Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz, liebe
Kolleginnen und Kollegen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf:
Befragung der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat als Thema der heutigen Kabinettssitzung mitgeteilt: Fortschrittsbericht 2013 zum
Fachkräftekonzept der Bundesregierung.
Das Wort für den einleitenden fünfminütigen Bericht
hat die Bundesministerin für Arbeit und Soziales, Frau
Andrea Nahles. Bitte.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das Kabinett hat heute den Fortschrittsbericht 2013 zum
Fachkräftekonzept der Bundesregierung beschlossen.
Der Kampf gegen den Fachkräftemangel ist, das ist sicherlich unstrittig, eines der wichtigsten Zukunftsthemen unseres Landes.
Ich halte fest, dass wir keinen flächendeckenden
Fachkräftemangel haben. Allerdings gibt es Engpässe in
einzelnen Berufszweigen, Tendenz leicht steigend. Im
letzten Fortschrittsbericht wurden 15 Berufe benannt, in
denen es Engpässe gab. Diese Zahl hat sich auf 20 erhöht.
Ich will einige Beispiele nennen: Ärzte, Ingenieure,
Informatiker, aber eben auch Lokführerinnen und Lokführer, Pflegekräfte, Energietechniker. An diesem Spektrum kann man sehr schön erkennen, worum es geht: Es
gibt auf allen Qualifikationsniveaus Engpässe; es fehlen
sowohl Facharbeiter als auch Akademiker.
Schon in der letzten Großen Koalition haben wir uns
deswegen drei große Bereiche vorgenommen, auf die
sich unsere Maßnahmen konzentrieren: die Erwerbsbeteiligung von Älteren, die bessere Nutzung des Potenzials von Frauen und die Verbesserung der Bildung und
Qualifizierung sowohl der Jungen als auch derer, die
schon im Job sind. Der Fortschrittsbericht, den wir heute
besprechen, zeigt, dass wir hier deutliche Fortschritte erzielt haben; es sind also erfolgreiche Entwicklungen zu
vermelden.
Ich nenne das Stichwort „junge Menschen“: Wir haben den Anteil der jungen Erwachsenen ohne Berufsabschluss von 17,8 Prozent im Jahr 2005 auf 14,5 Prozent
im Jahr 2012 senken können. Das ist zwar sehr gut, aber
es kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass immer noch
1,4 Millionen junge Menschen ohne Abschluss sind. Das
ist entschieden zu viel, und deswegen müssen wir auch
weiterhin alle unsere Kräfte bündeln, um dafür zu sorgen, dass 25- bis 34-Jährige ohne Berufsabschluss nachqualifiziert werden, um eine Ausbildung zu vollenden.
Wichtig ist in diesem Zusammenhang unser Programm „Schulverweigerung - Die 2. Chance“. Für
100 000 jüngere Arbeitslose ohne Berufsabschluss stehen dadurch Ausbildungsplätze zur Verfügung. Circa ein
Drittel davon wurde bisher in Anspruch genommen. Wir
werden dieses Programm weiter bewerben, es nutzen
und im Zweifel da, wo es notwendig ist, auch optimieren. Ich möchte hinzufügen: Um zukünftig zu verhindern, dass junge Leute ohne Abschluss ins Erwerbsleben
treten, sollten wir meiner Auffassung nach immer häufiger bereits in der Schule ansetzen und die vorhandenen
Hilfeleistungen besser verzahnen.
Ich war in der letzten Woche in Hamburg und habe
mir dort die Jugendberufsagentur angeguckt. Dort werden die Schnittstellen von Schule und Beruf sehr schön
zusammengeführt, und es wird Hilfe aus einer Hand angeboten. Das finde ich sehr vorbildlich. Das Hamburger
Modell werden wir vielleicht nicht eins zu eins überall in
Deutschland umsetzen können, aber wir können die
Schnittstellenproblematik überall angehen. Deswegen
will ich diese Grundidee deutschlandweit verankern.
Stichwort „Frauen“: Hier können wir eine sehr gute
Entwicklung vermelden. Für das Jahr 2020 haben wir
uns eine Erwerbstätigenquote von Frauen von 73 Prozent vorgenommen. Wir haben im dritten Quartal 2013
bereits eine Quote von 72,7 Prozent erreicht. Aber: Der
Anteil der Frauen, die in Teilzeit arbeiten, ist mit fast der
Hälfte zu hoch. Die Frauen selber sagen, sie würden gern
mehr Stunden arbeiten wollen, als sie derzeit können.
Offensichtlich brauchen wir für die höhere Erwerbsbeteiligung von Frauen, in Stunden gerechnet, mehr Hilfsangebote. Wir sind überzeugt, dass ein weiterer Ausbau
von Ganztagsangeboten für die Kinderbetreuung ein
wichtiger Weg ist. Dazu werden den Ländern gemäß Koalitionsvertrag zusätzliche Mittel zur Verfügung gestellt,
damit sie weiter investieren können. Viele Frauen wollen
zeitweise in Teilzeit arbeiten, aber sie beklagen, dass die
Rückkehr zur Vollzeit in Deutschland ein Problem ist.
Deswegen haben wir uns vorgenommen, eine gesetzlich
befristete Teilzeit vorzusehen und das Recht auf die
Rückkehr zur Vollzeit einzuführen. Das werden wir anpacken, sobald andere Gesetzesvorhaben abgeschlossen
sind.
Dritter und letzter Schwerpunkt, den ich benennen
will, ist die Beschäftigungsquote Älterer. Auch hier gibt
es eine sehr erfreuliche Entwicklung. Das hat sicherlich
damit zu tun, dass wir keine Möglichkeiten der Frühverrentung wie die 58er-Regelung mehr haben, dass die geförderte Altersteilzeit ausläuft. Wir haben also umgesteuert. Über diesen Weg ist es gelungen, dass wir bei
den über 55 Jahre alten Menschen die Erwerbsquote von
37,4 Prozent im Jahr 2000 auf 64 Prozent steigern konnten. In der Altersgruppe der 55- bis 59-Jährigen ist eine
enorm gute Quote erreicht: Drei Viertel der Menschen
sind in Beschäftigung. Wir streben mindestens 90 Prozent an. Aber das ist schon eine sehr gute Entwicklung.
Anders sieht es bei den 60- bis 64-Jährigen aus. Hier
fällt die Quote deutlich ab. Aus dieser Altersgruppe arbeitet nur jeder Zweite. Es ist an dieser Stelle wichtig, zu
sagen, dass wir noch einiges tun können - ich bin mir
hier einig mit den Wirtschaftsverbänden -: Über Alterszeitmodelle, über altersgerechte Arbeitsplätze, über Gesundheitsmanagement und anderes können wir anstreben, auch die über 60-Jährigen fit im Job zu halten.
Dieses Ziel unterstützen wir vonseiten der BA mit Programmen wie WeGebAU und anderen.
Wir haben also einiges erreicht. Im Übrigen hat uns
der positive Zuwanderungssaldo geholfen. Die Bundesregierung hätte heute mehr Berufe als Engpassberufe
ausweisen müssen, wenn es uns nicht gelungen wäre
- wir haben immer gesagt, wie wichtig das ist -, einen
positiven Zuwanderungssaldo zu erreichen. Den brauchen
wir auch für die Zukunft. Ich füge hinzu: Zuwanderung
alleine kann die Fachkräftesicherung nicht gewährleisten.
Wir müssen auch auf das eigene Erwerbspersonenpotenzial setzen und Ältere, Frauen und vor allem die jungen
Menschen ansprechen.
In diesem Sinne hoffe ich, beim nächsten Fortschrittsbericht weitere Fortschritte vermelden zu können.
Vielen Dank.
Danke, Frau Ministerin. - Liebe Kolleginnen und
Kollegen, ich bitte, zunächst Fragen zu dem Themenbereich zu stellen, über den soeben berichtet wurde. Zur
ersten Frage hat die Kollegin Schimke das Wort.
Sehr geehrte Frau Ministerin, das Fachkräftekonzept
der Bundesregierung spricht für die gute Zusammenarbeit zwischen der Bundesregierung und der deutschen
Wirtschaft bei der Sicherung unseres Fachkräftebedarfs.
Wie schätzen Sie die Aktivitäten, insbesondere der Wirtschaft, ein, ältere Arbeitnehmer und Frauen in Erwerbstätigkeit zu bringen?
Danke, dass Sie fragen. Im Ticker wurde ein Satz aus
dem Berichtszusammenhang gerissen. Natürlich kann
man immer noch mehr machen. Aber ich muss ganz ehrlich sagen: Es passiert hier sehr viel. Das hat auch damit
zu tun, dass über die Hälfte der Mittelständler schon jetzt
Umsatzeinbußen haben, weil sie nicht über genügend
Fachkräfte verfügen. Gerade der Mittelstand arbeitet
sehr intensiv auf der Baustelle „Aus- und Weiterbildung“. Da ist er, ehrlich gesagt, besser als andere Teile
der Wirtschaft. Das ist sehr gut.
Allerdings sehe ich noch an anderer Stelle Potenzial:
Nur ein Drittel der Unternehmen macht Angebote zur
besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf. In Großbetrieben ist das schon häufiger ein Thema als im Mittelstand. Das ist ja auch typisch und normal, weil die Mittelständler oft nicht über die nötigen Strukturen
verfügen; sie haben keine eigene Personalabteilung und
anderes. Diese Unternehmen müssen da durch die Kammern, durch den Deutschen Industrie- und Handelskammertag und die Handwerkskammern vor Ort unterstützt
werden.
Ich kann aber wirklich von einem klaren Bewusstseinswandel sprechen. Hier wird heute sehr viel mehr
gemacht. Wir als BMAS haben gute Kooperationspartner. Wir koordinieren die Fachkräfteinitiative der Bundesregierung, und wir haben in den letzten Jahren überall offene Ohren und offene Türen angetroffen. Ich kann
also nur sagen: Weiter so! Denn diejenigen, die das jetzt
angehen, sind schlau. Ich kann sie nur beglückwünschen, weil sie für die Zukunft ihres eigenen Unternehmens genau das Richtige tun.
Bevor wir jetzt fortfahren, gestatten Sie mir den Hinweis, dass sich die Fragen und Antworten in der Befragung der Bundesregierung auf jeweils eine Minute beschränken sollen. Das wird durch ein optisches Zeichen
unterstützt. Das heißt, wenn die Farbe Rot aufleuchtet,
ist die Minute definitiv zu Ende. Da ich hier eine große
Anzahl an Wortmeldungen habe, bitte ich, die Zeit aus
Rücksicht auf die Kolleginnen und Kollegen einzuhalten, sodass wir hier möglichst alle zu Wort kommen lassen können.
Die nächste Frage stellt die Kollegin Pothmer.
Frau Ministerin, Sie haben darauf hingewiesen, dass
sich der Beschäftigungsanteil Älterer am Arbeitsmarkt
deutlich erhöht hat. Jetzt müssen wir aber zur Kenntnis
nehmen, dass Ihre Pläne in Sachen Rente dieser positiven Entwicklung eindeutig entgegenwirken. Ich will Ihnen nur ein Beispiel nennen: Der Hauptgeschäftsführer
des Verbands der Metallindustriellen Niedersachsens
gibt zu bedenken, dass Ihre Rentenpläne allein in seinem
Bereich, in Niedersachsen, dazu führen würden, dass
mindestens 6 000 Arbeitskräfte fehlen. Er selber nennt
das - wie ich finde, zu Recht - eine „Katastrophe“, und
zwar auch deswegen, weil in der Elektro- und Metallindustrie in Niedersachsen derzeitig schon 18 000 Arbeitsplätze unbesetzt sind. Er braucht diese Leute also in
jeder Hinsicht dringend. Sehen Sie nicht das Problem,
dass Sie mit der Rentenpolitik, die Sie angekündigt haben, Ihrem eigenen Ziel, den Anteil Älterer am Arbeitsmarkt zu erhöhen, entgegenwirken?
Nein, das sehe ich nicht. Sollte es aber die Gefahr geben - das habe ich schon mehrfach öffentlich gesagt -,
dass es im Einzelfall ausgenutzt wird, bin ich bereit, im
Laufe der parlamentarischen Beratungen wirksame Gegenmaßnahmen zu verankern. Das wird sehr bald möglich sein: Der Bundesrat befasst sich jetzt mit dem Rentenpaket, danach kommt es hier ins Parlament; dann
können wir uns gerne intensiver darüber austauschen.
Generell möchte ich Ihnen aber klar sagen, dass es
sehr viel Mühe gekostet hat, ein Umdenken zu erwirken
in der Richtung, dass Ältere nicht zum alten Eisen gezählt werden. Wenn wir heute hören, dass 50 Prozent der
über 60-Jährigen in Arbeit sind, dann erkennen wir, dass
noch deutlich Luft nach oben ist. Da würde ich mich natürlich sehr freuen, wenn sich auch der Verband der Metallindustrie Niedersachsens weiter für altersgerechte
Arbeitsplätze einsetzen würde, sodass die Quote gesteigert werden kann.
Insbesondere ist es so, dass die Erwerbsbeteiligung
bei den 62- und 63-Jährigen schon jetzt deutlich nach
unten geht. Das bedeutet: Die Verantwortung jetzt auf
ein Gesetz zu schieben, das die zu erwartende Entwicklung berücksichtigt, dass die Erwerbsbeteiligung
der 63- bis 65-Jährigen langsam aufwächst, es also zu einer Steigerung der Erwerbsbeteiligung von Älteren
kommt, das ist für mich ein Delegieren von Verantwortung. Das halte ich nicht für angemessen, und deswegen
weise ich diesen Vorwurf zurück.
Das Wort hat die Kollegin Krellmann.
Vielen Dank. - Frau Ministerin, Sie haben richtigerweise festgestellt, dass man nicht in allen Bereichen von
Fachkräftemangel sprechen kann. Ich sage aber: Die Bereiche der Altenpflege und der Gastronomie gehören
ausdrücklich dazu. Das sind in der Regel auch die Bereiche, in denen es die niedrigsten Löhne gibt. Das Thema
Mindestlohn ist eine Sache. Die Frage ist aber: Was wollen Sie tun, um die Arbeitsbedingungen einschließlich
der Löhne so zu stabilisieren, dass es interessant ist, in
diesen Bereichen zu arbeiten?
Das Gleiche gilt im Grunde auch für die Pflegeberufe.
Denn im Bereich der sozialen Dienstleistungen gibt es so
etwas wie eine chronische Unterfinanzierung. Die Gewerkschaft Verdi fordert einen einheitlichen Pflegemindestlohn von mindestens 12,50 Euro für die dort Beschäftigten. Auf diese Weise soll es attraktiv werden, in
dieser Branche zu arbeiten und nicht darauf zu verzichten, weil man dort nicht genügend verdienen kann.
Wie Sie wissen, sind wir auf dem Weg, einen gesetzlichen flächendeckenden Mindestlohn zu verankern. Das
wird sicherlich insbesondere dazu beitragen, dass Berufe
in der Gastronomie attraktiver werden.
Auch im Bereich der Pflege hat es in der Vergangenheit schon Bemühungen gegeben. Es gibt bereits eine
entsprechende Mindestlinie in der Vergütung. Ich gebe
aber gerne zu, dass der Wettbewerb die Arbeitsbedingungen in der Pflege für viele verschlechtert hat. Ich
sehe einen weiteren Ansatzpunkt. Wir wollen wenigstens erreichen, dass die Auszubildenden nicht selbst für
ihre Ausbildung zahlen müssen. Diese noch immer bestehende Hürde zu beseitigen, ist neben der Einführung
des Mindestlohns eines unserer Ziele. Dies kann ich
nicht alleine anschieben. Das ist ein Punkt, der dringend
reformiert werden muss. Wenn wir einen Pflegenotstand
haben, muss der Zugang zum Pflegeberuf möglichst
ohne Hürden sein. Das ist ein Punkt, bei dem wir ansetzen wollen.
Kollegin Wolff, Sie haben das Wort.
Sehr geehrte Frau Ministerin, vielen Dank für die
Darstellung der aktuellen Situation. Ich würde von Ihnen
gerne wissen, um welche Engpässe es sich handelt. Wir
haben eben gehört, dass der Bereich der Pflege dazugehört. Gibt es aus Ihrer Sicht weitere Engpässe und vielleicht sogar einen Arbeitskräftemangel in Deutschland?
Meine zweite Frage lautet: Wenn dem so ist, wie gedenken Sie, das Programm zur Fachkräftesicherung inhaltlich auszugestalten?
Es gibt diese Engpässe in den Bereichen, die ich eben
schon genannt habe. Das Auffällige ist: Es gibt sie auf
allen Qualifikationsniveaus. Es gibt aber vor allem eine
Tendenz: Wenn wir zum Beispiel bei den Pflegekräften
einen Engpass haben, dann ist dies nicht nur in Mecklenburg-Vorpommern oder in Rheinland-Pfalz, sondern
überall der Fall. Wenn es beim Beruf des Mechatronikers
und im gesamten Bereich des Maschinenbaus einen Engpass gibt, dann gibt es diesen bundesweit. Wir können
das nicht innerhalb Deutschlands ausgleichen.
Wir machen zwei auffällige Beobachtungen:
Erstens. Es gibt diese Engpässe zunehmend. Sie
wachsen von Bericht zu Bericht an - wenn auch leicht.
Sie werden ein bisschen durch die Zuwanderung und die
Erhöhung des Erwerbspersonenpotenzials abgemildert.
Die Tendenz bleibt aber.
Zweitens. Diese Tendenz ist flächendeckend und tritt
nicht nur in einzelnen Bundesländern auf.
Wir können also nicht nur kurzfristige und punktuelle
Maßnahmen ergreifen, sondern müssen das Erwerbspersonenpotenzial langfristig steigern. Wir müssen die, die
nicht qualifiziert sind, nachqualifizieren. Wir müssen bei
der Zuwanderung weiter auf verbesserte Integration setzen. Das ist ein ganzes Maßnahmenbündel. Mit einer
punktuellen Maßnahme können wir dieses Problem nicht
kurzfristig lösen.
({0})
Die nächste Frage stellt der Kollege Oellers.
Vielen Dank. - Frau Ministerin, meine Frage zielt auf
die flexible Beschäftigung ab. Wie wirkt sich nach Ihren
Erkenntnissen die starke Nachfrage nach Fachkräften
auf die Struktur des Arbeitsmarktes, insbesondere auf
die flexible Beschäftigung aus?
Das ist ein interessanter Punkt. Der Fachkräftemangel
wirkt sich tatsächlich - wenn auch zunächst nur leicht;
ich will das noch nicht zu einem großen Trend erklären insoweit positiv aus, als die atypische, die prekäre Beschäftigung zurückgeht.
Ich habe mir die Zahlen angeguckt. Die Zahl der atypischen Arbeitsverhältnisse ist im Zeitraum von 2011 bis
2012 gesunken. Ich prognostiziere, dass sich der Trend
in den Jahren 2013 und 2014 möglicherweise fortsetzt.
Die Gründe für den leichten Rückgang liegen unter
anderem in der gesunkenen geringfügigen Beschäftigung, aber auch in der rückläufigen Befristung von Beschäftigungsverhältnissen. Es ist interessant, dass den
Unternehmen offensichtlich mittlerweile klar ist: Wer
langfristig Beschäftigung sichern will, der muss darauf
setzen, die Arbeitskräfte an sich zu binden.
Es gibt also eine positive Entwicklung, allerdings in
einem geringen Umfang. Ich würde zwar noch nicht von
einem starken Trend sprechen, aber wir haben eine positive Entwicklung beobachten können.
Kollege Lenkert, Sie haben das Wort.
Frau Ministerin, Fachkräftesicherung bedeutet für die
Linke, dass Unternehmen und öffentliche Arbeitgeber
ausbilden und dass man vor allen Dingen nach der Ausbildung die Chance hat, in seinem erlernten Beruf zu arbeiten. So kann die Sicherung des Fachkräftebedarfs
langfristig vorbereitet werden.
Jetzt haben wir in Thüringen und in vielen anderen
Bundesländern das Problem, dass die Lehrkörper an den
Schulen überaltert sind. Die Schule meines Sohnes hat
einen jungen Lehrkörper - mit einem Durchschnittsalter
von 55 Jahren.
({0})
Das zeigt, dass in absehbarer Zeit ein Problem auf uns
zurollt.
Nun ist die Situation so: Die Stellenpläne im öffentlichen Dienst sind ausgeschöpft, aber die Kassen sind leer.
Das Problem ist, dass keine Chance besteht, schon jetzt
Lehrerinnen und Lehrer einzustellen. Meine Frage ist:
Arbeiten Sie an einer Lösung für dieses Problem, damit
wir in fünf oder zehn Jahren nicht mit einem Schlag
ganze Lehrkörper verlieren? Welche Unterstützung kann
die Bundesregierung den entsprechenden Bundesländern
gewähren, um eine solche Entwicklung zu verhindern?
Es ist immer wieder unangenehm, gerade wenn junge
Leute hier auf der Tribüne zuhören, darauf hinzuweisen,
dass es schlicht nicht die Aufgabe des Bundes ist, für
ausreichend Lehrer in den Ländern zu sorgen. Trotzdem
nehme ich Ihren Hinweis mit, weil wir beim Thema
Fachkräftesicherung interministeriell zusammenarbeiten.
In Thüringen gibt es einen interessanten Ansatz in
Bezug auf Nachqualifizierung. Es geht darum, passgenaue Lösungen zu finden. Das wiederum ist die Baustelle der Arbeitsministerin. Gerade in Thüringen sind
wir da sehr aktiv.
Ich weise darauf hin, dass wir zusätzliche Mittel für
Bildung und Hochschulbildung in die Länderhaushalte
geben. Die Länder haben sich aber in der Frage, wie sie
diese Mittel einsetzen, jede Einmischung von Bundesseite ausdrücklich verbeten.
({0})
Ich verspreche, dass wir darüber im Einzelfall noch
einmal diskutieren werden. Aber tatsächlich müssten Sie
Ihre Frage an eine andere Ebene adressieren.
Kollege Gehring, Sie haben das Wort.
Vielen Dank für Ihre Ausführungen, gerade auch weil
viele junge Menschen auf der Besuchertribüne sitzen
und die Befragung verfolgen.
Ein ehemaliger SPD-Kulturstaatsminister warnt vor
einem - Zitat - „Akademisierungswahn“. Mitglieder des
Bundestages mit CSU-Parteibuch fordern „Meister statt
Master“, wenn es um den künftigen Bildungsabschluss
geht. Die Konsequenz wäre ja, dass der Zugang zu
Hochschulen massiv verengt bzw. sogar verbaut wird.
Ich wüsste gerne von Ihnen: Finden Sie den Ansatz
richtig, berufliche und akademische Bildung gegeneinander auszuspielen? Oder finden Sie es in einer freiheitlichen Gesellschaft wie der unseren nicht besser, die jungen Leute selber entscheiden zu lassen, ob sie eine
Ausbildung oder ein Studium aufnehmen?
Ich freue mich über jeden, der in Deutschland einen
akademischen Abschluss macht. Wir haben jahrelang
darum gekämpft, dass die Quote steigt. Insoweit ist das
erst einmal eine gute Nachricht. Ich glaube auch nicht,
dass das der Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands schadet. Allerdings will ich auch sagen, dass ich in der dualen Ausbildung, die noch vor zehn Jahren als altmodisch
und überholt dargestellt wurde - es wurde gesagt,
Deutschland sei hinten dran und wir brauchten eine stärkere Akademisierung; das haben wir teilweise auch geschafft -, eine wesentliche Stütze unserer gesamten
Wirtschaft sehe. Ich bin der Auffassung, dass die duale
Ausbildung sogar ein Exportschlager ist. Am Montag in
Brüssel habe ich wieder einmal gemerkt, dass andere
Länder sich das zurzeit bei uns abschauen und sich ein
solches System wünschen.
Insoweit würde ich die beiden Bereiche ungern gegeneinander ausspielen. Wir müssen beides machen: Die
Leute, die das Talent dazu haben und das gerne wollen,
sollen eine akademische Ausbildung machen. Wir sollen
auf der anderen Seite aber auch die duale Ausbildung
wieder stärker in den Blick nehmen. Aus meiner Sicht
müssen wir hierauf in den nächsten Jahren einen
Schwerpunkt legen. Ich glaube, dass die duale Ausbildung zurzeit ein Imageproblem hat. Ich würde gerne helfen, das Image der dualen Ausbildung zum Positiven hin
zu verändern.
({0})
Die Kollegin Mast stellt die nächste Frage.
Frau Ministerin, Sie haben in Ihrem aktuellen Fortschrittsbericht zwei Zielgruppen für die Zukunft benannt: Geringqualifizierte und Mütter mit Migrationshintergrund. Meine Frage ist: Warum haben Sie sich auf
diese Zielgruppen fokussiert, und welche Potenziale sehen Sie darin?
Mütter mit Migrationshintergrund fallen in der Statistik dadurch auf, dass sie eine besonders niedrige Erwerbsbeteiligung haben. Das wird teilweise wie ein Naturgesetz hingenommen. Ich bin deswegen dankbar, dass
das Bundesfamilienministerium vor zwei Jahren die Initiative ergriffen und sich mit Modellprojekten um genau
diese Gruppe gekümmert hat. Die Ergebnisse dieser Modellprojekte, die im Fortschrittsbericht ausgewiesen
wurden, sind sehr ermutigend. Ein Teil dieser Frauen hat
auf diese Ansprache geradezu gewartet. Sie freuen sich.
Die Abbrecherquote ist im Verhältnis zu anderen Projekten sehr gering. Deswegen werden wir mit ESF-Mitteln,
die wir jetzt bekommen, für genau diese Zielgruppe bundesweit Angebote vorhalten. Das ist Ergebnis der positiven Erfahrung mit diesen Modellprojekten.
Zu den Geringqualifizierten kann ich ganz simpel sagen: Sie sind für den Rest ihres Lebens schlichtweg häufiger von Arbeitslosigkeit bedroht. Wer es versäumt, am
Anfang seines Berufslebens eine Ausbildung zu machen,
muss damit rechnen, auf Dauer Kunde der Bundesagentur für Arbeit zu bleiben oder zumindest immer wieder
deren Kunde zu werden. Das muss nicht so sein. Deswegen darf eigentlich kein junger Mensch ohne Ausbildung
in das Erwerbsleben geschickt werden. Das muss bei uns
oberste Priorität haben. Deswegen haben wir auch die
Initiative „Spätstarter“ für 100 000 junge Erwachsene
ohne Berufsabschluss aufgelegt. Wir haben auch andere
Maßnahmen, um das zu verhindern. Früher anzufangen,
schon in den Schulen, ist auch ein Erfolgsrezept. Mein
Eindruck ist, dass das angekommen ist, auch in den Ländern, die auf diesem Gebiet sehr aktiv sind und kooperieren. Spätestens in der achten Klasse werden junge
Leute motiviert, eine Ausbildung zu machen, auch wenn
sie keine guten Noten haben. Am Ende zahlt es sich aus.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe vor, alle
bis jetzt gemeldeten Fragen zum Gegenstand des Berichts der Frau Ministerin zuzulassen. Das setzt aber voraus, dass wir uns an die selbstgegebenen Regeln halten
und die Zeit von einer Minute für jede Frage und jede
Antwort einhalten. Das heißt, ich verlängere die Regierungsbefragung und kürze die danach folgende Fragestunde. Ich bitte Sie aber, auch Rücksicht auf die nachfolgenden fragenden Kolleginnen und Kollegen zu
nehmen.
Die nächste Frage stellt die Kollegin Eckenbach.
Frau Ministerin, vieles wurde heute Morgen schon
gefragt. Wenn es um Fachkräfte geht, geht es immer um
die wichtigen Fragen des demografischen Wandels, des
Zeitmanagements, das heißt um die Frage der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Nun sagt dieser Bericht eine
Menge dazu, was es bereits gibt. Trotzdem würde ich
gerne von Ihnen hören, worauf Sie Ihre Schwerpunkte
hinsichtlich des Zeitmanagements, also der Vereinbarkeit von Familie und Beruf legen. Meiner Ansicht nach
geht es dabei nicht nur um die Erziehung von Kindern,
sondern auch um die Pflege alter Menschen. Das ist ganz
wichtig, um Fachkräfte länger im Betrieb zu halten, aber
auch, um Mütter dazu zu bewegen, früher wieder in den
Beruf einzusteigen.
Vielen Dank. - Es gibt nicht immer die glückliche Situation, dass die Wünsche der Betroffenen mit den Bedürfnissen der Wirtschaft übereinstimmen. In diesem
Fall ist das aber so. Die Arbeitszeitwünsche der Frauen
zeigen, dass sie länger arbeiten wollen. 45 Prozent arbeiten Teilzeit; das ist eine sehr hohe Quote. Sie wollen
nicht unbedingt 38,5 Stunden in der Woche arbeiten,
aber mehr als 18,6 Stunden, welches der Durchschnitt
ist.
Umgekehrt handelt es sich bei diesen Frauen um ein
Potenzial von gut ausgebildeten und qualifizierten Erwerbspersonen, die freiwillig und aus guten Gründen für
eine bestimmte Zeit Teilzeit arbeiten - das finde ich absolut in Ordnung - und dann sagen: Wir wollen jetzt
langsam wieder ein Stück weit zurück. - Wir müssen
Möglichkeiten schaffen, befristet Teilzeit zu arbeiten,
und die Chancen verbessern, nach einigen Jahren auch
wieder voll berufstätig sein zu können. Dafür ist eine gesetzliche Leitplanke notwendig. Die Schaffung dieser
Möglichkeiten haben wir im Koalitionsvertrag verabredet. Das werden wir, sobald es geht, anpacken.
Das ist einer der Punkte, wo es eine Deckungsgleichheit gibt: Wettbewerbsfähigkeit steigern und Arbeitszeitwünsche der betroffenen Frauen realisieren. Das kommt
hier sehr gut zusammen.
Die nächste Frage stellt die Kollegin Tack.
Frau Ministerin, Sie hatten als Potenzial für die künftige Sicherung von Fachkräften Frauen, junge Menschen
und ältere Menschen in den Fokus genommen. Wir meinen aber auch, dass wir noch ein immenses Potenzial an
Fachkräften unter den Menschen mit Behinderungen haben, insbesondere auch den schwerbehinderten Akademikerinnen und Akademikern. Wir sehen, dass es nach
wie vor eine große Anzahl von Betrieben gibt, die zwar
eine Verpflichtung zur Einstellung hätten, sich ihrer Verpflichtung aber zunehmend durch das Freikaufen, durch
die Abgabe entziehen. Ich glaube, wir haben hier ein
Potenzial, das wir nicht vernachlässigen dürfen.
Meine Frage ist: Sehen Sie seitens der Bundesregierung Möglichkeiten, für eine stärkere Beteiligung von
Menschen mit Behinderungen am Arbeitsmarkt zu sorgen, indem auch die Firmen, die ihrer Verpflichtung im
Moment nicht nachkommen, eingebunden werden?
