Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Nehmen Sie bitte Platz . Die Sitzung ist eröffnet .
Vor Eintritt in die Tagesordnung gratuliere ich nachträglich dem Kollegen Dr. Egon Jüttner zu seinem
74 . Geburtstag, dem Kollegen Karl Schiewerling zu
seinem 65 . Geburtstag sowie dem Kollegen Bernhard
Daldrup, der gestern seinen 60 . Geburtstag gefeiert hat .
({0})
Ihnen gelten alle guten Wünsche des gesamten Hauses .
Interfraktionell ist vereinbart worden, die Tagesordnung um die in der Zusatzpunkteliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Haltung der Bundesregierung zur Zukunft
der erneuerbaren Energien in Deutschland
und Europa
({1})
ZP 2 Weitere Überweisung im vereinfachten Verfahren
({2})
Beratung des Antrags der Abgeordneten Lisa
Paus, Christian Kühn ({3}), Kerstin
Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Spekulation mit Immobilien und Land beenden - Keine Steuerbegünstigung für Übernahmen durch Share Deals
Drucksache 18/8617
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({4})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit
ZP 3 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache
({5})
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 29. Juni 2015
zwischen der Regierung der Bundesrepublik
Deutschland und der Regierung der Republik
Kosovo über die justizielle Zusammenarbeit
in Strafsachen
Drucksache 18/8211
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz ({6})
Drucksache 18/8642
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({7})
zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe Kekeritz,
Dr . Frithjof Schmidt, Claudia Roth ({8}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Rates über die Unterzeichnung und die vorläufige Anwendung des Wirtschaftspartnerschaftsabkommens zwischen der Europäischen
Union und ihren Mitgliedstaaten einerseits
und den SADC-WPA-Staaten andererseits
KOM({9}) 8 endg.; Ratsdok. 5608/16
und
zu dem Vorschlag für einen Beschluss des
Rates über die Unterzeichnung und die
vorläufige Anwendung des Wirtschaftspartnerschaftsabkommens zwischen den
Partnerstaaten der Ostafrikanischen Gemeinschaft einerseits und der Europäischen
Union und ihren Mitgliedstaaten andererseits
KOM({10}) 63 endg.; Ratsdok. 6126/16
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes
Wirtschaftspartnerschaftsabkommen mit der
Entwicklungsgemeinschaft des südlichen Afrika und der ostafrikanischen Gemeinschaft ablehnen
Drucksachen 18/8243, 18/8643
ZP 4 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines Integrationsgesetzes
Drucksache 18/8615
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({11})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-
schätzung
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-
weit erforderlich, abgewichen werden .
Die Tagesordnungspunkte 9 und 13 tauschen ihre Plät-
ze und die vorgesehenen Redezeiten .
Der Tagesordnungspunkt 26 - Berufsbildungsbericht
2016 - soll abgesetzt und stattdessen der Entwurf eines
Integrationsgesetzes auf der Drucksache 18/8615 aufge-
rufen werden .
Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? -
Ich höre keinen Widerspruch . Dann ist das so beschlos-
sen .
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regulierung des Prostitutionsgewerbes sowie zum
Schutz von in der Prostitution tätigen Personen
Drucksache 18/8556
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({12})
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
b) Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung zu den Auswirkungen des Gesetzes zur Regelung der Rechtsverhältnisse der Prostituierten ({13})
Drucksache 16/4146
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({14})
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen . - Ich höre keinen Widerspruch . Dann ist so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache . Das Wort hat die Bundesministerin Manuela Schwesig .
({15})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren Abgeordnete! Der Bundesjustizminister und
ich legen Ihnen am heutigen Tage zwei Gesetzentwürfe
vor, mit denen wir dafür sorgen wollen, dass Schluss mit
Zwangsprostitution, Schluss mit Menschenhandel und
Gewalt in der Prostitution ist . Das sogenannte Prostituiertenschutzgesetz soll dazu beitragen, dass die Frauen
und Männer, die in der Prostitution arbeiten, zukünftig
besser geschützt werden, und Sie werden den Parlamentarischen Staatssekretär in der Debatte zum nächsten Tagesordnungspunkt zum Thema Zwangsprostitution und
Menschenhandel hören .
Zugegebenermaßen haben wir es hier mit einem sehr
komplexen und schwierigen Thema zu tun . Warum? Viele Frauen und auch Männer in der Prostitution befinden
sich in ganz unterschiedlichen Lebenslagen . Ich selbst
habe zum Beispiel mit Prostituierten gesprochen, die
ganz Verschiedenes erlebt haben .
Da waren die zwei jungen Frauen, die mir ganz selbstbewusst gesagt haben: Frau Schwesig, wir machen diesen Beruf gerne, wir machen ihn freiwillig . Wir haben in
unserem Bereich gute Arbeitsbedingungen . Wir möchten
auch, dass wir akzeptiert und respektiert werden . - Ich
konnte das diesen Frauen abnehmen . Das war glaubwürdig, das war verbindlich .
Aber im gleichen Gespräch hat mich eine junge Osteuropäerin angesprochen und gesagt: Ich habe anderes
erlebt . Ich habe keine Freiwilligkeit erlebt . Ich habe auch
keine guten Arbeitsbedingungen erlebt . Ich habe Ausbeutung und Gewalt erlebt . Ich war wie versteckt . Mich
hat niemand gesehen; ich musste ja nirgendwo hin, auch
zu keiner Beratung . Ich war sozusagen versteckt, und der
Zuhälter konnte machen, was er wollte .
Eine andere Prostituierte hat mir berichtet, dass sie
frühzeitig - schon als junges Mädchen, schon als Minderjährige - zur Prostitution getrieben wurde .
Sie sehen an diesen drei Beispielen, dass wir es mit
ganz unterschiedlichen Lebenslagen zu tun haben . Deshalb möchte ich dafür werben, auch an dieses Gesetz
entsprechend heranzugehen . Wir müssen versuchen, den
verschiedenen Herausforderungen gerecht zu werden,
und dafür sorgen, dass die Frauen und Männer, die in der
Prostitution sind, gute Bedingungen haben . Gleichzeitig
müssen wir aber dafür sorgen, dass niemand Frauen und
Männer, Mädchen und Jungen in unserem Land benutzen
und zur Prostitution zwingen kann .
({0})
Zur Wahrheit gehört, dass in Deutschland viele Prostituierte unter menschenverachtenden Bedingungen arbeiten . Damit muss Schluss sein . Es wird künftig einfacher,
Menschenhändler zu verurteilen, und es kann besser geVizepräsidentin Petra Pau
gen Zwangsprostitution vorgegangen werden . Wir wollen aber auch dafür sorgen, dass Bordelle zukünftig klare
Regeln bekommen . Viele Frauen sind nicht in der Position, selbst bessere Bedingungen durchsetzen zu können .
Viele Frauen sind in der Macht von Bordellbesitzern und
ihnen schutzlos ausgeliefert, oft auch der Gewalt . Niemand kontrolliert, unter welchen Bedingungen Bordelle
arbeiten . Es ist in Deutschland schwieriger, eine Pommesbude zu eröffnen als ein Bordell . Damit muss Schluss
sein . Wir brauchen für Bordelle klare Regeln .
({1})
Wir wollen Frauen und Männer davor schützen, zur
Prostitution gezwungen zu werden . Wir wollen die Frauen und Männer, die freiwillig in der Prostitution arbeiten,
besser schützen: vor Gefährdungen ihrer Gesundheit und
ihrer sexuellen Selbstbestimmung, vor Ausbeutung und
vor Gewalt . Deshalb geben wir den Prostituierten klare
Rechte an die Hand und unterstützen sie bei der Wahrnehmung ihrer Rechte . Nur wer seine Rechte kennt, nur wer
Beratungsangebote bekommt und sie auch in Anspruch
nimmt, der ist wirklich geschützt . Deshalb ist es richtig,
dass wir zukünftig eine Anmeldepflicht vorsehen und
diese mit einer Beratungspflicht verbinden, um genau der
jungen Prostituierten, die bisher gar nicht rauskam, die
gar nicht sichtbar war, die Chance zu geben, gute Hilfe
zu bekommen . Das ist keine Gängelung, sondern Schutz
und Unterstützung für diese Prostituierten .
({2})
Ein Punkt, der mir sehr wichtig ist: Wir werden den
Prostitutionsstätten, also den Bordellen, zukünftig Auflagen erteilen . Bis jetzt ist es so, dass es kaum Regeln gibt .
Jeder kann so einen Betrieb anmelden; überprüft wird so
gut wie nichts . Damit muss Schluss sein . Zukünftig wird
das Gewerbe erlaubnispflichtig, und wir werden dafür
sorgen, dass geschaut wird: Wie sehen die Verträge mit
den Prostituierten aus? Wie gewährleistet der Betreiber,
dass dort keine Minderjährigen beschäftigt werden? Wenn die zuständige Behörde den Eindruck hat, dass etwas nicht mit rechten Dingen zugeht, dann muss sie auch
handeln können .
Wir werden außerdem menschenunwürdige Betriebskonzepte verbieten, zum Beispiel die Flatrate-Bordelle .
({3})
Es kann nicht sein, dass eine Frau eine ganze Nacht zu
allem verkauft wird . Die Frau muss die Möglichkeit haben, selbst zu sagen, was sie kann und was sie will . Es
geht nicht, dass im wahrsten Sinne des Wortes auf dem
Rücken der Frauen Ausbeutung herrscht .
({4})
Zu der strengeren Regulierung dieses Gewerbes gehören zukünftig auch bessere Arbeitsbedingungen für
Prostituierte . Das ist unser Ziel: Wir wollen Schutzstandards, insbesondere räumliche, hygienische und sicherheitstechnische Mindestanforderungen . Ein konkretes
Beispiel ist, dass das Arbeitszimmer mit einem Notrufsystem ausgestattet sein muss, damit die Frauen in Notsituationen auch wirklich Hilfe rufen können . Wir sorgen
auch dafür, dass Prostituierte besser beraten werden, und
wir legen hohe Anforderungen an diejenigen, die Bordelle betreiben, an .
Es gibt zukünftig klare Rechte und viel mehr Handlungssicherheit für die Prostituierten . Deshalb bin ich
zuversichtlich, dass es uns einerseits mit dem Prostituiertenschutzgesetz und andererseits mit dem Gesetz von
Herrn Maas zur Bekämpfung von Menschenhandel gelingt, dafür zu sorgen, dass die legale Prostitution unter
fairen Bedingungen abläuft und dass wir zukünftig gegen
Zwangsprostitution, Ausbeutung und Gewalt besser vorgehen können .
Ich hätte mir gewünscht, dass diese Themen schon
in den vergangenen Legislaturperioden intensiver angegangen worden wären . Wir haben hier seit vielen Jahren
Zustände, die unhaltbar sind . Ich habe selber erlebt, wie
schwierig es angesichts der verschiedenen Gemengelagen ist, die unterschiedlichen Positionen von „Lasst doch
alles so, wie es ist“ über „Freiwilligkeit über alles“ bis
hin zu „Verbietet Prostitution am besten ganz“ in einem
Gesetz zusammenzubekommen, das den Frauen und
Männern vor Ort wirklich gerecht wird .
Ich bedanke mich herzlich bei der Regierungskoalition . Wir haben intensiv beraten, auch gestritten . Ich bin
aber davon überzeugt, dass wir jetzt gute Regeln vorliegen haben .
Ich freue mich auf die Beratung und wünsche mir,
dass wir nach vielen Jahren Stillstand dieses Gesetz jetzt
durchziehen, um endlich etwas gegen Ausbeutung in der
Prostitution und für einen besseren Schutz derjenigen,
die ihr freiwillig nachgehen, zu tun .
({5})
Das Wort hat die Kollegin Cornelia Möhring für die
Fraktion Die Linke .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Ministerin Schwesig, heute ist der Internationale
Hurentag, der Tag, an dem seit über 40 Jahren Sexarbeiterinnen weltweit für ihre Selbstbestimmungsrechte und
für bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen kämpfen .
Dass Sie ausgerechnet an diesem Tag Ihr Gesetz auf den
Weg bringen, mit dem Sie das Leben der meisten Sexarbeiterinnen erschweren werden,
({0})
ist ignorant, eine Provokation oder beides .
({1})
Ihr Gesetz nennen Sie zwar Prostituiertenschutzgesetz . Aber die Schutzmaßnahmen, die Frau Schwesig
hier eben beschrieben hat, finden sich zumindest in ihrer Schutzwirkung darin überhaupt nicht . Sie werden mit
diesem Gesetz die Arbeit im Verborgenen fördern - ohne
Rechte und ohne Schutz .
Sexarbeiterinnen sollen sich mit Inkrafttreten des Gesetzes individuell und persönlich mit Familiennamen und
Adresse registrieren lassen . Sie bekommen dann eine
Anmeldebestätigung, so eine Art Hurenausweis . Diesen
müssen sie mit sich führen und bei Kontrollen vorlegen .
Die Anmeldung ist nicht etwa einmalig, und man meldet
sich wieder ab, wenn man mit dem Beruf aufhört - nein,
sie muss alle zwei Jahre erfolgen . „Was soll das?“, frage
ich Sie . Sie schützen damit nicht, Sie verbessern damit
nicht die Lebenssituation der Prostituierten, Sie stärken
damit nicht das sexuelle Selbstbestimmungsrecht, Sie
verbessern damit nicht die Überwachung des Prostitutionsgewerbes, Sie bekämpfen damit nicht Kriminalität
oder Zuhälterei . Nichts davon tun Sie . Ihre angeblichen
Ziele sind alles Luftnummern .
Warum also? Die Registrierung ist ein Mittel der Verdrängung und Verhinderung statt des Schutzes, weil sich
eben viele Frauen gar nicht anmelden werden, weil sie
sich nicht anmelden können - aus verständlichen Gründen . Das gesellschaftliche Stigma ist noch viel zu groß .
Was passiert denn, wenn eine Prostituierte sich bei der
zuständigen Behörde in einer Kommune, in der man
sich kennt, registrieren lassen muss? Soll sie dort sagen:
„Schönen guten Tag! Ich will als Prostituierte arbeiten .
Aber wenn Sie mich beim Elternabend oder beim Einkaufen treffen, dann schauen Sie mich bitte nicht komisch von der Seite an“? Dieser Berufsstand ist nun
einmal noch in der Schmuddelecke . Wenn Sie wirklich
helfen und schützen wollen, dann müssen Sie genau gegen dieses Stigma wirken . Das tun Sie aber nicht .
({2})
Es gibt viele Gründe, warum Frauen in der Prostitution ein Zwangsouting befürchten oder die behördliche
Registrierung nicht riskieren wollen . Ihre Familie, ihr
soziales Umfeld weiß vielleicht nichts und soll es auch
nicht wissen . Der Beruf wird vielleicht nur gelegentlich
ausgeübt . Ein Outing gefährdet den Teilzeitjob oder das
Sorgerecht im anstehenden Verfahren . Wie auch immer:
Es gibt viele Gründe .
Ein nicht unerheblicher Teil dieser Personen wird
weiterhin sexuelle Dienstleistungen anbieten . Sie tun es
dann bei Nichterfüllung der Anmeldepflicht aber eben
illegal und unter Bußgeldandrohung . Ihr Gesetzentwurf
bringt keinen Schutz . Dieses Gesetz fördert die Verdrängung ins Verborgene . Es ist ein Gesetz der Kontrolle .
({3})
Sie werden die Stigmatisierung verschärfen, anstatt sie
zu mindern .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist doch völlig
absurd, zu glauben, dass sich ein in die Illegalität getriebenes Gewerbe besser überwachen ließe oder die Prostituierte, die dann illegal tätig ist, behördlichen oder polizeilichen Schutz in Anspruch nehmen würde . An wen
soll sich die Prostituierte denn wenden, wenn sie tatsächlich Gewalt erfährt oder wenn sie wegen einer fehlenden
Anmeldung oder der Tätigkeit und der Angst vor dem
Outing erpresst wird? Sie wird eben nicht zur Polizei gehen .
Sie haben eben die Anmeldepflicht auch damit begründet, dass so eine Aufklärung über die Rechte von Prostituierten erfolgen kann oder Prostituierte sagen könnten,
sie bräuchten noch eine Beratung . Das ist eine schlechte Begründung . Information und Beratung können doch
viel besser freiwillig in Beratungsstellen erfolgen .
({4})
Wenn es Ihnen um Unterstützung und Beratung geht,
Herr Weinberg, dann nehmen Sie doch als Bund endlich
einmal Geld in die Hand und bauen das Hilfesystem aus .
({5})
Der zweite Teil des Gesetzentwurfs, den Frau
Schwesig hier vorgestellt hat - da geht es um die Regulierung von Prostitutionsstätten -, legt Mindestanforderungen für gute Arbeitsbedingungen fest . Das ist im Prinzip
zu begrüßen . Aber auch hier schießt die Große Koalition
gnadenlos am Ziel vorbei . Die Mindestanforderungen,
die Sie festlegen wollen, können von Großbordellen erfüllt werden, aber nicht von kleinen Wohnungsbordellen . Getrennte Sanitärbereiche für Sexarbeiterinnen und
Sexarbeiter sowie Kunden und Kundinnen - auch Kundinnen gibt es manchmal -, technische Notrufsysteme,
getrennte Schlaf- und Arbeitszimmer: Das ist für kleine
Wohnungsbordelle nicht drin . Aber das ist für sie auch
nicht erforderlich .
Worin besteht denn der Schutz, wenn die Sexarbeiterin in einem anderen Zimmer schläft, als sie arbeitet?
Warum braucht es denn teure Technik, wenn sie bei Gefahr rüberrufen kann? Gerade Wohnungsbordelle ermöglichen es den Sexarbeiterinnen und Sexarbeitern, selbstbestimmter zu arbeiten, etwa mit drei, vier oder fünf
Frauen in einem kleinen Bordell, als in Laufhäusern oder
eben in Großbordellen . Aber kleinere Wohnungsbordelle
dieser Art, die das ermöglichen, werden verschwinden .
Sie werden Ihr Gesetz nicht überleben . Im Ergebnis fördern Sie Großbordelle, und das ist echter Mist .
({6})
Ich habe, ehrlich gestanden, den Eindruck, dass Sie
bei dem Thema vor allem intern gekreist sind und eben
nicht mit den entsprechenden Expertinnen und Experten
sowie Sexarbeiterinnen und Sexarbeitern geredet haben .
Wenn Sie nur einmal den Berufsverbänden und Expertinnen und Experten richtig zugehört hätten, wenn Sie
die Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter ernst nehmen würden, wenn Sie einmal den Bericht des Runden Tisches in
NRW gelesen und dann dessen Erkenntnisse berücksichtigt hätten ({7})
- da war ich, Herr Weinberg -, dann wüssten Sie, dass
die Prostitutionsstätten sehr unterschiedlich sind und natürlich auch unterschiedlich behandelt werden müssen .
({8})
- Sie können mir ja eine Zwischenfrage stellen . Die beantworte ich gerne . - Ein Prostitutionsstättengesetz, in
dem auf unterschiedliche Modelle eingegangen wird, in
dem mit Betroffenen ausgehandelte Mindeststandards
festgelegt und diese gemeinsam ausgehandelten Mindeststandards als Grundlage für die Konzessionierung
genommen werden, wäre sinnvoll und wird auch von
meiner Fraktion gefordert .
({9})
Zum Abschluss habe ich noch eine Frage an Sie . Nehmen wir einmal an, Sie würden es mit Ihrem Verhinderungs- und Kontrollgesetz tatsächlich schaffen, dass
Frauen nicht mehr in der Prostitution arbeiten wollen,
({10})
auch nicht illegal: Was dann? Wo sind die guten Jobs für
sie? Wo sind die vielversprechenden Ausbildungschancen? Wo sind die bezahlbaren Wohnungen?
({11})
Bevor Sie in der Art, wie Sie es vorhaben, gegen einen
legalen Beruf vorgehen, sollten Sie sich erst einmal überlegen, wie Sie diese sozialen Fragen lösen, und zwar
nicht nur für Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter, sondern
für alle .
({12})
Ich muss ganz ehrlich sagen, Frau Schwesig: Ich verstehe an dieser Stelle Ihr Tempo nicht . Nächsten Montag
gibt es im Bundestag eine Anhörung . Da haben Sie noch
einmal die Gelegenheit, tatsächlich mit Expertinnen und
Experten sowie Sexarbeiterinnen und Sexarbeitern zu reden und richtig hinzuhören . Schon einen Monat später
soll hier die zweite und dritte Lesung erfolgen, obwohl
das Gesetz erst Mitte nächsten Jahres in Kraft treten soll .
Was soll denn das? Hat Ihnen die Union dafür versprochen, dass dann das Entgeltgesetz kommt, was ja nachher doch immer nur eine Nullrunde bringt? Oder warum
diese Eile?
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Linke ist dabei,
wenn Menschenhändlern, wenn Zuhältern, wenn Ausbeutern der Kampf angesagt wird .
({13})
Wir sind dabei, wenn Armut bekämpft wird . Wir sind
dabei, wenn es darum geht, Selbstständige besser abzusichern und sie an Sozial- und Rentenversicherung teilhaben zu lassen . Wir sind dabei, wenn sexuelle Selbstbestimmung gestärkt werden soll und die Betreiber von
Bordellen für bestmögliche und sichere Arbeitsbedingungen sorgen müssen . Wir sind dabei, wenn es um mehr
Schutz und um mehr Rechte geht . Aber all das tun Sie
eben nicht . Die Linke wird Ihren Gesetzentwurf ablehnen .
Vielen Dank .
({14})
Der Kollege Marcus Weinberg hat für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort .
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin . - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Liebe Frau Möhring, wenn es denn einen
Tag gibt, an dem man einen solchen Gesetzentwurf hier
im Deutschen Bundestag diskutieren muss, dann ist es
genau der heutige Tag; denn dieses Gesetz ist endlich
die richtige Antwort auf das, was wir seit 2002 erleben,
nämlich das Scheitern des Prostitutionsgesetzes von RotGrün .
({0})
Wenn Sie mir das nicht glauben, dann sprechen Sie
bitte mit denjenigen, die die Wirklichkeit bewerten . Ich
will zitieren, was ein Reporter von RISE Project in der
Sendung Die Story im Ersten: Ware Mädchen sagte: „Als
Deutschland und die Schweiz die Prostitution legalisiert
haben, war das eine gute Nachricht für die Menschenhändler …“ - Das hat sich seit 2002 verändert . Ihr Beitrag gerade hat bewiesen, dass Sie anscheinend unter einem absoluten Realitätsverlust bei der Frage leiden: Wie
sieht es in der Prostitution aus?
({1})
Schauen wir uns einmal die Ergebnisse des rot-grünen Prostitutionsgesetzes an: Sicherheit und Schutz?
Fehlanzeige! - Bessere Arbeitsbedingungen? Fehlanzeige! - Selbstbestimmung der Prostituierten? Fehlanzeige!
Nein, weniger als 100 Prostituierte sind in Deutschland
sozialversicherungspflichtig angestellt. Stattdessen haben wir es mit Elend, Ausbeutung und Armut zu tun . Das
werden wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf endlich
angehen .
Ziel des Gesetzes - das hat die Ministerin dargestellt ist es, den Prostitutionsmarkt, die legale Prostitution,
endlich zu regeln mit dem Ziel, dass die organisierte
Kriminalität zurückgedrängt wird, dass wir Prostituierte
vor Fremdbestimmung schützen und auch die Arbeitsbedingungen für die Prostituierten so gestalten, dass
sie in diesem Bereich in Würde arbeiten können . Jede
Form von Fremdbestimmung muss bekämpft werden,
von Zwangsprostitution und Menschenhandel ganz zu
schweigen . Denn - das ist unsere Überzeugung - jede
Art von Fremdbestimmung in der Prostitution ist mit der
Würde des Menschen unvereinbar . Dieser Leitsatz trägt
uns auch bei diesem Gesetzentwurf .
Deswegen teile ich das, was die Ministerin zu der Frage gesagt hat, welche Gruppe wir in den Fokus der BeCornelia Möhring
trachtung nehmen sollten . Das sind, bei allem Respekt,
nicht die gut situierten Hausfrauen oder Studierenden,
die nebenbei als Prostituierte arbeiten, beispielsweise
ein Dominastudio betreiben und selbstbestimmt sind .
Vielmehr müssen die in unserem Fokus stehen, die nicht
sichtbar sind . Das sind die Tausenden von Prostituierten,
die in den letzten Jahren nach Deutschland gekommen
sind, die übrigens immer öfter an den Landstraßen stehen
und die keiner im Fokus hat . Das heißt, der Gesetzentwurf muss insbesondere diese Gruppe schützen; denn das
ist die Aufgabe des Staates: die Schwachen der Gesellschaft zu schützen .
({2})
Deswegen sei noch eine Bemerkung zu Ihrer Aussage
erlaubt, wir müssten mit den Sexdienstleisterinnen sprechen . Das tun wir . Ich spreche gerne mit einem Verband,
der 36 oder 72 Mitglieder hat . Wir reden hier aber über
Tausende, die in der Prostitution sind oder tätig sein müssen .
({3})
Das ist auch ein Appell an die gut organisierten Sexdienstleisterinnen, die sich jetzt auch durch den Verband
vertreten sehen . Es geht um die Solidarität der Betroffenen mit den Schwächeren und die Bereitschaft, auch
für die Schwächeren einzustehen . Deshalb ist die fremdbestimmte Prostitution in dem Sinne zu verändern, dass
wir Hilfsangebote machen, Kontrollen vornehmen und
übrigens auch Möglichkeiten zum Ausstieg aus der Prostitution schaffen . Das sollte auch im Interesse derer sein,
die sich in Verbänden vertreten sehen . Der Staat hat jedenfalls - ich wiederhole - die Aufgabe, gerade die zu
vertreten, die keine andere Möglichkeit haben .
Kollege Weinberg, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung der Kollegin Möhring?
Von Frau Möhring doch immer .
Vielen Dank, Herr Kollege Weinberg . - Herr Kollege
Weinberg, würden Sie zur Kenntnis nehmen, dass in allen Stellungnahmen der Verbände, die bisher zu unserer
Anhörung am nächsten Montag eingegangen sind, und
auch bei den vergangenen Sexarbeiterinnen-Kongressen,
die nicht nur 35 Teilnehmerinnen hatten, sondern bei denen ein breites Spektrum abgebildet war, von allen, wirklich ausnahmslos allen darauf hingewiesen wurde, dass
die Registrierungs- und Anmeldepflicht mitnichten zu
mehr Schutz der Betroffenen führt, und dass auch die Beratungsstellen, die sich mit Prostituierten auf dem Straßenstrich beschäftigen, darauf hingewiesen haben, dass
eine Registrierung mitnichten zu mehr Schutz führen,
sondern die Abdrängung in die Illegalität fördern wird?
Ich kann Ihnen natürlich nicht vorwerfen, wenn Sie
sich nicht vor Ort im Bordell kundig machen; das ist keine Frage. Aber heute findet um 11 Uhr vor dem Bundestag eine Aktion zum Internationalen Hurentag statt . Da
haben alle Kolleginnen und Kollegen Gelegenheit, direkt
mit Betroffenen darüber zu reden und von ihnen zu hören, was sie von diesem Gesetzentwurf halten .
({0})
Liebe Frau Kollegin Möhring, das nehme ich schon
deshalb zur Kenntnis, weil der Sexdienstleisterinnen-Kongress in Hamburg stattgefunden hat, eröffnet
von der Senatorin für Gleichstellung, Frau Fegebank von
den Grünen .
({0})
Sprechen Sie einmal mit denjenigen, die sich um die
Prostituierten kümmern, die gerade nicht vertreten werden!
({1})
Sprechen Sie mit Polizeibeamten vom LKA! Ich will
gerne zitieren, was eine verdeckte Ermittlerin im Zusammenhang mit der Fragestellung von Anmeldung und Beratung gesagt hat:
Die Mädchen müssen halt das Gefühl haben, dass
sie eng betreut werden und dass wir ihre Sorgen
ernst nehmen . Haben sie das Gefühl, dass man
ernsthafte Hilfsangebote macht, wie zum Beispiel,
dass man NGOs einbindet, die eng an den Mädchen
dran sind, und das aufrechterhält, sagen sie aus .
Das heißt, das, was die Polizistinnen und Polizisten über
die, die sie täglich aufgreifen, über die, die an der Straße
stehen und sich für 20 Euro anbieten müssen, sagen, dem
vertraue ich . Das sind auch meine Adressaten in der Diskussion über diesen Gesetzentwurf .
Sie werden bei den Stellungnahmen zur Anhörung
einiges erleben . Wir werden am Montag darüber debattieren und darüber sprechen, wie die Realität aussieht .
Sie wird nicht bestimmt von den wenigen, die in großen
Edelbordellen arbeiten, sondern von der großen Masse,
die wir an der Landstraße finden. Deshalb, glaube ich,
muss bei allem Respekt vor der Arbeit der jeweiligen
Verbände - auch die nehmen wir gern zur Kenntnis;
auch mit denen führen wir Gespräche - angesichts von
300 000 Prostituierten unser Ansinnen sein, dass wir uns
Gedanken um diejenigen machen, die nicht durch die jeweiligen Verbände vertreten werden .
({2})
Genau die Beschreibung der Auswirkungen des Prostituiertengesetzes in Form von Elend, Armut und Ausbeutung war es ja auch, was die Große Koalition in der
jetzigen Situation bewegt hat, zu handeln . Wir haben
dann ja auch sehr intensiv miteinander gerungen - das
ist auch gut so -, weil wir am Thema interessiert waren,
weil wir nicht weiter Ideologien aufbauen wollten . Die
Ministerin hat zu Recht gesagt, vielleicht kommt man
Marcus Weinberg ({3})
mit diesem Gesetz zu spät . Richtig . Aber das Gute ist und das ist unser Ziel -, dass wir dieses Gesetz in dieser
Legislaturperiode auf den Weg bringen . Ich bin der SPD
sehr dankbar, dass wir bei den wesentlichen politischen
Themen auch Einigung erzielt haben . Es war ein langer,
streitbarer Weg, aber uns hat immer das Interesse geleitet, dass wir die Frauen schützen, dass wir die Betroffenen schützen . Ich glaube, das ist mit den Regelungen
auch gelungen .
Wir brauchen ein Anmeldeverfahren, wir brauchen
Angebote, und wir brauchen insbesondere den Schutz
der Prostituierten, die unter 21 sind . Auch wenn die Prostitution weiter mit 18 zulässig ist, haben wir es zumindest erreicht, dass besondere Schutzfunktionen, besondere Beratungsfunktionen jetzt bei der Gruppe der 18- bis
21-Jährigen implementiert werden . Das ist gut - gerade
für die Gruppe, die wir auch mit Blick auf den Ausstieg
ansprechen wollen .
Im Übrigen, Frau Möhring, Ihre letzte Bemerkung
habe ich überhaupt nicht verstanden . Was ist denn das
bitte für ein Ansatz: „Ja, und wenn die Prostituierten dann
mit ihrer Arbeit aufhören, was ist denn dann mit ihnen?
Dann müssen wir sie ja qualifizieren und Ausbildungsangebote schaffen“? Ja, ist denn der Umkehrschluss, dass
sie in der Prostitution bleiben sollen, weil sie möglicherweise keine Alternative haben? Das kann in dieser Frage
ja wohl nicht der richtige Weg der Politik sein .
({4})
Wir werden uns jetzt tatsächlich nach der Anhörung
am Montag Zeit nehmen, ebendiese auszuwerten . Wir
als Union haben noch einige Punkte, die wir diskutieren
wollen . Ich will ein paar davon ansprechen .
Das Erste ist das Thema der Einsichtsfähigkeit . Wir
halten es für falsch, dass sozusagen die Prüfung der Einsichtsfähigkeit jetzt im Rahmen des Anmeldeverfahrens
wieder herausgenommen wurde . Denn gerade die Menschen mit kognitiven Schwierigkeiten, die Menschen mit
Behinderung müssen davor geschützt werden, dass sie
eine Anmeldebescheinigung ausgestellt bekommen, ohne
dass überprüft wird, ob sie über ausreichende Einsichtsfähigkeit verfügen, um ihr sexuelles Selbstbestimmungsrecht selbst schützen zu können . Gerade diese Menschen
brauchen ein Anmelderegime, das dazu geeignet ist, ihr
Selbstbestimmungsrecht sicherzustellen .
Das Zweite ist die Frage des Schutzes von schwangeren Prostituierten und hochschwangeren Prostituierten .
In diesem Bereich gibt es ja die Entwicklung - das ist ja
erbärmlich -, dass man mit Schwangeren und mit Hochschwangeren mittlerweile gute Geschäfte macht . Da sagen wir als Union ganz deutlich: Wir müssen schauen,
wie wir es rechtlich hinbekommen, dass wir diese Menschen schützen, weil das ungeborene Leben geschützt
werden muss . Das ist auch in der Frage der Prostitution
für uns ein Grundsatz .
({5})
Drittens werden wir auf das Thema Krankenversicherung schauen . Wir wollen die Prostituierten beraten, wir
wollen aber auch, dass alle krankenversichert sind .
Der vierte Punkt betrifft die Auswüchse der Prostitution gerade in ländlichen Bereichen . Wenn Sie heute mit
Kolleginnen und Kollegen aus Wahlkreisen sprechen, die
aus einem ländlichen Bereich kommen, dann hören Sie,
dass sich dort mehr und mehr junge Mädchen aus Rumänien, aus Bulgarien finden, die sich für billiges Geld anbieten müssen, die elf Stunden im Regen stehen müssen .
Und das Geld, das sie verdienen, wird ihnen auch noch
abgenommen . Das heißt, wir werden überprüfen müssen,
wie wir diese besondere Situation der Straßenprostitution
mit dem jetzigen Gesetzesvorhaben verändern können .
({6})
Ich bin guter Dinge . Ich bedanke mich noch einmal für
diesen Gesetzentwurf . Wir haben hier und da noch Nachbesserungsbedarf und müssen an Stellschrauben drehen .
Das werden wir gemeinschaftlich tun . Ich freue mich
sehr, dass SPD, CDU und CSU es gemeinsam in dieser
Legislaturperiode schaffen, ein solches Gesetz auf den
Weg zu bringen . Es ist ein gutes Zeichen für die Große
Koalition, dass wir, so weit auseinander wir auch waren,
jetzt eng zusammengekommen sind - im Sinne der Betroffenen . Und das ist unser Auftrag, nichts anderes .
Vielen Dank .
({7})
Das Wort hat die Kollegin Katja Dörner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Man sagt ja: Was lange währt, wird endlich gut . - Auf diesen Gesetzentwurf trifft dieser schöne
Spruch leider nicht zu .
({0})
Wir sind uns ja alle einig, dass wir Regulierung im Bereich der Prostitution brauchen und dass wir die Situation
von Prostituierten verbessern wollen . Herr Weinberg hat
das Gesetz von 2002 angesprochen; es kommt ja auch
in der gesamten Debatte immer wieder zur Sprache . Ich
will einmal sagen: Durch dieses Gesetz wurde wirklich
eine zentrale Weichenstellung vorgenommen, insbesondere deshalb, weil es die sogenannte Sittenwidrigkeit
zivilrechtlicher Verträge über sexuelle Dienstleistungen
beseitigt hat . Hinter diesen Schritt will niemand mehr
zurück. Ich finde das gut, und ich möchte das hier noch
einmal ausdrücklich festhalten .
({1})
Aber es ist auch richtig, dass sich viele der mit diesem
Gesetz verbundenen Erwartungen und Hoffnungen nicht
erfüllt haben, beispielsweise im Bereich der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung und im Hinblick auf
Marcus Weinberg ({2})
den Schutz vor Zwangsprostitution . Deshalb sagen wir
als Grüne, dass wir neue Regelungen brauchen .
({3})
Was wir brauchen, ist eine Regulierung der Prostitutionsstätten als Gewerbebetrieb . Den Betreibern müssen
Pflichten auferlegt werden.
({4})
Ihnen müssen klare Grenzen aufgezeigt werden . Diesbezüglich enthält der Gesetzentwurf einige Regelungen .
An dieser Stelle können wir durchaus mitgehen . Der
Webfehler des Gesetzentwurfs ist aber, dass Sie darüber
hinaus den in der Prostitution Tätigen sehr weitreichende Pflichten auferlegen. Dieser Ansatz ist falsch. Das ist
Gängelung und fördert die Stigmatisierung . Das trägt
nicht dazu bei, Prostituierte besser zu schützen .
({5})
Wir bemerken immer wieder, dass Prostitution ein
sehr emotional besetztes Thema ist . Persönliche Wertvorstellungen spielen hier immer eine große Rolle . Gerade
wenn aber die Gesellschaft mit heißem Herzen über eine
Thematik diskutiert, müssen wir als Gesetzgeber umso
mehr mit kühlem Kopf die Sache angehen und uns fragen, ob die Maßnahmen, die wir vorschlagen, tatsächlich
geeignet sind, unsere Ziele zu erreichen, gerade wenn es
um den Schutz der Prostituierten geht .
({6})
Ich will zwei Maßnahmen nennen, bei denen das nicht
der Fall ist bzw . mit denen das Gesetz das Gegenteil bewirken wird . Wie gesagt, Prostitution wird noch immer
stigmatisiert . Deshalb sind viele Prostituierte dringend
auf Anonymität angewiesen . Sie werden sich daher nicht
anmelden . Die vielleicht seitens der Koalitionsfraktionen gut gemeinte Anmeldefrist wird in der Praxis dazu
führen, dass eine große Anzahl der Prostituierten in intransparente, illegale Bereiche ausweichen muss . Damit
steigt die Gefahr von Übergriffen . Die Möglichkeiten,
Maßnahmen des Rechtsstaats in Anspruch zu nehmen,
werden geschwächt . Auch der Zugang zu Beratungs- und
Unterstützungsmöglichkeiten wird erschwert . Deshalb
ist diese Anmeldefrist kontraproduktiv .
({7})
Zudem - das entnehmen wir auch einigen Stellungnahmen zur Anhörung -: Die Annahme, Opfer von
Menschenhandel könnten im Rahmen der Anmeldung
erkannt und unterstützt werden, ist völlig lebensfremd .
Vielmehr werden sich gerade Frauen in Abhängigkeitsverhältnissen anmelden müssen, damit die Hintermänner
sie ungestört und ungefährdet weiterhin ausbeuten können . Gerade das wollen wir nicht .
({8})
Ein weiterer Punkt, den ich ansprechen möchte und
der eng mit der Anmeldepflicht verknüpft ist, ist die gesundheitliche Pflichtberatung. Selbstverständlich ist gesundheitliche Beratung immens wichtig . Deshalb ist es
unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, dass es ausreichend
Beratungsangebote gibt . Aber alle Erfahrungen zeigen,
dass den Beratungsangeboten Freiwilligkeit, Niedrigschwelligkeit und die Möglichkeit der Anonymität zugrunde liegen müssen . Ich rate an, einen Blick in die
Stellungnahme der Bundesvereinigung der kommunalen
Spitzenverbände zu werfen . Diese sagt ausdrücklich,
dass die Beratungspflicht stigmatisierend und kontraproduktiv wirkt und dass sich gerade marginalisierte Prostituierte dieser Pflicht entziehen und damit kriminalisiert
und noch vulnerabler werden . Deshalb meine ich: Die
Koalition sollte von dieser Regelung dringend Abstand
nehmen .
({9})
Der Gesetzentwurf trägt den Schutz der Prostituierten
im Titel. Aber man findet diesen Schutz leider nicht in
den Paragrafen . Deshalb sehen wir diesen Gesetzentwurf
sehr kritisch . Wir hoffen auf die Anhörung und den Bundesrat, der in dieser Frage offensichtlich sachorientierter
aufgestellt ist als die Koalitionsfraktionen .
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
({10})
Die Kollegin Dr . Carola Reimann hat für die
SPD-Fraktion das Wort .
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Mit dem Prostitutionsschutzgesetz schaffen wir
das erste Mal klare Regeln für den Betrieb und die Erlaubnis von Prostitutionsstätten . Das ist gut; denn damit
sorgen wir für bessere Arbeitsbedingungen für die in der
Prostitution tätigen Frauen und Männer . Für die SPD ist
das ein ganz entscheidender Punkt . Wir wollen nämlich,
dass dieses Gesetz hält, was sein Name verspricht: ein
höheres Schutzniveau und eine nachhaltige Verbesserung
der Situation von Prostituierten .
Es ist schon angesprochen worden: Die Erfahrungen
aus der Praxis haben gezeigt, dass auch nach dem im
Jahr 2002 unter Rot-Grün eingeführten Prostitutionsgesetz Handlungsbedarf besteht . Leider, Kollege Weinberg,
hat aber ein schwarz-gelb dominierter Bundesrat in der
Vergangenheit immer notwendige Regulierungen verhindert .
({0})
Das Prostitutionsgesetz setzt jetzt an dieser Stelle an . Die
Erlaubnispflicht für Prostitutionsstätten ist hierbei der
zentrale Punkt . Mit ihr setzen wir wichtige Mindeststandards bei den Arbeitsbedingungen durch .
({1})
Erstens . Die Betreiber eines Prostitutionsgewerbes
müssen sich einer Zuverlässigkeitsprüfung unterziehen .
Zweitens. Diese Erlaubnispflicht wird an die Erfüllung
gesetzlicher Mindestanforderungen für die Betriebe geknüpft. Bei Verstößen drohen empfindliche Strafen und
der Entzug der Erlaubnis . Drittens . Es stehen uns mit
dem Gesetz jetzt endlich neue Kontrollinstrumente zur
Verfügung,
({2})
um auch die Einhaltung der gesetzlichen Pflichten sicherzustellen .
Wir brauchen diese Maßnahmen; denn es geht hier um
nicht weniger als die Einhaltung von Grundrechten wie
der sexuellen Selbstbestimmung, der persönlichen Freiheit und auch der Gesundheit . Deshalb ist es richtig, dass
wir mit Geschäftsmodellen Schluss machen, die mit dem
Recht auf sexuelle Selbstbestimmung unvereinbar sind .
({3})
Wir regeln hier einen Bereich, der, wo immer man hinschaut, ganz unterschiedlich ist, ja sogar widersprüchlich
ausgeprägt ist . Zweifelsohne ist die Situation für viele in
der Prostitution Tätige nach wie vor schwierig . Sie werden ausgegrenzt und stigmatisiert, nur wenige wagen es,
offen über ihre Tätigkeit zu sprechen . Viele fürchten Benachteiligungen im eigenen sozialen Umfeld . Gleichzeitig gibt es aber auch Sexarbeiterinnen, die selbstbewusst
für ihre Rechte kämpfen können, die Freiwilligkeit und
Selbstbestimmtheit für sich reklamieren .
Die Ministerin hat in ihrer Rede auf diese ganz unterschiedlichen Lebenslagen hingewiesen . Unsere Aufgabe
als Gesetzgeber ist es, ein Gesetz auf den Weg zu bringen, das dieses Spektrum berücksichtigt und dem gerecht
wird . Das ist eine besondere Herausforderung . Das ist
aber nicht die einzige Herausforderung und nicht der einzige Widerspruch, mit denen man sich in diesem Gewerbe konfrontiert sieht; denn wir sprechen hier über einen
Wirtschaftszweig, in dem Milliarden umgesetzt werden,
mit dem aber, wenn man sich umhört, niemand etwas zu
tun hat . Es ist die Tabuisierung, das Verschweigen und
zum Teil auch die Verlogenheit, die die Lage dieser Frauen und Männer so schwierig machen . Dieses Problem ist
wesentlich tief greifender, als dass wir es mit einem einzigen Gesetz von heute auf morgen ändern könnten .
({4})
Es ist aber wichtig, dass wir uns dessen bewusst sind
und verstehen, in welch unterschiedlichen Lagen sich
Prostituierte befinden. Das müssen wir auch als Gesetzgeber vor Augen haben . Deshalb brauchen wir Regeln
mit Augenmaß, Regeln, die den Frauen ein sicheres Leben ohne gesellschaftliche Ächtung möglich machen,
aber auch Regeln, die der Lebens- und Berufspraxis gerecht werden . Das ist das, was viele renommierte Verbände, angefangen vom Deutschen Juristinnenbund und
dem Deutschen Frauenrat über die Diakonie bis hin zur
Deutschen AIDS-Hilfe, im vorparlamentarischen Beratungsprozess immer wieder angemahnt haben .
Deshalb bin ich froh, dass es in langen Verhandlungen gelungen ist, Forderungen abzuwehren, die die
Balance dieses Gesetzes gefährdet hätten . Dazu zählen
Forderungen nach Pflichtuntersuchungen oder nach dem
Mindestalter. Richtig war auch, die Anmeldepflicht praxistauglicher zu machen . Unsere Marschrichtung ist klar:
Wir wollen mehr Schutz, und wir wollen mehr Rechte für
die Prostituierten . Wir wollen klare Standards für ordentliche Arbeitsbedingungen .
Was wir aber nicht wollen, ist Tabuisierung, Stigmatisierung und Regelungen, die diese für die Frauen schädliche Entwicklung ohnehin verstärken; denn am Ende
schieben wir damit Probleme und auch Missstände in die
dunkle Ecke der Illegalität, obwohl wir eigentlich mehr
Licht und mehr Transparenz an dieser Stelle brauchen .
({5})
Kolleginnen und Kollegen, ich denke, wir sind mit
dem Gesetz auf einem guten Weg, wenn wir diese Leitlinien auch im parlamentarischen Verfahren beherzigen .
Das heißt: keine weiteren Verschärfungen, stattdessen
mehr Rechte, mehr Beratung und mehr Unterstützung .
Vielen Dank .
({6})
Das Wort hat die Kollegin Ulle Schauws für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Wir reden hier im Bundestag in den letzten Wochen viel und oft über das Thema der sexuellen
Selbstbestimmung . Gerade im Rahmen der Reform des
Sexualstrafrechts ist das ein sehr zentraler und wichtiger
Punkt . Da sind wir uns hier in diesem Parlament - vor
allem die Frauen - ziemlich einig . Umso mehr ist es für
mich unverständlich, dass im Falle der Prostituierten bei
der sexuellen Selbstbestimmung andere Maßstäbe angelegt werden . Warum stellen Sie die Selbstbestimmung
von Prostituierten infrage? Denn das machen Sie mit diesem Gesetzentwurf, Frau Ministerin .
Diesem Entwurf liegt eine bevormundende Haltung
zugrunde, die allen Frauen und Männern in der Prostitution die Selbstbestimmung abspricht . Ich sage Ihnen:
Dieser Gesetzentwurf ist Ausdruck von Bevormundung
und Kontrolle . Sie verändern damit genau nicht, was Sie
vorgeben ändern zu wollen . Sie setzen die Stigmatisierung der Stigmatisierten fort, Frau Schwesig . Sie versäumen es, das wirklich Notwendige zu tun, nämlich die
Menschen, die in der Prostitution arbeiten, zu bestärken
und zu unterstützen .
({0})
Frauen, die sexuelle Dienstleistungen anbieten und die
so zum Beispiel ihre Kinder ernähren oder die Pflege eines Familienmitglieds mit diesem Job vereinbaren, sind
nach Ihrem Gesetzentwurf gezwungen, sich zu outen,
oder sie können diese Tätigkeit nicht mehr legal ausüben .
Aber das ist doch, bitte schön, kein Schutzgesetz . Das ist
die Bevormundung einer ganzen Berufsgruppe . Genau
aus diesem Grund, liebe Kolleginnen und Kollegen, bestehen schwerwiegende Bedenken gegen die Punkte des
Gesetzentwurfs, mit denen Druck auf die Prostituierten
ausgeübt wird: die Anmeldepflicht - sie ist schon genannt worden -, die verpflichtende Gesundheitsberatung
und auch die behördlichen Anordnungen, die in diesem
Gesetzentwurf stehen .
Bei den Anhörungen im Bundesministerium haben etliche Fachleute - unter anderem der Diakonie, des Deutschen Frauenrates, des Deutschen Juristinnenbundes und
der Deutschen AIDS-Hilfe sowie Medizinerinnen und
Mediziner - früh davor gewarnt, den Zwang zum Outing in diesen Gesetzentwurf hineinzuschreiben, weil das
kontraproduktiv ist . Die Caritas hat den Gesetzentwurf ich zitiere - mit folgenden Worten konterkariert:
Das geht an der Lebensrealität von Prostituierten
vorbei . Expertenmeinungen und Erfahrungen aus
der praktischen Arbeit haben kaum bemerkbar Eingang in den Gesetzentwurf gefunden .
Dem, was die Caritas sagt, schließe ich mich an . Ihr Gesetzentwurf ignoriert Fachwissen, und das ist unprofessionell .
({1})
Frau Schwesig, bei der Anmeldepflicht ignorieren Sie,
dass sich die Prostituierten gerade aufgrund von Diskriminierungserfahrungen erstens häufig nicht als „Prostituierte“, sondern mit anderen Berufsbezeichnungen anmelden und zweitens Misstrauen wegen des fehlenden
Datenschutzes haben . Und was machen Sie? Sie schaffen
eine eigene Datei für Prostituierte . Die Folge - das wurde
heute schon sehr oft gesagt - ist klar: Viele werden sich
nicht anmelden, und dann haben Sie nichts erreicht . Das
schützt Prostituierte nicht . Nein, es sind viele erst recht
gefährdet, wenn sie nicht legal arbeiten können .
({2})
- Ja, so ist es, Herr Weinberg .
({3})
Die irrige Vorstellung, mit der verpflichtenden Gesundheitsberatung Opfer von Menschenhandel entdecken zu
können, kommt genau daher, dass Sie den vielen Expertinnen nicht zugehört haben .
({4})
Armutsprostituierte, die in schwierigen Lebenslagen
stecken und besonders gefährdet sind, werden sich während eines Gesprächs in einer Behörde doch nicht einer
völlig fremden Person anvertrauen .
({5})
Das braucht Zeit, und es funktioniert nur freiwillig . Es
geht nur freiwillig, Herr Kollege .
({6})
Wie Ihnen bekannt sein sollte, äußert auch der Bundesrat in seiner Mehrheit deutlich Kritik . Er stellt die
Forderung auf, die §§ 3 bis 11 zu streichen . Und, ehrlich
gesagt, ich finde, das können Sie nicht so einfach ignorieren. Auch bei der Erlaubnispflicht, die wir Grünen schon
im Januar gefordert hatten - wir halten sie grundsätzlich
für sinnvoll -, gibt es eine Einschränkung, die ich Ihnen
nennen will . Sie legen für kleine Wohnungsprostituierte
die gleichen Voraussetzungen an wie für große Laufhäuser . Gerade dort, wo sich zwei bis drei Frauen zusammentun, wo sie oft unter guten Arbeitsbedingungen arbeiten,
erschweren Sie die Existenz für diese Prostituierten . Aus
meiner Sicht macht das überhaupt keinen Sinn .
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Gesetz sollte
Menschen in der Prostitution in ihrer Selbstbestimmung
stärken . Wir Grüne fordern deutlich mehr Beratungsstellen . Wir fordern Unterstützung für die Prostituierten,
und zwar auf freiwilliger Basis . Runde Tische nach dem
Vorbild von NRW sind sinnvoll . Vor allem bringen sie
Erfahrungen und Kompetenzen von allen Beteiligten an
einem Tisch zusammen . Ich appelliere an Sie: Nutzen Sie
die Anhörung nächste Woche zum Gesetzentwurf . Nutzen Sie die Expertise, die vorhanden ist . Und: Bessern
Sie nach . Legen Sie einen Gesetzentwurf vor, der echte
Unterstützung und Schutz für Prostituierte beinhaltet .
Vielen Dank .
({8})
Die Kollegin Sylvia Pantel hat für die CDU/CSU-Fraktion das Wort .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Eine
junge Frau - ich nenne sie einmal Nadia - ist erst 19 Jahre alt und kommt aus einem kleinen Ort in Rumänien .
Vor einem Jahr kam sie ins Ruhrgebiet, um eine Stelle als
Kellnerin anzutreten . Schnell landete sie in einem Laufhaus . Sie wird von Haus zu Haus gereicht und weiß kaum
noch, in welcher Stadt sie gerade ist . Nadias ganze Sorge
ist, dass sie nicht genug Geld für ihre Familie zu Hause in
ihrem Dorf zusammenbekommt . Geschichten wie diese
habe ich viel zu oft gehört, seit ich Berichterstatterin für
die Themen „Prostitution“ und „Gewalt gegen Frauen“
bin .
Das 2002 von der rot-grünen Bundesregierung geschaffene Prostitutionsgesetz hat sein Ziel verfehlt; das
haben wir auch hier mehrfach gehört . Deutschland wird
heute das Bordell Europas genannt . Tausende Frauen
werden jeden Tag zu Opfern . Es wurde ein Markt ohne
klare Regeln geschaffen . Die Situation für die meisten
Prostituierten ist alles andere als wirklich selbst gewählt .
Diesen Zustand müssen und werden wir ändern .
Seit zwei Jahren haben wir innerhalb der Großen Koalition um die richtigen Wege gestritten . Das Prostitutionsgewerbe muss reguliert werden . Die Gegner klarer
Regeln, allen voran die Bordellbetreiber, haben immer
versucht, das Bild einer selbstbestimmten Studentin aufzuzeigen, die sich als Escortdame oder Edelprostituierte
etwas zu ihrem Studium hinzuverdient . Dieses Bild ist
für die Mehrheit der Prostituierten falsch .
Die überwältigende Mehrheit der Prostituierten in
Deutschland sind EU-Ausländerinnen, meist aus Südosteuropa . Sie arbeiten für einen Hungerlohn in schäbigen
Zimmern, in Wohnwagen und müssen auf der Straße anschaffen gehen . Diese Frauen sind meist nach Deutschland gekommen, weil man ihnen zum Beispiel einen Job
als Haushälterin, Kellnerin oder Model in Aussicht gestellt hat . Hier angekommen werden sie dann von vermeintlichen Liebhabern, den sogenannten Loverboys,
auf perfide Art und Weise an das Milieu herangeführt.
Danach bleiben viele bei der Prostitution, weil sie Geld
verdienen müssen und keinen Weg aus ihrer misslichen
Lage heraus kennen . Das alles ist keine Zwangsprostitution im Sinne des Strafrechts; aber es ist alles andere
als das Bild einer selbstbestimmten Frau, das wir sehen
sollen oder sehen wollen .
({0})
Wenn wir von Expertinnen und Experten oder Hilfsorganisationen das Gewerbe geschildert bekommen, sind
wir schnell in der Realität angekommen . Wir bekommen
eine andere Realität aufgezeigt, als Sie uns hier weismachen wollen . Auch eine Handvoll Edelbordelle mit vielleicht guten Arbeitsbedingungen kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Mehrheit der Prostituierten täglich
ausgebeutet und benutzt wird .
({1})
Beim Prostituiertenschutzgesetz ist der Name Programm . Wir schützen Prostituierte, indem wir einen
völlig enthemmten Markt regulieren . Gerade die Damen
und Herren der Opposition sind doch sonst immer dafür,
Märkte zu regulieren . Warum nicht hier?
({2})
Was sagen Sie denn zu Ausbeutung, Abhängigkeit von
Loverboys und einem Milieu, das Kriminalität im Bereich von Drogen und Waffen bis hin zum Menschenhandel befördert? Sollten wir hier nicht durchgreifen? Wir
sagen Ja . Wir müssen durchgreifen, um den Damen zu
helfen . Es besteht Handlungsbedarf .
Die Aufhebung der Sittenwidrigkeit der Prostitution
war ein Paradigmenwechsel; das ist klar . Ob man diesen Paradigmenwechsel nun gut findet oder nicht: Politik beginnt mit dem Betrachten der Wirklichkeit, und
das haben wir bei diesem Gesetz getan . Die Wirklichkeit
ist derzeit leider die, dass es juristisch einfacher ist, ein
Bordell zu betreiben als einen Kiosk an der Ecke oder die
von Frau Schwesig angesprochene Pommesbude .
Prostituierte genießen in den Bordellen heute kaum
Schutz . Die Bordellbetreiberlobby versucht, den Begriff
„Sexarbeit“ zu etablieren und damit so zu tun, als sei
eine Arbeit in der Prostitution gleich jeder anderen Arbeit . Prostitution ist aber keine Tätigkeit wie jede andere .
Der direkte Körpereinsatz und das Milieu weisen viele
Gefahren auf .
Das Prostituiertenschutzgesetz setzt in zwei wesentlichen Bereichen an .
Prostituierte müssen in Zukunft, wie jeder andere arbeitende Mensch auch, angemeldet sein . Dazu gehört,
dass sie nicht nur Tätigkeitsort und Identität angeben,
sondern auch eine regelmäßige Gesundheitsberatung
nachweisen müssen . In diesen Beratungsgesprächen
werden die Prostituierten über die Möglichkeiten der
gesundheitlichen Versorgung sowie über Wege aus dem
Milieu informiert . Woher sollten sie es denn wissen? Sie
kennen unsere gesetzlichen Rahmenbedingungen und
die Arbeitsbedingungen in Deutschland nicht . Außerdem
können sie sich einer Fachberaterin anvertrauen, ohne
dass ihr Zuhälter dabei sein darf, um auf sie aufzupassen . Prostituierte müssen jährlich ein solches Gespräch
nachweisen, unter 21-Jährige sogar alle sechs Monate .
So schaffen wir ein wirkliches Beratungsnetz .
Der zweite Schwerpunkt ist die Lizensierung von
Bordellen . Betreiber von Prostitutionsstätten und deren
ausführende Organe dürfen nicht einschlägig vorbestraft
sein . Die Prostitutionsstätten müssen baulichen Standards entsprechen . Der Bordellbetreiber hat umfangreiche Sorgfaltspflichten gegenüber seinen Angestellten
und den freischaffenden Prostituierten zu erfüllen und
muss den Arbeitsschutz beachten - und dies erstmalig .
Aus den Reihen einiger Bundesländer kam schon der
Einwand, wegen unseres Gesetzes müssten sich mehr
Polizisten um das Rotlichtmilieu kümmern . Ich kann nur
sagen: Das hoffe ich; es wird höchste Zeit .
({3})
Wir alle hier im Saal wissen, dass der Zustand derzeit
unerträglich ist und großer Handlungsbedarf besteht .
Wir beschließen nun ein gutes Gesetz . Daher können wir
auch von den Ländern erwarten, dass die notwenige Zahl
an Polizisten zur Durchsetzung des Gesetzes und damit
zur Kriminalitätsbekämpfung bereitgestellt wird .
Stellen Sie sich vor, wir würden Sicherheitsvorschriften bei der Lebensmittelproduktion oder im Straßenverkehr nicht mehr anwenden, weil wir nicht genug kontrollieren können . Stellen Sie sich vor, wir würden den
Arbeitsschutz außer Kraft setzen, weil Länder und Kommunen lautstark jammern, ihnen wäre der Aufwand zu
groß . Zu Recht würde ein Aufschrei durchs Land gehen .
Es ist besonders bitter, dass ich gerade in meinem Heimatbundesland NRW nicht davon ausgehen kann, dass
das Innenministerium die Zahl der Polizisten so erhöht,
wie es sein müsste .
({4})
NRW setzt lieber auf einen Blitzmarathon, anstatt die
Kriminalität zu bekämpfen . Im vergangenen Frühjahr
war ich zu einem Termin in der Landespolizeischule . Die
Polizisten dort erzählten mir, wie schwierig die Situation für sie wäre . Sie sollen nicht mehr in gewisse Ecken
schauen, weil für die sich daraus ergebenden Ermittlungen das Personal fehle . Es ist ja nett, wenn man an runden Tischen darüber redet, aber man braucht klare Regeln und auch Polizisten, die hinschauen .
({5})
- Das ist die Aussage der Polizisten .
Kollegin Pantel .
Wenn es unser aller Ziel ist, die von Ausbeutung und
Gewalterfahrung betroffenen Frauen zu schützen, dann
erwarte ich von den Ländern, dass sie nicht wegschauen,
sondern handeln . Ich erwarte, dass die Bundesländer mit
uns an einem Strang ziehen und das Gesetz vollumfänglich unterstützen .
Herzlichen Dank .
({0})
Der Kollege Sönke Rix hat für die SPD-Fraktion das
Wort .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Stellen Sie sich vor, Sie sind auf einer Veranstaltung eine Familienfeier, ein größeres Fest, wie auch immer und lernen eine Frau kennen . Im Laufe des Gesprächs
stellt sich heraus, dass sie als Prostituierte arbeitet . Machen wir uns nichts vor, dass das für uns alle irgendwie
eine sehr merkwürdige Situation wäre . Stellen Sie sich
weiterhin vor, Sie sind auf einer Familienfeier und eine
Frau erklärt, dass sie als Krankenschwester arbeitet . Kein
Mensch würde dann schlucken und sagen: Oh, was ist
das denn? - Aber bei dem anderen Beruf würden wir es
machen .
Warum sage ich das? Weil es in diesem Bereich - unabhängig davon, ob Frauen, die der Prostitution nachgehen, dies selbstbestimmt oder aus Nöten und Zwängen
heraus tun - immer eine Stigmatisierung gibt . Das trifft
auch für die Frauen zu, bei denen wir sagen: Das ist doch
eine ganz selbstbewusste, toughe Frau; das ist doch gar
nicht schlimm . - Wir, die wir uns jetzt zwei Jahre lang
intensiv mit diesem Thema beschäftigt haben, würden
wahrscheinlich sogar erst recht sagen: Alles nicht so
wild . - Aber es ist und bleibt eine Stigmatisierung .
Die Situation ist immer noch so - auch am Internationalen Hurentag muss man darauf aufmerksam machen -,
dass wir dieses Thema - Frau Reimann hat es vorhin gesagt - ein Stück weit verlogen, verdeckt und mit schrägen moralischen Vorstellungen angehen . Das macht die
ganze Debatte um diesen Bereich ja auch so schwierig .
Wenn wir wirklich darüber diskutieren würden, wie wir
den Menschenhandel bekämpfen können, dann würden
wir nicht nur über Prostituierte reden; denn der Menschenhandel betrifft nicht nur den Bereich der Prostitution, in dem die Situation zugegebenermaßen sehr gravierend ist . Auch Menschen in anderen Bereichen werden
ausgebeutet und müssen beispielsweise auf Baustellen,
im Reinigungsgewerbe und wo auch immer arbeiten .
Menschenhandel und Ausbeutung betreffen also nicht
nur den Bereich der Prostitution, auch wenn die Situation
in diesem Bereich am gravierendsten und schlimmsten
ist, sondern Menschenhandel umfasst noch mehr .
Genau aus diesem Grund haben wir die beiden Bereiche getrennt . Wir haben gesagt: Das eine ist die Regulierung der Prostitution und der Schutz von Prostituierten insgesamt, und das andere ist die Bekämpfung des
Menschenhandels . Das sollten wir in dieser Debatte unterscheiden; den zweiten Teil dieses Komplexes beraten
wir getrennt, gleich im Anschluss an diese Debatte . Das
wollte ich vorweg einmal sagen .
Nachdem wir zwei Jahre verhandelt haben, kann ich
feststellen, dass wir in dieser Koalition von sehr unterschiedlichen Seiten gekommen sind . Es ist mitnichten so,
dass das rot-grüne Prostitutionsgesetz dazu beigetragen
hat, dass wir angeblich der Puff Europas sind .
({0})
- Frau Kollegin, die massive Ausbeutung von Arbeitskräften findet auch in anderen Bereichen statt. Das habe
ich Ihnen gerade gesagt . Damit hat das Prostitutionsgesetz nichts zu tun; es hat etwas mit anderen internationalen Rahmenbedingungen zu tun . Das muss man an dieser
Stelle einmal unterstreichen .
({1})
Wir haben zwei Jahre lang intensiv verhandelt, wobei
wir aus sehr unterschiedlichen Richtungen gekommen
sind . Natürlich haben auch unterschiedliche Wertevorstellungen eine Rolle gespielt . Ich weiß, dass auch innerhalb der Fraktionen und der Parteien die Wertevorstellungen auseinandergehen . Es ist ja nicht so, dass
nur in einer Fraktion gesagt wird, dass man Prostitution
verbieten muss, und in einer anderen Fraktion niemand
das sagt . Die Wertevorstellung, dass man Prostitution am
besten verbieten müsste, gibt es - wie ich es zumindest
den Äußerungen der Kolleginnen und Kollegen entnehme, mit denen ich gesprochen habe - in allen Fraktionen . Aber wir dürfen nicht zulassen, dass wir im Zusammenhang mit der Regulierung von Prostitution aufgrund
der Tatsache, dass wir uns unter Druck gesetzt fühlen,
Schaufenstergeschichten machen . Deshalb ist es gut und
richtig, dass wir sinnlose Sachen wie die Einführung der
Altersgrenze von 21 abgewendet haben; sie hätte dazu
geführt, dass die Frauen unter 21 Jahren in die Illegalität
gegangen wären . Bei der Einführung dieser Altersgrenze
haben wir nicht mitgemacht .
({2})
Ein weiterer Punkt ist, dass wir den sogenannten
Bockschein nicht wieder eingeführt haben . Denn sämtliche Untersuchungen und Aussagen aus der Fachwelt
haben gezeigt, dass er nichts gebracht hat . Auch wenn
der Bockschein in dieser Debatte gefordert wurde - bei
sinnlosen Schaufenstergeschichten macht die SPD-Fraktion nicht mit .
({3})
Ich möchte den zweiten großen Bestandteil dieses
Gesetzes erwähnen . Wir haben eine große Einigkeit darüber - das haben auch die Kolleginnen der Grünen gesagt -, dass der größte Bestandteil dieses Gesetzes gar
nicht das Anmeldewesen für die Prostituierten ist . Wir
müssen das Anmeldewesen so ausgestalten, dass es ein
Andockpunkt für Hilfe und Beratung ist und nicht zur
Stigmatisierung beiträgt . Wir müssen also sagen: Das ist
der Punkt, an dem ihr euch in der Behörde anmeldet, und
wir zeigen euch Wege zur Hilfe, Beratung und Unterstützung auf . - Das ist der Sinn der Anmeldung; es geht nicht
um eine Registrierung zum Zwecke der Demütigung und
Stigmatisierung .
({4})
Der viel größere Teil dieses Gesetzes - über 70 Prozent - befasst sich mit der Regulierung der Bordelle und
der Prostitutionsstätten . Wir legen endlich einmal fest,
dass nicht jeder - auf gut Deutsch - einen Puff aufmachen kann, sondern dass er vorstrafenfrei sein muss, also
keine relevanten Strafen begangen haben darf . Wir setzen
fest, dass das Bordell entsprechende Standards vorweisen muss und dass auch die freiberuflich Beschäftigten
gewisse Regeln einzuhalten haben . Sie müssen allerdings
auch entsprechend geschützt werden .
Herr Kollege Rix, ich bitte Sie, zum Schluss zu kommen .
Deswegen verdient das Gesetz auch den Namen, den
es bekommt .
Schönen Dank .
({0})
Der Kollege Paul Lehrieder hat für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich
weiß nicht, was es zu bedeuten hat, dass sich die Medienwand rechts, auf der die Redner angezeigt werden, gerade während dieser Debatte mit einem roten Aufflackern,
mit einem Rotlicht, verabschiedet hat .
({0})
Laut Schätzungen der EU-Kommission arbeiten in
Europa circa 200 000 Zwangsprostituierte . Die OSZE
spricht von jährlich 120 000 bis 500 000 Frauen, die als
Prostituierte aus Mittel- und Osteuropa in westeuropäische Länder kommen, ungefähr 27 Prozent davon sind
Kinder und Jugendliche . Menschenhändler verdienen
pro Jahr circa 150 Milliarden Dollar, so die Internationale Arbeitsorganisation, ILO . Daher liegt es in der Verantwortung der Politik, den in der Prostitution tätigen
Menschen einen besseren Schutz zu gewähren, deren
Selbstbestimmungsrecht zu stärken und dieses Gewerbe
stärker zu kontrollieren .
Das derzeit noch geltende Prostitutionsgesetz, das
die damalige rot-grüne Regierung 2002 auf den Weg
gebracht hat, konnte die Erwartungen nicht erfüllen .
Frau Dörner, Sie haben völlig zu Recht darauf hingewiesen: Gut gemeint bedeutet nicht immer automatisch gut
gemacht . Deshalb hätte ich es begrüßt, wenn die Grünen - Sie haben eine gewisse Verantwortung vor dem
Hintergrund dessen, was Sie vor 14 Jahren auf den Weg
gebracht haben - konstruktiv an der Verbesserung des
vorliegenden Gesetzentwurfs mitarbeiten würden .
({1})
- Frau Pau, Frau Dörner hätte eine Zwischenfrage . - Frau
Pau? Frau Dörner möchte mich etwas fragen .
({2})
Ich lasse die Frage zu .
Gut, dann lassen Sie also eine Frage oder Bemerkung
zu . Wir waren gerade mit der Lösung technischer Probleme beschäftigt . Entschuldigung . - Bitte, Frau Dörner .
Vielen Dank, dass Sie so überschwänglich meine Frage zugelassen haben .
Ich habe darauf gewartet . - Halt! Meine Zeit läuft
noch .
({0})
Kollege Lehrieder, Sie kennen sich aus, aber die Zeit
ist längst angehalten .
Die Antwortzeit wurde offenbar schon in Ihre Redezeit einkalkuliert .
Ich möchte Sie fragen, ob Sie zur Kenntnis genommen
haben, dass wir uns schon vor einem halben Jahr sehr
konstruktiv in diese Debatte eingebracht haben, indem
wir einen eigenen Vorschlag zu einem Gesetz zur Regulierung von Prostitutionsstätten vorgelegt haben . Ich
habe in meinem Beitrag deutlich gemacht, dass wir über
Regulierungsmöglichkeiten für das Gewerbe sehr wohl
auch eigene Vorstellungen haben, die sich in Teilen mit
dem decken, was im vorliegenden Gesetzentwurf enthalten ist, auch wenn wir in Bezug auf einige Details Kritik
üben .
Meine Frage lautet: Nehmen Sie zur Kenntnis, dass
wir uns, gerade was die Regulierung von Betriebsstätten angeht, sehr konstruktiv eingebracht haben, dass sich
unsere Kritik darauf bezieht, dass Sie in der Prostitution
Tätige mit zusätzlichen Pflichten belegen wollen? Das ist
der Punkt, an dem wir Kritik üben, die übrigens, wenn
man die Stellungnahmen, die für die Anhörung am kommenden Montag eingegangen sind, liest, von der Breite
der Expertinnen und Experten aus unterschiedlichsten
Bereichen geteilt wird .
Frau Kollegin Dörner, Sie dürfen versichert sein, dass
ich als Ausschussvorsitzender Ihre Anträge und Vorlagen
sehr wohl kenne und zur Kenntnis nehme . Ich begrüße
ausdrücklich, dass Sie schon zu diesem frühen Zeitpunkt
mitgewirkt haben . Umso mehr hat es mich enttäuscht,
dass Sie vorhin in Ihrer Rede ausdrücklich gesagt haben - dabei ist die Anhörung erst am Montag -: Wir lehnen diesen Gesetzentwurf ab .
({0})
Hören wir uns doch erst einmal an, was die Sachverständigen am Montag sagen . Sie lehnen das Gesetz bereits
jetzt ab; das können wir im Protokoll nachlesen . - Bleiben Sie stehen, ich bin noch nicht fertig .
Wir werden am Montag in der Anhörung über die
Stellungnahmen der Sachverständigen diskutieren . Daraus können wir dann Konsequenzen ziehen, Frau Dörner .
Es kann doch nicht darum gehen, reflexartig abzulehnen,
was die Große Koalition sinnvollerweise auf den Weg
bringt . Arbeiten Sie konstruktiv mit . Ich hoffe, dass Ihnen der Schutz gerade der jungen Frauen in diesem Gewerbe genauso am Herzen liegt wie uns von der SPD und
von der CDU/CSU .
({1})
- Ich muss Ihnen das unterstellen .
Das 2002 verabschiedete Gesetz und die damit verbundene Liberalisierung des Prostitutionsgewerbes hat
nicht nur zu einer massiven Ausweitung der Prostitution, sondern auch zu einer zunehmenden Ausbeutung der
in der Prostitution Beschäftigten und zu einer massiven
Verschlechterung ihrer sozialen Lage geführt . Menschenunwürdige und ausbeuterische Geschäftsmodelle
sind entstanden, und Zwangsprostitution, Menschenhandel sowie die damit verbundene Begleitkriminalität haben massiv zugenommen und stellen mittlerweile einen
Kriminalitätsschwerpunkt in unserem Land dar .
Deutschland wurde zeitweise sogar als Bordell Europas bezeichnet; darauf wurde bereits hingewiesen . Die
derzeit noch geltenden Regelungen schützen schon seit
geraumer Zeit nicht mehr die in der Prostitution Tätigen . Kriminelle und zahlreiche Bordellbetreiber haben
die geltende Rechtslage ausgenutzt und hieraus Profit
geschlagen . Durch die fehlenden Kontrollmöglichkeiten
ist der Raum für Missbrauch und Ausbeutung geöffnet
worden .
Frau Dörner, genau deshalb müssen wir die Bordelle
überprüfen bzw . die Möglichkeit haben, dass die Polizei
in den Bordellen nach dem Rechten schauen kann . Nicht
mehr und nicht weniger wollen wir tun, und das völlig zu
Recht . Frau Ministerin Schwesig hat auf die Pommesbude hingewiesen . Jedes andere Gewerbe in Deutschland
ist mehr Regulierungen unterworfen als der Betrieb eines
Bordells, und das kann es nicht sein .
({2})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, der CDU/
CSU-Fraktion ist es ein wichtiges Anliegen, ein Prostituiertenschutzgesetz auf den Weg zu bringen . Ich muss
ganz bewusst auf den Namen eingehen . Es heißt nicht
Prostitutionsschutzgesetz, sondern es ist ein Prostituiertenschutzgesetz, weil die Prostitution keines Schutzes
bedarf . Sie wird nicht zu Unrecht oft als ältestes Gewerbe der Welt bezeichnet . Wir müssen die Frauen und auch
die Männer, die in der Prostitution tätig sind, schützen
vor ausbeuterischen Geschäftsmodellen, vor einer Ausnutzung ihrer persönlichen Lage . Genau dies bringt dieser Gesetzentwurf erstmalig richtig auf den Weg, meine
Damen und Herren .
({3})
Ich denke, dies ist uns mit dem jetzt vorliegenden Gesetzentwurf, den wir von Juli 2017 an sukzessive umsetzen werden, gelungen .
Es wurde von meinen Vorrednerinnen und Vorrednern
bereits darauf hingewiesen: Wir haben uns die Beratungen nicht leicht gemacht . Wir sind von unterschiedlichen
Ausgangspunkten aus an dieses Gesetz herangegangen .
Es gibt in der Prostitution nicht die Prostituierte, es gibt
vielmehr ganz unterschiedliche Beweggründe, warum
Menschen der Prostitution nachgehen . Es gibt die selbstbewusste 22- bis 24-jährige Studentin, die sich etwas hinzuverdienen will, die mit diesem Gesetz sehr wohl wird
leben können . Es gibt aber auch sehr viele - man schätzt
75 bis 80 Prozent - junge, heranwachsende Mädchen,
die zum Teil der deutschen Sprache nicht mächtig sind
und aus dem osteuropäischen Ausland kommen . Dies
sind vulnerable Heranwachsende, die mit Loverboy-Methoden nach Deutschland gelockt wurden . Sie wurden
zunächst für Putzjobs angeheuert und dann tatsächlich
in die Prostitution geschickt . Auch diese müssen wir im
Fokus haben, auch die müssen wir schützen .
Auch hier ist es natürlich wichtig, zu sagen: Ja, du
bekommst ein Beratungsangebot außerhalb des Milieus .
Deshalb die Gesundheitsberatung . Wir haben über den
Begriff „Gesundheitsuntersuchung“ diskutiert, aber wir
haben gesagt: Nein, wir machen eine Gesundheitsberatung . Die Betroffenen müssen die Möglichkeit haben,
jedes halbe Jahr einen Kontakt außerhalb des Milieus
zu haben, um im Falle eines Übergriffs oder einer Verletzung ihrer eigenen Rechte tatsächlich jemanden zu
haben, an den sie sich vertrauensvoll wenden können .
Deshalb erfolgt die Gesundheitsberatung natürlich ohne
den Zuhälter; denn es macht keinen Sinn, wenn die Betroffenen mit ihrer Begleitperson erscheinen, die entsprechend Druck ausübt . Sie wären dann nicht in der Lage,
ehrlich und offen zu sagen, was sie bedrückt bzw . wo die
Probleme liegen .
({4})
Wir hätten uns auch vorstellen können, das Mindestalter für die Prostitution auf 21 Jahre heraufzusetzen, aber
das war hier im Gesetzgebungsverfahren nicht durchsetzbar . Deshalb gibt es zumindest die Verdoppelung der
Anzahl der medizinischen Beratung; denn in vielen Bereichen unseres Rechtssystems sind die Heranwachsenden, die 18- bis 21-Jährigen, besonders geschützt, zum
Beispiel beim Betreten einer Spielhalle oder im strafrechtlichen Bereich . Es gilt, besonders diese Heranwachsenden davor zu schützen, einen Fehler zu machen .
Es gibt eine Schweizer Expertise, die besagt: 97 bis
98 Prozent der in der Prostitution Tätigen leiden auch
nach Beendigung dieser Tätigkeit . Diese Tätigkeit zieht
man nicht mit der Kleidung aus . Man verletzt sich selbst:
psychisch und ein Stück weit auch physisch . Deshalb
müssen wir aufpassen, dass wir gerade die vulnerablen,
die verletzlichen jungen Frauen, aber auch die Männer
in dem Alter von 18 bis 21 Jahren besonders schützen .
Hoffentlich gelingt dies mit diesem Gesetz . Wir werden
darüber diskutieren . Wir hätten hier noch etwas weitergehen wollen, das war aber nicht machbar .
Meine Damen und Herren, die umfassende Veränderung der Regulierung der Prostitution und der Prostitutionsstätten in unserem Land durch ein neues Gesetz ist
längst überfällig . Durch ein neues Prostituiertenschutzgesetz wollen wir - in Abstimmung mit den strafrechtlichen Erfordernissen bei der Verfolgung von Zwangsprostitution und Menschenhandel - die Fremdbestimmung
in der Prostitution wirksam bekämpfen . Bereits im gemeinsamen Koalitionsvertrag hatten wir vereinbart,
Frauen besser vor Menschenhandel und Zwangsprostitution zu schützen, Täter konsequenter zu bestrafen und
das Prostitutionsgesetz im Hinblick auf die Regulierung
der Prostitution sowie die gesetzliche Verbesserung der
ordnungsbehördlichen Kontrollmöglichkeiten umfassend zu überarbeiten .
Weil vorhin darauf hingewiesen wurde, möchte ich
noch zwei Sätze zur Anmeldung sagen . Die Anmeldung
ist erforderlich, weil uns die Kriminalpolizei sagt: Wir
können nur die schützen, die wir kennen . Die Person kann
auch mit einem Alibinamen registriert sein . Im Ausweis
kann auch „Domina 2000“ stehen, um die Identität dieser
Person auf der Straße zu verschleiern; aber sie muss bei
der Meldebehörde registriert sein, damit man weiß, wie
viele Prostituierte in welchem Alter wo tätig sind . Nur
dann kann man als Polizei nach dem Rechten schauen .
Dies wollen wir, wie schon gesagt, erstmalig ermöglichen . Es geht nicht um Gängelung, es geht nicht um Stigmatisierung, es geht nicht um Bevormundung, sondern
es geht um den Schutz der Frauen . Allen Fraktionen in
diesem Hohen Haus würde es gut anstehen, konstruktiv
daran mitzuarbeiten .
Herzlichen Dank .
({5})
Das Wort hat die Kollegin Karin Maag für die CDU/
CSU-Fraktion .
({0})
Vielen Dank . - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Wir haben es gehört: Das Prostitutionsgesetz von 2002 war gut gemeint - das gestehe ich zu -;
im Zuge der Osterweiterung der Europäischen Union hat
sich aber so viel verändert, da sind so viele Themen neu
hinzugekommen, dass es längst überfällig ist, ein neues
Prostitutionsschutzgesetz auf den Weg zu bringen .
({0})
Viel Zeit wurde vertan, in der nur darüber diskutiert
wurde, wer vermeintlich schutzbedürftig ist und wer tatsächlich schutzbedürftig ist . Liebe SPD, ja, es gibt sie,
die freien Sexarbeiterinnen, die zufriedenen, die sich in
Verbänden - zum Teil auch sehr kleinen Verbänden mit
nur etwa 34 Mitgliedern - organisieren . Man sieht sie im
Fernsehen in den Talkrunden . Sie waren auch in der Anhörung vertreten .
({1})
Es gibt die selbstständigen Sexarbeiterinnen - auch ich
habe mit einer gesprochen -, die in Voll- oder Teilzeit
arbeiten . Das sind unter anderem Studentinnen, die sich
durch den Escortservice etwas hinzuverdienen wollen .
Das ist aber nicht das Berufsleitbild, wie man uns weismachen will .
({2})
Wir in der Union haben auch die vielen Zwangsprostituierten bei ihrer täglichen Arbeit im Blick .
Die Würde des Menschen ist unantastbar .
So steht es im Grundgesetz . Das umfasst auch und vor allem das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung . Trotzdem
wird in Deutschland jeden Tag diese Würde, insbesondere die von Frauen, mit Füßen getreten .
({3})
Realität ist doch: Prostitution in Deutschland ist im Wesentlichen Armutsprostitution . Wir reden von Frauen und
Mädchen in totaler Abhängigkeit .
({4})
Der Anteil der ausländischen Frauen steigt zum Beispiel
in Stuttgart seit Jahren kontinuierlich an . Er liegt derzeit
bei 90 Prozent . Diese Frauen kommen aus Osteuropa,
aus Rumänien, aus Bulgarien, aus Ungarn . Der größte
Teil entstammt der Volksgruppe der Roma und den türkischen Minderheiten in Bulgarien und Rumänien . Ein Teil
kommt aus Afrika . Die Frauen sprechen kaum Deutsch,
können weder lesen noch schreiben . Viele sind sogar gar
nicht alleine hier . Sie bringen ihre Brüder, Ehemänner
und Väter mit . Es ist fürchterlich, aber manchmal sind
es auch die Mütter, die ihre Töchter zur Prostitution
nach Deutschland bringen . Die Prostituierte erwirtschaftet dann nicht nur das Geld für die Familie zu Hause,
sondern auch den Unterhalt für die sie begleitenden Personen . Fürchterlich ist: Je besser diese Frauen „funktionieren“, so will ich es bezeichnen, je versorgter die Familien zu Hause sind, umso größer ist der Anreiz für alle
anderen, ebenfalls ihre Töchter, Schwestern, Frauen zur
Prostitution nach Deutschland zu schicken .
Meine Damen und Herren, Realität sind auch sogenannte Gang-Bang-Partys, der Flatratesex: Prostituierte,
die morgens um 2 Uhr für 8 Euro Geschlechtsverkehr
anbieten müssen, der sie schmerzt, weil sie noch nicht
genügend verdient haben, um die 130 Euro pro Nacht für
ihr Zimmer zahlen zu können .
Realität sind die Großbordelle . 2012 wurde in der
Region Stuttgart, aus der ich komme, Flatratesex für
100 Euro angeboten . Dafür durfte man eine Frau beliebig oft in Anspruch nehmen . Die Prostituierte erhielt pro
Kundenkontakt 5 Euro . Arbeitszeit: 14 Stunden täglich
an sechs Tagen in der Woche .
Um diese sich unfreiwillig prostituierenden Frauen
geht es uns in der Union . Die wollen wir schützen .
({5})
Wenn Deutschland als Bordell Europas bezeichnet wird dieser Begriff ist heute mehrfach gefallen -,
({6})
dann ist das ein erbärmliches Etikett . Das werden wir mit
diesem Gesetz beenden .
Frau Möhring, Sie haben vorhin den Internationalen
Hurentag erwähnt . Er erinnert an die Diskriminierung
von Prostituierten und deren oftmals ausbeuterische Arbeitsbedingungen .
({7})
Ich glaube, wir sind auf gutem Wege, diese ausbeuterischen Arbeitsbedingungen und diese Diskriminierung zu
beenden .
({8})
Die Maßnahmen dazu wurden dargestellt . Richtig ist:
Freiwillige Ausübung der Prostitution in Deutschland
durch Erwachsene und die entsprechende Nachfrage
bleiben in Deutschland zulässig, auch wenn ich persönlich sehr viel Verständnis für das schwedische Modell
habe, je länger ich mich mit Prostitution beschäftige .
Aber es wird künftig wenigstens eine persönliche Anmeldepflicht geben, die die bisher weitgehend unsichtbaren Frauen aus Osteuropa, die sogenannten importierten
Frauen, überhaupt erst sichtbar macht . Uns geht es vor
allem um die Gelegenheit zur persönlichen Kontaktaufnahme, um die Gelegenheit zur Beratung . Mit dieser persönlichen Anmeldepflicht können die Frauen zum ersten
Mal über elementare Rechte in Deutschland aufgeklärt
und informiert werden .
Liebe Frau Schauws, ohne diese Anmeldung dürfen
die Frauen zum Beispiel im Bordell gar nicht arbeiten .
Das heißt, der Zuhälter hat sogar ein großes Interesse daran, dass sie sich anmelden . Ich glaube nicht, dass sie
dadurch in irgendeiner Form in der Illegalität verschwinden .
Nächstes Thema . Prostituierte sind oft sehr junge
Menschen, die zwar auf dem Papier volljährig sind, aber
mit 18 bis 21 Jahren - ich will es einmal vorsichtig ausdrücken - noch sehr beeinflussbar sind und vielleicht sogar - das sage ich in Anführungszeichen - formbar im
Sinne ihrer Zuhälter und der sogenannten Loverboys . Die
Polizei berichtet, dass diese Gruppe sehr junger Frauen
seit der EU-Osterweiterung deutlich zugenommen hat .
Sie brauchen unseren Schutz am allermeisten . Deswegen
ist es gut, dass wir für die unter 21-Jährigen mit der jährlichen Anmeldung und einer Gesundheitsberatung alle
sechs Monate ein erhöhtes Schutzniveau eingeführt haben . Ich persönlich ärgere mich, dass wir das Verbot der
Prostitution mit Ihnen nicht erreichen konnten . Vielleicht
schaffen wir es noch in der Anhörung .
({9})
Prostitution ist kein Beruf wie jeder andere . Die
Frauen und Männer sind erheblichen psychischen und
physischen Gefahren ausgesetzt . Lebensumstände und
Gesundheitsrisiken können sich schnell verändern . Ich
nenne den Suchtmittelmissbrauch . Ich nenne das Schutzverhalten bei sexuell übertragbaren Krankheiten . Durch
den wiederholten Kontakt mit der Anmeldebehörde, mit
der Beratungsstelle kann sich durchaus eine Vertrauensbeziehung entwickeln .
({10})
Sie ist Voraussetzung dafür, dass Gewalt, Drogenkonsum
und Zwang überhaupt angesprochen werden können .
Kollegin Maag, die anderen Punkte müssen Sie bitte
in die Anhörung verschieben; denn Sie müssen jetzt zum
Schluss kommen .
Ich komme zum Schluss . - Ich bin der Überzeugung,
dass wir mit dem Prostituiertenschutzgesetz, mit der Umsetzung der Richtlinie zur Verhütung und Bekämpfung
des Menschenhandels, über die wir im Anschluss diskutieren, und mit den geplanten Änderungen im Strafrecht
zum Schutz des Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung
nochmals sehr viel für die Frauen in Deutschland erreichen . Darauf bin ich als Unionsmitglied stolz . Wir bleiben dran .
Danke schön .
({0})
Ich schließe die Aussprache .
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/8556 und 16/4146 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen .
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall . Dann
sind die Überweisungen so beschlossen .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2011/36/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April
2011 zur Verhütung und Bekämpfung des
Menschenhandels und zum Schutz seiner Opfer sowie zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2002/629/JI des Rates
Drucksache 18/4613
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen . - Ich höre keinen Widerspruch . Dann ist so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache . Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Christian Lange .
({1})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die erste Lesung des Gesetzentwurfes der Bundesregierung hat sich geraume Zeit verzögert . Sowohl
der Regierung als auch den Koalitionsfraktionen war es
nämlich ein Anliegen, im Rahmen dieses Gesetzgebungsverfahrens dem gesetzgeberischen Handlungsbedarf zur
Bekämpfung des Menschenhandels besser Rechnung zu
tragen . Denn schon der Koalitionsvertrag enthält Vorgaben für eine umfassende Neuregelung der Strafvorschriften zum Menschenhandel . Insbesondere soll die überragende Bedeutung der Opferaussage darüber, ob es zur
Ausbeutung gebracht worden ist, abgemildert werden,
und die Ausbeutung der Arbeitskraft soll stärker in den
Mittelpunkt gerückt werden .
({0})
Es liegt nunmehr ein Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen vor, mit dem diesem weiter gehenden gesetzgeberischen Handlungsbedarf entsprochen werden soll .
Ich möchte mich bei den Koalitionsfraktionen für die
intensiven Fachgespräche ausdrücklich bedanken . Ich
habe es mittlerweile aufgegeben, zu zählen, wie viele es
waren; aber, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wir
haben es geschafft . Das ist die gute Botschaft des heutigen Tages .
({1})
Dieser Änderungsantrag enthält einen Vorschlag zur
Neufassung der strafrechtlichen Vorschriften zum Menschenhandel . Ergänzend schlägt er neue Straftatbestände der Ausbeutung der Arbeitskraft und der Ausbeutung
unter Ausnutzung einer Freiheitsberaubung sowie eine
Regelung zur Strafbarkeit von Kunden sexueller Dienstleistungen von Menschenhandelsopfern oder Zwangsprostituierten vor . Die bisherigen Vorschriften der §§ 232
und 233 Strafgesetzbuch bleiben als Zwangsprostitution
und Zwangsarbeit zur Vermeidung von Strafbarkeitslücken im Wesentlichen unverändert . Diese Vorschläge
entsprechen auch einer Formulierungshilfe unseres Hauses, die das Kabinett im April dieses Jahres beschlossen
hat .
Der Aufbau der neu gefassten §§ 232 ff . Strafgesetzbuch folgt der zeitlichen Reihenfolge strafbarer Handlungen in diesem Deliktsbereich, nämlich: Menschenhandel
als der Prozess von der Anwerbung des Opfers bis zu
dessen Ankunft am Bestimmungsort der Ausbeutung, das
Veranlassen des Opfers zur Aufnahme ausbeuterischer
Tätigkeiten - seien es Prostitution, Arbeitsausbeutung
oder sonstige Formen der Ausbeutung - und schließlich
die Ausbeutung des Opfers selbst .
Meine Damen und Herren, wie sehen nun die praktischen Folgen dieser neuen Tatbestände aus? Stellen wir
uns einen Menschen vor, der aus dem Ausland gekommen ist, nur unzureichende Sprachkenntnisse und nur
vage Kenntnisse der hiesigen Lebens- und Arbeitsbedingungen hat, wegen fehlender Aufenthaltspapiere aber
Angst hat - Angst vor der Polizei und Angst vor Behörden - und nun auf einen Landsmann trifft . Dieser betreibt
eine Gaststätte, und er bittet ihn, ihn bei sich arbeiten zu
lassen . Dieser lässt ihn in der Küche unentgeltlich an
sieben Tagen in der Woche je zwölf Stunden arbeiten .
Veranlasst, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat er diesen
Entschluss nicht . Ausgebeutet hat er das Opfer aber sehr
wohl und dabei dessen Zwangslage und Hilflosigkeit in
einem ihm fremden Land ausgenutzt . In Zukunft wird
dies nach dem neuen § 233 Strafgesetzbuch - Ausbeutung der Arbeitskraft - strafbar sein . Das ist überfällig .
({2})
Stellen wir uns weiter vor, das Opfer aus dem vorherigen Beispiel erkennt, dass ihm dieses Leben keine
Perspektive bietet, und er möchte in sein Heimatland zurückkehren . Sein Arbeitgeber möchte aber auf diese billige und auch praktische Arbeitskraft jetzt nicht mehr verzichten . Er sperrt sein Opfer deshalb ein und überwacht
es während der Arbeitszeit . Dann macht sich dieser nach
dem neuen § 233a Strafgesetzbuch der Ausbeutung unter
Ausnutzung einer Freiheitsberaubung strafbar . Auch das
ist überfällig .
Stellen wir uns schließlich ein entsprechendes Ausbeutungsverhältnis in der Prostitution vor, in dem eine
Prostituierte an sieben Tagen die Woche vom frühen
Abend bis in die späte Nacht in einem Bordell der Prostitution nachgehen und den überwiegenden Teil ihrer
Einkünfte abgeben muss . Damit sie sich dieser Situation
nicht entzieht, darf sie den täglichen Weg von der Unterkunft bis zum Bordell nur begleitet zurücklegen; in der
übrigen Zeit wird sie eingeschlossen . Wir haben uns in
unseren Gesprächen und Anhörungen viele solcher Fälle schildern lassen . Auch in diesen Fällen ist der neue
§ 233a Strafgesetzbuch anwendbar . Das ist gut und richtig so . Hier schließt sich der Kreis zum Prostituiertenschutzgesetz bzw . zu der Debatte von soeben über den
Gesetzentwurf von Bundesministerin Schwesig .
Es ist richtig, dass wir endlich der Zwangsprostitution
zu Leibe rücken . Das tun wir mit dieser neuen Regelung,
meine Damen und Herren .
({3})
Wir haben nämlich im Koalitionsvertrag vereinbart - ich
will das hier ausdrücklich noch einmal zitieren -:
Wir werden nicht nur gegen die Menschenhändler,
sondern auch gegen diejenigen, die wissentlich und
willentlich die Zwangslage der Opfer von Menschenhandel und Zwangsprostitution ausnutzen und
diese zu sexuellen Handlungen missbrauchen, vorgehen .
Dies haben wir nun umgesetzt . Das ist gut für den Kampf
gegen Menschenhandel und den Kampf gegen Zwangsprostitution .
({4})
Meine Damen und Herren, ich hoffe, dass wir dieses
Gesetzgebungsverfahren nunmehr zeitnah abschließen
können . Das sage ich nicht nur im Hinblick auf die Frist
zur Umsetzung der EU-Richtlinie und das Vertragsverletzungsverfahren der EU-Kommission . Ich meine, dass
wir eine umfassende, durchdachte Gesamtlösung für einen Regelungsbereich gefunden haben, den der Gesetzgeber - auch das gehört zur Wahrheit - in der Vergangenheit etwas vernachlässigt hat .
Deshalb bitte ich um konstruktive Beratungen und
schließlich um Ihre Zustimmung .
Herzlichen Dank .
({5})
Das Wort hat die Kollegin Ulla Jelpke für die Fraktion
Die Linke .
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Für die
Linke ist völlig klar: Menschenhandel ist ein schweres
Verbrechen . Er gehört bekämpft . Alle Maßnahmen, die
dazu führen, dass er bekämpft werden kann, wird die
Linke unterstützen .
({0})
Aber ich sage auch: Bedauerlicherweise geht der Gesetzentwurf bei weitem nicht weit genug; denn die Opfer
werden so gut wie gar nicht berücksichtigt . Uns ist mindestens genauso wichtig, dass in diesem Land die Opfer
geschützt werden .
({1})
Meine Damen und Herren, vor wenigen Tagen hat
eine australische Stiftung den sogenannten Sklaverei-Index veröffentlicht . Demzufolge gibt es in Deutschland
14 500 Menschen, die als Opfer von Menschenhandel in
sklavereiähnlichen Verhältnissen leben . Die Dunkelziffer
dürfte weit höher liegen .
Die meisten von ihnen sind in der Tat junge Frauen .
Ihnen werden Versprechungen gemacht . Sie werden hierhergelockt, indem sie glauben gemacht werden, dass sie
gutbezahlte Arbeit bekommen . Aber kaum sind sie hier,
nehmen ihre Peiniger ihnen ihre Pässe ab, damit sie sie
finanziell ausbeuten können. Das sind häufig Schleuser,
aber auch Zuhälter .
Tatorte können Großbordelle, aber auch Privathaushalte, Baustellen oder sonstige Betriebe sein . Menschen
werden regelrecht eingekauft und danach ausgebeutet,
etwa als Zwangsprostituierte, Haushaltshilfen, Pflegekräfte oder Handwerker .
