Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 6/28/2016

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet. Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie herzlich zu unserer 181. Plenarsitzung. Wie am vergangenen Freitag bereits angekündigt, haben wir einen besonderen Tagesordnungspunkt: Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin Ausgang des Referendums über den Verbleib des Vereinigten Königreichs in der EU mit Blick auf den Europäischen Rat am 28./29. Juni 2016 in Brüssel Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung 77 Minuten vorgesehen. - Dazu gibt es offensichtlich Einvernehmen. Also können wir so verfahren. Ich erteile das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung der Bundeskanzlerin Frau Dr. Merkel. ({0})

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die britische Bevölkerung hat sich am vergangenen Donnerstag mehrheitlich dafür entschieden, die Mitgliedschaft ihres Landes in der Europäischen Union beenden zu wollen. Mit großem Bedauern habe ich, hat die ganze Bundesregierung diese Entscheidung zur Kenntnis genommen. Doch bei allem Bedauern: Es versteht sich von selbst, dass es diese freie und demokratische Entscheidung der britischen Wählerinnen und Wähler zu respektieren gilt. Und mehr noch: Es gilt jetzt, nach vorn zu schauen und alles daranzusetzen, die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen und anschließend alle notwendigen Entscheidungen zu treffen. Ich wiederhole, was ich bereits am Freitag gesagt habe: Die Bedeutung der Entscheidung des britischen Volkes kann gar nicht hoch genug ermessen werden, für das Vereinigte Königreich wie auch für die Europäische Union nicht. Der vergangene Donnerstag war ein Einschnitt für Europa. Er war ein Einschnitt für den europäischen Einigungsprozess. Europa hat schon viele schwere Herausforderungen und so manche Krise überstanden, aber eine Situation wie diese hat es in den fast 60 Jahren seit Verabschiedung der Römischen Verträge nicht gegeben. In einer solchen Situation gibt es naturgemäß viele und sich zum Teil diametral gegenüberstehende Vorschläge. Sie reichen von Forderungen, mit der europäischen Integration - man könnte fast sagen: nun erst recht - in großen Schritten voranzugehen und weitere Souveränitätsrechte auf die europäische Ebene zu verlagern, bis hin zu Überlegungen, Kompetenzen auf die Mitgliedstaaten zurückzuverlagern und alles dafür zu tun, dass sich die Europäische Union aus den Angelegenheiten der Mitgliedstaaten möglichst heraushält. Um es klar zu sagen: Jeder Vorschlag, der die Europäische Union der 27 als Ganzes aus dieser Krise führen kann, ist willkommen. Jeder Vorschlag, der dagegen die Fliehkräfte stärkt, die Europa schon so sehr strapazieren, hätte unabsehbare Folgen für uns alle. Er würde Europa weiter spalten. Ich werde mich mit ganzer Kraft dafür einsetzen - und das wird auch die ganze Bundesregierung tun -, das zu verhindern. ({0}) Und ich sehe gute Möglichkeiten, dass uns das gelingen kann. Denn heute, am fünften Tag nach dem Referendum, sind wir uns schon weitaus klarer als am Freitag darüber, was genau zu tun ist - beim heute beginnenden Europäischen Rat und weit darüber hinaus. Erstens. Wir spüren, wie sehr es ganz entscheidend darauf ankommt, dass wir, die 27 anderen Mitgliedstaaten, uns als willens und fähig erweisen, auf der Grundlage einer mit Ruhe und Besonnenheit vorgenommenen Analyse der Situation gemeinsam die richtigen Entscheidungen zu treffen. Gemeinsam, das heißt immer: alle 27 - die Euro-Staaten gemeinsam mit den Nicht-Euro-Staaten, die kleinen Länder gemeinsam mit den großen, die alten Mitgliedstaaten gemeinsam mit den neuen. ({1}) Zweitens. Zunächst einmal liegt es an Großbritannien selbst, zu erklären, wie es sein zukünftiges Verhältnis zur Europäischen Union gestalten möchte. Wir haben zur Kenntnis genommen, dass der britische Premierminister David Cameron, anders als vermutet werden konnte, es seinem Nachfolger oder seiner Nachfolgerin überlassen möchte, das konkrete weitere britische Vorgehen nach dem Referendum festzulegen. Es kann und es sollte niemand in Zweifel ziehen, dass es sich hierbei um eine innerbritische Entscheidung handelt. Aber ebenso kann und sollte es auch nicht das geringste Missverständnis darüber geben, wie die Rahmenbedingungen gestaltet sind, die die Europäischen Verträge für einen solchen Fall wie diesen vorsehen. Nach Artikel 50 der Europäischen Verträge hat Großbritannien formal den Europäischen Rat darüber zu unterrichten, dass es seine Mitgliedschaft beenden möchte. Nach diesem Antrag werden die 27 anderen Mitgliedstaaten die in Artikel 50 Absatz 2 der Europäischen Verträge erwähnten Leitlinien des Europäischen Rates für die Verhandlungen festlegen. Nach der Festlegung dieser Leitlinien können die Verhandlungen beginnen, nicht vorher, weder formell noch informell. ({2}) Um es klipp und klar zusammenzufassen: Wir nehmen zur Kenntnis, dass Großbritannien einen Antrag gemäß Artikel 50 der EU-Verträge noch nicht stellen will, und Großbritannien seinerseits muss zur Kenntnis nehmen, dass es keine wie auch immer gearteten Verhandlungen oder Vorgespräche geben kann und wird, solange der Antrag nach Artikel 50 nicht gestellt wurde, weder formell noch informell. ({3}) Ich kann unseren britischen Freunden nur raten, sich hier nichts vorzumachen bei den notwendigen Entscheidungen, die in Großbritannien getroffen werden müssen. ({4}) Sobald bzw. erst wenn der Antrag gemäß Artikel 50 der EU-Verträge vorliegt, beginnt eine zweijährige Frist für die Verhandlungen. Diese Frist kann verlängert werden, und zwar wieder nur durch einen einstimmigen Beschluss. An ihrem Ende wird eine Vereinbarung über die genauen Einzelheiten des Austritts Großbritanniens aus der Europäischen Union stehen. Solange die Verhandlungen laufen, bleibt Großbritannien Mitglied der Europäischen Union. Alle Rechte und Pflichten, die sich aus dieser Mitgliedschaft ergeben, sind bis zum tatsächlichen Austritt vollständig zu achten und einzuhalten, und das gilt für beide Seiten gleichermaßen. ({5}) Drittens. In den nach einem Antrag gemäß Artikel 50 der Europäischen Verträge geführten Austrittsverhandlungen werden auch die formalen wie inhaltlichen Regelungen für die zukünftigen Beziehungen zwischen der Europäischen Union und dem Vereinigten Königreich zu bestimmen sein. Aus meiner Sicht sollte gerade Großbritannien selbst ein großes Interesse daran haben, diese Beziehungen eng und freundschaftlich zu gestalten. Aber auch Deutschland profitiert natürlich von einem partnerschaftlichen, freundschaftlichen Verhältnis; denn Großbritannien ist und bleibt ein wichtiger Partner, mit dem uns sehr vieles verbindet: die guten nachbarschaftlichen Beziehungen zwischen unseren Bürgerinnen und Bürgern, die kulturelle Verbundenheit, die enge wirtschaftliche Verflechtung, unsere Partnerschaft in der Außen- und Sicherheitspolitik und nicht zuletzt unsere gemeinsamen Werte. Und vergessen wir nicht, dass wir mit Großbritannien engste Verbündete in der NATO sind und bleiben, in der wir gemeinsam mit den Vereinigten Staaten von Amerika Führungsverantwortung für Freiheit, Sicherheit und Stabilität in Europa und darüber hinaus übernehmen. Darauf können wir aufbauen, sowohl bei der Ausgestaltung des zukünftigen britischen Verhältnisses zur Europäischen Union als auch bei unseren eigenen bilateralen Beziehungen zum Vereinigten Königreich, die seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges gewachsen sind und die wir in aller Freundschaft weiterführen werden. ({6}) Dies steht im Übrigen in keinerlei Widerspruch dazu, dass Deutschland und die Europäische Union die Verhandlungen mit Großbritannien auf der Grundlage ihrer eigenen Interessen führen werden. Das bedeutet zum einen, dass Verhandlungen mit einem zukünftigen Drittstaat nicht dazu führen dürfen, die Errungenschaften der europäischen Einigung für die 27 Mitgliedstaaten infrage zu stellen. ({7}) Und das bedeutet zum anderen, dass die Bundesregierung bei den Verhandlungen immer auch ein besonderes Augenmerk auf die Interessen der deutschen Bürgerinnen und Bürger und der deutschen Unternehmen richten wird. Ich denke hier auch an die vielen deutschen Staatsangehörigen, die in Großbritannien leben und von denen sich manche in diesen Tagen Sorgen über ihre Zukunft machen. Sie können sich darauf verlassen, dass wir in Deutschland mit ganzer Kraft daran arbeiten, im Interesse unserer Bürgerinnen und Bürger gute Lösungen für alle nun aufkommenden Fragen zu finden. ({8}) Viertens. Wir werden sicherstellen, dass die Verhandlungen nicht nach dem Prinzip der Rosinenpickerei geführt werden. ({9}) Es muss und es wird einen spürbaren Unterschied machen, ob ein Land Mitglied der Familie der Europäischen Union sein möchte oder nicht. ({10}) Wer aus dieser Familie austreten möchte, der kann nicht erwarten, dass damit alle Pflichten entfallen, die Privilegien aber weiterhin bestehen bleiben. ({11}) Wer beispielsweise freien Zugang zum europäischen Binnenmarkt haben möchte, der wird im Gegenzug auch die europäischen Grundfreiheiten und die anderen Regeln und Verpflichtungen akzeptieren müssen, die damit einhergehen. Das gilt für Großbritannien genauso wie für alle anderen. ({12}) Freien Zugang zum Binnenmarkt bekommt der, der die vier europäischen Grundfreiheiten akzeptiert: die der Menschen, der Güter, der Dienstleistungen, des Kapitals. Norwegen beispielsweise ist nicht Mitglied der Europäischen Union, hat aber dennoch freien Zugang zum Binnenmarkt, weil es im Gegenzug unter anderem die freie Zuwanderung aus der Europäischen Union akzeptiert. Fünftens. Wir sollten die Debatte nicht verengen auf die Frage nach mehr oder weniger Europa. Was wir vielmehr brauchen, das ist ein erfolgreiches Europa; und ein erfolgreiches Europa, das ist ein Europa, an dem die Bürgerinnen und Bürger teilhaben können, mit dem sie sich identifizieren können und das ihr Leben spürbar verbessert. Das ist das Gebot der Stunde. ({13}) Das ist eine Aufgabe für die Institutionen der Europäischen Union und die Mitgliedstaaten gleichermaßen. Ein erfolgreiches Europa, das ist ein Europa, das seine Verträge und seine Versprechen einhält. Das ist uns in der Vergangenheit wirklich nicht immer gelungen. Im Jahr 2000 hat die Europäische Union in Lissabon ein Versprechen abgegeben, das ich hier wörtlich wiedergeben möchte. Ich zitiere aus den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 23./24. September 2000: Die Union hat sich heute ein neues strategisches Ziel für das kommende Jahrzehnt gesetzt: das Ziel, die Union zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum in der Welt zu machen - einem Wirtschaftsraum, der fähig ist, ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum mit mehr und besseren Arbeitsplätzen und einem größeren sozialen Zusammenhalt zu erzielen. Dieses Versprechen an die europäische Bevölkerung, Arbeitsplätze und Wohlstand zu schaffen, war kein Größenwahn der damaligen europäischen Politiker; aber eingelöst wurde es nicht - weil Regeln missachtet wurden, weil Verträge nicht eingehalten wurden, weil Einzelinteressen sich gegen das Gemeinwohl durchsetzen konnten. Das