, nicht
zwingend bei der Bundespolizei vorhanden ist, sondern
in besonderem Maße bei den Länderpolizeien . Deswegen brauchen wir eine noch bessere Auflösung des Zielkonfliktes, dass einerseits der Bund für die außenpolitischen Belange zuständig ist, andererseits die Kompetenz
der Polizeien, die in solchen Einsätzen erforderlich ist,
bei den Ländern in sehr viel größerem Maße vorhanden
ist . Dafür brauchen wir vernünftige Regelungen . Es ist
zu wenig, wenn wir nur auf die Enthusiasten setzen, die
in solche Einsätze gehen . Wir brauchen mehr Struktur;
wir brauchen mehr Unterstützung; wir brauchen mehr
rechtliche Rahmenbedingungen, die den Erfordernissen gerecht werden . Dann bin ich überzeugt, dass wir
es schaffen können und einen effektiven Beitrag zu ziviler Krisenprävention leisten können . Polizei, Richter,
Staatsanwälte als Rückgrat rechtsstaatlicher Verhältnisse
helfen mit, dass wir Konflikte beilegen können, dass wir
gescheiterte Staaten wiederaufbauen können, und vor alParl. Staatssekretär Dr. Ole Schröder
len Dingen, dass die Menschen Vertrauen zu ihren Staaten und ihren Regierungen bekommen können: Das ist
die beste Vorsorge, um Fluchtursachen an der Wurzel zu
bekämpfen .
Herzlichen Dank .
({1})
Ich schließe die Aussprache .
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen von CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 18/9662 mit dem Titel „Deutsches Engagement beim Einsatz von Polizistinnen und
Polizisten in internationalen Friedensmissionen stärken
und ausbauen“ . Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Antrag ist mit
den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion, der SPD-Fraktion
und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen .
({0})
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 42 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Jutta
Krellmann, Klaus Ernst, Herbert Behrens, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Wochenhöchstarbeitszeit begrenzen und Arbeitsstress reduzieren
Drucksache 18/8724
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . - Ich höre keinen Widerspruch . Dann ist so beschlossen .
({2})
- Wenn alle Kolleginnen und Kollegen, die jetzt noch
herbeigeeilt sind, ein Plätzchen gefunden haben, können
wir die Debatte eröffnen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Klaus Ernst für die Fraktion Die Linke .
({3})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Es geht um Arbeitszeiten, um Flexibilisierung
der Arbeitszeiten, auch um weniger Stress durch vernünftige Arbeit . Wenn ich mich hier so umschaue, sehe
ich: Es haben sich einige Kolleginnen und Kollegen sicher auch schon ins Wochenende verabschiedet .
({0})
Wir als Abgeordnete können das tun, andere nicht,
weil sie sehr starre Arbeitszeitverhältnisse haben, die
teilweise ganz anders aussehen . Aber genau über diese
müssen wir reden .
({1})
Wir haben in der Bundesrepublik eine Entwicklung,
die nicht in Ordnung ist . Wir haben die Bundesregierung
gefragt, wie sich Arbeitszeiten entwickeln . Sie werden
immer länger . 1,7 Millionen arbeiten inzwischen regelmäßig über 48 Stunden in der Woche . Diese Zahl hat
dramatisch zugenommen . Das Institut für Arbeitsmarktund Berufsforschung hat ausgerechnet, dass 1,8 Milliarden Überstunden pro Jahr geleistet werden - im Übrigen
würde das mehreren Hunderttausend Beschäftigten entsprechen -, von denen aber nur etwas mehr als die Hälfte
bezahlt wurden .
Immer mehr Beschäftigte müssen nachts arbeiten . 1995
waren noch 2,4 Millionen Beschäftigte nachts tätig, 2015
waren es 3,3 Millionen .
Meine Damen und Herren, ich erinnere mich an eine
Betriebsversammlung bei einem größeren Automobilkonzern . Dabei ging es um die Durchsetzung von Nachtarbeit . Die Beschäftigten haben sich dagegen gewehrt .
Einer von den Kollegen ging aus der Betriebsversammlung raus und sagte: Wenn der Herrgott gewollt hätte,
dass wir nachts arbeiten, dann hätte er uns mit den Augen
auch Glühbirnen in den Kopf gegeben, damit wir etwas
sehen können .
({2})
Da ist was dran, liebe Kolleginnen und Kollegen .
Wir wissen alle: Nachtarbeit ist gesundheitsschädlich, und zwar extrem . Immer mehr Beschäftigte arbeiten regelmäßig am Wochenende: 8,8 Millionen 2015,
Tendenz steigend . Was auch zunimmt, ist die Sonn- und
Feiertagsarbeit . Das ist deshalb bemerkenswert, weil wir
im Grundgesetz die Sonn- und Feiertage als Tage der
Arbeitsruhe besonders geschützt haben: Sonn- und Feiertagsarbeit ist eigentlich ausgeschlossen . Trotzdem hat
sich die Zahl derer, die regelmäßig sonntags und feiertags arbeiten, drastisch erhöht . 1995 waren es 2,9 Millionen, 2015 knapp 5 Millionen Menschen; ein Zuwachs
von mehr als 70 Prozent .
Inzwischen, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, arbeitet jeder Sechste in Schichten .
Ich möchte darauf hinweisen, was das insbesondere in
Familien bedeutet, in denen beide Partner in Schichten
arbeiten . Da spielt sich das Familienleben oft auf Zetteln ab . Wenn man sich die Betreuung der Kinder einteilt,
versucht man, dafür zu sorgen, dass einer der Partner zu
Hause ist, während der andere arbeitet . Da läuft das Familienleben oft so ab, dass der Mann auf einen Zettel
schreibt: Ich komme heute später . - Wenn er dann nach
Hause kommt, findet er einen Zettel seiner Partnerin vor,
auf dem steht: Ich habe es gelesen . - Wir müssen also
aufpassen, was in unserem Land passiert .
