Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie alle zu unserer Plenarsitzung.
Wir beginnen heute Morgen mit dem Zusatzpunkt 4:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines Integrationsgesetzes
Drucksache 18/8615
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. - Dagegen gibt
es offenkundig keine Einwände. Also können wir so verfahren .
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst für die Bundesregierung dem Innenminister Thomas de Maizière .
({1})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unser Land steht beim Thema Integration vor einer gewaltigen Aufgabe. Die Bewältigung dieser Aufgabe ist nicht
getan mit schönen Worten, sondern beginnt mit Einsichten über gelungene und misslungene Integration und mit
Entscheidungen über den Weg, den wir als Gesellschaft
gehen wollen.
In Deutschland leben über 16 Millionen Menschen,
die selbst oder ihre Eltern oder ihre Großeltern Wurzeln
im Ausland haben. Zur Wahrheit gehört, wenn es um gelingende Integration geht, zwei Realitäten zu beschreiben .
Erstens. Unter ihnen sind viele Menschen, die ihre
Chancen genutzt haben. Sie haben eine Ausbildung gemacht oder ein Handwerk gelernt. Sie studieren oder
haben studiert . Sie haben Betriebe gegründet . Sie geben
Menschen Arbeit und bringen unser Land voran. Viele
Eltern, die als junge Menschen ihre Heimat verließen,
erziehen ihre Kinder gut und ermöglichen ihnen eine
Ausbildung, oft eine bessere, als sie selbst genossen haben. Alle diese Menschen sind Teil unseres Landes. Diese Menschen bereichern unser Land, und das sollten wir
auch immer klar aussprechen.
({0})
Zweitens. Es gibt aber auch eine andere Realität:
An einigen Stellen in Deutschland leben Menschen mit
ausländischen Wurzeln, die sich kaum oder gar nicht in
unser Land einbringen. Sie leben ein Leben unter sich,
fast ohne Kontakte zu Deutschen und ohne Einbindungen in unsere Gesellschaft. Sie sprechen kaum Deutsch
oder wollen es nicht und haben auch keinen ordentlichen
Arbeitsplatz. Manche junge Männer unter ihnen begehen
auffällig häufig Straftaten. Viele grenzen sich ab, manche
über die Religion, andere über abwegige Vorstellungen
von Ehre oder über beides. Die Lehrer in den Schulen
der entsprechenden Gegenden schaffen es oft nicht, die
fehlenden Deutschkenntnisse der Kinder aufzufangen,
von Wertevermittlung und Bildungsperspektive ganz zu
schweigen .
Solche Einsichten über beide Realitäten in unserem
Land tun weh, auch weil Teile dieser Entwicklung mit
Fehlern unserer eigenen Vergangenheit zu tun haben:
verträumte Blicke auf schwierige Integrationsaufgaben,
Ghettobildungen in Städten und Gemeinden, zu viele
lose Wünsche und zu wenige klare Erwartungen. Tun
wir gemeinsam alles dafür, dass sich solche Fehler nicht
wiederholen.
({1})
Heute geht es nicht um die Zuwanderer der vergangenen Jahrzehnte . Es geht übrigens auch nicht um Einwanderer . Insofern geht die Debatte um ein Einwanderungsgesetz - jedenfalls heute - am Thema vorbei.
({2})
Denn heute geht es um die Integration von Menschen, die
als Flüchtlinge zu uns gekommen sind, die hier Schutz
suchen und bleiben dürfen. Welchen Weg wollen wir als
Gesellschaft gehen? Was erwarten wir von diesen Menschen?
Unsere Bevölkerung hat den Willen, diejenigen, die
Schutz brauchen und eine Bleibeperspektive haben, hier
zu integrieren. Diesen Willen wollen wir bewahren. Dafür brauchen wir Integrationsmaßnahmen. Dafür brauchen wir aber auch ihr Vertrauen, dass der Rechtsstaat
das bestehende Recht auch durchsetzt .
({3})
Das bedeutet Aufnahme und Integration der Menschen
mit Bleibeperspektive einerseits, konsequente Ausreise,
notfalls Abschiebung der Menschen ohne Bleiberecht
andererseits .
Ich lege heute zusammen mit meiner Kollegin Andrea
Nahles das erste Integrationsgesetz für Deutschland vor.
Das ist eine entscheidende Zäsur für unser Land. Frau
Nahles und ich haben eine gemeinsame Federführung.
Das ist kein Kompromiss, sondern sachgerecht. Aufenthaltsrecht, Unterbringung, Sprache, Werte und Arbeit,
das sind die Maßstäbe für gelingende Integration, und
das geht nur gemeinsam .
({4})
Mit diesem Gesetzentwurf machen wir den Menschen
mit Bleibeperspektive ein Angebot: Wir ermöglichen ihnen Ausbildung, Spracherwerb und Einbindung in das
wirtschaftliche, kulturelle und rechtliche Gefüge unseres
Landes. Dafür erwarten wir Einsatzbereitschaft, Interesse am Leben in Deutschland und Respekt für die gewachsenen Grundlagen unseres Miteinanders. Wer dazu bereit
ist, hat hier alle Chancen. Wer dazu nicht bereit ist, dem
wird es in Deutschland nicht gut gehen.
({5})
Wir wollen, dass die, die hierbleiben, Neubürger unseres Landes werden, also Menschen, die sich für unser
Recht, unsere Sprache und unsere Kultur öffnen - auch
wenn sie nicht oder noch nicht deutsche Staatsbürger
werden sollen. Mit dem Integrationsgesetz machen wir
die Erbringung von Integrationsleistungen für alle Menschen mit Bleibeperspektive sozusagen zu einer Neubürgerpflicht. Wir verpflichten mehr als bisher zur Teilnahme an Integrationskursen, bieten gleichzeitig mehr
Plätze an. Wir erhöhen die Stundenzahl. Wir vertiefen
die Wertevermittlung. Wir erhöhen die Vergütung für
Integrationslehrkräfte, und wir sagen auch: Integration
braucht Regeln, braucht Vorgaben. Das geht nicht von
selbst. Den Rechten stehen Pflichten gegenüber. Das ist
nicht hart, sondern das ist fair und ganz normal in unserer Gesellschaft. Das machen wir unbestritten auch sonst
überall.
Wir wollen nicht, dass sich anerkannte Flüchtlinge
ausschließlich dort niederlassen, wo ihre Sprache, ihre
Herkunft oder ihre Religion vorherrscht. Das schadet
eher der Integration, als dass es ihr nützt.
({6})
Jeder muss seine Chance zum Aufstieg und zur Integration dort suchen, wo sie sich bietet, nicht dort, wo er die
meisten Leute kennt. Mit dem Gesetz können - können,
nicht müssen - die Länder anerkannten Flüchtlingen einen Wohnort zuweisen oder ihnen den Zuzug in einen
bestimmten Ort verwehren, solange sie keine feste Arbeit
haben. Wenn sie eine feste Arbeit haben, dann können sie
selbstverständlich dorthin gehen, wo ihr Arbeitsplatz ist.
Aber wir wollen keine Ghettos für Menschen, die von
Sozialleistungen abhängig sind, weil diese Integration
nicht oder jedenfalls nicht so leicht möglich machen.
({7})
Wir ändern außerdem die Voraussetzungen für ein unbefristetes Aufenthaltsrecht in Deutschland. Wer als anerkannter Flüchtling ein solches Recht haben will, muss
Sprachkenntnisse vorweisen und seinen Lebensunterhalt
überwiegend sichern können, wie übrigens alle anderen
Ausländer auch, die hier dauerhaft leben wollen.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen, all das hat auch zu Kritik geführt. Warum
auch nicht? Einige behaupten, das Gesetz sei vom Geist
des Misstrauens geprägt, Integration gelinge nicht unter Druck. Richtig ist aber etwas anderes: Hinter diesen
Maßnahmen steht ein Prinzip, das in unzähligen Bereichen unseres Alltages selbstverständlich ist. Wir haben
in Deutschland zum Beispiel die allgemeine Schulpflicht,
auch mit Sanktionen bei Verstößen. Niemand würde auf
die Idee kommen, dieses System an Schulen führe zu einem Geist des Misstrauens und nehme den Schülern die
Freude am Lernen. Wir haben die Pflicht zur elterlichen
Sorge in Deutschland. Niemand würde auf die Idee kommen, das führe zu der Unterstellung, es gäbe überwiegend schlechte Väter oder schlechte Mütter in Deutschland. „Fördern und Fordern“ ist das richtige Prinzip in
nahezu allen Bereichen unserer Gesellschaft. Auch für
die Integration ist es deswegen ein richtiges Prinzip .
({8})
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum
Schluss noch ein Wort zur Atmosphäre in unserer Gesellschaft sagen, die die Integration begleitet oder begleiten
sollte. Wir brauchen ein Klima der gegenseitigen Aufgeschlossenheit und anständiger Beziehungen zwischen
den Menschen, die hier leben. Wenn wir uns unserer
Stärken bewusst sind, wenn wir an die Kraft der Freiheit
glauben, dann brauchen wir keine Angst vor Überfremdung unserer Gesellschaft zu haben.
Wir müssen uns zusammen gegen jene stellen, die
offene oder verdeckte Fremdenfeindlichkeit als soziale
Politik etablieren wollen.
({9})
Populisten haben unser Land noch nie auch nur einen
Zentimeter weitergebracht. Sie sind das Gegenteil von
der Kultur, auf der unsere politische und menschliche
Orientierung beruhen sollte. Die Integration der Menschen, die bleiben dürfen, liegt in unserem eigenen, ich
sage: in unserem nationalen Interesse.
Am Rande zu stehen und Noten zu vergeben reicht
nicht aus. Bei dieser gewaltigen Aufgabe müssen alle
mitmachen . Das tun wir nicht nur für die Menschen mit
Bleibeperspektive; das tun wir auch für uns, das tun wir
für Deutschland.
({10})
Bevor ich die nächste Rednerin aufrufe, möchte ich
auf der Besuchertribüne über 300 Stipendiatinnen und
Stipendiaten aus unserem Parlamentarischen Patenschafts-Programm begrüßen, die in diesen Tagen ihren
Berlin-Besuch absolvieren. Herzlich willkommen im
Wohn- und Arbeitszimmer des deutschen Parlamentarismus .
({0})
Ich nutze die Gelegenheit gerne, um mich bei all den
Kolleginnen und Kollegen zu bedanken, die zum Teil seit
vielen Jahren als Patinnen und Paten die jungen Stipendiatinnen und Stipendiaten betreuen . Dies ist eines der
ehrgeizigsten, sicher aber auch eines der wirkungsvollsten Programme, die der Deutsche Bundestag jemals aufgelegt hat.
({1})
Nun hat die Kollegin Dağdelen für die Fraktion Die
Linke das Wort.
({2})
Verehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und
Kollegen! Herr Minister de Maizière! Frau Ministerin
Nahles! „Integration“ steht zwar auf Ihrem Gesetzentwurf, aber in Ihrem Gesetzentwurf ist genau das Gegenteil enthalten. Deshalb haben zu Recht beide großen
Kirchen, das Deutsche Institut für Menschenrechte, viele
verschiedene Flüchtlingsverbände, Organisationen und
Initiativen Ihren Gesetzentwurf in der Luft zerrissen,
weil es der Entwurf eines Integrationsverhinderungsgesetzes ist .
({0})
Integration soll ausgeschlossene soziale Gruppen in
die Gesellschaft hereinholen, doch hier geschieht genau
das Gegenteil: Ausgeschlossene Gruppen sollen gegeneinander ausgespielt werden. Denn zahlreiche Maßnahmen
in diesem Gesetzentwurf sehen beispielsweise vor, hier
einen neuen Billiglohnsektor zu schaffen.
({1})
Unter dem Deckmantel der Menschenfreundlichkeit will
SPD-Arbeitsministerin Nahles hier ein neues Werkzeug
zum Lohndumping etablieren.
({2})
Allein für 100 000 Flüchtlinge soll Arbeit zu Stundenlöhnen von 80 Cent geschaffen werden. Denn gegenüber
den ohnehin schon miesen 1-Euro-Jobs wird der Lohn
bei den Flüchtlingen noch um 20 Prozent gekürzt. Die
Begründung ist, Flüchtlingen entstünden ja keine Mehraufwendungen für Arbeitskleidung oder Fahrtkosten,
wenn sie in Sammelunterkünften tätig würden. Ich finde,
das ist unerträglich, Frau Ministerin.
({3})
So geht die Lohnspirale nämlich nach unten, und Flüchtlinge werden in Konkurrenz zu Einheimischen gesetzt.
({4})
Hier wird nicht integriert, sondern gespalten, meine
Damen und Herren . Hier werden keine Menschen integriert, sondern es wird direkt darauf gezielt, Armutslöhner im Niedriglohnbereich auch noch gegeneinander
auszuspielen.
({5})
Das, meine Damen und Herren von der Union und von
der SPD, kann doch nicht wirklich Ihr Ernst sein. Das,
was Sie da bauen, ist ein regelrechter Rassismusmotor.
({6})
- Wir brauchen in diesem Land eine soziale Offensive für
alle und keine Spaltung gerade im Niedriglohnbereich,
die diejenigen betrifft, welche sowieso zu wenig verdienen, meine Damen und Herren .
({7})
Sie fördern nicht die Solidarität der Beschäftigten, sondern Sie etablieren eine Schmutzkonkurrenz auf dem Arbeitsmarkt . Das hat nichts mehr mit Integration zu tun .
({8})
Genau das hat auch der Deutsche Gewerkschaftsbund in
seiner Stellungnahme zu diesem Gesetzentwurf gesagt,
meine Damen und Herren von der Sozialdemokratie.
Er hat den Gesetzentwurf in der Luft zerrissen - insbesondere die Regelungen zur Einführung von Arbeitsgelegenheiten, die vor allem von privatwirtschaftlich tätigen Trägern von Erstaufnahmeeinrichtungen und auch
Gemeinschaftsunterkünften genutzt werden können. Die
Möglichkeiten des Einsetzens von Asylbewerbern in der
Leiharbeit wurden vom DGB massiv kritisiert. Ich finde,
diese Kritik des DGB ist mehr als berechtigt, meine Damen und Herren .
({9})
Das müsste Ihnen doch wirklich zu denken geben. Die
Linke fordert jedenfalls, dass dieses Lohndumpingprojekt sofort eingestellt wird. Wir brauchen das Prinzip
„Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort“, meine Damen und Herren .
({10})
Wir brauchen auch - das gilt eben auch für Flüchtlinge
und alle anderen, die sich im Niedriglohnbereich befinden - einen flächendeckenden Mindestlohn in Höhe von
12 Euro .
({11})
Denn nur dann stellen wir sicher, dass es nicht wieder
einen Armutslohn gibt, der dann auch noch von der Gesellschaft - ob im Arbeitsleben oder bei der Rente - subventioniert wird .
Eine weitere Maßnahme dieses Gesetzes setzt ebenso
auf Desintegration, meine Damen und Herren . Mit der
Forderung nach einer Wohnsitzauflage wird eine Integration nämlich regelrecht hintertrieben. Denn was bedeutet eigentlich eine Wohnsitzauflage? Sie bedeutet, dass
Flüchtlinge in Regionen angesiedelt werden sollen, welche von den Menschen dort mangels Perspektive bzw.
Arbeitsmöglichkeiten reihenweise verlassen werden. So
etwas kann doch wirklich nicht funktionieren. Durch solche absurden Forderungen verhindern Sie doch die Förderung dieser Menschen .
({12})
Dies bedeutet auch, dass Menschen private Netzwerke
dort nicht benutzen können, wo sie Familie, Verwandte
und Freunde haben, was für die Arbeitsuche und die Förderung von Arbeitsmöglichkeiten wichtig ist. Das behindern Sie eben mit dieser Wohnsitzauflage. Sie handeln
hier ganz nach dem zaristischen Entwicklungsmodell für
Sibirien, meine Damen und Herren .
({13})
Das hat nichts mehr mit Entwicklung und Arbeitsmarktförderung zu tun. Ich finde, Integration heißt doch nicht,
Menschen lediglich in leerstehende Wohnblöcke zu pferchen. Was glauben Sie denn, was los ist? Sie und ich würden ja auch nicht irgendwohin ziehen, wo es vielleicht
Wohnungen, aber keine Arbeitsmöglichkeiten bzw. Perspektiven für unsere Familien gibt. Deshalb sagen wir:
Wir sind - wie auch viele Verbände - gegen eine Wohnsitzauflage, die ganz nebenbei auch gegen ein Dutzend
Menschenrechtskonventionen verstößt.
({14})
Ein weiterer Punkt wurde von Herrn Minister de
Maizière kurz angesprochen. Pro Asyl, Herr Minister de
Maizière, hat gesagt, dass Ihr Gesetzentwurf rechte Stimmung in Deutschland bedient, indem suggeriert wird,
dass sich Flüchtlinge nicht integrieren wollen. Genau das
ist seit Jahren auch die Beobachtung der Linksfraktion
hier. Seit längerem schon agitieren Sie in der Öffentlichkeit bezüglich vermeintlicher Integrationsverweigerer.
Auf beständiges Nachfragen meiner Fraktion aber haben
Sie selbst gesagt, dass Ihnen keine Daten beispielsweise
darüber vorliegen, wer aus welchem Grund Integrationskurse verweigert und um wie viele Menschen es sich dabei handelt. Sie können nicht sagen, ob die Menschen
vielleicht eine Arbeit gefunden haben, krank geworden
oder umgezogen sind oder ob eine Frau ein Kind bekommen hat . Sie wissen es nicht, und trotzdem propagieren
Sie hier ständig, dass sich Flüchtlinge weigern würden,
die Kurse zu besuchen.
Dabei hat der ehemalige Chef des Bundesamtes für
Migration und Flüchtlinge, Herr Schmidt, gesagt, dass
Ihnen Daten vorliegen, die besagen, dass nur 1 Prozent
der Flüchtlinge die Kurse nicht besucht. Wegen 1 Prozent
machen Sie seit Jahren eine Stimmung gegen Flüchtlinge
und sagen, diese würden sich den Kursen und anderen
Angeboten verweigern. Dabei sieht die Realität doch
ganz anders aus .
Die Wahrheit ist: Seit zehn Jahren gibt es diese Integrationskurse, und seit zehn Jahren werden es immer
weniger Kurse, dabei steigen der Bedarf und die Nachfrage aufgrund der Flüchtlinge. Ich finde es schändlich,
dass Sie immer noch Stimmung gegen vermeintliche Integrationsverweigerer machen. Schaffen Sie endlich die
Kurse! Schaffen Sie so viele, wie verlangt werden! Dann
sprechen wir über die Kurse.
({15})
Lassen Sie mich zum Schluss noch kurz einen weiteren Punkt ansprechen. Laut Deutschem Institut für Menschenrechte ist der vorliegende Gesetzentwurf weder mit
dem Recht auf Asyl gemäß Artikel 16a des Grundgesetzes noch mit flüchtlings- und menschenrechtlichen Vorgängen in Einklang zu bringen; denn Sie wollen versteckt
§ 29 des Asylgesetzes ändern. Demnach sind Asylantragsteller künftig abzuschieben, und zwar ohne inhaltliche
Prüfung vor Ort, wenn ein Drittstaat sich bereit erklärt,
diese Flüchtlinge aufzunehmen. Das ist der größte Angriff auf das Grundrecht auf Asyl seit 1992. Das Grundgesetz garantiert die ergebnisoffene Einzelfallprüfung.
Mit Ihrem Gesetz können noch mehr Flüchtlinge ohne
inhaltliche Prüfung in andere Staaten abgeschoben werden, in denen ihr Schutz vor Abschiebung in den Verfolgerstaat und ihr Zugang zu einem fairen Asylverfahren
eben nicht mehr garantiert sind .
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.
Das ist wirklich schäbig. Das ist ein Angriff auf unser
Grundgesetz. Deshalb werden wir sowie die Verbände,
Sevim Dağdelen
die das massiv kritisiert haben, gegen diesen Gesetzentwurf Widerstand leisten.
({0})
Hören Sie mit dem Unfug auf.
({1})
Frau Kollegin!
Machen Sie das Grundgesetz nicht noch einmal zum
Steinbruch .
Vielen Dank.
({0})
Das Wort erhält nun die Bundesministerin für Arbeit
und Soziales, Andrea Nahles.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
„Bitte Arbeit!“ - ich habe in den letzten Monaten auch
persönlich erleben dürfen, mit wie viel Energie, mit wie
viel Willen die Menschen, die zu uns gekommen sind,
versuchen, sich eine neue Zukunft aufzubauen, und das
nach einschneidenden Erlebnissen, nach Erfahrung von
Gewalt, Krieg, langer Flucht und Verlust.
„Bitte Arbeit!“ - das sind oft die ersten deutschen
Worte, die viele lernen und auch lernen wollen, weil sie
gar nicht abhängig sein wollen, weil sie es hassen, nicht
arbeiten zu können, weil ihnen vielleicht noch Voraussetzungen wie Sprache oder zum Beispiel der Status fehlen,
die sie brauchen, um arbeiten zu können. Vielleicht sind
die ersten Worte auch deswegen „Bitte Arbeit!“, weil sie
wissen, weil auch wir wissen: Der beste Weg zu Integration ist der Weg in Arbeit .
Der heute hier vorliegende Entwurf eines Integrationsgesetzes ist so wichtig, weil wir damit die klare Botschaft aussenden: Wir wollen es gemeinsam mit diesen
Menschen schaffen, dass sie den Weg in den deutschen
Arbeitsmarkt erfolgreich gehen können, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({0})
Kollege de Maizière hat es sehr deutlich gesagt: Das
ist keine Kleinigkeit, das geht auch nicht mal eben so
nebenher. Das wird eine große Anstrengung werden: für
die, die zu uns kommen, genauso wie für uns, weil wir
die Bringschuld haben, Angebote zu machen.
Umgekehrt stehe ich voll hinter dem Gesetz, wenn es
um die Mitwirkungspflichten geht, die es geben muss.
Angebote machen, Chancen geben, das heißt auf der anderen Seite auch: Mitwirken. Ehrlich gesagt: Das halte
ich für einen fairen Deal. Ich kann nicht nachvollziehen,
dass sich an dieser Stelle so viel Kritik entzündet hat.
Wie sollten wir es denn anders machen als genau auf diese Weise?
({1})
Die Menschen, die zu uns gekommen sind, haben
Hoffnungen, Fähigkeiten, Potenzial, Kreativität und Ehrgeiz. Und dass sie zu uns kommen, das war weiß Gott
nicht so geplant, es war überhaupt nicht geplant. Aber
wir können doch jetzt feststellen: Es ist auch eine Riesenchance. Und es ist keine Alternative für Deutschland,
diese Menschen auszugrenzen, zu diffamieren, anzugreifen und zu verletzen. Es ist auch keine Alternative
für Deutschland, dass wir an dieser Stelle Vorurteile und
Ängste schüren . Die einzige Sache, die wir machen müssen, ist Integration, Integration, Integration .
({2})
Die Situation ist sehr gut; denn 70 Prozent derjenigen,
die zu uns gekommen sind, sind unter 30 Jahren. Das
heißt für mich, dass sie von Leistungsempfängern, die sie
vielleicht eine Weile sein werden, ohne Weiteres mit der
Hilfe, die wir ihnen hiermit geben, zu Leistungsträgern
unserer Gesellschaft werden können, wenn die Integration gelingt. Das ist eine gute Nachricht für unser Land.
({3})
Wir beginnen mit diesem Integrationsgesetz nicht bei
null. Wir haben eine ganze Reihe gesetzlicher Veränderungen schnell auf den Weg gebracht, um auf die neue
Situation zu reagieren. Als Beispiel nenne ich, dass wir
dafür gesorgt haben, dass schon nach drei Monaten, also
sehr schnell, ein Zugang zum Arbeitsmarkt besteht. Der
Entwurf des Integrationsgesetzes, den Herr de Maizière
und ich heute hier vorlegen, geht aber einen Schritt weiter . Er nimmt den ganzen Prozess der Integration in den
Blick, hat eine längere Perspektive - nicht Sprint, sondern Langstrecke -, und die werden wir auch brauchen.
Wir stecken Wegmarken für die Flüchtlinge. Das beginnt in der Erstaufnahmeeinrichtung, wo wir für die
Menschen, die bisher keinen Zugang zum Arbeitsmarkt
haben - sie sind ausgeschlossen von jeder sinnvollen Betätigung, solange sie nicht den entsprechenden Status haben und im SGB-II-Bezug sind -, Arbeitsgelegenheiten
schaffen . Ich darf Ihnen versichern, dass es bei diesen
Menschen hochwillkommen ist, dass sie sich endlich einbringen können in diese Gesellschaft.
({4})
Vielerorts helfen die Flüchtlinge in den Unterkünften, in der Küche oder der Wäscherei. Aber wir wollen,
dass sie auch rauskommen, dass sie erste Kontakte mit
der Arbeitswelt machen können. In Tübingen beispielsweise helfen sie in der Stadtbücherei oder kümmern sich
bei der Feuerwehr um die Autos - das hilft im Übrigen
auch den Kommunen -, und nachmittags geht es dann
zum Deutschkurs. So kann man lernen und ankommen in
Sevim Dağdelen
dieser Gesellschaft. Deshalb ist das, was wir hier heute
auf den Weg bringen, eine wichtige und gute Maßnahme.
({5})
Ich stehe im Übrigen zur Wohnsitzauflage. Auch als
Arbeitsministerin stehe ich zur Wohnsitzauflage, um das
einmal ganz klar zu sagen; denn Ghettobildungen kann
nun wirklich niemand wollen. Aber es gibt Tendenzen
in diese Richtung . Man braucht eine Wohnung, aber
man braucht auch einen Arbeitsplatz, und das ist nicht
dasselbe. Deswegen brauchen wir diese Regulierungen.
Deswegen stehe ich in vollem Umfang dazu. Wir haben
einen guten Kompromiss gefunden, der beide Aspekte gleichrangig berücksichtigt. Warum nicht? Ich kann
Ihnen aus der Erfahrung der BA berichten: Im Siegerland bieten wir Kurse mit 70 Plätzen an, aber über Nacht
ziehen die Teilnehmer nach Gelsenkirchen, weil sie da
jemanden kennen. Dazu kann ich als Arbeitsministerin
nur sagen: Schlechte Entscheidung! Deswegen machen
wir die Wohnsitzauflage und passgenaue Angebote, um
den Menschen eine Perspektive zu geben . Wer eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung hat, der kann
selbstverständlich umziehen. Wer woanders einen Ausbildungsplatz hat, kann umziehen. Wir kasernieren die
Leute doch nicht, sondern wir wollen ihnen helfen, Arbeit zu finden und nicht nur eine Wohnung, was am Ende
des Tages eben nicht reicht .
({6})
Wir machen hier einen wirklich substanziellen Fortschritt in Sachen Ausbildung. Es gab bisher eine Regelung, nach der man als Flüchtling bzw. Geduldeter nach
dem 21. Lebensjahr nicht in eine Ausbildung gehen durfte. Das ist eine mir nicht ganz verständliche Regel; die
gab es aber. Diese Regel haben wir jetzt abgeschafft. Wir
schaffen Planungssicherheit für die Betriebe und für die
Betroffenen, indem wir ihnen eine Duldung geben für
die ganze Zeit der Ausbildung. Danach können sie ein
halbes Jahr suchen, und dann bekommen sie für zwei
Jahre einen Aufenthaltstitel. Kurzum: Sie können sich
hier auf eine Ausbildung einlassen; sie und die Betriebe
haben Rechtssicherheit. Das ist der goldene Weg: Diese
70 Prozent derjenigen, die zu uns gekommen sind, die
unter 30-Jährigen, sind in Ausbildung zu bringen. Hey,
die Leute können wir in diesem Land gut gebrauchen.
({7})
Ich habe gestern mit Frau Wanka das Spitzentreffen
der Partner der Allianz für Aus- und Weiterbildung geleitet. Es gibt 41 000 offene Ausbildungsplätze. Viele
Handwerker suchen Auszubildende. - Wunderbar, es gibt
Chancen in unserem Land. Lassen Sie uns diese Chancen
zusammen ergreifen .
({8})
Ich denke, wir haben eine große Aufgabe vor uns,
aber wir haben auch viele motivierte Leute, sowohl bei
der Bundesagentur für Arbeit als auch bei den einzelnen
Anbietern, bei den Volkshochschulen, bei vielen anderen
Trägern, die sich wirklich kümmern, und bei den Wohlfahrtsverbänden.
Wir haben diese Situation nicht nur am Anfang erlebt, als so viele kamen, sondern es wird sich weiter mit
großer Anstrengung und großer Offenherzigkeit gekümmert und bemüht, und vor diesem Hintergrund bin ich
zuversichtlich, dass wir mit diesem Gesetz die Grundlage
legen für passende Integration. Dass wir darüber hinaus
mehr brauchen, ein Einwanderungsgesetz, steht auf einem anderen Blatt. Das ist auch wichtig, darüber debattieren wir ein anderes Mal.
Heute haben wir das Integrationsgesetz auf dem Tisch .
Und in diesem Sinne: Wir wollen es anpacken. Bitte, bitte schauen Sie einfach auch mal in das Gesetz rein.
({9})
Dann wird man nämlich feststellen, dass vieles, was es
in der Öffentlichkeit, mit Verlaub, an Diskussionen dazu
gegeben hat, haarscharf daneben geht .
Vielen Dank.
({10})
Die Empfehlung, in Gesetzestexte reinzugucken, die
zur Beratung und Verabschiedung anstehen, empfiehlt
sich eigentlich fast immer, dieses Mal aber ganz besonders .
({0})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Brigitte Pothmer
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr de
Maizière, Frau Nahles, ja, Sie haben recht: Die Integration Hunderttausender Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt
ist trotz guter Voraussetzungen eine riesige Herausforderung, die Jahre in Anspruch nehmen wird . Aber wenn das
gelingen soll, dann müssen wir wirklich konsequent auf
Integration setzen,
({0})
und genau das tut dieses Gesetz nicht. Ich will es einmal mit den Worten meines Ministerpräsidenten Stephan
Weil aus Niedersachsen - in Klammern: SPD - sagen ich zitiere -: Mit diesem Gesetz wird die Integration in
den Arbeitsmarkt Stückwerk bleiben.
({1})
Ich fürchte, dass mein Ministerpräsident wieder mehr
recht hat, als uns allen lieb sein kann.
Ja, es gibt positive Elemente in diesem Gesetz. Frau
Nahles, Sie haben es gesagt, dass Flüchtlinge jetzt eine
Duldung erhalten, die in Ausbildung sind. Das ist ein
Fortschritt, aber, Frau Nahles, Sie wissen auch: Eine DulBundesministerin Andrea Nahles
dung ist keine sichere Bleibeperspektive, sondern sie ist
lediglich die Aussetzung einer Abschiebung,
({2})
und bei Abbruch einer Ausbildung findet sofort diese Abschiebung statt. Dazu muss man allerdings wissen, dass
25 Prozent der deutschen Auszubildenden ihre Ausbildung abbrechen und sich während der Ausbildung neu
orientieren. Für die Flüchtlinge bedeutet das, dass das
Damoklesschwert der Abschiebung weiterhin über ihren
Köpfen hängt. Frau Nahles, das ist keine gute Entscheidung .
({3})
Ich finde, auch die Aussetzung der Vorrangprüfung ist
ein Schritt in die richtige Richtung, und positiv finde ich
im Prinzip ebenfalls, dass die Ausbildungsförderung geöffnet werden soll. Aber, Frau Nahles, sagen Sie mir mal
ehrlich: Für Geduldete gilt die Berufsausbildungshilfe
erst nach sechs Jahren? Da ist das Kind doch längst in
den Brunnen gefallen.
({4})
Diese wenigen Beispiele zeigen, dass dieses Gesetz
nicht konsequent auf Integration setzt, sondern durchzogen ist von dem Geist der Ausgrenzung, und damit lässt
sich wirklich keine konsistente Integrationspolitik betreiben .
({5})
Meine Damen und Herren, wenn Herr Gabriel dann
vor die Presse tritt und sagt, das Gesetz sende die Botschaft aus: „Wer sich reinhängt, aus dem wird hier auch
was“, dann frage ich: Meint er die Afghanen? Meint er
die Somalier? Meint er die Sudanesen? Meint er diese
vielen, vielen Menschen, die sich noch so reinhängen
können und noch nicht mal einen Integrationskurs kriegen, von Arbeitsförderung ganz zu schweigen?
({6})
Das ist das Hauptproblem Ihres Gesetzentwurfes: Sie
bleiben bei der realitätsfernen Einteilung nach vermeintlich guter oder schlechter Bleibeperspektive und schließen damit mehr als die Hälfte aller Asylbewerberinnen
und Asylbewerber aus.
({7})
Wenn wir hier von Fördern und Fordern sprechen, dann
sage ich: Das ist Integrationsverweigerung. Dafür sollte
es Sanktionen geben .
({8})
Mit dieser Ausgrenzung schaffen Sie genau die Probleme, die die Rechtspopulisten mit ihren Äußerungen
heraufbeschwören. Sie treiben damit die Spaltung in der
Gesellschaft voran. Liebe Frau Nahles, 100 000 1-Euro-Jobs werden dieses Problem nun wirklich nicht lösen.
({9})
Sie wissen genau, dass 1-Euro-Jobs qua Definition arbeitsmarktfern sind . Wie Sie damit die Integration in Arbeit gestalten wollen, müssen Sie uns allen mal erklären.
({10})
Nein, die Flüchtlinge müssen in die Betriebe. Sie müssen den betrieblichen Alltag in Deutschland kennenlernen. Deswegen fordern wir nicht 100 000 1-Euro-Jobs,
sondern 100 000 Einstiegsqualifizierungen, die übrigens
auch ein sehr gutes Konzept dafür sind, Flüchtlinge für
eine duale Ausbildung zu interessieren.
({11})
Wir Grüne wollen Integration. Wir wollen, dass sie
gelingt. Dafür gibt es in diesem Gesetzentwurf noch verdammt viel Luft nach oben. Je länger Sie auf der Bremse
stehen, liebe Ministerin, desto höher wird der Preis, und
zwar in jeder Hinsicht, sowohl für die Flüchtlinge als
auch für uns. Lassen Sie uns diesen Gesetzentwurf in den
Beratungen korrigieren .
Ich danke Ihnen .
({12})
Daniela Kolbe ist die nächste Rednerin für die
SPD-Fraktion .
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Asyl ist ein humanitäres Grundrecht. Da geht
es erst einmal darum, ob jemand Schutz braucht oder
nicht, und nicht darum, ob er die deutsche Sprache kann
oder was für eine Ausbildung er oder sie hat. Aber wenn
diese vielen Menschen nun schon einmal hier sind und
überwiegend hier bleiben, dann wären wir doch mit dem
Klammerbeutel gepudert, wenn wir es ihnen nicht ermöglichen würden, sich möglichst schnell in diese Gesellschaft einzubringen und in ihr zurechtzufinden.
({0})
Das ist jedenfalls die Grundposition und Haltung der Sozialdemokraten.
Wir haben jetzt die Chance, aus dieser gigantischen
Herausforderung eine Win-win-Situation zu machen .
Das tun wir mit diesem Integrationsgesetz . Ich schaue
noch einmal zur Kollegin Dağdelen. Ich erwarte ja von
der Opposition Kritik - das ist auch richtig so; dafür sind
Sie Opposition -, ich erwarte aber genauso, dass Sie sich
das Gesetz einmal anschauen, durchlesen und sich genau
ansehen, was dort steht .
({1})
In dem Gesetzentwurf schreiben wir, was wir erwarten, aber vor allem eröffnen wir Chancen auf Teilhabe,
zum Beispiel am Arbeitsmarkt. Die bürokratische Vorrangprüfung wird an vielen Stellen der Bundesrepublik
ausgesetzt werden. Wir öffnen die Ausbildungsförderungen, etwa die Berufsvorbereitung oder die Assistierte Ausbildung und auch die Berufsausbildungsbeihilfe,
weiter .
Ich möchte vor allen Dingen noch einmal auf die sogenannte Drei-plus-zwei-Regelung eingehen. Viele Unternehmer, viele Unternehmerinnen wollen Flüchtlingen
gerne einen Ausbildungsplatz organisieren. Sie schrecken dann aber zurück, weil sie nicht wissen können,
was in einem halben Jahr ist, ob der Flüchtling dann noch
da ist oder schon wieder abgeschoben worden ist . Dem
setzen wir jetzt eine sehr sinnvolle Regelung entgegen.
Wer eine Ausbildung beginnt, erhält eine Duldung für die
gesamte Dauer der Ausbildung, und zwar nicht vielleicht
oder unter Umständen, sondern er oder sie bekommt diese Duldung. Das gibt Rechtssicherheit für die betroffenen jungen Leute, aber eben auch für die Unternehmen.
({2})
Danach gibt es die Möglichkeit, eine Aufenthaltserlaubnis für zwei Jahre zu bekommen, um weiter zu
arbeiten. Wenn keine Weiterbeschäftigung im Ausbildungsbetrieb erfolgt, wird die Duldung um sechs Monate verlängert, um nach einem Arbeitsplatz suchen zu
können. Das ist ein grandioser Schritt für die Unternehmen und auch für die Menschen. 70 Prozent der zu uns
Gekommenen sind unter 30 Jahre alt. Das wird die duale Ausbildung in Deutschland weiter stärken. Das wünschen wir uns doch alle.
Es ist ein guter Gesetzentwurf, über den wir hier sprechen. Aber es gibt sicherlich auch den einen oder anderen Punkt, an dem er noch besser werden kann. Viele in
meiner Fraktion fragen sich beispielsweise, warum eine
gute Bleibeperspektive bei einer strikten Schutzquote
ab 50 Prozent festgemacht wird, sie also nicht für Menschen zutrifft, die etwa aus Afghanistan kommen, wo die
Schutzquote derzeit bei knapp 50 Prozent liegt. Das ist
eine spannende Frage, über die wir sprechen sollten.
({3})
Aber auch bei der Ausbildungsförderung und der
Drei-plus-zwei-Regelung sollten wir vielleicht noch
einmal ins Gespräch kommen. Ich verweise da, auch in
Richtung des Koalitionspartners, auf eine Stellungnahme
der BDA,
({4})
die beispielsweise die Frage stellt, ob es denn wirklich
sinnvoll ist, Ausbildungsbetrieben unter Androhung sehr
hoher Bußgelder eine Meldepflicht aufzuerlegen, wenn
ein Azubi eine Ausbildung abbricht. Sie spricht davon,
dass dies das pädagogisch-kollegiale Verhältnis belasten und Betriebe abschrecken würde . Ich muss an dieser
Stelle sagen: Die BDA hat vollkommen recht. Lassen Sie
uns darüber sprechen! Lassen Sie uns aus einem wegweisenden Gesetzentwurf einen noch wegweisenderen
Gesetzentwurf machen!