Der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung hat vor Kurzem darauf hingewiesen, dass an der
deutsch-tschechischen Grenze Babys von Prostituierten
zum Zweck ihrer späteren sexuellen Ausbeutung verkauft werden . Rund 4 000 Euro ist ein Menschenleben
dort wert . Es ist doch ein unglaublicher Skandal, dass so
etwas mitten in Europa stattfinden kann.
({2})
Meine Damen und Herren, gegenwärtig besteht die
Gefahr, dass zunehmend Flüchtlinge in die Fänge von
Menschenhändlern geraten . Vor allem unbegleitete Kinder und Jugendliche laufen Gefahr, von Verbrechern zum
Drogenhandel oder zur Prostitution gezwungen zu werden .
Diese Menschen befinden sich in einer schier ausweglosen Lage, aus der sie sich oft alleine nicht befreien
können . Selbst wenn sie eine Fluchtmöglichkeit hätten,
müssten sie damit rechnen, dass ihre Familien zu Hause
bedroht werden . Sie können auch nicht einfach zur Polizei gehen, weil sie oftmals keinen Aufenthaltstitel haben
und fürchten müssen, selbst bestraft oder abgeschoben
zu werden .
Wir dürfen nicht hinnehmen, dass es so etwas wie
Sklaverei und Menschenhandel in unserem Land gibt .
Deshalb sind wir moralisch und politisch verpflichtet,
diesem Unrecht entgegenzutreten .
Die Bundesregierung zeigt dazu leider nur wenig
Bereitschaft . Die Europäische Union hat schon vor Jahren eine Richtlinie zur Bekämpfung des Menschenhandels erlassen . Die Frist zur Umsetzung ist bereits im
April 2013 abgelaufen .
Das, was die Regierung jetzt vorlegt, ist wirklich eine
peinliche Schmalspurlösung . Der Gesetzentwurf beschränkt sich auf strafrechtliche Aspekte und lässt den
Schutz von Opfern völlig außen vor . Menschenhändlern
werden darin höhere Strafen - zwischen sechs Monaten
und zehn Jahren - angedroht . Neue Straftatbestände wie
erzwungene Bettelei und die zwangsweise Organentnahme werden im Gesetzentwurf benannt . Außerdem soll
der Kreis von Zwangsprostituierten erweitert werden:
Minderjährige zwischen 14 und 18 Jahren sollen dazugehören . All diese Verschärfungen tragen wir mit, weil
es richtig ist, hier mit harten Strafen zu drohen . Der Gesetzentwurf greift aber zu kurz . Als Beispiel nenne ich
die Vorschläge des Koordinierungskreises gegen Menschenhandel . Danach sollen der Missbrauch von Macht
oder auch List und Täuschung in den Straftatbestand
aufgenommen werden. Nichts davon finden wir im Gesetzentwurf .
Meine Damen und Herren, überhaupt kein Verständnis haben wir dafür, dass der Gesetzentwurf den wichtigsten Punkt der EU-Richtlinie völlig ignoriert, nämlich
den Schutz und die Unterstützung der Opfer von Menschenhandel . Die meisten Betroffenen arbeiten weit über
zehn Stunden am Tag und verdienen dabei so gut wie gar
nichts . Sie arbeiten faktisch ohne Rechte . Sie haben keine Perspektive . Vor allen Dingen kommen sie aus diesem
Elend nicht heraus, weil sie ständig unter dem Druck
von irgendwelchen Zuhältern oder Schleusern stehen .
Deswegen verdienen sie unsere Solidarität, nicht nur mit
Worten, sondern vor allen Dingen auch mit Taten . Das
muss sich im Gesetzentwurf niederschlagen, meine Damen und Herren .
({3})
In der EU-Richtlinie wird eindeutig gefordert, den
Menschen, denen Gewalt angetan wird, die verschleppt,
ausgebeutet und ausgenutzt werden, weitreichende Unterstützung zukommen zu lassen . Es geht um den Aufbau
von Beratungsstrukturen, um kostenlose Rechtshilfe, um
Unterstützung bei medizinischer und psychologischer
Betreuung, bei der Unterbringung und bei der Sicherstellung ihres Lebensunterhalts . Insbesondere wird in
der Richtlinie der Schutz von Kindern gefordert, die dem
Menschenhandel unterworfen sind. Aber auch davon findet sich nichts in Ihrem Gesetzentwurf . Der Schutz der
Opfer wird von der Bundesregierung einfach hintangestellt und auf den Sankt-Nimmerleins-Tag mit der Begründung verschoben: Irgendwann werden wir dazu etwas machen . - Das ist wirklich nicht hinnehmbar, meine
Damen und Herren .
({4})
Für uns ist das ein ganz klares Versagen; hier werden
wir unserer politischen und humanitären Verantwortung
nicht gerecht .
Die Linke hat in den letzten Jahren in zahlreichen Anträgen und interfraktionellen Gesprächen immer wieder
eingebracht, dass zu den überfälligen Verbesserungen
beim Opferschutz die Gewährung eines Bleiberechts gehört, und zwar unabhängig von der Aussagebereitschaft
in einem Strafverfahren . Erst dann haben die betroffenen
Menschen überhaupt die Möglichkeit, sich aus der Abhängigkeit zu befreien und sich ihren Peinigern öffentlich und juristisch entgegenzustellen .
Bislang hängt das Bleiberecht jedoch in aller Regel
davon ab, ob die Betroffenen bei der Polizei oder vor Gericht eine Aussage machen . Viele Opfer schweigen aber,
weil sie Angst haben, dass sie selber oder ihre Familien bedroht werden oder sogar Gewalt erleiden . Es kann
also nicht sein, dass wir diese Menschen einfach in ihre
Herkunftsländer zurückschicken, wo sie erneut ins Visier
dieser Menschenhändler geraten . Es gibt diverse Beispiele, dass Frauen, die abgeschoben wurden, immer wieder
in Deutschland aufgetaucht sind . Die Linke fordert deswegen: Opfer von Menschenhandel und moderner Sklaverei müssen in Deutschland bleiben dürfen, ohne Wenn
und Aber .
({5})
Der Schutz der Menschenrechte muss gewährleistet werden .
Meine Damen und Herren, ich kann nur hoffen, dass
dieser Gesetzentwurf in den Beratungen in den Ausschüssen verbessert wird; denn ohne Opferschutz können
wir ihm wirklich nicht zustimmen .
Ich danke Ihnen .
({6})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Elisabeth
Winkelmeier-Becker .
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Es geht in der heutigen Debatte um Menschenhandel und Ausbeutung . Es geht um Menschen, die als Ware
gehandelt und aufgrund einer Notlage oder von Hilfslosigkeit skrupellos ausgebeutet werden . Damit wird nicht
nur ihre Menschenwürde verletzt; sie werden auch um
ihre Lebenschancen - die Chance auf ein selbstbestimmtes Leben und ein gerechtes Einkommen - gebracht . Das
sind ganz schlimme Verbrechen .
Wer einen Beweis für die Aktualität unserer heutigen
Debatte braucht, der braucht nur einen Blick in die aktuelle Presse zu werfen . Bild berichtete am Dienstag über
bettelnde Kinder in Berlin, die mit ihren Müttern oder anderen Erwachsenen beim Betteln ausharren müssen, um
Mitleid zu erregen und dabei auch ganz gezielt Touristen
anzusprechen .
Das Bundeskriminalamt schreibt in seinem Lagebericht, dass aufgrund von Erfahrungen in anderen Ländern
davon auszugehen ist, dass auch in unseren Großstädten
Strukturen organisierter Bettelei bestehen . Um das zu
wissen, muss man aber nicht den BKA-Bericht lesen:
Das zeigt sich auch auf unseren Straßen .
Der Express berichtet am 25 . Mai über den Arbeiterstrich in Köln, auf dem sich Arbeiter als Tagelöhner verdingen, zu einem Stundenlohn, der deutlich unter dem
Mindestlohn liegt . Sie haben keine andere Wahl . Das
nutzen ihre Arbeitgeber aus .
Die Welt schrieb über die Razzia im größten Bordell
Berlins, in dem laut Polizeibericht die Prostituierten ohne
eigene Entscheidungsgewalt arbeiten . Die Südwest Presse schrieb am 25 . Mai aus dem Blick einer Aussteigerin
aus der Prostitution Folgendes:
Zehn Freier am Tag, fünf Jahre lang - danach war
Vivian … fertig . Als sie mit dem Entschluss zum
Ausstieg in der Stuttgarter Beratungsstelle Café La
Strada stand, hatte sie ein paar Klamotten und eine
Handtasche dabei, aber keinen einzigen Euro . Ihr
Traum vom großen Geld, mit dem Bekannte sie im
Alter von 19 Jahren von Rumänien nach Deutschland gelockt hatten, wurde im Stuttgarter Leonhardsviertel zum Alptraum .
Meine Damen und Herren, das sind keine Einzelfälle, sondern Beispiele für viele Schicksale in Europa, wo
Menschen als Ware gehandelt und durch organisierte
Bettelei, Arbeitsausbeutung und Zwangsprostitution ausgebeutet werden . Etwas viel Schlimmeres kann es nicht
geben .
Es gibt naturgemäß keine exakten Zahlen . Die im
Raum stehende Zahl von 400 000 Prostituierten ist vielleicht etwas zu hoch, aber sechsstellig ist sie mit Sicherheit . Wir haben Zigtausende ausgebeutete Arbeiter . Wir
sind Durchgangs- und vor allem Zielland von Menschenhandel, bei uns vor allem mit dem Schwerpunkt Prostitution . Wir haben auch im Ausland einen sehr schlechten
Ruf . Das hat seinen Grund . Wir sind für Menschenhändler besonders lukrativ, bei geschätzt 1 Million Freiern pro
Tag und einem Umsatz von 14 Milliarden Euro im Jahr
mit dem liberalsten Gesetz, das man sich vorstellen kann,
mit der geringsten Kontrolldichte und umgeben von Ländern, in denen das alles viel restriktiver ist . Das merken
vor allem die Regionen an den Grenzen zu Frankreich
oder zu den nordischen Ländern . Überall dort zeigt sich,
dass wir für Menschenhändler besonders lukrativ sind .
Diese Zahlen sind schon schlimm genug . Aber verglichen mit den tatsächlichen Opferzahlen zeigt sich vor allem eins: Die Verfolgung und Verurteilung der Täter sind
völlig unzureichend . Man kann auch sagen: Der Staat
versagt in seiner Aufgabe, die Opfer zu schützen und die
Täter zu verurteilen . Er lässt die Opfer im Stich . Dabei
dürfen wir es nicht bewenden lassen .
({0})
Über einen Punkt haben wir heute Morgen schon gesprochen: das ungeregelte Prostitutionswesen, dem wir
jetzt ein Prostituiertenschutzgesetz entgegensetzen . Der
BKA-Bericht nennt dafür eine weitere Ursache . Darin
heißt es:
Vielmehr ist zu vermuten, dass Probleme im Bereich der Verfahrensführung in Verbindung mit dem
in der Praxis schwierig anzuwendenden Straftatbestand für diese niedrigen Zahlen ursächlich sind und
daher auf einfacher anzuwendende Straftatbestände
ausgewichen wird .
Das heißt, dass wir dringend eine konsequente Bekämpfung des Menschenhandels und dafür auch Änderungen im Strafgesetz brauchen . Deshalb setzen wir
nicht nur die Richtlinie zur Verhütung und Bekämpfung
des Menschenhandels und zum Schutz seiner Opfer um .
Schon dazu müssen wir die Tatbestände des Menschenhandels zum Zwecke der Ausnutzung durch Bettelei,
durch strafbare Handlungen und zum Zweck der Organentnahme neu unter Strafe stellen .
Wir gehen darüber hinaus weiter und überarbeiten
außerdem die einschlägigen Strafvorschriften zum Menschenhandel, um die Täter besser belangen zu können .
Es wird in Zukunft klarer definiert, was Ausbeutung
bedeutet . Dieses Merkmal ist von der Rechtsprechung
sehr eng ausgelegt worden . Hier regeln wir ausdrücklich,
dass der Prostituierten wenigstens der überwiegende Teil
der Einnahmen verbleibt . Es darf nicht alles auf angebliche Kosten für Reise, für Kleidung, für Essen, für überteuertes Wohnen in Rechnung gestellt werden, sodass am
Ende kaum etwas übrig bleibt . Außerdem gehen wir an
die subjektiven Voraussetzungen . Bisher war nachzuweisen, dass das Opfer zur Prostitution durch den Täter bestimmt wurde . Das ist im Sinne einer Conditio sine qua
non zu verstehen . Oft wird dem Opfer aber erfolgreich
eingeredet: Wenn du mit der Polizei sprichst, dann sagst
du, dass du das hier alles freiwillig machst . - Das ist
nicht immer glaubwürdig, aber zumeist ist es jedenfalls
nicht möglich, das Gericht vom Gegenteil zu überzeugen . Deshalb heißt es in Zukunft: wer veranlasst . Das
bedeutet dann nur eine Mitursächlichkeit, die leichter zu
beweisen ist .
Ganz wichtig: Wir werden in Zukunft die Freier ausdrücklich in die Verantwortung nehmen . Denn solche
Erfahrungsberichte, wie eingangs geschildert, gibt es
zuhauf . Fangen Sie bei SOLWODI an, gucken Sie Dokumentationen im Fernsehen - davon war vorhin auch
schon die Rede -, fragen Sie die Sachverständige Sabine
Constabel, die in der nächsten Woche auch in der SachElisabeth Winkelmeier-Becker
verständigenanhörung dabei sein wird . Das, was dort
geschildert wird, ist Realität und nicht nur Kulisse für
gelegentliche Tatort-Zweiteiler . Und es wäre eigentlich
auch Grund genug, die Prostitution gänzlich zu verbieten - für die Freier, nicht für die Prostituierten -, sie unter
Strafe zu stellen, wie es Schweden und neuerdings auch
Frankreich tun .
Es gibt durchaus auch Gegenargumente; das will ich
nicht in Abrede stellen . Vor allem gibt es, nachdem RotGrün in 2002 das Prostitutionsgesetz verabschiedet hat,
keine Mehrheit in der Koalition für ein Verbot . Deshalb
halten wir am Konzept der legalen Prostitution fest,
auch wenn mir die Begründung, die in Schweden und in
Frankreich für ein komplettes Verbot genannt wird, sehr
gut gefällt . Dort wird nämlich die Sache beim Namen
genannt . Es wird gesagt, dass Prostitution Gewalt gegen
Frauen ist und dass sie mit dem Grundsatz der Gleichheit
von Mann und Frau und mit der Menschenwürde unvereinbar ist .
Wir werden hier, wie im Koalitionsvertrag vereinbart,
ein anderes Konzept weiterverfolgen, das gerade auch in
den Niederlanden eingeführt worden ist . Wir wollen, dass
die Freier nicht generell, sondern nur dann unter Strafe
gestellt werden, wenn sie erkennen, dass die Prostituierte nicht selbstständig tätig ist, sondern dass es sich um
Zwangsprostitution handelt . Dafür gibt es klar erkennbare Anzeichen: wenn zum Beispiel keine Sprachkompetenz da ist, wenn Spuren von Gewalt da sind, wenn
sich die ganze Abwicklung nicht mit der Frau vollzieht,
sondern über ihren Zuhälter abläuft . Da müssen wir die
Freier in die Verantwortung nehmen . Der Freier muss ein
eigenes Risiko tragen . Der Gedanke: „Ich bezahle doch,
alles andere geht mich nichts an“, darf da nicht mehr weiterhelfen .
({1})
Für den Freier, der sich dann eines Besseren besinnt
und dazu beiträgt, dass Dinge aufgeklärt werden, wollen
wir eine goldene Brücke bauen . Er hat die Möglichkeit,
zur Straffreiheit zu kommen . Das ist, denke ich, wichtig .
Dann ist uns der Strafanspruch nicht so wichtig wie die
Verhinderung weiterer Straftaten .
Wir müssen außerdem bei den Gewinnen ansetzen .
Denn es geht letztlich ums Geld . Wenn wir dieses Geld
besser abschöpfen können, ist das Geschäftsmodell gestört, dann ist der Anreiz weg . Das trifft die Hintermänner am besten .
Ich muss sagen: Der Entwurf ist gut, aber noch nicht
perfekt . Wir hätten uns dringend gewünscht, dass auch
die §§ 180a und 181a des Strafgesetzbuches miteinbezogen worden wären . Wir haben hier aus meiner Sicht
eine Unwucht im Vergleich zu der sicherlich wichtigen
und richtigen Verschärfung der Strafbarkeit bei der Arbeitsausbeutung. Hier haben wir weitere Qualifikationen . Wenn die Tat mit einer schweren Misshandlung
oder Todesgefahr verbunden ist oder wenn das Opfer in
materielle Not gerät, dann haben wir hier ganz andere
Strafrahmen, als es bei der Zwangsprostitution, bei der
Ausnutzung durch Prostitution der Fall ist . Ich muss sagen: Das ist eine Unwucht .
Beide Formen der Ausbeutung bedeuten sicherlich
schwere Schicksale, sowohl die Ausbeutung der Arbeitskraft als auch die Ausbeutung durch Zwangsprostitution .
Aber aus meiner Sicht macht es noch immer einen Unterschied, ob man zur Arbeit am Bau oder zur saisonalen
Erntearbeit auf einem Bauernhof eingesetzt wird oder ob
man jeden Tag zehn Freier zufriedenstellen muss . Letzteres ist deutlich übergriffiger und verletzt die Menschenwürde . Das Verhältnis in der Strafbarkeit dieser Ausbeutungsformen ist nach meiner Meinung noch nicht richtig
ausgewogen .
Frau Kollegin .
Noch ein Wort . - Ich vermisse bei den Redebeiträgen
der Oppositionsfraktionen
({0})
vor allem die Frage, wer eigentlich von dem Ganzen profitiert. Angeblich prostituieren sich die meisten Frauen
freiwillig . Seltsamerweise sind viele Frauen später therapiebedürftig, und so gut wie keine der Frauen hat in materieller Hinsicht etwas auf die Seite legen können . Für
alle Frauen verschlechtert sich die ohnehin prekäre Ausgangssituation durch jahrelange Arbeit in der Zwangsprostitution erheblich. Wer hier verdient und profitiert,
sind die Freier, die sich für wenig Geld tabulosen Sex
einkaufen, den sie in einer anstrengenden Beziehung mit
einer ernstzunehmenden Partnerin nicht bekommen . Die
finanziellen Einnahmen ziehen die Hintermänner ab. Dafür müssten uns allen doch Frauen zu schade sein . Deshalb lassen Sie uns gemeinsam den Opfern helfen .
Vielen Dank .
({1})
Das Wort erhält nun die Kollegin Katja Keul für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich will mit dem Positiven anfangen . Die
Überarbeitung der §§ 232 ff . Strafgesetzbuch ist in der
Tat überfällig, da die einschlägige EU-Richtlinie zur Verhütung und Bekämpfung von Menschenhandel bereits im
April 2013 hätte umgesetzt werden müssen . Deutschland
ist das einzige Land von 27 Ländern, das die Richtlinie
bislang nicht umgesetzt hat . Es besteht also Handlungsbedarf . Soweit sind wir uns einig . Einig sind wir uns
auch, dass der Gesetzentwurf vom 15 . April 2015 diesen
Zweck nicht erfüllt . Damit sollte lediglich § 233 - der
sogenannte Menschenhandel zum Zweck der Ausbeutung der Arbeitskraft - ergänzt werden um die Bettelei,
die Begehung von Straftaten und die Organentnahme .
Diese Ergänzung geht die eigentlichen Defizite der bestehenden Tatbestände allerdings überhaupt nicht an . An
dieser Stelle möchte ich die Bemerkung machen, Herr
Lange, dass dieser Gesetzentwurf, an dem wir alle nicht
mehr festhalten wollen, das Einzige ist, was heute formal
Gegenstand dieser Debatte sein kann, weil nur er eingebracht ist .
({0})
Der angekündigte Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen, auf dessen Basis wir nun diskutieren, ist formal
noch nicht in den Bundestag eingebracht .
({1})
Zurück zum Inhalt . Menschenhandel im Sinne der
EU-Richtlinie ist nicht nur die Ausbeutung, sondern es
sind auch die Nachschub- und die Logistikebene . Hier
besteht im deutschen Recht eine Lücke, die wir schließen
wollen . In den §§ 232 und 233 StGB wird Menschenhandel bislang fälschlicherweise gleichgesetzt mit sexueller Ausbeutung bzw . mit Ausbeutung der Arbeitskraft .
Erst in § 232a geht es dann am Rande um Anwerben,
Befördern, Weitergeben und Beherbergen . Es ist insofern
konsequent, dass Sie nun in Ihrem angekündigten Änderungsantrag die Nachschubebene mit dem neuen § 232
zum Grundtatbestand machen und darin auch alle Arten
der Ausbeutung erfassen, sowohl die Prostitution als
auch sonstige Beschäftigung . Absatz 1 enthält außerdem
eine Legaldefinition von Ausbeutung. Danach kommt es
künftig auf das auffällige Missverhältnis der Arbeitsbedingungen und das Gewinnstreben des Täters an . Das
ist sicherlich hilfreich . Unklar bleibt aber, warum dieses
Gewinnstreben zusätzlich rücksichtslos sein muss, wenn
schon das objektive Missverhältnis der Arbeitsbedingungen feststeht . Diese zusätzliche Einengung scheint mir
überflüssig zu sein. Insgesamt ist der neue Grundtatbestand des § 232 trotz einigem Änderungsbedarf zumindest eine geeignete Diskussionsgrundlage . Aber danach
wird es chaotisch .
Nachdem § 232 den eigentlichen Menschenhandel unter Strafe stellt, regelt § 232a das Veranlassen zur Prostitution und § 232b das Veranlassen zur ausbeuterischen
Beschäftigung . Sie nennen die Tatbestände in diesen
Vorschriften Zwangsprostitution und Zwangsarbeit . Dabei soll es aber laut Begründung vielmehr um die Beeinflussung des Willens gehen. Sogar eine einfache Aufforderung zu ausbeuterischer Tätigkeit soll schon genügen .
Damit erfassen Sie auch Jugendliche, Nachbarn oder
Freunde . Das geht zu weit und muss in geeigneter Form
begrenzt werden .
Auf der anderen Seite stellt sich die Frage, ob der
Begriff „veranlassen“ jetzt irgendetwas anderes bedeutet als „jemanden dazu bringen“, wie es bisher im Gesetz stand . Die Ermittlungsbehörden hatten immer die
Beweisbarkeit dieses Tatbestandsmerkmals als schwer
überwindbare Hürde kritisiert . Ich sehe aber nicht, wo
der Unterschied zwischen „jemanden veranlassen“ und
„jemanden dazu bringen“ liegen soll . Im Übrigen wiederholen §§ 232a und b sämtliche Voraussetzungen und
Varianten, die schon in § 232 genannt sind . Das ist nicht
nur unübersichtlich, sondern widerspricht auch dem
Grundsatz der Rechtsklarheit .
Mit dem Tatbestand der Zwangsprostitution vermengen Sie außerdem zwei unterschiedliche Schutzgüter .
Schutzgut des Menschenhandels ist vor allem die berufliche und wirtschaftliche Betätigungsfreiheit und nicht die
sexuelle Selbstbestimmung . Soweit es um die Verletzung
der sexuellen Selbstbestimmung geht, gehört der Tatbestand in den Dreizehnten Abschnitt des Strafgesetzbuches und sollte von der dort angestrebten Reform erfasst
werden .
Daneben gibt es weiterhin die §§ 180a und 181a, in
denen die Zuhälterei bzw . die Ausbeutung der Prostitution unter Strafe gestellt werden . Dort ist von persönlicher und wirtschaftlicher Abhängigkeit die Rede, in Ihrem neuen § 232a von persönlicher und wirtschaftlicher
Zwangslage . Dieses Wirrwarr an Überschneidungen und
unterschiedlichen Begrifflichkeiten ist weder geeignet,
den Strafverfolgungsbehörden ihre Arbeit zu erleichtern,
noch entspricht es rechtsstaatlichen Anforderungen an
ein Strafgesetz .
({2})
Mir scheint es deutlich sinnvoller, die Veranlassung
zu einer ausbeuterischen Tätigkeit in einem einzigen Tatbestand zu erfassen und damit die ausbeuterische Prostitution als einen besonderen Fall der ausbeuterischen
Beschäftigung zu behandeln . Dann müssten Sie nämlich
auch folgerichtig einheitlich entscheiden, ob und wie der
Kunde, der eine ausbeuterische Dienst- oder Arbeitsleistung in Anspruch nimmt, bestraft werden soll .
Mit Ihrem neuen § 232a Absatz 6 wollen Sie die Freierstrafbarkeit bei der Ausnutzung der Zwangslage unter
Strafe stellen, während das bei der Inanspruchnahme von
anderen Dienstleistungen nach § 232b nicht gelten soll .
Dieser Widerspruch entsteht dadurch, dass es Ihnen in
Wirklichkeit um etwas anderes geht, nämlich die sexuelle Selbstbestimmung zu schützen . Das erreichen Sie aber
nur auf anderem Wege . Schaffen Sie im Sexualstrafrecht
einen Grundtatbestand, bei dem es auf den erkennbaren entgegenstehenden Willen ankommt, und Sie haben
mehrere Probleme auf einmal gelöst .
({3})
Die Beweisbarkeit wird in einer solchen Konstellation
immer schwierig bleiben . Aber die von Ihnen hier vorgeschlagenen umfangreichen objektiven und subjektiven
Tatbestandsmerkmale machen es nun wirklich auch nicht
einfacher . So reicht es danach nicht aus, dass der Freier
die Zwangslage bzw. die Hilflosigkeit erkennt und für
den Sexualkontakt ein Entgelt bezahlt; darüber hinaus
muss er die Zwangslage auch noch bewusst ausgenutzt
haben . Das ist dann doch wohl eher Symbolgesetzgebung als praxistauglich .
Es geht noch weiter . Mit dem ebenfalls neuen § 233
stellen Sie unter Strafe, wenn jemand eine Person durch
eine ausbeuterische Beschäftigung ausbeutet . Auch hier
holen Sie Ihre systematischen Mängel wieder ein . Die
Absicht, die Ausbeutung unter Strafe zu stellen, auch
wenn die Beeinflussung, also das Veranlassen, von dritter
Seite erfolgt, ist grundsätzlich lobenswert .
Als Niedersächsin sind mir die Konstellationen gerade
in der Fleischindustrie nur zu gut bekannt, wo sogenannKatja Keul
te Werkvertragsunternehmen und ihre Unterhändler die
Menschen aus Rumänien und Bulgarien unter Vorspiegelung falscher Tatsachen in die hiesigen Schlachthöfe von
Wiesenhof, Tönnies, VION und Westfleisch verbringen,
wo sie ausgebeutet werden . Die Ausbeutung soll aber
nach wie vor nicht reichen, sondern erst bei bewusster
Ausnutzung der Zwangslage strafbar sein . Wie soll denn
da jemals beim Hauptunternehmen ein Vorsatz nachweisbar sein? Den Auftraggeber eines ausbeuterischen Werkvertragsunternehmens werden Sie nur erfassen, wenn
Sie ihn als Dienstleistungsnehmer, der die Ausbeutung
mindestens billigend in Kauf genommen hat, unter Strafe
stellen, also im Prinzip genau so, wie Sie es bei der sexuellen Ausbeutung vorhaben .
Fazit: Ihre Strafrechtsänderungen sind insgesamt unsystematisch, voller Überschneidungen, und Sie schaffen damit weder Rechtsklarheit noch eine Hilfe für die
Ermittler . Das Wichtigste für die Opfer haben Sie dabei
ganz vergessen: den Schutz vor der eigenen Kriminalisierung und vor aufenthaltsbeendenden Maßnahmen .
Zeigt ein Opfer von Menschenhandel eine Tat an, so kann
nun von der Verfolgung wegen der eigenen Tat abgesehen werden . Die Einstellung steht aber nach wie vor im
Ermessen der Staatsanwaltschaft . Bei Ihrem Vorschlag
zur Freierstrafbarkeit hingegen tritt die Straflosigkeit für
den Freier quasi automatisch mit der Anzeige ein . Was
für den Freier recht und billig ist, sollte doch mindestens
auch für die Opfer gelten .
({4})
Meine Fraktion hat außerdem einen eigenen Gesetzentwurf vorgelegt, mit dem die Opfer von Menschenhandel einen eigenen Anspruch auf einen Aufenthaltstitel
nach § 25 Absatz 4 Aufenthaltsgesetz erhalten sollen . Wir
schlagen weiter die Einrichtung eines Ausgleichsfonds
für Opfer von Menschenhandel sowie einer „Berichterstatterstelle Menschenhandel“ beim Bundesministerium
für Arbeit und Soziales vor .
Verengen Sie Ihren Blick also nicht wieder nur auf die
strafrechtlichen Aspekte, sondern lassen Sie uns für einen
umfassenden Schutz der Menschenhandelsopfer sorgen .
Vielen Dank .
({5})
Für die SPD-Fraktion spricht nun die Kollegin Eva
Högl .
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Sowohl die Debatte heute Morgen über
den Entwurf eines Gesetzes zur Regulierung des Prostitutionsgewerbes als auch die jetzige Debatte über den
Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung von Menschenhandel und Zwangsprostitution sind eine ganz wichtige
Etappe bei der Bekämpfung von Zwangsprostitution
und Menschenhandel . Ich bin sehr froh, dass wir heute
Morgen hier zusammengekommen sind, um diese beiden
wichtigen Gesetzesvorhaben zu beraten .
Staatssekretär Christian Lange hat vorhin den Koalitionsfraktionen für die konstruktive Arbeit an den veränderten Formulierungen gedankt . Ich möchte dieses
Dankeschön ganz herzlich zurückgeben; denn die Verhandlungen waren nicht ganz einfach . Das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz hat uns
hervorragend unterstützt . Vor allen Dingen hat es jetzt
etwas ganz Hervorragendes vorgelegt . Dafür ein ganz
herzliches Dankeschön!
({0})
Liebe Frau Keul, Ihren Äußerungen habe ich entnommen, dass Sie sehr wohl die Änderungsanträge, die im
Übrigen Anfang April im Kabinett beschlossen worden
sind, sehr gut studiert haben; denn Sie haben sich ja sehr
sachkundig und sehr detailliert damit auseinandergesetzt,
sodass ich auch auf diese geänderten Vorschläge hier Bezug nehme .
Zunächst einmal möchte ich aber das deutlich machen, was uns hier alle eint und woran wir gemeinsam
arbeiten . Der Menschenhandel ist eines der schlimmsten
Verbrechen, die es überhaupt gibt . Menschenhandel traumatisiert Opfer lebenslang, und es wird viel Geld damit
verdient. Denn die Täter profitieren hiervon - ganz anders als bei anderen Verbrechen - ganz außerordentlich .
Deswegen lohnt sich unser gesamtes Engagement, Menschenhandel zu bekämpfen .
Die Europäische Kommission hat in diesen Tagen einen Bericht vorgelegt und noch einmal deutlich gemacht,
dass wir gegen Menschenhandel viel mehr tun müssen,
als das bisher der Fall war . Auch mich hat die Nachricht
sehr schockiert, die Frau Jelpke schon erwähnte, dass
nämlich 46 Millionen Menschen weltweit in der Sklaverei leben - allein 14 500 davon in Deutschland . Das
ist eine schockierende Zahl und Anlass genug, dagegen
etwas mit großem Engagement zu tun .
Ich möchte auch kurz hervorheben, dass es einen Zusammenhang zwischen Migration und Menschenhandel
gibt . Denn Menschen, die in großer Not sind, verfolgt
werden und sich aus ihren Heimatländern auf den Weg
machen, sind natürlich ganz anders davon bedroht, Opfer
von Schleppern und Menschenhändlern zu werden . Sie
sind leicht empfänglich für Versprechungen . Auch daran
sollten wir anlässlich der Situation, vor der wir im Moment stehen - die enormen Fluchtbewegungen aus unterschiedlichen Teilen der Welt -, immer denken .
({1})
Menschenhandel ist ein Phänomen bzw . Verbrechen,
das hauptsächlich Frauen betrifft . Die Zahlen schwanken; aber zwischen zwei Drittel und drei Viertel der Opfer sind Frauen. Es ist häufig - manchmal ist das auch
ausschließlich der Fall - mit sexueller Ausbeutung gepaart . Mich erschreckt auch besonders, dass die Zahlen
beim Kinderhandel zunehmen und dass es uns immer
noch nicht gelungen ist, Kinderhandel wirksam zu untersagen und zu bekämpfen . Deswegen müssen wir auch
international tätig werden . Von daher ist es gut, dass es
schon seit 2005 eine Konvention des Europarates und
seit 2011 eine europäische Richtlinie dazu gibt . Ich will
auch noch einmal ganz deutlich sagen, dass es durchaus
peinlich ist, dass wir hier in Deutschland erst jetzt die
entsprechenden Maßnahmen ergreifen . Es ist allerhöchste Zeit, dass wir unsere Gesetze verbessern .
({2})
Wir wollen das Strafrecht auf diesem Gebiet deutlich
verschärfen; denn wir haben festgestellt, dass es in der
Praxis nicht ausreichend angewendet werden kann . Wir
haben uns mit Praktikerinnen und Praktikern unterhalten . Sie haben uns erläutert, woran die Anwendung der
Strafvorschriften scheitert . Das haben wir uns genau
angesehen . Jetzt haben wir einen guten Vorschlag dafür
gemacht, wie wir die Strafrechtsvorschriften verschärfen
können, damit Täter wirksamer bestraft werden können .
Denn es ist auch wichtig, Täter wirksamer zu bestrafen .
Damit verbessern wir gleichzeitig die Sicherheit der
Opfer, und wir schützen sie . Das sind unsere beiden Gesichtspunkte .
Ich will noch kurz einen weiteren Gesichtspunkt
hervorheben, der der SPD-Bundestagsfraktion und mir
ebenfalls sehr am Herzen liegt - es ist für uns ein wichtiger Baustein -: das Thema Arbeitsausbeutung . Wir haben im Koalitionsvertrag vereinbart, den Fokus stärker
auf Arbeitsausbeutung zu richten . Liebe Frau Kollegin
Winkelmeier-Becker, ich glaube, es hilft nicht weiter,
wenn wir sexuelle Ausbeutung gegen Arbeitsausbeutung
stellen . Vielmehr wissen wir, dass Arbeitsausbeutung ein
verbreitetes Phänomen ist, bei dem es sich lohnt, dass wir
uns dagegen engagieren .
Die Arbeitsausbeutung ist mitten unter uns: in den
Gaststätten, bei den Reinigungsbetrieben, bei haushaltsnahen Dienstleistungen, hier in Berlin, in den Botschaften und auf den Baustellen . Zum Beispiel Mall of Berlin
oder auch Bundesbauten: Dort werden häufig Arbeitsleistungen von Menschen erbracht, die sich in der Arbeitsausbeutung befinden. Das ist ein Grund dafür, dass
wir in diesem Gesetzentwurf ganz stark die Bekämpfung
von Arbeitsausbeutung thematisiert haben .
({3})
Noch ein letztes Stichwort . Meine Damen und Herren, wir verschärfen das Strafrecht . Wir verbessern den
Opferschutz . Aber das wird noch nicht ausreichen . Wir
brauchen mehr Beratungsstellen . Wir brauchen Sensibilisierungskampagnen . Wir müssen die Öffentlichkeit bei
der Bekämpfung von Menschenhandel und Arbeitsausbeutung viel stärker an unsere Seite holen . Deswegen
müssen wir über das Strafrecht und über die Verbesserung im Prostitutionsgesetz hinaus viel mehr tun, um die
Opfer wirksam zu schützen . Daran werden wir weiter
arbeiten .
Herzlichen Dank .
({4})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Silke Launert für
die CDU/CSU-Fraktion .
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren!
Es ist sowohl moralisch als auch rechtlich inakzeptabel, dass . . . Menschen wie Waren gekauft, verkauft und ausgebeutet werden .
Zitat Ende .
Man möchte meinen, dieser Satz sei vor etwa 150 oder
200 Jahren gefallen, auf jeden Fall nicht im 21 . Jahrhundert und erst recht nicht in Europa . Doch wer das glaubt,
der liegt falsch .
Der zuständige EU-Kommissar kommentierte mit dieser Äußerung den genau heute vor zwei Wochen von der
Europäischen Kommission erstatteten Bericht über die
Fortschritte bei der Bekämpfung des Menschenhandels .
In diesem Bericht wird festgestellt, dass 2013 bis 2014
insgesamt 15 846 Männer und Frauen, Jungen und Mädchen als Opfer von Menschenhandel in der EU registriert
wurden . Allein 2 375, also etwa 16 Prozent davon, waren
Kinder, wobei - das wurde schon gesagt - die Zahl der
betroffenen Kinder erschreckend stark zugenommen hat .
Nach dem Bericht ist zudem die tatsächliche Zahl der
Opfer wahrscheinlich wesentlich höher . Das entspricht
dann auch den Erfahrungen der Praxis und den Schätzungen, die hier in der Debatte schon genannt wurden .
Angesichts der aktuellen Migrations- und Flüchtlingsbewegungen ist uns allen bewusst, dass die Händler gerade in diesen Zeiten leichtes Spiel haben . Mehr
und mehr Kriminelle finden hier neue Betätigungsfelder
und nutzen das Chaos der Flucht, um Menschen in ihre
Gewalt zu bringen . Auch der Bericht der Kommission
weist auf diese Verbindung zwischen Menschenhandel
und der Ausbeutung der Schutzbedürftigsten vor dem
Hintergrund der aktuellen Migrationsbewegung hin . Insbesondere Frauen und Kinder - auch das wurde schon
mehrfach betont - sind leichte Beute . Wenn ich an die
unbegleiteten Minderjährigen denke und daran, wie viele
seit ihrer Ankunft in der EU 2015 - laut Europol sollen
es 10 000 sein - verschwunden sind, dann wird mir angst
und bange .
Machen wir uns also keine falschen Illusionen: Die
bei den Behörden zahlenmäßig erfassten Opfer sind
nur die Spitze des Eisberges . Illusorisch wäre es auch,
zu glauben, dass der Menschenhandel mit all seinen
kriminellen Auswüchsen haltmacht vor Deutschland .
Durch Entführung, Drohung oder Zwang in die Gewalt
gebracht, werden die Opfer mithilfe von professionellen
Schleuserbanden auf der berüchtigten Balkanroute über
Italien oder direkt aus Russland, der Ukraine oder Weißrussland nach Deutschland gebracht . In manchen Fällen
kommt es aber auch zur Einreise, weil man den Opfern
einen Job verspricht, ein besseres Leben, die große Liebe . Das Elend und die Not oder auch die Träume und die
Naivität scheinen groß genug zu sein, sodass ausreichend
viele Menschen immer wieder darauf hereinfallen . Wenn
sie dann hier angekommen sind, hält man sie unter brutalen, menschenunwürdigen Bedingungen gefangen, beutet sie aus: in der Prostitution - das betrifft, wie gesagt,
zwei Drittel der registrierten Fälle, also mit Abstand die
Mehrheit der Fälle -, als Arbeitssklaven, zur Begehung
von Straftaten wie Drogenschmuggel oder Diebstahl, zur
Bettelei oder zur Organentnahme .
„Wie kann all das möglich sein, mitten in Europa?“,
fragt man sich . Die Antwort liegt auf der Hand: weil die
Grundlage jedes Geschäfts, dass die Nachfrage das Angebot bestimmt, auch hier greift, und zwar insbesondere deshalb, weil es keine ausreichenden und effektiven
Bekämpfungsmaßnahmen gibt . Die Nachfrage nach Sexsklaven, nach Arbeitssklaven scheint ja sehr groß zu sein
und steigt, und die Ware Mensch - Wahnsinn, dass dieser
Begriff so gebraucht werden kann - scheint unerschöpflich zu sein . Es handelt sich offensichtlich um einen lukrativen Markt . Dem können wir eine im Moment noch
nicht einmal ansatzweise effektive Gesetzeslage entgegenhalten . Das aktuelle Recht ist unsystematisch, nur
punktuell regelt es Einzelfälle . Die Praktiker erzählen
uns, dass es schwierig anzuwenden ist . Opfer sind nicht
bereit, auszusagen, es kommt kaum zu Verurteilungen .
Schwierig wird es insbesondere beim Auslandsbezug .
Der vorliegende Gesetzentwurf ist ein Versuch, hieran
etwas zu verbessern, so wie man es im Koalitionsvertrag
auch vereinbart hat . Wir werden die Tatbestände reformieren und verschärfen . Wir haben - das ist etwas, was
ich betonen möchte - nun sichergestellt, dass wirklich
jeder, der sich an diesem schmutzigen Geschäft beteiligt,
auch strafrechtlich zur Rechenschaft gezogen werden
kann, und zwar auch dann, wenn er nur einen kleinen
Beitrag geleistet hat . Erfasst werden alle, angefangen von
dem, der die Opfer anwirbt, transportiert oder auch nur
beherbergt, über den, der das Opfer dazu veranlasst, die
Prostitution oder die Zwangsarbeit aufzunehmen, bis hin
zu dem, der es dann letztlich ausbeutet . Das Geschäft des
Menschenhandels, das typischerweise arbeitsteilig ist,
wird also von diesem Gesetz ganz genau mit all seinen
Einzelheiten erfasst .
Neu ist, dass wir ab sofort auch die Fälle des Menschenhandels zum Zwecke der Begehung von strafbaren
Handlungen erfassen . Ich denke da an Diebesbanden,
in denen überwiegend Kinder eingespannt sind . Erfasst
werden aber nun auch die Fälle des Menschenhandels
zum Zwecke der Bettelei . Es wurde bereits angesprochen, dass auch hierfür überwiegend Kinder missbraucht
werden . Neu aufgenommen ins Strafgesetzbuch wird
auch der Straftatbestand des Menschenhandels zum
Zwecke der Organentnahme, was bisher lediglich als
Beihilfe zu Straftaten nach dem Transplantationsgesetz
bestraft werden konnte .
Wichtig für die Union war aber auch - ich habe es
vorhin betont: Was macht diesen Markt so lukrativ? -,
dass man bei der Ursache ansetzt . Und das ist die Nachfrage . Deshalb wollen wir die bestrafen, die im Wissen,
dass die Menschen in Not sind, diese bewusst ausbeuten
und davon profitieren. Das heißt in dem Fall auch: die
Bestrafung der Freier, die das wissen .
Ich freue mich sehr, dass es uns gelungen ist, die Freierstrafbarkeit ins Gesetz zu schreiben . Dazu möchte ich
klarstellen: Natürlich bestrafen wir nicht jeden Freier .
Die vielen „selbstbestimmten Prostituierten“, wie ich es
hier von den Grünen und von den Linken immer höre,
die im Escortservice so viel Geld verdienen und das liebend gerne machen, dürfen weiterhin ihre Freier haben .
Diese Freier haben nichts zu befürchten . Aber die Freier,
die sehen, dass es sich um ein Opfer des Menschenhandels handelt, um eine Frau, die kein Deutsch spricht, die
vielleicht verwundet ist, zum Teil regungslos daliegt,
die sehen, dass die Frau keine Wahl hat, sich im hochschwangeren Zustand prostituiert, die also damit rechnen
müssen und dies billigend in Kauf nehmen, dass es sich
um ein Opfer des Menschenhandels handelt, die können
nun bestraft werden .
Ich gebe zu: Die Fassung ist eng . Frau Keul hat da
völlig recht . Mir wäre eine weitere Fassung auch lieber
gewesen . Die Frage ist: Wie viele Fälle wird man damit
in der Praxis erreichen? Aber es ist auf jeden Fall ein
ganz klares Signal an die Freier: Schaut hin! Wer ist euer
Gegenüber? Ist das vielleicht ein Opfer in Not? Nutzt ihr
diese Not anderer aus? - Dieses Signal geht davon auf
jeden Fall aus . Ich denke, auch das ist schon ein Schritt
in die richtige Richtung .
Ich gebe zu, dass ich mir sowohl beim Prostituiertenschutzgesetz als auch bei diesem Gesetz noch viel mehr
Maßnahmen zum Schutz der Opfer gewünscht hätte . Die
Diskussion ging ja dahin: Verbieten wir es wieder? Denn
das Prostitutionsgesetz hat ja genau das Gegenteil von
dem bewirkt, was es erreichen sollte . Es hat die Prostituierten nicht geschützt, sondern in vielen Fällen in eine
viel prekärere Situation gebracht hat . Also: Verbieten wir
es, oder machen wir Einzelmaßnahmen?
Der Kompromiss waren die Einzelmaßnahmen . Aber
was mich schon enttäuscht hat, ist, dass wir selbst bei
den Einzelmaßnahmen so kämpfen mussten . Es ist für
mich nach wie vor unverständlich, wieso es mit der SPD
nicht möglich war, eine Gesundheitsuntersuchung einzuführen . Wenn ich hier höre, mit welchen Argumenten
man dabei arbeitet: Man spricht von „Bockschein“ und
meint, das wäre Symbolpolitik . Wissen Sie was? Die
Untersuchung zeigt, ob die Frau Geschlechtskrankheiten
hat, ob sie verwundet wird . Gerade eine solche Untersuchung dient der Gesundheit der Prostituierten, aber auch
der Freier und der Personen im familiären Umfeld . Denn
Krankheiten könnten über sexuellen Kontakt oder durch
Bluttransfusionen übertragen werden . Ich muss schon
sagen: Es hat mich sehr enttäuscht, dass wir da so sehr
kämpfen mussten .
Frau Keul hat auch völlig zu Recht § 180a und § 181a
StGB angesprochen . Diese Vorschriften hätten nach unserer Meinung auch geändert werden sollen; wir hätten
es gerne gemacht . Wir hätten gerne etwas Effektiveres
geschaffen, etwas, was für die Praxis noch besser ist . Leider hat die SPD das blockiert . Ich gebe zu: Das ist für
mich völlig unverständlich .
Frau Kollegin .
Ich komme gleich zum letzten Satz . - Vielleicht
kommt ja bis zum Ende der Legislaturperiode noch etwas zustande .
Zuletzt möchte ich zusammenfassend sagen: Das Gesetz ist kein Heilsbringer, aber ein Schritt in die richtige
Richtung . Hoffen wir, dass im weiteren Gesetzgebungsverfahren, vielleicht auch durch die Anwendung in der
Praxis, aus diesem Schritt doch noch ein richtiger Sprung
wird .
Vielen Dank .
({0})
Matthias Bartke ist der nächste Redner für die
SPD-Fraktion .
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor sechs
Wochen gingen Polizei, Staatsanwaltschaft und Zoll hier
in Berlin mit insgesamt 900 Beamten bei einer Razzia
gegen das Artemis vor . Das Artemis ist eines der größten Bordelle Deutschlands . Die Staatsanwaltschaft wirft
den Festgenommenen Menschenhandel vor . Die Razzia
war überregional in den Nachrichten und hat uns wieder
eines deutlich gemacht: Menschenhandel findet auch in
Deutschland statt .
Das Bundeslagebild des BKA berichtet für 2014 von
insgesamt 403 abgeschlossenen Verfahren beim Delikt
Menschenhandel . Das ist eine relativ geringe Zahl, aber
leider kein Grund zum Aufatmen: Beim Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung und auch zum
Zweck der Arbeitsausbeutung müssen wir von einem
enormen Dunkelfeld ausgehen; es ist bereits gesagt worden . Es ist vor allem die schwierige Verfahrensführung,
die zu so geringen Ermittlungs- und Verurteilungszahlen
führt . Bisher kann Menschenhandel fast nur nachgewiesen werden, wenn das Opfer eine Aussage macht . Das
liegt vor allem an der Gesetzesformulierung „dazu bringen“ in § 232 StGB . Der Täter muss beim Opfer also den
Entschluss herbeiführen, ein ausbeuterisches Arbeitsverhältnis einzugehen, es also „dazu bringen“ . Ein Entschluss ist aber höchstpersönlich . Im Ergebnis sind wir
daher auf die Aussage des Opfers angewiesen . Das Opfer
muss bestätigen: Ja, der Täter hat mich dazu gebracht . Diese Aussage ist erfahrungsgemäß sehr, sehr schwer zu
bekommen . Durch unsere Änderungsvorschläge werden
daher nun auch Fälle erfasst, in denen das Opfer selbst
die ausbeuterische Tätigkeit aufnimmt . Die Bedingung
ist nur, dass der Täter die Zwangslage des Opfers erkennt
und diese Gelegenheit zur Ausbeutung nutzt .
Darüber hinaus sollen sich künftig auch Freier von
Zwangsprostituierten strafbar machen . Das ist dann
der Fall, wenn sie die persönliche oder wirtschaftliche
Zwangslage oder auch die auslandsspezifische Hilflosigkeit der Prostituierten ausnutzen . Grund für eine
Strafaufhebung kann allerdings die freiwillige Anzeige
des Freiers sein . Wir wollen damit für die Freier einen
Anreiz setzen, an der Aufklärung von Zwangsprostitution und Menschenhandel mitzuwirken .
Meine Damen und Herren, ich bin sehr froh, dass wir
es endlich geschafft haben, mit unserem Änderungsantrag umfassende Regelungen zur Bekämpfung des Menschenhandels vorzulegen . Die Umsetzung der EU-Richtlinie ist überaus wichtig und längst überfällig; meine
Vorredner haben es bereits ausgeführt . Der Gesetzentwurf unserer schwarz-gelben Vorgängerregierung hat uns
aber eines mehr als deutlich gezeigt: Die Umsetzung der
Richtlinie allein ist nicht ausreichend . Mit unseren Änderungsvorschlägen fokussieren wir den strafrechtlichen
Schutz auf die Ausbeutung als solche und damit auf die
objektiven Tatumstände . Wir haben damit die Chance,
die bisher geringe Anzahl der Verurteilungen an das tatsächliche Ausmaß der Kriminalitätsform des Menschenhandels anzupassen .
Ich danke Ihnen .
({0})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Hans-Peter Uhl für die CDU/CSU-Fraktion .
({0})
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und
Kollegen! Es war 2002, also vor 14 Jahren, als Rot-Grün
das Prostitutionsgesetz mit großem Brimborium verabschiedet hat . Es ging damals darum - zu Recht, würde
ich sagen -, dieses Milieu vom Verdikt der Sittenwidrigkeit zu befreien; und das ist ja auch richtig . Man hat
dabei nur eines übersehen: dass es sich um einen Lebenssachverhalt handelt, bei dem schwache, häufiger aus dem
Ausland kommende, nicht Deutsch sprechende, hilflose
Frauen starken, mit krimineller Energie ausgestatteten Männern gegenüberstehen, die alles tun, um diese
schwachen Frauen auszubeuten und damit Geld zu machen . Das ist der Lebenssachverhalt: Es handelt sich hier
um ein kriminogenes Milieu .
Was muss der Staat tun, wenn sich ein extrem Schwacher und ein extrem Starker gegenüberstehen? Der Staat
muss kontrollieren, regeln und zum Schutz der Schwachen eingreifen . Das ist die Aufgabe des Staates, nicht
nur in diesem, sondern auch in allen anderen Lebenssachverhalten, wo sich Schwache und Starke gegenüberstehen; eigentlich eine Banalität . Aber diesem Umstand
wurde mit dem Gesetz, das vor 14 Jahren beschlossen
wurde, nicht Rechnung getragen . Nein, man hat jede Regelung unterlassen . Das Ergebnis ist mehrfach beschrieben worden - ich will das nicht mehr wiederholen -: Die
Starken haben sich auf Kosten der schwachen Frauen
ausgetobt . Damit haben wir einen Zustand in Deutschland erreicht, der eine Schande für unseren Rechtsstaat
ist, nämlich „Bordell Europas“ geworden zu sein .
({0})
Die Frauen kommen hierher, naiv, zum Teil gelockt
von dem Versprechen, dass sie in kurzer Zeit viel Geld
verdienen können . In Wahrheit werden ihnen sofort die
Pässe abgenommen, sie werden behandelt wie Ware, sie
werden von einem Bordell ins nächste geschickt, sie wissen gar nicht, in welcher Stadt sie sind, und sie müssen
irgendwelche Reisekosten oder sonstige Auslagen zurückbezahlen . Das heißt - ich will das nicht weiter beschreiben; es ist zum Teil auch beschrieben worden -, es
ist alles sehr schlimm .
Die Verbrecher - und Menschenhändler sind Verbrecher - sind zu allem bereit . Der jetzige Paragraf zum
Menschenhandel baut darauf auf - leider; auch das ist
schon zu Recht gesagt worden -, dass der Menschenhändler das Opfer dazu gebracht hat, sich der Prostitution
hinzugeben . Das heißt, es muss im Kopf des Opfers etwas passiert sein, was vor Gericht üblicherweise kaum zu
beweisen ist; es sei denn, es kommt zu der Aussage des
Opfers: Dieser Menschenhändler war es . - Wir erleben
aber fortlaufend, dass eine solche Aussage entweder nie
zustande kam oder, wenn sie einmal zustande kam, rechtzeitig vor der Gerichtsverhandlung vom Opfer widerrufen wurde . Das ist typisch für dieses Milieu . Verbrecher,
die mit Menschen handeln, die Frauen ausbeuten und zur
Prostitution zwingen, haben natürlich auch die kriminelle
Energie, ihr Opfer zum Schweigen zu bringen . Das ist
der Sachverhalt, um den es hier geht .
Die EU-Richtlinie zeigt uns den richtigen Weg, wenn
sie uns, den Mitgliedstaaten, vorgibt, zu sagen: Wir müssen die Menschenhandelsparagrafen so formulieren, dass
es auf die Opferaussage nicht ankommt . Selbst wenn das
Opfer seine Aussage zurückzieht, muss der Menschenhändler verurteilt werden können . Aber davon sind wir
weit entfernt . Wir haben Hunderte tatverdächtige Menschenhändler, aber von diesen Hunderten wurden im
Jahr 2013 in Deutschland ganze 79 verurteilt . Auch im
Jahr 2014 gab es Hunderte Verdächtige, aber es wurden
nur 82 verurteilt; ich sage das, damit Sie ein Gespür für
den Umfang der kriminellen Energie und für die tatsächlich kleine Zahl von Verurteilten bekommen . Im Koalitionsvertrag haben wir deswegen, zu Recht, das Problem
beschrieben und dazu aufgefordert, ein besseres Gesetz
zu machen .
Der Wahrheit zuliebe möchte ich noch auf eines hinweisen: Wir waren schon einmal so weit wie heute, am
Ende der letzten Koalition mit der FDP . Da haben wir
einen Gesetzentwurf vorgelegt, der diese Probleme behandelte . Es war eben nicht so, wie die stellvertretende
Fraktionsvorsitzende der SPD, Frau Reimann, es vorhin
in der Debatte gesagt hat, dass dieser im Bundesrat mit
den Stimmen von CDU und CSU gestoppt worden ist .
Nein, ich bitte darum, zum Beispiel bei Spiegel Online
vom 20 . September 2013 nachzulesen . Es war der Bundesrat mit der Mehrheit der Stimmen von SPD, Grünen
und Linken, der diesen Gesetzentwurf der letzten Koalition gestoppt hat . Das muss man der Wahrheit zuliebe
hier doch noch sagen dürfen .
({1})
Wir wollen diese Verbrecher hinter Schloss und Riegel bringen, das ist unser Ziel . Da ist es schon etwas irritierend, wenn jetzt der Bundesjustizminister Maas sagt,
auf die Opferaussage werde es auch in Zukunft immer
noch schwerpunktmäßig ankommen . Das ist bedauerlich .
Das ist genau das, was wir nicht wollen, nämlich dass es
auf die Opferaussage ankommt . Also bitte ich alle Beteiligten an der Debatte, die jetzt in den Ausschüssen und in
der Anhörung beginnt, darum, offen zu sein für Nachbesserungen dieses Gesetzentwurfs . Wir brauchen den Rat
der Praktiker, der Polizei, der Staatsanwälte, die in diesem Milieu unterwegs sind; denn bei uns kann nicht die
Sach- und Fachkunde in der Frage sein, wie man diese
Verbrecher hinter Schloss und Riegel bringt . Das müssen
wir von den anzuhörenden Personen in Erfahrung bringen .
Wir bringen diese Offenheit mit . Frau Högl, die SPD
hat uns zugesagt, dass sie die Anhörung sehr ernst nimmt
und bereit ist, noch nachzubessern; denn ein Ziel haben
wir doch wohl hoffentlich alle gemeinsam, nämlich dass
wir den jetzigen Zustand beenden, dass Deutschland das
„Bordell Europas“ ist .
Sie von der Opposition können sich nicht darauf beschränken, dies zu beklagen, dann aber zu sagen, dass
man Prostituierte mit den neuen Regelungen dazu zwingt,
sich anzumelden und sich regelmäßig einer Gesundheitsuntersuchung zu unterziehen, das heißt, dass man ihnen
Pflichten auferlegt. Das beklagen Sie ja. Dagegen sagen
Kenner: Genau diese Pflichten wünschen sich die Betroffenen, weil sie dadurch aus den Klauen des Zuhälters herauskommen. Sie unterwerfen sich diesen Pflichten gern,
um von diesen Menschenhändlern freizukommen, die
sie auf schändliche Weise malträtieren . Das ist die Logik
dieser Verpflichtungen, die eigentlich keine Verpflichtungen zulasten der Betroffenen sind, sondern zugunsten der
Betroffenen . Das muss man verstanden haben, wenn man
über dieses Milieu redet .
({2})
Ich schließe die Aussprache .
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfes auf der Drucksache 18/4613 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . Gibt
es dazu andere Vorschläge? - Das ist offensichtlich nicht
der Fall . Dann ist die Überweisung so beschlossen .
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b auf:
a) Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Erinnerung und Gedenken an den Völker-
mord an den Armeniern und anderen christ-
lichen Minderheiten in den Jahren 1915 und
Drucksache 18/8613
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla
Jelpke, Katrin Kunert, Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
100. Jahresgedenken des Völkermords an den
Armenierinnen und Armeniern 1915/1916 Deutschland muss zur Aufarbeitung und Versöhnung beitragen
Drucksachen 18/4335, 18/7909
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen . Dazu höre und
sehe ich keinen Widerspruch . Also können wir so verfahren .
Meine Damen und Herren, zu dieser Debatte begrüße
ich auf der Ehrentribüne besonders herzlich die Vertreter der Botschaften Armeniens und der Türkei.
({1})
Ich freue mich, dass Sie meiner Einladung gefolgt sind
und sich ein persönliches Bild davon machen, wie ernsthaft und differenziert der Deutsche Bundestag mit diesem Thema umgeht .
Ein Parlament ist keine Historikerkommission und
ganz gewiss kein Gericht . Der Deutsche Bundestag kann
und will jedoch unbequemen Fragen und Antworten
nicht aus dem Weg gehen, zumal dann, wenn - wie bei
dem Völkermord an den Armeniern und anderen christlichen Minderheiten vor 100 Jahren im Osmanischen
Reich - das Deutsche Reich selbst Mitschuld auf sich
geladen hat .
Wir Deutsche wissen aufgrund der dunklen Kapitel
unserer eigenen Geschichte vielleicht noch mehr als andere, dass der Umgang mit historischen Geschehnissen
außerordentlich schmerzhaft sein kann . Wir haben aber
auch erfahren dürfen, dass eine ehrliche und selbstkritische Aufarbeitung der Vergangenheit nicht die Beziehungen zu anderen Ländern gefährdet; sie ist vielmehr
Voraussetzung für Verständigung, Versöhnung und Zusammenarbeit .
({2})
Ich habe bei gleicher Gelegenheit schon vor einem
Jahr darauf hingewiesen, dass wir die türkische Bereitschaft, heute, in der Gegenwart, Verantwortung insbesondere für das Schicksal von Flüchtlingen zu übernehmen,
ausdrücklich würdigen, wenn wir an das Bewusstsein
und auch die Verantwortung für die eigene Vergangenheit appellieren . Die heutige Regierung in der Türkei ist
nicht verantwortlich für das, was vor 100 Jahren geschah,
aber sie ist mitverantwortlich für das, was daraus in Zukunft wird .
({3})
Meine Damen und Herren, im Vorfeld der heutigen
Debatte kam es neben Protesten und Demonstrationen
auch zu zahlreichen Drohungen, insbesondere gegenüber
Kolleginnen und Kollegen mit einem türkischen Familienhintergrund - bis hin zu Morddrohungen . So selbstverständlich wir jede Kritik akzeptieren, auch unsachliche,
polemische und aggressiv vorgetragene Kritik, so klar
muss auf der anderen Seite sein: Drohungen mit dem
Ziel, die freie Meinungsbildung des Deutschen Bundestages zu verhindern, sind inakzeptabel .
({4})
Wir werden sie nicht hinnehmen und uns ganz gewiss
von ihnen nicht einschüchtern lassen . Wir nehmen unsere
Verantwortung wahr .
({5})
Ich eröffne die Aussprache und erteile als Erstes das
Wort dem Kollegen Rolf Mützenich für die SPD-Fraktion .
({6})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer
alles gelesen hat, weiß, dass der heutige Antrag auf Bundestagsdebatten aus dem Jahr 2005, aus dem letzten Jahr
und aus diesem Jahr basiert . Ich bin froh, dass wir einen
gemeinsamen Antrag formuliert haben . Persönlich sage
ich: Ich hätte mir einen Antrag aller Bundestagsfraktionen gewünscht . Aber anscheinend schwingt in dieser Debatte nicht nur ein Tabu mit, sondern noch ein weiteres .
Deswegen sage ich: Ich hoffe nicht, dass dem erneut ein
Handschlag vorausgehen muss, aber irgendwann wird es
so sein, dass wir zumindest bei diesen Themen einen gemeinsamen Antrag formulieren .
({0})
Meine Damen und Herren, der Antrag ist keine Klageschrift . Ich sage sehr deutlich für meine Fraktion: Demonstrationen sind zulässig, aber genauso zulässig ist,
dass der Deutsche Bundestag aus den Debatten über den
Völkermord politische Schlussfolgerungen zieht . Das
steht einem selbstbewussten Parlament gut zu Gesicht,
und deswegen sage ich sehr eindeutig: Wir als Abgeordnete lassen uns nicht einschüchtern, und zwar - das sage
ich gleichzeitig - egal von welcher Seite .
({1})
Dieser Antrag ist in der Tat auch ein Appell zur Aufarbeitung und zur Selbstverantwortung der Türkei . Letztlich gehört aber eben auch die armenische Seite mit
dazu - ich finde, auch das wird in diesem Antrag sehr
deutlich -; denn wir wollen zukünftig in der Region des
größeren Kaukasus keine weiteren Spannungen sehen .
Deswegen bieten wir als Deutscher Bundestag gemeinsam mit der Bundesregierung Unterstützung an, damit
dort, wo der Versuch unternommen wird, Schritte zur
Entspannung zu gehen, dies auch geschehen kann . Das
halte ich für legitim . Ich glaube, dazu muss auch der
Deutsche Bundestag etwas sagen dürfen und können,
({2})
insbesondere weil Deutschland zurzeit den Vorsitz bei
der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in
Europa hat . Im Grunde genommen ist der Kern der Entspannungspolitik, die auch den Kalten Krieg überwunden hat, dass viele Länder versuchen, über ihre Streitpunkte hinaus internationale und regionale Institutionen
zu nutzen, um Versöhnung zu schaffen .
Präsident Dr. Norbert Lammert
Zweiter Punkt . Wir wollen, dass gerade junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler - ich sage ganz offen,
dass ich große Hoffnung in die junge Generation habe,
die oft viel bereiter ist, in diese Richtung zu gehen - zum
Beispiel mit Stipendien unterstützt werden, um die gemeinsame historische Aufarbeitung voranzubringen .
Dritter Punkt . Dies möchte ich auch an die Repräsentanten der beiden Länder sagen: Im Jahre 2009 sind unter
Schweizer Vermittlung die Zürcher Protokolle zustande
gekommen, wo es eben diesen Aussöhnungsprozess gegeben hat . Ich bitte darum, dass beide Parlamente demnächst versuchen, endlich eine Ratifikation dieser Protokolle vorzunehmen .
({3})
Letzter Punkt . Der Deutsche Bundestag stellt sich
der Verantwortung und hat auch das Recht, die deutsche
Mitschuld zu betonen . Auch deswegen reden wir heute
darüber . Wir erinnern daran, dass es mutige Diplomaten
waren, Krankenschwestern, aber eben auch Politiker wie
Eduard Bernstein und Karl Liebknecht, die auf die Verfolgungen hingewiesen haben. Deswegen, finde ich, ist
es das Recht und auch die Pflicht des Deutschen Bundestages, über dieses Thema zu reden .
({4})
Die Vertreibung der armenischen Volksgruppe während des Ersten Weltkrieges wurde „in der Absicht begangen . . ., eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse
Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“ . Das
ist ein Zitat aus der Völkermordkonvention, die - das ist
richtig; dies wird uns oft vorgehalten - eben nicht gilt,
weil sie erst 35 Jahre später in Kraft getreten ist und erst
1954 durch den Deutschen Bundestag ratifiziert worden
ist . Aber sie hat Relevanz, weil der maßgebliche Autor
Raphael Lemkin gerade vor dem Hintergrund der Verfolgung der Armenier zu der Schlussfolgerung gekommen
ist: Internationale Institutionen wie die Vereinten Nationen müssen gegen Völkermord aufstehen . Deswegen,
glaube ich, ist es legitim, auf diese Relevanz hinzuweisen .
({5})
Ein weiterer Punkt. Die Konvention definiert Völkermord unabhängig davon, ob es „im Frieden oder im
Krieg begangen“ wurde . Auch das greift eine Diskussion
auf, die uns oft begegnet, wenn wir über den Völkermord
sprechen und gesagt wird: Das ist im Krieg passiert . Ich sage sehr eindeutig: Krieg relativiert nichts, wenn
die Menschenrechte verletzt werden . Das hat auch einen
aktuellen Bezug . Wie sollten wir in Zukunft gegen diejenigen vorgehen, die schwerste Menschenrechtsverletzungen zum Beispiel in Syrien begehen, wenn der Krieg
relativieren würde?
({6})
Deswegen sage ich sehr eindeutig: Wenn wir heute Völkermord mit den Mitteln des internationalen Rechts bestrafen wollen, so spricht nichts dagegen, die Konvention
aus ihrer Entstehung heraus zu würdigen .
Ich würde gerne eine weitere grundsätzliche Bemerkung machen . Gegenstand der Debatte ist der Völkermord an den Armeniern und nicht die Beurteilung Präsident Erdogans .
({7})
Ich denke, in dieser Debatte sollte man das auseinanderhalten . Ich weiß, Max Weber würde ihn vielleicht
als Prototypen des autoritären Herrschers sehen, aber
das sei dahingestellt . Ich glaube, diese Debatte hilft so
nicht weiter . Sie hilft nicht weiter, weil man Außenpolitik nicht mit Schaum vor dem Mund machen darf . Ich
gebe insbesondere zu bedenken, dass dies vielleicht die
Allmachtsfantasien von geglaubten Alleinherrschern befördert . Deswegen sage ich sehr deutlich: Wir müssen
aufpassen, nicht nur eine Person verantwortlich zu machen . Es gibt mehrere, die willfährig sind . Wir brauchen
deshalb eine differenzierte Debatte, insbesondere wenn
wir versuchen, mit der türkischen Republik auf gleicher
Augenhöhe manches aufzuarbeiten, was in dieser Zeit
geschehen ist . Nur die Widersprüche, die es in diesem
Land gibt, machen einen Präsidenten Erdogan erst möglich . Deswegen sage ich als Demokrat sehr deutlich: Wir
dürfen nicht vergessen - egal, wie wir das beurteilen -,
dass er immerhin die Mehrheit der Wählerstimmen bekommen hat . Dennoch gibt es manche Bedenken, die wir
offen genug formuliert haben .
Ich will eine Sorge, die im Hinblick auf die Außenpolitik nicht ganz uninteressant ist, hinzufügen: Präsident
Erdogan und seine AKP repräsentieren den politischen
Islam . Der politische Islam wird in der Türkei teilweise
als Vorbild gesehen . Deswegen appelliere ich sehr deutlich an die AKP: Wenn sie irgendwann einmal nicht mehr
die Mehrheit in der Türkei hat, muss sie andere politische Kräfte an die Regierung lassen. Ich finde, das ist der
Auftrag, der von dieser Seite zumindest angesprochen
werden muss .
({8})
Dennoch, glaube ich, sind Veränderungen möglich .
Sie kommen natürlich insbesondere aus der türkischen
Gesellschaft. Wir können von außen wenig beeinflussen,
aber ich bin zuversichtlich; denn das, was ich vonseiten
der Zivilgesellschaft, in den Medien und in vielen Gesprächen erlebe, zeigt eine viel größere Differenzierung .
Als Sozialdemokrat sage ich: Natürlich irritiert es mich,
wenn auch die Partei, zu der wir in der Vergangenheit
enge Kontakte gehalten haben, im Parlament der Aufhebung der Immunität zustimmt .
({9})
Auch deswegen müssen wir das eine oder andere hier
durchaus ehrlich benennen .
({10})
Wenn wir nur wenige Möglichkeiten haben, dann müssen wir sie nutzen . Ich bin der Bundeskanzlerin dankbar,
dass sie bei ihrem letzten Besuch endlich mit Vertretern
der Zivilgesellschaft zusammengetroffen ist . Aber ich
hätte mir viel mehr gewünscht, dass sie - genauso wie
bereits der deutsche Außenminister - frühzeitig auch mit
der Opposition und insbesondere mit Mitgliedern der
HDP-Fraktion zusammengetroffen wäre . Das wäre möglich gewesen .
({11})
Ich glaube, sie sollte sich überlegen, ob sie das nicht
nachholen kann .
Ich finde, umso mehr müssen wir auf die Regeln der
Zusammenarbeit achten . Es ist unsere Aufgabe - das ist
genauso wichtig -, uns frühzeitig gegen autoritäre Ansprüche in der Europäischen Union zu wehren . Nur das
ist nach meinem Dafürhalten das richtige Signal an die
Türkei .
Meine Damen und Herren, wir wissen aus Erfahrung,
wie mühevoll und schmerzlich die Aufarbeitung der eigenen Geschichte sein kann . Dennoch sollten auch die
politisch Verantwortlichen in Ankara und Eriwan wissen:
Ein solches gemeinsames Vorhaben ist kein Zeichen von
Schwäche . Im Gegenteil: Nur so können neues Vertrauen
und menschliche Stärke wachsen . Die Türkei hat Juden
vor dem von Deutschland entfachten Holocaust gerettet .
Wir Sozialdemokraten erinnern uns mit Dankbarkeit an
die Aufnahme politisch Verfolgter; ich denke etwa an
Ernst Reuter . Heute wünschen wir uns eine Türkei, die in
vergleichbarer Offenheit und Größe einem dunklen Kapitel ihrer Geschichte gerecht wird .
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit .
({12})
Gregor Gysi ist der nächste Redner für die Fraktion
Die Linke .
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Kauder, ich hatte so sehr gehofft, dass Sie
eine Krankheit überwinden, wenn ich als Fraktionsvorsitzender aufhöre; aber Sie leiden immer noch schwer
darunter . Ich muss es der Bevölkerung erklären: Es gibt
eine pathologische, also krankheitsbedingte Ausschließeritis . Diese Krankheit führt dazu, dass sie mit den Linken
zusammen keinen Antrag einbringen .
({0})
Glauben Sie mir: Sie müssen sich einen Ruck geben .
Es ist ganz einfach, sich therapieren zu lassen: Sie müssen ein paar demokratische Grundsätze akzeptieren .
({1})
Sie müssen akzeptieren, dass ein Parlament Ausdruck
unterschiedlicher Interessen ist . Sie müssen Toleranz
entwickeln,
({2})
und Sie sollten nicht vergessen, dass im September dieses Jahres in Berlin Wahlen sind . Vielleicht - ich weiß es
ja nicht - kommt meine Partei an die Regierung;
({3})
dann brauchen Sie uns . Das ist mit krankhaften Leuten
immer schwer hinzubekommen .
({4})
Nun zum Inhalt . Nach Frankreich, der Schweiz, Zypern, der Slowakei, Litauen, den Niederlanden, Schweden, Italien, Belgien, Russland, dem Vatikan, Kanada,
Chile, Argentinien, Venezuela und Uruguay gedenkt nun
auch der Bundestag der Opfer der Deportationen und
Massaker im Osmanischen Reich, der fast vollständigen
Vernichtung der armenischen Bevölkerung in Anatolien
vor genau 100 Jahren . Endlich müssen auch wir es als
das benennen, was es war: ein Völkermord an 1,5 Millionen Armenierinnen und Armeniern . Auch aramäisch-assyrische und chaldäische Christinnen und Christen sowie
Pontosgriechinnen und -griechen wurden gejagt und umgebracht .
Es gibt eine historische Mitverantwortung Deutschlands; darauf hat der Bundestagspräsident zu Recht hingewiesen . Das Deutsche Reich als Verbündeter des Osmanischen Reiches im Ersten Weltkrieg leistete Beihilfe
zum Völkermord . Wir müssen deshalb sehr aktiv an der
Aufklärung der Hintergründe und der Beteiligung mitwirken .
({5})
Allerdings müssen wir, das heißt der Bundestag, uns
auch noch klar und unmissverständlich zu den Ermordungen und Grausamkeiten gegenüber den Herero und
Nama zwischen 1904 und 1908 in der damaligen Kolonie
Deutsch-Südwestafrika erklären . Das steht noch aus .
({6})
Wir wissen aus eigener Geschichte über die Schwierigkeiten, sich den Verbrechen aus der eigenen Bevölkerung zu stellen . Im Westen - nicht im Osten - dauerte es
bis 1968, also 23 Jahre, bis sich die jüngere Generation
gegen das Verschweigen der Naziverbrechen auflehnte . Es dauerte sogar 40 Jahre, bis sich Bundespräsident
Richard von Weizsäcker 1985 endlich klar zu den Verbrechen der Nazidiktatur bekannte, für das gesamte deutsche Volk die historische Verantwortung dafür übernahm
und das Ende des Krieges als Tag der Befreiung auch für
das deutsche Volk deklarierte .
({7})
Heute ist das kein Problem mehr, von der Union bis zur
Linken . Wir können gemeinsam die Naziverbrechen verurteilen . Das geschieht ja auch .
Ich weiß, dass Flüchtlinge damals auch über die Türkei gerettet wurden . Dafür gebührt der Türkei nach wie
vor unser Dank .
({8})
Ich möchte aber hinzufügen, dass die Verbrechen der
Nazidiktatur einzigartig sind und nicht mit anderen geschichtlichen Vorgängen verglichen werden sollten, auch
nicht mit den Verbrechen des Osmanischen Reiches .
Gerade deshalb frage ich mich, warum es der türkischen
Regierung 100 Jahre nach dem Völkermord an den Armenierinnen und Armeniern immer noch nicht möglich
erscheint, dies ehrlich einzuräumen und aufzuarbeiten,
({9})
und stattdessen Regierungen und Ländern, die das Verbrechen des Völkermordes benennen, droht .
Es ist auch nicht hinnehmbar, wenn unsere Abgeordnete Sevim Dağdelen - ich nehme an, Cem Özdemir,
dem Kollegen der Grünen, geht es genauso - in den sozialen Netzwerken und im Internet mit Hassmeldungen
bedroht wird und Morddrohungen erhält . Der Bundestag
muss diese Angriffe auf unsere Abgeordneten entschieden zurückweisen . Ich danke dem Bundestagspräsidenten dafür, dass er das schon getan hat .
({10})
Wenn der Bundestag dies zurückweist und sich von den
Drohungen durch Präsident Erdogan nicht einschüchtern
lässt, dann beweist er Souveränität und setzt ein spätes,
aber wichtiges Signal .
Auch aktuell ist dieses Signal wichtig . Die Problematik der hohen Zahl an Flüchtlingen über ein finanziell und
wirtschaftlich schwaches Griechenland und die Türkei
lösen zu wollen, scheint mehr als absurd . Natürlich muss
man helfen, auch und gerade der Türkei . Man muss dann
aber auch dafür sorgen, dass das Geld wirklich bei den
Flüchtlingen ankommt .
In der Türkei werden Menschenrechtsverletzungen
begangen . Eine Regierung ist nur dann souverän und aufrichtig, wenn sie diese klar benennt und verurteilt - nicht
nur, wenn es ihr politisch passt, sondern immer ({11})
und wenn sie sich von keiner anderen Regierung nötigen
oder gar erpressen lässt .
Was erleben wir jetzt in der Türkei? Wir erleben das
Verbot der größten Oppositionszeitung . Wir erleben, dass
138 Abgeordneten der Opposition nach einer Verfassungsänderung Verfolgung droht; überwiegend sind es
die Mitglieder der kurdischen Demokratischen Partei der
Völker, der HDP . Wir erleben darüber hinaus eine Verfolgung von Kurdinnen und Kurden in der Türkei . Wir
erleben die Bombardierung der Kurdinnen und Kurden
durch die Türkei in Syrien . Das sind aber jene Menschen,
die den aktivsten Kampf gegen die schlimmste Terrororganisation, den „Islamischen Staat“, am Boden führen .
Die Türkei hat alle Grenzübergänge zu Syrien dort geschlossen, wo die Kurdinnen und Kurden herrschen, lässt
aber im Interesse des Nachschubs alle Übergänge offen,
wo der „Islamische Staat“ herrscht .
Es demütigt uns alle, dass die Bundeskanzlerin zu all
diesen Menschenrechtsverletzungen mehr schweigt als
spricht und sich bei Präsident Erdogan eher anbiedert . So
bewältigt sie die Flüchtlingsfrage nie .
({12})
Heute fehlt sie, ebenso Vizekanzler Gabriel . Der Außenminister fehlt ebenfalls . Das ist auch nicht besonders mutig .
Wir müssen aber auch der Menschen im Osmanischen
Reich gedenken, die Widerstand leisteten und sich gegen
den Völkermord stellten . Darunter waren auch ranghohe
osmanische Staatsbeamte und Gouverneure . Ich nenne Faik Ali Bey, Mechmet Celal Bey, Mustafa Aga
Azizoglu und Hüseyin Nesimi Bey . Sie alle stehen für
den Widerstand . Sie haben sich den Deportationsbefehlen widersetzt und mussten das zum Teil mit ihrem Leben
bezahlen . - Ich kann heute nicht über das Verhältnis von
Armenien und Aserbaidschan sprechen, bei dem wir die
Rolle Armeniens kritisch sehen . Das ist nicht das Thema;
das machen wir ein anderes Mal .
Liebe Türkinnen und Türken, liebe deutsche Staatsangehörige türkischer Herkunft, bitte glauben Sie mir: Nur
wenn man die historische Verantwortung für begangene
Verbrechen übernimmt,
({13})
wird der Weg der Aussöhnung mit den Armenierinnen
und Armeniern und anderen frei . Ich kenne viele, die
diesen Weg gehen . Aber es müssen noch mehr werden,
bis hin zur türkischen Regierung, zum türkischen Präsidenten und irgendwann vor allem auch zum türkischen
Parlament .
({14})
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht nun der Kollege
Franz Josef Jung .
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir beenden heute
eine Debatte, die wir am 100 . Jahrestag der Vertreibung
und des Massakers an den Armeniern sowie den assyrischen, aramäischen und chaldäischen Christen und ebenso den Pontosgriechen und anderen christlichen Minderheiten begonnen haben . Ich bin froh darüber, dass es uns
gelungen ist, diesen gemeinsamen Antrag mit der Überschrift „Erinnerung und Gedenken an den Völkermord an
den Armeniern und anderen christlichen Minderheiten in
den Jahren 1915 und 1916“ zu entwickeln . Ich will auch
daran erinnern, dass in der Debatte am 24 . April letzten
Jahres bereits der Bundestagspräsident sehr deutlich von
„Völkermord“ gesprochen hat und ebenso unsere Redner
und einen Tag zuvor unser Staatsoberhaupt, der Bundespräsident, diese Formulierung gewählt haben .
Meine Damen und Herren, der historische Anlass gebietet das gemeinsame Gedenken . Es ist auch Ausdruck
des tiefen Respekts und des Mitgefühls gegenüber den
Opfern und gegenüber den Armeniern als eine der ältesten christlichen Nationen . Bis zu 1,5 Millionen Menschen haben bei diesem Massaker ihr Leben verloren . Es
war die fast vollständige Vernichtung der Armenier im
Osmanischen Reich .
Wir bezeichnen das Massaker in Übereinstimmung
mit der Definition der Vereinten Nationen nicht nur als
das, was es war, nämlich Völkermord, sondern machen
auch die Mitverantwortlichkeit des Deutschen Reiches
deutlich, des damaligen militärischen Hauptverbündeten
des Osmanischen Reiches, das trotz entsprechender Informationen nicht versucht hat, dieses Verbrechen gegen
die Menschlichkeit zu stoppen .
({0})
Wir Deutsche wissen sehr genau, wie schwierig die
Aussöhnung mit den Nachbarn bzw . den Völkern ist, denen man unzähliges Leid zugefügt hat . Wir verkennen
hierbei nicht die Einzigartigkeit des Holocaust; dieser
nimmt in der Geschichte eine schreckliche Sonderstellung ein . Aber ich will insbesondere auch gegenüber der
türkischen Regierung und der Bevölkerung zum Ausdruck bringen: Man muss zwischen der Schuld der damaligen jungtürkischen Regierung und der Verantwortung
für die Gegenwart und die Zukunft deutlich unterscheiden . Uns geht es nicht darum, die Türkei an den Pranger
zu stellen oder auf die Anklagebank zu setzen . Uns geht
es darum, deutlich zu machen, dass zur Aussöhnung die
Verantwortung für die gemeinsame Vergangenheit unabdingbar ist .
({1})
Nur wer sich zur Vergangenheit bekennt, kann Versöhnung und somit die Zukunft gestalten .
Uns verbindet mit der heutigen Türkei sehr viel . Sie
ist für uns ein wichtiger Partner . Wir sind gemeinsam in
der NATO, in der OSZE und im Europarat . Zwischen unseren Ländern bestehen gute wirtschaftliche, kulturelle
und zivilgesellschaftliche Beziehungen . 3 Millionen Mitbürgerinnen und Mitbürger türkischer Herkunft sind ein
Teil unseres Landes . Gerade deshalb ist es uns besonders
wichtig, den Weg der Aufarbeitung der Vergangenheit zu
beschreiten, um Fortschritte für die Zukunft und damit
für die Aussöhnung zu erreichen .
({2})
Meine Damen und Herren, der Versöhnungsprozess
ist gestoppt worden . Wir wollen einen neuen Impuls zur
Versöhnung setzen . Wir fordern deshalb in unserem Antrag die Bundesregierung auf, Projekte, die sich der Aufarbeitung der Geschichte und der Annäherung der Menschen in beiden Ländern widmen, zu fördern: Stipendien
für Wissenschaftler und die Unterstützung zivilgesellschaftlicher Kräfte, die sich für Versöhnung einsetzen .
Es hat übrigens 2014 von dem damaligen Ministerpräsidenten und heutigen Staatspräsidenten Erdogan eine
Beileidskundgebung gegenüber den Armeniern zu ihrem
Gedenktag gegeben . 2009 - darauf wurde schon hingewiesen - ist in den Zürcher Protokollen zwischen der
türkischen und armenischen Regierung vereinbart worden, dass eine Kommission zur wissenschaftlichen Aufarbeitung und Untersuchung der geschichtlichen Ereignisse eingesetzt wird . Vereinbart wurde, diplomatische
Beziehungen aufzunehmen und die Grenze zu öffnen .
Aber diese Vereinbarungen sind nicht ratifiziert worden.
Meine Damen und Herren, es ist unsere Auffassung, dass
die Ratifizierung dieser Protokolle für beide Seiten ein
Gewinn wäre, und wir wollen einen Impuls setzen, dass
dies in Zukunft möglich wird .
({3})
Wir wollen mit unserem gemeinsamen Antrag deutlich machen, dass wir die Aufarbeitung der Vergangenheit und die Aussöhnung und Annäherung zwischen der
heutigen Türkei und Armenien unterstützen . In Erinnerung an das Unrecht wächst die Aussicht, dass sich dies
nicht wiederholt . Wir sind gemeinsam aufgefordert, alles
zu tun, damit Menschen und Völker nicht Opfer von Hass
und Vernichtung in der Gegenwart und in der Zukunft
werden . Deshalb bitte ich Sie herzlich um Unterstützung
unseres gemeinsamen Antrags .
Ich danke Ihnen .
({4})
Das Wort erhält nun der Kollege Cem Özdemir für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Exzellenzen und Eminenzen! Viele Vertreterinnen und
Vertreter der Aramäer, der Assyrer, der Armenier, der
Chaldäer, der Pontosgriechen und übrigens auch der türkischen Zivilgesellschaft sitzen heute auf der Besuchertribüne . Seien Sie uns alle herzlich willkommen!
({0})
Der Zeitpunkt, um über etwas so unvorstellbar Grausames wie einen Völkermord zu sprechen, ist nie günstig .
Nach einem langen und mühsamen Hin und Her stimmen wir heute über einen Antrag ab, der von Völkermord spricht, klar die deutsche Mitschuld benennt und
feststellt, dass daraus geradezu eine Verpflichtung für
Deutschland erwächst, sich dafür einzusetzen, dass das
Verhältnis zwischen der Türkei und Armenien normalisiert wird und es zu einer Wiederannäherung kommt .
({1})
Ich will zunächst die Gelegenheit nutzen, der Großen
Koalition dafür zu danken, dass sie mit dem gemeinsamen Antrag Wort gehalten hat . Ich will aber auch einen
Dank an die Kirchen für ihre Unterstützung in der Sache
und an unseren Bundespräsidenten und an unseren Bundestagspräsidenten für ihre klaren Worte richten . Ohne
sie hätte es diesen gemeinsamen Antrag heute so nicht
gegeben .
Unseren türkischen Freunden möchte ich sagen: Es
geht nicht um Fingerzeigen, es geht nicht darum, dass
wir moralische Hoheit für uns beanspruchen . Denn wir
bringen diesen Antrag ja gerade nicht ein, weil wir uns
moralisch überlegen fühlen oder uns in fremde Angelegenheiten einmischen wollen, sondern weil es hier eben
auch um ein Stück deutscher Geschichte geht . Ich darf
zitieren . Reichskanzler Bethmann Hollweg sagte:
Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des
Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig, ob
darüber Armenier zu Grunde gehen oder nicht .
Das Ergebnis berichtete Graf von Lüttichau, Gesandtschaftsprediger der Deutschen Botschaft in Konstantinopel, dann 1918 nach Berlin:
In den östlichen Provinzen, also mit Ausschluss von
Konstantinopel und Smyrna und anderen Plätzen in
der westlichen Türkei, sind von der Gesamtbevölkerung 80-90 %, von der männlichen Bevölkerung
98 % nicht mehr am Leben . . . .
Was die Geistlichen anlangt, so sind sie fast völlig
ausgerottet .
Genau deswegen haben wir geradezu eine historische
Verpflichtung, Armenier und Türken aus Freundschaft
zur Versöhnung zu ermuntern .
({2})
Mit Blick auf die in Deutschland lebenden Armenier sage
ich: Das gilt ausdrücklich auch für die in Deutschland
lebenden Armenier .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dass wir in der Vergangenheit Komplizen dieses furchtbaren Verbrechens
geworden sind, darf nicht heißen, dass wir heute zu Komplizen der Leugner werden . Die Aufarbeitung der Schoah
ist die Grundlage unseres demokratischen Deutschlands .
Deshalb ist es Zeit, dass wir nun auch andere Verbrechen von früheren Vorläuferstaaten der Bundesrepublik
Deutschland aufarbeiten . Darum will auch ich ausdrücklich den Völkermord an den Herero und Nama erwähnen .
Auch dieser Völkermord wartet darauf, aufgearbeitet zu
werden .
({3})
Als der Statthalter von Kütahya 1915 den Befehl zur
Verschleppung der armenischen Bevölkerung in seinem
Bezirk empfing, gab er öffentlich bekannt, dass er diesem Befehl nicht Folge leisten werde . Der Gouverneur
von Konya, die Anhänger des Mevlevi-Derwisch-Ordens
in Konya haben genau dasselbe gemacht . Sie haben auf
ihr Herz gehört . Ihr menschlicher Kompass hat nicht versagt . Bei vielen war es der muslimische Glaube oder ihr
Menschenbild, das es nicht zuließ, dass sie diesem niederträchtigen Befehl aus Istanbul Folge leisteten . Vor ihnen und all den mutigen Helden, die es auch in der Türkei
gab, die den Befehl nicht umgesetzt haben, verneigen wir
uns in Hochachtung .
({4})
Auf diese türkischen Schindlers, und nicht auf die Mörder Talat Pascha und Enver Pascha, haben die Menschen
in der Türkei, aber auch die Menschen aus der Türkei, die
in der Bundesrepublik Deutschland leben, allen Grund,
stolz zu sein .
Indem wir den Völkermord anerkennen, die deutsche
Mitverantwortung daran bekennen und die Aufarbeitung
vorantreiben, möchten wir aber auch den Bürgerinnen
und Bürgern in Deutschland mit türkischem Hintergrund
die Möglichkeit geben, Antworten auf die Fragen zu finden, auf die sie in den türkischen Geschichtsbüchern keine Antwort finden. Ich weiß, wovon ich spreche. Wie unser Bundespräsident letztes Jahr in seiner Rede deutlich
gemacht hat: Die heute Lebenden tragen keine Schuld das gilt im Übrigen für uns auch im Zusammenhang mit
der Schoah -, aber eine Verantwortung . Diese Verantwortung tragen wir Deutsche genauso wie die Menschen
in der Türkei .
({5})
Wir wollen niemanden stigmatisieren . Im Gegenteil:
Wir wollen die ermutigen, die Fragen stellen . Ich will
die Gelegenheit nutzen, auch an das Leid der aus dem
Balkan vertriebenen Muslime zu erinnern . Ich will an
das Leid der Tscherkessen erinnern - darunter die Vorfahren meines Vaters -, von denen manche Experten sagen, dass das, was ihnen widerfuhr, auch als Völkermord
beschrieben werden kann . Auch ihre Geschichten warten
darauf, erzählt zu werden, damit künftige Generationen
ein Bild der türkischen Geschichte vermittelt bekommen,
das eben nicht schwarz und weiß ist, sondern bunt und
komplex .
Wenn wir heute in die Region schauen, dann sehen
wir, dass wieder Christen verfolgt werden - im Irak, in
Syrien und auch in der Türkei . Die Orte, in denen diejenigen Armenier angekommen sind, die die Trecks der
Vertreibung überlebt haben, liegen mitten im syrischen
Kriegsgebiet, beispielsweise Aleppo und Deir al-Sor .
Nachdem wir uns alle hier im Haus jahrelang über die
Sanierung von Kirchen in der Türkei freuen durften, werden nun wieder Kirchen verstaatlicht und geschlossen .
Priester dürfen faktisch ihre Ausbildung in der Türkei
nicht mehr machen . Was vielleicht am bittersten ist: „Du
Armenier“ ist schon immer ein Schimpfwort in der Türkei gewesen . Aber es ist heute mehr denn je ein Schimpfwort . Auch ich werde als „Du Armenier“ bezeichnet . Ich
empfinde es nicht als Beleidigung, als Armenier bezeichnet zu werden .
Als jemand, der aus einer sunnitisch-muslimischen
Familie stammt, bin ich in großer Sorge, wenn ich an das
Ostchristentum denke . Christliche Gemeinschaften sind
ausgerechnet an der Geburtsstätte des Christentums von
der Ausrottung bedroht .
„Wenn die Armenier heute noch leben würden, wäre
Van das Paris des Ostens .“ Der dies gesagt hat, war mein
ermordeter türkisch-armenischer Freund Hrant Dink, ein
Journalist, der sich wie kein anderer für die Versöhnung
von Türken und Armeniern in der Türkei eingesetzt und
dafür mit seinem Leben bezahlt hat .
Ich bin dem Bundestagspräsidenten dankbar dafür,
dass er angesprochen hat, dass Bundestagsabgeordnete
für ihre Meinung nicht bedroht werden dürfen . Aber ich
tue mich ein bisschen schwer damit, liebe Kolleginnen
und Kollegen, hier darüber zu reden, weil ich weiß, dass
ich, wenn ich nachher den Bundestag verlasse, nicht verhaftet werde, dass meine Immunität, wenn ich heute nach
Hause gehe, vermutlich nicht aufgehoben wird, dass ich
nicht zusammengeschlagen oder umgebracht werde . Das
gilt nicht für alle unsere Kollegen in der Türkei . Das gilt
nicht für diejenigen, die sich in der Türkei für die Aufarbeitung dieser Verbrechen einsetzen . Deshalb gilt unsere
Solidarität diesen Menschen . Sie haben wirklich etwas
zu befürchten . Sie zahlen einen hohen Preis .
Herzlichen Dank .
({6})
Das Wort hat der Kollege Christoph Bergner für die
CDU/CSU-Fraktion .
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Hochverehrte Gäste! Als wir am 24 . April vergangenen Jahres hier anlässlich des 100 . Jahrestages der Vernichtung der osmanischen Armenier zusammenkamen,
standen Erinnern und Gedenken im Vordergrund unserer Debatte . Aber es ist in dieser Sitzung etwas deutlich
geworden, was zumindest in den Koalitionsfraktionen
zuvor als umstritten galt, nämlich der Umstand, dass
wir nur dann angemessen der Ereignisse von damals gedenken können, wenn wir den Begriff „Völkermord“ zu
ihrer Kennzeichnung gebrauchen . Deshalb kann ich es
nur begrüßen, dass wir heute einen gemeinsamen Antrag
einbringen, der aus wohlerwogenen Gründen den Begriff
„Völkermord“ bereits in der Überschrift verwendet . Ich
weiß: Es wäre sachlich fragwürdig, das Anliegen dieses
Antrags auf diesen Begriff zu reduzieren . Aber da sich
die Vorwürfe und die Kritik der letzten Wochen vor allen Dingen auf diesen Begriff konzentrierten, möchte ich
Verschiedenes klarstellen .
Erstens . Wir verwenden diesen Begriff nicht im Sinne
einer juristischen Anklageerhebung; das wurde bereits
gesagt . Es ist auch mir wichtig, das zu betonen .
Zweitens . Wir fühlen uns genötigt, von Völkermord
zu sprechen, um die Dimension der Tragödie angemessen zu beschreiben, die sich vor 101 Jahren im Osmanischen Reich ereignet hat . Um den Opfern das besondere
Gedenken zu widmen, das ihnen als Opfer einer systematischen und massenhaften Verfolgung und Tötung zukommt, und auch um unsere Mitverantwortung als Deutsche nicht zu bagatellisieren, ist es wichtig, den Begriff
„Völkermord“ unzweideutig zu verwenden .
Meine Damen und Herren, wir verwenden den Begriff „Völkermord“ aber auch, weil wir ihn für unverzichtbar halten und weil nur dieser Begriff die exemplarische Bedeutung der Ereignisse vor über 100 Jahren
verdeutlichen kann . Mir ist ein Satz in unserem Antrag
wichtig - den möchte ich kurz zitieren -, der besagt, dass
die Vernichtung von über 1 Million ethnischer Armenier
„beispielhaft für die Geschichte der Massenvernichtungen, der ethnischen Säuberungen, der Vertreibungen, ja
der Völkermorde, von denen das 20 . Jahrhundert auf absolut schreckliche Weise gezeichnet ist“, steht .
Das kennzeichnet die exemplarische Bedeutung . Herr
Mützenich hat darauf hingewiesen, dass für Raphael
Lemkin der Völkermord an den Armeniern gewissermaßen das erste Lehrstück für die Formulierung der
UN-Konvention gegen Völkermord wurde, die heute
Grundbestandteil des modernen Völkerrechts ist .
Aber wenn ich von der exemplarischen Bedeutung der
Ereignisse von damals spreche, dann möchte ich auch an
die Gedenkrede unseres Bundespräsidenten am 23 . April
2015 erinnern, in der er herausgearbeitet hat, dass das
Streben der Jungtürken, die jungtürkische Ideologie, die
einen ethnisch homogenen, religiös einheitlichen Nationalstaat suchte, das eigentliche Motiv für die Massaker
an den Armeniern und anderen christlichen Gruppen war .
Ich darf auch den Bundespräsidenten kurz zitieren:
Trennung nach Volksgruppen, ethnische Säuberungen und Vertreibungen bildeten Anfang des
20 . Jahrhunderts oftmals die düstere Seite der Entstehung von Nationalstaaten .