Zunächst, Frau Tack, weist der Bericht klar aus: Das
Qualifikationsniveau der Menschen mit Behinderungen
ist überdurchschnittlich hoch und wird unterdurchschnittlich genutzt. Der Befund ist eindeutig. Ich finde
das sehr bedauerlich. Wir werden in dieser Legislaturperiode im Zusammenhang mit dem Teilhabegesetz noch
intensiv über Inklusion reden. Für mich gehört dieser
Punkt der stärkeren Erwerbsbeteiligung von behinderten
Menschen sowohl zum Thema Fachkräftepotenzial - das
Potenzial wird hier nicht ausgeschöpft - als auch zum
Thema Inklusion und Teilhabe. Deswegen werden wir
uns dem widmen.
Ich will heute keine Ankündigungen machen, was im
Einzelnen erfolgen wird, aber ich kann Ihnen versprechen, dass wir das anpacken werden. Auch mir ist beim
Lesen des Berichtes aufgefallen, dass es hier offensichtlich immer noch zu große Hemmnisse gibt und zu große
Zurückhaltung besteht. Das darf in einem Land wie
Deutschland nicht so sein.
Das Wort hat der Kollege Markus Kurth.
Frau Ministerin, Sie haben davon gesprochen, dass
Sie bei der Rente mit 63, wenn sie als Möglichkeit zur
Frühverrentung ausgenutzt würde, nachsteuern würden.
Darum geht es aber gar nicht. Die Rente mit 63 ist ja
schon an sich ein Frühverrentungsprogramm. Die Arbeitgeber in der Metallbranche haben gar nicht vor, die
Personen mit 61 zu entlassen und sie bis zum 63. Lebensjahr arbeitslos sein zu lassen, sondern sie fürchten,
dass sehr viele die Rente mit 63 in Anspruch nehmen
werden.
Auf meine Frage zu diesem Thema hat die Bundesregierung geantwortet, dass von den 200 000 Personen, die
im Einführungsjahr von der neuen Reglung profitieren,
rund 50 000 ohne die Neuregelung nicht mit 63 in Rente
gehen würden. Das heißt, Sie entziehen dem Arbeitsmarkt bis zu 50 000 Fachkräfte. Glauben Sie nicht, dass
damit die Anstrengungen, die die Unternehmen jetzt unternommen haben, um Bedingungen für ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu schaffen, konterkariert werden, weil diese Unternehmen nicht mehr davon
ausgehen können, dass sie dann auch davon profitieren,
dass sie die Arbeitsbedingungen für Ältere verbessern?
Nein, das sehe ich nicht so. Wir führen die Debatte
dann in den nächsten Wochen weiter.
({0})
Die nächste Frage stellt der Kollege Paschke.
Frau Ministerin, Sie haben vorhin das Hamburger
Modell und in dem Zusammenhang die Schnittstellenproblematik, die da gelöst wird, angesprochen. Ich
glaube, ein wesentlicher Bestandteil des Hamburger Modells ist auch der Perspektivwechsel, der stattgefunden
hat, dass nämlich die Bedürfnisse der Jugendlichen im
Mittelpunkt stehen und mit einer hohen positiven Motivation nach Lösungen gesucht wird und weniger mit einer negativen, wie wir es ansonsten im Bereich des
SGB II kennen. Halten Sie das Hamburger Modell insMarkus Paschke
besondere auch hinsichtlich dieser positiven Motivationsvorlage für übertragbar?
In meiner Tätigkeit als Abgeordnete habe ich nicht
selten mitbekommen, dass junge Leute, die es nicht geschafft haben, eine Ausbildung zu beenden, fünf, sechs
Betreuer hatten: Drogenberater, Jugendamt, berufsbegleitende Hilfen, alles Mögliche; von der Jugendgerichtshilfe will ich gar nicht erst anfangen. Das ist dann
aber nebeneinander gelaufen, und es ist oft nicht verzahnt worden. Und nicht nur das: Auf dem Weg von einer Behörde zur anderen, bei der man Hilfe bekommt,
verschwand der eine oder andere Jugendliche auch
schon mal vom Radar, weil er zum Beispiel den Aufwand gescheut hat.
Was jetzt in Hamburg und auch an anderen Orten gemacht wird, ist: Es wird sichergestellt, dass die Beratung
aus einer Hand und an einem Ort erfolgt. Die jungen
Leute merken gar nicht, ob sie auf einmal in der Zuständigkeit der Kommune gelandet sind, wenn sie beispielsweise von der Bundesagentur zum Jugendamt hinübergehen; sie gehen nur von einem Büro ins andere. Das ist
eine optimale Situation. Im ländlichen Raum ist das in
der Form, wie es rein räumlich gelöst wurde, so vielleicht nicht umsetzbar. Trotzdem ist das für alle Regionen in Deutschland der richtige Ansatz. Positiv ist dieses
Vorgehen, weil man mit der Betreuung bereits in der
Schule beginnt und die jungen Leute auf dem Weg in
eine Ausbildung dann nicht mehr verliert. Der große
Vorteil ist, dass die jungen Leute eine positive Ansprache bekommen und dann begleitet werden, bis sie ihre
Ausbildung abgeschlossen haben. Ich habe mir das selber vor Ort angeguckt. Ich empfehle diesen Ansatz und
werde ihn als Botschafterin in dieser Sache weiter vorantreiben.
Die Kollegin Kolbe fragt nun.
Sehr geehrte Frau Ministerin, vielen Dank, dass Sie
sich für dieses wichtige Thema so viel Zeit nehmen. Meine Wahrnehmung ist, dass wir es, wenn es um das
Thema Fachkräftesicherung geht, zunehmend auch mit
einer Konkurrenz unter den Regionen zu tun haben. Dabei gibt es insbesondere eine Konkurrenz um qualifizierte Zuwanderer. Viele ostdeutsche Unternehmer, gerade aus dem Handwerk, beklagen mir gegenüber, dass
sie schon jetzt kaum mehr ausreichend Fachkräfte finden. Aus meiner Sicht geht es deswegen auch um den Sicherungspfad der Lohnpolitik und der Tarifpolitik, zum
Beispiel um Demografietarifverträge. Die Bundesregierung plant ja die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes. Mich würde Ihre Einschätzung interessieren,
inwiefern dieser positive Auswirkungen auf die Tarifbindung haben kann, auch und gerade in Ostdeutschland.
Ich glaube, wir sind hier an einem Wendepunkt. Es ist
über viele Jahrzehnte die Philosophie verfolgt worden:
Es ist richtig, dass die Löhne in Ostdeutschland niedriger
sind; denn auch die Lebenshaltungskosten sind dort
niedriger. - Man muss sehen, dass dies mittlerweile zu
einer wirklichen Abwanderung geführt hat, innerhalb
Deutschlands, aber auch nach Österreich und in die
Schweiz. Was die Schweiz betrifft, wissen wir ja nicht,
wie lange das noch geht.
({0})
Aber die Abwanderung nach Österreich ist sehr klar zu
erkennen.
Vor diesem Hintergrund kann ich nur sagen: Man
muss überlegen, ob man hier nicht einen Strategiewechsel braucht. Der Mindestlohn kann dazu einen Beitrag
leisten. Das kann man natürlich nicht von heute auf morgen machen. Man kann nicht einfach per Verordnung sagen: Jetzt gehen wir einen anderen Weg, nämlich den der
moderaten Anhebung der Löhne. - Das würde dann
möglicherweise zu einer Steigerung der Lebenshaltungskosten in vielen Bereichen führen. Das wird man Stufe
für Stufe machen. Aber der Mindestlohn hilft mit Sicherheit dabei, es attraktiver zu machen, seine Perspektive
auch in Ostdeutschland vor Ort zu suchen; da bin ich mir
sicher.
Die nächste Frage stellt die Kollegin Pothmer.
Frau Ministerin, der Fortschrittsbericht weist ja aus,
was wir schon längst wussten, nämlich dass der Anteil
von Frauen an der Zahl der Erwerbstätigen deutlich angestiegen ist. Gleichzeitig müssen wir aber zur Kenntnis
nehmen, dass das Erwerbsvolumen, das Frauen für sich
in Anspruch nehmen, bei weitem nicht genauso stark angestiegen ist. Das führt dazu, dass sich immer mehr
Frauen das mehr oder weniger gleiche Erwerbsvolumen
teilen. Die durchschnittliche Dauer der Erwerbstätigkeit
von Frauen beläuft sich auf 18,6 Stunden pro Woche.
Deutschland liegt damit nur kurz vor Portugal. Ich behaupte: Das ist kein Zufall, sondern wir haben in
Deutschland Anreizsysteme, die verhindern, dass Frauen
über dieses Stundendeputat deutlich hinauskommen. Ich
spreche damit insbesondere die Kopplung von Ehegattensplitting und Minijobs an.
Hinzu kommt noch das Betreuungsgeld, das auch
nicht gerade dafür Sorge trägt, dass Frauen auf den Erwerbsarbeitsmarkt drängen. Die OECD hat das ja in der
Vergangenheit immer wieder kritisiert und hat Deutschland aufgefordert, genau diese Anreizsysteme zu korrigieren.
Ich frage Sie als zuständige Ministerin: Was haben
wir da von Ihnen zu erwarten, um die Erwerbsbeteiligung von Frauen zu erleichtern?
Einer der Hauptgründe ist sicherlich immer noch eine
mangelhafte Betreuungssituation. Hier in Berlin kann
man sich das kaum noch vorstellen. Kommen Sie einmal
zu mir in die Eifel: Die Kita, die meine Tochter besucht,
macht um halb zwei zu. Da ist es, wenn man pendelt
- was für meine Region ebenfalls typisch ist -, fast nicht
möglich, erwerbstätig zu sein. Selbst ein Halbtagsjob
wird da schwierig. Das heißt, aus meiner Sicht ist das
immer noch ein Kernproblem, bei dem wir noch nicht in
der notwendigen Weise vorangekommen sind. Deswegen ist es wichtig, dass wir zusätzliche Mittel für den
Ausbau von Ganztagsangeboten und Kitas in das 6-Milliarden-Paket, das an die Länder geht, integriert haben.
Der zweite Punkt ist aus meiner Sicht ganz klar die
Teilzeitfalle als solche. Da sind auch die Unternehmer
immer noch nicht an dem Punkt, an dem ich sie gerne
hätte. Da muss ein Umdenken stattfinden. Sicherlich
werden auch zu viele Frauen auf Minijobs verwiesen.
Das ist aber ein Problem, bei dem wir uns auch in der
Koalition nicht einig geworden sind, was wir konkret dagegen unternehmen. Bei den anderen Punkten allerdings
haben wir eine Grundlage. Da werde ich auch Entsprechendes in die Wege leiten.
({0})
Kurz und knapp.
Dann frage ich noch einmal nach, Frau Ministerin.
Ich habe ja ausdrücklich auf das Anreizsystem Ehegattensplitting in Kombination mit Minijobs abgehoben,
also das, was die OECD massiv kritisiert. Teilen Sie
diese Kritik, und werden Sie dem, was dem zugrunde
liegt, entgegenwirken?
Ich teile die Ansicht, dass es, insbesondere in
Deutschland, eine ungünstige Konstellation von verschiedenen Faktoren gibt. Ich teile aber nicht unbedingt
die Priorisierung dieser beiden Punkte. Ich hab Ihnen ja
eben klar gesagt, dass ich immer noch die Betreuungsfrage für den entscheidenden Punkt halte.
Zu den anderen Punkten - Sie haben mich ja danach
gefragt, was ich unternehmen werde -, nämlich bei der
Rückkehr von Teilzeit in Vollzeit und auch beim Ausbau
von Betreuung, haben wir im Koalitionsvertrag konkrete
Verabredungen, die die Situation für Frauen am deutschen Arbeitsmarkt verbessern. Bei dem Punkt Ehegattensplitting in Verbindung mit Minijobs haben wir solche Verabredungen nicht. Deswegen wird es in dieser
Legislaturperiode schwierig sein, diesen Punkt anzupacken.
Die nächste Frage stellt der Kollege Dr. Rosemann.
Frau Ministerin, Sie haben ja mehrfach die Bedeutung
der Zuwanderung für die Fachkräftesicherung in
Deutschland angesprochen. Ich würde daher zum einen
gerne wissen, wie Sie im Rückblick die Zunahme der
Zuwanderung in den letzten Jahren im Hinblick auf die
Fachkräftesicherung bewerten, und vor allem, aus welchen Ländern die qualifizierten Fachkräfte zu uns gekommen sind, und zum anderen, wie Sie im Blick nach
vorne die Bedeutung von Zuwanderung und auch das
vorhandene Potenzial durch bereits in Deutschland lebende Migranten im Hinblick darauf einschätzen, dass
es laut einer Studie des IAB eine Fachkräftelücke vor allem im Bereich der Lehrberufe geben wird?
Deutschland konnte im Jahr 2012 den höchsten Wanderungsüberschuss seit 1995 verzeichnen. Das ist gut.
Das entspannt die Lage beim Thema Fachkräfte. Das ist
erst einmal der Befund. Ich kann - auch schon zu Beginn
dieses Jahres - erkennen: Dieser Trend hält weiter an.
Ich will hinzufügen, welches die Länder sind, aus denen vor allem die Zuwanderer in 2012 - die Daten liegen
uns jetzt vor - kamen. Die Hälfte des Wanderungssaldos
von 369 000 entfällt auf die acht in 2004 der EU beigetretenen Staaten, insbesondere Polen und Ungarn, sowie
die in 2007 beigetretenen Staaten Bulgarien und Rumänien. Ich möchte ausdrücklich sagen: Es handelt sich in
der Mehrzahl um qualifizierte Zuwanderung. Daneben
hat in den letzten Jahren die Zuwanderung aus den von
der Wirtschaftskrise betroffenen Ländern entsprechend
zugenommen, wie zum Beispiel Griechenland, Italien,
Portugal und Spanien.
Ich will hinzufügen, dass wir uns über diese Zuwanderung insgesamt nur freuen können. Wir brauchen sie
auch für die Zukunft. Wir müssen schauen, dass die Integration gelingt und dass allen hier in Deutschland bewusst wird, wie stark wir darauf angewiesen sind. Natürlich muss man auch schauen, dass kein Missbrauch
passiert an einigen Stellen; diese Debatte haben wir ja
auch. Wir brauchen vor allem, damit Zuwanderung insgesamt weiter akzeptiert wird, gute Lösungen. Ich jedenfalls möchte Ihnen sagen: Wenn wir nicht dieses hohe
Niveau an Zuwanderung halten, würde es angesichts unserer demografischen Entwicklung sehr schwierig werden.
Die nächste Nachfrage stellt die Kollegin Krellmann.
Sehr geehrte Frau Ministerin, die Klage vieler Arbeitgeber über den Fachkräftemangel drückt sich nicht automatisch, dem Prinzip „Angebot und Nachfrage“ entsprechend, darin aus, dass man auch bereit wäre, höhere
Löhne zu zahlen. Würden Sie mir recht geben, dass sich
sachgrundlose Befristung, Leiharbeit und Werkverträge
in diesem Zusammenhang als Lohnbremsen herausstellen?
Herr Kurth, ich kenne niemanden in der Metall- und
Elektroindustrie in Niedersachsen, der in der Produktion
ist und dort noch bis 63 arbeitet.
({0})
Also, ich bin wirklich dafür, dass wir nicht alle Themen, die wir für wichtig erklären und wo wir Handlungsbedarf sehen, jetzt - Entschuldigung! - vermuddeln mit dem Thema Fachkräftesicherung. Das wäre
mein Kommentar zu Ihrer Frage.
Die Kollegin Lezius stellt die nächste Frage.
Sehr geehrte Frau Ministerin, ich komme aus einem
kleinen mittelständischen Unternehmen. Sie haben
schon angesprochen, dass diese Unternehmen eben nicht
genügend Ressourcen haben, um sich entsprechend um
die Gewinnung von Fachkräften zu kümmern. Meine
Frage wäre: Welche Hilfestellungen gibt die Bundesregierung diesen Unternehmen, um Fachkräfte zu gewinnen und auch zu sichern, und welche Maßnahmen sind
von Ihrer Seite her geplant?
Ich habe mir einmal aufgeschrieben, was wir alles
machen - das ist eine ganze Menge -: Da gibt es die Initiative Neue Qualität der Arbeit, das Kompetenzzentrum
Fachkräftesicherung, die Qualifizierungsberatung durch
den Arbeitgeber-Service der BA - der in diesem Bereich
übrigens sehr viel mehr macht als noch vor einigen Jahren -, das ESF-Modellprogramm „unternehmensWert:
Mensch“ und das Programm „Erfolgsfaktor Familie“ mit
dem entsprechenden Netzwerkbüro. Was ich hier aufgezählt habe, liegt keinesfalls nur in der Zuständigkeit des
BMAS, sondern geht quer durch alle Ressorts.
Der DIHK hat in Hamburg ein Welcome-Center eröffnet, demnächst wird eines in Berlin folgen. Er geht
aktiv vor und bietet auch Beratung an. Nicht nur vonseiten der Politik, sondern auch von den Unternehmen selber geht ein Impuls aus. Vieles ist da in Bewegung gekommen. Wir haben mittlerweile eine sehr gute,
vielfältige Förderlandschaft.
({0})
- Was ich gerade aufgezählt habe, sind flächendeckende
Angebote. Ich komme selber aus dem ländlichen Raum.
Die letzte Nachfrage zu diesem Bericht stellt der Kollege Gehring.
Vielen Dank. - Frau Ministerin, als ich Sie vorhin
nach dem Verhältnis von beruflicher und akademischer
Bildung gefragt habe, haben Sie im Kern geantwortet,
das Image des dualen Systems müsse verbessert werden.
Das fand ich ein bisschen unterkomplex. Könnten Sie
vielleicht noch einmal sagen, welche konkreten Maßnahmen zur Steigerung der Attraktivität der beruflichen
Bildung Sie vorsehen, aber auch im Bereich des Studiums? Ist heute im Kabinett auch über die Zukunft des
Hochschulpaktes von Bund und Ländern geredet worden? Laut den Zahlen des Statistischen Bundesamtes
sind an den Hochschulen 33 000 Studienanfänger mehr
gestartet als im laufenden Hochschulpakt verabredet.
Das heißt, bundesseitig ist dieser Pakt mit 430 Millionen
Euro unterfinanziert. Das ist etwas, was zwischen Bund
und Ländern austariert werden muss. Die Zukunft, die
Schaffung von Studienplätzen, war das ein Thema, auch
im Rahmen des Beschlusses der Eckwerte für den Haushalt?
Um zunächst zu Ihrer letzten Frage zu kommen: Nein,
das war heute nicht Thema; es wird aber sicherlich Gegenstand der Erörterungen in den nächsten Wochen sein.
Darüber hinaus weiten wir die Veranstaltungen und
Maßnahmen zur Berufsorientierung in den Schulen, die
insbesondere das Ziel hat, noch einmal deutlich zu machen, wo die Chancen und Potenziale einer dualen Ausbildung liegen, sehr stark aus. Wir haben wesentlich flächendeckender als noch vor wenigen Jahren, als das
einzelne Modellprojekte waren - zum Beispiel ESF-Programme -, versucht, diese Berufsorientierungsmaßnahmen über Mittel der BA, aber auch über Mittel, die die
Bildungsministerin vorhält, auszuweiten.
Das ist ein Schlüssel, um in der Phase, in der sich
junge Leute noch nicht festgelegt haben und sich orientieren, deren Interesse zu wecken. An dieser Stelle setzen wir an, um die Attraktivität der dualen Ausbildung
zu stärken und den Weg dahin aufzuzeigen.
Ich werde Ihnen aber gerne noch einmal schriftlich
alle möglichen Maßnahmen, die wir in diesem Bereich
auf den Weg gebracht haben und noch zusätzlich anpacken, zukommen lassen, die dann auch nicht der Ein-Minuten-Grenze zum Opfer fallen müssen, damit ich mir
nicht Unterkomplexheit - das ist ein schöner Begriff ({0})
vorhalten lassen muss, wenn wir uns das nächste Mal
wiedersehen.
So geht die Befragung versöhnlich und mit einer Verabredung zu Ende.
Vizepräsidentin Petra Pau
Mir liegen keine weiteren Wortmeldungen vor - auch
nicht zu anderen Themen der heutigen Kabinettssitzung.
Ich beende die Regierungsbefragung und danke der
Frau Ministerin.
Danke.
({0})
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf:
Fragestunde
Drucksache 18/728
Ein Hinweis sei mir gestattet: Die Fragen 15, 16, 17
und 18 der Kolleginnen und Kollegen Kathrin Vogler,
Birgit Wöllert und Harald Weinberg wurden nachträglich durch die Bundesregierung dem Geschäftsbereich
des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie zugeordnet und werden nach Frage 34 aufgerufen.
Wir beginnen mit dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft. Zur Beantwortung der Fragen steht die Parlamentarische Staatssekretärin Dr. Maria Flachsbarth zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 1 der Kollegin Karin Binder auf:
Bedeutet die gegenseitige Anerkennung von geltenden
Verbraucherschutzstandards, die derzeit Maßstab für den Abbau von nichttarifären Handelshemmnissen bei den TTIP-Verhandlungen sind, dass die US-Unternehmen zum Beispiel ihre
mit Chlor behandelten Hühnchen zukünftig ohne Einschränkung in Europa verkaufen dürfen?
Bitte, Frau Staatssekretärin.
Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. - Frau Kollegin
Binder, ich beantworte Ihre Frage wie folgt: Die pauschale gegenseitige Anerkennung von Verbraucherschutzstandards ist keinesfalls Maßstab für den Abbau
von nichttarifären Handelshemmnissen bei den TTIPVerhandlungen. Vielmehr kommt eine solche Anerkennung nur im Einzelfall und nur nach gründlicher Prüfung
der Gleichwertigkeit der Standards infrage. Hierfür kann
die TTIP durch eine bessere Information über den Inhalt
der jeweiligen Regelungen beider Seiten die Voraussetzung schaffen.
Hinsichtlich der Oberflächenbehandlung von Fleisch
mit desinfizierenden Mitteln hat das BML stets die Position vertreten, dass die Hygienestandards bei der Fleischerzeugung in jedem Produktionsschritt gewahrt
werden müssen. Keinesfalls dürfen chemische Oberflächenbehandlungen dazu dienen, anderweitige Hygienemängel zu kaschieren. Im Übrigen gilt, dass Stoffe nur
dann zugelassen werden, wenn sie in vollem Umfang gesundheitlich und auch unter Umweltschutzgesichtspunkten unbedenklich sind. Daran wird sich auch durch die
TTIP nichts ändern.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Vielen Dank. - Frau Staatssekretärin, wie kann die
Anwendung oder die Nichtanwendung von Chlor zur
Nachbehandlung und Keimabtötung bei Geflügel anerkannt oder harmonisiert werden? Es gibt hier ein Entweder-oder. Wo treffen Sie sich da tatsächlich mit den Verhandlungspartnern der USA?
Bitte, Frau Staatssekretärin.
Frau Kollegin Binder, wir werden uns da überhaupt
nicht treffen. Die Anwendung von Chlor zur Oberflächenbehandlung von Schlachtkörpern ist bei uns nicht
erlaubt, und von daher wird auch der Import von solchen
Produkten nicht erlaubt sein.
Sie haben das Wort zur zweiten Nachfrage.
Vielen Dank. - Ich muss jetzt trotzdem noch einmal
nachfragen: Führt das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung von Standards nicht zwangsläufig zu einer Absenkung des Schutzniveaus und der Verbraucherschutzstandards auf beiden Seiten des Atlantiks? Ich kann mir
ganz schlecht vorstellen, dass sich die bestmöglichen
und höchsten Standards in beiden Fällen tatsächlich
durchsetzen können.
Frau Kollegin, es geht bei diesen Verhandlungen nicht
um die Anerkennung einzelner Standards oder gar einer
pauschalen Genehmigung von Standards oder Verfahrenstechniken. Vielmehr ist ja Gegenstand der Gespräche, zu versuchen, Verfahren zu vereinbaren, wie beide
Seiten besser über die Regelungsvorhaben der anderen
Seite informiert werden können und wie man dann möglicherweise eine gemeinsame Ebene finden kann. Das ist
letztendlich Sinn und Zweck.
Zu einer Nachfrage hat der Kollege Lenkert das Wort.
Frau Staatssekretärin, Sie sagten eben, dass die Standards nicht abgesenkt werden. Ich fragte die Bundesregierung im Herbst letzten Jahres, ob es irgendwelche
Sektoren und Bereiche, unter anderem eben auch im Lebensmittelbereich, gibt, in denen keine Schiedsgerichtsverfahren möglich sind, also Investor-Staat-Schiedsgerichtsverfahren.
Wenn Sie jetzt die europäischen Standards hochhalten
und gleichzeitig in allen Sektoren SchiedsgerichtsverRalph Lenkert
fahren zulassen, dann könnte ja ein amerikanischer Investor wegen Nichtzulassung seiner Behandlungsmethoden, zum Beispiel für Geflügel, auf Schadenersatz
klagen, so wie das Vattenfall bei uns macht. Ich fragen
Sie: Können Sie sicher ausschließen, dass es nicht zu
solchen Klagen kommen wird und über diesen Umweg
die europäischen Standards ausgehebelt werden?
Ich wiederhole: Die Antwort der Bundesregierung auf
eine entsprechende Frage von mir war, dass bei den
Schiedsgerichtsverfahren kein Sektor ausgenommen ist.
Vielen Dank.
Herr Kollege Lenkert, dazu, zu welchen Klagen es in
der Zukunft von wem auch immer kommen möge, kann
ich mich jetzt selbstverständlich nicht äußern, weil ich
genauso wenig wie Sie in die Zukunft sehen kann. Was
ich sagen kann, ist, dass die Verhandlungen längst noch
nicht zu einem Abschluss gekommen sind und wir auch
über besonders sensible Produkte verhandeln. Diese besonders sensiblen Produkte umfassen unter anderem Lebensmittel und Produkte aus dem Agrarbereich. Was ich
Ihnen noch versichern kann, ist, dass unsere Standards
nicht abgesenkt werden.
Wir kommen damit zur Frage 2 der Kollegin Binder:
Welche Unterschiede zwischen der EU und den USA bestehen nach Kenntnis der Bundesregierung bezüglich des Vorsorgeprinzips bei Verbraucherschutz- und Umweltstandards,
der Kennzeichnung und der Zulassung von Produkten, Lebensmitteln und Chemikalien?
Sie haben das Wort, Frau Staatssekretärin.
Die Unterschiede zwischen den Regelungen der EU
und der USA in den Bereichen Verbraucherschutz- und
Umweltstandards hinsichtlich der Kennzeichnung und
Zulassung von Produkten, Lebensmitteln und Chemikalien sind vielfältig und lassen sich deshalb nicht in einer
kurzen Antwort zusammenfassen. Darüber hinaus sind
beim Vergleich der Regelungen auch noch das regulatorische Umfeld, die Umsetzung und die praktischen Auswirkungen zu berücksichtigen. Dadurch verbietet sich
eine pauschale Gegenüberstellung. Ein sinnvoller Vergleich kann daher nur im Einzelfall und unter Berücksichtigung aller Umstände erfolgen.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Es geht mir in diesem Fall tatsächlich um die Frage
des Vorsorgeprinzips. Müssen wir damit rechnen, dass
künftig das Vorsorgeprinzip außer Kraft gesetzt wird,
das für uns im gesamten Verbraucherschutz und in der
Produktsicherheit eine wesentliche Rolle spielt?
Frau Kollegin Binder, aus Sicht der Bundesregierung
müssen wir selbstverständlich nicht darauf verzichten.
Wir können es auch geradezu nicht, weil ja das Vorsorgeprinzip die gesetzlichen Regeln auf nationaler, aber
auch auf EU-Ebene durchzieht und eben der starke Unterbau ist, auf dem unsere gesetzlichen Regulierungen
stehen. Diesen werden wir nicht aufgeben.
Sie haben die Möglichkeit zu einer zweiten Nachfrage.
Diese nutze ich gern. - Mir geht es zum Beispiel um
neuartige Lebensmittel. Wird es künftig erforderlich
sein, dass die nationale oder auch die europäische Zulassungsbehörde wissenschaftlich nachweist, dass die Produkte schädlich sind, um die Nichtzulassung zu begründen, oder reicht auch künftig ein Verdacht bzw.
gesundheitliche Bedenken aus, um ein neues Produkt abzulehnen?
Frau Kollegin Binder, es ist schon heute so, dass die
EFSA als europäische Kontrollbehörde umfangreiche
wissenschaftliche Untersuchungen vor der Neuzulassung von neuartigen Lebensmitteln, unter anderem auch
im Bereich der gentechnisch veränderten Futter- oder
Lebensmittel, durchführen muss.
Dann kommen wir zur Frage 3 der Kollegin
Dr. Kirsten Tackmann:
Wenn die Bundesregierung die EU-Lebensmittelstandards
insbesondere hinsichtlich des Prinzips des vorbeugenden Verbraucherschutzes als im TTIP nicht verhandelbar ansieht, inwieweit setzt sie sich dann im Rat dafür ein, das Agrarkapitel
aus dem Verhandlungsmandat auszuschließen?
Bitte, Frau Staatssekretärin.
Frau Kollegin Tackmann, die Bundesregierung setzt
sich für ein umfassendes Abkommen unter Einschluss
des Agrarsektors ein. Dies ergibt sich schon aus WTOrechtlichen Vorgaben und ist darüber hinaus auch im Interesse der deutschen Agrar- und Ernährungswirtschaft,
für die freier Handel neue Exportchancen sowie Zugang
zu benötigten Rohstoffen eröffnet. Die Wahrung der europäischen Lebensmittelstandards steht dazu nicht im
Widerspruch. Auch die USA haben in gleicher Weise ein
Interesse an freiem Handel bei Wahrung ihrer eigenen
Lebensmittelstandards.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Vielen Dank. - Frau Staatssekretärin, wir haben diese
Frage auch mit dem EU-Kommissar erörtert, und er sagte,
dass, wenn es in Deutschland bezüglich der Sicherung des
Vorsorgeprinzips und anderer Prinzipien der Lebensmittelsicherheit Bedenken gibt, der Agrarbereich sehr wohl
aus dem Verhandlungsmandat herausgenommen werden
kann. Es gibt - das haben Sie vielleicht heute im Ausschuss bemerkt - auch überfraktionell Bedenken gegen
die Art und Weise, wie die Verhandlungen jetzt laufen,
und ziemliche Übereinstimmung bezüglich der Gefahren,
die wir darin sehen. Deswegen ist meine Frage: Wären Sie
bereit, eine entsprechende Beschlussfassung des Agrarausschusses zur Kenntnis zu nehmen und sich gegebenenfalls, wenn sich die Risiken bewahrheiten, dafür einzusetzen, das vom Mandat auszunehmen?
Frau Kollegin Tackmann, selbstverständlich wird die
Bundesregierung mit großem Interesse jedwede Beschlussfassung eines Ausschusses zur Kenntnis nehmen und in
ihre politische Meinungsbildung mit einbeziehen. Dennoch
ist es aus der Sicht meines Hauses aufgrund von WTO-Bestimmungen ausgeschlossen, einen gesamten Bereich wie
zum Beispiel den Agrarsektor aus diesem Verfahren bzw.
aus den Verhandlungen zum TTIP auszunehmen.