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({5})
Das Wort erhält nun der Kollege Volker Beck für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ein Integrationsgesetz wäre fürwahr nötig. Aber das, was hier auf
dem Tisch des Hauses liegt, verdient diesen Namen nicht
wirklich. Das ist im besten Fall Stückwerk, in vielen Elementen kontraproduktiv, in manchen Punkten schlicht
sachfremd. Deshalb würde ich Ihnen raten, in den Ausschussberatungen noch einmal sehr, sehr gründlich nachzudenken .
Viele Themenfelder und Probleme werden überhaupt
nicht angegangen. Was ist mit den Flüchtlingen, die hierherkommen, die wegen der Flucht und des Bürgerkrieges
jahrelang keine Schule besucht haben und aus der Schulpflicht herausgefallen sind? Wie bringen wir diese Leute
dahin, dass sie ausbildungsfähig sind? Die Handwerksbetriebe in Deutschland sind durchaus bereit, solche
Menschen aufzunehmen; aber sie fordern ein gewisses
Grundwissen, das diese Menschen nicht mitbringen . Auf
solche Fragen, Frau Nahles, gibt Ihr Gesetzentwurf leider
überhaupt keine Antwort .
({0})
Ganz merkwürdig ist meines Erachtens eine Regelung, die vor dem Kabinettsbeschluss unter Umgehung
der Beratung mit dem Bundesrat und einer Verbändeanhörung über Nacht in den Gesetzentwurf aufgenommen
wurde; sie macht mich hellhörig. Ist der neue § 29 Asylgesetz der Versuch, den Türkei-Deal in dieses Integrationsgesetz einzuführen, und zwar mit dem Effekt, dass
Menschen in Deutschland in Zukunft keinen Anspruch
mehr auf eine rechtliche Prüfung ihres Verfolgungsstatus
haben? Sie haben hier hineingeschrieben, dass mit Blick
auf Länder außerhalb der Europäischen Union, die wir
für sicher halten, ein Antrag bei uns unzulässig ist. Früher war er „unbeachtlich“. Was diese semantische Veränderung bedeutet, konnte uns zumindest Ihr Haus im
Gespräch mit dem Forum Menschenrechte nicht sagen.
Vielleicht wissen ja Sie, Herr Minister, was gemeint ist.
Und: Wohin ist der § 29 Absatz 2 des Asylgesetzes
verschwunden? Auch das wussten Ihre Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter nicht. Versehen? Vorsatz? Unbeachtlich?
Unzulässig? Wir wissen es nicht. Darin steht nämlich,
dass dann, wenn ein Flüchtling aus einem solchen sogenannten sicheren Drittstaat zu uns kommt und nach drei
Monaten immer noch nicht in diesen sicheren Drittstaat
zurückgebracht werden konnte, in Deutschland das Verfahren über die Anerkennung als Flüchtling wiederaufgenommen werden muss. Diese Regelung finde ich in
Ihrem Gesetzentwurf nicht mehr; sie ist aber geltendes
Daniela Kolbe
Recht . Das ist eine massive Verkürzung des Rechts von
Flüchtlingen auf Anerkennung und Schutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention.
({1})
Zweiter Punkt: Wohnsitzauflage.
Herr Kollege Beck, ich muss Sie darauf aufmerksam
machen, dass es - Volker Beck ({0}) ({1}):
Doch .
Zwei Sekunden, ja. - Da Sie zum zweiten Punkt ansetzen, wollte ich nur darauf aufmerksam machen, dass es
natürliche Grenzen für den weiteren Vortrag gibt.
({0})
Diese natürlichen Grenzen akzeptiere ich. - Noch
zwei Sätze. Wir alle sind gegen Ghettoisierungen. Aber
mit diesem administrativen Monster werden wir sie nicht
verhindern .
Ich finde, die heute-show hat es in einem Satz wunderbar zusammengefasst - für mehr reicht es jetzt aufgrund
der Redezeit nicht mehr -: Das neue Integrationsgesetz
mit seiner Wohnsitzauflage will:
Flüchtlinge sollen eine Sprache lernen, für die es
keine Kurse gibt, in Regionen leben, in denen keiner
Deutsch spricht, und Jobs finden, die es dort nicht
gibt .
Das ist der falsche Ansatz. Wir müssen angebotsorientiert arbeiten und dürfen nicht versuchen, die Integrationspolitik mit administrativen Monstern zu vergiften.
({0})
- Da ich eine so lebhafte Reaktion auf meine Rede erreicht habe, scheint es Sie ja getroffen zu haben. Dann
ist ja alles gut.
Vielen Dank.
({1})
Karl Schiewerling erhält nun das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion .
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Frau Dağdelen, ich habe mir
lange überlegt, ob ich überhaupt auf Ihre Rede reagieren
soll, weil ich nicht wusste, ob ich lachen oder weinen
sollte. Wenn ich es gut mit Ihnen meine, dann sage ich
Ihnen: Sie können ganz schön Spaß machen.
({0})
Wenn ich Ihnen aber die Wahrheit sage, dann sage ich
Ihnen: Ich habe selten eine Rede gehört, in der die Lebenssituation der Menschen so menschenverachtend betrachtet wird, wie Ihre .
({1})
Wie können Sie sagen, die Wohnsitzauflage und all die
anderen Dinge dürfe man nicht einführen? Wissen Sie,
was das für meine Region im Kreis Coesfeld im Münsterland - das ist ländliches Gebiet, und wir suchen händeringend Arbeitskräfte - bedeuten würde? Sie lassen
die Flüchtlinge alleine, dann gehen sie zu Ihnen in den
Duisburger Norden und damit in die Arbeitslosigkeit,
während sie bei uns Arbeit finden würden. Wenn wir dies
nicht regeln, haben sie keine Perspektive.
({2})
Wie können Sie sagen, wir würden hier Lohndumping
betreiben? Wissen Sie denn überhaupt nicht, welche Bedingungen die Unternehmen erfüllen müssen, damit die
Menschen arbeiten können? Sie tun dies mit großer Bereitwilligkeit, aber dazu brauchen sie auch die entsprechenden Rahmenbedingungen. Wollen Sie eigentlich,
dass sie in Beschäftigung kommen, oder wollen Sie aufgrund Ihrer hohen und hehren Ziele, dass sie arbeitslos
bleiben? Wir wollen, dass sie in Beschäftigung kommen.
({3})
Frau Kollegin Pothmer, einen Satz zu Ihnen: Wir stehen nicht auf der Bremse,
({4})
sondern wir stellen uns mit diesem Gesetzentwurf einer
Entwicklung, die uns neu herausgefordert hat.
({5})
Wir leben in einer Situation, in der wir uns zunächst
einmal auf die neuen Herausforderungen einstellen müssen. Seit 2014 - das ist richtig - kommen in zunehmender Zahl Flüchtlinge zu uns. Aber die meisten sind vor
etwa zwölf Monaten gekommen, und in dieser Situation
mussten sich die deutschen Behörden, die deutschen Institutionen, die Kommunen und alle, die dafür Verantwortung tragen, ja zunächst einmal darauf einstellen.
({6})
Volker Beck ({7})
Ich verstehe überhaupt nicht, wie Sie von einer Regierung, die vor diese völlig neuen Herausforderungen
gestellt wird, erwarten, dass sie über Nacht alle Probleme
löst. Das hätten Sie nicht geschafft, das schafft Ihr Herr
Weil nicht, und das schaffen andere auch nicht.
({8})
Deswegen sage ich Ihnen: Das vorgelegte Integrationsgesetz - und das gilt auch für dessen Bestandteile
zur Arbeitsmarktpolitik - bietet eine vernünftige Herangehensweise; denn hier wird zunächst einmal das getan,
was wir heute tun können. Kein Mensch in der Koalition
sagt: Danach passiert nichts Weiteres mehr. - Wenn sich
die Dinge anders entwickeln, werden wir darauf reagieren müssen . Dann werden wir das auch tun . Das ist so
sicher wie nur irgendetwas .
({9})
Meine Damen und Herren, Deutschland ist ein weltoffenes Land. Viele Menschen aus fast allen Ländern der
Welt sind zu uns gekommen. Sie leben, arbeiten und
wohnen hier und tragen zum Wohlstand bei. 12 Prozent
aller Mitglieder der Deutschen Rentenversicherung haben einen ausländischen Pass. Sie tragen dazu bei, dass
der Wohlstand erhalten bleibt. Das ist uns allen sehr wohl
bewusst, und deswegen integrieren wir die Menschen .
Wir sagen, sie sollen zu uns kommen und hier eine Heimat finden können. Zuwanderung ist ein Gewinn, wenn
Integration denn gelingt.
({10})
Meine Damen und Herren, in der Vergangenheit wurde dies nicht immer beachtet. Parallelgesellschaften sind
entstanden; der Innenminister hat ausdrücklich und präzise darauf hingewiesen. Das darf sich nicht wiederholen.
Der guten Ordnung halber will ich an dieser Stelle an
alle im Hohen Haus sagen: Angela Merkel war die erste
Kanzlerin, die mit Maria Böhmer eine Integrationsministerin berufen hat, nämlich 2005,
({11})
und Jürgen Rüttgers war in Nordrhein-Westfalen der erste
Ministerpräsident, der einen Integrationsminister berufen
hat. Diese Fragen zur Notwendigkeit der Integration sind
für uns nichts Neues. Da brauchen wir keine Nachhilfe,
sondern wir sind dabei, unsere Aufgaben zu erfüllen.
({12})
Meine Damen und Herren, ich will an dieser Stelle
einmal einen riesigen Dank an die unglaublich vielen
Menschen aussprechen, die sich in den Flüchtlingsinitiativen ehrenamtlich engagieren. Ohne diese Menschen
hätten wir viele Aufgaben nicht lösen können. Diese vielen Ehrenamtlichen sind auch heute noch notwendig. Sie
begleiten viele Flüchtlinge. Sie helfen ihnen dabei, sich
auf dem Arbeitsmarkt zu orientieren . Sie engagieren sich
für sie, indem sie Kinder begleiten, helfen damit, dass sie
eine Wohnung finden. Ihnen gebührt ein riesiges Dankeschön für das, was sie heute für unser Land und in unserem Land leisten.
({13})
An dieser Stelle wird sehr deutlich: Es ist eine gesellschaftliche Aufgabe, diese Menschen in unserem Land
zu integrieren. Zu dieser wichtigen Aufgabe gehört in
der Tat die Integration in den Arbeitsmarkt. Bildung,
Sprache, Schule und Ausbildung gehören zusammen.
Ich will Ihnen sehr deutlich sagen: Schulfragen sind Ländersache. Wir wollen uns aber als Bund natürlich nicht
verschließen, wenn neue Ideen kommen, wie man das
machen kann. Aber ich bin nicht bereit, alle Zuständigkeiten nur dem Bund zuzuweisen. Kommunen, Länder
und der Bund - lassen Sie mich an dieser Stelle der Vollständigkeit halber noch sagen: sowie Europa - müssen
zusammenwirken . Deswegen haben wir in dieser Frage
eine gemeinsame Aufgabe .
Was wir nicht gebrauchen können, ist Kästchendenken, Schubladendenken und Abschottungsdenken. Wer
glaubt, er könnte sich die Decke über den Kopf ziehen, sich dort hineinkuscheln und glauben, das sei das
Deutschland der Zukunft, der hat sich vertan. Wir liefern
Produkte in alle Welt. Wir haben Internet. Wir haben diverse Kommunikationsmittel. Ja glauben wir denn im
Ernst, wir könnten uns zurückziehen und könnten uns
eine heile Welt unter der schützenden Bettdecke aufbauen? Wir sind ein weltoffenes Land. Die Menschen sollen
zu uns kommen. Aber sie müssen wissen, unter welchen
Bedingungen und mit welchen Erwartungen.
({14})
Wir erwarten, meine Damen und Herren, dass sich
diese Menschen integrieren. Das tun sie. Ganz viele wollen das; darauf ist zu Recht hingewiesen worden. Aber
wir sagen auch: Wir wollen die Menschen fordern und
fördern, wobei die Förderung an erster Stelle steht. Wir
wollen den Menschen helfen: mit unseren arbeitsmarktpolitischen Möglichkeiten, die wir ihnen eröffnen, und
mit dem breiten Instrumentarium, das im Gesetzentwurf
steht und das später gewiss noch einmal erweitert wird.
Frau Nahles hat vorhin zu Recht auf die 100 000 Arbeitsgelegenheiten verwiesen. Ich will an dieser Stelle
der Vollständigkeit halber nur sagen, wie sie in den Gesetzentwurf gekommen sind. Diese Arbeitsgelegenheiten
müssen nach dem Asylgesetz normalerweise von den
Kommunen angeboten werden. Die Kommunen haben
dafür aber kein Geld mehr.
({15})
Deswegen wird diese Aufgabe hilfsweise vom Bund
übernommen. Sie wird nach den derzeitigen Plänen von
der Bundesagentur für Arbeit hilfsweise abgewickelt. Ich
erwarte aber, dass die Kommunen die Entscheidung darüber haben, wo die Mittel eingesetzt werden und für wen
sie dort eingesetzt werden - und nicht die Bundesagentur
für Arbeit . Sie wird diese Aufgabe zu administrieren haben. Sollte es dann noch Unklarheiten im Gesetzentwurf
geben, werden wir diesen Punkt nachbessern müssen .
Ich bin mir in dieser Frage nicht ganz sicher, aber das ist
keine Grundsatzfrage. Es ist eine Abwicklungsfrage, wie
wir an diese Dinge herangehen .
Meine sehr verehrten Damen und Herren, gezielte Integration in unser Land ist eine wichtige Aufgabe. Ich
will deutlich sagen, dass wir im Hinblick auf die Arbeitsmarktpolitik noch lernen können. Ich habe in meiner Region, im Kreis Coesfeld, mit dem Kreis, mit den
Berufsschulen und mit der Kreishandwerkerschaft ein
sehr innovatives Projekt entwickelt, bei dem es darum
geht, Jugendlichen Deutsch beizubringen und sie in Arbeit zu bringen. Die Vermittlung ist mehr als erfolgreich:
80 Prozent sind über diesen Weg mittlerweile in Betrieben untergekommen. Ich glaube, dass es gut ist, wenn
wir solche Initiativen betrachten, aufgreifen und schauen, wie wir diese Instrumente nutzen und umsetzen und
sie anderen verfügbar machen können.
Ich halte es für geboten, dass wir das tun, was wir als
Deutsche können, nämlich nicht nur zu erwarten, dass
sich die Menschen in unserem Land integrieren, sondern
auch unsere eigene Kultur zu leben und für unsere eigene Kultur zu werben. Integration in unsere Gesellschaft
heißt nicht nur das Erlernen der deutschen Sprache, sondern es heißt auch ganz schlicht und einfach das Erleben
von Heimat, das Erleben von Bräuchen, Festen und Feiern. Es heißt auch, dass diese Menschen erfahren, dass es
Geborgenheit in Familien gibt. Viele von ihnen kommen
aus geschützten familiären Strukturen. Das müssen wir
ihnen bei uns bieten, entweder über Familien oder über
Verbände und Gemeinschaften. Sie müssen lernen, dass
es zu unserer Kultur gehört, sich anzustrengen, Bildung
zu erwerben und in die Erwerbsarbeit zu gehen . Ich bin
ganz sicher, dass die allermeisten von ihnen das wollen.
Frau Pothmer, Sie haben gesagt: Das ist ja ganz furchtbar, wenn ihr da von Sanktionen redet . - Die Sanktionen
stehen aber nicht im Mittelpunkt. Sanktionen sind das
letzte Mittel, das der Staat hat, um sich selbst zu schützen . Die Sanktionen stehen dafür, dass wir den Menschen
Orientierung geben und ihnen auf diese Art und Weise
vermitteln, was wir erwarten.
Herr Kollege.
Aber in den allermeisten Fällen brauchen wir sie nicht.
Letztlich geht es um unsere gemeinsame Zukunft in
unserem Land, und mit diesem Integrationsgesetz schaffen wir den Rahmen dazu .
Herzlichen Dank.
({0})
Ich erteile das Wort nun der Kollegin Kerstin Griese
für die SPD-Fraktion .
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Als ich heute Morgen die Reden der Opposition verfolgt
habe, habe ich gedacht, es wäre gut, Sie einmal mit der
echten Stimmungslage in unserem Land zu konfrontieren . Im ARD-Deutschlandtrend haben heute früh 82 Prozent gesagt: Das Integrationsgesetz geht in die richtige
Richtung. Es gibt eine große Zustimmung dazu. Bei den
Grünen sind es sogar 86 Prozent. Bei den Linken sind es
etwas weniger. Das heißt, die Gesellschaft will, dass wir
jetzt endlich aktiv etwas für Integration machen. Das packen wir an. Das Integrationsgesetz wird ein Meilenstein
für gelingende Integration.
({0})
Wir gestalten Integration aktiv. Wir ermöglichen einen
besseren Zugang zu Ausbildung, Arbeit und Sprachkursen .
Eines ist mir ganz wichtig: Integration ist ein Prozess
auf Gegenseitigkeit . Wir erwarten die Bereitschaft zur
Integration; wir bieten aber auch Möglichkeiten zur Integration an. Wer sich anstrengt, die Sprache lernt und den
Einstieg in Arbeit schafft, der kann bei uns den Neustart
schaffen, und wir wollen alles dafür tun, die Menschen
zu unterstützen .
Aber auch der Staat hat eine Bringschuld, nämlich die,
Integration zu ermöglichen. Dazu gehört zum Beispiel,
genügend Integrations- und Sprachkurse anzubieten, bevor man über Sanktionen spricht. Der Staat will ebenso
wie die Gesellschaft dieses Integrationsangebot machen.
Deshalb werden wir gemeinsam aktiv daran arbeiten.
Der Gesetzentwurf beinhaltet das: Wir wollen eine offene Gesellschaft sein. Wir erwarten aber auch von den
Menschen, die zu uns kommen, dass sie sich an unsere
Regeln und an unser Grundgesetz halten. Dann geht es
gut mit der Integration .
({1})
Wir schaffen neue Flüchtlingsintegrationsmaßnahmen. Der Kollege Karl Schiewerling hat schon darauf
hingewiesen. Es ist sehr wichtig, dass man Flüchtlingen
die Möglichkeit gibt, sich in unsere Gesellschaft einzubringen, zu arbeiten und soziale Kontakte zu haben,
statt immer nur zu warten, zu warten, ohne zu wissen,
was passiert. Deshalb vielen Dank an Arbeitsministerin
Andrea Nahles für die gute Idee der 100 000 zusätzlichen Arbeitsgelegenheiten. Das wird den Kommunen
viel bringen, und es wird auch in der Bevölkerung wahrgenommen werden, dass Flüchtlinge sich engagieren und
dass sie mitarbeiten . Auch das ist ein ganz wichtiger Effekt .
({2})
Wir wollen die Vorrangprüfung aussetzen - das ist
arbeitsmarktpolitisch wichtig -, und zwar zunächst für
drei Jahre. Die Länder sollen selber gucken, in welchen
Regionen sie sie aussetzen. Denn sehr häufig endet die
Vorrangprüfung, die feststellt, ob es einen Einheimischen gibt, der den Arbeitsplatz haben kann, so, dass der
Flüchtling ihn bekommt. Das ist daher auch ein wichtiger
Schritt zur Entbürokratisierung .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wünschen uns
für die Beratung noch ein paar Punkte, zum Beispiel bei
der Wohnsitzauflage auch die Belange von Menschen
mit Behinderung zu berücksichtigen. Denn häufig gibt es
Örtlichkeiten, wo sie nicht barrierefrei leben können. Das
sollten wir in der Beratung prüfen.
Ich wünsche mir auch, dass wir im Bereich des ehrenamtlichen Engagements von Flüchtlingen darüber
nachdenken, was wir tun können. Uns hat ein Hilferuf
der großen Sportvereine erreicht, dass die Ehrenamtspauschale auch für Flüchtlinge gelten soll. Denn häufig sind
Flüchtlinge als Übungsleiter oder Trainer in Sportvereinen tätig. Das ist ein Beispiel für gelungene Integration.
Das sollten wir unterstützen und die Ehrenamtspauschale
nicht von den Leistungen abziehen.
({3})
Ich freue mich auf die Beratungen, die wir im Arbeitsund Sozialausschuss ganz intensiv zusammen mit dem
Innenausschuss durchführen werden . Wir werden das gut
zusammen hinbekommen .
Es gibt sowohl Kritik als auch Zustimmung zum Gesetzentwurf. Der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration hat ganz klar gesagt,
das Gesetz sei - ich zitiere - „ein wichtiger Schritt hin
zu Gleichbehandlung und früher Integration. Die hierfür
aufgewandten erheblichen finanziellen Mittel sind eine
gute und notwendige Investition …“.
Wenn viele Verbände, darunter die Wohlfahrtsverbände, noch mehr fordern, dann ist das ein Zeichen dafür,
dass endlich Bewegung in die Integrationsdebatte gekommen ist, dass wir weiter vorangehen wollen und dass
wir die Integration jetzt aktiv gestalten. Ich hoffe, dass
wir alle daran mitwirken - zum Wohle unseres Landes
und zum Wohle der Menschen, die aus Not und Gewalt
zu uns geflohen sind.
Vielen Dank.
({4})
Für die CDU/CSU-Fraktion erhält der Kollege
Stephan Mayer das Wort .
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Es wäre aus meiner Sicht
verfehlt, anzunehmen, dass die Flüchtlingskrise beendet
oder gemeistert ist. Ich glaube, es ist genauso naiv, anzunehmen, dass es schon jetzt Anlass gibt, Entwarnung zu
geben . Wir stecken aus meiner Sicht nach wie vor mitten
in der Flüchtlingskrise. Aber die Zahlen sind deutlich zurückgegangen. Die Westbalkanroute ist geschlossen. Das
ist ein erfreuliches Signal.
Eines aber muss uns bewusst sein: Selbst wenn die
Zahlen auf diesem niedrigen Niveau bleiben, wird uns in
den nächsten Monaten und Jahren eine epochale Herausforderung bevorstehen, wenn es um die Integration von
Hunderttausenden von Migranten und Flüchtlingen in
die deutsche Gesellschaft geht. Deswegen ist es gut, dass
dieses Integrationsgesetz jetzt in erster Lesung beraten
wird. Ich habe etwas Zweifel, ob ich wirklich von einem
Paradigmenwechsel sprechen möchte,
({0})
ich weiß auch nicht, ob es wirklich ein historischer Meilenstein ist, den wir mit diesem Gesetz setzen; aber ich
bin mir sicher, dass wir mit diesem Integrationsgesetz ich möchte es Integrationspflichtgesetz nennen - einen
deutlichen Fortschritt machen, wenn es darum geht, Hunderttausenden von Migranten und Flüchtlingen Angebote
zu unterbreiten, sich aktiv in die deutsche Gesellschaft
einzubringen, sich aktiv in die deutsche Gesellschaft zu
integrieren. Ich sage in aller Deutlichkeit, dass der Staat
die Verpflichtung hat, ausreichende Angebote zu unterbreiten . Aber es gibt auch die berechtigte Erwartungshaltung gegenüber den Flüchtlingen und den Migranten,
von diesen Angeboten dann bitte schön auch Gebrauch
zu machen .
Ich möchte auch dem Eindruck entgegenwirken, dass
wir erst heute mit Beratungen zum Thema Integration
beginnen. Dieses Thema steht seit 2005 auf der Agenda
der Bundesregierung. Seit Angela Merkel Bundeskanzlerin ist, seit die Union wieder in der Bundesregierung ist,
hat das Thema Integration die Bedeutung in der Bundespolitik erhalten, die es verdient. Es gibt seit 2005 einen
Staatsminister für Integration, einen Nationalen Integrationsplan, einen jährlichen Integrationsgipfel. Aber zur
Wahrheit gehört auch - das hat sich insbesondere in den
letzten Monaten herausgestellt -, dass es aufgrund der
deutlichen Zunahme der Zahl an Flüchtlingen, die zu uns
gekommen sind, einen deutlich weiteren Bedarf gibt.
Der große Vorteil dieses Gesetzes, das uns im Entwurf
vorliegt, ist der, dass erstmals das sehr weite Themenfeld der Integration auf die jeweiligen Gruppierungen
spezifisch zugeschnitten wird. Es bedarf unterschiedlicher Angebote, je nachdem, ob jemand eine dauerhafte
Bleibeperspektive hat oder ob er sich nur kurzfristig in
unserem Land aufhält. Jemand, der eine langfristige bzw.
dauerhafte Bleibeperspektive hat, muss Maßnahmen angeboten bekommen, die es ihm ermöglichen, sich aktiv
in den deutschen Arbeitsmarkt zu integrieren .
({1})
Aber auch Personen, die kein Recht auf Asyl zugestanden bekommen, denen kein Flüchtlingsstatus zuerkannt
werden kann, müssen in unserem Land human behandelt
werden. Sie haben aus meiner Sicht das Recht, solange
sie sich in unserem Land aufhalten, Angebote unterbreitet zu bekommen, die es ihnen ermöglichen, zum einen
die Zeit sinnvoll zu nutzen und zum anderen für ihr späteres Leben in ihrem Heimatland oder anderswo Fähigkeiten vermittelt zu bekommen, die ihnen die Chance
bieten, in ihrem neuen Aufenthaltsland Fuß zu fassen.
Diese spezifischen Angebote, die mit diesem Gesetz erKerstin Griese
möglicht werden, sind wirklich ein sehr erheblicher und
auch erfreulicher Fortschritt.
({2})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist auch
eine deutliche Verbesserung, dass wir jetzt die klare Vorgabe machen, dass, wenn Deutschkurse angeboten werden, diese auch innerhalb eines Jahres begonnen werden
müssen. Die Erfahrung hat gezeigt, dass viele, die einen
solchen Anspruch hatten, innerhalb des ersten Jahres
keinen Gebrauch davon gemacht haben . Wir haben aber
keine Zeit zu verlieren. Wir sind hier als Bund unserer
Verantwortung gerecht geworden und haben allein vom
letzten Jahr auf dieses Jahr die Mittel für Integrationsund Deutschkurse von 269 Millionen Euro auf 558 Millionen Euro mehr als verdoppelt. Allein in diesem Jahr
gibt es 300 000 neue Teilnehmer an Integrations- und
Deutschkursen. Es werden 5 000 zusätzliche Deutschlehrer zertifiziert. Wir als Bund tun hier das Unsrige. Ich
füge ganz offen hinzu: Auch die Länder sind beim Thema
Integration gefordert und können nicht einseitig auf uns,
den Bund, verweisen .
({3})
Ein erheblicher Fortschritt ist, dass wir die Niederlassungserlaubnis neu regeln. In Zukunft werden
Asylbewerber und Flüchtlinge nicht automatisch voraussetzungs- und bedingungslos nach drei Jahren ein
dauerhaftes Aufenthaltsrecht bekommen. Ich möchte an
dieser Stelle ausdrücklich unserem bisherigen Kollegen
Thomas Strobl, der heute sein Bundestagsmandat zurückgibt, danken .
({4})
Er war der Erste, der darauf hingewiesen hat, dass es
nicht angehen kann, dass Flüchtlinge und Asylbewerber
gegenüber anderen Ausländern privilegiert werden. Es
ist ein erheblicher Fortschritt, dass wir nun deutlich machen: Ein dauerhaftes, unbefristetes Aufenthaltsrecht für
Asylbewerber und Flüchtlinge kann es nur geben, wenn
ausreichende Deutschkenntnisse nachgewiesen werden
und wenn für den eigenen Lebensunterhalt überwiegend
selbst gesorgt wird.
({5})
Zur Wohnsitzauflage ist schon einiges gesagt worden. Es gehört zur Wahrheit - das haben insbesondere
die letzten Monate gezeigt -, dass sich viele Flüchtlinge und Asylbewerber auf einige wenige Ballungszentren
und Großstädte konzentrieren, zum Beispiel die Afghanen schwerpunktmäßig auf Hamburg oder das RheinMain-Gebiet. Das ist vollkommen nachvollziehbar und
menschlich verständlich. Schließlich wohnen dort in
der Regel viele afghanische Verwandte, Bekannte und
Freunde. Aber dort sind leider Gottes nicht immer Arbeitsplätze in ausreichender Zahl vorhanden. Deshalb
ist es aus meiner Sicht richtig, dass wir den Ländern die
Möglichkeit geben - das ist keine Verpflichtung -, eine
Wohnsitzauflage für zumindest drei Jahre anzuordnen,
wenn sie der Auffassung sind, dass das aufgrund integrationspolitischer Erwägungen sinnvoll und erforderlich ist. Ich glaube, das wird den berechtigten Wünschen
der betroffenen Kommunen und Länder in ausreichendem Maß gerecht.
({6})
Ein insbesondere in der Wirtschaft langgehegter
Wunsch ist die sogenannte Drei-plus-zwei-Regelung.
Sie wird nun in dieses Gesetz implementiert. Um den
Wirtschafts- und Handwerksbetrieben, aber auch den
betroffenen Flüchtlingen Rechts- und Planungssicherheit
zu geben, wird nun klargestellt, dass zumindest für drei
Jahre eine Duldung ausgesprochen werden kann, wenn
die Ausbildung ernsthaft betrieben wird. Das ist im Sinne aller Beteiligten. Es ist auch richtig, dass dann, wenn
die Ausbildung erfolgreich abgeschlossen wird - das ist
wohlgemerkt die Voraussetzung -, die Möglichkeit besteht, sich in einem Zeitrahmen von sechs Monaten einen
Anschlussarbeitsvertrag zu suchen, um dann eine Anschlussduldung für weitere zwei Jahre zu erhalten. Wir
stehen zu dieser Regelung. Sie ist gut und ist insbesondere im Sinne junger, heranwachsender Flüchtlinge, die die
Zeit in Deutschland nutzen sollen, um eine Berufsausbildung zu absolvieren.
Wir müssen aber nun im parlamentarischen Verfahren
darauf achten, dass es insbesondere bei der Drei-pluszwei-Regelung nicht zu missbräuchlichen Gestaltungen
kommt. Wenn eine Überstellung in ein anderes EU-Land
oder eine Abschiebung angeordnet und konkret erwogen
wird, dann darf nicht schnell ein Anstellungs- oder Ausbildungsvertrag vorgelegt werden, nur um die Überstellung oder die Abschiebung zu verhindern. Nach meiner
Auffassung wird es eine Aufgabe im parlamentarischen
Verfahren sein, insbesondere in § 60a des Aufenthaltsgesetzes darauf zu achten, dass es nicht zu einer missbräuchlichen Inanspruchnahme dieser an sich richtigen
Regelung kommen kann.
Ich glaube, dass dieser Gesetzentwurf einen erheblichen Fortschritt darstellt, wenn es darum geht, mit den
epochalen Herausforderungen der Flüchtlingskrise und
der Integration von Hunderttausenden Flüchtlingen in
Deutschland zurechtzukommen. Deshalb sollten wir diesen Gesetzentwurf positiv annehmen und die nun erfolgenden parlamentarischen Verhandlungen in der gebotenen Seriosität, aber auch Zügigkeit führen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({7})
Zum Schluss dieser Debatte erhält der Kollege
Sebastian Hartmann das Wort für die SPD-Fraktion .
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon
einiges zur Einordnung des ersten Integrationsgesetzes
in Deutschland gesagt worden. Ich halte mich mit der
Stephan Mayer ({0})
historischen Einordnung zurück . Etwas kritisch ist die
Opposition. Ich sage Ihnen: Seien Sie nicht so kritisch!
Schauen Sie sich das Gesetz zuerst genau an . Das ist die
dringende Empfehlung, die ich nur unterstreichen kann.
Es gibt zwei Vergleichsmöglichkeiten. Einerseits kann
man ganz klar auf das Einwanderungsgesetz verweisen.
Das ist in der Debatte geschehen . Der zweite ganz wesentliche Punkt ist aber, dass wir, wenn wir den Zeitrahmen vergleichen, doch viel schneller sind als bei den Beratungen des Zuwanderungsgesetzes, die sich immerhin
von 2001 bis 2005 hingezogen haben. Mit dem Integrationsgesetz 2016 machen wir einen ganz großen Schritt,
und das kann man nicht hoch genug einschätzen.
({1})
Herr Kollege Hartmann, lassen Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Beck zu?
Ja, gerne .
Sie haben die Opposition aufgefordert, ins Gesetz zu
schauen . Das habe ich mir zu Herzen genommen .
({0})
Ich möchte Sie fragen, weil das Bundesinnenministerium uns das am Mittwoch nicht beantworten konnte:
Wo ist die Regelung des § 29 Absatz 2 Asylgesetz, nach
der ein Asylbewerber, der aus einem sicheren Drittstaat
kommt, nach drei Monaten den Anspruch hat, dass sein
Asylverfahren hier in Deutschland betrieben wird, wenn
er bis dahin nicht aus dem Land geschafft werden konnte? Ist die Regelung weg? Ist das gewollt?
({1})
Oder habe ich sie einfach nicht gefunden?
Lieber Herr Kollege Beck, vielen Dank für Ihre Frage. Ich habe sehr lange an dem Forum Menschenrechte
teilgenommen, an dem auch Sie zeitweilig teilgenommen
haben .
({0})
- Diese Bemerkung muss dann aber auch erlaubt sein. Danke, dass Sie die Frage aufwerfen . So kann man das
in der parlamentarischen Beratung für alle Beteiligten
deutlich machen.
Sie haben die Frage an die Bundesregierung gerichtet,
weil Pro Asyl diese Frage aufgeworfen hatte. Die Bundesregierung hat Ausführungen über die Unbeachtlichkeit eines Antrages, die Unzulässigkeit eines Antrages
und über die rechtssystematische Gleichstellung gemacht
und dargelegt, dass es aus Sicht der Bundesregierung der Innenminister nickt an dieser Stelle - um eine Rechtsklarstellung geht. Das hat die Regierung deutlich gesagt.
Ich habe mir eine Notiz gemacht. Wir beginnen heute
mit den Beratungen des Integrationsgesetzes .
({1})
- Ich beantworte Ihre Frage. Sie müssen aber auch zuhören, Herr Beck. Ich glaube, das ist die minimale Anforderung an jeden, der an der parlamentarischen Beratung
teilnimmt.
({2})
Ich verlasse mich auf die Aussage - da spreche ich
für viele Kolleginnen und Kollegen -, dass es um eine
Rechtsklarstellung geht und nicht um einen Abbau von
Rechten von Menschen, die in einem Asylverfahren auf
den Rechtsstaat vertrauen .
({3})
Wir werden darauf achten, dass es eine Rechtsklarstellung ist. Messen Sie uns doch an der Aussage, die vom
Innenministerium getroffen worden ist .
({4})
- Wieso kann das nicht sein, Herr Beck, wenn es eine
Angleichung an andere Verfahren ist? - Sie haben das im
Zusammenhang mit dem EU-Türkei-Abkommen gesagt .
Es geht uns darum, dass der Rechtsstand, den wir vor der
Einbringung des Entwurfes hatten, erhalten bleibt. Das
ist der Punkt . Das war der Diskussionsstand . Wir beginnen heute mit den Beratungen. Ich schlage vor, dass wir
dann, wenn wir den Gesetzentwurf abschließend beraten,
genau diese Frage beantworten. Es wäre schön, wenn Sie
sich dann dem anschließen könnten, was wir hier gerade
gesagt haben. - Herzlichen Dank.
({5})
Die SPD hat sich erfolgreich in den Verhandlungen
dafür eingesetzt, dass Rechte und Pflichten miteinander
im Einklang stehen. Das eine bedingt untrennbar das
andere. Das Integrationsgesetz ist ein ganz wesentlicher
Schritt, um für die Integration einen klaren rechtlichen
Rahmen zu schaffen . Aber wir wissen auch, dass eine
erfolgreiche Integration eine klare Orientierung und ein
klares Leitbild braucht. Dieses Leitbild müssen wir gemeinsam entwerfen . Das ist eine gemeinsame Aufgabe
von Bund, Ländern und Kommunen. Deswegen geht
mein Dank insbesondere an die Kommunen, in denen ein
großes ehrenamtliches Engagement zu finden ist. Ich erinnere auch an die Katastrophenfälle durch die Unwetter,
die wir jetzt in unserem Land haben. Auch da sehen wir
Sebastian Hartmann
das ehrenamtliche Engagement, das unser Land vorangebracht hat .
({6})
Wir werden dem auf Bundesebene auch gerecht . Wir
tragen unseren Teil bei, indem wir nationale und europäische Lösungen anbieten. Wir steuern die Verfahren über
das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, und wir
übernehmen die finanzielle Verantwortung für diese Aufgabe. Einen ganz zentralen Schritt aber gehen wir heute,
indem wir gute Rahmenbedingungen für die Integration
auf Bundesebene setzen, und zwar mit diesem Gesetz .
({7})
Einen Punkt möchte ich besonders herausstreichen.
Ich komme aus Nordrhein-Westfalen. Kollegen der Linken und der Grünen, da kann man nur klatschen, wenn
man aus NRW kommt.
({8})
- Danke, Herr Kollege Mahmut Özdemir. - Nordrhein-Westfalen wurde von der Financial Times Deutschland zur Zukunftsregion Nummer 1 gewählt. In Nordrhein-Westfalen gibt es mehr Investitionen - die Statistik
der Bundesbank weist das aus - als in Baden-Württemberg und Bayern zusammen. Nordrhein-Westfalen ist
auch ein beliebtes Ziel der EU-Binnenwanderung. Genau
darum nehmen wir eine Wohnsitzzuweisung auf Zeit vor .
Wir wollen den Prozess steuern, damit in Metropolräumen, zum Beispiel an Rhein und Ruhr, Luft geholt werden kann, um Wohnen und Arbeiten zusammenzubringen .
Ich komme aus dem ländlichen Raum Nordrhein-Westfalens. Auch dort kann man gut leben und arbeiten. Darum
brauchen wir in Abstimmung mit den Ländern und den
Kommunen diese wichtige Wohnsitzauflage.
({9})
Lassen Sie mich abschließend sagen: Wir schaffen ein
faires Angebot . Wir gehen einen weiteren Schritt und setzen die Rahmenbedingungen für gelingende Integration,
indem wir Rechte und Pflichten im Integrationsprozess
miteinander in Einklang bringen. Wir bieten allen Integrationswilligen und Integrationsbegierigen in unserem
Land ein faires und gerechtes Verfahren im Integrationsprozess und schaffen so ein gemeinsames Fundament
für Erfolg - nicht nur für die integrationswilligen und
integrationsbegierigen Flüchtlinge, sondern auch für uns
Deutsche .
Herzlichen Dank.
({10})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf der Drucksache 18/8615 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt
es andere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann stelle ich Ihr Einverständnis fest, und die Überweisung ist so
beschlossen.
Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 27:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Tom
Koenigs, Omid Nouripour, Luise Amtsberg,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Eine Menschheit, gemeinsame Verantwortung - Für eine flexible, wirksame und zuverlässige humanitäre Hilfe
Drucksache 18/8619
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Auch zu dieser Debatte ist nach einer interfraktionellen Vereinbarung eine 60-minütige Aussprache vorgesehen. - Offenkundig ist das einvernehmlich. Dann verfahren wir so .