Es gehört auch aus meiner Sicht zu den bedrückenden Erfahrungen der Moderne, dass die Entwicklung zur
Volkssouveränität oft mit der Herausbildung ethnischer
Reinheitsideologien verbunden ist . Der britische Soziologe Michael Mann spricht von der „Dunklen Seite der
Demokratie“ und davon, dass mit der Volkssouveränität
Minderheiten in der Sorge leben müssen, dass sie majorisiert werden und ihre Identität unterdrückt wird . Auch
dies macht die exemplarische Bedeutung des Völkermords an den Armeniern aus und bezieht sich nicht nur
auf die Genozide des vergangenen, des 20 . Jahrhunderts;
ich denke in diesem Zusammenhang auch an die bitteren
Erfahrungen beim Scheitern des Arabischen Frühlings,
als mit aufblühender Demokratisierung ethnische, religiöse und konfessionelle Konflikte aufgebrochen sind, als
Staatengebilde in Bürgerkriegen versanken und versinken, wie wir es heute noch in Syrien erleben .
Herr Kollege, achten Sie bitte auf die Zeit .
Deshalb sollte - damit schließe ich, Herr Präsident der Völkermord an den Armeniern für uns nicht nur ein
Anlass zum fortwährenden Gedenken an die Opfer sein,
sondern er gibt auch Stoff, über die Entwicklung moderner Staaten und Nationen und über die Bedingungen der
Entstehung souveräner Völker nachzudenken .
Herzlichen Dank .
({0})
Ich erteile das Wort nun dem Kollegen Dietmar Nietan
für die SPD-Fraktion .
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Vor über 101 Jahren nahm eines der großen
Menschheitsverbrechen des 20 . Jahrhunderts seinen
Lauf . Die Regierung des Landes, welches damals seinem
Verbündeten hätte in den Arm fallen können, ja hätte in
den Arm fallen müssen, ließ die Barbarei in zynischer
Menschenverachtung einfach geschehen . Das Land, von
dem ich hier spreche, heißt Deutschland .
Im damaligen Osmanischen Großreich mussten in
den Jahren 1915 und 1916 Hunderttausende unschuldige
Männer - insbesondere aber auch Frauen und Kinder erleben, dass sie nachts aus ihren Häusern gerissen und,
ohne genügend Essen und Wasser zu haben, auf Todesmärsche in die Wüste geschickt wurden, um sie jämmerlich - man muss es so hart sagen - verrecken zu lassen .
Als ob das nicht schon schlimm genug gewesen wäre,
wurden sie auf diesem Weg Räuberbanden anheimgegeben, die massenhaft Frauen vergewaltigten und ihnen
noch das Letzte nahmen, was sie vielleicht auf der Flucht
hatten mitnehmen können .
Aghet, die große Katastrophe, ist - das ist hier schon
betont worden - eben kein Kollateralschaden der Kriegswirren der damaligen Zeit . Die systematische Vertreibung und Vernichtung der anatolischen Armenier wie
auch der Aramäer, Assyrer, Pontosgriechen und chaldäischen Christen war von staatlichen Stellen auf Befehl
des damaligen jungtürkischen Regimes systematisch
geplant, und sie wurde auch systematisch durchgeführt .
Dieses Verbrechen hatte ein klares Ziel . Es hatte das Ziel,
diese Volksgruppen im damaligen Osmanischen Reich zu
eliminieren . Sicherlich auch dank der Bemühungen von
Raphael Lemkin haben wir mittlerweile in der internationalen Staatengemeinschaft - auch das wurde hier gesagt - einen Begriff für ein so unbegreifliches Verbrechen
gefunden: Völkermord .
Angesichts bestimmter Debatten, die jetzt gerade außerhalb dieses Hohen Hauses stattfinden, möchte ich an
dieser Stelle noch einmal klarstellen: Wir sitzen hier nicht
zu Gericht . Niemand sitzt auf der Anklagebank - weder
Mitglieder der Bundesregierung, die heute nicht auf der
Regierungsbank sitzen, und schon gar nicht das türkische
Volk, dem wir, glaube ich, alle in großer Freundschaft
verbunden sind .
({0})
Ich finde, dass nur derjenige, der unredliche Absichten im Sinn hat, den Text unseres gemeinsamen Antrages
in eine Anklageschrift uminterpretieren kann . Denn die
Überschrift und auch der erste Satz dieses Textes zeigen:
Dies ist keine Anklageschrift, sondern das ist eine Verneigung vor den Opfern .
({1})
Nein, es wird heute keine Anklageschrift und auch keinen donnernden Urteilsspruch geben .
Nun könnte man sich ja fragen: Warum das Ganze?
Die Antwort ist vielleicht so banal wie wegweisend .
Heute wollen wir als Parlament, als die demokratisch
gewählten Vertreterinnen und Vertreter des Souveräns wir, die die Nachfahren derer sind, die damals weggeschaut haben -, uns vor den Opfern verneigen . Wir wollen das in aller Demut und ohne Selbstgerechtigkeit tun .
Wir wollen den Opfern dieses Menschheitsverbrechens
unseren aufrichtigen Respekt zollen . Wenn es darum
geht, aufrichtig zu sein, muss man auch sagen, was war .
Und dann gilt: Ein Völkermord bleibt ein Völkermord
bleibt ein Völkermord .
({2})
Auf diese Klarheit haben die Opfer und ihre Nachfahren schon viel zu lange gewartet . Deshalb kann ich die
Debatten um den Zeitpunkt der heutigen Behandlung
des Themas, die wir in der Öffentlichkeit erleben, nicht
verstehen . Ich glaube, wir müssen nicht kritisieren, dass
wir das heute hier machen, sondern wir müssten uns eher
fragen, ob man nicht kritisieren muss, dass wir es erst
heute, nach 101 Jahren machen .
({3})
Wenn ich sage, dass es gilt, den Respekt vor den Opfern in den Vordergrund zu stellen, dann sollten wir auch
nicht vergessen, dass sich die Opfer nicht mehr wehren
können . Sie können nicht mehr mitdiskutieren . Sie konnten sich auch damals nicht wehren . Auch ihre Nachfahren konnten das nicht, wenn sie von denen, die ihnen das
Leid angetan hatten, im Nachhinein noch verunglimpft
und verleugnet wurden, wenn die Verbrechen relativiert
wurden .
Sie können sich aber auch nicht wehren, wenn heutige Politikerinnen und Politiker, egal auf welcher Seite,
glauben, den Völkermord an den Armeniern zur Keule in
tagespolitischen Auseinandersetzungen machen zu müssen . Wenn man das tut, wird man dem Respekt vor den
Opfern auch nicht gerecht .
({4})
Ich bin auch der festen Überzeugung - ich konnte Entsprechendes in einer Zeitung lesen -, dass das deutsche
Parlament heute hier nicht Rechthaberei betreibt, sondern ich sehe die heutige Debatte auch als eine Selbstbehauptung des Parlaments, das - unabhängig davon,
wie bestimmte Dinge, die wir heute beschließen, von der
Regierung gesehen werden - das Heft des Handelns in
die Hand genommen hat und sich selbst eine Meinung
gebildet hat und sie zum Ausdruck bringt. Ich finde, das
ist keine Schwäche, sondern eine Stärke unserer Demokratie .
({5})
Erlauben Sie mir zum Abschluss, darauf hinzuweisen - Staatsminister Michael Roth hat das vor ein paar
Tagen in der Presse geäußert -: Wir sollten unseren Beschluss nicht überhöhen; denn - da hat der Staatsminister
recht - Versöhnung kann man nicht beschließen .
Deshalb möchte ich zum Schluss meiner Ausführungen einen Appell an alle jungen Menschen, ob sie türkischer, armenischer, deutscher oder welcher Herkunft
auch immer sind, richten: Bitte glauben Sie nicht alles,
was man Ihnen sagt, was in Ihren Schulbüchern steht,
möglicherweise auch das nicht, was wir Ihnen hier heute im Bundestag sagen . Ich bitte Sie darum: Machen Sie
sich selber ein Bild . Schauen Sie sich die Dokumente an,
die im Auswärtigen Amt einsehbar sind, die zu einem
großen Teil ja auf Deutsch sind, weil sie von deutschen
Diplomaten stammen . Bilden Sie sich selber ein Urteil .
Lassen Sie Ihr Herz sprechen, wenn Sie sich diese Dokumente anschauen, und lassen Sie sich nicht, von wem
auch immer, einreden, dass diejenigen, die das Wort
„Völkermord“ in den Mund nehmen, das türkische Volk
beleidigen wollen . Nein, das türkische Volk ist ein großes und starkes Volk, und es hat es nicht nötig, sich vor
seiner Vergangenheit zu verstecken, sondern es kann sich
ihr selbstbewusst und mit Demut stellen . Kämpfen Sie
dafür, dass das geschieht; denn das ist der richtige Weg,
der Verantwortung gerecht zu werden, die uns allen aus
unserer Geschichte auferlegt ist .
({6})
Herr Kollege .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Elie Wiesel hat am
27 . Januar 2000 an dieser Stelle gesagt:
Wer sich dazu herbeilässt, Erinnerungen an die Opfer zu verdunkeln, der tötet sie ein zweites Mal .
Ich bin der festen Überzeugung, dass dieser Appell
von Elie Wiesel von immer mehr Menschen, auch von
immer mehr jungen Menschen in der Türkei, gehört
wird . Sie hören auf ihr Herz . Sie haben ein Herz für die
Opfer . Sie werden sich in Zukunft nicht mehr von staatlichen Stellen ein Geschichtsbild vorschreiben lassen . Das
gibt mir die Hoffnung, dass es Versöhnung geben wird .
In diesem Sinne danke ich Ihnen allen für Ihre Aufmerksamkeit .
({0})
Der Kollege Hans-Peter Uhl spricht nun für die CDU/
CSU-Fraktion .
({0})
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und
Kollegen! „In jeder Geschichte“, sagt Goethe, „selbst
einer diplomatisch vorgetragenen, sieht man immer die
Nation, die Partei durchscheinen, wozu der Schreibende
gehörte .“ Wenn also ein Deutscher über den - ich zitiere
eine 100 Jahre alte Formulierung des deutschen Pfarrers
Johannes Lepsius - „Todesgang des armenischen Volkes“ spricht, wird die persönliche Betroffenheit zu spüren sein .
Wie sehr ein Völkermord, geschehen im Namen des
eigenen Volkes, der eigenen Nation diese Nation belastet,
wissen gerade wir nur zu gut . Der Verleger der Allgemeinen Wochenzeitung der Juden in Deutschland, Karl
Marx, beschrieb im November 1952, wie er alleine mit
dem damaligen ersten Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland, Theodor Heuss, nach dessen Rede
zur Weihe des Gedächtnismales in Bergen-Belsen zu einem Gedenkstein ging, der von den überlebenden Juden
unmittelbar nach der Befreiung errichtet worden war . Er
schrieb:
Wir mußten einen schmalen Pfad zwischen den
Massengräbern passieren . Plötzlich verfärbte sich
Heuss und stützte sich auf mich . Er brachte nur die
Wörter hervor: „Schrecklich, schrecklich“, und zitterte am ganzen Körper .
So der erste Bundespräsident der Bundesrepublik
Deutschland .
In Kenntnis dieses Schrecklichen kam Charles de
Gaulle nach Deutschland und sprach bei seinem ersten
Staatsbesuch 1962 von dem Vertrauen, das er „für Ihr
großes Volk, jawohl! - für das große deutsche Volk,
hege“ .
Genauso sind auch wir bei der heutigen Erinnerung
und dem heutigen Gedenken an den Völkermord an den
Armeniern und anderen christlichen Minderheiten aufgerufen, etwas, auch wenn selbstverständlich, nochmals
auszusprechen: unsere Achtung vor dem bedeutenden
Osmanischen Reich und unseren Respekt vor dem großen türkischen Volk .
Wir sind zuversichtlich, dass auch die türkische Regierung zunehmend verstehen wird, dass es unser nach
dem Zweiten Weltkrieg gewachsenes europäisches Bewusstsein ist, dass man Opfer gedenkt, ohne damit andere in eine Schuldrolle drängen zu wollen . Wir kennen
Albert Schweitzers kulturethische Lehre „Ehrfurcht vor
dem Leben“ . In diesem Sinne und aus keinem anderen
Grunde führen wir die heutige Aussprache .
({0})
Es wird vielfach gesagt: Ist es nicht ungerecht und
in gewisser Weise auch willkürlich, sich in diesem Zusammenhang nur mit dem Osmanischen Reich und den
Armeniern zu beschäftigen? Ich nehme diese Fragen
sehr ernst; denn das, worüber wir heute reden, liegt ja
nun über 100 Jahre zurück . In Abwandlung eines Satzes
von Bundespräsident Gauck kann man darauf antworten,
das Schicksal der Armenier stehe beispielhaft für die Geschichte der Massenvernichtungen, der ethnischen Säuberungen, der Vertreibungen im 20 . Jahrhundert . Mit den
Pogromen an den Armeniern begann es im 20 . Jahrhundert, Massenmord als legitime Antwort auf staatliche und
gesellschaftliche Probleme zu sehen . Natürlich hatte das
Osmanische Reich Probleme mit den Armeniern; das ist
unbestritten . Das Erschrecken darüber war so groß, dass
selbst der als humanistisches Vorbild allseits anerkannte
Reichstagsabgeordnete Friedrich Naumann die Massaker
damals als eine Art Notwehr der Türken bezeichnete .
Die Antwort des Osmanischen Reiches war aber die erste zahlreicher staatsterroristischer Aktionen, mit denen
Staatenlenker auf Massenmord und Völkermord setzten .
Mit Stalins Sowjetunion und ihrem Massenmord an den
Kulaken, dem Genozid an den Ukrainern, den innersowjetischen Säuberungsaktionen und vor allem mit der
durch ihre bürokratisch-perfektionistische Durchführung
unvergleichbaren Vernichtungsaktion der Deutschen an
den Juden nahm das Fürchterliche seinen Verlauf .
In engem Zusammenhang mit dem Heutigen habe ich
im Juni 2000 auf die innere Einheit von Erinnerung und
Zukunft hingewiesen . Ich habe damals gesagt:
… denn ohne Erinnerung und Übernahme der Verantwortung für das Geschehene kann es keine gedeihliche Zukunft geben, kein friedliches Miteinander unter Nachbarn .
Das gilt auch für das heutige Miteinander von Türken
und Armeniern . Das ist in diesem Hause unser heutiges
Anliegen: mit dem Blick der Wahrheit zurückzuschauen,
um mit dem Blick des Friedens nach vorne schauen zu
können .
({1})
Albert Weiler erhält nun das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion .
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Armenierinnen und Armenier! Liebe Türkinnen und Türken!
Sireli Hayer! Sevgili Türkler! Danke vorab an den Bundespräsidenten, danke an Norbert Lammert, den Bundestagspräsidenten, aber auch danke an die Kanzlerin und
die Fraktionen, die konstruktiv dazu beigetragen haben,
dass diese Abstimmung heute stattfindet. Vielen Dank!
({0})
„Was hat der Mensch dem Menschen Größeres zu geben als Wahrheit?“ Weise Worte Friedrich Schillers, wie
ich meine .
Als Bundestagsabgeordneter und Präsident des
Deutsch-Armenischen Forums sowie bekennender Christ
liegt mir das Thema Völkermord an den Armeniern und
anderen christlichen Minderheiten, wie zum Beispiel
Aramäern oder Pontosgriechen, im Osmanischen Reich
sehr am Herzen .
Deutschland als damaliger Hauptverbündeter des Osmanischen Reiches darf in Europa auf keinen Fall eine
Ausnahme machen. Wir haben die historische Verpflichtung, die jungtürkischen Gräueltaten beim Namen zu
nennen und als Völkermord zu bezeichnen . Es ist besonders erfreulich, dass sich dabei unsere Koalition und die
Grünen auf einen gemeinsamen, fraktionsübergreifenden
Antrag geeinigt haben .
({1})
Das heißt, an dieser historischen Tatsache gibt es für uns
keinen Zweifel, und es gibt keinen Zweifel daran, wer
Opfer und wer Täter war . Die größte Herausforderung
ist und bleibt weiterhin die schonungslose, kritische und
ehrliche Aufarbeitung und Anerkennung dieser Tatsache
seitens der Türkei . Es fehlt bis heute ein eindeutiges Bekenntnis der türkischen Regierung zu dem Unrecht, das
damals geschehen ist, jenem schrecklichen Unrecht, das
den Armeniern widerfahren ist .
Meine Damen und Herren, mit diesem Antrag wollen wir vor allem diesen schweren Weg bereiten, indem
wir uns auch zu unserer Mitschuld und unserer Mitverantwortung bekennen, weil es ohne Anerkennung keine
Versöhnung und keine Annäherung geben kann . Die Anerkennung des Völkermords ist ein wichtiger Schritt auf
dem Weg zur Verhinderung weiterer Genozide und ein
Weg, den vielen Millionen armenischen Nachkommen
unser Mitgefühl zu erweisen .
Meine Damen und Herren, das Leid kennt keine Zeitgrenzen; der Genozid an den Armeniern gerät nie in
Vergessenheit . Auch nach einem Jahrhundert ist er uns
bewusst . Er ist auch ein Teil unserer gemeinsamen europäischen Vergangenheit . Er beschäftigt uns alle; er geht
uns alle an . Aber wir wollen vorankommen . Wir wollen
auch bei dem schwierigen Verhältnis zwischen der Türkei
und Armenien das erleben, was wir Deutsche erlebt haben, nämlich Vergebung und Versöhnung . Das wäre nicht
geschehen, wenn wir uns nicht der Vergangenheit gestellt
hätten, sie nicht aufgearbeitet hätten - kritisch aufgearbeitet, wissenschaftlich aufgearbeitet, gesellschaftlich
aufgearbeitet . Das war nicht einfach . Das war anstrengend . Meine Damen und Herren, das war schmerzhaft .
Doch ohne die Aufarbeitung wäre uns niemals das Maß
an Vergebung und Versöhnung mit Israel begegnet, das
wir Deutsche seit 1945 erleben durften und erleben dürfen . Mit unserer Anerkennung im Parlament ermutigen
wir auch die türkische Regierung, dass sie diesen ersten
mutigen Schritt zur Anerkennung, Aufarbeitung und Versöhnung unternimmt, der die beiden Länder näher zusammenbringen wird .
Es ist erfreulich, dass es gerade in der heutigen Türkei Menschen gibt, die eine ehrliche Aufarbeitung und
Versöhnung mit Armenien anstreben - Menschen, die an
einer gemeinsamen Zukunft bauen . Mit unserem Antrag
wollen wir auch diese ehrwürdigen Frauen und Männer
bestärken, die bereits mutige Schritte unternehmen, jene
türkischen Intellektuellen, die sich kritisch mit diesem
Teil ihrer Geschichte auseinandersetzen . Wir werden
gemeinsam mit diesen Menschen daran arbeiten, dass
der Genozid von der türkischen Regierung aufgearbeitet
wird zum Wohl der Türkei und Armeniens . Wir wollen
aber keine Schuldzuweisungen . Unser Ziel ist, durch
Anerkennung, Aufarbeitung und Versöhnung zu einer
gemeinsamen Zukunft, zu einem friedlichen Miteinanderleben in dieser Region beizutragen . Genau dieses Ziel
wollen wir gemeinsam erreichen .
Vielen Dank. Çok teşekkürler. Shat shnorhakalutyun.
({2})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Martin Pätzold für die CDU/CSU-Fraktion .
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Der heute dem Deutschen Bundestag vorliegende Antrag soll einen Beitrag zur Versöhnung der
Völker leisten . Eine Aussöhnung zwischen Armenien
und der Türkei ist nur möglich, wenn eine Aufarbeitung
der Geschehnisse von 1915 und 1916 erfolgt .
Ich bin Ihnen, Herr Kauder, sehr dankbar dafür, dass
Sie am 25 . Februar dieses Jahres die ausgestreckte Hand
von Herrn Özdemir angenommen haben und dieses
wichtige moralisch-historische Thema, bei dem wir als
Bundesrepublik Deutschland eine Mitverantwortung tragen, eben nicht zum Parteiengeplänkel gemacht haben,
sondern die Möglichkeit gegeben haben, es interfraktionell zu diskutieren . Noch einmal vielen Dank dafür an
dieser Stelle .
({0})
Sie, Herr Özdemir, haben deutlich gemacht, dass es
Ihnen um das Thema geht, um die Aufarbeitung und auch
um die Fragestellung, wie unterschiedliche Völker in einer friedlichen Welt leben können . Sie haben Ihren persönlichen Hintergrund dargestellt . Bei mir ist es so, dass
ich als Deutscher eine Mutter habe - sie sitzt heute auf
der Besuchertribüne -, die in Armenien geboren ist . Ich
habe zur Kenntnis genommen, lieber Albert, dass du heute etwas Armenisch gesprochen hast, die Sprache habe
ich als Kind gelernt . So bin ich als Deutscher mit armenischen Wurzeln aufgewachsen in dem Bewusstsein, dass
es bei der Fragestellung des Genozids nicht darum geht,
mit dem Finger auf andere zu zeigen und über Schuld
zu diskutieren . Vielmehr geht es darum, Versöhnung und
Aussöhnung zu ermöglichen . Das ist tief in meinem Bewusstsein verankert .
({1})
Und weil das so ist, stellen wir dieses Thema eben nicht
in den aktuellen Kontext . Wir sehen und bewerten, was
die Türkei heutzutage für Flüchtlinge tut . 2,5 bis 3 Millionen Syrer bekommen dort Schutz und werden unterstützt . Die moralische Aufarbeitung des Genozids darf
aber nicht in diesen Kontext gestellt werden .
Mit dem vorgelegten Antrag, den wir heute im Deutschen Bundestag verabschieden werden, machen wir
der Bundesregierung gegenüber erstens deutlich, dass
wir den Versöhnungsprozess unterstützen möchten, und
zweitens, dass wir zivilgesellschaftliche, kulturelle und
wissenschaftliche Aufarbeitung in Armenien und in der
Türkei mit Projekten unterstützen wollen . Wir wollen,
dass man sich in der Türkei, aber auch in Armenien mit
wissenschaftlichen und kulturellen Fragestellungen beschäftigt, sich an die gemeinsame Geschichte und Kultur
erinnert .
Das dritte Thema in unserem Antrag - für mich übrigens vielleicht das wesentliche Thema in Bezug auf die
Fragestellung einer friedlichen Zukunft - ist der Umgang
mit dem Zürcher Protokoll, das - es wurde schon angesprochen - 2009 auf den Weg gebracht wurde, aber nun
ins Stocken geraten ist . In dem Zürcher Protokoll geht es
gerade darum, dass die Grenzen zwischen der Türkei und
Armenien geöffnet werden . In diesem heutigen Europa,
wo Mauern hochgezogen werden, wo Grenzen geschlossen werden, wäre es, auch von dieser Debatte ausgehend,
ein starkes Zeichen, wenn es gelingt, dass die Grenzen
zwischen der Türkei und Armenien geöffnet werden und
dass die Armenier von mehr Handel und von mehr Möglichkeiten einer freien Grenzöffnung profitieren würden.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und vielen
Dank dafür, dass sich der Deutsche Bundestag entschieden hat, den Völkermord in dieser Form anzuerkennen .
({2})
Ich schließe die Aussprache .
Wir kommen zur Abstimmung über den gemeinsamen
Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/
Die Grünen auf der Drucksache 18/8613 mit dem Titel
„Erinnerung und Gedenken an den Völkermord an den
Armeniern und anderen christlichen Minderheiten in den
Jahren 1915 und 1916“ . Zu dieser Abstimmung liegen
mir eine Reihe von persönlichen Erklärungen zur Ab-
stimmung vor, die wir wie immer dem Protokoll beifü-
gen werden .1)
Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Dann ist bei einer
Gegenstimme und einer Enthaltung diese Entschließung
mit einer bemerkenswerten Mehrheit des Deutschen
Bundestages angenommen .
({0})
Wir kommen jetzt zum Tagesordnungspunkt 5 b: Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zum
Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „100 . Jahresgedenken des Völkermords an den Armenierinnen
und Armeniern 1915/1916 - Deutschland muss zur Aufarbeitung und Versöhnung beitragen“ . Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/7909, den Antrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 18/4335 abzulehnen . Wer stimmt für die
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist die Beschlussempfehlung mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der
Fraktion der Grünen und bei Gegenstimmen der Fraktion
Die Linke angenommen .
({0})
- Es kommt ein spannender Tagesordnungspunkt . Aber
wer ihn nicht verfolgen möchte, möge bitte allfällige Gespräche draußen führen .
({1})
Ich rufe Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias
W . Birkwald, Sabine Zimmermann ({2}),
Herbert Behrens, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE
Die Riester-Rente in die gesetzliche Rentenversicherung überführen
Drucksache 18/8610
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({3})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Finanzausschuss
Erster Redner ist der Abgeordnete Matthias W .
Birkwald, Fraktion Die Linke .
({4})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Carsten
Maschmeyer, ein enger Freund von Gerhard Schröder
und Chef eines Finanzvertriebs, schwärmte nach der Ein-
führung der Riester-Rente:
1) Anlage 2
Es ist so, als wenn wir auf einer Ölquelle sitzen . Sie
ist angebohrt, sie ist riesig groß, und sie wird sprudeln .
Aha .
Wie kam es zu Riester? Erstens wollten die Arbeitgeber sich um das Jahr 2000 herum nicht mehr zur Hälfte an
der Finanzierung einer Lebensstandard sichernden Rente
beteiligen . Sie wollten schlicht geringere Rentenbeiträge
zahlen . Zweitens wollte die Versicherungswirtschaft Provisionen mit privater Altersvorsorge kassieren .
Bundeskanzler Schröder und Arbeitsminister Walter
Riester, SPD und Grüne haben die Rente aktiv teilprivatisiert, und das war schlecht .
({0})
So mussten fortan die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber weniger in die Rentenkassen einzahlen, als für eine
gute Rente nötig gewesen wäre, und das war ein politisch
willkürlich in die Rentenkassen gerissenes Loch . Diesem
Loch sollen die Beschäftigen allein mit der Riester-Rente und steuerlichen Zulagen hinterhersparen . Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wurden belastet, und die
Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber wurden entlastet . Die
Linke sagt dazu: Diese Entscheidung war grottenfalsch,
und sie ist grottenfalsch .
({1})
Heute müssen die Arbeitgeber nur 9,35 Prozent des
Lohnes für die Altersvorsorge ihrer Beschäftigten zahlen . So viel zahlen die Beschäftigten ebenfalls . Dazu
kommen aber noch 4 Prozent ihres Lohnes für die Riester-Rente und 1,4 Prozent für die betriebliche Altersversorgung . Die Beschäftigten müssen also 14,75 Prozent
ihres Bruttolohns in die drei Säulen der Altersvorsorge
stecken, um eine Lebensstandard sichernde Alterssicherung zu erhalten .
Durchschnittlich verdienende Beschäftigte mit
3 022 Euro brutto zahlen heute also 163 Euro mehr im
Monat für ihre Altersvorsorge als ihre Chefs . Und weil
die Arbeitgeber zu wenig zahlen, wird das Rentenniveau
von Lebensstandard sichernden 53 Prozent im Jahr 2000
auf bis zu 43 Prozent im Jahr 2030 sinken, und das darf
nicht so bleiben .
({2})
Für die Menschen ist das brutal; denn die Kaufkraft
der gesetzlichen Rente ist massiv geschrumpft . Ein Beispiel: Eine durchschnittliche Rente für langjährig Versicherte mit mindestens 35 Beitragsjahren ist zwischen
2000 und 2014 von 1 021 Euro auf 916 Euro gesunken .
Wenn man die Preissteigerungen seit dem Jahr 2000 berücksichtigt, hätte eine durchschnittliche Rente für langjährig Versicherte 1 284 Euro und nicht nur 916 Euro
betragen müssen . SPD, Grüne und CDU/CSU haben mit
der Riester-Rente und der Absenkung des Rentenniveaus
also dafür gesorgt, dass denen, die Jahrzehnte gearbeitet haben und in die Rentenkasse eingezahlt haben, nun
jeden Monat 368 Euro Rente im Portemonnaie fehlen .
Meine Damen und Herren, das ist unverantwortlich .
({3})
Präsident Dr. Norbert Lammert
Die Rentnerinnen und Rentner werden nicht mehr
vollständig am steigenden Wohlstand in unserem Land
beteiligt . Im Gegenteil: Es gibt immer mehr arme Rentnerinnen und Rentner . Schon heute sind es 3 Millionen .
Das darf nicht so bleiben .
({4})
Es geht auch anders . In unseren Nachbarländern
Dänemark, Schweden, Niederlande, Schweiz und Österreich leben viele Rentnerinnen und Rentner deutlich
besser . In Österreich ist der Beitragssatz seit 1988 stabil .
Er ist etwas höher als bei uns, aber dafür zahlen die Arbeitgeber in Österreich auch mehr in die Rentenkasse ein
als die Beschäftigten . Österreich hat deshalb eine starke gesetzliche Rente . Ein österreichischer Beschäftigter
erhält nach 35 bis 45 Beitragsjahren sage und schreibe
1 820 Euro Rente . Der vergleichbare Beschäftigte in
Deutschland erhält nur 1 050 Euro Rente . 770 Euro mehr,
ganz ohne Riester, dazu sage ich: Das muss drin sein,
auch bei uns .
({5})
Die Riester-Rente kann die Rentenlücke nicht ausgleichen, und die Menschen wissen das . Seit fünf Jahren stagniert die Zahl der Riester-Verträge . Es werden einfach
nicht mehr . Im Gegenteil: Im vergangenen Jahr ging die
Zahl der Neuverträge erneut zurück . Nach 15 Jahren haben nun der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Reiner Hoffmann, CSU-Chef Seehofer, der Wirtschaftsweise Professor Peter Bofinger und viele andere
die Notbremse gezogen . Sie sagen: Schluss mit der steuerlichen Riester-Förderung . - Sie haben recht .
({6})
Meine Damen und Herren, die Riester-Rente ist ineffizient wegen der hohen Verwaltungskosten, die Riester-Rente ist intransparent, weil die hohen Kosten und
die schmalen Renditen für die Verbraucherinnen und
Verbraucher nicht erkennbar sind, die Riester-Rente ist
ineffektiv, weil das Ziel, die Versorgungslücke zu schließen, nicht erreicht wird, und die Riester-Rente ist sozial
ungerecht, weil die staatlichen Subventionen von bisher
35 Milliarden Euro nahezu ausschließlich in die Taschen
der Versicherungsunternehmen geflossen sind. Aus all
diesen Gründen fordert die Linke: Die milliardenschwere
Riester-Förderung muss jetzt gestoppt werden .
({7})
Die Linke legt Ihnen heute eine machbare Alternative
zu dem Riester-Unsinn auf den Tisch .
Erstens . Riester-Sparerinnen und Riester-Sparer sollen
ab sofort das Recht erhalten, das bisher in Riester-Versicherungen angesparte Kapital freiwillig in die umlagefinanzierte gesetzliche Rentenversicherung zu überführen .
Zweitens . Damit entstehen eins zu eins Anwartschaften auf ihrem persönlichen Rentenkonto bei der gesetzlichen deutschen Rentenversicherung .
Drittens . Die Wechselkosten für den Riester-Vertrag
werden auf ein absolutes Minimum begrenzt . Für die bereits eingezahlten Eigenbeiträge und die erhaltenen Zulagen wird selbstverständlich Vertrauensschutz gewährt .
Viertens . Gleichzeitig wird die steuerliche Förderung
der privaten Altersvorsorge eingestellt . Die freiwerdenden Finanzmittel in Höhe von jährlich über 3 Milliarden
Euro fließen direkt in die gesetzliche Rentenversicherung .
Fünftens . Dann werden wieder die Ziele der Lebensstandardsicherung und der strukturellen Armutsvermeidung in der gesetzlichen Rentenversicherung verankert .
Sechstens . Die Kürzungsfaktoren in der Rentenanpassungsformel werden gestrichen .
({8})
Als rentenpolitisches Sicherungsziel wird dann für
die sogenannte Standarderwerbsbiografie - 45 Versicherungsjahre mit einem Durchschnittsgehalt - ein Sicherungsniveau von 53 Prozent vor Steuern festgeschrieben,
also genau so, wie es war, bevor Schröder, Riester und
Fischer das Rentenniveau in den Sinkflug schickten.
Meine Damen und Herren, ich sage Ihnen: Dieses
Rettungsprogramm für die gesetzliche Rente ist verfassungskonform, und es ist finanzierbar. Wir haben den
Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestages
gefragt, ob eine Überführung von Riester-Guthaben in
die gesetzliche Rente mit dem Grundgesetz vereinbar
sei . Die klare Antwort lautet: Solange die Überführung
freiwillig bliebe, gebe es keine verfassungsrechtlichen
Bedenken .
Was würde ein Rentenniveau von 53 Prozent die Beitragszahler und Beitragszahlerinnen sowie die Arbeitgeber und die Arbeitgeberinnen kosten? Der aktuelle Rentenwert müsste ab 1 . Juli von 30,45 Euro auf 33,83 Euro
steigen . Das wäre eine Rentenanpassung von gut 11 Prozent . Sie würde im kommenden Jahr 29,11 Milliarden
Euro kosten . Das klingt viel, ist aber nur eine Beitragssatzerhöhung um 2,3 Prozentpunkte auf 21 Prozent . Beschäftigte mit einem durchschnittlichen Bruttomonatseinkommen von zurzeit 3 022 Euro müssten im Monat
gerade einmal knapp 35 Euro mehr an Beitrag in die gesetzliche Rentenversicherung zahlen und eben nicht die
für Riester-Renten geforderten 4 Prozent vom Bruttoeinkommen . 35 Euro statt 108 Euro - das ist gerecht, und
das ist ein Schnäppchen .
({9})
Denn damit würde eine sogenannte Standardrente nach
45 Berufsjahren von aktuell 1 370 auf 1 522 Euro steigen . Monatlich wären das 152 Euro mehr Rente . Das ist
die linke Alternative zu Riester . Es ist eine gute Alternative, finde ich. Das muss drin sein.
Herzlichen Dank .
({10})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Peter Weiß, CDU/CSU-Fraktion .
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Jeder deutsche Erstklässler weiß: Wenn er sich spätestens zum Beginn der Europameisterschaft im Fußball ein
neues Trikot von seinem Taschengeld kaufen will, dann
kann er das ihm am Monatsanfang von seinen Eltern
ausgezahlte Taschengeld nicht gleich für mehrere große
Eisbecher zu 100 Prozent verausgaben, sondern er muss
etwas davon zurücklegen . Das, was jeder deutsche Erstklässler weiß, wissen, glaube ich, die meisten Menschen
in Deutschland, aber nach dieser Rede muss ich feststellen: Die Linke weiß das nicht .
({0})
Aus dem Bundeshaushalt fließen über 80 Milliarden
Euro jährlich in die gesetzliche Rentenversicherung, die
umlagefinanziert ist.
({1})
Das ist eine großartige Leistung, mit der wir aus Steuermitteln die Renten mit unterstützen . Herr Birkwald hat
von 3 Milliarden Euro gesprochen . Es ist sicherlich noch
mehr, wenn man sich anschaut, was der Staat denjenigen
an Unterstützung gibt, die für die Zukunft noch zusätzlich etwas ansparen wollen, einmal über die Zulage zur
kapitalgedeckten privaten Altersvorsorge, sprich Riester-Sparen,
({2})
und durch den Verzicht auf Steuern auf die sogenannte
Entgeltumwandlung zur Finanzierung einer betrieblichen Altersvorsorge . Aber wenn man auch dieses Geld,
das für das Ansparen für die Zukunft vorgesehen ist, jetzt
einfach eins zu eins nimmt und als zusätzlichen Bundeszuschuss in die Rentenkasse einzahlt, passiert Folgendes:
Der Rentenversicherungsbeitrag sinkt, übrigens auch für
den Arbeitgeber,
({3})
also er spart etwas - das steht im Gegensatz zu dem, was
die Linken wollen -, aber für die Zukunft fehlt das Geld
aus der zusätzlichen Altersvorsorge . Das ist der Effekt
von dem, was die Linken hier vorschlagen .
({4})
Nun hat die Linke gehofft, dass sie mit einem Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages, das sie in Auftrag gegeben hat, ihre Position
untermauert bekommt . Leider hat Kollege Birkwald uns
die letzten Sätze dieses Gutachtens vorenthalten .
({5})
Deswegen lese ich sie Ihnen wortwörtlich vor:
Würden nun in größerem Ausmaß aufgrund der
Übertragung von Altersvorsorgevermögen in die
gesetzliche Rentenversicherung höhere Beitragseinnahmen zu verzeichnen sein, würden die heutigen
Beitragszahler und Rentenberechtigten von einem
niedrigeren Beitragssatz und höheren Renten profitieren. Wenn dann später aus der Übertragung
Rentenleistungen zu gewähren sind, hat dies wiederum Auswirkungen auf den Beitragssatz und die
Rentenhöhe . Durch die höheren Ausgaben ergäben
sich dann ein höherer Beitragssatz und niedrigere
Renten . Benachteiligt wäre insbesondere die spätere
Generation der Beitragszahler .
Das ist das Resümee der Stellungnahme des Wissenschaftlichen Dienstes . Genau so ist es auch .
({6})
Herr Kollege, der Kollege Matthias W . Birkwald würde gerne eine Zwischenfrage stellen . Wollen Sie sie zulassen?
Bitte schön .
Vielen Dank, Herr Weiß . - Herr Weiß, unser Ziel war,
erst einmal herauszubekommen, ob es verfassungsgemäß
wäre, die Riester-Guthaben in die gesetzliche Rentenversicherung zu übertragen . Da hat das Gutachten gesagt:
Ja, wenn das freiwillig erfolgt, ist das so . - Das halte ich
erst einmal fest .
Darüber hinaus hat das Gutachten Ceteris-paribus-Bedingungen genannt . Das bedeutet: Wir sind der Gesetzgeber, uns obliegt es, die Rentenanpassungsformel und
auch die Rentenformel zu ändern, wenn es hier die entsprechende Mehrheit und die politische Einsicht gäbe .
Uns obliegt es, beispielsweise dafür zu sorgen, dass die
Nachhaltigkeitsrücklage stärker wachsen kann und der
Deckel, den es heute gibt, wegfällt . Das heißt, es gibt
zahlreiche Möglichkeiten, dafür zu sorgen, dass das, was
im Gutachten drinsteht, nicht passiert .
Ich will Ihnen noch einmal sagen: In Österreich wird
es genau so gemacht . Dort gibt es eine deutlich höhere
Rente - ich habe Ihnen die Zahlen vorgetragen -, und
alles ist stabil . Deswegen bitte ich Sie: Sagen Sie doch
einmal etwas dazu, dass jemand nach den heutigen Regelungen 108 Euro in Riester stecken muss, wenn er
oder sie durchschnittlich verdient, und dass das mit einer Stärkung der gesetzlichen Rentenversicherung mit
35 Euro für den Arbeitnehmer bzw . die Arbeitnehmerin
und 35 Euro für den Arbeitgeber bzw . die Arbeitgeberin
zu erledigen wäre . Man bräuchte also, wenn man die Zulagen nicht mitrechnet, insgesamt 38 Euro weniger . Der
Punkt ist nämlich, dass wir den Versicherungsunternehmen dieses Geld wegnehmen wollen . Für die Beschäftigten wäre das deutlich besser . Was sagen Sie zu diesem
Argument?
({0})
Herr Kollege Birkwald, Sie machen es nicht besser .
Erstens . Natürlich - da haben die Gutachter recht -:
Wir als Deutscher Bundestag können die Rentengesetzgebung verändern; gar keine Frage . Das machen wir auch
hin und wieder .
Zweitens . Ihre schlichte Behauptung ist: Wenn man
das Geld, das der Staat denjenigen, die für die Zukunft
sparen wollen, wegnimmt und es in die Rentenkasse einzahlt, wird eine höhere Rente herauskommen . - Genau
das ist falsch . Es wäre ein Vorteil für die heutigen Beitragszahler, weil der Beitragssatz sinken würde . Aber es
wäre eine Belastung für die künftigen Generationen, die
auch noch eine Rente bekommen wollen .
({0})
Das ist das Ergebnis der Untersuchung des Wissenschaftlichen Dienstes . Genau das habe ich Ihnen eben vorgehalten, und dem haben Sie auch nicht widersprochen .
({1})
Da Sie auf Österreich und die Schweiz hinweisen,
muss ich Ihnen übrigens sagen: Die Deutsche Rentenversicherung bzw . die gesetzliche Rente steht hervorragend
da . Sie verfügt über eine hervorragende Rücklage .
({2})
Die Österreicher und die Schweizer haben mit der Finanzierung ihrer Rentensysteme schwer zu kämpfen; das ist
leider die Wahrheit .
({3})
Nun will ich ja nicht bestreiten, dass es Reformbedarf
gibt . Wir wollen die Reformen aber nicht so durchführen, wie Sie es machen wollen . Es gibt einen Reformbedarf bei der gesetzlichen Rente, die Gott sei Dank gut
dasteht . So sieht die Gesetzgebung von 2001 zum Beispiel vor, dass es nach dem Jahr 2030 kein Mindestsicherungsniveau mehr gibt . Ich glaube, gerade an die junge
Generation muss es eine klare Ansage geben: Auch für
die Zukunft wollen wir, dass die starke erste Säule der
Altersversorgung in Deutschland, nämlich die gesetzliche Rentenversicherung, stabil bleibt und dass sie eine
Mindestsicherungszusage für die junge Generation beinhaltet . Das ist, glaube ich, eine Reformaufgabe, die vor
uns liegt, eine Aufgabe, die die Bundesregierung im Rentendialog jetzt übrigens auch anpacken will .
({4})
Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland haben schon vor der Rentenreform 2001 gewusst,
dass es sinnvoll ist, die Altersvorsorge nicht nur auf ein
Bein, sondern zumindest auf zwei Beine zu stellen . Die
meisten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben
zum Beispiel die vermögenswirksamen Leistungen, von
denen heute kaum noch jemand spricht, genutzt, um einen Bausparvertrag oder eine Lebensversicherung abzuschließen, oder sie haben sich angestrengt, ein eigenes
Häuschen zu erwerben, auch als Rücklage für die eigene
Altersversorgung . 2001 wurde mit Blick auf das, was die
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland
ohnehin wissen, lediglich ein zusätzlicher Anreiz gesetzt
bzw. eine zusätzliche finanzielle Unterstützung durch
den Staat geschaffen .
Meine sehr geehrten Damen und Herren, das ist eine
Lebensweisheit, die jeder kennt . Wenn ich meine Altersversorgung nicht nur auf ein Bein stelle, sondern sie
auf zwei Beine stelle, ist das mit Sicherheit besser .
Genau darum geht es . Sie betreiben eine Politik, mit
der Sie die Bereitschaft der deutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, ihre Altersversorgung nicht nur
auf die umlagefinanzierte Rente abzustellen, sondern für
sich selber auch noch etwas Zusätzliches anzusparen,
({5})
kaputtmachen . Wir wollen das Gegenteil . Wir wollen
diese Bereitschaft stärken .
({6})
Viel Kritik an der Riester-Rente ist berechtigt . Deswegen ist sie auch reformbedürftig . Ich würde aber niemals
die öffentliche Förderung abschaffen .
Übrigens kommt Folgendes hinzu: Die öffentliche
Förderung der privaten Altersvorsorge ist die einzige Form, bei der auch konkret etwas für Familien mit
Kindern geleistet wird . Für jedes Kind gibt es nämlich
300 Euro jährlich .
({7})
Diese 300 Euro will Herr Birkwald ebenfalls in den großen Topf schmeißen - mit dem Ergebnis, dass die Familien nichts von dem Geld sehen, das man ihnen geben
wollte, damit sie trotz der hohen Aufwendungen für die
Familie ein bisschen finanziellen Spielraum haben, um
zusätzliche Altersvorsorge zu betreiben . Dieses Geld will
Herr Birkwald ihnen wegnehmen und es in den großen
allgemeinen Rententopf schmeißen .
({8})
Damit begehen Sie ein Verbrechen an den Familien
in unserem Land, deren Leistung schlichtweg nicht mehr
anerkannt wird .
({9})
Die Linken wollen die Familien enteignen und dieses
Geld in den großen allgemeinen Rententopf schmeißen .
Das ist die Wahrheit .
({10})
- Das ist so .
({11})
- Es ist so .
({12})
Zweitens . Wir wissen, dass wir für die zusätzliche Altersvorsorge etwas tun müssen . Deswegen sind wir zurzeit in sehr engen Gesprächen und Verhandlungen darüber, die betriebliche Altersvorsorge als eine Möglichkeit
einer kapitalgedeckten Altersvorsorge zu stärken .
Die Gutachten, die von Arbeitsministerium und Finanzministerium in Auftrag gegeben worden sind, liegen
vor . Darin wird uns zum Beispiel empfohlen, dass wir
für Geringverdiener zusätzlich ein eigenes Förderinstrumentarium schaffen . Ja, das ist richtig . Geringverdiener
haben die größten Schwierigkeiten, zusätzlich etwas zu
machen . Deswegen brauchen sie auch zusätzliche Unterstützung . Das wollen wir umsetzen .
In dieser Rentendebatte, die die Linke wieder einmal
angesetzt hat, komme ich auf die Erstklässler zurück .
Wäre das, was da vorgeschlagen worden ist, das Resultat
eines Erstklässlers, das im Zeugnis benotet werden müsste, stünden bei Lesen eine Fünf, bei Rechnen eine Sechs,
bei Märchenerzählen eine Eins .
Vielen Dank .
({13})
Als nächster Redner erhält das Wort Markus Kurth,
Bündnis 90/Die Grünen .
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Nachdem wir hier eben
etwas von Enteignung und Verbrechern gehört haben,
sollten wir jetzt verbal wieder einen Gang zurückschalten . Ich habe immer noch das Gefühl, dass ich auch ohne
Polizeischutz noch ganz gut hier vorne stehen kann .
Kaum ein Satz ist an diesem Pult häufiger gefallen als
der Ausspruch: „Politik beginnt mit dem Betrachten der
Wirklichkeit“,
({0})
und selten war es so einfach wie heute bei diesem Thema . Man muss sich nämlich nur einmal die gesammelten schriftlichen Fragen und mündlichen Anfragen von
Bündnis 90/Die Grünen zum Thema Riester-Rente aus
den letzten anderthalb Jahren angucken, um ein ziemlich
genaues Bild von der Lage zu bekommen .
Wem das zu viel Arbeit ist, dem empfehle ich die Dokumentation unseres Fachgesprächs „Ist Riester noch zu
retten?“ vom März 2015 .
({1})
Dort kann man alles sehr gut nachlesen .
Die nackten Zahlen sind ebenso einfach wie leider
zum Teil auch erschreckend . Wir sehen, dass die Zahl der
Verträge seit einigen Jahren bei über 16 Millionen stagniert . Besorgter stimmen muss allerdings, dass längst
nicht alle Verträge bespart werden . Voll bespart werden
ausweislich der jüngsten Kleinen Anfrage nur noch insgesamt 6 Millionen dieser Verträge .
({2})
Wir müssen sehen, dass die Grundannahmen, die 2001
in einem zugegebenermaßen sehr optimistischen Klima
der Finanzmärkte getroffen worden sind - 4 Prozent
durchschnittliche Rendite, 10 Prozent Verwaltungskostenbegrenzung -, so nicht eingetreten sind .
Letztlich müssen wir uns auch noch einmal anschauen, wie sich die Förderung zwischen den besonders von
Altersarmut bedrohten Geringverdienenden und den
Besserverdienenden verteilt . Da sehen wir eben ganz
klar, dass Geringverdienenden nur ein sehr kleiner Teil
der staatlichen Förderung im Rahmen der Riester-Rente
zufließt und sie überwiegend zur Gruppe derjenigen gehören, die ihre Verträge im Moment beitragsfrei stellen .
Angesichts dieses Gesamtbildes muss man sich also
die Frage stellen: Ist die Riester-Rente geeignet, das Absinken des Rentenniveaus, das mit dem Aufbau der Förderung einherging, auszugleichen? Nein, das ist sie leider
nicht . Insofern kann und muss man zunächst einmal die
Aussage treffen: Als systematische Lösung ist die sogenannte Riester-Rente gescheitert .
({3})
Das bedeutet nicht - das will ich ausdrücklich dazusagen -, dass individuell jeder Vertrag gescheitert ist . Ich
finde, da muss man schon, um die Menschen in diesem
Land nicht zu verunsichern, genau argumentieren . Wer
beispielsweise aufgrund von vielen Kindern eine höhere Zulage bekommt, für denjenigen oder diejenige - das
sind insbesondere die Frauen - wird es sich auch in Zukunft lohnen, den Riester-Vertrag weiterzuführen . Für
diese Personen kommt auch eine angemessene Rendite
heraus . Hier muss man zwischen systematischer und individueller Sicht unterscheiden .
({4})
Peter Weiß ({5})
Was aber die Gesamtlösung anbelangt - das hat inzwischen sogar Herr Weiß von der Union zugegeben -,
besteht dringender Reformbedarf .
({6})
Die Frage ist jetzt: Was tun? Die Lösung, die die Fraktion Die Linke hier vorgeschlagen hat, basiert auf einer
Rechnung, die die langfristigen Kosten vollständig außer
Acht lässt . Sie sagen, dass jetzt, um das Rentenniveau
zu erreichen, wenn man die Riester-Rente abschaffte,
durchschnittlich ein um 70 Euro höherer Beitragssatz
notwendig ist . Sie sagen aber nicht, was das denn in der
Fortschreibung für das Jahr 2030 und darüber hinaus
bedeutet . Sie sagen, dass jetzt eine Beitragssatzerhöhung um 2,3 Prozent notwendig ist . Das bedeutet aber,
dass wir noch die steigenden Beitragssätze ab den Jahren 2025 mit in Rechnung stellen müssen . Ich bitte Sie
also, sozusagen das Gesamtbild zu zeichnen .
Herr Kollege Kurth, Herr Birkwald möchte gern etwas
zum Gesamtbild sagen . Möchten Sie das zulassen?
Ja, ich lasse das zu .
Bitte schön .
Vielen Dank . - Ich habe mit der Kritik gerechnet . Deswegen haben wir auch ausgerechnet, was das Ganze im
Jahr 2029 kosten würde . Dazu muss man aber wissen,
dass das Durchschnittseinkommen nach den Annahmen der Bundesregierung im Jahr 2029 bei 4 400 Euro
und nicht wie heute bei 3 000 Euro liegen würde . Dann
würde das, was ich eben vorgetragen habe, nämlich ein
lebensstandardsicherndes Rentenniveau in der gesetzlichen Rente, 99 Euro mehr im Monat kosten, wäre also im
Jahr 2029 für durchschnittlich verdienende Beschäftigte
sogar immer noch 9 Euro günstiger als heute, also in einer Zeit, in der sie 1 400 Euro weniger an Einkommen
haben . Das kann man nachlesen . Man muss auch bedenken, dass nach dem jetzigen Riester-Gesetz die Menschen in 2029 mit dem dann höheren Gehalt 164 Euro
für die Riester-Rente bezahlen müssten, wenn sie durchschnittlich verdienten .
Ich halte fest: Auch im Jahr 2029 sind nach den jetzigen Daten und Annahmen der Bundesregierung 65 Euro
weniger zu bezahlen, wenn wir die gesetzliche Rente
stärkten und nicht bei Riester blieben . - Ich hoffe, ich
konnte mit diesen Hinweisen helfen .
Sie haben aber, Herr Birkwald, nicht gesagt, bei welchen Beitragssätzen wir dann am Ende im Jahr 2030 landen . Das haben Sie in anderen Debatten gesagt . Da sind
Werte von bis zu 28 Prozent gefallen . - Ja, Sie nicken
und bestätigen das hiermit .
Ich möchte, wenn man den Grundsatz, dass Politik mit
dem Betrachten der Realität anfängt, ernst nimmt, doch
sagen, was dies im Gesamtbild der Sozialversicherungsbeiträge bedeutet .
({0})
Wir wissen ja, dass wir auch in der Kranken- und Pflegeversicherung mit Sicherheit - eine vernünftige Kranken- und Pflegeversorgung wollen ja alle haben - höhere
Beiträge zu gewärtigen haben .
({1})
Der Punkt ist, dass wir uns an dieser Stelle über systematische Lösungen Gedanken machen . Die Lösung, die
Bündnis 90/Die Grünen schon seit Jahren vorschlagen,
ist die Verbreiterung der Bemessungsgrundlage und beispielsweise die Verbreiterung des Sozialschutzes mit der
Bürgerversicherung .
({2})
Auch der Blick ins Ausland, den Sie bemühen, bedarf einer vollständigen Betrachtung . Sie haben eben das
Beispiel Dänemark angeführt . Wir waren gerade letzte
Woche in Dänemark, um uns das dortige System anzusehen . Das Versorgungsniveau ist dort in der Tat deutlich höher . Aber dabei handelt es sich nicht allein um
das gesetzlich garantierte Versorgungsniveau; denn ein
Großteil davon ist auf eine kapitalgedeckte betriebliche
Altersversorgung zurückzuführen, die, weil tariflich breit
abgestützt, nahezu verpflichtend ist. Sie wissen genauso
wie ich - wir waren ja beide dort -, dass das betriebliche
Kapitalvermögen und das in Pensionsfonds gesammelte
Vermögen 200 Prozent des Bruttoinlandsprodukts von
Dänemark entspricht . Das ist für ein Land mit 5,6 Millionen Einwohnern, das das Vermögen seit über 50 Jahren
aufgebaut hat, eine zurzeit noch interessante Perspektive . Auf Deutschland übertragen bedeutete das, dass wir
6 Billionen Euro Kapital ansparen müssten . Allein diese
Größenordnungen zeigen, dass derjenige, der einfach nur
mit dem Finger auf das Ausland zeigt, Äpfel mit Birnen
vergleicht .
({3})
Das Gleiche gilt in anderer Weise für Österreich .
Man darf auch die dortige Rentenversicherung nicht
isoliert betrachten, sondern muss - hören Sie zu, Herr
Birkwald! - auch die Krankenversicherung berücksichtigen, die bei weitaus niedrigeren Beitragssätzen wesentlich stärker steuermitfinanziert ist, sodass sich der
Gesamtsozialversicherungsbeitrag für die Arbeitgeber
anders darstellt .
Ich bitte darum, dass wir, wenn wir internationale Vergleiche ziehen, nicht immer nur sozusagen Scheuklappen
anlegen und einen ganz kleinen Ausschnitt betrachten .
Damit trägt man nichts zur Klärung der Wirklichkeit bei .
({4})
Was wir jetzt vorschlagen, geht allerdings deutlich
über die vagen Andeutungen von Herrn Weiß hinaus . Wir
haben unseren Antrag zur Reform der Riester-Rente eingebracht . Wir werden auch in unserer Partei - das sage
ich offen - noch Diskussionen über Sinn und Unsinn von
Förderung führen . Stand ist, dass diese unsere Fraktion
hier in der Mitte des Hauses vorschlägt, die Förderung
neu zu justieren und sie durch eine Anhebung der Grundzulage, die seit Jahren nicht mehr gestiegen ist, auf Geringverdiener zu konzentrieren .
Gleichzeitig wollen wir ein sogenanntes Basisprodukt
in öffentlich-rechtlicher Trägerschaft einführen . Das
heißt, die Versicherten würden künftig nicht mehr mit
Vertriebskosten, Provisionen und anderem belastet . Das
würde deutlich attraktiver und transparenter für die Versicherten . Es soll ein gutes Angebot mit Wahlmöglichkeiten sein . Versicherte sollen ebenfalls die Möglichkeit haben, geförderte Beiträge in eine Betriebsrente oder auch
in die gesetzliche Rentenversicherung einzuzahlen, die
eine gar nicht so schlechte Rendite aufweist . Das wäre
also echte Wahlfreiheit .
({5})
Das sind, glaube ich, Punkte, die es verdienen, beraten zu werden . Ich sage auch ganz offen: Wir werden sicherlich nicht mit einer reformierten Riester-Rente oder
einem Basisprodukt alleine das 4-Prozent-Rendite-Ziel
erreichen . Darum - auch das sagen wir klar - müssen
wir uns im Zusammenhang mit dem Rentenniveau dringend über eine Mindestsicherung Gedanken machen . Wir
werden dazu Vorschläge machen . Wir wollen das Niveau
stärken . Aber wir wollen kein Wolkenkuckucksheim à la
Linke und auch keine Vorschläge aus dem Bauch heraus
wie die von Sigmar Gabriel, sondern wir wollen finanzierbare Vorschläge machen .
({6})
Außerdem sagen wir: Für jahrzehntelang versicherte Personen muss es eine garantierte Mindestsicherung
geben; das ist die Garantierente . Wenn man die private
Vorsorge attraktiv halten will, dann heißt das auch, dass
private Sparbeträge nicht auf diese Garantierente angerechnet werden dürfen .
Nur durch ein Konzert dieser Gesamtmaßnahmen
kommt man zu einer nachhaltigen Rente, die den Menschen ein verlässliches Niveau verspricht, statt ihnen nur
Sand in die Augen zu streuen .
Vielen Dank .
({7})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Ralf Kapschack, SPD-Fraktion .
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Zuschauerinnen und Zuschauer! Eine ausreichende
Absicherung im Alter ist eines der zentralen Versprechen
des Sozialstaats . Wer jahrelang gearbeitet hat und trotzdem mit der Angst lebt, im Alter in Armut zu fallen, der
hat wenig Vertrauen in diesen Sozialstaat, und er hat auch
wenig Vertrauen in diejenigen, die politische Entscheidungen treffen . Deshalb geht es in dieser Debatte längst
nicht nur um Zahlen .
Für uns steht ohne Frage die gesetzliche Rente im Mittelpunkt der Alterssicherung . Sie muss gestärkt werden .
({0})
Die weitere Absenkung des Rentenniveaus ist aus unserer Sicht nicht vernünftig .
Natürlich müssen wir auch - deswegen diskutieren
wir heute über dieses Thema - Konsequenzen aus den
Erfahrungen mit der Riester-Rente ziehen . Der Vorwurf
allerdings: „Riester lohnt nicht, ein Sparstrumpf bringt
mehr“ - den haben wir ja immer wieder gehört -, trifft
so nicht zu . Das sage nicht ich, sondern die Zeitschrift
Finanztest. Ich zitiere:
Wer einen guten Vertrag abschließt, erreicht durch
die staatliche Förderung eine ganz ordentliche Rendite auf seine Riester-Beiträge . Sie ist jedenfalls
höher als bei anderen vergleichbaren Produkten,
beispielsweise einer privaten Rentenversicherung .
({1})
Deshalb macht es wenig Sinn, denjenigen, die einen entsprechenden Vertrag abgeschlossen haben, einzureden,
sie hätten ihr Geld zum Fenster herausgeschmissen .
({2})
Unstrittig - das sage ich hier auch ganz klar - ist: Die
Riester-Rente hat die Erwartungen nicht erfüllt . Da sind
wir uns einig . Sie war und ist zu kompliziert und zu teuer . Und vor allem: Diese Form der zusätzlichen Altersvorsorge nutzen viel zu wenige Frauen und Männer . Mit
rund 16 Millionen Verträgen ist das Ziel längst nicht erreicht, die Riester-Rente als Vorsorge für alle zu etablieren, um die Einbußen bei der gesetzlichen Rente auszugleichen . Gerade die, die es besonders nötig hätten, wie
zum Beispiel Geringverdiener, haben von diesem Angebot kaum Gebrauch gemacht . Viele hatten und haben offenbar nicht das Geld, um etwas auf die Seite zu legen .
Manche haben es vielleicht, tun es aber trotzdem nicht .
Nur, wenn in der Rentenformel unterstellt wird, alle tun
es, aber maximal die Hälfte es tatsächlich tut, kann man
davor die Augen nicht verschließen .
({3})
- Moment! Matthias Birkwald, hören Sie doch einmal
zu!
({4})
Sie kommen jetzt mit der Idee: Lasst uns doch die
Riester-Guthaben in die gesetzliche Rentenversicherung
überführen . Das hört sich plausibel an - ich habe grundsätzlich auch kein Problem damit -, aber ganz so einfach
ist es nicht . Ich hatte mir auch das Zitat aus dem Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes herausgesucht;
daraus zu zitieren, kann ich mir jetzt sparen . Das Ergebnis dieses Gutachtens ist: Rechtlich ist das machbar; die
heutigen Rentner und Beitragszahler würden profitieren;
für die Zukunft hätte das aber negative Auswirkungen unter sonst gleichen Voraussetzungen .
({5})
Die Riester-Rente hat die Erwartungen nicht erfüllt,
ja, aber wir ziehen daraus andere Konsequenzen als Sie .
Klar ist, alle laufenden Riester-Verträge müssen geschützt und weiterhin gefördert werden . Künftig wollen
wir aber die betriebliche Altersversorgung ausbauen .
Denn die betriebliche Altersversorgung ist für uns die
beste Ergänzung zur gesetzlichen Rente . Wir wollen deshalb eine flächendeckende, obligatorische Betriebsrente
mit klarem und verbindlichem Rahmen und einem Vorrang für tarifliche Lösungen.
({6})
Wir wollen kollektive Lösungen, die Verwaltungskosten
minimieren und die Übertragbarkeit bei einem Jobwechsel garantieren .
Riester hat auch deshalb nicht funktioniert, weil es
nicht obligatorisch war .
({7})
Diesen Konstruktionsfehler müssen wir bei einer betrieblichen Altersversorgung vermeiden . Jeder Arbeitsvertrag
sollte künftig ein Angebot für eine betriebliche Altersversorgung erhalten - möglichst mit finanzieller Beteiligung
des Arbeitgebers .
({8})
Da ist noch reichlich Luft nach oben . In der privaten
Wirtschaft haben gerade einmal 50 Prozent der Beschäftigten einen Anspruch auf eine Betriebsrente . Es geht
auch anders: In Dänemark - das ist ja eben schon genannt
worden - sind es deutlich über 80 Prozent .
Und Luft nach oben ist auch bei der Absicherung von
Geringverdienern im Alter . International stehen wir da
nicht so richtig gut da . Deshalb wollen wir vor allem Geringverdienern den Zugang zur betrieblichen Altersversorgung erleichtern . Entsprechende Vorschläge, wie man
das mit Zulagen erreichen kann, werden gerade im Finanz- und im Arbeitsministerium erarbeitet .
Um es noch einmal ganz deutlich zu sagen: Betriebliche Altersversorgung ist für uns kein Nice-to-have, betriebliche Altersversorgung ist für uns ein Must-have .
({9})
Sie ist ein sinnvolles Instrument der Sozialpolitik . Deshalb wollen wir sie stärken . Betriebliche Altersversorgung muss auch in kleinen und mittleren Betrieben
selbstverständlich werden .
Und noch einmal: Das hat auch etwas mit Gerechtigkeit zu tun . Denn wir wollen nicht, dass weiterhin nur
Beschäftigte in Großbetrieben und in gut organisierten
Branchen Zugang zur betrieblichen Altersversorgung haben .
({10})
Es gibt noch ein paar andere Stellschrauben, die für
die Verbreitung von betrieblicher Altersversorgung wichtig sind . Als Allererstes muss sich Sparen lohnen . Wer
wegen einer Minirente im Alter auf Grundsicherung angewiesen ist, sollte zumindest einen Teil seiner Betriebsrente behalten dürfen, ohne dass diese mit der staatlichen
Hilfe verrechnet wird . Auch über den Krankenkassenbeitrag müssen wir sicherlich noch einmal reden .
Im Herbst wird Andrea Nahles ein Konzept zur Alterssicherung vorlegen . Das ist ein hartes Stück Arbeit . Die
SPD-Fraktion steht ihr dabei mit Rat und Tat zur Seite .
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
({11})
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Susanna Karawanskij, Fraktion Die Linke .
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie
kommen nicht darum herum: Die Riester-Rente war und
bleibt ein Rohrkrepierer .
({0})
Sehen Sie endlich den Realitäten ins Auge: Sie konnte
nie die politisch herbeigeführte Sicherungslücke in der
gesetzlichen Rente schließen . Nicht einmal die Hälfte der
Förderberechtigten hat überhaupt einen Riester-Vertrag
abgeschlossen . 20 Prozent der Verträge sind beitragsfrei
gestellt . Von der Riester-Förderung und den Steuernachlässen profitieren - das haben wir schon gehört - eher
die Einkommensstarken als die Geringverdiener . Die
hohen Provisions- und Verwaltungskosten zehren dann
noch die theoretische Rendite auf . Um sein eingezahltes
Entgelt noch herauszubekommen, muss man fast so alt
werden wie Methusalem . Die Riester-Rente ist für die
Versicherten letztendlich teurer als die gesetzliche Rente .
Verkaufen Sie die Leute draußen nicht für dumm! Sagen
Sie klipp und klar: Die Riester-Rente war ein Schuss in
den Ofen .
({1})
Legen Sie den Rückwärtsgang ein, und stärken Sie die
gesetzliche Rente!
({2})
Beenden Sie die Förderung der privaten Altersvorsorge,
und schaffen Sie für die Sparerinnen und Sparer eine
Möglichkeit, ihre Riester-Rente freiwillig in die gesetzliche Rente zu überführen .
({3})
Das Grundproblem der dritten Säule, also der privaten und kapitalgedeckten Vorsorge, besteht ja eben darin, dass die Renditen von den Launen der Finanzmärkte
abhängig sind . Das sehen wir doch auch bei den kapitalbasierten Lebensversicherungen, die schon immer sehr
teure Produkte waren: In Zeiten niedriger Zinsen wie
jetzt wurden die Versicherungskonzerne gepäppelt, die
Versicherten weiter geschröpft . Die Bewertungsreserven
wurden gekürzt . Die Überschüsse, die mit dem Geld der
Kunden erwirtschaftet wurden, werden einbehalten und
nicht an die Versicherten ausgeschüttet . Der Garantiezins
ist im freien Fall . Gleichzeitig liest man, dass die Versicherungsunternehmen weiterhin Gewinne einfahren, von
denen vor allen Dingen die Aktionäre profitieren. Lebensversicherungen sind der Goldesel für die Versicherungen - zulasten der Versicherten . Um es noch einmal
deutlich zu sagen: Ob Riester-Rente oder Lebensversicherung, die dritte Säule der Altersvorsorge zerfällt nach
und nach . Hier darf man den Bürgerinnen und Bürgern
nicht länger Sand in die Augen streuen .
({4})
Weil das gerade betont wurde: Auch die zweite Säule,
die betriebliche Altersvorsorge, zerbröselt zunehmend .
Dr . Frank Grund, Exekutivdirektor der Versicherungsaufsicht bei der BaFin, sagte Mitte Mai:
Möglicherweise können daher bald einzelne Pensionskassen nicht mehr aus eigener Kraft ihre Leistungen in voller Höhe erbringen .
Das klang schon wie eine Warnung . Wenig überraschend
konnte man dann vergangenen Dienstag im Internetauftritt der Süddeutschen Zeitung lesen: „Erste Pensionskasse senkt Betriebsrenten“ . Im Schnitt gibt es dort 16 Prozent weniger Betriebsrente .
Ob nun bei der privaten oder der betrieblichen Vorsorge, die Bürgerinnen und Bürger erfahren hautnah, dass
sie später kaum noch das Geld, das sie eingezahlt haben,
herausbekommen, geschweige denn, dass die Rendite
zur Armutsvermeidung im Alter reicht . Aus Angst vor
Altersarmut und in Zeiten niedriger Zinsen folgen Verbraucherinnen und Verbraucher verlockenden Versprechungen der Finanzbranche . Diese vermeintlich sicheren
und renditestarken Geldanlagen entpuppen sich allzu
oft als hoch riskant und vor allen Dingen als gänzlich
ungeeignet für die Altersvorsorge . Um hier Verbraucher
zu schützen, muss man dafür sorgen, dass dieser ganze
Finanzschrott erst gar nicht auf den Markt kommt und
Anleger schädigen kann .
({5})
Daher fordern wir eine verpflichtende Zulassungsprüfung
sowohl für Geldanlagen als auch für Finanzpraktiken .
({6})
Wir brauchen einen Neuaufbau in der Altersvorsorge . Statt der vorhandenen drei dürren Ästchen, die wir
da jetzt haben, brauchen wir wieder einen festen Stamm .
Das ist die gesetzliche Rente . Dabei müssen Sie auch, um
das hier noch einmal deutlich zu sagen, die Lebensleistungen der Menschen in Ostdeutschland anerkennen und
für eine umfassende bzw . gerechte Rentenüberleitung
Ost sorgen .
({7})
Wir haben das Konzept einer solidarischen Rentenversicherung mit einer gerechten Mindestrente vorgelegt . Es
ist jetzt an der Zeit, dass Sie Riester in Rente schicken .
Vielen Dank .
({8})
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Jana Schimke, CDU/CSU-Fraktion .
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eines kann
man den Linken nicht unterstellen: Sie hätten keinen
Sinn für Kreativität . - Nur schade, dass Ihre Ideen weder zukunftsorientiert noch gerecht sind . Ich habe selten
einen Antrag gelesen, der in letzter Konsequenz so viel
Ungerechtigkeit in sich barg .
({0})
So möchte ich Sie fragen: Ist es gerecht, Politik für die
einen zu machen und die anderen dafür zur Kasse zu bitten? Ist es also gerecht, das Rentenniveau dauerhaft auf
53 Prozent festzuschreiben und dafür die Rentenbeiträge
der Arbeitnehmer in der Zukunft auf bis zu 28 Prozent
zu erhöhen?
({1})
Sicher nicht, denn jeder zusätzliche Prozentpunkt für
die Sozialversicherung nimmt den Beschäftigten etwas
vom monatlichen Netto . Für andere notwendige Dinge
des Alltags steht dieses Einkommen dann nicht mehr zur
Verfügung .
({2})
Das kann die Miete sein, das kann die Autoreparatur sein
oder der jährliche Familienurlaub .
Wenn die Kaufkraft verloren geht, spüren wir das alle
durch eine schwächere Konjunktur . Und das Einkommen
fehlt am Ende auch in einem ganz entscheidenden Bereich unserer Altersvorsorge: bei der Finanzierung des
Eigenheims . Jeder zusätzliche Prozentpunkt geht auf
Kosten unserer wirtschaftlichen Entwicklung . Höhere
Sozialbeiträge machen Arbeit noch teurer und kosten
schließlich Arbeitsplätze in Deutschland . Das können
wir nicht wollen, meine Damen und Herren .
Die derzeitige Lage am Arbeitsmarkt war noch nie so
gut wie heute . Das belegen auch die aktuellen Zahlen der
Bundesagentur für Arbeit . Die Arbeitslosenquote liegt
bei 6 Prozent, und mit 43,4 Millionen Menschen können
wir derzeit von einer Rekordbeschäftigung in Deutschland sprechen . Dies sind alles Belege unserer guten Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik der letzten Jahre . Darauf können wir stolz sein .
({3})
Diese Entwicklung aber setzt die Linke durch die Forderung nach höheren Beiträgen in der Rentenversicherung
aufs Spiel .
({4})
Natürlich geraten unsere sozialen Sicherungssysteme,
insbesondere die gesetzliche Rentenversicherung, zunehmend unter Druck . Weniger Kinder in Deutschland, eine
immer älter werdende Gesellschaft, die steigende Lebenserwartung und damit auch steigende Rentenlaufzeiten führen dazu, dass das Sicherungsniveau der gesetzlichen Rente sinkt . Aber gerade deshalb kann doch nicht
die Konsequenz sein, andere Formen der Altersvorsorge
infrage zu stellen oder gar abzuschaffen . Ziel unserer Politik kann doch nicht sein, Dinge, die sich auch bewährt
haben, abzuschaffen; vielmehr müssen wir versuchen,
Hemmnisse und Hürden zu überwinden und für Verbesserungen zu sorgen .
({5})
Warum ist das so sinnvoll? Weil die private und die betriebliche Altersvorsorge eben zwingende Voraussetzungen sind, um Vorsorge individuell und auch krisensicher
auszugestalten . Dazu zählt natürlich auch die staatliche
Förderung .
({6})
Die staatliche Förderung ist ein ganz entscheidender
Anreiz für die zweite und dritte Säule der Altersvorsorge, und beide dienen letztendlich dazu, Vorsorge für die
Menschen allumfassend auszugestalten . Deshalb, meine
Damen und Herren, ist es wichtig, den Menschen mehr
Netto vom Brutto zu lassen . So weit zum Grundsatz .
({7})
Jetzt fordern die Kollegen von der Linken, dass die
Förderung der privaten Altersvorsorge, also Riester, abgeschafft wird und Sparvermögen freiwillig in die gesetzliche Rente überführt wird . Die gesetzliche Rente ist
aber kein Versicherungssystem, liebe Kolleginnen und
Kollegen, in das jeder wie ihm beliebt einfach einmal
einzahlen kann und seine Rentenansprüche damit individuell ausbauen kann .
({8})
Unser Rentensystem ist solidarisch und umlagefinanziert . Es fußt auf dem gesamten Erwerbsleben, in dem
jeder Beschäftigte seinen prozentualen Beitrag zu zahlen
hat . Das heißt, heutige Arbeitnehmer zahlen die Renten
heutiger Rentner, und künftige Arbeitnehmer zahlen die
Renten künftiger Rentner . Wenn die Linke also fordert,
dass Beschäftigte ihr Sparvermögen in die gesetzliche
Rente einzahlen, dann sind es die künftigen Generationen, die diesen höheren Rentenanspruch mit deutlich höheren Rentenbeiträgen zu finanzieren haben.
({9})
Das, meine Damen und Herren, ist nicht gerecht und
kann nicht die Lösung sein .
({10})
Jetzt sind wir uns dessen, was sich auf den Finanzmärkten abspielt, bewusst . Wir wissen auch, dass wir die
Folgen der EZB-Niedrigzinspolitik, die sich natürlich
auch auf die privaten und die betrieblichen Rentenanwartschaften auswirkt,
({11})
schwerlich im Deutschen Bundestag überwinden können .
Was wir aber tun können und auch tun werden, ist, die
private und die betriebliche Altersvorsorge - dazu zählt
natürlich auch Riester - wieder attraktiver zu machen .
({12})
Dazu müssen Mehrfachbelastungen und Bürokratie abgebaut werden . Das muss das Ziel unserer Politik sein .
Wir alle hier in diesem Hause tragen Verantwortung
für eine gute und vor allem eine generationengerechte
Alterssicherung . Weil das so ist, werden wir den Antrag
der Linken heute ablehnen .
({13})
Vielen Dank .
({14})
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Cansel Kiziltepe, SPD-Fraktion .
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Frau Schimke, ich habe den EinJana Schimke
druck, dass nicht nur Sie, sondern Ihre gesamte Fraktion
die volkswirtschaftlichen Gesamtkosten der Alterssicherung in Deutschland verkennen .
({0})
Wenn man die Zahlen für 2020 zugrunde legt - da soll
der Beitragssatz für die Arbeitgeber und auch für die Arbeitnehmer 11 Prozent nicht übersteigen; zugleich soll
das Sicherungsniveau in der ersten Säule konstant bleiben -, dann darf man nicht vergessen, dass die Arbeitnehmer mit 4 Prozent privat vorsorgen sollen .
({1})
Wenn ich diese Gesamtkosten addiere - 11 Prozent plus
11 Prozent und 4 Prozent, welche die Arbeitnehmer alleine tragen -, komme ich auf 26 Prozent .
({2})
Ich möchte damit nur zeigen, dass die volkswirtschaftlichen Gesamtkosten nicht anders sein würden . Es reicht
also nicht aus, hier nur anzuprangern, dass die Rentenversicherungsbeiträge zu hoch stiegen .
({3})
- Das sollte keine volkswirtschaftliche Nachhilfestunde
sein .
({4})
Ich gebe aber zu bedenken, dass Sie auch das berücksichtigen sollten .
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Teilprivatisierung der Rente war von Anfang an umstritten . Nach
15 Jahren sehen wir, dass die Riester-Rente ihr Ziel nicht
erreicht hat . Die Rentenniveauabsenkung konnte nicht
ausgeglichen werden . Im Jahr 2015 gab es 16 Millionen
Riester-Verträge, aber nur noch in 12 Millionen wird
aktiv eingezahlt - und das bei einer Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmerzahl von 38,5 Millionen . Das war nicht
unser Ziel, und das ist auch nicht unser Ziel, liebe Kolleginnen und Kollegen .
({6})
Die Erwartungen, die mit der Riester-Rente verbunden
waren, haben sich nicht erfüllt . Vielen Menschen gelingt
es immer weniger, die Rentenlücke zu schließen . Aber
generell davon zu sprechen, die Riester-Rente sei gescheitert, ist auch nicht ganz richtig .
Wenn wir ernsthaft über die Probleme der Riester-Rente sprechen, dann kommen wir um einen Punkt
nicht herum . Es sind nämlich gerade die Haushalte mit
niedrigem Einkommen, die zwar in der Theorie stark
davon profitieren - das war auch unser Ziel -, aber bei
denen es in der Realität ganz anders aussieht . Die Zahlen
des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung zeigen,
dass nur 7 Prozent der Angehörigen des untersten Einkommensdezils, also der untersten Einkommensgruppe,
aktuell mit Riester sparen und, wenn man die Gesamtförderung betrachtet, der Anteil noch viel niedriger liegt .
({7})
Was bedeutet das, liebe Kolleginnen und Kollegen? Die,
die es gerade brauchen, erreichen wir mit diesem Instrument nicht . Und das geht nicht .
Die Defizite der Riester-Rente sind ja vielfach benannt
worden . Die Bürgerinnen und Bürger erwarten auch Verbesserungen . Die staatliche Förderung in diesem Bereich
ist nicht gerade klein . Sie umfasst etwa 3 Milliarden Euro
pro Jahr . Wir müssen schauen, ob der Fokus verlagert
werden kann . Aus meiner bzw . unserer Sicht müssen wir
die Riester-Produkte transparenter, einfacher und renditeträchtiger machen . Wir müssen aber auch schauen,
ob wir Fördermittel und staatliche Subventionen auch
anders nutzen können, zum Beispiel, um stärker in die
betriebliche Altersversorgung zu gehen .
({8})
Wir möchten die zweite Säule der Alterssicherung
stärken . Hier muss es vorrangig darum gehen, gezielt
Geringverdienerinnen und Geringverdiener zu stärken .
({9})
Das kann durch ein Obligatorium - dies wurde schon
genannt - geschehen, aber auch dadurch, dass man die
Arbeitgeber mit ins Boot holt .
Ein weiterer Fokus muss - wie zum Beispiel in Dänemark oder Schweden - auf ein Basisprodukt gelegt werden, das staatlich organisiert ist .
Eines sollten wir nicht tun, nämlich, wie im Antrag der
Linken gefordert, die bisher für Riester gezahlten Beiträge in die gesetzliche Rentenversicherung zu überführen .
({10})
Damit würden wir weder Vertrauen in die gesetzliche
noch in die private Rentenversicherung schaffen .
({11})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dass die Riester-Förderung im Rahmen der betrieblichen Altersvorsorge
heutzutage kaum genutzt wird, hängt unter anderem mit
der doppelten Verbeitragung zusammen .
({12})
Das kann nicht so bleiben, liebe Kolleginnen und Kollegen .
({13})
Wir diskutieren das in unserer Fraktion, und unsere Arbeitsministerin arbeitet daran in ihrem Ministerium .
Die bestehenden steuerlichen Regelungen, die bedarfsgerechte Zulagenförderung und der Sonderausgabenabzug für Riester-Rentenbeiträge in der bAV müssen
ausgeweitet werden . Dazu liegen schon Vorschläge vor .
Geringverdiener sollen auch in diesem Bereich gezielter
gefördert werden . Das halte ich für eine sinnvolle Reformoption .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dass Geringverdiener in dieser Debatte zielgenauer gefördert werden müssen, darüber sind wir uns einig . Daran arbeiten wir . Das
Bundesarbeitsministerium wird im Herbst dazu, auch
in Zusammenarbeit mit dem Bundesfinanzministerium,
Vorschläge erarbeiten . Aber eines möchte ich an dieser
Stelle noch einmal sagen: Wir dürfen nicht verkennen,
dass sich das Umlageverfahren im Vergleich zum kapitalgedeckten System als stabiler und krisenfester bewährt
hat; das hat die Finanzkrise gezeigt .
Frau Kollegin .
Ich komme zum Ende, Herr Präsident .
Dazu hätten Sie schon längst kommen müssen .
Deshalb möchten wir als SPD-Bundestagsfraktion
eine starke erste Säule in der Alterssicherung, die für
eine lebensstandardorientierte Rente sorgt . Unsere Priorität liegt hier .
Vielen Dank .
({0})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Matthäus Strebl, CDU/CSU-Fraktion .
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und
Kollegen! Frau Kollegin vom geschätzten Koalitionspartner SPD, die gerade gesprochen hat, zeitweise dachte ich, Sie sprächen über die Riester-Rente und Walter
Riester habe ehemals der CDU/CSU-Fraktion angehört .
So ist es aber nicht . Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass hier in diesem Haus 2001 - ich gehörte schon
damals dem Deutschen Bundestag an - über die Riester-Rente in zweiter und dritter Lesung debattiert worden
ist . Walter Riester saß damals auf der Regierungsbank,
und für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion sprach hier
Horst Seehofer . Er wies damals auf die Schwierigkeiten
hin . Heute wissen wir, dass wir in der Breite nicht das
erreicht haben, was wir erreichen wollten . Deswegen
müssen wir bei der Riester-Rente reformieren, wie von
Rednern schon mehrmals gesagt worden ist .
({0})
„Die Riester-Rente in die gesetzliche Rentenversicherung überführen“ lautet der Titel des Antrags der Linksfraktion . Lassen Sie mich zu Beginn einige Schlagzeilen
der letzten Tage zitieren . Da hieß es: „Sackgasse Riester-Rente?“, „Rettung für Riester-Sparer gesucht“, „Die
Riester-Rente muss bleiben“ . Damit wird deutlich, dass
wir es mit einem Thema zu tun haben, das kontrovers
betrachtet werden kann . Diese Pressemitteilungen lassen
für jeden erkennen: Es gibt keine einfache Lösung .
Wichtig ist hierbei: Wir müssen die Alterssicherung
aufgrund der demografischen, gesellschaftlichen und
ökonomischen Veränderungen anpassen . Gleichwohl
darf dies nicht zulasten jüngerer Generationen gehen .
Die gesetzliche Rente im Umlageverfahren ist und bleibt
für uns die wichtigste Säule . Dennoch dürfen wir die kapitalgedeckte Vorsorge als zweite und dritte Säule nicht
vernachlässigen .
Aufgrund des demografischen Wandels werden jedoch immer weniger Beitragszahler für die Finanzierung
der Rente aufkommen . Deshalb ist es unausweichlich,
dass die Altersvorsorge auf drei Säulen gestützt wird;
Vorredner haben das schon gesagt . Nach Angaben des
Statistischen Bundesamtes wurden in den Jahren 2001
bis 2015 - darauf möchte ich hinweisen - 16 Millionen
Riester-Verträge geschlossen . Diese Zahl könnte durchaus höher sein . Dennoch spricht sie gegen eine Abschaffung der Riester-Rente .
Natürlich gibt es auch eine hohe Anzahl von ruhenden
Verträgen . Auch das muss bei einer ehrlichen Diskussion
erwähnt werden . Es gehört aber auch zur Wahrheit, dass
die Riester-Rente kein Wundermittel ist . Die Idee der
damaligen Regierung war vielmehr die Schaffung einer
weiteren Vorsorge und nicht eine unschlagbare Renditeoptimierung . Es war vor allem die Intention, neben einkommensschwachen Steuerpflichtigen auch kinderreiche
Familien zu unterstützen . So lautete die Aussage 2001,
wenn ich mich richtig erinnere .
Seit der Einführung der Riester-Rente haben - um
auch das einmal zu erwähnen - über 2 000 Anbieter rund
4 300 Produkte entwickelt . Zweifelsfrei gibt es dabei
auch Probleme: Die Riester-Rente ist, wie viele Kritiker bemängeln, ein sehr komplexes System mit einer
Vielzahl von unterschiedlichen Möglichkeiten, für das
Alter vorzusorgen . Da müssen wir ansetzen . Seit der
Wirtschafts- und Finanzkrise ist das Vertrauen in Finanzdienstleistungen erheblich gesunken . Auch die mitunter
hohen Abschluss- und Verwaltungskosten lassen den
Unmut über Riester-Sparverträge noch steigen . Viele
Kunden bemängeln besonders die fehlende Transparenz
über die tatsächlichen Kosten, und durch die seit Jahren
andauernde Niedrigzinsphase ist die kapitalgedeckte Altersvorsorge natürlich weniger attraktiv als noch bei der
Einführung 2002 .
Diese Einwände kann ich ohne Zweifel nachvollziehen . Vergessen dürfen wir aber bei dieser Diskussion
nicht, dass Renditen langfristig betrachtet werden müssen . Die Riester-Rente ist - da stimme ich den Antragstellern ausnahmsweise zu - umstritten; aber die Abschaffung der Riester-Rente, werter Kollege Birkwald,
halte ich für falsch . Allerdings stimme ich zu, wenn Forderungen nach der Vereinfachung der Riester-Rente und
den Förderungsbedingungen laut werden, so wie es der
Kollege Peter Weiß bereits gesagt hat . Eine Optimierung
halte ich deshalb für geboten und unausweichlich .
Werte Kolleginnen und Kollegen von der Linksfraktion, bei aller berechtigten Kritik an der Riester-Rente
halte ich Ihren Antrag für falsch . Sie fordern die Möglichkeit einer freiwilligen Überführung der Riester-Produkte in die gesetzliche Rentenversicherung . Zunächst
stellt sich die Frage: Wie wollen Sie die Abschaffung den
Menschen erklären, die auf die Einhaltung der Verträge
vertrauen, genau den Menschen, die im Vertrauen auf die
staatliche Förderung die Riester-Verträge geschlossen
haben?
({1})
Diese Menschen sollen also dann keine staatliche Förderung für ihre Verträge mehr erhalten .
({2})
Neben dem Vertrauensschutz auf staatliche Förderung
der Riester-Sparer spricht die Vermischung zweier unterschiedlicher System gegen Ihren Antrag . Die heutigen
Beschäftigten zahlen im Laufe ihres Erwerbslebens regelmäßig Beiträge ein . Durch das Umlageverfahren werden
die Beitragsleistungen, wie wir wissen, für die Rentenzahlungen an die Rentnerinnen und Rentner verwendet .
Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer erhalten im
Gegenzug für ihre Beiträge einen Anspruch auf Rente
im Alter, der dann von der nachfolgenden Beitragszahlergeneration finanziert wird. Wenn die Riester-Rente in
die gesetzliche Rentenversicherung überführt wird, dann
werden die heutigen Rentnerinnen und Rentner durch
die höheren Beitragseinnahmen erheblich profitieren, die
nachfolgenden Generationen jedoch benachteiligt . Ihren
Vorschlag bewerte ich deshalb als systemwidrig . Ebenso
widerspricht er der Generationengerechtigkeit .
Ich bin davon überzeugt, dass die Riester-Rente bleiben muss; denn sie hat Potenzial . Dieses Potenzial, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, sollten wir
nutzen . Wir lehnen daher den Antrag der Linksfraktion
ab .
Herzlichen Dank .
({3})
Nächster Redner ist für die SPD der Kollege Dr . Martin
Rosemann .
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich will in dieser Debatte noch einmal vier Punkte deutlich machen .
Erster Punkt . Es ist ja mehrfach der Blick in andere
Länder angesprochen worden . Ich bin immer sehr dafür, dass wir uns anschauen, was in anderen Ländern gut
läuft, dass wir etwas von anderen Ländern lernen, dass
wir über den Tellerrand hinausschauen . Aber wir sollten
dann auch sehr genau hinschauen und fragen, was vielleicht nicht so leicht übertragbar ist und was da passiert .
Insofern will ich gerne etwas zu Österreich sagen .
Wenn Sie sich das österreichische System genau anschauen, Herr Birkwald, dann werden Sie feststellen: Die
Österreicher zahlen - das hat Herr Kurth vorhin schon
gesagt - deutlich höhere Beiträge zur Rentenversicherung, sie zahlen gleichzeitig deutlich geringere Beiträge
in die Krankenversicherung . Dafür gibt es einen höheren
Steuerzuschuss . Der Hauptpunkt aus meiner Sicht ist,
dass die Österreicher vor etwas mehr als zehn Jahren die
Selbstständigen und Beamten in die Rentenversicherung
einbezogen haben. Das finde ich auch richtig.
({0})
Aber sie haben es so gemacht, dass die zusätzlich eingenommenen Beiträge jetzt unmittelbar in Form höherer
Leistungen ausgezahlt werden . Es gibt also zusätzliche
Beitragszahler, denen im Moment aber keine zusätzlichen Empfänger gegenüberstehen . Das nutzen die Österreicher, um damit das System im Moment stabil zu
halten, und verschieben damit aber die Lasten auf die
Zukunft . Das halte ich für falsch .
({1})
Zweiter Punkt . Ich will auch einmal ganz deutlich machen: Für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ist die gesetzliche Rente die zentrale Säule unseres
Alterssicherungssystems. Ich finde, da müssen wir uns
überhaupt nicht verstecken . Gerade in diesem Jahr haben
wir Rentensteigerungen von 5 Prozent im Osten und über
4 Prozent im Westen .
({2})
Ich finde, da kann man erst einmal sagen: Die Rentenversicherung in Deutschland steht gut da .
({3})
Natürlich müssen wir die gesetzliche Rente für die Zukunft stärken . Das Wichtigste ist dabei aus meiner Sicht,
dass wir eine gute Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt,
vor allem eine gute Entwicklung bei der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung in Deutschland haben.
Deswegen ist Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik
die wichtigste Rentenpolitik, meine Damen und Herren .
({4})
Deswegen arbeiten wir an Baustellen wie der Stärkung
der Tarifbindung, Erhöhung der Erwerbsbeteiligung von
Frauen, Integration von Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt, Förderung von Langzeitarbeitslosen und Geringqualifizierten.
Es kommt aus meiner Sicht ein zweiter Punkt hinzu .
Wenn wir das System der gesetzlichen Rente stärken
wollen - und wir wollen das -, dann müssen wir gesamtgesellschaftliche Aufgaben - dazu gehört für mich auch
die Mütterrente - konsequent über Steuern finanzieren.
({5})
- Ja . Ich sage das in Richtung des Koalitionspartners,
und das weiß er auch .
Zur Stärkung der ersten Säule gehört aber auch eines
ganz klar: Wer sein Leben lang gearbeitet hat und Leistungen erbracht hat, der darf am Ende des Erwerbslebens
nicht weniger als die Grundsicherung haben .
({6})
Dritter Punkt . Wir brauchen natürlich Antworten auf
die Herausforderungen des demografischen Wandels die niedrige Geburtenrate und vor allem die ständig steigende Lebenserwartung . Dazu gehört aus meiner Sicht,
dass wir die Lasten gerecht zwischen den Generationen
verteilen und dass wir die Finanzierung der Alterssicherung tatsächlich auf mehrere Säulen stützen . Auch ein
internationaler Vergleich, wie ihn viele hier gezogen haben, zeigt, dass das Sicherungsniveau in den Ländern am
höchsten ist, die einerseits eine starke erste gesetzliche
Säule haben und andererseits mindestens eine zweite kapitalgedeckte Säule . Das war ja auch der Grund für die
Einführung der Riester-Rente . Meine Damen und Herren, diese Überlegung bleibt auch richtig .
({7})
Ich will an der Stelle deutlich sagen: Alle, die Riester-Verträge abgeschlossen haben, haben richtig gehandelt . Es gilt das, was Bundesarbeitsministerin Andrea
Nahles gesagt hat - ich zitiere -:
Der Staat garantiert, dass alle Riester-Inhaber ihr
Geld ausgezahlt bekommen . Auch für die staatlichen Zulagen gibt es Vertrauensschutz, die zahlt der
Staat weiterhin .
({8})
Vierter und letzter Punkt . Natürlich ist die Kritik mehrere Vorrednerinnen und Vorredner haben es angesprochen - nicht von der Hand zu weisen: Wir haben
Probleme bei der Ausgestaltung der Riester-Rente, mit
Intransparenz, mit hohen Vertriebs- und Verwaltungskosten, mit in der Regel wenig rentablen Anlagestrategien .
Daran müssen wir arbeiten . Wir müssen die kapitalgedeckte Altersvorsorge in Deutschland weiterentwickeln .
Unser Ansatzpunkt ist - das hat Ralf Kapschack gesagt,
das hat Cansel Kiziltepe gesagt -, dass wir die betriebliche Altersvorsorge stärken wollen, dass wir einen deutlich höheren Verbreitungsgrad erreichen wollen und dass
wir die Sozialpartner stärken wollen .
({9})
Damit erhöhen wir die Verbindlichkeit . Damit erreichen
wir mehr Beschäftigte, vor allem auch in kleinen und
mittleren Betrieben, dadurch reduzieren wir Vertriebsund Verwaltungskosten, damit ermöglichen wir optimalere Anlagestrategien .
Ich sage auch: Wir Sozialdemokraten setzen dabei weniger auf Entgeltumwandlung und mehr auf arbeitgeberfinanzierte Betriebsrentenmodelle.
({10})
Wir halten nach den Erfahrungen der vergangenen zehn
Jahre eine gesetzliche Verpflichtung für sinnvoll.
Mein Fazit: Ich finde, wir sollten uns dieser historischen Aufgabe gemeinsam annehmen und gemeinsam
dafür sorgen, dass sich die Altersvorsorge weiterentwickelt und dass sich die betriebliche Altersvorsorge von
einem Instrument der betrieblichen Personalpolitik zu
einem Instrument der Sozialpolitik weiterentwickelt .
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit .
({11})
Abschließende Rednerin in dieser Aussprache ist die
Kollegin Anja Karliczek für die CDU/CSU .
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Kolleginnen und Kollegen! Liebe Linke! Den Antrag,
den Sie uns heute vorlegen, können Sie nicht wirklich
ernst meinen .
({0})
- Nein . - Die Linke will ein Instrument, das ganz gezielt
Kleinstverdienern und auch Kleinstverdienern mit Kindern überproportional unter die Arme greift, nicht reformieren - eine Reform kann ich mir ja noch vorstellen -,
sondern abschaffen . Ihr Antrag zeugt entweder von blinder Ideologie oder von Unkenntnis in der Sache . Alles,
was Sie vortragen, blendet den demografischen Wandel
aus . Auch von der Tatsache, dass zwei Drittel der Zulagenempfänger ein Bruttoeinkommen von weniger als
30 000 Euro haben, habe ich hier noch nichts gehört .
({1})
Sie verunsichern die Menschen in unserem Land immer
wieder mit unausgereiften Ideen, ohne eine nachhaltige
Lösung, wie wir der Herausforderung des demografischen Wandels begegnen können, zu nennen .
({2})
- Ich habe gut zugehört .
Unsere umlagefinanzierte Rente, der Sie alle Herausforderungen der Zukunft aufs Auge drücken wollen,
kommt aus einem Dilemma nicht heraus: Spätestens ab
dem Jahr 2029 gehen die Babyboomer in Rente . Das ist
die Zeit, in der auf anderthalb Beitragszahler ein Rentner
kommt. Umlagefinanziert bedeutet das, dass anderthalb
Beitragszahler einen Rentner finanzieren müssen.
({3})
Dass es unserer umlagefinanzierten Rente heute gerade gut geht, das bestreitet niemand . Aber woran liegt das
denn? Es liegt daran, dass wir erstens in unserem schönen Land so viele sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze wie noch nie haben
({4})
und dass zweitens die Lohnsteigerungen in der letzten
Zeit so hoch waren .
Die Wirtschaft floriert, und daran sollen alle teilhaben.
Deshalb bekommen unsere Rentner ab 1 . Juli eine saftige
Rentenerhöhung .
({5})
So hat es sich schon Ludwig Erhard vorgestellt, und so
funktioniert es bis heute .
({6})
Dank umfangreicher Rentenreformen in den vergangenen Jahren steht die soziale Absicherung, die umlagefinanzierte Rente, auf soliden Füßen. Wir können uns
darauf verlassen, dass das System funktioniert . Darauf
können wir sehr stolz sein .
({7})
Die Sorgen, über die wir heute reden, liegen in der
Zeit nach 2030 . Dann gehen 1,3 Millionen Menschen in
den Ruhestand; Gott sei Dank oft recht fitte Menschen,
die dann noch auf einige Jahre erfüllten Ruhestand hoffen dürfen . In den Arbeitsmarkt hinein kommen aber nur
knapp halb so viele junge Menschen . Eine immer kleiner
werdende Gruppe von Beitragszahlern muss dann die
Rente für immer mehr Rentner erwirtschaften . Das ist
die Perspektive. So funktioniert unsere umlagefinanzierte gesetzliche Rente .