Sie haben das Wort zur zweiten Nachfrage.
Vielen Dank. - Ein Problem ist, dass wir im Moment
mit Vermutungen arbeiten. Sie vermuten, dass alles gut
wird. Wir vermuten, dass das nicht der Fall sein wird.
Deswegen frage ich Sie, ob es die Bereitschaft der Bundesregierung gibt, dafür zu sorgen, dass eine öffentliche
Konsultation zum Fortgang der Verhandlungen insbesondere im Lebensmittelbereich bzw. im Agrarbereich
eingeleitet wird.
Frau Kollegin Tackmann, die Bundesregierung hat
dem Deutschen Bundestag längst umfangreiche Unterlagen zur Verfügung gestellt, damit der Deutsche Bundestag über den Stand der Verhandlungen auf dem Laufenden gehalten wird.
({0})
Das müssen Sie an anderer Stelle miteinander weiter
debattieren.
Wir kommen zur Frage 4 der Kollegin Tackmann:
Welche konkreten Verhandlungsangebote sind im EUVerhandlungsmandat im Agrar- und Lebensmittelkapitel enthalten, und welche positiven oder negativen Auswirkungen
erwartet die Bundesregierung für die EU-Agrar- und -Lebensmittelwirtschaft aus den Verhandlungen?
Frau Kollegin, nach dem Verhandlungsmandat strebt
die EU danach, sämtliche Zölle im bilateralen Handel
schrittweise zu beseitigen, wobei für die sensibelsten
Produkte Ausnahmen vorgesehen werden können. Dies
gilt für alle Produkte einschließlich der Agrargüter und
Lebensmittel. Der Text des Verhandlungsmandats ist
- ich sagte es bereits - den Mitgliedern des Deutschen
Bundestags zur Verfügung gestellt worden.
Bezüglich der positiven bzw. negativen Auswirkungen lässt sich sagen, dass hierzu Berechnungen des Thünen-Institutes aus dem Jahr 2012 vorliegen, basierend
auf dem allgemeinen Gleichgewichtsmodell GTAP, mit
dem eine vollständige Liberalisierung des Handels, das
heißt der Abbau aller Zölle, zwischen der EU und den
USA modelliert wurde. Auf dieser Basis werden für die
Land- und Ernährungswirtschaft in der EU-27 aufgrund
geringer Produktionswertänderungen im Modellfehlerbereich für primäre Agrarprodukte und für verarbeitete
Nahrungsmittel - einmal minus 0,9 Prozent und einmal
plus 0,3 Prozent - keine nennenswerten wirtschaftlichen
Auswirkungen erwartet.
Die Produktionsmengen für ausgewählte Produktgruppen primärer Agrarprodukte ändern sich bei der
Simulation des vTI für die EU-27 wie folgt: Weizen minus 1,5 Prozent, andere Getreide minus 0,1 Prozent, Ölsaaten plus 0,6 Prozent, Zuckerrüben, Zucker, Obst und
Gemüse sowie pflanzliche Fette 0 Prozent, andere Feldfrüchte minus 0,6 Prozent, Rindfleisch minus 0,2 Prozent, andere tierische Produkte wie Schweine und Geflügel minus 0,2 Prozent, Milch plus 0,2 Prozent,
Milchprodukte plus 0,4 Prozent und weitere verarbeitete
Nahrungsmittel minus 0,2 Prozent.
Ihre erste Nachfrage, bitte.
Nun unterscheidet sich das Rechtsprinzip der USA
von dem der EU an zwei entscheidenden Stellen: auf der
einen Seite beim Vorsorgeprinzip und auf der anderen
Seite bei der Haftungsregelung. Deswegen lautet meine
Frage: Wie wollen Sie verhindern, dass es, wenn hier bestimmte Standards gehalten werden, Schadensersatzklagen von den Konzernen gibt, die aus einem anderen
Rechtssystem kommen?
Frau Kollegin Tackmann, die Verhandlungen sind tatsächlich noch nicht an ihr Ende gekommen. Wir befinden uns sozusagen mittendrin. Wir werden die Verhandlungen auch hier im Deutschen Bundestag nicht im
Detail führen können.
Ihnen als Kolleginnen und Kollegen des Deutschen
Bundestages ist ja der Text des Verhandlungsmandates
zur Verfügung gestellt worden. Auf dieser Grundlage
werden wir weiter miteinander diskutieren können. Die
Bundesregierung hat ein Interesse daran, dass das VerParl. Staatssekretärin Dr. Maria Flachsbarth
fahren transparent ist und dass selbstverständlich auch
das Parlament immer wieder über den Stand der Verhandlungen in Kenntnis gesetzt wird.
Sie haben das Wort zu einer zweiten Nachfrage.
Nun bedeutet Verhandlungsmandat ja, dass man ein
Angebot machen muss. Deswegen lautet meine konkrete
Nachfrage: Wie sieht zu gentechnisch veränderten Pflanzen und möglicherweise gentechnisch veränderten Tieren das Angebot der EU aus? An irgendeiner Stelle müssen Sie ja auch Ihre Standards in den Verhandlungen zur
Disposition stellen. Sie können nicht einfach sagen: Wir
machen all das so weiter, wie es die EU bisher gehandhabt hat, während sich die Amerikaner ändern müssen. Beide Seiten müssen doch aufeinander zugehen. Also
konkret: Welches Verhandlungsangebot würden Sie bei
der Agrogentechnik machen?
Frau Kollegin Tackmann, weder die Bundesregierung
noch die EU-Kommission werden für das Inverkehrbringen auf dem europäischen Markt von den Standards
bezüglich Anbau und Zulassung von gentechnisch veränderten Organismen abweichen. Wir werden diese
Standards halten. Aber es ist eine andere Frage, wie man
miteinander sozusagen zu einem verbesserten Dialog
und zu einer verbesserten Zusammenarbeit zum Beispiel
im Bereich der sanitären und phytosanitären Vorsorgemaßnahmen kommen kann. Neben dem Bereich Zölle
- diesen habe ich bereits angesprochen - gibt es viele
Bereiche, wo eine vertiefte Zusammenarbeit tatsächlich
möglich ist und wo nichttarifäre Handelshemmnisse abgebaut werden können.
Zu einer weiteren Nachfrage hat die Kollegin Vogler
das Wort.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Frau Staatssekretärin, Sie haben gerade in Ihrer Antwort an die Kollegin
erwähnt, dass es die Möglichkeit geben soll, sensibelste
Güter zu definieren, welche dann von den Vereinbarungen ausgeschlossen würden. Was sind nach Auffassung
der Bundesregierung Beispiele für solche sensibelsten
Güter, und nach welchen Kriterien legen die Bundesregierung bzw. die EU-Staaten gemeinsam fest, was sensible Güter in diesem Sinne sind?
Frau Kollegin Vogler, ich kann Ihnen Beispiele nennen. Das betrifft Tee, Milchprodukte und Fleisch. Über
eine allgemeine Definition sensibler Güter verfüge ich
im Moment leider nicht. Das kann ich Ihnen aber gerne
nachreichen.
Ich sehe, dass dieses Angebot angenommen wird.
Die Fragen 5 und 6 der Kollegin Höhn sollen schriftlich beantwortet werden.
Wir sind damit am Ende dieses Geschäftsbereichs.
Herzlichen Dank, Frau Staatssekretärin.
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung. Zur Beantwortung steht
der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Ralf Brauksiepe
zur Verfügung.
Wir kommen zu Frage 7 der Kollegin Katja Keul:
Inwiefern wurde zum Zeitpunkt des Munitionsdiebstahls
in der Bundeswehrkaserne in Seedorf am 7. Februar 2014 zur
Sicherung der Liegenschaften der Kaserne privates Sicherheitspersonal eingesetzt, oder oblag die Sicherung der Anlagen allein Bundeswehrpersonal?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Vielen Dank. - Frau Kollegin, ich antworte Ihnen wie
folgt: Die Kaserne Seedorf wurde im Jahr 2005 von den
niederländischen Streitkräften übernommen und Ende
2006 durch Truppen der Luftlandebrigade 31 bezogen.
Seit dem 2. Januar 2007 wird die Kaserne durch Soldatinnen und Soldaten der Luftlandebrigade 31 militärisch
bewacht. Die Bewachung der Fallschirmjägerkaserne
Seedorf unterlag auch am 7. Februar 2014 ausschließlich
militärischem Personal.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär. - Dieser Diebstahl
ist ja relativ spektakulär. Es wurden nach Ihren Auskünften insgesamt 32 981 Patronen Handwaffenmunition
verschiedener Kaliber gestohlen. Ein Munitionsdiebstahl
in vergleichbarer Größenordnung kam bisher in der Bundeswehr nicht vor. Gibt es seit der Beantwortung vom
5. März neue Erkenntnisse?
Sie wollten außerdem prüfen, ob sich die Sicherheit
der Munitionslager erhöhen lässt. Gibt es irgendwelche
Erkenntnisse aus diesem Prüfungsauftrag?
Frau Kollegin, die Ermittlungen dauern an. Ich kann
Ihnen in Aktualisierung der von Ihnen genannten Zahlen
mitteilen, dass nach bisherigen Erkenntnissen insgesamt
34 881 Patronen Handwaffenmunition verschiedener
Kaliber aus zehn Munitionsbehältern innerhalb der Kaserne gestohlen wurden.
Sie haben das Wort zu einer zweiten Nachfrage.
Da Sie nun beruhigenderweise mitgeteilt haben, dass
es sich nicht um private Sicherheitskräfte handelt, frage
ich mich dennoch: Wie konnte es sein, dass bei militärischer Bewachung morgens um 7 Uhr der Verlust einer
Menge festgestellt wurde, die immerhin den Abtransport
mindestens durch Lkws - es geht um Tonnen von Munition - erforderlich gemacht hätte? Gibt es dafür irgendeine Erklärung?
Frau Kollegin, ich kann nur wiederholen, dass dies
Gegenstand laufender Ermittlungen ist. Uns ist gestern
der folgende Vorfall gemeldet worden: Zwei Soldaten
hatten am 7. Februar zwischen 2 Uhr und 6 Uhr ihren
befohlenen Streifenweg verlassen und ihren Streifenauftrag nicht weisungsgemäß wahrgenommen.
Damit kommen wir zur Frage 8 der Kollegin Inge
Höger:
Welche Informationen liegen der Bundesregierung über
den „besonderen Auftrag“ und das „besondere Waffensystem“
des Flottendienstbootes „Alster“ vor, den bzw. das das Boot
nach Aussagen des stellvertretenden Kommandeurs Frederic
Strauch hat, das nach Presseangaben ({0}) in Richtung südliches bzw. östliches
Mittelmeer aufgebrochen ist?
Frau Kollegin, ich antworte Ihnen wie folgt: Mit den
Aussagen „besonderer Auftrag“ und „besonderes Waffensystem“ wollte der stellvertretende Kommandeur den
generell gegenüber anderen Schiffen der Marine einzigartigen Auftrag und somit die Charakteristik dieses Flottendienstbootes hervorheben. Es handelt sich um eine
nationale Aufklärungsfahrt ins Mittelmeer, die der üblichen Routine entspricht, die in der vergangenen Legislaturperiode ausführlich im Verteidigungsausschuss erörtert wurde.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Vielen Dank. - Es ist aber so gewesen, dass der Flottendienstbootkommandeur beim Auslaufen des Schiffes
wirklich damit geprahlt hat, dass er einen besonderen
Auftrag habe und sich auch ein besonderes Waffensystem an Bord befinde. Von daher befriedigt mich Ihre
Frage nicht vollständig. Fährt dieses Schiff ins Mittelmeer? Fährt es weiter ins Schwarze Meer? Wir haben da
im Moment eine ziemliche Konfliktsituation. Wenn vor
diesem Hintergrund ein Spionageboot ausläuft, müssen
Sie schon ein bisschen mehr dazu sagen.
Frau Kollegin, ich habe Ihnen keine Frage gestellt,
sondern eine Antwort gegeben. Von daher konnte Sie
meine Frage natürlich nicht befriedigen, weil ich Ihnen
gar keine gestellt habe.
Zur Sache will ich auf Folgendes hinweisen: Diese
Äußerung ist anlässlich einer Verabschiedung von Soldatinnen und Soldaten für einen monatelangen Einsatz
erfolgt, und zwar nicht nur vor den Soldatinnen und Soldaten, sondern auch vor deren Angehörigen. Dass da
auch deutlich gemacht wird, dass dies ein sinnvoller und
wichtiger Einsatz ist, halte ich für verständlich.
Ich kann Ihnen ansonsten sagen: Die Entwicklungen
in Nordafrika und im Nahen und Mittleren Osten sind
aufgrund ihrer Nähe zu Europa und ihren möglichen
Auswirkungen auch auf die Bundesrepublik Deutschland weiter von hoher Bedeutung. Die Flottendienstboote tragen mit ihren Aufklärungsergebnissen wie in
den vergangenen Jahren zu einem unabhängigen nationalen Gesamtlagebild bei. Es geht darum, dass die „Alster“ in entsprechende internationale Gewässer ins Mittelmeer fährt. Das ist ihr Auftrag.
Sie haben das Wort zu einer zweiten Nachfrage.
Dieses Flottendienstboot sammelt ja in großem Ausmaß Daten. Sie haben gesagt, es gehe darum, ein Lagebild zu schaffen. Das heißt also, es werden Daten gesammelt. An wen werden diese Daten übermittelt?
Frau Kollegin, ich habe bereits gesagt, dass es um einen nationalen Auftrag geht. Es ist eine nationale Aufklärungsfahrt ins Mittelmeer. Das heißt, wir sammeln
Daten, die für uns aus unserer Sicht wichtig sind, in internationalen Gewässern, außerhalb der Hoheitsgewässer von Anrainerstaaten.
Damit kommen wir zur Frage 9 der Kollegin Höger:
Welche Informationen hat die Bundesregierung bezüglich
eines Luftangriffs der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan, ISAF, bei dem nach Angaben der
afghanischen Regierung am 6. März 2014 in der Provinz
Logar fünf afghanische Soldaten im Verlauf eines US-Drohnenangriffs getötet wurden ({0}), und erwägt die Bundesregierung infolge dieses Vorfalls und ähnlicher Vorfälle, die
Forderung nach einem Ende des Einsatzes von Kampfdrohnen
zu unterstützen?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Frau Kollegin, ich antworte Ihnen wie folgt: Verschiedenen Pressemitteilungen zufolge sind am 6. März 2014
bei einem ISAF-Luftangriff im Regionalkommando Ost
fünf afghanische Soldaten gefallen und zehn weitere verwundet worden. ISAF bestätigte den Vorfall und drückte
ihr Bedauern aus. Nach Kenntnis der Bundesregierung
dauern die Untersuchungen zu diesem tragischen Vorfall
noch an.
Erste Pressemitteilungen, wonach dieser Beschuss
durch ein unbemanntes US-amerikanisches Luftfahrzeug
erfolgte, sind nicht zutreffend. Nach hier vorliegenden
bisherigen Informationen fand in den frühen Morgenstunden des 6. März 2014 eine Spezialkräfteoperation
der afghanischen Armee mit Unterstützung durch USamerikanische Kräfte und Hubschrauber in der Provinz
Logar statt. Dabei wurde eine Gruppe von bewaffneten
Personen auf einem Bergrücken aufgeklärt. Mehrere
Nachfragen der US-amerikanischen Hubschrauberbesatzungen, ob sich eigene Kräfte auf dieser Position befinden, wurden auch von der afghanischen Seite verneint.
Daraufhin eröffnete der Pilot eines US-amerikanischen
Hubschraubers das Feuer gemäß den Einsatzvorschriften
gegen die zu diesem Zeitpunkt vermeintlich regierungsfeindlichen Kräfte.
Die afghanische Armee gab kurz darauf an, dass ein
eigener Posten bzw. eigene Kräfte durch den Hubschrauber beschossen wurden. Einer späteren Meldung zufolge
sind dabei fünf afghanische Soldaten gefallen und zehn
weitere verwundet worden. Nach gemeinsamem Verständnis der afghanischen Armeeführung und von ISAF
wurden die afghanischen Soldaten bedauerlicherweise
versehentlich beschossen.
Den Gefallenen und Verwundeten sowie ihren Angehörigen gilt unser Mitgefühl.
Frau Höger, Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Sie können also wirklich ausschließen, dass es sich
um einen Drohnenangriff gehandelt hat? Die Medienberichte lauten ja anders.
Ja.
Zweite Nachfrage.
Haben Sie einen Überblick darüber, wie viele Todesopfer es unter Zivilisten, afghanischen Soldaten und afghanischen Polizisten bei Auseinandersetzungen in Afghanistan in diesem Jahr gab?
Frau Kollegin, ich weiß jetzt nicht, ob sich Ihre Frage
auf sogenannte Drohnenangriffe bezieht. Ich beziehe sie
jetzt einmal darauf. Ich denke, Sie wissen, dass die Bundeswehr nicht über bewaffnete Drohnen verfügt. Insofern hat eine unmittelbare Beteiligung der Bundeswehr
an deren Einsätzen im Rahmen von ISAF nicht stattgefunden.
Wie bereits in der Unterrichtung des Parlaments über
die Auslandseinsätze der Bundeswehr 11/12 vom
14. März 2012 mitgeteilt, liegen den deutschen Stellen
unverändert keine Informationen über Anzahl oder Ziele
von Drohneneinsätzen anderer Nationen in Afghanistan
vor. Diese werden zentral für den gesamten ISAF-Einsatz durch das ISAF Joint Command gesteuert.
Wir bleiben beim Thema. Ich rufe die Frage 10 des
Kollegen Hans-Christian Ströbele auf:
Angesichts der Meldung über zahlreiche durch einen USDrohneneinsatz der ISAF-Streitkräfte in Afghanistan getötete
und verwundete Menschen ({0}) frage ich, welche Erkenntnisse die Bundesregierung oder ihr nachgeordnete Behörden für die Zeit seit
Anfang 2013 über Drohnen- und Kommandoeinsätze mit Getöteten oder Verwundeten und über eine deutsche Beteiligung
daran, insbesondere im Norden des Landes, wo die Bundeswehr die Verantwortung trägt ({1}), haben, und warum wird
die Operation ISAF mit vielen afghanischen Opfern im Jahr
des Abzuges der NATO aus Afghanistan fortgesetzt, obwohl
dadurch vor Ende dieses NATO-Einsatzes zusätzlich Gewalt
und Hass in der Bevölkerung geschürt werden und die Regierung von Hamid Karzai immer wieder dagegen protestiert
hat?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Herr Kollege Ströbele, ich antworte Ihnen zum gleichen Sachverhalt wie folgt: Zu dem in der Fragestellung
aufgeführten Luftschlag im Regionalkommando Ost mit
fünf gefallenen und zehn verwundeten afghanischen Soldaten sind erste Pressemeldungen, wonach der Beschuss
durch ein unbemanntes US-amerikanisches Luftfahrzeug
erfolgte, nicht zutreffend.
Im Rahmen einer Spezialkräfteoperation der afghanischen Armee mit Unterstützung durch US-amerikanische Kräfte und Hubschrauber in der Provinz Logar kam
es zu einem tragischen Zwischenfall, bei dem durch den
Einsatz eines US-amerikanischen Hubschraubers fünf
afghanische Soldaten fielen und zehn verwundet wurden.
Nach gemeinsamem Verständnis der afghanischen
Armeeführung und von ISAF wurden die afghanischen
Soldaten bedauerlicherweise versehentlich beschossen.
Nach Kenntnis der Bundesregierung dauern die Untersuchungen zu diesem tragischen Vorfall noch an.
Den Gefallenen und Verwundeten sowie ihren Angehörigen gilt unser Mitgefühl.
Auf die Frage nach Anzahl, Ort und Opferzahlen bei
sogenannten Drohnen- und Kommandoeinsätzen insbesondere im Norden Afghanistans nehme ich wie folgt
Stellung: Die Bundeswehr verfügt nicht über bewaffnete
Drohnen. Insofern hat eine unmittelbare Beteiligung der
Bundeswehr an deren Einsätzen im Rahmen von ISAF
nicht stattgefunden.
Wie bereits in der Unterrichtung des Parlamentes über
die Auslandseinsätze der Bundeswehr 11/12 vom
14. März 2012 mitgeteilt, liegen den deutschen Stellen
unverändert keine Informationen über Anzahl oder Ziele
von Drohneneinsätzen anderer Nationen in Afghanistan
vor. Diese werden zentral für den gesamten ISAF-Einsatz durch das ISAF Joint Command gesteuert.
Zum Einsatz der Spezialkräfte der Bundeswehr wird
auf die regelmäßig durchgeführten Unterrichtungen der
Vorsitzenden und stellvertretenden Vorsitzenden sowie
der Obleute des Verteidigungsausschusses und des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages verwiesen. Letztmals erfolgte diese am 14. Februar 2014.
ISAF basiert auf den entsprechenden Resolutionen
des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen.
Die Menschen in Afghanistan und die internationale
Gemeinschaft in Afghanistan haben bereits viel Positives erreicht. Wie aber auch der jüngste Fortschrittsbericht der Bundesregierung zu Afghanistan vom Januar
2014 aufzeigt, stellen die landesweiten Bedrohungspotenziale unverändert eine ernstzunehmende Herausforderung für die afghanischen Sicherheitskräfte dar.
Es darf deshalb nicht verkannt werden, dass die gemeinschaftlichen Anstrengungen bis zum Abschluss der
Übernahme der Sicherheitsverantwortung durch die afghanischen Sicherheitskräfte fortgesetzt werden müssen,
um das bisher Erreichte zu verstetigen.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Herr Staatssekretär, ich bin über Ihre Antwort doch
sehr enttäuscht. Zuerst haben Sie nur das vorgelesen,
was Sie der Kollegin schon vorgelesen haben. Dann haben Sie allgemeine Ausführungen gemacht und auf Unterrichtungen an anderer Stelle hingewiesen. Ich habe
Sie doch klar gefragt, wie viele Drohnen- bzw. Kommandoeinsätze mit wie vielen Toten und Verletzten es im
Verantwortungsbereich der Bundeswehr und nicht allgemein in Afghanistan im Jahr 2013 und in den ersten Monaten des Jahres 2014 gab. Das war eine klare Frage. Wo
steht - ob Sie es schon woanders mitgeteilt haben, kann
ich ja nicht wissen -, dass Sie mir die Frage nicht beantworten wollen und dürfen?
Herr Kollege, ich will und darf Ihre Frage beantworten. Ich habe sie beantwortet. Ich bitte um Verständnis,
wenn Sie mit der Antwort nicht zufrieden sind. Ich bitte
auch um Verständnis dafür, dass, wenn zwei nahezu gleiche Fragen gestellt werden, die Antworten naheliegenderweise ziemlich ähnlich sind.
Ich wiederhole gerne auch ein drittes Mal, dass den
deutschen Stellen unverändert keine Informationen darüber vorliegen, wonach Sie im Zusammenhang mit
Drohneneinsätzen fragen. Und ich wiederhole noch einmal, dass die Bundeswehr nicht über bewaffnete Drohnen verfügt und dementsprechend auch nicht an solchen
Einsätzen beteiligt ist.
Da Sie in Ihrer Frage auch angesprochen haben, dass
die afghanische Regierung immer wieder gegen das, was
dort geschieht, protestiert, füge ich noch einmal sehr
deutlich hinzu und weise Sie darauf hin, dass die Sicherheitsverantwortung für diese Einsätze in fünf Tranchen
an die afghanischen Streitkräfte übergegangen ist; die
letzte Tranche im letzten Sommer. Das heißt, Einsätze
wie diese, über die wir hier reden und nach denen Sie gefragt haben, erfolgen inzwischen unter afghanischer
Führung und Verantwortung, nicht unter Protest der afghanischen Regierung, sondern unter ihrer Führung und
Verantwortung. Lediglich im Osten und Süden des Landes erfolgen sie aufgrund der besonderen Sicherheitslage
mit US-Unterstützung.
Sie haben das Wort zu einer zweiten Nachfrage.
Zu dem zweiten Teil meiner Frage haben Sie nur ganz
allgemeine Ausführungen gemacht. Ich frage Sie ganz
konkret, wieso bei einem Abzugsmandat nun weiterhin
gezielte Tötungen, sei es durch Kommandoeinheiten
oder durch Drohnen, stattfinden. Wie wird dies gerechtfertigt? Steht dahinter der Gedanke, noch möglichst
viele Taliban oder andere Aufständische zu töten, bevor
man abzieht? Oder warum wird das weiter so gehandhabt wie bisher, trotz der Ankündigung, dass man abziehen möchte?
Herr Kollege Ströbele, mein Amt verbietet mir, diese
Frage zu kommentieren. Dies verkneife ich mir jetzt mit
Mühe.
Ich sage Ihnen ausdrücklich: Das ISAF-Mandat ist
verlängert worden bis zum Ende dieses Jahres. Es ist
vollumfänglich gültig bis zum Ende dieses Jahres. Es ist
das gemeinsame Ziel derer, die dort entsprechend mandatiert ihre Arbeit tun, zumindest eine ausreichend kontrollierbare Sicherheitslage in Afghanistan herzustellen.
Dies erfordert in ganz besonderen Situationen und in
ganz bestimmten Regionen auch diese Einsätze, die unter afghanischer Verantwortung stattgefunden haben und
gegebenenfalls auch in Zukunft stattfinden.
Die Unterstellung, dass irgendwer, der dort mit entsprechendem Mandat tätig ist, die verbleibende Zeit dieses Mandates nutzen will, um möglichst viele Menschen
zu töten, weise ich in aller Entschiedenheit zurück.
({0})
Zu einer Nachfrage hat die Kollegin Höger das Wort.
Im Koalitionsvertrag haben Sie niedergeschrieben,
dass Sie extralegale, völkerrechtswidrige Tötungen mit
bewaffneten Drohnen kategorisch ablehnen. Bedeutet
das auch, dass Sie den USA in Zukunft keine Informationen mehr über Drohnenziele liefern werden?
Frau Kollegin Höger, selbst der Kollege Ströbele hat
eingeräumt, dass es hier ein völkerrechtliches Mandat
gibt. Er hat in diesem Zusammenhang von einem „Abzugsmandat“ gesprochen. Ich habe davon gesprochen,
dass das ISAF-Mandat fortgesetzt wird.
Es geht hier nicht um extralegale Tötungen, sondern
um einen Einsatz, der unter afghanischer Führung und
Verantwortung aus gegebenem Anlass zu diesem Zeitpunkt in dieser Region stattgefunden hat. Dies ist eine
Region mit einer - zumindest umgangssprachlich gesprochen - sehr schwierigen Sicherheitslage. Es sind
dort entsprechende Kräfte aufgeklärt worden, bei denen
man zum Zeitpunkt dieses Einsatzes davon ausging, dass
es regierungsfeindliche Kräfte sind. Das heißt nicht, dass
es sich hier um eine extralegale Tötung handelt.
({0})
Insofern geht Ihre Frage von falschen Voraussetzungen
aus.
Zu einer weiteren Nachfrage hat die Kollegin Keul
das Wort.
Vielen Dank. - Herr Staatssekretär, ich war jetzt doch
etwas überrascht: Bei der Beantwortung der Frage des
Kollegen Ströbele haben Sie gesagt: Die Drohnenangriffe - darum ging es ja in der Frage - finden ausschließlich unter Kommando und in Verantwortung der
Afghanen statt. Jetzt habe ich, wenn ich bedenke, wie
die Abläufe bei Drohnenangriffen sind, doch etwas
Schwierigkeiten, mir vorzustellen, dass die Amerikaner
den afghanischen Streitkräften ihre Drohnen überlassen,
zumal der Einsatz von Drohnen zu Angriffszwecken
zentral und, wie wir wissen, teilweise aus Washington
von höchster Stelle abgesegnet wird. Können Sie mir erklären, wie die afghanischen Sicherheitskräfte die volle
Verantwortung und das Kommando über amerikanische
Drohneneinsätze haben sollen?
({0})
Frau Kollegin, ich wiederhole noch einmal, dass der
Prozess der Übernahme der Sicherheitsverantwortung
durch die afghanischen Sicherheitskräfte seit Mitte 2010
in fünf Phasen erfolgte und dass im Rahmen der letzten
Übernahmephase, der fünften Tranche, im Sommer 2013
insbesondere Räume in den traditionellen Hochburgen
der regierungsfeindlichen Kräfte im Osten und Süden
des Landes berücksichtigt wurden.
({0})
Ich bin davon ausgegangen, dass bekannt ist, dass das
Ziel des ISAF-Mandates darin besteht, dass es zu einer
Übertragung der entsprechenden Verantwortung auf die
afghanischen Sicherheitskräfte kommt. Das bezieht sich
nicht nur, aber auch auf Einsätze wie diejenigen, über
die wir hier sprechen.
({1})
Die Fragen 11 und 12 der Kollegin Buchholz sollen
schriftlich beantwortet werden.
Damit sind wir am Ende des Geschäftsbereich des
Bundesministeriums der Verteidigung. Danke, Herr
Staatssekretär.
Die Fragen 13 und 14 der Kollegin Möhring zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend werden schriftlich beantwortet.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit. Zur Beantwortung der Fragen steht die Parlamentarische Staatssekretärin Annette
Widmann-Mauz zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 19 der Kollegin Maria KleinSchmeink auf:
Wie schätzt die Bundesregierung die Entwicklung der
Ausgaben- und Einnahmesituation sowie die Zusatzbeitragssatzentwicklung der gesetzlichen Krankenversicherung jeweils in den Jahren 2014 bis 2017 vor dem Hintergrund der
geplanten Kürzung des Bundeszuschusses ein, und wann wird
nach Schätzung der Bundesregierung die Liquiditätsreserve
aufgebraucht sein?
Bitte, Frau Staatssekretärin.
Frau Kollegin Klein-Schmeink, die gesetzliche Krankenversicherung steht auf einem soliden finanziellen
Fundament. Zum Ende des Jahres 2013 verfügte die gesetzliche Krankenversicherung über Finanzreserven in
Höhe von insgesamt rund 30 Milliarden Euro, davon
rund 16,7 Milliarden Euro bei den Krankenkassen und
rund 13,6 Milliarden Euro beim Gesundheitsfonds.
Auch im Jahr 2014 werden die Zuweisungen aus dem
Gesundheitsfonds an die Krankenkassen ausreichen, um
die voraussichtlichen Ausgaben zu decken. Eine aktualisierte Schätzung der Einnahmen und Ausgaben des Jahres 2014 und eine erstmalige Schätzung der Finanzent1464
wicklung sowie des durchschnittlichen Zusatzbeitrags
auf der Basis der für das Jahr 2015 vorgesehenen GKVFinanzierungsstruktur wird der GKV-Schätzerkreis im
Oktober 2014 vornehmen.
Die im Haushaltsentwurf und im Haushaltsbegleitgesetz vorgesehenen Kürzungen des Bundeszuschusses haben in den Jahren 2014 und 2015 keine Auswirkungen
auf die Zusatzbeiträge der Krankenkassen, da entsprechende Entnahmen aus der Liquiditätsreserve vorgesehen sind.