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Tom Koenigs für die Antragstellerin.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Herausforderungen an die humanitäre Hilfe sind
exponentiell gestiegen. Der weltweite Bedarf an humanitären Hilfsleistungen ist zwischen 2005 und 2016 um das
Vierfache gestiegen. Die Summe aller koordinierten Appelle der Vereinten Nationen in diesem Jahr für 88 Millionen Menschen in 38 Ländern ist auf 20,1 Milliarden
Dollar gestiegen. Gleichzeitig gibt es für 2015 die größte
Finanzierungslücke mit 8,7 Milliarden Dollar. 42 Prozent der ärmsten Menschen leben heute in konfliktbetroffenen, fragilen Staaten. 80 Prozent aller Krisen, die
internationale Hilfe erfordern, sind bewaffnete Konflikte
oder komplexe Notlagen. Das heißt, wir können nicht
mit denselben Antworten auf diese immens gewachsenen
Probleme reagieren.
({0})
Dem haben sich die Vereinten Nationen gestellt. Der
Humanitäre Weltgipfel kam genau im richtigen Moment.
9 000 Teilnehmer aus 173 Staaten, 55 Staats- und Regierungschefs waren dort; es gab Tausende von Teilnehmern
aus der Zivilgesellschaft. Das war das größte Zusammentreffen von Staaten und NGOs in den 70 Jahren des Bestehens der Vereinten Nationen. Die Debatte wurde eröffnet durch das vorbereitende Papier des Generalsekretärs
„One Humanity: Shared Responsibility“. Schon dieses
Papier hat Zeichen gesetzt. Humanitäre Hilfe heißt heute nicht nur humanitäre Nothilfe; es heißt immer mehr
Führung, Gestaltung, Initiative und Investitionen in die
Menschen. Der Generalsekretär der Vereinten Nationen
hat Fortschritte in fünf Bereichen angemahnt: Krisenprävention, humanitäres Völkerrecht und Menschenrechte,
Flüchtlingspolitik, Wirksamkeit der Hilfe und finanzielles Engagement.
Sebastian Hartmann
Die humanitären Katastrophen sind heute in der Regel
menschengemacht: durch Kriege und Konflikte, krasse
Missachtung von humanitärem Völkerrecht, direkte und
geplante Angriffe auf Zivilisten, fehlende Einigkeit der
internationalen Gemeinschaft in der Flüchtlingsfrage nicht solche Petitessen wie der Streit zwischen Bayern
und der Kanzlerin - und Maßnahmen gegen den Klimawandel. Im Zentrum der Bemühungen dürfen nicht Organisationen und Staaten, sondern müssen die Betroffenen,
die Notleidenden stehen.
({1})
Es zeigt sich, dass Zelte und Nahrungsmittel zwar im
ersten Moment notwendig sind, Flüchtlinge bleiben
aber im Durchschnitt 17 Jahre in den Ländern, wo sie
dann landen. Das heißt, diese allererste, sicher wichtige
Nothilfe reicht nicht aus. Es muss eine Verzahnung geben
zwischen schneller Nothilfe und nachhaltigen Rehabilitations- und Entwicklungsmaßnahmen.
({2})
Die Erkenntnis, dass die Aufnahme größerer Flüchtlingskontingente ein „common public good“ ist, das Anerkennung sowie politische und finanzielle Unterstützung
verdient, wächst nur langsam. Wir lernen das beim Libanon, bei Jordanien, aber auch bei Pakistan, Kenia, Tansania. Das sind die Länder, die die meisten Flüchtlinge aufnehmen . Wir machen gerade unsere Erfahrungen mit der
Türkei, ebenfalls einem der größten Aufnahmeländer von
Flüchtlingen. Was wir in Europa machen, wird natürlich
von diesen Ländern ganz genau beobachtet. Und wenn
ein kleines oder großes Land die Grenzen schließt, muss
man sich überlegen, was das dann als Symbol für Länder,
die Millionen von Flüchtlingen aufnehmen, heißt.
({3})
Das wird Nachahmer finden. Deshalb muss Deutschland
mehr als ein verlässlicher Geber sein. Wir müssen die internationale humanitäre Politik aktiv mitgestalten, Reformen anstoßen und auch voranbringen. Der Humanitäre
Weltgipfel hat Anstöße gegeben durch Anregungen, Versprechungen und Initiativen. Aber es braucht die Langfristigkeit, die Nachhaltigkeit und den Gestaltungswillen
führender Staaten und führender Politikerinnen und Politiker.
({4})
Bei diesem Gipfel war Deutschland prominent vertreten . Der Vorsitzende des Menschenrechtsausschusses
hat teilgenommen, die Bundeskanzlerin, der Bundesaußenminister und der Bundesminister für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung.
({5})
Das ist bemerkt und auch gelobt worden, bis hin zur New
York Times. Wir dürfen aber nicht nur einer der größten
Zahler sein. Vielmehr müssen wir immer mehr auch zu
einem der Gestalter werden. Das ist noch nicht so richtig
angekommen .
({6})
Die Botschaften des Humanitären Gipfels waren: Humanitäre Hilfe darf nicht länger Antwort auf weltweite
politische Passivität und Substitut für fehlende politische
Entscheidungen sein. Die notleidenden Menschen müssen im Mittelpunkt stehen; die Instrumente zur Behebung
der Not müssen verzahnt werden, man muss auf gemeinsame Ziele hinweisen. Die Weltgemeinschaft steht diesbezüglich erst am Beginn. Das heißt, auch die Debatte
braucht Nachhaltigkeit.
({7})
42 Prozent aller Menschen in Not leben in fragilen
Staaten. Das heißt, die Konfliktprävention bedarf eines
viel größeren Impulses. Wir müssen mehr auf die lokalen
Systeme setzen, statt sie zu ersetzen .
({8})
Ich glaube, es ist richtig, wenn die Vereinten Nationen
anfangen und ihre acht größten Organisationen in einer
gemeinsamen Anstrengung zusammenbringen, um die
Planung, die Umsetzung und die Instrumente gemeinsam
zu diskutieren .
({9})
Diese Reformen müssen auch in den Mitgliedsländern
erfolgen. Auch wir müssen besser planen und eine gemeinsame kohärente, mehrjährige, ressortübergreifende
Nutzung der Instrumente finden.
Die Einhaltung des internationalen humanitären Völkerrechts ist keine Selbstverständlichkeit. Allein in Syrien sind in der letzten Zeit 370 Angriffe auf Krankenhäuser und Gesundheitsstationen erfolgt. 650 medizinische
Helfer sind dem zum Opfer gefallen. Aber wir müssen
auch dieses Recht weiter gestalten. Einige Staaten, geführt von Österreich, haben auf dem Gipfel eine Initiative
lanciert, um die Verwendung von explosiven Waffen in
dichtbesiedelten Gebieten zu stoppen. Diese Waffen sind
die Pest in Aleppo bzw. in Syrien insgesamt. Das muss
aufhören.
({10})
Es gab eine Initiative dazu. Deutschland hat sie nicht
unterstützt. Ich frage, warum. Das wäre ein Beitrag zum
humanitären Völkerrecht gewesen.
Ein Follow-up - und wir haben viele Follow-ups in
unserem Antrag - könnte auch sein, dass wir im institutionellen Bereich unsere Expertise, unsere Kapazität im
Hinblick auf Diskussion, Innovation und Reform verbessern. Business as usual kann es nicht sein. Im Bereich
der Menschenrechte haben wir das Deutsche Institut für
Menschenrechte, eine sehr segensreiche, unabhängige
Institution .
({11})
Im Bereich der humanitären Hilfe haben wir nichts Vergleichbares. Wir sollten darüber nachdenken, ob hier
nicht ein Thinktank, ein Laboratorium der Ideen, das die
humanitäre Hilfe inspiriert, evaluiert und verstärkt, an
der Zeit ist. Ob es nun Institut für humanitäre Hilfe oder
Institut für humanitäre Angelegenheiten - also weiter gedacht - heißen soll, kann man diskutieren. Aber es muss
in europäische Strukturen eingebunden sein, Debatten in
die Öffentlichkeit tragen, aber auch Debatten aus der Öffentlichkeit aufnehmen, wie es das Deutsche Institut für
Menschenrechte tut .
({12})
Ich glaube, auch die deutsche humanitäre Hilfe verträgt
eine regelmäßige Evaluation und eine intensive und dauernde hochrangige Diskussion im Menschenrechtsausschuss .
({13})
Es ist an der Zeit, über ein solches Institut, eine Institutionalisierung der Innovation, der Innovationsfähigkeit und
auch der Einmischung, in der Folge des Humanitären
Weltgipfels ernsthaft nachzudenken.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({14})
Erika Steinbach ist die nächste Rednerin für die CDU/
CSU-Fraktion .
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor
drei Jahren waren 40 Millionen Menschen weltweit auf
der Flucht oder als Migranten unterwegs. Vor zwei Jahren waren es schon 50 Millionen Menschen. Heute sind
es bereits 60 Millionen, manche sprechen sogar schon
von 70 Millionen. Die Zahl der bedrängten Menschen,
die ihre Heimat aus den unterschiedlichsten Gründen
verlassen mussten oder in existenzbedrohenden Situationen in der Heimat leben, steigt und steigt deutlich erkennbar weiter an. Der Bedarf an humanitärer Hilfe, um
überhaupt die ärgste Not zu lindern - da geht es nicht um
Luxushilfe, sondern um Überlebenshilfe -, hat sich von
2012 bis 2015 auf 20 Milliarden US-Dollar verdoppelt.
Immer wieder erleben wir aber, dass die nötigen Mittel, die zur Hilfe gebraucht werden, nicht rechtzeitig oder
auch nicht ausreichend zur Verfügung gestellt werden.
Darum war es gut - ich glaube, es war sogar überfällig;
aber die Vorbereitung dauerte drei Jahre -, dass der Humanitäre Weltgipfel stattgefunden hat in einer Zeit, in der
jeder die Probleme sehen kann - wie auch wir tagtäglich
auf den Bildschirmen. Angesichts der Vielzahl an Krisen
und Konflikten und angesichts der Tatsache, dass über
die Flüchtlinge hinaus weitere Menschen in ihrer Heimat
dringend auf Hilfe der Vereinten Nationen angewiesen
sind, war die Initiative des Weltgipfels dringend erforderlich. Man geht insgesamt von 125 Millionen Menschen
aus, die zum nackten Überleben Hilfe benötigen. Staaten
und Zivilgesellschaften sind bei diesem ersten Humanitären Weltgipfel zusammengekommen, um Wege und
Möglichkeiten zu finden, den humanitären Bedürfnissen
in einer sich rasch verändernden Welt besser und auch
schneller gerecht zu werden.
Unsere Bundesregierung - das war sehr erfreulich war im Gegensatz zu den fünf Vetomächten des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen hochrangigst vertreten:
Die Bundeskanzlerin war da, ebenso der Bundesaußenminister, der Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, und Kollegen waren auch
dabei. Das war ein deutliches Signal, zu zeigen, für wie
brisant wir aus deutscher Perspektive dieses Thema halten . Es war gut, dass wir so hervorragend vertreten waren .
({0})
Dieser Gipfel war keine Geberkonferenz, in der ausschließlich über finanzielle Hilfen verhandelt wurde.
Es ging um ganz Grundsätzliches. Aber Deutschland
hat dennoch zugesagt, seinen Beitrag für den Nothilfefonds der Vereinten Nationen um 10 Millionen Euro auf
50 Millionen Euro anzuheben. Der Fonds soll, ja er muss
sogar - das betrifft alle Staaten - dringend auf insgesamt
1 Milliarde Dollar verdoppelt werden, um überhaupt allen Menschen helfen zu können.
Deutschland ist in diesem Jahr mit einem Beitrag von
rund 1,3 Milliarden Euro der drittgrößte internationale
Geber und hat als Vorreiter für innovative humanitäre
Hilfe den Weltgipfel von Beginn an auch inhaltlich mitgeprägt. Obgleich die Summe der international bereitgestellten und zugesagten Hilfen seit Jahren steigt, decken
die Mittel bei weitem nicht den Bedarf; denn im Schnitt
kommen jährlich nur rund zwei Drittel der von den Vereinten Nationen benötigten Gelder tatsächlich zusammen
und herein. Viele der Länder, die zugesagt haben, etwas
zu leisten, zahlen ganz einfach nicht. Noch nie war die
Finanzierungslücke für Nothilfe so groß wie im vergangenen Jahr. 2015 kamen nur 55 Prozent des benötigten
und seitens der Staaten auch zugesagten Geldes zusammen . Auch in den ersten fünf Monaten dieses Jahres ging
erst ein Fünftel des Budgets ein.
Für die Bedürftigen bedeutet weniger Geld im Gesamttopf ganz konkret natürlich auch weniger Hilfe. So
mussten 2015 die Lebensmittelhilfen für syrische Flüchtlinge im Nahen Osten deutlich gekürzt werden. Am Ende
blieben Flüchtlingen zum Beispiel in Jordanien zeitweise umgerechnet nur etwa 50 Cent pro Tag für Nahrung.
50 Cent pro Tag! Dies war eine wesentliche Ursache
dafür, dass sich im vergangenen Jahr über 1 Million
Menschen auf den Weg nach Deutschland und Europa
gemacht haben. Das darf sich so nicht wiederholen.
Deutschland stellt sich seiner internationalen Verantwortung und geht mit gutem Beispiel voran. Aber wir
müssen erreichen, dass auch die anderen Staaten ihre
Verpflichtungen am Ende erfüllen. Diese Zusagen müssen eingehalten werden.
({1})
Das ist letztendlich auch im Interesse aller - der Betroffenen, die Hilfe brauchen, aber auch der Länder, die Hilfe
geben; denn man kann von vornherein Flüchtlingsströme
vermeiden und den Menschen die Heimatnähe besser erhalten.
Deutschland setzt sich ja seit langem für einen Paradigmenwechsel in der humanitären Hilfe ein. Wir wollen
eine vorausschauende Hilfe, die Betroffenen, wo immer
möglich, in den Krisengebieten stärken, damit sie dort
verbleiben können und es ihnen möglich ist, in der Nähe
ihrer Heimat zu bleiben, und dass sie sich eben nicht auf
lebensgefährliche Fluchtwege begeben müssen. Wir sehen ja Tag für Tag, dass im Mittelmeer Menschen ertrinken - auch in den letzten Tagen wieder.
Wie das große Engagement der Bundesregierung zur
Bewältigung der humanitären Krise infolge der Gewalt
in Syrien und im Irak zeigt, findet bereits heute eine enge
Verzahnung von humanitärer Hilfe mit Maßnahmen der
Entwicklungszusammenarbeit statt. Die Ministerien arbeiten sehr gut zusammen. Grundsätzlich muss es, liebe
Kolleginnen und Kollegen, unser Ziel sein, den Opfern
von Flucht und Vertreibung und den Migranten möglichst heimatnah zu helfen. Das ist der richtige Weg sowohl für die betroffenen Menschen als auch für unseren
Kontinent.
Denn eines wissen wir auch: Die weltweiten Migrationsströme, die Flüchtlingsbewegungen können weder
in der Europäischen Union noch in ganz Europa noch
in Deutschland geheilt werden. Vor diesem Hintergrund
war es eine hervorragende Sache, dass der Humanitäre
Weltgipfel gerade jetzt, in dieser Zeit, mit einem intensiven deutschen Engagement stattgefunden hat . Dass sich
Deutschland so hochrangig dort hinbegeben hat, ist ein
Zeichen, dass wir dieses Thema auch ernst nehmen .
({2})
Inge Höger ist die nächste Rednerin für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 1 500 Zusagen und Selbstverpflichtungen präsentierte UN-Generalsekretär Ban Ki-moon am Ende des Humanitären
Weltgipfels in Istanbul vor gut einer Woche. Neben
zahlreichen finanziellen Versprechungen kündeten die
unterzeichnenden Staaten und Organisationen an, zukünftig der Achtung des humanitären Völkerrechts mehr
Aufmerksamkeit zu schenken. Das klingt gut und ist
dringend notwendig. Doch kein einziger dieser zahllosen
Merkposten wurde verbindlich beschlossen. Es handelt
sich bei allem um Absichtserklärungen, um Papier, um
teures Papier .
Der Gipfel in Istanbul war eine Chance, den aktuellen humanitären Krisen entschieden zu begegnen. Diese
Chance wurde jedoch weitgehend verspielt. Angesichts
der Notlagen in den Flüchtlingscamps, des Sterbens an
den Grenzen Europas, der andauernden Kriege und der
zunehmend dramatischeren Folgen des Klimawandels
sind die Antworten des Gipfels beschämend unkonkret.
({0})
Das Wichtigste wären verbindliche Absprachen darüber,
dass humanitäre Hilfe in Notlagen unparteiisch und neutral bei all den Menschen ankommt, die Hilfe brauchen.
Doch bereits der Ort des Gipfels, Istanbul, war ein
politisches Problem. Präsident Erdogan setzt seine autoritäre Politik immer ungenierter durch. Er bekämpft
seine politischen Gegner mit aller Brutalität. In den kurdischen Gebieten sind schon Tausende Menschen ums
Leben gekommen, überwiegend Angehörige der Zivilbevölkerung; genaue Angaben haben wir nicht, da auch
die Presse mit aller Härte bekämpft wird. In zwei Wahlen hat Erdogan versucht, die linke Opposition aus dem
Parlament zu drängen. Da dies nicht funktionierte, hat er
wenige Tage vor dem Gipfel die Immunität der HDP-Abgeordneten aufheben lassen. Nun kann er sie mit willkürlichen Verfahren ebenso ins Gefängnis schicken wie
bereits zahllose Journalistinnen und Journalisten sowie
weitere Oppositionelle.
Erdogan lässt an den Grenzen auf Flüchtlinge schießen und zerstört die Demokratie im eigenen Land. Er
schafft fortwährend neue Fluchtgründe. Und was macht
die deutsche Regierung? Sie versucht, den Streit in der
Koalition über die Flüchtlingspolitik dadurch zu lösen,
dass sie Erdogan für die Abschottung der Außengrenzen
der EU Milliarden in den Rachen wirft. Diese Politik ist
eine Schande .
({1})
Ein glaubwürdiger Gastgeber für ehrlich gemeinte humanitäre Politik ist Erdogan, der Flüchtlinge zwischenzeitlich sogar ins Kriegsgebiet zurückschicken lässt, bestimmt nicht .
Doch zurück zu den weltweiten humanitären Herausforderungen. Laut Angaben des Gipfelsprechers
stammen 92 Prozent aller Kriegsopfer aus der Zivilbevölkerung und sind mindestens 125 Millionen Menschen
weltweit auf humanitäre Hilfe angewiesen. Wenn nicht
bald die Weichen hin zu zivilen Ansätzen für Konfliktbearbeitung, für eine verantwortungsvolle Klimapolitik
und für eine gerechte Weltwirtschaftsordnung gestellt
werden, dann könnte die Zahl der Hilfsbedürftigen noch
deutlich größer werden. Das ist keine Zeit für unverbindliche Ankündigungen.
({2})
37 Millionen Kinder aus Konfliktgebieten haben keinen Zugang zu Bildung. Nimmt man die Kinder dazu, die
nur sporadisch Bildungsangebote erhalten, kommt man
zu dem Ergebnis, dass etwa 75 Millionen keinen ausreichenden Zugang zu Bildung haben. Nicht einmal die
Hälfte der Flüchtlingskinder in den Lagern rund um Syrien erhalten Schulunterricht. Es ist wichtig, diesen jungen
Menschen, die eine unerträgliche Gegenwart durchleben,
wenigstens eine Chance für die Zukunft zu geben .
({3})
Zum Glück wurde das in Istanbul diskutiert. Auf dem
Gipfel wurde ein Bildungsfonds mit dem passenden Titel „Bildung kann nicht warten“ beschlossen. Er soll mit
einer Summe von 3,8 Milliarden Dollar in den kommenden fünf Jahren etwa 13 Millionen Kindern helfen. Das
Erika Steinbach
ist ein Anfang, aber es reicht bei weitem nicht . Wenn es
dabei bleibt, dann muss der größte Teil der betroffenen
Kinder nach wie vor auf Bildung warten. Das ist nicht
zufriedenstellend.
({4})
Es sind etwa 2 Milliarden Dollar pro Jahr für Bildungsprogramme notwendig. Für den Bildungsfonds ist nur
ein Drittel dieser Summe zugesagt, aber nicht eingezahlt
worden. Verschiedene Länder verquicken diese Zusage
mit privaten Spendengeldern. So gibt etwa die britische
Regierung eine Anschubfinanzierung von 30 Millionen
Pfund. Weitere 100 Millionen Pfund sollen durch private
Spenden kommen .
Private Spendenbereitschaft ist schön, Hilfe darf aber
nicht von dieser Bereitschaft abhängig sein.
({5})
Die reichen Staaten sind in der Pflicht, die Strukturen
der Hilfe so zu gestalten, dass sie zuverlässig und auch
längerfristig zur Verfügung steht. Es geht hier tatsächlich
um ein grundlegendes Problem der humanitären Hilfe.
Es gibt zwar private Spendenbereitschaft, aber sie ist
meistens nur kurzfristig für Themen und Regionen mobilisierbar, die gerade besonders im Fokus der Öffentlichkeit stehen. Ein zuverlässiges Hilfesystem lässt sich so
kaum organisieren .
Ein anderes Thema: Kanzlerin Merkel lobte es als
gutes Zeichen, dass viele Unternehmen an dem Gipfel
teilnahmen. Die Bilder von dem Gipfel wirkten teilweise
wie die einer großen Messe, auf der unterschiedlichste
Unternehmen ihre Dienstleistungen auf dem wachsenden
Markt der organisierten Hilfe anboten. Aus humanitärer
Sicht kann dies jedoch problematisch sein. Wenn Hilfe
zum Geschäft wird, dann kann es schnell passieren, dass
nicht mehr die Bedürfnisse der Menschen im Mittelpunkt
stehen, sondern die Rentabilität die Entscheidung beeinflusst.
({6})
Unser Fokus muss auf der Menschlichkeit und dem
Recht der Menschen auf ein würdiges Leben und Überleben liegen. Lassen Sie mich angesichts der unsäglichen
Äußerungen aus dem rechten Lager in diesem Land auch
Folgendes sagen: Wir sehen Kinderaugen nicht als Erpressung, sondern als Verpflichtung.
({7})
Auch Vereinbarungen zum Schutz von Helferinnen
und Helfern sind dringend notwendig. Die Hilfsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“ blieb dem Gipfel fern, weil
dieses Thema nicht genügend ernst genommen wird . Es
hilft auch nicht, wie Frau Merkel in ihrer Rede in Istanbul
sagte, nur auf verschiedene Bürgerkriegsfraktionen zu
zeigen, wenn gleichzeitig NATO-Verbündete, zum Beispiel in Afghanistan, Kliniken bombardieren. Vergleichbares passierte auch im Jemen, wo saudische Streitkräfte,
gut ausgestattet mit westlichen Waffen, wiederholt Krankenhäuser bombardiert haben. Notwendig sind also klare
Absprachen, das Völkerrecht einzuhalten und keine humanitären oder UN-Einrichtungen anzugreifen.
({8})
Die Kriegspolitik der NATO-Staaten muss beendet werden. Sie sind lange genug mit schlechtem Beispiel vorangegangen .
Wichtig ist auch ein Stopp von Waffenlieferungen in
Krisen- und Konfliktregionen. Waffenlieferungen sind
keine Lösung, sondern Teil des Problems. Jede Waffe findet ihren Krieg. Notwendig sind ernsthafte Bemühungen
um politische Lösungen zur Beendigung von Kriegen
und Konflikten. Notwendig ist zivile Krisenprävention.
({9})
Wie bereits erwähnt, sind weltweit etwa 129 Millionen
Menschen auf die Hilfe der UN und ihrer Partner angewiesen. Von denen für humanitäre Hilfe nötigen 20 Milliarden Dollar für dieses Jahr ist höchstens ein Fünftel bei
den UN angekommen. Es darf nicht sein, dass bis Ende
des Jahres 2015 nur etwa die Hälfte der benötigten Gelder eintrifft. Es darf nicht sein, dass das Welternährungsprogramm kein Geld für die Hungernden im Jemen oder
in Somalia hat, dass der Weltgesundheitsorganisation die
Mittel zur rechtzeitigen Hilfe bei Gelbfieberepidemien
in Zentralafrika fehlen oder die Lebensmittelrationen für
die Flüchtlinge aus Syrien reduziert werden. All dies ist
im wahrsten Sinne des Wortes ein Armutszeugnis .
Der Hinweis, dass Deutschland bereits zu den Ländern gehört, die sehr viel Geld für humanitäre Hilfe zur
Verfügung stellen, lenkt da nur ein wenig ab. Gemessen
am Bruttoinlandsprodukt lag Deutschland im letzten Jahr
hinter den skandinavischen Ländern. Schweden und Norwegen haben 0,13 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts
gegeben und damit viermal so viel wie die Bundesrepublik, die etwa 0,03 Prozent ihrer Wirtschaftsleistung gegeben hat .
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ich stelle mir vor, dass man sich auf dem nächsten Humanitären Weltgipfel eindeutig darauf verpflichtet, dass
die Weltgemeinschaft alle Ressourcen zur Verfügung
stellt, die nötig sind, um die Not aller Menschen zu lindern, die Hilfe brauchen, ausnahmslos.
({0})
Für die Bundesregierung erhält nun der Staatsminister
Michael Roth das Wort.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! 1,5 Milliarden Menschen leben in Krisengebieten. 125 Millionen Menschen sind auf akute Nothilfe
Inge Höger
angewiesen, und mehr als 60 Millionen Menschen sind
auf der Flucht. Das sind erschreckende Zahlen. Sie erschrecken nicht nur uns hier im Bundestag, sie erschrecken viele Menschen, aber es darf nicht beim Erschrecken bleiben.
Deshalb danke ich Ihnen allen auch dafür, dass es uns
nicht zuletzt mit Ihrer Unterstützung gelungen ist, dem
Thema Menschenrechte und humanitäre Hilfe mehr Bedeutung beizumessen . Sie haben dazu beigetragen, dass
Deutschland zwischenzeitlich zum drittgrößten Geber
im Bereich der humanitären Hilfe zählt. Wir werden in
diesem Jahr 1,3 Milliarden Euro zur Verfügung stellen.
Und wir alle wissen, liebe Kolleginnen und Kollegen, es
reicht am Ende des Tages nicht .
Die beschämende Situation des vergangenen Jahres ist
schon beschrieben worden. Meine Zahlen, Herr Kollege
Koenigs, sind noch schlimmer als die Ihrigen. Wir hatten
im vergangenen Jahr eine Unterdeckung im Bereich der
humanitären Hilfe von 15 Milliarden US-Dollar.
Aber trotz aller Krisen, nicht nur der von Menschen
gemachten Krisen, wie das Herr Koenigs eben sagte,
sondern auch der Naturkatastrophen und des Klimawandels, von dem wir heute noch gar nicht wissen, was dieser
für Menschen wirklich bedeutet, die in noch stärkerem
Maße von Naturkatastrophen betroffen sein werden, ist
mir wichtig, eines noch einmal zu unterstreichen: Unsere
Menschenrechts- und Entwicklungspolitiker, diejenigen,
die sich der internationalen Arbeit verpflichtet fühlen, die
sich der Humanität verpflichtet fühlen, hatten in den vergangenen Jahren oftmals ein Akzeptanzproblem. Aber
nicht zuletzt seitdem die Tragödien der Welt ein Gesicht
bekommen haben und die Menschen zu uns kommen und
uns an ihren tragischen Geschichten teilhaben lassen, ist
das Bewusstsein der einen Welt gewachsen.
Das Geld, die Hilfe, die Kreativität, der Mut und die
Leistung, die wir außerhalb Europas investieren im Mittleren und Nahen Osten, in Afrika, in vielen leidgeplagten
Regionen der Welt, sind gut angelegt. Deshalb freue ich
mich, dass wir nicht nur hier im Bundestag eine politische Mehrheit für diese Politik haben. Nein, wir haben
eine breite gesellschaftliche Mehrheit. Ich darf hinzufügen: Wenn das nur in anderen Politikbereichen genauso
der Fall wäre.
({0})
Als jemand, der selbst an einer Reihe von Geberkonferenzen teilgenommen hat, kann ich den Eindruck der
Kolleginnen und Kollegen nur bestätigen: Auf Gipfeln
etwas zuzusagen, ist relativ einfach. Es dann aber auch
wirklich umzusetzen und die Mittel zur Verfügung zu
stellen, ist ungleich schwieriger. Ich darf Ihnen aber auch
versichern - ich bin mir ziemlich sicher, die meisten von
Ihnen werden das bestätigen -, dass Deutschland als ein
zuverlässiger Partner in der Welt gilt.
({1})
Unser Wort hat Gewicht, weil wir zu unseren Zusagen
stehen .
Eben ist deutlich gemacht worden, dass wir mehr tun
müssen für Bildung. Genau darum geht es doch bei dem
Abkommen mit der Türkei. Darum geht es im Libanon,
wo wir in diesem Jahr etwa 330 Millionen Euro zur Verfügung stellen wollen. Wir haben uns nicht nur in Istanbul, sondern bereits auf der Geberkonferenz in London
darauf verpflichtet, dass ab dem Schuljahr 2016/2017
jedes Flüchtlingskind die Chance auf ein Schulangebot
erhält. Dafür wird das Geld investiert, und es ist deshalb
auch dort gut angelegtes Geld, ob in der Türkei, im Libanon, in Jordanien oder auch in vielen anderen Ländern.
({2})
Die Botschaft dieses Gipfels in Istanbul ist: Wir müssen raus aus dem permanenten Krisenmodus, bei dem
wir immer nur von einer Katastrophe zur nächsten eilen.
Unser Ziel für die Zukunft ist ein System, das auf längerfristiger Planung, vorausschauendem Handeln und solider Finanzierung beruht. Zur soliden Finanzierung habe
ich schon etwas gesagt, und zur längerfristigen Planung
vermag ich auch etwas zu sagen .
Wir haben den gesamten Bereich der humanitären Hilfe auf Mehrjährigkeit ausgelegt.
({3})
Wir ergänzen das auch im Bereich der Stabilisierung. Wir
haben vor allem die Mittel für Gemeinschaftsfonds ausgeweitet, um auch den Initiativen vor Ort die Planungssicherheit zu geben, die sie dringend brauchen. Also auch
hier, finde ich, haben wir in Istanbul durchaus über die
170 Selbstverpflichtungen hinaus deutlich gemacht: Man
darf nicht nur reden, sondern man kann auch konkret etwas tun .
({4})
Lassen Sie mich noch einen weiteren Punkt benennen,
der mich vermutlich am meisten umtreibt; auch da stehe
ich nicht alleine. Istanbul hat auch ein klares Signal dafür
gesetzt, dass es absolut inakzeptabel ist, die humanitären
Prinzipien des Völkerrechts weiter mit Füßen zu treten.
Es ist grauenhaft, zu erleben, dass - in Syrien und andern orts - Hilfsorganisationen nicht den Zugang haben,
um Menschen mit dem Lebensnotwendigsten zu versorgen, dass Krankenhäuser und Schulen beschossen werden, dass Menschen, Kinder verhungern müssen, weil
dem Deutschen Roten Kreuz, dem Roten Halbmond und
vielen anderen Organisationen das Geld zwar zur Verfügung steht, aber das Geld eben nicht dort ankommt, wo
es dringend gebraucht wird .
Deshalb muss es uns tagtäglich darum gehen, das klare Signal von Istanbul immer wieder zu realisieren. Der
humanitäre Zugang von Vertretern von Hilfsorganisationen in zivile Einrichtungen muss von allen gewährleistet
und garantiert werden. So viel Grundverantwortung und
so viel Mindestkonsens muss in dieser Welt doch möglich sein, um dafür zu sorgen, dass nicht am Ende noch
die Kranken, die Kinder, die Schwachen, die, die sowieso
schon den größten Preis zu zahlen haben, sterben und die
Belasteten sind. Ich hoffe, dass in Istanbul wirklich alle
diese Signale verstanden haben.
({5})
Zum Schluss: Ja, es geht nicht nur um humanitäre
Hilfe. Sie kann die politischen Lösungen nicht ersetzen.
Aber auch hier stelle ich mich sehr selbstbewusst vor sie.
Denn ob es nun Syrien ist, ob es die Ukraine ist, ob es
Libyen ist, wir bemühen uns überall - nicht nur aus der
Ferne, sondern in aktiver Teilnahme an den Verhandlungen - darum, dass Frieden und Stabilität nicht nur ein abstraktes Hoffnungsversprechen, sondern baldmöglichst
wieder eine konkrete Zusage für viele Menschen auf dem
Globus sein werden.
Ich danke Ihnen dafür, dass Sie uns in dieser Politik
entschieden und auch mit mancher konstruktiven Kritik
unterstützen .
({6})
Michael Brand erhält nun das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion .
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist mir heute bei dieser Debatte ein Anliegen, meine
Rede anders zu beginnen und einen Mann zu würdigen,
der es verdient hat, der nicht bloß von humanitärer Hilfe gesprochen, sondern konkret geholfen hat, und zwar
den Bedürftigsten, denjenigen, die ums nackte Überleben
kämpfen mussten.
Er war unabhängig, er war unbequem. Er war auch
umstritten, rastlos, oft unkonventionell und kompromisslos, aber immer hatte er den einzelnen Menschen im
Blick. Es waren vermutlich gerade diese Eigenschaften,
die auch notwendig waren, dass er dort helfen konnte,
wo noch niemand oder nie ein Helfer war. Es waren sein
Charakter und seine Haltung, die es tatsächlich geschafft
haben, den öffentlichen Fokus auf weggeblendete Orte
zu werfen und - das ist das Wichtigste - Menschenleben
zu retten .
Rupert Neudeck, der vor drei Tagen gestorben ist, war
ein humanitärer Kämpfer. Er war ein Kämpfer für die
Schwachen, ein kompromissloser Menschenfreund, ein
Überzeugungstäter der guten Taten. Ich erinnere mich gut
daran, als ich ihn mit Anfang 20 kennenlernte. Ich war
damals bei einer Menschenrechtsorganisation in Bosnien-Herzegowina engagiert. Ich lernte ihn in Flüchtlingslagern in Albanien und in Mazedonien kennen. Ich erinnere mich an ein Ereignis. Es muss kurz vor Ostern 1999
in der Grenzstadt Blace in Mazedonien gewesen sein, als
Hunderttausende von Flüchtlingen aus dem Kosovo dorthin vertrieben wurden. Der UNHCR hatte gesagt: Wir legen nach Ostern richtig los, weil jetzt die Feiertage sind.
Rupert Neudeck stand dort fassungslos im Schlamm und
sagte: Das darf alles nicht wahr sein. - Das war gleichzeitig der Antrieb, zu sagen: Wir packen jetzt hier an. Wir
können es uns doch nicht ernsthaft leisten, jetzt in Urlaub
zu gehen, wenn die Not am größten ist. Rupert Neudeck
hat auf konkrete Vorschläge, wenn zum Beispiel, was
oft geschieht, gesagt wurde: „Man müsste mal dies tun“
oder: „Man sollte mal jenes tun“, meist geantwortet: Warum fangen wir nicht einfach damit an?
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, er hat sich auch in
die aktuelle Flüchtlingsdebatte eingemischt, manchmal
auch alle politischen Lager überrascht. Das war auch der
Fall, als er kürzlich sagte:
Ich möchte nicht, dass Menschen für die Reinheit
meines pazifistischen Gewissens sterben.
Auch das hat manche irritiert. Sicher hätte er auch zu der
heutigen Debatte manches zu sagen - wahrscheinlich
auch manches Kopfschütteln. Lieber Rupert: Für alles,
was du getan hast, ein herzliches „Vergelts Gott“!
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Humanitäre
Weltgipfel war - ich zitiere - „irgendwie doch mehr als
Blabla“. So hat das Ereignis ein deutscher Journalist in
Istanbul kommentiert. Er hat recht: Man darf den Gipfel nicht überhöhen, aber man darf ihn eben auch nicht
kleinreden. Über 170 Staaten und rund 600 NGOs sind
dem Ruf des UN-Generalsekretärs Ban Ki-moon in der
letzten Woche gefolgt. Auch ich durfte als Vorsitzender
des für humanitäre Hilfe zuständigen Bundestagsausschusses der deutschen Delegation angehören.
({2})
Der Humanitäre Weltgipfel war eine Premiere. Und:
Ja, er war auch bitter nötig. Nie gab es mehr Menschen,
die Hilfe zum Überleben brauchen, nämlich 125 Millionen Menschen, davon 60 Millionen, die auf der Flucht
sind. Das ist die größte Zahl seit dem Zweiten Weltkrieg.
Angesichts zahlreicher und vor allen Dingen - lieber
Herr Koenigs, Sie haben das gesagt - langandauernder
Krisen und Katastrophen verzeichnen wir einen stark
anwachsenden Bedarf bei der Finanzierung humanitärer
Hilfe.
Beim Umgang mit dieser Katastrophe geht es um
nicht weniger als um einen Paradigmenwechsel. Die
Perspektive der humanitären Hilfe muss sich künftig
noch viel stärker verändern: von einer rein reaktiven Hilfeleistung nach einer Krise zu einem vorausschauenden
Handeln zur Vermeidung von Krisen. Wir begrüßen sehr,
dass die Bundesregierung hier wichtige Schritte getan
hat, um sich auf diese Zäsur einzustellen. Der Ausschuss
für Menschenrechte und humanitäre Hilfe hat in dieser
Wahlperiode vielfache Initiativen ergriffen - in öffentlichen Anhörungen und Expertengesprächen, national und
international -, zu den Qualitätsstandards für die humanitäre Hilfe und auch jetzt zum Humanitären Weltgipfel
und seinen Folgen.
Dass Deutschland in Istanbul mit der Bundeskanzlerin, dem Außenminister und dem Entwicklungsminister
hochrangig vertreten war, unterstreicht, dass die Dringlichkeit der Herausforderungen jedenfalls dort inzwischen angekommen ist . Dass aber die erste Reihe der
anderen europäischen Regierungen durch Abwesenheit
geglänzt hat - und das, obwohl wir in Europa eigentlich
alle gemeinsam das größte Interesse haben sollten, zu
gemeinsamen Lösungen zu kommen -, genauso wie die
Vetomächte, kann ich nur als kurzsichtig und ignorant
bezeichnen .
Die Initiative für diesen Gipfel war und ist richtig,
weil er bereits in der Vorbereitung einen dringend notwendigen Prozess der Veränderung in einer sich dynamisch verändernden Welt angestoßen hat.