({8})
Eine lebensstandardsichernde Rente aber würde unsere Kinder überfordern .
({9})
- Sie sind ganz schön aufgeregt . - Deswegen haben wir
vor 15 Jahren begonnen, eine zusätzliche kapitalgedeckte Vorsorge zu unterstützen . Diesen Zusammenhang endlich einmal zur Kenntnis zu nehmen, ist die Basis für eine
ehrliche Diskussion darüber, wie es weitergehen soll .
Dann kommen wir auch ganz schnell zu der Erkenntnis,
dass wir den Aufbau einer kapitalgedeckten Vorsorge intensiver unterstützen müssen . Es geht nicht um das Entweder-oder - umlagefinanziert oder kapitalgedeckt? -,
sondern um das Sowohl-als-auch . Das ist hier das Thema .
({10})
Wir brauchen die umlagefinanzierte Rente als Basis
unserer Altersabsicherung und mindestens eine kapitalgedeckte Säule . Den immer weniger werdenden jungen
Menschen dürfen wir nicht die Finanzierung der Rente
der immer größer werdenden Zahl von Rentnern aufbürden . Deshalb wollen wir gerade den Menschen mit
kleinen Einkommen dabei helfen - das ist unser oberstes Ziel -, dass auch sie eine anständige Rente erreichen
können .
Ich könnte gut verstehen, wenn Sie heute sagen würden: Lassen Sie uns darüber reden, wie wir das Riester-Sparen in Zeiten niedriger Zinsen attraktiver machen
können . Wie können wir Vertrauen zurückgewinnen, das
im Zuge der Finanzkrise und durch das Verhalten mancher Anbieter verloren gegangen ist? Das sind die richtigen Fragen .
Frau Kollegin Karliczek, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, ich rede erst zu Ende . Die Kollegin kann gleich
etwas sagen .
Eigene Vorsorge für das Alter muss selbstverständlicher werden; nur so können wir dauerhaft und langfristig
steigende Altersarmut verhindern . Das muss sich eben
auch für Geringverdiener lohnen . Wer vorsorgt, muss
mehr haben als der, der es nicht tut . Das muss das Maß
unserer Bemühungen sein .
({0})
Deshalb kann es zum Beispiel eine Möglichkeit sein,
einen Freibetrag auf die Grundsicherung einzurichten für
alle diejenigen, die kapitalgedeckt Eigenvorsorge leisten .
Dann schaffen wir Mehrwert gerade für die Menschen in
unserer Gesellschaft, die die Hilfe am nötigsten haben .
Eine weitere richtige Frage ist die nach dem Umgang
mit den niedrigen Zinsen . Wenn Zinsen keine Ertragsquelle mehr sind, weil sie so niedrig sind, dann ist zu
fragen: Wie können wir Menschen über die AltersvorsorAnja Karliczek
ge einen Anteil an der wirtschaftlichen Entwicklung in
unserem Land zukommen lassen, ohne dem Einzelnen
ein hohes Risiko zumuten zu müssen?
Das, was Sie machen, ist billig . Es verunsichert gerade die Menschen, die eine kapitalgedeckte Vorsorge am
nötigsten haben . Es ist in der aktuellen Situation sogar
brandgefährlich .
({1})
Noch eine Bemerkung am Rande . Sie beziehen sich in
Ihrem Antrag auf eine Aussage des bayerischen Ministerpräsidenten . Dazu kann ich nur sagen: Wir sind alle Menschen . Menschen sind nicht unfehlbar, Menschen können
irren . Deswegen werden wir diesen Antrag ablehnen .
({2})
Damit schließe ich die Aussprache .
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/8610 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen . Sind Sie damit ein-
verstanden? - Widerspruch sehe ich keinen . Dann ist die
Überweisung so beschlossen .
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 31 a bis 31 g
sowie den Zusatzpunkt 2 auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Umweltstatistikgesetzes und des
Hochbaustatistikgesetzes
Drucksache 18/8341
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Abkommen vom 17. Dezember 2015 zwischen
der Bundesrepublik Deutschland und Japan
zur Beseitigung der Doppelbesteuerung auf
dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und
bestimmter anderer Steuern sowie zur Verhinderung der Steuerverkürzung und -umgehung
Drucksache 18/8516
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinien ({2}) 2015/566 und ({3})
2015/565 zur Einfuhr und zur Kodierung
menschlicher Gewebe und Gewebezubereitungen
Drucksache 18/8580
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({4})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-
schätzung
d) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über Finanzhilfen des Bundes zum Ausbau der Tagesbetreuung für Kinder und des Kinderbetreuungsfinanzierungsgesetzes
Drucksache 18/8616
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({5})
Finanzausschuss
Haushaltsausschuss
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr . Alexander S . Neu, Wolfgang Gehrcke, Jan
van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Keine Verlegung von Bundeswehr-Einheiten
nach Litauen
Drucksache 18/8608
Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({6})
Auswärtiger Ausschuss
f) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Nationaler Implementierungsplan zur Umsetzung der EU-Jugendgarantie in Deutschland
Drucksache 18/1108
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({7})
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-
schätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
g) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
({8}) gemäß § 56a der Geschäftsordnung
Technikfolgenabschätzung ({9})
Bilanz der Sommerzeit
Drucksache 18/8000
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({10})
Innenausschuss
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Lisa Paus,
Christian Kühn ({11}), Kerstin Andreae,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Spekulation mit Immobilien und Land beenden - Keine Steuerbegünstigung für Übernahmen durch Share Deals
Drucksache 18/8617
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({12})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit
Dabei handelt es sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen . Die Vorlage auf der Drucksache 18/8608
zu Tagesordnungspunkt 31 e soll federführend im Verteidigungsausschuss beraten werden . Gibt es dagegen
Widerspruch? - Das ist nicht der Fall . Dann sind diese
Überweisungen so beschlossen .
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 32 a bis 32 i sowie
die Zusatzpunkte 3 a und 3 b auf . Es handelt sich dabei
um Beschlussfassungen zu Vorlagen, zu denen keine
Aussprache vorgesehen ist .
Tagesordnungspunkt 32 a:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Energie ({13}) zu der Verordnung der Bundesregierung
Sechste Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung
Drucksachen 18/7992, 18/8129 Nr. 2, 18/8276
Der Ausschuss für Wirtschaft und Energie empfiehlt
in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/8276,
die Aufhebung der Verordnung auf Drucksache 18/7992
nicht zu verlangen . Wer für diese Beschlussempfehlung
des Ausschusses stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen . - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die
Beschlussempfehlung ist damit angenommen mit den
Stimmen von CDU/CSU und SPD sowie Bündnis 90/Die
Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke .
Wir kommen jetzt zu den Beschlussempfehlungen des
Petitionsausschusses .
Tagesordnungspunkt 32 b:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({14})
Sammelübersicht 313 zu Petitionen
Drucksache 18/8411
Wer dafür stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen . Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 313 ist damit mit den Stimmen des gesamten
Hohen Hauses angenommen .
Tagesordnungspunkt 32 c:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({15})
Sammelübersicht 314 zu Petitionen
Drucksache 18/8412
Wer dafür stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen . Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 314 ist damit angenommen mit den Stimmen
von CDU/CSU und SPD sowie Bündnis 90/Die Grünen
bei Enthaltung der Fraktion Die Linke .
Tagesordnungspunkt 32 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({16})
Sammelübersicht 315 zu Petitionen
Drucksache 18/8413
Wer dafür stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen . Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 315 ist mit allen Stimmen des Hohen Hauses
angenommen .
Tagesordnungspunkt 32 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({17})
Sammelübersicht 316 zu Petitionen
Drucksache 18/8414
Wer dafür stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen . Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 316 ist mit den Stimmen von CDU/CSU und
SPD gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen angenommen .
Tagesordnungspunkt 32 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({18})
Sammelübersicht 317 zu Petitionen
Drucksache 18/8415
Wer dafür stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen . Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 317 ist mit allen Stimmen des Hohen Hauses
angenommen .
Tagesordnungspunkt 32 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({19})
Sammelübersicht 318 zu Petitionen
Drucksache 18/8416
Wer dafür stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen . Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 318 ist mit den Stimmen von CDU/CSU und
SPD sowie der Fraktion Die Linke gegen die Stimmen
von Bündnis 90/Die Grünen angenommen .
Vizepräsident Johannes Singhammer
Tagesordnungspunkt 32 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({20})
Sammelübersicht 319 zu Petitionen
Drucksache 18/8417
Wer dafür stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen . Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 319 ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD
und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der
Fraktion Die Linke angenommen .
Tagesordnungspunkt 32 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({21})
Sammelübersicht 320 zu Petitionen
Drucksache 18/8418
Wer dafür stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen . -
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammel-
übersicht 320 ist mit den Stimmen von CDU/CSU und
SPD gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen .
Ich rufe jetzt den Zusatzpunkt 3 auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 29. Juni 2015
zwischen der Regierung der Bundesrepublik
Deutschland und der Regierung der Republik
Kosovo über die justizielle Zusammenarbeit
in Strafsachen
Drucksache 18/8211
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz ({22})
Drucksache 18/8642
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({23})
zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe Kekeritz,
Dr . Frithjof Schmidt, Claudia Roth ({24}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Rates über die Unterzeichnung und die vorläufige Anwendung des Wirtschaftspartnerschaftsabkommens zwischen der Europäischen
Union und ihren Mitgliedstaaten einerseits
und den SADC-WPA-Staaten andererseits
KOM({25}) 8 endg.; Ratsdok. 5608/16
und
zu dem Vorschlag für einen Beschluss des
Rates über die Unterzeichnung und die
vorläufige Anwendung des Wirtschaftspartnerschaftsabkommens zwischen den
Partnerstaaten der Ostafrikanischen Gemeinschaft einerseits und der Europäischen
Union und ihren Mitgliedstaaten andererseits
KOM({26}) 63 endg.; Ratsdok. 6126/16
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-
regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes
Wirtschaftspartnerschaftsabkommen mit der
Entwicklungsgemeinschaft des südlichen Afri-
ka und der ostafrikanischen Gemeinschaft ab-
lehnen
Drucksachen 18/8243, 18/8643
Zusatzpunkt 3 a . Der Ausschuss für Recht und Ver-
braucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 18/8642, den Gesetzentwurf der Bun-
desregierung auf Drucksache 18/8211 anzunehmen . Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wol-
len, um das Handzeichen . - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD bei
Enthaltung der Fraktion Die Linke und von Bündnis 90/
Die Grünen angenommen .
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung . Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben . -
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Ge-
setzentwurf ist damit mit den Stimmen von CDU/CSU
und SPD bei Enthaltung der Fraktion Die Linke und von
Bündnis 90/Die Grünen angenommen .
Wir kommen jetzt zum Zusatzpunkt 3 b . Der Aus-
schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 18/8643, den Antrag der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/8243 abzulehnen .
Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die
Beschlussempfehlung ist damit mit den Stimmen von
CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der Fraktion Die
Linke und von Bündnis 90/Die Grünen angenommen .
Damit kommen wir jetzt zu den Tagesordnungspunk-
ten 7 a und 7 b, die ich hiermit aufrufe:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten
Gesetzes zur Änderung des Telemediengesetzes
Drucksache 18/6745
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Energie ({27})
Drucksache 18/8645
b) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr . Konstantin von Notz, Luise Amtsberg,
Volker Beck ({28}), weiteren Abgeordneten und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie
den Abgeordneten Halina Wawzyniak, Herbert
Behrens, Dr . Petra Sitte, weiteren Abgeordneten
und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Telemediengesetzes - Störerhaftung
Drucksache 18/3047
Vizepräsident Johannes Singhammer
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Energie ({29})
Drucksache 18/3861
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 38 Minuten vorgesehen . - Widerspruch
höre ich keinen . Dann ist das somit beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Marcus Held für die SPD .
({30})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! In dieser Woche hatte ich eine Schülergruppe hier im Bundestag in Berlin zu Gast, so wie
hier heute sicherlich auch einige zugegen sind . Sie kamen aus Polen, genauer gesagt aus Koscian, dem Partnerlandkreis des Landkreises Alzey-Worms in meinem
Wahlkreis .
({0})
Als ich versucht habe, meine aktuellen Tätigkeitsfelder
im Bundestag zu beschreiben, scheiterte es an der Übersetzung des Begriffs der WLAN-Störerhaftung . Ich versuchte es dann ein bisschen anders und habe gefragt: Wie
sieht es aus, kennt ihr es, dass ihr auf eurem Smartphone
ein Kennwort eingeben müsst, wenn ihr euch über einen
Hotspot ins Internet einwählen wollt? Da rief dann die
Lehrerin gleich: Nein, das kennen wir in Polen nicht,
aber wenn wir in Alzey in Deutschland sind, dann müssen wir das regelmäßig tun .
({1})
Diesen Zustand wollen wir mit der heutigen Gesetzesänderung beenden .
({2})
Mit der Änderung des Telemediengesetzes sorgen wir
heute dafür, dass in Deutschland endlich gleiche Möglichkeiten und gleiche Chancen bestehen wie in anderen
europäischen Ländern schon seit vielen Jahren . Denn wir
sind das einzige Land in Europa und vielleicht sogar in
der Welt, das über eine solche längst überholte Regelung
verfügt .
({3})
Heute machen wir hier im Deutschen Bundestag endlich
den Weg frei für offene WLAN-Netze und - das ist richtig und wichtig - für eine moderne digitale Infrastruktur
in unserem Land .
({4})
Künftig haben Private die Möglichkeit, ihre
WLAN-Router zu öffnen und sie so zu echten Hotspots
zu machen, und das ohne die Gefahr, für Rechtsverletzungen Dritter in Haftung genommen zu werden, so wie
dies bisher leider der Fall gewesen ist . Wir brauchen diese Hotspots auch in Cafés, in Bibliotheken, in Schulen,
auf den Marktplätzen dieser Republik und überall dort,
wo sich Tourismus in Deutschland entwickelt und sich
Gäste mithilfe des Internets über ihr jeweiliges Umfeld
informieren wollen, beispielsweise wenn sie hier in Berlin unterwegs sind . Wir schaffen Rechtssicherheit, meine
Damen und Herren, die alle Betreiber brauchen, egal ob
Freifunk-Initiativen, Handelsverbände oder unsere Kommunen, die sich ja seit vielen Wochen und Monaten mit
dem Ziel befassen, öffentliche Hotspots intensiver auszubauen und zu installieren .
Die rheinland-pfälzische Landesregierung unter
Malu Dreyer beispielsweise hat sich zum Ziel gesetzt,
1 000 Hotspots in Rheinland-Pfalz zu installieren und
dafür zu sorgen, dass alle öffentlichen Gebäude, die einen Internetanschluss haben, auch einen öffentlichen
WLAN-Zugang um- bzw . einbauen müssen . Das ist vorbildlich . Ich möchte an dieser Stelle, auch wenn auf der
Bundesratsbank niemand sitzt, alle Bundesländer auffordern, diesem positiven Beispiel - dieses Ziel kann aufgrund unserer Gesetzesänderung nämlich noch leichter
umgesetzt werden - nachzueifern .
Wir haben in der Koalition sehr lange über dieses Thema diskutiert . Wir, die SPD, hätten es gerne schon viel
früher abgeschlossen . Aber wir können heute im Ergebnis sagen: Es gibt keine Zwischenlösungen; sie alle sind
vom Tisch . Es wird keine Vorschaltseiten und keine Passwortpflicht geben. Die heutige Gesetzesänderung fördert
echtes freies WLAN .
({5})
Neben dem WLAN möchte ich noch kurz auf § 10
unseres Entschließungsantrages eingehen . Unser Ziel
ist es, gegenüber Internetplattformen, deren Geschäftsmodell im Wesentlichen auf der Verletzung von Urheberrechten beruht, wirksam vorgehen zu können und das
Recht durchzusetzen . Diese Diensteanbieter sollen sich
nicht länger auf das Haftungsprivileg, welches sie als
Host-Provider genießen, zurückziehen können und insbesondere keine Werbeeinnahmen mehr erhalten .
Jetzt hoffen wir gemeinsam, dass das Gesetz auch formell schnell wirksam wird . Denn am dritten Wochenende
im September ist in Alzey Winzerfest; dann kommen die
Schüler aus Koscian wieder . Spätestens dann sollen sie
kein Passwort mehr eingeben müssen .
Danke schön .
({6})
Für die Fraktion Die Linke spricht jetzt die Kollegin
Dr . Petra Sitte .
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch ich
hatte die Hoffnung, dass wir uns heute zum letzten Mal
Vizepräsident Johannes Singhammer
mit dem Problem der Störerhaftung bei offenen WLANs
beschäftigen .
({0})
Was Sie heute vorschlagen, geht zum Teil in die richtige
Richtung . Aber den entscheidenden Knoten, von dem Sie
gerade selbst gesprochen haben, lösen Sie leider nicht .
({1})
Ja, es gibt Verbesserungen gegenüber dem, was ursprünglich geplant war . Zum Glück verzichten Sie beispielsweise auf irgendwelche Pflichten für WLAN-Anbieter wie nutzlose Vorschaltseiten . Vernünftigerweise
verzichten Sie auch darauf, die Haftungsprivilegien für
Host-Provider zu schleifen . Die heftige Kritik, die an den
ursprünglichen Plänen geäußert wurde, scheint also - zumindest teilweise - angekommen zu sein . Aber Ihr Vorschlag - da muss ich Ihnen widersprechen - ändert de
facto nichts am heutigen Problem der Störerhaftung .
({2})
Der entscheidende Knackpunkt ist nämlich der sogenannte Unterlassungsanspruch .
({3})
Bisher können Rechteinhaber bzw . deren Anwaltskanzleien vom Rechteverletzer eine Erklärung verlangen,
dass eine angeblich getätigte rechtswidrige Handlung
künftig ausbleibt . Bei Zuwiderhandlung wird dann nicht
selten eine saftige Geldstrafe fällig .
({4})
Nach derzeitiger Rechtsprechung können solche Ansprüche auch gegen WLAN-Anbieter erhoben werden .
Es kann also von einer WLAN-Anbieterin verlangt
werden, eine mögliche rechtswidrige Handlung eines
WLAN-Nutzers zu unterbinden . Dies ist insbesondere
für private WLAN-Anbieter, wie wir alle wissen, kaum
zu kontrollieren . Die Experten raten deshalb, die Haftungsfreistellung von WLAN-Betreibern explizit auf die
Unterlassungsansprüche auszuweiten .
({5})
Im ursprünglichen Gesetzentwurf der Bundesregierung war das auch noch vorgesehen . An genau dieser
Stelle haben die Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen aber gegen den Gesetzentwurf der Bundesregierung gearbeitet; Sie haben das nämlich wieder
gestrichen . So werden nach Ihrem Vorschlag weiterhin
WLAN-Anbieter für die Handlungen ihrer Nutzer haftbar gemacht werden .
({6})
Sie wollen zwar klarstellen, dass die Haftungsprivilegierung nach § 8 des Telemediengesetzes grundsätzlich
auch für WLAN-Anbieter gilt . Nur ist das leider auch
schon nach jetzigem Recht so .
({7})
Dumm nur, dass nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes die Haftungsprivilegierung des § 8 Telemediengesetz gerade nicht für Unterlassungsansprüche gilt .
Was wäre wirklich nötig? Wir Linken und die Bündnisgrünen haben einen Gesetzentwurf eingebracht, der
umfassende Rechtssicherheit garantieren würde .
({8})
Er basiert auf einem Vorschlag des Vereins Digitale Gesellschaft .
Wenn Sie meinen - so verbreiten Sie es ja auch in
den sozialen Netzwerken -, dass die Erwähnung dieses
Themas in der Begründung Ihres Gesetzentwurfs ausreicht, kann ich Ihnen nur entgegnen, dass der für Urheberrechtsfragen zuständige I . Zivilsenat des Bundesgerichtshofs immer wieder ausdrücklich erklärt hat, dass
eine Erwähnung in der Begründung nicht genügt, wenn
dies keinen hinreichenden Niederschlag im Gesetzestext
findet.
({9})
Die Linke hat einen solchen Gesetzentwurf sogar
schon in der letzten Legislaturperiode eingebracht . Wir
hätten also bereits seit drei Jahren Rechtssicherheit haben
können - aber das nur einmal nebenbei .
Wir wollen ganz explizit die Haftungsfreistellung
auch für gewerbliche und nichtgewerbliche WLAN-Anbieter festschreiben und sie insbesondere auf Ansprüche
auf Unterlassung ausweiten . Dann kann kein Gericht dieses Landes mehr auf die Idee kommen, hier anders zu urteilen - und es wird weitere Rechtsstreite geben . Das ist
für diejenigen, die auf die offenen WLANs warten, extrem wichtig . Auch für die Anbieter ist es extrem wichtig .
Dazu müssten Sie allerdings dem von den Grünen und
uns vorgelegten Vorschlag Ihre Stimme geben . Ich hoffe,
dass das bei Ihnen auch in irgendeiner Weise seinen Niederschlag findet; denn wir müssen davon ausgehen, wie
ich anfangs gesagt habe, dass wir uns weiter mit diesem
Thema beschäftigen werden, weil weitere Rechtsstreite
folgen - was sehr schade ist, da man die Chance hatte,
hier etwas zu ändern .
Besten Dank .
({10})
Das Wort hat jetzt für die CDU/CSU-Fraktion der
Kollege Axel Knoerig .
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Diese Abstimmung heute hat schon eine gewisse - in Anführungsstrichen - „historische“ Bedeutung; denn wir ebnen
den Weg für freies WLAN in der Bundesrepublik .
({0})
In ganz Deutschland soll es künftig offene Netze geben. Damit wird der flächendeckende Internetausbau
weiter beschleunigt . Gerade für die ländlichen Regionen
ist das besonders wichtig . Als jemand, der aus dem ländlichen Raum kommt, sage ich das bewusst immer wieder .
Wir haben immer noch viel zu viele Gemeinden, in denen
die insbesondere für Downloads entscheidenden Bitraten
nur sehr gering sind und in weiten Teilen sogar das Mobilfunknetz nur sehr unzureichend ausgebaut ist .
Wir ergänzen dies durch eine bundesweite Breitbandförderung, insbesondere durch das geplante DigiNetz-Gesetz zur Beschleunigung des Glasfaserausbaus .
Wir müssen nämlich die weißen Flecken auf unserer
Landkarte bis 2018 ausradieren . Das wird auch gelingen,
und zwar auch durch das WLAN .
Damit ist eine gute Nachricht für alle Hoteliers und
Besitzer von Gastronomiebetrieben verbunden: Sie müssen nicht mehr dafür haften, wenn ihre Gäste Rechtsverstöße im Internet begehen . Wir alle kennen aus unseren
Wahlkreisen das Dilemma, von dem uns Hoteliers und
Cafébetreiber berichten . Es gehört heute dazu, dass man
den Kunden ein funktionsfähiges WLAN anbietet; denn
man möchte konkurrenzfähig sein . Illegale Downloads
seitens der Nutzer haben den Hoteliers und Cafébetreibern in den vergangenen Jahren aber teure Abmahnungen
beschert .
({1})
Doch damit ist nun Schluss . Wir geben den WLAN-Betreibern Rechtssicherheit . Dazu werden sie mit den Netzanbietern gleichgestellt. Das bedeutet: Sie profitieren
vom Haftungsausschluss . Den Regierungsentwurf haben
wir gerade auch dahin gehend verbessert . Dabei orientieren wir uns sehr wohl inhaltlich an dem, was der Generalanwalt am Europäischen Gerichtshof vorgegeben hat .
Schließlich ist es nötig und wichtig, zu schauen, wie es
auf EU-Ebene geregelt ist . Er hat ganz klar ausgeführt,
dass es keine völlige Haftungsfreistellung geben kann .
Das heißt: Wenn in einem Netz eindeutig Rechtsverstöße
erfolgt sind, muss ein Unterbinden weiterer Vergehen per
Gerichtsbeschluss möglich sein .
Dieser Punkt wird bei den Linken sowie bei den Grünen und leider in Teilen auch von der SPD vernachlässigt . Wir können doch nicht den Schutz von WLAN-Betreibern über den Schutz geistigen Eigentums stellen .
Das sagt der Generalanwalt am EuGH .
Vielmehr brauchen wir ein Gleichgewicht zwischen
der Informations- und der unternehmerischen Freiheit
einerseits sowie dem Urheberrecht andererseits . Mit unserer Regelung haben wir eine ausgewogene Balance
dieser Grundrechte erzielt . WLAN-Betreiber, Nutzer und
Rechteinhaber werden gleichermaßen berücksichtigt,
und das bei einer praktikablen Handhabung .
Meine Damen und Herren, damit erfüllen wir den
Koalitionsvertrag . Darin steht auch, dass wir die Bürger über die Risiken, die mit der Nutzung offener Netze
verbunden sind, aufklären . Ich möchte darauf hinweisen,
dass man sensible Daten, etwa beim Onlinebanking, nur
in privaten Netzen abrufen sollte . Ebenso sind E-Mails
zu verschlüsseln . Wir müssen - auch das haben wir im
Koalitionsvertrag festgehalten - diese grundlegenden
IT-Kompetenzen in der Zukunft noch stärker vermitteln .
Im Regierungsentwurf war vorgesehen, die Haftung
von Plattformbetreibern zu regeln . Da haben wir ganz
klar gesagt: Das muss auf europäischer Ebene geregelt
werden . Das betrifft besonders Geschäftsmodelle, die im
Wesentlichen auf Verletzung von Urheberrechten beruhen . Diesen Plattformen muss schlichtweg der Geldhahn
zugedreht werden . Sie dürfen keine Werbeeinnahmen
mehr kassieren .
Meine Damen und Herren, diese Änderungen beim
Telemediengesetz werden gewiss nicht die letzten sein .
Der digitale Wandel wird weiterhin rechtliche Anpassungen erfordern . Wir als Union setzen dabei auf eine verantwortungsvolle Digitalpolitik .
Mit diesem WLAN-Gesetz legen wir das Fundament
für neue Geschäftsmodelle . Wir geben heute innovativen
Diensten die Möglichkeit, sich freier und leichter zu entwickeln .
({2})
Ich rufe insbesondere die Kommunen und die Landkreise, aber auch die Bibliotheken, dazu auf, WLAN-Netze
einzurichten und anzubieten; denn sie sind sehr wohl das hat auch Kollege Held treffend gesagt - ein wichtiger
Faktor für Bildung, Tourismus und Wirtschaft .
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
({3})
Nächster Redner ist der Kollege Dr . Konstantin von
Notz, Bündnis 90/Die Grünen .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit Mai 2010 gibt
es die Entscheidung des BGH zum Musiktitel Sommer
unseres Lebens. Seitdem gibt es diese Rechtsunsicherheit, über die wir heute reden . Aus dem Sommer unseres
Lebens sind sechs Jahre unseres Lebens geworden - was
für ein Wahnsinn! -: sechs Jahre Unklarheit, welche
Pflichten man erfüllen muss, um aus der Haftung genommen zu werden, wenn man seine Netze für Dritte öffnet;
sechs Jahre, in denen die Digitalisierung Deutschlands
eines der Topthemen war, und zwar gesellschaftlich wie
wirtschaftlich; sechs Jahre Regierungsverantwortung der
CDU/CSU, die bei einer ganz entscheidenden Grundlage
der Digitalisierung voll auf der Bremse stand und nicht
aus dem Quark gekommen ist .
Trotz Forderungen von allen Seiten, diese Rechtsunsicherheit durch gesetzliche Klarstellung zu beseitigen,
hat erst, Dorothee Bär, Schwarz-Gelb nichts unternommen . Auch danach ist trotz Appellen aus der wegweisenden Enquete-Kommission „Internet und digitale
Gesellschaft“ und trotz der Zusage im Koalitionsvertrag
der Großen Koalition, als Gesetzgeber endlich Rechtssicherheit herzustellen, lange, viel zu lange, nichts passiert .
Das ist und bleibt ein Armutszeugnis, meine Damen und
Herren .
({0})
Dabei ist es gar nicht so schwer: Die Opposition, Linke und wir, haben direkt zu Beginn dieser Wahlperiode
einen Gesetzentwurf vorgelegt . Sie haben mit einigen
Jahren Verzögerung einen Gesetzentwurf der Bundesregierung nachgeschoben, der in die völlig falsche Richtung ging: weitreichende Verpflichtungen für WLAN-Betreiber, ihre Netze zu schützen, die so abwegig waren,
dass sich peinlicherweise selbst die eigenen Ministerien,
Frau Bär, bis heute nicht daran halten; fernliegende, dem
TMG fremde Unterscheidungen zwischen privaten und
kommerziellen Anbieterinnen und Anbietern; namentliche Registrierungen, die man sonst nur aus autoritären
Staaten kennt . Auch § 10 TMG war von vornherein völlig abwegig .
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung war insgesamt gänzlich untauglich und hätte zu mehr Rechtsunsicherheit und zu weniger offenen Netzen geführt . Da fragt
man sich: Wie kann es eigentlich nach Jahren zu einem
solchen Gesetzentwurf der Bundesregierung kommen?
Wenn sich solche Fragen stellen, meine Damen und Herren, dann macht man etwas grundsätzlich falsch, liebe
Regierung .
({1})
- Zum Parlament komme ich noch, Thomas . - Der Gesetzentwurf wurde zu Recht von allen Seiten, selbst von
den eigenen Sachverständigen in der Bundestagsanhörung und von den eigenen Ministerien, zerrissen . Es war
klar: Es musste etwas Neues her . Aber statt sich auf unseren lichtvollen und wegweisenden Entwurf der Opposition zu beziehen,
({2})
brauchte es erst ein Machtwort der Kanzlerin, um das
mittlerweile maximal peinliche Nicht-aus-dem-QuarkKommen der Koalition zu beenden . Verhindert werden
sollte vor allen Dingen auch die nächste Klatsche vom
EuGH .
Seit vorgestern Abend wissen wir, dass Sie die zwei
zentralen Versprechen, die Sie gemacht haben,
({3})
nicht erfüllen, nämlich erstens Rechtssicherheit herzustellen und zweitens die Störerhaftung zu beseitigen .
Verstehen Sie es nicht falsch: Ich sehe durchaus auch,
dass es in manchen Bereichen im Hinblick auf den Vorschlag der Bundesregierung Verbesserungen gibt . Sowohl die Klarstellung in § 8 TMG als auch der komplette
Wegfall des § 10 und des absurden Konstrukts - auch
das muss man sich vor Augen führen - der „besonders
gefahrgeneigten Dienste“ ist eine Verbesserung .
Aber während der Entwurf der Bundesregierung die
Notwendigkeit erkannt hatte, eine saubere Klarstellung
im Gesetzestext selbst vorzunehmen, fehlt diese bei Ihnen . Stattdessen überlassen Sie es den überlasteten Gerichten erneut, nach Ihrer Begründung eines Änderungsantrags im Bundestag zu googeln, um das Gesetz, das
Sie vorgelegt haben, auslegen zu können . Was für ein
Wahnsinn! Sie beziehen sich dabei auf das Argument des
Generalanwalts am EuGH . Was machen Sie eigentlich,
wenn der EuGH anders entscheidet? Sollen dann die
Menschen weitere sechs Jahre auf freies WLAN warten,
nur weil Sie es nicht schaffen, dies direkt ins Gesetz zu
schreiben? Es ist unfassbar, meine Damen und Herren .
({4})
Den einzigen guten Punkt in dem Entwurf der Bundesregierung haben Sie herausgestrichen . Herr Knoerig
hat eben ziemlich unverhohlen die Motive dafür genannt .
Deswegen sage ich voraus, dass sich Frau Merkel heute Abend auf der CDU-MediaNight gerade nicht dafür
feiern lassen kann, die Störerhaftung beseitigt zu haben .
Jegliche Siegerpose ist fehl am Platz . Sie sind den entscheidenden Schritt eben leider nicht gegangen .
({5})
Sie haben keine Rechtssicherheit hergestellt, sondern das
erneut an die Gerichte delegiert . Das ist für dieses Parlament ein Armutszeugnis und leider zu wenig . Ich bedauere das hochgradig .
Herzlichen Dank .
({6})
Für die SPD spricht jetzt der Kollege Lars Klingbeil .
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Bundestag macht heute den Weg für mehr offenes
WLAN in Deutschland frei . Das ist das Ergebnis einer
langen Diskussion, die wir hatten, und es ist das Ergebnis
eines Gesetzentwurfs, den Sigmar Gabriel mit dem Wirtschaftsministerium auf den Weg gebracht hat .
Wir als Koalition haben in den letzten Wochen um
den richtigen Weg gerungen . Aber es ist klar: Wir verabschieden heute einen Gesetzentwurf in zweiter und dritter Lesung, der endlich den Weg für offenes WLAN in
Deutschland frei machen wird . Es ist gut, dass wir heute
im Parlament endlich diese Entscheidung treffen .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Ergebnis einer
langen Diskussion ist ein Paradigmenwechsel, den wir
erreicht haben . Ich erinnere daran, dass wir noch vor einem Jahr - ich glaube, das kann jeder, der sich mit dem
Thema beschäftigt hat, bestätigen - immer zuerst zu der
Frage kamen, was es bedeutet, wenn wir in Deutschland
WLAN-Netze öffnen . Es war von Urheberrechtsverletzungen, die massenhaft zunehmen würden, und von
Straftaten die Rede, die vielleicht in Cafés und Restaurants geplant würden . Das waren doch die Argumente,
gegen die wir immer wieder anargumentieren mussten .
Ich glaube, mit dem Gesetzentwurf gelingt es wirklich, den Paradigmenwechsel zu schaffen: weg von den
Gefahren, die immer wieder gesehen werden, wenn es
um offene Netze geht, und hin zu den Chancen, die wir
sehen und definieren. Ich finde, das ist ein großer Erfolg
des Parlaments . Das haben wir auch gemeinsam mit den
Oppositionsfraktionen in der Diskussion erreicht . Dafür
ein großer Dank an alle, die daran mitgewirkt haben!
({0})
Das ist aber bei Weitem nicht nur das Verdienst der
Politik . In den letzten Jahren hat es immer wieder Akteure gegeben, beispielsweise vorneweg die Freifunker, die
darum gerungen haben, dass wir eine solche Gesetzesänderung auf den Weg bringen . Internetvereine wie D64
oder die Digitale Gesellschaft, Akteure wie der Deutsche
Städte- und Gemeindebund, der Deutsche Handelsverband, aber auch rot-grüne Landesregierungen haben begrüßt, was wir jetzt auf den Weg bringen, und sagen, dass
das, was die Große Koalition verabschiedet, der richtige
Weg ist . Alle diese Akteure haben ein großes Verdienst
daran, dass wir endlich freie und offene WLANs in
Deutschland schaffen .
({1})
Der Gesetzentwurf zeigt also, dass Politik lernfähig
ist . Wir schaffen mit offenen WLAN-Netzen einen weiteren Teil einer modernen digitalen Infrastruktur . Das DigiNetz-Gesetz ist angesprochen worden . Der Breitbandausbau ist auch erwähnt worden . Wir sorgen also dafür,
dass es eine gute digitale Infrastruktur in Deutschland
gibt .
Wir alle wissen aus unseren Erfahrungen, dass heute
häufig eine der ersten Fragen in Hotels oder Restaurants
die nach einem WLAN ist . WLAN ist Innovationstreiber .
Viele Geschäftsmodelle werden entstehen . Wir werden
eine Modernisierung der Innenstädte erleben . Ich selber
komme aus dem ländlichen Raum . Dort spielt der Tourismus eine große Rolle . Es ist ein wichtiger Wirtschaftsfaktor auch für den Tourismus, dass wir dort freie und
offene WLAN-Netze bekommen werden .
Dieses Gesetz, das wir heute auf den Weg bringen,
steht in einer Reihe mit vielen anderen Prozessen, die
wir erleben - etwa hier in der Stadt Berlin, wo 600 Hotspots geschaffen werden . Die Kirche in Brandenburg und
Berlin hat sich auf den Weg gemacht, zunächst 300, bald
3 000 Hotspots zu schaffen .
({2})
Und wir sehen, dass erste Städte - etwa Erlangen - in ihren Innenbereichen eine komplett offene WLAN-Struktur schaffen . Unser Gesetz kann dann dafür sorgen, dass
auch Private künftig nicht mehr vor ihrer Haftung für
Rechtsverletzungen Dritter Angst haben müssen .
Weil ich in den letzten Tagen auch etwas über eine
„Mogelpackung“ gelesen habe, die wir hier angeblich
auf den Weg bringen, will ich noch einmal vorlesen, was
im Gesetz und in der Gesetzesbegründung explizit steht .
Dort steht:
Die Haftungsprivilegierung
- die dank der gesetzlichen Änderungen zweifelsfrei
auch für WLAN-Anbieter gilt -,
umfasst … auch die verschuldensunabhängige Haftung im Zivilrecht nach der sog . Störerhaftung und
steht daher nicht nur einer Verurteilung des Vermittlers zur Zahlung von Schadenersatz, sondern auch
seiner Verurteilung zur Tragung der Abmahnkosten
und der gerichtlichen Kosten … entgegen .
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will sagen: Wer
diese Begründung nicht versteht, und wer diesen ausdrücklichen Wunsch des Gesetzgebers an dieser Stelle
nicht versteht, der ignoriert bewusst das, was wir hier auf
den Weg bringen,
({4})
der ignoriert bewusst das Mehr an Rechtssicherheit, das
wir hier schaffen . Und dem kann ich leider keine guten
Absichten unterstellen .
Herzlichen Dank fürs Zuhören .
({5})
Der Kollege Hansjörg Durz spricht jetzt für die Fraktion der CDU/CSU .
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die
Gleichstellung von WLAN-Anbietern - auch von PrivaLars Klingbeil
ten mit klassischen Zugangsprovidern - ist ein riesiger
Schritt nach vorn . Wir schaffen damit Rechtssicherheit,
und zwar insbesondere für diejenigen, die sich bislang
aus Sorge etwa vor teuren Abmahnungen dagegen entschieden haben, WLAN anzubieten . Wir erfüllen damit
unseren eigenen, im Koalitionsvertrag formulierten Anspruch, der da lautete:
Die Potenziale von lokalen Funknetzen . . . als Zugang zum Internet im öffentlichen Raum müssen
ausgeschöpft werden .
Ich denke hier vor allem an die riesigen Potenziale,
die etwa im Einzelhandel, in der Gastronomie, im Tourismus oder auch im Verkehrsbereich stecken . Überall dort
werden digitale Anwendungen den Nutzern in Zukunft
weit einfacher zugänglich gemacht werden . Insofern ist
der heutige Tag ein richtig guter für den Digitalstandort
Deutschland .
({0})
Im Laufe des parlamentarischen Verfahrens stand für
uns neben den Potenzialen, die es zu heben gilt, auch das
Thema Sicherheit im Mittelpunkt . Das in dreierlei Hinsicht:
Zum einen ging es uns um Rechtssicherheit für die
WLAN-Anbieter und damit die Gewähr, vor teuren
Abmahnkosten und vor Schadensersatzansprüchen geschützt zu werden .
Zweitens ging es um die Sicherheit für Rechteinhaber, die auch weiterhin die Möglichkeit haben, Urheberrechtsverletzungen durch gerichtliche Anordnungen wirkungsvoll entgegenzutreten .
Und drittens ging es um die Sicherheit für Nutzer von
offenen WLAN-Verbindungen . Dabei ist sehr interessant,
dass bereits wenige Stunden nachdem die Einigung der
Koalitionsfraktionen bekannt wurde, eine große deutsche
Tageszeitung sofort einen Artikel mit der Überschrift „So
schützen Sie sich in öffentlichen WLAN-Netzen“ veröffentlichte . Sie schrieb darüber, welche Gefahren und Risiken mit dem Surfen in öffentlichen Netzen verbunden
sind . Hier werden wir weiter Aufklärungsarbeit betreiben
und die Nutzer sensibilisieren müssen, potenziell betrügerische Netzwerke zu erkennen, sichere Verschlüsselungen zu nutzen und sensible Daten nicht arglos zu kommunizieren .
Darüber hinaus haben wir in einer Protokollerklärung
die Bundesregierung aufgefordert, uns nach zwei Jahren
zu berichten, wie sich die WLAN-Ausbreitung entwickelt hat und wie es in dieser Zeit mit Rechtsverletzungen ausgesehen hat .
Auch wenn es in der öffentlichen Diskussion also
ausschließlich um das Thema WLAN geht, so regelt das
Telemediengesetz aber nicht nur die Haftung von diesen
Zugangsanbietern, sondern auch von Diensteanbietern,
die zur Datenspeicherung Dritten eine technische Infrastruktur zur Verfügung stellen . Diese sogenannten Host
Provider genießen für die Ausübung ihrer Tätigkeiten
Haftungsprivilegierungen, die jedoch bei Geschäftsmodellen, die sich im Wesentlichen auf Rechtsverletzungen
stützen, in der Praxis zu gravierenden Problemen führen
können . Hier versuchte der Gesetzentwurf, durch die
Charakterisierung eines gefahrengeneigten Dienstes einen Weg zu finden, um Rechtsverstöße einfacher ahnden
zu können . Wir haben die geplanten Maßnahmen und
deren Auswirkungen im parlamentarischen Verfahren
intensiv unter die Lupe genommen . Die Konsultation sowohl der Rechteinhaber als auch der Internetwirtschaft
hat ergeben, dass mit den geplanten Maßnahmen des
§ 10 TMG weder der einen noch der anderen Seite geholfen gewesen wäre . Deswegen haben wir uns dazu entschieden, es beim Status quo zu belassen . Mit dem Koalitionspartner haben wir uns stattdessen darauf verständigt,
die Bundesregierung aufzufordern, sich auf europäischer
Ebene für eine Überarbeitung des Haftungsregimes für
Plattformbetreiber einzusetzen . Ein einheitliches Haftungsregime für Rechtsverletzungen im Internet ist eine
vorrangig europäische Aufgabe . Gerade die aktuellen
Konsultationsprozesse der Europäischen Kommission
zur Haftung von Plattformbetreibern und Intermediären
sind eine gute Gelegenheit, sich hier aktiv einzubringen .
Klar ist, dass wir in Zukunft innovative und wirksame
Ansätze brauchen, um auf die rasante Entwicklung unterschiedlicher Dienste und Geschäftsmodelle reagieren
zu können . Wie die Bekämpfung illegaler Plattformen
gelingen kann, dazu listen wir im Entschließungsantrag
sieben für uns wichtige Punkte auf . Exemplarisch möchte ich auf das Prinzip „Follow the money“ hinweisen .
Wenn wir es schaffen, Geldströme auszutrocknen, indem
solche Plattformen legal keine Werbeeinnahmen generieren können, gehen wir direkt an die Wurzel der illegalen
Geschäftsmodelle .
({1})
Noch zu einem dritten Themenkomplex . Der Bundesrat hat in einer Stellungnahme zum Gesetzentwurf eine
Ergänzung zum § 14 TMG angeregt, um die Durchsetzbarkeit von Persönlichkeitsrechten zu verbessern . Wir
teilen die Position des Bundesrats ausdrücklich . Daher
fordern wir die Bundesregierung in unserem Entschließungsantrag auf, bis Ende des Jahres eine umfassende
Erhebung zu Verletzungen des Persönlichkeitsrechts und
des Rechts am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb durchzuführen und Ergebnisse vorzulegen . Falls
sich aus den Ergebnissen der Erhebung ein Rechtssetzungsbedarf ergibt, soll dieser noch in dieser Legislaturperiode gedeckt werden .
Zum Schluss möchte ich auf Folgendes hinweisen:
Mit dem geänderten Telemediengesetz entwickeln wir
den Digitalstandort Deutschland ein enormes Stück weiter . Wir werden die positiven Auswirkungen in Bälde sehen . Ich bitte Sie daher um Zustimmung .
Vielen Dank .
({2})
Nächster Redner ist der Kollege Christian Flisek für
die SPD .
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Nach dem ehemaligen Vorsitzenden
der SPD-Bundestagsfraktion ist ein Gesetz benannt, nach
dem kein Gesetz den Bundestag so verlässt, wie es von
der Regierung eingebracht wurde . Für dieses sogenannte Struck’sche Gesetz ist die heute debattierte Änderung
des Telemediengesetzes geradezu ein Musterbeispiel .
Der Gesetzentwurf hat uns parlamentarisch sehr intensiv
und lange beschäftigt . Aber im Ergebnis beschließen wir
heute ein Gesetz, das an ganz erheblichen Stellen vom
Regierungsentwurf abweicht . Herr Kollege von Notz,
deswegen sollten Sie sich in zweiter und dritter Lesung
nicht am Regierungsentwurf abarbeiten . Vielmehr sollten
Sie sich mit der heutigen Beschlussvorlage befassen .
({0})
Wir schaffen Rechtssicherheit in Deutschland für öffentliche WLANs; darauf wurde schon hingewiesen . Wir
leisten damit einen ganz erheblichen Beitrag dazu, dass
Deutschland aus der WLAN-Wüste geführt wird . Das ist
allerhöchste Zeit . Die bisher geltende Störerhaftung bei
der Bereitstellung von öffentlichen WLAN-Netzen traf
allzu oft die falschen Personen: den Familienvater, der
oft erst mit der Abmahnung erfahren hat, was alles über
seinen Anschluss möglich ist, oder die Kaffeehausbetreiberin, die die Handlungen ihrer Gäste nicht kontrollieren konnte und die Gäste auch nicht persönlich kannte .
Eine ganze Abmahnindustrie konzentrierte sich auf diese Menschen, um Profite zu machen, ohne irgendeinen
volkswirtschaftlichen Nutzen dabei zu erzielen . Die Bereitsteller von WLAN-Netzen wie etwa der Familienvater oder die Gastronomin waren und sind aus zwei Gründen die falschen Adressaten einer Haftung . Erstens . Sie
wollten sich in den allermeisten Fällen immer rechtstreu
verhalten . Zweitens fehlten ihnen schlicht die Mittel, um
die Nutzer ihrer W-LAN-Netze zu kontrollieren .
Die bisherige Störerhaftung war aus Sicht der Rechteinhaber ein effektives und vielleicht auch ein lukratives
Instrument, aber es war in höchstem Maße unfair . Dieser
Situation schieben wir heute gemeinsam einen Riegel
vor . Deshalb ist es auch richtig, sie abzuschaffen . Um
jede rechtliche Unsicherheit zu beseitigen, haben wir darauf hat der Kollege Klingbeil ausdrücklich hingewiesen - auch klargestellt, dass die Haftungsprivilegierung
jede Art der Haftung umfasst .
Lassen Sie mich aber auch klarstellen, dass die Rechteinhaber nach wie vor nicht schutzlos zu stellen sind .
Das Gegenteil ist der Fall . Wir müssen die Inhaber von
immateriellen Schutzgütern auch im digitalen Zeitalter
schützen; sie brauchen genauso viel Rechte, wie es im
analogen Zeitalter notwendig war und ist . Deswegen ist
es auch ganz wichtig - der Kollege Durz hat darauf völlig zu Recht hingewiesen -, dass wir nicht so tun, als ob
wir in einer globalen digitalen Welt mit nationalem Recht
und nationalen Gesetzen alles lösen könnten .
Die Plattformen, die es im Wesentlichen auf Urheberrechtsverletzungen abgesehen haben und darauf abzielen, die Profite einzufahren, sitzen eben nicht in Deutschland . Sie sitzen nicht in Tuttlingen, sondern sie sitzen in
Timbuktu . Deswegen ist der Ansatz, den wir mit unserem
Entschließungsantrag gehen, nämlich dass wir den Geldströmen folgen wollen oder, besser formuliert, dass wir
solchen illegalen Plattformen nachhaltig den Geldhahn
zudrehen wollen, der richtige Ansatz . Mit dem Entschließungsantrag haben wir genau das in das Hausaufgabenheft unserer Bundesregierung hineingeschrieben .
({1})
Ich glaube, wir können heute gemeinsam diesen Gesetzentwurf guten Gewissens beschließen . Ich würde
mich wirklich darüber freuen; ich sage das ausdrücklich
zu den Kolleginnen und Kollegen der Opposition . Ich
weiß, in der Stellenbeschreibung des Oppositionspolitikers steht Lob für die Regierung nicht drin, das ist nicht
ausdrücklich erwähnt .
({2})
Aber vielleicht können auch Sie irgendwann einmal über
Ihren Schatten springen . Heute wäre dazu die Gelegenheit .
Herzlichen Dank .
({3})
Abschließender Redner in dieser Debatte ist der Kollege Thomas Jarzombek für die CDU/CSU .
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist heute ein guter Tag für das digitale Deutschland . Wir haben
lange daran gearbeitet und heute einen Gesetzentwurf
vorgelegt, den wir auch beschließen werden . Dieses
Gesetz ist vielleicht von seiner Bedeutung her nicht das
größte Gesetz dieser Legislaturperiode, aber vielleicht
eines, das die meisten Menschen zum Aufbruch bringt
und eine ähnliche Dynamik freisetzt wie das Gesetz, mit
dem wir es in der letzten Legislaturperiode erlaubt haben, dass Fernbusse wieder Menschen zwischen Städten
kommerziell transportieren dürfen . Da ist ein richtiger
Boom entstanden, und ich glaube, wir werden jetzt auch
einen WLAN-Boom in Deutschland erleben . Das ist das
Ziel dieses Gesetzes . Deshalb bin ich froh, dass wir den
Gesetzentwurf heute hier beraten und gleich beschließen
werden .
({0})
Der Deutsche Bundestag hat nach dem Struck’schen
Gesetz immer alles zu verändern . In meinen sieben Jahren als Bundestagsabgeordneter habe ich allerdings auch
Gesetze gesehen, die der Bundestag nicht mehr so durcheinandergeschüttelt hat, wie Herr Struck es damals so
plastisch zum Ausdruck gebracht hat . Hier hat das Parlament - da nehme ich den Kollegen von Notz als Kronzeugen - doch wirklich einmal richtige Arbeit geleistet
und das, was die Regierung uns vorgelegt hat, nicht nur
ein bisschen überarbeitet und ein Stückchen verändert;
das Parlament hat vielmehr etwas Neues gebaut, was
wirklich gut ist und von dem ich überzeugt bin, dass es
eine effektive und endgültige Problemlösung ist .
({1})
Zu der Frage der Rechte wurde schon vieles gesagt .
Ich glaube, es ist richtig, mit dem heutigen Tag einen Paradigmenwechsel einzuleiten . Würde man von der Post
reden, würde man sagen: Jetzt ist wieder derjenige dran,
der den Brief verschickt, und nicht der Postbote . - Jetzt
kann man auf das Internet bezogen sagen: Wir fokussieren unser Engagement auf diejenigen, die wirklich große
illegale Plattformen betreiben . Das sind diejenigen, die
damit Geld verdienen und massiv den Urhebern schaden .
Wir gehen nicht mehr gegen Familien mit 14-jährigen
Teenagern vor . Ich glaube, das ist die richtige Ausrichtung für die Rechtsdurchsetzung in Deutschland .
({2})
Es wurde in den letzten Tagen sehr viel darüber diskutiert, ob die Störerhaftung jetzt wirklich abgeschafft wird
oder nicht . Ich verstehe die Rolle der Opposition, und ich
verstehe auch die Eitelkeiten derjenigen, die selber einen
Gesetzentwurf eingebracht haben, den sie übrigens eins
zu eins abgeschrieben haben . Das wurde vorhin schon
einmal gesagt . Wegen Plagiaten mussten manche hier
schon zurücktreten .
({3})
Dass alle diejenigen jetzt enttäuscht sind, kann ich
verstehen . Aber mit der Störerhaftung ist jetzt endgültig
Schluss . Das ist ganz einfach zu erklären: Als hier vorhin
jemand sagte, in einem Bundesland würden jetzt massiv
Hotspots gebaut, raunte mir der Kollege von Notz zu:
Hoffentlich gibt es auch eine ausreichende Prozesskostenkasse . - Lieber Kollege von Notz, wir stellen hier klar,
dass das Providerprivileg, das für die Deutsche Telekom
und andere gilt, künftig für jeden gilt, der in diesem Land
ein WLAN betreibt . Sie können ja einmal fragen, welche
Prozesskostenkasse die Deutsche Telekom hat oder welche Prozesskostenkassen andere haben .
({4})
Auch können Sie fragen, wie viele Abmahnungen sie bekommen haben .
Sie haben auch gelesen, dass es einen Streit unter
Juristen gibt . Sie wissen, dass beispielsweise Professor
Härting zu Recht gesagt hat, vor Abmahnungen - ({5})
- Frage stellen, nicht Zwischenrufe machen, bitte!
({6})
- Ja, eben!
({7})
- Ich wollte Sie nicht provozieren, aber ich gehe der Diskussion natürlich nicht aus dem Weg .
Ich vermute nach Ihrer Reaktion, dass Sie mit einer
Zwischenfrage des Kollegen Dr . von Notz einverstanden
sind .
Ja, sehr gerne .
Lieber Thomas Jarzombek, erst einmal vielen Dank
für die Aufforderung und das Zulassen der Frage . - Ich
habe die eilige Stellungnahme Ihres Sachverständigen,
Herrn Härting, nach der Diskussion gelesen . Er stellte ich hoffe, Sie glauben es mir jetzt einfach - in der Anhörung zu Punkt 8 auf Seite 2 seiner Stellungnahme - ich
zitiere - mit Bezug auf die Regelung des Regierungsentwurfs selbst und die Änderung des Bundesrates fest:
Im Ergebnis teile ich vollumfänglich die Kritik des
Bundesrates an § 8 Abs . 4 TMG-E . Nur durch eine
vorbehaltlose Abschaffung jedweder Störerhaftung
des Betreibers wird man das erklärte Ziel erreichen,
die WLAN-Abdeckung des öffentlichen Raums
nachhaltig zu fördern .
({0})
Jedwede Abschaffung! Sie haben diesen Unterlassungsanspruch, der auch heute noch beklagt werden kann,
eben nicht herausgenommen . Das haben Sie nicht hinbekommen . Herr Knoerig hat auch gesagt, warum: weil
man ihn eben nicht heraus haben will . Man will diese
Unsicherheit bewusst so belassen .
({1})
Sie vielleicht nicht; aber das war ja der Kompromiss .
Und zu dem sollten Sie sich bekennen .
({2})
Lieber Kollege von Notz, ich kann mich gut an die
Anhörung erinnern . Interessanterweise habe ich gerade
noch nachgelesen, was Professor Härting geschrieben
hat . Die Kritik bezog sich ja auf den Regierungsentwurf,
den wir vollständig gestrichen haben . Genau den Satz,
den er kritisiert hat, haben wir gestrichen . Seine Äußerungen bezogen sich darauf, dass im Regierungsentwurf
zwei Konditionen für das Entfallen der Störerhaftung
enthalten waren . Die erste Kondition betraf die Verschlüsselung, die zweite bezog sich auf die Vorschaltseite . Deshalb glaube ich, dass das ein Zeichen ist, dass wir
aus dieser Anhörung gelernt haben . Wir haben gelernt,
diese Dinge - was richtig ist - herauszunehmen . Insofern
sehe ich hier überhaupt keinen Gegensatz . Ich lese vielleicht einmal § 8 so vor, wie er jetzt eben besteht . - So,
jetzt ist er auf meinem iPad verschwunden .
({0})
- Das ist nicht so schlimm, ich habe auch eine mobile
Datenverbindung . Ich empfehle, das einmal nachzulesen .
§ 8 Telemediengesetz, der jetzt für alle gilt, stellt den Betreiber ausdrücklich frei . Das Einzige, was übrig bleibt,
ist der Unterlassungsanspruch .
({1})
Das ist auch richtig, weil wir sonst nicht mehr europarechtskonform wären . Dann stünden wir wieder vor dem
EuGH .
Der Unterlassungsanspruch - das erklären wir auch
noch einmal in der Begründung - gilt dann, wenn es eine
gerichtliche Anordnung gibt . Härting schrieb heute oder
gestern dazu, dass man natürlich keinen Schutz vor einer
Abmahnung bekommen kann, weil eine Abmahnung ja
ungerechtfertigt sein kann . Wir können nur vor Urteilen - und damit gerechtfertigten Abmahnungen - schützen . Genau das ist es, was wir hier tun . Deswegen darf
sich hier keiner mehr hinter die Fichte führen lassen . Es
gibt keinen berechtigten Abmahnanspruch mehr . Punkt .
Aus . Ende .
({2})
Ich beziehe mich jetzt noch einmal auf einen Blogger,
der ansonsten noch viel härter mit allen ins Gericht geht .
Ich finde, dass Markus Beckedahl relativ milde war. Er
schrieb, diese ganze Debatte sei ein gutes Sinnbild für
den Zustand der Digitalen Agenda in der Großen Koalition . Meine Damen und Herren, deshalb sage ich zum
Schluss: Es gibt diejenigen, die im Internet und in den
neuen Technologien viele Chancen sehen . Auch ich zähle mich dazu . Es gibt aber auch viele, die sich fragen,
ob all diese Veränderungen, die jetzt mit solch einer Geschwindigkeit kommen, richtig und gut sind . Sie meinen,
dass man das alles erst einmal durchdenken muss . Wir
müssen uns davor hüten, zuzulassen, dass diejenigen, die
den Weg vorangehen, eine Arroganz entwickeln gegenüber denjenigen, die sagen: Wir müssen darüber noch
einmal einen Tag nachdenken und diskutieren . - Das bezieht sich auf die gesamte Bundesrepublik und nicht nur
auf den Deutschen Bundestag oder auf diese Koalition .
Ich glaube, das muss man bei jeder dieser Abwägungen
immer mit einbeziehen; sonst macht man einen großen
Fehler .
Jetzt sind alle gefordert, sich auf den Weg zu machen .
Ich erwarte, dass jetzt, wo die WLAN-Störerhaftung
abgeschafft ist, mehr WLANs geschaffen werden . Damit meine ich die Städte . Ich appelliere jetzt an meinen
eigenen Oberbürgermeister: In Düsseldorf gibt es zwar
trotz der Störerhaftung schon WLANs - aber nur da,
wo zufällig schon Sendestationen eines großen Netzbetreibers sind . Ich erwarte, dass die Städte jetzt losgehen
und flächendeckende Zonen mit WLANs schaffen, das,
was wir als Voraussetzung geschaffen haben, nutzen, um
den Menschen ein wirklich tolles WLAN-Ergebnis zu
präsentieren . Ich fange selber damit in meinem eigenen
Wahlkreisbüro an . Ich lade alle ein, da zu surfen . Auf
die Abmahnungen, die nicht kommen werden, freue ich
mich schon heute .
Vielen Dank .
({3})
Damit schließe ich die Aussprache .
Tagesordnungspunkt 7 a . Wir kommen jetzt zur Ab-
stimmung über den von der Bundesregierung eingebrach-
ten Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des
Telemediengesetzes . Der Ausschuss für Wirtschaft und
Energie empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 18/8645, den Gesetzent-
wurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/6745 in
der Ausschussfassung anzunehmen . Ich bitte jetzt dieje-
nigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung
zustimmen wollen, um das Handzeichen . - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist da-
mit in zweiter Beratung angenommen mit den Stimmen
von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der Fraktion
Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Wir kommen jetzt zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung . Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben . - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit angenommen mit den Stimmen von CDU/CSU
und SPD gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 18/8645 empfiehlt der Ausschuss, eine Ent-
schließung anzunehmen . Wer für diese Beschlussemp-
fehlung stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen . - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschluss-
empfehlung ist damit mit den Stimmen von CDU/CSU,
SPD, Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Frakti-
on Die Linke angenommen .1)
Wir kommen jetzt zum Tagesordnungspunkt 7 b .
Abstimmung über den von den Fraktionen Bündnis 90/
1) Anlage 3
Die Grünen und Die Linke eingebrachten Entwurf eines
Gesetzes zur Änderung des Telemediengesetzes - Stö-
rerhaftung . Der Ausschuss für Wirtschaft und Ener-
gie empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf der
Drucksache 18/3861, den Gesetzentwurf der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke auf Drucksa-
che 18/3047 abzulehnen . Ich bitte jetzt diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzei-
chen . Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD ge-
gen die Stimmen der Fraktionen Die Linke und Bünd-
nis 90/Die Grünen abgelehnt . Damit entfällt nach unserer
Geschäftsordnung die weitere Beratung .
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 8 a bis 8 c auf:
a) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Stärkung der beruflichen
Weiterbildung und des Versicherungsschutzes in der Arbeitslosenversicherung
({0})
Drucksache 18/8042
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({1})
Drucksache 18/8647
- Bericht des Haushaltsausschusses ({2}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
Drucksache 18/8648
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({3})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine
Zimmermann ({4}), Matthias W .
Birkwald, Susanna Karawanskij, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Schutzfunktion der Arbeitslosenversiche-
rung stärken
- zu dem Antrag der Abgeordneten Brigitte
Pothmer, Kerstin Andreae, Markus Kurth,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Arbeitslosenversicherung gerechter gestal-
ten und Zugänge verbessern
Drucksachen 18/7425, 18/5386, 18/8647
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({5}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Brigitte Pothmer, Markus Kurth, Beate MüllerGemmeke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Arbeitsförderung neu ausrichten - Nachhaltige Integration und Teilhabe statt Ausgrenzung
Drucksachen 18/3918, 18/5119
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 38 Minuten vorgesehen . - Widerspruch
erhebt sich dagegen keiner . Dann ist die Redezeit so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin das Wort der Parlamentarischen Staatssekretärin
Anette Kramme für die Bundesregierung .
({6})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Unter dem etwas kompliziert lautenden Titel
„Gesetz zur Stärkung der beruflichen Weiterbildung und
des Versicherungsschutzes in der Arbeitslosenversicherung“, kurz: AWStG, setzen wir ein weiteres Vorhaben
aus dem Koalitionsvertrag um . Wir leisten mit diesem
Gesetz einen Beitrag zu einer präventiven und aktivierenden Arbeitsmarktpolitik . Ich freue mich sehr, dass
unser Gesetzentwurf bei den Sachverständigen überwiegend auf positive Resonanz stößt . So begrüßen Arbeitgeber- und Gewerkschaftsseite sowie die Bildungs- und
Wohlfahrtsverbände, dass wir mit dem AWStG bei der
Förderung der Grundkompetenzen, die für das Nachholen eines Berufsabschlusses notwendig sind, bei Weiterbildungsmaßnahmen für Geringqualifizierte und in
kleinen und mittleren Unternehmen ein gutes Stück vorankommen . Außerdem führen wir Weiterbildungsprämien ein, die das Durchhalten bis zum Ende einer Ausbildung belohnen sollen .
Wir haben über dieses Instrument lange Zeit diskutiert . Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung
hat noch einmal unterstrichen, dass unser Modell mit
abschlussbezogenen Prämien einen deutlich besseren
Anreiz setzt als etwa ein Modell mit monatlichen Prämien . Die Betroffenen werden besser motiviert . Wir
eröffnen damit Menschen, denen bislang ganz grundlegende Voraussetzungen fehlen, bessere Chancen auf dem
Arbeitsmarkt. Es profitieren aber auch diejenigen, für
die Weiterbildung bisher ohne Anreize oder schlichtweg
verschlossen war, zum Beispiel in kleinen Handwerksbetrieben .
Ein Wort auch zur Finanzierung der Weiterbildungsförderung: Für das Jahr 2016 planen die Agenturen für
Arbeit und die Jobcenter immerhin mit Ausgaben von
insgesamt fast 3 Milliarden Euro für die berufliche Weiterbildungsförderung . Mit mehr Mitteln ist es aber nicht
an jeder Stelle getan, wenn es an Kompetenzen zum Erreichen eines Berufsabschlusses fehlt . Mit dem Gesetz
geben wir deshalb den Agenturen und Jobcentern künftig
Instrumente an die Hand, um Kompetenzen aufzubauen - gerade im niedrigqualifizierten Bereich -, Motivationshemmnisse abzubauen und während der Weiterbildung noch besser zu unterstützen . Schließlich geht es
nicht darum, was gut und teuer klingt, sondern darum,
das zu tun, was hilft und was wirkt . Und am Ende geht
es darum, das umzusetzen, was geht und was wir hier im
Haus auch durchbekommen .
Vizepräsident Johannes Singhammer
Ja, wir als Bundesministerium für Arbeit und Soziales haben vorgeschlagen, den Zugang zum Anspruch auf
Arbeitslosengeld, insbesondere nach einer befristeten
Beschäftigung, auszuweiten, zu erleichtern und die sogenannte Rahmenfrist des Arbeitslosengeldbezuges generell auf drei Jahre zu erweitern . Das hätte bestimmten
Erwerbsbiografien, die durch viele kurzzeitige Beschäftigungen geprägt sind, etwa im Kulturbereich, besser
Rechnung getragen .
({0})
Allerdings war dies innerhalb der Bundesregierung
nicht durchsetzbar . Aber angesichts dessen, was wir erreicht haben, was an Verbesserungen kommt, bin ich,
sind wir durchaus zufrieden . Auch weil wir Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die von Restrukturierung
betroffen sind, künftig schneller Zugang zu beruflicher
Weiterbildung verschaffen . So können notwendige Qualifizierungen von Älteren und von geringqualifizierten
Beschäftigten bereits während der Zeit in einer Transfergesellschaft gefördert werden, wenn der Arbeitgeber
mindestens die Hälfte der Kosten trägt, auch bei Maßnahmen, die zu einem Abschluss im Ausbildungsberuf
führen. Ich finde, dass wir damit das Instrumentarium
der Transfergesellschaften in durchaus sinnvoller Weise
weiterentwickeln .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, beim AWStG geht
es auch darum, möglichst allen Menschen lebenslanges
Lernen zu ermöglichen . Weiterbildung darf kein Luxus
für wenige sein, Weiterbildung muss für alle möglich
sein, egal welche Voraussetzungen sie mitbringen und
egal wie groß der Betrieb ist, in dem sie arbeiten .
Am Ende wollen wir ein Recht auf Weiterbildung
erreichen - in der Praxis, nicht auf dem Papier . Ich bin
der festen Überzeugung, dass wir mit dem AWStG einen
weiteren Schritt in die richtige Richtung gehen . Ich bitte
deshalb um Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf .
Herzlichen Dank .
({1})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Sabine Zimmermann
für die Fraktion Die Linke .
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Sehr geehrte Frau Staatssekretärin! Wissen Sie, dieser Gesetzentwurf ärgert mich eigentlich so
richtig . Sie haben davon gesprochen, dass das Gesetz so
einen schönen, schwierigen Namen hat . Ich sage, es ist
ein vielversprechender Name: Gesetz zur Stärkung der
beruflichen Weiterbildung und des Versicherungsschutzes in der Arbeitslosenversicherung . Eine tatsächliche
Stärkung habe ich aber leider in Ihrem Gesetzentwurf
vergeblich gesucht .
({0})
Sie reden davon, dass Sie Langzeiterwerbslose verstärkt für eine berufliche Weiterbildung gewinnen und
ihre Motivation und ihr Durchhaltevermögen durch
Prämien stärken möchten . Mal wieder tun Sie so, als
ob die Menschen selber ganz alleine daran schuld wären, in welcher Situation sie sich befinden, weil sie wohl
nicht motiviert seien . Fragt sich nur: Wofür motiviert?
In Wahrheit gibt es kaum Weiterbildungsangebote . Statt
dies einzugestehen, bedienen Sie sich immer wieder der
Legende vom unmotivierten Erwerbslosen . Das ist schäbig, meine Damen und Herren . Ich denke, damit muss in
diesem Hause endlich mal Schluss sein .
({1})
Im Jahr 2010 gab es im Bereich des SGB II noch rund
220 000 Zugänge zur beruflichen Weiterbildung, im
letzten Jahr gab es nur noch rund 130 000 - ein Rückgang um über 40 Prozent . Die Zahl der Erwerbslosen im
Rechtskreis des SGB II ging aber im selben Zeitraum um
nur 10 Prozent zurück . Wenn Sie also behaupten wollen,
dass der Rückgang der Weiterbildung den sinkenden Erwerbslosenzahlen folgt, verkaufen Sie die Menschen für
dumm . Da sagen wir: Das kann nicht sein .
({2})
Viele wollen sich weiterbilden, doch Sie lassen sie
nicht . Ich kenne genügend Beispiele aus den Bürgersprechstunden in meinem Wahlkreisbüro oder aber auch
aus meiner Gewerkschaftsarbeit . Anstatt die Weitbildungsinteressierten zu unterstützen, speisen Sie sie mit
Almosen ab, und selbst die kürzen Sie noch über Sanktionen . So sieht Ihre Arbeitsmarktpolitik aus .
Die Bundesregierung wollte einen besonderen
Schwerpunkt beim Abbau der verfestigten Langzeitarbeitslosigkeit setzen . Jetzt sind bald drei Jahre vergangen, und es hat sich nichts getan . Hier haben Sie grandios
versagt .
({3})
Das können Sie nicht schönreden, so wie Herr
Schiewerling immer alles schönredet . Er guckt gar nicht
hoch, er liest ganz verbissen, wahrscheinlich in den neuesten Zahlen, die er wieder nicht versteht .
({4})
Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache, Herr
Schiewerling: Es gibt immer noch über 1 Million langzeiterwerbslose Menschen in diesem Land . Aber Sie tun
an dieser Stelle nichts .
({5})
Wenn Sie mehr Weiterbildungsangebote möchten, dann
müssen Sie einfach auch Geld in die Hand nehmen, dann
müssen Sie dafür sorgen, dass mehr Bildungsmaßnahmen stattfinden. Denn Bildung ist das A und O, um auf
dem Arbeitsmarkt bestehen zu können .
Das Verhältnis muss sich umkehren: Anstatt den
Menschen zu misstrauen oder sie zu verfolgen, sorgen
Sie lieber dafür, dass Langzeiterwerbslose ein Recht auf
Weiterbildung bekommen! Dieses Recht fordern wir als
Fraktion Die Linke ein .
({6})
Alles kann man aber nicht mit Weiterbildung lösen;
denn nicht immer sind es fehlende Qualifikationen, die
einer Arbeitsaufnahme im Weg stehen . Viele Menschen
sind sogar überqualifiziert, weil sie zwei, drei oder vier
Berufsabschlüsse haben . In vielen Regionen gibt es
reichlich qualifizierte Erwerbslose, aber viel zu wenige
Arbeitsplätze . Das ist leider Realität, zum Beispiel in
Ostsachsen: Erst gingen die Betriebe, dann gingen die
Beschäftigten, die Arbeitskräfte; heute ist diese Region
fast ausgeblutet . Wir brauchen hier Perspektiven . Deshalb fordern wir schon lange die Einführung eines öffentlich geförderten Beschäftigungssektors .
({7})
Nun zur Arbeitslosenversicherung . Dazu gibt es in Ihrem Gesetzentwurf ja wirklich überhaupt nichts zu finden . Über zwei Drittel der Erwerbslosen werden nicht im
Bereich der Arbeitslosenversicherung betreut, sondern
im Hartz-IV-System . Fast ein Viertel der Beschäftigten,
die erwerbslos werden, fallen direkt in Hartz IV . Das ist
Ihre Arbeitsmarktpolitik der letzten 15 Jahre .
Die Arbeitslosenversicherung muss wieder der Regelfall bei der Absicherung von Erwerbslosigkeit sein . Dies
betrifft auch im besonderen Maße die kurzzeitig Beschäftigten wie Filmschaffende, aber auch etliche Leiharbeitnehmerinnen und Leiharbeitnehmer gehören dazu .
Für diese bieten Sie ein völlig unzureichendes Angebot .
({8})
Eine wirkliche Antwort wäre, die Rahmenfrist wieder
von zwei auf drei Jahre zu erweitern
({9})
und einen Anspruch auf das Arbeitslosengeld bereits
nach vier Monaten Beitragszeit zu gewähren .
({10})
Ich komme zum Schluss . Diesen Fehler sozialdemokratischer Regierungsverantwortung zu korrigieren, sollte eigentlich auch Anliegen der Genossinnen und Genossen der SPD sein . Ich weiß natürlich, dass Sie das nicht
wollen . Für eine tatsächliche Umsetzung scheinen Sie im
Moment saft- und kraftlos zu sein .
Danke schön .
({11})
Vielen Dank . - Als nächsten Redner rufe ich jetzt den
Kollegen Albert Weiler, CDU/CSU-Fraktion, auf .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich habe
mir sagen lassen, Herr Schiewerling kann keine Zahlen
lesen, die SPD kann auch nichts;
({0})
es geht also ganz schön unter die Gürtellinie hier . Lassen
Sie uns demgegenüber darauf zu sprechen kommen, was
das Gesetz wirklich kann .
Wir beraten heute in zweiter und dritter Lesung das
von uns eingebrachte Gesetz zur Stärkung der beruflichen
Weiterbildung und des Versicherungsschutzes in der Arbeitslosenversicherung . Mit diesem Gesetz nehmen wir
vor allem Geringqualifizierte, Ungelernte und Langzeitarbeitslose in den direkten Fokus, um diese verstärkt in
existenzsichernde Arbeit zu vermitteln, sie passgenau zu
qualifizieren und zu begleiten.
Das ist wichtig und richtig . Das IAB bestätigt, dass
Geringqualifizierte, die an einer abschlussbezogenen
Weiterbildung teilgenommen haben, eine 20 Prozent höhere Beschäftigungswahrscheinlichkeit aufweisen, und
das auch noch nach sieben oder acht Jahren . Dr . Kruppe
vom IAB spricht von sehr hohen und sehr deutlichen Effekten .
Unser Gesetz enthält einen ganzen Blumenstrauß
sinnvoller Maßnahmen, mit denen wir den Zugang zur
beruflichen Weiterbildung für Geringqualifizierte, Langzeitarbeitslose und Ältere verbessern und die berufliche
Qualifikation enorm erhöhen. Auf einige will ich kurz
eingehen .
Wir werden die Grundkompetenzen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer stärker fördern . Daher fördern wir zur Vorbereitung auf eine abschlussbezogene
berufliche Weiterbildung notwendige Grundkompetenzen in den Bereichen Lesen, Schreiben, Mathematik und
Informations- und Kommunikationstechnologien .
({1})
- Danke . - Lese- und Rechenfähigkeit sind unabdingbare
Voraussetzungen, um die berufliche Handlungsfähigkeit
zu erwerben, um schlussendlich auch einen Berufsabschluss erfolgreich nachholen zu können .
Wir werden Weiterbildungsabbrüchen vorbeugen,
indem wir zur Stärkung von Motivation und Durchhaltevermögen Teilnehmerinnen und Teilnehmern einer
abschlussbezogenen Weiterbildung beim Bestehen der
Zwischenprüfung eine Prämie von 1 000 Euro zahlen .
Bei Bestehen der Abschlussprüfung kommen noch einmal 1 500 Euro dazu . Derzeit bricht jeder Vierte vorzeitig seine Weiterbildung ab . Wenn wir es schaffen, diese
Quote zu verringern, dann ist das gut investiertes Geld .
({2})
Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Weiterbildungsförderung für Beschäftigte in kleinen und mittleren Unternehmen. Diese wird weiter flexibilisiert und in BetrieSabine Zimmermann ({3})
ben mit weniger als 250 Beschäftigten künftig gefördert .
Wir stärken in diesem Zusammenhang die Möglichkeiten
der Kofinanzierung von beruflicher Weiterbildung durch
die Agenturen für Arbeit und die Arbeitgeber .
Das Gesetz verbessert zudem den Schutz für berufliche Unterbrechungen bei Weiterbildung oder Kindererziehung nach dem dritten Lebensjahr . Wir schaffen hier
die Möglichkeit zur freiwilligen Weiterversicherung, um
Lücken im Versicherungsschutz zu vermeiden .
Wir entfristen die bis zum 31 . Dezember 2016 befristete Leistung, nach der innovative Ansätze in der Arbeitsmarktpolitik erprobt werden können . Damit stellen wir
der Bundesagentur für Arbeit künftig dauerhaft innovationsfördernde Instrumente zur Verfügung . Das bietet die
Chance, neue Handlungsansätze in der Arbeitsmarktpolitik zu erproben sowie flexibel auf Entwicklungen am
Arbeitsmarkt zu reagieren . Wir fördern somit gezielt die
Kooperation der BA mit verschiedenen Partnern auf regionaler Ebene . Daraus werden sich Synergieeffekte für
die verstärkte Netzwerkarbeit der Agenturen für Arbeit
ergeben .
Ich will es einmal auf den Punkt bringen: Wir stärken
mit unserem Gesetz erstens eine breitere und stärkere
Partizipation von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern an Fort- und Weiterbildung . Zweitens erhöhen wir
die Durchlässigkeit für einen beruflichen Aufstieg. Wir
verbessern drittens die Teilhabe am Arbeitsleben und in
der Gesellschaft . Wir leisten viertens einen wichtigen
Beitrag zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf, und
fünftens geben wir der BA dauerhaft flexible innovative
Instrumente an die Hand, mit denen sie für die Situation
und die Region passende Maßnahmen stricken kann, um
Arbeitslose innovativ in den Arbeitsmarkt zu bringen .
({4})
- Vielen Dank .
Ich bin der festen Überzeugung, dass wir mit diesem
Gesetz große Chancen bei der Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit eröffnen, und danke denen, die daran
gearbeitet haben . Ich freue mich darauf, dass Sie dem
Gesetz zustimmen .
Vielen Dank .
({5})
Vielen Dank . - Für Bündnis 90/Die Grünen spricht
jetzt die Kollegin Brigitte Pothmer .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Peter
Struck hat bekanntermaßen einmal gesagt: Kein Gesetz
verlässt den Bundestag so, wie es eingebracht worden
ist . - Formal trifft das auch auf dieses Gesetz zu, inhaltlich leider nicht, obwohl die Koalition in der Ausschussanhörung, wie ich finde, mit substanzieller Kritik
bedacht worden ist . Frau Kramme, da waren wir offensichtlich in zwei unterschiedlichen Veranstaltungen . Ich
finde es schade, dass Sie sich trotz dieser Kritik so beratungsresistent gezeigt haben .
({0})
Dabei wissen Sie es doch selbst; denn die Zahlen haben wir von Ihnen: Über 1 Million Menschen sind neun
Jahre und länger im Hartz-IV-Bezug . Das ist wirklich ein
grandioses Versagen der Arbeitsmarktpolitik . Das liegt
an den Kürzungen, die im Bereich der aktiven Arbeitsmarktpolitik vorgenommen wurden . Das liegt daran, dass
Sie jahrelang nur Kurzfristmaßnahmen gemacht haben,
die eben nicht zu einer besseren Qualifizierung geführt
haben, und das liegt vor allen Dingen daran, dass Sie
nach dem Motto gehandelt haben: Vermittlung um jeden
Preis, ganz unabhängig davon, ob es in irgendeiner Weise
nachhaltig ist . Diese Strategie ist wirklich gescheitert .
({1})
Ihre Analyse, die Sie in den Gesetzentwurf hineingeschrieben haben, ist ja durchaus richtig . Sie sagen: Wir
haben in Deutschland einen Fachkräftearbeitsmarkt, und
für einen solchen Fachkräftearbeitsmarkt braucht man
bekanntlich Fachkräfte; die muss man qualifizieren, und
in die muss man investieren . Jetzt behaupten Sie, dass
Sie dies mit genau diesem Gesetzentwurf tun würden .
({2})
Das machen Sie in begrenztem Umfang tatsächlich für
die Arbeitslosengeld-I-Bezieherinnen und -Bezieher .
Aber, liebe Frau Kramme, lieber Herr Weiler - Sie haben
hier das große Loblied auf die Bedeutung der Weiterbildung gesungen -: Warum gilt dies bitte schön nicht für
SGB-II-Bezieher, also für diejenigen, die Hartz IV beziehen? Warum gilt für die nicht, dass Weiterbildung vor
Vermittlung steht? Das, was Arbeitslosengeld-I-Bezieher kriegen, kriegen die SGB-II-Bezieher nicht . Warum
nicht? Erläutern Sie uns das mal!
({3})
Für die gibt es keinen einzigen Cent zusätzlich für die
Weiterbildung .
Die Jobcenter stehen vor der Wahl zwischen Pest und
Cholera: Entweder sie fördern einige wenige etwas besser, oder sie fördern viele ganz schlecht . Meine Damen
und Herren, so kann das nicht weitergehen . Mit diesem
Gesetzentwurf zeigen Sie zum x-ten Mal, dass Sie die
SGB-II-Bezieher vollständig abgeschrieben haben . Das
werden wir nicht hinnehmen .
({4})
Kapituliert haben Sie offensichtlich auch vor der Aufgabe, die Arbeitslosenversicherung für die veränderte
Arbeitswelt fit zu machen. Angesichts dessen, dass Sie
mit Ihrer Sonderregelung nur 0,6 Prozent derjenigen erreichen, die Sie erreichen wollten, können Sie doch selbst
nur sagen: Die ist vollständig wirkungslos . - Da Sie diese wirkungslose Regelung jetzt noch einmal verlängern
und damit vor der Aufgabe, in dieser Legislaturperiode
Veränderungen vorzunehmen, kapitulieren: Bitte, sagen
Sie nie wieder: Eine Große Koalition ist dafür da, große
Aufgaben zu lösen . - Das hier ist Pipifax .
({5})
Wenn dieser Gesetzentwurf, wenn diese Regelung die
Blaupause dafür sein soll, wie Sie zukünftig mit den Anforderungen von Arbeit 4 .0 umgehen wollen, kann ich
nur sagen: Gute Nacht, Marie! Arbeit 4 .0 ist nicht irgendetwas, was in der Zukunft stattfindet. Das hat bereits begonnen, und deswegen müssen wir die Regelungen jetzt
anpassen . Das dürfen wir nicht auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschieben .
({6})
Aber, meine Damen und Herren, ich bin ja fair .
({7})
Deswegen sage ich an dieser Stelle auch: Ja, der Gesetzentwurf enthält auch einige wenige positive Elemente .
({8})
Wir finden es gut, dass es jetzt möglich wird, auch die
Ausbildung von Grundqualifikationen zu fördern. Wir
finden es gut, dass es eine Verbesserung der präventiven
Qualifizierung gibt. Deswegen werden wir - schweren
Herzens - diesen Gesetzentwurf nicht ablehnen, sondern
uns enthalten . Aber, meine Damen und Herren, verstehen
Sie das nicht falsch . Das ist wirklich ein großes Zugeständnis . Nehmen Sie zur Kenntnis: Dieser Gesetzentwurf löst die Herausforderungen, vor denen wir stehen,
wirklich nicht .
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit .
({9})
Vielen Dank . - Als Nächstes hat jetzt der Kollege
Michael Gerdes, SPD-Fraktion, das Wort .
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die verschiedenen Maßnahmen des AWStG wurden nun schon
mehrfach zitiert . Sie sind bekannt . Ich möchte deshalb
noch einmal unsere Zielrichtung in den Mittelpunkt stellen .
Dieser Gesetzentwurf, Frau Pothmer, ist kein Pipifax .
({0})
Herzlichen Dank, dass Sie sich kraftvoll enthalten werden! Wir verabschieden diesen Gesetzentwurf, damit
mehr Menschen in unserem Land Zugang zu beruflicher Weiterbildung und Ausbildung haben . Wir wollen
möglichst vielen die Chance geben, so qualifiziert wie
möglich zu arbeiten . Wir wollen denjenigen, die bisher
von Arbeit und Ausbildung ausgeschlossen waren, neue
Wege eröffnen .
({1})
Es ist aus sozialen sowie aus gesellschaftlichen Gründen
nicht hinnehmbar, dass die Mehrheit der Menschen im
SGB-II-Bezug keinen Berufsabschluss nachweisen kann .
Warum wir das AWStG so begrüßen, liegt auf der
Hand: Je geringer die Qualifikation, desto schlechter die
Chancen, desto weniger Teilhabe . Wir Sozialdemokraten wollen selbstverständlich das Gegenteil: Wir wollen
mehr Menschen durch gute Arbeit teilhaben lassen am
gesellschaftlichen Leben. Die Fragen der beruflichen
Weiterbildung werden nicht zuletzt auch aufgrund von
Globalisierung und Digitalisierung immer dringender .
Einerseits wird immer schneller neues Wissen abgefordert, andererseits müssen aber auch die Grundlagen stimmen . Deshalb ist es uns so wichtig, sprachliche sowie
mathematische Grundkompetenzen zu fördern .
({2})
Arbeitsförderung mit Zukunft heißt für uns, die Beschäftigungsfähigkeit zu sichern, und das geht nicht ohne
Bildung . Das geht auch nicht ohne stetige Auffrischung
und Erweiterung des eigenen Könnens . Die Verantwortung für die berufliche Weiterbildung ruht auf mehreren
Schultern: Staat, Arbeitgeber und Arbeitnehmer müssen
ihren Beitrag leisten .
In der gestrigen Ausschusssitzung hieß es, die Regierungsfraktionen vertrauten ihrem eigenen Gesetzentwurf
nicht . Doch, das tun wir . Ich bin überzeugt, dass Ideen
und Ziele richtig sind . Das haben im Übrigen auch die
Experten in der Anhörung bestätigt . Ich war übrigens bei
der gleichen Veranstaltung wie Frau Kramme .
Gleichwohl werden nicht alle Probleme des Arbeitsmarkts mit dem AWStG allein gelöst; das ist richtig .
Liebe Frau Zimmermann, ja, wir haben es zum Beispiel
nicht geschafft, im Rahmen dieses Gesetzentwurfs den
Zugang zum Arbeitslosengeld I so zu regeln, dass kurzzeitig Beschäftigte, insbesondere im Kulturbereich, besser abgesichert sind . Das bleibt für die SPD aber auf der
Tagesordnung; das kann ich Ihnen versprechen .
({3})
Für mich als Abgeordneter aus dem Ruhrgebiet bleibt
ebenso auf der Agenda, dass wir mit Blick auf Langzeitarbeitslose eine Doppelstrategie fordern . Wir müssen
gleichzeitig auch alternative Wege ebnen, wir müssen
die Bildung der Menschen fördern, und wir wollen beispielsweise auch den sozialen Arbeitsmarkt auf den Weg
bringen . Es ist besser, Beschäftigung statt Arbeitslosigkeit zu finanzieren.
({4})
Für Betroffene bedeutet der soziale Arbeitsmarkt gesellschaftliche Teilhabe . Er bedeutet Minimierung materieller und kultureller Teilhabedefizite sowie verbesserte
Chancen auf Reintegration in den ersten Arbeitsmarkt .
Nebenbei werden auch eigenständige Ansprüche in den
sozialen Sicherungssystemen geschaffen . Ich glaube, das
ist einer der Wege, den wir gehen werden .
Herzlichen Dank, Glück auf!
({5})
Vielen Dank . - Als Nächstes spricht der Kollege Uwe
Lagosky, CDU/CSU-Fraktion .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Frau
Pothmer, wir haben es eben gerade noch einmal klären
lassen . Es kam auch im Ausschuss zur Sprache, ist dort
aber nicht geklärt worden . Es ist so: Der Instrumentenkasten des SGB III gilt über die Verweisklausel auch
für das SGB II . Insofern ist das, was Sie gesagt haben,
scheinbar - scheinbar; das sage ich ganz bewusst an der
Stelle - nicht richtig .
({0})
Die Arbeitslosenquote von Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmern mit einem qualifizierten Berufsabschluss entwickelt sich in Richtung Vollbeschäftigung .
Das ist ein Zitat aus der Begründung des Gesetzentwurfs
und bringt zum Ausdruck, dass wir in Deutschland auf
dem richtigen Weg sind . Doch trotz der guten Konjunktur und der vielen unterschiedlichen Unterstützungsprogramme und der immensen Arbeit, die die Jobcenter und
Arbeitsagenturen leisten, hat sich an der Zahl von 1 Million Langzeitarbeitslosen in den letzten Jahren nicht viel
geändert .
({1})
Es kommen Menschen aus der Langzeitarbeitslosigkeit
heraus . Dafür kommen andere wieder hinein .
({2})
Daher ist es von besonderer Bedeutung, sich mit den
Wurzeln des Problems auseinanderzusetzen . Das wollen
wir vor dem Hintergrund dieser Zahlen bei der Langzeitarbeitslosigkeit tun .
({3})
Der vorliegende Gesetzentwurf setzt bei der Stärkung
der beruflichen Weiterbildung an und enthält eine Reihe von Schritten, um die von Langzeitarbeitslosigkeit
betroffenen Menschen besser vermittelbar zu machen .
Mindestens genauso wichtig in dem Gesetzentwurf, den
wir heute verabschieden, ist aber die Tatsache, dass wir
Beschäftigten mit einer geringen Qualifikation, die im
Beruf stehen, über die berufliche Weiterbildung in der
Zukunft eine entsprechende Förderung zukommen lassen können . Damit kann präventiv erreicht werden, dass
eine mögliche Langzeitarbeitslosigkeit dieser Menschen
verhindert wird .
Wir helfen Beschäftigten, Grundkompetenzen zu erwerben, um einen Berufsabschluss nachzuholen . Sie
haben künftig Anspruch auf Förderleistungen in den
Bereichen Lesen, Schreiben, Mathematik, Informationsund Kommunikationstechnologien . Das haben wir heute
schon gehört .
Herr Kollege Lagosky, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Pothmer?
Ich würde das gerne auf das Ende verschieben . Jetzt
nicht .
({0})
Wir gehen davon aus, dass die Digitalisierung der Arbeitswelt und die Veränderung, die damit einhergeht, ein
lebenslanges Lernen erfordern . Insbesondere vor dem
Hintergrund der Arbeitswelt 4 .0 steigen die Ansprüche
an die Beschäftigten in allen Bereichen . Dies ist schon
heute zu erkennen . Deshalb ist es umso wichtiger, dass
wir diese Menschen, die eine geringe Qualifikationsstufe haben, im Beruf so fördern und fordern, dass sie den
Anschluss an den Arbeitsmarkt in der Zukunft nicht verlieren .
Die bereits vorhandene Weiterbildungsförderung für
Beschäftigte in kleinen und mittelständischen Unternehmen hat zu einer wachsenden Nachfrage nach Weiterbildungsmaßnahmen geführt . Daher führen wir eine zusätzliche altersunabhängige Förderung von beruflichen
Weiterbildungen außerhalb der Arbeitszeit ein, die an die
Bedingung geknüpft ist, dass die Arbeitgeber 50 Prozent
der Kosten übernehmen .
In der gesamten deutschen Wirtschaft ist die berufliche Weiterbildung von absolut großer Bedeutung . Die
Weiterbildungsförderung insbesondere in kleinen und
mittelständischen Unternehmen ist ganz besonders wichtig, weil man hiermit denjenigen, die in diesem Bereich
arbeiten und eine geringe Qualifizierung haben, zusätzliche Weiterbildungen ermöglicht . Der Regierungsentwurf
enthält eine ganze Reihe von Schritten, um langzeitarbeitslose Menschen effektiver und nachhaltiger zu unterstützen .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, trotz all dieser Maßnahmen ist aber nicht außer Acht zu lassen, dass es extrem schwierig ist, Langzeitarbeitslose zu vermitteln,
weil es eine ganze Reihe von Vermittlungshemmnissen
gibt, die nicht nur mit Qualifizierung zu tun haben. Das
zeigt auch die Eingliederungsquote nach arbeitsmarktpoMichael Gerdes
litischen Maßnahmen von etwa 23 Prozent im Jahr 2014,
wie dem Bericht der BA zur Arbeitsmarktsituation von
langzeitarbeitslosen Menschen zu entnehmen ist . Das ist
aus meiner Sicht einfach zu wenig .
Die Gründe für Langzeitarbeitslosigkeit - ich sagte es
schon - sind vielschichtig, und sie lassen sich nicht innerhalb kurzer Zeit beseitigen . Unterschiedliche Vermittlungshemmnisse beeinflussen die Arbeitsvermittlung.
Neben der Frage der Qualifikation sind es unter anderem
gesundheitliche Einschränkungen, aber auch Suchtprobleme und die Umstände, dass man älter als 55 Jahre ist
oder in nicht gefestigten Familienstrukturen lebt . All diese Dinge spielen dabei durchaus eine Rolle und führen zu
Vermittlungshemmnissen .
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich komme
zum Schluss . Unser Ziel bleibt es, den Menschen eine
Perspektive zu geben und ihnen die Integration in den
Arbeitsmarkt zu ermöglichen . Der beste Schlüssel dafür
ist der Zugang zu beruflicher Weiterbildung.
Herzlichen Dank .
({1})
Vielen Dank . - Jetzt hat die Kollegin Pothmer zu einer
Kurzintervention das Wort .
Herr Lagosky, es nützt nichts, meine Frage nicht zuzulassen; ich lasse mich nicht mundtot machen .
({0})
Frau Präsidentin, ich danke Ihnen, dass Sie mir diese Möglichkeit eröffnen, weil meine Aussage, das gelte
für das SGB II nicht, infrage gestanden hat . Ich will hier
ausdrücklich betonen, dass diese Aussage richtig ist . Der
Vorrang der Weiterbildung vor der Vermittlung gilt nur
für das SGB III . Aus diesem Grund hat die Bundesagentur für Arbeit in der Anhörung ausdrücklich eine korrespondierende Regelung für das SGB II gefordert . Auch
der Paritätische Wohlfahrtsverband hat in der Anhörung
stark kritisiert, dass diese Möglichkeit eben nicht im Hinblick auf das SGB II gilt . Meine Damen und Herren, ich
habe doch den Eindruck, dass wir bei sehr unterschiedlichen Veranstaltungen waren .
Ich danke Ihnen .
({1})
Herr Kollege Lagosky, möchten Sie darauf antworten? - Dann haben Sie jetzt das Wort .
Frau Pothmer, zunächst einmal hat es sich so angehört, als ob Sie Ihre Aussage auf den gesamten Instrumentenkasten bezogen haben .
({0})
- So hat es sich in Ihrer Rede angehört; insofern mag an
dieser Stelle durchaus noch eine Differenz zwischen uns
bestehen . Wie ich höre, ist das aber nicht der Fall . Ich
kann das an dieser Stelle nicht endgültig aufklären; wir
sollten das aber machen . Gemeinsam mit dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales sollten wir das, was
Sie eben gesagt haben, klären .
Trotzdem kann ich Ihre Auffassung nicht verstehen .
Wenn Sie diesen Gesetzentwurf hier und heute möglicherweise ablehnen, was Sie an anderer Stelle ja schon
einmal geäußert haben,
({1})
dann verstehe ich nicht, warum Sie das tun . Wir haben
mit Blick auf das SGB III den Vorrang der Vermittlung
vor der Weiterbildung, also den Vermittlungsvorrang,
aufgehoben . Ich verstehe nicht, warum Sie dem nicht
zustimmen wollen . Das ist eine ureigene Forderung von
Ihnen, die Sie in einem Antrag erhoben haben . Auch Sie
hätten an dieser Stelle etwas erreicht, wenn Sie heute zustimmen würden . Ich bitte darum, dass Sie das auch tun .
({2})
Frau Kollegin Pothmer, ich kann Ihnen jetzt nicht
noch einmal das Wort geben, weil wir hier keine Zwiegespräche führen . Der einzelne Abgeordnete hat nur die
Gelegenheit, kurz etwas zu einem Sachverhalt zu sagen .
Als Nächster darf der Kollege Dr . Ernst Dieter
Rossmann, SPD-Fraktion, das Wort ergreifen .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn meine Fraktion mir die Möglichkeit gibt, hier als
Bildungspolitiker etwas zu sagen, dann tut sie das, weil
drei Zahlen uns ja wohl alle bewegen: Es gibt 7,5 Millionen funktionale Analphabeten in Deutschland und über
5 Millionen Menschen, die sich ohne abgeschlossene
Berufsausbildung im Erwerbsstatus befinden, von denen
über 1 Million unter 30 Jahre alt ist .
Wenn man diese Zahlen auf sich wirken lässt, kann
man nur für jeden Baustein dankbar sein, den wir einsetzen können, um mehr Chancen für diese verschiedenen
Gruppen von Menschen zu ermöglichen - für jeden einzelnen Baustein .
({0})
Ich will das jetzt nicht zu emotional machen, es aber
auch in Relation dazu setzen, wie diese Koalition hier
ressortübergreifend arbeitet . Wir haben uns gefreut, dass
Staatssekretär Rachel für das BMBF sagen konnte: Die
Kommunen und die Länder engagieren sich in der Alphabetisierungsdekade, und das BMBF gibt 100 Millionen
Euro über zehn Jahre dazu .