Wohlstandsversprechen selbst war deshalb noch lange nicht falsch, im Gegenteil. Deshalb müssen wir jetzt einen neuen Anlauf nehmen und uns gemeinsam dafür einsetzen, Europa wettbewerbsfähiger zu machen und die Kluft zwischen Globalisierungsgewinnern und Globalisierungsverlierern zu verkleinern. Dazu gehört, dass wir in Europa den Anschluss an die Digitalisierung und an die Hochtechnologie nicht verpassen. Dazu gehört, dass wir zusätzliche Anstrengungen im Bereich der Forschung und Innovation unternehmen müssen. Dazu gehört, dass wir endlich die immer noch viel zu hohe Jugendarbeitslosigkeit in den Griff bekommen. ({14}) Nur so werden wir mit unserem europäischen Wirtschafts- und Sozialmodell dauerhaft erfolgreich sein. Nur so werden wir auch vielen Menschen ihre grundsätzlichen Zweifel an der Richtung des europäischen Einigungsprozesses nehmen können. Sechstens. Wir müssen unsere Schlussfolgerungen aus dem Referendum in Großbritannien mit historischem Bewusstsein ziehen. Auch wenn es für uns kaum noch vorstellbar ist, so sollten wir nie vergessen, dass die Idee der europäischen Einigung eine Friedensidee war. Nach Jahrhunderten furchtbarsten Blutvergießens fanden die Gründer der europäischen Einigung den Weg zu Versöhnung und Frieden, manifestiert in den Römischen Verträgen von vor bald 60 Jahren. Wir alle sehen, dass die Welt eine Welt in Unruhe ist. Auch in Europa spüren wir die Folgen von Unfreiheit, Krisen, Konflikten und Kriegen in unserer unmittelbaren Nachbarschaft, die schon so viele Menschen das Leben gekostet und so viele andere entwurzelt und aus ihren Heimatländern vertrieben haben. Es gibt außen- und sicherheitspolitische Herausforderungen, die uns Europäern dauerhaft niemand abnehmen wird, für die ganz zuvorderst wir unsere Verantwortung zu tragen haben. Deshalb dürfen wir bei aller Aufmerksamkeit, die die Entscheidung des britischen Volkes natürlich verdient, zum Beispiel die Lage der Flüchtlinge aus Syrien oder dem Irak keine Sekunde aus den Augen verlieren. ({15}) Das EU-Türkei-Abkommen greift, aber es ist noch lange nicht vollständig umgesetzt. Die Situation der Menschen, die sich auf der zentralen Mittelmeerroute in die Hände skrupelloser Schlepper und Schleuser begeben, schreit zum Himmel. Es führt kein Weg daran vorbei: Nur gemeinsam werden wir die vielfältigen Aufgaben bewältigen, vor die uns die weltweiten Fluchtbewegungen stellen, vor die uns auch der Klimawandel, die Bekämpfung des Hungers oder der internationale Terrorismus stellen. Deshalb müssen wir auch die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Europäischen Union - natürlich immer im Verbund mit unseren transatlantischen Partnern - fit machen. ({16}) In einer Welt, die immer weiter zusammenwächst, sind diese Aufgaben zu groß, als dass einzelne Staaten sie alleine erfolgreich bewältigen können. ({17}) Meine Damen und Herren, Deutschland hat ein besonderes Interesse daran, dass die europäische Einigung gelingt. Deutschland trägt gemeinsam mit Frankreich die besondere historische Verantwortung, die Errungenschaften der europäischen Einigung zu wahren und zu schützen. Dieser Verantwortung stellen wir uns. Ich habe deshalb gestern mit dem französischen Staatspräsidenten François Hollande und dem italienischen Ministerpräsidenten Matteo Renzi über das weitere Vorgehen beraten. Wir haben eine gemeinsame Haltung zum weiteren Verfahren gegenüber Großbritannien vereinbart und uns darauf verständigt, die Europäische Union weiterentwickeln zu wollen. Heute und morgen besteht die Gelegenheit, diese Diskussion zusammen mit den anderen Staats- und Regierungschefs beim Europäischen Rat in Brüssel zu vertiefen, zusammen mit dem britischen Premierminister David Cameron, aber morgen auch allein im Kreis derjenigen 27 Mitgliedstaaten, die auch in Zukunft fest zur Europäischen Union stehen werden. Ziel sollte sein, spätestens bis zum 60. Jahrestag der Unterzeichnung der Römischen Verträge im März kommenden Jahres zu einem gemeinsamen Ergebnis zu gelangen. ({18}) Gemeinsam werden wir daran arbeiten, dass die Europäische Union jetzt die richtigen Schlussfolgerungen aus dem Austritt Großbritanniens zieht, und zwar in dem Bewusstsein, wie sehr wir alle jeden Tag von der Freizügigkeit, der Niederlassungsfreiheit und den offenen Binnengrenzen profitieren, die die europäische Einigung erst möglich gemacht hat. Junge Menschen in Europa können mit einem deutschen Schulabschluss in einem anderen Mitgliedstaat studieren. Millionen Menschen sammeln mit dem Programm Erasmus+ Erfahrungen in einem anderen Mitgliedstaat. Unsere Wirtschaft profitiert von den Freiheiten des Binnenmarktes. Jeder kann sich überall niederlassen. Wir können in Deutschland ohne Beschränkung portugiesische und niederländische Produkte kaufen, genauso wie unsere Unternehmen ihre Produkte ohne Hindernisse in Polen oder Italien anbieten können. Wir können stolz sein auf unsere gemeinsamen europäischen Werte, auf Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. ({19}) Und wir können stolz sein auf unser einzigartiges Gesellschaftsmodell, um das uns viele in der Welt beneiden und das wir im globalen Wettbewerb zu behaupten haben. Diese historischen Errungenschaften bleiben bestehen, auch ohne die Mitgliedschaft Großbritanniens. Jetzt, angesichts so vieler großer Herausforderungen, wollen und werden wir mit ganzer Kraft daran arbeiten, dass die Europäische Union einmal mehr die Wandlungsfähigkeit beweist, zu der sie auch in früheren Krisen immer wieder imstande war. Die Europäische Union ist stark genug, um den Austritt Großbritanniens zu verkraften, sie ist stark genug, um auch mit 27 Mitgliedstaaten weiter voranzuschreiten, und sie ist stark genug, auch künftig erfolgreich ihre Interessen in der Welt zu vertreten. Die Europäische Union ist einer der größten Wirtschaftsräume der Welt, sie ist eine einzigartige Solidar- und Wertegemeinschaft mit hoher Anziehungskraft in alle Welt, und sie ist unser Garant für Frieden, Wohlstand und Stabilität. Ich bedanke mich für die vielen Stimmen aus dem Deutschen Bundestag, die in den letzten Tagen ebenfalls die Bedeutung und den einzigartigen Wert der europäischen Einigung unterstrichen haben. Deutschland wird sich immer für die Idee und den Wert der europäischen Einigung einsetzen, auch und gerade in diesen schwierigen Zeiten und an diesem historischen Scheideweg. Herzlichen Dank. ({20})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Bartsch, so viel Antrittsapplaus von allen Seiten des Hauses werden Sie nur selten bekommen. ({0})

Dr. Dietmar Bartsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003034, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Außer von den Grünen; die haben nicht geklatscht.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Aber ich muss zunächst einmal die Aussprache eröffnen, ({0}) was ich hiermit tue. Ich erteile Ihnen hiermit das Wort. Bitte schön. ({1})

Dr. Dietmar Bartsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003034, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich bedanke mich. - Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Bundeskanzlerin, Sie haben mit Ihrer Rede eben noch einmal bewiesen, warum Europa in einer Krise steckt. Wenn ich mir die Wortgruppen, die Sie benutzt haben, vor Augen halte - „gute Lösungen finden“, „jeder Vorschlag ist willkommen“, „mit ganzer Kraft widmen wir uns dem“ -, dann muss ich feststellen: Das kann man eigentlich immer sagen. Vor allen Dingen haben Sie aber eines beschrieben: dass Großbritannien ein Problem hat. Ich finde, die Dimension dieses schwarzen Freitags für Europa ist eine viel, viel größere, als die Bundesregierung offensichtlich begreift. ({0}) Vor allen Dingen ist dieser schwarze Freitag ein Ergebnis von Politik. Brüssel ist seit vielen Jahren der Prügelknabe für so ziemlich alles. Immer wenn national etwas schiefgeht im Übrigen auch bei Ihnen -, dann geht das nach Brüssel. Ich glaube, dass das ein großer Fehler ist. Die Menschen haben das Gefühl, es mit abgehobenen Eliten und technokratischen Politikern zu tun zu haben. Das Ergebnis des Referendums ist Ausdruck tiefer Unzufriedenheit, die es in allen Ländern der EU gibt, im Übrigen auch in unserem Land, meine Damen und Herren. ({1}) Das hat mit Sicherheit damit zu tun, dass wir in Europa ein grundsätzliches Demokratiedefizit und ein grundsätzliches Transparenzdefizit haben. Frau Merkel, Sie haben gesagt, die Bürgerinnen und Bürger sollen teilhaben. Was machen Sie denn bei TTIP und bei CETA? Das geht sogar am Parlament vorbei. Die Bürger fühlen sich doch verklapst, wenn man diese beiden Abkommen nimmt. ({2}) Die Elitenskepsis, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat auch damit zu tun, wie wir in Europa mit der Finanzkrise umgegangen sind. Ich könnte meine ganze Redezeit mit Äußerungen aus der Union zubringen, ({3}) aber ich will nur noch einmal den Satz „Der Grieche nervt“ in Erinnerung rufen und jetzt ein ganz aktuelles Beispiel ansprechen. Betrachten wir einmal die EZB. Ich weiß, dass sie unabhängig ist. Aber ab Juni ist nicht nur der Wahnsinn der Nullzinspolitik Realität, sondern es können auch Unternehmensanleihen gekauft werden, und das wird auch gemacht: bei BASF, bei Daimler, bei Renault. Statt Investitionen in die Zukunft und ins Gemeinwesen zu tätigen, werden Anleihen von Großkonzernen gekauft, die null Zinsen bringen. Das ist Wettbewerbsverzerrung für den Mittelstand, und gleichzeitig ist nie Geld zur Bekämpfung von Jugendarbeitslosigkeit und zur Bekämpfung von Armut da. Das ist das Problem. Sie treiben den Sozialabbau voran. Hier muss europäisch gehandelt werden, damit der Frust gegen Europa eben nicht noch größer wird, und hierzu gehört auch die katastrophale Politik der Troika. ({4}) Apropos Griechenland: Die ganzen „Exit“-Wortspiele haben mit Griechenland begonnen. Es war doch Ihr Finanzminister, der mit dem Wort „Grexit“ angefangen hat. ({5}) Die Griechen sollten raus. Das ist doch irgendwo hergekommen. Wie war das noch? Herr Schäuble hat gesagt: „Am 28., 24 Uhr, isch over.“ Es war ein Glück im Jahre 2015, dass es so nicht gekommen ist. ({6}) Auf eines möchte ich hier mit Deutlichkeit aufmerksam machen: Zur Wahrheit gehört doch, dass Herr Cameron gezündelt hat. Er hat sich mit dem Zündeln seine Wiederwahl gesichert, und Herr Cameron gehört doch zu Ihrer europäischen Parteienfamilie, Frau Merkel. ({7}) Der hat gezündelt und sogar noch die Streichhölzer bereitgelegt. Herr Johnson und die halbe Fraktion waren doch dafür. Sie haben sich erst Privilegien von Europa geben lassen, und dann waren sie dagegen. Das ist einfach wahr. ({8}) - Die Tories sind doch Ihre Freunde. Das sind doch nicht unsere Freunde, sondern Ihre. Sie machen doch mit denen Politik. ({9}) UKIP hat das ausgenutzt. Der Brexit ist ein von rechts dominierter Austritt. Ich will Ihnen einmal eines sagen gerade den Damen und Herren von der CSU -: Es war Herr Seehofer, der in Wildbad Kreuth zu dem, was die Tories machen, gesagt hat: „Das ist CSU pur.