Gelöst ist nichts. Umso mehr kommt es jetzt, nach
Istanbul, darauf an, gemeinsam konkrete Schritt umzusetzen. VENRO, der Verband Entwicklungspolitik und
Humanitäre Hilfe deutscher Nichtregierungsorganisationen, hat recht: Das humanitäre System ist in seiner
derzeitigen Struktur den gewaltigen Herausforderungen
nicht gewachsen. Es ist unterfinanziert, agiert zu schwerfällig und zentralisiert. Wir brauchen deshalb - da stimme ich mit dem Kollegen Koenigs wieder überein - eine
stärkere Dezentralisierung und Lokalisierung humanitärer Hilfe.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, was muss eigentlich
noch passieren, dass nach großspurigen Ankündigungen
auf internationalen Geberkonferenzen das zugesagte
Geld auch dort ankommt, wo es am nötigsten gebraucht
wird? Ich glaube, der Humanitäre Weltgipfel muss als
Ausgangspunkt für eine konkrete und umfassende Reform des humanitären Systems genutzt werden. Wir alle
müssen die Krise zum Wendepunkt machen und sie auch
als Chance sehen, die Ursachen nicht länger und konsequent zu ignorieren.
Niemand sollte sich einbilden, dass sich die Krisen
von allein erledigen, dass man sie aussitzen könnte und
es möglich wäre, so weiterzumachen wie bisher. Dass es
so weit kommen konnte, zeigt auch, wo die Versäumnisse liegen. Jeder erinnert sich an den Dezember 2014 der frühere UN-Flüchtlingskommissar Guterres hat es ja
erwähnt -: Die Einstellung des World-Food-Programms
für 1,7 Millionen Flüchtlinge war der eigentliche Auslöser für die Fluchtwelle. Wahr ist doch: Massenhaft Chancen, gnadenlos vergeigt! Viel zu lange haben wir alle akzeptiert, dass man Fakten einfach ignoriert .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, niemand sollte heute - das ist eine andere Seite - unterschätzen, wie groß
auch die Chancen sind, etwas zu bewirken, wenn diese
Ursachen für Armut, Perspektivlosigkeit und Flucht aktiv, rechtzeitig und mit den richtigen Mitteln bekämpft
werden. Der globale Bildungsfonds für Kinderflüchtlinge ist ein wichtiger Start. Eine verlorene Generation dürfen wir einfach nicht akzeptieren. Das hieße, sich an den
jungen Menschen zu versündigen. Auch das wird eine
Riesenherausforderung werden .
Wir dürfen die Augen vor den Realitäten nicht verschließen, und wir müssen nach Istanbul zäh, aber auch
mit Tempo für Veränderungen arbeiten. Ich nenne hier
nur drei Punkte:
Erstens. Es braucht mehr Geld, eine bessere Organisation, Qualität und Effizienz.
Zweitens . Wir müssen raus aus dem permanenten
Krisenmodus und zu einer vorausschauenden Hilfe kommen, die auch neue Akteure, wie die Privatwirtschaft,
einbindet .
Drittens. Gerade diejenigen, die die Hilfe am nötigsten brauchen, erreicht sie oftmals nicht - ich denke an
die Menschen in Syrien, im Jemen und im Südsudan -,
weil es keinen sicheren Zugang gibt. Das darf bei aller
Gipfelrhetorik nicht verdrängt werden.
Der EU-Kommissar für humanitäre Hilfe und Krisenmanagement, Christos Stylianides, hat mir gestern im
Gespräch hier im Deutschen Bundestag gesagt, dass es in
Istanbul über 1 000 Selbstverpflichtungen gegeben hat.
Versprochen wurde in der Vergangenheit genug . Jetzt
ist endlich Umsetzung angesagt. Auch deshalb wäre es
richtig und notwendig, dass es einen Überprüfungsmechanismus gibt, zum Beispiel ein internationales Monitoring-System mit Berichtspflichten. Auch das ist für mich
eine Konsequenz aus diesem Gipfel in Istanbul. Jeder
muss erfahren, wer seine Zusagen eben nicht eingehalten
und gebrochen hat, und jeder muss es wissen, wenn außer
Worten nichts geblieben ist und die nächste Katastrophe
mit einem Achselzucken zur Kenntnis genommen wird.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn aus Worten
Taten werden, dann wird der Humanitäre Weltgipfel ein
großer Erfolg. Um es mit Rupert Neudeck zu sagen: Warum fangen wir nicht einfach damit an?
({3})
Der Kollege Frank Schwabe spricht als Nächster für
die SPD .
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Verehrte Damen und Herren! Ich glaube in der Tat, man
muss zunächst einmal mit einem Lob anfangen. Ich
kann nämlich die Kritik daran, wer alles aus Deutschland nach Istanbul gereist ist, nicht nachvollziehen. Es
wurde gesagt, das wäre zu viel der Würde. Wie wäre es
denn eigentlich andersherum gewesen? Was wäre denn
gewesen, wenn die Bundeskanzlerin, der Außenminister
und der Entwicklungsminister bei einem solch zentralen
Thema nicht nach Istanbul gefahren wären? Dann wäre
die Kritik wahrscheinlich genau andersherum gewesen.
Sie wissen ganz genau: Die Vorbereitung begann vor
drei Jahren und mehr. Damals war nicht absehbar, welche
Debatten wir heute rund um die Türkei und um Istanbul führen werden. Insofern war es richtig - das ist auch
wahrgenommen worden -, dass Deutschland dort hochrangig vertreten war .
({0})
Darauf können wir uns nicht ausruhen, aber es ist gut,
dass Deutschland weltweit der drittgrößte Geber ist, und
wir werden uns bemühen - Frau Steinbach und ich haben
darüber schon geredet -, dass wir das Ganze auch haushalterisch entsprechend absichern.
({1})
Es ist auch gut, dass Deutschland - so nehme ich das jedenfalls wahr; das ist ja gerade auch gewürdigt worden im internationalen Konzert der Impulsgeber dafür war,
das humanitäre Hilfssystem auf eine andere Grundlage,
eine qualifizierte Basis, zu stellen.
Es war keine Geberkonferenz, über die wir hier reden .
Trotzdem muss man über Finanzen sprechen. Das will
ich gleich auch noch tun.
Vorab will ich aber das unterstreichen, was viele
Kolleginnen und Kollegen hier gesagt haben: In allem
Schlechten - gemeint ist die schwierige weltweite humanitäre Lage - liegt auch etwas Gutes. Es ist die Chance wir haben ein neues Momentum -, ganz anders über die
humanitäre Hilfe für die 60 Millionen Flüchtlinge, von
denen Sie gesprochen haben, und für die 100 bis 200 Millionen Menschen - je nachdem, wie man das sieht -, die
auf humanitäre Hilfe angewiesen sind, zu reden.
Sich um die humanitäre Hilfe zu kümmern, ist eben
nicht „Nice to have“, also irgendetwas, was man auch
noch einmal machen kann, sondern es geht um das Leben und die Würde von Menschen. Das allein wäre schon
Grund genug. Es geht aber eben auch um knallharte Außen- und Sicherheitspolitik. Es geht darum, ob bestimmte
Regionen der Welt dauerhaft stabilisiert oder destabilisiert werden. Darüber reden wir bei der humanitären Hilfe im Kern.
Wir reden auch über Fluchtbewegungen, die ausgelöst
werden, wenn es keine ausreichende humanitäre Hilfe
gibt, und wir reden darüber, was eigentlich mit den Kindern passiert, die zur Schule gehen müssen, das zurzeit
aber nicht können. Sie sind doch wirklich das Futter für
diejenigen, die sich terroristische Vorhaben auf der ganzen Welt vorgenommen haben. Auch das muss mit humanitärer Hilfe unterbunden werden.
({2})
Der Humanitäre Weltgipfel kann nur ein erster Auftakt
für eine solche intensivierte Debatte sein. Er funktioniert
eben nicht wie Klimakonferenzen, bei denen wir am
Ende einen Mechanismus haben und Dinge völkerrechtlich verbindlich verabredet werden, sondern der Gipfel
funktioniert im Moment nur über Einzelverabredungen,
die hier aufgezählt worden sind, und darüber, dass man
sich eine Liste von Themen vornimmt, über die man reden will. Dazu ist auch ein Papier verabschiedet worden,
das sogenannte Grand Bargain, also der große Deal oder
wie auch immer man das übersetzen will, in dem die Dinge, die Sie gerade benannt haben, stehen .
Die Fragen sind: Wie kann man humanitäre Hilfe
mit Entwicklungszusammenarbeit verzahnen, nicht verschmelzen? Verschmelzen funktioniert nicht, weil die
Prinzipien unterschiedlich sind. Wie kann man dabei helfen, dass Akteure, zum Beispiel die Geflüchteten, in die
Entscheidungsstrukturen eines Systems humanitärer Hilfe hineingenommen werden? Wie können wir lokale Organisationen stärken? Wie können wir eine mehrjährige
Finanzierung organisieren? Wie können wir Konfliktprävention entsprechend stärken? Das Entscheidende wird
sein, dass auf diesen Gipfel etwas folgt und es entsprechend weitergeht. Die Struktur, wie das weitergehen soll,
ist noch nicht klar. Das muss aber im Laufe dieses Jahres
klar werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, was mich immer
wieder fassungslos macht, ist die Tatsache, wie stark dieses humanitäre Hilfssystem unterfinanziert ist. Trotz allen
Lobs über die London-Konferenz haben wir im Rahmen
der Hilfe für Flüchtlinge und für geflüchtete Menschen
aus Syrien eine Unterfinanzierung. Wir haben eine dramatische Unterfinanzierung bei der humanitären Hilfe im
Südsudan, im Jemen und bei dem El-Niño-Phänomen.
Wir haben bei der Finanzierung ein Loch von mindestens
15 Milliarden US-Dollar. Das ist mehr als die Hälfte dessen, was wir in der humanitären Hilfe brauchen.
Ich will die letzten Sekunden meiner Redezeit, die ich
noch habe, dafür nutzen, klarzumachen, wie wenig Geld
das am Ende ist. Man muss wirklich mit dem Begriff „Peanuts“ aufpassen, aber das sind Peanuts. Dieses Geld ist
ein Zwanzigstel von dem, was die weltweit 100 größten
Rüstungsfirmen jedes Jahr mit Waffenverkäufen umsetzen. Es ist weniger als das, was Großbritannien und die
Türkei für den Bau eines neuen Atomkraftwerks planen.
Es ist nur die Hälfte dessen, was zum Beispiel Herr Zuckerberg besitzt, der sich immer wieder wohltätig geriert.
Es ist eben - das müssen wir uns klarmachen - bei
allem Lob über die deutsche Rolle weniger als die Hälfte
dessen, was für den Verteidigungsetat dieses Landes zur
Verfügung steht. Deswegen haben wir als Bundestag die
Aufgabe, uns zum einen für das zu loben, was wir in die
Haushalte eingestellt haben, aber zum anderen bei den
Haushaltsberatungen darauf zu achten, dass es zumindest
dabei bleibt und dass wir weitere Impulse finanzieller Art
in das internationale System geben können, damit wir
den unerträglichen Zustand der Unterfinanzierung beenden und dafür sorgen, dass Terroristen die Nahrung entzogen wird . Das ist unsere gemeinsame Verantwortung .
Vielen Dank.
({3})
Der Kollege Dr. Volker Ullrich spricht als Nächster für
die CDU/CSU .
({0})
Frank Schwabe
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Kriegerische Auseinandersetzungen und Naturkatastrophen verursachen großes menschliches Leid. Der
Konflikt in Syrien und im Nord-Irak hat Millionen von
Menschen zu heimatlosen Flüchtlingen gemacht. Naturkatastrophen wie Erdbeben in Haiti und Nepal verlangen
nach schneller Hilfe. Hungernde Menschen in der Sahelzone benötigen Nahrung und sauberes Wasser. Über
130 Millionen Menschen sind derzeit unmittelbar auf humanitäre Hilfe angewiesen.
Das Leid und die Verzweiflung dieser Menschen sind
durch die Bilder spürbar, die uns täglich erreichen. Die
Antwort darauf, wie wir mit dieser Situation umzugehen
haben, hat uns der in dieser Woche verstorbene Rupert
Neudeck gegeben, an den auch ich im Rahmen dieser
Rede erinnern möchte. Er sagte:
... wir dürfen uns keine Verzweiflung leisten. Verzweiflung ist eine Luxushaltung für einen Humanitären. Wir müssen immer überlegen, wie wir Wege
zu den Menschen finden.
Diese Wege zu Menschen in der Not ist die humanitäre
Hilfe. Wir leisten sie, weil unser Menschenbild uns verpflichtet, solidarisch zu sein. Wir leisten sie gerne, weil
wir überzeugt sind, dass Mitmenschlichkeit ein Schlüssel
zu einer besseren Welt ist.
Der Bedarf an humanitärer Hilfe beträgt derzeit etwa
20 Milliarden Euro pro Jahr. Dieses Geld wird dringend
benötigt: für Nahrung, sauberes Wasser, ein Dach über
dem Kopf, Babynahrung und Medikamente. Es steht aber
nicht in ausreichendem Maß zur Verfügung. Allein 2015
blieb ein Betrag von 7 Milliarden Euro ungedeckt. Meine Damen und Herren, es ist nicht hinnehmbar, wie Leid
noch vergrößert wird, weil die Finanzierung der elementaren humanitären Hilfe nicht sichergestellt werden kann.
({0})
Wir blicken auf die Flüchtlingslage in Jordanien. Die
Menschen dort haben erfahren, was es bedeutet, wenn
Gelder für Essensrationen drastisch gekürzt werden. Ich
formuliere klar und deutlich: Dieses Beispiel muss uns
vor Augen führen: So etwas darf und soll nicht mehr vorkommen .
Die Frage, die sich die wohlhabenden Staaten dieser
Welt stellen müssen, ist eine ganz einfache: Wie kann es
sein, dass für viele Dinge Geld vorhanden ist, sich aber
oftmals der Eindruck erschließt, dass die Not von Menschen nicht die oberste Priorität hat?
({1})
Wie kann es sein, dass Hilfsgelder erst zugesagt und
dann entgegen der Abrede nicht ausgezahlt werden?
Meine Damen und Herren, welchen Eindruck macht das
auf Hilfsorganisationen, die sich mit ihren Freiwilligen
in die Krisengebiete der Welt bewegen und dann feststellen, dass ihre elementare Finanzierung nicht sichergestellt werden kann?
Wir brauchen deswegen eine Reform der humanitären
Hilfe mit folgenden Eckpunkten:
Erstens. Die Gelder müssen deutlich erhöht und im
vollen zugesagten Umfang unmittelbar zur Verfügung
stehen .
Zweitens . Wir brauchen funktionierende Mechanismen der humanitären Hilfe, welche eng mit langfristigen
Projekten der Entwicklungszusammenarbeit verknüpft
sind .
Unser Land geht, wie ich meine, mit gutem Beispiel
voran. Auf der Geberkonferenz in London sind bis 2018
2,3 Milliarden Euro anvisiert worden. Für das Welternährungsprogramm werden wir über 500 Millionen Euro
beisteuern. Auf dem Gipfel in Istanbul hat Deutschland
einen Betrag von 50 Millionen Euro für den UN-Nothilfefonds zugesagt .
Es gab noch keinen Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung wie Gerd Müller,
der so intensiv und nachhaltig für die Erhöhung der Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit geworben hat.
({2})
Das ist gelebte Verantwortung. Dafür sagen wir herzlichen Dank .
({3})
Wir brauchen neben der Stärkung der humanitären
Hilfe auch eine Stärkung des Rechts. Wir erleben derzeit
einen Zustand der Krise des humanitären Völkerrechts.
Ein elementarer Grundsatz des humanitären Völkerrechts besteht darin, dass jedem geholfen werden muss
und kann, unabhängig von Kultur, Religion, Herkunft
oder einer etwaigen Angehörigkeit zu einer Konfliktpartei, und dass die Helfer ungefährdet ihre Arbeit verrichten können.
Leider wird dieses Prinzip zunehmend gebrochen. Wir
müssen erleben, dass Krankenhäuser bombardiert und
Ärzte und Pflegepersonal angegriffen und verletzt werden oder gar ihr Leben verlieren. Wir müssen erleben,
dass Kriegsflüchtlinge zur Zielscheibe werden und selbst
ihre Zufluchtsorte nicht verschont bleiben.
Am 28. April dieses Jahres sind mindestens 30 Menschen bei der Bombardierung einer Klinik im syrischen
Aleppo ums Leben gekommen. Am 5. Mai ist ein Flüchtlingslager in der Provinz Idlib bombardiert worden.
Mehr als 28 Menschen verloren dabei ihr Leben. Diese
Angriffe sind als das zu bezeichnen, was sie sind: Es sind
Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Die Täter müssen der Rechenschaft zugeführt werden. Es wäre auch notwendig gewesen, dass die Weltgemeinschaft auf diesen Verstoß gegen das humanitäre
Völkerrecht eine noch deutlichere Antwort gefunden hätte. Diese Antwort wäre notwendig, um eine Geltung und
Wiederherstellung des Rechts zu ermöglichen.
Meine Damen und Herren, wir werden die Ergebnisse
von Istanbul wohlwollend und konstruktiv begleiten. Wir
wissen, dass dieser Gipfel nicht das Ende oder das Ergebnis einer langen Wegstrecke ist. Er ist vielmehr der Anfang, um durch unsere Generation Menschlichkeit und
Hilfe für die Schwachen zu erreichen.
Ich darf zum Schluss dieser Debatte noch einmal an
Rupert Neudeck erinnern, der unlängst gefragt wurde,
wie er denn die Kraft aufbringe, zu helfen. Da antwortete
er - ich zitiere ihn -:
Es ist ein Geschenk, in einer so freien Gesellschaft
zu leben. Ich will den Menschen etwas zurückgeben .
Inspiriert habe ihn dabei das Gleichnis vom barmherzigen Samariter . Diese Geschichte - so sagte er - trete ihm
immer wieder in den Bauch, und sagt: Du bist zuständig
für die Not anderer Menschen, jetzt und sofort.
In diesem Sinne, meine Damen und Herren, lassen Sie
uns das Bewusstsein schaffen, und lassen Sie uns handeln!
Herzlichen Dank.
({4})
Zum Abschluss dieser Aussprache spricht die Kollegin Dr. Ute Finckh-Krämer für die SPD.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer oben auf den Tribünen! Die letzte Rednerin in der Debatte hat immer die
Chance, auf das einzugehen, was die Vorrednerinnen und
Vorredner gesagt haben, und hat die Möglichkeit, auf das
hinzuweisen, was jetzt nach der Debatte kommt. Das will
ich gerne tun .
Das eine ist - das muss hier, glaube ich, noch einmal
gesagt werden -, dass ein so großer Gipfel mit einem so
langen Vorlauf, wie er in Istanbul stattgefunden hat, nicht
aufgrund aktueller politischer Entwicklungen in eine andere Stadt umgelegt werden kann. Das heißt, die Alternative wäre gewesen, den Humanitären Weltgipfel abzusagen. Ich glaube, wir sind alle froh, dass er stattgefunden
hat: wegen der vielen Tausend Menschen, die sich darauf vorbereitet haben, wegen der Vereinbarungen, die
dort getroffen wurden, wegen der 170 Verpflichtungen,
die Deutschland eingegangen ist, von denen uns vorgestern der Vertreter des Auswärtigen Amtes im Menschenrechtsausschuss berichtet hat und die wir im Menschenrechtsausschuss zusammen mit dem Antrag, der heute
vorgelegt und diskutiert worden ist, natürlich analysieren
und diskutieren werden .
Insofern ist es richtig und wichtig, dass der Gipfel
stattgefunden hat, auch wenn man rückblickend sagen
würde, angesichts der aktuellen Entwicklungen wäre
vielleicht ein anderer Ort besser gewesen. Es kommt aber
noch der Flüchtlingsgipfel in New York am 19. September. Ich hoffe, dass bis dahin in New York nichts passiert, was dann diesen Tagungsort auch irgendwie infrage
stellt. Insofern: Es geht weiter.
Es geht auch hier im Bundestag weiter . Es wurde
schon gesagt, dass wir sehen müssen, dass wir weiterhin
so viel Geld für humanitäre Hilfe zur Verfügung stellen,
wie wir es in diesem Jahr getan haben. Darauf können wir
in den Beratungen des Ausschusses für Menschenrechte
und humanitäre Hilfe achten, und da sind vor allem auch
unsere Haushälter gefragt. Wir werden als Bundestag natürlich darauf achten, dass die Milliarden Euro, die von
der EU der Türkei zugesagt wurden, nicht irgendwo von
der türkischen Regierung vereinnahmt werden, sondern
dass diese Milliarden Euro in konkrete Projekte für die
2,7 Millionen Flüchtlinge, die in der Türkei sind, eingesetzt werden .
({0})
Wir können auch weiterhin, wie wir das bisher zum
Teil schon getan haben, die Arbeit des Koordinierungsausschusses Humanitäre Hilfe begleiten, der ja eine fast
einmalige Organisation ist, in der staatliche und nichtstaatliche Akteure der humanitären Hilfe in Deutschland
zusammenarbeiten. Wir können natürlich immer wieder
die Bundesregierung befragen, was denn aus den Verpflichtungen, die sie in Istanbul und auf anderen Konferenzen eingegangen ist, geworden ist. Und wir können
den einen Punkt weiterverfolgen, der im Chair’s Summary des Humanitären Weltgipfels vorkommt und der
mich sehr gefreut hat, nämlich: Wie können eigentlich
Konflikte, die zu Not, zu Bedarf an humanitärer Hilfe
führen, friedlich beigelegt werden? Wie kann die Eskalation von Konflikten zu Krieg und Bürgerkrieg verhindert
werden? Wie können Friedensprozesse in Ländern, wo es
schon bewaffnete Konflikte gibt, unterstützt werden mit
diplomatischen Mitteln, aber auch mit Mitteln der Mediation? Wie können die Vereinten Nationen unterstützt
werden, die über eine nicht übermäßig gut ausgestattete
Mediation Support Unit verfügen? Wie können die Friedensprozesse unterstützt werden, an denen Deutschland
im Augenblick beteiligt ist, etwa in Libyen oder in Syrien? Wie können lokale Organisationen einbezogen werden, um Friedensprozesse zu unterstützen?
In diesem Jahr haben wir im Rahmen der OSZE-Präsidentschaft die Chance, ein Land zu unterstützen, das
noch gar nicht genannt wurde, nämlich die Ukraine, wo
es insgesamt 1,7 Millionen Flüchtlinge und Binnenvertriebene gibt, die zwar nicht alle, aber teilweise auf humanitäre Hilfe, Mittel der Übergangshilfe oder Mittel
der Entwicklungszusammenarbeit angewiesen sind. Wir
können zudem versuchen, langanhaltende Konflikte zu
beenden, bei denen noch immer Menschen als Vertriebene oder Flüchtlinge gelten, etwa den in Berg-Karabach.
Wir haben also noch eine Menge zu tun und umzusetzen . Die Arbeit hat erst begonnen . Wir werden uns ihr
stellen.
({1})
Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/8619 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Kein Widerspruch erhebt sich. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 28 auf:
Vereinbarte Debatte
Weiterentwicklung der Exzellenzinitiative
und Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. - Widerspruch
höre ich keinen. Dann ist diese Redezeit so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin das Wort für die Bundesregierung Bundesministerin Dr . Johanna Wanka .
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir diskutieren in Deutschland über viele Dinge,
zum Beispiel sehr oft über das Thema Rente. Wie wird
sie sich entwickeln? In welchem Alter kann man in Rente gehen? Wie sieht es in 10 oder 15 Jahren aus? Können wir uns toll positionieren? Können wir Beschlüsse
fassen? Aber das alles ist Makulatur, wenn wir es nicht
schaffen, zu diesem Zeitpunkt wirtschaftlich leistungsfähig zu sein; denn es handelt sich um eine umlageorientierte Rente . Momentan sind wir in einer sehr guten
Situation. Wir sind die viertstärkste Industrienation der
Welt. Aber das bleibt nicht automatisch so. Deswegen
muss man vorausschauend denken .
Was bzw. wer sind die Basis für unsere wirtschaftliche Leistungsfähigkeit? Das sind Innovationskraft und
Fachkräfte. Die Hochschulen, das Herzstück des Wissenschaftssystems, sind für akademische Fachkräfte und
Innovationen in herausragendem Maße verantwortlich.
Man kann nicht einfach sagen: Es läuft gut, und das lassen wir so. - Vielmehr müssen wir überlegen, welches
die Herausforderungen der Zukunft sind und was man
ändern und strategisch bedenken muss. Genau das haben
wir getan . Unsere Ergebnisse, über die wir heute diskutieren, liegen Ihnen als Gesamtpaket vor.
Da ist zum einen die Exzellenzinitiative. Wir hatten schon vor 20 Jahren, als viele Wirtschaftsführer
das anders gesehen haben, eine starke, leistungsfähige
Hochschullandschaft. Aber wir brauchten und brauchen
internationale Spitzenforschung; denn eine sichtbare
Spitzenforschung ist für die Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes entscheidend. Wir brauchen nicht nur Breite,
sondern auch Spitze .
({0})
Damals, als wir vor rund zehn Jahren zum ersten Mal
über eine Exzellenzinitiative geredet haben, war ich ein
intensiver Verfechter in der KMK, Herr Rossmann, nicht
nur aufzulisten, welche Universitäten gut und spitze sind,
sondern auch wissenschaftsadäquat zu entscheiden. Wir
alle wissen, dass es eine Hochschule geben kann, die in
einem Bereich spitze ist, aber nicht in allen. Deswegen
sind Exzellenzcluster für uns - damit haben wir uns damals auch durchgesetzt - das Wissenschaftsadäquate;
man kann ihre Ergebnisse gut messen . Man kann sehr gut
einschätzen, ob die Hochschule zum Beispiel im Bereich
der Biotechnologie Weltspitze ist oder etwas anderes.
Deswegen ist es für mich folgerichtig, dass wir in der
Nachfolge der Exzellenzinitiative jetzt den Exzellenzclustern den größten finanziellen Betrag einräumen. Von
den 533 Millionen Euro jährlich gehen 385 Millionen
Euro an die Exzellenzcluster. Es wird 45 bis 50 Exzellenzcluster geben. Man kann sich fragen: Sind das nicht
zu viel? Wir haben eine unwahrscheinliche Breite in vielen Fächern. Deswegen glaube ich, dass das eine gut Zahl
ist, auch was die Finanzen betrifft .
Wir haben eine Empfehlung der Imboden-Kommission, für die ich große Sympathie hatte, umgesetzt. Das
heißt, wenn eine Hochschule einen Cluster einwirbt,
dann bekommt die Hochschulleitung 1 Million Euro
jährlich, für das zweite 750 000 Euro und für das dritte
500 000 Euro. Die Hochschulleitung kann diese Mittel
zur strategischen Profilierung nicht nur des Clusters, sondern der Hochschule insgesamt einsetzen. Wir wollen dezidiert auch kleine Cluster. Das war auch bisher möglich.
Das betrifft zum Beispiel die Geisteswissenschaften. Es
müssen nicht immer die großen Klopper sein. Der universitäre Zuschlag ist völlig unabhängig vom Finanzvolumen des Clusters, das man einwirbt.
Das Besondere ist, dass wir nicht nur für sieben Jahre, sondern dauerhaft Spitzenforschung in Deutschland
fördern.
({1})
Das heißt, dass es nach sieben Jahren einen neuen Wettbewerb gibt. Alle Cluster müssen sich neu orientieren
und neu bewerben .
Die Exzellenzuniversitäten müssen als notwendige
Voraussetzung zwei Exzellenzcluster haben, im Verbund,
der möglich ist, drei. Wir haben neue Möglichkeiten geschaffen und sind bereit, als Bund dauerhaft institutionell
zu fördern. Wir binden diese Förderung aber an strikte
Voraussetzungen . Eine Voraussetzung ist, dass man wieder zwei Cluster einwirbt. Wenn man dieses nicht tut, ist
man klar aus der Riege heraus. Wenn man es aber schafft
und zwei Cluster einwirbt, ist man nicht automatisch
weiter im Geschäft, sondern dann wird evaluiert, ob das,
was die Hochschule in den letzten Jahren geleistet hat,
wirklich höchste wissenschaftliche Exzellenz ist.
Das ist das Prinzip, nach dem wir bei der Max-PlanckGesellschaft vorgehen. Die deutsche Wissenschaftsinstitution, die im Ranking am höchsten steht - zweiter Platz
nach Harvard -, ist die Max-Planck-Gesellschaft. Wir
wollen aber erreichen, dass es nicht nur als Qualitätskriterium gilt, aus den USA oder anderen Teilen der Welt
zur Max-Planck-Gesellschaft zu gehen, sondern auch zu
einigen deutschen Universitäten.
({2})
Man kann noch so viele Programme auflegen, aber
wenn es keine Wissenschaftler, gerade junge Leute, gibt,
die sich engagieren, die Ideen haben und gerne in dem
System arbeiten, dann wird unsere Strategie nicht effektiv umgesetzt werden . Deswegen ist es wichtig, gute Arbeitsbedingungen und gute Karrierechancen im Wissenschaftssystem zu bieten . Wir haben einen ersten Schritt
dazu getan, indem wir die BAföG-Mittel zu 100 Prozent
übernommen haben. Das sind 1,17 Milliarden Euro jährlich, die jetzt den Ländern zur Verfügung stehen.
Daraus kann man mehr als 10 000 Stellen finanzieren,
je nachdem, wie man sie ausstattet. Der Wissenschaftsrat
hat seinerzeit gefordert, bis 2023 einige Tausend Stellen
zu schaffen. Wir haben Mittel zur Verfügung gestellt, mit
denen wesentlich mehr Stellen geschaffen werden können .
({3})
Die Mittel werden unterschiedlich genutzt, aber man
kann beruhigt sein: Das Geld gibt es unbefristet. Wenn
ein Land in dieser Richtung noch nicht gut entschieden
hat, kann es sich noch im nächsten Jahr oder in zwei Jahren entscheiden. Das ist ohne Weiteres möglich.
({4})
Dieser Part ist von uns geleistet worden. Jetzt kommt
ein nächster Schritt, um Planungssicherheit zu schaffen
und Karrierechancen berechenbar zu machen. Das ist das
Tenure-Track-Programm .
Ich bin den Koalitionären sehr dankbar
({5})
- genau -, dass sie sich entschieden haben, das mit einem
Koalitionsbeschluss zu bekräftigen. Wir kommen darauf
zurück, wenn es ums Geld geht. Aber ich bin sehr froh,
dass wir da an einem Strang ziehen .
Als damals die Juniorprofessur eingeführt wurde, gab
es viele Widerstände, gerade auch aus der Parteirichtung,
aus der ich komme . Ich war von Anfang an ein Verfechter
der Juniorprofessur. Die hat sich auch bewährt. Gerade
junge Frauen haben bei der Juniorprofessur bessere Chancen als anderswo. Aber das Tenure-Track-Programm ist
etwas anderes . Bei einer Juniorprofessur hat man sechs
Jahre Zeit, um unabhängig und selbstständig zu forschen
und damit alle Voraussetzungen zu erwerben, um sich auf
eine Professorenstelle zu bewerben. Man hat zwar beste
Voraussetzungen, aber ansonsten keine Sicherheit .
Bei Tenure Track ist es so: Es gibt ein Ausschreibungsverfahren. Man bewirbt sich. Nach sechs Jahren
hat man Rechtssicherheit; da hat man eine unbefristete
Stelle, falls man die nötige Leistung erbringt. Das ist also
ein anderes System. Weil es planbar ist, wird das dazu
führen, dass junge Leute, die jetzt woanders sind, zum
Teil auf schlechter dotierten, aber unbefristeten Stellen,
zurückkommen .
({6})
Das ist ein wichtiger Schritt .
Wir haben daran eine Bedingung geknüpft . Das war
zwingend notwendig; denn keiner hier im Saal hat Lust,
1 Milliarde Euro für die Finanzierung eines Vorhabens
auszugeben, wenn am Ende der Stand wie zuvor ist . Deswegen unsere klare Forderung - berechenbar und genau
quantifiziert -: Durch Tenure Track muss es zusätzlich
1 000 Stellen geben. Berücksichtigt wurde dabei, dass
die Situation zum Beispiel in Sachsen und in Thüringen
etwas schwieriger ist. Trotzdem: Es muss 1 000 zusätzliche Stellen geben.
Nachhaltigkeit kommt darin zum Ausdruck, dass es
nicht reicht, eine Tenure-Track-Stelle auszuschreiben,
das nötige Geld für sechs plus zwei Jahre zu nehmen und
dann alles wie vorher laufen zu lassen; vielmehr müssen
diese 1 000 Stellen immer wieder ausgeschrieben werden,
sodass wir flächendeckend in das Tenure-Track-System
hereinkommen . Damit werden wir einen Strukturwandel - wieder ist der Bund der Impulsgeber - auslösen.
Das, glaube ich, ist wichtig.
({7})
Wenn die Forschungsergebnisse in den Hochschulen
gut sind und etwas Anwendungsorientiertes entstanden
ist, dann gelingt es auch, diese Ergebnisse in die Praxis
zu transferieren. Aber es gelingt nicht immer, und wir
verlieren noch an dieser Stelle. Deswegen ist es wichtig,
den Transfergedanken in den Hochschulen zu fördern.
Das Programm „Innovative Hochschule“ setzt genau darauf. Da geht es um technologische, aber auch um gesellschaftliche Innovationen. Da geht es nicht darum,
einen Transferbeauftragten zu haben - einen solchen
Beauftragten haben mittlerweile alle; und die machen
ihre Arbeit auch gut -, sondern es geht um neue Ideen,
ganzheitliche Konzepte, strategische Partnerschaften.
Wir wollen die Besten im innovativen Bereich. Dieses
Programm richtet sich insbesondere an Fachhochschulen
und an kleinere Universitäten. Auch diese Zielstellung ist
wichtig. Wir haben ja Hochschulen mit unterschiedlichen
Aufgaben .
Ich glaube, dass das Gesamtpaket, das wir vorgelegt
haben, kohärent ist. Es ist ein Paket, über das wir naturgemäß intensiv, das wir aber auch schnell diskutiert
haben, ein Paket, dem kein Wissenschaftsminister und
keine Wissenschaftsministerin widersprochen haben . Es
liegt jetzt auf dem Tisch der Ministerpräsidenten und der
Bundeskanzlerin, und dann, falls sie so entscheiden, wie
wir es uns wünschen, dann geht es los. Dann gibt es zwei
Monate später eine Ausschreibung für das Projekt „Innovative Hochschule“, dann stehen für alle, die jetzt in der
Exzellenzinitiative erfolgreich waren, Übergangsfinanzierungen für zwei Jahre zur Verfügung; das gilt auch für
die Graduiertenschulen. Und Ende 2019 startet dann die
Förderung der Exzellenzuniversitäten.
Ich denke, es ist insgesamt ein Signal, dass wir nicht
nur die außeruniversitären Einrichtungen und vieles andere schätzen, sondern dass wir auch den Hochschulen
wirklich ganz andere Möglichkeiten geben. Ich hoffe auf
Erfolg.
({8})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Nicole Gohlke,
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Heute
geht es also um die Pakte, die Bund und Länder zur Finanzierung von Vorhaben an den Hochschulen geplant
haben. Die Opposition hätte sich gerne einzeln und intensiver mit den verschiedenen Ansätzen auseinandergesetzt; denn diese Wissenschaftspakte sind ja keine Fußnoten und auch keine Kleinigkeit, sondern es geht um
Milliardenbeträge und darum, wie sie verteilt werden.
Wenn wir jetzt aber über alles zusammen diskutieren,
dann möchte ich gerne mit der Frage der Verhältnismäßigkeit beginnen; denn da hat die Bundesregierung aus
unserer Sicht wirklich den größten Nachholbedarf. Man
hat das Gefühl, die Regierung hat jedes Gespür für das
Verhältnis von Spitzen- und Breitenförderung verloren.
({0})
Sie macht Milliarden für die Elitenförderung locker, und
der große Rest wird am Katzentisch mit ein paar Almosen abgespeist .
({1})
Sie nennen das dann Elite und Exzellenz. Ich nenne das
verantwortungslos; denn es wird den Herausforderungen,
vor denen die Hochschulen stehen, einfach nicht gerecht.
Das ist das große Problem dieser Regierung.
({2})
Das große und ungelöste Problem an den Hochschulen heißt Unterfinanzierung, chronische und dauerhafte
Unterfinanzierung.
({3})
Ich gebe Ihnen gerne auch noch einmal einen Einblick in
die Situation vor Ort, falls die Regierung das jetzt gerade
aus den Augen verloren haben sollte.
Da ist zum einen die völlig prekäre soziale Infrastruktur. Der BAföG-Satz, der zum Oktober endlich einmal
erhöht wird, ist bereits zum Zeitpunkt seiner Erhöhung
wieder überholt und unzureichend.
({4})
Die Studierenden lernen in völlig überfüllten Seminaren,
Bibliotheken müssen ihre Öffnungszeiten einschränken,
und die Mensen sind so unterfinanziert, dass sie das Essen verteuern .
({5})
Das ist doch die Situation vor Ort.
({6})
Das zweite, seit Jahren ungelöste Problem ist die
schlechte Situation für die Beschäftigten und für die
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Ändern wird
sich daran erst etwas, wenn wirklich Geld in die Hand
genommen wird, um verlässliche Karrierewege und Dauerstellen in der Wissenschaft zu schaffen
({7})
durch die Einrichtung von zusätzlichen Professuren, aber
vor allem doch durch dauerhafte Stellen im Mittelbau.
({8})
Und was macht die Bundesregierung? Ehrlich gesagt,
Ihre Taktik ist: Scheuklappen an und weiter so, ein einfaches Weiter-so mit der Politik der befristeten Pakte statt
endlich ein Einstieg in eine verlässliche Grundfinanzierung .
({9})
Jetzt gibt es also drei Pakte: die Exzellenzinitiative
zur Förderung von wenigen Spitzenunis, einen Pakt zur
Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses an Universitäten und das Programm „Innovative Hochschule“
unter anderem für Fachhochschulen. Wenn Sie sich auch
noch so sehr bemühen, das jetzt als ausgewogenes Gesamtpaket zu verkaufen: Es ist das Gegenteil von ausgewogen. Es ist völlig aus dem Lot geraten.
({10})
5,4 Milliarden Euro für die Spitze, davon 30 Prozent für
nur zehn Eliteunis, und gerade einmal ein Fünftel dessen,
was Sie für die Spitzenförderung mobilisieren, für die
Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses:
({11})
Weniger als ein Zehntel der Summe bleibt dann für die
Forschung an Fachhochschulen.
({12})
Wer das als ausgewogen bezeichnet, der hat wirklich den
Schuss nicht gehört.
({13})
Ihre Milliarden, die Sie für die Exzellenzinitiative ausgeben, gehen auf Kosten der Breite, und das ist das Problem.
({14})
Der Bericht der Imboden-Kommission hat gerade sehr
differenziert deutlich gemacht, was so ein einseitiges
Förderprogramm wie die Exzellenzinitiative bedeutet.
Es wäre schön, wenn man sich mit den Befunden auch
einmal etwas detaillierter auseinandersetzen würde.
({15})
Es bedeutet nämlich - das steht alles in diesem Bericht eine Zunahme von befristeten Beschäftigungsverhältnissen. Es bedeutet eine Verschlechterung von Studienbedingungen, und das übrigens auch und gerade an den
sogenannten Exzellenzstandorten. Daneben hat der Bericht auch aufgezeigt, dass es nie eine Chancengleichheit
für Hochschulen im Bewerbungsverfahren gegeben hat.