Ab dem Jahr 2017 wird der Bundeszuschuss auf
14,5 Milliarden Euro erhöht. Damit stehen dem Gesundheitsfonds und den Kassen höhere Einnahmen zur Verfügung. Dies kann sich positiv auf die Zusatzbeiträge der
Krankenversicherten auswirken. Es gibt darüber hinaus
auch keinen Grund zu der Annahme, dass die Liquiditätsreserve des Gesundheitsfonds aufgebraucht wird.
Vielmehr bleibt die gesetzliche Mindestreserve von
20 Prozent einer Monatsausgabe bestehen.
Sie haben das Wort zur Nachfrage.
Vor dem Hintergrund Ihrer Antwort habe ich eine
Nachfrage: Ab wann rechnet die Bundesregierung mit
Zusatzbeitragssätzen über der bisherigen Mehrbelastung
der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer von 0,9 Prozent?
Frau Kollegin Klein-Schmeink, ich habe gerade ausgeführt, dass die Schätzungen zur künftigen Beitragssatzentwicklung im Oktober dieses Jahres vom Schätzerkreis vorgenommen werden, insbesondere was die
Einnahme- und die Ausgabenentwicklung und damit
auch den Finanzbedarf, der über den allgemeinen Beitragssatz hinausgeht, anbelangt.
Frau Klein-Schmeink, bitte.
Ich habe eine weitere Nachfrage: Es gibt sehr viele
Experten, die davon sprechen, dass es bis 2017 zu einem
Zusatzbeitragssatz von mindestens 0,9 bis 1,5 Prozent
kommen wird. Wie schätzen Sie diese Zahlen ein?
Wir gehen zunächst einmal davon aus, dass durch die
Umstellung der GKV-Finanzierungsstruktur ab dem
nächsten Jahr viele Versicherte von dem neuen Zusatzbeitrag profitieren können und geringere Kosten haben
werden. Wir gehen davon aus, dass 20 Millionen Versicherte davon profitieren können. Wir gehen außerdem
davon aus, dass eine größere Anzahl von Kassen unter
dem Zusatzbeitragssatz von 0,9 Prozent liegen wird.
Die Kollegin Vogler hat eine Zusatzfrage.
Vielen Dank. - Frau Staatssekretärin, ich muss einmal
nachfragen: Sie haben vor, ein Gesetz auf den Weg zu
bringen, das die Finanzierung neu regelt. Dies soll zum
1. Januar 2015 in Kraft treten, wenn ich das richtig in Erinnerung habe. Sie erklären uns hier nun aber, dass Sie
die Datenbasis, die notwendig ist, um die Auswirkungen
wirklich beurteilen zu können, eigentlich erst im Oktober dieses Jahres bekommen. Gleichzeitig versprechen
Sie den Menschen hier, dass bis zu 20 Millionen Versicherte demnächst niedrigere Kassenbeiträge bezahlen
müssen. Wie geht das zusammen? Das scheint mir höhere Mathematik zu sein. Das ist ein bisschen wie Stochern im Nebel. Sie scheinen sich das herauszusuchen,
was zu Ihren Plänen am besten passt. So richtig Hand
und Fuß hat das nicht.
Frau Kollegin Vogler, ich möchte Sie darauf hinweisen, dass wir derzeit die vorläufigen Finanzergebnisse
des Jahres 2013 vorliegen haben. Die entsprechenden
Zahlen habe ich bei der Beantwortung der ersten Frage
von Kollegin Klein-Schmeink genannt. Wenn wir uns
die Finanzergebnisse der Krankenkassen für das letzte
Jahr anschauen, dann können wir daraus schließen, dass
entsprechende Rücklagen bei den Krankenkassen vorhanden sind; dabei stützen wir uns auch auf die Abschätzungen der Kassen selbst. Deshalb können wir auch davon ausgehen, dass bei einem Volumen von über
16,7 Milliarden Euro - das habe ich bereits erwähnt eine erhebliche Anzahl der Krankenkassen eine derart
gute Finanzausstattung hat, dass sie nicht nur wie im
Moment in der Lage sind, zum Teil erhebliche Prämienausschüttungen zu leisten, sondern im kommenden Jahr
auch in der Lage sein werden, einen niedrigeren kassenindividuellen Zusatzbeitrag als den derzeitigen Arbeitnehmersonderbeitrag in Höhe von 0,9 Prozent zu verlangen.
Zu einer weiteren Nachfrage hat der Kollege
Weinberg das Wort.
Vielen Dank. - Frau Staatssekretärin, ich möchte an
dieser Stelle nachfragen: Trifft es zu, dass im Referentenentwurf, der zum GKV-Finanzierungsgesetz vorliegt,
durch den Wegfall von 0,9 Prozent bei den Einnahmen
zumindest rechnerisch eine Unterdeckung von 11 Milliarden Euro angenommen wird?
Durch die Einführung eines Zusatzbeitrags und die
Absenkung des allgemeinen durchschnittlichen Beitrags
auf 14,6 Beitragspunkte fehlt der gesetzlichen Krankenversicherung ein Volumen in Höhe von entsprechend
0,9 Beitragssatzpunkten. Das muss ausgeglichen werden. Das ist die Umstellung auf das neue System. Die
genauen Beträge kann ich Ihnen, solange die konkreten
Schätzungen nicht vorliegen, nicht bestätigen. Aber wir
gehen von einer entsprechenden Größenordnung aus.
Ich rufe die Frage 20 der Kollegin Klein-Schmeink
auf:
Wird die Bundesregierung im Rahmen des Entwurfs eines
GKV-Finanzstruktur- und Qualitäts-Weiterentwicklungsgesetzes festlegen, dass die 6 Milliarden Euro, die beim Bundeszuschuss zur Sanierung des Bundeshaushalts gekürzt werden,
den Einnahmen des Gesundheitsfonds aus der Liquiditätsreserve zugeführt werden, wie dies bei der Abschaffung der Praxisgebühr auch verbindlich geregelt wurde, oder wie will sie
sonst sicherstellen, dass der gesetzlichen Krankenversicherung, wie vom Bundesminister für Gesundheit, Hermann
Gröhe, zugesagt, auch in den Jahren 2014 und 2015 14 Milliarden Euro aus den Fondsreserven zur Verfügung stehen?
Bitte, Frau Staatssekretärin.
Frau Kollegin, die Entwicklung und die konkrete
Höhe des Bundeszuschusses werden mit dem Haushaltsbegleitgesetz 2014 und nicht mit dem GKV-Finanzstruktur- und Qualitäts-Weiterentwicklungsgesetz geregelt.
Im Entwurf des Haushaltsbegleitgesetzes 2014, der
heute vom Kabinett beschlossen worden ist, ist vorgesehen, dass der Bund zur pauschalen Abgeltung der Aufwendungen der Krankenkassen für versicherungsfremde
Leistungen 10,5 Milliarden Euro für das Jahr 2014,
11,5 Milliarden Euro für das Jahr 2015, 14 Milliarden
Euro für das Jahr 2016 und ab dem Jahr 2017 jährlich
14,5 Milliarden Euro in monatlich zum ersten Bankarbeitstag zu überweisenden Teilbeträgen an den Gesundheitsfonds leistet.
Die vorübergehende Absenkung des Bundeszuschusses in den Jahren 2014 und 2015 ist aufgrund der weiterhin positiven Finanzentwicklung der gesetzlichen Krankenversicherung und der bis Ende 2013 aufgebauten
Liquiditätsreserve möglich. Dadurch wird abermals ein
erheblicher Beitrag zur Konsolidierung des Bundeshaushaltes geleistet.
Die Mindereinnahmen können in beiden Jahren durch
entsprechende Entnahmen aus der Liquiditätsreserve
ausgeglichen werden. Diese Entnahme aus der Liquiditätsreserve ist auch im Haushaltsbegleitgesetz geregelt.
Die Zuweisungen an die Krankenkassen und die Versorgung der Versicherten in der gesetzlichen Krankenversicherung werden dadurch nicht berührt.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Frau Staatssekretärin, stimmen Sie mit mir überein,
dass im Rahmen der Kürzungen insgesamt 6 Milliarden
Euro entnommen werden und diese eben nicht wieder
vollständig, also im gesamten Umfang, bereitgestellt
werden und es damit eher als zuvor dazu kommt, dass
die Rücklagen aufgebraucht sein werden und wir eine
Erhöhung der Zusatzbeitragssätze zu verzeichnen haben
werden?
Frau Kollegin Klein-Schmeink, ich stimme Ihrer Aussage so nicht zu. Sie haben heute Vormittag im Rahmen
der Ausschusssitzung die Erhöhung der Zuführung von
Bundesmitteln an den Gesundheitsfonds ab dem Jahr
2017, also den Ausgleich auf der zeitlichen Schiene, sogar als einen löblichen Akt bezeichnet, wenn ich mich
recht entsinne.
({0})
Ich kann mich der Einschätzung in Ihrer Frage nicht
anschließen. Im Gegenteil: Die Entnahmen gehen nicht
zulasten der Versicherten, sondern sie werden den Krankenkassen aus der Finanzreserve wiederum zur Verfügung gestellt. Dieser Betrag wird ab dem Jahr 2015 wieder schrittweise ausgeglichen.
Dies haben wir gesetzgeberisch zum ersten Mal im
Haushaltsbegleitgesetz festgelegt. Das ist eine gute Praxis, die im Hinblick auf den Gesundheitsfonds Schule
machen sollte. Das heißt, wenn etwas entnommen
wurde, dann wird es auch wieder zurückgeführt. Ich erinnere mich an Zeiten, in denen der Gesundheitsfonds
aufgrund einer Konjunkturkrise Zuschüsse aus Bundesmitteln zur Abfederung entsprechender Risiken erhalten
hat.
Sie haben das Wort zur zweiten Nachfrage.
Ich möchte noch einmal nachfragen: Handelt es sich
um eine vollständige Kompensation oder nur um eine
teilweise erfolgende Kompensation? Das habe ich in der
Tat heute Morgen als einen ersten kleinen Schritt positiv
vermerkt. Aber es handelt sich, wie gesagt, nur um einen
kleinen Schritt und eben nicht um eine vollständige
Kompensation.
Frau Kollegin Klein-Schmeink, die Bundesregierung
und insbesondere auch der Bundesgesundheitsminister
streben sicherlich gerne eine längere Amtszeit als diese
Legislaturperiode an. Da wir aber nur für diese Legislaturperiode Gesetze planen können, ist der jetzt vorgesehene Einstieg in diesem Bereich sicherlich sehr hilfreich
und, wie Sie selbst gesagt haben, sehr löblich.
Zu einer weiteren Nachfrage hat der Kollege
Weinberg das Wort.
Frau Staatssekretärin, Bundeszuschussmittel sind
Steuermittel. Sie sollten eigentlich dazu dienen, versicherungsfremde Leistungen zu finanzieren, zum Beispiel die Mitversicherung von Familienangehörigen und
Ähnliches. Jetzt wird der Bundeszuschuss um den Betrag, den Sie genannt haben, gesenkt. Der Ausgleich erfolgt aus der Liquiditätsreserve. Trifft meine Einschätzung zu, dass etwas, was eigentlich aus Steuermitteln zu
finanzieren wäre, in Zukunft de facto aus Versicherungsbeiträgen finanziert wird?
Sehr geehrter Herr Kollege Weinberg, zunächst einmal will ich noch einmal deutlich machen, dass es ein
Bundeszuschuss und keine Spitzabrechnung für versicherungsfremde Leistungen ist. Sie erinnern sich sicherlich gerne mit mir an das Jahr 2008, als der Bundeszuschuss gerade einmal 2,5 Milliarden Euro betragen hat.
Deshalb ist die Perspektive - 14,5 Milliarden Euro ab
dem Jahr 2017 - sehr positiv. Das zeugt von einer guten
Entwicklung, die wir in Angriff genommen haben. Noch
einmal weise ich darauf hin, dass die Zuführung aus der
Liquiditätsreserve eine Maßnahme ist, die nicht zulasten
der Versicherten geht; denn dies ist ein Mittelzufluss, der
zur Deckung der Ausgaben benötigt wird. Damit wird
der Zufluss an den Bundeshaushalt komplett kompensiert.
Danke, Frau Staatssekretärin. Wir sind damit am
Ende Ihres Geschäftsbereichs.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur auf. Zur Beantwortung der Fragen steht der Parlamentarische
Staatssekretär Enak Ferlemann zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 21 der Kollegin Dr. Valerie Wilms
auf:
Welche Schlüsse zieht die Bundesregierung aus dem am
28. Februar 2014 vorgelegten Untersuchungsbericht 255/12
der Bundesstelle für Seeunfalluntersuchung zum sehr schweren Seeunfall des Containerschiffes „MSC Flaminia“, und
welche bestehenden bzw. zu schließenden Lücken sieht sie in
der europäischen Gesetzgebung?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Frau Präsidentin! Liebe Frau Kollegin, ich beantworte
Ihre Frage gerne wie folgt: Die Bundesregierung wird
den 181-seitigen Untersuchungsbericht sorgfältig auswerten und sodann dem Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur des Deutschen Bundestages berichten,
welche Folgerungen aus dem Bericht zu ziehen sind.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Das ist interessant, Herr Kollege Staatssekretär: Sie
wollen das also irgendwann einmal auswerten. Ich
glaube, eine etwas präzisere Antwort auf meine Frage
wäre schon heute möglich gewesen. Insofern die Nachfrage: Inwieweit wird die Bundesregierung auf die Europäische Kommission einwirken, das EU-Nothafenkonzept in dem Sinne anzupassen, dass havarierte Schiffe
grundsätzlich vom nächstgelegenen Nothafen aufgenommen werden?
Frau Kollegin, ich weise darauf hin, dass uns der Bericht erst am 28. Februar 2014 zugegangen ist. Daher
konnte der Bericht nicht in allen Einzelheiten ausgewertet und umgesetzt werden. Es geht dabei um komplizierteste Vorgänge im Rahmen des EU-Rechts, aber
natürlich auch der IMO und anderer mehr. Die Schlussfolgerung, die Sie erwarten, kann eine mögliche Konsequenz des Berichts sein, muss es aber nicht.
Sie haben das Wort zur zweiten Nachfrage.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Ich würde die Möglichkeit zur zweiten Nachfrage gerne nutzen: Welche europäische oder nationale Institution wäre denn nach Ansicht der Bundesregierung geeignet, zukünftig einen
Nothafen zuzuweisen? Können Sie sich vorstellen, dass
das eine Aufgabe für die EMSA ist?
Frau Kollegin, man kann sicherlich an die EMSA
denken. Man kann sich auch vieles andere denken. Das,
was wir vorschlagen, werden Sie unserem Bericht entnehmen können.
Damit sind wir am Ende dieses Geschäftsbereichs.
Ich komme zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit. Die Fragen 22 und 23 des Kollegen Peter
Meiwald, die Fragen 24 und 25 des Kollegen Christian
Kühn und die Fragen 26 und 27 der Kollegin Annalena
Baerbock werden schriftlich beantwortet.
Ebenso wird die Frage 28 des Kollegen Niema
Movassat zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung schriftlich beantwortet.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie. Zur Beantwortung steht die Parlamentarische Staatssekretärin Brigitte
Zypries zur Verfügung.
Vizepräsidentin Petra Pau
Die Frage 29 des Kollegen Dr. André Hahn wird
schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Frage 30 des Kollegen Manfred Grund
auf:
Besitzt die Bundesregierung Kenntnis darüber, dass das
Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle, BAFA,
künftig Kunststoffrecyclingunternehmen von der Befreiung
zur Zahlung der EEG-Umlage auszuschließen plant ({0}),
und wenn ja, wie bewertet sie die Folgen für die deutschen
Recyclingunternehmen mit ihren mehr als 100 000 Beschäftigten?
Bitte, Frau Staatssekretärin.
Herr Kollege Grund, mit der EEG-Novelle 2012, die
erstmals im Antragsjahr 2012 für die Begrenzung der
EEG-Umlage in 2013 galt, wurde die Antragsbefugnis
von Unternehmen des produzierenden Gewerbes bei der
besonderen Ausgleichsregelung eingeschränkt. Nach
geltender Rechtslage können nur Unternehmen privilegiert werden, die in entsprechender Anwendung den Abschnitten B und C angehören. Das ist einmal „Bergbau,
Gewinnung von Steinen und Erden“ und zum anderen
„Verarbeitendes Gewerbe“. Recyclingunternehmen,
nach denen Sie fragen, sind in Abschnitt E „Sammlung,
Behandlung und Beseitigung von Abfällen; Rückgewinnung“ eingestuft und somit grundsätzlich nicht anspruchsberechtigt.
Trotz dieser Neuregelung hatte das BAFA die beantragte Begrenzung für das Jahr 2013 einigen Recyclingunternehmen erteilt, die ihre Umsätze hauptsächlich aus
dem Verkauf der hergestellten Recyclingprodukte erzielten, die auf dem Markt wie aus Primärrohstoffen hergestellte Produkte vertrieben wurden. Das Bundesamt für
Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle hat somit diese Unternehmen dem verarbeitenden Gewerbe im Verwaltungsvollzug gleichgestellt. Für das Jahr 2014 hat das BAFA
seine Verwaltungspraxis geändert. Grund dafür ist, dass
nicht die Umsätze des Unternehmens entscheidend für
die Einstufung sind, sondern die ausgeübte Tätigkeit. In
der Folge wurden Anträge von Recyclingunternehmen
abgelehnt, die aufgrund dessen nicht Unternehmen des
verarbeitenden Gewerbes gleichgestellt werden können.
Die Bescheide für 2013 bleiben davon unberührt.
Aufgrund des laufenden Beihilfeverfahrens der EUKommission gegen das Erneuerbare-Energien-Gesetz
und die besondere Ausgleichsregelung darf das BAFA
jedoch ohnehin zurzeit keine positiven Bescheide für das
Begrenzungsjahr 2014 erlassen. Die insgesamt zu erwartenden Mehrkosten können insbesondere kleine und
mittlere Recyclingunternehmen finanziell belasten. Die
Bundesregierung wird diese Auswirkung im Rahmen der
anstehenden EEG-Novelle prüfen.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Vielen Dank. - Das bedeutet ja, dass sich die Verwaltungspraxis grundlegend geändert hat und dass Unternehmen, die bisher dem produzierenden Bereich zugeordnet waren, aus diesem Bereich herausgenommen
worden sind, und zwar Unternehmen in der Branche
Kunststoffrecycling, in der Kreislaufwirtschaft; Stichwort CO2-Reduktion. Ich finde es äußerst problematisch,
diese Branche, die auch in einem internationalen Wettbewerb steht, derart zu belasten. Sie sagen, dass Sie die daraus resultierenden Belastungen im Auge behalten werden. Ich weise darauf hin, dass Zahlen vorliegen, die
zeigen, dass erstens 100 000 Arbeitnehmer davon betroffen sind und dass zweitens gerade kleine und mittlere
Unternehmen mit bis zu 100 Beschäftigten in einer
Weise belastet werden könnten, die über den Gewinn hinausgeht, sodass es an die Substanz der Unternehmen
geht und damit Betriebe und Arbeitsplätze massiv gefährdet werden. Hat die Bundesregierung diesen Gesichtspunkt ausreichend im Blick?
Herr Kollege, ich denke, nicht zuletzt Ihre Frage wird
dazu führen, dass wir das ausreichend im Blick haben.
Wir sind im Moment dabei, mit der EU-Kommission darüber zu verhandeln, dass die Kunststoffrecycler zukünftig von der besonderen Ausgleichsregelung profitieren
können. Wir sehen das. Wenn Sie noch Material haben,
das unsere gemeinsame Position stützen kann, wäre ich
Ihnen dankbar, wenn Sie es dem Hause überlassen würden.
({0})
Sie verzichten auf die zweite Frage? - Ja. Aber der
Kollege Meiwald hat eine Nachfrage.
Vielen Dank für diese Möglichkeit. - Wir als Grüne
sind nicht verdächtig, einer Ausweitung der Befreiung
von der EEG-Umlage das Wort zu reden. In der Tat führt
die Situation, die jetzt durch diese Veränderung der Verwaltungsarbeit eingetreten ist, zu einer Wettbewerbsverzerrung, die den Vorstellungen eines Ausbaus der Kreislaufwirtschaft mit all ihren ökologischen Vorzügen
eindeutig entgegensteht. Deswegen konkret die Frage:
Welche Maßnahmen plant die Bundesregierung, um dieser Fehlsteuerung entgegenzuwirken, sowohl im ökonomischen als auch im ökologischen Bereich? Das Thema
Arbeitsplätze hat der Kollege gerade schon angesprochen.
Vielen Dank.
Herr Kollege, ich hatte gerade schon gesagt, dass das
Bundesministerium für Wirtschaft und Energie in Verhandlungen mit der Europäischen Kommission ist mit
dem Ziel, dass die Kunststoffrecycler zukünftig von den
besonderen Ausgleichsregelungen profitieren können.
Wir haben diese Unternehmen bei der Überarbeitung des
Erneuerbare-Energien-Gesetzes im Blick. Wenn Sie
noch weitere Gesichtspunkte haben, sind auch diese sehr
willkommen.
Danke, Frau Staatssekretärin. - Die Fragen 31 und 32
des Kollegen Krischer sollen schriftlich beantwortet
werden.
Ich rufe die Frage 33 des Kollegen Ralph Lenkert auf:
Wie hoch belaufen sich die bereits angefallenen Verfahrenskosten im ICSID-Schiedsgerichtsverfahren Vattenfall gegen Deutschland für die Bundesregierung ({0}), und mit welchen zukünftigen Verfahrenskosten rechnet die Bundesregierung ({1})?
Bitte, Frau Staatssekretärin.
Herr Kollege Lenkert, im Zusammenhang mit dem
anhängigen ICSID-Schiedsverfahren von Vattenfall gegen die Bundesrepublik Deutschland wurden bisher, bis
zum 7. März 2014, Mittel in Höhe von 695 796,89 Euro
für Prozess- und Mandatskosten verausgabt. Im ersten
Regierungsentwurf zum Bundeshaushaltsplan 2014 ist
ein Titelansatz in Höhe von 2,2 Millionen Euro vorgesehen. Für die Folgejahre sind in der geltenden Finanzplanung Mittel in Höhe von 2 Millionen Euro für 2015 bzw.
1,6 Millionen Euro für 2016 veranschlagt.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Frau Staatssekretärin, die Klage von Vattenfall bezog
sich ja bisher auf 3,7 Milliarden Euro; das war in der
Presse zu lesen. Ich frage Sie: Hat sich da zwischenzeitlich eine Erhöhung der Klagesumme ergeben? Wenn ja,
würde sich dies auf die Höhe der Verfahrenskosten auswirken?
Herr Kollege Lenkert, diese Frage kann ich Ihnen
nicht beantworten. Ich muss sie Ihnen schriftlich beantworten. Das weiß ich schlicht nicht.
Dann ist das so verabredet. - Haben Sie noch eine
zweite Nachfrage?
Frau Staatssekretärin, im Hinblick auf eine Ausweitung der Bereiche, in denen Investitionsschiedsverfahren
anwendbar sind, zum Beispiel über TTIP und CETA,
frage ich Sie: Wie schützt sich die Bundesregierung davor, dass durch eine Ausweitung der Klagemöglichkeiten das Risiko steigt, verklagt zu werden? Ein normales
Unternehmen muss Risikovorsorge betreiben; das heißt,
es muss Rückstellungen bilden. Dies wirkt sich dann im
Allgemeinen auf den Aktienkurs bzw. auf das Zinsniveau bei Krediten aus. Ist die Bundesregierung der Meinung, dass dadurch das Zinsniveau für den Bund und die
öffentliche Hand höher wird, und was möchte sie dagegen unternehmen?
Herr Kollege Lenkert, die Frage nach den konkreten
Auswirkungen der Zahl der Schiedsverfahren auf das
Zinsniveau kann ich Ihnen, ehrlich gesagt, nicht beantworten. Ich glaube, dass wir eher ansetzen sollten. Wir
sollten sehen, dass wir so wenige Schiedsverfahren wie
möglich bekommen. Ich bin dankbar dafür, dass die
Europäische Kommission die derzeitigen Verhandlungen
zu TTIP gerade wegen der Frage der Schiedsverfahren
für drei Monate ausgesetzt hat und eine öffentliche Anhörung durchführen wird, an der auch Sie sich hoffentlich beteiligen werden. Die Anhörung fängt ja erst
nächste oder übernächste Woche an und dauert dann drei
Monate. Jeder Mann und jede Frau ist aufgerufen, sich
daran zu beteiligen. Selbstverständlich gilt das auch für
jeden Abgeordneten und jede Abgeordnete des Deutschen Bundestages.
Zu einer Nachfrage hat die Kollegin Höhn das Wort.
Frau Staatssekretärin, Sie haben eben zu Recht die Risiken durch private Schiedsverfahren ins Spiel gebracht.
Insbesondere geht es ja darum, dass die Gerichtsbarkeit,
die wir haben, ausgehebelt und durch - ich sage es einmal so - fast willkürlich zusammengesetzte private
Schiedsgerichte ersetzt wird, gegen deren Entscheidungen man noch nicht einmal Revision einlegen kann. Das
wäre ein dramatischer, massiver Nachteil auch für den
Staat Deutschland.
Sie haben eben gesagt: Wir können uns als Abgeordnete einbringen. - Inwieweit bringt sich die Bundesregierung ein, um genau diese Fälle, die ja vermehrt
auftreten würden, wenn man das in einem Freihandelsabkommen, zum Beispiel mit Kanada oder den USA,
festschreibt, zu verhindern? Was tut die Bundesregierung, um diese Bereiche aus Freihandelsabkommen auszuklammern?
Im Rahmen der Verhandlungen auf der europäischen
Ebene setzt sich die Bundesregierung natürlich dafür
ein, dass so weit wie möglich eine Begrenzung der Zahl
der Schiedsgerichtsverfahren erfolgt. Wir wollen also
möglichst wenige davon. Sie sehen in mir als ehemaliger
Justizministerin auch eine Person, die sich sieben Jahre
lang auf internationaler Ebene dafür eingesetzt hat, dass
unsere deutsche Gerichtsbarkeit stark und gut bleibt und
auch von den Ländern finanziell hinreichend unterstützt
wird, damit sie schnell und sachgerecht entscheiden
kann.
In vielen Fällen ist das, was von manchen Unternehmen immer wieder behauptet wird, auch gar nicht richtig: dass solche Verfahren schneller verlaufen als
Gerichtsverfahren. So haben wir in Deutschland beispielsweise im Bereich des Patentrechts einen Stand erreicht, angesichts dessen wir sagen können: Deutschland
ist international vorbildlich. Viele Firmen aus anderen
Ländern kommen nach Deutschland, um ihre Verfahren
hier durchzuführen. Von daher denke ich, gerade wir in
Deutschland stehen gut da. Das werden wir selbstverständlich auch auf der europäischen Ebene deutlich machen.
Zu einer weiteren Nachfrage hat die Kollegin Dröge
das Wort.
Vielen Dank für die Möglichkeit, noch eine Nachfrage zu stellen. - Sie haben gerade gesagt, Sie wollen
möglichst wenig Schiedsgerichtsverfahren haben. Da
wäre die konkrete Frage an Sie: Wie wollen Sie das denn
technisch machen, dass es bei uns möglichst wenig
Schiedsgerichtsverfahren gibt? Wenn man sich die Analysen zu den Urteilen anschaut, die es vor Schiedsgerichten schon gibt, dann fällt auf, dass Unternehmen besonders die Klausel im Investitionsschutzabkommen zum
Fair and Equal Treatment nutzen, um gegen Länderbestimmungen zu klagen. Da wäre die Frage an Sie: Hat
die Bundesregierung schon eine Position, eine Rechtsauffassung, wie so etwas in bestehenden Investitionsschutzabkommen verbessert oder sogar gestrichen werden kann, damit solche Verfahren, wie wir sie hier
gerade diskutieren, in Zukunft nicht mehr passieren?
Frau Kollegin Dröge, wir sind ja im Moment in dem
Stadium, dass wir uns überhaupt fragen, inwieweit
Schiedgerichtsbarkeitsvereinbarungen in das Abkommen aufgenommen werden. Deswegen haben wir jetzt
selbstverständlich noch kein abgestuftes Programm. Wie
gesagt, das Verfahren ist ausgesetzt. Es gibt eine dreimonatige Konsultationsfrist. Die Bundesregierung wird
sich daran beteiligen, wie hoffentlich auch viele Kolleginnen und Kollegen des Parlaments, die ihre Meinung
sagen werden. Dann wird man sehen, wie sich das auf
europäischer Ebene insgesamt entwickelt. Da ist die
Bundesregierung natürlich auch nur einer von 28 Mitspielern.
Ich habe zwei weitere Meldungen für Nachfragen zur
Frage 33. Zuerst hat der Kollege Klaus Ernst das Wort.
Frau Staatssekretärin, wenn ich Ihre Aussage richtig
verstanden habe, dann stellen Sie solche Schiedsgerichtsverfahren eigentlich infrage und wollen möglichst wenig davon. Heißt das, dass die Bundesregierung
keiner Vereinbarung zustimmen wird, die dazu führt,
dass es eine Ausweitung von Verfahren oder Verfahren
auf einem ähnlichen Stand wie heute geben wird?
Nein, Herr Kollege, das heißt es natürlich nicht;
({0})
denn ein solcher Umkehrschluss ist nicht zulässig. Vielmehr - ich wiederhole gerne, was ich eben schon einmal
gesagt habe - sind wir im Moment dabei, zu verhandeln,
inwieweit Schiedsgerichtsverfahren überhaupt in dieses
konkrete Abkommen, dieses TTIP-Abkommen, von dem
wir gerade reden, aufgenommen werden. Da gilt: Wir
wollen deutlich machen, dass Schiedsgerichtsverfahren
nicht der Weisheit letzter Schluss sind, sondern dass man
diese Dinge auch sehr gut anders regeln kann. Wir haben
als deutscher Staat ja auch ein Interesse daran, einen guten deutschen Rechtsstandort zu vertreten; das ist doch
völlig klar. Nichts anderes habe ich gesagt. Das werden
wir deutlich machen.
Aber selbstverständlich geht es bei den Verhandlungen zu TTIP um Verhandlungen der Europäischen Kommission. Deutschland ist, wie Sie wissen, ein Land in der
Europäischen Union. Selbstverständlich bedarf die
Kommission einer abgestimmten Verhandlungsstrategie
aller Mitglieder der Europäischen Union. Deswegen
kann man keine endgültige Aussage treffen.