“ Das ist Ihre Politik. Sie haben damit Übereinstimmung signalisiert. ({10}) Die Lehre sollte doch sein, dass Sie in der Union endlich einmal merken, dass mit dieser Auseinandersetzung Präsident Dr. Norbert Lammert zwischen den beiden Unionsparteien die Rechtspopulisten letztlich befördert werden. ({11}) Dass nur so wenige abstimmen, hat im Übrigen auch mit dem zu tun, was sich „Kerneuropa“ nennt. Sie haben am Freitag die sechs Außenminister der Gründungsstaaten ausgerechnet nach Deutschland eingeladen und sich gestern um die Achse Berlin-Paris-Rom gekümmert. Frau Bundeskanzlerin, ich sage Ihnen voller Bedauern: Der letzte europäische Kanzler in diesem Land war Helmut Kohl, und ich bedaure das sehr. ({12}) Das Agieren mit Kerneuropa ist eben ein großer Fehler. Der Rest scheint Ihnen offensichtlich egal zu sein. Das ist so! ({13}) Brüssel wäre natürlich der richtige Ort gewesen, um mit allen Mitgliedern zu sprechen. Das wäre vernünftig gewesen. ({14}) Das EP ist der richtige Ort, um diese Auseinandersetzung zu führen. Es ist doch auch ein Skandal, dass der EP-Präsident, Herr Schulz, fordert, dass der Austrittsantrag der Briten bis Dienstag da sein möge. In der Krise und im Umgang mit Großbritannien wird sich zeigen, wie weit die Europäische Union ist. Man darf nicht drohen, sondern man muss gerade auch dann, wenn man sich scheidet, ein ordentliches Verfahren finden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Entscheidende ist: Jetzt ist endlich eine andere Politik gefordert. ({15}) Dieser ganze Wahnsinn von Liberalisierung und Privatisierung muss endlich gestoppt werden. ({16}) Es muss eine klare Absage an Nationalismus und Rassismus erfolgen. Hierüber wird es in diesem Hohen Haus doch hoffentlich Konsens geben. ({17}) Natürlich hat Europa nur gemeinsam eine Chance; das ist doch völlig klar. China, Japan und Nordamerika: Hinsichtlich der Anzahl der Menschen sind das doch andere Dimensionen. Kleinstaaterei wird hier doch überhaupt keine Lösung sein können. Wenn man ein gemeinsames Europa will, dann darf man nicht zu viel reden, sondern dann muss man sofort handeln. Jeder Weg in eine neue Richtung beginnt immer mit dem ersten Schritt, und deswegen will ich jetzt auf das Zehnpunkteprogramm zurückkommen, das Sigmar Gabriel, der Vizekanzler, entworfen hat. Da kann ich nur feststellen, dass das der aktuellen Politik diametral gegenübersteht. Ich finde es ja vernünftig. Ich finde es vernünftig, dass wir den ersten Schritt zu einem anderen Europa gehen. Wir brauchen in der zentralen Industriemacht Europas einen Politikwechsel, meine Damen und Herren. Das wäre nötig. ({18}) Es geht um das große Projekt des Friedens; da bin ich überhaupt nicht so weit weg von Ihnen. Ja, es ist ein Segen, dass wir in Europa Frieden haben; das darf nicht zerstört werden. Ja, Europa ist ein großes kulturelles Projekt, wofür wir uns gemeinsam weiter engagieren wollen. Ja, es ist ein Europa des Austausches und des Miteinanders. Es ist kein Europa der Abschottung. Das, meine Damen und Herren, muss doch unser Ziel sein: ein Europa der Menschen, um das in einem Satz zu sagen. ({19}) Die Linke wird sich weiter dafür nachhaltig engagieren. Herzlichen Dank. ({20})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege Thomas Oppermann. ({0})

Thomas Oppermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003820, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe Dietmar Bartsch aufmerksam zugehört. ({0}) Nachdem schon Sahra Wagenknecht ihre Verehrung für Ludwig Erhard bekundet hat, entdeckt Dietmar Bartsch jetzt seine Vorliebe für Helmut Kohl. ({1}) Ich stelle fest: Die Christdemokratisierung der Linken schreitet unaufhaltsam voran. ({2}) Aber wenn der erste Schritt für ein besseres Europa die von Sahra Wagenknecht gestern vorgeschlagene Volksabstimmung in Deutschland über europäische VerDr. Dietmar Bartsch träge sein soll, dann bin ich nicht sicher, ob Sie auf dem richtigen Weg sind. ({3}) Die europäischen Verträge sind teilweise sogar in unser Grundgesetz inkorporiert. 80 Prozent der Deutschen haben letzte Woche in einer Forsa-Umfrage bekundet, dass sie für einen Verbleib von Deutschland in der Europäischen Union sind. ({4}) Deshalb werden Sie es nicht schaffen, uns jetzt nach dem Vorbild Großbritanniens auf einen Weg zu bringen, der dazu führt, unsere Gesellschaft zu spalten. ({5}) Meine Damen und Herren, mit Großbritannien verliert die Europäische Union ihre zweitstärkste Volkswirtschaft, die 17 Prozent der europäischen Wirtschaftsleistung erbringt. Aber insbesondere verliert sie einen gut vernetzten weltpolitischen Akteur und damit ein gutes Stück ihrer globalen Wirkungsmöglichkeiten. Wenn Großbritannien jetzt auch noch aus dem Binnenmarkt ausscheiden sollte, dann wäre das für Deutschland, dann wäre das für die deutsche Wirtschaft keine gute Nachricht. Aber vor allem Großbritannien stehen nun schwierige Zeiten bevor. David Cameron, der Initiator dieser Volksabstimmung, hat einen riesigen politischen Scherbenhaufen hinterlassen. ({6}) Um einen innerparteilichen Dauerkonflikt zu befrieden, hat er den Konflikt in die ganze Gesellschaft getragen. Am Ende hat David Cameron aus einer gespaltenen Partei ein gespaltenes Land gemacht. ({7}) Gespalten ist es zwischen Schottland und Nordirland auf der einen Seite sowie England und Wales auf der anderen Seite. Diese Spaltung wird das Vereinigte Königreich vor eine zusätzliche Belastungsprobe stellen. Schottland hat bereits erklärt, dass es seinen Platz in der Europäischen Union sieht, ({8}) und ein erneutes Referendum angekündigt. In Nordirland gibt es Forderungen nach einer Wiedervereinigung Irlands. Die aktuelle Entwicklung Großbritanniens zeigt: Nationalismus stärkt nicht die Nation. Nationalismus spaltet und gefährdet die Einheit unserer Nationen. ({9}) Aber gespalten ist das Land vor allen Dingen zwischen Jung und Alt. Die unter 50-Jährigen haben mit großer Mehrheit gegen den Brexit gestimmt, ({10}) die unter 25-Jährigen sogar mit einer Dreiviertelmehrheit. Die jungen Menschen in Großbritannien favorisieren ganz offenkundig nicht die nationalstaatliche Einigelung und Abkapselung. Sie sehen ganz klar ihre Zukunft in einem vereinten, weltoffenen, modernen Europa. Ich finde, das ist ein Zeichen der Hoffnung für Großbritannien und für Europa. ({11}) Das Votum der jungen Briten sollte uns eine Verpflichtung sein. Wir dürfen diesen jungen Leuten nicht die Hoffnung nehmen, dass eines Tages nach diesem Austritt Großbritannien wieder in die EU zurückkehren kann. Deshalb müssen wir alles dafür tun, dass die EU-27 nicht auseinanderfällt, sondern zusammenbleibt. ({12}) Noch etwas anderes schulden wir diesen jungen Leuten und allen, die für ein vereintes Europa kämpfen: dass wir ein klares Zeichen gegen Antieuropäer und Nationalisten setzen. Wer sich gegen Europa entscheidet, der muss auch für die Konsequenzen geradestehen. Ich sage das mit Blick auf die neue Diskussion in England. Ich bin erstaunt, dass die Propagandisten des Brexits jetzt plötzlich, angesichts der Trümmer ihrer politischen Initiative, sich erschrecken. Erst hieß es: Es kann mit dem Brexit gar nicht schnell genug gehen. - Plötzlich heißt es: Es ist überhaupt keine Eile geboten. Ich stelle fest: Diejenigen, die unhaltbare Versprechungen gemacht haben, kriegen jetzt kalte Füße. Diejenigen, die vollmundige Ankündigungen gemacht haben, werden plötzlich kleinlaut. Einigen dämmert offenbar erst jetzt, was sie angerichtet haben. Ich finde, die Verantwortung dafür müssen sie ganz alleine tragen. ({13}) David Cameron will die Sache jetzt bis zur Wahl seines Nachfolgers liegen lassen. Ich finde, das ist eine Zumutung für alle, denen Europa am Herzen liegt. ({14}) Die Probleme dieser Partei scheinen immer noch wichtiger zu sein als die Probleme des Landes und die Probleme Europas. Eine monatelange Unsicherheit über die Frage, wie es weitergeht, schadet der britischen, schadet der deutschen und schadet der europäischen Wirtschaft. ({15}) Natürlich ist es ganz allein die Entscheidung der britischen Regierung, wann sie den Austritt nach Artikel 50 EU-Vertrag erklärt. Aber es ist die Pflicht der deutschen Bundesregierung und aller anderen Mitglieder im Europäischen Rat, klarzumachen, was unsere Erwartung ist. Deshalb bitte ich Sie, Frau Bundeskanzlerin: Drängen Sie im Europäischen Rat darauf, dass möglichst schnell Klarheit geschaffen wird! ({16}) Europa braucht Klarheit. Wir können eine jahrelange Hängepartie nicht gebrauchen. Frau Bundeskanzlerin, ich erwarte von Ihnen - und das haben Sie ja auch schon angedeutet -, dass Sie für unsere gemeinsame Regierung auf dem Gipfel ein zweites Zeichen setzen: die klare Ansage, dass es für Großbritannien keine Sonderbehandlung geben kann. ({17}) - Ja, ich sage das ja. - Wir wollen faire Verhandlungen. Wir wollen weiterhin tiefe und freundschaftliche Beziehungen zum Vereinigten Königreich. Aber es darf keine Belohnung für den Austritt, es darf keine Prämie für Nationalismus und Europafeindlichkeit geben. ({18}) Ein Gemeinwesen kann - überall auf der Welt - nur funktionieren, wenn Rechte und Pflichten zusammengehören. Wenn man es zulassen würde, dass man die Vorteile behalten und gleichzeitig die Verpflichtungen loswerden könnte, dann allerdings, würde ich prognostizieren, gäbe es bald überall in Europa Volksabstimmungen nach diesem Muster. Ich sage ganz klar: Mit solchen Dingen dürfen wir die Europäische Union nicht zum Abschuss freigeben durch Nationalisten und Populisten. ({19}) Wenn die Feinde Europas über den Brexit jubeln, dann kann die richtige Antwort darauf weder in einem einfachen Ruf nach mehr Europa noch in einer als Denkpause getarnten Schockstarre bestehen. Wir dürfen uns aber auch nichts vormachen. Das Referendum zeigt, dass es ein breites Unbehagen gegenüber der Europäischen Union gibt. Viele Menschen haben das Gefühl, dass Europa unablässig dabei ist, ihnen durch kleinteilige Regulierungen das Leben im Alltag schwer zu machen. In den vergangenen 70 Jahren waren es gerade die großen Fragen, die Europa vorangetrieben und die Menschen mitgenommen haben: Frieden und Wohlstand, Freiheit und Demokratie, die Überwindung von Nationalismus und die Überwindung jahrhundertealter Feindschaften. An diesen historischen Leistungen muss die Europäische Union jetzt anknüpfen. Das geht nur, wenn wir uns wieder auf das Wichtige konzentrieren und das weniger Wichtige im Sinne einer wohlverstandenen Subsidiarität der politischen Gestaltung in den Mitgliedsländern überlassen. Dazu haben Frank-Walter Steinmeier und Jean-Marc Ayrault in ihrem gemeinsamen Papier den entscheidenden Punkt benannt: „Wir müssen unsere gemeinsame Politik strikt auf jene Herausforderungen konzentrieren, die nur durch gemeinsame europäische Antworten bewältigt werden können.