Viele Hunderte von Studien belegen: Arbeitszeiten
dieser Art machen krank . Wir haben es mit einer Zunahme von psychischen Erkrankungen durch Arbeit
zu tun. Schichtarbeiter zum Beispiel sind häufiger von
HerzKreislaufErkrankungen betroffen; das alles wissen
Sie .
Auf jeder Zigarettenschachtel stand früher: Rauchen
gefährdet Ihre Gesundheit . - Inzwischen ist diese Formulierung schärfer geworden . Eigentlich müsste auf manchem Arbeitsvertrag stehen: Diese Arbeit gefährdet Ihre
Gesundheit .
({3})
Wir wissen das. Aber wir haben momentan offensichtlich Hemmungen, das zu ändern . Wir erleben auf
der anderen Seite, dass unter dem Deckmantel von Industrie 4 .0 nun die Arbeitgeberverbände eine weitere
Flexibilisierung der Arbeitszeit wollen . Damit meinen
sie - ich zitiere den Präsidenten des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall, Dulger -: mehr Arbeitszeitvolumen,
Befristung und Zeitarbeit . - Das ist die Zukunftsvorstellung der Arbeitgeber in dieser Frage .
Auch wir sind dafür, dass Arbeitnehmer flexibel arbeiten dürfen, wenn sie das wollen . Das bedeutet aber, dass
wir regeln müssen, welche Rechte die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben, um diese Flexibilität an
ihrem Arbeitsplatz durchzusetzen .
({4})
Gegenwärtig haben sie diese Rechte kaum, wie wir wissen . Ich könnte Ihnen dazu noch viele Beispiele aus der
Praxis erzählen .
Meine Damen und Herren, die Realität sieht anders
aus . Flexible Arbeitszeit heißt für die Beschäftigten oft
Entgrenzung von Arbeit, Arbeit auf Abruf, übrigens auch
keine Bezahlung mehr von Überstunden, Zunahme von
Stress . Deshalb: Wir brauchen gesetzliche Regelungen,
die den Arbeitnehmer in die Lage versetzen, die von ihm
gewünschte Zeitsouveränität selber durchzusetzen .
Meine Damen und Herren, ein Schlüssel dafür ist das
Arbeitszeitgesetz . Das Arbeitszeitgesetz beschränkt die
tägliche Arbeitszeit eigentlich auf acht Stunden . Allerdings macht das bei sechs Tagen in der Woche 48 Arbeitsstunden . Das ist eindeutig zu viel .
({5})
Wir müssen über das Arbeitszeitgesetz die Dauer der Arbeitszeit ein Stück nach unten bekommen; deshalb unsere Forderung . Das Arbeitszeitgesetz selber ist löchrig wie
ein Schweizer Käse . Da gibt es Ausnahmeregelungen für
fast alles . Die Zunahme der Sonntagsarbeit ist dafür ein
Beweis . Auch deshalb müssen wir diese Frage angehen .
Um Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen zu schützen, braucht es auch ein Recht auf Nichterreichbarkeit
während der Freizeit .
({6})
Wir brauchen eine Anti-Stress-Verordnung, mit der die
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer geschützt werden . Dringend erforderlich ist auch die Ausweitung des
Mitbestimmungsrechts der Betriebsräte bei Fragen der
Zeitsouveränität und des Arbeitsvolumens der Belegschaft . Nur ein kleiner Hinweis . Betriebsräte haben Kündigungsschutz und können sich gegen ihren Arbeitgeber
leichter wehren als der Einzelne ohne Kündigungsschutz .
({7})
Dem Einzelnen drohen oft Nachteile, wenn er versucht,
seine von ihm gewollte Flexibilität durchzusetzen .
Als Parlamentarier haben wir die Pflicht, uns schützend vor die Beschäftigten zu stellen und dem Trend,
dass Arbeit zunehmend krankmacht, entgegenzuwirken .
Wir könnten damit anfangen. Ich hoffe, dass unsere Debatte dazu führt, dass diese Themen tatsächlich parlamentarisch aufgegriffen werden.
Ich danke für die Aufmerksamkeit .
({8})
Das Wort hat der Kollege Uwe Lagosky für die CDU/
CSU-Fraktion .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Dauer der Arbeitszeit ist so zu bemessen, dass
dem Arbeitnehmer ausreichend Zeit zur Erholung
und zur Teilnahme am kulturellen Leben zur Verfügung steht . Normalarbeitszeit, Pausen, Freizeit und
Urlaub bedürfen gesetzlicher und tariflicher Regelung nach Maßgabe neuzeitlicher wissenschaftlicher Erkenntnisse . Sonntage und gesetzliche Feiertage gelten als Ruhetage .
Ich glaube, darüber sind wir uns grundsätzlich einig . Bemerkenswert ist nur: Woher stammt das, was ich gerade
verlesen habe? Diese Zeilen stammen aus den Düsseldorfer Leitsätzen, die die CDU 1949 auf den Weg gebracht
hat .
({0})
Um es ganz deutlich zu sagen, meine Damen und Herren
von der Linken: Da gab es Sie als Partei in dieser Form
noch gar nicht . Wir sind schon weit vor Ihrer Zeit aktiv
geworden .
({1})
Auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse - das
ist bis heute so geblieben - wurde das Arbeitszeitgesetz
gestaltet, das als Schutzgesetz im Wesentlichen der Gesundheit der Beschäftigten dient, und zwar sowohl bei
tarifgebundenen als auch bei nicht tarifgebundenen Arbeitgebern . Das Arbeitszeitgesetz begrenzt die höchstzulässige Arbeitszeit auf acht Stunden täglich; das haben
Sie ebenfalls gerade ausgeführt . In Ausnahmen dürfen es
auch zehn Stunden sein, aber nur dann, wenn - das haben
Sie nicht gesagt - innerhalb von sechs Kalendermonaten
oder innerhalb von 24 Kalenderwochen im Durchschnitt
acht Stunden werktäglich nicht überschritten werden .