Die Kollegin Vogler hat das Wort.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Frau Staatssekretärin, Sie werden mir doch sicherlich zustimmen, dass die
Bundesrepublik Deutschland ein gewichtiges Wort mitzureden hat und dass wir hier im Deutschen Bundestag
natürlich ein berechtigtes Interesse daran haben, zu erfahren und auch den Wählerinnen und Wählern mitzuteilen, welche konkrete Position die Bundesregierung in
dieser wichtigen Frage einnimmt. Denn schließlich geht
es ja um nichts Geringeres als um eine Einschränkung
der Rechtsstaatlichkeit und unter Umständen auch um
eine Einschränkung der Handlungsmöglichkeiten der
parlamentarischen Demokratie. Denn wenn das, was wir
hier an Gesetzen beschließen, sozusagen immer vor der
Folie diskutiert werden muss, dass uns da unter Umständen umfangreiche Klageverfahren drohen, dann sind wir
auch als Abgeordnete nicht mehr frei, unserer Gesetzgebungstätigkeit nachzukommen. Insofern frage ich Sie
jetzt noch einmal: Welche Position nimmt die Bundesregierung in der Auseinandersetzung um die Frage der
Schiedsgerichte denn konkret ein?
Frau Kollegin, Ihre Nachfrage gibt mir die Gelegenheit und vor allen Dingen auch den Anlass, einige grund1470
sätzliche Ausführungen zu den Verhandlungen zu TTIP
zu machen. Wenn ich es richtig sehe, ist das jetzt auch
einer der ersten Momente, in dem das hier im Parlament
in offener Runde behandelt wird.
Wir sind derzeit in der vierten Verhandlungsrunde. Es
ist aber die erste Verhandlungsrunde, die sich mit konkreten Themen befasst. Die drei Verhandlungsrunden
zuvor waren ein allgemeiner Austausch von Positionen
über mögliche Gebiete, über die man dann verhandeln
will.
Im Moment findet, wie gesagt, die erste konkrete Verhandlungsrunde statt; dabei geht es um die Themenfelder Marktzugang, regulatorische Fragen und Handelsregeln. Es gab am 10. Februar schon einen Austausch von
Angeboten zum Abbau von Zöllen auf Industrie- und
Agrargüter; das Thema Zölle ist aber nicht Gegenstand
der jetzigen Verhandlungsrunde, sondern wird später
wieder aufgerufen.
Ich habe eben schon gesagt, dass Kommissar De
Gucht zu der Frage der Schiedsgerichtsbarkeit ein
dreimonatiges Konsultationsverfahren angestoßen hat.
Die Kommission wird dazu einen Vertragstext vorlegen,
der durch Erläuterungen oder Annotationen für die Allgemeinheit verständlich gemacht werden soll. Die Bundesregierung begrüßt diesen Schritt ausdrücklich und erwartet eine breite Beteiligung an den Konsultationen.
Wir wollen die Transparenz und die Einbindung der
Öffentlichkeit insgesamt verbessern. Ich würde Ihnen
gern kurz sagen, was wir dazu schon getan haben: Wir
vertreten auf europäischer Ebene die Auffassung, dass
die Verhandlungen auf der Basis von vertraulichen Unterlagen natürlich vertraulich geführt werden müssen;
aber wir wollen nichtsdestotrotz, dass die EU-Mitgliedstaaten in die Lage versetzt werden - das gilt vor allen
Dingen für die nationalen Parlamente, aber auch für die
Bürger -, Auskunft über den jeweils aktuellen Stand der
Verhandlungen zu erhalten. Wir wollen, dass den Mitgliedstaaten zu diesem Zweck der Zugang zu US-Dokumenten ermöglicht wird. Dafür setzt sich das Bundeswirtschaftsministerium ein.
Mit Blick auf die Information von Bundestag und
Bundesrat sind wir im europäischen Vergleich sicherlich
führend, aber auch im Vergleich zum Europäischen Parlament. Der Bundestag hat alle Dokumente erhalten, die
es bis jetzt gibt: alle Drahtberichte, alle EU-Positionspapiere, alle Berichte der Bundesregierung zu den Verhandlungen. Wir haben zu TTIP bislang 220 parlamentarische Fragen beantwortet, weitere 125 Fragen sind
zurzeit in Bearbeitung.
Die Beteiligung des Deutschen Bundestages richtet
sich nach dem EUZBBG. Das Bundeswirtschaftsministerium hat neben diesen umfassenden Informationen des
Parlaments jetzt auch angefangen, einen Austausch zu
TTIP zu führen, unter anderem mit allen Ressorts, mit
den Bundesländern, mit den Bundestagsausschüssen - eben
wurde ja deutlich, dass TTIP schon Gegenstand von
Ausschussberatungen war -, mit Verbänden, mit NGOs,
mit Gewerkschaften. Wir richten Veranstaltungen dazu
aus und haben auch schon einige durchgeführt. Für den
5. Mai ist eine große TTIP-Konferenz im Ministerium
geplant. Die EU-Kommission hat in Aussicht gestellt,
nach der vierten Verhandlungsrunde weitere EU-Positionspapiere auf ihrer Website für die Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
({0})
- Die Antwort auf Ihre Frage ergibt sich doch aus meinen Darlegungen, verehrte Frau Kollegin: Wenn wir im
Moment in der ersten Verhandlungsrunde sind, wo das
Schiedsgerichtsverfahren überhaupt noch keine Rolle
spielt, dann kann ich Ihnen auch noch nicht sagen, welche fünfte Auffangposition die Bundesregierung in den
Verhandlungen vertreten wird - wie sollte es anders
sein?
Schönen Dank, Frau Staatssekretärin. - Die nächste
Zusatzfrage hat Frau Kollegin Paus, Bündnis 90/Die
Grünen, danach die Kollegin Leidig von der Fraktion
Die Linke.
Aber, Frau Zypries, vielleicht können Sie mir trotzdem sagen, ob es die Position der Bundesregierung ist,
dass private Schiedsgerichtsverfahren nicht Bestandteil
eines entsprechenden Freihandelsabkommens mit den
USA sein sollten.
Wir wollen die Schiedsgerichtsverfahren, wenn es
möglich ist, aus dem Verfahren heraushalten; aber wir
wissen nicht - das habe ich schon gesagt -, ob wir das
mit allen Staaten endgültig werden durchsetzen können.
Deswegen ist es wichtig, dass es jetzt Konsultationen
gibt und wir hören, was insgesamt darüber gedacht wird.
Noch einmal: Deutschland ist ein Mitgliedstaat der Europäischen Union und bestimmt den Verhandlungsgang
nicht allein.
({0})
Die nächste Frage stellt Frau Kollegin Leidig. Bitte.
Frau Staatssekretärin Zypries, ich möchte an diesem
Punkt weiterfragen, weil ich glaube, dass es sich hier um
eine sehr entscheidende Verhandlungsposition handelt,
die die Bundesregierung einnimmt oder eben nicht einnimmt. Deshalb noch einmal ganz konkret die Frage:
Wird die Bundesregierung diesem Abkommen zustimmen,
wenn ein solches Schiedsgerichtsverfahren mehrheitlich
beschlossen wird, oder wird die Bundesregierung einem
solchen Freihandelsabkommen die Zustimmung verweigern, wenn die Rechtsstaatlichkeit sozusagen an Schiedsgerichte abgegeben werden soll?
Die Bundesregierung setzt im Moment alles daran,
dass es erst gar nicht so weit kommt. Wir sind zurzeit im
Konsultationsverfahren und setzen uns dafür ein, dass
die Schiedsgerichtsverfahren nicht in den Vertrag aufgenommen werden. Dafür arbeiten wir, und wir wären für
Unterstützung dankbar.
Die nächste Zusatzfrage hat der Kollege Hunko, die
Linke. Bitte.
Vielen Dank. - Frau Kollegin, wenn ich Sie richtig
verstanden habe, dann sehen Sie die Schiedsgerichte im
Rahmen der TTIP mit den USA durchaus kritisch. Bei
den Verhandlungen über das Freihandelsabkommen mit
Kanada, dem CETA, befinden wir uns ja bereits im
Endstadium. Hier ist meine Frage: Wie haben Sie sich da
bezüglich der Schiedsgerichte positioniert? Sehen Sie,
dass es dort eine Ausweitung von Schiedsgerichtsverfahren geben kann, und wie haben Sie darauf hingewirkt,
dass es eben nicht zu einer solchen Ausweitung kommt?
Vielen Dank.
Die Antwort muss ich Ihnen schriftlich nachreichen.
Ich weiß es nicht genau.
Schönen Dank. - Kollegin Klein-Schmeink von
Bündnis 90/Die Grünen, bitte.
Frau Staatssekretärin, Sie haben gerade gesagt, dass
Sie als Bundesregierung darauf hinwirken wollen, dass
es gar nicht erst so weit kommt, dass es diese Schiedsverfahren gibt. Haben Sie denn auf europäischer Ebene
ernsthafte Verbündete in dieser Frage, oder müssen wir
damit rechnen, dass die Bundesregierung hier eher alleine auf weiter Flur steht? Wie wahrscheinlich ist es,
sich damit durchsetzen zu können?
Nach meinem Kenntnisstand gibt es einige andere
Staaten, die auch der Auffassung sind, wir sollten das
nicht machen. Das hat ja oft auch etwas mit den jeweiligen Rechtssystemen zu tun. In der Europäischen Union
haben wir zwei unterschiedliche Rechtssysteme, nämlich das kontinentaleuropäische und das angloamerikanische. Die Vertreter des kontinentaleuropäischen sind in
der Regel der Auffassung, dass man Schiedsverfahren
nicht umfänglich durchführen sollte.
({0})
Schönen Dank. - Wir kommen zur Frage 34 des Kollegen Ralph Lenkert, die Linke:
Wie viele Streitverfahren vor internationalen Schiedsgerichten wurden nach Kenntnis der Bundesregierung in den
letzten fünf Jahren auf welche Art und mit welchen Zahlungen von Staaten an Investoren beendet ({0})?
Frau Staatssekretärin, bitte.
Die Bundesregierung hat keine Informationen darüber, wie viele Verfahren insgesamt von deutschen oder
ausländischen Unternehmen gegen Drittländer angestrengt wurden. Deutsche Unternehmen sind nämlich
nicht verpflichtet, der Bundesregierung ihre Klagen gegen andere Staaten mitzuteilen.
Der Bundesregierung sind allerdings die Schiedsverfahren von deutschen Unternehmen gegen andere Staaten bekannt, bei denen die Investitionen durch Investitionsgarantien des Bundes gegen politische Risiken
abgesichert waren und bei denen die Unternehmen nach
der Entschädigung durch den Bund in Abstimmung mit
dem Bund Schiedsverfahren eingeleitet haben. Das ist
zum einen die Klage der Hochtief AG gegen Argentinien und zum anderen die Klage der Fraport AG gegen
die Philippinen, und aus der Presse ist auch die Klage
von Walter Bau gegen Thailand bekannt.
Frühere Klagen ausländischer Unternehmen gegen
Deutschland gibt es nur zwei: In den 90er-Jahren klagte
ein indischer Unternehmer, dessen Klage aber schon
nicht angenommen wurde, weil er die Prozesskosten
nicht bezahlte, und 2009 klagte Vattenfall wegen des
Steinkohlekraftwerkes in Hamburg-Moorburg. Dieses
Verfahren wurde durch einen Vergleich beendet - ohne
Entschädigungszahlung seitens der öffentlichen Hand.
Mögen Sie eine Zusatzfrage stellen, Herr Kollege
Lenkert?
Frau Staatssekretärin, es verwundert mich, dass es der
Bundesregierung nicht möglich ist, die Ergebnisse von
Schiedsgerichtsverfahren zu ermitteln, obwohl sie vom
Internationalen Schiedsgerichtshof veröffentlicht werden.
Ich komme jetzt zu der Frage, die ich nachschieben
möchte: Im letzten Jahr sind 70 Prozent der Klagen mit
einer Zahlung an Investoren ausgegangen, 30 Prozent
der Klagen wurden abgewiesen. Sie sagten eben im Zusammenhang mit dem TTIP, dass Sie in den Konsultationen zum Thema Schiedsgerichtsbarkeit Transparenz herstellen wollen. Die Verhandlungen mit Kanada zum
CETA befinden sich de facto in der Endphase; sie sind
fast abgeschlossen. Die Schiedsgerichtsverfahren sind
dort integriert, das heißt, jedes Unternehmen, das eine
Zweigniederlassung in Kanada hat, kann die Rechte in
Anspruch nehmen, die wir jetzt vielleicht aus dem TTIP
heraushalten können. Das heißt, die Schiedsgerichtsbarkeit würde sozusagen durch die Hintertür eingeführt.
Ich frage Sie jetzt als Vertreterin des Wirtschaftsministeriums - noch ist das Abkommen mit Kanada
nicht unterzeichnet -: Werden Sie darauf drängen, dass
die Schiedsgerichtsbarkeit ähnlich wie im TTIP auf den
Prüfstand kommt? Ich sage noch einmal: Wir als Linke
lehnen Vereinbarungen und Verträge mit internationaler
Schiedsgerichtsbarkeit komplett ab. Denn wir sind der
Meinung: Das Rechtssystem in der Bundesrepublik
Deutschland ist zur Sicherung der Rechte von Investoren
und von Staaten ausreichend.
Ja, das haben wir verstanden. Ich habe Ihnen vorhin
schon einmal gesagt, dass ich Ihre Meinung im Grundsatz teile. Ich kann Ihnen aber im Moment zu dem Stand
der Verhandlungen mit Kanada keine Auskünfte geben.
Ich habe eben schon gesagt, dass ich Ihnen das nachreichen muss; es tut mir leid. Ich bin da nicht im Stoff; dafür bitte ich um Nachsicht. Das ist nicht Gegenstand dieser Fragen gewesen.
Keine Frage mehr? - Gut, dann gibt es eine erste
Frage aus dem übrigen Kollegenkreis.
({0})
- Entschuldigung. Sie machten so einen resignierten
Eindruck.
({1})
Ich war von der Antwort enttäuscht; denn die Position
der Bundesregierung sollte bei solchen Abkommen eigentlich dieselbe sein. Wenn man bei den Verhandlungen
mit den USA hinsichtlich eines Schiedsgerichtsverfahrens kritisch ist, dann sollte das bei Verhandlungen mit
Kanada genauso sein.
Nein, Sie haben mich doch gerade gefragt, ob ich dafür sorgen werde, dass die Verhandlungen mit Kanada
ausgesetzt werden und ein entsprechendes Verfahren
vereinbart wird. Ich kann Ihnen aber nicht genau sagen,
wie der Verhandlungsstand ist und ob so etwas überhaupt geht. Sie müssen bitte meine Antworten auf Ihre
Fragen beziehen.
Jetzt habe ich eine weitere Nachfrage.
Eine haben Sie noch, ja.
Es besteht bei Verträgen, die zwischen der EU und
Drittstaaten abgeschlossen werden, die Möglichkeit,
dass diese Verträge, wenn es gemischte Abkommen sind
- das bedeutet ja, dass auch die Länderparlamente zustimmen müssen -, vorläufig in Kraft gesetzt werden.
Jetzt frage ich Sie: Wäre es möglich, dass Investoren auf
Investitionsschutz klagen können, wenn zum Beispiel
der Vertrag der EU mit Kanada vorläufig in Kraft gesetzt
würde, bevor der Bundestag überhaupt ratifiziert hat?
Ich verstehe Ihre Frage nicht.
Ich versuche es noch einmal.
Bitte.
Die EU ist in der Lage, Verträge bei gemischten Abkommen - sprich: bei Abkommen, die vom EU-Parlament und von den nationalen Parlamenten ratifiziert
werden müssen - vorläufig in Kraft zu setzen, bevor die
zeitaufwendigen Prozesse der nationalen Ratifizierungen
abgeschlossen sind. Das wäre auch bei CETA oder TTIP
möglich. Wenn dieser Fall eintritt: Kann es dann aus Ihrer Kenntnis heraus möglich sein, dass noch vor einer
Ratifizierung durch den Deutschen Bundestag Investitionsschutzklagen gegen die Bundesrepublik eingereicht
werden, weil diese Verträge durch die EU vorläufig in
Kraft gesetzt werden?
Herr Kollege, wir sind im Moment bei dem Verfahrensstand, dass es Konsultationen dazu gibt, ob überhaupt Schiedsgerichtsverfahren in das TTIP aufgenommen werden sollen. Ich kann Ihnen deshalb keine
Antwort auf die Frage geben, was sein würde, wenn in
mehreren Jahren vielleicht die Verhandlungen zu einem
Abkommen abgeschlossen sein sollten, das dann womöglich auch noch vorzeitig in Kraft gesetzt werden
würde.
Herzlichen Dank. - Die nächste Frage kommt von
Frau Höhn, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Staatssekretärin, für Sie ist die Schiedsgerichtsbarkeit ein ganz wichtiger Punkt; das haben wir festgestellt. Gleichzeitig ist es in der Tat so, dass durch dieses
CETA-Abkommen mit Kanada die Frage, Schiedsgerichtsverfahren ja oder nein, vorentschieden wird; denn
es wird schwer sein, bei TTIP Schiedsgerichtsverfahren
zu verweigern, wenn sie im Rahmen des Abkommens
mit Kanada möglich sind.
Erstens. Habe ich es richtig verstanden, dass die
Staatssekretärin über den Stand des CETA-Verfahrens
momentan keine Auskunft geben kann? Zweitens.
Drängt die Bundesregierung darauf, dass es überhaupt
ein Mischverfahren wird? Es könnte theoretisch sogar
sein, dass die EU das Abkommen allein abschließt, ohne
dass der Bundestag zustimmen muss. Können Sie hier
bestätigen, dass es sich um ein Mischverfahren handelt
und der Bundestag zustimmen muss, oder wissen Sie das
nicht genau?
Nach meiner Kenntnis muss der Bundestag zustimmen. Die Frage war doch eben: Wie geht das mit dem
Verfahren ganz genau weiter?
Nein, die Frage ist eine andere. Ist das ein Mischverfahren, ja oder nein? Wenn das nämlich kein Mischverfahren ist, müsste der Bundestag gar nicht zustimmen.
Nach meiner Kenntnis, Frau Abgeordnete, muss der
Bundestag zustimmen. Aber ich bin gerne bereit, in meinem Hause nachzufragen und Ihnen dazu eine schriftliche Stellungnahme zu geben. Sie werden es mir nachsehen, dass ich hier nicht jede Frage hundertprozentig
beantworten kann.
({0})
Die nächste Frage stellt die Frau Kollegin Dröge von
den Grünen. Danach folgt der Kollege Ernst von der
Fraktion Die Linke. - Frau Kollegin Dröge, bitte schön.
Frau Zypries, Sie haben mehrfach gesagt, Ihr erstes
Ziel sei, dass Investitionsschutzabkommen nicht in TTIP
aufgenommen werden. Gleichzeitig haben Sie gesagt,
dass Sie nicht sicher sein können, dass das der Fall sein
wird.
Ich möchte nur darauf hinweisen, dass die TTIP-Verhandlungen, zumindest wenn es nach den Wünschen der
USA geht, nicht in ferner Zukunft beendet werden sollen, sondern schon 2015 zu einem Abschluss gebracht
werden sollen. Das heißt, wenn Sie Ihre Position nicht
durchsetzen können und wir doch mit einem Investitionsschutzkapitel in TTIP rechnen müssen, muss man
sich damit auseinandersetzen, welche Position die Bundesregierung einnimmt. Sie haben nicht mehr viel Zeit,
um in einer rechtlich schwierigen Frage zu einer Antwort zu kommen. Deswegen ist die Frage des Kollegen
von den Linken nach den vorhandenen Kenntnissen absolut richtig.
Zum Beispiel ist vor zwei Tagen eine Studie des Corporate Europe Observatory herausgekommen, der zufolge es Unternehmen gibt, die in Europa Krisenländer
wie Griechenland und Spanien beispielsweise auf entgangene Fördermittel verklagen, die diese Krisenländer
nicht mehr zahlen können, weil die Troika dort Sparmaßnahmen zur Haushaltskonsolidierung durchgesetzt
hat.
Ich finde, es sind relevante Erkenntnisse für die Bundesregierung, da sie zeigen, welcher Missbrauch schon
mit bestehenden Investitionsschutzklauseln getrieben
wird. Es gibt auch eine UN-Studie, die sich damit auseinandersetzt, welche Schiedsgerichtsverfahren es gibt.
Ich frage mich, wie die Bundesregierung zu einer Position kommen will, wenn sie bestehende Investitionsschutzklauseln nicht analysiert.
Sie können sicher sein: Die Bundesregierung analysiert bestehende Investitionsschutzklauseln, und die
Bundesregierung informiert sich auch umfassend. Ich
bin dankbar für Ihren Hinweis auf diese neuen Studien,
die von meinem Haus selbstverständlich auch in die
Überlegungen mit einbezogen werden. Wir gehen nicht
davon aus, dass das TTIP 2015 abgeschlossen wird.
Danke schön. - Kollege Ernst.
Frau Staatssekretärin, würden Sie mir zustimmen,
dass dann, wenn in dem CETA-Abkommen ein solches
Schiedsverfahren mit Zustimmung der Bundesregierung
vereinbart wird, Ihre Haltung, in einem Abkommen mit
den USA ein solches Verfahren nicht aufzunehmen,
deutlich geschwächt würde? Können Sie mir die Frage
beantworten, ob Ihre Ablehnung eines solchen Schiedsverfahrens in den Verträgen - die uns freut - auch die
einhellige Meinung der Bundesregierung ist?
Herr Abgeordneter, ich habe jetzt schon mehrfach darauf hingewiesen, dass es im Moment darum geht, die
Haltung Deutschlands, aber auch aller anderen EU-Staaten zu diesem Schiedsverfahren zu bestimmen und die
Europäische Kommission als Verhandlungsführerin bei
diesen Verhandlungen mit zu beeinflussen. Deswegen ist
es im Moment an der Zeit, zu sagen: Alle diejenigen nicht
nur in Deutschland, sondern auch in anderen europäischen
Staaten, die meinen, wir brauchen keine Schiedsgerichtsbarkeit, sollten sich an dieser Anhörung beteiligen. Eine
solche Beteiligung, die das Verhalten der EU-Kommission beeinflussen kann, wird immer massiv eingefordert.
Es geht sehr vielen Menschen darum, darauf hinzuweisen, dass es auf europäischer Ebene mangelnde
Transparenz gibt und dass man stattdessen die europäi1474
schen Bürgerinnen und Bürger stärker beteiligen sollte.
Hier ergibt sich jetzt die wirklich gute Möglichkeit, so
etwas zu tun. Ich finde, unser aller Sinnen und Trachten
- auch das Ihrer Partei und Fraktion - sollte darauf gerichtet sein, Unterstützung dafür zu mobilisieren. Wir
haben auch ein positives Beispiel auf europäischer
Ebene, wo das sehr gut funktioniert hat.
Ich denke, das sollten wir jetzt tun. Wir sollten uns
nicht darauf beschränken, zu überlegen: Was passiert eigentlich, wenn es uns nicht gelingt? Denn wenn man etwas bewegen will, aber nicht ins Gelingen verliebt ist,
dann kommt es auch nicht dazu, dass man etwas erreicht.
Deswegen kann ich Ihnen auf Ihre Frage „Was passiert,
wenn …?“ leider keine Antwort geben.
Eine weitere Frage der Frau Kollegin Leidig, Fraktion
Die Linke.
Frau Staatssekretärin Zypries, ich habe eine Nachfrage zu dem Konsultationsprozess. Mein Eindruck ist,
dass die Bundesregierung, wenn es stimmt, dass sie in
einem bereits sehr weit fortgeschrittenen Freihandelsabkommen kein Veto gegen ein solches Schiedsverfahren
eingelegt hat, im jetzigen, noch relativ am Anfang stehenden Konsultationsverfahren zu TTIP sehr wenig
Glaubwürdigkeit hat. Deshalb finde ich es unumgänglich, zu erfahren, wie sich die Bundesregierung in dem
weit fortgeschrittenen Verfahren eigentlich positioniert
hat und wie der Verhandlungsstand aussieht.
Frau Kollegin Leidig, es ist wirklich schade, dass wir
hier im Deutschen Bundestag ständig aneinander vorbeireden. Ich hatte Ihnen schon hinlänglich dargelegt, dass
wir keineswegs in einem weit fortgeschrittenen Verhandlungsverfahren zu TTIP sind.
({0})
- Entschuldigung, es geht Ihnen offenbar um das Verfahren mit Kanada. Dann habe ich Ihre Frage nicht verstanden.
Ich versuche, Ihnen die Frage verständlich zu machen. Die Frage lautet: Wie steht es nach Ihrer Meinung
um die Glaubwürdigkeit der Bundesregierung, wenn auf
der einen Seite im CETA-Verfahren bereits im Grunde
ein Schiedsverfahren akzeptiert ist und auf der anderen
Seite nun im TTIP-Verfahren so getan wird, als sei die
Bundesregierung offen im Konsultationsprozess.
Wir tun nicht so, als sei die Bundesregierung offen im
Konsultationsprozess. Dieser Konsultationsprozess ist
von der Europäischen Kommission angestoßen worden,
und zwar im Einvernehmen mit der Bundesregierung.
Wir finden, dass das ein sehr gutes Verfahren ist.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Fraktion Die
Linke beantragt, Minister Gabriel herbeizuzitieren.
Möchte jemand das Wort zu diesem Geschäftsordnungsantrag ergreifen? - Kollege Grund, CDU/CSU-Fraktion.
Es gab hinreichend Gelegenheit, Fragen zu stellen
und darauf zu antworten. Ich sehe überhaupt keinen Bedarf, neben der Staatssekretärin Frau Zypries, die die
Fragen hervorragend beantwortet hat,
({0})
den Minister herbeizuzitieren. Wir lehnen diesen Antrag
daher ab.
({1})
Frau Ziegler von der SPD möchte das Wort ergreifen.
Bitte.
Ich kann meinen Kollegen von der CDU/CSU-Fraktion nur unterstützen. Wir haben mehrfach die gleichen
Fragen und die gleichen Antworten gehört. Im Ausschuss kann man ausreichend und intensiv darüber diskutieren, welches der Sachstand zu diesen Fragen und
Themen ist. Die Staatssekretärin hat wirklich jede Frage
ordentlich beantwortet und klargemacht, wie sich der
Sachstand zum heutigen Zeitpunkt darstellt. Aus diesem
Grunde sehen wir keine Notwendigkeit, außerhalb des
Ausschusses dies im Plenum weiterzuverfolgen und darüber zu diskutieren.
Danke.
({0})
Gibt es weitere Wortmeldungen?
({0})
- Das ist nicht der Fall. Dann lasse ich abstimmen. Wer
dafür ist, dass Bundesminister Gabriel in das Plenum zitiert wird, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer ist
dagegen?
({1})
- Bedauerlicherweise nicht, Herr Kollege Grund. Daher
müssen wir einen Hammelsprung durchführen.
Vizepräsident Peter Hintze
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, den Plenarsaal zu verlassen, damit die Abstimmung durchgeführt
werden kann. Das führt zur Verschiebung der Aktuellen
Stunde. - Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich verstehe,
dass das Plenum ein angenehmer Ort ist, auch wenn es
Schwieriges zu besprechen gibt.
({2})
- Das ist sehr nett. Die beiden Schriftführer machen das
solidarisch auch so. Aber ich darf Sie bitten, jetzt den
Plenarsaal zu verlassen, damit wir die Regeln einhalten.
Ich gehe davon aus, dass die Türen besetzt sind und
wir jetzt mit der Abstimmung beginnen können. Die Abstimmung ist eröffnet.
Darf ich fragen, ob alle Kolleginnen und Kollegen,
die vor der Tür standen, den Plenarsaal betreten haben?
Können mir die Schriftführer das bitte mal signalisieren? Von denen, die im Gang stehen, wäre es nett, wenn sie
jetzt zumindest die Sitzplätze einnähmen.
Die Abstimmung ist geschlossen. Ich bitte die Stimmzähler, mir das Stimmergebnis zu übermitteln. Ich bitte
auch, die Türen zu schließen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, sich
einen Moment hinzusetzen und die Kommunikation untereinander einzustellen. Der erste Hammelsprung in der
18. Wahlperiode ist erfolgreich abgeschlossen.
({3})
Für den Antrag, also mit Ja, haben gestimmt 77 Kolleginnen und Kollegen.
({4})
Enthalten hat sich kein Kollege und keine Kollegin. Mit
Nein haben gestimmt 350 Kolleginnen und Kollegen.
({5})
Damit ist der Antrag abgelehnt.
Wir treten wieder in die Fragestunde ein, für die wir
noch - das sage ich informell - 14 Minuten und 34 Sekunden haben. Danach haben wir die Aktuelle Stunde
auf Antrag der Grünen.
({6})
Die Fragestunde ist sehr interessant.
({7})
Es dürfen alle im Plenum bleiben; so ist das nicht.
Die Fragen 15, 16, 17 und 18 der Abgeordneten
Kathrin Vogler, Birgit Wöllert und Harald Weinberg sind
nachträglich durch die Bundesregierung dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Wirtschaft und
Energie zugeordnet wurden. Zur Beantwortung steht
auch hier die Parlamentarische Staatssekretärin Brigitte
Zypries zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 15 der Abgeordneten Kathrin
Vogler, Fraktion Die Linke, auf:
Welche Konsequenzen könnte das Freihandelsabkommen
TTIP nach derzeitigem Kenntnisstand der Bundesregierung
auf die Zulassung von Arzneimitteln innerhalb der EU haben,
und welche Auswirkungen könnte das Freihandelsabkommen
nach Einschätzung der Bundesregierung für die Hersteller von
patentgeschützten Präparaten haben, was sowohl die Laufzeit
der Patente als auch Art und Umfang von Patent- und Unterlagenschutz anbelangt?
Frau Staatssekretärin, bitte.
Vielen Dank, Herr Präsident.
({0})
Einen kleinen Moment mal.
({0})
Es ist eine Frage der Fairness und der Disziplin, dass
die, die jetzt nicht zuhören wollen, ganz ruhig herausgehen und sich nicht hier im Saal unterhalten.
({1})
Frau Kollegin Vogler, nach dem derzeitigen Kenntnisstand wird im Arzneimittelbereich keine gegenseitige
Anerkennung von Zulassungsentscheidungen vorgeschlagen. Über die Auswirkungen von TTIP auf Patentrecht oder gar auf Änderungen des Patentrechts liegen
der Bundesregierung keinerlei Informationen vor.
Haben Sie eine Zusatzfrage, Frau Kollegin? - Bitte
schön.
Frau Staatssekretärin, wenn Ihnen über mögliche
Auswirkungen auf das Patentrecht oder auf die Patentierung von Arzneimitteln keine Erkenntnisse vorliegen,
dann würde mich interessieren, auf welche Art und
Weise die Bundesregierung denn gedenkt, sich diese Erkenntnisse zu verschaffen, und in welchem Zeitrahmen
Sie sich in der Lage sehen, diese Erkenntnisse dem
Deutschen Bundestag zuzuleiten?
Im Rahmen der anstehenden Verhandlungen der Europäischen Kommission wird sich die Bundesregierung
sukzessive Meinungen bilden und im Rahmen der Europäischen Kommission abstimmen.
Ich hatte Ihnen das Verfahren bereits erklärt: Wir befinden uns derzeit in der ersten Beratungsrunde, in der
die angesprochenen Themen gar nicht Gegenstand sind.
Es läuft so ab, dass alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union zu regelmäßigen Konsultationsverfahren
mit der Kommission in Brüssel zusammenkommen und
man gemeinsam diskutiert, wie man weiter vorgeht.