Dieses Prinzip treiben Sie jetzt noch auf die Spitze, wenn
Sie die kleinen und mittleren Universitäten gleich ganz
vom Wettbewerb ausschließen. Das ist wirklich der völlig falsche Weg.
({16})
Auch das ohnehin sehr krude Argument, das Sie immer bemüht haben, dass durch die wettbewerbliche Spitzenförderung auch die Breite gestärkt würde, wurde von
der Imboden-Kommission als reine Chimäre entlarvt.
Noch einmal zum Mitschreiben: Eine Breitenförderung
ist durch die Exzellenzinitiative nicht eingetreten.
({17})
Stattdessen hat sich die Spaltung in der Hochschullandschaft vertieft. Das politische Verständnis dieser Regierung, dass sich Exzellenz immer nur auf besonders wenige beziehen soll, ist, ehrlich gesagt, weder fortschrittlich
noch besonders ambitioniert .
({18})
Ich sage Ihnen, was wirklich exzellent wäre: Exzellent
wäre es, wenn man von guten Studienbedingungen und
hervorragenden wissenschaftlichen Bedingungen in der
Breite und für alle sprechen könnte. Das muss doch das
Ziel von Wissenschaftspolitik sein.
({19})
Kolleginnen und Kollegen, wenn es so weit ist, dass
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler berichten,
dass die Antragstellung für das Einwerben von Drittmitteln den größten Teil ihrer Tätigkeit ausmacht,
({20})
wenn um des Publizierens willen publiziert wird, weil
die entsprechende Kennzahl für das Einwerben von Exzellenzmitteln wichtig ist, oder wenn es so weit ist, dass
Forschungsfragen eher danach ausgesucht werden, was
förderfähig ist,
({21})
als danach, was die größte wissenschaftliche Erkenntnis
bringt, dann kann man ja wohl behaupten, dass da etwas
aus dem Lot geraten ist.
({22})
Das ist eine Meinung, die gerade aus den Reihen der
Wissenschaft selbst kommt. Das zeigt doch die Petition,
die von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, von
Professorinnen und Professoren gestartet wurde und die
den Stopp der Exzellenzinitiative fordert.
({23})
Auch beim Pakt für den wissenschaftlichen Nachwuchs fehlt der Bundesregierung der Blick für die Probleme vor Ort. Wir reden davon, dass sich 90 Prozent
der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von einem prekären Kurzzeitvertrag zum nächsten hangeln.
Wir reden von 160 000 wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Mittelbau, und wir reden
von einer Betreuungssituation, in der auf einen Professor 70 Studierende kommen. Da kann man nur zu dem
Schluss kommen, dass die von der Regierung geplanten
1 000 Tenure-Track-Stellen an den Bedarfen vorbeigehen .
({24})
Heruntergebrochen auf die einzelne Hochschule bedeutet das gerade einmal zwei bis drei neue Stellen. Damit
ist doch an eine tatsächliche Verbesserung des Betreuungsverhältnisses für die Studierenden wirklich nicht zu
denken .
Die Idee, sich an den Hochschulen endlich einmal um
die Entwicklung neuer Personalstrukturen, neuer Personalkategorien zu kümmern, taucht in Ihrem Konzept eigentlich gar nicht mehr auf.
({25})
Dabei wäre das doch der entscheidende Punkt, wenn man
wirklich von einem Kulturwandel an den Hochschulen
sprechen möchte.
({26})
Denn nicht alle, die in der Wissenschaft arbeiten, wollen
oder müssen das auf einer Professur tun. Es ist höchste
Zeit, auch in Deutschland im 21. Jahrhundert anzukommen und anzuerkennen, dass es nicht nur die Professur
und darunter den Nachwuchs gibt,
({27})
sondern dass selbstständige Wissenschaft schon die ganze Zeit von den vielen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern geleistet wird und dass dieser Bereich endlich
einmal als dauerhafte Personalkategorie gefördert und
honoriert gehört.
({28})
Frau Kollegin Gohlke, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schipanski?
Ja .
({0})
Frau Gohlke, ganz herzlichen Dank, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. - Bei den drei Pakten, die Sie dargestellt haben, geht es ja jetzt um eine Vereinbarung, die
in der GWK beschlossen wurde. Jetzt wundere ich mich,
wenn das alles so furchtbar ist, dass sogar die rot-rot-grüne Landesregierung in Thüringen, sprich die Linke, da
zustimmt, wenn es so schlimm ist,
({0})
wie Sie es hier erzählen. Wie kommt es denn dazu?
Das kann ich Ihnen erklären. Wir haben Rücksprache gehalten. Ich habe im Übrigen auch gerade mit den
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern und Professorinnen und Professoren gesprochen, die den Stopp der
Exzellenzinitiative fordern.
({0})
- Nein, aber sie haben sozusagen auf einen Mechanismus
hingewiesen: Es gibt eine derart gravierende Unterfinanzierung, dass sich viele Leute nicht trauen, sich öffentlich
gegen die Exzellenzinitiative auszusprechen.
({1})
Und auch die Länder sagen bei aller Kritik in der Tat:
Wir können in der jetzigen Situation nicht auf Gelder
verzichten .
({2})
Das ist die Situation .
Trotzdem würden sich viele einen Einstieg in eine andere Finanzierung wünschen. Ich glaube, es wäre höchste
Zeit, dass man einmal eine Debatte darüber ermöglichen
würde. Aber sie kann offenbar selten transparent geführt
werden, nicht einmal hier im Deutschen Bundestag.
({3})
Einigermaßen vorsintflutlich finde ich, ehrlich gesagt,
auch, dass Gleichstellung in Ihren Pakten gar nicht auftaucht. Auch hier sage ich: Von Kulturwandel dürfte die
Regierung erst reden, wenn aktive Gleichstellungspolitik und Familienfreundlichkeit in ihren Konzepten einmal eine wirkliche Rolle spielen würden. 50 Prozent der
Tenure-Track-Stellen müssten eigentlich mit qualifizierten Frauen besetzt werden. Alles andere ist wirklich ein
schlechter Witz.
({4})
Kolleginnen und Kollegen, für die Linke stellt sich
die Situation so dar: Die Hochschulen, und zwar alle,
brauchen zwei Dinge, nämlich eine Finanzierung nach
Bedarfen sowie Planungssicherheit. Wir brauchen nicht
noch einen Wettbewerb und noch einen Pakt und noch
ein Programm .
({5})
Die Hochschulen brauchen eine solide Grundfinanzierung, verlässliche Studienplätze, unbefristete Stellen für
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und eine neue
Gemeinschaftsaufgabe Hochschulbau. Das wären die
richtigen Prioritäten und die richtigen politischen Botschaften in dieser Zeit .
Vielen Dank.
({6})
Der Kollege Dr. Ernst Dieter Rossmann spricht jetzt
für die SPD .
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Gohlke, Sie haben eine gewisse Zweiweltenlehre
aufgemacht. Ich will mich nur mit einem kleinen Satz
darauf einlassen: Dass der Kollege Ramelow, der Ministerpräsident von Thüringen, sich nichts traut, das werden
Sie ihm erklären müssen.
({0})
Ich möchte gerne auf das zurückkommen, was hier relevant ist und was von der Ministerin in Bezug auf eine
Weiterentwicklung und große Verbesserung der Hochschul-, der Wissenschafts- und der Forschungslandschaft
in Deutschland vorgestellt worden ist.
Nachdem ich eben ein bisschen bärbeißig war, will
ich jetzt ganz charmant etwas zu bedenken geben - Herr
Riesenhuber, ich habe Sie im Blick; aber ich muss es
trotzdem so sagen -: Das, was jetzt von Frau Wanka
fortgesetzt wird, hat eine Vorgeschichte, aus der hervorgeht, dass die Wissenschafts- und Forschungspolitik
der letzten 20 Jahre im Wesentlichen von Frauen - Frau
Bulmahn, Frau Schavan, Frau Wanka, jede auf ihre Art,
aber immer aufeinander aufbauend - sehr hervorragend
gestaltet worden ist. Vielleicht darf man das auch einmal hier feststellen. Die vier anderen Minister zwischen
Herrn Riesenhuber und Frau Bulmahn sind leider wenig
in Erinnerung geblieben.
({1})
Frau Bulmahn hat damals mit folgenden Fragen eine
neue Dimension aufgemacht: Wie erfüllen wir den Auftrag, den Wissenschaft hat, nämlich Wahrheitssuche und
Erkenntnisvermittlung? Und wie bekommen wir das
einerseits in die Welt hinein, damit es angewendet werden kann, um ein besseres Leben für die Menschen zu
ermöglichen bzw. eine bessere und nachhaltige Umwelt
zu schaffen, und wie bekommen wir das andererseits
auch wieder an die Hochschulen? Denn die Hochschulen sind ja die eigentlichen Träger der Vermittlung, die
Hochschulen sind die Breitenorganisationen, bei denen
sich Exzellenz in der Breite und in der Spitze entwickelt,
und die Hochschulen sind auch das Pfund, auf das wir in
Deutschland - neben den guten Wissenschaftsorganisationen - zentral setzen können.
Dass dieser breite Horizont, der von Frau Bulmahn
aufgemacht und von Frau Schavan fortgesetzt wurde Frau Wanka führt das mit neuen Akzenten jetzt erfolgreich weiter -, auch weiterhin in einem größeren Zusammenhang gesehen wird, zeigt sich auch bei dem, was
heute zur Diskussion gestellt worden ist in Form eines
neuen Dreiklangs. Dieser beinhaltet das Programm „Innovative Hochschule“, den Nachwuchspakt und die Exzellenzinitiative.
Nur eine kleine Bemerkung zum Programm „Innovative Hochschule“: Ja, Frau Wanka, wir finden es gut, dass
Sie sich zusammen mit den Ländern entschieden haben,
das nicht in einer Exzellenzinitiative aufgehen zu lassen,
sondern dass sie ihm als ein besonderes Programm einen
besonderen Stellenwert gegeben haben. Denn darüber
wird auch einem ganz wichtigen Träger von Wissenschaft
und Forschung, nämlich den Fachhochschulen, vermittelt, dass sie ein eigenes Gewicht haben und dass sie in
diesem Rahmen auch weiter auszugestalten sind. Darauf
wollen wir gerne - auch über die 50-Prozent-Quote hinaus - weiter hinarbeiten .
({2})
Aber das darf ja Zukunftsmusik sein.
Wenn es um den Nachwuchspakt geht, wird hier jeder verstehen, dass die SPD besonders stolz darauf ist.
Aber auch die Fraktionen können es sein; denn das hat ja
noch nicht einmal im Koalitionsvertrag gestanden, Herr
Rupprecht .
({3})
Wir haben außerhalb des Koalitionsvertrages während
der glorreichen Tage von Göttingen mit den geschäftsführenden Fraktionsvorständen vielmehr noch etwas Gutes darüber hinaus angestoßen. Deshalb sage ich einen
ausdrücklichen Dank an den Kollegen Kretschmer. Auch
Hubertus Heil, der heute erkrankt ist, soll hören, dass ich
ihm Dank dafür übermittle, was er da mit den geschäftsführenden Fraktionsvorständen zusammengebracht hat.
Dass 1 Milliarde Euro für den wissenschaftlichen
Nachwuchs zur Verfügung gestellt werden, zeigt, dass
wir nicht nur von der Gesetzgebung her - mit dem Wissenschaftszeitvertragsgesetz -, sondern auch im Hinblick
auf die Aufstiegs- und Karriereperspektiven - dabei geht
es um die Lebensplanung junger Wissenschaftler - dem
Gedanken der Exzellenz und der Vermittlung gefolgt
sind und ihn in eine größere Personalausstattung haben
münden lassen. Wir haben auch aufgenommen, dass sich
dieses inhaltlich weiterentwickeln muss. Denn über die
Details der Beschlüsse zum Hochschulpakt für den wissenschaftlichen Nachwuchs hinaus können wir schon
jetzt sagen, dass sich auch hier noch einige Zukunftsfragen - auch als Aufgaben für die nächste Legislaturperiode - stellen.
Dabei geht es einmal darum, dass alle wissen, dass
sich an den Hochschulen nicht nur die Qualitäten, sondern auch die Aufgaben differenzieren, weshalb wir neue
Personalkategorien brauchen. Hier ist ein Einstieg gefunden, dass sich dieses mitentwickeln kann.
Zweitens geht es darum, dass wir grundsätzlich anerkennen müssen, dass es auch bei den Fachhochschulen
eine explizite Exzellenz gibt. Frau Kollegin De Ridder,
es ist auch einmal darüber zu diskutieren, ob es auch dort
Tenure-Track-Systeme oder andere Personalaufbausysteme gehen sollte. Auch das ist uns mit dem jetzigen Nachwuchspakt aufgegeben .
Die dritte und wichtigste Dimension betrifft die Exzellenzinitiative, die jetzt über die Hochschulen als Motor
unseres Innovationssystems ausgebaut wird . Es war für
uns immer selbstverständlich, dass wir Spitzenforschung
brauchen, dass wir sie an den Hochschulen brauchen und
dass sich diese über die Jahre hinweg entwickeln darf,
es aber klar strukturierte Linien geben muss, die sich
jetzt mit den Exzellenzclustern bzw. Exzellenzuniversitäten abbilden, und dass diese Linien nicht nur auf drei
bis fünf Exzellenzuniversitäten reduziert werden können.
Vielmehr fühlen wir uns durch die verdienstvolle Arbeit
der Imboden-Kommission bestätigt, dass es mehr Potenzial in Bezug auf Exzellenz in Deutschland gibt und dass
dieses in eine Kontinuität hineinkommen muss. Dabei
geht es nicht um Kontinuität in Form von immer neuen und aufwendigen Wettbewerben, sondern es muss um
Kontinuität in den Grundgedanken bzw. in Bezug auf die
Absicherung über das Grundgesetz gehen, also VerlässDr. Ernst Dieter Rossmann
lichkeit hinsichtlich der Fortschreibung in Richtung auf
eine unbestimmte Dauer .
An der Stelle - vielleicht ist das nur Semantik; aber
wir glauben, dass das mehr ist -: Wir haben bisher immer
von Exzellenzinitiative gesprochen. Das klingt ein bisschen nach Projekt. Stattdessen können wir jetzt sagen,
nachdem es in Deutschland schon eine Hightech-Strategie gibt, dass es mit dem, was jetzt zwischen Bund und
Ländern offensichtlich verhandelt worden ist, auch eine
Exzellenzstrategie geben wird.
({4})
Damit hätten wir eine dauerhafte Perspektive für die
beiden großen Gewichte der außeruniversitären und der
universitären exzellenten Spitzenangebote, die Deutschland strategisch in eine gute Zukunftsposition bringen.
Dies führt mich zu zwei Schlussgedanken.
Zunächst möchte ich auf Frau Gohlke zurückkommen,
die am Anfang ihrer Rede mit Zahlen herumgewirbelt
hat; Kollege Rupprecht, Sie werden das gleich sicherlich
mit Schmackes klarstellen.
({5})
Man darf nicht vergessen, dass wir 20 Milliarden Euro
in die Exzellenz der Breite - Hochschulpakt, Programmpauschalen, gute Lehre und anderes - gegeben haben.
Sie, Frau Gohlke, tun das so ab, als wären diese 20 Milliarden Euro „nothing“. Auch da halten wir eine Balance
zwischen der Breitenförderung und der Spitzenförderung .
({6})
Mit Blick auf die nächste Legislaturperiode stellen wir
fest: Es stehen große Entscheidungen an, da faktisch Jahr
für Jahr Mittel in Höhe von 3 bis 5 Milliarden Euro frei
werden. Ich will zumindest für die SPD sagen: Sie dürfen
sicher sein - in der Tradition der großen Forschungsministerinnen werden wir dafür kämpfen müssen -, dass
die Mittel im System bleiben. Es kann nicht sein, dass
2019/2020 auf einmal eine Reduzierung stattfindet, sondern die Mittel müssen im System bleiben. Aber dass
sie im System bleiben, setzt voraus, dass wir die Dinge,
die wir jetzt machen, gut machen. Sie müssen jetzt gut
umgesetzt werden; denn nur wenn sie gut und wirksam
sind, wird die breite Öffentlichkeit es akzeptieren, wenn
die zusätzlichen Mittel weiter verstetigt und ausgebaut
werden .
Mein zweiter Schlussgedanke - Herr Präsident, erlauben Sie das noch?
Ich erlaube es, wenn Sie noch im Rahmen der Redezeit zum Ende kommen .
- richtet sich nach außen. Ich beziehe mich auf das, was
heute von der Hochschulrektorenkonferenz, auf der man
sich mit dem Brexit, Europas Zukunft und anderen Themen auseinandergesetzt hat, verlautbart wurde. Wir glauben, dass diese Exzellenzinitiative, das gute Entwickeln
von bester Wissenschaft in Deutschland, ein Bindeglied
sein kann, das wir erhalten müssen, wenn wir gute Perspektiven für Europa schaffen wollen. Die europäische
Zusammenarbeit, die Struktur von besten Hochschulen
in Europa wird nämlich durch diese Exzellenzinitiative
mitbefördert. Professor Kleiner, der Präsident der Leibniz-Gemeinschaft, sagte einmal: Das ist die beste Antwort auf diesen unseligen Populismus, auf diese unselige
Denkungsart, es gäbe keine Wahrheit, es gäbe neben der
Lügenpresse auch noch eine Lügenwissenschaft. Wenn
wir unsere Vorhaben entsprechend umsetzen können,
Herr Kollege Rossmann, jetzt ist die Redezeit schon
sehr großzügig bemessen.
- dann machen wir nicht nur Wissenschaftspolitik,
sondern auch Gesellschaftspolitik.
Danke schön.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Kai Gehring für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Fakt ist, der Bund bewegt für die Hochschulen und die
außeruniversitären Forschungseinrichtungen in dieser
Republik Milliarden: durch den Pakt für Forschung und
Innovation, durch den Hochschulpakt und durch den
Qualitätspakt Lehre.
Heute debattieren wir über zwei weitere zentrale Weichenstellungen für unsere Universitäten in den nächsten
Jahren und Jahrzehnten. Ob neue Exzellenzinitiative oder
das Nachwuchsprogramm: Beide Bund-Länder-Vereinbarungen sind klassische politische Kompromisse. Weder
Jubelarien noch Meckerecke sind daher heute adäquat.
({0})
Der Beschluss der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz zur Exzellenzinitiative ist ambivalent und ambitioniert zugleich. Gut ist, dass es auch künftig ein Förderprogramm für Spitzenforschung an Universitäten gibt.
({1})
Die bisherigen Runden haben an den Universitäten neue
Kooperationen initiiert und eine Vielzahl innovativer
Projekte hervorgebracht. Davon ist jeder überzeugt, der,
wie ich, Exzellenzcluster besichtigt und sich mit SpitDr. Ernst Dieter Rossmann
zenwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern über ihre
faszinierende Forschung austauscht .
({2})
Ich freue mich daher, dass die Überbrückungsfinanzierung für laufende Exzellenzprojekte endlich beschlossene Sache ist. Damit können Cluster weiter wirken. Diese
Verlässlichkeit war überfällig. Sie ist ein wichtiges Signal an die Spitzenforschung in Deutschland.
({3})
Es macht Sinn, die Spitzenförderung auf die beiden
Säulen Exzellenzcluster und Exzellenzuniversitäten zu
fokussieren; denn Graduiertenkollegs gehören künftig
zum professionellen Selbstverständnis jeder Universität.
({4})
Es macht auch Sinn, mehr Mittel in die 45 bis 50 Cluster
zu investieren als in die Spitzenstandorte. Und es macht
Sinn, die Förderhöhe pro Cluster zu variieren, da auch
die Kosten variieren. Allerdings ist die Voraussetzung,
zwei Cluster vorweisen zu müssen, um sich als Exzellenzuniversität überhaupt bewerben zu können, eine zu
hohe Hürde .
({5})
Für viele kleine, mittelgroße und aufholende Universitäten wird sich die Bedingung, zwei Cluster vorweisen
zu müssen, als Knock-out-Kriterium entpuppen, und das
halten wir für falsch.
({6})
Erfreulich ist, dass von der zweiten Förderlinie künftig - das ist einer der zentralen Verhandlungserfolge
unserer drei grünen Wissenschaftsministerinnen in der
GWK - acht bis elf sogenannte Förderfälle profitieren
können, also mehr Universitäten als bisher; denn das
passt viel besser zu unserer vielfältigen und facettenreichen Universitätsstruktur und erhöht die Chancen für exzellente Verbundanträge. Die Förderfantasien der Union
von drei deutschen Harvards sind damit vom Tisch, und
das ist auch gut so;
({7})
denn eine breite Spitze an Unileuchttürmen strahlt weltweit heller als ein einsames Licht.
An einer Stelle hakt es jedoch gewaltig. Exzellenzuniversitäten in eine Dauerförderung gemäß Artikel 91b
Grundgesetz zu überführen, sehen wir sehr, sehr kritisch. Eine exklusive Bundesliga mit Ewigkeitsperspektive nimmt der Exzellenzinitiative den wettbewerblichen
Charakter und raubt ihre Dynamik . Das ist geradezu widersinnig .
({8})
Diese Kritik ist keine exklusive der Grünen im Bundestag, sondern sie wird von mehreren Wissenschaftsministerinnen und -ministern der Länder geteilt. Hamburg
hat sich deswegen in der GWK bei der Verabschiedung
der Exzellenzinitiative enthalten. Ich habe den Eindruck,
dass Ministerin Wanka diese Kritik nicht hinreichend
ernst genommen hat. Dabei wissen wir doch alle miteinander: Dem Wissenschaftspakt müssen am Ende alle
Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten einstimmig zustimmen,
({9})
von Kretschmann über Kraft bis Ramelow und Scholz.
({10})
Beim Nachverhandeln ist jetzt Eile geboten, damit der
enge Zeitplan nicht ins Wanken gerät. Eine Lösung muss
her. Derzeit werden ja auch Kompromisse ausgelotet.
Eine Lösung könnte aus meiner Sicht sein, die Exzellenzuniversitäten nach sieben Jahren neu auszuschreiben . Das motiviert und honoriert dann auch in Zukunft
die Spitzenleistungen aller Universitäten und erhöht
die Chancen, überhaupt reinzukommen. Das hält das
System offener und durchlässiger. Wir brauchen keinen
geschlossenen Uniklub, sondern Auf- und Abstiege plus
dauerhaft mehr Engagement für Exzellenz in Forschung
und in Lehre.
({11})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, inwieweit die Exzellenzinitiative und das neue Nachwuchsprogramm unsere
Universitätslandschaft bereichern und weiterentwickeln
werden, werden wir wahrscheinlich erst in 10 bis 20
Jahren reflektieren können. Entscheidend für den Erfolg
ist, wie weit ein solcher Impuls wirklich trägt. Das gilt
vor allem für das neue Nachwuchsprogramm. Gemessen an dem, was auf dem Papier vereinbart ist, droht das
nur ein kurzer Kick zu werden; denn die 1 000 Tenure-Track-Professuren, die das Programm bundesweit
an Universitäten bringen soll, sind angesichts von rund
24 000 Professuren einfach eine kleine Hausnummer. Für
Nordrhein-Westfalen sind das etwas mehr als 200 Tenure-Track-Professuren, für Bremen 10, für das Saarland,
glaube ich, 1,7. Der Bedarf bleibt dank der Rekorde bei
den Studierendenzahlen weiter groß, übrigens nicht nur
an Universitäten, sondern auch an Fachhochschulen, die
beim Programm leider außen vor bleiben. Ich erinnere exemplarisch an den Wissenschaftsrat, der unlängst
7 500 zusätzliche Professuren bundesweit gefordert hat.
Vom Umfang her hat das Programm also keine Wucht,
und das bedauern wir .
({12})
Das Nachwuchsprogramm bringt auch insgesamt zu
wenig für Modernisierungen bei Personalstrukturen und
bei Personalentwicklung. Es gibt zwar einen 15-prozentigen Strategieaufschlag, den Universitäten auch - Zitat - zur „Weiterentwicklung der Personalstruktur des
wissenschaftlichen Personals“ nutzen können, von einem
großen Pakt für den wissenschaftlichen Nachwuchs mit
verbindlichen und klaren Karriereperspektiven für deutlich mehr kann aber keine Rede sein. Unklare PerspektiKai Gehring
ven und wenig Planbarkeit bleiben für viel zu viele leider
Alltag. Das ist problematisch.
({13})
Es wird jetzt übrigens sehr darauf ankommen, die
Tenure-Track-Professuren gut auszustatten. Sie sollen ja
nicht auf einem Klappstühlchen sitzen; vielmehr sollen
sie entsprechende wissenschaftliche Mitarbeiter haben
und ihre wissenschaftlichen Leistungen entfalten können. Da müssen die Länder mit ran, sonst zahlen die Unis
zu viel drauf.
Schade ist, dass dem Programm eine explizite Förderung von Frauen fehlt. In Gesamtkonzepten darzulegen,
was eine Uni für die Verbesserung der Chancengleichheit zu tun gedenkt, ist im Vergleich zu harten Gleichstellungszielen und -kriterien an anderen Stellen einfach
zu schwammig .
({14})
Trotz dieser kritischen Punkte kann das Nachwuchsprogramm eine nachhaltige Weichenstellung bringen,
wenn es einen auf Dauer planbaren Pfad in Richtung
Professur etabliert; denn die Mechanismen in der Vereinbarung sind ganz klug, und das Kriterium der Zusätzlichkeit, auf das wir auch immer gepocht haben, überzeugt .
Es geht uns ja nicht nur um eine neue Personalkategorie.
Es müssen auch deutlich mehr Stellen on top vor Ort dabei herausspringen, und darauf werden wir gemeinsam
achten müssen .
Genau in diesem Sinne lohnt es sich weiterzudenken.
Ich meine, das Nachwuchsprogramm wird noch nachhaltiger wirken, wenn wir es mit einer besseren Grundfinanzierung der Hochschulen insgesamt verbinden; denn
auch nach 2020 werden mehr Erstsemester kommen, die
nicht nur einen Studienplatz, sondern auch Personalaufwüchse brauchen. Die Betreuungsrelationen in Deutschland sind jetzt schon alles andere als ein Ruhmesblatt,
und das müssen wir dringend verbessern . Wir brauchen
bessere Betreuungsrelationen.
({15})
Mehr Studienplätze und mehr Professuren durch eine
höhere Grundfinanzierung unserer Hochschulen durch
Länder und Bund - beides wollen und müssen wir angehen. Nur so lässt der Tenure-Track-Plan sich zu einem
echten Strukturimpuls entwickeln. Die Wissenschaftspakte entfalten nur dann ihre volle Wirkung, wenn endlich die mangelnde Grundfinanzierung aller Hochschulen
gesteigert wird, um mehr Chancen, mehr Personal und
bessere Wissenschaft für alle zu erreichen.
({16})
Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Albert
Rupprecht .
({0})
Liebe Kollegin Gohlke, Sie sind schnell im Denken,
schnell im Reden. Es macht eigentlich Spaß, mit Ihnen
zu diskutieren. Nur manchmal diskutieren Sie dramatisch
ideologisch verbohrt.
({0})
- Doch, das ist leider so. - Dieses penetrante Gleichmachen, Nivellieren, mit der Gießkanne in die Breite gehen
und jeglichen Ansatz von Leistung, Exzellenz und Elite ablehnen: Das ist einfach schrecklich. Wenn es nach
Ihnen gehen würde, dann würden Sie auch die Fußballeuropameisterschaft und die Fußballweltmeisterschaft
abschaffen, weil Sie Spitzenleistung schlichtweg nicht
ertragen können.
({1})
Da haben wir eine vollkommen andere Position. Wir
glauben, dass man in Deutschland auch Spitzenleistung
braucht, um bei Wohlstand und sozialer Sicherheit auch
zukünftig in der Spitze mit dabei zu sein .
Frau Ministerin Wanka, Sie haben drei Pakete verhandelt. Diese drei Pakete sind ein Meilenstein für die Wissenschaftsarchitektur in Deutschland. Ich würde sagen:
Sie sind ein großer Wurf. Ich gratuliere Ihnen dazu.
Die Rede des Kollegen Gehring ist als Oppositionsrede durchaus beachtlich gewesen. Es gab andere Einschätzungen bei einzelnen Details; das ist bei einer Debatte zu
so komplexen Themen durchaus normal und üblich. Aber
ich glaube, insgesamt ist die Stimmung im Haus so, dass
das, was Sie, Frau Ministerin, hier vorgelegt haben, in
der Tat ein großer Wurf ist.
({2})
Aus der zeitlich befristeten Exzellenzinitiative wird
eine dauerhafte unbefristete Exzellenzstrategie. Herr
Rossmann, diesen Begriff hat Frau Wanka im Vorfeld
schon eingeführt. Darauf hat man sich geeinigt, weil es
wirklich eine neue Qualität hat, statt kurzfristiger Projekteritis eine langfristige und dauerhafte Exzellenzkultur in unserem Land aufzubauen. Dazu braucht es auch
die dauerhafte, langfristige Finanzierung auf Basis des
Artikels 91b unserer Verfassung. Wieder einmal ist der
Bund - wie auch schon in den letzten zehn Jahren - Architekt, Impulsgeber, Verhandlungsführer und letztendlich Hauptfinanzier dieser immens wichtigen Weiterentwicklung des deutschen Wissenschaftssystems.
({3})
Die Unionsfraktion hat von Anfang an - und ich sage:
als einzige Fraktion - ein klares und deutliches Bekenntnis zur Exzellenz abgegeben. Herr Rossmann, unsere
Aussage war stets: Wo Exzellenz draufsteht, muss auch
Exzellenz drin sein. Exzellenz draufzuschreiben, um
dann mit dem Paket das Prinzip Gießkanne anzuwenden,
war nicht das, was wir wollten. Dagegen haben wir uns
auch gewehrt. Das, was vorliegt, ist die Umsetzung dessen, was wir wollten.
Wenn man vergleicht, was wir uns vorgenommen haben und was jetzt im Endergebnis bei den Verhandlungen
herausgekommen ist, dann würde ich sagen: Zu 98 Prozent sind unsere Punkte umgesetzt . Einen Punkt gibt es
in der Tat, der nicht dazu gehört: Wir hätten uns durchaus
vorstellen können, nicht acht bis elf Spitzenuniversitäten
zu haben, sondern vier bis fünf, weil wir glauben, dass
wir dadurch dem Ziel, international mehr wettbewerbsfähig zu werden, eher ein Stück näher gekommen wären.
Nichtsdestotrotz sagen wir: Wir sind insgesamt mit diesem Paket sehr zufrieden . Es ist zu 98 Prozent Unionspolitik.
({4})
- Vergleichen Sie unsere Positionen mit dem, was herausgekommen ist . Dann werden Sie es sehen .
Wir brauchen eine gesunde Breite, aber wir brauchen
auch die absolute Spitze. Frau Gohlke, noch einmal: Der
mit Abstand größte Teil der Mittel aus dem Bundeshaushalt geht in die Breitenförderung. Über die gesamte Laufzeit werden 22 Milliarden Euro für den Hochschulpakt,
den Qualitätspakt Lehre und viele weitere Maßnahmen
aufgewendet. Der Gesamthaushalt beträgt 17 Milliarden
Euro. Da können Sie doch nicht ernsthaft glauben oder
den Eindruck erwecken wollen, dass der überwiegende
Teil der 17 Milliarden Euro für die Exzellenz zur Verfügung gestellt wird. Der überwiegende Teil geht in die
Breitenförderung.
({5})
Nichtsdestotrotz sind wir der Überzeugung, dass wir
wissenschaftliche Elite in Deutschland brauchen. Wir haben zum Glück die Max-Planck-Gesellschaft, die in der
internationalen Liga vorne dabei ist. Aber die Realität
ist, dass es an den Universitäten, und zwar trotz der letzten zehn Jahre Exzellenzinitiative, immer noch einiges
zu tun gibt. Vor zehn Jahren lag die beste deutsche Uni
beim Shanghai-Ranking auf Platz 51. Nach zehn Jahren
großer Kraftanstrengungen ist die beste Uni, die Uni Heidelberg, auf Platz 46. Die anderen Länder schlafen nicht,
während wir hier in Deutschland große Anstrengungen
unternehmen .
Wir können uns damit nicht zufriedengeben. Statt
kurzfristiger Projektdenke brauchen wir den Aufbau einer langfristigen Exzellenzkultur, die in die Hochschulen
hineingetragen wird. Dazu braucht es strukturelle Änderungen. Dazu braucht es natürlich eine kräftige Finanzausstattung. Aber es braucht vor allem eine Kulturänderung. Die Kulturänderung wird in Deutschland natürlich
einen anderen Weg nehmen als in Harvard oder in Stanford . Wir werden unseren deutschen, unseren eigenen
Weg gehen, weil wir spezifische Gegebenheiten haben
und weil wir in der Breite sehr gut und gesund aufgestellt
sind .
Entscheidend für den Erfolg sind Menschen, Menschen im Wissenschaftssystem. Seit 2005, seit wir in
Berlin regieren, hat sich die Zahl der wissenschaftlichen
Mitarbeiter an den Hochschulen um 60 Prozent gesteigert .
({6})
Das wurde im Wesentlichen durch Gelder des Bundes
mitfinanziert. Das Problem ist aber, dass mehr Geld und
mehr Personal nicht dazu führen, dass die Mitarbeiter
ausreichende Karriereperspektiven haben.
Deswegen haben wir im ersten Schritt das Wissenschaftszeitvertragsgesetz geändert. Wir haben im zweiten Schritt die Länder beim BAföG um 1,2 Milliarden
Euro entlastet, damit sie sich stärker in der Grundfinanzierung engagieren können.
({7})
Frau Ministerin Wanka hat es gesagt: Über 10 000 Stellen für Mitarbeiter im Mittelbau des Wissenschaftssystems können damit finanziert werden. Deswegen hat
Ministerin Wanka das Tenure-Track-Programm vorgeschlagen, initiiert und verhandelt. Es umfasst 1 Milliarde
Euro für 1 000 zusätzliche Tenure-Track-Professuren für
die besten Köpfe in unserem Land. In der Tat, auch dies
ist ein Meilenstein. Jahrelang wurde darüber geredet. Wir
machen es jetzt. Ich finde, das ist großartig.
({8})
Der letzte Punkt in aller Kürze; meine Redezeit ist vorbei. Die Fachhochschulen - das ist der dritte Bereich haben aus unserer Sicht eine eigenständige, eine wertvolle Rolle für das Wissenschaftssystem, insbesondere in
der regionalen Vernetzung und im Wissenschaftstransfer.
Deswegen ist das Programm „Innovative Hochschule“,
von dem vor allem die Fachhochschulen profitieren sollen, ein weiterer Meilenstein. Auch da können wir sagen:
550 Millionen Euro in zehn Jahren sind kein Pappenstiel.
So etwas gab es bis dato noch nie . So etwas hat es vonseiten des Bundes bis dato noch nicht gegeben .
Wir geben in den nächsten zehn Jahren für diese drei
Pakete vonseiten des Bundes insgesamt 5 Milliarden
Euro aus. Die Länder ergänzen dies um weitere 1,4 Milliarden Euro.
Lieber Kollege Rupprecht, auch bei einer großzügigen
Auslegung der Redezeit ist sie jetzt schon sehr stark zum
Ende gekommen .
Frau Ministerin Wanka, das ist ein großzügiger Aufschlag. Gratulation! Frau Ministerin, ich erhebe das Glas
auf Sie .
({0})
Albert Rupprecht
Nächste Rednerin ist für die SPD die Kollegin
Dr . Simone Raatz .
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Zwischenzeitlich habe ich mich über die Worte von Herrn Rupprecht gefreut . Ich hatte in den Diskussionen, die wir immer wieder geführt haben, zwar nicht
den Eindruck, dass in den Projekten, die insbesondere
wir favorisiert haben, zu 98 Prozent die Politik der Union
zum Ausdruck kommt .
({0})
Aber ich freue mich, dass wir uns in der Koalition mittlerweile so nahe sind, dass Sie derart auf SPD-Linie einschwenken . Wenn Sie von 98 Prozent sprechen, muss ich
sagen: Hut ab! Das hätte ich nicht gedacht.
Herr Gehring, Sie haben heute sehr staatstragend gesprochen . Man merkt, die Verantwortung in Baden-Württemberg geht auch an Ihnen nicht spurlos vorbei; das finde ich gut .
({1})
Klar, die Projekte sind Kompromisse; das ist einfach so.
Aber es sind ja nicht nur Kompromisse zwischen den
Koalitionsfraktionen, sondern auch Kompromisse zwischen dem Bund bzw. der Regierung und den Ländern.
Ich muss sagen: Das macht es im Wissenschaftsbereich
nicht in jedem Fall leichter. Aber ich denke, das Ergebnis
kann sich sehen lassen.
Darum, Frau Gohlke, finde ich die Zusammenfassung
aller Kritikpunkte der letzten zweieinhalb Jahre in Ihrem
heutigen Beitrag ein bisschen unangemessen . Sicherlich, viele Dinge sind noch zu tun; wir wollen sie auch
in Angriff nehmen. Aber es wäre schön gewesen, wenn
Sie ein bisschen näher auf die GWK-Beschlüsse eingegangen wären und zur Kenntnis genommen hätten, was
Ernst Dieter Rossmann gesagt hat. Heute ist nämlich ein
bemerkenswerter Tag . Denn beim Pakt für den wissenschaftlichen Nachwuchs reden wir über ein Projekt, das
nicht im Koalitionsvertrag enthalten ist.
({2})
Dass wir ihn gemeinsam auf den Weg gebracht haben,
finde ich gut. Es wäre schön gewesen, wenn Sie auch
das eingestreut und somit auch ein positives Wort gesagt
hätten. Kritik zu üben, ist nun einmal Aufgabe der Opposition. Es ist sicherlich auch sinnvoll, den einen oder
anderen Aspekt entsprechend zu thematisieren .
Auch bei uns, den Mitgliedern der Regierungsfraktionen, kommt es ab und zu vor, dass wir ganz tolle Ideen
haben und diese in den parlamentarischen Prozess einbringen wollen. Dann wird häufig gesagt: Nein, das steht
nicht im Koalitionsvertrag. - Diese Ideen sind dann nur
ganz schwer umzusetzen. Darum sage ich noch einmal:
Es ist wirklich toll, dass wir die Bund-Länder-Vereinbarung zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses
gemeinsam auf den Weg gebracht haben und sie hier und
heute debattieren .
Dieser Nachwuchspakt wurde erstmalig im Januar 2015 von unserem stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden Hubertus Heil öffentlich gefordert. Sie haben
zwar die Themen, die CDU und CSU wichtig sind,
eingebracht. Aber ich glaube, was diesen Pakt betrifft,
waren wir diejenigen, die ihn als Erste gefordert haben.
Hubertus Heil hat ihn, wie gesagt, in die öffentliche Debatte eingebracht .