Als weitere wesentliche Punkte werden die Ruhepausen und die Ruhezeiten geregelt . Arbeitnehmer müssen
nach Beendigung der täglichen Arbeitszeit eine Ruhezeit
von mindestens elf Stunden haben . Darüber hinaus eröffnet das Arbeitszeitgesetz die Möglichkeit für abweichende Regelungen in Tarifverträgen - darauf haben Sie
schon hingewiesen -, allerdings nur dann, wenn es um
Arbeitsbereitschaft bzw . Bereitschaftsdienste geht . Es
gibt eine Begrenzung der täglichen Arbeitszeit auf acht
bis zehn Stunden, unter anderem deswegen, weil nach
wissenschaftlichen Erkenntnissen die Unfallgefahr nach
acht Stunden deutlich ansteigt . Deshalb werden Tagesgrenzwerte entsprechend festgelegt . Angesichts der Regelung, wonach die tägliche Arbeit auf acht bis zehn
Stunden begrenzt wird, und dem genannten Ausgleichszeitraum ist es möglich, auf acht Stunden pro Tag zu
kommen . Das ist das Ziel der Ausgleichsregelung .
Man wird damit sowohl den Belangen der Gesundheit
der Arbeitnehmer als auch den Ansprüchen der Betriebe
gerecht, die bei wechselnden Auftrags- und Aufgabenlagen flexibel reagieren müssen. Das haben Sie in Ihrem
Antrag völlig vergessen . Wenn Sie die Höchstarbeitszeit
in der Woche von 48 auf 40 Stunden senken, sind die
Betriebe nicht mehr flexibel. Wenn die Betriebe nicht
mehr flexibel sind, gehen möglicherweise Arbeitsplätze
in Deutschland verloren . Allein aus diesem Grund kann
man das in der Form nicht machen .
({2})
Es geht erstens darum, den Beschäftigten bestmöglich
vor gesundheitlichen Gefahren zu schützen, und zweitens darum, wirtschaftlich arbeitende Betriebe zu haben .
Wenn die Höchstarbeitszeit in der Woche tatsächlich von
48 auf 40 Stunden gesenkt wird, dann sehe ich für unsere Wirtschaft in Deutschland im Vergleich zum Rest der
Welt schwarz .
Nun basiert Ihr Antrag auf einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage, in der es darum geht, wie
viele abhängig Beschäftigte von überlangen Arbeitszeiten betroffen sind, also 49 Stunden und mehr in der
Woche arbeiten . Darauf antwortete die Bundesregierung, dass das rund 2 Millionen abhängig Beschäftigte
sind . Das entspricht einem Anteil von 5,6 Prozent . Die
Daten stammen aus dem vom Statistischen Bundesamt
durchgeführten Mikrozensus und beziehen sich auf das
Jahr 2012 . Damals gab es 35 Millionen Beschäftigte in
Deutschland .
Man muss sich aber die Frage stellen, warum es bei
den Regelungen im Arbeitszeitgesetz, die auf eine durchschnittliche Arbeitszeit von acht Stunden pro Tag abzielen, zu solchen Ergebnissen kommt . Diese Frage stellen
wir uns auch . Dabei geht es aber um Fragen, auf die der
Mikrozensus keine Antworten liefert: Welche Berufsgruppen sind im Wesentlichen betroffen? Wird in Betrieben von Arbeitgebern und Beschäftigten genügend auf
die Arbeitszeitgesetze geachtet? Achten die Aufsichtsbehörden der Länder ausreichend auf die Einhaltung des
Arbeitszeitgesetzes? Welche Ausnahmeregelungen tragen zu diesem Ergebnis bei? - All diese Fragen sollten
wir erst einmal beantworten, bevor wir solche Anträge
einbringen .
({3})
Bedacht werden muss zudem, dass es für die Beschäftigten manchmal auch persönlich wichtig ist, eine Aufgabe
zu erledigen . Das ist in einer Arbeitswoche mit 40 Stunden nicht immer möglich . Jedenfalls ist es mir in meinem
Berufsleben so gegangen .
Sich seine Arbeitszeit selbst einzuteilen und Aufgaben abzuschließen, kann durchaus motivierend wirken .
Jedoch sollte das nicht über die Schutzvorschriften des
Arbeitszeitgesetzes hinausgehen . Dafür Sorge zu tragen,
ist insbesondere eine Frage der Betriebskultur .
Weiterhin behaupten Sie von der Linksfraktion - das
haben Sie eben wieder getan -, der Arbeitstag kenne für
viele kein Ende mehr . Das mag für den einen oder anderen tatsächlich so sein - darin gebe ich Ihnen, wie schon
gesagt, durchaus recht -; doch das ist schon eine sehr
dramatische Interpretation dessen, was in Deutschland
Realität ist .
({4})
Die Ergebnisse des Statistischen Bundesamts wurden
schon angesprochen; ich möchte das auch tun, nur aus
einem anderen Kontext heraus . 1996 hat ein Vollzeitbeschäftigter durchschnittlich 40 Stunden pro Woche gearbeitet . 2011 waren es 40,7 Stunden und 2015 40,5 Stunden . Damit liegen die deutschen Vollzeitbeschäftigten
durchaus im europäischen Durchschnitt, der laut Eurostat 2015 bei 40,3 Wochenstunden lag . Damit liegen wir
bezogen auf die Beschäftigten in Europa durchaus im
Mittel .
Zwischenfazit: Wir haben schon ein sehr ausgewogenes Gesetz . Es schützt die Gesundheit der Beschäftigten
durch kluge Leitplanken, trägt in einem ausgewogenen
Maß zur Wirtschaftlichkeit unserer Betriebe bei und
eröffnet Möglichkeiten für sozialpartnerschaftliches
Handeln . Letzteres führt zu vielen Arbeitszeitmodellen in den Betrieben, die auch die Zeitsouveränität der
Beschäftigten verbessern . Im Bereich der Schichtarbeit
werden ebenfalls längst Betriebsvereinbarungen abgeschlossen, die die Bedürfnisse der Mitarbeiter berücksichtigen . Das ergab unter anderem eine Kurzauswertung
der Hans-Böckler-Stiftung aus dem Jahr 2010 . Kurzum:
Die Linksfraktion läuft nach unserer Auffassung mit ihrer
Forderung dem Trend hinterher . Die Sozialpartnerschaften sorgen längst für mehr Zeitsouveränität der Beschäftigten .