Wenn es so weit ist, werden Sie hinreichend rechtzeitig
informiert - genauso, wie der Deutsche Bundestag bis
jetzt alle Veröffentlichungen zu den Verhandlungen über
TTIP zugänglich gemacht bekommen hat.
Eine zweite Zusatzfrage. Bitte schön.
Danke. - Frau Staatssekretärin, würde eine eventuelle
Unterzeichnung von TTIP nach Einschätzung der Bundesregierung möglicherweise auch Auswirkungen auf
die in Deutschland geltenden Regelungen zur Nutzenbewertung von Arzneimitteln und anderen Therapieverfahren insgesamt haben, und wie würden diese unter Umständen aussehen?
Frau Abgeordnete, das kann ich mir nicht vorstellen.
Nach derzeitigem Kenntnisstand ist für den Arzneimittelbereich keinerlei gegenseitige Anerkennung von Zulassungsentscheidungen oder sonstigen Bewertungen
vorgesehen.
Herzlichen Dank. - Ich rufe die Frage 16 der Abgeordneten Birgit Wöllert, Fraktion Die Linke, auf:
Kann die Bundesregierung ausschließen, dass durch das
Freihandelsabkommen TTIP im Bereich der Palliativversorgung bzw. der Sterbebegleitung eine stärkere Markt- bzw.
Wettbewerbsorientierung zum Tragen kommt und auf diese
Weise bisher aktive, gemeinnützige Träger von privaten, gewinnorientierten Anbietern verdrängt werden?
Frau Staatssekretärin, bitte.
Frau Kollegin Wöllert, aus Sicht der Bundesregierung
gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass durch TTIP im
Bereich der Palliativversorgung und Sterbebegleitung
eine stärkere Markt- bzw. Wettbewerbsorientierung zum
Tragen kommen könnte oder gemeinnützige Träger von
privaten Trägern verdrängt werden könnten.
Eine Zusatzfrage, Frau Kollegin? - Bitte schön.
Sie sagen: keine Erkenntnisse. - Heißt das, Sie können es ausschließen?
Wir gehen wenigstens nicht davon aus, dass dieser
Bereich überhaupt von TTIP betroffen sein wird.
Schönen Dank. - Ich rufe die Frage 17 des Kollegen
Harald Weinberg auf:
Kann die Bundesregierung ausschließen, dass sie ein
TTIP-Abkommen ratifizieren wird, das die Möglichkeit beinhaltet, dass Krankenhausleistungen zukünftig ausgeschrieben werden müssen oder multinationale Unternehmen sich einen Zugang in die derzeit noch öffentlich und gemeinnützig
dominierte Krankenhauslandschaft einklagen können?
Frau Staatssekretärin, bitte.
Herr Abgeordneter Weinberg, es bestehen aus der
Sicht der Bundesregierung keine Anhaltspunkte dafür,
dass TTIP Auswirkungen auf die Ausschreibungspflicht
von Krankenhausleistungen haben könnte oder die Klagemöglichkeiten multinationaler Unternehmen im Krankenhausbereich erweitern könnte.
Haben Sie eine Zusatzfrage, Herr Kollege? - Bitte
schön.
Vielen Dank, Frau Staatssekretärin. - Das interpretiere ich jetzt so, dass dieses Thema nicht Gegenstand
der Verhandlungen ist und auch in Zukunft nicht sein
wird.
Davon gehen wir aus, ja.
Haben Sie noch eine Zusatzfrage dazu? - Nicht.
Ich rufe die Frage 18 des Kollegen Harald Weinberg
auf:
Kann die Bundesregierung ausschließen, dass sie ein
TTIP-Abkommen ratifizieren wird, das die Möglichkeit beinhaltet, dass Versicherungsunternehmen Zugang in das System der gesetzlichen Krankenkassen erhalten, oder das die
Möglichkeit beinhaltet, dass gesetzliche Krankenkassen Privatisierungstendenzen ausgesetzt werden?
Es bestehen aus Sicht der Bundesregierung am Ende
keine Anhaltspunkte dafür, dass TTIP Auswirkungen auf
den Zugang von Versicherungsunternehmen zum System
der gesetzlichen Krankenversicherung haben wird oder
eventuelle Privatisierungstendenzen gesetzlicher Krankenkassen zur Folge haben könnte.
Zusatzfrage, Herr Kollege? - Bitte.
Frau Staatssekretärin, auch das interpretiere ich so,
dass dieses Thema überhaupt nicht Gegenstand der Verhandlungen sein wird. Es wird also auszuschließen sein,
dass internationale Versicherungsunternehmen, für die
der deutsche Krankenversicherungsmarkt durchaus ein
attraktiver Markt wäre, sich über den Weg von TTIP einen Zugang verschaffen.
Nur über diesen Weg - ja, das interpretieren Sie richtig.
Wir kommen nun zu weiteren ursprünglich im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Wirtschaft
und Energie gestellten Fragen.
Ich rufe die Frage 35 der Kollegin Susanna
Karawanskij der Fraktion Die Linke auf:
Wie positioniert sich die Bundesregierung in den Verhandlungen zur Transatlantischen Handels- und Investitionspartnerschaft, TTIP, zu der potenziellen Problematik, dass in
Deutschland über die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, BaFin, ein Finanzinstrument, das für volkswirtschaftlich und verbraucherschutzpolitisch schädlich gehalten
wird - beispielsweise bestimmte Genussrechte -, zukünftig
möglicherweise vom Markt genommen werden kann, daraufhin jedoch der betroffene Finanzdienstleister, der diese Genussrechte emittiert, gemäß der TTIP eine Schadenersatzforderung erheben könnte, weil durch das Verbot durch die
BaFin seine Gewinnerwartungen deutlich zurückgehen?
Frau Staatssekretärin, bitte.
Über die Einbeziehung des Investitionsschutzes in
TTIP haben wir ja nun hinreichend gesprochen. Laut
Verhandlungsmandat wird erst nach Vorlage des Verhandlungsergebnisses überhaupt darüber entschieden.
Haben Sie eine Zusatzfrage, Frau Kollegin? - Bitte
schön.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Bei TTIP geht es ja
nicht nur um eventuell geschmälerte Gewinnerwartungen oder vermeintliche Handelsbarrieren, sondern auch
darum, dass Regulierungsanstrengungen blockiert werden könnten.
Nun zu meiner Frage: Wie will die Bundesregierung
zukünftig sicherstellen, dass das Thema Finanzmarktregulierung in den Verhandlungen nicht von vornherein
außen vor gelassen wird oder Finanzmarktregulierungen
nur auf einem niedrigen Niveau erfolgen, weil sie als
Handelshemmnis bzw. als Handelsbarriere aufgefasst
werden könnten?
Frau Abgeordnete, ich verstehe Ihre Frage so, dass
Sie wissen wollen, wie das mit dem Investitionsschutz
ist. Dann gilt dieselbe Antwort: Darüber wird erst nach
vollständigem Abschluss der Verhandlungen entschieden. Gerade Deutschland hatte sich ja sehr dafür eingesetzt, dass über den Investitionsschutz erst am Ende aller
Verhandlungen entschieden wird. Das ist auf der Verhandlungslinie also ganz nach hinten gerutscht, und wir
befinden uns in dieser Woche ja auch erst in der ersten
Verhandlungsrunde.
Eine zweite Nachfrage? - Bitte.
Meine Frage ist: Welche Möglichkeiten gibt es im
Rahmen der TTIP-Verhandlungen, Finanzinstrumente
einzuschränken, die volkswirtschaftlich bzw. für die Verbraucherinnen und Verbraucher für schädlich gehalten
werden? Wie wird in den Verhandlungen darauf reagiert?
Noch einmal: Das steht ganz am Ende der Verhandlungen. Wir gehen davon aus, dass man über solche
Finanzinstrumente zunächst einmal dort verhandelt, wo
schon im Moment darüber verhandelt wird. Das ist ja
Gegenstand anderer internationaler Verhandlungsrunden.
Frau Kollegin Leidig hat dazu eine Frage.
Frau Staatssekretärin Zypries, ich möchte fragen, was
der Grund dafür ist, dass über das Investitionsschutzabkommen erst am Ende des gesamten Verhandlungsprozesses gesprochen werden soll, da es doch laut Bundesregierung eine wichtige Voraussetzung dafür ist, dem
gesamten Paket zuzustimmen, dass ein solcher Investorenschutz nicht verankert wird. Um es umgekehrt zu sagen: Wäre es nicht richtiger, die Bundesregierung würde
von vornherein klären, dass es keinen Investorenschutz
mit ausgelagertem Schiedsverfahren gibt, und dann erst
Verabredungen zu den einzelnen Bereichen treffen, die
in einem solchen Handelsabkommen verhandelt werden?
Frau Kollegin Leidig, wir haben in dieser Fragestunde
ja schon über zahlreiche Gebiete gesprochen, bei denen
sich die Frage stellt: Werden sie mit aufgenommen, in
welchem Umfang werden sie mit aufgenommen? Usw.,
usf. Unsere Auffassung war, dass wir zunächst einmal
die Verhandlungen angehen sollten. Über das Thema Investitionsschutz wollten wir ganz am Ende sprechen.
Dabei wird es bleiben. Dafür haben wir uns eingesetzt.
Wir glauben, dass das der richtige Weg ist.
({0})
Eine Zusatznachfrage ist nicht zulässig. - Jetzt hat der
Kollege Dr. Troost das Wort.
({0})
- Darf ich darauf hinweisen: Die Bundesregierung entscheidet nach gängiger Parlamentspraxis, wie sie antwortet, und die Kollegen entscheiden, wie sie fragen. Kollege Dr. Troost, bitte.
Ich ergreife die Chance, weil ich befürchte, dass
meine Fragen 43 und 44 nicht mehr aufgerufen werden.
Wir waren gerade bei Finanzdienstleistungen. Sie haben
gesagt, die würden nicht erfasst. Der von mir sonst nicht
sonderlich geschätzte Kollege Markus Söder hat im
Spiegel jetzt noch einmal gesagt, dass er durchaus gewisse Befürchtungen hat, dass über TTIP Fragen wie
Finanztransaktionsteuer, Sekundenhandel und anderes
mehr möglicherweise doch Gegenstand werden könnten.
Habe ich Ihre Antwort so richtig verstanden, dass Sie sagen, das wird nicht Gegenstand werden?
Genau. Ich habe nicht gesagt, dass das kein Gegenstand wird, sondern ich habe gesagt, dass wir der Auffassung sind, dass das in den dafür zuständigen Gremien
geklärt werden sollte. Die Frage der Finanzdienstleistungen wird ja beispielsweise in den G-20-Gremien geklärt.
Wir sind der Auffassung, dort sollte das zunächst geregelt werden.
Schönen Dank. - Wir kommen zur Frage 36 der Abgeordneten Karawanskij:
In welchem Umfang möchte die Bundesregierung im Rahmen der TTIP-Verhandlungen die Schutzrechte für öffentliche
Sparkassen bewahren, wenn zukünftig die Regel greift, dass
kein ausländischer Dienstleistungsanbieter schlechter behandelt werden darf als ein inländischer Anbieter - Inländerbehandlung - und in der Folge ausländische Dienstleistungsanbieter zum Beispiel aus dem Bankensektor genau diese
Schutzrechte ebenfalls einfordern?
Bitte, Frau Staatssekretärin.
Die Bundesregierung möchte Sonderregelungen, welche für die Sparkassen in den Gesetzen des Bundes und
der Länder bestehen, nicht in den Verhandlungen über
TTIP preisgeben.
Schönen Dank. - Haben Sie eine Zusatzfrage? - Das
ist nicht der Fall.
Ich kündige hiermit an, dass wir um 16.05 Uhr mit
der Aktuellen Stunde beginnen, es sei denn, dass wir gerade mitten in einer Antwort sind. Also haben wir noch
knapp fünf Minuten in der Fragestunde.
Als Nächstes rufe ich die Frage 37 der Abgeordneten
Birgit Wöllert auf:
Kann die Bundesregierung ausschließen, dass durch das
Freihandelsabkommen TTIP im Bereich des Rettungsdienstes
Privatisierungen eingeleitet werden könnten und auf diese
Weise bisherige kommunale Träger von privaten, gewinnorientierten Anbietern verdrängt werden?
Frau Staatssekretärin.
Diese Antwort ist genauso wie die Antwort auf die
anderen Fragen in dem vergleichbaren Sachzusammenhang zuvor: Es bestehen aus der Sicht der Bundesregierung keine Anhaltspunkte, dass durch TTIP im Bereich
der Rettungsdienste Privatisierungen eingeleitet oder auf
andere Weise befördert werden können.
Haben Sie eine Zusatzfrage, Frau Kollegin?
Ja.
Bitte.
Vielen Dank. - Frau Staatssekretärin, Ihre Antworten
hier zum Bereich der gesundheitlichen Daseinsvorsorge
könnten uns ja ein bisschen beruhigen. Deshalb meine
Nachfrage: Würden Sie mir bestätigen, dass der gesamte
Bereich des Gesundheitswesens als öffentliche Daseinsvorsorge aus dem TTIP-Abkommen ausgenommen ist?
In dem Verhandlungsmandat der Europäischen Kommission für das Freihandelsabkommen mit den USA ist
verankert, dass die hohe Qualität der öffentlichen Daseinsvorsorge in der Europäischen Union erhalten bleiben soll. Sie, Frau Abgeordnete, haben das Verhandlungsmandat genauso wie alle anderen Informationen
dazu vorliegen. Sie können sich gerne noch weiter darüber informieren.
Nach Einschätzung der Bundesregierung wird das geplante Freihandelsabkommen auch die Entscheidungsfreiheit der regionalen Körperschaften über die Organisation der Daseinsvorsorge vor Ort unberührt lassen.
Deswegen gibt es auch keine Anhaltspunkte dafür, dass
durch das TTIP-Abkommen im Bereich der Vergabe von
Rettungsdienstleistungen Privatisierungen befördert
werden könnten.
Noch eine Zusatzfrage?
Ja, eine Nachfrage hätte ich noch.
Bitte.
Frau Staatssekretärin, Sie sagten ja, dass Sie jetzt
noch nicht über alle Regelungsbereiche verhandeln.
Schließen Sie das dann auch bereits für den Regelungsbereich Marktzugänge aus?
Das habe ich jetzt nicht ganz verstanden. Ich hatte gesagt, dass die Verhandlungen gestuft sind, dass die erste
Verhandlungsrunde diese Woche stattfindet und dass der
Bereich Marktzugänge dort noch nicht thematisiert wird.
Die nächste Nachfrage hat der Kollege Lenkert. Bitte.
Frau Staatssekretärin, ich wiederhole die Aussage von
vorhin. Die Antwort auf meine Frage an die Bundesregierung, ob es für die Schiedsgerichtsverfahren irgendwelche Sektoreneingrenzungen gibt, lautete eindeutig:
Nein, es gibt keine Beschränkung. - Das heißt, auch all
die Bereiche, zu denen eben Fragen gestellt wurden,
ehrenamtliche Tätigkeiten, Daseinsvorsorge, Medizin,
wurden von der Bundesregierung in der Antwort an
mich bezüglich des Investitionsschutzabkommens explizit nicht als ausgeklammert bezeichnet. Ich frage Sie
jetzt, wie Sie, wenn Sie im Vorfeld in allen anderen Verhandlungen diese Bereiche ausklammern, aber dann Investitionsschutzklagen in diesen Bereichen zulassen, sicherstellen wollen, dass diese Wirkungen nicht doch
durch die Hintertür eintreten. Ich möchte auch gerne von
Ihnen wissen, wie Sie dann diese Sektoren schützen wollen.
Ich habe anschließend eine weitere Frage zu diesem
Bereich insgesamt.
Geschätzter Kollege, eine Frage bitte.
Ja, okay.
Herr Abgeordneter, wir haben vorhin nicht über einzelne Bereiche gesprochen, die von irgendwelchen
Schutzabkommen ausgenommen sind, sondern ich habe
Ihnen immer gesagt, dass es eine Aussetzung der Verhandlungen gibt, dass wir eine Konsultation haben und
dass jeder, jede, jedes Parlament, jedes Mitglied eines
Parlaments, jede NGO und jeder andere Interessierte der
Europäischen Kommission seine Auffassung innerhalb
von drei Monaten mitteilen kann. Die Frage, welche einzelnen Bereiche davon gegebenenfalls ausgeschlossen
sein könnten, war vorhin nicht Gegenstand der Debatte.
Als Nächste hat eine Nachfrage - das ist dann auch
die letzte in dieser Fragestunde - die Frau Kollegin
Vogler, Fraktion Die Linke.
Frau Staatssekretärin, wenn das bisher nicht Gegenstand der Debatte war, dann frage ich Sie hier und jetzt
- ich frage Sie nicht nach der Meinung von NGOs oder
der allgemeinen Öffentlichkeit, sondern nach der Meinung der Bundesregierung -, welche Bereiche des öffentlichen Lebens, des Wirtschaftslebens und der Daseinsvorsorge nach Auffassung der Bundesregierung
- womit geht sie in die Verhandlungen? - von einem solchen Handelsabkommen und dem damit möglicherweise
verbundenen Investitionsschutz ausgeschlossen sein sollen. Ich frage hier ganz konkret auch nach den Bereichen
Arzneimittel, Medizinprodukte, Gesundheitsdienstleistungen und Krankenhäuser, die hier schon angesprochen
worden sind. Können Sie das alles verbindlich ausschließen oder nicht?
Frau Kollegin, in dem Verhandlungsmandat, das Ihnen bekannt sein müsste, ist verankert, dass die hohe
Qualität der öffentlichen Daseinsvorsorge in der Europäischen Union erhalten bleiben soll.
({0})
- Ja, ich kann es nicht ändern; das ist nun einmal so. Das
kann ich Ihnen nur so mitteilen.
({1})
Natürlich betrifft das geplante Freihandelsabkommen
auch die Entscheidungsfreiheit der regionalen Körperschaften, in die ja ganz viele Zuständigkeiten für den Bereich, den Sie gerade angesprochen haben, fallen. Ich
denke, genau das wird nicht Gegenstand der Verhandlungen sein. Insofern kann man Sie, glaube ich, in weiten Teilen beruhigen.
Herzlichen Dank, Frau Staatssekretärin. - Wir sind
damit am Ende der Fragestunde. Mit den übrigen Fragen
wird gemäß der Geschäftsordnung verfahren.
Ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf:
Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Haltung der Bundesregierung zur Abschaffung des Optionszwangs im Staatsangehörigkeitsrecht
Als erstem Redner erteile ich dem Kollegen Volker
Beck das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Deutschland tut sich mit dem Staatsangehörigkeitsrecht seit jeher
schwer. Bis 1999 hat es gedauert, dass wir neben das
Blutsrecht, das Ausdruck einer spät gekommenen Nation
im Staatsangehörigkeitsrecht war, endlich auch das Geburtsrecht gestellt haben. Dies geschah wegen des Bundesrates damals allerdings zu dem Preis, dass wir die
doppelte Staatsangehörigkeit weitgehend vermieden und
die Optionspflicht für hier geborene junge Deutsche, die
ausländische Eltern haben, eingeführt haben.
Noch in der letzten Wahlperiode hat die Bundesregierung das Dogma betont, die Vermeidung von Mehrstaatigkeit sei „eines der prägenden Elemente des deutschen
Staatsangehörigkeitsrechtes“ - so in einer Antwort auf
eine Kleine Anfrage meiner Fraktion. Dagegen haben
der andere Teil des Hauses und die nicht mehr existente
FDP seit Jahren argumentiert und gesagt: Wir müssen
bei der Einbürgerung liberalisieren. Wir müssen die Optionspflicht überwinden. - Die SPD hat in ihrem Regierungsprogramm geschrieben:
Deshalb wollen wir die doppelte Staatsbürgerschaft
von Bürgerinnen und Bürgern akzeptieren.
({0})
Als Sie sich dann für die Verhandlungen zur Großen
Koalition zusammengesetzt haben, hat Ihr Parteivorsitzender den Mund ganz schön voll genommen:
Ich werde der SPD keinen Koalitionsvertrag vorlegen, in dem die doppelte Staatsbürgerschaft nicht
drin ist.
Na ja, ich habe auch schon Koalitionsverhandlungen geführt. Man kommt nicht immer eins zu eins mit dem ans
Ziel, was man sich vorgenommen hat.
({1})
Dann hieß es: Die Optionspflicht wird fallen. - Herr
Gabriel sah sich wenigstens in diesem Punkt bestätigt.
Ehrlich gesagt, auch ich habe, wie die Sozialdemokraten, den Text Ihres Vertrages so verstanden, dass die
Optionspflicht nun ein für alle Mal Geschichte ist. Da
heißt es:
Für in Deutschland geborene und aufgewachsene
Kinder ausländischer Eltern entfällt in Zukunft der
Optionszwang und die Mehrstaatigkeit wird akzeptiert.
Das ist eigentlich eine klare Ansage. Klar war sie bis zu
dem Tag, als der Referentenentwurf aus dem Bundesinnenministerium kam, der nicht ein Optionspflichtabschaffungsgesetz ist, sondern ein Optionspflichtverlängerungs- und -komplizierungsgesetz.
({2})
Wer mindestens zwölf Jahre in Deutschland lebt, davon vier Jahre im Alter zwischen 10 und 16, der darf
Deutscher bleiben, wer hier im Inland einen Schulabschluss gemacht hat, auch, wer ihn in Paris gemacht hat,
weil seine Eltern umgezogen sind, natürlich nicht. Wer
13 Jahre in Deutschland war, davon in den letzten Jahren
aber nur drei Jahre hier war, verliert den deutschen Pass
auch. Wer ein Melderechtsvergehen begangen hat bzw.
wessen Eltern ein Melderechtsvergehen begangen haben, der verliert auch in Zukunft weiterhin die deutsche
Staatsangehörigkeit. Das ist wirklich grober Unfug,
({3})
ein bürokratisches Monstrum und integrationspolitisch
verfehlt, weil es den jungen Deutschen sagt: Ihr seid
Deutsche auf Probe. - Das darf nicht sein. Wer hier geboren ist und hier aufwächst, der gehört zu uns, und zwar
mit allen Rechten und Pflichten, den müssen wir nicht
willkommen heißen, weil er schon da ist und Teil unserer Gesellschaft ist.
({4})
Im Bundesrat hat es Widerstand dagegen gegeben.
Man hat gesagt: Wir wollen einen eigenen Vorschlag
machen; denn wir als Länder müssen diesen Bürokratismus am Ende ausbaden. Es sind die Ausländerämter der
Kommunen, also Behörden der Länder, die am Ende jeden einzelnen Fall der 40 000 Optionsfälle pro Jahr ab
2018 in die Hand nehmen und nach diesen absurden Kriterien durchprüfen müssen. - Die Länder haben daher zu
Recht gesagt: Das wollen wir nicht machen. Wir brauchen die Verwaltungskapazitäten für eine bessere Einbürgerung und andere Fragen.
So etwas darf aber offensichtlich im Zeitalter der Großen Koalition auf Länderseite nicht diskutiert werden.
({5})
Herr Strobl, der gleich nach mir reden wird, sagt, das
gehe nicht. Wenn der Bundesrat an dieser Initiative festhalte, dann - das sei klar - werde hier in Berlin über das
Staatsangehörigkeitsrecht überhaupt nicht geredet. Herr
Strobl wirft der SPD vor, sich durch solche Geisterfahrten Koalitionsoptionen auch mit der Linkspartei warmhalten zu wollen, und sagt, das werde auf Dauer nicht
gut gehen.
Meine Damen und Herren, was auf Dauer nicht gut
geht, ist, wenn Sie meinen, der Bundesrat und die Landesregierungen seien bloße Erfüllungsgehilfen der Großen Koalition und da werde an die Vasallen in den Ländern durchgestellt, was hier in Berlin im Kanzleramt
oder im Koalitionsausschuss behandelt wird.
({6})
Nein, die Länder haben im föderalen Staat eine eigene
Aufgabe, und sie haben Landesregierungen mit verschiedenen politischen Prioritäten.
({7})
Das ist gut so, und das muss auch so bleiben.
Sie müssen Schluss damit machen - ich glaube, die
Menschen draußen im Lande sind es satt, sich das anzuVolker Beck ({8})
hören -, dass darunter, dass Herr Friedrich geplappert
hat und sich wie ein Minister in einer Bananenrepublik
benommen hat und Herr Oppermann ausgeplaudert hat,
dass er sich wie in einer Bananenrepublik benommen
hat,
({9})
das Ausländerrecht, die Migranten und die Qualität der
Politik für unser Land leiden müssen. Machen Sie Politik für unser Land! Machen Sie es länderfreundlich! Machen Sie es integrationsfreundlich und bürokratiearm!
Dann können Sie unseren Gesetzentwurf oder den des
Bundesrates zur Grundlage für die Abschaffung der
Optionspflicht nehmen. Das wäre angemessen. Hören
Sie auf mit den Kindereien zwischen den Koalitionspartnern, bei denen es nur um die Demütigung des Partners
geht! Es geht um Respekt vor den Rechten der Länder,
und es geht um den Respekt vor den Menschen in unserem Land.
({10})
Als Nächstem erteile ich dem Kollegen Thomas
Strobl, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident Hintze! Werte Kolleginnen und Kollegen! Selin ist in Deutschland, in der Nähe von Stuttgart,
geboren. Ihre Mutter ist Türkin. Auch der Vater ist türkischer Staatsangehöriger. Sie ist nicht nur hier geboren.
Als sie in die Schule gekommen ist, konnte sie schon ein
bisschen rechnen. Sie ist zweisprachig aufgewachsen.
Selin ist ein intelligentes, fleißiges Mädchen, gut vorankommend in der Schule. Deswegen geht sie auf ein baden-württembergisches Gymnasium. Dort macht sie
Abitur. Sie möchte in Deutschland bleiben und Physik
studieren. Wir haben mit den Sozialdemokraten vereinbart, dass wir sie nicht vor die Frage stellen wollen, ob
sie sich für die türkische - weil natürlich ihre Eltern aus
der Türkei kommen und ihre Großeltern dort noch leben - oder für die deutsche Staatsbürgerschaft entscheiden will, sondern wir haben gesagt: In diesem Fall
akzeptieren wir die deutsche Staatsbürgerschaft als Doppelstaatsbürgerschaft, damit Selin in Deutschland auch
wählen kann und möglicherweise eines Tages Bundeskanzlerin wird.
({0})
Das ist unsere Vereinbarung.
Jetzt gibt es aber leider nicht nur Selin, sondern es
gibt auch Abida. Über diesen Fall sind von türkischen
Frauen ganze Bücher geschrieben worden. Es ist nämlich so, dass Abida in Deutschland geboren wird und
kurz nach ihrer Geburt in die Türkei verbracht wird;
denn der Vater möchte nicht, dass sie in dieser dekadenten verweltlichten Republik aufwächst. Sie kommt ganz
bewusst zu den Großeltern nach Anatolien, geht dort auf
eine Koranschule. Mit 15 Jahren heiratet sie einen
Mann, den sie vorher noch nie gesehen hat. Sie spricht
kein Deutsch, sie hat Deutschland nie gesehen, sie hat
mit Deutschland null Komma null Identifikation. Das
möchte ihre Familie so.
({1})
Ich möchte das gar nicht bewerten; aber klar ist - jedenfalls für die Unionsfraktion -: Das ist nicht das, was wir
uns unter einer gelungenen Integration vorstellen.
({2})
Jedenfalls wollen wir solche Fälle nicht auch noch mit
einer deutschen Staatsbürgerschaft honorieren.
({3})
Was wollen wir, und was haben wir mit den Sozialdemokraten in den Koalitionsverhandlungen vereinbart?
Wir haben gesagt: Wenn jemand mit ausländischen Eltern hier geboren und aufgewachsen ist, akzeptieren wir
die Doppelstaatsbürgerschaft. - Der Kollege Beck hat
hier auf die Länderinteressen verwiesen. Ich habe auch
vonseiten der Länder den Vorwurf gehört, dass da eine
ungeheure Bürokratie aufgebaut werde.
({4})
Zum Ersten möchte ich fragen: Wo waren eigentlich die
Ländervertreter bei den Koalitionsverhandlungen? Ich
habe keinen Einzigen bemerkt, der dieses Argument in
den Koalitionsverhandlungen auch nur eine Sekunde
lang vorgetragen hätte. Zum Zweiten, Herr Kollege
Beck, wissen Sie ganz genau: Das Ganze ist doch eine
politische Frage. Ich respektiere Ihre Meinung; aber ein
Zeugnis vorzulegen, um einen Schulbesuch nachzuweisen, das ist doch kein Bürokratiemonstrum. Zeugnisse
hat jeder, der eine Schule besucht hat.
({5})
Diesen minimalen bürokratischen Aufwand dürfen wir,
glaube ich, schon verlangen.
({6})
Verstehen Sie: Es geht um die deutsche Staatsbürgerschaft. Ein Zeugnis vorzulegen, um einen Schulbesuch
nachzuweisen, ist, glaube ich, nicht zu viel verlangt.
({7})
Thomas Strobl ({8})
Wir reden hier nicht über die Verlängerung einer Parkzonenerlaubnis. Es geht um die deutsche Staatsbürgerschaft. Es geht um die Frage: Wie definieren wir unser
Staatsvolk? Es geht um die Frage: Wer ist hier Bürgerin,
wer ist hier Bürger? Es geht um die Frage: Wer ist diesem Land lebenslang mit Rechten und Pflichten verbunden? Es geht nicht zuletzt um die Frage: Wer ist hier
wahlberechtigt? Wer kann hier Bundeskanzlerin oder
Bundeskanzler wählen?
({9})
Das ist keine triviale Frage. Wir werden diese Frage,
Herr Kollege Beck, auch nicht nach dem entscheiden,
was jetzt drei Länder aus einem Wahlprogramm vom
September 2013 abgeschrieben haben, sondern wir werden das, wie es diese wichtige Thematik verlangt, in aller Gründlichkeit mit den Sozialdemokraten beraten auf
der Basis dessen, was wir im Koalitionsvertrag gemeinsam ausgehandelt haben. Ich bin ganz sicher, dass wir zu
einem guten Ergebnis kommen werden.
Danke fürs Zuhören.
({10})
Als Nächster erteile ich das Wort der Kollegin Petra
Pau, Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei
der Optionspflicht geht es um eine Bestimmung des
Staatsbürgerschaftsrechts, die seinerzeit unter der rotgrünen Bundesregierung eingeführt wurde und nun wieder abgeschafft werden soll. Ich darf hier daran erinnern,
dass die Linke schon damals gegen die Optionspflicht
und für eine generelle Hinnahme von doppelten Staatsbürgerschaften gestimmt hat.
({0})
Kollege Strobl, in Ihrer Rede wurde ganz deutlich,
worum es im Kern geht. Im Kern geht es darum, dass
junge Deutsche mit türkischen Wurzeln zwei Jahrzehnte
lang die deutsche und die türkische Staatsbürgerschaft
haben, sich dann aber entscheiden müssen, entweder für
die deutsche und gegen die türkische Staatsbürgerschaft
oder andersherum. Übersetzt müssen die jungen Leute
zwischen Wir und Ihr entscheiden, ohne Not und würdelos. Das findet die Linke falsch.