Jetzt kommen in der Solidargemeinschaft der Arbeitslosenversicherung noch 230 Millionen Euro für zehn
Jahre obendrauf, um die Grundkompetenzen von Lesen,
Schreiben und Rechnen zu vermitteln und so einen Einstieg in Arbeit zu ermöglichen . Welch ein Erfolg! Welch
ein Schritt, auf dem man aufbauen kann!
({1})
Es geht um die Menschen, die keine abgeschlossene
Berufsausbildung haben, bis zum Alter von 30 Jahren
oder darüber hinaus . Dort schaffen wir jetzt ein Instrumentarium, das neu ist und dem manche auch nicht uneingeschränkt zugestimmt haben, nämlich die sogenannte Weiterbildungsprämie .
Die Weiterbildungsprämie hat ja eine Vorgeschichte .
Mit ihr hat man unter anderem in England gute Erfahrungen gemacht . Sie hat in Teilen eine positive Evaluation in
einem nicht unbedeutenden Land wie Thüringen erfahren . Vielleicht können sich auch die Vertreter der Linksfraktion in Bezug auf Thüringen sachkundig machen und
sich einmal anschauen, welche ersten Erfolge sich dort
schon abzeichnen .
({2})
Im Übrigen ist es doch nur gut, wenn Menschen, die
mit 25 oder 30 Jahren, also in einem Alter, in dem manche
resignieren, ihre zweite Chance ergreifen, in eine Berufsausbildung einsteigen und über eine Zwischenprüfung
und eine Abschlussprüfung einen Abschluss bekommen,
das auch als Erfolg in der Form erleben, dass es für sie
nicht ein Schulterklopfen nach dem Motto „Jetzt hast du
es auch geschafft“ oder eine Urkunde in Goldschnitt gibt,
sondern etwas sehr Handfestes, etwas, was sie begreifen,
was ihnen nützt, mit dem sie renommieren können und
aufgrund dessen sie sich etwas leisten können . So ist die
Weiterbildungsprämie doch gemeint - als Anstoß, als
Motivation, als Aufforderung, durchzuhalten .
({3})
Frau Zimmermann, ich verstehe überhaupt nicht, dass
Sie das so abtun, als sei es diskriminierend gemeint .
Nein, Diskriminierung findet im deutschen humanistischen Bildungswesen bisher an einer anderen Stelle
statt . Zum Beispiel diejenigen, die die High Potentials
in der Wissenschaft sind, oder diejenigen, die ein ganz
tolles Abitur machen, bekommen selbstverständlich ihre
Prämien, nämlich als spezielles Stipendium oder als besonderen Gutschein oder anderes . Aber denjenigen, die
sich verdammt anstrengen, um von ganz unten mit mühsamsten Möglichkeiten Schritt für Schritt nach oben zu
kommen, verwehrt man das .
({4})
Herr Kollege Rossmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Pothmer?
Das brechen wir jetzt auf .
Umgekehrt ist das, was die Arbeitsmarktpolitiker, die
Bildungspolitiker und andere jetzt hier zusammen tun,
auch eine Art und Weise, die Gleichwertigkeit von beruflicher und akademischer Bildung im Grundverständnis mit umzusetzen . Zwar kann man immer noch mehr
machen . Das wird auch geschehen, wenn es denn jetzt
wirksam wird . Aber man soll die ersten Bausteine nicht
kleinreden . Das ist ein Wunsch, den wir zusammen haben .
Danke schön .
({0})
Vielen Dank . - Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt hat jetzt die Kollegin Dr . Astrid
Freudenstein, CDU/CSU-Fraktion, das Wort .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir befinden uns im Jahre 2016. Ganz Europa leidet
noch unter den Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise,
der Staatsschulden- und der Bankenkrise .
({0})
Ganz Europa? Nein, ein von unbeugsamen Deutschen
bevölkertes Land stellt sich dieser Krise wacker entgegen und vermeldet einen Arbeitsmarktrekord nach dem
anderen .
({1})
Das Leben ist deshalb tatsächlich nicht leicht für die
deutsche Opposition, die offenbar mit ihrer Politik diese
Blütezeit beenden will .
({2})
Liebe Opposition, Frau Zimmermann, Sie kommen
mir wirklich vor wie die Römer bei „Asterix“ .
({3})
Sie versuchen es immer wieder . Aber ich sage Ihnen: So
wird das nichts; denn die Zahlen, die nicht nur der Kollege Schiewerling sehr gut lesen kann, sondern die wir
von der Union alle ganz gut lesen können, sprechen eine
andere Sprache .
({4})
- Ein schlaues Dorf . - Als Angela Merkel 2005 Bundeskanzlerin wurde, lag die Arbeitslosenquote bei fast
12 Prozent . Erst vorgestern kamen die aktuellen Zahlen
heraus . Jetzt liegen wir bei 6 Prozent . Das heißt: Unter
Unionsregierung hat sich die Zahl der Arbeitslosen innerhalb eines Jahrzehnts halbiert .
({5})
Dazu gehört natürlich eine gute Konjunktur . Dazu
gehören natürlich Fleiß und Leistungsbereitschaft der
Arbeitnehmer . Dazu gehören natürlich die Risikobereitschaft und die Innovationskraft deutscher Unternehmer .
Aber natürlich haben wir dafür auch mit unserer Politik
die Weichen richtig gestellt . Die Kosten der Arbeit zum
Beispiel sind ein wichtiger Faktor . Wenn wir es weiterhin
schaffen, die Lohnnebenkosten niedrig zu halten, dann
bleibt Deutschland weiter attraktiv, und zwar für Arbeitnehmer wie für Arbeitgeber .
Nicht umsonst hat Rot-Grün damals die Rahmenfrist
in der Arbeitslosenversicherung auf zwei Jahre gesenkt
und die Anwartschaftszeit bei zwölf Monaten belassen .
Das hat Wirkung gezeigt . Seit fast fünf Jahren ist der
Beitragssatz stabil . Das hilft den Arbeitnehmern, denen
damit mehr Netto vom Brutto bleibt .
Natürlich hat sich der deutsche Arbeitsmarkt in den
vergangenen Jahren verändert; Sie haben das in Ihren
Anträgen etwas überspitzt beschrieben . Es gibt tatsächlich eine Flexibilisierung in den Arbeitsverhältnissen . Es
gibt mehr Befristungen, mehr Teilzeit, mehr Jobwechsel .
Aber all das verhindert nicht, dass man innerhalb von
24 Monaten 12 Monate Anwartschaft erwerben kann .
Das ist auch möglich, wenn man in Teilzeit arbeitet oder
wenn man befristet beschäftigt ist . Was im Prinzip ganz
gut funktioniert, das sollte man nicht einfach über den
Haufen werfen . Wir sollten Änderungen an den Stellen
beschließen, an denen wir das System noch weiter verbessern können . Genau das tun wir mit dem vorliegenden
Gesetzentwurf .
({6})
Wir wissen, dass Weiterbildung in unserem spezialisierten Arbeitsleben immer wichtiger wird . Deswegen
wollen wir genau jene unterstützen, die sich weiter qualifizieren. Dazu werden wir beispielsweise die Weiterbildungsförderung flexibilisieren oder Förderleistungen
zum Erwerb von Lesen, Schreiben und Rechnen schaffen .
Auch die Vereinbarkeit von Familie und Beruf wird
immer wichtiger . Wenn wir das Fachkräftepotenzial von
Frauen heben wollen, dann müssen wir zum Beispiel den
Arbeitslosenversicherungsschutz bei der Kindererziehung erweitern .
Auch den speziellen Erwerbsbiografien wird Rechnung getragen . Die Sonderregelung für überwiegend
kurzfristig Beschäftigte zum Beispiel macht genau dort
Ausnahmen, wo es strukturelle Nachteile auszugleichen
gilt, zum Beispiel bei Kulturschaffenden, die immer
wieder kurze Arrangements haben . Sie haben einen Anspruch, wenn sie innerhalb von zwei Jahren sechs statt
der üblichen zwölf Monate Anwartschaftszeit erfüllen .
Diese Sonderregelung wird jetzt verlängert . Das ist erst
einmal in Ordnung so . Danach werden wir uns überlegen
müssen, mit welchen dauerhaften und systemkonformen
Instrumenten wir den Zugang von Kulturschaffenden zur
Arbeitslosenversicherung noch weiter verbessern können .
Frau Kollegin Freudenstein, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Pothmer?
Nein, die gestatte ich jetzt nicht mehr .
({0})
Wir bleiben dabei: Wir wollen nur dort Ausnahmen
machen, wo es strukturelle branchenspezifische Nachteile auszugleichen gilt, und nicht generell mit neuen
Pauschalregelungen die Stabilität der Arbeitslosenversicherung gefährden . Ihre Vorschläge würden aber genau
dazu führen . Das mag in guten Zeiten noch recht ordentlich funktionieren . Aber wir dürfen gerade jetzt, in dieser
schwierigen Phase, in der wir mit steigender Arbeitslosigkeit rechnen müssen, weil wir sehr viele Flüchtlinge
im Land haben, die nicht ausreichend qualifiziert sind,
nicht an den Säulen des Sozialstaates bohren, meine Damen und Herren .
Liebe Opposition, um noch einmal auf das Bild zu Beginn meiner Rede zurückzukommen: Sie brauchen, um
unser gallisches Dorf zu besiegen, einen Zaubertrank .
Dafür brauchen Sie mindestens drei Zutaten, die ich Ihnen verraten kann, nämlich Eigenverantwortung, Realitätssinn und Nachhaltigkeit .
({1})
Ich danke Ihnen .
({2})
Vielen Dank . - Damit ist die Aussprache beendet .
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Stärkung
der beruflichen Weiterbildung und des Versicherungs-
schutzes in der Arbeitslosenversicherung . Zu Tagesord-
nungspunkt 8 a liegen drei schriftliche Erklärungen nach
§ 31 der Geschäftsordnung vor .1)
Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 18/8647, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 18/8042 in der Ausschussfassung anzu-
nehmen . Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-
zeichen . - Wer ist dagegen? - Wer enthält sich? - Der
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der
Opposition angenommen .
1) Anlage 4
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung . Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben . -
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetz-
entwurf ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis ange-
nommen .
Tagesordnungspunkt 8 b . Wir setzen die Abstimmung
zu der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit
und Soziales auf Drucksache 18/8647 fort . Der Ausschuss
empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung
die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 18/7425 mit dem Titel „Schutzfunktion der
Arbeitslosenversicherung stärken“ . Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthal-
tungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
von CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen
die Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen .
Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuss die Ableh-
nung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
auf Drucksache 18/5386 mit dem Titel „Arbeitslosenver-
sicherung gerechter gestalten und Zugänge verbessern“ .
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktio-
nen gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen bei
Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen .
Tagesordnungspunkt 8 c . Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Arbeits-
förderung neu ausrichten - Nachhaltige Integration und
Teilhabe statt Ausgrenzung“. Der Ausschuss empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/5119,
den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 18/3918 abzulehnen . Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
von Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion
Die Linke angenommen .
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13 a und 13 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Friedrich
Ostendorff, Dr . Anton Hofreiter, Oliver Krischer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Bäuerlicher Milchviehhaltung eine Zukunft
geben - Milchmenge jetzt begrenzen
Drucksache 18/8618
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicher-
heit
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Ernährung und
Landwirtschaft ({1}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Dr . Kirsten Tackmann, Karin
Binder, Heidrun Bluhm, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE sowie der Abgeordneten Friedrich Ostendorff, Harald Ebner,
Nicole Maisch, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Milchmarkt stabilisieren - Milchkrise beenden
Drucksachen 18/6206, 18/8641
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . - Ich höre keinen Widerspruch . Dann ist so beschlossen .
Wenn Sie die Plätze etwas zügiger einnehmen könnten, könnte ich die Aussprache eröffnen .
Ich eröffne die Aussprache . Das Wort hat der Kollege
Friedrich Ostendorff, Bündnis 90/Die Grünen .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Bevor ich mit meiner Rede beginne: Herzlichen Glückwunsch, Frau Staatssekretärin, zu Ihrem Geburtstag heute!
({0})
Was für Zeiten haben wir eigentlich? 300 Bauernverbandsmitglieder demonstrieren in Schleswig-Holstein
gegen den Bauernverband mit seinem äußerst hilflosen
Präsidenten Schwarz .
({1})
Sie fordern, dass der Bauernverband sich endlich für eine
sofortige europaweite Milchmengenreduzierung einsetzt .
Meine Damen und Herren, das ist nicht die Position von
Bauernverband und Union . Das sind grüne Forderungen .
Auch wir Grünen sind dafür, denen zu helfen, die sich
verantwortlich verhalten und die Milchmengen nicht
steigern .
({2})
Bäuerliche Politik wird heute von Grünen formuliert .
Ich bin seit 48 Jahren Bauer . 20 Cent, teilweise
15 Cent pro Liter Milch - solch ein Milchpreiszusammenbruch und so lange, das ist der totale Strukturbruch .
Das Schlimmste: Es gibt kein Licht am Ende des Tunnels . Minister Schmidt erklärt - ehrlich, wie er ist -,
2025 werde der Preis für Milch wieder bei 37 Cent pro
Liter liegen . Bekommt der Minister denn überhaupt noch
mit, was in den Betrieben los ist? Milchbäuerinnen und
Milchbauern auf 2025 zu vertrösten, ist ein Schlag ins
Gesicht derjenigen, die nicht mehr ein noch aus wissen,
die nicht mehr an morgen glauben können, weil sie nicht
mehr wissen, wie sie heute die Rechnungen von gestern
und vorgestern bezahlen sollen, meine Damen und Herren .
({3})
Ihr Milchgipfel am Montag, was war das denn?
({4})
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
Was hat der denn verändert? - Ja, das war der Gipfel . Es
war der Gipfel der Verantwortungs- und Hilflosigkeit. So
kann man es zusammenfassen .
({5})
Milchbäuerinnen und Milchbauern wurden nicht einmal
eingeladen . Dann, nach unserem massiven Druck vonseiten der Opposition, durften sie letzten Freitag an den
Katzentisch von Staatssekretär Bleser rücken . Und die
Länderagrarminister? Die werden erst eingeladen, dann
werden sie wieder ausgeladen . Welche Arroganz! Welche
Selbstherrlichkeit! Was ist das für eine Kultur, miteinander umzugehen!
({6})
Minister Schmidt hat es anscheinend nicht mehr nötig,
mit Bäuerinnen und Bauern zu reden . Was ist das für ein
Politikverständnis? Es ist eine Politik über die Köpfe der
Betroffenen hinweg . Rückzug ins dunkle Kämmerlein,
Zugbrücke hoch . In der Wagenburg, die der Deutsche
Bauernverband einrichtet, ist für Sie sicherlich noch ein
einsames warmes Plätzchen, Herr Minister Schmidt .
({7})
Was haben Sie denn mit diesem Gipfel erreicht? Angekündigt hatten Sie unter anderem den Kampf, einen
Fonds des Handels aufzulegen . 500 Millionen Euro sollte der Handel in einem Solidaritätsfonds bereitstellen .
Nichts, null, gar nichts ist dabei herausgekommen . Der
Handel hat die kalte Schulter gezeigt - wie nicht anders
zu erwarten -, und das war’s . Nur, die 75 000 Milchviehbetriebe haben im letzten Jahr 5 Milliarden Euro
Milchgeld verloren . „Schmidt fehlt eine Strategie“, titelt
top agrar, das Leitmagazin der Landwirtschaft . Schmidt
fehlt eine Strategie - stimmt, das finden wir auch. Wie
wahr! Wir unterstützen die These „Schmidt fehlt eine
Strategie“ ausdrücklich .
({8})
Es ist aber noch viel schlimmer: Minister Schmidt
schafft mit seiner Politik die bäuerliche Landwirtschaft
ab .
({9})
Wer von uns hätte das gedacht, dass ein CSU-Landwirtschaftsminister die bäuerliche Landwirtschaft auf dem
Altar des liberalen Weltmarktes der Agrarindustrie opfert?
({10})
Frau Merkel, Herr Kauder, Herr Seehofer, Sie haben ja
schon am Montag Gelegenheit dazu: Stoppen Sie endlich
diesen irrlichternden Totengräber!
Schauen wir uns die Vorschläge, die Sie gemacht haben, diese Gießkannenvorschläge, einmal an:
({11})
Unfallversicherungszuschüsse wollen Sie geben . Unfallversicherungszuschüsse helfen allen, aber nicht speziell
den Milchbauern . Sie bringen sie im Durchschnitt höchstens einen Tag weiter; denn der durchschnittliche Betrieb
bekommt ungefähr 350 Euro Zuschuss, und das ist das,
was er im Moment jeden Tag im Stall verliert . Klasse
Vorschlag, oder doch nicht?
Steuererleichterungen und Steuerrückstellungen helfen wieder nur den Betrieben, die eh schon Gewinne machen, nicht den Betrieben in der Krise, die keine Gewinne machen; denn es ist bisher nicht bekannt, dass Steuern
auf Verluste erhoben werden . Toller Vorschlag, oder?
Bürgschaften sind sicherlich gut für Volksbanken und
Sparkassen, die den Wahnsinn gefördert haben . Das ist
nichts als weiße Salbe .
Aber die Krönung ist der einzig neue Vorschlag, der
am Montag kam, nämlich Flächenverkäufe steuerfrei zu
stellen .
({12})
Das kann doch wohl nicht wahr sein . Das ist der pure
Skandal .
({13})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, CDU/CSU und Minister Schmidt setzen sich dafür ein, Bauernfamilien schneller um ihr Eigentum zu bringen . Kalte Enteignung ist
das, nichts anderes . Wer hätte das für möglich gehalten?
({14})
Was wir jetzt endlich brauchen, ist eine Politik für die
Erhaltung der bäuerlichen Landwirtschaft . Wir brauchen
die Erhaltung der Milcherzeugung in der Fläche . Wir
brauchen sie besonders mit Weidehaltung . Eine Politik
für die bäuerliche Landwirtschaft bedeutet für uns Grüne
eine Politik für die Umwelt, die Tiere sowie die Bäuerinnen und Bauern . Das alles wollen wir zusammen denken .
Dafür setzen wir uns ein .
Was wir endlich brauchen, ist eine wirksame Mengenreduzierung . Herr Staatssekretär, Sie müssen den
Milchbäuerinnen und -bauern helfen, die Mengen zu reduzieren . Alles andere hilft nicht . Setzen Sie endlich die
vorgeschlagenen Maßnahmen, den einstimmig gefassten
Beschluss der Agrarministerkonferenz um .
({15})
Sie kommen bitte zum Schluss .
Sofort, Frau Präsidentin . - Selbst Bundeskartellamtspräsident Mundt, nicht verdächtig, Grünen-nah zu sein,
bezeichnet das Molkereigeschäft als das risikoloseste .
Nehmen Sie die Molkereien stärker in die Pflicht, wenn
es darum geht, wirksame Mengenreduzierungen anzuFriedrich Ostendorff
gehen und ihren Lieferanten zu helfen . Wir Grüne fordern Minister Schmidt auf, endlich zu handeln oder sein
Scheitern hier zu erklären .
({0})
Vielen Dank . - Nun hat für die Bundesregierung der
Parlamentarische Staatssekretär Peter Bleser das Wort .
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! In der Tat liegen die Agrarmärkte am Boden . Die
Getreidepreise sind im Vergleich zu 2008 um ein Drittel
bis zur Hälfte geringer . Die Schweinepreise liegen ebenfalls am Boden . Der Milchmarkt ist am schlimmsten betroffen . Dort haben wir Preise zu verzeichnen, die sich
in der Nähe von 20 Cent bewegen . Das alles hat seine
Gründe .
({0})
Der Ukraine-Krieg und die Sanktionen gegen Russland
zeigen Wirkung . Der Markt in China ist aufgrund eines
Konjunktureinbruchs zurückgegangen . Nordafrika und
der arabische Raum sind durch Terrorismus und Krieg
geprägt . Das Ganze ist auf eine Produktion gestoßen, die
aufgrund hoher Preise auf einem hohen Niveau war . Parallel ist die Milchquotenregelung, die seit 1983 bestand,
ausgelaufen . Das Problem ist nun, dass die Märkte auf
diese Veränderungen nicht ausreichend schnell reagieren
konnten .
Lieber Kollege Ostendorff, wenn man in einer solchen Situation einen befristeten Festpreis für Milch einführt, wie das Ihre Fraktion in ihrem Antrag fordert, dann
schimmert das sozialistische Rot in Ihrem grünen Parteibuch wieder einmal sehr deutlich durch .
({1})
Das funktioniert auf den Märkten nicht . Auch eine Steuerung ist nicht mehr zu etablieren . Wer rückzahlbare Soforthilfen fordert, leistet keine Hilfe . Wer dann noch wie
die Linke einen Festpreis mit einer Abgabenbonus- bzw .
-malusregelung durchsetzen will,
({2})
dem kann man nur sagen: Das funktioniert ebenfalls
nicht . Das ist vorbei . Es gibt keine Quote mehr . Wir wollen genauso wie die Bauern keine Quote mehr, weil sie
nicht funktioniert hat .
({3})
Dass sie nicht funktioniert hat, beweisen die Jahre 2007
und 2008 . Damals war der Milchpreis genauso im Keller .
({4})
Deswegen sage ich hier ganz klar: Die Verantwortung liegt bei den Marktbeteiligten - dorthin gehört sie
auch -, beim Lebensmitteleinzelhandel genauso wie bei
den Molkereien . Kollege Ostendorff, an diesem Punkt
stimmen wir überein . Wir haben beim Milchgipfel am
vergangenen Montag darüber gesprochen, warum die
Molkereien hinnehmen, dass Milch, die nicht auf den
regulären Märkten verkauft und nicht für Produkte verwendet werden kann, für 17 oder 18 Cent auf dem Spotmarkt vertickt wird . Das macht keinen Sinn . Da müssen
wir eingreifen . Wir müssen mit den Erzeugern sprechen;
denn so, wie es bisher läuft, wird der Milchpreis der Produkte reduziert, die einen Markt gefunden haben .
({5})
Herr Kollege Ostendorff, Sie haben den Rückgang der
Zahl der landwirtschaftlichen Betriebe angesprochen . Zu
Beginn der Milchquote 1983 gab es noch 394 000 milcherzeugende Betriebe . Nun gibt es noch rund 74 000 . Trotz
Quote hat der Strukturwandel durchschnittlich 5 Prozent
der Betriebe jährlich zur Aufgabe bewegt; das muss man
zur Kenntnis nehmen .
({6})
Daran wird sich durch Fortschritt und Effizienzsteigerung auch in Zukunft nichts wesentlich ändern, egal wer
regiert . Das ist die Realität, und die können Sie nicht ausblenden .
({7})
Wie ich dargelegt habe, ist die Marktsituation dramatisch . Weil es außenpolitische Wirkungen gibt und weil
wir eine Kulturlandschaft und eine sichere Lebensmittelproduktion in Deutschland haben wollen, haben wir eine
gesellschaftliche Verantwortung . Diese wollen wir auch
wahrnehmen . Deswegen haben wir am Ende des letzten Jahres und zu Beginn dieses Jahres ein Liquiditätshilfeprogramm aufgelegt . Wir sprechen von 69,2 Millionen Euro; rund 10 000 Betriebe haben die Mittel in
Anspruch genommen . Es konnten Liquiditätshilfen von
100 000 Euro mit einer Verzinsung von 1 Prozent und
10 000 Euro als direkte Hilfe an die Höfe ausgereicht
werden . An der Stelle möchte ich einmal ein Lob an
unser Haus aussprechen . Das BLE hat zwischen Weihnachten und Neujahr durchgearbeitet und die Anträge
beschieden, die in einer ersten Tranche bis Mitte März
ausgezahlt worden sind . Die letzte ist in diesem Monat
bei den Höfen angekommen .
({8})
Wir haben uns auch sozial engagiert . Wir haben gemeinsam in der Großen Koalition die Mittel der landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft mit zusätzlich 78 Millionen Euro aufgestockt . Das bringt Beitragssenkungen
von 16 Prozent . Das ist ein Beitrag zur Solidarität . Das
muss man einfach sehen . Andere Branchen achten diesbezüglich argwöhnisch auf uns .
Auch die Europäische Union hat reagiert . Wir haben
einen Auffangpreis, nämlich den, bei dem die Intervention bei Magermilchpulver und Butter greift . Die Menge
wurde jetzt noch einmal auf 350 000 Tonnen aufgestockt,
um den Druck aus dem Markt zu nehmen . Mehr kann
man nicht tun .
Heute gegen Abend wird das Agrarmarktstrukturgesetz beraten . Nach diesem Gesetz werden erstmals,
kartellrechtlich abgedeckt, freiwillige Mengenabsprachen zwischen Erzeugergemeinschaften und Molkereien
möglich werden . Wir setzen noch eins drauf - ich bin
sehr dankbar, dass uns das gelungen ist -, indem wir die
Möglichkeit der Allgemeinverbindlichkeitserklärung
aufnehmen . Das ist etwas ganz Neues, das eine Langfristwirkung hat . Damit beenden wir die Ohnmacht der
Milcherzeuger auf dem Markt; denn wir geben ihnen die
Chance, sich zu organisieren und, wenn einige nicht mitmachen wollen, sie mit einer Allgemeinverbindlichkeitserklärung dazu zu bringen . Damit können Marketingmaßnahmen organisiert werden . Herr Minister Schmidt
ist in Brüssel vorstellig geworden, um damit unter Umständen auch eine Mengensteuerung zu erreichen . Das ist
sinnvoll . Ich bin dem Koalitionspartner dankbar, dass wir
das zum Schluss doch noch zusammen hinbekommen haben .
({9})
Nun zum Milchgipfel . Man kann einen Milchgipfel
mit 50 Leuten einberufen . Ich kann Ihnen sagen, wie
das dann abläuft . Es werden Statements abgegeben;
die Pressemeldungen sind schon vorher verschickt . Es
kommt nichts dabei heraus . Wir haben die Erzeuger, die
Milchindustrie und auch den LEH zusammengeführt und
über drei Stunden sehr intensiv diskutiert . Ich kann nur
eines sagen: Nachdem man sich zunächst gegenseitig die
Schuld zugewiesen hat, ist man dann doch zu der Meinung gekommen, man müsse einen Branchendialog beginnen . Den haben wir begonnen . Unter Beachtung der
kartellrechtlichen Bestimmungen kann in Zukunft miteinander besprochen werden, was getan werden kann,
um Markteinbrüche wie den, den wir jetzt haben, abzufedern . Ich bin sehr optimistisch, dass das eine Langfristwirkung entfaltet .
Wir sind auch staatlicherseits noch nicht am Ende .
Wir hoffen, dass das Parlament bei der nächsten Haushaltsberatung wieder eine zusätzliche Hilfe für die Unfallversicherungsbeiträge gewährleistet . Wir haben dem
Finanzminister dafür zu danken, dass er uns angeboten
hat - das alles muss hier noch beschlossen werden -, dass
wir eine Gewinnglättung von drei Wirtschaftsjahren vorsehen können . Das hört sich banal an; aber damit können
wir erstmals entsprechend der Volatilität der Märkte und
auch der Witterung landwirtschaftliche Gewinne strecken, sodass Gewinne, die in einem Jahr, das ein gutes
Wirtschaftsjahr war, anfallen, nicht versteuert werden
müssen, wenn im folgenden Jahr, das vielleicht schlecht
war, keine Gewinne erzielt worden sind . Das hilft und
wird schon im laufenden Steuerjahr Wirkung entfalten
können .
({10})
Herr Ostendorff, Sie haben die Veräußerungsgewinne
angesprochen . Wir wollen nicht, dass Landwirte Grund
und Boden verkaufen . Aber wenn der eine oder andere die Chance hat, einen Bauplatz zu vermarkten, dann
sollte man ihm die Chance geben, diese Gewinne zur
Schuldentilgung steuerfrei zu verwenden . Mehr ist das
nicht . Das ist eine Hilfe, die in Anspruch zu nehmen wir
ermöglichen sollten .
({11})
Ich will noch einmal sagen: Die Bundesregierung
steht hinter den bäuerlichen Familien . Wir sorgen uns um
deren Zukunft . Ich hätte eine herzliche Bitte an die Grünen und auch an die Linken, und auch unser Koalitionspartner kann da nicht ungeschoren bleiben:
({12})
Versuchen wir zumindest in der jetzigen Zeit, unsere
Bauern und unsere bäuerlichen Familien nicht weiter
zu belasten, indem wir neue bürokratische Auflagen beschließen, die nur zu Kosten und zur Verringerung der
Motivation der Bauern führen . Das wollen wir nicht .
({13})
Wir haben eine Politik gemacht, die eine Perspektive für
die Landwirtschaft bedeutet .
({14})
Dazu stehen wir, und dabei bleiben wir .
Herzlichen Dank .
({15})
Vielen Dank . - Als Nächstes spricht die Kollegin
Dr . Kirsten Tackmann, Fraktion Die Linke .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Gäste auf den Tribünen! Worum geht es denn eigentlich bei der Milchkrise? Es geht darum, dass man
seit vielen Monaten sehr früh am Morgen aufsteht, und
zwar auch am Wochenende, um Kühe zu melken, und
an jedem einzelnen Tag genau weiß, dass der Erlös so
gering sein wird, dass man eigentlich noch Geld mitbringen muss . Warum ist das so? Weil Handels- und Molkereikonzerne Milch zur Ramschware gemacht haben
und weil sie selbst vom Dumpingpreis erst einmal ihre
Gewinne abziehen, sodass die Milcherzeuger nur das
bekommen, was übrig bleibt . Im Klartext: Almosen statt
faire Bezahlung. Ich finde das sittenwidrig. Dass das geduldet wird, finde ich nicht akzeptabel.
({0})
In den Betrieben herrscht Verzweiflung, Frust und
blanke Existenzangst, und zwar überall . Ich verstehe das
sehr gut - erst recht, weil sie in eine Falle gelaufen sind .
Was haben EU, Bundesregierung und Bauernverband
nicht alles für die Zeit nach dem Ausstieg aus der Quote
im April 2015 versprochen? Es wurde ein gelobtes Land
ohne die Fesseln der Mengenbegrenzung mit unerschöpflicher Nachfrage auf dem Weltmarkt gepriesen . Schon
Jahre zuvor durfte pro Jahr 1 Prozent Milch mehr produziert werden . In Deutschland wurde sogar noch mehr
gemolken, weil der Markt angeblich auf diese Milch
wartete . Die dafür fälligen Strafzahlungen würde man in
Brüssel schon wegverhandeln, wurde versprochen . Des
Weiteren gab es Fördermittel für eine Erweiterung der
Produktion . „Sanfte Landung“ nach dem Quotenausstieg hieß der Plan . Daraus geworden ist ein Absturz von
Butterbergen und ein Ertrinken in Milchseen . Dass diese auch noch selbst erarbeitet wurden, zeigt auf, dass es
sich um ein perverses System handelt, dessen Fehler auf
Kosten von Natur, Mensch und auch Tieren gehen .
({1})
Wir haben aber neben der Menge durchaus noch ein
ganz anderes Problem . Das Überangebot macht die Diktatur der Handels- und Molkereikonzerne noch mächtiger . Erpresserische Ladenpreise von 47 Cent pro Liter
sind doch die Folge . Was haben Bundesagrarminister und
Koalition in dieser zugespitzten Krise getan? Sie blieben
über ein Jahr lang im Hoffnungsmodus und griffen zu
Krisenzeiten in die Mottenkiste der Interventionen, gefolgt von Schockstarre, weil das nicht geholfen hatte, und
jetzt kommt der hektische Aktionismus . Verantwortungsvolle Krisenpolitik sieht wirklich anders aus .
({2})
Dabei gab es frühzeitig Warnungen und Vorschläge,
wie dieser Albtraum verhindert werden kann, zum Beispiel auch im gemeinsamen Antrag der Linken und Grünen, über den heute abgestimmt wird . Dieser Antrag liegt
dem Bundestag bereits seit September 2015 vor und wurde im Oktober 2015 erstmals beraten . Wir wollten schon
damals ernsthaft über Mengenregulierungen diskutieren .
Aber das war ja Teufelszeug . Wir wollten schon damals
über das Vertragsrecht diskutieren, damit die Produktionsrisiken nicht allein bei den Erzeugern hängen bleiben .
Wir wollten schon damals darüber diskutieren, ob nicht
wenigstens in Krisenzeiten ein Mindestpreis notwendig ist oder ob überhaupt ein Preis in die Lieferverträge
gehört . Wir wollten schon damals über das Kartellrecht
diskutieren, weil Handels- und Molkereikonzerne ihre
Marktübermacht missbrauchen; das wissen wir doch . Es
ist die Realitätsverweigerung des Bundesministeriums,
der Koalition und des Bauernverbands, die den Betrieben
jetzt zum Verhängnis wird .
Recht zu behalten - das sage ich ganz ehrlich -, ist
manchmal wirklich bitter . Leider wird es nicht besser .
Zum Beispiel macht ein Branchendialog doch nur Sinn,
wenn man zuvor Milcherzeuger auf Augenhöhe mit Molkereien und Handel bringt . Was soll denn sonst daraus
werden?
({3})
Was soll denn das unmoralische Angebot von Steuerfreibeträgen für Gewinne aus Landverkäufen? Ich übersetze das einmal: Durch Bundespolitik kommen Betriebe
in Existenznot, und wenn sie deshalb die Produktionsgrundlage Boden verkaufen müssen, verzichtet der Bund
großzügig auf Gewinnbeteiligung . Scheinheilig ist noch
das netteste Wort, das mir dabei einfällt .
({4})
Im Subtext bedeutet das doch eine Ermutigung der Heuschrecken, die längst unterwegs sind, um die Leichen des
Wettbewerbs bzw . die fette Beute einzusammeln .
({5})
Auch auf diese Gefahr habe ich schon lange hingewiesen . Auch dazu sage ich: Es ist bitter, dass man manchmal recht behält .
({6})
Abschließend noch eines: Dass es noch nicht einmal
in Genossenschaftsmolkereien gelungen ist, einen solidarischen Ausweg aus dieser Krise zu finden, besagt,
dass eben auch der Genossenschaftsgedanke nicht mehr
die Solidarität bietet, die er eigentlich ursprünglich einmal beinhaltete . Es bedeutet, dass es - unter dem Druck
dieses sogenannten Wettbewerbs - zu einer Vereinzelung
und Entsolidarisierung in der gesamten Branche gekommen ist . Wir Linke sagen schon lange, dass wir über das
Genossenschaftsrecht reden und auch hier wieder zu den
Wurzeln zurück müssen . Deswegen muss ich sagen: Es
geht auf das Versagen der Koalition und der Bundesregierung zurück, dass das alles nicht passiert ist und die
Betriebe jetzt die Zeche zahlen .
({7})
Vielen Dank . - Das Wort hat jetzt der Kollege
Dr . Wilhelm Priesmeier für die SPD-Fraktion .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, es
ist einmal an der Zeit, in der Debatte abzurüsten, auch
was gegenseitige Schuldzuweisungen angeht . Begriffe wie „irrlichternder Totengräber“ oder „kalte Enteignung“ mögen zwar die parlamentarische Debatte beflügeln, tragen aber in gar keiner Weise zur Lösung des
wirklich ernsten Problems bei, das wir im Bereich des
Milchmarktes haben .
({0})
- Friedrich, ich glaube, dass die Provokation allein das
Problem nicht löst .
({1})
Das ist, wie ich finde, eine Art von Politik, die unehrlich
ist gegenüber den Betroffenen . Denn die Lösungsvorschläge, die von eurer Seite auf den Tisch gelegt werden,
sind nicht ausreichend .
({2})
Ich erinnere mich noch an die Debatte, die wir 2009 sie begann ebenfalls im Frühjahr und ging bis zum Sommer - geführt haben . Da hatten wir die gleiche Situation .
Da hatten wir ebenfalls Probleme mit dem Milchmarkt,
allerdings aufgrund anderer Ursachen: wegen der damaligen Wirtschafts- und Währungskrise . Aber die Preise
waren genauso weit unten wie heute. Damals fing die
Diskussion mit der Frage an: Ausstieg aus der Quote oder
nicht? Alles wurde hinterfragt . Der BDM und andere Organisationen haben dazu beigetragen, dass Milch auf den
Acker gefahren und mit dem Güllefass verteilt wurde,
dass Molkereien blockiert wurden . Damals ist die Situation noch viel weiter eskaliert, als es heute der Fall ist .
({3})
Auch damals war dieser Weg keine Lösung des Pro blems .
({4})
Es reicht doch weiß Gott nicht aus, die Welt in Gut
und Böse zu unterteilen . Wir sollten uns konkret daranmachen, dass wir tragfähige Lösungen für das Problem
erarbeiten
({5})
und auch den gesetzlichen Rahmen dafür schaffen .
({6})
Nationale Politik kann nun einmal nicht den internationalen Markt lenken . Das ist die Erkenntnis aus den
vielen Jahren Quotierung . Wir hatten auch vorher schon
einmal einen Mindestpreis . Er hieß Interventionspreis;
das war lange vor der Quote . Er hat bei der damaligen
Ausrichtung von Produktion dazu beigetragen, dass wir
Anfang der 80er-Jahre Mengen hatten, die wir nicht
mehr in den Griff bekommen haben, was hinterher das
staatlich zwangsverwaltete Quotensystem hervorgerufen
hat - mit allen seinen Folgewirkungen, etwa der Bindung
an die Fläche und dem, was wir beide kennen .
Mich hat diese Thematik „Strukturwandel des
Milchmarkts“ mein ganzes Berufsleben begleitet . Ich
habe 1982 eine Tierarztpraxis übernommen, also vor
Einführung der Quote . Ich habe den gesamten Strukturwandel erlebt . Ich habe erlebt, dass in dieser ganzen Zeit
in Dörfern, wo früher noch viel Vieh war, hinterher kein
einziger Betrieb mehr war und dass Betriebe immer größer geworden sind: Ein Betrieb, der mit 25 Kühen angefangen hat, hat heute 350 Kühe . So what? Was ist an
dieser Entwicklung denn negativ? Hätten wir denn diese Entwicklung mit anderen Methoden, anderen Ansätzen, anderen Möglichkeiten und direkter Förderung aus
Haushaltsmitteln und anderen Zusammenhängen aufhalten können? Das hätten wir nicht! Da muss man einmal
ehrlich sein, was die Möglichkeiten von Politik betrifft,
und man darf keine Illusionen wecken, wir könnten bestimmte Dinge erreichen . Wir können nicht rückwärts
marschieren; wir können nur vorwärts marschieren . Wir
können uns nur an die Bedingungen anpassen .
Aber richtig ist natürlich, dass wir ein Marktversagen
in dem gesamten Bereich haben . Das ist so lange nicht
richtig zum Tragen gekommen, wie wir eine quotierte
Menge hatten . Aber jetzt sehen wir, dass wir die rechtlichen Rahmenbedingungen dringend ändern müssen,
auch die Rahmenbedingungen und die vertraglichen Vorgaben für den Bereich der Lieferbeziehungen zwischen
Produzenten und verarbeitendem Gewerbe . Es kann
nicht sein, dass Landwirte Milch produzieren und ohne
vertragliche Regelung über Menge, Zeit und Preis bleiben . Diese Punkte sind immer der Gegenstand von Verträgen . Mit Satzungen allein kann man dieses Problem
nicht lösen .
Insofern erwarte ich in diesem Zusammenhang, dass
sich vor allen Dingen der größte Bereich der Milchverarbeitung, die genossenschaftlichen Molkereien, dort
bewegen . Wie soll man denn Mengenabsprachen oder
Mengenregulierungen vornehmen, wenn ein Landwirt
alles vor die Tür stellen kann, wenn die Molkereien alles
abholen und irgendwie verarbeiten müssen? Wenn man
in diesen Mechanismus nicht eingreift, braucht man sich
über Mengenregulationen oder Marktanpassungen überhaupt keine Gedanken zu machen .
Das, was wir kennen - Angebot, Nachfrage und
Preis -, sind die zentralen Elemente des Marktes . Deren
Zusammenspiel funktioniert in diesem Bereich nicht .
Dieses Zusammenspiel müssen wir wiederherstellen . Wir
müssen zumindest dafür sorgen, dass die entsprechenden
Voraussetzungen geschaffen werden können . Das soll
nicht durch staatliche Eingriffe passieren, sondern indem
wir den Beteiligten ein Instrument an die Hand geben,
um vorübergehend entsprechende Absprachen zu treffen, damit das ganze System wieder ins Gleichgewicht
kommt . Das soll genutzt werden . Das werden wir heute
Abend beschließen . Aber es ist illusorisch, zu glauben,
wir könnten mit Steuermitteln, so wie in Ihrem Antrag
vorgeschlagen, mit verlorenen Zuschüssen oder mit anderen Instrumenten wie beispielsweise Bonuszahlungen
letztendlich Mengen in entscheidender Weise beeinflussen . Das geht nicht; denn wir haben ja erlebt, wie bürokratisch die Umsetzung in diesem System war und wie
wir versucht haben, das immer weiter anzupassen . Aber
letztendlich hat es nicht funktioniert .
Ich glaube, es ist vernünftig, wenn wir gemeinsam mit
den Landwirten und der Branche nicht nur zu Einschätzungen, sondern auch zur Umsetzung von Konzepten
kommen . Kurzfristige Liquiditätshilfen sind nach meiner
Einschätzung vollkommen akzeptabel . Man sollte sich
darauf konzentrieren, den Betrieben, die in Schwierigkeiten sind, zumindest für den Zeitraum, in dem die Krise anhält, so viel Liquidität zukommen zu lassen, dass
sie nicht allein aus dem Grund, weil sie Kredite zu tilgen
haben, die Hoftür abschließen müssen . Aber auf die eigentlichen betriebswirtschaftlichen Entscheidungen, die
zu treffen sind, können wir mit politischen Entscheidungen keinen Einfluss nehmen; das sollte uns klar sein.
({7})
Wir brauchen strukturelle Veränderungen im Marktsektor; das ist jedem klar . Wir müssen uns auch Gedanken machen, wie wir bestimmte Bereiche der Produktion fördern wollen . Ein Beispiel ist das Unternehmen
Hemme Milch, das regionale Märkte bedient und dort
natürlich eine höhere Wertschöpfung erzielt . Die Wertschöpfung ist das zentrale Element, auch in der Milchproduktion . In Deutschland haben wir eine Wertschöpfung von 85 Cent, in Frankreich von über 1,10 Euro und
in Italien von 1,50 Euro . Warum ist das so? Das ist die
Folge der Strukturen, die sich entwickelt haben, weil bei
Interventionspreisen über viele Jahre für die Intervention
produziert wurde und die Unternehmen nicht gezwungen waren, sich auf die Marktnachfrage einzustellen und
Markenprodukte zu produzieren . Die Privaten haben das
anders angefangen . Deshalb haben sie natürlich auch
eine größere Gewinnspanne . Aber die Genossenschaftsmolkereien bestimmen mit der Menge, die sie für den
Markt verarbeiten, den Preis, und die privaten Molkereien orientieren sich daran .
Der Landwirt ist letztendlich derjenige, der betriebswirtschaftliche und sonstige Fehlentscheidungen sowie
Marktentwicklungen zu tragen hat . Der Landwirt trägt
zum gegenwärtigen Zeitpunkt fast das vollständige
Marktrisiko . Das ist das Problem . Ich habe noch nicht
gehört, dass irgendeine Molkerei davor steht, Insolvenz
anzumelden . Das heißt also: In diesem Bereich wird immer noch verdient . Solange aber in diesem Bereich kein
unternehmerisches Risiko getragen wird, so lange kann
dieser Markt auch nicht funktionieren . Dafür, dass das
nicht mehr so ist, wollen wir sorgen .
Vielen Dank .
({8})
Vielen Dank . - Für die CDU/CSU-Fraktion spricht
jetzt der Kollege Alois Gerig .
({0})
Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich begrüße es, dass
wir hier heute zu einer guten Debattenzeit eine Plenardebatte zur Milchkrise führen .
({0})
Ich freue mich, dass wir alle ein Ziel haben: Wir wollen
der Landwirtschaft, insbesondere den Milchviehhaltern,
zu Hilfe kommen . Und: Ja, wir haben zwei Anträge, die
wir als Koalitionsfraktionen wegen des Inhalts und der
Ausrichtung nicht teilen können . Aber, lieber Friedrich
Ostendorff, Beschimpfungen helfen uns hier gar nicht .
({1})
Wir sollten gemeinsam nach einem Weg suchen, um
den Bauern zu helfen, damit die Bauern Vertrauen in die
Politik haben und wissen, dass sie sich auf uns verlassen können . Alle Ebenen müssen jetzt zusammenhalten,
alle müssen sich bewegen, alle können etwas dafür tun .
Ich bin dem Minister dankbar, dass er den Milchgipfel
einberufen hat, und ich bin ihm dankbar dafür, dass er
europa- und weltweit um Freunde wirbt, die mit ihm gemeinsam an dem Problem der globalen Überproduktion
von Milch arbeiten . Was können wir machen? 32 Jahre
lang hat die EU-Milchquote nicht dazu gedient, dass wir
eine ordentliche Marktregel bei der Milchmenge hinbekommen haben . Das hat die melkenden Bauern sehr viel
Geld gekostet und Preistiefs nicht verhindert . Es hat aber
sehr viel Bürokratie geschaffen . Das hat uns auch nicht
geholfen .
Das erste Liquiditätshilfeprogramm war kein Allheilmittel, aber es hat geholfen; ein weiteres wird folgen . Da
geht es um Zuschüsse für die landwirtschaftliche Unfallversicherung, um Bürgschaften, um Kredite und um
Steuerglättung, wie es der Herr Staatssekretär gesagt hat .
Mit der Novelle des Agrarmarktstrukturgesetzes, die wir
heute später debattieren, sorgen wir dafür, dass die Rahmenbedingungen für die Marktpartner verändert werden
können . Darin liegt für mich auch ein Teil der Lösung .
Wir dürfen das Problem nicht den Milchbauern alleine
überlassen .
Ich kann mir vorstellen, dass man mit Liefervereinbarungen, zum Beispiel mit Zu- und Abschlägen bei den
Branchenquoten, bei den Milchbauern eine Motivation
schaffen kann, die Überproduktion von Milch zu beenden . Dadurch könnte eine Win-win-Situation entstehen .
Handel und Verarbeiter haben keinen Grund, den aktuellen Milchmarkt auszunutzen . Es braucht aktuell am
deutschen Markt doch auch keine ausländische Milch . Es
braucht kein Preisdumping, das überwiegend durch die
Eigenmarken des Lebensmitteleinzelhandels verursacht
wird .
Im Übrigen können die Verbraucher jetzt schon mit
dem richtigen Griff ins Regal dafür Sorge tragen, dass
mehr Wertschöpfung bei den Milchbauern ankommt . Das
muss man auch immer wieder in der Öffentlichkeit sagen . Ich spüre eine große Solidarität . Aber die Menschen
müssen da auch mitgehen; sie müssen etwas machen .
({2})
Ja, die Politik muss den Milchbauern helfen . Es geht
hier um keine Branche wie die übrige Wirtschaft . Die
Bauern produzieren keine Waschmaschinen .
({3})
Die Bauern produzieren Lebensmittel von allerhöchster
Qualität . Die Lebensmittel, die in Deutschland produziert werden, erfüllen die höchsten Standards . Unsere
Bauern erhalten die geliebte vielfältige Kulturlandschaft .
Da ist mir wichtig, dass wir weiterhin flächendeckend in
ganz Deutschland Milchkühe und Milchbauern haben .
({4})
Unsere Bauern sind das Rückgrat in den Dörfern, das
Rückgrat in den ländlichen Regionen . Klar, es hat schon
immer den Strukturwandel gegeben, aber im Moment
geht es wie im freien Fall . Auch die der Landwirtschaft
vor- und nachgelagerten Gewerke und Branchen sind aktuell schon betroffen; auch sie leiden .
Deswegen: Lassen Sie uns die Leistungen der Bauern
in den Fokus nehmen . Lassen Sie uns mit den Bürgern
und den Verantwortlichen einen Dialog führen . Es geht
um Wertschöpfung; das ist richtig . Es geht aber auch
um Wertschätzung der Lebensmittel und einer ganzen
Branche . Lassen Sie uns deshalb alle gemeinsam daran
arbeiten, die schwierige Situation unserer Bauern zu entschärfen . Lassen Sie uns dafür Sorge tragen, dass unsere Bauern Freude an der Arbeit und eine wirtschaftliche
Perspektive haben . Dann haben die ländlichen Regionen
eine Chance .
Vielen Dank .
({5})
Vielen Dank . - Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der
Kollege Rainer Spiering .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Gäste! Ich möchte mich dem anschließen, was Wilhelm Priesmeier gesagt hat: Es wäre
ganz gut, wenn wir verbal ein bisschen abrüsteten .
Die Frage der Milchpreisentwicklung ist nicht erst
heute entstanden . Ich habe mir die Zahlen kommen lassen . Deutschland hat gemäß den Zahlen, die ich habe,
seit 2007 einen sehr hohen Überschuss an Milch im Außenhandel . Ist das mit oder ohne Quote passiert? Es ist
mit Quote passiert .
({0})
Das haben wir gewähren lassen, und wir hatten durch die
Quote einen Effekt, von dem wir alle wissen, dass wir ihn
auch nicht wollten . Ich würde den Fokus darauf legen:
Wie gehen wir mit den Landwirten um, was können wir
tun?
Ich sage ganz deutlich: Die 100 Millionen Euro, die
wir jetzt geben, werden keinen großen Effekt erzielen,
und das wissen wir alle .
({1})
Da müssen wir uns ehrlich genug machen . Das wird die
Strukturveränderung in der Landwirtschaft nicht aufhalten .
Ich sage gleichwohl - wir waren vorgestern Abend
beim Sozialverband Deutschland, SoVD -: Es ist eine
erstaunliche Leistung - ich finde, da kann sich die bäuerliche Gemeinschaft auch glücklich schätzen -, dass
die Bundesrepublik Deutschland in diesen Sozialverband 4 Milliarden Euro, das entspricht 50 Prozent aller
Leistungen, hineingibt . Ich kenne keinen Sozialversicherungszweig in Deutschland, in den so viele Bundesmittel
fließen. Ich finde, das ist wirklich eine richtige Hilfe für
die Landwirtschaft, und das ist auch in Ordnung .
({2})
Wenn wir uns jetzt aber mit den Strukturen auseinandersetzen wollen und wenn wir wirklich helfen wollen,
dann hilft es uns übrigens nicht, wenn wir uns nur auf die
Milchpreiskrise konzentrieren .
({3})
Vielmehr hat sich etwas verändert . Unser Land hat sich
auf den Weg gemacht, eine Exportnation in der Landwirtschaft zu sein . Das birgt große Risiken, sehr große
Risiken .
({4})
Jetzt kann man überlegen, wie man dort mit nationalen
Mitteln etwas ändern kann .
Mir stellt sich die Frage - und ich bitte, dass der Bundesminister sie beantwortet -: Wie kommt es eigentlich zu dem Unterschied bei der Entlohnung bayrischer
Landwirte gegenüber niedersächsischen Landwirten? Es
gibt fast kontinuierlich 5 Cent Ertragsunterschied zwischen Milchbauern in Niedersachsen und in Bayern . Ich
möchte gerne einmal wissen: Woran liegt das? Hat das
mit Strukturen zu tun, die dort entstanden sind? Ist das
Zufall? Das möchte ich wissen; denn ich halte es für ausgesprochen ungewöhnlich, dass das so ist .
Zur nächsten Frage, die mir zu beantworten ist . In
vielen Bereichen der landwirtschaftlichen Produktion
gibt es durchaus Wertschöpfung . Das betrifft aber Produkte, die aus Milch hergestellt werden . Angesichts der
Milchmengen, die wir produzieren, würde mich interessieren: Wie stark sind wir eigentlich bei der Produktion
neuwertiger Produkte? Wie viel lassen wir uns das kosten, neue Produkte zu entwickeln? Kann es nicht sein,
dass wir in einem Bereich, in dem wir deutlich höhere
Wertschöpfung erzielen können, viel zu schwach sind?
Diese Frage müssen wir uns auch einmal stellen . Wir
müssen in Forschung und Entwicklung gehen und sagen:
So, Landwirte, das ist ein Angebot, das wir euch machen
können . Wir offerieren euch ein Produkt, mit dem ihr
Geld verdienen könnt . - Es kann übrigens sein, dass das
mehr als 100 Millionen Euro kostet . Aber das ist eine Investition in die Zukunft, die helfen kann .
Der nächste Punkt . Da vorne sitzt mein Freund Johann
Saathoff . Er ist einer der am stärksten Betroffenen hier,
weil er in einer reinen Milchviehwirtschaft lebt und arbeitet. Ich finde, viel zu dünn kommt die Argumentation
von „Grünland als CO2-Senke“ daher . Wir alle wissen um
die segensreiche Wirkung von Grünland, und zwar gewachsenem Grünland, nicht umgebrochenem Grünland .
Ich finde, es ist den Schweiß der Edlen wert, darüber
nachzudenken, ob ich diese natürliche CO2-Senke nicht
schütze . Das bedeutet aber auch, dass ich Umbruchmöglichkeiten reduziere oder abschaffe . Das bedeutet auch,
dass ich mich als Staat dazu bekennen muss, in Grünland
richtig Geld zu investieren, und zwar so, dass es für den
Milchbauern attraktiv wird, von einer intensiven auf eine
extensive Landwirtschaft umzusteigen . Wenn ich höre,
dass die heutige Milchkuh, wenn ich ihr das Kraftfutter
entziehe, gar nicht mehr lebensfähig ist, dann muss ich
mit Verlaub sagen: So ganz richtig kann das auch nicht
sein .
({5})
Ich finde, hier sollten wir ansetzen und umsteuern. Wir
sollten Bundesmittel in die Hand nehmen und nachhaltig
in die CO2-Senke investieren; ob wir das über Umschichtung der Säulen machen oder auf anderen Wegen, das sei
einmal dahingestellt . Aber das sind Wege, die wir gehen
können .
Zur Preisentwicklung . Man muss ganz nüchtern sagen: Für die Milchviehwirtschaft hat es im November 2013 eine sehr ertragreiche Zeit gegeben . Damals
wurden Preise von 42 Cent pro Liter gezahlt . Aber wenn
man sich die Kurven genau anschaut, dann stellt man
fest, dass mit dem Anstieg des Preises die Milchproduktion stieg .
({6})
An dieser Stelle muss ich an alle Beteiligten appellieren,
sich sehr sorgfältig zu überlegen: Auf was für ein Spiel
lasse ich mich ein? Jetzt komme ich zu einem zentralen
Punkt . Es gibt in der Landwirtschaft eine Vereinigung,
die für die Interessen der Landwirtschaft tätig ist, und
das ist der Bauernverband . Ich kann vom Bauernverband
doch erwarten, dass er eine schlüssige Antwort darauf
gibt . Ich muss mit dieser Antwort nicht einverstanden
sein, aber ich kann eine schlüssige Antwort erwarten, und
die bekomme ich im Moment nicht .
Wenn ich mir den Bereich anschaue, aus dem ich
komme - das ist der Zentralverband des Deutschen
Handwerks -: Die Vielfältigkeit des deutschen Handwerks ist mindestens so groß wie die der deutschen
Landwirtschaft . Aber der Zentralverband des Deutschen
Handwerks spricht mit einer Stimme . Das kann ich von
einer Standesorganisation wie dem Bauernverband auch
erwarten .
Danke schön fürs Zuhören .
({7})
Vielen Dank . - Zum Abschluss der Debatte erhält jetzt
der Kollege Artur Auernhammer, CDU/CSU-Fraktion,
das Wort .
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Wenn bei einer Milchdebatte ein
Glas Milch hier stehen würde, würden wir der deutschen
Landwirtschaft mehr dienen als mit dem vorliegenden
Antrag .
({0})
Wir können das mit in den Haushaltsausschuss nehmen .
({0})
Ist der da zuständig? - Die Debatte der letzten Tage
und Wochen hat wieder einmal die Landwirtschaft in
die Mitte der Berichterstattung geholt . Der Milchpreis
hat die Landwirtschaft wieder in die Schlagzeilen und in
die Nachrichtensendungen der großen Medien gebracht,
aber ich möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, dass
es auch andere landwirtschaftliche Betriebe gibt, die halten Schweine oder bauen Getreide an . Wenn ich heute
Morgen in der WhatsApp-Gruppe meiner Jungbauern
lese, dass der Schlachtschweinepreis in der nächsten
Woche wieder um 5 Cent sinkt, dann müssen wir grundsätzlich über die Einkommenslage in der Landwirtschaft
diskutieren und nicht nur über die Milcherzeuger .
({0})
Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren, die
Milch hat eine hohe Bedeutung für unser Land, gerade
für Süddeutschland, aber auch für andere Regionen . Ich
denke hier an Ostfriesland . Lieber Rainer Spiering, wenn
man einer Kuh das Kraftfutter entzieht, dann verhungert
sie deswegen nicht . Die Kuh hat einen Wiederkäuermagen, und sie ist eine der wenigen lebensfähigen Kreaturen in unserem Land, die es schaffen, aus Gras Milch zu
produzieren . Deshalb ist es wichtig - das hast du vollkommen richtig gesagt -: Zum Grünlanderhalt ist eine
leistungsfähige Milchviehhaltung notwendig .
Wie sieht die Realität aus? Im November 2007 lag
der Preis meiner Anlieferungsmilch bei der Molkerei bei
44 Cent . Im Juli 2009 lag er bei 22 Cent . In dieser Zeit
hatten wir eine Milchquote . Wir hatten auch die Kosten
für Bodenkauf, für Bodenpacht, für Überlieferung, für
Leasing und für die ganzen Finanzmittel zu tragen, die
aus der aktiven Landwirtschaft in andere Bereiche abgewandert sind . Die müssen wir hier auch einmal erwähnen . Deshalb kann es keine staatliche Mengenregulierung mehr geben .
({1})
Wir wussten alle, die Quote läuft aus . Viele haben sich
auf das Auslaufen der Quote eingestellt, in erster Linie
die Milchbauern in Europa . In Irland stieg die Milchanlieferung um 18 Prozent, in den Niederlanden um 12 Prozent . In Deutschland „nur“ um 3,8 Prozent, aber von der
Menge war dies natürlich wesentlich mehr . Ich möchte
nicht wissen, wie viel Milch die deutschen Milchbauern geliefert hätten, wenn wir in unserem Land keine so
große Trockenheit gehabt hätten . Aber, wie gesagt, die
Milchbauern haben sich darauf eingestellt . Sie haben Gas
gegeben .
Wer sich meiner Meinung nach nicht darauf eingestellt hat, ist die Molkereiwirtschaft . Wir haben hohe
Defizite in der Vermarktung, und es wurde gerade angesprochen, dass wir im Milchpreis einen Unterschied von
5 Cent zwischen Nord- und Süddeutschland haben . Das
hat vielleicht damit etwas zu tun, dass wir in Süddeutschland innovative Produkte haben .
({2})
Die Frage ist aber, ob diese Produkte auch weltmarktfähig sind . Wir haben in Süddeutschland auch einen besseren Zugang zum italienischen Markt, und wir haben - ich
nenne das Stichwort „Bergbauernmilch“ - ein gutes Absatzimage beim Verbraucher .
Zum Thema Absatzimage muss ich aber auch berichten, was ich in den letzten Tagen in einem Berliner
Discountladen gesehen habe . Dort stand ein Milchregal für Frischmilch . Der Liter Milch, 1,5 Prozent Fett,
zu einem Verkaufspreis von 42 Cent . Leider konnte ich
keine Milch mitnehmen, weil das Regal leergefegt war .
Der Verbraucher trifft seine eigenen Entscheidungen . Er
greift nach den billigen Produkten und will diese nutzen .
Frau Präsidentin, die Kollegin Bulling-Schröter will
eine Zwischenfrage stellen .
Das haben wir schon gesehen . Ich wollte Sie nur zu
Ende reden lassen . Jetzt frage ich Sie aber . Sie gestatten
die Frage der Kollegin Bulling-Schröter?
Von der Kollegin Bulling-Schröter, gerne .
Bitte schön .
Vielen Dank, Herr Kollege, dass Sie mir die Möglichkeit geben, Ihnen eine Frage zu stellen . Sie sprechen von
Wettbewerbsfähigkeit . Das heißt, dass die Milch überallhin verkauft wird, auch in die USA und in andere Länder
und umgekehrt . So sollen wir ja jetzt im Rahmen von
TTIP frische Eier aus den USA bekommen .
({0})
- Lasst mich doch meine Frage stellen . Warum regt ihr
euch jetzt so auf?
Jetzt meine Frage an Sie: Wir kommen beide aus Bayern, und wir wissen, dass die Bayerinnen und Bayern gern
regionale Kreisläufe haben . Wir sind gemeinsam in einigen Gremien, in denen wir auch dafür eintreten, regionale Produkte vor Ort zu kaufen . Warum organisieren wir
nicht mehr regionale Kreisläufe, damit das, was bei uns
produziert wird, auch vor Ort vermarktet und zu einem
fairen Preis verkauft wird? Warum sagen wir nicht: „Wir
wollen mehr tiergerechte Haltung“? Man kann sich zwar
darüber streiten, aber im Prinzip sind wir uns doch einig,
dass da noch viele Zugaben notwendig sind, damit in der
Region so viel produziert wird, wie gebraucht wird, und
die Bäuerinnen und Bauern davon leben können .
({1})
Verehrte Frau Kollegin! Wenn Sie gerade aufgepasst
hätten, wüssten Sie, dass auch ich ein Freund der regionalen Vermarktung bin .
({0})
Auch ich bin dafür, die regionale Bergbauernmilch so zu
vermarkten, dass der Verbraucher nachvollziehen kann,
wo das Produkt herkommt .
({1})
Aber die Realität sieht doch ganz anders aus: Im Discounter wird das billigste Produkt genommen und nicht
das regionale . Das ist doch das Problem . Wenn man dem
Verbraucher eine Keule, also ein Mikrofon, vor die Nase
hält und ihn fragt, was er alles einkaufen will, sagt er:
Regionale Produkte und Bio . - Die Realität sieht aber
ganz anders aus: hauptsächlich billige Lebensmittel, damit noch genügend Geld für den Urlaub übrig bleibt .
({2})
Ein Hinweis sei mir noch gestattet: Sie kommen aus
Ingolstadt . In Ingolstadt gibt es eine Autowerkstatt, die
Produkte herstellt . Wenn diese Autowerkstatt nicht auf
dem Weltmarkt tätig wäre, dann wäre der Arbeitsmarkt
in Ihrer Region ganz anders aufgestellt .
({3})
Warum soll die deutsche Land- und Ernährungswirtschaft die Potenziale des Weltmarktes nicht nutzen dürfen? Darf das nur ein Autohersteller? Darf das nur eine
gewerkschaftlich organisierte Fabrik?
({4})
Nein, das müssen auch unsere Bäuerinnen und Bauern
machen dürfen . - Danke .
({5})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir debattieren das Thema Milch hier teilweise hochemotional
und mit großer Leidenschaft, viele liefern gute Beiträge, aber es geht auch um die Rahmenbedingungen für
unsere Landwirtschaft . Wenn ich mit Landwirtinnen und
Landwirten rede und sie frage: „Was bewegt euch am
meisten?“, dann werde ich als Erstes gefragt: Wie geht
es weiter mit der Düngeverordnung? Wann kommt ein
Düngegesetz? Ich möchte hier alle Akteure, die sich heute und in den letzten Tagen so hervorragend für die deutsche Landwirtschaft eingesetzt haben, einladen, auch ein
vernünftiges, praxisgerechtes Düngegesetz zu machen .
({6})
Das Gleiche gilt, wenn es darum geht, dafür zu sorgen, dass unsere Bauern auch in Zukunft noch verantwortungsbewusst Pflanzenschutzmittel einsetzen dürfen,
auch wenn es darum geht, einen Ampfer in der Wiese zu
bekämpfen. Dafür ist ein bestimmtes Pflanzenschutzmittel notwendig .
Noch einen Satz zum Schluss: Im Bundesrat wurde
neulich eine Abstimmung herbeigeführt, in der es darum
ging, die Anbindehaltung zu verbieten . Meine sehr verehrten Damen und Herren, ein Drittel der bayerischen
Betriebe hat noch eine Anbindehaltung . Wenn Sie diese
Anbindehaltung verbieten wollen, müssen Sie zu einem
Drittel der bayerischen Milchbauern sagen: Sperrt eure
Höfe zu . - Das will ich vermeiden . Darum stelle ich zum
Schluss
Aber wirklich zum Schluss .
- die gleiche Frage, die Fritz Ostendorff eingangs gestellt hat: In welchen Zeiten leben wir eigentlich?
Vielen Dank .
({0})
Vielen Dank . - Zwischen den Fraktionen wurde vereinbart, dass die Vorlage auf Drucksache 18/8618 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen wird . - Ich sehe, Sie sind damit einverstanden . Dann
ist das so der Fall . Die Überweisung ist beschlossen .
Wir kommen damit zur Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Ernährung und Landwirtschaft zu dem
Antrag der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die
Grünen mit dem Titel „Milchmarkt stabilisieren - Milchkrise beenden“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/8641, den Antrag
der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen
auf Drucksache 18/6206 abzulehnen . Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der Opposition angenommen .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und SPD
Das Fachkräftepotenzial ausschöpfen - Zukunftschancen der deutschen Wirtschaft sichern
Drucksache 18/8614
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . - Ich höre keinen Widerspruch . Dann ist das so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache . Das Wort hat der Kollege
Axel Knoerig, CDU/CSU-Fraktion .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es
gibt zwei wesentliche Faktoren bei dem Thema Fachkräftesicherung . Das ist zum einen die Digitalisierung .
Sie birgt für die Wirtschaft, für die Arbeit große Wachstumspotenziale . Es reicht aber nicht, nur allein auf Innovation und Forschung zu setzen . Im Mittelpunkt unserer
Unionspolitik steht der Mensch und nicht die Technik .
({0})
Das Wissen unserer Fachkräfte ist eigentlich der Rohstoff für Innovationen von morgen . Darauf muss sich die
Personalpolitik der Unternehmen entsprechend einstellen . Wir müssen den Arbeitnehmern Perspektiven geben,
die neuen Technologien als Chance zu begreifen .
Der zweite wichtige Faktor in diesem Zusammenhang
ist der demografische Wandel. Schon in den nächsten
15 Jahren wird die Zahl der Erwerbstätigen um 5 bis
6 Millionen Menschen sinken . Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung sieht sogar einen Rückgang um eine halbe Million pro Jahr bis 2035 . Das sind
alarmierende Zahlen .
Der vorliegende Antrag macht deutlich, dass das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie eigene Instrumente zur Fachkräftesicherung entwickelt hat . Deswegen ist dieser Antrag hier gerechtfertigt . Das grenzt ihn
auch von den sozial-, bildungs- und familienpolitischen
Zielsetzungen ab .
Über die Mitberatung dieser Ressorts sind alle Querschnittsaufgaben zur Fachkräfterekrutierung enthalten .
Ich möchte meinen Dank für die konstruktive Zusammenarbeit in den Arbeitsgruppen von SPD und CDU/
CSU hier noch einmal deutlich formulieren . Insbesondere gilt der Dank meiner Kollegin Lena Strothmann und
meinem Kollegen Herrn Dr . Hans-Joachim Schabedoth
von der SPD .
({1})
Wir haben zurzeit noch keinen flächendeckenden
Fachkräftemangel, aber es gibt sehr wohl regionale
Engpässe . Diese sind vor allem im Süden und im Osten unseres Landes erkennbar . Dazu haben wir mit dem
Bundeswirtschaftsministerium eine Studie in Auftrag gegeben . Diese wurde vom Kompetenzzentrum für Fachkräftesicherung konzipiert . Zum Jahresanfang 2016 sind
685 Berufe untersucht worden . Es gibt bereits in 148 Berufen Engpässe . Dazu zählen der Maschinenbau, die Metall- und Elektronikbranche, Sanitär, Heizungs- und Klimatechnik sowie die Gesundheits- und die Pflegeberufe.
Sowohl der demografische als auch der digitale Wandel fordern ein Umdenken bei der Fachkräfterekrutierung . Wir müssen uns fragen: Was kann ein Unternehmen tun, um einen Arbeitnehmer über Jahre, Jahrzehnte
oder gar bis zur Rente an sich zu binden? Auch dazu hat
das Bundeswirtschaftsministerium eine Studie in Auftrag
gegeben . Diese wurde vom Institut der deutschen Wirtschaft in Köln in 2015 durchgeführt und trägt den Titel
„Lebensphasenorientierte Personalpolitik“ . Das ist eine
ganzheitlich ausgerichtete Personalpolitik . Sie reicht von
der Anwerbung über Weiterbildungsangebote bis hin zu
Strategien zur langfristigen Bindung von Beschäftigten .
Da diese Personalpolitik demografiefester ist, können
Fachkräfte erfolgreich im Unternehmen gebunden werden .
Um das zu erreichen, sind die betrieblichen Anforderungen mit den Bedürfnissen der Beschäftigten in
Einklang zu bringen . Hier sind vor allen Dingen die Lebensphasen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
wie Elternschaft, Ehrenamt, Familienpflegezeit oder
auch Krankheit und deren Folgen hinzuzunehmen . Analog dazu gibt es die Berufsphasen wie Einstieg, Orientierung, Reife, Führung und Ausstieg aus dem Beruf . Diese
kreuzen sich miteinander und stellen auch unterschiedliche Ansprüche an die Arbeitszeiten . Unternehmen
sollten flexibler Angebote wie Teilzeit und Heimarbeit
ermöglichen. Auch finanzielle Anreize wie betriebliche
Altersvorsorge oder variable Gehaltsbestandteile sind in
eine solche Personalpolitik einzubeziehen .
Wenn man diese Ansätze zusammenführt, dann kann
man sehr wohl von einer lebensphasenorientierten Personalpolitik sprechen . Doch wenn wir in die Betriebe hineinschauen, dann stellen wir fest, dass diese Politik erst
von 8 Prozent der Unternehmen praktiziert wird . Meine
Damen und Herren, man kann schlichtweg sagen: Hier
besteht dringender Aufholbedarf . Obwohl ich einen sehr
ländlichen, kleinstädtisch strukturierten Wahlkreis mit
sehr vielen kleinen und mittelständischen Unternehmen
mit 20 bis 50 Arbeitnehmern habe, höre ich von immer
mehr Unternehmern: „Ich brauche einen Personaler, der
sich um die Arbeitnehmer kümmert“, sodass man wirklich von einer lebensphasenorientierten Personalpolitik
sprechen darf .
Geschäftsführungen und Personalabteilungen müssen
also viel weiter denken und sich darüber im Klaren sein,
dass die Bindung von Fachkräften langfristig zu einem
Wettbewerbs-, wenn nicht sogar zu einem Standortfaktor für das Unternehmen wird . Der wirtschaftliche Erfolg baut also immer mehr auf den Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern auf . Deswegen habe ich hier und heute die
lebensphasenorientierte Personalpolitik als solche in den
Mittelpunkt meiner Rede gestellt .
Es ist gut, sich um die Arbeitnehmer nicht nur im Hinblick auf Technologie, Innovation und Lerninhalte zu
kümmern . Vielmehr sollte man auch in den Blick nehmen, wie sich ein Arbeitnehmer in der Bildungsphase
entwickelt, also von der Ausbildung bis hin zum Studium, und was er in den einzelnen Lebensphasen - auch in
der Elternzeit und selbst dann, wenn er ehrenamtlich tätig
ist - leistet . Dies muss dann vernünftig zusammengefügt
werden . Man muss den Arbeitnehmer im Rahmen einer
vernünftigen Personalpolitik ganzheitlich betrachten .
Danke schön .
({2})
Vielen Dank . - Das Wort hat jetzt Sabine Zimmermann,
Fraktion Die Linke .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wie immer, wenn es sich um dieses Thema
dreht, haben Forschung und Wissenschaft - zumindest
außerhalb der arbeitgebernahen Institute - eine ziemlich
einheitliche Meinung . Ich zitiere einmal aus dem aktuellen Bericht der Bundesagentur für Arbeit:
Aktuell zeigt sich nach der Analyse der Bundesagentur für Arbeit kein flächendeckender Fachkräftemangel in Deutschland .
Dass überhaupt über einen Fachkräftemangel gesprochen wird, führt die Bundesagentur für Arbeit auf den
Beschäftigungszuwachs zurück . So ist das eben: Wenn
die Beschäftigung zunimmt, heißt das, dass die Nachfrage nach Arbeitskräften steigt . Da fühlt sich die Bundesregierung anscheinend berufen, die Unternehmen vor den
Gesetzen des freien Marktes zu schützen . Denn bekanntermaßen steigt mit der Nachfrage auch der Preis für die
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer . Die Linke sagt:
Das ist gut so .
({0})
Nach Untersuchungen der Bundesagentur für Arbeit
gibt es einen Fachkräftemangel im Wesentlichen in einzelnen technischen Berufsfeldern sowie im Pflege- und
Gesundheitsbereich. Der Pflege- und Gesundheitsbereich
ist ein Musterbeispiel dafür, warum die Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter dort ständig wechseln . Die Arbeitsbelastung ist enorm, die Arbeitszeiten sind familienfeindlich
und gesundheitsschädigend, und die Entlohnung ist völlig unangemessen niedrig .
({1})
Der Pflegenotstand ist hausgemacht. Vor allen Dingen
aufgrund der Unterfinanzierung des Gesundheitssystems,
die Sie verschärft haben, wird er sich für die Beschäftigten in Zukunft verschärfen . Das, meine Damen und Herren, war bis jetzt Ihre Politik .
In den technischen Berufen - im Maschinenbau und
bei den Metall-, Sanitär- und Klempnerberufen - haben
wir einen sogenannten Fachkräfteengpass; das sind die
klassischen Ausbildungsbranchen . Aber der Anteil der
Betriebe, der ausbildet, liegt bei gerade mal 20 Prozent .
Nur jeder fünfte Betrieb bildet den Nachwuchs aus . Den
Unternehmen, die nun einen Fachkräftemangel fürchten,
kann man da eigentlich nur raten: Wer Fachkräfte will,
muss Fachkräfte ausbilden und sie ordentlich bezahlen .
So einfach ist das .
({2})
Dabei könnten wir sie politisch unterstützen, zum
Beispiel durch eine Ausbildungsplatzumlage . Wer nicht
ausbildet, zahlt ein; wer ausbildet, bekommt Unterstützung . Gerade kleineren Betrieben würden wir helfen,
wenn wir die Ausbildungsverbünde, die ja lange Zeit gefördert worden sind, wieder stärker fördern würden . Über
die Ausbildungsplatzumlage reden wir in diesem Haus
eigentlich schon seit Jahrzehnten .
Einmal abgesehen davon, dass die Lobesarien, die im
Antrag für Maßnahmen der Wirtschaft gesungen werden,
die in deren ureigenem Interesse liegen, in unseren Augen ebenso überflüssig sind wie Ihr fast schon peinliches
Selbstlob, könnten wir Linke viele Punkte unterschreiben . Um hier nur einmal einige zu nennen: die Anreize
für die Erwerbstätigkeit von Frauen, die bessere Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf, die Nutzung
der Potenziale von Migrantinnen und Migranten und die
Integrations- und Qualifizierungsinitiative für Langzeiterwerbslose . Was die Linke natürlich besonders freut,
ist die Integration von Menschen mit Behinderung auf
dem ersten Arbeitsmarkt . Ja, das alles könnten wir unterschreiben .
Leider stützen Sie aber seit Jahren eine Politik, die auf
das Gegenteil Ihrer Forderungen hinausläuft . Das wissen
die Antragsteller natürlich nur zu genau; denn sie fordern
in ihrem Antrag selbst, dass diese Forderungen im Rahmen der verfügbaren Haushaltsmittel umgesetzt werden
sollen . Es soll also nicht mehr Geld geben . Schwupp!
Und schon sind die ganzen Träume in Bezug auf die
32 Punkte in Ihrem Antrag ausgeträumt .
Schauen wir uns einmal die Forderungen für die Langzeiterwerbslosen an . Zum Beispiel wollen Sie die Weiterbildung für Langzeiterwerbslose stärken . Ja, klar; da
machen wir mit . Aber was haben Sie denn in den letzten Jahren getan? Sie haben doch die Mittel in diesem
Bereich massiv gekürzt . Jetzt wollen Sie die Aktivitäten
wieder ausweiten - im Rahmen der verfügbaren Haushaltsmittel . Wie soll das denn gehen?
Zusammengefasst: Die Worte hör ich wohl, die Worte
hör ich auch gern, allein mir fehlt der Glaube .
({3})
Die Linke wird natürlich weiterhin kritisch hinterfragen,
wie Sie Ihre 32 Forderungen in Ihrem schönen Antrag
denn umsetzen wollen .
Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Für einen solchen
Schaufensterantrag steht die Linke nicht zur Verfügung .
Danke schön .
({4})
Vielen Dank . - Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der
Kollege Dr . Hans-Joachim Schabedoth .
({0})
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Der deutschen Wirtschaft geht es doch eigentlich gut . Das BIP wächst, die Arbeitslosigkeit wird weiter sinken, die Einkommen steigen . Das ist allerdings nur
möglich, weil es in Deutschland ein wunderbar funktionierendes System der Fachkräfteausbildung gibt . Dafür
bewundert man uns weltweit - mit Recht .
Aber auch was schon gut ist, muss ständig an neue
Herausforderungen angepasst werden - nicht zuletzt in
unserer Gesellschaft des demografischen Wandels. Wir
haben das im vorliegenden Antrag ausführlich dargestellt . Ich will deshalb nur einzelne Aspekte hervorheben .
Zum Beispiel muss die Facharbeiterausbildung in
Konkurrenz mit der akademischen Bildung immer wieder neu profiliert werden. Es gibt in Deutschland rund
2,8 Millionen Studierende, Tendenz steigend, während
die Zahl der Auszubildenden stetig sinkt . Derzeit sind
1,4 Millionen junge Menschen in Ausbildung . Es müssten erheblich mehr sein .
Etwa 50 000 Stellen sind derzeit unbesetzt . Viele wissen gar nicht, dass man unter 330 Ausbildungsberufen
wählen könnte . So verwundert es uns nicht, dass viele
Ausbildungsgänge unbekannt bleiben .
Zudem weichen viele Menschen lieber auf eine akademische Ausbildung aus . Es gibt über 18 000 Studiengänge . Wir freuen uns über jeden Studienabschluss; verstehen Sie mich bitte nicht falsch . Aber ohne die Basis von
Facharbeit würden wir als Industrieland an Bedeutung
verlieren .
({0})
Viele Menschen, die das berühmte IMM studiert haben, also „Irgendwas mit Medien“, wären vielleicht als
Mechatroniker oder als Schreinerin glücklicher . Mehr
Geld verdienen könnten sie damit, glaube ich, allemal .
Viel zu sorglos sind wir lange davon ausgegangen, in
der Berufswelt stünden Nachwuchskräfte immer ausreichend zur Verfügung . Doch sie sind nie auf den Bäumen
gewachsen . Jetzt mehren sich die Engpassfälle, wo der
Nachwuchs mit der Lupe gesucht wird .
Wir können heute eine ganze Menge dafür tun - das
haben wir ja aufgeschrieben -, damit die Kluft zwischen
Angebot und Nachfrage geschlossen oder zumindest
nicht größer wird . Vielleicht ist es schlichtweg auch nicht
lukrativ genug, zum Beispiel als Metzger oder als Bäcker
zu arbeiten . Aber da stellt sich doch die Frage: Müsste
unattraktivere Arbeit nicht deutlich besser bezahlt werden, auch schon während der Ausbildung?
({1})
Es darf auch nicht unerwähnt bleiben, dass Frauen
nach wie vor erheblich weniger verdienen als Männer .
Sabine Zimmermann ({2})
Die bestausgebildeten Frauen aller Zeiten und auch viele
Männer fehlen dem Arbeitsmarkt, weil wir ihre Probleme
mit der Vereinbarkeit von Familie und Beruf noch nicht
lösen konnten .
({3})
Selbstverständlich, liebe Kolleginnen und Kollegen, haben alle Frauen einen legitimen Anspruch, auch an den
von Männern präferierten Segmenten der Arbeitswelt
teilzuhaben .
Frauen sind nicht der Rest, sondern leider vielfach
gegen ihren eigenen Wunsch die noch unterbeschäftigte Hälfte der Gesellschaft . Das kann man ändern . Auf
Arbeitsfeldern, in denen heute überwiegend Frauen beschäftigt sind, wird im Übrigen am schlechtesten entlohnt . Auch das ist kein Naturgesetz, sondern das hat
schon etwas Männerbündisches . Das darf so nicht bleiben .
({4})
Es ist doch irre, dass der Dienst am Menschen schlechter
bezahlt wird als der Dienst am Auto .
Auch junge Menschen, die sich vielleicht nur für die
Dauer ihres Flüchtlingsstatus bei uns aufhalten, müssen wir jetzt ausbilden, und zwar so gut und so schnell
es geht. Davon profitieren wir alle; mein Kollege Josip
Juratovic wird Ihnen das noch ausführlicher erklären .
Heutige Versäumnisse bei der Ausbildung von Flüchtlingen würden sich bitter rächen . Das ist die eine Seite . Die
andere Seite ist es, im Ausland gezielt um Fachkräfte zu
werben . Kluges Einwanderungsmanagement gehört deshalb zur Palette aller Maßnahmen, mit denen wir dem
Fachkräftemangel vorbeugen . Das wäre moderne Politik .
Während viele Industrieländer eine Einladung an die
Fähigsten aussprechen, machen wir was genau? Das
morgen zu diskutierende Integrationsgesetz ist ein erster
Schritt; denn es nutzt die Potenziale derer, die schon da
sind und die wir glücklicherweise schon haben . Es gibt
viele Menschen mit einer Behinderung, die nur durch gezielte und begleitete Maßnahmen einen willkommenen
Platz in der Berufswelt finden können. Das sollten wir
fortan systematischer berücksichtigen .
Wir brauchen auch eine Perspektive für Studienabbrecher und die Unterstützung für die allzu vielen, die ihre
Ausbildung ohne Abschluss beenden . Es ist und bleibt
eine Lüge, Kolleginnen und Kollegen, dass Hans nicht
mehr lernen könnte, was Hänschen versäumt hat . Auch in
der beruflichen Ausbildung darf es nie ein Zu-spät geben.
Lassen Sie uns jetzt die vielen, die heute resigniert haben
oder sich als Langzeitarbeitslose ausgegrenzt fühlen, ermutigen, die Fachkräfte von morgen zu werden .
({5})
Eine solide Ausbildung ist niemals eine Sackgasse, sondern die Startrampe für ein gelingendes Leben .
Unser Antrag zeigt auf, was bereits passiert, aber
es muss auch noch viel getan werden . Haben wir vielleicht etwas vergessen? Frau Kollegin, reichen Ihnen die
32 Punkte nicht? Das mag sein, ja. Das Qualifizieren von
Fachkräften ist eine Dauerbaustelle . Was wir jetzt angehen wollen und müssen, um unser Fachkräftepotenzial zu
mehren und besser auszuschöpfen, haben wir in vielen
Gesprächen ermittelt und aufgezeigt .
Danke an alle, die daran mitgewirkt haben, vor allen
Dingen auch an Sie, Herr Knoerig, aber auch an viele
Kolleginnen und Kollegen aus den anderen Arbeitskreisen . Jetzt muss es getan werden . Danke an alle, die dabei
mithelfen .
({6})
Vielen Dank . - Als Nächster spricht der Kollege
Dieter Janecek, Bündnis 90/Die Grünen .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr
Knoerig! Herr Schabedoth, es ist löblich, dass Sie die
32 Maßnahmen, die wir derzeit haben, in Ihrem Antrag
auflisten und damit etwas beschreiben, das bereits stattfindet. Das kann man nicht kritisieren. Es ist sinnvoll,
aber das ergibt noch keine Gesamtstrategie .
Sie haben zum Beispiel das Thema Integration und
Einwanderungsgesetz angesprochen . Wir haben das
Jahr 2016 . Sie schreiben in Ihrem Antrag, dass wir uns
gezielt um Einwanderung und um die Integration von
Ausländern in den Arbeitsmarkt kümmern müssen, und
jetzt diskutieren wir erst darüber, ob wir vielleicht im
nächsten Jahr ein Einwanderungsgesetz bekommen . Das
zeigt doch die ganze Misere, dass wir bei den Grundlinien eben nicht vorankommen, was die Fachkräfte angeht;
dort sind wir im Hintertreffen .
({0})
Wir können das fortsetzen, zum Beispiel beim Thema
Frauenförderung . Sie haben in Ihrem Antrag die vorhandenen Maßnahmen genannt . Auch die Linke hat es angesprochen. Wir haben an dieser Stelle ein Defizit, aber die
Bundesregierung gibt auch die falschen Signale .
Sie haben das Betreuungsgeld ermöglicht . Gestern hat
die Bayerische Staatsregierung das erneut beschlossen .
Das Geld dafür fließt aus dem Bundeshaushalt. Das sind
doch keine Signale, um mehr Frauen in den Arbeitsmarkt
zu bringen . Das sind Signale dafür, dass Frauen zu Hause
bleiben sollen . Also auch das ist von der großen Linie her
nicht der richtige Ansatz .
({1})
Der nächste Punkt: Sie schreiben in Ihrem Antrag: Ältere Erwerbspersonen müssen länger in das Arbeitsleben
eingebunden werden . Auch das begrüßen wir . Die skandinavischen Modelle zeigen, was damit möglich ist .
Aber was haben Sie gemacht? Sie haben die Rente mit
63 eingeführt . Auch das ist ein Signal, zu dem ich nicht
sagen kann: Das ist konsistent . Sie haben 32 Einzelmaßnahmen, aber die großen Linien funktionieren eben nicht .
({2})
Ich habe als bayerischer Abgeordneter der Grünen,
auch wenn es uns noch nicht gelungen ist, alle Wahlkreise in Bayern zu erobern, die Ehre, nicht nur München
als dynamische bayerische Hochleistungsregion zu vertreten, sondern auch die ländliche Oberpfalz und Unterfranken . Die Frage, ob es einen Fachkräftemangel gibt,
ist sehr unterschiedlich zu beantworten . Per se kann man
nicht sagen, dass es einen Fachkräftemangel gibt, schon
gar nicht in Bayern, aber vielleicht in Teilen Ostdeutschlands .
Aber es gibt natürlich Herausforderungen . Die Herausforderung, eine Erzieherin in München zu halten, ist
bei den Mietpreisen, die man dort zu bezahlen hat, eine
andere Herausforderung, als sich in der Oberpfalz um
eine Industrieregion zu kümmern, die dringend Ansiedlungen sucht, oder in Unterfranken die Weiterentwicklung der Industrie vor Ort zum Beispiel mit erneuerbaren
Energien zu gewährleisten .
Um diese Rahmenbedingungen muss man sich kümmern . Denn wenn man zum Beispiel beim DIHK nachfragt, dann erfährt man, dass Unternehmer sagen - das
zeigt sich auch immer wieder, wenn man Unternehmen
vor Ort besucht -: Wir können freie Stellen nicht besetzen .
Das wird sich bei Nachfragen bestätigen . Auch das
Mittelstandsbarometer zeigt das: 62 Prozent der Betriebe
können freie Stellen nicht besetzen . Man muss hinterfragen, woran genau das liegt . Liegt es daran, dass kein
qualifiziertes Personal vorhanden ist, oder liegt es vielleicht auch daran - Sie sagen es -, dass die Bezahlung
zum Teil nicht stimmt? Vielleicht liegt es daran, dass wir
im Bereich der Löhne das Problem haben, dass sich die
Menschen in die Zentren orientieren, wo entsprechende Löhne gezahlt werden, und wenn zu wenig gezahlt
wird und der Wettbewerb so hart ist, dass die Löhne nicht
hoch genug sind, dann gehen sie nicht dorthin . Auch das
gehört zur Situation: Wenn man den Fachkräftemangel
beseitigen will, dann muss man gerechte Löhne in einer
gerechten Industrie und einem gerechten Mittelstand
schaffen .
({3})
Dann komme ich zu dem Thema, das uns sehr lange
bewegt hat, nämlich die Integration der Flüchtlinge . Ich
gehöre nicht zu denen, die der Meinung sind, dass der
Zuzug von Flüchtlingen - der ja nicht erfolgt ist, weil
diese Menschen aus wirtschaftlichen Gründen kommen
wollten, sondern weil sie aufgrund von Krieg und Vertreibung kommen mussten - die wirtschaftliche Chance
per se ist . Das halte ich für überhöht . Aber Sie müssen
darüber nachdenken, dass wir heute mit Sprachkursen
und Angeboten in diese Menschen investieren müssen,
damit sich morgen etwas daraus ergibt . Das geht; denn
die Menschen, die hierhergekommen sind, wollen etwas
tun . Denen müssen wir etwas geben, und auf einem Arbeitsmarkt wie unserem mit einer Rekordbeschäftigung
von 43,4 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten gibt es die Chancen .
Wir können das schaffen . Lassen Sie uns in die Zukunft denken und vielleicht einmal den Blick darauf
richten, wie andere Länder, beispielsweise die USA, ihr
Wachstum über die Jahrzehnte geschaffen haben . Durchaus auch mit Einwanderung und Zuwanderung, leider
aber in dem Fall - damit sind wir wieder bei sozialen
Gesichtspunkten - wieder nur in den unteren Lohnbereichen . Das ist nämlich genau der Punkt .
Wir brauchen stabile Löhne, ein gutes Umfeld für die
Wirtschaft und eine offene Volkswirtschaft statt der Signale, die in den letzten Wochen und Monaten gegeben
wurden: geschlossene Grenzen bis hin zu den wirklich
schlimmen Beleidigungen eines Nationalspielers . Das
schafft ein Klima im Land, das uns allen nicht dienen
wird .
Deswegen bitte ich Sie einfach, eine offene, vielfältige
Volkswirtschaft zu schaffen - das ist auch eine Voraussetzung dafür, dass wir gute Fachkräfte haben werden -,
Frauenförderung zu machen, die Flüchtlinge zu integrieren und einfach darauf zu schauen, dass wir bei den Löhnen auch stabil sind, damit die Menschen ein Auskommen haben . Dann kommt das alles zusammen, und dann
werden wir das auch schaffen .
Vielen Dank .
({4})
Vielen Dank . - Das Wort hat jetzt Jana Schimke,
CDU/CSU-Fraktion .
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Industrie 4 .0, Arbeit 4 .0 oder die Digitalisierung der Arbeitswelt, der digitale Wandel der Arbeitswelt, das alles ist
nicht nur politisch, sondern auch öffentlich in aller Munde . Sowohl die Tages- als auch die Fachpresse widmen
sich regelmäßig diesen Themen . Studien und Untersuchungen werden bemüht, um den technischen Wandel
und dessen Auswirkungen auf die Arbeitswelt zu prognostizieren .
Bei den Experten aber ist man sich uneinig darüber,
was das für einzelne Berufsfelder bedeutet . Weitestgehend einig ist man sich in der Wissenschaft nur darüber,
dass die Digitalisierung ganz neue Anforderungen an Arbeitnehmer stellen wird und Qualifikation immer wichtiger wird .
Fachkräfte sind also ein entscheidender Fakt, wenn es
um die erfolgreiche Umsetzung der Digitalisierung in der
Arbeitswelt geht . Deshalb kann es uns auch nicht egal
sein, wie sich die Fachkräftesituation in den Betrieben
darstellt . Unser wirtschaftlicher Erfolg basiert auf guten
Ideen und klugen Köpfen .
({0})
Zwar ist der Fachkräftemangel noch keine flächendeckende Erscheinung, doch er tritt schon seit längerer
Zeit in bestimmten Branchen und Berufen, aber auch in
Regionen auf . Beispielsweise bei den MINT-Berufen lag
die Arbeitskräftelücke im April dieses Jahres schon bei
knapp unter 172 000 Personen . Wenn ich eben gesagt
habe, dass sich das inzwischen auch in verschiedenen
Regionen abbildet, so muss man leider sagen, dass es
Unternehmen in Deutschland gibt - mitunter auch sehr
große Unternehmen -, die sehr, sehr große Schwierigkeiten haben, qualifizierte Fachkräfte zu ihrem Stammsitz
zu bekommen und für eine Beschäftigung im Unternehmen zu gewinnen .
Diese Regionen sind nicht nur in weit entfernten ländlichen Räumen zu finden oder in Ostdeutschland ganz
allgemein, sondern das fängt manchmal schon hinter
der Berliner Stadtgrenze an . Mein Wahlkreis reicht vom
Spreewald bis an die Berliner Stadtgrenze, und mir berichten mitunter sogar Unternehmen, die in relativ Berlin-nahen Regionen ihren Sitz haben, wie schwierig es
ist, mit den Konzernen, die auf Berliner Stadtgebiet ihren
Sitz haben, zu konkurrieren .
Fest steht, dass wir es den Unternehmen aber auch
nicht abnehmen können, attraktiv für Fachkräfte zu sein .
Hier ist die Eigeninitiative der Betriebe gefragt . Fest
steht aber auch, dass größere Unternehmen bei der Fachkräftegewinnung mitunter andere Möglichkeiten haben
als kleine und mittelständische Betriebe . Unsere Aufgabe
ist es deshalb, dieses Engagement mit klugen Initiativen,
Gesetzen und Fördermöglichkeiten zu unterstützen . Diesem Ziel, meine Damen und Herren, tragen wir mit dem
vorliegenden Antrag Rechnung .
({1})
In diesem Antrag wird deutlich, wie viele Politikfelder
von der klassischen Wirtschaftspolitik über die Sozialpolitik bis hin zur Bildungspolitik und sogar zur Asylpolitik
inzwischen in diesem Themengebiet involviert sind . Ein
ganz entscheidendes Ziel dieses Antrags ist die Stärkung
der dualen Berufsausbildung . Wir müssen deshalb alles
daransetzen, der dualen Berufsausbildung dieselbe Wertschätzung zukommen zu lassen wie anderen Bildungswegen .
({2})
Ich erlebe in meinem Wahlkreis tagtäglich, wie Handwerksbetriebe um ihre Existenz kämpfen, weil der Nachwuchs und mitunter auch die Unternehmensnachfolge
fehlen . Stattdessen gibt es einen Run der jungen Menschen auf die Universitäten . Dabei werden wir weltweit
um unsere gute berufliche Ausbildung beneidet. Auch die
mehr als 350 Ausbildungsberufe, die es in Deutschland
gibt, haben sich verändert . Auch dank der Digitalisierung
haben sie sich mitunter zu hochkomplexen technologischen und perspektivenreichen Aufgabengebieten entwickelt . Das müssen wir den Schülerinnen und Schülern
verdeutlichen, meine Damen und Herren .
({3})
Weiterhin ist es richtig, dass wir bereits frühzeitig auf
digitale Bildungsangebote setzen . Dafür braucht es einen
ganzheitlichen Ansatz: von der Kita bis zur beruflichen
Bildung. Das setzt entsprechende Qualifikationsangebote
für die Lehrenden sowie natürlich auch eine gute technische Ausstattung voraus . Schaffen wir das, wird uns der
digitale Wandel in der Arbeitswelt gut gelingen . Hierbei
kann man an bereits bestehende Initiativen - zum Beispiel an die Initiative „erlebe IT“ - anknüpfen, die sich
insbesondere mit der Stärkung der Medienkompetenz
der Schülerinnen und Schüler, aber auch mit Themen
wie „Sicherheit im Internet“ und „Datenschutz“ befassen . Der Bundesverband BITKOM bietet diese Initiative
an . Sie ist kostenfrei . Es wurde allen Abgeordneten angeboten, an den Schulen im Wahlkreis mit dieser Initiative zu werben . Ich habe das gemacht . Ich war erstaunt .
Ich wurde von der Nachfrage und der großen Resonanz
in meinem Wahlkreis förmlich überrannt . Viele Schulen
haben sich daran beteiligt, und ich weiß auch, dass diese
Initiative deutschlandweit großen Anklang gefunden hat .
Nicht nur Schüler werden durch diese Initiative sozusagen fortgebildet, sondern auch Lehrer und Eltern .
Wir alle wissen, dass wir auf die Bildungspolitik der
Länder nur wenig Einfluss haben; denn wir sitzen ja hier
im Deutschen Bundestag . Aber ich bin sehr dankbar für
solche Initiativen vonseiten der Wirtschaft und der Verbände, weil sie uns die Möglichkeit geben, ein Stück weit
Fehlentwicklungen in der Bildungspolitik auf Landesebene zu korrigieren und auch ein Stück weit auf die Landesbildungspolitik einzuwirken .