“ Genau das ist es: Wir brauchen ein besseres Europa, ein Europa, das sich auf das Wesentliche konzentriert und das sich wieder den Menschen zuwendet. ({20}) Dazu gehört ganz sicher die Bewältigung der Flüchtlingskrise. Um den Menschen das Vertrauen in die EU zurückzugeben, müssen wir beides schaffen: unsere humanitären Verpflichtungen erfüllen, aber auch die Kontrolle über die Situation behalten. Wir alle haben erfahren, dass die europäischen Binnengrenzen nur offengehalten werden können, wenn wir die Außengrenzen sichern. Das ist zweifellos eine Aufgabe, die die EU nur als Ganzes lösen kann. Wir wollen keine Abschottung. Wir brauchen eine neue europäische Flüchtlingsordnung, die Grenzländer entlastet und Flüchtlinge besser und fairer verteilt. Wir alle wissen, dass die Positionen der Mitgliedstaaten in dieser Frage meilenweit auseinanderliegen. Trotzdem bleibt nichts anderes übrig, als beharrlich weiter an einer Annäherung der Positionen zu arbeiten und eine pragmatische Lösung zu erreichen. Die Menschen erwarten dies, und diese Erwartung müssen wir auch erfüllen. ({21}) Die zweite große Aufgabe Europas besteht in der Schaffung wirtschaftlichen Wachstums und der Überwindung der Finanzkrise. Das muss geleistet werden, um das von der Bundeskanzlerin aus den Lissaboner Verträgen zitierte Wohlstandsversprechen einzulösen. Vor sieben Jahren haben Millionen Menschen in der Wirtschaftskrise ihre Arbeit verloren. Viele von ihnen haben übrigens bis heute keinen neuen Arbeitsplatz gefunden. Die Finanzkrise hat das Vertrauen von Millionen Menschen, von Millionen Bürgerinnen und Bürgern erschüttert. Der Staat bzw. die Staatengemeinschaft war nicht in der Lage, den bescheidenen Wohlstand der Menschen vor dem gierigen Zugriff spekulierender Finanzmärkte zu schützen. Trotz Bankenunion haben wir immer noch keine wirkungsvolle Regulierung der Finanzmärkte und keine Schließung der Steuerschlupflöcher in Europa. Ich frage: Wann kommt endlich die Finanztransaktionsteuer? ({22}) Die EU wird sofort vertrauenswürdiger, wenn klar ist, dass auch Finanzmärkte und Spekulanten an ihrer Finanzierung beteiligt werden. Nach sieben Jahren Krise brauchen wir wieder eine wirtschaftliche Dynamik in der Euro-Zone. Genau das ist der Kern von Sigmar Gabriels und Martin Schulzʼ Vorschlag einer europäischen Wachstumsregion. Wir brauchen mehr Investition und Innovation, um die Arbeitslosigkeit in der EU zu bekämpfen. Wir müssen die Währungsunion endlich zu einer Wirtschaftsunion machen. In einer wirtschaftlich intakten Euro-Zone können wir wieder Vertrauen zurückgewinnen. Vor allen Dingen ist das ein Weg, der 22 Millionen Arbeitslosen in der EU wieder Mut und Hoffnung geben könnte. Die Jugendlichen waren die Ersten - darauf wurde bereits hingewiesen -, die in der Krise ihre Arbeit verloren haben, vielleicht nicht in Deutschland und in Großbritannien, wohl aber in vielen anderen Ländern der EU. Die jungen Menschen waren die großen Verlierer des letzten Jahrzehnts. Das darf nicht so bleiben. Nur wenn Europa der Jugend wieder eine Perspektive gibt, dann hat auch Europa eine Zukunft. ({23}) Frau Bundeskanzlerin, da müssen wir mehr machen. Das Wohlstandsversprechen zu erneuern, wird nicht allein über den Juncker-Plan funktionieren. Wir brauchen eine andere Dimension von Investitionsprogrammen. ({24}) Wir brauchen ein Investitionsprogramm in Europa, das die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft stärkt und auch die Infrastruktur so modernisiert, dass die jungen Menschen das Gefühl haben, dass sie auch noch in zehn Jahren hier eine wirtschaftliche Perspektive haben. Deshalb brauchten wir innerhalb von zehn Jahren eigentlich die modernste digitale Infrastruktur auf der ganzen Welt. Das wäre eine Dimension, an die man sich jetzt ranmachen müsste. ({25}) Meine Damen und Herren - ich komme gleich zum Schluss, Herr Präsident -, die Probleme, die wir heute haben, egal ob Flüchtlinge, Sicherheit, Finanzmärkte oder Klimawandel, sind alle transnational. Sie machen weder an nationalen Grenzen halt, noch können sie innerhalb nationaler Grenzen und in nationaler Souveränität gelöst werden. Das geht nur mit europäischen Antworten. Wenn sich jetzt wieder Nationalismus und nationalstaatliches Denken in Europa durchsetzen, dann wird es jedem einzelnen Land schlechter gehen als vorher. Es wäre das Ende von Europa als Friedensmacht und das Ende einer offenen europäischen Gesellschaft. Das dürfen wir nicht zulassen. Aber wenn nur diejenigen kämpfen, die Europa nicht wollen, dann wird es Europa bald nicht mehr geben. Uns Deutschen wird es auf Dauer nur gut gehen, wenn es allen in Europa gut geht. Deshalb: Lassen Sie uns für ein besseres, stärkeres Europa kämpfen, und lassen Sie uns daran gemeinsam arbeiten. Vielen Dank. ({26})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Katrin Göring-Eckardt ist die nächste Rednerin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003132, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen! Die Entscheidung der Briten in der letzten Woche ist ein schwerer Rückschlag für die europäische Einigung. Wenn sich zum ersten Mal die Bevölkerung eines europäischen Landes dafür entscheidet, aus der EU auszutreten, dann macht das die EU kleiner, es macht uns enger, es macht uns große Sorgen. Europa schrumpft - territorial, bevölkerungsmäßig und leider eben offenbar auch politisch. Sorgen muss uns vor allem die Art und Weise der Kampagne der EU-Gegner in Großbritannien machen. Abstiegsängste und Sorgen der Mittelschicht wurden instrumentalisiert. Es ging nicht um Fakten, es ging um Mythen. Es ging um den Mythos, dass sich soziale und gesellschaftliche Probleme leichter ohne die EU lösen lassen würden. Das ist die erste große Lehre, die wir aus diesem Referendum ziehen müssen; das ist Auftrag an uns: Ich möchte keine politischen Debatten, bei denen Inländer gegen Ausländer ausgespielt werden. Ich möchte keine EU, in der Deutschland nur gewinnen kann, wenn Europa verliert. Ich möchte keine EU, in der mein Deutschsein gegen mein Europäischsein ausgespielt wird. Meine Damen und Herren - das sage ich besonders für Krisensituationen, die wir hatten und die wir haben werden -, ein starkes Deutschland ist es, wenn in Deutschland Europäisch gesprochen wird, und nicht, wenn in Europa Deutsch gesprochen wird. ({0}) Es geht darum, dass jeder nicht sich selbst der Nächste ist, sondern dass Zusammenhalt und Solidarität das Höchste sind, was wir gemeinsam haben. Dieses Referendum ist aber auch nicht durch Zufall oder wegen der aktuellen Brexit-Kampagne so ausgegangen. Seit mehr als zehn Jahren hat David Cameron - und bei weitem nicht nur er - Brüssel zum Sündenbock und Blitzableiter missbraucht. Damit hat er den Boden für die Ausstiegsstimmung selbst bereitet. Cameron hat ein Referendum ausgerufen, und zwar nicht aus Überzeugung, weil er Beteiligung so wichtig findet, nein, quasi en passant als Ersatz für Argumente, und damit hat er sein Land in eine tiefe Krise, in die tiefste seit vielen Jahrzehnten, gestürzt. ({1}) Auch wenn die Lage, vor der wir nun stehen, zuerst einmal ein Riesenproblem für Großbritannien ist, kann es in Europa kein Weiter-so, als wäre nichts gewesen, geben. Der Austritt Großbritanniens stellt vieles infrage. Er stellt nicht die EU infrage. Es geht aber nicht um Schockstarre, es geht auch nicht um Depression; nein, wir Europäerinnen und Europäer haben schon oft bewieThomas Oppermann sen, dass wir stark sind, erfinderisch, flexibel genug, um ein solches Ereignis als Chance zu nutzen. Wir haben - darauf kommt es jetzt an - das Verbindende vor das Trennende gestellt. Für uns alle hier im Land ist es eine Selbstverständlichkeit, dass Großbritannien immer Teil Europas war. Engländer, Schotten, Waliser, Nordiren, London - sie gehören zu Europa. Wie auch immer jetzt die Mehrheitsentscheidung für einen Brexit von der Regierung und dem Parlament in London umgesetzt wird, was auch immer der Austrittsprozess zwischen Großbritannien und der EU am Ende an Trennung und Vereinbarungen hervorbringt, dieses Signal „Ihr seid Europäerinnen und Europäer“, das muss bleiben, das ist zentral. Diese Tür ist, was die Administration angeht, zu. Diese Tür ist zu, weil es nicht rein- und wieder rausgeht. Aber sie ist nicht zu, was unsere Herzen angeht. Sie ist nicht zu, was ein gemeinsames europäisches Denken und Fühlen angeht, und das ist ganz zentral. ({2}) Ganz besonders treibt mich - das haben viele deutlich gemacht - die Enttäuschung darüber um, wie die jungen Britinnen und Briten abgestimmt haben. Sie waren mehrheitlich für einen Verbleib in der EU. Das Referendum war ja nicht zuletzt eine Abstimmung über ihre eigene Zukunft. Aber seien wir ehrlich: Dass es diese Jungen ganz offensichtlich für so selbstverständlich hielten, dass sie es sogar vergeigt haben, am Ende wirklich zur Wahl zu gehen und abzustimmen, ist auch ein krasser Befund, und an dem können wir nicht vorbeischauen. ({3}) Trotzdem bleibt das Signal an die junge Generation: Jugendaustausch, Kultur, Kooperation zwischen Schulen, Universitäten, in Ausbildungsprogrammen, etwa Erasmus. Diese Programme müssen gestärkt und dürfen nicht gestutzt werden; denn das ist die Zukunft Europas, auf die wir setzen müssen. ({4}) Ich denke aber auch an die vielen Britinnen und Briten, die bei uns in Deutschland leben. Frau Merkel hat den Deutschen, die in Großbritannien leben, klar signalisiert: Ihr werdet dort Sicherheit haben. - Das muss aber auch umgekehrt gelten. Viele sind hier längst verwurzelt. Sie arbeiten hier. Sie forschen bei uns. Sie haben ihre Familien hier. Als EU-Bürgerinnen und als EU-Bürger mussten sie sich keine Sorge um ihren Status machen. Nun stehen sie vor großer Unsicherheit. Ich möchte, dass sie sich weiter als Europäerinnen und Europäer fühlen können, dass sie bei uns leben können, mit einem einfachen Weg zum deutschen Pass. Im Falle des Brexit sollten wir ihnen eine echte Bleibeperspektive eröffnen. Auch das wäre ein Schritt zu mehr Europa und ein gutes Signal. ({5}) Für die übergroße Mehrheit der Menschen in Deutschland ist klar: Das gemeinsame Europa, die Europäische Union, ist ein weltweit einmaliges Projekt. So viele schreckliche Kriege und Verbrechen haben die Menschen Europas in den letzten Jahrhunderten erlitten, so viel Leid, so viel Zerstörung bis hin zum Zweiten Weltkrieg und zum Holocaust. Die Europäische Union ist ein friedlicher Zusammenschluss europäischer Bürgerinnen und Bürger und Staaten. Es ist das Projekt, um miteinander in Frieden und Demokratie zu leben. Für mich ist es, wie für viele andere Osteuropäerinnen und Osteuropäer, eben auch das große Freiheitsversprechen. Jede Grenze jede! -, auch eine durch den Zoll, macht die Menschen in Europa kleiner und enger. Ich weiß, dass hier manche das Pathos nervt. Allerdings: Ich glaube, dass wir vergessen haben, oft und gut über die Europäische Union zu reden. Das heißt nicht, dass wir nichts verändern wollen. Aber zu sagen: „Diese Europäische Union, dieses Europa, das ist unsere gemeinsame Heimat, und die wollen wir gemeinsam verbessern“, darauf kommt es doch an, gerade jetzt. ({6}) Ich bin sehr froh darüber, dass 77 Prozent der Deutschen sehr deutlich sagen, sie wollen in der EU bleiben. Doch leider sehen wir, dass antieuropäische und populistische Kräfte in vielen Ländern an Boden gewinnen. Ich kann nur davor warnen, diesen EU-Gegnern mit der leichtfertigen Ausrufung von riskanten Referenden auch noch eine Bühne zu bieten. Nein, ich bin nicht plötzlich gegen direkte Demokratie, aber die Abstimmung über Politik ersetzt nicht die Politik, und darauf kommt es jetzt an: ({7}) Europa politisch zusammenzuhalten, meine Damen und Herren, und nicht auf dem populistischen Boden unterwegs zu sein. Das gilt für Frau Wagenknecht, und das gilt mitunter eben auch für Herrn Seehofer. Die