Nebenbei: Auch der Gesetzgeber leistet seinen Beitrag . Stichworte dazu sind das Gesetz zur besseren Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf, das Teilzeit
und Befristungsgesetz oder die Regelung im Vierten
Buch Sozialgesetzbuch zu Wertguthaben .
Eine Anti-Stress-Verordnung, wie sie in Ihrem Antrag
gefordert wird, ist dagegen kein sinnvoller Beitrag . Sie
mag öffentlichkeitswirksam sein und macht etwas her;
das ist keine Frage . Aber bringt sie uns weiter, wenn es
um die Gesundheit der Arbeitnehmer geht? Meine Erfahrung ist durchaus eine andere . Es geht in den Betrieben
in erster Linie darum, Mitarbeitergespräche zu führen
und gleichzeitig eine Gefährdungsbeurteilung auf den
Weg zu bringen . Das bringt den besten Erfolg bei der
Vermeidung von psychologischen Belastungen, die möglicherweise am Arbeitsplatz entstehen . Berufsbedingte
Belastungen können so frühzeitig erkannt und abgebaut
werden . Gesundes Arbeiten hat viel mit der Betriebskultur zu tun . Entscheidend also sind keine neuen Regelungen . Entscheidend ist, dass wir die bisherigen Regelungen umsetzen, und wir arbeiten daran, das zu tun .
({5})
Letzter Werbeblock: Die ehemalige Bundesarbeitsministerin Dr . Ursula von der Leyen gab bei der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin ein Projekt
in Auftrag, das Anfang 2014 unter dem Titel „Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt - Wissenschaftliche
Standortbestimmung“ startete . Seit Juli dieses Jahres liegen erste Zwischenberichte vor, die den jeweiligen Stand
der Erkenntnis in vier Themenfeldern darlegen . Mit dem
Abschlussbericht und den Handlungsempfehlungen für
betriebliches Gesundheitsmanagement und den Arbeitsschutz ist für Mitte 2017 zu rechnen .
Wir sind für eine wissenschaftliche Begleitung der
Arbeitsschutzgesetze . Dazu zählt auch das Arbeitszeitgesetz . Hierfür treten wir als CDU/CSU-Fraktion entschieden ein .
Herzlichen Dank .
({6})
Das Wort hat die Kollegin Beate Müller-Gemmeke für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Arbeitswelt verändert sich, die
Wünsche der Beschäftigten aber auch. Arbeit wird flexibler, die Arbeitsintensität steigt . Es wurden schon viele
Zahlen genannt . Gleichzeitig wünschen sich die Beschäftigten mehr Zeit für sich und für ihre Familie, um nicht
ständig hetzen zu müssen . Die Beschäftigten brauchen
mehr Zeitsouveränität; denn Arbeitszeit ist Lebenszeit .
({0})
Etwa in dieser Art habe ich im April meine Rede zu
unserem Antrag „Mehr Zeitsouveränität - Damit Arbeit
gut ins Leben passt“ begonnen . Es freut mich, dass die
Fraktion Die Linke diesen Antrag aufmerksam gelesen
hat und nun einen eigenen Antrag auf den Weg bringt .
Das ist gut . Ich würde mir das auch von den Regierungsfraktionen wünschen; denn wir müssen die Entwicklungen in der Arbeitswelt und auch die Wünsche der
Beschäftigten an die Arbeitswelt ernst nehmen und politische Antworten darauf finden.
({1})
Ein paar Aspekte, auch zum Antrag der Linken:
Enorm wichtig gerade für Frauen ist natürlich das Rückkehrrecht auf Vollzeit, um befristete Teilzeitphasen zu
ermöglichen . Da sind wir uns einig . Eigentlich steht das
auch im Koalitionsvertrag . Da müssen Sie, die Regierungsfraktionen, endlich liefern .
({2})
Uns ist das aber zu wenig . Viele Beschäftigte wollen und
können nicht vorübergehend ihre Arbeitszeit reduzieren .
Aber auch sie brauchen Zeitsouveränität, und zwar in ihrem täglichen Arbeitsalltag - für die Kinder, für die alten Eltern . Vielleicht wollen sie einfach auch nur einmal
einen Tag im Homeoffice arbeiten. Deshalb fordern wir,
wie die Linke auch, Betriebsvereinbarungen zu Fragen
der Vereinbarkeit und mehr Zeitsouveränität . Aber auch
das reicht uns nicht aus . Wir wollen, dass auch die Beschäftigten ohne Betriebsrat gestärkt werden . Auch sie
sollen mehr Einfluss darauf nehmen können, wann sie
arbeiten und wo sie arbeiten . Flexibilität ist keine Einbahnstraße . Deshalb wollen wir die Arbeitszeit für die
Menschen beweglicher gestalten .
({3})
Geht es um die Arbeitszeit, dann müssen wir natürlich auch die ganz schwierigen Arbeitsformen in den
Blick nehmen . Da ist mir die Arbeit auf Abruf ein ganz
besonderes Anliegen . Bei den Linken wird Arbeit auf
Abruf zwar im Feststellungsteil erwähnt, aber im Forderungsteil kommt sie nicht mehr vor . Das hat mich ein
bisschen irritiert, zumal der Punkt ganz fehlt . Wir Grüne
stellen in unserem Antrag ganz konkrete Forderungen .
Auch Beschäftigte, die auf Abruf arbeiten, brauchen
Zeitsouveränität . Ihre Arbeitszeit muss deshalb berechenbarer werden .