({3})
Bei diesem Pakt war es nicht schwer, gemeinsam einen Weg zu finden. Auch unser Koalitionspartner war
relativ schnell von seiner Sinnhaftigkeit überzeugt. Denn
dem wissenschaftlichen Nachwuchs kommt in unserem
Innovationssystem eine Schlüsselrolle zu. Ich denke,
dass wir unseren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern attraktive Karriereoptionen bieten müssen, um
sie im Land zu halten. Das ist natürlich auch im Interesse
der Koalitionsfraktionen.
So gab es im April 2015 einen Beschluss der Fraktionsvorstände von Union und SPD. Der Betrag von 1 Milliarde Euro, den wir für den wissenschaftlichen Nachwuchs zur Verfügung gestellt bekommen haben, war
damals schon im Gespräch. An dieser Stelle möchte ich
den Dank, den Frau Wanka den Fraktionen ausgesprochen hat, gerne an Frau Wissenschaftsministerin Wanka
zurückgeben . Danke, dass Sie die Anregungen unserer
Fraktion aufgegriffen und den Beschluss der Koalitionsfraktionen letztendlich umgesetzt haben! Das ist nicht
selbstverständlich; aber da waren Sie offen. Vielen Dank
dafür, dass wir das gemeinsam hinbekommen haben!
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Ergebnis kann
sich, wie ich schon sagte, sehen lassen. Es gibt 1 000 zusätzliche Tenure-Track-Professuren und immerhin eine
Bezahlung nach W 2. Das macht die Stellen für Männer und Frauen attraktiv . Ich denke, dass wir den sogenannten Flaschenhals beim Übergang auf eine Professur
damit etwas geweitet haben. Es braucht dazu natürlich
noch mehr . Aber ich denke, das ist ein guter Schritt in die
richtige Richtung, der jungen Wissenschaftlern frühzeitig planbarere und verlässlichere Karriereperspektiven
ermöglicht.
Und: Wir haben eine familienpolitische Komponente
eingeführt . Herr Gehring, Sie sagten, Sie würden sich
mehr Gleichstellung wünschen. Aber ich denke, dass wir
den Vertrag bei Tenure-Track-Professuren im Falle der
Geburt oder Adoption eines Kindes um zwei Jahre verlängern, ist schon eine gute Option. Wir hoffen, dadurch
insbesondere junge Frauen im Wissenschaftssystem zu
halten. Denn es sind Frauen, die in überdurchschnittlichem Maße aus unserem Wissenschaftssystem aussteigen, weil sie feststellen: Familie und Beruf sind schwer
zu vereinbaren. - Darum denke ich, die familienpolitische Komponente ist ein wichtiges Zeichen in die richtige Richtung .
Über die familienfreundlichen Tenure-Track-Professuren hinaus konnten wir, die SPD, gemeinsam mit den
Ländern einen Strategieaufschlag von 15 Prozent durchsetzen. Ich hoffe natürlich sehr, dass dieser Strategiezuschlag wirklich genutzt wird, um moderne Personalstrukturkonzepte an unseren Universitäten zu etablieren. Da
es in den Bund-Länder-Verhandlungen zwischenzeitlich
so aussah, als würde der Strategieaufschlag nicht kommen, freue ich mich, dass wir ihn als wichtiges Element
im Hinblick auf die Nachhaltigkeit des Programms auf
den Weg gebracht haben .
({5})
Sie sehen also: Es ist ein gutes Programm, das Bund und
Länder am 20. Mai 2016 in der GWK vereinbart haben.
Nein, es wird nicht so sein - ich greife kurz einen
Beitrag von Ihnen, Frau Gohlke, auf; Sie haben das nur
indirekt erwähnt -, dass die zusätzlichen Stellen nach
vielleicht zehn Jahren von den Ländern gestrichen werden. Die Länder haben hier eine Verstetigungszusage gemacht, und diese Zusage dient dazu, dass das Programm
hoffentlich wirklich nachhaltig ist, im Gegensatz zu dem
Juniorprofessuren-Programm, das heute hier schon besprochen wurde. Nur 50 Prozent der Juniorprofessuren
befinden sich heute nämlich noch im System. Ich denke
und hoffe, dass wir mit dem Pakt für den wissenschaftlichen Nachwuchs hier etwas Nachhaltigeres schaffen.
Eines sei noch bemerkt: Wenn selbst die GEW den
Nachwuchspakt als weiteren Teilerfolg würdigt, können
wir, so denke ich, nicht alles falsch, sondern vieles richtig
gemacht haben. Ich denke, hier können wir uns gegenseitig auch ein bisschen auf die Schultern klopfen.
({6})
Für die SPD-Bundestagsfraktion kann ich sagen, dass
gute Arbeitsbedingungen und planbare Karriereperspektiven eine Herzensangelegenheit für uns sind. Die von
uns auf den Weg gebrachte Novellierung des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes, der Nachwuchspakt und die
Selbstverpflichtungen vieler Wissenschaftsorganisationen sind wichtige Bausteine für das Thema „Gute Arbeit
in der Wissenschaft“.
Lassen Sie uns gemeinsam an diesem Thema dranbleiben. Ich bin nach den Worten von Herrn Rupprecht
ganz optimistisch, dass wir in dieser Legislaturperiode
noch weitere Bausteine hinzufügen können.
In diesem Sinne: Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich darf einmal den
Hinweis geben, dass es sich bei den Redezeiten nicht um
ungefähre Richtwerte und Trendanzeigen handelt, sondern um zwischen den Geschäftsführern präzise vereinbarte Redeminuten .
({0})
Ich bitte, das zu beachten .
({1})
Jetzt hat die Kollegin Alexandra Dinges-Dierig für die
CDU/CSU das Wort .
({2})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen!
Es gibt auf Dauer keinen wirtschaftlichen Fortschritt, ohne dass die Wissenschaft auch gepflegt
wird .
Diesen Satz sagte Konrad Adenauer vor sehr vielen Jahrzehnten, und er ist für uns heute noch genauso aktuell,
wie er damals erschien.
({0})
Wir wollen darauf achten - das werde ich gleich an
vielen Beispielen zeigen können -, dass wir nicht nur fördern und fordern - diese Wortpaarung haben wir heute
schon in mehreren Debatten gehört -, sondern dass die
Maßnahmen in unserem Bereich auch nachhaltig sind.
Dieser Begriff „Nachhaltigkeit“ ist manchmal vielleicht
ein bisschen abgegriffen, aber ich möchte jetzt auf den
eigentlichen Wortsinn zurückkommen.
({1})
Der eigentliche Wortsinn ist: Wir wollen etwas schaffen,
das auch in Zukunft Wirkung entfaltet, und zwar über
die heutige direkte finanzielle Förderung hinaus. Das ist
ganz wichtig. Nur dann entsteht das, was wir alle wollen,
nämlich eine Dynamik im Wissenschaftssystem.
In den vorgelegten Programmen und auch in den
Bund-Länder-Vereinbarungen der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz finden wir eine ganze Reihe dieser
Nachhaltigkeitsmerkmale. Ich möchte das an drei Punkten zeigen .
Erstens. Im Rahmen der neuen Exzellenzstrategie
fördern wir die Exzellenzuniversitäten auf der Grundlage von Artikel 91 Grundgesetz langfristiger. Mit dieser
langfristigen Planungssicherheit werden natürlich auch
langfristig wirkende Veränderungen ermöglicht.
Zweitens. Schauen Sie sich die Exzellenzcluster an. In
Bezug auf die Exzellenzcluster haben wir eine zusätzliche Strategiepauschale eingeführt, die heute auch schon
erwähnt wurde. Was können wir dadurch erreichen? Diese Strategiepauschale ermöglicht es den Universitäten
zum Beispiel, strategische Veränderungen vorzunehmen.
Sie können Profilbildungen finanzieren, Schwerpunkte
setzen und etwas schaffen, was der gesamten Universität
nicht nur heute, sondern vor allem morgen zugutekommt.
Ich denke, auch das ist ein ganz wesentlicher Punkt und
weist auf die Nachhaltigkeit der Förderung der Exzellenzcluster hin.
Drittens. Nehmen wir schließlich das Tenure- TrackProgramm, das Kernstück der Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses in der jetzt vorliegenden
Bund-Länder-Vereinbarung. Es geht über die bloße
Schaffung der zusätzlichen Stellen hinaus, die für sich ja
schon langfristig wirken. Wie geschieht das? Bund und
Länder werden im Gegenzug dafür, dass es hier zusätzliche Stellen gibt, von den Universitäten auch etwas fordern. Das müsste Frau Gohlke eigentlich besonders gut
gefallen. Leider hat sie allerdings gemeint, dies fehle.
({2})
Wir verlangen nämlich ganz klar eine Personalentwicklungsplanung.
({3})
Eine Personalentwicklungsplanung ist der übergeordnete
Begriff für eine Personalstrukturplanung, und das, was
Sie an Gleichstellung einfordern, ist Teil ebendieser Personalstrukturplanung.
({4})
Genau das ist eine Eingangsvoraussetzung für die Förderung, und das wollen wir.
Wir alle - ob wir über Mentoring, Coaching, fachliche
Weiterbildung oder Gleichstellungsziele, die wir haben,
sprechen - wissen: Mit einer guten Personalentwicklungsplanung kann man langfristig viel mehr erreichen
als mit irgendeinem Gesetz oder irgendeinem Sonderprogramm. Erst diese Planung erzeugt nämlich einen
Bewusstseinswandel in den Einrichtungen. Diesen brauchen wir dringend. Das gehen wir jetzt an.
({5})
Wir setzen gleichzeitig mit den neuen Bedingungen
das klare Signal, dass Kinder eben kein Hinderungsgrund
für die Karriere sind; Simone Raatz hat es eben schon
ausgeführt. Mit diesem Signal sagen wir: Die Karriere
kann zusammen mit einer Familiengründung erfolgreich
sein. Die persönliche Lebensplanung kann so gemeinsam
mit dem Beruf vereinbart werden. Das ist ein klares Bekenntnis zu der Lebensplanung der Wissenschaftlerinnen
und Wissenschaftler, aber auch ein klares Bekenntnis,
dass eine Gesellschaft Kinder braucht. Auch das ist ein
Signal von Nachhaltigkeit, möchte ich sagen.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir als Wirtschaftsnation auch in Zukunft Bestand haben wollen,
dann müssen wir - das zeigen auch diese drei Programme
und Vereinbarungen ganz deutlich - unsere Wissenschaft
nachhaltig pflegen. Die vorgelegten Programme, die wir
heute debattiert haben - diese Debatte wird sicherlich nur
ein Zwischenschritt sein -, sind auf jeden Fall aus meiner
Sicht ein weiterer, extrem wichtiger Meilenstein auf unserem Weg zu einer nachhaltigen Weiterentwicklung des
Hochschulsystems und damit gleichzeitig zur Sicherung
einer dynamischen Wirtschaftsentwicklung.
Ich bedanke mich recht herzlich für Ihre Aufmerksamkeit .
({7})
Danke auch für die präzise Einhaltung der Redezeit. Nächster Redner ist der Kollege Oliver Kaczmarek für
die SPD .
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte
einige Punkte der Debatte über Exzellenzförderung und
über das entsprechende Paket, wie sie öffentlich hier im
Plenarsaal geführt worden ist, aufgreifen, weil ich finde,
dass an einigen Stellen ideologisch ein bisschen verengt
argumentiert wurde. Die einen sagen: „Exzellenzförderung lehnen wir im Grunde ganz ab“, und andere sagen:
„Wir möchten diese Förderung noch stärker konzentrieren.“ Deswegen möchte ich dazu drei Anmerkungen machen .
Erste Anmerkung. Es ist nicht in Ordnung, wenn ein
Gegensatz zwischen Exzellenzförderung und guter Lehre oder Breitenförderung aufgemacht wird. Wer sich
einmal ganz konkret Cluster und Spitzenstandorte angeguckt und mit den Hochschulleitungen gesprochen hat,
der weiß, dass gerade die Einbindung forschungsorientierter Lehre ein wichtiger Punkt in der gesamten Hochschul-Governance ist, sowohl bei den Hochschulen mit
Clustern als auch bei den Spitzenstandorten.
Genau deshalb haben Bund und Länder in der Verwaltungsvereinbarung, die jetzt zur Beschlussfassung
vorliegt, den Aspekt der forschungsorientierten Lehre gestärkt. Die Lehre ist eine Fördervoraussetzung und muss
in den Anträgen nachgewiesen werden. Sie ist eine Bewertungsgrundlage für das Expertengremium. Ich sage
daher nicht, dass wir bei der Qualität der Lehre nicht
noch mehr tun müssen .
Wir dürfen auch nicht so tun, als würde der Bund
nichts machen. Immerhin nehmen 156 Hochschulen an
der zweiten Phase des Qualitätspakts Lehre teil. Das ist
nun nicht gerade nichts. Das ist ein schöner Bestandteil
in der Förderung der Qualität der Lehre.
({0})
Unsere Bitte an die Bundesregierung ist, wenn der Beschluss durch die Ministerpräsidenten und die Bundeskanzlerin gefasst worden ist, klarzumachen: Das ist ein
wichtiger Teil. - Aber in der Exzellenzinitiative muss
noch mehr aufscheinen: Wer eine exzellente Universität werden will, der muss auch eine exzellente und forschungsorientierte Lehre anbieten. Ohne das geht es aus
unserer Sicht nicht .
({1})
Alexandra Dinges-Dierig
Zweite Anmerkung. Es ist und bleibt richtig, in der
Spitze breit zu fördern. Ich will jetzt gar nicht auf den
Dissens zwischen drei bis fünf bzw. acht bis elf Spitzenstandorten im Detail zu sprechen kommen. Es hat
auch in der Community wenig Widerhall gefunden, die
Zahl der Spitzenstandorte zu verringern. Aber ich will
einfach sagen - das ist unser Bekenntnis zur Exzellenzförderung -: Wir verstehen das Wissenschaftssystem in
Deutschland anders.
({2})
Wir haben mehr als Harvard zu bieten. Wir wollen die
Stärken dieses Wissenschaftssystems weiterentwickeln
und fördern die Vielfalt. All das ist ein einzigartiger
Schwerpunkt der deutschen Wissenschaftslandschaft im
internationalen Konzert. Deswegen wäre es für die SPD
nicht akzeptabel, auf weniger als diese acht bis elf Spitzenstandorte zu gehen; denn dies würde unserem Wissenschaftssystem und seiner internationalen Sichtbarkeit
nicht gerecht werden .
({3})
Dritte Anmerkung. Wir glauben, dass die „Innovative
Hochschule“ das Portfolio der Wissenschaftsfinanzierung
sinnvoll ergänzt. Die „Innovative Hochschule“ ist kein
Trostpflaster für Fachhochschulen und kleine Universitäten, und sie ist auch keine Exzellenzstrategie für sie.
Sie konzentriert sich vielmehr auf zwei besondere Förderdimensionen, die auch besondere Schwerpunkte und
markante Merkmale insbesondere von Fachhochschulen
in unserem Wissenschaftssystem sind. Deswegen sollen
jeweils 50 Prozent der Förderfälle und der Fördersumme auf Fachhochschulen entfallen. Es geht um Transfer
und um die Vernetzung in der Region. Deswegen glauben
wir, dass es auch an dieser Stelle ein gutes, richtiges und
wichtiges Förderprogramm ist.
Aber wir räumen gerne ein: Trotz vieler Anstrengungen, die wir unternommen haben, um die Forschung an
Fachhochschulen zu stärken und mit diesem Programm
voranzukommen, halten wir den Mitteleinsatz für die
Förderung und Stärkung der Fachhochschulen insgesamt
noch nicht für zufriedenstellend. Deshalb würden wir
gerne in dieser Wahlperiode, aber auch in den folgenden
Wahlperioden noch eine Schippe drauflegen.
({4})
Meine Damen und Herren, wenn wir zum jetzigen
Zeitpunkt der Wahlperiode in der Wissenschaftsfinanzierung einen Strich ziehen, dann muss man sagen: Es
ist viel erreicht worden. Stichworte dazu wurden bereits
genannt. Der Hochschulpakt ist ausfinanziert. Der Aufwuchs für den Pakt für Forschung und Innovation ist
bundesseitig finanziert worden. Beim Qualitätspakt Lehre ist die zweite Phase gesichert. Die Exzellenzinitiative
wird zur Strategie. Die Forschung an Fachhochschulen
wird gestärkt. Das ganze Paket wird jetzt um den Pakt für
den wissenschaftlichen Nachwuchs und um die „Innovative Hochschule“ ergänzt.
Das ist eine stolze Leistung. Wir haben schon eine
Menge erreicht . Aber wenn wir einen Strich ziehen, dann
muss man auch sagen: Wir haben viel erreicht, aber es
gibt noch viel zu tun. Der Kollege Rossmann hat gerade
auf die nächste Wahlperiode hingewiesen. Dann laufen
einige Pakte aus. Wir müssen sie dann einer Überprüfung
unterziehen und überlegen, wie wir mit diesen Pakten
umgehen .
Die SPD will die Vielfalt der deutschen Wissenschaftslandschaft weiter fördern, und zwar in der Spitze
wie in der Breite .
({5})
Wir wollen die Universität im Zentrum sehen. Wir wollen Sicherheit für die außeruniversitäre Forschung, und
wir wollen den besonderen Beitrag, den die Fachhochschulen in unserem Wissenschaftssystem leisten, noch
deutlicher zur Geltung kommen lassen. Deswegen ist es,
glauben wir, richtig, die Mittel im System zu halten, zielgerichtet zu überprüfen, die Pakte weiterzuentwickeln
und einen wirksamen Beitrag zur Grundfinanzierung zu
leisten. Auch das gehört in diese Debatte; es spielt keine Nebenrolle. Wenn wir die Exzellenzförderung für gut
halten und fortsetzen wollen, dann gehört dazu auch,
dass wir die Grundfinanzierung in den Blick nehmen und
in der nächsten Wahlperiode die Mittel für den Hochschulpakt verstetigen.
Herzlichen Dank.
({6})
Zum Schluss dieser Vereinbarten Debatte spricht die
Kollegin Patricia Lips für die CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Vor allem
in den letzten zehn Jahren hat der Wissenschaftsstandort
Deutschland einen großen Sprung nach vorne gemacht.
Unsere Hochschulen - die Ministerin hat darauf hingewiesen - bilden hierbei zu Recht mit ihren Forschungseinrichtungen die Herzkammer des Systems .
Darauf wollen wir uns nicht ausruhen. Wir schreiten
weiter voran, und wir sind der Überzeugung, dass wir mit
dem, was heute bereits vorgestellt wurde, weitere wichtige Meilensteine setzen, um unseren Standort an dieser
Stelle zu stärken.
Die Exzellenzinitiative war und ist eine Erfolgsgeschichte . Sie hat die Wissenschafts- und Forschungslandschaft bereits in weiten Teilen nachhaltig zum Vorteil verändert und einen dynamischen Prozess eingeleitet.
Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, wir sind alle stolz
darauf, dass Deutschland auf dieser Basis seine wichtiOliver Kaczmarek
ge Rolle in der Forschungslandschaft weiter ausbauen
konnte .
({0})
Wichtigste Grundlage hierfür war und ist - das wurde
bereits mehrfach erwähnt -, die Grundsätzlichkeit, die
Förderung von Spitzenforschung als schlichte Notwendigkeit anzuerkennen. Ja, es ist ein wissenschaftsgeleiteter Wettbewerb. Es ist ein Ringen um Leistung. Es ist
aber vor allem auch ein Bekenntnis, Exzellenz in Verantwortung für das Ganze zuzulassen, weil sie sich am Ende
für das Ganze als erfolgreich erweist.
Es geht ja nicht nur um einen Prozess im Inneren oder
einen Wettbewerb der hiesigen Einrichtungen . Deutschland steht in einem globalen Wettbewerb, und hierfür ist
es wichtig, dass wir uns diesem Wettbewerb zunehmend
stellen und die geeigneten Instrumente einsetzen. Durch
Spitzenforschung und die Förderung der Exzellenz werden wir an dieser Stelle sichtbar.
Umso mehr begrüßen wir das Ergebnis zur neuen Exzellenzstrategie aus der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz. Auch ich möchte mich heute ganz herzlich bei
der Bundesforschungsministerin Johanna Wanka für ihre
erfolgreiche Verhandlungsführung bedanken.
({1})
Neben den Förderlinien - sie wurden ja zu den jeweiligen Einzelmaßnahmen im Detail genannt - liegt jedoch
diesmal, bei dieser Neuauflage, die ganz große Chance
in der erhöhten Planungssicherheit - deshalb möchte ich
das an dieser Stelle auch noch einmal hervorheben -, die
einen dauerhaften Aufwuchs zulässt. Es ist die ganz neue
Qualität mitsamt dieser ganzen Förderlinien und Einzelelemente, die diese neue Exzellenzstrategie auszeichnet
und damit die Erfolgsgeschichte ganz sicher fortschreiben lässt. Sie ist das Kernstück dieser drei Elemente.
Aber auch ich möchte hier erwähnen, dass das ganze
Paket, dass das stabile Gerüst erst aus dem Zusammenspiel der drei Elemente entsteht und dass sich daraus die
Stärkung des Wissenschaftsstandorts entfaltet: Das ist
zum einen das Thema Exzellenzstrategie, zum anderen
die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses und
zum Dritten das Thema „Innovative Hochschule“.
Es wird zu Recht an verschiedenen Stellen darauf aufmerksam gemacht, dass Größe natürlich nicht immer automatisch mit Qualität gleichzusetzen ist. Die besondere
Stärke in diesem Land ist die Vielfalt der Hochschullandschaft, ausgestattet mit jeweils spezifischen Aufgaben
oder - besser - Verantwortung in diesem System . Dies
gilt insbesondere für die Fachhochschulen und kleineren
Hochschulen, deren Vorteil sowohl in einer hohen Innovationsfähigkeit wie auch in einem schnelleren Wissenstransfer besteht .
({2})
Hinzu kommen - ich glaube, der Herr Kollege
Kaczmarek hat das schon erwähnt - eine flächendeckende und enge Anbindung an die Region, beispielsweise in
Form von Kooperationen mit mittelständisch geprägter
Wirtschaft . Sie decken damit ein wichtiges Spektrum ab,
sie sind bei weitem nicht nur ein Ableger oder ein Anhängsel anderer Einrichtungen. Diese Fähigkeiten wollen wir parallel ebenfalls mit einem ganz neuen Element,
dem Programm „Innovative Hochschule“, aufwerten und
unterstützen .
({3})
Lassen Sie mich auch noch etwas anderes erwähnen die Steilvorlage war an dieser Stelle einfach zu verlockend; dabei komme ich sogar noch zu höheren Zahlen
als Herr Rossmann -: Wenn ich zusammenrechne, was in
den Hochschulpakt geflossen ist und fließt, in den Qualitätspakt Lehre, in die Übernahme des BAföG-Anteils
der Länder durch den Bund - damit wären Tausende von
Stellen dauerhaft zu finanzieren -, in die Förderung von
Programmpauschalen und in die bereits vorhandenen
Fördermittel für Fachhochschulen, komme ich da auf
mehr als 25 Milliarden Euro allein vonseiten des Bundes
und stelle fest: Das geht in die Breite.
({4})
Insofern kann man auch nicht davon sprechen, dass wir
uns einseitig auf etwas konzentrieren . Ich hoffe doch,
dass Sie Ihre kritische Haltung gegenüber dem Auswahlcharakter auch einer Exzellenzinitiative hier noch einmal
überdenken können.
Das zweite Element zusätzlich zur Exzellenzstrategie - wir hörten es bereits - bildet ein weiteres Programm
zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses. Es
geht um die klugen, es geht um die klügsten Köpfe in unserem Land wie auch darüber hinaus. Es geht nicht allein
darum, sie zu gewinnen, es geht vor allen Dingen darum,
sie auch perspektivisch zu halten.
In Verbindung mit den Maßnahmen aus früheren Gesetzen geben wir dem wissenschaftlichen Nachwuchs
Planungssicherheit, eröffnen auch nachfolgenden Generationen immer wieder Chancen, bieten jetzt den Universitäten auch einmal ganz neue Wege bei ihrer Personalplanung und erhalten gleichzeitig die Dynamik und die
Flexibilität in unseren Einrichtungen.
Kolleginnen und Kollegen, wir sind davon überzeugt,
dass wir mit den nun drei neuen Programmen, diesem
Gesamtpaket, weitere wichtige Weichen gestellt haben
und stellen werden, um das Wissenschaftssystem voranzubringen, Deutschland an der Spitze zu halten, und zwar
sichtbar und auf Dauer .
Vielen Dank.
({5})
Damit schließe ich die Aussprache.
Abstimmungen oder Überweisungen sind für diesen
Tagesordnungspunkt nicht vorgesehen .
Deshalb kann ich sofort den Tagesordnungspunkt 29
aufrufen:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über Maßnahmen zur Förderung des deutschen Films
({0})
Drucksachen 18/8592, 18/8627
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({1})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . - Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist das somit beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache und erteile zuerst für die
Bundesregierung der Frau Staatsministerin Professor
Monika Grütters das Wort .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Mit dem Entwurf unseres neuen Filmförderungsgesetzes rollen wir quasi künftigen Filmerfolgen
den roten Teppich aus. Qualitative Spitzenförderung zu
ermöglichen und dazu die deutsche Filmwirtschaft im internationalen Wettbewerb zu stärken, das sind die Ziele
der Gesetzesnovelle, über die wir heute in erster Lesung
beraten. Sie soll dem deutschen Film, den man als eine
Art Aushängeschild unserer Kulturnation bezeichnen
kann - im Ausland wird er sehr viel gesehen -, nationale
und internationale Strahlkraft verleihen. An Strahlkraft
hat es zumindest in den vergangenen Wochen und Monaten nicht gefehlt. Mit ihrem Film Toni Erdmann, übrigens gefördert mit Mitteln der Filmförderungsanstalt, des
DFFF und der kulturellen Filmförderung meines Hauses,
war Maren Ade bei den diesjährigen Filmfestspielen in
Cannes der echte Liebling der Filmkritik, und zwar der
internationalen. Manche haben sie auch als „Siegerin der
Herzen“ bezeichnet. Mit 27,5 Prozent Marktanteil hat der
deutsche Film 2015 das beste Ergebnis seit Erfassung der
Besucherzahlen erzielt. Solche Erfolge zeigen immerhin:
Wir sind mit unserer Filmförderung auf dem richtigen
Weg .
Damit künstlerische und wirtschaftliche Wagnisse
auch in Zukunft möglich bleiben, sieht der Regierungsentwurf des Filmförderungsgesetzes unter anderem vor,
ein hohes Niveau des Abgabeaufkommens zu sichern,
die Filmförderung effizienter zu machen, die Drehbuchförderung deutlich auszubauen, die Leistung der Produzenten noch stärker zu honorieren, Kinos als Kulturorte
vor allem in der Fläche, also jenseits der Metropolen, zu
stärken und - daran hänge ich sehr - Kurzfilme mehr als
bisher zu fördern. Wir wollen zudem die Entscheidungsstrukturen effizienter gestalten und dabei nicht zuletzt ich glaube, das ist die Voraussetzung für ein gutes Ergebnis - den Frauenanteil in den FFA-Gremien signifikant
erhöhen.
Lassen Sie mich ganz kurz auf diese Punkte eingehen, zuerst auf das Abgabeaufkommen . Wenn das neue
FFG qualitative Spitzenförderung ermöglichen soll, dann
brauchen wir deutlich mehr Mittel aus der Branche selbst.
Insbesondere die öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten
werden deshalb künftig zu einem Abgabesatz von 3 Prozent verpflichtet. Aber ARD und ZDF haben darüber hinaus sogar ihre Bereitschaft erklärt, freiwillig 4 Prozent
zu leisten, also aufzustocken; das war nicht immer so.
Das ist ein echter Erfolg.
({0})
Auch die Abgaben der anderen Einzahler werden moderat angepasst, sodass wir eine gute Balance zwischen
den Abgabezahlern erreichen. An der Abgabepflicht der
ausländischen VoD-Anbieter halten wir natürlich fest.
Ich habe am Dienstag an der Kulturministerratssitzung
in Brüssel teilgenommen. Dort hat die Kommission ihren ersten Entwurf einer AVMD-Richtlinie vorgelegt, in
der erstmals dieses Prinzip implementiert wird. So weit
waren wir noch nie. Ich habe Kommissar Oettinger, der
daran maßgeblich mitgewirkt hat, gedankt. Es ist nicht
nur für den deutschen Filmstandort wichtig, dass es keine
Abgabeoasen mehr gibt .
({1})
Gleichzeitig wollen wir die Förderung effizienter gestalten, indem wir uns bei der Vergabe der Fördermittel
auf wenige, aber vielversprechendere Projekte konzentrieren, um diese mit höheren Summen zu fördern. Der
Gesetzentwurf sieht deshalb für die Auswahl der Projekte im Rahmen der Projektfilmförderung detailliertere
Vorgaben als bisher und eine gesetzliche Mindestförderquote vor. Außerdem sollen durch die Abschaffung der
sogenannten Erfolgsdarlehen künftig mehr Mittel für die
erneute Vergabe durch die jeweiligen Kommissionen zur
Verfügung stehen. Es gibt also künftig auch mehr Begünstigte .
Um Spitzenqualität geht es auch beim Ausbau der
Drehbuchförderung. Mit der neuen Drehbuchfortentwicklungsförderung, die nicht nur am Anfang greift, sondern auch dann, wenn ein Stoff weiterentwickelt wird,
und der Erhöhung der Mittel wollen wir dafür sorgen,
dass gute Stoffe tatsächlich bis zur Filmreife gelangen.
Das ist leider nicht immer so. Wir glauben, dass wir mit
diesem mittleren Förderschritt deutlich mehr Drehbüchern dazu verhelfen, zum echten Film zu werden. Die
Drehbücher gelten zu Recht als DNA eines hohen deutschen Marktanteils. So haben es zumindest die Drehbuchautoren selber einmal formuliert.
Stärker honorieren wollen wir künftig auch die Leistung der Produzenten, wie ich eingangs gesagt habe, zum
Beispiel mit Erleichterungen beim vom Produzenten zu
erbringenden Eigenanteil und mit der Einführung des
25-Prozent-Bonus, der wirksam wird, wenn der Film
erfolgreich ist und die Einnahmen an der Kinokasse die
Herstellungskosten übersteigen.
Ein weiterer Punkt ist die Förderung des Kurzfilms.
Von seiner kompositionellen Raffinesse, von den anspruchsvollen Dramaturgien, von der knappen, präzisen
Erzählweise - das sind die Charakteristika eines Kurzfilms - profitiert die Filmkunst insgesamt. Deshalb sieht
die FFG-Novelle vor, dass künftig auch Kurzfilme von
unter einer Minute und bis zu 30 Minuten - das war bisVizepräsident Johannes Singhammer
her die Eingrenzung - Fördermittel bekommen können.
Es wäre doch zu schade, Experimentierfreude in ein zu
starkes Minutenkorsett zu zwingen. Deshalb weiten wir
die Kurzfilmförderung deutlich aus.
Weil Filmkunst nicht nur Leinwand oder Bildschirm,
sondern auch eine Bühne braucht, wollen wir Kinos als
Kulturorte deutlich stärken, gerade abseits der großen
Städte. Kinos profitieren von der Anhebung der für den
konkreten Abgabesatz maßgeblichen Umsatzschwellen.
Außerdem soll es bei den bisherigen Sperrfristen bleiben . Die garantieren - das System der Sperrfristen wird
immer wieder diskutiert -, dass ein Film zumindest in
der Regel sechs Monate exklusiv dem Kino vorbehalten
bleibt, bevor er zum Beispiel auf DVD zu haben ist. Auch
das finde ich wichtig.
({2})
Es gibt diesbezüglich immer wieder die eine oder andere Erwägung, aber ich glaube, das ist wirklich im Interesse der Kinos. Das betrifft vor allen Dingen die Kinos
jenseits der großen Städte. Für die ist das ein wichtiger
Punkt .
Ein letzter Punkt. Wir wollen die Gremien der FFA
verschlanken und professionalisieren. Dass das dringend
nötig war, können alle die bestätigen, die die bisherige
Zusammensetzung kennen. Künftig soll es nur noch drei
Förderkommissionen mit maximal fünf Mitgliedern aus
einem Pool von Experten geben, die in wechselnder Besetzung tagen. Auf diese Weise können sich die Kommissionsmitglieder die Projekte bzw. die Filme genauer anschauen, sodass herausragende Ideen nicht in der Masse
der Antragsteller untergehen.
Im Rahmen der Gremienbesetzung will ich für mehr
Geschlechtergerechtigkeit in der Filmbranche sorgen.
Man kann das im künstlerischen Bereich nicht erzwingen. Das Potenzial ist aber da. Wie wir in diesem Jahr
gesehen haben, waren drei ganz tolle Regisseurinnen
unter den Gewinnern des Deutschen Filmpreises. Aber
in den Gremien, wo wir ausdrücklich Einfluss ausüben
können, war das nicht gegeben. Es kann nicht sein, dass
zwar unser höchstdotierter Filmpreis einen Frauennamen
trägt - die Lola -, unsere hochdekorierten Filmemacher
in der Regel aber nicht. Künftig werden mindestens zwei
Frauen in den Fünferkommissionen an den Förderentscheidungen beteiligt sein. Ich bin zuversichtlich, dass
sich damit auch mehr von Frauen geprägte Projekte
durchsetzen können.
({3})
Der aktuelle Entwurf des Filmförderungsgesetzes ist
das Ergebnis mehrfacher Branchenanhörungen, großer
runder Tische - viele von Ihnen haben daran teilgenommen - und unzähliger Gespräche auch und gerade mit
Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Für den konstruktiven Austausch - das war bei dem Filmförderungsgesetz wirklich wohltuend - bin ich allen Beteiligten sehr
dankbar. Es freut mich vor allem, dass wir gemeinsam
Wege gefunden haben, um künstlerische Aspekte bei der
wirtschaftlichen Filmförderung doch noch ein bisschen
stärker zu betonen.
Wie der Beifall klingt, wenn deutsche Filmkunst
überzeugt, haben wir in den vergangenen Wochen dank
Toni Erdmann gehört. Dieser Film erreicht die Sterne,
vermerkte Le Figaro. Oder: Originell bis ins Absurde,
kommentierte Deutschlandradio Kultur. Ein Werk von
großer Schönheit, großen Gefühlen und großes Kino, hat
die New York Times diesen Film genannt. Er kommt im
Juli in die Kinos. Solche Zeilen wünschen wir, die wir
die Filme lieben, uns doch alle. Wir würden sie gerne
öfter hören und lesen. In diesem Sinne hoffe ich auf Ihre
Unterstützung für den Entwurf unseres neuen Filmförderungsgesetzes .
Vielen Dank.
({4})
Nächster Redner ist der Kollege Harald Petzold, Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Liebe Besucherinnen und Besucher auf
der Besuchertribüne! Es ist zwar noch nicht ganz Freitag
nach eins, aber fast. Freitag nach eins macht bekanntlich
jeder seins. Wir sehen das leider auch hier im Plenarsaal.
Die Behandlung dieses Gesetzesanliegens ist so wichtig,
dass das Filmförderungsgesetz das Dasein in einer Randzone eigentlich nicht verdient hat.
Dass die Bundesregierung beantragt hat, die Debatte
über diesen Tagesordnungspunkt erst jetzt stattfinden zu
lassen, spricht Bände in Bezug darauf, welche Wichtigkeit sie diesem Gegenstand tatsächlich beimisst. Nach
diesem Tagesordnungspunkt werden übrigens nur noch
die Ostrenten behandelt. Auch das spricht Bände hinsichtlich der Wichtigkeit, die die Große Koalition bestimmten Themen hier offensichtlich zubilligt.
Ich bin sehr froh, dass meine Fraktion einen eigenen
Antrag eingebracht hat, der bereits im April dieses Jahres
in der Kernzeit auf der Tagesordnung stand. Bereits zu
diesem Zeitpunkt haben wir beantragt, das Filmförderungsgesetz sozial ausgewogen und geschlechtergerecht
zu ändern. Wir haben uns für Genrevielfalt und für den
Erhalt von Kino als Kulturort ausgesprochen.
Damit wurde wenigstens einmal in dieser Legislaturperiode zu einer zugänglicheren Zeit, in der auch mehr
Abgeordnete im Plenarsaal sind, dieser wichtige Gegenstand - für die Koalition ist es ja in dieser Wahlperiode
eines der wichtigsten Projekte der Medienpolitik überhaupt - öffentlich diskutiert. Das hat in der Öffentlichkeit
übrigens ein sehr positives Echo gefunden. Ich finde, das
ist gut so .
({0})
Ich bin darüber hinaus sehr froh, dass sich der Bundesrat in seiner Stellungnahme sehr deutlich dafür ausgesprochen hat, dass das „in der Filmwirtschaft eingesetzte
Personal zu sozialverträglichen Bedingungen beschäftigt
wird“. Es soll nach Auffassung der Bundesländer eine
neue Aufgabe der Filmförderungsanstalt werden - ich
zitiere -, „auch die Belange der Beschäftigten in der
Filmwirtschaft zu unterstützen“. Ein ganz herzliches
Dankeschön an die Bundesländer für diese Stellungnahme und ein ganz herzliches Dankeschön besonders an die
Bundesländer mit linker Regierungsbeteiligung, nämlich
Thüringen und Brandenburg, die sich besonders intensiv
für diesen Punkt in der Stellungnahme der Bundesländer
eingesetzt haben. Denn angesichts zu einem großen Teil
prekärer Arbeits- und Produktionsbedingungen vieler
Filmschaffender ist die Forderung aktueller denn je, dass
sich die Filmförderung für Tariftreue, für faire und angemessene Vertragsbedingungen zwischen Produktionsunternehmen und den Beschäftigten einsetzt.
Ich wiederhole in diesem Zusammenhang den Vorschlag meiner Fraktion, der Linken, aus unserem Antrag
zur sozialverträglichen Änderung des Filmförderungsgesetzes:
Produzenten, die nachweislich einkalkulierte
Tarif- bzw. Mindestlöhne nicht ausgezahlt haben, sollten für drei Jahre von der Förderung
ausgeschlossen werden.
Ich sage: Mit der Novelle zum Filmförderungsgesetz
böte sich eine gute Chance, dies ein für alle Mal zu ermöglichen.
({1})
Im Übrigen, verehrte Kolleginnen und Kollegen von
der Union: Die Stellungnahme des Bundesrates müsste
für Sie wie eine schallende Ohrfeige gewirkt haben, da
Sie uns ja wieder sozialistische Planwirtschaft im Zusammenhang mit unserem Antrag und der Debatte darüber unterstellt haben. Ich kann Ihnen versichern: Wir
werden mit unseren Änderungsanträgen genau diese ursozialistische Forderung, nämlich „Gute Löhne für gute
Arbeit“, einbringen und thematisieren, und wir werden
auf eine Änderung des vorliegenden Gesetzentwurfs
drängen, zumal Sie als Große Koalition nicht einmal bereit sind, bei den Regelungen zur Arbeitslosenversicherung die Belange von kurzfristig Beschäftigten - dazu
zählen die Beschäftigten der Filmwirtschaft - besonders
zu berücksichtigen und diese zu verändern.