EU hat nicht nur die Roaminggebühren abgeschafft und für hohe Standards im Bereich Umwelt- und Naturschutz gesorgt; sie ist Vorreiterin im Kampf gegen Diskriminierung und für Gleichberechtigung. Die Probleme, vor denen wir in einer globalisierten Welt stehen, können wir Europäerinnen und Europäer nur gemeinsam angehen: mit gemeinsamen Regeln. Gemeinsam als Akteur auf der globalen Bühne können wir den Klimawandel aufhalten, die weltweite Steuerhinterziehung stoppen, ja, auch den sozialen Zusammenhalt stärken, die Schere zwischen Arm und Reich, die so riesig auseinanderklafft, wieder zusammenbringen, die Finanzmärkte regulieren und natürlich die Flüchtlingsfrage lösen - ausschließlich gemeinsam. Lassen Sie uns auch wieder über Europa streiten, und zwar leidenschaftlich und gern kontrovers, damit die Menschen da draußen merken: Das geht uns wirklich etwas an, und das beschäftigt auch uns; da geht es nicht um irgendetwas Bürokratisches, was die in Brüssel machen. - So geht es nicht: Wenn es uns gerade in den Kram passt, dann reden wir nicht davon, dass etwas eine Entscheidung Europas ist, sondern sagen: Es ist nur auf unserem Mist gewachsen. - Es geht genau darum, dass wir streiten, leidenschaftlich streiten - über unser, über dieses Europa und darüber, wie es in Zukunft aussehen soll, meine Damen und Herren. ({8}) Das müssen wir nicht nur hier machen; das müssen wir auch da draußen auf der Straße machen: nicht mit den Bürgerinnen und Bürgern darüber reden, ob sie denn nun Europa wollen, sondern mit ihnen darüber diskutieren, welches Europa es sein soll. Meine Damen und Herren, wir sehen die Katerstimmung in Großbritannien und hoffen, dass das Ergebnis des Referendums den Britinnen und Briten eine Chance eröffnet, ganz nüchtern, ohne populistische Parolen über ihre Rolle in Europa und in der Welt nachzudenken. Auch bei uns ist der Kater nicht gerade klein. Er hat in Großbritannien damit zu tun, dass die Menschen Angst und Sorgen haben: Was geht verloren? Was wird aus dem Finanzplatz? Das Rating ist abgestürzt. Wo kann ich in Zukunft studieren und arbeiten? Kein Wunder, dass sich inzwischen offenbar viele wünschen, dass sie noch einmal abstimmen dürften. In Großbritannien waren die zwei häufigsten Suchanfragen laut Google Trends, und zwar nach der Abstimmung: Erstens. Was passiert, wenn man aus der Europäischen Union austritt? Zweitens. Was ist eigentlich die EU? - Trotzdem: Ein Rein und Raus gibt es nicht. Diese Entscheidung steht. Man kann nicht eine Entscheidung ausrufen und dann so lange abstimmen, bis es einem gefällt. Dieses Aufwachen in Großbritannien muss ein Aufwachen für ganz Europa sein. Wir müssen uns klar darüber werden, was dieses Europa für uns gemeinsam bedeutet. ({9}) Es kann vor allem eines nicht bedeuten, meine Damen und Herren - das ist eine Warnung an die Bundesregierung -: Hören Sie auf, mit „Kerneuropa“ den anderen Vorgaben zu machen! Hören Sie auf mit den kleinen Treffen, die schon mal vorbereiten, was im Großen passiert! Am Samstag haben wir das mit den Außenministern der Gründungsstaaten erlebt. ({10}) Ich halte das nicht für sinnvoll. Wir sind jetzt ein Europa der 27. Das sind wir, nichts anderes. Wir sind ein Europa von 440 Millionen.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003132, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Das müssen wir wirklich sein, und das werden wir hoffentlich auch bleiben, meine Damen und Herren. Vielen Dank. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Für die CDU/CSU-Fraktion spricht nun Volker Kauder. ({0})

Volker Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001074, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ja, das war ein schlechter Tag. So kann man es formulieren, was am letzten Donnerstag in Großbritannien für Europa geschehen ist. Aber ich finde es richtig, dass wir nicht bei dieser Aussage stehen bleiben, sondern dass wir sagen: Europa bedauert es sehr, dass Großbritannien ausscheiden will; aber Europa ist auch ohne Großbritannien stark genug, um die Aufgaben zu lösen, für die Europa da ist, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({0}) Es geht jetzt darum, in aller Ruhe diese Entscheidung zur Kenntnis zu nehmen und dann mit den Briten darüber zu reden, wie es weitergehen soll. Ich kann nur sagen: Die Briten haben entschieden. - Aber wer dafür plädiert, die Entscheidung des britischen Volkes ernst zu nehmen, der muss auch ernst nehmen, dass die Briten darüber erst einmal in ihren Institutionen reden und dass sie entscheiden, wann der Antrag gestellt wird. Diese Bevormundung von außen - heute! jetzt! sofort! - halte ich in der konkreten Situation nicht für angemessen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({1}) Ich finde es richtig, wenn da die Bundeskanzlerin sagt: Die Briten müssen dies nun entscheiden. Wir wollen da nicht unnötig Druck aufbauen, aber sie sollen jetzt bald zu einem Ergebnis kommen. - Ich habe auch Verständnis dafür, dass bei einer solchen Entscheidung, durch die das Volk in Großbritannien auch aufgewühlt ist, erst einmal mit ein bisschen Abstand Klarheit auch im Denken geschaffen werden muss, was nun eigentlich geschehen soll. Wir vermitteln durch die ständige Forderung „Jetzt! Sofort!“ den Eindruck, als ob das alles auch so schnell gehe. Die Verhandlungen werden wie bei einem großen Scheidungsprozess nicht in einer Woche entschieden sein. Es wird um Monate und Jahre einer Phase des Trennens gehen. In dieser Phase des Trennens muss geklärt werden, wie die Position von Großbritannien aussieht. Das ist die erste Frage, die jetzt geklärt werden muss. Zweitens. Bei all den Gesprächen, die dann stattfinden - auch das muss man klar und deutlich sagen -, müssen wir, wie ich finde, schon auch unsere Interessen berücksichtigen. Großbritannien ist ein wichtiger Handelspartner für uns. Ich finde, das soll Großbritannien auch in Zukunft sein, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({2}) Großbritannien sitzt nach wie vor mit uns in der NATO; da könnten noch manche Diskussionen auf uns zukomKatrin Göring-Eckardt men. Von daher rate ich, mit diesem Land anständig umzugehen. ({3}) G7, G20 - überall sind sie dabei. Deswegen kann es wohl nicht nach dem Motto laufen: Ihr habt eine Entscheidung getroffen, die uns nicht passt, und dafür werden wir euch anständig bestrafen. - Das ist nicht unsere Position, liebe Kolleginnen und Kollegen; das werden wir auf gar keinen Fall machen. ({4}) Frau Göring-Eckardt und Thomas Oppermann haben ja darauf hingewiesen, dass jetzt eine Entscheidung für etwas getroffen wurde, was knapp die Hälfte so sieht, was aber eine starke Minderheit anders sieht, vor allem die junge Generation. Und dieser jungen Generation möchte ich sagen: Es werden andere Chancen, andere Zeiten kommen. Nur - auch darauf hat Frau Göring-Eckardt hingewiesen -, es zeugt doch schon von einer gewissen Dramatik, dass eine junge Generation, die gewusst hat, dass es um ihre Zukunft geht, nicht in ausreichender Anzahl zur Wahl geht. Dafür gibt es keine Entschuldigung, sondern nur den Hinweis: Nächstes Mal müsst ihr es besser machen! ({5}) Natürlich ist es auch richtig, dass wir darüber reden, was wir tun können, damit dieses Europa attraktiver wird. ({6}) Über den Nationalstaat braucht man in der Regel keine Geschichte zu erzählen; aber über die Bedeutung Europas muss eine Geschichte erzählt werden. Wir haben hier im Deutschen Bundestag immer wieder darauf hingewiesen, dass die Gründungsgeschichte dieses gemeinsamen Europas auf den Erfahrungen mit den Kriegen, vor allem mit dem Zweiten Weltkrieg, basiert und dahinter die große Vision stand: Nie wieder Krieg! - Diese ist in Erfüllung gegangen, und darüber sind wir auch froh und dankbar. Aber jetzt muss eine neue Geschichte erzählt werden, eine Geschichte darüber, was dieses Europa ausmacht. Sie sollte nicht nur aus nackten Fakten und Aufgaben bestehen, sondern auch aus einer gewissen Emotion. Wenn es nicht gelingt, Europa in den Herzen der Menschen zu verankern, dann wird es in Zukunft sehr schwer für Europa, die gute Geschichte zu erzählen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({7}) Ich glaube, es müssen zwei Dinge gemacht werden: Zum einen müssen die immer wieder aufgerufenen Kritikpunkte angepackt werden - dazu gleich -; zum anderen muss aber auch immer wieder gesagt werden, was dieses Europa bedeutet. Auch ich muss mich immer wieder fragen: „Habe ich da alles richtig gemacht?“, ({8}) und komme zu dem Ergebnis: Es kann nicht sein, dass wir immer dann, wenn es besonders schwierig wird, alle Schuld auf Europa schieben. Es kann nicht sein, dass die Kommunen die Schuld aufs Land schieben, das Land auf den Bund und der Bund auf Europa. So werden wir die Geschichte, die an die Herzen gehen soll, nicht erzählen können, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({9}) Damit dies nicht passiert, müssen wir schauen, auf welcher Ebene welche Aufgaben gelöst werden sollen. Dann muss auch ganz genau geschaut werden, wo wir auf den jeweiligen Ebenen Verantwortung abladen wollen und wo das nicht geht. Ich habe mehrfach an diesem Pult gesagt, dass ich finde, dass Europa im Augenblick in keinem guten Zustand ist - und das ist noch eine freundliche Formulierung. Aber es geht hier nicht um Europa, sondern in erster Linie um die Nationalstaaten. Insofern hoffe ich, Frau Bundeskanzlerin, dass es jetzt gelingt - nicht bei dem Gipfel, der jetzt ansteht, aber in der nächsten Zeit -, dass sich die Nationalstaaten wieder stärker bewusst werden, welche Verantwortung sie für das gemeinsame Europa tragen, ({10}) und entsprechende Ergebnisse hervorbringen. Es ist doch nicht Europa, das die gemeinsame Flüchtlings- und Asylpolitik verhindert, sondern es sind Nationalstaaten, die nicht bereit sind, die notwendige Solidarität zu leisten. Da gilt derselbe Satz wie für Großbritannien: gleiche Rechte, aber auch gleiche Pflichten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das muss da auch gesagt werden. ({11}) Ja, das sind ein paar Aufgaben, und wir müssen sagen: Europa ist besonders dort gefordert, wo der Nationalstaat zu klein geworden ist und die Aufgabe nicht leisten kann. Da sind wiederum die Nationalstaaten gefordert, dies zu akzeptieren. Wenn wir eine gemeinsame Außengrenze schaffen und sagen, dass es dafür die Binnengrenze quasi nicht mehr gibt, dann muss doch aber auch klar sein, dass die Konsequenz daraus ist, dass diese Außengrenze geschützt werden muss. Da, wie wir doch sehen, der eine oder andere Nationalstaat das nicht kann, muss Europa diese Aufgabe übernehmen. Die Menschen in Europa, die Bürgerinnen und Bürger - vielleicht ein paar Regierungen in den Nationalstaaten nicht -, würden hundertprozentig den Satz unterschreiben: Eine europäische Außengrenze erfordert auch eine europäische Grenzschutzpolizei. ({12}) Da muss es jetzt mal einen Ruck geben. 