({4})
Der Wunsch der Beschäftigten nach mehr Zeit wächst
natürlich auch, weil das Arbeitsleben insgesamt Tempo
macht . Notwendig sind Lösungen gegen den steigenden
Stress am Arbeitsplatz . Hier sind wir uns einig . Spannend
in diesem Zusammenhang sind auch die Auswirkungen
der Digitalisierung . Hier wird es sehr ambivalent . In der
digitalen Arbeitswelt erhalten die Menschen natürlich
Freiheit; denn sie können arbeiten, wann und wo sie wollen. Aber so entsteht natürlich auch Mehrarbeit, häufig
unbezahlt, und so verschwimmen noch mehr die Grenzen
zwischen Freizeit und Arbeitszeit . Wir fordern deshalb
ein Mitbestimmungsrecht über die Menge der Arbeit,
aber nur bei der Vertrauensarbeitszeit . Sie, die Linken,
haben das jetzt übernommen, fordern dies aber ganz pauschal . Ich bin gespannt, zu erfahren, warum die bisherige
Mitbestimmung da nicht mehr ausreichen soll . Das werden wir, glaube ich, im Ausschuss diskutieren müssen .
Zudem fordern Sie das Recht auf Nichterreichbarkeit
und verbindliche Ausgleichsregelungen bei Mehrarbeit .
Sie schreiben aber nicht, wie das gehen soll . Wir setzen
da vor allem auf betriebliche Lösungen . Im Ziel sind wir
uns aber wohl einig . Wir wollen zwar Flexibilität ermöglichen, aber nicht grenzenlose Arbeit; denn Zeitsouveränität soll natürlich auch zu mehr Lebensqualität führen .
({5})
Ich komme zum Schluss zu der Forderung, die Wochenhöchstarbeitszeit auf 40 Stunden zu senken . Das lehnen wir ab . Mehr Zeitsouveränität und Flexibilität für die
Beschäftigten würden in einem ganz engen und starren
Rahmen nicht funktionieren . Die Beschäftigten brauchen
die Freiheit, in der einen Woche einmal mehr zu arbeiten,
um in der nächsten Woche mehr frei zu haben . Natürlich
brauchen die Beschäftigten den Schutz einer verlässlichen Rahmengesetzgebung . Wir wollen die Menschen
aber nicht einschränken, sondern ihnen individuelle Lösungen bei der Arbeitszeit ermöglichen; denn Arbeitszeit
muss in das eigene Leben passen - und nicht umgekehrt .
Vielen Dank .
({6})
Das Wort hat der Kollege Michael Gerdes für die
SPD-Fraktion .
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Zuschauerinnen und Zuschauer! Erwerbsbiografien verlaufen heutzutage auf allen Qualifikationsebenen dynamischer und vielfältiger, als wir es gewohnt waren . Die
Anforderungen an Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
ändern sich immer schneller . Die Digitalisierung - Sie
sprachen es gerade an, Frau Müller-Gemmeke - sprengt
klassische Arbeitszeitmodelle . Ob das allerdings mehr
Freizeit bedeutet? Ich glaube das nicht . Unsicherheit
und Dauerstress drohen . Darauf müssen Unternehmen,
der Gesetzgeber und die Gesellschaft als Ganzes reagieren . Vor diesem Hintergrund bin ich unserer Ministerin
Andrea Nahles sehr dankbar für den Dialogprozess Arbeiten 4 .0 . Die Abschlusskonferenz im Dezember wird
sicherlich spannend werden .
Der Antrag der Fraktion Die Linke zum Thema Arbeitsstress enthält gute Analysen, Kollege Klaus Ernst .
Es braucht unterschiedliche, gut durchdachte Ansätze,
um Arbeit und sich wandelnde Lebensmodelle zu vereinen . Neben der zeitlichen Komponente wie Wochenarbeitszeit und Schichtarbeit - ich weiß im Übrigen aus
eigener Erfahrung, was Schicht- sowie Sonn- und Feiertagsarbeit an Belastungen bringt - sollten wir aber auch
auf die Arbeitsprozesse schauen . Arbeitsaufträge müssen
angemessen und in der Arbeitszeit zu schaffen sein. Es ist
nicht gut, wenn Anforderungen ständig steigen .
({0})
Wir als SPD-Fraktion befürworten einen gesetzlichen
Anspruch auf befristete Teilzeitarbeit zur Erleichterung
der Rückkehr in Vollzeit .
({1})
Dazu wollen wir ein Teilzeitrecht entwickeln . Das wäre
ein erster Schritt in Richtung Zeitsouveränität .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Arbeitsschutz
hat in Deutschland eine lange und gute Tradition . Unsere
technischen Standards sind hoch . Technische Hilfsmittel am Arbeitsplatz verringern die körperliche Belastung
stetig . Es gelingt immer mehr, Unfälle in den Betrieben
zu vermeiden . Sorgen muss uns dagegen die mentale
Gesundheit der Erwerbstätigen machen . Seit Mitte der
90er-Jahre sind die psychischen Arbeitsanforderungen
angestiegen . Sie haben sich auf hohem Niveau stabilisiert . Gleichzeitig ist eine Zunahme des frühzeitigen
Erwerbsausstiegs und der Arbeitsunfähigkeit aufgrund
psychischer Störungen und Erkrankungen zu beobachten . Stress entsteht zum Beispiel durch das Erledigen
verschiedener Arbeiten zur gleichen Zeit, durch Termindruck, häufige Unterbrechungen bei der Arbeit, monotone Tätigkeiten, fehlende Erholungsmöglichkeiten, ständige Erreichbarkeit oder Informationsfluten auch in der
Freizeit . Letzteres kennen wir als Abgeordnete auch sehr
gut; lieber Klaus Ernst, du hast das ja schon angesprochen . Eine gute mentale Gesundheit wird immer mehr
zur Voraussetzung einer dauerhaften sowie erfolgreichen
Teilhabe am Erwerbsleben . Auch bei der Flexirente spielt
die Gesundheit eine große Rolle . Deshalb stärken wir
Präventions- und Rehaleistungen .
({2})
Wir als Parlament können gesunde Arbeitsprozesse
nicht bis ins kleinste Detail regeln . Es bedarf praxistauglicher Ansätze direkt im Betrieb . Das Zusammenspiel
zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern sowie unter
Kolleginnen und Kollegen ist gefragt . Trotzdem ist die
Forderung nach einer Anti-Stress-Verordnung nicht vom
Tisch . Die SPD-Fraktion ist nach wie vor von dieser Idee
überzeugt, lieber Kollege Uwe Lagosky .