({4})
Schließlich liegt mir auch die Stärkung der Berufsorientierung am Herzen . Zu oft sitzen mir Schüler im Alter
von 14 bis 18 Jahren gegenüber ohne jedwede Vorstellung über ihre berufliche Zukunft. Zu oft habe ich gehört, dass beispielsweise eine Friseurin lieber Tischlerin
geworden wäre, wenn der Vater es erlaubt hätte, oder
eine junge Frau, die ihren Alltag mit Gelegenheitsjobs
bestreitet, lieber Kfz-Mechatronikerin geworden wäre,
ihr dafür aber der Mut fehlte . Ähnliche Beispiele gibt es
selbstverständlich auch bei den Männern .
Es kommt also darauf an, gerade im Bereich der Berufsorientierung über den Tellerrand hinauszuschauen
und den jungen Menschen in unserem Land angesichts
der Vielzahl der Möglichkeiten, die das Leben heutzutage bietet, ein Stück weit einen Leitfaden an die Hand zu
geben . Ich bin sehr dankbar für die gute Arbeit, die die
Bundesagentur für Arbeit in diesem Bereich leistet, aber
vor allen Dingen auch unsere Wirtschaftsverbände, die
dabei mit interessanten und spritzigen Initiativen auf sich
aufmerksam machen .
({5})
Unsere Aufgabe, meine Damen und Herren, ist es,
beim jährlich stattfindenden Girls’ Day und Boys’ Day
bzw . beim Zukunftstag, wie auch immer man ihn nennen
mag, mitzuhelfen, mitzuwirken und für das zu werben,
worum es uns in der Bildungs- und insbesondere in der
Ausbildungspolitik im weitesten Sinne geht .
Das sind nur wenige Punkte aus unserem sehr umfassenden Antrag, die ich soeben nannte . Sie zeigen aber,
dass Bildung, Ausbildung, Weiterbildung und Integration
zentrale Zukunftsaufgaben für uns sind, um im globalen
Wettbewerb Schritt halten zu können .
Vielen Dank .
({6})
Vielen Dank . - Als nächster Redner hat Josip Juratovic
von der SPD-Fraktion das Wort .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Erlauben Sie mir zu Beginn, zu betonen: Erstens . Es ist ein Fakt: Zur Fachkräftesicherung in unserem Land gehört Einwanderung . Zweitens . Dabei dürfen
Menschen nicht gegeneinander ausgespielt werden .
Ich bin Integrationsbeauftragter meiner Fraktion . Für
uns ist es wichtig, in unserem Handeln die gesamte Gesellschaft zu berücksichtigen . Deswegen heißt es bei uns
nicht: „Frau gegen Mann“, „Alt gegen Jung“, „Gesund
gegen Beeinträchtigt“, und eben auch nicht: „Migrant
gegen Deutschstämmig“ . Unsere Politik ist für alle Menschen da . Nur so kann der Zusammenhalt in unserer Gesellschaft gesichert werden .
Ich freue mich darüber, dass es uns gelungen ist, in unserem Antrag die Vielschichtigkeit der Fachkräftesicherung darzulegen . Er zeigt auf, welche Bedarfe es gibt und
welche Angebote unsere Politik macht . Mit der Vielfalt
der Programme zur Fachkräftesicherung zeigen wir, dass
wir bedarfsgerecht zuschneiden können . Und warum?
Jeder in unserem Land soll so gefördert und gefordert
werden, dass er seine Chancen optimal nutzen kann . Kolleginnen und Kollegen, was brauchen wir dazu?
Erstens . Wir müssen die Potenziale im Inland optimal
nutzen . Wir wollen alle unterstützen, die Vermittlungshindernisse haben . Wir wollen uns um sie kümmern, ob
deutschstämmig oder Migrant, ob ein Langzeitarbeitsloser gut Deutsch spricht oder nicht . Jedes Programm zur
Heranführung an den Arbeitsmarkt ist gut für diese Menschen und für unser Land .
Zweitens . Viele Menschen sind aus humanitären Gründen nach Deutschland gekommen . Wir müssen möglichst
viele für unseren Arbeitsmarkt gewinnen . Gerade den
Geflüchteten stehen viele Hürden im Weg. Dabei ist es
mir wichtig: Wir brauchen keine Angst vor Niedrigqualifikation zu haben. Ich als ehemaliger Fließbandarbeiter
und nun als Abgeordneter im Deutschen Bundestag bin
nicht als Fachkraft in unser Land gekommen . Ich bin hier
zur Fachkraft geworden, nicht zuletzt dank der optimalen
Bedingungen, die mir unser Land geboten hat .
({0})
Deshalb ist es uns wichtig, dass wir Qualifikation fördern,
zum Beispiel ganz aktuell durch Rechtssicherheit während der Ausbildung oder durch die Bereitstellung von
100 000 Arbeitsgelegenheiten für Geflüchtete. Gleichzeitig vereinfachen wir die Anerkennungsverfahren zum
Beispiel mit dem deutschen IQ-Netzwerk . Kolleginnen
und Kollegen, es wird sich lohnen, Neuankömmlingen
eine Chance auf Arbeit zu geben; denn der Arbeitsplatz
ist der beste Ort zur Integration .
({1})
Drittens . Trotzdem wird die bisherige Zuwanderung
nicht reichen, um den Fachkräftebedarf langfristig optimal zu decken . Wir brauchen Einwanderung, wenn wir
unsere alternde Gesellschaft für die Zukunft absichern
wollen . Doch Wirtschaft und Gesellschaft verlangen für
die Einwanderung Planbarkeit . Um diesen gesellschaftlichen Prozess planen und steuern zu können, brauchen
wir ein Einwanderungsgesetz . Dazu gehört auch, im
Ausland für den deutschen Arbeitsmarkt zu werben, vor
allem in Ländern mit besonders hohem Migrationsdruck .
Ein gutes Beispiel ist der Westbalkan . Seit November 2015 dürfen Menschen aus dem Westbalkan in
Deutschland arbeiten, wenn sie einen Vertrag über einen Arbeitsplatz mit fairer Bezahlung nachweisen und
die Vorrangprüfung bestehen . Seitdem gewinnen wir
Menschen, die der deutsche Arbeitsmarkt offensichtlich
braucht; gleichzeitig sinkt die Zahl von Asylbewerbern
aus diesen Ländern .
Kolleginnen und Kollegen, in letzter Zeit ist die Fachkraftgewinnung auf dem europäischen Binnenmarkt leider aus dem Blickwinkel geraten . Europas Arbeiter sind
mobil . Sie sollen es zu fairen Bedingungen sein . Die Projekte MobiPro und „Faire Mobilität“ gehen zum Beispiel
Hand in Hand, wenn es darum geht, dass EU-Bürger in
Deutschland lernen und arbeiten können . Ausbildung in
Deutschland ist ein wichtiger Aspekt . Wenn wir Menschen schon zur Ausbildung nach Deutschland locken
können, werden sie unserem Land für lange Zeit als gute
Facharbeiter zur Verfügung stehen .
Als Fließbandarbeiter und Gewerkschafter appelliere
ich aber auch an die Redlichkeit unserer Unternehmen .
Mischkalkulationen, in denen Menschen gegeneinander
ausgespielt werden, dürfen nicht Bestandteil von Geschäftsmodellen sein . Sie sind Betrug an der gesamtgesellschaftlichen Verantwortung . Es darf nicht sein, dass
Ältere nicht beschäftigt werden, weil man den Jüngeren
weniger bezahlen muss und sie obendrein noch leichter mit Befristung knechten kann . Genauso wenig darf
es sein, dass Ausländer angeworben werden, weil sie in
ihrer Not bereit sind, an der unteren Grenze, die das Arbeitsrecht noch erlaubt, zu arbeiten, und somit Deutsche
gegen Ausländer ausgespielt werden .
Kolleginnen und Kollegen, Wettbewerb hat Grenzen,
({2})
nicht nur entlang der Gesetze, sondern vor allem entlang
des Anstands und der Redlichkeit . Nur wenn es uns gelingt, dass jeder und jede sein bzw . ihr Bestes gibt, nicht
nur für den eigenen Profit, sondern auch für das Gemeinwohl, dann sind Frieden und gesellschaftlicher Zusammenhalt gesichert . Die Wirtschaft muss hier mit gutem
Beispiel vorangehen .
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
({3})
Vielen Dank . - Als letzter Redner hat Dr . Thomas
Feist von der CDU/CSU-Fraktion in dieser Debatte das
Wort .
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin . - Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren!
Ich freue mich, dass ich als Bildungspolitiker zu dieser
Debatte auch noch etwas beitragen darf; denn ohne Bildung keine Fachkräfte . Darin sind wir uns ja einig .
Ich möchte auf der einen Seite etwas dazu sagen, was
wir tun müssen, um Fachkräften Qualifizierung, Perspektiven und Karrierechancen zu ermöglichen . Auf der
anderen Seite möchte ich etwas dazu sagen, wie wir denjenigen, die bisher keinen Berufs- oder Schulabschluss
haben, etwas an die Hand geben können; denn es geht
nicht nur darum, dass wir Fachkräfte brauchen, sondern
wir müssen auch Möglichkeiten eröffnen, damit sich
Leute in diesem Land für dieses Land engagieren und
das Gefühl bekommen, gebraucht zu werden . Auch das
ist eine wichtige Botschaft .
Ich möchte mit einem Punkt anfangen, der auch im
Antrag erwähnt worden ist und den ich für ganz zentral halte . Es geht um Berufsorientierung, und zwar an
allen Schulformen für alle Schüler . Es ist schon gesagt
worden: Wir haben 330 Ausbildungsberufe . Einige davon kennt man, zum Beispiel den Klempner oder den
Zimmermann . Aber wenn ein junger Mensch - und da
schaue ich die jungen Leute an, die hier oben auf der
Zuschauertribüne sitzen - nach Hause kommt und seinen Eltern sagt, er bzw . sie würde gerne Verfahrenstechniker werden, dann werden einen die Eltern erst einmal
komisch anschauen; denn es gibt einfach zu wenige Informationen darüber, welche Berufe es gibt und welche
Möglichkeiten es auch gibt, sich im Beruf fort- und weiterzubilden . 330 Ausbildungsberufe sind also schon eine
ganze Menge . Weiterhin gibt es - das haben wir auch
schon gehört - 18 000 grundständige Bachelorstudiengänge .
Mir geht es nun um Folgendes: Weil natürlich auch die
Eltern in die Entscheidung wesentlich mit eingebunden
sind, brauchen wir eine Berufs- und Studienorientierung
für alle Schüler . Dabei hat allerdings die akademische
Bildung in diesem Bereich einfach wegen des besseren
Marketings einen Vorteil; denn bei 18 000 Studiengängen
wird nicht gefragt: „Was studiert denn deine Tochter oder
dein Sohn?“, sondern da sagt man: „Die oder der macht
einen Bachelor .“ Das ist natürlich eine tolle Sache, aber
darunter kann sich überhaupt niemand etwas vorstellen .
Außerdem hat man, wenn man mit einem Bachelor eine
Hochschule verlässt, eigentlich eine Employability, also
eine Einstellungsfähigkeit, die sich zwar nicht gerade bei
null befindet, aber vergleichsweise gering ist.
Wichtig ist es deswegen, dass wir in einem zweiten
Schritt zwischen der akademischen und der beruflichen
Bildung Übergänge schaffen, sodass gesagt wird: Eine
berufliche Bildung ist ein guter Anfang. Dann kann man
auch denjenigen, die das Abitur haben, aber merken, dass
ihnen eine berufliche Bildung eigentlich viel besser liegt,
zeigen: Es geht nicht nur darum, einen guten Gesellenabschluss zu machen, sondern auch darum, dass man sich
spezialisiert und vielleicht ein Meisterstudium aufnimmt .
Wir haben in dieser Legislaturperiode ja dafür gesorgt,
dass die Förderbedingungen - ich will das jetzt hier nicht
noch einmal wiederholen - für das Meister-BAföG wesentlich besser geworden sind . Genau das sind die richtigen Signale, die wir aussenden . Und es ist wichtig, dass
wir diese Punkte - es gab ja Kritik daran - auch einmal
zusammenführen .
({0})
Dass wir das im Bereich des Wirtschaftsministeriums
zusammenführen, hängt auch damit zusammen, dass die
Allianz für Aus- und Weiterbildung auch im Wirtschaftsministerium angesiedelt ist . Natürlich kann es nicht gelingen, Aus- und Weiterbildung allein im Wirtschaftsministerium zu organisieren, sondern wir brauchen dabei
auch die Bereiche Arbeit und Soziales sowie natürlich
Bildung .
Ich möchte auch noch einmal kurz darstellen, warum
das so wichtig für diejenigen ist, die bisher keinen Berufs- oder Schulabschluss haben . Es geht darum, dass
wir Netzwerke schaffen, in denen aus den verschiedenen Rechtskreisen - zum Beispiel des Sozialgesetzbuches - Leistungen zusammengeführt werden . Ein ganz
wichtiges Mittel dafür ist zum Beispiel die Jugendberufsagentur, die den jungen Leuten, die die Schule verlassen, passgenaue Angebote macht und dafür sorgt, dass
man sie nicht aus dem Blick verliert . Denn je länger man
mit einer Ausbildung wartet, umso schwerer wird es . Sie
haben gesagt, auch Hans kann das noch lernen; das ist
richtig . Aber es fällt ihm natürlich wesentlich schwerer .
Deswegen müssen wir dafür sorgen, dass wir möglichst
gute Übergänge von der Schule in den Beruf schaffen .
Es gehört auch dazu, dass wir denjenigen, die im überbetrieblichen Bereich Bildungsangebote bereitstellen,
sagen: Wir brauchen Kriterien, die sich auf die Beruflichkeit - das heißt auf die Anschlussfähigkeit von Berufen - fokussieren . In den Arbeitsagenturen haben wir
jetzt natürlich Kriterien eingeführt, nach denen man die
Qualität und die Qualifikation derer, die solche Lehrgänge anbieten, besser beurteilen kann . Wenn man sich aber
einmal die Ausschreibungspraxis anschaut, stellt man
fest, dass es sich so verhält: Wenn jemand ein besonders günstiges Angebot macht, wird man dieses nehmen
müssen . Deswegen habe ich gestern auch in meinem Gespräch mit der Bundesarbeitsgemeinschaft Katholische
Jugendsozialarbeit - sie hat im Verbund jahrzehntelang
viel gute Arbeit gemacht - gesagt: Wir sollten vor allem
gemeinsam Verbünde mit den Unternehmen vor Ort - das
heißt auch mit den Kammern vor Ort - schaffen; denn je
praxisnäher solch eine Ausbildung für diejenigen vonstattengeht, die eine zweite oder dritte Chance brauchen,
umso besser ist das für die jungen Menschen in unserem
Land und damit auch für die Fachkräfte .
Vielen Dank .
({1})
Ganz herzlichen Dank . - Damit schließe ich die Debatte über diesen Tagesordnungspunkt, und wir kommen
zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der
CDU/CSU und SPD auf Drucksache 18/8614 mit dem
Titel „Das Fachkräftepotenzial ausschöpfen - Zukunftschancen der deutschen Wirtschaft sichern“ . Wer stimmt
für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Damit ist dieser Antrag mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen
worden .
Wir kommen zum nächsten Tagesordnungspunkt, zu
TOP 11:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan
Korte, Herbert Behrens, Sevim Dağdelen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Anerkennung der sowjetischen Kriegsgefangenen als NS-Opfer
Drucksache 18/8422
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . - Ich höre dazu
keinen Widerspruch . Dann ist das so beschlossen .
Wenn sich die Kolleginnen und Kollegen zügig auf
ihre Plätze begeben würden, könnten wir auch mit der
Debatte beginnen .
Ich eröffne die Aussprache . Als erster Redner in der
Debatte hat Jan Korte von der Fraktion Die Linke das
Wort .
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Fast genau vor 75 Jahren begann der Angriffs- und Vernichtungskrieg Nazideutschlands gegen die damalige
Sowjetunion . Die Folge waren 27 Millionen tote Sowjetbürger . Heute, einige Tage vor diesem bewegenden
Jahrestag, gilt unser Dank selbstverständlich denjenigen
Menschen in der Sowjetunion, die mit oder ohne Uniform durchgehalten haben und den wesentlichen Anteil
an der Befreiung Europas vom Joch des Hakenkreuzes
geleistet haben .
({0})
Der Krieg gegen die Sowjetunion war halt nicht irgendein Krieg, sondern es war ein Krieg, der alle bis dahin von der Menschheit entwickelten Rechts- und Zivilisationsregeln außer Kraft setzte . Jan Philipp Reemtsma
sagte zur Eröffnung der ersten Wehrmachtsausstellung
1995 in München - ich darf ihn zitieren -:
Der Krieg der deutschen Wehrmacht im - pauschal
gesprochen - „Osten“ ist kein Krieg einer Armee
gegen eine andere Armee gewesen, sondern er sollte
der Krieg gegen eine Bevölkerung sein, von der ein
Teil - die Juden - ausgerottet, der andere dezimiert
und versklavt werden sollte . Kriegsverbrechen waren in diesem Kriege nicht Grenzüberschreitungen,
die erklärungsbedürftig sind, sondern das Gesicht
dieses Krieges selbst . Der Terminus „Kriegsverbrechen“ ist aus einer Ordnung entliehen, die von
Deutschland außer Kraft gesetzt worden war, als
dieser Krieg begann .
Heute geht es nun darum, endlich einer der größten
Opfergruppen Nazideutschlands würdig zu gedenken .
5,7 Millionen Angehörige der Roten Armee sind damals
in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten . Von diesen
5,7 Millionen starben 3,3 Millionen an Hunger, Kälte,
Krankheiten und massenhaften Hinrichtungen . Das ist
übersetzt eine Sterblichkeitsquote von 60 Prozent . Im
Vergleich - um ein wenig einzuordnen, worum es hier
geht -: Die Sterblichkeitsquote bei anderen alliierten
Kriegsgefangenen lag bei 3,5 Prozent . Ich denke, das
macht die Systematik des Mordens unter der Regie der
deutschen Wehrmacht deutlich . Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat Bundespräsident Gauck natürlich recht mit seiner Aufforderung an die Politik, endlich
diese Opfergruppe aus dem Erinnerungsschatten herauszuholen, wie er es treffend formuliert hat .
({1})
Man muss logischerweise darüber nachdenken, warum diese Opfergruppe so lange keinen adäquaten Wert
in unserer Erinnerungskultur hatte . Ich will einige Stichworte nennen .
Das hatte natürlich etwas mit dem schier wahnwitzigen Antikommunismus der 50er- und 60er-Jahre zu tun,
in dessen Gesamtklima der Krieg gegen die Sowjetunion
als fast legitim galt .
Es hatte etwas mit der verheerenden Lüge von der sauberen Wehrmacht zu tun, die noch bis Mitte der 90er-Jahre die Debatte dominierte .
Zum Dritten hatte es natürlich etwas mit der „Unfähigkeit zu trauern“ zu tun, wie es Alexander und Margarete
Mitscherlich richtigerweise gesagt haben: Die Gesellschaft war geprägt vom Verschweigen, Verdrängen und
davon, sich zu dem eigentlichen Opfer zu machen und
keinerlei Empathie mit den wirklichen Opfern zu haben .
Natürlich hatte es etwas - das wollen wir bei so einem
Thema auch nicht verschweigen - mit der Rückkehr der
alten Eliten in Bundeswehr, Justiz, Wirtschaft und letztendlich Politik zu tun .
Ein weiterer Grund, warum diese Opfergruppe so
vergessen worden ist, hatte etwas mit der Politik der
Stalin’schen Sowjetunion zu tun; denn auch dort gab es
kein adäquates Gedenken an die Kriegsgefangenen . Sie
galten bis in die 90er-Jahre als Verräter . Auch das ist ein
Punkt, der erwähnt werden muss, wenn wir über dieses
Thema sprechen, liebe Kolleginnen und Kollegen .
({2})
Mein Dank gilt heute natürlich auch den vielen Wissenschaftlern, kritischen Journalisten und vor allem den
vielen lokalen Geschichts- und Gedenkinitiativen, die
immer wieder auf dieses Schicksal aufmerksam gemacht
haben . Deswegen war es eine gute, überfällige Entscheidung, dass der Haushaltsausschuss im Mai 2015 endlich,
zumindest symbolisch, 10 Millionen Euro zur Entschädigung der noch wenigen überlebenden sowjetischen
Kriegsgefangenen bereitgestellt hat .
({3})
Ich freue mich ausdrücklich - wir haben das überprüft
und entsprechende Auskunft erhalten -, dass bereits damit begonnen wurde, pauschal 2 500 Euro an diese Menschen - die sind Mitte 90 - auszuzahlen . Das ist richtig
und gut so, aber es ist zu spät .
({4})
Heute geht es aber um eine mindestens genauso wichtige Frage, nämlich die, ob der Deutsche Bundestag neben der finanziellen Anerkennung des Leids dieser Opfer
in der Lage und willens ist, anlässlich des 75 . Jahrestages
des Überfalls auf die Sowjetunion endlich ein politisches
Zeichen zu senden . Deswegen formulieren wir in unserem Antrag:
Der Deutsche Bundestag bittet die Überlebenden
um Verzeihung für das, was ihnen durch das NS-Regime angetan wurde, und dafür, dass Deutschland
so lange brauchte, dieses Unrecht beim Namen zu
nennen .
Darum geht es heute . Ich würde mich freuen, wenn wir
dies konsensual und interfraktionell hier so beschließen
könnten, um dieses wichtige Zeichen auszusenden, liebe
Kolleginnen und Kollegen .
({5})
Neben dieser politischen Geste sollte es natürlich auch
darum gehen, dass wir uns aus der Mitte des Bundestages daranmachen, endlich ein adäquates Mahnmal oder
einen Gedenkort, wie man heute sagt, in der Mitte Berlins für diese riesige Opfergruppe zu schaffen . Ich danke
insbesondere der Initiative „Gedenkort für die Opfer der
NS-Lebensraumpolitik“, die ja bereits mit allen Fraktionen Gespräche geführt hat . Mir wurde heute berichtet,
dass alle Fraktionen offen für die Schaffung solch eines
Gedenkortes gewesen sind .
Langer Rede kurzer Sinn: Wann, wenn nicht im
75 . Jahr des Überfalls Nazideutschlands auf die Sowjetunion, wäre es an der Zeit, diese Leerstelle zu füllen?
Ich lade Sie herzlich ein, dass wir gemeinsam, gegebenenfalls auch interfraktionell - unsere Fraktion ist dazu
bereit -, einen Antrag einbringen, der die politische Geste der Entschuldigung beinhaltet und mit dem wir ein
Mahnmal bzw . einen Erinnerungsort hier in Berlin auf
den Weg bringen . Es ist an der Zeit . Es leben nur noch
ganz wenige . Deswegen müssen wir uns beeilen .
Vielen Dank .
({6})
Vielen Dank . - Als nächster Redner hat Dr . André
Berghegger von der CDU/CSU-Fraktion das Wort .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir beraten heute einen Antrag der Fraktion Die Linke . Ich würde
aus meiner Sicht gerne zwei Kernpunkte dieses Antrages herausgreifen . Der erste Kernpunkt ist die Frage, ob
die Behandlung der sowjetischen Kriegsgefangenen als
nationalsozialistisches Unrecht und die Betroffenen als
NS-Opfer anerkannt werden können . Der zweite Kernpunkt ist der Wunsch, dass der Deutsche Bundestag, so
wie es Herr Korte gerade gesagt hat, die Überlebenden
um Verzeihung bittet . Ich würde sagen: Gerade vor dem
Hintergrund unserer Geschichte ist das ein Thema von
großer Tragweite und Bedeutung . Wir sollten damit angemessen und sensibel umgehen, ohne zu polarisieren .
Ich glaube, das werden wir auch hinbekommen .
Allein in der laufenden Legislaturperiode haben wir
uns mit dem Thema „Würdigung des Schicksals sowjetischer Kriegsgefangener in der NS-Zeit“ mehrfach beschäftigt . Dieses Thema war Gegenstand von Beratungen
und Debatten im Plenum und im Ausschuss . Zur Chronologie noch einmal einige Stichworte: Ende 2014 gab
es hierzu Anträge der Linken und der Grünen . Wir haben
über beide Anträge verbunden im Frühjahr 2015 hier im
Plenum debattiert . Nach der Überweisung in den Haushaltsausschuss haben wir im Mai 2015 eine öffentliche
Anhörung durchgeführt und viele der dort gestellten Fragen intensiv erörtert .
Insbesondere spielte die Fragestellung eine Rolle:
Wurden sowjetische Kriegsgefangene im Vergleich zu
anderen Betroffenen, zu anderen Personengruppen außerordentlich menschenunwürdig und unbarmherzig behandelt? Nachdem diese Frage bejaht wurde, haben wir
auf Initiative der Koalition im Nachtragshaushalt 2015
einen Beschluss gefasst . Wir haben unter der Titelgruppe
„Leistungen im Zusammenhang mit Kriegsfolgen“ die
erwähnten 10 Millionen Euro als symbolische Anerkennung in Würdigung des Schicksals als ehemalige sowjeJan Korte
tische Kriegsgefangene bereitgestellt . Dann hat das Bundesfinanzministerium hierzu Richtlinien ausgearbeitet,
der Haushaltsausschuss hat die Mittel freigegeben . Mit
der Durchführung der Aufgabe der Auszahlung wurde
das Bundesamt für zentrale Dienste und offene Vermögensfragen, das BADV, beauftragt . Im Kern geht es darum, dass auf Antrag hin 2 500 Euro pro Fall ausgezahlt
werden . Die Anträge können bis Ende September des
kommenden Jahres gestellt werden .
Um den vorhin angesprochenen angemessenen und
würdigen Umgang darzustellen, wurde vieles Weitere
initiiert, um pragmatisch und unbürokratisch Wege aufzuzeigen . Formulare und Unterlagen wurden online gestellt . Die Verbreitung der Informationen über Massenmedien wurde angestrebt . Es gab Hinweise im In- und
Ausland auf dieses Thema, auch über die deutschen Botschaften und andere Netzwerke . Die Dokumente wurden
mehrsprachig erstellt . Zusammenfassend wurde viel unternommen, um die Informationen wirksam an die Betroffenen herausgeben zu können .
Aktuell liegen rund 1 200 Anträge auf Auszahlung dieser Mittel vor, aus 16 verschiedenen Ländern . 50 Prozent
der Anträge kommen aus Russland, und in der Reihenfolge der Anzahl der Anträge folgen die Staaten Ukraine,
Armenien, Belarus und Georgien . Angesichts der damals
angenommenen noch rund 4 000 lebenden Betroffenen
halte ich die Zahl der eingegangenen Anträge für beachtlich . Ungefähr ein Drittel der eingegangenen Anträge
wurde bearbeitet, und die Mittel sind ausgezahlt worden .
Ich denke, das ist schon eine intensive Abarbeitung . Ich
hoffe, dass noch viele Anträge folgen werden .
Der vorliegende Antrag der Linken ist aus meiner
Sicht allerdings so formuliert, dass die Grenzen zwischen
moralischen, historischen und juristischen Aussagen verschwinden . Ob das bewusst oder unbewusst geschehen
ist, sei dahingestellt; aber ich glaube, dass diese Aussagen sauber getrennt werden sollten .
Zum ersten Kernpunkt dieses Antrages, zur Frage der
Anerkennung der Behandlung der sowjetischen Kriegsgefangenen als nationalsozialistisches Unrecht bzw . die
Anerkennung der Betroffenen als NS-Opfer: Nach ständiger Rechtsprechung in diesem Land werden Angehörige der im Zweiten Weltkrieg von Deutschland besetzten
Staaten und damit insbesondere auch Kriegsgefangene
nicht als Verfolgte im Sinne der Entschädigungsgesetze
angesehen . Damit sind Kriegsopfer nicht Opfer nationalsozialistischen Unrechts im Sinne der Entschädigungsgesetze - mit den entsprechenden rechtlichen Folgen . So
ist es eben auch hier: Im Sinne der Wiedergutmachungsgesetze sind sowjetische Kriegsgefangene nicht NS-Opfer und ihre Behandlung nicht nationalsozialistisches
Unrecht. Ich denke, es ist wichtig, die Begrifflichkeiten
auseinanderzuhalten, und das ist in diesem Antrag nicht
deutlich herausgearbeitet worden . Wir müssen die Begrifflichkeiten unterscheiden.
Die unstreitig grausame Behandlung der ehemaligen
sowjetischen Kriegsgefangenen stellt rechtlich gesehen
sonstiges Staatsunrecht dar, das zur Verletzung des Lebens, des Körpers, der Gesundheit oder der Freiheit geführt hat . Für diese Situation gilt das allgemeine Kriegsfolgenrecht .
({0})
Deshalb ist die entsprechende Darstellung in der Titelgruppe „Leistungen im Zusammenhang mit Kriegsfolgen“ im Nachtragshaushalt nachzuvollziehen . Es fällt
eben nicht in den Bereich NS-Unrecht .
Der zweite Kernpunkt ist der Wunsch, dass der Deutsche Bundestag die Überlebenden um Verzeihung bitten
möge . Aus meiner Sicht bedeutet „jemanden um Verzeihung bitten“, dass man jemanden von etwas freispricht,
jemandem vergibt . Man kann auch synonym sagen: sich
entschuldigen . Gemeinsam ist diesen Begriffen jedoch,
dass auf einen persönlichen Schuldvorwurf verzichtet
werden soll . Vergeben, verzeihen, entschuldigen kann
man aber nur den Tätern bzw . die Täter, nicht aber die
Taten . Es trifft die Mitglieder des Parlaments und den
Deutschen Bundestag kein persönlicher Schuldvorwurf .
Wir haben aber eine große moralische und ethische Verantwortung . Wir müssen dafür sorgen, dass so grausames
Unrecht nie wieder passieren kann . Aber die Unterscheidung zwischen Schuld und Verantwortung ist aus meiner
Sicht sehr wichtig . Deswegen könnte ich nachvollziehen,
wenn der Deutsche Bundestag diesem Antrag nicht stattgeben würde .
Ich möchte noch einige Anmerkungen in moralischer,
ethischer und politischer Hinsicht machen . Wir werden
natürlich nie vergessen oder nachsichtig sein, also die
Verantwortung relativieren . Wir werden nie dieses Unrecht akzeptieren oder billigen . Wir werden dieses Unrecht nie leugnen oder gar rechtfertigen . Wir müssen und
werden dauerhaft eine angemessene Erinnerungskultur
pflegen.
Ich glaube, dass wir als Deutscher Bundestag mit dem
Beschluss, einen symbolischen Anerkennungsbetrag an
sowjetische Kriegsgefangene auszuzahlen, den wir im
Haushaltsausschuss vorbereitet haben, einen wichtigen
Schritt gemacht haben und ein deutliches Zeichen im
Lichte unserer Verantwortung gesetzt haben . Der Vollständigkeit halber möchte ich an dieser Stelle noch erwähnen, dass wir, im Haushaltsjahr 2016 startend, einen
weiteren symbolischen Anerkennungsbetrag bewilligt
haben . Es werden 50 Millionen Euro symbolische Anerkennung für ehemalige deutsche zivile Zwangsarbeiter bewilligt . Auch das ist in diesem Zusammenhang ein
wichtiges Signal .
In diesem Sinne schließe ich mit folgendem Gedanken: Wo es keine Erinnerung gibt, gewinnt das Boshafte,
das schreckliche Unrecht die Oberhand . Aus dieser notwendigen Erinnerung heraus wächst unsere Verantwortung, dafür zu sorgen, dass derartiges Unrecht nie wieder
geschehen kann .
Vielen Dank fürs freundliche Zuhören .
({1})
Vielen Dank . - Als nächster Redner spricht Volker
Beck von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich will
ausdrücklich würdigen, dass wir uns im Haushaltsausschuss zusammengefunden haben, um gemeinsam eine
Lösung für die Entschädigung der sowjetischen Kriegsgefangenen hinzubekommen . Das ist ein wichtiger und
nicht gering zu schätzender Schritt der moralischen Anerkennung des Unrechts, das von Deutschen gegenüber
sowjetischen Kriegsgefangenen begangen wurde . Bitter
bleibt, dass es Jahrzehnte zu spät kam und viele der Betroffenen das nicht mehr erlebt haben .
Ich finde, wir als Bundestag sollten zu diesem Thema nicht schweigen; denn: „Nur durch die Erinnerung an
ein solches Unrecht wächst die Aussicht, dass sich dieses nicht wiederholt, in welcher Form und auf welchem
Erdteil auch immer .“ „Der Deutsche Bundestag darf dazu
nicht schweigen .“
({0})
Die Ereignisse mögen lange zurückliegen . Die
Wunden
- der Opfer und bei den Nachfahren der Opfer sind aber geblieben,
und daher ist es an der Zeit, dass auch das deutsche
Parlament dazu klar Stellung nimmt .
Das sind Worte des Fraktionsvorsitzenden Volker Kauder
aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zu der bedeutenden Entscheidung des heutigen Tages: Wir haben den
Völkermord an den Armeniern anerkannt . Wir sagen zu
Recht dem türkischen Volk, dass die Grundlage für Versöhnung und die Grundlage für eine gemeinsame gute
Zukunft unter den Völkern die Anerkennung der historischen Wahrheit ist . Das, was wir gegenüber der Türkei
richtigerweise sagen, das sollten wir auch uns selbst bei
der Aufarbeitung unserer Geschichte in diesem Fall zu
Herzen nehmen .
({1})
Wenn Sie, Herr Berghegger, darauf rekurrieren, es
gebe im Entschädigungsrecht eine Unterscheidung zwischen dem Allgemeinen Kriegsfolgengesetz und dem
Bundesentschädigungsgesetz, dann will ich Ihnen sagen,
weil ich dieses Thema jetzt schon mehr als 20 Jahre im
Parlament betreue und vorher auch daran gearbeitet habe:
Wir haben uns in den 80er- und 90er-Jahren entschieden,
die historisch falsche Entscheidung nicht wieder aufzumachen und mit den zu diesen beiden Gesetzen eingerichteten Härtefonds weiter zu verfahren . Aber selbstverständlich war die Verfolgung der Homosexuellen, der
Euthanasiegeschädigten und Zwangssterilisierten und
der Wehrmachtsdeserteure auch nationalsozialistisches
Unrecht . Das hat der Deutsche Bundestag in mehreren
Resolutionen eindeutig festgestellt .
({2})
Trotzdem bekommen die Betroffenen Leistungen aus
dem Allgemeinen Kriegsfolgengesetz wegen der falschen Entscheidung des historischen Gesetzgebers .
Man sollte an falschen Entscheidungen nicht festhalten und versuchen, ein System darin zu erkennen,
sondern man sollte den Mut haben, bei der historischen
Würdigung die historische Wahrheit zugrunde zu legen,
und die historische Wahrheit ist - das haben wir uns in
der Anhörung, die wir im Haushaltsausschuss hatten, von
den Fachleuten, von den Historikern sagen lassen -: Der
Mord und das Verhungernlassen von 3 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen in Russenlagern hatte nichts
mit Staatsunrecht und mit überbordender Gewalt im Rahmen von Kriegshandlungen zu tun, sondern es war der
erklärte Wille des nationalsozialistischen Regimes, aufgrund seiner Rasseideologie die Völker der Sowjetunion zu dezimieren . Dazu gehörte das kriegssinnwidrige
Aushungernlassen der Kriegsgefangenen in den Lagern,
die eigentlich dafür bestimmt waren, in der deutschen
Rüstungsindustrie die deutschen Soldaten zu ersetzen .
Aber man hat sie lieber sterben lassen, als ihre Arbeitskraft auszubeuten, weil man der Ansicht war, dass die
Völker der Sowjetunion rassisch minderwertig sind . Das
war nationalsozialistische Ideologie, und das war nationalsozialistisches Unrecht . Wir sollten die Kraft haben,
das auch zu sagen .
Daraus folgt entschädigungsrechtlich überhaupt
nichts . Das Bundesentschädigungsgesetz hat sein
Schlussgesetz 1969 gehabt . Seitdem sind keine Neuanträge mehr möglich . Es geht um die historische Wahrhaftigkeit, um nicht mehr und nicht weniger .
Ich weiß, dass die Koalition am Ende keinem Antrag
der Linken zustimmen wird, schon aus Prinzip nicht . Wir
haben einen Antrag eingebracht . Er liegt im Haushaltsausschuss, und er ist noch nicht beschieden . Er ist bewusst noch nicht beschieden, weil wir mit Ihnen zusammenkommen wollen . Lassen Sie uns mit allen Fraktionen
einen gemeinsamen Text finden, den wir fraktionsübergreifend hier im Hohen Hause tragen .
({3})
Lassen Sie uns die Rede des Bundespräsidenten Gauck
vom 8 . Mai letzten Jahres zugrunde legen, der dafür
würdige Worte gefunden hat, und lassen Sie uns mit den
klaren Worten schließen: Die Verbrechen, die an den sowjetischen Kriegsgefangenen begangen wurden, waren
nationalsozialistisches Unrecht . - Punkt . Dann ist Frieden in dieser Frage .
Ich finde, gerade angesichts der schwierigen außenpolitischen Situation, die wir mit der Ukraine und Russland
haben, wäre es ein gutes Signal der Versöhnung, dass
wir zu unserer historischen Verantwortung stehen und
trotz aller Differenzen mit der russischen Staatsführung
Freunde des russischen, des ukrainischen, des weißrussischen Volkes und der anderen Völker der ehemaligen
Sowjetunion sind und hier keine Abstriche machen, auch
wenn wir politische Auseinandersetzungen haben . Insofern könnte das außenpolitisch noch eine gute Geste der
Entspannung sein, bei der wir uns nichts vergeben, außer
dass wir unsere Geschichte mit klarerem Blick und mit
größerer Wahrhaftigkeit betrachten .
({4})
Vielen Dank . - Als nächster Redner hat Matthias
Schmidt von der SPD-Fraktion das Wort .
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren auf den Zuschauertribünen! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mehr als 70 Jahre nach
Ende des Zweiten Weltkriegs leben in Deutschland ganz
überwiegend Menschen, die diesen Krieg nur aus Erzählungen kennen . Sie tragen an den in deutschem Namen
verübten Gräueln keine persönliche Schuld . Aber die
Nachkriegsgenerationen, wir alle, haben die Pflicht, die
Erinnerung zu bewahren . Das ist unsere Verantwortung,
und diese Forderung ist leider aktueller denn je .
Hierzu leistet der Antrag der Linken einen Beitrag,
wofür ich Ihnen danken möchte . Weiterhin möchte ich
mich bei Ihnen dafür bedanken, dass Sie uns die Gelegenheit geben, die Leistungen der Koalition und der sie
tragenden Fraktionen zu würdigen . Bereits im letzten
Jahr hat die Koalition einen namhaften und zugleich
doch nur symbolischen Betrag für die ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenen zur Verfügung gestellt . Wir
taten dies nicht mit stolzgeschwellter Brust, sondern mit
demütiger Geste und Dankbarkeit, dass wir das nun endlich auf den Weg bringen konnten .
Die Linke will im Vorfeld des 75 . Jahrestages des
Überfalls auf die Sowjetunion am 22 . Juni 1941 durch
die deutsche Wehrmacht erneut auf die Opfergruppe der
sowjetischen Kriegsgefangenen hinweisen . Ja, dieser
historische Tag gibt uns natürlich allen Anlass, der vielen
Opfer, die dieser Angriffskrieg gefordert hat, zu gedenken . Dieser Krieg hat 60 bis 70 Millionen Menschen das
Leben gekostet, und noch viel mehr haben gelitten .
Ja, die sowjetischen Kriegsgefangenen gehören dazu .
Rund 5,7 Millionen waren es, die unter unmenschlichen
Bedingungen interniert wurden und Zwangsarbeit leisten mussten . An die 3 Millionen von ihnen - die Zahlen gehen bei Historikern etwas auseinander - wurden
direkt oder indirekt ermordet durch Hunger, Krankheit,
Erschöpfung oder auch durch direkte Gewalt und Peinigung durch die Nationalsozialisten . Ihr Leid und ihr Opfer sind unbestritten .
2013, am Ende der letzten Legislaturperiode, gab es
einen gemeinsamen Antrag von SPD und Bündnis 90/
Die Grünen, der eine Entschädigung für diese Opfergruppe forderte . Dieser wurde von den damaligen Koalitionsfraktionen [CDU/CSU] und FDP abgelehnt . Nur
ein Jahr später, also schon in dieser Legislaturperiode,
wurde unsere Absicht von den Oppositionsfraktionen in
zwei Anträgen mit unterschiedlichen Entschädigungssummen erneut aufgegriffen . Wir haben darüber hier im
Februar 2015 diskutiert . Ich kann mich noch sehr lebhaft
an die Debatte erinnern .
Nach dieser Debatte gelang es uns, mit der Union eine
Einigung herbeizuführen . 10 Millionen Euro wurden im
Haushalt eingestellt, um den wenigen Überlebenden wenigstens eine symbolische Anerkennung zukommen zu
lassen . Sie beträgt 2 500 Euro . Auch das Antragsverfahren ist hinsichtlich der Fragen noch einmal überarbeitet
worden, was ich sehr begrüße .
Kollege Beck, ich kann Ihre Aussage, dass der Bundestag geschwiegen hätte, nicht bestätigen. Ich finde
sogar, er hat an dieser Stelle sehr intensiv und würdig
diskutiert und auch ebenso entschieden .
({0})
Nun komme ich zum heutigen Antrag . Ich muss sagen,
dass mich der Antrag ein kleines bisschen ärgert; denn
Sie schieben jetzt einen Antrag hinterher, der hinsichtlich seiner Sinnhaftigkeit zumindest Fragen aufwirft . Sie
fordern, dass die Mitglieder des Deutschen Bundestages
in einer Feststellung den sowjetischen Kriegsgefangenen, ihren Angehörigen und Nachkommen Achtung und
Mitgefühl bezeugen . Ja, aber das ist doch mit Blick auf
die Geschichte selbstverständlich . Das wurde in jeder
Debatte hier im Bundestag hervorgehoben . Es gab in der
Vergangenheit diverse Gründe, warum die Anträge dazu
abgelehnt wurden, auch unser eigener Antrag . Doch niemals war mangelnde Achtung oder mangelndes Mitgefühl der Grund . Es wäre ja geradezu unmenschlich, das
zu verweigern .
Dann fordern Sie, dass es der Deutsche Bundestag in
Anerkennung des Unrechts begrüßt, dass ein finanzieller
Anerkennungsbetrag aus dem Bundeshaushalt bereitgestellt wurde . Dies hat der Deutsche Bundestag bereits
dadurch getan, dass er die Bereitstellung der Mittel beschlossen hat - im Haushaltsausschuss und im Plenum,
und zwar im Mai 2015 . Zuvor hat der Haushaltsausschuss eine Anhörung dazu durchgeführt, die letztendlich
mit dazu geführt hat, dass wir diesen Beschluss fassen
konnten .
Herr Kollege Schmidt, lassen Sie eine Zwischenfrage
von Herrn Korte zu?
Aber gerne .
Danke, dass Sie die Zwischenfrage zulassen . - Sie
haben eben gesagt, dass das eine Selbstverständlichkeit sei . Wenn wir uns die Geschichte der Bundesrepublik anschauen, stellen wir fest, dass zum Beispiel das
Gedenken an die Schoah in den 50er- und 60er-Jahren
mitnichten eine Selbstverständlichkeit gewesen ist, sonVolker Beck ({0})
dern das musste erkämpft werden, übrigens insbesondere
von denjenigen, die selber Opfer waren . Denken Sie an
die Rehabilitierung der Deserteure, die erst im Jahr 2002
erfolgte - das war eben keine Selbstverständlichkeit .
Denken wir an die Rehabilitierung der sogenannten
Kriegsverräter im Jahr 2009 - das war ebenfalls keine
Selbstverständlichkeit . Ich würde gerne Ihre Einschätzung dazu hören .
Im Rahmen der Erinnerungskultur war die Erinnerung
an die Opfer des NS-Regimes und der damit verbundene Blick auf die Täter eben keine Selbstverständlichkeit,
sondern das musste bitter erkämpft werden, übrigens insbesondere auch von Sozialdemokraten wie Fritz Bauer,
Willy Brandt und anderen . Im Falle der sowjetischen
Kriegsgefangenen ist das historisch erklärbar, aber dennoch inakzeptabel . Deswegen kann man nicht von einer
Selbstverständlichkeit reden .
Mein zweiter Punkt . Wenn Sie mit Vertretern der Opferverbände reden, zum Beispiel von Kontakte-Kontakty
e . V ., dann haben Sie natürlich vernommen, dass diese
Einmalzahlung in Höhe von 2 500 Euro mit großer Genugtuung und Freude begrüßt wurde . Alle haben aber gesagt, dass ein politisches Zeichen für sie genauso wichtig
ist, weil das eben keine Selbstverständlichkeit ist . Das
müssten Sie als Sozialdemokrat doch nachvollziehen
können .
({1})
Herr Kollege Korte, historisch gesehen haben Sie völlig recht . Die Beispiele, die Sie angeführt haben, zeigen,
dass das über einen langen Zeitraum erkämpft werden
musste . Die besondere Situation der sowjetischen Kriegsgefangenen haben Sie in Ihrer Rede sehr gut beschrieben .
Ich beziehe mich mit meinen Aussagen auf diese Legislaturperiode, in der wir schon mehrfach über dieses
Thema gesprochen haben. Dabei ist es, wie ich finde,
eine Selbstverständlichkeit, dass wir das Leid der Opfer
anerkennen . Wir als Bundestag haben das getan . Wir haben in würdigen Debatten darauf hingewiesen, und wir
haben im Nachgang zu der Debatte, wie schon mehrfach
erwähnt wurde, gemeinsam mit der Union dafür gesorgt,
dass die finanzielle Anerkennungsleistung geregelt werden konnte . Die Vertreter des Vereins Kontakte-Kontakty
haben unseren finanziellen Beitrag als unsere Anerkennung des Leids gewürdigt .
({0})
- Finanziell, und damit natürlich auch darüber hinaus .
Das finde ich eindeutig.
({1})
Herr Kollege Korte, der Punkt, den ich inhaltlich
mit Ihnen teilen kann, verfolgt das Ziel, den Opfern ein
ehrendes Andenken zu bewahren und sie stärker in der
deutschen Erinnerungskultur zu verankern. Ja, ich finde,
das ist ein guter Ansatz . Hier gibt es viele Möglichkeiten, diese Leerstelle, wie sie die Wissenschaftlerin Beate
Fieseler nannte, zu schließen .
In Berlin gibt es zahlreiche Orte, wo Zivilisten und
Kriegsgefangene Zwangsarbeit leisten musste . Einer
dieser Orte befindet sich in meinem Wahlkreis. Das Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit erinnert am authentischen Ort in Berlin-Schöneweide an die Geschichte und das Leid der vielen Zwangsarbeiterinnen und
Zwangsarbeiter . Das ist so eine Stätte, wo mit großem
persönlichem Einsatz Erinnerungskultur gepflegt wird.
Im letzten Haushalt ist es gelungen, diesen Lern-, Erinnerungs- und Begegnungsort mit Bundesmitteln stärker
zu fördern, worüber ich mich sehr freue . Ich kann Ihnen allen einen Besuch des Dokumentationszentrums in
Schöneweide mit Ihren Besuchergruppen nur empfehlen .
Es ist nicht weit vom Bundestag entfernt .
Für uns ist es wichtig, dass wir die Erinnerung an die
Verbrechen und an die Opfer des Nationalsozialismus
wachhalten . Das schließt die sowjetischen Kriegsgefangenen ausdrücklich mit ein . Ich bin vollkommen damit
einverstanden, dass diese in Zukunft eine stärkere Berücksichtigung finden sollen.
Ich freue mich auf die Beratungen in den Ausschüssen . Wir bleiben sicher gesprächsbereit . Wir werden uns
keinesfalls eines überfraktionellen Antrags verschließen .
Da müsste dann aber das eine oder andere in den Ausschüssen noch geklärt und besprochen werden .
Vielen herzlichen Dank .
({2})
Als nächste Rednerin spricht Barbara Woltmann für
die CDU/CSU-Fraktion .
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren!
Wir werden nicht durch die Erinnerung an unsere
Vergangenheit weise, sondern durch die Verantwortung für unsere Zukunft .
Das stellte schon der irische Schriftsteller, Politiker und
Pazifist George Bernard Shaw fest.
Die unfassbaren Verbrechen Hitlers haben sich unlöschbar in die deutsche Geschichte eingebrannt . Es
ist und muss uns Erinnerung und Mahnung für die Zukunft sein . Viele Menschen leiden noch immer unter den
schrecklichen Ereignissen des Zweiten Weltkrieges . Dieser Krieg hat Elend und Verderben über Millionen von
Menschen in Europa und darüber hinaus gebracht .
Das Gedenken an Verdun, an den Ersten Weltkrieg
100 Jahre zurück, oder auch an den Völkermord an den
Armeniern - heute Morgen hier in diesem Hause beraten - erinnert uns daran, mahnend wachsam zu sein gegen jeden Aggressor gegen die Menschlichkeit . Die sowjetischen Truppen und die anderen Siegermächte waren
es, die ein Deutschland befreiten, in dem Menschen planmäßig und in nie dagewesenem Umfang vernichtet und
Andersdenkende gnadenlos verfolgt wurden . Der Zweite
Weltkrieg hat Europa weitgehend verwüstet .
Auch das Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen in der NS-Zeit war ein menschenverachtendes Kapitel der Naziherrschaft . Das wissen wir alle und bestreitet
niemand . Sämtliche Regierungen der Bundesrepublik
Deutschland haben der moralischen und finanziellen
Wiedergutmachung des vom NS-Regime verübten Unrechts stets eine besondere Priorität eingeräumt . Dieser
Aufgabe stellt sie sich, wie wir sehen, noch heute .
Ihre Forderung, liebe Kollegen und Kolleginnen von
den Linken, der Deutsche Bundestag solle die Überlebenden um Verzeihung bitten und ihren Angehörigen Achtung und Mitgefühl bezeugen, finde ich allerdings - wie
schon teilweise meine Vorredner - sehr missverständlich .
Das klingt nämlich so, als wenn Sie der deutschen Bevölkerung damit jedwedes Mitgefühl absprechen - in der
Vergangenheit und in der Gegenwart . Das können Sie
nicht wirklich ernsthaft meinen .
Was hat Sie im Grunde dazu bewogen, nach der Diskussion um die Anerkennungsleistung an ehemalige
sowjetische Kriegsgefangene im Jahre 2015 - meine
Vorredner haben schon darauf hingewiesen - und den daraus erfolgten Regelungen jetzt wieder diese Diskussion
auf die Tagesordnung zu heben und Ihren Antrag vorzulegen?
({0})
Mir erschließt sich das nicht wirklich .
Letztes Jahr ist auf Antrag der Grünen sowie der
Linken über eine finanzielle Anerkennung von NS-Unrecht für sowjetische Kriegsgefangene im Plenum eingehend diskutiert und eine entsprechende Vorlage an
den Haushaltsausschuss überwiesen worden . Nach einer
Sachverständigenanhörung hat der Haushaltsausschuss
im Mai 2015 einen Beschluss zum Nachtragshaushalt
gefasst und einen symbolischen finanziellen Anerkennungsbetrag von 10 Millionen Euro bereitgestellt; denn
das Bundesentschädigungsgesetz greift für Kriegsgefangene nicht .
({1})
Der Bundestag hat den Nachtragshaushalt dann auch
beschlossen . Das heißt, das Leid dieser Menschen ist auch darüber ist hier damals diskutiert worden - durch
diesen Betrag zumindest symbolisch anerkannt worden .
Ehemalige sowjetische Kriegsgefangene erhalten
demnach eine Einmalzahlung in Höhe von 2 500 Euro .
Wir gehen von bis zu 4 000 noch lebenden Berechtigten
aus . Bisher sind 1 233 Anträge eingegangen . In 391 Fällen wurden Leistungen ausgezahlt, etwas mehr sind erledigt, und nicht alle konnten anerkannt werden . Diese
Regelung halte ich ausdrücklich für richtig; denn eine
Entschädigung von Kriegsgefangenen durch die Stiftung
„Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ ist auch ausgeschlossen . Bei den internationalen Verhandlungen, die
der Errichtung dieser Stiftung vorausgegangen sind, wurde dies einvernehmlich so geregelt . Die Begründung war
damals, man wolle keine neuen Reparationszahlungen
zum Ausgleich von Kriegsschäden ehemaliger Kriegsgefangener justiziabel machen . Die Stiftung wurde bereits
2000 gegründet, um vor allen Dingen Zahlungen an ehemalige Zwangsarbeiter zu leisten .
Meine Damen und Herren, die Bundesrepublik
Deutschland hat auf dem Gebiet der Entschädigung für
NS-Unrecht bis heute rund 70 Milliarden Euro erbracht .
Deutschland war dabei immer darauf bedacht, dass die
Entschädigungsleistungen nicht einseitig - das heißt nur
für eine Gruppierung - gewährt werden, sondern dass
alle Betroffenen und alle Verfolgten zumindest eine späte Wiedergutmachung bekommen . Allerdings muss auch
ich sagen: Mit Geld allein kann man das, was dort passiert ist, nie wiedergutmachen .
({2})
Da stehen wir zu unserer historischen Verantwortung .
Festzuhalten bleibt: Krieg ist immer eine furchtbare
Geißel für alle davon Betroffenen, insbesondere dann,
wenn man es mit solch menschenverachtenden Regimen
wie dem Naziregime zu tun hat . Wir sollten und müssen
uns daher - auch im Interesse unserer Kinder und der
nachfolgenden Generationen - immer unserer Geschichte bewusst sein, damit ein solches Verbrechen niemals
wieder geschieht . Aber man sollte niemandem, der den
Krieg nicht erlebt hat, Schuldgefühle einreden . Die meisten von uns sind nach Kriegsende geboren .
Ich möchte ganz ausdrücklich betonen: Wir haben
die Schuld unserer Vorfahren von Beginn an auf unsere
Schultern genommen und die Verantwortung übernommen . Wenn wir es aber nach über 70 Jahren nicht langsam schaffen, uns von dem Gedanken zu emanzipieren,
dass das alles immer noch nicht reicht und wir nicht genug tun, habe ich die Sorge, dass sich dieses Pflichtgefühl
irgendwann ins Gegenteil verkehren wird .
Wir sehen uns heute von kriegerischen Auseinandersetzungen umgeben, die entsetzliche Gräueltaten, die wir
in unserem friedlich vereinten Europa seit über 70 Jahren
durch unsere gemeinsame Politik erfolgreich abgewendet haben, zutage bringen .
Frau Kollegin, lassen Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Beck zu?
Diesmal nicht, nein . - Ich trete dafür ein, dass wir unseren Blick auf die Gegenwart und die Zukunft richten,
ohne die Vergangenheit zu vergessen . Wir sollten dafür
Sorge tragen, dass unser Friedensmodell für andere Regionen in der Welt beispielhaft sein kann . Wir sollten daher
voller Zuversicht in die Zukunft schauen . Es sind 70 Jahre Frieden, die uns das europäische Haus beschert hat .
Das müssen wir heute mehr denn je vermitteln . Da halte
ich Ihren Antrag für nicht zielführend .
Vielen Dank .
({0})
Vielen Dank . - Jetzt erhält der Kollege Beck das Wort
für eine Kurzintervention .
({0})
Frau Kollegin, Ihre Ausführungen haben mich an zwei
Punkten etwas erstaunt . Zu Beginn Ihrer Rede haben Sie
gesagt, dass die Erinnerung nicht so wichtig ist wie das
In-die-Zukunft-Schauen . Das hat mich insbesondere deshalb gewundert, weil ich vorhin in meiner Rede Ihren
Fraktionsvorsitzenden zitiert habe, der am 2 . Juni dieses
Jahres in der FAZ geschrieben hat:
Nur durch die Erinnerung an ein solches Unrecht
wächst die Aussicht, dass sich dieses nicht wiederholt - in welcher Form und auf welchem Erdteil
auch immer .
Was bei der Anerkennung des Völkermords an den
Armeniern richtig ist, kann bei der Anerkennung des
NS-Unrechts gegenüber den sowjetischen Kriegsgefangenen nicht falsch sein .
({0})
Aus der Erinnerung, aus der Vergangenheit, wächst die
Zukunft in Verantwortung, weil man daraus die Lehren
zieht .
Noch mehr berührt und auch ein bisschen erschüttert
hat mich, dass Sie darüber gesprochen haben, dass im
Krieg eben schlimme Dinge passieren . Die Kriegsgefangenen wurden aber in zwei Klassen eingeteilt . Für die
westalliierten Kriegsgefangenen galt auch im Nationalsozialismus die Genfer Konvention, und sie wurde bei
allem Elend, das es auch dort gab, grundsätzlich auch
respektiert und angewandt . Für die sowjetischen Kriegsgefangenen wurde sie dagegen durch Führerbefehl ausdrücklich außer Kraft gesetzt . Deshalb hat man sie systematisch ausgehungert . Ich habe den Eindruck, dass Sie
das nicht zur Kenntnis nehmen wollen, obwohl wir das in
der Anhörung diskutiert haben .
Ich möchte hier wirklich keine Schärfe in die Debatte
bringen, sondern ich möchte im Sinne der Würdigung der
Geschichte und auch mit Blick auf die Menschen, die unsere Debatte in den Gebieten der ehemaligen Sowjetunion - in Russland, in der Ukraine, in Belarus - verfolgen,
einfach versuchen, zu erreichen, dass wir uns in einem
Berichterstattergespräch noch einmal gemeinsam der
Frage annehmen, wo die entscheidende Differenz war .
War es nicht so, wie uns alle Historiker in der Anhörung gesagt haben, dass die entscheidende Differenz darin bestand, dass es nicht um ein Kriegsziel ging, und
dass der Grund, weshalb man die Leute verhungern ließ,
nicht ein Mangel an Ressourcen zur Versorgung der
Kriegsgefangenen war, sondern der Wille, sie aus rassebiologischen Gründen umzubringen? Das Unrecht, das
auf rassebiologischen Gründen fußt, ist klassischerweise
nationalsozialistisches Unrecht .
Lassen Sie uns diese Frage noch einmal ohne Schärfe
und jenseits von Partei- und Fraktionsgrenzen besprechen, damit wir hier als Hohes Haus gemeinsam zur historischen Wahrheit finden. Ich bitte Sie: Gewähren Sie
uns diese Diskussion .
Frau Woltmann, Sie haben das Wort zur Erwiderung .
Kollege Beck, ich glaube, Sie wollen mich missverstehen; denn ich weiß nicht, warum auch immer Sie diesen Beitrag jetzt gemacht haben .
Ich habe in keiner Weise gesagt, dass die Vergangenheit und die Erinnerung an die Vergangenheit nicht
wichtig sind . Ganz im Gegenteil: Die Erinnerung an die
Vergangenheit - ich habe das in meiner Rede mehrfach
gesagt - ist zwingend notwendig; denn sonst kann ein
Volk keine Zukunft haben . Das steht für mich überhaupt
nicht zur Disposition . Ich muss die Vergangenheit kennen, um dann auch in die Zukunft schauen zu können .
Beides gehört zusammen .
Ich habe an George Bernard Shaw erinnert, der gesagt hat, dass wir uns auch der Verantwortung für unsere
Zukunft stellen müssen . Das heißt, beides gehört zusammen .
In keiner Weise habe ich an irgendeiner Stelle das
Unrecht, das den russischen Soldaten damals widerfahren ist, kleinreden wollen . Ganz im Gegenteil: Es gab
ein großes Unrecht gegenüber dieser Gruppe . Insofern
verstehe ich Ihre jetzigen Bemerkungen nicht . Ich glaube, dass ich in meiner Rede ausdrücklich angesprochen
habe, dass es ein furchtbares, schreckliches, menschenverachtendes Regime war - nicht nur russischen Soldaten, sondern auch vielen anderen Gruppen gegenüber,
wie zum Beispiel den Juden .
Ich habe mir heute Morgen auch noch einmal ganz
ausführlich die Ausstellung im Paul-Löbe-Haus zum Dialog zwischen Deutschland und Polen angeschaut . Auch
in Polen sind sehr viele Menschen durch das Unrechtsregime umgekommen .
Insofern sage ich: Die Vergangenheit gehört dazu,
aber auch die Zukunft, und ich glaube, das ist in meiner
Rede mehr als deutlich geworden .
Vielen Dank . - Jetzt hat Dennis Rohde von der
SPD-Fraktion das Wort .
({0})
Sehr geschätzte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Am 3 . Mai dieses Jahres durfte ich, übrigens gemeinsam mit meiner Vorrednerin, in meiner Heimat in Oldenburg der Kranzniederlegung zum Gedenken
an die ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter der NS-Zeit beiwohnen . Ich kann heute sagen, dass
es ein Ereignis war, das mich sehr berührt hat, viel mehr,
als ich es im Vorfeld erwartet hatte . Ich war zum ersten
Mal an diesem Mahnmal in meiner Stadt . Das, was mich
so sehr berührt hat, waren die Schicksale, die auf einmal
transparent wurden . Es waren die Namen und insbesondere die Geburts- und Todesdaten, die auf dem Mahnmal
vermerkt sind .
Ich selbst bin in einer Zeit aufgewachsen, in der ich
nie Angst vor Krieg oder Angst um mein Leben haben
musste . Ich weiß, dass das ein großes Glück ist . Viel
mehr noch: Ich darf heute mit 29 Jahren meine Heimat
im Deutschen Bundestag vertreten . Aber viele der Menschen, derer an diesem Mahnmal gedacht wird, hätten
sich gefreut, das 29 . Lebensjahr überhaupt erreichen zu
dürfen . Es sind die Schicksale wie das von Jakow Suschtschenko, der im Alter von 25 Jahren zu Tode kam, oder
das von Anna Bogutschenko, die lediglich 18 Jahre alt
werden durfte . Beide fanden ihre letzte Ruhestätte in einem Massengrab in Oldenburg, mit ihnen übrigens auch
111 Kinder, zu großen Teilen Kleinkinder .
Noch bedrückender wird das Gefühl, wenn man sich
mit dem Leid der - zum großen Teil sowjetischen Kriegsgefangenen in der eigenen Heimat intensiver beschäftigt . So wurden diese damals zum Bau der Umgehungsstraße eingesetzt, die wir auch heute noch nutzen
und tagtäglich befahren . Nicht nur das: Die Gefangenen
haben auch den Sand hierfür abtragen müssen . Aus diesem Abtrag ist, wie vielerorts auch, ein Baggersee entstanden . Er ist heute ein beliebter Rückzugsort in unserer
Stadt .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir halten es uns
wahrscheinlich nicht jeden Tag vor Augen und machen
es uns auch nicht jeden Tag aufs Neue bewusst: Aber die
Spuren der NS-Zeit, die Spuren des Leidens der Gefangenen sind nach wie vor Bestandteil unseres täglichen
Lebens . Wir wissen, dass die sowjetischen Kriegsgefangenen hierbei in unserer Region wie in ganz Deutschland
zu den größten Opfergruppen nationalsozialistischer Verbrechen im Zweiten Weltkrieg zählen .
Bis 1945 starben in deutschem Gewahrsam mehr als
60 Prozent - die Zahl ist bereits gefallen - der insgesamt
bis zu 6 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen . Die
Ursachen für den Tod so vieler Menschen waren nicht allein die allgemeinen Kriegsumstände oder die mangelnde
Versorgung . Tod und Vernichtung in den Lagern wurden
vom NS-Regime mehr als billigend in Kauf genommen .
Sie waren Folge der nationalsozialistischen, der menschenverachtenden Ideologie . Wir wissen auch: Diejenigen, die trotz der tödlichen Bedingungen überlebt haben,
wurden nach ihrer Rückkehr in die Sowjetunion oftmals
der Kollaboration verdächtigt . Nicht selten kamen sie in
Lagerhaft . Sie wurden gesellschaftlich diskriminiert und
staatlicherseits erst 1995 vollständig rehabilitiert .
Unsere Geschichte gibt uns eine Verantwortung für
unser heutiges Handeln, eine Verantwortung, wie ich finde, im doppelten Sinne . Zum einen tragen wir als Mitglieder des Deutschen Bundestages, aber viel mehr noch
als Mitglieder unserer Gesellschaft die Verantwortung
dafür, dass sich das dunkelste Kapitel der europäischen
Geschichte niemals wiederholt .
({0})
Wir wollen gute Nachbarn sein . Und wir werden uns jedem standhaft und entschieden entgegenstellen, der Frieden, Freiheit und Demokratie in diesem Land bedroht,
ganz egal, wie er sich nennt, ganz egal, wie er sich tarnt .
Nie wieder Faschismus - dieser Aufgabe haben wir uns
tagtäglich zu stellen .
({1})
Zum anderen haben wir als Parlamentarier auch
eine politische Verantwortung, die wir Sozialdemokraten wahrgenommen haben und wahrnehmen . Es war
die damalige rot-grüne Bundesregierung unter Gerhard
Schröder, die im Jahr 2000, 55 Jahre nach Ende des
Zweiten Weltkrieges, mit dem Gesetz zur Errichtung einer Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“
dafür gesorgt hat, dass NS-Zwangsarbeiter Entschädigungszahlungen erhielten .
({2})
Hierfür stellten der Bund und die Wirtschaft damals immerhin 5,2 Milliarden Euro zur Verfügung .
Doch eine Lücke gab es auch in diesem Gesetz noch:
Sowjetische Kriegsgefangene blieben unberücksichtigt;
denn Tatbestandsvoraussetzung war die Zwangsarbeit .
In der letzten Legislaturperiode wurden die Anträge zur
Erweiterung des Kreises der Anspruchsberechtigten leider noch regelmäßig abgelehnt . Aber im Nachtragshaushalt 2015 haben wir endlich das durchgesetzt, was wir
bereits zuvor gefordert hatten: Nunmehr 70 Jahre nach
Ende des Zweiten Weltkrieges haben auch die noch lebenden sowjetischen Kriegsgefangenen einen Entschädigungsanspruch bekommen, zwar spät, aber wir sind
unserer historischen Verantwortung in diesem Punkt gerecht geworden .
({3})
Egal ob im Jahr 2000 für die Zwangsarbeiter oder im
letzten Jahr für die sowjetischen Kriegsgefangenen, ich
sage ganz klar: Kein Geld der Welt kann die Taten und
Grausamkeiten des nationalsozialistischen Unrechtsregimes ungeschehen machen . Die Entschädigungsleistungen sind Symbol unserer Verantwortung und unseres
Willens, diejenigen niemals zu vergessen, denen in den
Zeiten des Zweiten Weltkrieges die Freiheit geraubt und
das Leben genommen wurde . Sie sind Symbol für unsere
Verantwortung und unseren entschlossenen Willen, nicht
zu vergessen . Nie wieder Faschismus - das ist und bleibt
unsere wichtigste Aufgabe .
Vielen Dank .
({4})
Vielen Dank . - Damit schließe ich die Aussprache .
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/8422 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Federführung beim Haushaltsausschuss liegen soll . Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall . Dann ist die Überweisung so beschlossen .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der
internationalen Sicherheitspräsenz in Kosovo
auf der Grundlage der Resolution 1244 ({0})
des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen
vom 10. Juni 1999 und des Militärisch-Technischen Abkommens zwischen der internationalen Sicherheitspräsenz ({1}) und den
Regierungen der Bundesrepublik Jugoslawien
({2}) und der Republik
Serbien vom 9. Juni 1999
Drucksache 18/8623
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({3})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen . - Ich höre dazu
keinen Widerspruch . Dann ist das so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache . Als erster Redner in der
Debatte hat der Parlamentarische Staatssekretär Dr . Ralf
Brauksiepe das Wort .
({4})
Vielen Dank, Frau Präsidentin . - Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bundeswehr leistet nicht nur
im Kosovo, sondern in der Region insgesamt seit dem
Beginn der NATO-Mission KFOR im Jahr 1999 einen
wichtigen Beitrag zu deren Stabilisierung . Wir haben
unter dramatischen Umständen begonnen, um ein grausames Abschlachten und Morden dort in der Region zu
beenden, wie wir es in Europa seit Ende des Zweiten
Weltkrieges nicht mehr erlebt haben und uns auch nicht
vorstellen konnten . Es waren dramatische Umstände, unter denen wir damit unseren Beitrag zur Stabilisierung
und zum Beenden des Mordens geleistet haben .
Auf dem Balkan haben die Bemühungen der internationalen Gemeinschaft Früchte getragen . Auch das letzte
Jahr hat durchaus positive Entwicklungen im Kosovo sowohl für die allgemeine Sicherheitslage als auch für den
Weg zur Normalisierung der Beziehungen zwischen den
Konfliktparteien Serbien und Kosovo gezeigt.
Ich finde es wichtig, nicht nur auf die Fortschritte dieses letzten Jahres zu blicken, sondern uns, wenn wir über
das Kosovo reden, immer wieder vor Augen zu führen,
wie dramatisch die Lage damals war, als wir angefangen
haben, uns dort zu engagieren . Natürlich sind 17 Jahre
eine lange Zeit, aber wir sind aus einer ganz grausamen
Situation gekommen, von der unbestreitbar ist, dass erhebliche humanitäre Fortschritte für die Menschen erzielt worden sind, liebe Kolleginnen und Kollegen . Das
hat etwas mit diesem Mandat zu tun .
({0})
Im Jahr 2013 wurde ein Normalisierungsabkommen
vereinbart, das auf die Eingliederung der kosovo-serbischen Parallelstrukturen abzielt und somit nicht nur eine
einheitliche staatliche Struktur schafft, sondern auch zu
einer Annäherung zwischen Kosovo-Serben und Kosovo-Albanern beiträgt . Hier konnten bereits umfassende
Fortschritte erreicht werden, zum Beispiel im Polizeibereich oder bei der Einbindung der kosovarisch-serbischen Bevölkerungsteile in die politische Repräsentanz .
Es konnten auch erste Annäherungen bei der Überführung der Justiz- und Kommunalverwaltungsstrukturen in
einheitliche kosovarische Strukturen erwirkt werden .
Diese positiven Entwicklungen gilt es nun zu stärken
und weiter zu begleiten, liebe Kolleginnen und Kollegen .
Die erreichten Fortschritte sind maßgeblich dem professionellen Engagement aller beteiligten Kräfte und Akteure zuzuschreiben . Daher gilt ihnen und insbesondere
allen im Rahmen von KFOR agierenden Soldatinnen und
Soldaten an dieser Stelle mein ganz besonderer Dank .
({1})
Trotz der positiven Entwicklungen gibt es auch weiterhin Herausforderungen und Mängel, deren Lösung wir
künftig verstärkt angehen müssen . Wir wissen auch alle,
dass ein rein militärisches Begleiten nicht die Lösung ist .
Daher wird Deutschland auch weiterhin umfassend die
zivile Mission EULEX unterstützen, um die Entwicklung
der Rechtsstaatlichkeit im Kosovo zu stärken .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, gestern haben das
Auswärtige Amt, das Bundesministerium des Innern und
das Bundesministerium der Verteidigung zum vierten
Mal den Tag des Peacekeepers begangen. Ich finde, es ist
eine sehr wichtige Einrichtung, dass die Ministerien, die
den Einsatz von Polizeibeamtinnen und -beamten, von
zivilen Helfern und auch von Soldatinnen und Soldaten
verantworten, gemeinsam den Einsatz dieser Menschen,
dieser Peacekeeper, würdigen . Das war gestern, was das
Kosovo angeht, geradezu symbolhaft . Es wurde ein Soldat für seinen Einsatz bei KFOR geehrt, und es wurde
ein ziviler Peacekeeper für seinen Einsatz geehrt . Beides
gehört eben zusammen, und wir tun gut daran, dieses Engagement unserer Peacekeeper im Allgemeinen und auch
im Kosovo stärker zu würdigen, als das bisher der Fall
war, liebe Kolleginnen und Kollegen .
({2})
Ein Ziel der KFOR-Mission konnte bereits durch den
deutlich zu verzeichnenden Anstieg der Fähigkeiten der
begleiteten lokalen Sicherheitskräfte umgesetzt werden .
Die kosovarische Polizei ist mittlerweile imstande, die
Lage im Land zu kontrollieren . Nun gilt es, nach und
nach alle Kompetenzen an solche lokalen Kräfte abzugeben und KFOR als einen stillen Begleiter und Vermittler
mehr und mehr in den Hintergrund treten zu lassen .
Der NATO-Rat hat Anfang Januar der Umsetzung eines Konzepts zur flexibleren Anpassung der Truppenstärke in Abhängigkeit von der Sicherheitslage zugestimmt,
und der NATO-Oberbefehlshaber hat im April die fortschreitende Stabilisierung der Sicherheitslage bestätigt .
Vor diesem Hintergrund, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist es konsequent und gut vertretbar, die Mandatsobergrenze auch für uns von 1 850 auf 1 350 Soldatinnen und Soldaten herabzusetzen . Dies erlaubt uns
weiterhin, alle übertragenen Aufgaben vollständig zu erfüllen, auf Lageänderungen - wenn nötig - angemessen
zu reagieren und gleichzeitig den Handlungsspielraum
für lokale Sicherheitskräfte nach und nach zu erweitern .
Das deutsche Engagement bei KFOR, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist weiterhin der richtige Weg .
Deswegen bitte ich Sie im Namen der Bundesregierung
um Unterstützung für diesen Weg . Die Bekämpfung von
Korruption, organisierter Kriminalität und die Unterbindung des Zulaufs zu radikalen Kräften müssen Hand in
Hand gehen mit der Stärkung der Zivilgesellschaft und
der Schaffung einer ökonomischen Perspektive . Dazu
zählt unser Engagement bei KFOR als ein wichtiger Beitrag . Ich bitte Sie um Zustimmung zu unserem Antrag,
dieses reduzierte militärische Engagement um ein Jahr
zu verlängern .
Herzlichen Dank .
({3})
Vielen Dank . - Als nächster Redner hat Herr Dr . Neu
von der Linken das Wort .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Im Februar 2001 hatte die ARD eine Dokumentation mit dem Titel veröffentlicht: Es begann mit
einer Lüge - Deutschlands Weg in den Kosovo-Krieg. Eigentlich hätte ein zweiter Teil mit dem Titel Kosovo - die
Fortsetzung einer Lüge und westliche Doppelstandards
produziert werden müssen .
Welches sind die wesentlichsten Lügen, die diesen
Krieg begleitet haben? Einmal der angebliche Genozid,
der Völkermord, der gegen die Albaner stattfindet. Als
das nicht mehr beweisbar war, sprach man von einem
drohenden Genozid . Spätestens seit heute Morgen sollten
wir mit Blick auf die Armenien-Debatte eines begriffen
haben: Dort, wo Völkermord stattfindet, muss er benannt
werden und müssen Konsequenzen gezogen werden .
Dort, wo er nicht stattfindet, darf er auch nicht herbeifabuliert werden, um politische Gegner zu dämonisieren .
({0})
Die tatsächliche Motivation war nämlich, letztendlich
Rest-Jugoslawien komplett zu zerschlagen . Das hat man
bis heute geschafft . Der KFOR-Einsatz selbst basiert auf
Lügen und Rechtsbrüchen - bis heute .
Die Lüge ist, KFOR sei eine neutrale Friedenstruppe . Tatsache ist doch, dass die NATO, die den Kern von
KFOR ausmacht, Kriegspartei aufseiten der terroristischen UCK gegen Serbien war; sie war sozusagen die
Luftwaffe der Albaner . Über Nacht, vom 10 . auf den
11 . Juni 1999, wurde dann die NATO-Kriegspartei zur
KFOR-Friedenstruppe .
Eine weitere wesentliche Lüge: Wir, KFOR, stabilisieren das Kosovo als ein multiethnisches Gebiet . So
wurde es auch in der UN-Sicherheitsratsresolution 1244
festgehalten: Aufrechterhaltung der Souveränität Serbiens etc . Aber diese Resolution wurde von Anfang an von
den NATO-Staaten, die in KFOR organisiert waren, nicht
eingehalten . Im Gegenteil: Die Resolution 1244 wurde
selektiv interpretiert und missbraucht .
Statt Sicherheit für die Menschen und eine multiethnische Gesellschaft zu schaffen, flohen über 230 000 Menschen oder wurden vertrieben, zumeist Serben und andere Nicht-Albaner . Bis heute konnten diese Menschen
nicht zurückkehren, und das zumindest unter Duldung
der NATO . Statt Wahrung der Souveränität und territorialen Integrität Serbiens, die Sie nun für die Ukraine
einfordern, hat die NATO die territoriale Abspaltung des
Kosovo im Jahre 2008 militärisch abgesichert . Hierzu
zählen auch die Androhung und Anwendung militärischer Gewalt gegen die Serben, die den Verfassungsbruch der albanischen Minderheit und den Völkerrechtsbruch der NATO nicht akzeptieren wollen . Das heißt in
Ihrer Sprache etwa Aufrechterhaltung des sicheren und
stabilen Umfeldes insbesondere im Norden, also dort, wo
Serben noch konzentriert leben .
Fazit: Jede Mandatsverlängerung setzt die Lügen fort .
Jede Mandatsverlängerung dient einer fortgesetzten militärischen Absicherung eines massiven Völkerrechtsbruchs. Aber bis heute ist nicht wirklich reflektiert worden, wen man unterstützt hat und noch immer unterstützt .
Ich habe kürzlich einen Bericht gelesen, in dem es darum
geht, wen man unterstützt . Die Essenz des Berichts ist:
Man unterstützt ein Mafiagebilde. Der Westen und die
Bundesregierung unterstützen seit 1989/99 militärisch,
finanziell und anderweitig ein Mafiagebilde. Der Steuerzahler bezahlt das . Was war das für ein Bericht? Es
war - dank WikiLeaks - ein Bericht des Bundesnachrichtendienstes aus dem Jahre 2005 . Er ist heute genauso
aktuell wie damals . Aber ähnlich wie bei dem kürzlich
erschienenen Bericht über den Verteidigungsminister
von Saudi-Arabien wollen Sie das nicht wahrhaben . Sie
halten weiterhin an den sogenannten Alliierten fest .
Die meisten MdBs, die heute hier sitzen, waren
1998/99 noch nicht Mitglied des Bundestages . Sie haben
also nicht diesen Vorratsbeschluss zum Krieg im Oktober 1998 mitgetragen . Deshalb: Machen Sie jetzt Schluss
mit den Lügen, und beenden Sie KFOR . Machen Sie
Schluss mit Doppelstandards . Sorgen Sie dafür, dass die
völkerrechtswidrige Anerkennung des Kosovo seitens
der Bundesregierung zurückgezogen wird .
({1})
Sorgen Sie dafür, dass Deutschland wieder zum Völkerrecht zurückkehrt; denn nur dann haben wir auch die
moralische Autorität, andere Staaten, die das Völkerrecht
brechen, zu kritisieren .
({2})
Lügen und Doppelstandards haben eines gemeinsam:
kurze Beine .
Ich danke Ihnen .
({3})
Als nächster Redner hat der Kollege Dirk Vöpel von
der SPD-Fraktion das Wort .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Wenn der Bundestag dieser Mandatsverlängerung zustimmt, geht der Kosovo-Einsatz der Bundeswehr bereits in das achtzehnte Jahr . Leider müssen
wir auch heute, fast zwei Jahrzehnte nach der Beendigung des Kosovo-Krieges, nüchtern feststellen: Noch ist
die Zeit für einen endgültigen Abzug der KFOR-Truppen nicht reif . Eine direkte Einsatzunterstützung durch
NATO-Verbände wurde im derzeitigen Mandatszeitraum
nicht angefordert . Der Aufbau selbsttragender kosovarischer Sicherheitsstrukturen schreitet erkennbar gut voran . Aber als alleinige Ordnungsmacht wären sie zurzeit
noch überfordert .
Außerdem steht der für die zukünftige Entwicklung so
wichtige Normalisierungsprozess zwischen dem Kosovo
und Serbien vor einer entscheidenden Phase . Die diesbezüglichen Verhandlungen sind mit ihren unvermeidlichen Kompromissen und Zugeständnissen innenpolitisch
heftig umstritten und treffen auf den teilweise gewaltsamen Widerstand einer kleinen, aber aggressiven Opposition . Wenn das Spannendste in den Parlamentssitzungen
in Pristina über Monate die Frage war, wann die Opposition den nächsten Tränengasangriff startet, dann ist
das kaum als Indiz für einen schnellen demokratischen
Reifeprozess zu werten, ebenso wenig übrigens wie die
rechtsstaatlich fragwürdige Inhaftierung mehrerer Oppositionspolitiker .
Die ethnischen Auseinandersetzungen zwischen
Kosovo-Albanern und Kosovo-Serben sind seit der Unabhängigkeitserklärung seltener geworden . Dennoch gab
es auch 2015 über 250 gewalttätige Übergriffe, vor allem
gegen Angehörige der serbischen Minderheit und serbische Rückkehrer .
Der „Islamische Staat“ hat seine Rekrutierungsbemühungen unter radikalisierten Muslimen im Kosovo deutlich verstärkt . Sorgen bereiten nach wie vor die vielen
Spielarten der organisierten Kriminalität . Darüber hinaus
drohen die innenpolitischen Konflikte in Mazedonien
und Bosnien-Herzegowina die Region weiter zu destabilisieren .
In der aufgepeitschten See politischer Auseinandersetzungen auf dem Westbalkan dient die KFOR-Mission als wichtiger Stabilisierungsanker, notfalls auch, um
die zivilgesellschaftlichen Aktivitäten der UNO und der
EU-Rechtsstaatlichkeitsmission EULEX militärisch zu
unterstützen . Deshalb möchte ich um Ihre Unterstützung
für eine Verlängerung des Mandats werben .
Der vorliegende Antrag der Bundesregierung beschränkt sich nicht auf die zeitliche Fortschreibung des
bestehenden Mandats, er markiert vielmehr eine Zwischenetappe im Auslaufprozess der bisher längsten Auslandsmission der Bundeswehr . Es ist auch dem Einsatz
deutscher Soldatinnen und Soldaten zu verdanken, dass
sich die Sicherheitslage in den letzten Jahren deutlich
verbessert hat . Aufgrund der Abnahme interethnischer
Konflikte erscheint es deshalb vertretbar, den deutschen
Beitrag zu KFOR im neuen Mandat kleiner anzusetzen .
Die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Probleme des Kosovo als schwierig zu bezeichnen, wäre eine
Untertreibung . Korruption und Energienotstand - so
heißen die beiden ökonomischen Vogelscheuchen, die
ausländische Investoren nachhaltig abschrecken, obwohl
sie angesichts der desolaten wirtschaftlichen Lage im
Kosovo dringend gebraucht würden . Mit dem geringsten
Pro-Kopf-Einkommen, der höchsten Armutsquote, einer
Gesamtarbeitslosigkeit zwischen 35 und 45 Prozent und
einer der weltweit höchsten Quoten im Bereich der Jugendarbeitslosigkeit ist das Kosovo das Armenhaus Europas .
({0})
Sicher, die Hoffnung stirbt zuletzt . Aber was geschieht, wenn der letzte Hoffnungsfunken verglüht ist,
haben wir in den ersten Monaten des letzten Jahres erlebt . Zehntausende überwiegend junge Leute kehrten ihrer Heimat den Rücken und eröffneten mit dieser ersten
großen Wanderungsbewegung in den Schengen-Raum
letztlich den Flüchtlingskorridor der Balkanroute . Viele
von ihnen sind mittlerweile wieder zurückgekehrt,
({1})
nach wie vor ohne ausreichende Erwerbs- und Lebensperspektive im eigenen Land, dafür oft reicher nur an
Schleuserschulden und der frustrierenden Erfahrung des
Scheiterns .
Vor diesem Hintergrund kann es, glaube ich, keinen
passenderen Zeitpunkt und kein stärkeres Signal der
Hoffnung geben als den von der EU-Kommission am
4 . Mai auf den Weg gebrachten Vorschlag der Visaliberalisierung für Staatsangehörige des Kosovo . Der Vorschlag der Kommission sieht vor, dass Kosovaren für
Kurzaufenthalte bis zu 90 Tagen endlich visumfrei in fast
alle EU-Mitgliedstaaten reisen können . Ich begrüße diesen Schritt ganz ausdrücklich, nicht nur weil er eine von
den Kosovaren seit Jahren zu Recht kritisierte Diskriminierung im Vergleich zur Behandlung anderer Balkanstaaten beseitigt, sondern vor allem, weil er vielen Menschen im Kosovo das oft beklagte Gefühl der Isolation
nehmen wird .
Es gibt keine echte Freiheit ohne Reisefreiheit . Wir
in Deutschland haben damit unsere eigenen Erfahrungen gemacht . Jetzt liegt es an den Kosovaren, zügig die
letzten Hausaufgaben zu erledigen und vor allem den
Grenzvertrag mit Montenegro zu ratifizieren, damit Rat
und Europäisches Parlament dem Vorschlag der Kommission endgültig zustimmen können . Die Visaliberalisierung wird die Menschen im Kosovo näher an Europa
heranrücken . Das ist ein kräftiger Hoffnungsfunken . Sie
belegt, dass die europäische Perspektive real und kein
leeres Versprechen ist .
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit .
({2})
Vielen Dank . - Als nächster Redner spricht Tobias
Lindner von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Geschätzte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Als dieses Hohe Haus zum ersten Mal ein
Mandat für KFOR erteilt hat - das war 1999 -, war ich das ist mir vorhin erst wieder aufgefallen - 17 Jahre alt .
Das ist normalerweise das Alter, in dem viele junge Menschen richtig politisch aktiv werden . Heute bin ich 34 .
({0})
Mich hat dieses Mandat also quasi über die Hälfte meines
Lebens hinweg begleitet. Es zeigt: Krisen und Konflikte
können plötzlich und für viele von uns unvorhergesehen
kommen . Aber wenn sie einmal da sind, braucht es einen ziemlich langen Atem, um sie wirklich dauerhaft und
nachhaltig zu lösen . So ist es auch bei diesem Mandat .
Dabei müssen wir uns - ich bin dem Staatssekretär
durchaus dankbar, dass er das angesprochen hat - immer
wieder klarmachen: Das Militär, liebe Kolleginnen und
Kollegen, kann diesen Konflikt nicht lösen. Es kann aber
einen Rahmen bieten, in dem zivile Instrumente bzw . politische Lösungen dabei helfen können, Entwicklungen
im Kosovo anzustoßen, welche die Probleme, die in dieser Debatte schon angesprochen worden sind, lösen oder
zumindest abmildern können . Deswegen, meine sehr geehrten Damen und Herren, wird meine Fraktion auch in
die Beratungen über dieses Mandat mit der Einstellung
hineingehen, es wohlwollend zu unterstützen .
Wir müssen uns, wenn wir uns zivil und politisch engagieren wollen, vor allem aber auch klarmachen: Eine
Lösung für den Konflikt im Kosovo wird es nur geben
können, wenn der Westbalkan insgesamt eine politische
Perspektive erhält .
({1})
Es braucht ein außerordentliches Engagement dieser
Bundesregierung vor dem Hintergrund dessen, dass es
in Mazedonien gerade eine Vertrauenskrise gibt, dass
in Bosnien-Herzegowina nationalistische Kräfte mit der
Abspaltung der Republika Srpska liebäugeln und dass in
Montenegro die Zivilgesellschaft und die Presse unter erheblichem Druck stehen . Wir brauchen zur Lösung dieser Probleme eine Lösung für den gesamten Westbalkan,
liebe Kolleginnen und Kollegen .
Herr Kollege Vöpel, Sie haben es dankenswerterweise
angesprochen: Es geht um den Weg in das Haus Europa und um ein näheres Heranrücken an Europa . Ich bin
fest davon überzeugt - das gilt auch für meine Fraktion -, dass es für Serbien und das Kosovo am Ende des
Tages nur einen gemeinsamen Weg in das Haus Europa
wird geben können . Es braucht eine Aussöhnung, und
es braucht eine Verständigung zwischen beiden Staaten,
wenn wir, liebe Kolleginnen und Kollegen, nicht noch in
17 Jahren hier stehen wollen, um über dieses Mandat zu
beraten .
({2})
1999 hat die damalige Bundesregierung - auch das
wurde schon erwähnt, und auch das sollten wir uns in der
jetzigen Debatte vergegenwärtigen - eine Mandatsobergrenze von 8 500 Soldatinnen und Soldaten beantragt .
Seitdem hat die Präsenz des Militärs stetig abgenommen . Das ist ein guter und wichtiger Schritt . Deswegen
begrüßen wir es auch, dass mit dem neuen Mandat die
Mandatsobergrenze weiter gesenkt werden soll . Das ist
ein Weg dahin, dass man dieses Mandat hoffentlich in
wenigen Jahren wird beenden können, liebe Kolleginnen
und Kollegen .
Die 17 Jahre, die dieser Einsatz andauert, sollten uns
bei allem Streit darüber - der Kollege Neu hat es ja gerade vorgeführt -, ob Mandate sinnvoll oder weniger
sinnvoll sind bzw . ob wir dafür oder dagegen sein sollten, alle gemeinsam dazu mahnen oder motivieren, bei
Mandaten frühzeitig zu fragen, wie man da auch wieder
herauskommt . Sind die Ziele, die wir uns gesetzt haben,
erreicht worden? Was läuft sinnvoll? Und wo gibt es
Rückschläge?
Wir sollten uns gemeinsam darüber im Klaren sein,
was wir in den kommenden Monaten bzw . noch in dieser
Legislaturperiode in den Ausschussberatungen werden
leisten müssen, damit es uns gelingen kann, die Mandatsgrenze weiter abzuschmelzen und KFOR vorerst auf eine
Rolle zu reduzieren, bei der sie quasi nur noch als letzte
Versicherung vor Ort steht, damit wir dann - hoffentlich
in wenigen Jahren und nicht erst nach weiteren 17 Jahren - auch dieses Mandat beenden und damit in eine Zukunft blicken können, in der das Kosovo insgesamt einen
Weg in das Haus Europa und in eine gute Zukunft finden
kann .
Ich danke Ihnen .
({3})
Vielen Dank . - Als nächster Redner hat Florian Hahn
von der CDU/CSU-Fraktion das Wort .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der KFOR-Einsatz im Kosovo steht beispielhaft für den
langen Atem, den man für eine erfolgreiche Stabilisierungsmission benötigt . Er besteht seit 1999 und ist damit
der längste und weiterhin zweitgrößte Auslandseinsatz
der Bundeswehr . Wenn wir mittlerweile verstärkt auf
andere Krisenregionen blicken, dann liegt das vor allem
daran, wie effektiv die bei KFOR eingesetzten Soldatinnen und Soldaten zur Normalisierung und Stabilität im
Kosovo beitragen .
Oberst von Keyserlingk, der 2004 das erste Mal Kommandeur des deutschen Einsatzkontingents im Kosovo
war und am 26 . dieses Monats nach rund zwei Jahren
die Truppenfahne im Feldlager Prizren zum zweiten Mal
wieder abgab, hat die Fortschritte in einem Interview
ganz plastisch beschrieben . Den Soldaten sei es anfangs
nicht möglich gewesen, das Lager ohne Waffen zu verlassen . Mittlerweile brauche man den Gefechtshelm und
die Weste nur noch bei sich in der Nähe zu haben; man
müsse sie nicht mehr tragen . - Das Resümee des letzten
Mandatszeitraums unterstreicht sein Urteil: Es war kein
Eingreifen seitens KFOR notwendig .
Auch die Zahlen spiegeln die positive Entwicklung wider . 1999 waren noch 50 000 KFOR-Soldaten im Land;
heute sind es rund 5 000 . Am 20 . April bestätigte der
NATO-Oberbefehlshaber in Europa zudem die geplante
Reduzierung der Einsatzkompagnien von 14 auf 12 . Noch
Anfang des Jahres allerdings spielten sich im Kosovo
Szenen ab, die für alles andere als für eine Stabilisierung
sprachen: Tränengasschwaden im Parlament, Abgeordnete mit Gasmasken, Angriffe militanter Demonstranten
im Zentrum der Hauptstadt, Polizisten, die Abgeordnete der Opposition gewaltsam aus dem Saal entfernten .
Die Opposition versuchte, durch gewaltsame Störungen
Neuwahlen zu erringen . Diese scharfen innenpolitischen
Auseinandersetzungen sind besorgniserregend .
Ich betone dies, um uns eine Wahrheit noch einmal vor
Augen zu führen: So viel wir auch im Kosovo erreicht
haben, noch immer ist der Staat, der mittlerweile von
111 Ländern weltweit völkerrechtlich anerkannt wird,
ein fragiles Gebilde . Obwohl die kosovarische Polizei
bei den Großdemonstrationen Anfang des Jahres keine
Unterstützung benötigte - dies zeugt im Übrigen von
der guten Ausbildung der Polizei und der kosovarischen
Sicherheitskräfte durch KFOR -, bleibt die internationale Präsenz als Garant für eine Grundsicherheit notwendig . Auch wenn KFOR nicht eingreifen musste, wurde
doch alles für einen möglichen Einsatz des deutschen
Sicherungszuges vorbereitet . Während Demonstranten
den Niedergang der Regierung skandierten, blieben die
Soldatinnen und Soldaten in Bereitschaft . So richtig die
Absenkung der Personalobergrenze ist, so wichtig bleibt
die Möglichkeit, auf Krisensituationen zu reagieren . Um
es nochmals mit den Worten von Oberst von Keyserlingk
zu sagen:
Gut, dass nichts passiert ist, und gut, dass wir hätten
eingreifen können .
Trotz der zum Teil gewaltsamen innenpolitischen
Auseinandersetzungen, die sich vor allem gegen den
Status der serbischen Gemeinden im Kosovo richten, hat
der Normalisierungsprozess zwischen den beiden Akteuren, Pristina und Belgrad, einen großen Sprung gemacht .
Das im vergangenen August beschlossene Abkommen
zwischen Ministerpräsident Aleksandar Vucic und dem
kosovarischen Regierungschef Isa Mustafa wurde zu
Recht als historischer Meilenstein bezeichnet . Der vorgesehene Rückzug serbischer Institutionen aus dem Nordkosovo könnte dazu dienen, die ethnischen Spannungen
im Norden langfristig zu mindern . Im Gegenzug sollten
den serbischen Gemeinden weitgehende Selbstbestimmungsrechte gewährt werden .
Es ist jetzt wichtig, zu verhindern, dass die Annäherung Opfer politischer Instrumentalisierung wird . Die
Integration und der Schutz der serbischen Minderheit rund 50 000 Serben leben noch im Norden Kosovos -,
die Toleranz und Aussöhnung innerhalb der Gemeinden
und der Schutz von Minderheiten bleiben wichtige Bausteine in diesem Prozess . Es gilt daher, Präsident Thaci
und Ministerpräsident Vucic bei ihrer mutigen Stabilisierungspolitik zu unterstützen .
Für die Entwicklung des Kosovos bleibt der
KFOR-Einsatz, flankiert durch unser entwicklungspolitisches Engagement, weiterhin wichtig . Er schafft ein
stabiles Umfeld, das für die Entwicklung des Landes und
den Weg in die Europäische Union notwendig ist . Unser
Einsatz wird daher auch in Zukunft nicht zeitgebunden
sein, sondern immer ergebnisorientiert die Kräftekontingente an die Lage im Land anpassen .
Noch eine Bemerkung zum Kollegen Neu: Es ist richtig, man muss Völkermord Völkermord nennen, wenn er
Völkermord ist . Genauso richtig ist es aber auch, drohenden Völkermord zu verhindern . Mit Blick auf die Diskussion, die wir heute in diesem Plenum geführt haben, mit
Blick auf die Rolle des Kaiserreichs beim Völkermord an
den Armeniern ist es gerade für uns Auftrag, drohenden
Völkermord zu verhindern .
Danke schön .
({0})
Der Kollege Neu erhält die Möglichkeit zu einer
Kurzintervention .
Sehr geehrter Kollege, es gab keinen drohenden Völkermord . Ich beziehe mich damit auf Aussagen des Auswärtigen Amts aus dem Jahre 1998 bis in den März 1999
hinein . Entsprechende Informationen zur Abschiebung
von Kosovo-Albanern kurz vor Beginn des Krieges
durch die NATO wurden von den verschiedenen Verwaltungsgerichten angefragt . Ich kann Ihnen gerne vier Fälle
vorlesen, um das einmal zu verdeutlichen .