Das ist ein klarer Bruch Ihres Versprechens aus dem
Koalitionsvertrag, wo Sie zugesagt haben, dass noch in
dieser Wahlperiode für eine Reform der Arbeitslosengeld-I-Regelung für Kulturschaffende gesorgt werden
soll. Da nützt es auch gar nichts, wenn die Staatssekretärin Kramme hier Krokodilstränen verdrückt und sagt: Es
ist leider nicht gelungen, für die kurzfristig Beschäftigten
eine Verbesserung zu erreichen .
Ich kann nur sagen: Das war der Großen Koalition
offensichtlich einfach nicht wichtig genug, ähnlich wie
möglicherweise die gesamte Filmförderung. Ich kann nur
die Forderung meiner Fraktionskollegin Zimmermann
von gestern wiederholen, die gesagt hat, dass mindestens
vier Monate ausreichen müssen, um Anwartschaften für
das Arbeitslosengeld I zu erwerben.
({2})
Meine Redezeit ist leider nur kurz bemessen. Deswegen kann ich nicht weiter in die Tiefe gehen, um darzustellen, was Ihrem Gesetz noch alles fehlt. Sie haben keine Vorstellung von der Zukunft des deutschen Films. Sie
haben keine Idee von den gesellschaftlichen, kulturellen
und sozialen Wirkungen des Films. Sie betrachten Film
zuallererst als Standortpolitik, dann als Verschiebebahnhof für Fördermittel - wobei Sie auch noch knauserig
sind -, und Sie konzentrieren sich dann im Wesentlichen
auf Gremienbesetzungen, wobei Sie immer ordentlich
darauf achten, dass vor allen Dingen die Verwerterseite
in den Gremien ordentlich präsentiert ist, was dann dazu
führt, dass von dieser Seite Einfluss auf Filmgeschichten
und Drehbücher genommen wird, was wir für unangemessen halten. Sie reden davon, dass eine Frauenquote
mehr Geschlechtergerechtigkeit bringt. Fragen Sie einmal unsere europäischen Nachbarn, wie sie mit diesem
Thema umgehen. Da haben wir ein Vorbild. Auch dazu
haben wir Ihnen in unserem Antrag einen entsprechenden Vorschlag vorgelegt.
Wir sagen: Der Gesetzentwurf enthält keine Regelung
dazu, wie Kinos flächendeckend erhalten und gefördert
werden können. Ihre Vorschläge hinsichtlich des Abgabeaufkommens berücksichtigen die Entwicklungen, zum
Beispiel den Rückgang beim Verkauf von DVDs, überhaupt nicht. Wir werden also nicht mehr Einnahmen in
diesem Bereich haben, sondern weniger .
Meine sehr verehrten Damen und Herren, für die Linke hat Filmförderungspolitik vor allen Dingen zum Ziel,
den Film als eine für die Gesellschaft unverzichtbare kulturelle Ausdrucksform in der öffentlichen und politischen
Wahrnehmung zu verankern und das Filmförderungssystem entsprechend neu auszurichten und am Ende zu
stärken. In diesem Sinne werden wir uns in die Debatte
einbringen . Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit und
Ihnen, Herr Präsident, dass Sie etwas großzügig mit mir
umgegangen sind, was die Redezeit anbelangt.
Vielen Dank.
({3})
Das ist die Großzügigkeit für alle, die der Debatte um
diese Zeit hier intensiv folgen. - Als Nächster spricht der
Kollege Burkhard Blienert für die SPD.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident, an Ihre Großzügigkeit
kann ich hoffentlich auch appellieren.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Vor einer Woche wurde der Deutsche
Filmpreis vergeben. Wir konnten einen starken Jahrgang
feiern, der noch einmal die breite Vielfalt des kreativen
Filmschaffens deutlich gemacht hat. Von dieser Stelle
Harald Petzold ({1})
sage ich - es ist erst eine Woche her -: Herzlichen Glückwunsch allen Preisträgerinnen und Preisträgern!
({2})
Vor wenigen Wochen haben wir Maren Ade feiern
können mit dem Film Toni Erdmann. Wir haben lange
warten müssen, bis wieder eine deutsche Produktion in
Cannes dabei war. Besonders erfreulich dabei vor dem
Hintergrund der überfälligen Genderdiskussion: Produziert hat das Projekt nämlich auch eine Frau, Janine
Jackowski. Es ist ein schönes Beispiel dafür, was das
deutsche Fördersystem im besten Fall mit bewirken
kann: die Begünstigung von künstlerischem und wirtschaftlichem Erfolg, und zwar auch im Ausland. Toni
Erdmann hat sich nämlich schon in 55 Länder weiterverkauft. Die Liste der Förderer reicht dabei von der FFA
über den DFFF bis hin zur kulturellen Filmförderung des
BKM und der Länder. Auch drei öffentlich-rechtliche
Sender haben Toni Erdmann koproduziert. Deshalb nur
am Rande bemerkt: Das Mitwirken von Fernsehredaktionen muss also einem Projekt nicht zwangsläufig schaden.
Keine Frage: Toni Erdmann ist ein Glücksfall für den
deutschen Film. Aber ich wünsche mir, dass unsere Förderung mehr solcher Filme möglich machen kann, Filme,
die die Kritiker genauso wie die Kinozuschauer im Inund Ausland begeistern. Genau das haben wir uns mit
der Novelle des FFG auch vorgenommen. Dabei ist das
FFG nur ein, wenn auch zentraler Pfeiler der deutschen
Filmförderung.
Ich möchte einen anderen kurz streifen: den DFFF. Er
war zuletzt genauso überzeichnet wie der neue German
Motion Picture Fund aus dem BMWi. Gleichzeitig haben
die Konkurrenten im globalen Standortwettbewerb um internationale Großproduktionen ihre Anreizsysteme massiv ausgebaut. Im Ergebnis ist der Glanz des ehemaligen
Vorzeigemodells DFFF inzwischen stark verblasst. Wenn
wir also die Attraktivität des Filmstandorts Deutschlands
erhalten wollen, müssen wir uns demnächst auch grundsätzliche Gedanken zum DFFF machen und das Konzept
gegebenenfalls neu ausrichten.
({3})
Zurück zum FFG . Die Bundesregierung hat nun einen Gesetzentwurf vorgelegt, dem es gelingt, sowohl die
Strukturen der Förderung als auch die Förderung selbst
zu verbessern . Das ist das Ergebnis eines intensiven und
aufwendigen Dialogs mit der gesamten Branche. Dafür
meinen Dank an das Haus der BKM und an die FFA.
Ich greife nun noch einige Punkte heraus: Mit der
Anpassung der Abgabesätze, mit der Verstärkung der
Rückflüsse in den Fördertopf, mit der Heranziehung
werbefinanzierter Abrufdienste und der VoD-Anbieter
mit Sitz im Ausland werden wir die Einnahmeseite des
FFA-Haushalts nachhaltig stabilisieren können. Der letzte Punkt ist zwar noch nicht ganz in trockenen Tüchern,
aber die neue AVMD-Richtlinie gibt begründete Hoffnung auf grünes Licht aus Brüssel. Gute Lösungen sind
bei den Bestimmungen zur geschlechterparitätischen Besetzung der Gremien gefunden worden . Darüber hinaus
ist jetzt das Bemühen um Gendergerechtigkeit im Aufgabenkatalog der FFA festgeschrieben.
Zu begrüßen sind auch die Neuerungen bei der Förderung selbst. Ein breites Bündel von Maßnahmen, insbesondere in der Projektfilm- und der Drehbuchförderung,
zielt darauf, die Qualität der Projekte konsequent zu verbessern .
Wir sollten aber auch nicht die Augen davor verschließen, dass mit der neuen Förderphilosophie deutlich weniger Projekte und vor allem weniger kleine Projekte in die
FFA-Förderung kommen werden. Deshalb bin ich auch
froh, dass die Mittel für die kulturelle Filmförderung bei
der BKM aufgestockt wurden.
Sehr gut ist es, dass bei der Tilgung von Projektfilmdarlehen jetzt sichergestellt ist, dass vorrangig die
Erlösbeteiligungen der Urheber gemäß dem Urhebervertragsrecht zu bedienen sind. Das trägt zur Verbesserung
der sozialen Lage der Urheber bei.
Noch besser wäre es gewesen, wenn der Regierungsentwurf zugleich den Vorschlag eines Erlöskorridors für
die Produzenten aufgegriffen hätte. Ehrlich gesagt verwundert es mich, dass da nichts geschehen ist . Denn die
damit verbundenen Vorteile sind offensichtlich: Die Urheber kämen früher in den Genuss der eben angesprochenen Beteiligungen. Es würde ein klarer Anreiz dafür gesetzt, dass die Produzenten Projekte verfolgen, die auch
wirtschaftlich erfolgreich sind. Wir hätten damit eine
gute Möglichkeit zur wichtigen Stärkung des Eigenkapitals der Produzenten. Zudem würde es der viel beklagten Filmschwemme entgegenwirken. Insgesamt könnten
wir in unserem Bemühen um mehr Qualität im deutschen
Film davon nur profitieren. Den Vorbehalten der um ihre
Rückflüsse besorgten Verleiher könnten wir dadurch begegnen, dass wir einen solchen Korridor zunächst nur für
die verleihgeförderten Projekte vorsehen. Ich denke jedenfalls, die Idee eines Korridors ist es allemal wert, dass
wir zumindest in den nächsten fünf Jahren, die dieses Gesetz in Kraft sein wird, austesten, wie sich dies auswirkt.
({4})
Weiterhin erfreulich im Gesetzentwurf: Die Förderung der Digitalisierung alter Filme steht nun erstmals
als eigener Förderbereich im Gesetz.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin der Auffassung, mit dem FFG soll nicht nur der deutsche Film gefördert werden, sondern auch der Kulturort Kino, für den
diese Filme gemacht sind, geschützt werden. Da ist der
Vorschlag des Bundesrates, das Auswertungsfenster der
Kinos weiter zu verkürzen, eher kontraproduktiv. Gerade
die Kinos in den kleineren Städten und die Programmkinos wären die Leidtragenden. Sie sind auf die bestehenden Fenster angewiesen. Gerade der Dokumentarfilm,
auf den der Bundesrat abhebt, ist doch im Kino eher ein
Langläufer. Sicherlich müssen wir berücksichtigen, dass
sich das Nutzerverhalten weiter verändert. Deshalb sieht
der Regierungsentwurf weitere Maßnahmen zur behutsamen Flexibilisierung vor. Ich denke, dieser Weg ist
richtig, und wir sollten beobachten, was er bewirkt. Auf
jeden Fall plädiere ich dafür, keine generelle Verkürzung
der Fristen vorzunehmen, da es nur um bestimmte Filme
geht. Der absehbare Schaden für viele Kinos verbietet
das .
({5})
Ich denke, dem Anliegen kann man auch untergesetzlich
im Rahmen der Entscheidungspraxis der FFA über Verkürzungsanträge entsprechen.
Ein ganz anderes Anliegen der Dokumentarfilmer findet jedoch meine Zustimmung. Wir halten es für sinnvoll, dass die Zuschauer nichtgewerblicher Vorführungen
bei der Referenzfilmförderung weiterhin mit berücksichtigt werden .
({6})
Aus dem Gesetzentwurf wurde das gestrichen . Auch das
werden wir bei der Anhörung im Ausschuss ansprechen
müssen .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei allem Lob für
den Regierungsentwurf ist auch ein klares Versäumnis
festzustellen: Der Entwurf enthält keinen konkreten Vorschlag, wie die Einhaltung von sozialen Mindeststandards bei der Filmproduktion sichergestellt werden kann.
Die Liste der Verstöße ist lang, und es handelt sich nicht
nur um wenige Einzelfälle. Insgesamt scheint es in den
vergangenen Jahren zwar weniger Probleme mit der Einhaltung der maximalen Arbeitszeit zu geben. Allerdings
häufen sich die Klagen, dass geleistete Überstunden ohne
die festgelegten Zuschläge vergütet werden oder dass
vereinbarte Zeitkonten nicht zur Anwendung kommen .
Nicht selten wird mit Pauschalverträgen der Tarifvertrag
umgangen. Mir liegt es fern, hier die Produktionsbranche
unter einen Generalverdacht zu stellen. Aber jeder einzelne Fall ist aus meiner Sicht ein Fall zu viel. Deshalb
tritt die SPD-Fraktion entschieden dafür ein, dass Missstände bei öffentlich geförderten Filmproduktionen nicht
hingenommen werden .
Wir reden nicht zum ersten Mal über dieses Thema.
Anlässlich der letzten Novelle hat der Bundestag in seiner Beschlussempfehlung festgestellt, dass ihm die soziale Lage der Filmschaffenden ein besonderes Anliegen
ist .
({7})
Zugleich wurde die Bundesregierung aufgefordert, darauf hinzuwirken, durch die FFA - ich zitiere - „die Einhaltung sozialer Mindeststandards bei der Produktion
geförderter Projekte nachweislich und nachhaltig sicherzustellen“. Wie hat die Bundesregierung diese Aufforderung nun im vorliegenden Entwurf umgesetzt? Herausgekommen ist eine Formulierung, die sich leider nur im
Begründungstext wiederfindet.
Wir brauchen jedoch eine präzise Aufgabenbeschreibung. Solange sie aber nur in den Begründungsteil abgeschoben ist, wird alles beim Alten bleiben. Diese Formulierung gehört in den Gesetzestext selbst, und zwar genau
dorthin, wo die Aufgaben der FFA aufgezählt werden.
§ 2 kennt acht Aufgaben. Die Mitverantwortung für sozialverträgliche Bedingungen muss die neunte Aufgabe
werden .
({8})
Dass der Bundesrat in seiner Stellungnahme genau diese
Forderung aufgegriffen hat, hat mich gefreut . Das geschah fast einstimmig über alle Parteigrenzen hinweg. 15
von 16 Bundesländern haben die Notwendigkeit erkannt,
dass mit dem FFG an dieser Stelle mehr für die Beschäftigten getan werden muss .
Seit vorgestern wissen wir: Die Bundesregierung will
diesem Anliegen entsprechen. Das können wir nur begrüßen, aber damit sind wir noch nicht am Ende der Strecke.
Denn das wäre nur der erste Schritt, und der zweite muss
folgen. Nach unserer Auffassung ist im Gesetz zu präzisieren, auf welche Weise die FFA diese Aufgabe erfüllen
kann .
Die FFA sollte nach unserer Meinung bei den antragstellenden Unternehmen erheben, ob bei der Produktion
eine Tarifbindung vorliegt und ob die Einhaltung der entsprechenden Regelungen gewährleistet ist. Wir wollen
die FFA nicht zur Tarifpolizei machen. Dazu hat sie keine Befugnis und auch nicht die personellen Kapazitäten.
Ich möchte betonen: Nach unserem Vorschlag ist nicht
die Einhaltung sozialer Mindeststandards selbst Voraussetzung für die Förderung. Denn wir wissen, dass nicht
zuletzt die EU-Entsenderichtlinie dem entgegensteht.
Fördervoraussetzung soll allein die Angabe sein, ob der
Tarifvertrag für die jeweilige Produktion gilt oder nicht.
Ich denke, das ist der richtige Weg. Darüber sollten wir
auch in der Anhörung noch einmal reden.
Ich appelliere an Sie: Lassen Sie uns dieses Mal gemeinsam das ungelöste Problem anpacken, das wir bisher von Novelle zu Novelle immer vor uns her geschoben haben. Denn das zentrale Anliegen dieses Gesetzes
ist die Qualitätssicherung beim deutschen Film. Dazu
finden sich viele gute Maßnahmen im Regierungsentwurf. Wir können das aber noch besser machen, wenn
wir uns für faire und sozialverträgliche Bedingungen am
Set einsetzen .
Ich danke für die Aufmerksamkeit .
({9})
Vielen Dank. - Als nächste Rednerin hat Tabea Rößner
von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Warum hat Toni Erdmann, der gefeierte Film von Maren
Ade, in Cannes keinen Preis gewonnen? Ich wage einmal
eine steile These: weil dieser Film von Frauen gemacht
wurde. Die Einladung nach Cannes war allerdings schon
ein Riesenerfolg. Sieben Jahre lang gab es keinen deutschen Beitrag. Vielleicht fehlt dem deutschen Film nichts
so sehr wie Frauen - Produzentinnen, Regisseurinnen
und Autorinnen . Toni Erdmann hat den Weg nach Cannes
nicht wegen, sondern trotz unseres Filmförderungssystems geschafft .
({0})
Dass Frauen in der Filmbranche benachteiligt sind, ist
hinlänglich bekannt. Wer welche Förderung bekommt,
entscheiden überwiegend Männer. Und es sind überwiegend Männer, deren Projekte dann auch gefördert werden . Frau Staatsministerin Grütters, Sie haben immer
gesagt, dass Sie diesen Missstand beheben wollen. Das
ist gut und zwingend notwendig; denn Frauen haben andere Sichtweisen und tragen zu mehr Vielfalt in der Filmlandschaft bei. Wir brauchen also mehr Produzentinnen,
mehr Drehbuchautorinnen und mehr Regisseurinnen .
Daher müssen wir ihnen bessere Chancen auf Förderung
einräumen.
({1})
Davon ist in Ihrem Gesetzentwurf nur leider nichts zu
sehen. Sie werden mir jetzt entgegenhalten: Es soll mehr
Frauen in den Gremien der Filmförderungsanstalt geben.
Daraus folgt aber doch nicht automatisch, dass mehr
Frauen gefördert werden. Wäre es da nicht besser, eine
klare Zielvorgabe zu machen, wie viele der bewilligten
Projekte in den nächsten Jahren unter Beteiligung von
Frauen bei Regie, Produktion und Drehbuch entstehen
sollen? Da geht also deutlich mehr. Wir brauchen mehr
Mut, zu einer gesetzlichen Regelung zu kommen, die
dieses Problem auch wirklich angeht.
({2})
„Mut“ ist ein gutes Stichwort. Daran fehlt es bei den
Entscheidern leider viel zu oft. Es fehlt an Mut, den
Filmschaffenden mehr Vertrauen entgegenzubringen. Sie
müssen mit ihren Projekten durch so viele Türen gehen,
und das Drehbuch muss durch so viele Hände gehen, dass
dabei am Ende nicht immer der beste Film herauskommt.
Dazu findet sich leider nichts in Ihrem Gesetzentwurf.
Wie wäre es zum Beispiel mit einem Fast Track? Die
Filmförderungsanstalt vergibt einen bestimmten Prozentsatz des Fördertopfes an erfolgreiche Filmemacherinnen
und Filmemacher in einem vereinfachten und automatisierten Verfahren. Dafür müsste man den Kreativen mehr
vertrauen, es würde aber größtmögliche künstlerische
Freiheit ermöglichen.
({3})
Wir alle wollen gute Filme sehen, aber ob die Ausgestaltung der Vergabegremien zu besseren Filmen führt,
wage ich zu bezweifeln. In den Kommissionen, die deutlich kleiner werden sollen - was ich richtig finde -, soll
zukünftig immer eine Mehrheit von Verwertern sitzen,
auch wenn es um die Förderung von Drehbüchern und
Filmen geht.
({4})
Das zementiert doch die bisherigen Machtverhältnisse,
und die Macht liegt leider nicht bei den Kreativen. An
dieser Stelle sollten Sie den Entwurf dringend überarbeiten .
({5})
Auch die Besetzung des Verwaltungsrats verfestigt
Machtstrukturen. Von den 36 Mitgliedern hat die Produzentenallianz auch künftig drei Sitze, der Verband Deutscher Filmproduzenten aber nur einen. Da frage ich mich:
Auf welcher Grundlage erfolgt diese Sitzverteilung?
Apropos Transparenz. Auch hier fehlt der Mut. Es
muss für öffentliche Anstalten Pflicht sein, Rechenschaft abzulegen. Dafür braucht man aber Zahlen über
Herstellungskosten, die Beteiligung der Fernsehsender,
Rückzahlungen und den Anteil an Frauen in den Bereichen Regie, Produktion und Drehbuch. Nur so kann man
die Förderentscheidung evaluieren. Dazu könnte zum
Beispiel ein zentrales Filmregister wie in Frankreich dienen . Ich denke, es würde der FFA gut zu Gesicht stehen,
Transparenz zum Aushängeschild zu machen.
({6})
Das könnte auch bei der Bewertung helfen, wann ein
Film erfolgreich ist, was sich wiederum auf die Referenzförderung auswirkt. Ist ein Film nur dann erfolgreich,
wenn er in absoluten Zahlen die meisten Kinobesucher
zählt? Oder ist nicht auch ein Film erfolgreich, der zwar
weniger Zuschauer hat, aber bei wesentlich geringeren
Produktionskosten im Verhältnis deutlich mehr? Warum trauen Sie sich nicht, die Herstellungskosten in das
Verhältnis zu den Zuschauerzahlen zu setzen? Das wäre
eine sinnvolle politische Steuerung im Sinne des kreativen Films. Sie würde gewährleisten, dass die Referenzförderung teure Produktionen nicht einseitig besserstellt,
während erfolgreiche, aber günstigere Filme hinten runterfallen.
({7})
Es gäbe noch vieles zu sagen über die sozialen Standards, die ökologischen Standards, die Selbstverpflichtung, die Sperrfristen oder die Stärkung des Kinos als
sozialer und kultureller Ort.
Ich will noch eine letzte Anmerkung machen. Es ist
unsere Aufgabe, den Kreativen ein Umfeld zu schaffen,
in dem sich Kreativität auch entfalten kann, damit wir
den nächsten deutschen Beitrag in Cannes nicht erst im
Jahr 2023 haben.
Vielen Dank.
({8})
Tabea Rößner
Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Johannes
Selle von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Für 1,167 Milliarden Euro wurden im Jahr 2015 Kinokarten verkauft.
Das ist ein Rekord in der deutschen Kinogeschichte. Es
gab über 139 Millionen Besucher; auch das ist ein Rekord. Das Spannendste ist: Von denen, die 2013 und 2014
nicht im Kino waren, konnten 2015 ein Drittel ins Kino
gelockt werden.
({0})
Unter den 31 Filmen, die 2015 mindestens 1 Million Zuschauer hatten, waren 9 deutsche Filmproduktionen; das
ist ebenfalls ein Rekord. Kino hat Attraktivität behalten
und konnte Attraktivität ausbauen. Über diese Erfolge
dürfen wir uns freuen, ganz besonders darüber, dass der
Anteil der deutschen Filme gewachsen ist, die das Gefallen der Zuschauer finden. Da darf man den Schluss
ziehen, dass die filmpolitischen Rahmenbedingungen gut
gesetzt waren. An dieser Stelle wollen wir mit dem neuen
Filmförderungsgesetz weitermachen.
({1})
Unser Anliegen ist es, die Qualität im deutschen Film
zu fördern, beim Kurzfilm, beim Kinderfilm, der uns
besonders am Herzen liegt, beim Dokumentarfilm und
natürlich auch beim Spielfilm. Film ist Kultur- und Wirtschaftsgut zugleich. Eine erfolgreiche Filmförderung
muss daher wirtschaftliche und künstlerische Faktoren
berücksichtigen .
Genau diesen Elementen widmet sich der Gesetzentwurf. Alle Entwicklungsstufen werden in den Blick genommen, vom Drehbuch über die Projektförderung und
die Vermarktung bis hin zur Kinoförderung. Die Kunst
des Filmschaffens kann aus einem guten Drehbuch einen
guten Film machen; aber am Anfang steht das gute Drehbuch, und deshalb konzentrieren wir die Fördermittel auf
Investitionen in die Qualität der Drehbücher.
Es liegt in der Natur des Filmschaffens, dass künstlerischer Anspruch und begrenzte Mittel, geplante Drehzeiträume, Wetter und Ähnliches zur Selbstausbeutung
führen können. Mit diesem Gesetz führen wir eine Mindestförderquote von 200 000 Euro ein. Wir wollen mit
der angemessenen Beteiligung der Filmförderung an den
Herstellungskosten dafür sorgen, dass die Finanzierung
nicht am Förderbetrag scheitert. Der Verwaltungsrat erhält Spielraum, um die Beteiligung in angemessenem
Maße nachzujustieren. Das ist ein Beitrag zur sozialen
Absicherung .
Wir tun das alles als Mittler und Moderatoren für die
Filmwirtschaft. Die Gelder, die wir nach den Regeln des
Filmförderungsgesetzes ausgeben, sind nämlich keine
Steuermittel, sondern sie stammen zum großen Teil aus
Anteilen an verkauften Eintrittskarten. Auch das muss
immer wieder gesagt werden. In diesem Prozess kollidieren die Interessen der einen Gruppe mit Interessen von
anderen Gruppen. Deshalb haben wir die ehrenvolle Aufgabe, einen akzeptablen Weg zu finden und die für alle
verbindlichen Regeln zu beschließen.
In der letzten Legislaturperiode konnten wir nur marginal handeln, weil vor dem Bundesverfassungsgericht
grundsätzlich über die Förderung beraten wurde. Im Januar 2014 ist Klarheit geschaffen worden. Deshalb können wir nun versuchen, mit einem grundsätzlich neuen
Ansatz Strukturen für eine bessere und effektivere Arbeit
zu schaffen .
Dazu gehören die drei Entscheidungsgremien, die sich
auf Drehbuch- und Produktionsförderung, Verleih-, Vertriebs- und Videoförderung sowie Kinoförderung konzentrieren können. Statt eines 13-köpfigen Vergabegremiums, das bisher alle Anträge bearbeitet hat, sollen nun
3- bis 5-köpfige Förderkommissionen gebildet werden,
die sich auf einzelne Bereiche konzentrieren können.
Außerdem wird deren Arbeitsbelastung verkleinert. Mit
diesem Ansatz wollen wir auch das Augenmerk auf die
Beteiligung von Frauen richten.
Um die Einnahmen zu verstetigen und gerecht auf die
Einzahlergruppen zu verteilen, wird es zu Erhöhungen
kommen. Hierzu stellen wir glücklicherweise in der Tendenz mehr Akzeptanz als Kritik fest.
Noch nicht ganz geklärt ist, wie wir mit Video-on-Demand-Anbietern aus dem Ausland verfahren wollen, damit sie gerecht beteiligt werden. Bei Fragen der Globalisierung und der Digitalisierung stehen wir generell wie
bei den Steuern unter Druck. Dieser Druck, zu Lösungen
zu kommen, ist, glaube ich, stark gewachsen. Erste Signale von der Europäischen Kommission gehen in diese
Richtung .
Das Kino, das seinen Platz im kulturellen Leben behauptet, wollen wir weiter stärken und schützen, vor
allem im ländlichen Raum. Das heißt, die erste Verwertungsstufe soll das Kino bleiben, und es soll weiterhin
Sperrfristen geben. Das heißt aber auch, dass wir mit diesem Instrument flexibler werden wollen. Bei innovativen
Crossstrategien oder mangelndem Interesse an einer Kinoauswertung wollen wir schneller zu den nachfolgenden Auswertungsstufen kommen. Das ist zeitgemäß und
resultiert aus den Erfahrungen der letzten Jahre.
Auch in unserer Fraktion gibt es Ideen, die wir in den
Diskussionsprozess einbringen wollen. Dazu gehört das
Erfolgsdarlehen, mit dem wir uns noch einmal befassen wollen, weil wir es nach wie vor für richtig halten,
die Erfolgreichen zu stärken und zu neuen Projekten zu
motivieren. Über die Idee aus der Branche, von Anfang
an einen Erlöskorridor für Produzenten zu ermöglichen,
wollen wir auch diskutieren. Wir wollen auch den Kinderfilm stärken. Als Thüringer Kulturpolitiker liegt mir
der Kinderfilm besonders am Herzen; denn Thüringen ist
Kinderfilmland. Vielleicht kann man bei der Besetzung
der Gremien des FFA-Verwaltungsrates etwas bewirken.
Wenn einer der vorgesehenen Produzenten sich für den
Kinderfilm engagiert, wäre das schon etwas.
Ich freue mich auf den Diskussionsprozess . Genügend
Stoff gibt es .
Herzlichen Dank.
({2})
Vielen Dank. - Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs
auf den Drucksachen 18/8592 und 18/8627 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 30 a bis 30 c auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Roland
Claus, Matthias W. Birkwald, Caren Lay, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Keine Altersarmut von Ost-Krankenschwestern - Gerechte Renten für Beschäftigte im
DDR-Gesundheits- und Sozialwesen schaffen
Drucksache 18/8612
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Roland
Claus, Matthias W. Birkwald, Caren Lay, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Keine Kumpel zweiter Klasse - Rentenansprüche der Bergleute aus der DDR-Braunkohleveredlung wahren
Drucksache 18/7903
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Roland Claus, Dr. Gregor Gysi, Matthias W.
Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Ungerechtigkeiten bei Mütterrente in Ostdeutschland und beim Übergangszuschlag
beheben
Drucksachen 18/4972, 18/6706
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre auch
dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen,
und ich kann die Aussprache eröffnen.
Als erste Rednerin in der Aussprache hat Katja
Kipping von der Fraktion Die Linke das Wort.
({3})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir
schreiben das Jahr 26 nach der Wende, und leider sind
wir noch weit entfernt von einer wirklichen Rentengerechtigkeit zwischen Ost und West. Noch immer ist der
Rentenwert Ost niedriger als der Rentenwert West, noch
immer gibt es vielfältige Benachteiligungen bestimmter
Gruppen infolge der Rentenüberleitung. Mit all den vielfältigen Benachteiligungen von ostdeutschen Biografien
in der Rente werden wir als Linke uns niemals zufriedengeben. Hier lassen wir nicht locker.
({0})
Auch die Mütterrente ist so geregelt, dass Menschen
im Osten weniger davon profitieren. Der Begriff „Mütterrente“ hat sich umgangssprachlich eingebürgert, insofern
werde auch ich ihn verwenden, auch wenn wir wissen,
dass sehr wohl auch Väter besondere Rentenpunkte für
Kindererziehung bekommen können. Da der Rentenwert
Ost niedriger ist als der Rentenwert West, gibt es für die
Erziehung eines im Osten geborenen Kindes niedrigere
Rentenansprüche, und zwar 1,79 Euro weniger je Rentenpunkt. Kindererziehungszeiten im Osten werden also
in der Rente geringer entlohnt als Kindererziehungszeiten im Westen. Die Teilung zwischen Ost und West lebt
damit in der Rente fort; wirkliche Einheit sieht anders
aus .
({1})
Gemeinsam mit einem breiten Bündnis für eine gerechte Mütterrente, also mit Verdi, der Volkssolidarität,
dem Sozialverband und dem Frauenrat fordern wir: Machen Sie Schluss mit dieser Ungleichbehandlung der Erziehungszeiten in Ost und West. Jedes Kind sollte uns
gleich viel wert sein.
({2})
Neben dem niedrigeren Rentenwert Ost gibt es eine
weitere Benachteiligung: Frauen, deren Rente einen
Übergangszuschlag beinhaltet, bekommen den zusätzlichen Mütterrentenpunkt darauf angerechnet . Diese Regelung kann dazu führen, dass ostdeutsche Mütter bei
der Verbesserung der Mütterrente leer ausgehen, so beispielsweise geschehen bei einer fast 80-jährigen Frau, die
sechs Kinder geboren hat und 1996 in Rente gegangen
ist. Eigentlich hätte ihr bei sechs Kindern eine Erhöhung
um 158 Euro zugestanden, doch ihre bisherige Rente beinhaltet eben jenen Übergangszuschlag, und damit sieht
sie von den Verbesserungen in der Mütterrente 0 Euro.
({3})
Insgesamt sind 6 500 hochbetagte Frauen davon betroffen, 6 500 hochbetagte Frauen von Dresden bis
Schwerin, die wegen Gesetzesformulierungen aus dem
Jahre 1993 in ihrem Portemonnaie wirklich nichts davon
sehen, was wir bei der Mütterrente verbessert haben . Ich
finde, es ist beschämend, dass Sie von der CDU und von
der SPD nicht in der Lage sind, für diese 6 500 Frauen
schnell eine Lösung zu finden.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich frage mich wirklich, warum Sie so verbissen auf die Benachteiligung von
ostdeutschen Frauen in der Mütterrente bestehen . Sind
Sie so verbohrt, dass Sie denen rentenpolitisch unbedingt
noch eins mitgeben wollen, nur weil sie in der DDR gelebt haben, oder liegt es daran, dass diejenigen, die die
Probleme des Ostens kennen, bei SPD und CDU nichts
zu sagen haben? Ja, ganz offensichtlich hat der Osten bei
Ihnen nichts zu melden.
({5})
Die Linke legt heute auch noch zwei Anträge vor,
die besondere Rentenungerechtigkeiten für Bergleute in
der Braunkohleveredelung und Benachteiligungen der
Ostkrankenschwestern, also den Beschäftigten im Gesundheits- und Sozialwesen der DDR, ansprechen. Beide Berufsgruppen waren besonderen Härten ausgesetzt.
Deswegen gab es für sie im Rentensystem der DDR besondere Regelungen. Die in der Braunkohleveredelung
Beschäftigten waren den Bergleuten unter Tage gleichgestellt. Als Ausgleich für ihre gesundheitsgefährdende Arbeit konnten sie früher in Rente gehen. Die Beschäftigten
im Gesundheits- und Sozialwesen der DDR erhielten als
Würdigung für ihre besonders anspruchsvolle Arbeit einen entsprechenden Steigerungsbetrag bei der Rente .
Beide Regelungen sind bei der Rentenüberleitung
nicht berücksichtigt worden bzw. nach einer Übergangszeit weggefallen. Deshalb müssen heute viele der Ostkrankenschwestern mit einer Rente nur knapp über dem
Hartz-IV-Niveau auskommen, und das nach einem wirklich aufopferungsvollen Arbeitsleben. Da muss doch etwas drin sein .
({6})
Zu den in der Braunkohleveredelung Beschäftigten.
Viele Kumpel, die dort gearbeitet haben, mussten infolge von gesundheitlichen Schäden eher in Rente gehen.
Dafür müssen sie nun nach dem jetzigen Rentenrecht lebenslang Abschläge in der Rente in Kauf nehmen. Hier
muss doch etwas geschehen, und zwar schnell.
({7})
Denn den Betroffenen läuft die Zeit, ja die Lebenszeit davon. Um das einmal zu verdeutlichen: Im Jahr 1996 hat
im Raum Borna/Espenhain eine Gruppe die Kämpfe für
die ihnen zustehenden Rentenansprüche aufgenommen .
Damals waren sie über 1 000. Heute sind es nur noch
rund 350. Die Fehlenden haben nicht einfach aufgegeben, nein, sie sind schlichtweg weggestorben. Hier auf
Zeit zu spielen, ist einfach nur zynisch.
({8})
Wir haben Ihnen im Oktober letzten Jahres einen umfassenden Antrag vorgelegt, in dem wir alle Berufsgruppen aufgeführt haben, die infolge der Rentenüberleitung
benachteiligt werden. In der Debatte damals haben die
jeweiligen Redner aus beiden Koalitionsfraktionen gesagt, dass sie es gerade bei den in der Braunkohleveredelung Beschäftigten wie bei den Ostkrankenschwestern
wirklich sehr bedauern, dass man da nichts machen kann.
Mit unseren Anträgen erinnern wir Sie an Ihr Bedauern
von damals. Nehmen Sie sich wenigstens dieser zwei
Beschäftigtengruppen an. Gesetzliche Regelungen sind
doch kein Naturgesetz. Sie lassen sich ändern, wenn man
den politischen Willen hat. Also bringen Sie endlich den
politischen Willen auf, und helfen Sie wenigstens diesen
beiden Beschäftigtengruppen.
Vielen Dank.
({9})
Vielen Dank. - Als nächste Rednerin hat Jana Schimke
von der CDU/CSU-Fraktion das Wort .
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir
diskutieren hier im Deutschen Bundestag ja regelmäßig
über die Entscheidungen der DDR-Rentenüberleitung
und damit auch über die Besonderheiten des DDR-Rentenrechts .
({0})
Mir wird dabei immer wieder klar, wie schwer es für die
Mütter und Väter der Wiedervereinigung gewesen sein
muss, das DDR-Rentensystem in das Rentensystem der
BRD zu überführen, zumal das Rentenrecht in der DDR
einer Systematik folgte, die weit von dem Selbstverständnis unseres heutigen Rentenrechts entfernt war.
Das bundesdeutsche Rentenrecht betrachtet in der Regel allein die gezahlten Beiträge und die geleisteten Arbeitsjahre. Will man darüber hinaus vorsorgen, kann man
dafür private oder betriebliche Vorsorgeformen wählen.
In der DDR waren nicht allein die gezahlten Beiträge
und die Arbeitsjahre ausschlaggebend, sondern es wurde
auch nach Berufsgruppen unterschieden . In bestimmten
Berufsgruppen war man in der DDR allein durch die Zugehörigkeit gegenüber anderen Berufsgruppen von vornherein bessergestellt. Aus diesem und anderen Gründen
diskutieren wir hier in aller Regelmäßigkeit über bis zu
20 verschiedene Sonderregelungen des DDR-Rentenrechts .
Nun kann man nicht behaupten, dass diese Unterschiede bei der Rentenüberleitung nicht anerkannt worden wären. Durch Übergangsregelungen wurden die Besonderheiten des DDR-Rentenrechts bis weit in die 90er-Jahre
übernommen. Dann aber galt es, die Einheit auch in der
Rente Stück für Stück umzusetzen. Das Renten-Überleitungsgesetz zielte deshalb ganz bewusst auf eine einheitliche Alterssicherung der Menschen in der DDR ab. Bis
heute steht es für eine großartige Solidarleistung aller
Versicherten und ermöglicht heute den ehemaligen Bürgern der DDR eine gute Alterssicherung.
({1})
Lassen Sie mich noch einen weiteren Punkt aufgreifen. Die politische und soziale Einheit zweier wiedervereinter Staaten herzustellen, kann schlichtweg nicht
bedeuten, Unterschiede fortzuführen. Und: Ja, die politische und soziale Einheit herzustellen, bedeutet auch, dass
jeder für sich nicht nur mit Veränderungen, sondern auch
mit Entbehrungen zurechtkommen musste. Viele verloren ihre Arbeitsstelle - eine Erfahrung, die man so vorher
noch nie gemacht hat .
({2})
Viele fanden sich in einer Zeit wieder, in der es galt, neue
Regeln und neue Werte anzuerkennen. Die Welt war sozusagen aus den Fugen geraten. Obwohl man erwachsen
war, bereits Kinder hatte, verheiratet und im Beruf etabliert war, musste man sich einen neuen Platz in einer
neuen Gesellschaft suchen. Vielleicht lässt dies erahnen,
wie schwer es war, eine Einheit herzustellen und dabei
auch diese Besonderheiten zu berücksichtigen .
Vor diesen Herausforderungen stehen wir bis heute .