({3})
Unsere Arbeitswelt braucht Grundregeln zum
Umgang mit mentalen Belastungen . Die vielzitierte
Work-Life-Balance darf kein Modewort ohne Inhalt sein .
Wir müssen anerkennen, dass Menschen unterschiedlich
stark belastet sind und Herausforderungen unterschiedlich bewältigt werden . Beruf, Privatleben und auch das
Ehrenamt sollen unter einen Hut passen, und dafür brauchen wir unterschiedliche Modelle der Arbeitsorganisation .
Gutes Personalmanagement heißt auch betriebliches
Gesundheitsmanagement .
({4})
Hierbei ist es wichtig, dass Gesundheitsmanagement
nicht nachgelagert repariert, sondern vorausschauend
Probleme erkennt .
({5})
So wie wir wissen, dass sitzende Tätigkeiten Probleme
für Nacken und Rücken mit sich bringen, so muss in den
Betrieben thematisiert werden, an welcher Stelle Mitarbeiter psychischem Druck ausgesetzt sind . Dabei sind
Personal- und Betriebsräte als Sozialpartner gefordert .
Mit ihrer Kompetenz spielen sie eine wichtige Rolle auch
bei der Überwachung der Einhaltung des Arbeitszeitgesetzes .
Unterm Strich geht es beim zeitgemäßen Personalund Gesundheitsmanagement um systematische Fürsorge . Psychische Belastungen im Erwerbsleben müssen
raus aus der Tabuzone . Vielerorts werden stressbedingte Arbeitsausfälle unterschätzt . Deshalb wäre eine Anti-Stress-Verordnung auf jeden Fall das richtige Signal,
um in den Betrieben und aufseiten der Erwerbstätigen einen professionellen, wertschätzenden Umgang mit Zeitund Leistungsdruck anzustoßen . Dabei haben Großbetriebe in puncto Prävention und Gefährdungsbeurteilung
logischerweise andere Ressourcen zur Verfügung als
kleine und mittlere Unternehmen . Deshalb müssen wir
verstärkt überlegen, welche Hilfestellung wir Arbeitgebern und Arbeitnehmern in kleinen Betrieben anbieten
können .
Mit Blick auf Digitalisierung und Flexibilisierung
kommt der allgemeinen Gesundheitskompetenz jedes
Einzelnen eine höhere Bedeutung zu . Aufklärung und
Sensibilisierung über mentale Gesundheitsgefährdungen machen Sinn . Einmal im Jahr für fünf Minuten vom
Beauftragten für Arbeitsschutz Besuch zu bekommen,
reicht sicherlich nicht aus .
({6})
Wir müssen Erwerbstätige zu gesunder Arbeit befähigen;
auch das sollte Teil unserer Strategie sein .
({7})
Ein Letztes . Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin
überzeugt, dass beruflicher Stress anders wahrgenommen
und überwunden wird, wenn der Arbeitsalltag gewisse
Sicherheiten und Chancen mit sich bringt . Damit meine ich zum Beispiel ein unbefristetes Arbeitsverhältnis .
Wer sicher ist, dass sein Job Perspektiven bietet, und sich
eben nicht im Jahresrhythmus nach einer neuen Arbeitsstelle umschauen oder sich in immer neuen Probephasen
beweisen muss, hat weniger Stress .
({8})
Auch deshalb sind neue Regeln bei Leiharbeit und Werkverträgen eine gute Sache .
Herzlichen Dank und Glück auf!
({9})
Das Wort hat die Kollegin Gabriele Schmidt für die
CDU/CSU-Fraktion .
({0})
Frau Präsidentin! Liebes Präsidium! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir reden
heute wieder einmal über Arbeitszeit, Arbeitsschutz, Arbeitnehmerrechte . Es scheint überhaupt die Woche des
unterdrückten, geknechteten Proletariats zu sein:
({0})
gestern die Leiharbeiter und die Menschen mit Behinderung, heute die Vielarbeiter und die Gestressten .
({1})
- Sachlich, gerne . - Wir haben zum Glück die Opposition,
({2})
die sich um kürzere Arbeitszeiten für alle kümmert .
({3})
So, jetzt schalte ich den Ironiemodus einmal aus .
Der vorliegende Antrag ist einseitig und blendet die
Realität der Arbeitswelt aus .
({4})
Arbeit ist keine Einbahnstraße - das versteht die Opposition eben nicht -; Arbeitnehmer und Arbeitgeber haben
naturgemäß unterschiedliche Wünsche und Vorstellungen . Um diese auszuhandeln, gibt es aus gutem Grund die
Tarifpartner . Sie kommen ihrer Aufgabe seit fast 70 Jahren nach, mit dem Ergebnis einer florierenden Wirtschaft,
eines partnerschaftlichen Verhältnisses der Akteure und
weitestgehend zufriedener Arbeitnehmer .
({5})
Die Aufgabe der Politik ist es, Leitplanken zu schaffen, die für beide Seiten passen und den Bedürfnissen der
Arbeitnehmer und Arbeitgeber gerecht werden .
({6})
Beide gehören untrennbar zusammen; aber das scheint
die Opposition gerne zu ignorieren .
({7})
Der Gesetzgeber muss nur dort Schutzgesetze erlassen,
wo Arbeitnehmerrechte verletzt werden . Schutzgesetze
gibt es eine ganze Menge; davon haben wir durch den
Kollegen Lagosky schon gehört .