Auskunft des Auswärtigen Amts, 12 . Januar 1999, an
das Verwaltungsgericht Trier:
Eine explizit an die albanische Volkszugehörigkeit anknüpfende politische Verfolgung ist auch im
Kosovo nicht festzustellen . Der Osten des Kosovo
ist von den bewaffneten Konflikten bislang nicht erfaßt, das öffentliche Leben in Städten wie Pristina,
Urosevac, Gnjilan usw . verlief im gesamten Konfliktzeitraum in relativ normalen Bahnen.
Das Vorgehen der Sicherheitskräfte war
… nicht gegen die Kosovo-Albaner als ethnisch definierte Gruppe gerichtet, sondern gegen den militärischen Gegner und dessen tatsächliche oder vermutete Unterstützer .
Sprich: die UCK .
Auskunft des Auswärtigen Amts, 15 . März 1999, an
das Verwaltungsgericht Mainz:
Wie im Lagebericht vom 18 .11 .1998 ausgeführt,
hat die UCK seit dem Teilabzug der … Sicherheitskräfte im Oktober 1998 ihre Stellungen wieder
eingenommen, so daß sie wieder weite Gebiete im
Konfliktgebiet kontrolliert. Auch vor Beginn des
Frühjahrs 1999 kam es weiterhin zu Zusammenstößen …
Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs - das
dürfte Sie jetzt interessieren - aus dem Oktober 1998:
Die den Klägern in der Ladung zur mündlichen Verhandlung angegebenen Lageberichte des Auswärtigen Amts vom 6 . Mai, 8 . Juni und 13 . Juli 1998 lassen einen Rückschluß auf eine Gruppenverfolgung
ethnischer Albaner aus dem Kosovo nicht zu . Nicht
einmal eine regionale Gruppenverfolgung, die allen
ethnischen Albanern aus einem bestimmten Teilgebiet des Kosovo gilt, läßt sich mit hinreichender Sicherheit feststellen . Das gewaltsame Vorgehen des
jugoslawischen Militärs und der Polizei seit Februar 1998 bezog sich auf separatistische Aktivitäten
und ist kein Beleg für eine Verfolgung der gesamten
ethnischen Gruppe der Albaner aus dem Kosovo
oder einem Teilgebiet desselben .
Urteil des Oberverwaltungsgerichts Münster, 11 . März
1999:
Albanische Volkszugehörige aus dem Kosovo waren und sind in der Bundesrepublik Jugoslawien
keiner regionalen oder landesweiten Gruppenverfolgung ausgesetzt .
Stoppen Sie also das Märchen von einem drohenden
Genozid .
Danke .
({0})
Herr Hahn, Sie haben die Möglichkeit zur Erwiderung .
Herr Kollege Neu, Sie haben unter anderem Dokumente des Auswärtigen Amts aus dieser Zeit zitiert, die
ich jetzt nicht nachvollziehen kann .
({0})
Ich habe leider keine Aussagen der Führung des Auswärtigen Amts aus dieser Zeit zur Hand; aber das können
wir gerne beim nächsten Mal nachholen . Ich könnte mir
vorstellen, dass Bundesaußenminister Joschka Fischer
die Lage damals deutlich anders eingeschätzt hat .
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Debatte ist damit beendet .
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/8623 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall . Dann ist die Überweisung
auch so beschlossen .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Keul, Katja Dörner, Luise Amtsberg, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Elternschaftsvereinbarung bei Samenspende
und das Recht auf Kenntnis eigener Abstammung
Drucksache 18/7655
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz ({0})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen . - Ich höre dazu
keinen Widerspruch . Dann ist das auch so beschlossen .
Wenn die Kolleginnen und Kollegen ihre Plätze eingenommen haben - ich bitte darum, dass das zügig geschieht -, dann kann ich die Debatte auch eröffnen .
Ich eröffne die Aussprache . Als erste Rednerin erhält
Katja Keul von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das
Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Samenspende ist ein seit über vier Jahrzehnten praktiziertes Verfahren . Tausende von Familien
sind auf diesem Wege gegründet worden . Dennoch fehlt
es bis heute an einer gesetzlichen Regelung und damit
an einer rechtlichen Absicherung aller Beteiligten . Mit
unserem heutigen Antrag machen wir konkrete Vorschläge für eine solche gesetzliche Regelung . Im Zentrum
unserer Überlegungen stehen zunächst einmal die Interessen des durch die Samenspende entstandenen Kindes,
das aufgrund der Rechtsunsicherheit noch immer vor der
Schwierigkeit steht, die erforderlichen Informationen
über seine Abstammung zu erhalten . Seit Jahren ist unbestritten, dass die Kenntnis der eigenen Abstammung
zentral bei der eigenen Identitätsfindung sein kann und
die Unkenntnis zu gravierenden psychologischen Belastungen führen kann . Deswegen ist eine anonyme Samenspende auch nicht zulässig . Klar ist auch, dass nicht
jede oder jeder diese Kenntnis haben will oder haben
muss . Aber denjenigen, für die es wichtig ist, müssen wir
zur Durchsetzung ihres Anspruches verhelfen .
({0})
Das Verfassungsgericht hat seit den 80er-Jahren
mehrfach klargestellt, dass die Kinder einen verfassungsrechtlich geschützten Anspruch auf Auskunft gegenüber
ihren Eltern haben . Was sie bisher nicht haben, ist ein
Anspruch gegen einen Dritten auf Durchführung eines
Vaterschaftsfeststellungsverfahrens . Der einzige rechtliche Weg liegt bislang in der Anfechtung ihres rechtlichen
Vaters und der Geltendmachung von Ansprüchen gegen
den vermutlichen biologischen Vater, soweit bekannt .
Genau dort liegt das Problem .
Das Recht der Kinder auf Anfechtung der Vaterschaft
kontrahiert deren Anspruch auf Auskunft über ihre Abstammung . So müssen die Samenbanken zwar gewisse
Daten vorhalten; in der Praxis machen sie aber alles,
um aus ihrer Sicht ihre Kunden zu schützen und ihr
Geschäftsmodell zu erhalten . Es gibt daher einen sehr
unterschiedlichen Umgang mit den Auskunftspflichten
gegenüber den Kindern, bis hin zur gezielten praktischen
Verhinderung . Dabei geht es den Kindern so gut wie nie
um die Durchsetzung von Unterhaltsansprüchen oder Erbansprüchen gegen den Samenspender, sondern schlicht
um die Kenntnis ihrer Abstammung .
Was also tun? Wie können wir gleichzeitig Rechtssicherheit für die Spenderkinder, Wunscheltern und Spender schaffen? Unser Vorschlag:
Als Allererstes sollte der bislang verfassungsrechtlich
unbestrittene Auskunftsanspruch der Kinder gesetzlich
verankert werden, auch gegenüber den Samenbanken .
Als Zweites sollte es schon vor der Zeugung möglich
werden, in einer Elternschaftsvereinbarung die rechtliche Elternschaft des Wunschvaters vertraglich und verbindlich zu regeln . Das schafft nicht nur Sicherheit bei
Spenden über Samenbanken, sondern gerade auch bei
sogenannten vertraulichen Spenden im privaten Umfeld,
vor allen Dingen, wenn die Eltern nicht verheiratet sind .
({1})
Diese Vereinbarung sollte beim Jugendamt protokolliert
und mit einer entsprechenden Belehrung über den zukünftigen Umgang mit dem Auskunftsrecht gegenüber
dem Kinde zu dessen Wohl verbunden sein .
Drittens müssen wir künftig dem Kind einen gesetzlichen Weg verschaffen, die biologische Vaterschaft des
Spenders feststellen zu lassen, ohne dabei die rechtliche
Vaterschaft infrage zu stellen .
({2})
Eine solche gerichtlich festgestellte biologische Vaterschaft ohne Statusänderung haben wir bereits vor einigen
Jahren ins Gesetz eingeführt, als es um die Durchsetzung
von Umgangsrechten des biologischen Vaters ging . Es
handelt sich also nicht um eine völlig neue Konstruktion . Nur wenn dem Kind ein solcher Weg zur Verfügung
steht, ist es verfassungsrechtlich vertretbar, im Gegenzug das Anfechtungsrecht des Kindes gegenüber dem
rechtlichen Vater mittels einer Elternschaftsvereinbarung
auszuschließen . Im Ergebnis wirkt die Elternschaftsvereinbarung wie eine Adoption, bei der das Kind ebenfalls
kein Anfechtungsrecht erhält .
Nach diversen Gesprächen im Vorfeld mit den Verbänden sowohl der Eltern als auch der Kinder kann ich
Ihnen sagen, dass der Ausgleich der durchaus gegenläufigen Interessen alles andere als banal ist. Die Eltern
wünschen keinen zusätzlichen Druck hinsichtlich der
Aufklärung ihrer Kinder durch einen Eintrag im Geburtenregister, während die Spenderkinder ins Feld führen,
dass die Aufklärungsrate mit geschätzten 10 Prozent
nach wie vor viel zu niedrig sei . Auf der anderen Seite
wollen die Spenderkinder gern an ihrem Anfechtungsrecht gegenüber dem rechtlichen Vater festhalten, was
aber die Rechtsunsicherheit aufseiten der Spender nicht
aufheben würde .
Ich glaube, dass unser Vorschlag das ausgewogene Ergebnis eines Abwägungsprozesses zwischen Auskunftsanspruch auf der einen Seite und Anfechtungsrecht auf
der anderen Seite ist . Ich bin gespannt auf die weiteren
Beratungen und die entsprechenden Vorschläge der Regierungsseite .
Vielen Dank .
({3})
Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
Vielen Dank . - Als nächste Rednerin hat Dr . Sabine
Sütterlin-Waack das Wort .
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Wo komme ich her? Von wem stamme ich ab? Für
alle Kinder gilt das Recht auf Herkunft . Darüber herrscht
Einigkeit . Konkrete, einfachgesetzliche Regelungen gibt
es zu diesem Anspruch allerdings bislang nicht . Vielmehr
leitet sich der Anspruch der Kinder, wie höchstrichterlich
festgestellt, aus den Artikeln 2 und 1 des Grundgesetzes,
dem Persönlichkeitsrecht, ab .
Ich stimme mit den Antragstellern überein, dass Regelungsbedarf besteht . Auch ist es richtig, dass sich die
Durchsetzung des Rechts auf Kenntnis der Abstammung
in der Realität oft als schwierig erweist . Kinder haben
aus den verschiedensten Gründen Schwierigkeiten, Kontakt zum Samenspender, zum biologischen Vater aufzunehmen . Die Väter sind oftmals in Sorge, dass sie nach
Anfechtung zum rechtlichen Vater gemacht werden und
sich damit Erb- und Unterhaltsansprüchen aussetzen . Es
ist zudem keine Seltenheit, dass Kliniken und Samenbanken wenig Ehrgeiz an den Tag legen, Kindern bei der
Durchsetzung ihrer Rechte hilfreich zur Seite zu stehen .
Zu groß ist die Angst, eines Tages keine Samenspender
mehr zu finden.
Der vorliegende Antrag geht grundsätzlich in die richtige Richtung,
({0})
in einigen Punkten schießt er aber über das Ziel hinaus
und ist deswegen auch abzulehnen .
({1})
Er enthält Regelungen, die auch Auswirkungen auf weite
Teile des Abstammungsrechts hätten . Hierfür bedarf es
einer gründlicheren Prüfung und eines schlüssigen Gesamtkonzepts . Ich verweise auf die für Sommer 2017 zu
erwartenden Ergebnisse des seit 2015 tagenden Arbeitskreises „Abstammungsrecht“ des Bundesministeriums
der Justiz und für Verbraucherschutz . Dort wird unter
Beteiligung von führenden Familienrechtlern, Verfassungsjuristen, Psychologen und Medizinethikern der
Frage nachgegangen, inwieweit unsere abstammungsrechtlichen Regelungen überhaupt noch passen . Fakt
ist, dass die modernen Technologien, die im Bereich der
Fortpflanzungsmedizin zur Verfügung stehen, zu Familienformen führen, die noch vor kurzem auch für den Gesetzgeber unvorstellbar waren . Sie stellen das deutsche
Familienrecht vor neue Herausforderungen .
({2})
Vor diesem Hintergrund finde ich es wenig hilfreich,
nur in einem Teilbereich des Abstammungsrechts vorschnell isolierte Regelungen zu schaffen . Damit meine
ich nicht, dass die Schaffung eines Samenspenderegisters eine schlechte Idee ist; sie ist sogar eine sehr gute,
wenn sie richtig umgesetzt wird . Um eine entsprechende
Umsetzung kümmert sich derzeit das in diesem Bereich
federführende Bundesgesundheitsministerium in enger
Abstimmung mit den Ressorts Justiz und Familie .
Dabei muss nochmals genauer geprüft werden - der
Antrag der Grünen ist hier nicht klar genug -, ob Kindern
nicht auch ein Recht auf Nichtwissen eingeräumt werden
soll .
({3})
Gemäß des Regelungsvorschlags der Grünen, also einer
Eintragung eines entsprechenden Vermerks in das Geburtenregister,
({4})
wird das Kind quasi zwangsweise über seine Entstehung aufgeklärt . Sollte es nicht der Initiative des Kindes
überlassen werden, herauszufinden, ob es durch eine Samenspende gezeugt wurde?
Als zu weitgehend sehen wir außerdem die Idee an,
das Kind solle gegenüber dem Vater feststellen lassen
können, ob der von der Klinik bzw . Samenbank benannte Spender tatsächlich sein biologischer Vater ist . Die
jüngste Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hat
deutlich gemacht, dass ein Auskunftsanspruch nicht absolut ist, also auch durch die Persönlichkeitsrechte des
mutmaßlichen Vaters eingeschränkt ist . Es ist zum Beispiel die Frage zu klären, ob ein Klärungsanspruch des
Kindes auch bei natürlicher Zeugung gegenüber jedem
mutmaßlichen biologischen Vater bestehen soll . Auch
hier halte ich eine Einbettung dieser und anderer Fragen
in die Arbeit des Arbeitskreises für sinnvoll .
Größere Probleme haben wir allerdings mit der sogenannten Elternschaftsvereinbarung . Auf den ersten Blick
erscheint diese sinnvoll, weil es Fälle gibt - aber es sind
wirklich nur Einzelfälle -, in denen ein nicht verheiratetes Paar sich für eine Insemination entscheidet und der
Wunschvater im Laufe der Schwangerschaft abspringt
oder die Mutter die Zustimmung verweigert . Hier schafft
zwar eine Elternschaftsvereinbarung auf den ersten Blick
einen Mehrwert an rechtlicher Sicherheit im Sinne des
Kindes . Bei näherem Hinsehen schleicht sich aber der
bittere Beigeschmack ein, dass hier eher auf die Interessen und die Wünsche der Eltern abgestellt wird .
Die Antragsteller konnten es nicht lassen, einen weiteren Versuch zu starten, Gesellschaftspolitik durch die
Hintertür zu betreiben .
({5})
Co-Mutterschaft und Co-Parenting sind Konzepte, die
sich, wie Sie wissen, nur schwer mit der Linie der Großen Koalition vereinbaren lassen .
({6})
Zusammengefasst: Es gibt durchaus Schnittmengen,
wie die Errichtung eines Registers oder den Vorschlag
zur Einrichtung einer Höchstgrenze von Samenspenden
eines einzelnen Spenders; auch der Verbesserung von
Beratungsangeboten stehen wir offen gegenüber . Aber
unter dem Strich trennt uns dann doch zu viel von dem
vorliegenden Antrag .
Danke schön .
({7})
Vielen Dank . - Als nächster Redner hat Jörn
Wunderlich von der Fraktion Die Linke das Wort .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Jedes Kind hat das Recht auf Kenntnis seiner Abstammung; wir haben es mehrfach gehört . In Deutschland
ist dieses Recht sogar verfassungsrechtlich geschützt;
das haben wir auch schon gehört . 1989 hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass dieses Recht vom
allgemeinen Persönlichkeitsrecht - Sie haben es gesagt,
Frau Kollegin Sütterlin-Waack - aus Artikel 2 und Artikel 1 Grundgesetz umfasst wird . Das war 1989, also vor
27 Jahren . Das entspricht genau der Altersgrenze für die
noch das KJHG gilt . Ich denke, es wird langsam Zeit, dass
sich etwas tut . Das geschieht auch nicht, wie die Kollegin
Sütterlin-Waack behauptet, übereilt oder vorschnell . Ich
meine, Zeit genug war . Im Koalitionsvertrag haben die
beiden Koalitionspartner vereinbart, dies rechtlich zu regeln, aber davon ist bislang noch nichts zu sehen .
({0})
Selbst nach dem Urteil des Bundesgerichtshofs vom
28 . Januar 2015 - das ist auch schon knapp eineinhalb
Jahre her -, das besagt, dass durch Samenspende gezeugte Kinder unabhängig vom Alter ein Recht auf Kenntnis
ihrer Abstammung haben, hat sich diesbezüglich nichts
getan . Um dieses Grundrecht grundsätzlich zu wahren,
hat der Bundestag im Jahr 2008 § 1598a BGB - er ist
auch schon erwähnt worden -, eingeführt, um eine Vaterschaftsfeststellung oder eine Abstammung unabhängig
von der Vaterschaftsanfechtung zu ermöglichen, um eben
nicht in dieses Rechtskonstrukt oder in diese rechtlichen
Beziehungen einzudringen oder sie zu ändern . Dies geschieht aber nur, um festzustellen, ob der rechtliche Vater
auch der leibliche Vater ist .
Gegen den Samenspender besteht ein solcher Anspruch auf Klärung nicht . Das haben wir damals leider
übersehen . Ich war damals auch Berichterstatter, wobei
ich aber auch nicht glaube, dass so ein Einwand, wenn er
von der Linken gekommen wäre, Gehör gefunden hätte .
Die übrigen Einwände fanden ja auch kein Gehör . Umso
mehr begrüßt die Linke jetzt den vorliegenden Antrag
der Grünen; denn schließlich ist nicht einzusehen, warum adoptierten Kindern die Möglichkeit eröffnet wird,
die Identität ihrer leiblichen Eltern zu erfahren und diese
kennenzulernen, ohne dass Rechtsbeziehungen zu ihnen
entstehen, durch Samenspende gezeugten Kindern aber
nur der Weg über die Vaterschaftsanfechtung bleibt, mit
allen rechtlichen Konsequenzen .
({1})
Bei adoptierten Kindern ist ein entsprechender Vermerk im Geburtenregister vorhanden und bleibt lebenslang zugänglich . Warum sollte dies nicht ebenso bei
Spenderkindern erfolgen, um ihnen diese Möglichkeiten
letztlich zu eröffnen? Anonymität bei Samenspende gibt
es nicht . Schon vor fast 50 Jahren, als die Samenspende
nicht mehr geächtet wurde, hatte die Bundesärztekammer darauf hingewiesen, dass anonyme Spenden eben
nicht möglich sind . Die meisten Samenbanken weisen
deshalb auf die rechtlichen Folgen einer möglichen Vaterschaftsfeststellung mit allen unterhaltsrechtlichen und
erbschaftsrechtlichen Folgen etc . hin .
Die Frage ist nach wie vor, wie sich die rechtlichen
Beziehungen zwischen Spender und Kind möglicherweise entwickeln können . Im Moment ist dies nur auf dem
Weg der Vaterschaftsfeststellung mit allen rechtlichen
Konsequenzen möglich, auch wenn sie weder vom Kind
noch von den Eltern noch vom Spender gewollt sind .
Hier setzt der Antrag der Grünen an, um ein Verfahren zu schaffen, das es Spenderkindern, ähnlich wie 2008
hier in diesem Haus beschlossen, ermöglicht, festzustellen, ob der angegebene Vater, nämlich der Spender, auch
der biologische Vater ist - deshalb der anonyme Randvermerk im Geburtenregister - man hat auch ein Recht
auf Nichtwissen - und die Forderung nach einem Melde- und Auskunftssystem, welches es ermöglicht, auf die
entsprechenden Spenderdaten zurückzugreifen . Gleichzeitig wird durch ein solches System gewährleistet, dass
die obligatorische Zahl von maximal zehn Kindern pro
Spender auch sichergestellt ist . Es wird zwar darauf hingewiesen, dass das nicht passieren soll, aber keine Samenbank kontrolliert, ob jemand nicht in der Samenbank
Berlin, in der Samenbank Bayreuth und in der Samenbank Hintertupfing spendet. Das würde durch ein solches
System gewährleistet .
Ob das von den Grünen geforderte Instrument der Elternschaftsvereinbarung die Wirkungen zeigt, die sich
die Grünen erhoffen, werden die Beratungen zeigen .
Ich freue mich jedenfalls darauf und auch auf die Änderungsanträge der Koalition .
Danke schön .
({2})
Vielen Dank . - Als nächste Rednerin hat Sonja Steffen
von der SPD-Fraktion das Wort .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Besucher auf der Tribüne! Die
Idee, dass ein Kind stets nur zwei Elternteile hat, ist in
der heutigen Zeit überholt . Es gibt Regenbogenfamilien,
es gibt Patchworkfamilien, es gibt rechtliche Eltern, es
gibt soziale Eltern, es gibt biologische Eltern . Genauso
überholt ist es, dass Kinder nur dann entstehen, wenn
die Eltern miteinander schlafen . Die moderne Reproduktionsmedizin macht es möglich, dass Kinder auch ohne
Sex entstehen können .
Seit langer Zeit nun sind bei uns schon anonyme Samenspenden erlaubt,
({0})
und sie verhelfen unfruchtbaren Männern und Frauen,
aber auch lesbischen Paaren und Singles zu einem Kind .
Inzwischen gibt es rund 100 000 sogenannte Spenderkinder, und in Deutschland kommen jährlich 1 500 Kinder hinzu . Ich glaube, eines ist für uns alle klar: Kind ist
Kind, und es ist völlig egal, auf welchem Weg die Zeugung erfolgt ist .
({1})
Aber jeder Mensch, jedes Kind sollte auch die Möglichkeit haben, zu erfahren, wer seine Eltern sind; denn die
Frage nach der Herkunft quält . Bei der Vorbereitung zu
dieser Rede habe ich mich auch mit Gedanken und Beiträgen von betroffenen Personen beschäftigt . Ein Zitat
lautete beispielsweise: Es ist so, als würde mir ein Körperteil fehlen. - Das kann man gut nachempfinden. Auch
wenn es keine verbindlichen Zahlenwerte dazu gibt, ist
davon auszugehen, dass die Unwissenheit über die eigene Herkunft zu schweren psychischen Problemen führen
kann .
Wir haben es schon gehört: Es gehört zu den Persönlichkeitsrechten eines Menschen, seine genetische
Herkunft zu erfahren . Das Bundesverfassungsgericht ist
schon zitiert worden . Das steht auch in der UN-Menschenrechtskonvention . Auch der Europäische Gerichtshof für
Menschenrechte hat das so entschieden . Allerdings hat
unser Recht bislang eine Lücke . Deshalb begrüßen wir
grundsätzlich den Vorstoß der Grünen, den sie mit ihrem
Antrag unternehmen . Allerdings sind wir bereits dabei darauf hat Frau Sütterlin-Waack schon hingewiesen -,
diese Lücke zu schließen . Das Bundesjustizministerium
hat 2015 eine Kommission eingerichtet, die aus vielen
Experten besteht . Nicht nur Juristen, sondern auch Mediziner sind dabei . Es geht auch um ethische Fragen . Man
kümmert sich also bereits um diese Angelegenheit . Ich
hoffe, dass wir da zu guten Ergebnissen kommen .
Ich will noch ein paar Gedanken loswerden .
Bevor Sie fortfahren, Frau Steffen, möchte ich Sie fragen: Lassen Sie eine Zwischenfrage zu? - Bitte .
Vielen Dank, Frau Kollegin, dass Sie die Zwischenfrage zulassen . Es ist erfreulich, dass es eine Kommission aus Juristen und Medizinern gibt, die sich damit
beschäftigt . Ich frage Sie: Sind denn die Vereine der
Wunscheltern und der Verein Spenderkinder an diesem
Prozess beteiligt, und wenn nein, warum nicht?
Die Kommission ist ja mitten in der Arbeit . Ursprünglich sollte das Ergebnis im Sommer 2017 feststehen . Das
ist noch eine lange Zeit. Ich finde, das ist fast ein bisschen zu lange, weil wir wissen, dass diese Legislaturperiode 2017 zu Ende sein wird .
({0})
Daher hoffe ich, dass wir früher zu Ergebnissen kommen .
Übrigens hoffe ich - damit nehme ich das Ende meiner
Rede vorweg -, dass wir im Gesetzgebungsverfahren
wirklich überfraktionell arbeiten können .
In dem Zusammenhang werden auch Verbände beteiligt werden . Ich weiß, dass ein großes Forum geplant
ist, dass auch entsprechende Anhörungen durchgeführt
werden sollen . Ich bin mir sicher, sehr sicher, dass daran
auch Verbände beteiligt werden .
({1})
Der BGH hat 2015 ausdrücklich den Auskunftsanspruch des Kindes gegen den Arzt, also gegen den Reproduktionsmediziner, hinsichtlich des Samenspenders
anerkannt . Allerdings - darauf hat Frau Sütterlin-Waack
schon hingewiesen - gab es im April 2016 eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, in der es zwar nicht
um Samenspender ging, die aber dennoch bedeutsam ist .
Es ging - die Juristen werden sich erinnern - um eine
66-jährige Frau, die festgestellt wissen wollte oder zumindest einen Auskunftsanspruch hinsichtlich des mutmaßlichen Vaters geltend machen wollte . Das war ein
hochbetagter Herr von 92 Jahren . Der Vater hat gesagt:
„Das will ich nicht“, und das Bundesverfassungsgericht
hat gesagt: Das darf er, weil er das Recht hat, seine außereheliche Beziehung zu verheimlichen . - Das Urteil ist
nun einmal da . Im Gegensatz zu Frau Sütterlin-Waack
halte ich es, ehrlich gesagt, für nicht zufriedenstellend
und vielleicht ein bisschen männerlastig,
({2})
weil das Recht auf informationelle Selbstbestimmung
hier höher bewertet wurde als das Recht auf Auskunft .
Noch ein paar Gedanken zu dem Antrag selbst . Zur
Aufbewahrungsdauer von medizinischen Daten haben
Sie gesagt: Das sollen 100 Jahre sein . In der Kommission
müssen wir darüber reden, ob man tatsächlich eine Frist
von 100 Jahren benötigt . Im Moment sind es, glaube ich,
nur 30 Jahre . Das ist mit Sicherheit zu wenig .
Dann stellt sich folgende Frage: Sollen wir die Zahl
der Spenden limitieren? Es gibt ja Feststellungen, nach
denen 100 Kinder von einem Samenspender gezeugt
worden sind . Das ist, denke ich, nicht das, was man sich
wünscht . Da sollte es eine Reduzierung geben .
Zuletzt will ich noch Folgendes sagen: Die Zeiten haben sich geändert . Wir müssen und sollten den Kindern
zuliebe Regelungen schaffen, die es wirklich jedem und
jeder ermöglichen, soweit das möglich ist, zu erfahren,
wessen Herkunft er oder sie ist . Ich hoffe, dass wir zu
einem überfraktionellen Ergebnis kommen, weil es sich
hier um eine ethische Frage handelt . Da sollten wir, denke ich, alle zusammenarbeiten .
({3})
Vielen Dank . - Nächster Redner für die CDU/
CSU-Fraktion ist der Kollege Alexander Hoffmann .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Wir haben in Deutschland keine
Zahlen oder genauen Erkenntnisse über die Anzahl der
durch Samenspenden gezeugten Kinder . Nach Expertenschätzungen dürften es über 100 000 sein . Ebenso wenig
liegen Erkenntnisse dazu vor, wie viele Kinder überhaupt
wissen, dass sie das Produkt einer Samenspende sind .
Was wir aber wissen, ist, dass ein solcher Sachverhalt
für alle Beteiligten rein von der menschlichen Seite ein
unglaublich sensibles Thema ist . Er ist sicherlich persönlich bewegend, und er ist auch voll mit psychologischem
Sprengstoff .
Zudem reden wir - ich denke, auch das ist in der Debatte schon klar geworden - über eine ungeheuer komplexe juristische Materie . Das ist bei der letzten Grundsatzentscheidung des BGH vom 28 . Januar 2015 deutlich
geworden . Wenn wir bei der juristischen Bewertung sind,
dann muss man ganz ehrlich feststellen, dass dieser Bereich in Deutschland bislang gesetzlich nur unzureichend
geregelt ist .
({0})
Deswegen hat die Große Koalition aus CDU, CSU
und SPD - auch das ist schon angeklungen - im Koalitionsvertrag das Ziel formuliert, dass wir das Recht des
Kindes auf Kenntnis seiner Herkunft gesetzlich regeln
wollen . Deswegen bin ich sehr dankbar - auch das ist
schon angeklungen -, dass im Jahr 2015 im Justizministerium eine Kommission eingerichtet wurde, ein Arbeitskreis „Abstammungsrecht“, dessen Ergebnisse wir im
Sommer 2017 erwarten .
Jetzt kann man natürlich sagen: Das dauert zu lange . Wir haben so viel Zeit zugebracht . - Aber ich warne
vor dieser vorschnellen Beurteilung . Denn dieser Arbeitskreis hat ja noch andere Themenfelder als nur die
Samenspende im Blick . So wirft er einen Blick auf die
Frage der Leihmutterschaft und auch auf die verwandten
Fragestellungen der Eizellenspende . Wenn wir den ernsthaften Willen haben, eine schlüssige Gesamtkonzeption
zu entwickeln, dann, glaube ich, sollten wir uns auch die
Zeit nehmen, alle miteinander verwandten Themenfelder
in diesem Bereich gleichzeitig zu regeln .
({1})
Deswegen verbietet sich meines Erachtens zu diesem
Zeitpunkt eine isolierte Vorabregelung . Wenn wir uns
jetzt auf den Weg zu dieser Gesamtkonzeption „Abstammungsrecht“ - so will ich es einmal nennen - begeben,
dann wird uns da eine Vielzahl sehr diffiziler Rechtsfragen begegnen . Das betrifft zum Beispiel - dies wird auch
in Ihrem Antrag formuliert - die Eintragung eines entsprechenden Vermerkes im Geburtenregister . Ich glaube,
dass wir das Recht auf Nichtwissen alleine durch die Anonymität, Herr Wunderlich, nicht wahren können . Vielmehr bräuchten wir so etwas wie einen Blindvermerk,
sodass nur auf ausdrücklichen Wunsch Informationen
herausgegeben werden .
Ich kann mich mit Ihren Überlegungen durchaus anfreunden, wenn Sie sagen: Das Verfahren zur Aufklärung
der Abstammung lehnen wir an § 1598a BGB an . Nur, da
müssen wir auch daran denken, dass es eine jüngere Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gibt, die gerade bei § 1598a weiteren Klärungsbedarf beim Gesetzgeber sieht . Es muss geklärt werden, ob es nicht einen
generellen Klärungsanspruch gegenüber jedem mutmaßlichen biologischen Vater gibt . Das ist in der Norm aktuell nicht so . Es muss vonseiten des Gesetzgebers auch
die Frage geklärt werden, ob im Rahmen der Norm nicht
auch jeder mutmaßliche biologische Vater zum Kreis der
Klärungsberechtigten gehört . Auch das wird eine Fragestellung in diesem Arbeitskreis sein .
Am Ende noch zwei, drei Sätze zur Elternschaftsvereinbarung . Sie würde nach Ihrer Forderung auch bei
verheirateten Wunscheltern gelten . Das bedeutet aber in
der Konsequenz, dass wir dann zu einem Paradigmenwechsel kommen, weil wir von unserem Institut der Vaterschaftsvermutung, so wie § 1592 BGB es kennt, wegkommen . Da sage ich: Wir sollten uns die Zeit nehmen,
uns ausreichend die Frage zu stellen, ob wir das wollen,
zumal diese Elternschaftsvereinbarung unanfechtbar sein
soll; das soll auch für das Kind gelten . Auch da, glaube ich, sollten wir uns die Zeit nehmen, uns das gut zu
überlegen . Denn Lebenssachverhalte können sich ja im
Laufe von 10 oder 20 Jahren ändern, und das Kind kann
unter Umständen den Wunsch nach einer Vaterschaftskonstellation entwickeln . Ich glaube, dass das Institut,
das Sie dann anbieten, nämlich die einfache Adoption,
dafür nicht ausreicht .
Meine Damen, meine Herren, ich glaube, all diese
Ausführungen haben deutlich gemacht, dass sich eine
isolierte Vorabregelung in diesem Bereich verbietet . Wir
brauchen ein schlüssiges Gesamtkonzept . Das sollten wir
mit Unterstützung des Arbeitskreises ansteuern . Darauf
freue ich mich .
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
({2})
Vielen Dank . - Nächster Redner ist Matthias Bartke,
SPD-Fraktion .
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
möchte Ihnen eingangs von Mia berichten, Mia F ., die
mithilfe einer anonymen Samenspende gezeugt wurde .
Mit 17 Jahren hat Mia in einem Familienstreit erfahren,
dass ihr Vater gar nicht ihr richtiger Vater ist . Als sie das
erfahren hat, war sie am Boden zerstört . Sie fand, ihre
Eltern hätten sie jahrelang belogen . Zermürbender ist für
sie allerdings die nun schon zehnjährige Suche nach ihrem biologischen Vater . Sie weiß zwar, dass sie in der
Berliner Charité gezeugt wurde; das ist aber auch alles .
Wenn Kinder erst spät oder vielleicht sogar nur zufällig
davon erfahren, dass sie Samenspenderkinder sind, ist
das für viele traumatisierend . Die Suche nach dem Vater
kann dann zur beherrschenden Lebensaufgabe werden .
Die Spenderkinder wollen wissen, welche Gene sie in
sich tragen, welche Charaktereigenschaften sie vielleicht
geerbt haben .
Das Bundesverfassungsgericht - das wurde gesagt hat 1988 das erste Mal das Recht jedes Menschen auf
Kenntnis seiner genetischen Abstammung bestätigt .
Spenderkinder rennen jedoch bei ihrer Suche nach dem
Erzeuger immer noch regelmäßig gegen Wände . Viele
Reproduktionsmediziner haben den Samenspendern Anonymität versprochen und die Spenderdaten vernichtet .
Letzten Monat hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass das Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung nicht absolut ist . Stattdessen muss es mit widerstreitenden Grundrechten in Ausgleich gebracht werden .
Das Bundesverfassungsgericht hat aber ausdrücklich den
Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers betont .
({0})
Er kann den Anspruch auf eine rechtsfolgenlose Abstammungsklärung einführen .
({1})
Es war daher richtig und wichtig, dass wir im Koalitionsvertrag vereinbart haben, die Rechte der Spenderkinder zu stärken . Sinnvoll sind ausdrückliche Regelungen
zum Recht des Kindes auf Kenntnis seiner Herkunft Frau Sütterlin-Waack, ich würde ergänzen: auch des
Rechts auf Nichtkenntnis -, die Einrichtung eines zentralen Samenspenderregisters und eine Regelung zur
Freistellung des Samenspenders von jeder rechtlichen
Inanspruchnahme .
Meine Damen und Herren, ich setze darauf, dass wir
den entsprechenden Gesetzentwurf noch in dieser Legislaturperiode hier beraten können .
Ich danke Ihnen .
({2})
Vielen Dank . - Das war der letzte Redner zu diesem
Tagesordnungspunkt .
Die Fraktionen haben interfraktionell vereinbart, dass
die Vorlage auf Drucksache 18/7655 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen wird . Ich sehe, dass Sie damit einverstanden sind . Dann ist die
Überweisung so beschlossen .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der „United Nations
Interim Force in Lebanon“ ({0}) auf
Grundlage der Resolution 1701 ({1}) und
nachfolgender Verlängerungsresolutionen des
Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, zuletzt Resolution 2236 ({2}) vom 21. August
Drucksache 18/8624
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({3})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen . - Ich höre keinen Widerspruch . Dann ist so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache . Das Wort hat für die Bundesregierung der Staatsminister Michael Roth .
({4})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Anfang Mai dieses Jahres bin ich in den Libanon gereist .
Ich konnte mir vor Ort selbst ein Bild von der aktuellen Lage machen . Mein ganz persönlicher Eindruck wird
sicherlich von vielen Kolleginnen und Kollegen geteilt:
Das Land steht vor gewaltigen Bewährungsproben . Die
Gräben zwischen den konfessionellen und politischen
Gruppen sind tief . Die Suche nach einem Präsidenten ist
seit nunmehr zwei Jahren erfolglos geblieben .
Die Syrien-Krise hat die ohnehin schon schwierige
Gemengelage noch weiter verkompliziert: Seit 2012 hat
der Libanon weltweit pro Kopf die meisten Flüchtlinge aufgenommen, nämlich über 1 Million bei 4,5 Millionen Einwohnern . Schulen und Krankenhäuser sind
dramatisch überlastet, der Wohnraum ist knapp, Mieten
und Lebenshaltungskosten sind enorm gestiegen . Zwar
gelangt mittlerweile viel internationale Hilfe ins Land die Bundesregierung zählt im Übrigen zu den größten
Gebern -; doch die sozialen Spannungen zwischen Libanesen und den syrischen Flüchtlingen können damit nur
teilweise abgefedert werden .
Der Syrien-Konflikt wirkt sich eben auch auf die Sicherheitslage aus . Im syrisch-libanesischen Grenzgebiet
ist die Terrororganisation „Islamischer Staat“ präsent und
versucht immer wieder, auch in den Libanon vorzudringen . Allen Schwierigkeiten zum Trotz hat die libanesische
Armee bislang verhindert, dass die Terrororganisation im
Libanon Fuß fassen konnte . In der Bevölkerung - diesen
Eindruck werden diejenigen bestimmt teilen, die selber
einmal im Libanon waren - genießt die Armee enorm
hohes Ansehen und gilt als glaubhaft überkonfessionelle Institution . Allein schon deshalb ist und bleibt unsere
Unterstützung für die libanesischen Streitkräfte mit Ausbildung und Ausrüstung so wichtig .
Aber die Situation im Libanon bleibt eben auch sehr
schwierig: sicherheitspolitisch, humanitär, sozial und
wirtschaftlich . Da kann man die stabilisierende Rolle der
VN-Mission UNIFIL gar nicht hoch genug einschätzen,
und dabei geht es mir in erster Linie gar nicht einmal
um deren militärische Bedeutung allein . Die Mission ist
ein immens wichtiges politisches Symbol . Sie steht für
die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft . Wir
sind einem stabilen, friedlichen Libanon verpflichtet, und
unsere klare Botschaft lautet: Wir lassen das Land in dieser so schwierigen Lage nicht alleine .
Angesichts der Fliehkräfte, die dort derzeit wirken,
ist es wichtiger denn je, UNIFIL als Stabilitätsanker zu
erhalten; denn es ist für uns von herausragendem sicherheits- und außenpolitischem Interesse, dass der Libanon
stabil bleibt bzw . stabiler wird . Dies ist angesichts der
dramatischen Lage im Nachbarland Syrien und der vielen Flüchtlinge, die derzeit im Libanon leben, alles andere als selbstverständlich .
Der zentrale Beweggrund für die Mission bleibt ja
bestehen: Der Waffenstillstand zwischen Libanon und
Israel darf nicht infrage gestellt werden. Derzeit finden
einzig und allein unter dem Dach von UNIFIL direkte
Gespräche zwischen Israel und Libanon statt . Diplomatisch erkennen sich die Staaten nach wie vor nicht an;
aber sie akzeptieren und schätzen UNIFIL als wertvollen
Mechanismus zur Streitschlichtung .
In den vergangenen Jahren hat auch UNIFIL einige
Male eine militärische Eskalation verhindern können .
Hierzu zählten beispielsweise der Tod eines israelischen
Soldaten durch Schüsse eines libanesischen Soldaten im
Jahr 2015 oder zuletzt, im Januar 2016, ein Anschlag
der Hisbollah gegen eine israelische Grenzpatrouille . In
beiden Fällen konnte UNIFIL durch die Einleitung von
Untersuchungen und die anschließende Vermittlung zwischen den Konfliktparteien einen wichtigen Beitrag zur
Deeskalation leisten .
UNIFIL, meine sehr verehrten Damen und Herren,
hat zwei Komponenten . Dies ist einmal die Komponente
zu Land . Sie entlastet die libanesische Armee bei ihrem
Kampf gegen den Terrorismus, insbesondere entlang der
syrisch-libanesischen Grenze . Sie sorgt damit indirekt
auch für Stabilität und Sicherheit an der libanesischen-israelischen Grenze .
Die zweite Komponente, die auf See - hierbei engagiert sich seit Beginn auch Deutschland -, trägt ebenfalls zur Sicherheit bei . UNIFIL hilft von der Seeseite
her, die Grenzen des Libanon abzusichern, und meine
Gesprächspartner, die ich im Libanon getroffen habe,
bestätigten mir noch einmal, dass diese gemeinsame Seeüberwachung sehr erfolgreich ist .
Darüber hinaus umfasst das Mandat der maritimen Mission eben auch eine Ausbildungskomponente .
Aber - das wissen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen - die Bundesregierung leistet eben nicht nur militärische Unterstützung . Vielmehr ist sie in humanitäre
Hilfe eingebettet und wird durch Entwicklungszusammenarbeit ergänzt . Wir engagieren uns für die Region .
Wir haben die Entwicklungszusammenarbeit seit diesem
Jahr wieder bilateral ausgerichtet .
Wir werden alleine in diesem Jahr 300 Millionen Euro
Hilfen zur Verfügung stellen: im Bereich der humanitären Hilfe und im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit . Wir sind damit der größte bilaterale Geber . Mit
der libanesischen Regierung sind wir im engen Kontakt
darüber, wofür wir das Geld sinnvoll verwenden können .
Besonders wichtig ist mir der ganze Bereich der Bildung
und Ausbildung . Wir möchten die libanesische Regierung dabei unterstützen, ab dem kommenden Schuljahr
jedem Flüchtlingskind und jedem libanesischen Kind
den Zugang zu Bildung zu ermöglichen . Darauf haben
wir uns mit dem Libanon auf der Londoner Geberkonferenz für Syrien und seine Nachbarländer verständigt .
Ich habe eine von UNICEF und von uns geförderte
Schule in der Bekaa-Ebene besucht . Hier werden auf
ganz eindrucksvolle Weise im Zweischichtbetrieb libanesische und syrische Kinder teilweise gemeinsam im
Unterricht beschult . Das ist wirklich gut angelegtes Geld,
liebe Kolleginnen und Kollegen .
({0})
Wir können dieses Engagement nicht einfach so von
der militärischen Komponente abtrennen . Deshalb werbe
ich für unser Gesamtengagement . Ich kann Ihnen versichern: Dieses Engagement wird vor Ort enorm geschätzt,
weil wir als ein verlässlicher Partner gelten, der seinen
abstrakten Zusagen auf Geberkonferenzen konkrete Taten folgen lässt . Entsprechend sollte das Bundestagsmandat, liebe Kolleginnen und Kollegen, für die deutsche
Beteiligung am UNIFIL-Flottenverband mit unveränderter Personalobergrenze von 300 Soldatinnen und Soldaten um weitere zwölf Monate bis zum 30 . Juni 2017
verlängert werden .
Damit handeln wir nicht nur gemäß unserem eigenen
Interesse an Stabilität und Frieden in der Region . Wir
entsprechen damit auch dem ausdrücklichen Wunsch Israels, des Libanons und der Vereinten Nationen . Deshalb
bitte ich Sie im Namen der Bundesregierung um Ihre Unterstützung .
Vielen Dank .
({1})
Nächster Redner ist der Kollege Wolfgang Gehrcke,
Fraktion Die Linke .
({0})
Danke sehr, Frau Präsidentin . - Ich bitte Sie: Erinnern
Sie sich zurück an das Mandat 2006, durch Resolution
des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen begründet . Insofern stellt sich nicht die Frage, ob das Mandat völkerrechtlich begründet ist - das ist es - und erlassen worden
ist . Schauen Sie sich ein bisschen selbstkritischer an, was
seitdem passiert oder nicht passiert ist .
Ich war 2006 in Beirut, nachdem der Libanon von Israel mit Raketen angegriffen worden ist und ein Teil des
Libanons von der israelischen Armee abgeriegelt worden
ist . In Beirut hat man sehr genau gemerkt, dass die Raketen gezielt auf die schiitischen Stadtviertel abgeschossen
worden sind und nicht auf die christlichen Stadtviertel .
Mir ist das im Grunde wurscht, weil ich überhaupt nicht
möchte, dass Raketen auf Menschen abgeschossen werden . Das ist das Entscheidende .
Bei dem Mandat selbst lautete die Begründung - die
fand ich akzeptabel -, dass wahrscheinlich der Krieg Israels gegen den Libanon und die Abriegelung des Libanons
nur über eine Aktion der Vereinten Nationen zu stoppen
sind . Das war die Ausgangslage . Bei dieser Ausgangslage muss man sich natürlich fragen: Warum ist es eigentlich so zwingend notwendig, dass sich Deutschland auch
im Nahen Osten an solchen Aktionen mit militärischen
Formationen beteiligt? Ich halte das für falsch, ich halte
das für grundfalsch .
({0})
Ich glaube, dass Deutschland im Nahen Osten sehr
viele andere Aufgaben hat statt solcher militärisch begründeten Aktionen . Meine Sorge war auch: Wenn man
das einmal begonnen hat, wird man sich bei anderen
Konflikten nur schwer raushalten können.
({1})
- Ja, ich möchte, dass wir uns raushalten . Ich möchte,
dass zu einer Politik der militärischen Zurückhaltung zurückgekehrt wird . Das ist mir sehr wichtig .
({2})
Deswegen haben wir gesagt: Es gibt eine Begründung
der Vereinten Nationen . Aber es gibt keine Begründung
dafür, warum Deutschland an diesem Mandat militärisch
beteiligt sein muss .
({3})
- Ja, die UN sind auch ohne Deutschland handlungsfähig . Warum wollen Sie auch über die Vereinten Nationen
immer deutsche Großmachtpolitik durchsetzen? Es gibt
sehr viele andere Möglichkeiten .
({4})
- Ja, ich war häufiger im Libanon.
Sie sehen, dass ein Schritt den anderen nach sich zieht .
Mittlerweile sind wir über den Tornado-Einsatz auch in
Syrien militärisch beteiligt . Wir haben übrigens diese
Woche beim Verfassungsgericht unsere Klage gegen den
Tornado-Einsatz eingereicht .
({5})
Ich bin mir sehr sicher, dass das Verfassungsgericht nicht
die Position der Bundesregierung bestärken wird .
Wir möchten auch angesichts der deutschen Geschichte, dass Deutschland sich zumindest im Nahen Osten
komplett aus Militäraktionen raushält .
({6})
Wenn Sie es wollen, dann gibt es genügend andere Möglichkeiten, den Libanon zu unterstützen, die aber alle
nicht genutzt werden . Man könnte im Libanon sehr viel
mehr machen, um Vermittlungsgespräche zu führen .
({7})
Ich weiß, dass Sie - gerade auch die SPD - in Ihrer
Außenpolitik verdeckt immer mit der Hisbollah reden
und verhandeln. Das finde ich eigentlich ganz in Ordnung, dass Sie das machen .
({8})
- Verdeckt; Sie machen es ja nicht offiziell.
Ich finde es ganz in Ordnung, dass man alle Möglichkeiten nutzt, um von der Gewalt wegzukommen .
({9})
- Ja, verdeckt machen Sie das . Sie sagen ja nicht: „Wir
reden mit der Hisbollah“, sondern „Wir reden mit der
Regierung“ oder „Wir reden mit dem Parlament“ . Darin
sitzen sie aber mit 40 Prozent der Mandate .
({10})
Das wissen Sie doch auch . Sie bekennen sich aber nicht
zu dem, was man an Politik betreiben muss .
Ich bitte Sie sehr, das Mandat nicht zu verlängern und
mit Israel deutlicher darüber zu reden, dass Israel aus dieser Zwangssituation rauskommen muss . Das ist doch das
Entscheidende: dass man stärker auf die Politik setzt als
auf das Militär . Und zumindest im Nahen Osten sollte
sich Deutschland komplett raushalten . Sie kommen sonst
in eine Situation, die auch Sie nicht mehr bewältigen .
Danke .
({11})
Vielen Dank . - Für die CDU/CSU-Fraktion spricht
jetzt der Kollege Jürgen Hardt .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Bundesregierung hat uns einen Antrag auf Verlängerung des UNIFIL-Mandats vorgelegt, einen wohlbegründeten und wohldurchdachten Antrag zu einem Einsatz,
der seit vielen Jahren den Frieden in der Region stabilisiert .
Lieber Herr Gehrcke, der Linkenfraktion ist kein Argument zu dürftig, um fadenscheinige Gründe dafür zu
finden, sehr vernünftige Dinge wie zum Beispiel dieses
UNIFIL-Mandat abzulehnen . Was die deutsche Beteiligung angeht, ist allein die Tatsache, dass Israel diese
deutsche Beteiligung zum Schutz dieses Landes außerordentlich schätzt, für mich Argument genug dafür, dass
wir mit einer deutschen Einheit an diesem Verband beteiligt sind .
({0})
Gegenwärtig sind 135 Soldaten im Einsatz . Die Korvette „Erfurt“ ist seit über fünf Monaten dort unterwegs .
Sie darf am 11 . Juni an die Hohe Düne zurückverlegen
und wird dann durch die Korvette „Braunschweig“ abgelöst . Wir sind mit unseren modernsten Einheiten an
diesem Einsatz beteiligt und leisten dort einen, wie ich
finde, sehr wichtigen und verantwortungsvollen Beitrag.
Denn die Situation im Libanon ist durch den seit Jahren
andauernden Bürgerkrieg in Syrien nicht besser geworden .
Es gibt erstens eine hohe Zahl von Flüchtlingen in
diesem Land . 30 Prozent der libanesischen Bevölkerung
haben einen Flüchtlingshintergrund . Zweitens hat im
Grenzgebiet zu Syrien die Gefahr, dass auf illegale Weise Waffen den Besitzer wechseln, enorm zugenommen .
Es gibt auch von außen weiterhin Einfluss auf Kräfte, die
terroristische Aktivitäten aus dem Libanon heraus zum
Beispiel gegen Israel vorbereiten könnten . Von daher ist
dieser Einsatz, wie ich finde, nicht nur notwendig, sondern er ist geradezu wichtiger denn je .
Ich möchte den Scheinwerfer auch auf einen ganz
wesentlichen Aspekt lenken, der eben keine militärische
Komponente ist, nämlich die vermittelnde Funktion dieses UNIFIL-Einsatzes . Es gibt Dreiparteiengespräche,
bei denen zwischen Libanon und Israel im Vorfeld Dinge
geklärt und bereinigt werden - vielleicht Kleinigkeiten,
die sich aber zu großen Problemen auswachsen können -, ohne dass eine der beiden Seiten das an die große
Glocke hängen muss . Das ist auch ein Mediationsbeitrag
zum Frieden in der Region, der meines Erachtens nicht
hoch genug eingeschätzt werden kann .
Deutschland nimmt wie bei allen Auslandseinsätzen
den Auftrag, der damit ergangen ist, in besonderer Weise
ernst . Wir machen eine solide und gute Ausbildung bei
libanesischen Marinesoldaten, die zunehmend die Aufgaben des Schutzes der Küste selber übernehmen müssen. Zwei libanesische Offiziersanwärter machen ihre
Ausbildung an der Marineschule Mürwik, der schönsten
Kaserne Europas, und werden dort nach deutschem Maßstab zu Offizieren ausgebildet.
Ich kann Ihnen aus der Erfahrung sagen, dass diese
Ausbildung an deutschen Offiziersschulen nicht nur bedeutet, dass dort deutsche Fertigkeiten vermittelt werden,
sondern auch, dass ein Stück weit eine deutsche Wertehaltung vermittelt wird, wie man Soldaten führt, wie man
mit Soldaten umgeht, wie man in modernen Streitkräften
Menschenführung gestaltet . Von daher, glaube ich, ist
das nicht zu unterschätzen . Die Bundeswehr mit ihrem
modernen Ansatz, Streitkräfte zu führen, ist ein Vorbild .
Der Einsatz ist wichtig, er ist natürlich auch nicht ganz
billig . Wenn ich es richtig gesehen habe, sind 32,2 Millionen Euro für die Verlängerung des Mandats bis Juni 2017
in den Etat eingestellt worden .
Wir als CDU/CSU-Fraktion werden dieses Mandat in
den Ausschüssen sorgfältig beraten . Ich habe das sichere
Gefühl, dass wir dem Antrag der Bundesregierung, lieber
Herr Staatsminister, uneingeschränkt zustimmen können
und dass wir angesichts der gegenwärtigen Situation diesem Antrag unsere Zustimmung nicht verweigern werden .
Herzlichen Dank .
({1})
Vielen Dank . - Nächste Rednerin ist die Kollegin
Agnieszka Brugger für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Es grenzt doch an ein Wunder, dass in der
krisengeplagten und von Gewalt erschütterten Region
des Nahen und Mittleren Ostens ein kleines Land trotz
gewaltiger eigener Probleme, Rückschläge und Herausforderungen nicht auch noch in Instabilität und Chaos
abgleitet: der Libanon .
Die Menschen dort leiden unter der korrupten und ineffizienten Verwaltung, ob es sich um Wasser, Elektrizität oder die Entsorgung von Müll handelt . Die politische
Situation ist nach wie vor mehr als schwierig . Seit 2014
konnten sich die zerstrittenen Kräfte im Parlament immer
noch nicht auf einen Präsidenten einigen . Es gibt Waffen
in gefährlichem Überfluss und in den falschen Händen
sowie zahlreiche politische, aber auch bewaffnete und
terroristische Gruppierungen, die bewusst ethnische und
konfessionelle Spannungen schüren und versuchen, den
Libanon auch in den Strudel der Gewalt des Syrien-Konflikts hineinzuziehen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die größte, immense Herausforderung für die Menschen im Land, das bei
Weitem politisch nicht so stabil und wirtschaftlich so
wohlhabend ist wie viele europäische Länder, ist aber
die hohe Zahl der Flüchtlinge . Wenn Politiker ohne Herz
und Hirn in Deutschland über Belastungsgrenzen klagen,
dann sollten sie sich vielleicht einmal klarmachen, dass
im Libanon seit Jahren jeder vierte Mensch ein Flüchtling ist .
Ich kann es bis heute nicht fassen, dass trotz aller
Gipfelbilder und schönen Absichtsbekundungen sich die
reichen Staaten dieser Welt weigern, die Menschen im
Libanon bei dieser schwierigen Aufgabe zu unterstützen .
Die Programme sind nur zu einem Bruchteil ausfinanziert - ungefähr ein Viertel -, und, Herr Staatsminister,
dann ist es doch mehr als beschönigend, wenn Sie hier
davon sprechen, dass man den Libanon nicht alleinlassen
darf .
({0})
Es ist aber nicht nur herzlos und zynisch, sondern es ist
auch sicherheitspolitisch kurzsichtig und brandgefährlich .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei allen schlechten,
schrecklichen und deprimierenden Nachrichten aus der
Region muss man aber auch eines feststellen: Die Friedensmission der Vereinten Nationen UNIFIL ist eine jahrelange Erfolgsgeschichte . Sie hat nicht nur 2006 dazu
beigetragen, den Krieg zwischen Libanon und Israel zu
beenden, sondern sie ist auch heute noch - zehn Jahre
später - ein unverzichtbarer Beitrag zu Gewaltprävention, zu Friedenserhaltung, zu Konfliktlösungen und zum
Dialog .
({1})
Wir müssen nur den Beginn dieses Jahres anschauen,
als es einen Anschlag der Hisbollah gab, der dann auch
mit einem israelischen Militärschlag beantwortet wurde .
Es braucht doch wirklich nicht viel Fantasie, sich vorzustellen, wie aus einem solchen Vorfall eine neue Eskalationsdynamik entstehen kann, eine weitere Krise in der
Region oder ein Aufflammen alter Konflikte. Das wäre
doch verheerend . UNIFIL ist im Libanon genau die Mission, die das verhindert .
Es ist das einzige Forum, das direkte Gespräche zwischen den beiden Parteien Israel und Libanon ermöglicht .
Und, Herr Gehrcke, weil Sie die Frage gestellt haben,
warum sich Deutschland daran noch beteiligen muss,
sage ich Ihnen: Wir wurden nicht nur damals von beiden
Staaten darum gebeten, sondern wir werden auch heute
wiederholt darum gebeten . Sie bitten um den deutschen
Beitrag, und sie honorieren ihn ausdrücklich . Die Mission übernimmt aber auch Aufgaben in den Bereichen
Grenzsicherung und Unterbindung des Waffenschmuggels über den Seeweg oder im Rahmen der Ausbildung
der libanesischen Sicherheitskräfte .
Auch wenn es manchmal schwerfällt, positive Entwicklungen auszumachen, und auch wenn klar ist, dass
ein Waffenstillstand und eine Friedensmission nicht automatisch sicheren und gefestigten Frieden bedeuten,
darf man die Erfolge von UNIFIL nicht kleinreden . Vielmehr müssen sie bewahrt und fortgeschrieben werden .
Es wäre falsch und fatal, die Mission zu beenden . Es ist
aber auch gefährlich, angesichts der höchst fragilen Lage
zu glauben, dass sie allein Stabilität und Sicherheit gewährleistet . Ja, die Aufnahmebereitschaft der Menschen
im Libanon ist sehr beeindruckend . Aber ohne weitere
internationale Hilfe - diese darf nicht so halbherzig sein
wie in den vergangenen Jahren - wird das, was in der
Vergangenheit erreicht wurde, fahrlässig aufs Spiel gesetzt . Daher möchte ich mit dem Appell an die Bundesregierung und an die anderen reichen Staaten dieser Welt
enden, ihre humanitäre Verantwortung für die Menschen
im Libanon und die Flüchtlinge dort endlich ernst zu
nehmen und ihr gerecht zu werden .
({2})
Vielen Dank . - Für die CDU/CSU-Fraktion spricht
jetzt der Kollege Florian Hahn .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das UNIFIL-Mandat gehört nicht zu den großen, medienwirksamen Einsätzen wie Atalanta, KFOR oder
der Einsatz gegen Daesh . Dennoch ist diese Mission
von großer Bedeutung für die Stabilität in der Region .
131 deutsche Soldatinnen und Soldaten sind genauso
wenig ein Symbol deutscher Großmachtfantasie, wie die
Korvette „Erfurt“ ein Symbol thüringischer Großmachtfantasien ist . Vielmehr ist UNIFIL die Geschichte von
engen, freundschaftlichen Beziehungen . UNIFIL setzt
ein Zeichen in Düsternis und Zerstörung, in Krieg und
Elend, die den Nahen Osten heute wieder prägen . Die
Mission kann uns ein klein wenig Hoffnung geben, weil
sie zeigt, wie durch geduldige, praktische Zusammenarbeit über Jahre Kompetenzen und Sicherheit aufgebaut
werden können und wie damit zugleich Vertrauen und
Freundschaft wachsen .
Die Operation UNIFIL ist eine erfolgreiche Friedensmission . Sie dient der Begleitung der Waffenruhe zwischen dem Libanon und Israel, unterstützt die libanesische Regierung bei der Grenzsicherung und hilft beim
Kampf gegen den Waffenschmuggel . Die Weltgemeinschaft kann diese Aufgabe aber nicht dauerhaft übernehmen . Unser deutscher Beitrag fokussiert sich daher zu
Recht auf die Ausbildung . Wir wollen mithelfen, die Fähigkeiten der libanesischen Marine so auszubauen, dass
sie zukünftig in der Lage sein wird, Küste und Territorialgewässer selbstständig zu überwachen . Die libanesische
Marine wird zunehmend in die Aufgaben des internationalen Flottenverbandes integriert und lernt so praktisch,
die Herausforderungen später selbst zu meistern .
UNIFIL war durchaus erfolgreich, gerade was den
Waffenschmuggel angeht . Aber Aufbau und Training der
libanesischen Marine verlangen einen längeren Atem .
Wir wollen kein Strohfeuer, sondern nachhaltige Erfolge .
Mit dem künftigen Eigenschutz der libanesischen Küste
werden die ausgebildeten Soldaten einen Beitrag zur StaAgnieszka Brugger
bilität in der Region und damit auch zu unserer Sicherheit leisten . Die UNIFIL-Präsenz ist weiterhin einer der
Sicherheits- und Stabilitätsfaktoren, der deeskalierend
wirkt . Auch die Streitkräfte sind ein beruhigendes, die
Nation insgesamt verkörperndes Element . Sie werden in
der Bevölkerung als professionell, integer und überkonfessionell wahrgenommen . Wenn wir ihnen weiter helfend zur Seite stehen, können sie eine positive Rolle in
einem künftigen Libanon spielen, einem Libanon, der für
sich selbst entscheidet, der nicht Spielball rivalisierender
Mächte in der Region ist .
Wie helfen wir darüber hinaus? Die Beteiligung am
Flottenverband ist - genauso wie bei praktisch allen anderen unseren Mandaten - nur Teil eines umfassenden
Engagements für den Libanon und die gesamte Region .
Deutschland hilft dem Libanon bei der Verbesserung der
Flüchtlingssituation, bei der kommunalen Infrastruktur,
beim Hariri-Tribunal und bei der Grenzsicherung .
Unser deutscher Beitrag im Rahmen von UNIFIL
zeichnet sich durch sein einleuchtendes Konzept aus, das
unmittelbaren Nutzen bringt . Die konsequente, verlässliche Verfolgung wertvoller Ziele ist in unserer kurzlebigen Zeit nichts Selbstverständliches . Wir stehen zum
Libanon und zu seinen Streitkräften . Das wissen unsere
libanesischen Freunde zu schätzen . Lassen Sie mich abschließend aber auf eines hinweisen: Die deutsche Marine ist zurzeit in einer ganzen Reihe von Einsätzen gefordert . Sie operiert an der Belastungsgrenze . Es ist daher
richtig, dass wir in der Koalition bei Haushalt, Personal
und auch Investitionen in der Bundeswehr umgesteuert
haben . Im Einzelnen müssen wir sehen, ob das perspektivisch wirklich ausreicht . Für Deutschland als Handelsnation ist klar: Eine schlagkräftige und weltweit einsetzbare
Marine bleibt von essenzieller Bedeutung .
Herzlichen Dank .
({0})
Vielen Dank . - Der Kollege Hahn war der letzte Redner in dieser Debatte . Damit schließe ich die Aussprache .
Die Fraktionen haben interfraktionell vereinbart, dass
die Vorlage auf Drucksache 18/8624 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen wird . - Ich
sehe, Sie sind damit einverstanden . Dann ist die Überweisung so beschlossen .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin
Binder, Caren Lay, Herbert Behrens, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Bundesprogramm Kita- und Schulverpflegung - Für alle Kinder und Jugendlichen eine
hochwertige und unentgeltliche Essensversorgung sicherstellen
Drucksache 18/8611
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft ({0})
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Debatte 25 Minuten vorgesehen . - Ich höre keinen
Widerspruch . Dann ist so beschlossen .
Ich bitte Sie, Ihre Plätze einzunehmen . - Ich eröffne
die Aussprache . Das Wort hat die Kollegin Karin Binder,
Fraktion Die Linke .
({1})
Vielen Dank . - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Meine Damen und Herren auf den Besuchertribünen! Kita- und Schulverpflegung ist in Deutschland mangelhaft . Das wissen wir schon lange, aber spätestens seit einer Studie von Professor Arens-Azevedo
von der Hochschule für Angewandte Wissenschaften
Hamburg müssten es auch die Kolleginnen und Kollegen
im Hohen Hause wissen . Die Qualität erfüllt ernährungsgesundheitliche Anforderungen nicht . Die Mahlzeiten
sind zu fett, zu süß, enthalten zu wenig frisches Obst und
frisches Gemüse, es fehlt an Vitaminen und Ballaststoffen, und es fehlt am Geschmack . Es fehlt an Geld, es fehlt
an Fachleuten und geeigneten Räumen . All das wissen
wir; aber bisher wird nichts dagegen getan . Nur die Hälfte der Schülerinnen und Schüler in Ganztageseinrichtungen geht überhaupt zum Essen . Auch das war eine Erkenntnis dieser Studie . Ich frage mich: Warum wohl?
Kinder aus armen Familien werden, wie wir unter anderem aus der Bild-Zeitung und anderen Medien wissen,
vom Essen ausgeschlossen, wenn die Eltern nicht bezahlen . Wo soll das bitte schön hinführen? Es muss uns doch
klar sein, dass solche Zustände Folgen für die gesundheitliche Entwicklung und den Lernerfolg dieser Kinder
haben, ganz abgesehen davon, dass das eine Diskriminierung ist - und das in unserem Schulsystem . Ich denke,
dagegen müssen wir etwas tun .
({0})
Wer das Problem bisher nicht verstanden hat, der hat
wirklich ein Problem . Der hat nichts dazugelernt, und das
heißt: Die Versetzung ist gefährdet .
Die Linksfraktion hat deshalb bereits Anfang des Jahres eine Fachtagung mit dem Titel „Bausteine für gutes
Kita- und Schulessen“ durchgeführt . Es ging uns darum,
uns noch einmal mit allen Akteuren, mit Schülerinnen
und Schülern, mit Lehrerinnen und Lehrern, mit Menschen aus den Kommunen, mit Menschen aus den Einrichtungen, aus den Küchen, mit den Trägern und den
Schulleitungen, darüber zu verständigen, was wirklich
notwendig ist, um daraus abzuleiten, wie viel uns das
kosten wird .
Allen, die dabei waren, ist ganz klar geworden, was
gute Kita- und Schulverpflegung auszeichnet. Erstens.
Es muss schmecken . Dazu gehört, dass wir die Kinder
und die Jugendlichen beteiligen; denn nur, wenn wir
sie fragen, was sie mögen, besteht die Option, dass die
Kinder und Jugendlichen das auch essen . Zweitens . Es
muss frisch gekocht werden; denn nichts ist schlimmer
als Essen, das seit Stunden warm gehalten in der Gegend
herumsteht . Das würden wir Erwachsene nicht zu uns
nehmen wollen, und die Kinder wissen auch, was gut
und schlecht ist . Also wird es nicht gegessen . Das muss
geändert werden . Es muss frisch gekocht werden .
({1})
Ein ganz wichtiger Punkt ist: Wir brauchen bundesweit einheitliche Standards . Wenn wir hier im Bund nicht
festlegen, dass eine bestimmte Qualität gewährleistet ist,
werden wir immer die Situation haben, dass es Caterer
bzw . Anbieter gibt, die ein Essen anbieten, das nicht
einmal die 1,50 Euro wert ist, die es kostet . Sprich: Wir
brauchen Qualitätsstandards, die verbindlich geregelt
werden müssen . Und ich sage Ihnen eines, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wer bestellt, der zahlt . Wenn also
der Bund will, dass die Träger Standards einhalten, dann
muss er auch klären, wie das finanziert wird. Ich behaupte eines: Diese Gesellschaft hat sehr viel davon, wenn die
Kinder anständig versorgt werden . Ich möchte nur daran
erinnern, wie viel Geld die Krankenkassen in die Hand
nehmen müssen, um ernährungsbedingte Krankheiten zu
behandeln . Das sind jedes Jahr zig Milliarden Euro . Ich
wünsche mir, dass wir diese volkswirtschaftliche Rechnung aufmachen, um dann auch über die Finanzierung
einer vernünftigen Verpflegung für alle Kinder und Jugendlichen zu beraten .
Danke schön .
({2})
Vielen Dank . - Als Nächste hat Katharina Landgraf,
CDU/CSU, das Wort .
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der
Wunsch der Linken nach einer hochwertigen und gleichzeitig kostenlosen Essensversorgung an Kitas und Schulen ist nicht mehr als ein frommer Traum .
({0})
Klar, Wunschzettel schreiben die Linken bekanntlich
nicht nur vor dem Weihnachtsfest . Das tun sie eigentlich
immer . Wer es bezahlt, ist doch egal . Wer in unserer staatlichen Ordnung eigentlich zuständig ist, ist auch egal .
({1})
Hauptsache, der Wunschzettel ist lang und umfassend
und ignoriert das bereits Erreichte .
({2})
Ich sage nur: Föderalismus! Haben Sie davon schon einmal gehört?
Ich kann jedoch nicht abstreiten, dass das Grundanliegen Ihres Antrages für eine bessere Essensversorgung in
Kitas und Schulen in Ordnung ist . Da stimme ich Ihnen
vom Ansatz her zu . Über den Weg zum Ziel aber müssen
wir streiten . Hochwertig und kostenlos schließen sich
meines Erachtens aus . Gutes Essen hat seinen Wert . Und
was gut ist, kostet auch etwas . Der Umkehrschluss „Was
nichts kostet, ist nichts wert“ ist schnell gezogen und leider häufig Realität. Da wird schon einmal zu viel auf die
Teller gepackt, und die Reste werden einfach weggeworfen . Dieses Phänomen kennt wohl jeder von uns bei der
Selbstbedienung an reichlich gedeckten Büfetts .
({3})
Ich sage nicht, dass Kinder genauso mit dem Essen umgehen; aber ich bin der Meinung, dass hochwertige Kitaund Schulverpflegung schon etwas kosten darf, wenn
nicht sogar etwas kosten muss . Es wundert mich ohnehin, dass Sie mit Ihrem Antrag das kostenlose Schulessen
für alle fordern, also auch für die Familien, die es sich
ohne Weiteres leisten könnten, das Essen für ihre Kinder
zu bezahlen . Ich persönlich würde da schon eine Grenze ziehen und das unentgeltliche Essen nur den wirklich
bedürftigen Kindern zukommen lassen . Aber das ist nur
eine ganz persönliche Bemerkung am Rande .
Eine viel wichtigere Frage lautet: Was ist überhaupt
hochwertig? Bedeutet es, nur Fleisch und Fisch aus artgerechter Tierhaltung zu verwenden oder nur saisonale
oder regionale Produkte zu verarbeiten? Oder bedeutet
„hochwertig“, nur Lebensmittel aus biologischem Anbau
zu beziehen? Und ist dies automatisch gesünder?
Darf ich Sie hier einmal unterbrechen, Frau Kollegin? - Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Leidig?
Ja, bitte .
Bitte schön .
Sie haben sich gerade darüber ausgelassen, dass es Ihrer Meinung nach ausgenutzt wird, wenn Dinge kostenlos
zur Verfügung gestellt werden, und dass Menschen, die
wirklich bedürftig sind, nicht ausreichend berücksichtigt
werden, wenn alle etwas kostenlos nutzen können . Nun
möchte ich Sie einmal fragen: Wie schätzen Sie eigentlich den kostenlosen Fahrdienst des Deutschen Bundestages ein, der allen Abgeordneten zur Verfügung steht,
obwohl niemand von uns auf diese kostenlose Dienstleistung angewiesen ist und obwohl kaum eine andere große Stadt ein so toll ausgebautes Nahverkehrssystem wie
Berlin hat, das wir selbstverständlich nutzen können?
Fahren Sie denn mit diesem Fahrdienst kreuz und quer
durch Berlin, nur weil er kostenlos ist?
Ich fahre sehr selten damit, nämlich nur, wenn ich mit
meinem Fahrrad oder der U-Bahn irgendwo nicht hinkomme .
({0})
Außerdem finde ich den Vergleich völlig unpassend.
({1})
Sie können es ja beobachten: Wenn Sie aus einem Auto
der Fahrbereitschaft aussteigen, komme ich vielleicht gerade mit dem Fahrrad vorbei . Daran sehen Sie, wie unterschiedlich man mit diesem Angebot umgehen kann .
Es geht hier darum, ob etwas automatisch gesünder
ist, wenn es bio ist . Das wird pauschal von einem Großteil der Bevölkerung so angenommen . Es entspricht allerdings nicht der Wahrheit, finde ich. Gerade gestern hatte
ich einen Wissenschaftler von der Leibniz-Gemeinschaft
zu Gast . Er bestätigte mir, dass Biolebensmittel nicht per
se gesünder sind als herkömmlich erzeugte .
({2})
- Das habe ich nicht gesagt. - „Bio“ definiert sich nämlich durch eine ökologische und nachhaltige Art des Anbaus; nachhaltig ist ja auch mein Fahrradfahren . Die Lebensmittel enthalten deswegen aber nicht mehr Vitamine
und Nährstoffe . Die große Bedeutung einer gesunden
Ernährung für Kinder ist jedoch erwiesen .
Als besonders positiv möchte ich das Schulmilch- und
Schulobstprogramm der EU hervorheben . Das Parlament
konnte im Frühjahr dieses Jahres eine Zusammenlegung
beider Programme und eine Erhöhung der Finanzmittel
um 20 Millionen Euro durchsetzen . Mit dieser Vereinfachung und dem gleichzeitigen Wegfall des Eigenanteils
der Länder bietet sich die Chance, dass Kinder in allen
Bundesländern von beiden Programmen profitieren. Die
Mitgliedstaaten, die am Schulprogramm teilnehmen,
verpflichten sich auch zu pädagogischen Maßnahmen.
Dabei sollen die Kinder aufgeklärt werden über lokale
Lebensmittelketten, ökologischen Landbau, nachhaltige
Erzeugung oder die Bekämpfung von Lebensmittelverschwendung . Sie sollen auch der Landwirtschaft wieder nähergebracht werden; ich erinnere nur an den Tag
des offenen Hofes . Dabei ist das Wissen über gesunde
Ernährung der zentrale Bestandteil . Dieser wird im Wesentlichen im Kindesalter erlernt und gebildet . Die hier
erworbenen Ernährungsmuster und Geschmacksmuster
behalten Kinder und Jugendliche häufig ein Leben lang.
Die Evaluationen des Schulmilch- und Schulobstprogramms haben eine deutliche Zunahme der Beliebtheit
und Akzeptanz von Milch, Obst und Gemüse ergeben .
Zudem stieg das Bewusstsein der Kinder um die Wichtigkeit von Milch, Obst und Gemüse als Bestandteil einer
gesunden Ernährung . Ich appelliere also an alle Bundesländer, die sich noch nicht an diesen Programmen beteiligen, dies zum Wohle der Kinder schnell nachzuholen .
({3})
An Sie von der Linksfraktion appelliere ich, das Erreichte in den Kommunen und auf Bundesebene nicht
infrage zu stellen; meine Zeit reicht nicht aus, weitere
Details zu nennen . Sie können in den Portalen der Bundesregierung, insbesondere des Bundesministeriums
für Ernährung und Landwirtschaft, nachlesen, was zum
Thema „gesunde Ernährung für Kinder und Jugendliche“
schon alles gemacht wird und was geplant ist . Ich wünsche Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion, viel Freude beim Studium dieser Materialien .
Vielen Dank .
({4})
Vielen Dank . - Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt
der Kollege Özcan Mutlu das Wort .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Kollegin Landgraf, eines ist aber sicher - das werden auch Sie nicht bestreiten -: Bio enthält keine Schadstoffe, und damit ist es doch definitiv gesünder.
({0})
Das sollten Sie endlich einmal akzeptieren .
({1})
Ich freue mich sehr, dass wir im Bundestag erneut
über das wichtige Thema der Versorgung unserer Kinder
in Kitas und Schulen mit gesundem Mittagessen reden
können . Eine gesunde Lebensweise und eine gesunde
Lebenskultur werden nämlich schon im Kindesalter erlernt . Wo, wenn nicht in der Kita oder in der Schule, sollte das geschehen?
({2})
Daher sehen wir Grüne den Ausbau einer gesunden Gemeinschaftsverpflegung als einen wichtigen Baustein,
auch um soziale Ungleichheiten aufzufangen . Kinder und
Jugendliche, die viel Zeit in Kita und Schule verbringen,
brauchen gerade dort hochwertiges und gesundes Essen .
Die Forderungen im Antrag der Linken gehen daher in
die richtige Richtung und decken sich zum größten Teil
mit unseren Forderungen, allerdings mit einem gewissen
Unterschied: Wir Grüne meinen, dass sich Eltern, die
dazu in der Lage sind, einkommensabhängig an der Finanzierung der Schulverpflegung beteiligen sollen. Wir
haben in vielen Bundesländern bereits sogenannte sozial
gestaffelte Systeme, die gut laufen . Es ist eine Binsenwahrheit und längst durch Studien erwiesen, dass viele
Eltern bereit sind, mehr zu bezahlen, wenn sichergestellt
wird, dass ihre Kinder gutes und gesundes Mittagessen in
den Schulen oder Kitas bekommen .
({3})
Herr Mutlu, die Kollegin Hein möchte Ihnen eine
Zwischenfrage stellen .
Nein, ich habe nur vier Minuten Redezeit .
Das ist egal; ich stoppe die Zeit . Aber Sie können auch
gerne weiterreden .
Danke sehr, Frau Präsidentin . Ich möchte gerne im
Redefluss bleiben und deshalb keine Fragen zulassen.
({0})
Was allerdings nicht läuft - das ist eine Tatsache -,
ist die Ernährungspolitik dieser Bundesregierung und
des Ministers Schmidt . Immer wieder nur Berichte und
Gutachten über den Sachstand der Kita- und Schulverpflegung in Auftrag zu geben und dann teilweise über die
schlechte Qualität des Essens zu lamentieren, welche uns
seit Jahren bekannt ist, reicht uns eben nicht . Es reicht
uns auch nicht, dass teure Plakatkampagnen in Auftrag
gegeben werden, die keiner versteht . Die 2,3 Millionen
Euro Bundesmittel, die Minister Schmidt für seine letzte
Kampagne investiert hat, wären vor Ort viel notwendiger und viel besser investiert . Alle hier im Hause wissen:
Der Ausbau der Ganztagsschulen, der auch einhergeht
mit einer Versorgung der Kinder mit gesundem Essen,
kommt vielerorts nicht voran . Im Gegenteil: Es wird
noch Jahrzehnte dauern, bis in der Republik ausreichend
Ganztagsschulplätze mit Mensen vorhanden sind . Noch
etwas ist eine Binsenwahrheit: Ohne finanzielle Beteiligung des Bundes können die Länder den Ausbau der
Ganztagsschulen nicht stemmen . Deshalb - das werden
wir in diesem Hause immer wiederholen - muss das Kooperationsverbot endlich auch für den Schulbereich abgeschafft werden .
({1})
Es muss abgeschafft werden, damit Kooperationen zwischen Bund und Ländern im Interesse der Kinder und Jugendlichen möglich sind .
Der Minister lobt landauf, landab die gute Idee eines Kompetenzzentrums zur Schulverpflegung; aber ein
Konzept dazu hat er bisher nicht geliefert . Stattdessen
berichtete er gestern im Ausschuss für Ernährung und
Landwirtschaft, dass beim Thema „eigenes Schulfach
Ernährung“ große Dinge von ihm zu erwarten seien
und dass er demnächst bei der KMK dazu vorsprechen
werde . Was glauben Sie wohl, was passiert? Werden die
Kultusministerinnen und Kultusminister ihren Beschluss
von 2013 verwerfen und sich einem Minister mit spontanen und fixen Ideen anschließen? Wohl nicht! Wir sagen
wie die Ernährungsexpertinnen und -experten im ganzen
Land, dass die Forderung nach einem eigenen Schulfach
Ernährung als kontraproduktiv und eventuell sogar als
schädlich angesehen werden kann .
({2})
Die Bundesregierung muss die ernährungspolitische
Dynamik der rot-grünen Koalition wiederbeleben und
Unterstützungs- und Infrastrukturmaßnahmen für den
Ausbau einer gesunden Kita- und Schulverpflegung fördern .
({3})
Das haben wir mit dem Ganztagsschulprogramm vorgemacht, und das können wir wiederholen . Dabei helfen
wir Ihnen gerne .
Aber Sie bitte nicht mehr, Herr Kollege Mutlu; denn
Sie haben Ihre Redezeit um fast eine Minute überzogen .
Ein letzter Satz noch .
Aber ein allerletzter .
Danke, Frau Präsidentin . - Gemeinsam mit den Ländern müssen unserer Meinung nach auch die Vernetzungsstellen Schulverpflegung gestärkt werden. Diese
müssen zu Kompetenzzentren der Gemeinschaftsverpflegung ausgebaut werden,
({0})
damit der Markt nicht irgendwelchen Großanbietern
überlassen wird .
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
({1})
Vielen Dank . - Die Kollegin Hein hat um eine Intervention gebeten . Ich erinnere aber daran, dass es sich um
eine Kurzintervention handelt .
Vielen Dank, Frau Präsidentin . - Herr Mutlu, schade,
dass Sie meine Frage nicht zugelassen haben . Ich wollte
Sie nämlich an unsere gemeinsame Ausschussreise nach
Schweden und Finnland erinnern . In Finnland konnten
wir an einem kostenlosen Schulessen teilnehmen, das
dort allen Kindern zur Verfügung steht . Ich wollte Sie
fragen, ob Sie mir bestätigen würden, dass wir dort keineswegs die Erfahrung gemacht haben, dass Schulkinder dieses kostenlose Schulessen nicht wertschätzen,
sondern dass sie sich dieses vollwertige Schulessen in
eigener Verantwortung selbst von einem großen Tresen
nehmen und damit sehr vernünftig umgehen . Da Sie meine Frage nicht zugelassen haben, muss ich das jetzt über
eine Kurzintervention machen . Ich würde auch gerne der
Kollegin von der CDU/CSU-Fraktion sagen, dass ihre
Annahme falsch ist .
Im Übrigen ist es sehr schwierig, in Deutschland
überhaupt ein kostenloses und gesundes Mittagessen in
den Schulen anzubieten - nicht nur in Ganztagsschulen,
sondern in allen Schulen . Es gibt nur ein einziges Bundesland, in dem für alle Schulen vorgeschrieben ist, dass
ein angemessenes, vollwertiges Mittagessen bereitzuhalten ist, und zwar zu sozialverträglichen Preisen . Diese
Regelung ist seit Mitte der 90er-Jahre im Schulgesetz
von Sachsen-Anhalt enthalten . Das reicht nicht aus, zeigt
aber immerhin, dass es geht .
Vielen Dank .
({0})
Vielen Dank . - Der Kollege Mutlu verzichtet auf eine
Antwort .
Dann hat jetzt die Kollegin Elvira Drobinski-Weiß für
die SPD das Wort .
({0})
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren!
Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer auf der Tribüne! Eine
gesunde Ernährung ist die Grundlage für ein gesundes
Leben und die Basis für einen guten Start ins Leben .
Es gibt aber immer mehr Kinder, die am verborgenen
Hunger leiden, dem sogenannten Hidden Hunger . Das
heißt, sie werden jeden Tag satt, aber ihnen fehlen in der
Nahrung wichtige Nährstoffe, die für eine gesunde Entwicklung nötig sind . Die Folgen sind dramatisch: Eine
ungesunde Ernährung erhöht nicht nur das Risiko, an
Diabetes oder Adipositas zu erkranken . Eine ungesunde
Ernährung beeinträchtigt auch die Bildungsleistung und
hat somit Auswirkungen auf den gesamten späteren Lebensweg . Für die SPD ist es deshalb ein Gebot sozialer
Gerechtigkeit, für alle Kinder und Jugendlichen eine ausgewogene und hochwertige Ernährung sicherzustellen .
({0})
Es steht außer Frage, dass der Schulverpflegung bei der
Erfüllung dieser Aufgabe eine wichtige Funktion zukommt .
Es ist längst überfällig, dass wir eine offene Debatte
über eine vernünftige - ich sage: vernünftige - Finanzierung der Schulverpflegung führen. Daher begrüße ich es
sehr, dass wir mit dem heute vorliegenden Antrag dazu
einmal Gelegenheit haben . Allerdings möchte ich gleich
vorwegnehmen, dass uns eine lange Liste mit Wünschen
allein - wir haben gerade schon einige gehört - in der
Sache nicht weiterbringen wird . Tatsächlich kann uns die
heutige Qualität der Schulverpflegung nicht zufriedenstellen . Hier haben wir schon einen großen Aufholbedarf .
({1})
Die Mahlzeiten an vielen Kitas und Schulen sind weder
ausgewogen noch bei den Schülerinnen und Schülern beliebt . Ich spare mir, an dieser Stelle die Mängel aufzuzählen; wir kennen sie .
Mit unserem Antrag haben wir im vergangenen Jahr
bereits wichtige Vorhaben beschlossen, beispielsweise,
die Vernetzungsstellen Schulverpflegung zu unterstützen
und Mindeststandards für Caterer einzuführen, die Essen
an Kitas und Schulen anbieten . Es sollen nur noch die
Anbieter einen Zuschlag erhalten, die nach den Qualitätsstandards der Deutschen Gesellschaft für Ernährung
zertifiziert sind.
({2})
So hat beispielsweise das Land Berlin den Wandel vom
Preis- zum Qualitätswettbewerb in der Ausschreibungspraxis bereits eingeleitet . An die Erfahrungen kann dann
auch das Nationale Qualitätszentrum Schulverpflegung
gut anknüpfen, wenn es endlich seine Arbeit aufnimmt .
Im Ernährungspolitischen Bericht habe ich gelesen: Das
soll noch in diesem Jahr der Fall sein .
Letztendlich kann es nicht die Lösung sein, den Ländern und Kommunen die DGE-Verpflegungsstandards
einfach per Gesetz aufzuzwingen . Daher teile ich die
Auffassung, dass sich der Bund an der wichtigen gesamtgesellschaftlichen Aufgabe, eine hochwertige, gesunde
Schulverpflegung sicherzustellen, finanziell beteiligen
sollte . Auch der Vorschlag, die Mehrwertsteuersätze für
Gemeinschaftsverpflegung zu überdenken, findet meine
Sympathie .
Die Forderung nach einer grundsätzlich kostenlosen
Schulverpflegung halte ich hingegen für falsch. Es ist
durchaus vertretbar, dass sich Eltern an den Essenskosten angemessen beteiligen . Seit langem diskutieren wir
darüber, wie wir die gesellschaftliche Wertschätzung von
Lebensmitteln wieder stärken können . Wir wissen doch
aus eigener Erfahrung nur allzu gut, dass der Preis dabei
eine wichtige Rolle spielt . Wenn wir also wollen, dass
Kinder möglichst früh einen verantwortungsvollen Umgang mit Nahrungsmitteln lernen, dann sollten sich ihre
Eltern auch darüber im Klaren sein, dass eine hochwertige Schulverpflegung etwas kostet. Unser erstes Ziel muss
es deshalb sein, sicherzustellen, dass das Essensgeld für
alle Eltern bezahlbar ist und so alle die Möglichkeit haben, an einem hochwertigen Schulessen teilzunehmen .
Vielen Dank .
({3})
Danke schön . - Jetzt spricht die Kollegin Marlene
Mortler für die CDU/CSU-Fraktion .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Kochen will gelernt sein, genauso wie Anträge schreiben . Gerade in Bezug auf Ihren Antrag möchte ich sagen:
Drücken Sie in Zukunft etwas weniger Copy-and-paste,
dann kommt auch etwas Neues heraus .
({0})
Denn wir reden heute über nichts Neues . Wir reden über
einen Antrag, der schon mehrfach gestellt worden ist, gefühlt schon viel zu oft .
({1})
Ich verstehe Ihren Ausgangspunkt . Wir alle in diesem Haus sind uns einig, dass eine gute, eine gesunde
Ernährung in jungen Jahren die entscheidende Basis für
das spätere Leben legt . Ich glaube, das ist eine Selbstverständlichkeit . Aber wenn ich Sie so reden höre, frage
ich mich: Wo leben wir eigentlich? Sie reden über Dinge,
die in vielen Bundesländern, vor allem in Bayern, längst
selbstverständlich sind .
Das Schulfach Ernährung gibt es in Bayern fächerübergreifend .
({2})
In Bayern ist es auch selbstverständlich, dass Grundschulkinder regelmäßig auf Bauernhöfe gehen, dass sie
die Zusammenhänge lernen von Säen, Wachsen, Ernten
und Essen, damit sie wissen, dass das Lebensmittel nicht
aus dem Supermarktregal kommt, sondern vom Acker
bzw . aus dem Stall, damit sie wissen, wie ein Lebensmittel schmeckt, wie es riecht, wie man es genießen kann .
All diese Dinge sind selbstverständlich . Aber ich gebe
zu: Man kann immer noch mehr machen .
Sie werfen nun dem Bund vor, dass gar nichts passiert
wäre . Dabei ist schon unter Ilse Aigner jede Menge passiert .
({3})
Beim nationalen Aktionsplan „IN FORM“ geht es beispielsweise nicht nur um gesundes Essen, sondern auch
um Bewegung, also um einen gesamtheitlichen Ansatz .
Die Landfrauen im Deutschen LandFrauenverband haben sich dem Projekt „SchmExperten“ gewidmet, in dem
man Schülerinnen und Schülern spielerisch zeigt, wie
Essen geht, dass man Essen auch genießen kann und das
man Essen vor allem auch wertschätzen kann und muss .
Das sind wenige Beispiele, aber ich denke, es sind gute
Beispiele .
Was soll der Bund denn noch machen? Im Grunde genommen hat er die entscheidenden Projekte seit Jahren
vorgelegt, den Bundesländern sogar mundgerecht vorgelegt, sie müssen sie nur abrufen . Damit bin ich bei Ihrer
eigentlichen Forderung .
Sie fordern in Ihrem Antrag, dass ein Kind in Kita oder
Schule in Zukunft vom Bund mit mindestens 4,50 Euro
unterstützt werden muss . Wenn Sie so weitermachen mit
Ihren Forderungen, dann brauchen wir die Bundesländer
nicht mehr, dann kann der Bund in Zukunft alles selber
bezahlen .
({4})
Aber Bildung ist bis zum heutigen Tag Ländersache .
({5})
Zur Bezahlung des Essens . Wir müssen uns die Größenordnung vor Augen halten . Ich habe es nicht ausgerechnet, aber bei Ihrem letzten Antrag - inzwischen ist
die Kita dazugekommen - ging es um eine zweistellige
Milliardensumme .
({6})
- Nein . Das ist jetzt meine Version . Wenn jeder etwas
bekommen soll, dann geht es um eine zweistellige Milliardensumme .
Ich finde, wir dürfen die Länder nicht aus der Verantwortung entlassen . Ich will vielmehr wissen: Was machen denn Ihre Bundesländer? Welchen Beitrag leisten
sie zur Ernährungsbildung, zur Qualität der Schul- oder
Kitaernährung?
Frau Kollegin .
Welchen Beitrag leisten sie im Zusammenhang mit der
Finanzierung von Schulvernetzungsstellen, die auch im
Bund geboren sind? Oder welches Land finanziert zum
Beispiel Lernküchen? Das sind Fragen, über die man reden sollte, bevor wir hier leichtfertig einem Antrag unsere Zustimmung geben . Wir als CDU/CSU lehnen diesen
Antrag auf alle Fälle ab .
({0})
Darf ich Sie kurz fragen, ob Sie noch eine Frage der
Kollegin Binder gestatten? Sie haben nämlich noch etwas Zeit .
Bitte schön .
Liebe Frau Kollegin Mortler, also: Es geht nicht um
einen zweistelligen Milliardenbetrag, es ging in unserem
Antrag aus der letzten Legislaturperiode um 8 Milliarden
Euro . Wir haben deshalb extra diese Tagung veranstaltet,
bei der wir wirklich versucht haben, im Detail die Kosten
zu ermitteln . Ich lasse Ihnen das gern im Zusammenhang
mit der Ausschussberatung zukommen, dass Sie sehen,
wie sich die einzelnen Kosten zusammensetzen . Dadurch sind wir auf die Kosten von 4,50 Euro pro Kind im
Durchschnitt gekommen . Das würde einen Betrag von
etwa 6 Milliarden Euro im Jahr ausmachen .
Weitere 2 Milliarden Euro werden durch die Länder
und die Kommunen zu bestreiten sein, weil es Trägerkosten gibt . Allein die Vorhaltung von Räumen etc . kostet
Geld, das ist ganz klar . Wenn Sie dem aber gegenüberstellen, wie wir Dienstwagen und andere Dinge in diesem
Land bezuschussen oder durch Steuererleichterungen begünstigen, dann muss ich Sie ehrlich fragen: Was ist Ihnen mehr wert? Die Kinder und deren Zukunft und damit
auch unsere Zukunft oder so etwas?
Das ist eine volkswirtschaftliche Rechnung, die man
aufstellen kann . Wenn ich weiß, dass allein 20 MilliarMarlene Mortler
den Euro pro Jahr für Diabetes aufgewendet werden müssen - andere ernährungsbedingte Krankheiten sind dabei
noch gar nicht erfasst -, dann muss ich einfach sagen:
Das ist eine gute Investition .
Ich weiß nicht, ob Sie ernst meinen, was Sie hier sagen
und fordern . Ich kann mich erinnern, dass eine zusätzliche Forderung der Einbau von Schulküchen war . Wenn
wir glauben, dass wir mit dieser Summe auskommen,
dann ist das eine vollkommen falsche Rechnung .
Wenn es um unsere Kinder geht, dann dürfen Sie mir
glauben . Ich kann Ihnen als Familienfrau, als dreifache
Mutter und als fünffache stolze Großmutter sagen: In der
Familie muss beginnen, was in Staat und Gesellschaft
blühen soll .
({0})
Dazu gehört neben Ihrem Antrag - und das ist für mich
persönlich ganz wichtig - das Vermitteln von Ernährungswissen, das Miteinanderkochen, das Miteinanderessen . Das kostet wenig, das bringt viel . Es bringt vor
allem für unsere Gesellschaft einen hohen Mehrwert .
Dafür sollten wir kämpfen, dafür kämpfe zumindest ich .
Vielen Dank .
Vielen Dank, Frau Kollegin Mortler . - Dann hat jetzt
als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt die
Kollegin Ursula Schulte, SPD-Fraktion, das Wort .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren auf der Tribüne! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Alle Jahre wieder kommt das Christuskind, aber auch ein Antrag der Linken zum Thema hochwertige und kostenlose Kita- und Schulverpflegung.
({0})
Die Anträge aus den vergangenen Jahren unterscheiden sich kaum, geben uns allen aber immer wieder die
Gelegenheit, über das wichtige Thema „Ernährung von
Kindern und Jugendlichen“ zu diskutieren . Wir müssen
auch darüber sprechen; denn immer mehr Mahlzeiten
verlagern sich aus dem familiären Umfeld in Kitas und
Schulen und damit auch in die Verantwortung von Kommunen, Trägern, Land und Bund .
Allerdings, und das möchte ich betonen: Eltern geben
die Verantwortung für die Ernährung ihrer Kinder nicht
an der Kita- bzw . der Schultür ab . Sie können und sollen
sich einmischen, sie können und sollen mitbestimmen .
Die Kampagne „Macht Dampf!“ unterstützt die Eltern
dabei, und das ist gut so . Bei uns im Kreis Borken dürfen die Jugendlichen auch mitentscheiden, was sie essen
wollen . Frau Binder, manchmal habe ich wirklich den
Eindruck, wir leben in verschiedenen Welten .
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch wenn wir hier
im Plenum häufig inhaltlich miteinander streiten, so eint
uns doch - das hoffe ich wenigstens - die Auffassung,
dass jedes Kind in Deutschland Zugang zu einer gesunden und ausgewogenen Ernährung haben muss; denn
nur so können sich Kinder körperlich und geistig gut
entwickeln . Das hat meine Kollegin Elvira DrobinskiWeiß gerade schon gesagt . Ich freue mich daher über die
Handlungsempfehlungen der Vernetzungsstellen Kita
und Schulverpflegung, die besagen, dass allen Kindern
unabhängig von ihrer sozialen Herkunft die Teilnahme
an der Kita- und Schulverpflegung ermöglicht werden
muss .
Wenn ich mir etwas wünschen dürfte, dann würde ich
mir wünschen, dass in allen Schulen und Kitas frisch gekocht wird, natürlich gemeinsam mit den Kindern und
Jugendlichen . Ich weiß, die Realisierung meines Wunsches liegt in weiter Ferne, aber wenn wir gemeinsam
daran arbeiten, dann schaffen wir das eines Tages . Dazu
möchte ich Sie gerne auffordern .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, als Kommunalpolitikerin habe ich mich schon immer darüber geärgert, dass
bei der Vergabe der Mittagsverpflegung nicht der Beste
zum Zuge gekommen ist, sondern der Preiswerteste . Daran müssen wir im Interesse der Kinder und Jugendlichen
dringend etwas ändern .
({2})
Durch das Bildungs- und Teilhabepaket ist es ja möglich,
einen Zuschuss für das gemeinschaftliche Mittagessen
zu bekommen . Der verbleibende Eigenanteil der Eltern
liegt dann bei 1 Euro pro Tag und Essen . Wenn das nicht
geleistet werden kann, dann springen bei uns auch noch
Fördervereine ein . In Nordrhein-Westfalen ist die Welt
also auch in Ordnung . Ich glaube, da bleibt kein Kind
ohne Mittagessen .