({1})
Der politische Konflikt ist übersichtlich: Die CDU/
CSU spiegelt den einen Pol wider, die Linke den anderen. Die CDU/CSU will eigentlich gar keine doppelte
Staatsbürgerschaft und wenn doch, dann mit möglichst
hohen Hürden. Die Linke will grundsätzlich doppelte
Staatsbürgerschaften, im Übrigen nicht nur deutsch-türkische.
({2})
Die Grundlagen des deutschen Staatsbürgerschaftsrechts
stammen übrigens aus einer Zeit, die nicht im Ansatz
verlängert werden sollte. Wir wollen ein offenes Staatsbürgerschaftsrecht und kein ausgrenzendes.
({3})
Der anhaltende Streit dreht sich um Pässe und dazugehörige Rechte. Infrage steht aber zugleich das gesellschaftliche Klima hierzulande. Ein Beispiel möge das
hier illustrieren. Es ist drastisch und hat Bezug zur
Mordserie der NSU-Nazibande. Wir sollten gemeinsam
darüber nachdenken.
Im Jahr 2001 wurde in Hamburg Süleyman Tasköprü
hingerichtet. Aysen Tasköprü ist seine Schwester. 2013
schrieb sie an
Noch im März 2011 konnte ich darüber lachen, als
eine Sachbearbeiterin im Rathaus zu meinem Sohn
sagte, er sei kein Deutscher. Der Kleine war ganz
erstaunt und erklärte ihr sehr ernsthaft, dass er sehr
wohl Deutscher sei, er habe schließlich einen deutschen Pass. …
Heute kann ich darüber gar nicht mehr lachen. Ich
hatte mal ein Leben und eine Heimat. Ich habe kein
Leben mehr. …
Ich habe auch keine Heimat mehr, denn Heimat bedeutet Sicherheit. Seitdem wir wissen, dass mein
Bruder ermordet wurde, nur weil er Türke war, haben wir Angst. Was ist das für eine Heimat, in der
du erschossen wirst, weil deine Wurzeln woanders
waren?
Nun reden wir heute nicht über das NSU-Desaster
und natürlich auch nicht über Mord, wohl aber über Heimat, in der man sich wohl und auch sicher fühlen soll,
auch mit fremden Wurzeln. Ein Doppelpass wäre hier
hilfreich.
({0})
CDU/CSU und SPD haben eine Lösung versprochen.
Wir warten auf Vorlage derselben, aber stattdessen gibt
es Zoff. Aktueller Stein des Anstoßes ist eine Bundesratsinitiative zu diesem Thema, die von drei Bundesländern getragen wird, in denen die SPD mitregiert. Das
wäre Wortbruch und wider die Große Koalition im
Bund, schimpfen Unionspolitiker und drohen mit Boykott in der Sache. Ich empfehle Ihnen: Nehmen Sie die
Bundesratsvorlage, und machen Sie sie bei allen Mängeln zum Bundesgesetz. Die Linke wäre dabei.
({1})
Abschließend sei noch gesagt: Wenn sich Teile der
Großen Koalition im Bund so groß wähnen, dass sie
Landesregierungen und Landesparlamenten vorschreiben wollen, was diese im Bundesrat dürfen und was
nicht, dann streichen Sie den Föderalismus doch gleich
aus dem Grundgesetz - und die Demokratie ebenso. Das
wäre zwar grundfalsch, aber konsequent. Ich denke, von
dieser Seite des Hauses sollten noch immer die wohlverstandenen Interessen der Bundesländer vertreten werden.
({2})
Als Nächste hat die Kollegin Dr. Eva Högl, SPDFraktion, das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich möchte es zu Beginn einmal ganz deutlich
sagen: Diese Große Koalition wird den Optionszwang
abschaffen.
({0})
Das werden wir als eine der ersten Maßnahmen dieser
Großen Koalition tun.
Wir haben eine Formulierung im Koalitionsvertrag,
die schon zitiert worden ist
({1})
- Sie müssen gar nicht so aufgeregt sein; wir können das
ruhig miteinander diskutieren -:
({2})
Für in Deutschland geborene und aufgewachsene
Kinder ausländischer Eltern entfällt in Zukunft der
Optionszwang und die Mehrstaatigkeit wird akzeptiert.
Das ist so weit klipp und klar; ich komme gleich zu
den Schwierigkeiten. Wir bringen damit ganz deutlich
zum Ausdruck, dass der Optionszwang abgeschafft wird.
Ich sage es ganz deutlich: Die Optionspflicht schadet
der Integration. Das stellen wir immer wieder fest. Sie
belastet die Verwaltung, und sie passt nicht zu einem
modernen Land wie Deutschland.
({3})
Deswegen schaffen wir sie für viele Menschen, die davon betroffen sind, ab.
({4})
Natürlich ist das in der Koalition ein umstrittenes
Thema; das leugnet hier doch niemand. Das war eine
schwere Entscheidungsfindung in der allerletzten Nacht
der Koalitionsverhandlungen. Das wissen alle, die in
diesem Haus sind, und das wissen alle, die diese Debatte
verfolgen.
({5})
Das ist nicht unumstritten, und es ist auch richtig so,
weil es nämlich ein wichtiges Thema ist, weil es um eine
ganz grundsätzliche Frage geht, die viele Menschen in
unserem Land betrifft.
({6})
Wir als SPD nehmen für uns in Anspruch, dass wir unsere Position bei den Koalitionsverhandlungen durchgesetzt haben. Das ist für uns ein Erfolg. Auch das möchte
ich hier sehr deutlich sagen.
({7})
Natürlich ist es kein Geheimnis - es ist ein offenes
Geheimnis -, dass die beiden Wörter „und aufgewachsen“ nicht einfach zu definieren sind. Wir ringen darum,
eine vernünftige Formulierung zu finden, was wir mit
„und aufgewachsen“ meinen.
({8})
Unsere generelle Linie ist: Wir schaffen die Optionspflicht ab, und wir erleichtern die Möglichkeit, die doppelte Staatsangehörigkeit zu behalten, für viele Menschen in unserem Land.
({9})
Für uns soll es nicht länger Deutsche auf Probe geben.
Wir wollen diejenigen nicht schlechterstellen, die bisher
schon ein Recht darauf haben, eine deutsche Staatsangehörigkeit zu bekommen und eine andere zu behalten.
Wir wollen nicht zu viel Bürokratie schaffen und selbstverständlich internationale Lebensläufe und die europäische Freizügigkeit berücksichtigen. Trotzdem - das besagt die Formulierung „und aufgewachsen“ - wollen wir
sicherstellen, dass die betroffenen Personen einen Bezug
zu Deutschland haben. Es ist gut, dass wir versuchen,
das sicherzustellen. Das ist der Kompromiss, den wir in
der Großen Koalition gefunden haben.
({10})
Deshalb rate ich zu ein bisschen weniger Aufregung und
zu mehr sachlicher Diskussion.
({11})
Es gibt einen ersten Vorschlag des Bundesinnenministers - das ist eine ganz normale Verfahrensweise -, und
darüber gibt es eine Abstimmung innerhalb der Bundesregierung. Für uns als SPD ist ganz klar, dass dieser Entwurf nicht das letzte Wort ist. Ich zitiere einmal einen
früheren Fraktionsvorsitzenden von uns; auch das ist geübte Praxis im Deutschen Bundestag. Nach dem
Struck’schen Gesetz verlässt ein Gesetzentwurf den
Bundestag nicht so, wie er hineingekommen ist. Das
wird vermutlich auch für diesen Gesetzentwurf gelten.
({12})
Für die SPD ist ganz klar - ich sage das noch einmal
sehr deutlich -: Wir wollen selbstverständlich nicht, dass
alle betroffenen Personen einzeln den Nachweis erbringen müssen, dass sie nicht optionspflichtig sind. Vielmehr sagen wir: Das ist ein falsches Signal. Wir wollen
das Verfahren erleichtern. Wir wollen den Entscheidungszwang abschaffen. Wir werden - seien Sie dessen
versichert, Kolleginnen und Kollegen von der Opposition - eine vernünftige Lösung für genau diese Frage finden, eine gute und praktikable Lösung.
({13})
Jetzt noch etwas zu der Initiative der Bundesländer.
Die Bundesländer haben das gute Recht, eine Initiative
in den Bundesrat einzubringen. Das spricht ihnen überhaupt niemand ab; das ist ihr gutes Recht.
({14})
- Jetzt rede ich und nicht Herr Strobl.
({15})
Das drückt doch etwas aus, Herr Beck; das wissen Sie
ganz genau, das wissen alle Beteiligten hier. Die SPD
wollte mehr. Die SPD möchte die doppelte Staatsangehörigkeit für einen viel größeren Personenkreis, auch für
Personen, die hier schon länger leben. Wir können den
Bundesländern, in denen die SPD mitregiert, eine solche
Bundesratsinitiative selbstverständlich nicht verwehren.
Aber ich rate auch hier zu ein bisschen weniger Aufregung; denn für die gesamte SPD, im Bund und in den
Ländern, gilt der geschlossene Koalitionsvertrag. Das
sage ich hier unmissverständlich.
({16})
Deswegen werden wir hier gemeinsam partnerschaftlich
und sachorientiert daran arbeiten, eine gute Lösung zu
finden.
({17})
Wir ignorieren die Störungen von außen. Wir freuen uns
über kluge Hinweise von Ihnen, Herr Beck, wie wir die
Wörter „und aufgewachsen“ gut definieren können. Ich
verspreche Ihnen, Herr Beck: Bei der nächsten Debatte
zum Thema Optionszwang werden wir eine gute Regelung vorgelegt haben.
Ich freue mich auf die Beratungen zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung und auf Ihre Unterstützung
bei der Abschaffung des Optionszwangs; denn darum
geht es.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({18})
Als Nächstem erteile ich das Wort dem Kollegen
Özcan Mutlu, Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bisher haben wir von den Vertreterinnen und Vertretern der Regierungskoalition leider weder etwas Neues noch etwas
Konkretes gehört.
({0})
Frau Eva Högl hat deutlich gemacht, dass sie auf die
Einlösung ihrer Versprechen im Wahlkampf noch längst
nicht verzichtet hat. Herrn Strobl ist das Thema so wichtig, dass er nach seinen Tiraden den Saal verlassen hat.
({1})
Eines ist aber erneut klar geworden: Sie von der Großen
Koalition haben weder eine gemeinsame Haltung in dieser wichtigen Frage, noch wissen Sie überhaupt, wohin
die Reise geht. Das ist ein Problem. Die Wahrheit ist
doch: Die SPD konnte sich und kann sich nach wie vor
nicht durchsetzen, und die CDU hat ihre weltoffene
Maske schnell abgelegt.
Das, was Sie als Entwurf vorlegen oder demnächst
zur Diskussion stellen wollen, ist nicht die Abschaffung
des Optionszwangs. Im Gegenteil: Sie perfektionieren
ihn, indem Sie ihn zum einen mit Attributen versehen,
die mehr Bürokratie bedeuten, und zum anderen den betroffenen Jugendlichen sagen: Wir wollen euch schon
haben, aber wir wollen auch Hürden. - Genau das ist das
Problem, und das machen wir nicht mit.
({2})
Anders sind der Hickhack in der GroKo und Ihre Hinhaltetaktik nicht zu verstehen. Sie ziehen sich auf die Interpretation von Nebensätzen im Koalitionsvertrag zurück; Sie versteigen sich und betreiben Wortklauberei.
Für all die betroffenen jungen Menschen, die jetzt vielleicht unsere Debatte im Parlamentsfernsehen sehen, ist
das keine Botschaft, die wir aus diesem Hohen Hause
senden wollen.
Es ist ein Skandal, wie Sie seit Monaten mit diesem
gesellschaftlich wichtigen Thema umgehen. Ich finde
Ihre Spielchen in dieser Auseinandersetzung einfach beschämend, weil Sie verkennen, dass diese jungen Menschen sich sehr wohl zu diesem Land bekennen können,
auch wenn sie die Staatsbürgerschaft der Eltern oder
Großeltern beibehalten.
Wir reden inzwischen von hybriden Identitäten, und
Sie bestehen darauf und verlangen, dass diese jungen
Menschen ein einseitiges und alleiniges Bekenntnis zu
Deutschland abgeben, im Wissen, wie schwierig das in
vielen Fällen ist. Genau das ist das Problem in dieser Debatte.
Es ist auch beschämend, weil Sie diese Auseinandersetzung auf dem Rücken dieser jungen Menschen austragen, die tagtäglich zwangsweise ausgebürgert werden.
({3})
Inzwischen sind schon 400 Menschen per Gesetz ausgebürgert worden. Es geht um 8 500 - das sind im Übrigen
Zahlen aus den Statistiken des Bundesinnenministeriums -,
die sich in den nächsten zwei Jahren entscheiden müssen. Wir Grünen sagen: Damit muss Schluss sein.
Schluss mit diesem Optionszwang, ohne Wenn und
Aber!
({4})
Sie reden von Integration - das hat auch Kollege
Strobl gemacht -, wollen aber dieses integrationsfeindliche Instrument fortführen und ausbauen. Wir schaffen
damit, wenn es - gegen unsere Stimmen - durchkommt,
ein Bürokratiemonster, das Geld und Zeit kostet und unnötigen Ärger verursacht.
Oliver Welke von der heute-show - er ist Ihnen allen
bekannt - brauchte nur den Vorschlag von Bundesinnenminister de Maizière vorzulesen und hatte schon die Lacher auf seiner Seite. Aber das Schlimme an dieser Debatte ist, dass es keine Satire ist. Der Innenminister
meint es ernst. Er will die Optionspflicht abschaffen,
heißt es. Ich meine, er will sie nur neu interpretieren.
Hier geboren und aufgewachsen muss man dann sein.
Aber die Frage, was „aufgewachsen sein“ bedeutet, hat
uns auch heute niemand beantwortet.
Wie viele Jahre muss man Luft in Deutschland geatmet haben, damit man tatsächlich deutsch genug ist?
Kann man nicht im Ausland aufwachsen und trotzdem
wertvoller Teil dieser Gesellschaft sein, vor allem in einem immer stärker zusammenwachsenden Europa?
Wie lässt sich der Entwurf des Innenministers mit der
Freizügigkeit in Europa vereinbaren? Kollege Beck hat
es bereits gesagt. Was ist denn, wenn meine Tochter tatsächlich nach Paris geht, dort ihren AbiBac macht und
zurückkommt? Dann hat sie keinen deutschen Schulabschluss, und sie darf nicht die doppelte Staatsbürgerschaft behalten. Das ist ein Problem.
Ein Problem ist es, dass Sie optionspflichtigen Kindern oder Jugendlichen, die einen ausländischen Abschluss machen, dies zum Verhängnis machen. Das passt
weder hinten noch vorne zusammen, liebe Kolleginnen
und Kollegen. Deshalb werden wir Ihren Entwurf ablehnen.
({5})
Seien Sie vernünftig! Beenden Sie diese Interpretationsschlacht! Wir sagen: Chancengerechtigkeit für alle.
Hören Sie auf, die Andersartigkeit mit irgendwelchen
Interpretationen zu manifestieren und der Integration zu
schaden!
Aus diesem Grunde sagen wir, dass die Vorschläge
aus den Ländern bzw. die Bundesratsinitiative der Länder Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein richtig sind. Begreifen Sie das als eine Unterstützung, liebe Kollegen von der SPD! Nehmen Sie
das an, und setzen Sie sich endlich durch! Lassen Sie
nicht zu, dass sich ein Herr Strobl und Gleichgesinnte in
dieser für unsere Gesellschaft wichtigen Frage durchsetzen.
Zuletzt möchte ich Herrn Gabriel und Frau Özoğuz an
ihre Versprechen wenige Tage vor dem Mitgliederentscheid der SPD erinnern. Da stand es nämlich klar und
deutlich: Der Optionszwang wird abgeschafft. - Da
stand nicht: Wir interpretieren das neu.
In diesem Sinne hoffe ich auf Ihre Vernunft. Auf Unterstützung von der rechten Seite brauche ich nicht zu
hoffen. Aber Sie, meine Damen und Herren von der
SPD, haben die Gelegenheit, ein gutes Gesetz zu machen.
Ich danke Ihnen.
({6})
Ich darf das Haus informieren, dass sich der Kollege
Strobl entschuldigt hat - und zwar meiner Ansicht nach
bei allen Fraktionen -, weil er als stellvertretender Fraktionsvorsitzender nun in verantwortlicher Funktion einer
Vizepräsident Peter Hintze
Anhörung beizuwohnen hat. Deswegen hat er seine Abwesenheit beim weiteren Fortgang der Debatte entschuldigt.
Als Nächstem erteile ich dem Kollegen Heinrich
Zertik von der CDU/CSU-Fraktion das Wort zu seiner
ersten Rede im Deutschen Bundestag. Herr Zertik, bitte.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir sprechen heute über die Staatsangehörigkeit. Ich selber bin
in Kasachstan geboren und mit meiner Familie Ende der
80er-Jahre nach Deutschland gekommen. Wir haben darum gekämpft, hierherzukommen. Es war schwierig und
mühselig, die nötigen Papiere für zahlreiche Anträge zusammenzustellen und unsere Ausreise voranzutreiben.
Warum haben wir es getan? Weil wir aus voller Überzeugung in Deutschland leben wollten. Für uns war es
keine Frage, ob wir unsere alte Staatsbürgerschaft behalten oder nicht. Uns war klar, dass wir die deutsche
Staatsbürgerschaft haben wollten, nicht nur um alle
Rechte zu erlangen, sondern auch bewusst Pflichten als
deutsche Staatsbürger zu übernehmen.
({0})
Es war nicht immer einfach, hier heimisch zu werden.
Zu Hause haben wir Deutsch gesprochen, Alltagsdeutsch.
({1})
- Ich komme gleich darauf zurück. - In Deutschland
stellten wir dann fest, dass wir nicht immer verstanden
wurden. Aber wir hatten und haben den festen Willen,
uns hier zu beheimaten. Inzwischen sind viele meiner
Landsleute in Deutschland angekommen. Unter ihnen
sind viele Beispiele für eine gelungene Integration.
Das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung
hat 2009 einen Index zur Messung von Integration vorgestellt. Demnach liegt der Anteil der Personen zwischen 20 und 64 Jahren, die weder einen schulischen
noch einen beruflichen Abschluss erreicht haben, bei
Aussiedlern unter 3 Prozent. Warum erzähle ich Ihnen
das? Ein Bildungsabschluss ist ein Zeichen für eine gelungene Integration. Das lässt sich auch anhand der Zahlen für berufliche Bildungsabschlüsse belegen. 12 Prozent der Spätaussiedler haben einen Abschluss als
Meistertechniker erworben bzw. eine Berufs- oder Fachhochschule abgeschlossen. Bei Personen ohne Migrationshintergrund liegt der Wert bei 14 Prozent, also
geringfügig darüber. Bei Personen mit Migrationshintergrund liegt der Wert bei 9 Prozent. Das müssen wir noch
verbessern. Ein Abschluss ist der Zugang zu einem Arbeitsplatz und damit zur Sicherung des Lebensunterhalts. Es geht also darum, Integrationsbemühungen zu
fördern und Potenziale zu nutzen. Die Anerkennung ausländischer Bildungsabschlüsse, die 2011 beschlossen
und in Gesetzesform gegossen wurde, ist dafür ein wichtiger Schritt. Leider haben einige SPD-regierte Länder
dies noch immer nicht umgesetzt.
Angela Merkel, unsere Bundeskanzlerin, hat von einer Willkommenskultur gesprochen. So steht es auch im
Koalitionsvertrag. Da gibt es noch Defizite und einiges
zu tun. Keiner oder keine soll benachteiligt sein, weil er
oder sie aus einem anderen Kulturkreis stammt. Unsere
Aufgabe als Parlamentarier ist es, diese Willkommenskultur zu fördern und zu stärken. Wir müssen dafür
Sorge tragen, dass sich alle Menschen, die sich bewusst
entscheiden, hier zu leben, unsere Werte zu akzeptieren
und hier ihren Lebensunterhalt zu verdienen, gut aufgenommen fühlen. Da helfen mehrere Staatsbürgerschaften
wenig. Es hilft aber, wenn sie den Eindruck gewinnen,
dass sie gewollt sind, dass ihre Person geschätzt wird,
weil sie sich in die Gesellschaft einbringen. Wenn das
der Fall ist, dann verspreche ich Ihnen: Diese Menschen
werden nicht den Wunsch haben, mehrere Staatsbürgerschaften zu behalten, sondern sie werden sich aus vollem
Herzen und aus voller Überzeugung für die deutsche
Staatsbürgerschaft entscheiden.
({2})
Trotzdem werden sie ihre kulturellen Wurzeln nicht
vergessen, trotzdem sprechen sie noch ihre Muttersprache. Das ist für Deutschland eine große Bereicherung;
denn diese Menschen sind Kulturbotschafter ihrer Länder. Es ist notwendig, die deutsche Sprache zu beherrschen, um hier die Ausbildung zu absolvieren und sich
in das Arbeitsleben produktiv einzubringen. Um eine
zweite Sprache zu sprechen, um sich im Land ihrer Vorfahren zurechtzufinden, verwandtschaftliche Beziehungen zu pflegen und die dortige Kultur zu erleben und zu
erfahren, dafür nutzen mehrere Staatsbürgerschaften auf
dem Papier nichts. Es geht um die Identifikation, um die
Identifikation mit Deutschland, mit unserer Kultur und
unserer Geschichte. Es geht um die Identifikation mit
unseren Grundwerten Demokratie und Freiheit.
Vielen ausländischen Mitbürgern ist das bewusst. Das
belegen auch Zahlen einer Einbürgerungsstudie, die das
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zur Optionsregelung im Jahr 2011 erstellt hat. Demnach schaffen soziale und berufliche Einbettung starke alltagspraktische
Bindungen. Dies gilt auch für die privaten und beruflichen Zukunftsplanungen, die sich bei den befragten
Optionspflichtigen überwiegend auf Deutschland richten. Knapp 90 Prozent der Optionspflichtigen, die befragt wurden, haben sich für den deutschen Pass ausgesprochen, weil sie hier ihren Lebensmittelpunkt haben,
weil sie die Rechte eines deutschen Staatsbürgers behalten wollen, weil sie auch die Vorteile nutzen möchten,
als EU-Bürger zu reisen, zu leben und zu arbeiten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Optionszwang hin
oder her - das ist eine Formalität. In Deutschland kann
jeder, der sich mit diesem Land und seinen Werten identifiziert, der die Sprache spricht und für seinen Lebensunterhalt sorgen kann, hier eingebürgert werden und einen deutschen Pass erhalten.
({3})
Er oder sie kann deutscher Staatsbürger werden, ohne
Wenn und Aber, mit allen Rechten und Pflichten. Das
wollen wir fördern und unterstützen. Das verstehe ich
unter Willkommenskultur. Das deutsche Staatsbürgerrecht ist nicht so schlecht, wie manche denken oder sagen. Wir sollten daran festhalten, dass der, der sich zur
deutschen Staatsbürgerschaft bekennt, sich mit Deutschland identifiziert. Das sind die Menschen, die wir brauchen. Sie sind es, die Deutschland bereichern.
Danke schön.
({4})
Wir gratulieren dem Kollegen Heinrich Zertik herzlich zu seiner ersten Rede im Deutschen Bundestag zu
diesem spannenden und herausfordernden Thema.
({0})
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Kollegin Christine Buchholz, Fraktion Die Linke.
({1})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir finden es gut, dass drei rot-grüne Bundesländer die Bundesratsinitiative gestartet haben, das Recht auf doppelte
Staatsbürgerschaft für Kinder, die hier geboren sind, zu
gewähren; denn damit würde der diskriminierende Optionszwang, nach dem sich diese Kinder zwischen zwei
Staatsbürgerschaften entscheiden müssen, endlich bedingungslos abgeschafft.
({0})
Denn was bedeutet Optionszwang praktisch? Im Regierungsbezirk Darmstadt, in dem mein Wahlkreis liegt,
haben bereits im ersten Halbjahr 2013 28 Jugendliche
die deutsche Staatsangehörigkeit automatisch verloren,
fast alle Kinder türkischer Eltern. Diese jungen Menschen besitzen jetzt nur noch die Staatsangehörigkeit ihrer Eltern. In Hanau verlor eine 23-Jährige ihren deutschen Pass, weil sie nicht rechtzeitig zwischen deutscher
und türkischer Staatsangehörigkeit gewählt hat. Dabei
hätte sie lieber den deutschen Pass behalten. Sie hat
keine Chance, das Versäumnis zu heilen; die Behörde
sieht keinen Spielraum.
248 jungen Menschen wurde 2013 durch den Optionszwang bundesweit die deutsche Staatsbürgerschaft
entzogen, der überwiegenden Mehrheit, weil sie Fristen
versäumt hat. Was bedeutet das für diese jungen Menschen, die bereits 23 Jahre lang Deutsche waren? Wie
fühlt sich das für sie an?
Was bedeutet das für diese jungen Menschen, die in
Deutschland eine Wohnung, eine Arbeit, einen Ausbildungsplatz oder einen Studienplatz finden wollen, da
doch klar ist, dass es Diskriminierung gibt und das ohne
eine deutsche Staatsbürgerschaft schwieriger ist?
Union und SPD haben im Koalitionsvertrag vereinbart, Kindern von Zuwanderern die doppelte Staatsangehörigkeit zu gewähren, sofern sie in Deutschland geboren und aufgewachsen sind. Man könnte es so verstehen,
als ob der Optionszwang damit abgeschafft würde. Aber
ich sage Ihnen: Ihr angeblicher Doppelpasskompromiss
ist faul. Die Optionspflicht bleibt, und sie wird noch bürokratischer. Sogenannte Optionskinder müssen unter
Beweis stellen, dass sie „richtige Deutsche“ sind. Als
Nachweis sollten dafür die Betroffenen die Geburtsurkunde, eine deutsche Meldebescheinigung und ein deutsches Schulabschlusszeugnis vorlegen. Wenn Sie, Herr
Kollege Strobl, sagen: „Das sollen sie doch machen“,
dann ignorieren Sie bewusst und wissentlich, dass es
eine Diskriminierung von Migranten im deutschen Bildungssystem gibt. Herr Strobl, damit erschweren Sie gerade diesen Jugendlichen die Erlangung der deutschen
Staatsbürgerschaft und damit des Doppelpasses.
({1})
Warum wollen CDU und CSU diese Optionspflicht
unbedingt beibehalten, dieses bürokratische Monster,
wie es der Kollege Veit in der vergangenen Legislatur
richtigerweise bezeichnet hat? Eine Überprüfung von
Hunderttausenden Lebensläufen wird damit verewigt.
Selbst nach Angabe von Innenminister de Maizière werden 90 Prozent aller sogenannten Optionskinder beide
Staatsangehörigkeiten behalten können. Warum dann
diese Schikane? Ich sage es Ihnen: Die Optionspflicht
gilt nicht für Kinder von EU-Bürgern oder Schweizern.
Im Wesentlichen ist die Optionspflicht eine Diskriminierung von Kindern türkischer Eltern in Deutschland.
({2})
Sie ist in Gesetz gegossener Rassismus. Auch deshalb
muss der Optionszwang dringend weg.
Es ist eine Schande, dass die Bundestagsfraktion der
SPD, die SPD-geführten Länder und auch die Grünen in
Hessen nun dem Gesetzesantrag der drei rot-grün geführten Bundesländer in den Rücken fallen.
({3})
Selbst die Initiatoren dieses Antrags dieser drei Länder
sind weichgekocht worden. Der Gesetzentwurf soll nun
nach Aussage der rheinland-pfälzischen Ministerpräsidentin Malu Dreyer nicht einmal im Plenum des Bundesrates diskutiert werden - eine Beerdigung erster Klasse.
Es ist schade, dass die Grünen dazu nichts gesagt haben.
Die hessischen Grünen lassen sich von der CDU am Nasenring durch die Manege führen.
({4})
Im Koalitionsvertrag von Schwarz-Grün steht:
Auf bundespolitischer Ebene werden wir die Aufhebung der Optionspflicht und die Akzeptanz von
Mehrstaatigkeit im Staatsangehörigkeitsrecht für in
Deutschland geborene und aufgewachsene Kinder
ausländischer Eltern unterstützen.
Selbstverständlich haben die Wählerinnen und Wähler und auch viele Betroffene gehofft, dass damit auf
Bundesebene klare Kante gezeigt wird. Jetzt wollen sie
sich enthalten. Gerade das macht die Entscheidung für
die Betroffenen so bitter.
({5})
Außerdem zeigt es, dass die Geister, die Roland Koch
1999 im Hessen-Wahlkampf mit seiner Unterschriftenkampagne gegen die doppelte Staatsbürgerschaft rief,
immer noch spuken und wirksam sind. Leider ist der
faule Kompromiss nicht der einzige, den die Große Koalition fabriziert hat. Die Große Koalition hat ausdrücklich vereinbart, dass es zu keiner Erleichterung der Einbürgerung kommt und dass es für Migranten auch
weiterhin keine doppelte Staatsbürgerschaft und auch
nicht die notwendige Reform des auf dem Blutsprinzip
beruhenden Staatsbürgerschaftsrechtes geben wird.
Die Linke fordert, Einbürgerungen endlich zu erleichtern, das Wahlrecht für alle, die mehr als fünf Jahre hier
leben, einzuführen und die doppelte Staatsbürgerschaft
für alle Migranten zu ermöglichen. Ich sage Ihnen: Die
Integrationsverweigerer sitzen hier auf der Regierungsbank. Zeigen Sie den jungen Menschen aus Migrationsfamilien endlich, dass sie hier willkommen sind - ohne
Wenn und Aber.
({6})
Vielen Dank. - Das Wort hat jetzt der Kollege Uli
Grötsch, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau
Kollegin Buchholz, ich weiß nicht, ob es Ihnen zusteht,
die SPD-Bundestagsfraktion mit Schimpf und Schande
zu überziehen. Ich weiß schon gar nicht, ob es Ihnen zusteht, unsere Integrationsministerin als Integrationsverweigerin zu bezeichnen.
({0})
Sie wissen ja, wer die Akteure sind, die sich um Integration in unserem Land verdient machen. Bevor Sie solche
Worte benutzen, sollten Sie kurz einmal schauen, wer
auf der Regierungsbank sitzt und wer nicht.
Natürlich ist Deutschland ein Einwanderungsland,
und das ist auch gut so. Natürlich braucht unser Land
künftig ein modernes Staatsangehörigkeitsrecht. Daran
zweifeln nur die, die man da, woher ich komme, Hinterwäldler nennt. Auch ich meine, dass es gut ist, dass sich
alle politischen Akteure in Deutschland auch außerhalb
des Deutschen Bundestages und ausdrücklich auf allen
Ebenen Gedanken darüber machen, wie dieses Recht in
Zukunft aussehen soll. Niemand hier will doch den Ländern das Recht absprechen, ihre in der Verfassung verankerten Rechte zu nutzen und sich am politischen Diskurs
aktiv zu beteiligen. Die Kollegin Högl hat schon darauf
hingewiesen. Es ist natürlich auch kein Geheimnis, dass
die Fraktionen der SPD und der CDU/CSU bei der Haltung zur Abschaffung des Optionszwangs und darüber,
wie ein künftiges Staatsangehörigkeitsrecht in Deutschland ausgestaltet wird, unterschiedlicher Meinung sind.