Eine zwangsweise Umverteilung der Arbeit und die
Forderung nach kürzeren Arbeitszeiten gehen an der
Realität vorbei . Auch ich erinnere an die Debatte vom
28 . April dieses Jahres, bei der wir den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zu mehr Zeitsouveränität
diskutiert haben . Dort wurde zum Beispiel kritisiert, dass
1,35 Milliarden Stunden nicht geleistet werden, weil die
Wünsche der Beschäftigten nach mehr Arbeit nicht berücksichtigt werden . Ja was denn nun? Was stimmt denn
nun? Es gibt Leute, die mehr arbeiten wollen, und es gibt
Menschen, die weniger arbeiten wollen . Wir brauchen
also keine gesetzlichen Vorschriften, wie im Antrag der
Fraktion Die Linke gefordert, sondern größtmögliche
Flexibilität und eine gesunde Balance zwischen Arbeitsgestaltung und Lebensführung der Arbeitnehmer auf der
einen Seite und den Arbeitgeberinteressen auf der anderen Seite .
({8})
Die Opposition unterschlägt - nicht nur heute - die
bereits ergriffenen Maßnahmen,
({9})
die die Arbeitsbedingungen und damit die Lebenssituation von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und die
Vereinbarkeit von Familie, Beruf und Freizeitgestaltung
verbessern . Ich werde deshalb nicht müde, Sie an diese
zu erinnern: an den Ausbau der Kindertagesstätten für die
Versorgung der Kinder während der Arbeitszeiten, an die
Milliarden Euro für Kitas und andere Familieninfrastrukturmaßnahmen, an das Elterngeld Plus, an die Familienpflegezeit. Das sind die richtigen Antworten.
({10})
- Warten Sie einmal, bis Sie ins Krankenhaus kommen,
Herr Ernst . Dann sind Sie froh, wenn am Sonntag einer
arbeitet .
({11})
- Ja, ich mache einfach weiter . Man kann nur warten, bis
es vorbei ist .
({12})
Wir haben die richtigen Antworten auf die Herausforderungen, und wir haben die richtigen Maßnahmen, um
auf individuelle Bedürfnisse der Arbeitnehmer zu reagieren. Wir schaffen den sozialen Ausgleich,
({13})
und der im Koalitionsvertrag vereinbarte Rechtsanspruch
auf Rückkehr aus Teilzeit in die frühere Arbeitszeit wird
folgen .
In Ihrem Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen,
ist die Rede davon, dass insbesondere Frauen „sich oft
unfreiwillig mit einer Teilzeitstelle begnügen“ müssen .
Es scheint einfach nicht in Ihr Weltbild zu passen, dass
sich ganz viele Arbeitnehmer und besonders viele Frauen
freiwillig für Teilzeit entscheiden .
({14})
Sie reden von der Teilzeitfalle . Das wird durch ständiges
Wiederholen nicht richtiger .
({15})
Was ist denn so schlecht daran, wenn sich Frauen und
Männer auf freiwilliger Basis und in Absprache mit den
Arbeitgebern für Teilzeitarbeit entscheiden, um mehr
Zeit für die Familienarbeit zu haben?
In Ihrem Antrag fordern Sie weiter ein definiertes
Recht auf Nichterreichbarkeit außerhalb der Arbeitszeiten . Sehr gut! Laut § 5 des Arbeitszeitgesetzes müssen
Arbeitnehmer nach Beendigung der täglichen Arbeitszeit
eine ununterbrochene Ruhezeit von mindestens elf Stunden haben; das haben wir heute schon gehört . Das ist gut
und richtig . Deswegen braucht es keinen neuen Antrag .
Vielleicht müssen wir uns auch einmal selbstkritisch an
die eigene Nase fassen: Wer von uns packt das Smartphone am Wochenende weg oder checkt am Sonntag
keine EMails? Diese Frage betrifft nicht nur MdBs, sondern auch Arbeitnehmer, vielleicht auch unsere eigenen
Mitarbeiter .
({16})
Der Arbeitnehmer ist nicht verpflichtet, in seiner Freizeit erreichbar zu sein, von ganz wenigen begründeten
Ausnahmen abgesehen . Und es gibt etliche Firmen, die
ihren Angestellten geradezu verbieten, in der Freizeit zu
arbeiten .
Was mir an diesem Antrag zuwiderläuft, ist erneut
diese Gleichmacherei . Man kann nicht alle über einen
Kamm scheren .
({17})
Es gibt nicht die Wirtschaft und die Unternehmen . Vielmehr gibt es einige Millionen Familienbetriebe und
Kleinunternehmen . Der Mittelstand ist das Rückgrat
unserer Wirtschaft und stellt den größten Teil der Arbeitsplätze . Er behandelt seine Arbeitnehmer gut . Jeder
Arbeitgeber hat ein Interesse daran, dass es seinen Arbeitnehmern gut geht . Die zwangsweise Umverteilung
der Arbeit wäre ein Rückschritt .
Über Stress haben wir heute auch schon sehr viel gehört . Stress lässt sich aber nicht verallgemeinern .
({18})
Gabriele Schmidt ({19})
Hier wollen die Linken Ungleiches gleich behandeln .
Stress ist extrem subjektiv . Sie zum Beispiel, Herr Ernst,
scheinen Stress zu haben, wenn ich rede .
({20})
- Ich freue mich, wenn ich Sie erfreuen kann . - Stress
machen wir uns oft auch selbst. Einer empfindet schon
Stress, wenn der Kollege noch locker weiterläuft . Stress
ist übrigens nicht nur durch die Arbeit begründet .
Ich halte eine Anti-Stress-Verordnung für wenig praktikabel . Sie löst das Problem nicht, sorgt aber für mehr
Bürokratie und Belastung der Arbeitgeber . Damit wäre
keinem geholfen . Schon das geltende Arbeitsschutzgesetz enthält Maßnahmen zum Schutz der psychischen
Gesundheit der Mitarbeiter: Arbeitgeber sind verpflichtet, solche Maßnahmen zu treffen; das entspricht § 3 des
Arbeitsschutzgesetzes . Psychische Gesundheitsbeurteilung ist auch geltendes Recht, geregelt in § 5 des Arbeitsschutzgesetzes . Behörden sind in der Lage, gegenüber
Arbeitgebern Anordnungen zu treffen und Bußgelder zu
verhängen; das steht in den §§ 22 und 25 des Arbeitsschutzgesetzes . Außerdem gibt es bereits Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats . - Ich belasse es einmal
dabei .