Jedes Gesetz erhebt den Anspruch, Gerechtigkeit bestmöglich abzubilden. Doch wir alle, die wir Politik machen und somit täglich Entscheidungen zu treffen haben,
wissen eines: Notwendige Entscheidungen stellen in den
seltensten Fällen für alle eine zufriedenstellende Lösung
dar. Besonders bei der Rentenüberleitung war und ist es
schwer, alle Härte- und Einzelfälle sowie die entstandenen Ansprüche eines nicht mehr bestehenden Systems
abzubilden.
Dennoch: Wir nehmen die Anliegen der Betroffenen
sehr ernst .
({3})
Wir haben uns in dieser und in der vergangenen Legislatur in Expertengesprächen, in den Ausschüssen und
in Beratungen ausführlich mit vielen dieser Sonderfälle
befasst. Alle Gespräche haben gezeigt, dass die Gefahr
weiterer Ungerechtigkeiten vor allem dann besteht, wenn
wir das beschließen, was in den Anträgen steht, die uns
hier und heute vorliegen.
Ein Beispiel. Nach einer mindestens zehnjährigen
Tätigkeit erhielten Beschäftigte des Gesundheits- und
Sozialwesens in der DDR für jedes Beschäftigungsjahr
den 1,5-fachen Satz des maßgeblichen Durchschnittsverdienstes angerechnet. Vergleichbare Regelungen gab
es auch für andere Berufsgruppen. In der DDR sollten
damit bestimmte Tätigkeiten, die körperlich anstrengend
oder gesellschaftlich bedeutsam waren, in der Altersvorsorge bessergestellt werden. Auch ging es darum, einen
Ausgleich für das oftmals niedrige Einkommen während
der Erwerbstätigkeit zu schaffen. In der Bundesrepublik
aber erfahren alle Berufe dieselbe gesellschaftliche Bedeutung, sei es im gewerblichen, im sozialen oder im
kaufmännischen Bereich.
Hinzu kommt, dass die Rente keinen Ausgleich für
geringes Einkommen bildet. Die Rente ist Ausdruck dessen, was war, und nicht dessen, was hätte sein sollen.
({4})
Deshalb ist Ziel unserer Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik,
die Aussichten auf die spätere Rente durch Qualifikation, eine gesunde Wirtschaft und auch durch eine gesunde
und funktionierende Sozialpartnerschaft zu stärken. Deshalb kennt unser bestehendes Rentensystem solch eine
Regelung nicht. So ist es auch logisch und konsequent,
dass man sich seinerzeit gegen eine Übernahme dieser
Sonderregelung ins SGB VI entschieden hat. Mit den
Grundsätzen des lohn- und beitragsbezogenen Rentenrechts ist diese Regelung nicht vereinbar.
Einen weiteren Sonderfall des DDR-Rentensystems
bilden die Personen, die in der DDR-Braunkohleveredelung tätig waren. Diese wurden aufgrund ihrer anspruchsvollen Arbeit mit gesundheitsgefährdenden Chemikalien
wie Bergleute unter Tage behandelt. Genau dies, liebe
Kolleginnen und Kollegen, offenbart natürlich auch die
oftmals schlechten Arbeitsbedingungen in vielen Bereichen der Wirtschaft der DDR .
({5})
Auch hier entschied sich der Gesetzgeber, eine Übergangsregelung zu treffen. Nach 1996 wurde diese Regelung nicht mehr angewandt, und die Beschäftigten im
Bereich der Braunkohleveredelung wurden nicht mehr
wie Bergleute unter Tage behandelt. Aber diese Entscheidung, diese politische Entscheidung, hat nichts damit zu
tun und führt auch nicht dazu, dass die betreffenden Personen wie Kumpel zweiter Klasse behandelt werden.
Lassen Sie mich abschließend noch ein paar Worte zur
Mütterrente sagen . Bei der Einführung der Mütterrente
haben wir uns schlichtweg an geltendes Recht gehalten
und dieses angewandt . Es stimmt, dass eine Rentnerin im
Osten Mütterrente in Höhe des Rentenwertes Ost erhält.
({6})
Die Entwicklung der letzten 25 Jahre zeigt aber, dass sich
die Rentenwerte in Ost und West zunehmend annähern;
darüber diskutieren wir heute ja nicht zum ersten Mal
hier im Deutschen Bundestag . Seit der Wiedervereinigung - das erwähne ich auch immer wieder sehr gerne haben wir bei der Angleichung der Renten sehr große
Fortschritte erzielt.
({7})
Das sollte an dieser Stelle auch noch einmal gesagt sein.
({8})
Die Renten stiegen in den neuen Bundesländern seit
der Wende um weit mehr als 100 Prozent. In Westdeutschland betrug der Anstieg lediglich 25 Prozent. Der
Rentenwert Ost wächst weiter, und noch in diesem Jahr
wird es eine ordentliche Rentenerhöhung geben, die sich
auch in den Portemonnaies der betreffenden Personen
deutlich bemerkbar machen wird.
({9})
Nur 2,1 Prozent der Menschen in Ostdeutschland beziehen die Grundsicherung im Alter; im Westen sind es
hingegen 3,2 Prozent, und die durchschnittliche Rente
von Frauen ist in den neuen Bundesländern um 44 Prozent höher als in den alten Bundesländern.
Die vollständige Angleichung des Rentenrechts in Ost
und West rückt in greifbare Nähe. Wir und unser Koalitionspartner haben uns auf einen gemeinsamen Fahrplan
zur Erreichung dieses Ziels verständigt.
({10})
Auf der Grundlage des anstehenden Sachstandberichts der Bundesregierung werden wir entscheiden, ob
mit Wirkung ab 2017 eine Teilangleichung notwendig ist
oder eben nicht .
Es kommt aber auch darauf an, die tatsächlichen Herausforderungen für die Zukunft unseres Rentensystems
insgesamt in den Blick zu nehmen. Die Bundesregierung
sieht die Herausforderung des demografischen Wandels
und will die zweite und dritte Säule der Altersvorsorge
stärken. Die private und die betriebliche Vorsorge sollten
für jeden Menschen in unserem Land selbstverständlich
sein und eine auskömmliche Rente für jeden ermöglichen .
Dies ist unser Ziel und bestimmt unser Handeln. Ich
freue mich sehr auf die Diskussion zur anstehenden Rentenreform in den kommenden Beratungen .
Vielen Dank.
({11})
Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Markus Kurth
von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Schimke, wie oft vonseiten der Union schon die
Angleichung der Rentenwerte Ost und West angekündigt
worden und dann wieder und wieder nichts passiert ist,
kann ich kaum noch zählen. Ihren Ankündigungen dazu
kann man wirklich kaum noch Glauben schenken.
({0})
Ich glaube, man muss den Zuhörerinnen und Zuhörern, die sich nicht jeden Tag mit Renten befassen, sagen: Selbst die Partei Die Linke fordert keine sofortige
Angleichung der Rentenwerte Ost und West, sondern einen langwierigen Prozess. Die einzige Fraktion, die sagt,
dass man da jetzt einen Schnitt machen und die Rentenwerte Ost und West angleichen muss, ist Bündnis 90/Die
Grünen .
({1})
Bevor ich gleich wieder eine Zwischenfrage des Kollegen Matthias W. Birkwald bekomme, verschweige ich
auch nicht, dass wir im Gegenzug natürlich sagen, dass
die sogenannte Höherwertung der Ostrentenpunkte für
die Erwerbstätigen dann entfällt.
({2})
Diejenigen Rentnerinnen und Rentner, deren Rentenpunkte in der Vergangenheit höhergewertet wurden, genießen hier allerdings natürlich Bestandsschutz. Insofern
ist das, was Bündnis 90/Die Grünen zur Angleichung der
Rentenwerte Ost und West vorschlagen, schnell möglich
und gerecht .
Das ist auch ein Punkt, wodurch sich die Ungleichbehandlung der Mütterrenten - darauf bezieht sich ein
Antrag der Fraktion Die Linke - erledigt hätte.
({3})
Beim Punkt „Mütterrente“ bliebe dann in der Tat noch
die Frage der sogenannten Zuschlagsregelung. Diesem
Teilbereich - Sie haben gesagt: es handelt sich um eine
Gruppe von 6 000 überwiegend hochbetagten Frauen können wir zustimmen,
({4})
sodass wir bei diesem Antrag insgesamt zu einer Enthaltung kommen. Auf der einen Seite stimmen wir der
Zuschlagsregelung zu, auf der anderen Seite geht uns die
Angleichung der Rentenwerte Ost und West zu langsam.
({5})
Ich komme jetzt zu den verschiedenen Berufsgruppen,
die Sie ansprechen, und den rentenrechtlichen Sonderregelungen der DDR.
Man muss grundsätzlich sagen, dass es beim Renten-Überleitungsgesetz und bei der Vereinigung der
Rentensysteme im Wesentlichen zu einer Angleichung
an das westliche Recht kam. Das westliche Recht - das
war die Systematik des Beitritts damals - war sozusagen die Leitwährung, unter der die Vereinigung auch der
Sozialsysteme stattgefunden hat. Das ist damals von der
Bevölkerung - auch der Bevölkerung der DDR - auch
ausdrücklich so gewollt und per Wahlen abgestimmt
worden .
Man muss sich genau angucken, wo es wenigstens
qualitativ entsprechende Regelungen auch im westdeutschen Rentenrecht gab. Bei den Bergleuten ist genau das
der Fall. Auch die westdeutschen Bergleute, die unter
Tage und unter gesundheitlich belastenden Bedingungen gearbeitet haben, bekamen einen rentenrechtlichen
Ausgleich. Insofern finde ich, dass Sie in Ihrem Antrag,
den Sie zu den Rentenansprüchen der Bergleute aus der
Braunkohleverarbeitung gestellt haben, im Prinzip eine
richtige Argumentation verfolgen und dass man diese
Bergleute mit einer besonderen rentenrechtlichen Regelung versehen kann.
Anders verhält es sich allerdings bei den Beschäftigten im DDR-Gesundheits- und Sozialwesen. Das ist übrigens so wie bei vielen anderen von Ihnen genannten
Gruppen, die zwar in diesen Anträgen nicht auftauchen,
die Sie aber regelmäßig, meistens im Jahresrhythmus,
besserstellen wollen. Da geht es etwa um Spitzensportler
und andere Personengruppen oder auch um Ehepartner
von Auslandsentsandten der DDR.
({6})
Alle haben bestimmte rentenrechtliche Sonderregelungen bekommen .
Für diese rentenrechtlichen Sonderregelungen wie
auch die für die Beschäftigten im Gesundheitswesen,
die Sie heute ansprechen, gibt es keine Entsprechung
im westdeutschen Rentenrecht . Es ist nicht so gewesen,
dass die Beitrittsverhandlungen und die Überleitung eine
Fusion gewesen wären, sondern das westdeutsche Rentenrecht war, wie gesagt, der Maßstab. Wenn wir Sonderregelungen übernehmen wollten - an diesem Punkt
war die Argumentation von Frau Schimke nicht ganz
unstimmig -, würde man wiederum im Westen neue Ungleichbehandlungen schaffen. Das würde dazu führen,
dass auch im Westen bestimmte Berufsgruppen mit Ausfallzeiten fragen könnten: Warum bekommen wir denn
keinen rentenrechtlichen Ausgleich?
Natürlich ist das individuell für die Betroffenen teilweise schwer zu verstehen . Aber man kann bei einem
solchen historischen Umbruch nicht jedem Detail gerecht werden, wenn man sich politisch auf ein bestimmtes Überleitungsprinzip geeinigt und verständigt hat.
Darum plädiere ich bei den Berufsgruppen für eine differenzierte Betrachtung. Bei den Balletttänzerinnen folgen
wir Ihrem Antrag .
({7})
Hier gibt es entsprechende tarifvertragliche Regelungen,
bei anderen Gruppen aber nicht .
Ich glaube, dass man damit dieser schwierigen Umbruchsituation annähernd gerecht wird.
Ich freue mich auf die weiteren Beratungen der Anträge.
Vielen Dank.
({8})
Vielen Dank. - Als nächste Rednerin hat Daniela
Kolbe von der SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Zum Abschluss der Sitzungswoche diskutieren wir drei Anträge der Fraktion Die Linke. Deren Inhalt war bereits mehrfach Thema hier im Plenum.
Nichtsdestotrotz freue ich mich, dass wir dieses Thema
erneut diskutieren. Es ist ja für viele Menschen von großer Bedeutung.
Sie haben einen Antrag zum Thema Mütterrente in
Ostdeutschland und zum niedrigeren Rentenwert eingebracht. In den zwei anderen Anträgen geht es um Gruppen, die durch die Rentenüberleitung, also die Zusammenführung der beiden Rentensysteme in Ost und West,
Regelungen verloren haben, mit denen sie im DDR-Rentenrecht bessergestellt worden waren, und zwar aus nachvollziehbaren Gründen, nämlich wegen der Gesundheitsgefährdung und der Belastungen der Betroffenen bei der
Arbeit. Zum einen sind das die Bergleute in der Braunkohleveredlung und zum anderen die Beschäftigten im
Gesundheits- und Sozialwesen der DDR.
Viele hier im Plenum, die an diesem Freitagnachmittag noch da sind, haben schon zahlreiche Gespräche mit
Betroffenen geführt . Auch ich habe das getan und werde
das weiterhin tun. Bei aller Sympathie für die Anliegen
plädiere ich für eine sehr ehrliche Debatte. Diese ehrliche
Debatte führt für uns als Sozialdemokraten dazu, dass
wir den drei Anträgen in der vorliegenden Form nicht zustimmen können, sondern sie ablehnen werden.
({0})
Das will ich kurz ausführen, zunächst zur Mütterrente.
Die Verbesserungen bei der Mütterrente, also die Einführung des zusätzlichen Rentenpunktes, war für diese Große Koalition ein Riesenerfolg.
({1})
Gut, wir als SPD hätten diese Maßnahme gerne anders
finanziert; das sei auch jetzt bei diesem Thema noch einmal erwähnt. Aber es bleibt ein großer Erfolg.
Der von der Linken beschriebene Unterschied kommt
dadurch zustande, dass wir nach wie vor unterschiedliche
Rentenwerte haben: Der Rentenwert in Westdeutschland
liegt höher als der in Ostdeutschland. In Ostdeutschland
haben wir dafür einen Höherwertungsfaktor; damit ist ein
Rentenpunkt leichter zu erwerben.
Wir sagen deshalb: Wir wollen die pauschal bewerteten Versicherungszeiten jetzt nicht unmittelbar höher
bewerten . Wir hatten das in unserem Regierungsprogramm stehen, haben uns damit aber nicht durchsetzen
können. Vielmehr wollen wir jetzt den Weg gehen - darauf konnten wir uns mit unserem Koalitionspartner verständigen -, die Rentenwerte weiter anzunähern, also die
Angleichung der Rentensysteme zu erreichen.
Lassen Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Birkwald
zu, Frau Kolbe?
Aber natürlich, wenn es schnell geht.
({0})
Vielen herzlichen Dank. - Frau Kollegin Kolbe, weil
Sie das selber schon erwähnt haben, sage ich vorneweg:
Vor zwei Tagen sind 110 000 Unterschriften für eine gerechte Mütterrente vom Sozialverband Deutschland, von
der Volkssolidarität, vom Deutschen Frauenrat und von
Verdi übergeben worden. Die 110 000 Unterzeichner
können nämlich alle nicht verstehen, dass ein Kind im
Osten, zum Beispiel in Leipzig, wo Sie herkommen, in
der Rente weniger wert sein soll als ein Kind im Westen,
wie in Köln, wo ich herkomme. 110 000 Unterschriften!
Ich darf Ihnen sagen: Von meiner Fraktion mit 64 Abgeordneten haben 62 Abgeordnete unterschrieben . Der
Bundesgeschäftsführer unserer Partei und unser Parteivorsitzender haben ebenfalls unterschrieben.
Jetzt frage ich Sie: Wie viele Ihrer Kolleginnen und
Kollegen von der SPD haben diesen Aufruf unterschrieben? Dazu will ich Ihnen einen kurzen Text vorlesen.
Denn Sie, Frau Kolbe, Frau Staatssekretärin Kramme
und fünf weitere Abgeordnete, die heute im Hohen
Haus anwesend sind, haben vor nicht allzu langer Zeit
den Deutschen Bundestag aufgefordert, bei Versicherungszeiten, die im Rahmen eines sozialen Ausgleichs
bzw. als Anerkennung für gesellschaftliche Leistungen
bewertet werden, die rechtlichen Voraussetzungen dafür
zu schaffen, dass künftig für - jetzt kommt es - Kindererziehungszeiten, aber auch für Versicherungszeiten für
pflegende Angehörige, Zeiten des Wehr- und Zivildienstes und Zeiten der Beschäftigung in einer Werkstatt für
behinderte Menschen der aktuelle Rentenwert zugrunde
gelegt wird. Das war in der vergangenen Legislaturperiode. Warum verfolgen Sie das nicht weiter? Wenn Sie
sich schon nicht gegen die Union, die noch nie etwas für
Mütter im Osten übrig hatte,
({0})
durchsetzen können, haben Sie dann wenigstens dafür
gesorgt, dass viele Ihrer Kolleginnen und Kollegen bei
dieser guten Unterschriftenaktion mitgemacht haben?
({1})
Danke für die Zwischenfrage. - Erstens will ich klarstellen: Für uns als SPD ist die Erziehung von Kindern
gleich viel wert, egal ob im Osten, Westen, Norden oder
Süden dieses Landes.
({0})
Deswegen wollen wir diese Angleichung hinbekommen.
Zweitens. Iris Gleicke hat meines Wissens die Unterschriften entgegengenommen. Wir als SPD sind als Regierungsfraktion Adressat dieser Forderung und fühlen
uns auch verpflichtet, uns dafür einzusetzen. Wir hatten
das in unser Regierungsprogramm aufgenommen . Wir
hatten vorgeschlagen, die pauschal bewerteten Versicherungszeiten sofort anzugleichen, haben uns aber damit
nicht durchsetzen können. Das ist in einer parlamentarischen Demokratie manchmal so.
Wir gehen deswegen einen anderen Weg, nämlich den
der Angleichung der Rentensysteme. An dieser Stelle
will ich das mit Blick auf die Union ein bisschen deutlicher formulieren: Da auch unser Koalitionspartner gute
Mütter und Väter in seinen Reihen hat, haben wir uns
darauf verständigt, die Angleichung der Rentensysteme
in Ost und West hinzubekommen. Genau das werden wir
auch tun. Dieses Jahr geht es los. In diesem Sinne werden
wir genau die Forderung erfüllen, dass die Erziehungszeiten in Ost und West gleich viel wert sein müssen.
({1})
Sie haben einen zweiten Aspekt zum Thema Mütterrenten angesprochen, und zwar den Übergangszuschlag
bei den sehr hochbetagten Frauen, der dazu führt, dass
diese Frauen sowohl von den Änderungen bei der Mütterrente nicht unbedingt profitieren - je nachdem, wie
hoch der Zuschlag ist - und sie auch so lange nicht von
Rentenerhöhungen profitieren, wie der Zuschlag diese
Erhöhungen übersteigt.
Wir haben die Rentenreform 2014 ganz bewusst im
Rahmen des bestehenden Rentenrechts gestaltet. Das
führt an der einen oder anderen Stelle tatsächlich dazu,
dass Menschen, die sich etwas von der Mütterrente erhofft haben, nicht so massiv in ihren Genuss kommen
wie erwartet . Aber es war eine bewusste Entscheidung .
Entweder erkennt man die Wirkungsweise des Rentensystems an, oder man macht für alles und jedes eine Ausnahme. Wir haben uns an der Stelle dazu entschieden, in
der Rentensystematik zu bleiben und eine ehrliche Debatte zu führen .
Was die Anträge zu den Bergleuten und den Beschäftigten im Gesundheitswesen angeht, sind die Hintergründe schon ausgeführt worden . Wie bei den meisten anderen Fällen ist es so, dass die Sachverhalte vor Gerichten
ausverhandelt sind. Aber Sie haben natürlich recht: Politische Lösungen sind möglich. Da gibt es unterschiedliche Ansätze.
Die Linke sagt: Wir regeln jede Gruppe einzeln und
geben den Forderungen nach. - Das hat den Nachteil,
dass man an verschiedenen Stellen zu Ungerechtigkeiten gegenüber bestimmten westdeutschen Gruppen oder
auch anderen ostdeutschen Gruppen kommt .
({2})
Wir als SPD haben einen anderen Ansatz. Wir wollen
einen Härtefallfonds auflegen. Denn - da bin ich, glaube ich, anderer Auffassung als Kollegin Schimke - es
sind reale Ungerechtigkeiten entstanden; es sind massive Härtefälle entstanden, weil sich Menschen auf das
DDR-Rentenrecht verlassen haben und dann durch Wegfall von Regelungen sozial wirklich heruntergefallen
sind. Wir wollen deswegen einen steuerfinanzierten Härtefallfonds auflegen für diejenigen, für die durch die Rentenüberleitung besondere soziale Härten entstanden sind.
Das wird einige Bergleute betreffen, aber noch mehr die
Krankenschwestern oder die in der DDR geschiedenen
Frauen, die alle davon profitieren können.
Das ist ein Ansatz, der sozialen Frieden schafft und
der vor allen Dingen keine neuen Ungerechtigkeiten hervorruft . Für diesen Fonds streiten wir .
Abschließend will ich noch einmal sagen: Wir als SPD
stehen zu unserer Verantwortung. Wir stellen uns auch
immer wieder der Debatte mit Betroffenen und auch hier
im Plenum. Wir wollen - das ist Punkt eins - die zügige
Rentenangleichung in Ost und West. Das steht im Koalitionsvertrag, und das wissen wir als SPD auch. Darauf
werden wir pochen, und das werden wir ganz genau begleiten.
({3})
- Aber im Koalitionsvertrag steht ein Datum, das noch
in der Zukunft liegt. Das werden Sie zugestehen, Herr
Kurth, dass wir an der Stelle noch nicht im Verzug sind.
Richtig?
Und wir wollen - Punkt zwei - einen Härtefallfonds
für die Gruppen, die durch die Rentenüberleitung gravierende Nachteile erfahren haben. Das steht nicht im Koalitionsvertrag. Da konnten wir uns nicht durchsetzen. Für
uns bleibt das Thema dennoch auf der Agenda, und wir
werden weiter dafür kämpfen und streiten, auch streiten,
dass wir dafür Mehrheiten gewinnen können.
Vielen Dank.
({4})
Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Peter Weiß
von der CDU/CSU-Fraktion das Wort .
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Wenn man diese
Debatte richtig verstehen will, muss man einfach einmal
zurückgehen zur Rentenüberleitung. Es ist so gewesen,
wie es der Kollege Kurth von den Grünen erklärt hat:
Man hat das westdeutsche Rentenrecht dem gesamtdeutschen Rentenrecht zugrunde gelegt, ein Rentenrecht,
das bekanntermaßen so ausgestaltet ist: Es ist lohn- und
beitragsbezogen. Für das, was ich in die Rente einzahle,
bekomme ich eines Tages ein entsprechendes Äquivalent
als Rente ausgezahlt. Das ist auch das, was die Bürgerinnen und Bürger, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer als gerecht empfinden, nämlich dass ihre Rente,
wenn sie viel eingezahlt haben, höher ist, als wenn sie
weniger eingezahlt haben.
Das DDR-Rentenrecht war im Gegensatz dazu etwas
ganz, ganz anderes, nämlich ein Rentenrecht mit vielerlei Sonderregelungen, Zusatzversorgungssystemen,
Zuschlägen, Abschlägen usw. usf. Es ist aufgehoben
worden in dem gesamtdeutschen Rentenrecht, das so
funktioniert, wie ich es erklärt habe.
Der Effekt war - deswegen ist es so gemacht worden -, dass die Rentnerinnen und Renten im Osten nicht
benachteiligt werden. Hätte man das alte Recht beibehalten - um es einmal klar und deutlich zu sagen -, würde
die große Masse der Rentnerinnen und Rentner im Osten
Deutschlands Hunger leiden und wäre auf staatliche Unterstützung angewiesen, weil diese Minirente im Osten
niemals zum Leben ausreichen würde.
({0})
Es war das Beste, was den Rentnerinnen und Rentnern
im Osten geschehen konnte, dass sie in dieses gesamtdeutsche Rentenrecht übergeleitet worden sind, das eben
beitragsbezogen ist und das sich an der Lohnentwicklung
orientiert und dynamisch ausgestaltet ist. Deswegen sind,
wenn man es sich genau anschaut, die Rentnerinnen und
Rentner im Osten die eigentlichen Gewinner der deutschen Einheit .
({1})
Das ist möglich geworden durch eine großartige Solidarleistung der Beitragszahlerinnen und Beitragszahler.
Letztlich - um es einmal klar und deutlich zu sagen - haben die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler im Westen mit ihren Beiträgen mitgeholfen, dass wir diese Renten auszahlen konnten, die nach der deutschen Einheit im
Osten möglich geworden sind.
({2})
Ich finde, in einer solchen Debatte sollten wir als Politiker als Allererstes ein herzliches Dankeschön für diese
großartigen Solidarleistungen der Rentenbeitragszahlerinnen und -beitragszahler in Deutschland sagen.
({3})
In ganz Deutschland, auch im Westen, gibt es Berufe
mit unterschiedlichen Anforderungen, unterschiedlichen
Gefährdungsstufen und unterschiedlicher körperlicher
Belastung. Aber jeder weiß: Es gibt keine Sonderrechte,
kein gesondertes Rentenrecht für jeden einzelnen Beruf,
sondern ein solidarisches und soziales Rentenrecht für
alle. Daran sollten wir festhalten. Die Linke will das ändern. Sie will das gesamtdeutsche Rentenrecht zerschießen und wieder Sonderregelungen für einzelne Berufsgruppen einführen .
({4})
Da man das Schicksal der Mütter und der Frauen beklagt, gibt es - das muss man ganz ehrlich sagen - aus
westdeutscher Sicht auch etwas anzumerken . Die durchschnittliche Rente der Frauen im Westen liegt bei 44 Prozent der durchschnittlichen Rente der Frauen im Osten.
Klar, das hat Gründe: Im Westen wurde ein anderes Familienmodell praktiziert. Die Frauen im Westen sind aus
dem Beruf ausgestiegen, wenn sie Kinder bekommen haben. Das alles ist vollkommen richtig. Die Rente ist nun
einmal lohn- und beitragsbezogen. Wenn man aber hier
das Hohelied der Erziehungsleistungen der Frauen anDaniela Kolbe
stimmt, dann könnte man auch über eine Sonderregelung
für Frauen im Westen nachdenken, um deren Nachteile
heutzutage auszugleichen. Wenn Sie so argumentieren,
dann sollten Sie einen entsprechenden Antrag stellen.
({5})
Das machen Sie natürlich nicht, weil Sie eine reine Ostpartei sind und Sie deswegen das Schicksal der Frauen
im Westen gar nicht interessiert .
({6})
Nun zur Mütterrente. Es waren Helmut Kohl und
Norbert Blüm, die im Jahr 1986 dafür gesorgt haben,
dass es zum ersten Mal im deutschen Rentenrecht für
Erziehungsleistungen einen zusätzlichen Entgeltpunkt,
also einen zusätzlichen Rentenpunkt, gibt. Im Osten, in
der DDR, ist zu dem Thema überhaupt nichts passiert .
Es war die Union, die in ihrem Wahlprogramm 2013 gesagt hat: Wir wollen als prioritäres Anliegen im Fall der
erneuten Regierungsübernahme dafür sorgen, dass aus
diesem einen Entgeltpunkt zwei Entgeltpunkte für all die
Mütter werden, deren Kinder vor 1992 geboren sind. Wir
haben das auch durchgesetzt. Nun wissen die Frauen in
ganz Deutschland: Mütterrente ist eine Regelung, die sie
in erster Linie der Union verdanken, weil die Union für
diese Lösung gekämpft hat.
({7})
Ich will mich natürlich bei den sozialdemokratischen
Kolleginnen und Kollegen bedanken, dass wir das gemeinsam in der Koalitionsvereinbarung festgelegt und
auch prompt umgesetzt haben .
Natürlich lässt sich das Problem der Mütterrente wie dargelegt - am ehesten lösen, wenn wir, was den
Rentenwert und die Bemessung der Renten angeht, zu
einem einheitlichen System in ganz Deutschland übergehen; das ist vollkommen richtig. Deswegen haben
wir das so im Koalitionsvertrag festgelegt. Aber ich will
noch einmal darauf hinweisen, wo das Problem besteht.
Derzeit werden die von einem Erwerbstätigen im Osten
Deutschlands während des Arbeitslebens erreichten Entgeltpunkte, also seine Rentenansprüche, um 16 Prozent
hochgewertet. Diese Höherwertung der Entgeltpunkte
bringt denjenigen, die demnächst im Osten Deutschlands
in Rente gehen, mehr Rente als das von Herrn Kurth vorgeschlagene System, das vorsieht, diese Höherbewertung
zu beenden und dafür den Rentenwert anzugleichen. Die
Differenz zwischen dem Rentenwert Ost und dem Rentenwert West ist deutlich geringer als die 16-prozentige
Höherwertung. Hier besteht das eigentliche Problem.
({8})
Wenn wir - mutig, wie wir sind - im Bundestag kurzerhand beschließen würden, die Höherwertung zu beenden und die Rentenwerte in Ost und West anzugleichen,
sodass der Zahlbetrag für jeden Arbeitnehmer in Ost und
West gleich wäre, wäre dies für viele Mitbürgerinnen
und Mitbürger im Osten, die in den kommenden Jahren
in Rente gehen, ein Minusgeschäft. Deswegen haben wir
uns bisher an diese Problematik nur vorsichtig herangewagt. Man muss jedenfalls den Bürgerinnen und Bürgern
die Wahrheit sagen, was solche Vorschläge für sie finanziell konkret bedeuten.
({9})
Wir wollen ein gemeinsames Rentenrecht in Ost und
West. Wir wollen die Diskussion darüber, ob ein Kind im
Osten uns weniger wert ist als eines im Westen, beenden
und alle gleich behandeln. Aber das muss so geschehen,
dass es dabei keine große Zahl an Verliererinnen und
Verlierern gibt. Wir wollen deswegen einen vernünftigen
Übergang und kein Hauruckverfahren, das sich manche
wünschen, dessen Konsequenzen sie aber nicht bedenken .
Zum Schluss: Es bleibt ein großartiges historisches
Verdienst unserer damaligen Bundestagskolleginnen und
-kollegen, diese Rentenüberleitung geschafft zu haben
und ein Rentenrecht geschaffen zu haben, von dem vor
allem die Mitbürgerinnen und Mitbürger, die Rentnerinnen und Rentner im Osten Deutschlands profitieren.
Vielen Dank.
({10})
Vielen Dank. - Frau Kipping erhält das Wort zu einer
Kurzintervention.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Weiß hat den
Eindruck erweckt, wir würden nur Vorschläge für Rentnerinnen und Rentner im Osten unterbreiten. Deswegen
möchte ich das richtigstellen. Von unserem rentenpolitischen Vorschlag, dass das gesetzliche Rentenniveau wieder erhöht wird, profitieren Menschen in Ost wie West
gleichermaßen.
({0})
Auch von unserem Vorschlag, eine solidarische Mindestrente von mindestens 1 050 Euro einzuführen, profitieren Männer wie Frauen in Ost und West gleichermaßen.
({1})
Herr Weiß, Sie haben die Möglichkeit zu einer Erwiderung .
Verehrte Frau Kollegin Kipping, ich finde es doch beachtlich, dass Sie jetzt, zum Schluss der Debatte, nachdem Sie die erste Rednerin in dieser Debatte waren, von
dem, was Sie vorgetragen haben - ich rede von den Sonderregelungen, die Sie haben wollen -, abweichen und
Peter Weiß ({0})
darauf verweisen, dass wir ein gesamtdeutsches Rentenkonzept brauchen . Das ist doch sehr bemerkenswert . Das
schlechte Gewissen steckt Ihnen offenbar in den Knochen. Das muss ich jetzt einmal feststellen.
({1})
Das Zweite ist: Eine gute Rente ist zuallererst das Ergebnis einer guten Beschäftigungslage und einer guten
wirtschaftlichen Entwicklung.
({2})
Das Schöne ist, dass wir am 1. Juli dieses Jahres gerade
für die Rentnerinnen und Rentner im Osten Deutschlands
eine deutlich stärkere Steigerung ihrer Renten erreichen
werden als für die im Westen. Das zeigt: Dynamik am
Arbeitsmarkt, Wachstum und Beschäftigung sind die
Grundlagen für eine gute Rente. Das haben wir mit unserer Politik geschaffen, auch mit der Politik der Großen
Koalition. Darauf sind wir stolz. Das ist eine gute Nachricht für die Rentnerinnen und Rentner in Ost wie West.
({3})
Frau Wolff, jetzt haben Sie das Wort für die SPD-Fraktion .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren auf den Zuschauertribünen! Wenn wir über Rente sprechen, dann schauen
wir natürlich in die Vergangenheit, wir schauen auch ein
bisschen in die Gegenwart, aber wir vergessen oft, in die
Zukunft zu schauen. Ich will am Schluss dieser Debatte
sowohl in die Vergangenheit als auch in die Gegenwart
und die Zukunft schauen .
Wir diskutieren seit Jahren - ich bin seit 1998 Mitglied
dieses Hauses - jährlich über das Thema der Überleitung
des Rentensystems Ost in das gesamtdeutsche Rentensystem. Dabei sind natürlich auch die Sondersysteme immer wieder im Fokus der Diskussion der Linken. Ja, mit
den gesetzlichen Regelungen von 1992 wurde nicht alles
so bedacht, wie es hätte sein müssen, und, ja, es ist zu
Ungerechtigkeiten gekommen, und, noch einmal ja, ich
verstehe, wenn sich Menschen an dieser Stelle ungerecht
behandelt fühlen.
Aber - auch das sage ich zum wiederholten Male; wir
haben am 2. Oktober letzten Jahres zum letzten Mal über
dieses Thema gesprochen, nur unter einer anderen Überschrift; da habe ich das gesagt, was mein Kollege Weiß
und andere Vorredner, unter anderem Herr Kurth, gesagt
haben -: Die Rentensystematik, die gewählt wurde, kann
diese besonderen, schwerwiegenden Härtefälle nicht auffangen. Genau darum sagt die SPD doch immer wieder:
Wir wollen eine Lösung für Menschen, die besonders
betroffen sind. Darum brauchen wir den Härtefallfonds.
Davon gehen wir nicht ab .
({0})
Ich möchte als letzte Rednerin in dieser Debatte den
Blickwinkel etwas weiten. In der Gegenwart erleben wir
immer wieder, dass der niedrigere Rentenwert im Osten
einfach da ist. Für viele Menschen im Osten der Republik ist das das Symbol dafür, dass ihre Lebensleistung
im vereinten Deutschland nicht so wertgeschätzt wird,
wie es sein sollte. Ganz deutlich ist das in dieser Debatte
in Bezug auf die Mütterrente geworden .
Ich wiederhole es zum Schluss: Die Große Koalition
hat gesagt, dass sie jetzt den Fahrplan für ein einheitliches Rentensystem vorlegt. Dazu stehen wir. Dann hat
diese Diskussion endlich ein Ende.
Bislang steht dem niedrigen Rentenwert der Höherwertungsfaktor zur Seite; das hat auch Kollege Weiß gesagt . Auf diese Weise werden die niedrigeren Einkommen Ost höher bewertet als die Einkommen West.
({1})
Diese Höherwertung ist immer noch absolut notwendig.
({2})
Schaut man sich einen Vergleich der Löhne in den Bundesländern an, dann stellt man fest, dass Brandenburg,
Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern ganz hinten liegen. In Brandenburg,
dem Land, in dem die höchsten Einkommen im Osten
erzielt werden, waren es 2015 446 Euro weniger als in
Schleswig-Holstein, dem Land mit den niedrigsten Einkommen im Westen .
Wer sich die Gegenwart im Osten anschaut, der bekommt einen klaren Blick für die Zukunft. Die Lage auf
dem ostdeutschen Arbeitsmarkt hat einen Preis: niedrigere Renten in der Zukunft. Arbeitslosigkeit, prekäre
Beschäftigung, niedrige Löhne, all das schlägt sich in
niedrigeren Rentenbeiträgen und später natürlich auch in
niedrigen Renten nieder - niedrige Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung, die im Osten eben nicht
mit Betriebsrenten oder privaten Lebensversicherungen
aufgestockt werden. Darum sage ich ganz deutlich: Die
Gegenwart macht mir nicht so viel Sorge wie die Zukunft.
Während die Armutsgefährdungsquote der heute 50- bis
64-Jährigen in allen westdeutschen Flächenländern sinkt,
steigt sie in den Stadtstaaten und in allen östlichen Bundesländern. In Sachsen wird sie am dritthöchsten sein.
Während die Renten im Westen stabil bleiben, sinken die
Renten im Osten. Für die Menschen, die zwischen 1962
und 1971 geboren wurden, werden die Renten mit ungefähr 600 Euro im Bereich der Grundsicherung liegen.
Diese abzusehende Entwicklung bei den Renten im Osten ist dramatisch, und sie wird sich fortschreiben, wenn
wir es nicht schaffen, auch im Osten angemessene Löhne
zu zahlen.
An dieser Stelle möchte ich noch einmal darauf hinweisen: Da, wo Gewerkschaften stark sind, werden Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gut vertreten . Da
Peter Weiß ({3})
gibt es eine bessere Unterstützung . Da verdienen Arbeitnehmer meist mehr .
({4})
Das heißt, jeder Arbeitnehmer ist dazu aufgerufen, sich
selber zu vertreten oder vertreten zu lassen.
({5})
Die Folgen dieser Entwicklung sind - das ist meine
feste Überzeugung - nur innerhalb der gesetzlichen Rentenversicherung abzufangen . Daran müssen wir arbeiten .
Darum sagen wir: Die Einführung der Solidarrente wird
unser nächster Schritt sein.
({6})
Der eine oder andere mag vielleicht sagen, ich hätte
heute das Thema verfehlt.
({7})
Ich sage seit Jahren, dass die Ungerechtigkeiten, die bei
der Rentenüberleitung entstanden sind, nur mit einer
Härtefallregelung beseitigt werden können. Die Zukunft
der Renten in den neuen Bundesländern sollte uns allen
hier viel mehr Anlass zur Diskussion im Hohen Hause
geben .
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum
Schluss. Ich bin seit 1998 Mitglied dieses Hauses, habe
es aber noch nie geschafft, freitags die letzte Rednerin zu
sein. Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende.
({9})
Jetzt haben Sie es aber geschafft, Frau Wolff. - Damit
schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/8612 und 18/7903 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Wir haben noch eine Abstimmung durchzuführen,
liebe Kolleginnen und Kollegen. Sie müssen noch bleiben. - Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales
zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel
„Ungerechtigkeiten bei Mütterrente in Ostdeutschland
und beim Übergangszuschlag beheben“. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/6706, den Antrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 18/4972 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Damit ist die Beschlussempfehlung mit
den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen angenommen worden .
Damit, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind wir am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 8. Juni 2016, 13 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Jetzt darf auch ich Ihnen
ein schönes Wochenende wünschen.