Wir wissen, dass es schon lange gesellschaftliche Realität ist, dass das bis dahin geltende Staatsangehörigkeitsrecht überaltert ist und es einer Neuregelung bedarf. Es
ist peinlich genug, dass wir mehr als 20 Jahre brauchen,
um gesellschaftliche Realitäten mit Mehrheiten im Deutschen Bundestag abzubilden.
Ich möchte ganz kurz auf den Kollegen Strobl zu
sprechen kommen. Schade, dass er nicht mehr im Saal
ist. Seine beiden Geschichten, die er vorgetragen hat,
waren mit Pathos durchsetzt, so will ich es einmal sagen.
Ich glaube ganz und gar nicht, dass man Deutscher werden kann. Ich glaube, dass das Deutschsein etwas ist, das
man in sich spürt und weitertragen will. Ich glaube ausdrücklich ganz und gar nicht, dass es etwas damit zu tun
hat, ob die Wurzeln der betreffenden Person in Deutschland oder einem anderen Land der Welt liegen.
Mit dem aktuell geltenden Koalitionsvertrag ist der
SPD wieder ein Schritt hin zum großen Ziel gelungen
- ganz ohne Frage -; mehr nicht als ein weiterer Schritt,
aber doch immerhin. Wir stehen kurz vor der Ziellinie,
und glauben Sie mir, wir freuen uns darauf, dass wir dieses für uns so wichtige Projekt gemeinsam über die Ziellinie tragen können. Dahin geht die Reise, hin zu diesem
großen Ziel, Herr Kollege Mutlu. Natürlich ist diese
Reise kein Kurztrip, sondern eine ziemlich lange Reise,
aber es lohnt sich auch, diese lange Reise zu machen,
weil es zu dem wirklich erstrebenswerten Ziel führt. Für
uns wird es eine große Errungenschaft sein, wenn wir
das Ziel erreicht haben, weil wir mit der Abschaffung
der Optionspflicht eines der ganz großen gesellschaftspolitischen Ziele erreicht haben.
({1})
- Dann scheinen Sie die Formulierungen des Koalitionsvertrages noch nicht ausführlich gelesen zu haben. Wenn wir sie abgeschafft haben, haben wir etwas umgesetzt, was längst Realität und eigentlich längst überfällig
ist.
Lassen Sie mich noch einmal an die Adresse der
Unionsfraktion sagen: Wir sind vertragstreu, auch wenn
es nicht immer Spaß macht. Für die SPD-Bundestagsfraktion ist der Koalitionsvertrag in all seinen Bereichen
bindend. Diese Bindung erwarten wir als SPD mit Fug
und Recht von unserem Koalitionspartner. Trotzdem will
ich gegen Ende dieser Debatte nochmals betonen, dass
es den Fraktionen im Bundestag nicht obliegt, darüber
zu urteilen, ob sich die Bundesländer richtig oder falsch
verhalten. Auch die Landesregierungen haben natürlich
ihre Koalitionsverträge und sind daran gebunden. Von
daher meine ich, dass man es gar nicht negativ bewerten
sollte, wenn die Länder ihre Rolle wahrnehmen. Es bedarf schon gar nicht eines Sturms der Entrüstung im ganzen Land, um die SPD-Bundestagsfraktion auf ihre vertraglichen Verpflichtungen aufmerksam zu machen und
hinzuweisen.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Unionsfraktion, Sie wissen, dass es uns mit dem Koalitionsvertrag
ernst ist. Sie wissen, dass wir den Vertrag bis 2017 so
umsetzen wollen, wie er beschlossen und geschlossen
wurde. Sie wissen, dass auf die Sozialdemokratie Verlass
ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Oppositionsparteien, Sie wissen das auch. Sie wissen außerdem,
dass wir noch weit über die Legislaturperiode hinaus die
Abschaffung der Optionspflicht im Staatsangehörigkeitsrecht als Topthema haben werden. Rufen Sie doch
nicht in den Saal, dass Sie den Entwurf ablehnen werden, bevor Sie ihn überhaupt kennen.
({3})
Ich komme zurück auf das Thema der Aktuellen
Stunde: Die Position der SPD-Bundestagsfraktion ist
schlichtweg unverändert.
Vielen Dank.
({4})
- Unverändert.
Vielen Dank. - Nächste Rednerin in der Debatte ist
die Kollegin Andrea Lindholz, CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Ein Zitat des dänisch-deutsch-amerikanischen Psychoanalytikers Erik Erikson lautet:
Identität, das ist der Schnittpunkt zwischen dem,
was eine Person sein will, und dem, was die Welt
ihr zu sein gestattet.
In Deutschland liegt dieser Schnittpunkt nah bei der einzelnen Person. Bei uns kann man sich weitgehend frei
entscheiden, womit man sich identifiziert und wovon
man sich abgrenzen möchte. Das ist ein Aspekt unseres
freiheitlich-demokratischen Rechtsstaates, auf den wir
stolz sein können.
Die offizielle Staatsangehörigkeit kann kaum beeinflussen, wie der Einzelne innerhalb einer Gesellschaft
wahrgenommen wird. An dem sozialen Phänomen, dass
zum Beispiel ein Deutsch-Türke in der Türkei eher als
Deutscher und in Deutschland eher als Türke wahrgenommen wird, wird auch die doppelte Staatsbürgerschaft
wenig ändern. Für die Integration des Einzelnen sind
Aspekte wie Sprache, Sozialisation, Familie und Wohnort weitaus entscheidender als der Pass. Letztendlich
läuft es also auf die eigene, individuelle Entscheidung
hinaus, wo jemand seine Heimat und seinen Lebensmittelpunkt sucht und finden möchte.
Das bisherige Optionsmodell ermöglicht jungen Migranten, genau diese Entscheidung im Alter zwischen
18 und 23 Jahren bewusst zu treffen. Die BAMF-Einbürgerungsstudie 2011 zeigt, dass diese Regelung vernünftig ist: 87 Prozent der Eingebürgerten sehen es als Vorteil, dass sie sich ihre Staatsbürgerschaft aussuchen
durften. 76 Prozent sagen, dass diese Entscheidung sie in
ihrer Lebensplanung nicht verunsichert hat. Rund
90 Prozent entscheiden sich für die deutsche Staatsbürgerschaft. - Angesichts solcher Werte ist der Vorwurf, es
müssten hier unzumutbare Gewissensentscheidungen
getroffen werden, nicht nachvollziehbar.
({0})
Die Union wollte daher an den bestehenden Regelungen festhalten, und ein großer Teil der Wählerinnen und
Wähler - das zeigt das überzeugende Ergebnis - hat uns
das Vertrauen geschenkt.
({1})
Allerdings sind wir uns bewusst - das muss nicht immer
Spaß machen -, was Regierungsverantwortung in einer
Koalition bedeutet. Wir haben nun mit der SPD im Koalitionsvertrag einen Kompromiss bei der doppelten
Staatsbürgerschaft geschlossen, und diesen Kompromiss
sollten wir auch umsetzen.
({2})
- Das mag Ihr fauler Kompromiss sein; es ist unser
Kompromiss. ({3})
Im Koalitionsvertrag heißt es wörtlich:
Für in Deutschland geborene und aufgewachsene
Kinder ausländischer Eltern entfällt in Zukunft der
Optionszwang und die Mehrstaatigkeit wird akzeptiert.
({4})
- Sie können es nachlesen. ({5})
Im Übrigen bleibt es beim geltenden Staatsangehörigkeitsrecht.
Der Bundesinnenminister hat nun mit dem Referentenentwurf eine gute, praktikable und wortgetreue
Umsetzung, so wie man es von ihm erwarten kann, vor1490
geschlagen. Er befindet sich noch in der Ressortabstimmung. Es bleibt jedem überlassen, daran mitzuarbeiten.
({6})
Wer in Deutschland einen Schulabschluss erworben hat
oder bis zum 23. Lebensjahr mindestens zwölf Jahre in
Deutschland gelebt hat, davon vier Jahre im Alter zwischen 10 und 16, soll von der Optionspflicht befreit werden. Über 90 Prozent der heute Optionspflichtigen würden diese Kriterien erfüllen, und sie bekämen somit die
doppelte Staatsbürgerschaft.
({7})
Wenn es Ihnen, meine sehr geehrten Damen und Herren, also wirklich um die jungen Migranten und nicht
nur um polemische Diskussionen geht, dann helfen Sie
doch mit, Herr Beck, diesen vernünftigen und vertraglich vereinbarten Kompromiss umzusetzen.
({8})
Es liegt nämlich nicht an unserem ehemaligen Minister
Friedrich, dass wir dieses Vorhaben nicht weiter betreiben. Wir haben es im Übrigen mit einer Affäre Edathy,
nicht mit einer Affäre Friedrich zu tun.
({9})
Diese Affäre kennt bisher nur ein einziges Opfer, und
das ist das politische Opfer, Herr Friedrich. Es liegt an
uns, an den Mitgliedern dieses Parlaments, die Regelungen, die im Koalitionsvertrag vereinbart sind, auch umzusetzen.
Die Frankfurter Rundschau hat heute berichtet, dass
auch die SPD-Fraktion keine Bundesratsmehrheit mehr
für die rot-grüne Initiative sieht. Ich schließe daraus,
dass man sich in der SPD nun bewusst ist, dass solche
Initiativen schlicht und einfach keine vertrauensbildenden Maßnahmen darstellen.
({10})
- Das mag sein, Herr Beck.
({11})
Trotzdem: Die SPD ist - davon gehe ich aus - eine in
sich geschlossene Truppe, und das gilt auch für die SPD
in den Bundesländern. Auch wenn es den Ländern unbenommen bleibt, sich dagegen zu positionieren, stellt dies
nach unserer Auffassung keine vertrauensbildende Maßnahme dar.
Ich hoffe daher, Frau Högl, liebe Kolleginnen und
Kollegen der SPD, dass wir uns jetzt an die Umsetzung
der Vereinbarung aus dem Koalitionsvertrag machen und
damit für die jungen Migranten - das müsste auch bei
den Grünen ankommen - eine Verbesserung herbeiführen.
Vielen Dank.
({12})
Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege
Rüdiger Veit, SPD-Fraktion.
({0})
Liebe Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen
und Herren! Meine Parlamentarische Geschäftsführerin
hat mir eben noch mit auf den Weg gegeben: Denk dran,
das sind jetzt Freunde!
({0})
Gemeint waren die Kollegen von der CDU/CSU. - Ich
bitte um Verzeihung, Herr Kollege Strobl, wenn ich in
dieser Hinsicht noch ein bisschen üben muss.
({1})
Trotzdem muss ich mich Ihnen in mindestens einem
Punkt zuwenden.
Ich verstehe die ganze Aufregung nicht. Drei rot-grün
geführte Bundesländer haben nichts anderes gemacht, als
das in einen Gesetzentwurf zu kleiden, was seit 20 und
mehr Jahren die Position der Sozialdemokraten ist.
({2})
Was ist denn daran sensationell? Was ist daran neu? Neu
und sensationell wäre es, wenn das Gegenteil von dem
geschehen wäre. Aber in diesem Fall handelt es sich um
ein selbstverständliches Bekenntnis zu unseren Grundsatzpositionen.
Ich höre gerade den berechtigten Zwischenruf: So ist
das jetzt nun einmal in einer Koalition. - Ich bin einer
von denjenigen, die diese Formulierung des Koalitionsvertrages nicht gerade mit großem Entzücken gelesen
haben, sondern mit großer Sorge.
({3})
Ich bin mir auch nicht hundertprozentig sicher, dass alle,
die daran beteiligt waren, so genau wussten, was das
möglicherweise in der gesetzestechnischen Umsetzung
bedeutet. Das ist in Koalitionen nun einmal so, sowohl
auf Bundesebene als auch auf Länderebene.
Da ich gerade auf die Länderebene zu sprechen
komme, lieber Volker Beck: Die gleiche Formulierung
findet sich in Zeile 2 695 des schwarz-grünen Koalitionsvertrages in Hessen.
({4})
Ich hätte mir vorher nicht vorstellen können, dass ausgerechnet Tarek Al-Wazir diese Formulierung akzeptiert.
({5})
Wenn man - wie ich - gehört hat, lieber Volker, wie
Tarek die Diskussion in seiner eigenen Familie beschreibt - da geht es um die Frage: Wer ist Jemenit, wer
ist Jemenit und Deutscher, wer ist vielleicht nur Deutscher? -, dann kann man sich nur sehr schwer vorstellen,
dass er eine solche Vereinbarung tatsächlich akzeptiert.
({6})
Die Formulierung finde ich mindestens so bedauerlich
wie das, was wir in der Großen Koalition auf Bundesebene vereinbaren mussten. Aber wir werden nicht müde
werden, das noch zu ändern.
Auf ein paar Aspekte muss man immer wieder hinweisen, weil sie doch die Sichtweise verstellen. Herr
Kollege Strobl, jetzt komme ich doch noch einmal zu
meinen neuen Freunden; ich bitte um Nachsicht. Sie haben vorhin im Zusammenhang mit dem Beispiel von
Abida so getan, als sei es ein besonderes Geschenk, dass
jemand die deutsche Staatsbürgerschaft hat, obwohl er
überwiegend in der Türkei gelebt hat.
({7})
Dabei übersehen Sie - wie so viele, die darüber diskutieren -, dass Abida selbstverständlich die deutsche Staatsbürgerschaft behalten
({8})
und weiterhin in Istanbul, Ankara oder in Anatolien leben könnte.
({9})
Es wird nämlich immer übersehen: Es ist keine Belohnung, die man jemandem sozusagen hinterherwirft,
({10})
sondern die betreffende Person hat kraft Geburt die deutsche Staatsbürgerschaft und muss sich bis zum 23. Lebensjahr entscheiden, ob sie sie behalten möchte. Sie
kann leben, wo immer sie will; wenn sie sagt: „Ich
möchte die deutsche Staatsbürgerschaft behalten“, dann
kann sie sich trotzdem weiterhin in dem Land, in dem sie
aufgewachsen ist, oder in einem beliebigen anderen
Land, in dem sie bisher gelebt hat, aufhalten.
({11})
Es geht deshalb nicht um Privilegierungen oder um Belohnungen, sondern es geht um die Frage vernünftiger
Regelungen.
Im Übrigen: Das Merkmal „aufgewachsen“ ist der
Regelung aus dem Jahr 1999 immanent. Der heutige
Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Herr
Dr. Hans-Georg Maaßen, hat damals in der Abteilung M
des Innenministeriums an der Gesetzgebung mitgewirkt.
Er hat in der Kommentierung von Hailbronner, die jeder,
der sich mit Ausländerrecht beschäftigt, kennt, niedergeschrieben, dass man davon ausgeht, dass die hier in
Deutschland in zweiter und dritter Generation geborenen
Kinder ausländischer Mitbürgerinnen und Mitbürger einen verfestigten Aufenthalt haben, also bereits per se in
Deutschland integriert sind. Das ist sozusagen systemimmanent; das folgt der Logik des Gesetzes. Das ist
durch die Optionspflicht im Prinzip auch nicht geändert
worden. Vor dem Hintergrund bitte ich sehr um Verständnis, dass wir mit Ihnen und selbstverständlich auch
mit dem Ministerium versuchen werden, einen vernünftigen Weg zu finden.
Wenn es um die Frage geht, ob das jemanden provoziert hat, kann ich nur sagen: Ach, nun seid doch nicht so
empfindlich. Dass Bundesländer, egal welcher Couleur,
im Bundesrat etwas anderes machen als die jeweils im
Bund regierende Koalition, das ist doch nichts Neues;
das ist Tagesgeschäft.
({12})
Wer das anders sieht, der hat dieses System nicht recht
verstanden.
Im Übrigen ist es - jetzt muss ich doch noch aus der
Rolle, die mir Dagmar Ziegler empfohlen hat, fallen;
aber nur ganz kurz - kein freundlicher Akt, einen Referentenentwurf auf den Weg zu bringen, ohne dem Koalitionspartner zuvor eine Lektüremöglichkeit eingeräumt
zu haben.
({13})
Diese milde Rüge ist aber akzeptiert worden. Deswegen
skandalisiere ich das nicht zu einem großen koalitionspolitischen Problem. Wir sind jetzt verpflichtet, nach
bzw. in der Ressortabstimmung miteinander eine praktikable Regelung zu finden.
({14})
Daran werden wir mitwirken. Dass die Regelung möglichst verwaltungsfreundlich sein soll, darf ich bei der
Gelegenheit ebenfalls betonen.
({15})
- Auf der Basis des Koalitionsvertrages.
Herr Kollege.
Ich bitte um Nachsicht, Frau Präsidentin. - Da kann
man aber auch die Lesart von Volker Beck vertreten und
sagen: Die Formulierung „und aufgewachsen“ passt
ganz gut in die Kategorie derer - auf die § 40 b des
Staatsangehörigkeitsgesetzes zielt -, die zum Zeitpunkt
des Inkrafttretens unseres Gesetzes noch keine zehn
Jahre waren.
({0})
Da kann man vielleicht noch sagen: Es ist sinnvoll, an
„und aufgewachsen“ anzuknüpfen. Bei anderen gilt das
vielleicht weniger.
({1})
- Gleich geraten wir in ein Koalitionsgespräch. Es ist
vielleicht nicht so günstig, das öffentlich zu führen.
Herr Kollege Veit, meine Nachsicht ist jetzt zu Ende.
Frau Präsidentin, ich schließe meinen Beitrag und bedanke mich für die Geduld.
({0})
Vielen Dank. - Nächste Rednerin in der Debatte ist
die Kollegin Cemile Giousouf, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Ja, das stimmt, lieber Özcan Mutlu. - Sehr geehrte
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erlauben Sie mir bitte eine Bemerkung: Von den Grünen
und den Linken brauchen wir uns die Integrationspolitik
und die Einbürgerungs- oder Staatsbürgerschaftspolitik
wirklich nicht erklären zu lassen.
({0})
Auch wenn Sie sich das gerne auf die Fahne schreiben,
ist es so: Die CDU hat sich stets für die Einbürgerung
und Integration starkgemacht.
({1})
Unter der Regierungsverantwortung von Helmut Kohl in
den Jahren 1991 und 1993 wurden fortwährend die Voraussetzungen für die Einbürgerung erleichtert. Erstmals
konnten sogenannte Gastarbeiter deutsche Staatsbürger
werden.
({2})
Lieber Herr Beck, im Jahr 2000 wurde das Staatsbürgerschaftsrecht grundsätzlich weiterentwickelt.
({3})
Das neue Recht verkürzte die notwendige Aufenthaltsdauer von 15 auf 8 Jahre. Das Geburtsortsprinzip wurde
eingeführt, und das Optionsmodell wurde geschaffen.
({4})
Wir wissen alle, dass das ein schwieriger politischer
Kompromiss war. Das geben wir auch gerne zu.
({5})
Für die Schwierigkeiten, die mit dem Optionsmodell
verbunden sind, müssen wir in der neuen Regierung eine
Lösung finden.
Der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration hat zur Zeit der Koalitionsverhandlungen zur Staatsbürgerschaft folgende Position
eingenommen: Das Gremium plädiert für die Abschaffung der Optionspflicht, weil sie junge Menschen
zwingt, zwischen Staatsbürgerschaften zu entscheiden.
Herr Beck, jetzt sollten Sie gut zuhören: Der Sachverständigenrat sah jedoch auch ein, dass ein Mechanismus
erforderlich ist - ich zitiere -,
der eine unbegrenzte Weitergabe der Staatsangehörigkeit über das … Abstammungsprinzip und damit
eine Anhäufung von Mehrfachstaatsangehörigkeiten verhindert.
({6})
Letzteres wirft nicht nur rechtstechnische, sondern
auch demokratietheoretische Probleme auf, wenn
etwa in großer Zahl Personen in Staaten wählen
können, von deren Gesetzgebung sie kaum oder gar
nicht betroffen sind …
({7})
Deshalb schlägt der Sachverständigenrat vor, für die
Vergabe der Staatsangehörigkeit zusätzlich das Prinzip
des Lebensmittelpunktes einzuführen. Lieber Herr Beck,
unabhängige Experten schlagen einen Bezug zum Geburtsland vor!
({8})
Genau das, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass die
jungen Zuwandererkinder ihren Lebensmittelpunkt in
Deutschland haben, war uns wichtig, als wir im Herbst
2013 die Optionsregelung verhandelten.
({9})
Beide Parteien haben vor dem Hintergrund unterschiedlicher Integrationskonzepte eine Annäherung geschafft.
({10})
Beiden Parteien war klar, dass man Kindern, die bislang
optieren mussten, eine Tür öffnen wollte. Das haben wir
mit einem unkomplizierten Nachweis des Geboren- und
Aufgewachsenseins im neuen Gesetz etabliert.
({11})
Zukünftig werden junge Menschen nicht mehr in die
schwierige Situation gebracht, sich zwischen zwei
Staatsbürgerschaften entscheiden zu müssen, wenn sie
hier geboren und aufgewachsen sind. Auch Sie, liebe
Kolleginnen und Kollegen der Opposition, können nicht
leugnen, dass das eine deutliche Verbesserung der Situation dieser Kinder ist. Es ist eine klare Botschaft, dass
sie mit den Wurzeln und der Herkunft ihrer Eltern zu
Deutschland gehören.
({12})
Durch eine Geburtsurkunde, einen Schulabschluss
oder eine Meldebescheinigung können sie ihren deutschen Pass beibehalten. Ich möchte gerne wissen, was da
unüberwindbare Kriterien sind, Herr Beck.
({13})
Jedes Kind, das in Deutschland geboren ist, bekommt
eine Geburtsurkunde. Wir haben in Deutschland eine
Schulpflicht und eine Meldepflicht. Wenn Sie heute eine
Ehe schließen wollen, müssen Sie mehr Dokumente einreichen als dann, wenn Sie die deutsche Staatsbürgerschaft beibehalten wollen.
({14})
Liebe Frau Buchholz, ich möchte noch eine Bemerkung an Sie richten. Innenminister de Maizière hat bereits gesagt, dass die Optionskinder, die bislang durch
Gesetz den deutschen Pass verloren haben, diesen wiedererlangen können. In diesem Kontext von Rassismus
zu sprechen, finde ich, mit Verlaub, wirklich ungeheuerlich.
({15})
Insgesamt würde ich Ihnen raten: Warten Sie erst einmal
den Gesetzentwurf ab! Warten Sie einmal ab, was die
Fachleute und die Ressorts zu dem Gesetzentwurf sagen!
Sie zerreden einen Gesetzentwurf und führen eine
Scheindebatte.
({16})
Meine Kolleginnen und Kollegen haben es bereits gesagt: Über 90 Prozent der betroffenen jungen Menschen
erfüllen die Kriterien.
({17})
- Wir wollen uns an den Koalitionsvertrag halten, lieber
Özcan Mutlu. Das ist der Unterschied. - Sie sind in
Deutschland geboren und aufgewachsen und/oder haben
einen Schulabschluss. Von knapp 5 000 jungen Menschen, die sich 2013 zwischen der deutschen und einer
anderen Staatsangehörigkeit entscheiden mussten, sind
lediglich 140 im Ausland gemeldet. Wollen wir jetzt für
diese 3 Prozent eine Vereinbarung im Koalitionsvertrag
infrage stellen? Soll man für die 3 Prozent der Kinder,
die nämlich diese Kriterien nicht erfüllen, 97 Prozent der
Kinder in Ungewissheit lassen?
({18})
In einem Punkt gebe ich Ihnen recht: Mit jedem Tag
wächst die Zahl der Optionskinder. Derzeit sind nicht die
aufgestellten Kriterien für die jungen Betroffenen ein
Hindernis, sondern das Hindernis besteht darin, dass es
keine zügige Umsetzung gibt. Im Jahr 2014 gibt es über
5 000 Optionskinder, und in den nächsten drei Jahren
werden es knapp 20 000 junge Menschen sein.
({19})
Sie haben ein Anrecht darauf, dass ihre Situation geklärt
wird.
({20})
Frau Kollegin Giousouf, denken Sie an die Redezeit?
Ich beende meine Rede sofort. - Sie in der Opposition
reden von einem bürokratischen Monstrum, aber die Opposition schafft hier ein parlamentarisches Monstrum,
das nirgendwohin führt.
({0})
Das haben die Migrantinnen und Migranten wirklich
nicht verdient. Sie verdienen eine zügige Umsetzung des
Koalitionsvertrages.
({1})
Vielen Dank. - Letzter Redner in der Debatte ist der
Kollege Alexander Hoffmann, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und
Herren von den Grünen, nach 55 Minuten dieser Aktuellen Stunde darf ich Ihnen vor allem eines sagen: Ihnen
ist es wieder einmal gelungen, mit dieser Debatte dieses
Haus von seiner eigentlichen Arbeit abzuhalten.
({0})
Das liegt im Wesentlichen an Folgendem: Wenn wir uns
heute, Herr Mutlu, ganz ruhig und unaufgeregt die Situation anschauen, dann sehen wir: Die Fakten und die
Tatsachen liegen auf dem Tisch. Wir haben eine Vereinbarung im Koalitionsvertrag, die eindeutig ist. Die
Koalitionspartner werden sie umsetzen. Ich habe volles
Vertrauen in unseren Koalitionspartner, dass wir hier zu
einem guten Ergebnis kommen.
Parallel dazu gibt es eine Initiative im Bundesrat; das
ist vollkommen legitim. Niemand will den Bundesländern durch die Koalitionsvereinbarung das verfassungsmäßig verbriefte Recht nehmen, im Bundesrat Initiativen einzubringen.
({1})
Lassen Sie uns doch - das sage ich ganz unaufgeregt die Entscheidung abwarten. Dann werden wir weitersehen.
Allerdings werden Sie sich heute von mir sagen lassen müssen, dass ich der Meinung bin, dass Sie mit Debatten, wie wir sie heute wieder führen, mit Ihrer Aufgeregtheit, Ihrer Unsachlichkeit und Ihrer Hitzigkeit, ein so
wichtiges Thema in meinen Augen eher nachhaltig beschädigen. Denn wenn wir über solche Themen diskutieren, dann wird das Bild eines Landes skizziert, in dem es
Diskriminierung gibt, in dem Menschen mit Migrationshintergrund nicht willkommen sind.
({2})
Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen: Ich erlebe dieses
Land so nicht.
Sie skizzieren auch immer wieder falsche Realitäten.
({3})
Es wird suggeriert, dass jemand, der das Optionsrecht
entsprechend ausgeübt hat, nie wieder deutscher Staatsbürger werden kann. Das ist nicht richtig. Es wird immer
wieder suggeriert, dass jemand, der die Frist beim Optionszwang verstreichen lässt, gleich abgeschoben wird.
Auch das geht vollkommen an der Realität vorbei. Als
gute Demokraten tun wir alle gut daran, auch über
schwierige Themen sachlich, vor allem aber auch differenziert zu diskutieren.
({4})
- Genau, Herr Mutlu, das wird gleich passieren.
Der Gesichtspunkt, der doch inmitten dieser ganzen
Diskussion steht, ist die Rechtssicherheit; jetzt hören Sie
bitte gut zu. Die Staatsangehörigkeit zieht in allen Ländern der Erde vor allem die Entscheidung nach sich:
Welches nationale Recht, welches Erbrecht, welches Familienrecht, welches Strafrecht kommt danach zur Anwendung?
({5})
Es geht also um Rechtssicherheit.
Jetzt folgender Fall: Es gibt eine Ehe. Die Frau ist
deutsche Staatsangehörige, und der Mann hat die doppelte Staatsbürgerschaft, so wie Sie es wollen. Aus der
Ehe sind zwei Kinder hervorgegangen. Die beiden leben
getrennt, und es geht um die Scheidung. Es geht konkret
um die Frage: Wer bekommt die Kinder? Der Mann erkennt, dass er nach dem deutschen Recht relativ wenige
Chancen hat, die Kinder zu behalten.
({6})
Er weiß aber auch, dass er nach dem Familienrecht seines Heimatlandes, weil dort ein anderer kultureller Hintergrund herrscht, die Kinder ohne Probleme bekäme.
Also packt er die zwei Kinder ein, entzieht sie der Mutter und reist in sein Heimatland.
({7})
Meine Damen, meine Herren, Sie werden nicht mit
politischen Mitteln, nicht mit juristischen Mitteln und
auch nicht mit Mitteln der Diplomatie in der Lage sein,
jemals wieder an diese Kinder heranzukommen. Natürlich können Sie jetzt sagen: Ja, aber wenn dort ihr Recht
gewählt wird und der Vater seine ursprüngliche Staatsangehörigkeit behält, dann kann er die Kinder auch entziehen. - Das mag sein. Aber mit der doppelten Staatsbürgerschaft schafft man ja überhaupt keine Grundlage, um
im Interesse aller Beteiligten ein für alle Mal Rechtssicherheit herzustellen.
({8})
Rechtssicherheit wird geschaffen, indem sich der Vater
zur deutschen Staatsbürgerschaft bekennt und damit für
alle Beteiligten eindeutig und klar ist, welches Familienrecht zur Anwendung kommt.
({9})
- Kollege Beck, wir wollten ganz sachlich und unaufgeregt diskutieren; das war doch die Idee.
({10})
Gestatten Sie mir abschließend ein paar persönliche
Sätze. Kollege Mutlu, ich habe Ihnen vor Weihnachten
gut zugehört, als Sie über dieses Thema in Bezug auf
Ihre eigene Person gesprochen und Begriffe wie „Heimat“ und „Wurzeln“ verwendet haben. Ich persönlich
bin der Mann einer türkischen Frau. Ich bin stolz, Mitglied einer türkischen Großfamilie zu sein. Diese Großfamilie ist bunt zusammengewürfelt.
({11})
- Herr Mutlu, hören Sie mir zu! Vielleicht ist das ja auch
für Sie ganz spannend. - Alle Familienangehörigen sind
Muslime. Die einen haben sich entschieden, deutsche
Staatsangehörige zu werden, und die anderen sind Türken geblieben. Da gibt es, Frau Pau, eben nicht diese
Unterscheidung zwischen „wir“ und „ihr“, wenn wir bei
einer Familienfeier zusammensitzen. Wenn wir da zusammensitzen und über das Modell der doppelten Staatsangehörigkeit reden, dann wundern die sich. Mein
Schwiegervater sagt mir: Wo meine Wurzeln sind, wo
meine Heimat ist, lese ich doch nicht in meinem Personalausweis. Das verbriefe ich doch nicht schwarz auf
weiß auf einem Blatt Papier. Das ist schon gar nicht in
einem Aktenvorgang bei der Staatsangehörigkeitsbehörde dokumentiert. Wo meine Wurzeln und meine Heimat sind, das behalte ich im Herzen.
Vielen Dank.
({12})
Vielen Dank. - Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 13. März 2014,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.