Das Beste aber habe ich mir für den Schluss aufgehoben - Zitat aus dem Antrag -:
Initiativen für mehr Zeitsouveränität und kollektive
Arbeitszeitverkürzungen
- das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen müssen die Arbeitgeber bei der Finanzierung des
Lohnausfalls in die Pflicht nehmen.
Super, ehrlich! Was kommt als Nächstes? Null Arbeitszeit bei vollem Lohnausgleich?
({21})
Vor Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, müssen Arbeitgeber und Arbeitnehmer geschützt werden . Mit Ihrer
Politik zerstören Sie den Mittelstand, und damit ist niemandem geholfen .
Ich wünsche allen ein stress- und arbeitsfreies Wochenende . Vielen Dank .
({22})
Das Wort hat die Kollegin Helga Kühn-Mengel für die
SPD-Fraktion .
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Die Vorredner und Vorrednerinnen haben natürlich an
vielen Stellen recht - Kollege Ernst, natürlich, an manchen -; Herr Gerdes hat auch schon viel Richtiges gesagt .
Wir wissen aufgrund der guten Daten, wie es den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern geht und dass der
Markt an vielen Stellen in Unordnung geraten ist . Wenn
man eines dieser Koalition nicht vorwerfen kann, dann
das, dass sie nicht viel auf den Weg gebracht hat, was für
mehr Sicherheit sorgt .
({0})
Die Verkürzung der Arbeitszeit alleine macht nicht
gute Arbeit und gutes Leben aus .
({1})
Insofern ist mit dem Antrag ein wenig monokausal gedacht . Gesundheit setzt sich aus vielen Faktoren zusammen: dem Status der Bildung, dem Erholungsverhalten,
den Lebensverhältnissen . Deswegen bleibt Verhältnisprävention eine Aufgabe .
({2})
Hier haben wir von der Bildung bis zum Thema „gute
Arbeit“ eine Menge auf den Weg gebracht; die Kollegen
haben das bereits erwähnt .
Wir müssen uns immer wieder Gedanken darüber machen, warum das untere Fünftel der Einkommensbezieher nicht nur eine kürzere Lebenserwartung hat, sondern
sich bei ihnen auch eine Reihe chronischer Erkrankungen
einstellen, die die Lebensqualität beeinträchtigen . Es sind
verlorene Jahre, über die wir hier reden . Das erwähne ich
immer wieder, weil es wichtig ist, einen Blick auf diese
Gruppe zu werfen . Hier setzt nicht zuletzt das Präventionsgesetz im Setting an . Ich komme nur kurz darauf zu
sprechen . Ich habe nur schlappe fünf Minuten Redezeit;
deswegen kann ich nicht alles kommentieren .
Bezogen auf die Arbeitsdauer erleben wir natürlich
beides, Mehrarbeit, die viele machen, auch unbezahlt,
aber auch Teilzeitarbeit . Es gibt natürlich mehr Schichtarbeit, mehr Nachtarbeit, auch Frauen betreffend, bei denen durch die Rollenvielfalt ein gesundheitsgefährdender
Faktor hinzukommt . Insofern: Wir haben schon viel gemacht; aber es ist auch noch viel zu tun .
Durch den Mindestlohn zum Beispiel, der bei 3,6 Millionen Arbeitnehmern zu einer Verdoppelung ihres Einkommens geführt hat - das war nur der Anfang -, wird
aufgrund der Dokumentationspflichten vieles aufgedeckt.
Auch das sind Daten, mit denen wir zu arbeiten haben .
({3})
Wenn Sie die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen
fragen, was für sie gute Arbeit ausmacht - das ist vom
Bundesamt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin abgefragt worden -, dann steht für sie an oberster Stelle die
Sicherheit: der sichere Arbeitsplatz, das sichere, verlässliche Einkommen . Arbeit soll abwechslungsreich und
sinnvoll sein . Es geht um die gegenseitige Förderung,
das Miteinander, auch um den Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz; darauf komme ich noch zu sprechen . Insofern
Gabriele Schmidt ({4})
ist es wichtig, dass wir uns im Moment zum Beispiel mit
der Leiharbeit und den Werkverträgen beschäftigen .
({5})
Gestern wurde ein Gesetz eingebracht, das den Betriebsräten hier mehr Verantwortung und mehr Mitspracherecht einräumt . All die anderen Gesetze - zur Zeitsouveränität, zur Flexirente - wurden schon erwähnt .
Schade ist, dass wir die Abschaffung der sachgrundlosen Befristung von Arbeitsverhältnissen nicht im Koalitionsvertrag verankern konnten . Das bleibt eine Aufgabe ein ganz wichtiger Punkt -, und es deckt sich mit dem,
was Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer fordern .
({6})
- Ja, das sei Ihnen zugestanden .
Ich will aber auch sagen, dass wir vieles schon haben .
Dazu gehört nicht nur die Gemeinsame Deutsche Arbeitsschutzstrategie von Bund, Ländern und der gesetzlichen
Unfallversicherung, sondern auch das Präventionsgesetz,
mit dem wir die Betriebsräte und die Betriebsärzte gestärkt haben .
Wir müssen uns natürlich mit den Ursachen von Frühverrentung befassen . Erwerbsunfähigkeitsrentner treten
heute im Durchschnitt mit gut 50 Jahren in die Rente ein .
Die Kosten für die Rentenversicherung liegen bei über
15 Milliarden Euro . Das ist eine hohe Summe . Damit
es Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern besser geht,
müssen wir den Betrieb als Setting - so sagt es das Präventionsgesetz - jetzt mit allen Möglichkeiten nutzen . Es
gibt dafür mehr Geld . Diesen Bereich können wir stärken, und damit auch die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer .
Vielen Dank .
({7})
Ich schließe die Aussprache .
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/8724 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall . Dann ist die Überweisung
so beschlossen .
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung .
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 28 . September 2016, 13 Uhr, ein .
Die Sitzung ist geschlossen . Ich wünsche Ihnen ein
schönes Wochenende .