150, 200 oder 300 neue Stellen reichen nicht aus. Da muss nun etwas getan werden. Angesichts der Situation, in der sich alle Armeen in Europa befinden, muss doch endlich einmal die Frage beantwortet werden: Wie können wir äußere Sicherheit durch intensivere Zusammenarbeit gerade in diesem Bereich herstellen? ({13}) Da wird jeder seine Korrekturen vornehmen müssen. Mehr Zusammenarbeit in der Verteidigungspolitik bedeutet auch mehr Verantwortung für Europa in der Verteidigungspolitik. Da kann dann nicht jede nationale Eigenheit über das gemeinsame Interesse einer europäischen Verteidigungspolitik gestellt werden; das fängt mit der Zusammenarbeit bei Rüstungsexporten an. Und das hat Konsequenzen. Man kann nicht sagen: „Europa soll in den großen Bereichen mehr tun“, aber dann jedes Mal auf nationale Eigenheiten beharren. Das funktioniert hinten und vorne nicht. ({14}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, angesichts der Geschehnisse in Großbritannien rate ich, die Analyse sorgfältig und nicht nach politischen Interessen vorzunehmen. ({15}) - Vielen Dank, aber damit sind auch Sie gemeint. ({16}) Ja, es ist richtig: Wir müssen für mehr wirtschaftliches Wachstum sorgen, und wir müssen mehr dafür tun, dass junge Menschen Perspektiven haben. Aber das Thema Jugendarbeitslosigkeit war in Großbritannien nicht der entscheidende Punkt, um gegen Europa zu stimmen. Benennen wir die Dinge doch, wie sie sind. ({17}) Was soll ein junger Mensch in Spanien, Frankreich oder einem anderen Land von diesem gemeinsamen Europa halten, wenn er hört, dass 50 Prozent der Jugendlichen in seinem Alter arbeitslos sind? Es reicht eben nicht, wenn sich Europa für eine Wachstumsstrategie ausspricht und sagt: Wachstum erzeugen wir, indem wir viel Geld in das System hineinpumpen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, lieber Koalitionspartner, Sie von der SPD haben völlig richtig erkannt - auch wenn Sie es heute nicht mehr wissen wollen -, dass ohne notwendige Reformen keine Wachstumsprozesse angestoßen werden können. ({18}) Deswegen war die Agenda 2010, an der Frank-Walter Steinmeier so erfolgreich mitgewirkt hat, doch richtig. Ich kann nur sagen: Wenn eine Partei wie Sie, die SPD, sich jetzt von dem erfolgreichen Wachstumsmotor verabschieden will, dann ist das kein gutes Beispiel für Wachstumsperspektiven in Europa. ({19}) Wenn ich mir die französische Wirtschaft anschaue, wenn ich mir die wirtschaftliche Situation in Spanien anschaue, dann finde ich schon, dass dort einige Strukturen geändert werden müssen. Dass wir eine so gute Beschäftigungssituation für junge Menschen haben, hängt auf der einen Seite mit unserer wirtschaftlich guten Situation zusammen, auf der anderen Seite aber auch mit unserem Bildungssystem. Ich nenne Ihnen ein Beispiel: In meiner Region werden demnächst 13 000 zusätzliche Arbeitskräfte gesucht: 11 000 Facharbeiter und 2 000 Ingenieure. In einem Bildungssystem wie Spanien, wo jeder studiert und kaum noch einer Facharbeiter wird, kann die Beschäftigung von jungen Menschen eben nicht so erfolgen wie bei uns in Deutschland. ({20}) Deswegen müssen wir, wenn wir über eine Wachstumsphilosophie für Europa reden, auch im Blick haben, welche Änderungen im Bildungssystem vorgenommen werden müssen. Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, wir sollten jetzt in aller Ruhe mit Großbritannien verhandeln, so wie es die Bundeskanzlerin gesagt hat. Ich finde, die Position, die Angela Merkel heute Morgen formuliert hat, ist genau die richtige Position für die nächsten Tage in Europa. Wir unterstützen diesen Kurs. ({21}) Dann sollten wir unsere eigenen Interessen in den Prozess einbringen. Wir sollten mit großer Zuversicht, mit großem Engagement und auch mit Begeisterung sagen: Ja, das war kein guter Tag; aber wir stehen zu Europa, weil wir wissen, was dieses Europa für uns und die junge Generation bedeutet. Herzlichen Dank. ({22})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort der Kollegin Katarina Barley für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Katarina Barley (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004247, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr verehrter Herr Präsident! Guten Tag, liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Brexit ist Realität geworden. Mein Vater ist Brite. Auch ich habe die britische Staatsbürgerschaft. Ich gebe zu: Ich bin immer noch ein Stück weit erschüttert, auch darüber, welche Gräben in diesem Land aufgerissen worden sind. Ich erlaube mir, hier noch einmal an unsere Kollegin Jo Cox zu erinnern, die diese aufgeheizte und aggressive Atmosphäre am Ende mit ihrem Leben bezahlt hat. ({0}) Herr Kauder, niemand will Großbritannien für seine Entscheidung bestrafen, ich als Letzte. Aber „in is in“ und „out is out“ - so viel muss klar sein. ({1}) Wenn wir jetzt über einen Better Deal verhandeln und neue Zugeständnisse machen würden, ({2}) wie sollten wir dann den anderen Staaten gegenübertreten, die ihrerseits kommen und alle einen eigenen Deal verhandeln wollen? Da müssen wir schon konsequent sein. ({3}) Und wenn die erste Lehre aus dem Referendum ist: „Keine Innenpolitik auf Kosten der EU“, dann bitte ich sehr darum, Herr Kauder, in einer Debatte wie der heutigen auf solche innenpolitischen Polemiken zu verzichten; ({4}) denn sonst sind das alles nur Sonntagsreden, und dann fangen wir wieder vorne an. ({5}) Die Gründerväter haben die Europäische Union als gemeinsames Haus gebaut und nicht als Steinbruch, wo jeder hinfährt, um sich das größte Stück herauszuschlagen. Zu diesem Geist der EU muss Deutschland wieder zurückkehren. Das betrifft nicht nur die Brüsseler Verhandlungsebene, das betrifft - Herr Bartsch, bei allem Respekt - auch die Opposition. Auch hier wird häufig Innenpolitik auf Kosten der Europäischen Union gemacht. ({6}) Wenn jetzt überall gesagt wird: „Es muss in der EU wieder um die Menschen gehen“, dann sage ich: Ja, es muss um die Menschen gehen; auch das ist eine Lehre aus dem Referendum. Es muss um die Menschen gehen, die jetzt schon viel von der Europäischen Union haben. Das sind vor allen Dingen die Jungen, die mobil sind, die Arbeitsmöglichkeiten haben, die gebildet sind. Aber wir müssen eben auch von denen sprechen, die nichts davon haben, die zumindest glauben, dass sie nichts davon haben. Frau Merkel, Sie fragten nach einem Vorschlag, wie man die Union zusammenhalten kann. Ja, den haben wir: Lassen Sie uns endlich ernst machen mit dem sozialen Europa, ({7}) lassen Sie uns Arbeit schaffen durch Investitionen, lassen Sie uns den jungen Menschen überall eine Perspektive geben! ({8}) Am Ende geht es doch um das Wichtigste - ich meine das sehr ernst -: Am Ende geht es tatsächlich um Frieden. ({9}) Frieden ist nicht selbstverständlich. Wir sehen in vielen Staaten autoritäre Nationalisten, die Staaten wieder gegeneinander in Stellung bringen. Ich will Ihnen von einem traumatischen Erlebnis bei einer Podiumsdiskussion mit einem Brexit-Befürworter berichten; Herr Krichbaum war dabei. Der Brexit-Befürworter sagte: „Wir brauchen nicht die EU, um Frieden zu stiften; wir haben die NATO“, und brachte Griechenland und die Türkei als Beispiel. Das ist ein großes und ein verheerendes Missverständnis; denn Frieden ist viel mehr als die Abwesenheit von Krieg. ({10}) Frieden entsteht nur durch Austausch, durch Begegnung - und dafür steht die Europäische Union. Es ist kompliziert, miteinander zu reden, miteinander zu ringen. Meine Kinder haben vier Großeltern aus vier europäischen Ländern, die über Jahrhunderte viele Kriege gegeneinander geführt haben. Mir ist das sehr ernst: Ich möchte nicht sehen, dass meine Kinder oder irgendjemand von uns eine Welt erleben muss, in der sich Staaten gegeneinander aufstellen, und dafür brauchen wir eine starke Europäische Union. Vielen Dank. ({11})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Andrej Hunko für die Fraktion Die Linke. ({0})

Andrej Hunko (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004060, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der niederländische Philosoph Spinoza sagte einmal: Nicht weinen, nicht lachen, verstehen. - Ich glaube, das ist der richtige Ansatz, wie wir mit dem Referendum in Großbritannien umgehen sollten. Wir müssen doch die Frage stellen, warum nicht nur in Großbritannien, sondern auch in vielen anderen Ländern die EU-Skepsis immer weiter steigt und warum zum Beispiel auch bei den Referenden 2005 in Frankreich und den Niederlanden über den Verfassungsvertrag sowie 2008 in Irland und letztes Jahr in Griechenland über das Austeritätsprogramm immer eine Mehrheit dagegen gestimmt hat. Wenn man sich alle Abstimmungen anschaut, sieht man, dass sich da eines wie ein roter Faden hindurchzieht: Es sind immer die finanziell Schwächeren aus den prekären Gebieten, zum Beispiel aus den nordenglischen Arbeiterstädten, von denen eine Mehrheit dagegen stimmt. Ich glaube, eine ganz wichtige Erkenntnis ist: Europa muss endlich sozialer werden, oder es wird auseinanderfliegen. ({0}) Die Entscheidung in Großbritannien zum Brexit ist nur ein Symptom. Ich glaube, dass die Ursachen in der Konstruktion, in der Politik in ganz Europa liegen. Dabei geht es um zwei zentrale Fragen: die soziale Frage und die Demokratiefrage. Ich habe mit großem Interesse das Papier von Herrn Gabriel und Herrn Schulz von der SPD bezüglich einer Neugründung der Europäischen Union gelesen. Der Begriff „Neugründung der Europäischen Union“ ist ein Begriff der europäischen Linkspartei. Ich habe das wirklich sehr interessiert gelesen. ({1}) Wir sind für eine Neugründung der Europäischen Union, vor allen Dingen auf sozialer und auf demokratischer Grundlage. Das ist sehr konkret. Wir stehen in den nächsten Wochen und Monaten vor einer ganz weitreichenden Entscheidung, nämlich vor der Frage der Einführung der sogenannten Freihandelsabkommen CETA und TTIP. Es gibt jetzt starke Bestrebungen in der Europäischen Kommission, diese Abkommen vorbei an den nationalen Parlamenten, vorbei auch gegebenenfalls an möglichen Referenden in einzelnen Mitgliedstaaten durchzusetzen. Das ist ein erster Lackmustest, ob man aus diesen Abstimmungen etwas gelernt hat oder nicht. Das darf nicht sein. Diese Abkommen müssen demokratisch legitimiert werden. ({2}) Wir sind gegen diese Abkommen - das ist völlig klar -; aber Voraussetzung ist, dass in den Mitgliedstaaten über diese Abkommen diskutiert, verhandelt und abgestimmt wird. Ich will die Bundesregierung eindringlich auffordern, sich massiv dafür einzusetzen, dass das nicht an den einzelnen Staaten vorbei durchgewinkt wird. Vielen Dank. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun die Kollegin Gerda Hasselfeldt für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000825, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist keine Frage, die Entscheidung in der letzten Woche war eine bittere Entscheidung für Großbritannien, aber auch für ganz Europa. Wenn auch bei den Erwartungen im Vorfeld dieser Entscheidung nicht ausgeschlossen werden konnte, dass sie so ausfällt, so wurde - so empfand ich es zumindest - beim Votum selbst deutlich, welche große historische Tragweite mit dieser Entscheidung verbunden war und ist. Ob wir das nun für richtig oder für falsch halten, wir haben diese Entscheidung des britischen Volkes zu respektieren, und wir haben behutsam, besonnen und vernünftig damit umzugehen. Schnellschüsse, irgendwelche Schuldzuweisungen oder gar ein Britenbashing sind fehl am Platz. ({0}) Ob es gelingt, behutsam und besonnen mit dieser Entscheidung umzugehen, wird sich schon bei der Gestaltung des Prozesses in den nächsten Monaten zeigen. Die Bundeskanzlerin hat deutlich darauf hingewiesen, wie der Weg ist: Die Briten haben eine Mitteilung an den Europäischen Rat zu machen, dieser erstellt dann die Leitlinien, und auf dieser Basis wird der Prozess gestaltet. Nun geht es darum: Soll das schnell gehen? Sollen wir das beeinflussen? Sollen wir da Druck ausüben? Für mich ist völlig unbestritten, dass sichere Rahmenbedingungen für die wirtschaftliche Betätigung in ganz Europa für uns und auch für andere Staaten von entscheidender Bedeutung sind. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, es gilt auch: Die Entscheidung darüber, wann diese Mitteilung an den Europäischen Rat erfolgt, trifft die britische Regierung. Dazu braucht es keinen Druck von anderen Partnern. ({1}) Dann kommt die Gestaltung des Prozesses. Gelegentlich hört man ja, da müsse eine Revanche her oder Ähnliches. Ich warne davor. Natürlich kann es keine Rosinenpickerei geben; ({2}) darauf hat die Bundeskanzlerin in ihrer Regierungserklärung deutlich hingewiesen. Aber es gilt auch: Großbritannien ist in der Sicherheitspolitik und im Hinblick auf die wirtschaftlichen Beziehungen - nicht nur zu Deutschland, sondern auch zu vielen anderen europäischen Ländern; für Bayern gilt das in ganz besonderer Weise - ein äußerst wichtiger Partner. Darüber ist keine theoretische Diskussion zu führen. Vielmehr hat diese Entscheidung auch auf die Menschen und auf die Arbeitsplätze bei uns im Land ganz massive Auswirkungen. ({3}) Wir können nicht so tun, als würde sie die Menschen und die Arbeitsplätze bei uns nicht betreffen. Angesichts der engen, wichtigen und intensiven wirtschaftlichen Beziehungen, die wir zu Großbritannien haben, ist das Gegenteil der Fall. ({4}) Deshalb sind auch hier Besonnenheit, Vernunft und Verantwortung gefragt. Einerseits gilt: keine Rosinenpickerei. Andererseits aber brauchen wir das feste Bewusstsein: Wir sind und bleiben Partner, und die Menschen in unseren Ländern werden die Auswirkungen der Verhandlungen spüren. In dieser Verantwortung müssen diese Verhandlungen auch geführt werden. ({5}) Nach solch einer Entscheidung stellt sich natürlich auch die Frage: Welche Konsequenzen, welche Schlussfolgerungen ziehen wir daraus für die weitere Gestaltung der Europäischen Union? Von Kolleginnen und Kollegen ist bereits mehrfach angesprochen worden: Nicht überall ist die Europäische Union derzeit in einer guten Verfassung; das spüren wir auch ganz allgemein. Da kommen dann sehr viele Fragen und auch viele Antworten ganz schnell. Ein bisschen habe ich den Eindruck, dass manAndrej Hunko ches in Richtung Aktionismus geht. Auch Aktionismus, meine Damen und Herren, ist in dieser wichtigen Frage nicht angesagt. ({6}) Wir brauchen übrigens keine Umwandlung der Europäischen Kommission in eine europäische Regierung, und wir brauchen jetzt auch nicht schnell weitere Programme, um zusätzliches Geld auszugeben, ({7}) das dann übrigens in erster Linie wir Deutsche auszugeben hätten. ({8}) Ich glaube, wir tun gut daran, uns einmal in die Situation der Menschen vor Ort zu versetzen und uns zu fragen: Was erwarten sie von der Europäischen Union? Ich will das an drei Punkten festmachen: Erstens. Ich glaube, wir müssen uns alle miteinander ich schließe mich da überhaupt nicht aus - darauf besinnen, wie wir von der Europäischen Union und von diesem Europa reden; das ist vorhin schon mehrfach angesprochen worden. Für mich - ich sage das ganz bewusst, auch als CSU-Politikerin - ist das ein wirklich wichtiges Anliegen: Reden wir noch von dem Friedensprojekt? Reden wir noch von dem Wohlstand, den uns ganz wesentlich Europa gebracht hat? Reden wir noch von den gemeinsamen Werten? Reden wir noch von der politischen Selbstbehauptung Europas in einer zunehmend globalisierten und schwierigen Welt? Wir reden darüber fast nicht, weil für uns alles Positive selbstverständlich ist. ({9}) Gleichzeitig sage ich aber: Dieses positive Reden schließt nicht aus, auch über manche Fehlentwicklungen und Defizite zu reden. Auch das gehört dazu; beides gehört zusammen. Wenn man das Letztere tut, dann muss man auch konkrete Vorschläge machen, um diese Fehlentwicklungen und Defizite zu beheben und eben darüber nicht nur zu sprechen und die Ängste und Sorgen der Menschen zu überhöhen, sie aber nicht zu beseitigen. ({10}) Ein Zweites. Wenn wir uns in die Situation der Menschen versetzen, dann spüren wir gerade aktuell, was die wichtigsten Sorgen sind: die Gewährleistung der Sicherheit in unserem Land angesichts der vielen Krisen und Kriege auf der ganzen Welt, die Gewährleistung der inneren Sicherheit, die Bekämpfung des Terrorismus, die Bekämpfung der Kriminalität und manche Fragen, die sich im Zusammenhang mit der weltweiten und in Europa besonders spürbaren Migration stellen. Ich will nur diese paar Themen in den Mittelpunkt stellen und deutlich machen: Gerade diese Themen sind es, die erstens die Menschen in besonderer Weise berühren und ihnen Ängste und Sorgen bereiten und zweitens von den Nationalstaaten alleine nicht bewältigt werden können. Gerade deshalb ist es wichtig, dass sich Europa um diese Fragen und nicht um das viele Klein-Klein in Vertragsverletzungsverfahren und Sonstigem kümmert. ({11}) Das Dritte, was ich ansprechen möchte, ist: Die Europäische Union kann nicht alle Defizite, die wir erkennen, beseitigen und allen entsprechenden Handlungsnotwendigkeiten nachkommen. Die Jugendarbeitslosigkeit Volker Kauder hat es vorhin angesprochen - und manche Fragen der Sozialpolitik - übrigens auch die Fragen des gesamten Arbeitsmarktes - liegen in der nationalen Verantwortung. ({12}) Wir streuen den Menschen Sand in die Augen, wenn wir ihnen weismachen: Das ist ein europäisches Anliegen, und das kann europäisch gelöst werden. Mit noch so viel Geld - woher auch immer das kommen möge - kann man diese Probleme nicht lösen. Sie können nur dadurch gelöst werden, dass jeder Staat in Europa seine Hausaufgaben macht und alles tut, um wettbewerbsfähig zu sein; denn nur dann wird Europa als Ganzes auch wettbewerbsfähig sein. ({13}) Meine Damen und Herren, in jeder Krise liegt auch eine Chance. Nach dem, was die Bundeskanzlerin in ihrer Regierungserklärung deutlich gemacht hat, bin ich zuversichtlich, dass die jetzige Situation, die wahrlich eine Riesenherausforderung für ganz Europa ist, nicht als Krise verstanden, sondern als Chance betrachtet wird, und wir sollten alles dafür tun, sie dabei konstruktiv zu begleiten. ({14})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Norbert Spinrath für die SPD-Fraktion. ({0})

Norbert Spinrath (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004411, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Zu lange hat Premier Cameron gegen die EU gearbeitet. Sein Kampf in den letzten Monaten für einen Verbleib des Vereinigten Königreichs in der EU war nicht mehr glaubwürdig und nicht mehr überzeugend genug. Jetzt aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, muss derselbe Premier, der nach seiner eigenen Erklärung noch mehrere Monate im Amt sein wird, mit seiner Regierung den Willen des Volkes umsetzen. Ich fordere ihn hiermit auf, nicht länger Zeit zu schinden, sondern die notwendige Mitteilung in Brüssel schnellstmöglich vorzulegen. ({0}) Eines muss der dortigen Regierung klar sein - ich bin froh, dass darüber Einigung in diesem Hause herrschte -: Vor einer Mitteilung über die Austrittsabsicht gegenüber dem Europäischen Rat darf es keine Vorgespräche, darf es keine Nachverhandlungen und darf es keine ZugeGerda Hasselfeldt ständnisse geben. Bei den dann folgenden Verhandlungen geht es eben alleine um die Bedingungen des Austritts und nicht um die zukünftigen Beziehungen des Landes zur EU. Austrittsverhandlungen dürfen keine Gespräche über eine Mitgliedschaft light des Vereinigten Königreiches in der EU sein. Im Reich von Wahnvorstellungen bewegt sich anscheinend Boris Johnson, der gestern vom bevorzugten Zugang des Landes zum Binnenmarkt und zu den Vorteilen der EU fabulierte, ganz ohne die aus einer Mitgliedschaft erwachsenden Pflichten. Die Europäische Union wird diesen Austritt sicherlich verkraften. Sorgen mache ich mir aber um die Zukunft des Vereinigten Königreiches. In den letzten Tagen zeigte sich die innere Zerrissenheit des Landes, zwischen Jung und Alt, zwischen Schottland, Nordirland und London einerseits und dem Rest des Landes andererseits. Nicht einmal mehr ein Verfall des Landes ist auszuschließen. Das britische Pfund und die Wirtschaft stehen vor einer ungewissen Zukunft. Deshalb ist es jetzt umso wichtiger, Frau Bundeskanzlerin, dass die 27 Mitgliedstaaten der Union zusammenstehen. Da haben die Treffen der vergangenen Tage mit Ihren Kollegen aus Frankreich und Italien, aber eben auch das Treffen der sechs Außenminister der Gründungsstaaten auf Einladung von Frank-Walter Steinmeier am Sonnabend wichtige Impulse gesetzt. ({1}) Frau Bundeskanzlerin, ich bitte Sie, beim Europäischen Rat darauf hinzuwirken, dass die 27 Mitgliedstaaten mit einer Stimme sprechen. Dabei reicht es eben nicht, die Äußerungen von Herrn Cameron in Ruhe, wie es Herr Kauder und die Kanzlerin formuliert haben, zur Kenntnis zu nehmen. Nein, Sie müssen von der Regierung des Vereinigten Königreiches schnellstmöglich und nicht erst nach einem personellen Wechsel im Herbst die Mitteilung der Austrittsabsicht einfordern. Die verbleibenden 27 Mitgliedstaaten müssen aber auch das Vertrauen in die Europäische Union schnell wiederherstellen und offen und für ihre Bürgerinnen und Bürger erkennbar und nachvollziehbar darüber reden, wie ein besseres Europa gestaltet werden soll. Geben Sie, Frau Bundeskanzlerin - das möchte ich Ihnen mit auf den Weg geben -, ein starkes Bekenntnis zur europäischen Einigung ab. Doch dazu ist eben nicht nur ein Bekenntnis erforderlich, sondern auch konkretes Handeln. Es gibt viel zu tun, auch auf unserer deutschen Seite. Herr Kauder, wir sollten darüber nicht nur wohlfeil reden, aber immer dann die Schotten dicht machen, wenn wir Sozialdemokraten von der sozialen Dimension Europas reden. Auch das ist Realität. Da müssen Sie sich bewegen. ({2}) Frau Hasselfeldt, natürlich wollen wir, dass sich Europa zu einem besseren Europa weiterentwickelt. Aber dann müssen wir nicht nur über die Menschen reden, sondern wir müssen sie auch deutlich und wahrnehmbar in den Mittelpunkt unseres Handelns stellen. Einfach nur abzuwarten und die Dinge in Ruhe zur Kenntnis zu nehmen, wäre jetzt ein schwerer Fehler und der Lage in Europa nicht angemessen. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist Kai Whittaker für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Kai Whittaker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004443, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Werte Kollegen! Ich stehe heute vor Ihnen als ein Mitglied des Deutschen Bundestages, direkt gewählt für meinen Heimatwahlkreis Rastatt. Ich stehe heute aber auch vor Ihnen als ein Bürger des Vereinigten Königreiches von Großbritannien und Nordirland, der am vergangenen Donnerstag für den Verbleib in der Europäischen Union gestimmt hat, ({0}) als einer von 62 Prozent seiner Altersklasse. Ich stehe aber heute insbesondere vor Ihnen als Europäer, als Sohn eines britischen Vaters und einer deutschen Mutter, als einer, den es ohne den freien Personenverkehr nicht gäbe, ({1}) als einer, der ohne freie Grenzen in Europa nicht hier stehen könnte. ({2}) Deshalb werde ich für diese Prinzipien der Europäischen Union immer einstehen. ({3}) Herr Präsident, Sie hatten sicherlich recht, als Sie sagten, dass am vergangenen Freitag über Europa die Sonne wieder aufgegangen ist. Aber ich finde, sie scheint nicht mehr so hell. Stattdessen ziehen am europäischen Himmel immer mehr dunkle Wolken auf. Sie kommen aus Frankreich, den Niederlanden, Polen, Tschechien, Österreich, Dänemark, Griechenland, Italien und, ja, auch aus Deutschland. Sie speisen sich aus einer Angst, in einer Union mit 500 Millionen Menschen verloren zu gehen, einer Angst, die eigene Identität aufgeben zu müssen, um Teil einer anderen Identität sein zu können, einer Angst, vergessen zu werden und nicht am wachsenden Wohlstand teilhaben zu können. Es schlagen zwei Herzen in meiner Brust. Als Europäer mag mir, mag uns das Ergebnis vom vergangenen Donnerstag nicht gefallen. Die Einheit des Landes ist in Gefahr. Die wirtschaftlichen Aussichten sind unsicher. Die Zukunft der jungen Briten ist beschnitten. Aber als Demokraten haben wir dieses Ergebnis zu respektieren und umzusetzen. Ein zweites Referendum zum jetzigen Zeitpunkt würde das Land weiter spalten und tiefer ins Chaos führen. Ich teile daher die Ansicht der Bundeskanzlerin, nicht hastig, aber zielstrebig, nicht nachtretend, aber konsequent die Trennung zwischen Großbritannien und der EU zu vollziehen. Ich bin auch überzeugt, dass wir konsequent sein müssen. Denn wenn uns unsere europäische Idee wirklich etwas wert ist, dann müssen wir klarmachen, was dieser Wert der EU-Mitgliedschaft tatsächlich darstellt. ({4}) Sonst werden wir eines Tages unseren eigenen Bürgern nicht mehr erklären können, warum wir Teil dieser europäischen Familie bleiben sollten. Genau darin liegt aber, finde ich, auch unsere Chance, diese dunklen Wolken am Himmel zu vertreiben. Die Diskussion über Reformen in der EU ist zwar notwendig, aber ich glaube, sie ist nicht entscheidend für die Zukunft der EU. Denn wenn wir beständig das Schlechte an der EU suchen, finden oder gar erfinden, wirken wir nur darauf hin, dass sie zerbricht. Stattdessen bin ich fest davon überzeugt, dass wir den Kampf um die Zukunft unseres Kontinents mit den Feinden der EU aufnehmen müssen. Sie sehen in der EU die Gefahr für ihren Nationalismus. Sie werden nicht verschwinden, solange wir sie gewähren lassen. Das lehrt uns die Geschichte. ({5}) Die erste deutsche Demokratie ist in meinem Wahlkreis blutig niedergeschlagen worden, weil es zu wenige Beschützer gab. Die zweite deutsche Demokratie von Weimar ist untergegangen, weil es zu wenige Demokraten gab. Ich will nicht, dass auch die Europäische Union scheitert, weil es zu wenige leidenschaftliche Europäer gab. ({6}) Europa hat die besseren Argumente. Aber wir müssen endlich damit anfangen, den Kampf gegen die Feinde Europas mit ihrer populistischen Rhetorik zu führen. Deshalb appelliere ich an alle enttäuschten Briten: Ja, das Referendum müssen wir akzeptieren. Aber wenn sich die Versprechungen der Nationalisten nicht erfüllen, dann schlägt die Stunde, diese Entscheidung umzukehren. Vor allem möchte ich aber als junger Bundestagsabgeordneter mit dieser besonderen Biografie an die junge Generation aller Mitgliedstaaten unseres großartigen Kontinents und insbesondere in Großbritannien appellieren: Nehmt diesen Kampf auf! Übernehmt für eure Zukunft in Europa Verantwortung! Für den Moment bleibt mir nur eins zu sagen: Wir werden euch vermissen, aber nicht vergessen. Der Tag wird kommen, an dem wir wieder vereint sein werden, stärker als je zuvor. ({7})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Letzter Redner in dieser Aussprache ist der Kollege Ralph Brinkhaus. ({0})

Ralph Brinkhaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004021, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Bartsch, eine kleine Korrektur: Die Tories haben die EVP schon vor längerer Zeit verlassen. Aber Sie haben mit einer Bemerkung tatsächlich recht gehabt, und das ist sehr ernsthaft: Die Größe und das Format einer Institution und einer Gemeinschaft zeigen sich auch dann, wenn jemand diese Gemeinschaft verlässt. Dementsprechend muss ich sagen: Die eine oder andere Aufgeregtheit aus Brüssel, aus anderen europäischen Hauptstädten oder auch hier im Parlament ist vor diesem Hintergrund nicht zu verstehen. Ich kann nachvollziehen, dass dabei Emotionen hochkochen. Aber Enttäuschung ist kein guter Ratgeber, und Zorn ist nicht sonderlich souverän. ({0}) Souverän ist das, was einige Kollegen hier gemacht haben, nämlich darauf hinzuweisen, was uns mit Großbritannien verbindet. Das sind nicht nur wirtschaftliche, kulturelle und politische Beziehungen, sondern auch ganz viele persönliche Freundschaften. Wir haben Großbritannien ganz viel zu verdanken. Großbritannien hat dafür gesorgt, dass es in diesem Land eine Demokratie gibt und dass sich die Bundesrepublik Deutschland so entwickelt hat, wie wir sie heute kennen. Dementsprechend werbe ich nachhaltig darum, fair mit Großbritannien umzugehen, ein faires Verfahren durchzuführen. Natürlich muss klar gesagt werden, was geht und was nicht geht, genauso wie es die Bundeskanzlerin gemacht hat. Aber wir müssen auch den Langmut, die Größe und die Geduld für Großbritannien aufbringen, wie wir es auch bei anderen Ländern getan haben. Großbritannien war immer ein harter Verhandlungspartner. Großbritannien war nicht immer einfach. Aber Großbritannien hat nie Verträge gebrochen. ({1}) Großbritannien hat nie Zusagen nicht eingehalten. Großbritannien hat auch nie falsche Zahlen geliefert. Ich erwarte deswegen, dass gegenüber Großbritannien die Fairness geübt wird, die auch gegenüber anderen geübt wird. ({2}) Natürlich müssen wir nun darüber diskutieren, wie der Prozess abläuft und wie wir auseinanderkommen. Viele Redner haben heute gesagt, dass das vernünftig gestaltet werden kann. Es muss vernünftig gestaltet werden, weil wir über die Freundschaft zu Großbritannien hinaus wirtschaftliche Interessen haben. Wie Herr Oppermann bereits gesagt hat, geht nicht nur ein Land, sondern auch die zweitgrößte Volkswirtschaft der EU. Es geht einer unserer wichtigen Handelspartner. Mit Großbritannien geht aber auch ein Land aus der Europäischen Union, das mit seinem Geist für Wirtschaftsliberalität und Wettbewerb der Union sehr gut getan hat. ({3}) Vor diesem Hintergrund ist die Frage schon berechtigt, welche wirtschaftliche Bedeutung das Ausscheiden Großbritanniens für uns hat. Aber ich warne vor dem Alarmismus, der allenthalben gepflegt wird. Ich warne davor, den nun erscheinenden Gutachten, in denen darauf hingewiesen wird, wie viel Bruttoinlandsprodukt verloren geht und welche schrecklichen Dinge noch passieren, sofort Glauben zu schenken. Denn es hängt von uns ab, wie wir die zukünftigen Beziehungen zu Großbritannien gestalten, ob das etwas Gutes wird oder ob das nicht etwas Gutes wird. Es hängt natürlich auch davon ab, wie es in Großbritannien innenpolitisch weitergeht. Es ist überhaupt keine Häme angebracht, wenn es nun Auseinandersetzungen in der konservativen Partei, der Labour-Partei oder anderen politischen Richtungen gibt. Das hilft uns nicht weiter. Damit wir unsere Autos, Küchen und Waschmaschinen weiterhin nach Großbritannien exportieren können, sind wir darauf angewiesen, dass es dort eine ordentliche Binnennachfrage gibt. Deshalb ist es wichtig, dass sich die Verhältnisse in diesem Land sehr schnell klären werden. Wir sollten alles dafür tun, dass das auch klappt. ({4}) Wir müssen uns aber über alle Emotionen und wirtschaftlichen Bedenken hinaus natürlich Gedanken darüber machen, wie es mit Europa weitergeht. Ich bin verwundert, dass jeder, kaum dass das Abstimmungsergebnis veröffentlicht war, seine ihm bequeme Lösung parat hatte, die er schon immer vertreten hat. Die einen haben gesagt: „Wir brauchen jetzt eine Intensivierung Europas“, als ob Dinge wie gemeinsame Einlagensicherung die Begeisterung bei den Euro-Skeptikern steigern würden. Die anderen haben gesagt: „Wir brauchen gar kein Europa mehr“, als ob wir Herausforderungen wie Flucht und Migration ohne Europa hinbekommen würden. Die einen sagen: „Jetzt müssen wir ordentlich Geld ausgeben, um zum Beispiel die Jugendarbeitslosigkeit zu beseitigen“, und die anderen sagen: „Wir dürfen überhaupt kein Geld mehr ausgeben, weil das nur den Euro-Skeptizismus steigert.“ Meine Damen und Herren, ich glaube, es ist keine Zeit für Schnellschüsse. Wir müssen uns dringend Zeit nehmen, um profund und genau darüber nachzudenken, ob die europäischen Institutionen und die europäischen Regeln, aber auch - das sage ich ganz klar an dieser Stelle die Gesichter, die dieses Europa bisher vertreten haben, geeignet sind, Europa in das nächste Jahrzehnt zu führen, und dafür sorgen, dass die Fliehkräfte, die Sie artikuliert haben, nicht entstehen und Europa zusammenbleibt. Damit müssen wir sehr kritisch umgehen. Eine Frage ist allerdings am heutigen Vormittag kaum gestellt worden; diese müssen wir uns alle stellen. Die Abstimmung in Großbritannien ist nur vordergründig eine Abstimmung gegen Europa gewesen. Es ging viel tiefer. Es ist eine Abstimmung gegen das etablierte politische System. (Beifall des Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE] Es ist eine Abstimmung gegen das 21. Jahrhundert. Es ist ein Versuch, die Vergangenheit und den Milchmann zurückzubekommen. Leider ist das ein Phänomen, das wir nicht nur in Großbritannien haben, sondern das haben wir mittlerweile in ganz vielen Staaten, leider auch in der Bundesrepublik Deutschland. Wir als Vertreterinnen und Vertreter dieses etablierten politischen Systems müssen uns selbst ganz dringend fragen, bevor wir mit dem Finger auf Großbritannien zeigen, bevor wir mit dem Finger auf Brüssel zeigen, was wir anders machen können, um das Vertrauen der Menschen wieder zurückzugewinnen, die uns momentan von der Fahne gehen. Wenn dieses Referendum dazu dient, dass wir diesen Prozess auch hier im Deutschen Bundestag einleiten und uns selbst infrage stellen, dann ist es tatsächlich so, wie Gerda Hasselfeldt gesagt hat: Dann ist diese Krise auch eine Chance. Danke schön. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Liebe Kolleginnen und Kollegen, seit dem gestrigen Spieltag der Fußballeuropameisterschaft wissen vielleicht auch die Briten noch besser, dass manchmal auch große, selbstbewusste Länder scheitern können und durch kleine, ehrgeizige Teilnehmer verdrängt werden. ({0}) Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages für Mittwoch nächster Woche ein. Bis dahin und darüber hinaus begleiten unsere guten Wünsche die deutsche Fußballnationalmannschaft; denn - das hat auch diese Debatte bestätigt - uns alle verbindet die Überzeugung: Wo immer es um Europa geht, sollte Deutschland bis zum Schluss dabei sein. ({1}) Ich schließe die heutige Sitzung.