({3})
Ich finde, gutes Mittagessen muss wertgeschätzt werden.
Was nichts kostet - Frau Landgraf, da haben Sie durchaus recht -, ist auch nichts wert .
({4})
Deshalb fordern ja auch die Tafeln von ihren Kunden einen kleinen Obolus .
Die Forderung nach einer unentgeltlichen Verpflegung
für alle hat Charme . Sie ist unbürokratisch . Aber ist sie
auch gerecht? Die Linke beklagt immer wieder die Ungleichheit in unserer Gesellschaft . Nur, warum muten Sie
dann zum Beispiel einer Bundestagsabgeordneten nicht
zu, die Kita- und Schulverpflegung zu bezahlen? Die Abgeordnete wird dadurch ja nicht arm; einer Familie aus
dem Niedriglohnsektor oder aus der sogenannten Mittelschicht täte die Ersparnis dagegen richtig gut . Mehr
Gerechtigkeit - das ist meine persönliche Meinung - erzielt man nicht dadurch, dass man das Füllhorn über allen
ausgießt. Für mich gilt immer noch - das finde ich überKarin Binder
haupt nicht altmodisch -: Starke Schultern tragen mehr
als schwache Schultern .
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt viele Initiativen auf Bundesebene für gesünderes Essen, auch für
mehr Wissensvermittlung über eine gute Ernährung . Die
Kommunen und die Bundesländer sind auch nicht untätig . Ich will nur ein Beispiel nennen: „Alle Kinder essen
mit“; das ist ein Härtefallfonds aus Nordrhein-Westfalen .
Man kann jetzt klagen: Das sind alles nur Konzepte bzw .
kleine Schritte . - Das stimmt, aber sie führen in die richtige Richtung, und das ist entscheidend .
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
({6})
Vielen Dank . - Damit schließe ich die Aussprache .
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/8611 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . Sind Sie damit
einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall . Dann ist die
Überweisung so beschlossen .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des
Agrarmarktstrukturgesetzes
Drucksache 18/8235
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung und Landwirtschaft ({0})
Drucksache 18/8646
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen . - Ich höre keinen Widerspruch . Dann ist so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache . Das Wort hat der Kollege
Kees de Vries von der CDU/CSU-Fraktion .
({1})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Es ist wohl unbestritten: Der Milchmarkt
befindet sich in einer sehr ernsten Marktkrise. Diese ich glaube, da sind wir uns auch einig - kann nur gelöst werden, indem weniger Milch produziert wird oder
die Nachfrage steigt . Es gibt keine Anzeichen, dass die
Nachfrage schnell wieder steigen wird . Also muss es zu
einer Verringerung der Produktion kommen .
Nun hat die Europäische Kommission mit Rechtsakten vom 11 . April 2016 für sowohl anerkannte als auch
nicht anerkannte Erzeugerorganisationen die befristete
Möglichkeit geschaffen, die Rohmilchproduktion auf
freiwilliger Basis zu regulieren . Die Regelungen sehen
vor, dass der Milchsektor befristet für eine Zeit von sechs
Monaten - mit der Option, einmal um sechs Monate zu
verlängern - freiwillige gemeinsame Vereinbarungen
treffen und Beschlüsse fassen kann, die die Planung der
Milchproduktion zum Gegenstand haben .
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Mitgliedstaaten haben nun die erforderlichen Maßnahmen
zu ergreifen, um sicherzustellen, dass die Vereinbarungen und Beschlüsse die Funktionsfähigkeit des Binnenmarktes nicht untergraben und auf die Stabilisierung des
Milchmarktes abzielen . Die Umsetzung ist also rechtlich
zwingend . Mit dem Entwurf eines Ersten Gesetzes zur
Änderung des Agrarmarktstrukturgesetzes der Fraktionen der CDU/CSU und SPD, Bundestagsdrucksache 18/8235, wird der Branche die Möglichkeit gegeben,
auf freiwilliger Basis zur Begrenzung der Milchmenge
zu kommen . Zusätzlich werden mit dem Änderungsantrag der Fraktionen von CDU/CSU und SPD Regelungen
über die Allgemeinverbindlichkeit in den Gesetzentwurf
aufgenommen .
Unter Einbeziehung der im Änderungsantrag enthaltenen Regelungen eröffnet der Gesetzentwurf die Chance,
dass deutlich weniger Milch produziert wird . Der Gesetzentwurf ist zielführend, weil wir mit ihm die Voraussetzungen schaffen, dass für einen begrenzten Zeitraum
Mengenabsprachen zur Reduzierung der Rohmilchproduktion innerhalb der Branche getroffen werden können .
Damit nutzen wir eine Möglichkeit des europäischen
Rechts, die allerdings nur zeitlich begrenzt, nämlich für
sechs Monate mit der Option auf weitere sechs Monate,
zur Verfügung steht . Deshalb ist eine zügige Verabschiedung dringend geboten, um der betroffenen Milchwirtschaft jetzt die Möglichkeit zu geben, die Rohmilchproduktion auf freiwilliger Basis zu regulieren .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dass sich die Oppositionsfraktionen trotz des Wunsches der Bundesländer
nach einer zeitnahen Verabschiedung des Gesetzentwurfes der Abstimmung verweigert haben, ist angesichts der
existenziellen Marktkrise einfach verantwortungslos .
({0})
Nur mit weniger Milch auf dem Markt können die Preise steigen . Für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion steht,
nachdem sich auch der Sektor für einen Ausstieg aus der
Quotierung ausgesprochen hat, außer Frage, dass es nicht
Aufgabe der Politik ist, jetzt den Markt zu regulieren .
Hier sind die Wirtschaftsakteure selbst gefordert, kurzfristig Lösungen zu finden. Mit der Änderung des Agrarmarktstrukturgesetzes schaffen wir dafür den rechtlichen
Rahmen . Nun ist es an der Branche selbst, ein deutliches
Signal für eine bessere Steuerung des Milchangebots und
eine eventuelle Flexibilisierung der Marktstrukturen zu
setzen .
Vielen Dank .
({1})
Vielen Dank . - Als Nächstes erhält die Kollegin Karin
Binder das Wort für die Fraktion Die Linke .
({0})
Liebe Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren auf den Besuchertribünen! Die Koalition möchte mit den Änderungen zum
Agrar marktstrukturgesetz den notleidenden Bauern in
der derzeitigen Milchkrise zu Hilfe kommen . Ich behaupte, Sie haben sich auf dem sogenannten Milchgipfel
und mit den Änderungen zu diesem Gesetz für den falschen Behandlungsweg entschieden .
({0})
Sie hängen die Patienten, die Bauern, auf der Intensivstation an den Tropf . Das ist aber nicht mehr als eine lebensverlängernde Maßnahme und leider kein Heilmittel .
Es ist sicher gut gemeint, aber wenn der Tropf abgehängt
wird, geht das Sterben weiter .
Wenn auch Sie im Sinne der Verbraucherinnen und
Verbraucher unsere heimische Landwirtschaft retten
wollen, sollten Sie auf die Linke hören .
({1})
Wenn nicht, dann - das garantiere ich Ihnen - zahlen
die Zeche die Bauern und die Verbraucherinnen und
Verbraucher, und die vier großen Handelsunternehmen,
Handelsketten füllen sich die Taschen . Die Linke fordert
deshalb eine nachfrageorientierte flexible Mengensteuerung gegen Milchseen und Butterberge . Das könnte möglicherweise auch bei anderen Erzeugnissen wie Schweinefleisch helfen.
({2})
Sonst produzieren einige wenige Große immer mehr und
drücken damit die Preise immer weiter in den Keller . Um
das zu verhindern, sollten wir regionale Kreisläufe unterstützen und fördern .
({3})
Deshalb fordern wir hier: Regionale Molkereien und
regionale Erzeugnisse im Handel brauchen ein gesetzlich
geschütztes glaubwürdiges Regionalsiegel .
({4})
Wir brauchen faire Preise für heimische Lebensmittel,
damit Verbraucherinnen und Verbraucher wissen, dass
ihr Geld tatsächlich beim Erzeuger landet . Dumpingpreise und Lockvogelangebote bei Lebensmitteln gehören
ebenso verboten wie Spekulationsgeschäfte mit Lebensmitteln auf internationalen Märkten .
({5})
Wir müssen das Kartellrecht stärken . Wir hatten Herrn
Mundt, den Präsidenten des Kartellamtes, im Ausschuss .
Es geht darum, Bauern und Landwirtschaft auf Augenhöhe mit Molkereien und Handel zu bringen . Wir müssen
die Vertragsbedingungen zwischen den Bauern und den
Molkereien auf den Prüfstand stellen .
({6})
Laufzeit, Abgabepflicht und auch Mindestpreise müssen
in diesen Verträgen zugesichert werden, wenn wir wollen, dass unsere heimischen Landwirte überleben .
Eine aktuelle Untersuchung von Foodwatch zeigt:
Auch bei teuren Milchmarken kommt bei den Bäuerinnen und Bauern kaum mehr an als bei den Billigprodukten .
({7})
Für eine „Bärenmarke“-Milch, die im Laden 1,15 Euro
kostet, erhält der Bauer genauso wenig wie für die billige „ja!“-Milch, die für 46 Cent verkauft wird . Nur noch
zwischen 23 und 27 Cent bekommt ein Bauer derzeit für
einen Liter Milch . Verbraucherinnen und Verbraucher
sind gerne bereit, mehr zu bezahlen . Aber sie müssen
dann auch sicher sein können, dass das Geld bei den Erzeugern ankommt und nicht in den Taschen der großen
Handelskonzerne landet .
({8})
Die meisten Menschen haben ein Interesse daran, die
heimische Landwirtschaft vor Ort zu stärken und zu unterstützen . Sie wollen regionale Kreisläufe . Sie sind sich
im Klaren über den hohen Wert der Lebensmittelerzeugung vor Ort in ihrer Region . Aber leider wird diese Regionalität, die sich der Verbraucher wünscht, vom Handel
oft nur vorgetäuscht und für Werbezwecke missbraucht .
Dem muss ein Riegel vorgeschoben werden .
({9})
Es braucht ein verbindliches gesetzliches Siegel, damit
Verbraucherinnen und Verbraucher nicht an der Nase herumgeführt werden können . Sonst ist alles schlicht Verbraucherbetrug .
Ich denke, hier brauchen wir die Verbraucherinnen
und Verbraucher an der Seite der Landwirte und Landwirtinnen, damit die Lebensmittelsicherheit weiterhin
hochgehalten wird und damit sich nicht einige wenige
zulasten der Verbraucher die Taschen füllen .
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit .
({10})
Vielen Dank . - Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der
Kollege Dr . Wilhelm Priesmeier .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sie haben eine etwas verquaste Vorstellung von Ökonomie; aber das schadet vielleicht nicht . Bei Dosen- und
Kondensmilch haben wir einen Selbstversorgungsgrad
von 580 Prozent .
({0})
Wenn man sich die Produktion anschaut, stellt man fest:
Wir produzieren im Augenblick 32,4 Millionen Tonnen .
Davon exportieren wir 50 Prozent . 37 Prozent gehen in
den Lebensmitteleinzelhandel, der Rest in andere Bereiche . Dann erzählen Sie mir mal, warum ausschließlich
dieser Bereich dafür verantwortlich sein soll, dass das
Preisniveau so weit unten ist .
({1})
Wir haben gesagt, dass wir uns dieses Themas annehmen werden . Das haben wir getan . Wir haben nach einem
intensiven Diskussionsprozess innerhalb der Koalition
zumindest einen Konsens darüber erzielt, wie wir vorgehen wollen . Aus der ursprünglichen Vorlage, die in den
Bundestag gekommen ist, haben wir etwas Ordentliches
gemacht. Wir haben nämlich die Allgemeinverpflichtung drangehängt und - mit einem Dank vor allen Dingen nach Mecklenburg-Vorpommern, was die Abläufe
betrifft - eine Fristverkürzung beim Bundesrat erreicht .
Der Agrarausschuss wird sich nächste Woche Dienstag
mit dem Gesetzentwurf und mit der Verordnung beschäftigen . Ich gehe davon aus, dass wir am 17 . Juni dieses
Jahres beides in einem Paket beschließen werden, sodass
dann die Voraussetzungen dafür geschaffen sind, dass
sich die Branche bekennen kann, was sie möchte bzw . ob
sie handeln möchte .
Die Vorgaben zur Allgemeinverbindlichkeit sind natürlich nicht gesetzlich verbindlich . Vielmehr muss es
schon eine übergreifende Einigung im Sektor geben . Ich
glaube, das ist ein Ansatz, bei dem wir nicht zum Standardmittel des Wettbewerbsrechts greifen, sondern im
Prinzip so etwas Ähnliches wie ein staatlich sanktioniertes Mengenkartell bemühen, die Angebots- und Nachfragemenge zumindest in ein Gleichgewicht zu bringen,
damit die Preismechanismen wieder funktionieren können .
In diesem Zusammenhang freue ich mich auch darüber, dass Minister Backhaus aus Mecklenburg-Vorpommern, der Vorsitzende der Agrarministerkonferenz, in der
entsprechenden Vorlage vorgesehen hat, dass die Andienungspflicht gestrichen wird.
({2})
Ich glaube, das ist ein vernünftiger Ansatz . Wir müssen
nämlich auch den gesamten Rechtsbereich darüber hinaus
im Blick haben, etwa Artikel 168 GMO - Gemeinsame
Marktordnung - und Artikel 148 GMO . Ich freue mich
auch, dass mir die Bundesregierung signalisiert hat, dass
sie bereit ist, die Genossenschaften in Artikel 148 GMO
einzubeziehen und sich dafür in Brüssel einzusetzen . Das
ist der zweite Schritt, den wir gehen müssen, wenn wir
vertraglich vereinbarte Bedingungen haben wollen, dass
jedem Landwirt, auch wenn er in einer Genossenschaft
ist, ein entsprechender Vertrag angeboten wird, in dem
Menge, Preis und Vertragslaufzeit geregelt werden . Die
bloße Mitgliedschaft in einer Genossenschaft ist nämlich
noch lange kein Vertrag . Zwar gibt es Regelungen, die so
ähnlich behandelt worden sind; aber davon wollen wir
weg .
({3})
Darüber hinaus wollen wir in diesem Zusammenhang
mehr Wettbewerb, auch hinterher um das Produkt . Wir
müssen jetzt die Voraussetzungen dafür schaffen, dass
später, wenn der Markt wieder funktioniert, jeder für das
Produkt, das er erzeugt, ein gerechtes Entgelt bekommt .
({4})
Die Dinge, die Sie angesprochen haben, sind an sich
gar nicht so schlecht, beispielsweise die Regionalisierung von Produkten; damit bin ich auch einverstanden .
Aber so etwas kann nur wachsen, wenn regional auch
Mengen frei werden, nicht aber, wenn große Molkereien
alle Mengen mitnehmen und irgendwo anders verarbeitet wird . Auch dafür, dass das umgesetzt werden kann,
schaffen wir die Voraussetzungen .
Ich hoffe, dass wir den Weg, den wir jetzt beschreiten,
nicht so schnell wieder beschreiten müssen . Die ganze
Regelung wird nur für zwölf Monate wirksam sein, beginnend mit dem 12 . April dieses Jahres, also bis zum
12 . April nächsten Jahres . Darüber hinaus wäre dann zumindest auch noch die Kommission bzw . die Europäische
Union gefragt, diese Regelung entsprechend zwischenzeitlich, nachdem sie geprüft worden ist, zu verlängern .
Ich kann dieses Modell, so wie wir es jetzt hier in
Deutschland gemeinsam in dieser Großen Koalition konzipiert haben, auch auf der europäischen Ebene zunächst
einmal nur empfehlen, bevor wir zu anderen Maßnahmen
greifen . Ich glaube, das ist ein guter Ansatz, mit dem wir
auf europäischer Ebene auch weitermachen können .
Vielen Dank .
({5})
Vielen Dank . - Nächster Redner ist der Kollege
Friedrich Ostendorff, Bündnis 90/Die Grünen .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Noch im März 2015 haben Sie von CDU/CSU
nicht aufgehört, die Zukunft der Milchbetriebe rosarot zu
malen . Denen, die Gas geben, gehöre die Zukunft; das
waren die Reden. Am 1. April fiel dann nach 32 Jahren
die Quote . Bereits am 7 . April war Ihr Traum ausgeträumt; denn der Lebensmitteleinzelhandel reagierte mit
51 Cent für den Liter Milch, und jeder wusste, jetzt wird
es ernst, der Traum ist beendet .
Heute bekommen die Bauern 20 Cent und weniger
von der Molkerei, und dies bei Kosten von über 40 Cent
pro Liter Milch . Das führt gerade die großen Wachstumsbetriebe, aber leider auch die bäuerlichen Betriebe in den
Ruin . Die Milchanlieferung wird höher und höher und
höher; dies führt immer weiter in die Krise . 3,8 Prozent
mehr wurden in Europa im letzten Milchjahr erzeugt;
das sind 6,1 Millionen Tonnen . Dazu hat Deutschland als
größter Milcherzeuger in Europa mit 10 Prozent beigetragen .
Wohin führt uns das, liebe Kolleginnen und Kollegen?
Die Preise gehen runter, runter, runter . 3 200 Milchhöfe
haben in 2015 aufgeben müssen . Dieses Jahr werden es
wahrscheinlich noch mehr sein, bald 10 Prozent im Moment in Schleswig-Holstein . Der LEH nutzt gnadenlos
das Überangebot aus und treibt die Preise tiefer und tiefer . Der Liter Milch ist bei einem Preis von knapp über
40 Cent im LEH billiger als Mineralwasser .
Bauernverbandsgeschäftsführer Krüsken hat dies als
Bankrotterklärung des Lebensmitteleinzelhandels und
der Molkereien bezeichnet . Recht hat er . Aber ganz sicher ist es auch eine Bankrotterklärung von Minister
Schmidt .
({0})
Die Bündelung der Erzeuger zu stärken, was wir heute
tun, ist dringend notwendig . Wir würden, wenn es nur alleine darum ginge, diesem Gesetz auch vonseiten der Opposition zustimmen . Das brauchen wir . Wir können das
Verfahren gern noch einmal wiederholen, Kees de Vries;
es ist auch protokolliert . Vielleicht liest du es einmal;
dann kannst du noch einmal erfahren, wie es gewesen ist .
Das Pilotverfahren des Kartellamtes zur Überprüfung
der Lieferbeziehungen, das im Moment läuft, begrüßen
wir auch . Wir warnen aber davor, in zu großer Zuversicht
zu schwelgen, und mahnen zu Vorsicht . Wenn aber die
Änderungen der Andienungspflicht, die ihr heute vollzieht, nur darauf abzielen, die Flexibilität auf dem Markt
zu erhöhen, führt das eben nicht zu einer Stärkung und
Bündelung der Milcherzeuger, sondern wird genau das
Gegenteil bewirken . Wir brauchen eine andere Marktstruktur mit mehr und kleineren Molkereien und einer
deutlichen Stärkung der Erzeuger .
({1})
Darum geht es heute . Wir sollten auch frank und frei erklären, worum es eigentlich geht .
Zum jetzigen Zeitpunkt aber einmal holterdiepolter die
Andienungspflicht - am Ende wird es die Abnahmeverpflichtung sein - gleich mit zu kippen, das ist deutlich zu
schnell geschossen, lieber Kollege Wilhelm Priesmeier .
({2})
Dies ist - das sage ich dir als leidenschaftlicher Genossenschaftler - Grundlage des genossenschaftlichen
Handelns . Das zu machen, indem du morgens einmal
aufwachst und etwas zu laut vor dich hin gedacht hast,
die Abschaffung jetzt so einfach übers Knie brichst und
es so schnell tust - als handstreichartig, als überfallartig
möchte ich es bezeichnen -, dieses Gebaren macht die
Opposition in der Tat nicht mit .
({3})
Da verweigern wir uns; denn das ist nicht sachgerecht .
Das geht auf gar keinen Fall .
({4})
Wir sind stolz darauf, dass wir in den vergangenen
Jahrzehnten den notleidenden Menschen auf dem Lande mit den Genossenschaften helfen konnten . Das war
eine große Errungenschaft . Diese in einer Nacht-und-Nebel-Aktion niederzumachen, auch noch mit Scheingefechten, wir ihr das macht, geht so nicht . Damit wird nur
von der Krise abgelenkt . Das hilft niemandem: keinem
Betrieb und auch sonst keinem .
({5})
Es geht doch heute nur um eine Sache: Wie können
wir die Menge verringern? Mengenreduzierung ist das
Thema, egal wie; nichts anderes . Damit müssen wir anfangen . Wir müssen die Realitäten ins Auge fassen . Deshalb fordern wir den Minister auf: Koppeln Sie jetzt die
von Ihnen angekündigten Mittel endlich an die Mengenreduzierung . Geben Sie Hilfen nur gegen eine Mengensenkung . Das ist das Gebot der Stunde . Tun Sie endlich
etwas! Lösen Sie endlich die Probleme, statt weiter auf
der Bremse zu stehen .
Schönen Dank .
({6})
Vielen Dank . - Als Nächster spricht der Kollege
Waldemar Westermayer, CDU/CSU-Fraktion .
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Werte
Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute die
Änderung des Agrarmarktstrukturgesetzes . Ich möchte
gleich zu Anfang deutlich machen, dass der vorliegende
Gesetzentwurf ein wichtiger Baustein für den Einstieg in
die Marktwirtschaft für die Milcherzeuger in Deutschland und Europa leistet .
Wenn sich der Erzeugerpreis dauerhaft bei unter
30 Cent einpendelt, ist die Zukunft der Milcherzeuger
massiv bedroht . Es gibt auch gute Beispiele, etwa im
Berchtesgadener Land, wo 34 Cent für 1 Liter Milch
bezahlt werden, oder bei uns von der OMIRA, die jetzt
Verträge über einen Milchpreis von 32,5 Cent über
100 000 Tonnen Milch für ein Jahr geschlossen hat . Darauf komme ich noch zurück . Bestimmte Molkereien
zahlen teilweise nur noch einen Preis von unter 20 Cent,
vor allem in Norddeutschland .
Schon im letzten Jahr mussten rund 3 200 Milchviehbetriebe in Deutschland aufgeben . Angesichts der aktuellen Situation auf dem Markt braucht die Milchwirtschaft
mit ihren noch 74 000 Betrieben in der Bundesrepublik
zweierlei: Zum einen benötigen wir Sofortmaßnahmen .
Diese hat Minister Schmidt am Montag auf dem Milchgipfel vorgestellt . Vor allem die rückwirkenden steuerlichen Möglichkeiten zur Gewinnglättung ab 2014 sind
sehr sinnvoll . Hervorheben möchte ich zum anderen aber
auch den gestiegenen Zuschuss zur Unfallversicherung
und die vorgeschlagenen Bürgschaften . Aus meiner Sicht
muss die Erteilung von Bürgschaften aber an Bedingungen geknüpft werden . Das sind wichtige Elemente, um
die aktuelle Krise zu überbrücken .
Die Brücke alleine reicht aber nicht aus . Am Ende der
Brücke muss es eine Perspektive geben . Diese Perspektive muss langfristig und nachhaltig sein . Deshalb halte ich
ausdrücklich nichts von einer Rückkehr zu einer staatlich
verordneten Quote . Diese hat in den über 30 Jahren ihres
Bestehens nicht für einen nachhaltigen Markt gesorgt .
Vielmehr gab es den jetzt ausgiebig besprochenen Strukturwandel auch schon zu Zeiten der Milchquote . Über
380 000 Betriebe waren es 1983, als man sie eingeführt
hat . Jetzt gibt es noch 74 000 Betriebe . Ein einfaches Zurück zum vorherigen System darf es deshalb nicht geben .
({0})
Als Milchviehhalter, der schon viel für Quotenrechte
gezahlt hat, weiß ich, wovon ich rede . Wir müssen stattdessen die Erzeuger stärken .
({1})
Das beinhaltet für mich zunächst eine grundlegende Veränderung der Stellung der Erzeuger am Markt .
({2})
Wir müssen weg vom bloßen Anliefern und hin zu einem
Verkaufen der Milch .
({3})
Erfolgreiches Wirtschaften bemisst sich nämlich nicht
allein danach, volle Tankwagen vom Hof fahren zu lassen . Vielmehr muss der Einstieg in einen bedarfsangepassten Verkauf erfolgen . Hier ist die Branche gefragt .
Sie muss tragfähige Konzepte für die Ausgestaltung der
Vertragsbeziehungen liefern . Diese sind aus meiner Sicht
der Schlüssel für eine nachhaltige Aufwertung der Stellung der Erzeuger . Verträge über den Preis, die Laufzeit
und die Menge sind die Grundlage für eine erfolgreiche
Marktbeteiligung .
({4})
In diesem Zusammenhang brauchen wir eine starke anerkannte Branchenorganisation .
Wir Politiker können nur das Spielfeld aufbauen und
regeln . Spielen müssen die Akteure selber . Im Kartellrecht ermöglichen wir jetzt schon und weiter verstärkt
durch den vorliegenden Gesetzentwurf den Erzeugern
eine Bündelung . Der gebündelten Marktmacht auf der
Seite des Handels muss jedoch jetzt endlich etwas entgegengesetzt werden . Die einseitige Verteilung des Preisrisikos zulasten der Erzeuger darf nicht einfach so weitergehen .
({5})
Im jetzigen System werden falsche Anreize gesetzt,
zum Beispiel durch das Milchgeld . Ein Teil des Problems
ist doch, dass der Lebensmitteleinzelhandel und die Molkereien überhaupt kein Risiko tragen .
({6})
Die Molkereien setzen die Milch ab und ziehen ihre
Produktionskosten und ihre Gewinne ab, und der Rest
verbleibt dann beim Erzeuger . Das ist nicht sach- und
interessengerecht . Vielmehr muss jeder Teil der Wertschöpfungskette auch am Ertrag beteiligt sein .
Abschließend möchte ich noch einmal betonen, dass
wir Politiker die Ursache des Problems nicht allein beheben können und werden . Wir brauchen hierzu die Branche und müssen gesetzliche Vorgaben machen, damit wir
endlich echte und faire Vertragsbeziehungen etablieren .
Das sollte unser gemeinsames Ziel sein . Deshalb gehen
wir mit dem Agrarmarktstrukturgesetz einen wichtigen
Schritt in Richtung Marktwirtschaft . Ich möchte mich
auch bei der SPD bedanken, die hier hervorragend mitgezogen hat . Ich hoffe, dass es beim Düngegesetz genauso
der Fall sein wird .
Herzlichen Dank .
({7})
Vielen Dank . - Als Nächstes spricht für die SPD-Fraktion jetzt der Kollege Johann Saathoff .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Zweimal Milchpolitik an einem Tag: Das
haben wir selten in diesem Hause. Aber ich finde, dass
die Bäuerinnen und Bauern es verdient haben, dass wir
uns mit der Situation auseinandersetzen und miteinander
über die beste Lösung streiten . Ich glaube, Streit ist auch
etwas, das die Kultur ausmacht und für die Bäuerinnen
und Bauern auf jeden Fall richtig sein kann .
Halten wir an dieser Stelle fest: Das Problem sind
Überkapazitäten im Milchmarkt . Wir haben es schon gehört: Das Angebot ist in der EU 2014 um 2,2 Prozent und
2015 um 3,8 Prozent gestiegen . Das heißt, wir haben ein
zu großes Angebot im Milchmarkt .
Auf der Nachfrageseite haben wir einen deutlichen
Nachfragerückgang erlebt, insbesondere bei den Exporten außerhalb der Europäischen Union .
Aber ich finde, dass es an dieser Stelle auch dazugehört, zu betonen, dass es gut ist, dass mittlerweile alle
erkannt haben, dass der Markt insgesamt das Problem ist
und nicht nur die Nachfrageseite .
({0})
Ich würde mir wünschen, dass die Bauernverbände in der
politischen Debatte irgendwann wieder zusammenfinden
und sich miteinander abstimmen, was die beste Lösung
ist, damit wir nicht über Monate die Situation haben, dass
der eine Hü sagt und der andere Hott .
({1})
Im Agrarmarktstrukturgesetz wird die Möglichkeit der
Mengenabsprache zwischen Molkereien und Erzeugergemeinschaften geregelt . Das hilft sicher, aber ich glaube
nicht, dass es das Problem löst . In Ostfriesland würde
man sagen: Man hett eerst utleert, wenn all Finger gliek
lang sind . Das heißt: Man lernt nicht aus im Leben .
Ich glaube, wir brauchen neue Standards und neue
Rahmenbedingungen, vielleicht für eine zusätzliche und
andere Milchwirtschaft . Wir haben viel über Landwirtschaft 4 .0 geredet . Aber haben wir uns eigentlich auch
Gedanken über Landwirtschaft 2 .0 und 3 .0 gemacht? Zu
Landwirtschaft 2 .0 gehört für mich zum Beispiel, dass
Verbraucher einfacher in die Lage versetzt werden, wertvolle Milch, zum Beispiel Grünlandmilch, zu kaufen .
Dazu gehört zwingend, dass diese Milch gekennzeichnet
wird .
({2})
Diese Milch muss an bestimmte Voraussetzungen gebunden werden . Wer macht sich denn heute beim Milchkauf Gedanken über Zellzahlen, Omega-3-Fettsäure,
über Bedingungen, wie Tiere im Stall und auf dem Feld
gehalten werden, über gentechnikfreie Fütterung oder
über die Frage, ob man nicht künftig Zweinutzungsrinder
einsetzen kann, statt immer nur auf eine bestimmte Nutzung zu achten? Dass, wenn die Kennzeichnung richtig
ist, die Verbraucher dies auch annehmen, sieht man wunderbar am Beispiel der Bodenhaltung von Hühnern im
Bereich der Eierwirtschaft .
Zu Landwirtschaft 3 .0 gehört aus meiner Sicht ein
Blick auf die Forschungseinrichtungen im Bereich der
Landwirtschaft . Das Ministerium unterhält sieben Forschungseinrichtungen mit einem Etat von mehreren
100 Millionen Euro. Ich finde, liebe Kolleginnen und
Kollegen, 10 Prozent für alternative Wege der Milchwirtschaft wären in dieser Krise gut investiertes Geld für
Leuchtturmprojekte der neuen Milchwirtschaft und für
Leuchtturmprojekte in der Milchverarbeitung . Wir wissen alle: Jeder Euro, der darin investiert würde, würde
fünfmal über Wertschöpfung zurückkommen und kommt
den ländlichen Räumen insgesamt zugute .
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
({3})
Vielen Dank . - Damit ist die Aussprache beendet .
Wir kommen zur Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurf
eines Gesetzes zur Änderung des Agrarmarktstrukturgesetzes . Der Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 18/8646, den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 18/8235
in der Ausschussfassung anzunehmen . Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung
zustimmen wollen, um das Handzeichen . - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist in
zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der Opposition angenommen .
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung . Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben . Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist in dritter Lesung mit dem gleichen Stimmenverhältnis angenommen .
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 18/8646 empfiehlt der Ausschuss, eine
Entschließung anzunehmen . Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der
Opposition angenommen .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Katharina Dröge, Kerstin Andreae, Dr . Thomas
Gambke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Für mehr Transparenz und demokratische
Kontrolle bei der Ministererlaubnis
Drucksache 18/8078
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({0})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen . - Ich höre hier
keinen Widerspruch . Dann ist so beschlossen .
Ich bitte Sie, Ihre Plätze einzunehmen oder die Gespräche außerhalb des Plenarsaals fortzusetzen - Herr
Kollege Spiering auch .
({1})
Die Herren hier von mir aus gesehen rechts bitte ebenfalls die Debatten außerhalb des Plenarsaals fortsetzen .
Ich eröffne die Aussprache . Das Wort hat die Kollegin
Katharina Dröge, Bündnis 90/Die Grünen .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir haben in den letzten Wochen öfter miteinander über das Thema Ministererlaubnis gesprochen .
Wir haben über die aktuelle Ministerentscheidung von
Sigmar Gabriel im Falle der Fusion Edeka/Tengelmann
gesprochen . Wir Grünen haben uns hier klar positioJohann Saathoff
niert: Wir halten die Entscheidung von Sigmar Gabriel
für falsch . Genauso wie das Kartellamt, genauso wie die
Monopolkommission, genauso wie Verbraucher- und Erzeugerverbände halten wir diese Entscheidung für schädlich für den Wettbewerb, schädlich für die Verbraucher
und schädlich für die Zulieferer .
({0})
Die Entscheidung von Sigmar Gabriel bedeutet mehr
Marktmacht für Edeka, weniger Wettbewerb, weniger
Auswahl für die Verbraucher, höhere Preise in den Supermarktregalen und mehr Preisdruck auf die Hersteller,
auf die Bäuerinnen und Bauern . Deswegen ist Ihre Entscheidung falsch .
Gleichzeitig schafft es Sigmar Gabriel nicht, das einzige von ihm angeführte Argument zugunsten dieser Ministererlaubnis umzusetzen . Er hat versprochen, er würde
durch die Fusion 16 000 Arbeitsplätze retten . Doch das
hat er nicht erreicht. Denn die Auflagen, die er für diese
Fusion vorgesehen hat, retten eben nicht 16 000 Arbeitsplätze . Sigmar Gabriel hat offengelassen, wie viele Arbeitsplätze gerettet werden, und er hat offengelassen, für
wen dieser Schutz gilt .
Unsere Nachfragen im Wirtschaftsausschuss, unsere
Nachfrage an das Bundeswirtschaftsministerium haben
ergeben, dass nur die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
von Kaiser’s Tengelmann durch diese Auflagen geschützt
sind, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Edeka
nicht . Genau das, was wir nun in der Presse lesen können, passiert jetzt, nämlich dass der Konzern nach der
Fusion eigene Mitarbeiter entlässt, dass diese Personen
nicht geschützt sind und dass die Auflagen von Sigmar
Gabriel an dieser Stelle nicht funktionieren .
({1})
Unser Fazit lautet daher: schlechte Entscheidung,
schlecht gemacht .
Wir kritisieren in unserem Antrag des Weiteren die
Art und Weise, wie Sigmar Gabriel diese Entscheidung
getroffen hat; auch diese ist schlecht . Wenn man sich anschaut, wie die Ministererlaubnis funktioniert, dann stellt
man fest, dass ein einziger Mensch darüber entscheidet,
ob zwei so große Unternehmen miteinander fusionieren
dürfen . Er entscheidet, ob die Entscheidung des Bundeskartellamts rückgängig gemacht wird . Er entscheidet, ob
es überragende Interessen im Sinne des Allgemeinwohls
gibt, die eine solche Entscheidung legitimieren . Ich frage mich ganz ehrlich: Wieso sollte ein Mensch entscheiden können, ob es überragende Interessen im Sinne des
Allgemeinwohls gibt? Sind nicht wir, die Mitglieder des
Deutschen Bundestages, es, die dafür gewählt sind, zu
definieren, was ein überragendes Interesse im Sinne des
Allgemeinwohls ist? Sind es nicht wir, die die Aufgabe
haben, miteinander abzuwägen, ob es ein solches Interesse gibt?
Wir sind der Meinung, dass solche Entscheidungen
aus dem Hinterzimmer heraus müssen . Wir schlagen
vor, dass der Deutsche Bundestag über solche Entscheidungen beraten kann . Wir schlagen ein suspensives Veto
des Bundestages vor, wenn ein Minister, wie es Sigmar
Gabriel gemacht hat, das Bundeskartellamt überstimmt .
Wir fordern, dass der Bundeswirtschaftsminister ordentlich und transparent informiert, welche Beweggründe es
für seine Entscheidung gibt . Das hat er im laufenden Verfahren nicht gemacht . Wir haben zig Fragen gestellt, Fragestunden genutzt und Aktuelle Stunden dazu durchgeführt und Anfragen an die Bundesregierung gestellt . Aber
er musste seine Entscheidung gegenüber dem Parlament
noch nicht einmal begründen . Mehr Hinterzimmer und
mehr Intransparenz gehen aus meiner Sicht nicht .
({2})
Wir wollen, dass dieses durchaus wichtige Instrument
demokratisch legitimiert ist, dass es akzeptiert ist, dass
die Menschen verstehen und dass transparent ist, warum
eine Entscheidung so getroffen wird . Wir sagen nicht,
dass es keine Allgemeinwohlgründe geben kann, die eine
solche Fusion letztendlich rechtfertigen . Wenn aber ein
Mensch allein im Hinterzimmer eine solche Entscheidung treffen kann, ohne sie begründen zu müssen, dann
macht es sie massiv missbrauchs- und lobbyanfällig .
Deswegen haben wir einen Antrag eingebracht, in dem
wir ein suspensives Veto fordern . Die Beteiligung des
Bundestages stärkt am Ende auch die Ministererlaubnis .
Deshalb hoffe ich, dass wir uns heute gemeinsam auf diesen Weg verständigen .
({3})
Vielen Dank . - Nächster Redner ist der Kollege
Dr . Matthias Heider für die CDU/CSU-Fraktion .
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Was haben eigentlich
die Unternehmen Daimler-Benz, Eon und Edeka gemeinsam? Sie alle sind schon einmal in den Genuss einer Ministererlaubnis gekommen . Daimler-Benz durfte sich im
Jahr 1989 mit MBB, einem Luft- und Raumfahrtunternehmen, zusammenschließen . Das Unternehmen Eon konnte
im Jahr 2002 mit der Ruhrgas fusionieren . Schließlich
hat der Wirtschaftsminister in diesem Jahr entschieden,
dass der Handelskonzern Edeka das Unternehmen Kaiser’s Tengelmann übernehmen darf . Über dieses aktuelle Fusionsverfahren haben wir im Wirtschaftsausschuss
und in mittlerweile einigen Sitzungen hier in diesem
Haus gesprochen . Ich habe wiederholt in der Diskussion auf die Risiken hingewiesen, die mit dieser Entscheidung einhergehen . Aus meiner Sicht sind noch nicht alle
Fragen gelöst . Einige sind gerade angesprochen worden:
Reicht das Arbeitsplatzargument als alleinige Begründung aus, um erhebliche Wettbewerbsbeschränkungen
aufzuwiegen? Ist es sinnvoll, eine solche Erlaubnis vom
Wohlwollen Dritter, von den Gewerkschaften, abhängig
zu machen? Werden durch die Bedingungen wirklich alle
Arbeitsplätze bei Kaiser’s Tengelmann gesichert, oder
wird Edeka eigene Arbeitnehmer bei sich entlassen, um
die Übernahme möglichst effizient zu gestalten? Diese
Fragen müssen noch beantwortet werden . Da warten wir
noch auf die Entwicklung, die sich in diesen Wochen erst
ganz langsam zeigt .
Generell nehme ich jedenfalls aus diesen Verfahren
erst einmal mit: Das Instrument der Ministererlaubnis
scheint reformbedürftig zu sein . Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, ist die Aufmerksamkeit, die Sie dieser Regelung zuteilwerden lassen, verdient, auch wenn ich Ihren Lösungsvorschlag nicht teile .
({0})
Das Ministererlaubnisverfahren ist seit seiner Einführung im Jahr 1973 umstritten . Die Ministererlaubnis
ist im deutschen Kartellrecht ein Ausnahmeinstrument .
Es gibt sie beispielsweise im europäischen Kartellrecht
nicht . Der Bundeswirtschaftsminister kann sich durch
seine Ministererlaubnis über eine ablehnende Entscheidung des Bundeskartellamtes hinwegsetzen und eine Fusion zweier Unternehmen aufgrund von Vorteilen für das
Allgemeinwohl erlauben .
Doch was sind diese Gründe für das Allgemeinwohl?
In den 22 Ministererlaubnisverfahren, die seit Einführung des Instruments durchgeführt worden sind, haben
sich verschiedene Fallgruppen herausgebildet . So hat
der Bundeswirtschaftsminister im Fall von Daimler/
MBB eine Ministererlaubnis zur Verbesserung der Privatisierungsmöglichkeiten und aus Gründen des Subventionsabbaus erteilt . Außerdem spielte in dem Verfahren
die Sicherung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit
eine Rolle . Auch das hat im Verfahren Eon und Ruhrgas
eine Rolle gespielt . Schließlich war im Verfahren Edeka/Kaiser’s Tengelmann der ausschlaggebende Grund
die Arbeitsplatzsicherung . Neu daran war und ist, dass
das Argument der Arbeitsplatzsicherung bisher nicht bei
einer Entscheidung als einziger Ausnahmegrund angesehen worden ist .
({1})
Das Risiko liegt darin, dass dies eine politische Entscheidung ist .
({2})
Das soll heißen: Die Frage, was als Allgemeinwohl angesehen wird, haben verschiedene Wirtschaftsminister
in den letzten Jahren natürlich völlig verschieden beantwortet . Das ist das Problem daran . Die Entscheidung des
Wirtschaftsministers hat einen zu großen Abstand zu den
wettbewerbsrechtlichen Verbotsmerkmalen im Laufe der
Jahre bekommen .
Sie, liebe Grüne, schlagen jetzt in Ihrem Antrag zur
Begrenzung dieser Unabhängigkeit ein aufschiebendes
Veto des Deutschen Bundestages vor . Wenn der Bundeswirtschaftsminister von einem solchen Veto abweichen
will, dann soll dies nur mit Zustimmung der Bundesregierung möglich sein . Ich halte den Vorschlag nicht für
zielführend; denn die Entscheidung über eine Ministererlaubnis bedarf umfangreicher wettbewerbsrechtlicher
Ermittlungen, ausführlicher Informationen, die eingeholt
werden müssen, und einer zeitaufwendigen Analyse dieses Sachverhalts .
Eine solche Möglichkeit der Ermittlungs- und Analysetätigkeit hat unser Parlament nicht . Bei Ihrer Argumentation, dass das Parlament die Allgemeinwohlgründe
am besten bestimmen könne, verkennen Sie, dass es eigentlich wirtschaftspolitische Gründe sind . Maßgeblich
für die Entscheidung über eine Ministererlaubnis ist nicht
nur die Beurteilung der Gemeinwohlargumente, sondern
vielmehr die Abwägung mit den Wettbewerbswirkungen
des Zusammenschlusses .
({3})
Dabei sind entsprechende Merkmale der Marktmacht
zu untersuchen; sie sind festzustellen, und sie sind hinterher wieder zu überprüfen . Daher glaube ich nicht, dass
ein Veto in einem solchen Verfahren die Entscheidung zu
einer besseren machen würde, auch nicht dadurch, dass
der Rest der Bundesregierung darin einbezogen wird .
Entscheidungsfindungen in dieser Form halte ich nicht
für sinnvoll .
({4})
Sie würden im Zweifel nur die Entscheidung auf eine andere Ebene heben .
Wir wollen nicht, dass das Parlament exekutives Handeln vornimmt . Das ist Aufgabe der Regierung, die hier
zu meiner rechten Seite sitzt, und unsere Verfassung sagt,
dass wir das gar nicht dürfen . Aufgabe der Monopolkommission in einem Ministererlaubnisverfahren ist es, ein
Gutachten zu erstellen . Das Gutachten enthält neben
der Würdigung der vom Bundeskartellamt festgestellten
Wettbewerbsbeschränkungen und der Gemeinwohlgründe eine Empfehlung, die an den Minister ausgesprochen
wird .
Bisher haben die Gutachten der Monopolkommission keine Bindungswirkung . Das verkennt jedoch den
Wert der Arbeit, den diese Kommission leistet . Es sind
hochkarätige Mitglieder, die volkswirtschaftliche, betriebswirtschaftliche, sozialpolitische, technologische
und wirtschaftsrechtliche Kenntnisse und Erfahrungen
mitbringen . Sie sind prädestiniert dafür, den Minister zu
beraten, und ihrer Arbeit sollte ein höherer Stellenwert
zukommen .
Ich halte es für sinnvoll, die Arbeit der Kommission
weiter zu stärken, indem der Bundeswirtschaftsminister
seine Ministererlaubnis nur im Einvernehmen mit der
Monopolkommission treffen sollte . So würde sichergestellt, dass die Expertise der Mitglieder dieses Gremiums
auch Gewicht hat . Zudem ersparen wir dem Minister,
dass er im Kreuzfeuer der Kritik steht, wenn die Entscheidung nicht so ausgeht, wie sich viele das vielleicht
vorgestellt haben .
Der Rücktritt des ehemaligen Vorsitzenden der Monopolkommission Professor Zimmer spricht Bände . Das
zeigt auch, dass in dem Gremium der Monopolkommission nicht nur Unmut, sondern auch Unverständnis über
diese Entscheidung herrscht . Das ist nachvollziehbar, zumal es nicht das erste Mal gewesen ist, dass ein Bundeswirtschaftsminister so entschieden hat . In den neuen Verfahren, in denen der jeweilige Wirtschaftsminister eine
Ministererlaubnis erteilt hat, ist er nur in drei Fällen den
Empfehlungen der Monopolkommission gefolgt .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, wir können heute eines feststellen: Die Reform der Ministererlaubnis steht nach vielen Jahrzehnten an . Lassen Sie uns
die Diskussion darüber in den Beratungen über die anstehende neunte Novelle des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen führen .
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
({5})
Er war schon fertig . - Danke schön . - Der nächste
Redner ist der Kollege Michael Schlecht, Fraktion Die
Linke .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren!
({0})
- Wollen Sie mir zuhören? - Nein?
({1})
- Gut! Ich würde Ihnen ja auch gerne etwas sagen .
Als dieser Antrag von Ihnen kam, habe ich zum Teil
gedacht, dass da etwas ganz Sinnvolles kommt, wobei
ich mich auch schon wieder gefragt habe, ob der Antrag
nur vorgelegt wurde, um noch einmal eine vermeintliche
Abrechnung mit dem Wirtschaftsminister in der Frage
Edeka und Tengelmann vorzunehmen . Momentan habe
ich - nachdem ich mir Ihren Vortrag angehört habe - das
Gefühl, dass dies eher das Motiv ist . Also, ich hätte, sosehr ich jetzt für diese Ministererlaubnis bin, persönlich
in der Tat ein Interesse, das Verfahren der Ministererlaubnis zu verändern, und zwar allein schon deshalb, weil ich
sehe, was in der Vergangenheit passiert ist .
In der Vergangenheit hat man sich - wenn man sah,
was da lief - schon gefragt, ob nicht irgendwelche Lobbyisten das Ministeramt okkupiert und ihren alten Freunden eine Fusionserlaubnis erteilt haben . Das letzte Mal
hat mich zum Beispiel im Jahr 2002 in Bezug auf Minister Werner Müller dieses Gefühl beschlichen . Vor diesem
Hintergrund finde ich schon, dass man die Weisheit eines
Ministers, aber auch die - ich sage das einmal so - vermeintliche Weisheit einer Monopolkommission am Ende
einer parlamentarischen Kontrolle unterziehen sollte .
Man könnte sich sehr wohl vorstellen - dabei gingen
meine Vorstellungen viel weiter als das, was Sie von den
Grünen in Ihrem Antrag aufgeschrieben haben -, dass
sich ein Minister, wenn er die Empfehlung der Monopolkommission nicht teilt und abweichend davon eine
Fusion zulassen will, noch die Zustimmung aus dem Parlament holen muss .
Aber ich sage es einmal so: Das geht jetzt noch in die
Ausschüsse . Wir können ja im Ausschuss darüber diskutieren, wie man sich so etwas vorstellen kann . Das müssen wir jetzt hier - ich habe ja auch nur eine relativ kurze
Redezeit - nicht bis ins Kleinste durchdiskutieren . Ich
sage aber noch einmal: Man muss dann auch, finde ich,
die Weisheit einer Monopolkommission infrage stellen .
Herr Heider, Sie haben ja eben auch so getan, als wenn
die Monopolkommission die Weisheit mit Löffeln gefressen hätte . Da hätte ich wirklich größte Zweifel . Da
das am Ende - Sie haben das selbst betont - eine politische Entscheidung ist, sollte man es, finde ich, dann auch
dem Parlament vorbehalten .
Vielleicht noch ein paar Sätze zu Edeka und Tengelmann . Mich wundert in der Tat, dass Sie vonseiten der
Grünen - Frau Dröge, ich schätze Sie sonst sehr - nach
wie vor so verbiestert dagegen anrennen .
({2})
Anscheinend ist es Ihnen wirklich nicht zugänglich zu
machen, was für einen Wert es hat, wenn dort einer großen
Zahl von Beschäftigten - seien es 16 000 oder auch etwas
weniger, je nachdem wie es läuft - die Existenz gerettet
wird . Als jemand, der so etwas als Gewerkschaftssekretär jahrzehntelang erlebt hat, weiß ich, was es bedeutet,
wenn Leute in den Betrieben zum Teil unter schwierigsten Bedingungen ihre Arbeitsplätze verlieren . Von daher
empfinde ich es erstens als wichtig, dass solch ein Impuls
gesetzt wird bzw . dass dort Menschen geholfen wird . Ich
lobe Minister Gabriel in diesem Fall ausdrücklich . Das
ist mir ja auch ein bisschen befremdlich; aber ich tue es,
weil es, wie ich finde, der Sache angemessen ist.
({3})
Zweitens treibt mich auch die Frage um: Rennen Sie
so gegen diese Entscheidung an, weil hier zum ersten
Mal ein Minister den Gewerkschaften eine ganz starke
Stellung verschafft und ihnen, wie wir als Gewerkschafter sagen würden, Korsettstangen eingezogen hat?
({4})
Das frage ich mich auch:
({5})
Stört Sie das? Das wäre auch die Frage - sie treibt mich
manchmal um -, die ich in Richtung CDU/CSU stellen
könnte . Denn diese Entscheidung beinhaltet wirklich ein
positives Element: dass dort nämlich die Interessenvertretung Gewerkschaft die Möglichkeit hat, diesen ProDr. Matthias Heider
zess ganz anders zu gestalten, als wenn diese Ministererlaubnis mit dieser Auflage nicht gekommen wäre.
Danke schön .
({6})
Danke schön . - Frau Kollegin Dröge, die Zeit war
abgelaufen . - Nächster Redner ist der Kollege Marcus
Held, SPD-Fraktion .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Ich finde diese Debatte schon bemerkenswert,
wenn ich sie so verfolge, insbesondere weil doch einige Kolleginnen und Kollegen und ganze Fraktionen hier
im Parlament ihr wahres Gesicht zeigen . Wenn ich höre,
dass plötzlich der Erhalt von Arbeitsplätzen nicht mehr
im Mittelpunkt unserer politischen Bemühungen stehen
darf, dann bin ich - das sage ich an die Adresse der Grünen und auch der CDU/CSU - doch einigermaßen überrascht .
({0})
Das Arbeitsplatzargument muss das zentrale Argument
sein, auch bei dieser Debatte um die Ministererlaubnis .
Das möchte ich Ihnen an dieser Stelle eingangs ganz ausdrücklich sagen .
({1})
- Der Präsident ist noch nicht am Platz .
Ganz offenkundig möchte nicht nur die Kollegin
Dröge eine Zwischenfrage stellen, ganz offenkundig ist
auch der Redner begeistert über die Möglichkeit, auf diese Weise seine Redezeit zu verlängern .
Richtig .
Bitte schön, Frau Dröge .
Es freut mich sehr, dass Sie so begeistert sind . Auch
ich bin ganz begeistert, dass ich diese Frage jetzt stellen
darf, nachdem ich bereits den zweiten Anlauf unternommen habe, eine Zwischenfrage zu stellen .
Es geht im Zusammenhang mit der Ministererlaubnis
um die Arbeitsplätze; diesen Punkt haben Sie ja gerade
angesprochen . Sie haben da suggeriert, uns Grünen sei
es egal, ob durch eine Ministererlaubnis Arbeitsplätze
erhalten blieben . Ich möchte Sie jetzt einfach einmal
fragen, weil ich, obwohl das immer unsere Argumentation zum Thema Arbeitsplätze war, von Ihnen darauf
noch keine Antwort bekommen habe: Was ist denn mit
den Arbeitsplätzen bei den Zulieferern? Was ist mit den
Arbeitsplätzen bei den Herstellern? Was ist mit den Arbeitsplätzen bei den Konkurrenten, die durch die Fusion
von Edeka und Tengelmann unter Druck geraten? Was ist
mit den Arbeitsplätzen bei Edeka selbst? Auch das haben
wir ja im Wirtschaftsausschuss diskutiert .
Herr Gabriel hat mir mittlerweile schriftlich geantwortet, dass es keine Beschäftigungssicherung für die Mitarbeiter von Edeka gibt . Wir haben jetzt Medienberichte
dazu bekommen, dass Edeka plant, bei eigenen Unternehmen Arbeitsplätze abzubauen . Gleichzeitig hat Herr
Gabriel die Beschäftigungssicherung bei Edeka nicht zur
Voraussetzung für die Ministererlaubnis gemacht .
Was wir immer kritisiert haben, war: Diese Fusion
führt zu einer Verstärkung von Marktmacht, führt zu
einem Kostendruck, und dieser Kostendruck wird sich
negativ auf die Arbeitsplätze auswirken . Deswegen ist
es eine Illusion und ein Trugschluss von Sigmar Gabriel
gewesen, durch diese Ministererlaubnis -
Frau Kollegin Dröge, Sie sollen keine zweite Rede
halten, sondern den aufgerufenen Redner mit einer knappen Zwischenbemerkung zu einer zusätzlichen Aussage
veranlassen .
Können Sie mir das erklären?
({0})
Nach den vielen Debatten im Ausschuss glaube ich
nicht, dass man Ihnen das wirklich nahebringen kann,
weil Sie es ja nicht verstehen wollen .
Wir werden es natürlich nicht so erleben, dass, wie
Sie es über Wochen, über Monate hinweg bösartig zu
unterstellen versuchen, automatisch die Zahl der Beschäftigungsverhältnisse, die bei Kaiser’s Tengelmann
erhalten bleiben sollen - darauf werde ich gleich noch
einmal eingehen -, bei Edeka einfach wegfällt . Warten
Sie doch einmal die Verhandlungen zwischen Edeka und
den Tarifparteien ab. Die Auflage ist ganz klar, dass ein
Vertrag geschlossen werden muss . Dieser Vertrag kann
doch nicht bedingen, dass bei Edeka automatisch ein Teil
der Arbeitsplätze wegfällt . Warten Sie doch einmal das
Ergebnis ab . Wir werden sehen: Es werden nicht einfach
Edeka-Märkte geschlossen, nur weil Märkte von Kaiser’s Tengelmann zum Unternehmen dazukommen . Insofern bin ich optimistisch .
({0})
Sie nehmen hier ständig Unterstellungen vor . Sie verbreiten letztendlich Angst unter den Beschäftigten und
auch Angst in der Bevölkerung . Lassen Sie es doch endlich! Sie kommen doch so nicht weiter .
({1})
- Ja, gut . Die Erklärung wird es dann geben, wenn es zu
dem Erhalt der Arbeitsplätze kommt, Herr Kollege .
Ihr Antrag führt ja den Titel „Für mehr Transparenz
und demokratische Kontrolle bei der Ministererlaubnis“ .
Da geht es letztendlich abstrakt um das Thema Ministererlaubnis . Sie versuchen die ganze Zeit, Ihr Anliegen an
der jüngsten Ministererlaubnis und an der Person Sigmar
Gabriel aufzuhängen . Dazu muss ich sagen - das wurde
auch schon während der Reden deutlich -: Auch das Kartellamt hat keine Begründung für seine Entscheidung zu
liefern . Insofern glaube ich, hat es schon seinen Grund,
dass wir nicht öffentlich in Parlamenten über Unternehmen, über mögliche Insolvenzen, über mögliche Probleme, die in Unternehmen bestehen, debattieren . Vielmehr
müssen Entscheidungen, auch Ausnahmeentscheidungen - mehr ist ja die Ministererlaubnis letztendlich
nicht -, intern, etwa im Kartellamt, gefällt werden . Dem
darf eine demokratische Debatte hier im Parlament nicht
zuwiderlaufen .
Ich möchte aber auch ein Argument entkräften, mit
dem in der heutigen Debatte wieder ein völlig falscher
Eindruck erweckt wurde; dabei ging es um die Frage der
marktbeherrschenden Stellung . Es kommt durch die Fusion von Kaiser’s Tengelmann mit Edeka eben nicht zu
einer marktbeherrschenden Stellung . Ganz im Gegenteil,
meine Damen und Herren: Edeka hat derzeit bundesweit
einen Martkanteil von 25,2 Prozent . Kaiser’s Tengelmann hat nur noch einen Marktanteil von 0,6 Prozent
({2})
und ist deshalb in Diagrammen noch nicht einmal mehr
mit einem Balken aufgeführt . Wer bei der Fusion in Summe von einer marktbeherrschenden Stellung redet,
({3})
der hat wohl in der Grundschule in Mathe nicht aufgepasst und dem kann man es letztendlich dann auch nicht
näherbringen . Insofern sollten Sie auch hier Ihre falschen
Unterstellungen wirklich unterlassen .
Ich komme aber gern noch auf weitere Punkte in Ihrem Antrag zu sprechen . Darin steht unter anderem:
Der Entscheidungsprozess des Bundesministers für
Wirtschaft und Energie zog sich über Monate und
erzeugte erhebliche Unsicherheit für Unternehmen
und Beschäftigte .
({4})
Gleichzeitig sagen Sie auf Seite 2 in der Begründung Ihres Antrages, es sei „eine politische Abwägung, ob Gemeinwohlgründe im Einzelfall die wettbewerbsverzerrenden Folgen einer Fusion aufwiegen“, und die müsse
ausführlich geprüft werden .
Ja, meine Damen und Herren, die Tatsache, dass Herr
Gabriel sich diese Zeit genommen hat, dass er mit allen
Interessengruppen ausführlich gesprochen hat - mit den
Gewerkschaften, mit den Arbeitnehmervertretungen, mit
Kaiser’s Tengelmann, mit Edeka, mit denen, die tatsächlich dort das Sagen haben -, belegt doch gerade eindeutig, dass er sich klar und intensiv mit der Frage befasst
hat und dass er es sich mit der Entscheidung nicht leicht
gemacht hat .
({5})
Hinsichtlich einer Diskussion über die Abwägung, die
Sie auch auf der letzten Seite Ihrer Drucksache in der
Begründung fordern, liegen die Argumente doch auf der
Hand . Ich möchte sie hier auch noch einmal für die Allgemeinheit wiederholen und betonen, worum es bei der
Fusion von Kaiser’s Tengelmann mit Edeka geht .
Der Minister hat das erste Mal in der Geschichte
der Bundesrepublik entsprechende Auflagen erteilt und
Bedingungen gestellt, nämlich dass 16 000 Beschäftigungsverhältnisse erhalten bleiben müssen . Nur dann
darf fusioniert werden . Sie müssen aber nicht einfach nur
erhalten bleiben, sondern müssen durch rechtssichere
Tarifverträge und eine Kontrolle des Arbeitsplatzerhalts
durch Gewerkschaften, wie es eben Herr Schlecht schon
angesprochen hat, garantiert werden . Tarifvertragliche
Regelungen müssen also zwischen Edeka und Verdi getroffen werden; diese müssen fünf Jahre gelten, und die
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer müssen eine zusätzliche Zusage erhalten, dass nach diesen fünf Jahren
noch einmal zwei Jahre lang keine betriebsbedingten
Kündigungen ergehen dürfen . Das heißt sieben Jahre
Rechtssicherheit für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Kaiser’s Tengelmann . Ich glaube, dass es richtig und wichtig war, dass erstmals in der Geschichte ein
Wirtschaftsminister diese sozialpolitischen Bedingungen
in eine Ministererlaubnis mit aufgenommen hat .
({6})
Wenn das für Sie kein Gemeinwohlargument ist und für
Sie nicht höher wiegt als das Wettbewerbsrecht,
({7})
dann, muss ich sagen, kann ich Ihnen an dieser Stelle
auch nicht helfen .
Ich frage mich: Wo waren die Grünen als Antragsteller, als es um die Frage ging, bei Kaiser’s Tengelmann
Arbeitsplätze zu sichern? Die Diskussion läuft ja nicht
erst ein halbes Jahr . Die gibt es ja schon einige Jahre .
Da hätte ich erwartet, dass Sie Vorschläge unterbreiten
und nicht hinterher kommen und nörgeln, so wie Sie es
auch 2006/2007 gemacht haben, als die letzten Ministererlaubnisse ergangen sind . Damals - daran möchte ich
auch Herrn Heider noch einmal erinnern - war es der
Wirtschaftsminister der CDU/CSU, nämlich Michael
Glos, der hier entsprechende Ministererlaubnisse erteilt
hat . Auch das möchte ich an dieser Stelle der Vollständigkeit halber noch einmal sagen .
Nein, meine Damen und Herren, wir als SPD sind
froh und zufrieden mit der Entscheidung unseres Ministers Sigmar Gabriel, dass hier 16 000 Menschen und
ihre Angehörigen bzw . Familien weiterhin in sozial verantwortlichen, gut bezahlten und tariflich gebundenen
Arbeitsverhältnissen bleiben . Dass Sie den Erhalt von
Arbeitsplätzen falsch finden, das finden wir sehr traurig.
Vielen Dank .
({8})
Ich schließe die Aussprache .
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage
auf der Drucksache 18/8078 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall . Dann ist
die Überweisung so beschlossen .
Wir kommen damit zum nächsten Tagesordnungspunkt, dem Tagesordnungspunkt 18:
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Zweiten Gesetzes über eine finanzielle Hilfe
für Dopingopfer der DDR ({0})
Drucksachen 18/8040, 18/8261, 18/8461
Nr. 1.4
Beschlussempfehlung und Bericht des Sportausschusses ({1})
Drucksache 18/8515
- Bericht des Haushaltsausschusses ({2}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
Drucksache 18/8528
Zu diesem Gesetzentwurf liegt ein Änderungsantrag
der Fraktion Die Linke vor .
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen . - Auch dazu
sehe ich keinen wirklichen Proteststurm . Also können
wir so verfahren .
Dann will ich mal einen Verfahrensvorschlag machen .
Bei gelegentlichen Überlegungen, die wir im Ältestenrat
angestellt haben, was man vielleicht zur Verlebendigung
der Debatten tun könnte, ist uns nämlich in den Sinn gekommen, ob wir nicht gelegentlich, vor allen Dingen bei
den ohnehin kurzen Beiträgen vom Platz aus miteinander reden sollten, statt hier feierliche Reden vom Pult aus
zu halten . Jeder kann das also so machen, wie es ihm
am wohlsten ist . Aber diejenigen, die meinen, ihre Rede
würde auch vom Platz aus nichts an Wirkung verlieren,
möchte ich hiermit ausdrücklich ermutigen, davon gegebenenfalls Gebrauch zu machen .
({3})
Die Redezeit wird dadurch auch nicht kürzer .
Der Erste, dem ich das Wort erteile, ist der Kollege
Ingo Wellenreuther für die CDU/CSU-Fraktion .
({4})
Er hat fünf Minuten Redezeit, was man im Augenblick
wegen eines Ausfalls der Technik nicht sehen kann . Er
weiß es, die anderen wissen es jetzt auch . - Bitte schön .
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Präsident, es würde mich überfordern, mich
jetzt so schnell umzustellen und vom Platz aus zu reden .
Deswegen bleibe ich am Anfang hier vorne stehen .
({0})
Meine Damen und Herren, es ist inzwischen Allgemeingut: Der Sport hat herausragende Bedeutung in unserer Gesellschaft . Er begeistert, er weckt Emotionen,
er verbindet Menschen über Grenzen hinweg und leistet
einen Beitrag zur Integration . Sportlerinnen und Sportler
sind Vorbilder. Viele Kinder finden nur wegen bekannter
und berühmter Sportlerinnen und Sportler den Zugang
zum Sport . Weil das so ist, ist die Bedeutung eines ehrlichen Sports umso höher . Im vergangenen Jahr haben
wir deshalb das Anti-Doping-Gesetz verabschiedet, um
gegen die vorzugehen, die dopen . Dieses Gesetz ist ein
echter Meilenstein in der Sportpolitik und in der Dopingbekämpfung . Wie nötig das ist, zeigen die aktuellen Beispiele in der russischen Leichtathletik .
Doping schadet nicht nur dem Ansehen und der Integrität des Sports, sondern vor allem auch der Gesundheit
der Athletinnen und Athleten . Damit komme ich zum
Kern dieser Debatte über den vorliegenden Gesetzentwurf . Auf der Grundlage des sogenannten Staatsplanthemas 14 .25 wurden in der ehemaligen DDR Kinder und
Jugendliche sowie erwachsene Athletinnen und Athleten
im staatlichen Auftrag gezielt gedopt, um Leistungen im
Spitzensport zu steigern . Dabei war das DDR-Doping ein
perfides System: Kindern und Jugendlichen wurden vom
staatlich geleiteten Sportmedizinischen Dienst der DDR
unter Mitwirkung von Trainern, Betreuern und auch Vereinsärzten Dopingpräparate ohne deren Wissen verabreicht . Diese jungen Sportler wurden bewusst getäuscht
und zielgerichtet körperlich geschädigt .
Die circa 10 000 zwangsgedopten Athleten waren
weder über die Medikamente noch über die Folgen der
Einnahme dieser informiert . Was damals geschah, war
unverantwortlich und erfolgte ohne jegliche Rücksicht
auf die Gesundheit . Die überwiegend verabreichten anabolen Steroide haben zum Teil massive gesundheitliche
Schädigungen bei den Betroffenen verursacht: Krebserkrankungen, Organschäden, chronische Schäden am
Bewegungsapparat, am Gelenkapparat, psychische Belastungen oder auch massive Hormonstörungen . Dabei
handelte es sich schlicht um Zwangsdoping und - das
kann man wirklich nicht oft genug hervorheben - um
Doping im Auftrag des Staates, wobei das DDR-Regime - das kam noch erschwerend hinzu - kollusiv und
kriminell mit dem DDR-Sport zusammenwirkte .
Meine Damen und Herren, bereits das erste Dopingopfer-Hilfegesetz aus dem Jahre 2002 war ein Zeichen dafür, dass die Bundesregierung die Schicksale der
DDR-Dopingopfer anerkennt, indem sie einen gewissen
Ausgleich geschafft hat . Das Gesetz verhalf damals anerkannten DDR-Dopingopfern wenigstens zu einer finanziellen Unterstützung mittels eines Hilfsfonds . Der DOSB
und auch das Nachfolgeunternehmen von VEB Jenapharm, dessen Erzeugnisse damals die DDR-Sportler
verabreicht bekamen, erklärten sich damals ebenfalls zu
Entschädigungszahlungen bereit .
Im Jahre 2007 war dann der Hilfsfonds des ersten Doping opfer-Hilfegesetzes erschöpft . 194 DDRDoping opfer hatten eine finanzielle Unterstützung des
Bundes in Höhe von jeweils 10 500 Euro erhalten . Allerdings wurden damals nicht alle Dopingopfer erfasst . Das
lag erstens daran, dass ein Zusammenhang zwischen gesundheitlichen Schäden und Doping vielfach erst später
erkennbar war, zweitens daran, dass einige von diesem
Fonds schlichtweg nichts gewusst haben, und drittens daran, dass Dopingspätfolgen erst wesentlich später zutage
traten .
Inzwischen ist es anders . Es sind viele Opfer bekannt
geworden, die nach den damaligen Kriterien einen Anspruch auf eine entsprechende finanzielle Hilfe gehabt hätten. Deshalb war die Neuauflage eines solchen
Hilfsfonds notwendig . Dem kommen wir heute mit dem
Zweiten Dopingopfer-Hilfegesetz nach .
Um den DDR-Dopingopfern schnell und unbürokratisch zu helfen, hat das Innenministerium einen neuen
Fonds aufgelegt . Es stehen jetzt weitere 10,5 Millionen
Euro bereit . Anspruchsberechtigt sind die DDR-Dopingopfer, die nach dem ersten Dopingopfer-Hilfegesetz keine finanziellen Hilfen erhalten hatten. Die Zahlungen lindern das Leid der Betroffenen natürlich nicht, sie können
es auch nicht wiedergutmachen, aber wir als Gesetzgeber
werden einer moralischen Verpflichtung gerecht und setzen damit ein weiteres Zeichen .
Ich muss allerdings sagen: Ich halte es für sehr bedauerlich, dass sich bisher weder der DOSB noch das
genannte Nachfolgeunternehmen aus der Pharmabranche
an der Neuauflage des Fonds beteiligt haben.
({1})
Aber was nicht ist, kann ja nach dem Gesetz noch werden; die Möglichkeit besteht .
Nach § 2 des Gesetzes haben jetzt Personen Anspruch
auf Entschädigung, die erhebliche Gesundheitsschäden
erlitten haben, weil ihnen als Hochleistungssportlern der
DDR oder ihrer Mutter während der Schwangerschaft,
übrigens ohne ihr Wissen oder gegen ihren Willen, Dopingsubstanzen verabreicht worden sind . Wir gehen davon aus, dass noch circa 1 000 weitere DDR-Dopingopfer
nach den damaligen Kriterien anspruchsberechtigt sind .
Wir stellen mit dem neuen Gesetz also Gleichbehandlung
mit bereits Entschädigten her .
Ich bin der Bundesregierung sehr dankbar dafür, dass
sie diesen Gesetzentwurf sehr beschleunigt und für eilbedürftig erklärt hat sowie eine Fristverkürzung erreicht
hat, damit das Gesetz noch vor der Sommerpause verabschiedet werden kann . Angesichts der schweren Schicksale vieler DDR-Dopingopfer und vor allem auch im
Hinblick auf ihren mitunter sehr schlechten Gesundheitszustand war nämlich Eile geboten .
Das kann jetzt auch schnell gehen .
Es muss jetzt auch schnell gehen .
Es muss auch schnell gehen . Herr Präsident, Sie haben
vollkommen recht, ich beeile mich . - Die Anträge können schon jetzt an das Bundesverwaltungsamt gerichtet
werden . Sie müssen bis spätestens Juni 2017 eingereicht
sein . Ziel ist es, bereits in der zweiten Jahreshälfte 2016
mit der Auszahlung an Anspruchsberechtigte zu beginnen .
Zum Schluss darf ich noch etwas aufgreifen, was einer unserer Kollegen bereits in der ersten Debatte formuliert hat und was ich sehr wichtig finde: Der vorliegende
Gesetzentwurf und unsere heutige Diskussion darüber
müssen ein Signal an Sportlerinnen und Sportler sein, die
sich auf dem Holzweg befinden und meinen, ihre sportlichen Leistungen mit Doping steigern zu müssen . Denn
Doping lohnt sich nicht und ist gefährlich . Auf der einen
Seite sind die Gesundheitsrisiken und die Langzeitfolgen
sehr gravierend, auf der anderen Seite wird die Integrität
des Sports dadurch nachhaltig beschädigt .
Die Botschaft des heutigen Tages muss lauten: Wir
unterstützen die Opfer des Zwangsdopings der DDR und
sagen Nein zu Doping .
Herzlichen Dank .
({0})
André Hahn ist der nächste Redner für die Fraktion
Die Linke .
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor allem
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen aus der Koalition
und von den Grünen, haben noch die Chance, im Sinne des Struck’schen Gesetzes dafür zu sorgen, dass der
Gesetzentwurf das Parlament nicht so verlässt, wie er hineingekommen ist, zumal der Gesetzentwurf einen gravierenden Mangel aufweist . Dazu liegt der Änderungsantrag der Linken vor .
Allerdings haben die bisherigen Debatten, vor allem
jene im Ausschuss, nur zu wenig Hoffnung Anlass gegeben, dass es noch ein Einlenken gibt . Sie wollen den ofIngo Wellenreuther
fenkundigen Mangel aus rein politischen Gründen nicht
beheben .
({0})
Einige wollen das deshalb nicht, weil Ihnen die ideologisch geprägte Abrechnung und Diskreditierung des
DDR-Sports anscheinend wichtiger ist als die wirksame
Unterstützung von Leistungssportlern,
({1})
die gegen ihren Willen oder ohne ihr Wissen gedopt worden sind und dadurch bis heute andauernde erhebliche
gesundheitliche Beeinträchtigungen erlitten haben .
({2})
Wenn für Sie das Wohl der Dopingopfer im Mittelpunkt stehen würde, würden Sie nicht nur eine Einmalzahlung von 10 500 Euro gewähren, sondern darüber
hinaus die unzweifelhaft erforderlichen passgenauen
Hilfsleistungen für die Betroffenen . Davon ist im vorliegenden Gesetzentwurf aber keine Rede .
({3})
Und wenn für Sie das Wohl der Dopingopfer im Mittelpunkt stehen würde, würden Sie auch im Sinne des verfassungsrechtlich gebotenen Gleichheitsgrundsatzes die
deutschen Dopingopfer in Ost und West endlich in gleicher Art und Weise unterstützen .
({4})
Reflexartig - Frau Freitag hat es wieder gezeigt kommt immer wieder der Verweis, dass es sich beim
DDR-Sport um Staatsdoping auf der Grundlage des
Staatsplanes gehandelt hat, was im Westen nicht der Fall
gewesen sei .
({5})
Dazu möchte ich gerne zwei Dinge anmerken .
Erstens steht selbst in dem von der Bundesregierung
vorgelegten Gesetzentwurf nicht, dass Betroffene nur
dann antragsberechtigt sind, wenn sie Dopingopfer im
Rahmen eines Staatsplanes waren, sondern Anspruchsvoraussetzung ist einzig und allein, dass die Sportler gegen ihren Willen und ohne ihr Wissen gedopt wurden .
Das aber kann es sowohl in Ost wie West gegeben haben . Und wenn man sieht, wie die Aufklärungsarbeit der
unabhängigen Evaluierungskommission Sportmedizin
zur Dopingvergangenheit an der Universität Freiburg behindert oder sogar boykottiert wird, ahnt man, was dort
vertuscht werden soll .
Zweitens bestreitet inzwischen nicht einmal mehr die
Bundesregierung, dass es auch in der alten und heutigen
Bundesrepublik Sportler geben kann, die gegen ihren
Willen und ohne ihr Wissen gedopt wurden .
({6})
Auch deshalb ist die bislang artikulierte Ablehnung unseres Änderungsantrags unverständlich .
({7})
Entweder es gab keine derartigen Opfer im Westen - dann
werden eben auch keine Anträge gestellt -, oder aber es
gibt tatsächlich auch im Westen Betroffene - dann haben
die natürlich auch ein Recht auf Entschädigung .
Gestatten Sie mir den Verweis auf ein anderes unrühmliches Kapitel deutscher Geschichte . Der Conterganskandal ist leider bis heute ein hochaktuelles Thema .
Hier taten Bundestag und Bundesregierung gemeinsam
mit der Justiz alles, um die Opfer und ihre Angehörigen - leider sehr spät und dann noch unzureichend - zu
entschädigen . Inzwischen musste durch den Druck der
Conterganopfer und ihrer Angehörigen sowie vieler Unterstützer - die Linke eingeschlossen - das Conterganstiftungsgesetz mehrfach geändert werden; und trotzdem
gibt es im Interesse der Opfer noch immer viel zu tun .
Die historische Aufarbeitung stößt weiterhin auf Widerstand, und den größten Teil der Kosten müssen die Steuerzahler tragen - auffällige Parallelen .
Abschließend möchte ich noch eine Anmerkung zum
Verein Doping-Opfer-Hilfe machen, den wir um eine
Stellungnahme zu unserem Änderungsantrag gebeten
haben . Mit den Positionen dieses Vereins stimmen wir
wahrlich nicht immer überein, aber Ines Geipel und ihre
Mitstreiter leisten seit vielen Jahren unter schwierigen
Bedingungen eine Arbeit, vor der ich großen Respekt
habe . Ohne dieses hartnäckige Engagement hätte die
Bundesregierung ihren Gesetzentwurf wohl nicht vorgelegt . Frau Geipel hat mir Folgendes geschrieben - Zitat -:
Es ist in unseren Augen keine Frage, dass ein Athlet, der als Minderjähriger von einem westdeutschen
Trainer oder auch von einem Trainer nach 1989 gegen Wissen und Wollen gedopt wurde und heute mit
physischen und psychischen Schäden zu kämpfen
hat, entschädigt werden muss .
Und ihr Fazit ist:
Politik, zuallererst aber der Sport werden hier nachlegen müssen .
Auch deshalb fordern wir, dass sich endlich auch der
DOSB an der Finanzierung beteiligt .
({8})
Herr Präsident, ich komme zum Schluss: Die Linke
wird dem Dopingopfer-Hilfegesetz trotz der geäußerten
Bedenken zustimmen, weil wir eine Entschädigung der
Betroffenen aus der ehemaligen DDR natürlich unterstützen . Ich kann den Dopingopfern in Ost und West aber
zugleich versichern, dass dies kein Schlussgesetz ist . Das
Thema wird uns leider weiter beschäftigen müssen .
Herzlichen Dank .
({9})
Das Wort erhält nun die Kollegin Dagmar Freitag für
die SPD-Fraktion .
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Kollege Hahn, Sie mögen die Schlachten der
Vergangenheit immer wieder schlagen wollen: Ich werde
Ihnen auf diesem Weg nicht folgen, und ich erkläre Ihnen
auch gleich, warum Ihr Antrag heute ohnehin im Prinzip
gegenstandslos ist .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben es gehört,
der Bundestag beschäftigt sich heute zum zweiten Mal
mit einem der dunkelsten Kapitel in der deutschen Sportgeschichte: mit Doping und seinen Folgen . Ich spreche
jetzt ausnahmsweise nicht von den vielen vergifteten Siegen und Medaillen . Nein, ich spreche von den Folgen,
die von gewissenlosen Funktionären, Trainern, Ärzten
und Helfershelfern auf Druck staatlicher Stellen in der
DDR in Kauf genommen wurden . Die Athletinnen und
Athleten waren teilweise nichts anderes als Versuchskaninchen in einem skrupellosen System . Ich zitiere: Die
Vergabe der Präparate an die Athleten hat entweder in
Fremdpackungen bzw . ohne Packung zu erfolgen . Keinesfalls dürfen die Athleten in den Besitz der Originalpackungen gelangen . - So lautete die Anweisung des
Sportmedizinischen Dienstes der DDR .
Es ist schlichtweg erschütternd, was die Sportlerinnen und Sportler teilweise schon im Kindesalter an sogenannten unterstützenden Mitteln schlucken mussten .
Dies alles, ob Sie das mögen oder nicht, Herr Kollege, ist
von staatlicher Seite akribisch erfasst und notiert worden .
({0})
Das ist ein Unterschied zu dem, was Sie eben gesagt haben . Die Schäden der Opfer offenbaren die gesundheitlichen, aber auch die seelischen Qualen . An diesen Schäden werden sie im Übrigen bis an ihr Lebensende leiden .
Daher wollen wir die Betroffenen, die keine Hilfen aus
dem ersten Dopingopfer-Hilfegesetz bekommen haben,
mit diesem zweiten Gesetz unterstützen .
({1})
Die Bundesregierung und das Parlament bzw . die
Koalitionsfraktionen stellen sich dieser Verantwortung .
Aber - da teile ich die Meinung meiner Vorredner - es
sollten wahrlich auch andere Akteure in die Pflicht genommen werden . Wenn ich kurz einen Blick zurück werfen darf: Die Auflage des ersten Dopingopfer-Hilfsfonds
ist jetzt 14 Jahre her . Durch diese etwas längere Zeitspanne ist offensichtlich auch die Chronologie der Vorgänge
im Gedächtnis vieler etwas verblasst . Daher muss ich die
Rolle des organisierten Sports an dieser Stelle noch einmal ins Gedächtnis rufen: Die damalige Dachorganisation, der Deutsche Sportbund, hatte sich nämlich nicht,
wie gelegentlich fälschlicher Weise dargestellt wurde, im
Jahr 2002 an dem Fonds beteiligt, obwohl ausdrücklich,
wie auch jetzt, geregelt war, dass Zuwendungen von dritter Seite zulässig sind, und insbesondere der autonome
Sport aufgerufen war, seinen Beitrag zu leisten .
Das Gegenteil war der Fall: Der autonome Sport - damals der Deutsche Sportbund - hatte zunächst jegliche
Beteiligung abgelehnt . Erst durch einen Rechtsstreit mit
einer ehemaligen DDR-Schwimmerin, die Schadensersatz vom DOSB als Rechtsnachfolger des Nationalen
Olympischen Komitees forderte, kam dann Bewegung in
die Sache . Das Landgericht Frankfurt bestätigte nämlich,
dass der Deutsche Olympische Sportbund Rechtsnachfolger des NOK sei und damit grundsätzlich in Anspruch
genommen werden könne . Daraufhin hatten die Betroffenen Entschädigungsansprüche gegenüber dem DOSB
geltend gemacht, und es kam zu einer außergerichtlichen
Einigung . Das war allerdings im Jahr 2006, vier Jahre
nach Inkrafttreten unseres Gesetzes . Alle anerkannten
Dopingopfer des DDR-Sports erhielten somit eine weitere Einmalzahlung von 9 250 Euro .
Es scheint aber völlig in Vergessenheit geraten zu sein,
dass auch dieser außergerichtliche Vergleich nur deshalb
zustande gekommen ist, weil das Bundesinnenministerium eine finanzielle Unterstützung des DOSB in Höhe
von 1 Million Euro vorgenommen hatte . Der Löwenanteil kam auch hier, wie so oft, vom Bund . Ich denke, das
sollte an dieser Stelle wirklich noch einmal erwähnt werden . Der DOSB hat sich dann mit 500 000 Euro beteiligt .
Die Opfer mussten flugs schriftlich erklären, auf jegliche
weiteren Ansprüche gegenüber dem DOSB zu verzichten . Deckel zu, Fall erledigt - zumindest aus Sicht des
Sports .
Eine finanzielle Beteiligung - wen wundert es? - ist
auch beim Zweiten Dopingopfer-Hilfegesetz trotz eindeutiger Aufforderung, beispielsweise seitens des Sportministers, nicht in Sicht . Stattdessen hat die Führungsspitze des DOSB anlässlich des kürzlich begangenen
zehnjährigen Jubiläums vor einigen Tagen tatsächlich
verlauten lassen - ich zitiere -:
Jetzt sind wir froh, dass Bundesregierung und Bundestag eine weitere Entschädigungswelle durchführen wollen . Der DOSB hat diese Aktivitäten vom
ersten Tag bis heute stets aktiv unterstützt .
Ich war ein bisschen fassungslos, aber wahrscheinlich
nicht nur ich . Dieses Muster, liebe Kolleginnen und
Kollegen, kommt wohl nicht nur mir bekannt vor . Die
Haltung des Dachverbands im deutschen Sport bleibt,
wie sie schon im Jahr 2002 war: ein Armutszeugnis angesichts dessen, was eben auch im Namen des Sports
jungen Menschen angetan worden ist . Deshalb wird es
Sie nicht überraschen, dass auch ich an dieser Stelle den
DOSB wirklich noch einmal auffordere, seine Haltung
zu überdenken und seinen Teil der Verantwortung anzuerkennen .
Nun zu Ihrem Antrag, Herr Kollege Hahn . Sie fordern eine Einbeziehung von West-Dopingopfern . Darüber kann man reden, aber nicht heute . Wer das nämlich
heute fordert, lieber Herr Kollege, macht das im Wissen,
dass er damit dieses Zweite Gesetz über eine finanzielle
Hilfe für Dopingopfer der DDR komplett infrage stellt;
denn es gibt einen Beschluss des Haushaltsausschusses
vom April 2016, mit dem der Haushaltsausschuss dem
Gesetzentwurf der Bundesregierung unter dem ausdrücklichen Vorbehalt zugestimmt hat, dass der federführende
Sportausschuss - Sie waren dabei - keine Änderungen
am Gesetzentwurf mit erheblichen finanziellen Auswirkungen empfiehlt.
({2})
Dieser Beschluss des Haushaltsausschusses, Herr Kollege, erfolgte einstimmig, also auch mit den Stimmen der
Fraktion Die Linke . Vielleicht reden Sie einmal mit Ihren
eigenen Leuten . Dann würden solche Dinge wie heute
nicht passieren . Ich denke, Herr Hahn, Sie wissen das
ganz genau .
Daher stellt sich aus meiner Sicht wirklich die Frage:
Wollen Sie etwa mit dem heutigen Antrag das ganze Gesetz zu Fall bringen? Schon allein deshalb, dass das nicht
passiert, werden wir Ihrem Antrag nicht zustimmen .
Vielen Dank .
({3})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Monika Lazar das Wort .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Heute stimmen wir über einen Gesetzentwurf ab, der
auch mir persönlich sehr am Herzen liegt, nämlich das
Zweite Dopingopfer-Hilfegesetz . Für uns Grüne ist es
ein wichtiges Ergebnis, über das wir wirklich sehr froh
sind . Selbstverständlich hätten wir uns dieses Gesetz
schon sehr viel früher gewünscht, aber manchmal muss
man eben etwas länger Überzeugungsarbeit leisten und
die Koalition zu ihrem Glück zwingen .
({0})
Aber besser spät als nie . Wir werden diesem Gesetzentwurf selbstverständlich zustimmen .
Die Politik hat also ihre Hausaufgaben gemacht . Anders sieht es leider beim organisierten Sport aus . Es ist
ja von allen anderen Rednerinnen und Rednern schon
angesprochen worden: Wir würden uns eine konkrete
finanzielle Beteiligung des DOSB durchaus wünschen.
Doch bis jetzt gibt es leider nur Sonntagsreden . Die Rede
von DOSB-Präsident Alfons Hörmann beim Festakt am
20 . Mai ist von Frau Freitag schon zitiert worden . Auch
ich zitiere daraus, weil der vorherige Satz ebenfalls interessant ist:
Wir . . .
- sprich: der DOSB haben schon vor zehn Jahren die Initiative ergriffen
und mit Hilfe des Bundes und unter Einbeziehung
des Herstellerunternehmens Jenapharm viele Dopingopfer entschädigen können . Jetzt sind wir froh,
dass Bundesregierung und Bundestag eine weitere Entschädigungswelle durchführen wollen . Der
DOSB hat diese Bemühungen auf politischer Ebene
stets aktiv unterstützt .
Mit Verlaub, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich finde
diese Aussage einfach nur dreist .
({1})
Nachdem sich die Politik zu einer Neuauflage entschieden hat, steht der DOSB immer noch auf der Bremse . Der Verein Doping-Opfer-Hilfe bezeichnet die Aussagen Hörmanns auch als „Offensivlügen“ . Ganz falsch
ist das leider nicht . Aber es ist für den DOSB noch nicht
zu spät . Vielleicht sollte man das zehnjährige Jubiläum,
auch wenn es ein paar Tage oder Wochen her ist, noch
nutzen, um die Dopingopfer nicht im Regen stehen zu
lassen .
Aber auch wir sollten uns nicht zurücklehnen . Denn,
so schön wie die Zahlungen sind, es sind Einmalzahlungen . Viele Opfer können jetzt erst daran teilhaben, weil
sie bei der ersten Auflage 2003 nicht erfasst waren. Diese
Entschädigungen sind für einige auch eine moralische
Anerkennung des Unrechts, das ihnen in der DDR widerfahren ist . Deshalb bleibt für uns Grüne klar: Bleibende Schäden benötigen auch bleibende Hilfen . Wir
bleiben daher dabei, dass wir uns eine Rentenzahlung für
Schwerstfälle im DDR-Doping wünschen .
({2})
Dazu müssten die DDR-Dopingopfer nur mit ins
SED-Unrechtsbereinigungsgesetz aufgenommen werden . Vielleicht lässt sich die Koalition ja noch zu diesem
Schritt bewegen .
Zum Schluss möchte auch ich noch etwas zum Änderungsantrag der Linksfraktion sagen . Auf den ersten
Blick klingt es nachvollziehbar . Allerdings können wir
diesem Antrag nicht zustimmen . Natürlich gab es auch
in Westdeutschland Doping, und das gibt es in ganz
Deutschland heute noch . Dennoch ist es eine besondere
Sache, wenn ein Staat Doping von oben verordnet . Der
Staatsplan 14 .25 des ZK der SED vom Oktober 1974 ist
schon angesprochen worden . Für Westdeutschland wissen wir bisher noch nichts von einer flächendeckenden
Dopinganordnung durch Politik oder Sport .
In den letzten Jahren wurde von Historikern der Begriff des systemischen Dopings in der Bundesrepublik
bis 1990 verwendet . Das bedeutet Doping im kleinen
Kreis und mit großen individuellen Varianten des Dopingmissbrauchs durch Sportler, Trainer und Mediziner .
Noch gibt es keinen Beweis für ein staatlich verordnetes
Doping . Aber glauben Sie uns: Wenn sich herausstellen
sollte, dass es auch in Westdeutschland eine Dopinganordnung von oben gegeben haben könnte, wären wir
sicherlich die Letzten, die sich von einem weiteren Entschädigungsfonds, dann für West-Dopingopfer bis 1990,
nicht überzeugen lassen würden . Das müsste dann neu
beraten werden .
Vielen Dank .
({3})
Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist
die Kollegin Karin Strenz für die CDU/CSU-Fraktion .
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein
ganz persönlicher Blick zurück in meine eigene Vergangenheit: Aufgewachsen bin ich in der ehemaligen DDR .
Ich war neun oder vielleicht zehn Jahre alt, als sich in
meinem Zuhause die Sportlehrer an meiner Schule die
Klinke in die Hand gaben . Da saßen sie nun und redeten
auf meine Eltern ein . Ja, ich war - die Betonung liegt
natürlich auf „war“ - eine echte Sportskanone . Selbst
die Jungs zwei Klassenstufen höher konnten mich beim
Laufen nicht einholen; sie waren chancenlos . Dafür stieg
allerdings die Chance, als junger Kader für die KJS - das
Zauberwort für „Kinder- und Jugendsportschule“ - akquiriert zu werden .
Mein Vater - stolz wie Bolle auf seine Lütte, gebauchpinselt durch Vater Staat - war begeistert . Meine Mutter - immer darauf bedacht, ihr Kind zu behüten und zu
beschützen, es nicht zu früh aus der Familie zu geben und
zu entlassen - hat den familieninternen Machtkampf gewonnen . Die kleine Karin - ohne Ahnung - ging weiter
an drei Nachmittagen die Woche in ihre Sport-AG und
lief weiter fröhlich und unbeschwert anderen davon .
Wovor ich in Wahrheit bewahrt blieb, ist mir seinerzeit natürlich komplett verborgen geblieben . Heute bin
ich unendlich dankbar, dass mir das Schicksal der Dopingopfer aus dem DDR-Staatsplan 14 .25 erspart blieb .
Unfassbar, dass dieses Regime noch nicht einmal vor
Kindern und Jugendlichen haltgemacht hat und lebensbedrohliche und lebensvernichtende Maßnahmen ergriff,
mit dem Wissen, dass sie die Menschen und die Seelen
zerstören, nur um bei Spielen in Gold zu glänzen .
Was passiert wäre, wenn bei mir die Entscheidung
ein anderes Ende gefunden hätte, ist uns durch die vielen, vielen überaus schweren Schicksale von Sportlern,
die in der Vergangenheit systematisch auf Befehl der
DDR-Führung gedopt wurden, nun glasklar geworden .
Wir haben eine schreckliche Bilanz zu verzeichnen, die
in unseren Augen erneut dringenden Handlungsbedarf
erfordert .
Wenn nicht gleich und unmittelbar, dann wurden die
vielen gesundheitlichen Folgen erst später - oder auch
erst sehr viel später - ersichtlich . Das Gravierende, gar
Menschenverachtende daran: Die gefährlichen Dopingmittel, die zu enormer Leistungssteigerung führen sollten, wurden den Athleten nichtwissentlich verabreicht .
Sie hatten schlicht und ergreifend keinen blassen Schimmer davon, welche qualvollen Konsequenzen ihre große
Freude am Sport für ihr Leben noch haben sollte . Das ist
zutiefst bitter . Umso wichtiger ist es, dass wir den zahlreichen Opfern jetzt zügig unter die Arme greifen . Dies
wollen wir mit der heutigen Verabschiedung des Zweiten
Dopingopfer-Hilfegesetzes auf den Weg bringen .
Wenn wir heute von Staatsdoping sprechen, dachten
wir, zumindest bis vor Kurzem, dieses Vorgehen sei ein
Relikt aus vergangenen Zeiten . Doch erst jüngst wurden
wir bedauerlicherweise eines Besseren belehrt .
({0})
Während wir uns mit der Aufarbeitung und Anerkennung
befassen, stehen andere erst vor der Realisierung eines
noch nicht abzusehenden Scherbenhaufens . Ein Beispiel:
Russland hat zwar erste Konsequenzen gezogen; doch
noch kennen wir die Tragweite des Ausmaßes nicht . Das
ist zweifellos ein schmerzhafter Paukenschlag für den internationalen Sport, der, sollten sich die Vorwürfe so bewahrheiten, noch lange und vor allem im wahrsten Sinne
des Wortes tief in den Knochen stecken wird .
Die Verantwortlichen richten einen unermesslichen
Schaden für diesen unseren internationalen Sport an,
den wir lieben und der uns schon über Generationen hinweg begeistert hat . Das ist nicht hinnehmbar, und das ist
schändlich, vor allem gegenüber den fairen und sauberen
Sportlern .
Wir sollten uns die Frage stellen, was die Teilnahme
an Olympischen Spielen für einen Sportler, der ehrlich
und fair mit seinen Mitstreitern um den Sieg ringen will,
überhaupt bedeutet . Ich denke, für viele ist es das Ereignis schlechthin; das ist eine wahrhafte Lebensleistung .
Die emotionale Bedeutung sollte in keinem Fall unterschätzt werden . Denn bis ein Sportler die einzigartige
Chance erhält, an so einem Event teilzunehmen, muss er
einen steinigen Weg beschreiten und einen langen, anstrengenden Kampf führen .
Nur die Besten der Besten werden sich hier miteinander messen . Wer das geschafft hat, kämpft schließlich
um das ganz, ganz große Los: um einen Platz auf dem
Siegertreppchen, darum, in einer feierlichen Zeremonie
einmal im Mittelpunkt des Geschehens zu stehen und für
seine außerordentlich besondere Leistung vor den Augen
von Millionen Fans daheim geehrt zu werden . Was muss
das für ein besonderes und verdientes Gefühl für denjenigen sein!
Leider reicht es nicht immer für Platz eins, den Platz
ganz oben . Wer knapp daneben liegt, muss es auch verkraften . Aber umso gewaltiger muss doch die Enttäuschung für ebendiesen ehrlichen Athleten sein, wenn er
dann im Nachhinein erfährt, dass er diese Würdigung
doch verdient hätte, da der vermeintliche Sieger des Dopings überführt wurde . Schlimmstenfalls liegen dann irgendwann die Medaille und ein nettes Schreiben mit den
Worten „Herzlichen Glückwunsch“ und „mit tiefem Bedauern“ lieblos im Briefkasten . Doch das unglaubliche
Feeling einer Siegesfeier bei Olympia, das, wofür man
so lange gekämpft hat und den Menschen in Erinnerung
bleibt, ist vergangen und unwiederbringlich . Für solche
Fälle müssen wir alle zusammen ein angemessenes Zeremoniell erfinden, es kreieren, um die Würdigung der
Leistung noch einmal in den Mittelpunkt zu stellen .
In neun Wochen ist es wieder so weit . Am 5 . August beginnen die Olympischen Spiele in Rio, und ich hoffe, dass
bis dahin die Verantwortlichen der jüngsten Vorfälle angemessen sanktioniert werden . Viel zu oft fehlt genau hier
die Durchschlagskraft für eine angemessene Bestrafung .
Wer hingegen in Deutschland betrügt, indem er verbotene Substanzen zur Leistungssteigerung zu sich nimmt,
muss durch die Verabschiedung des Anti-Doping-Gesetzes, das wir Ende vergangenen Jahres hier beschlossen haben, mit strafrechtlichen Konsequenzen rechnen .
Deutschland nimmt seine Aufgabe ernst, Manipulation
und Betrügerei im Sport zu bekämpfen .
Frau Kollegin .
Sofort . - In diesem Zusammenhang gehört auch eine
ehrliche und konsequente Aufarbeitung dazu . Wir wollen
unseren Beitrag für die Integrität des Sports, vor allem
für einen sauberen Sport leisten . Wir müssen im Übrigen
alle unsere Höchstleistungen erbringen, im Job wie im
Alltag, und Doping gehört nicht dazu .
({0})
Ich schließe die Aussprache .
Wir kommen nun zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Zweiten
Gesetzes über eine finanzielle Hilfe für Dopingopfer der
DDR. Der Sportausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/8515, den Gesetzentwurf
der Bundesregierung auf den Drucksachen 18/8040 und
18/8261 anzunehmen . Hierzu liegt der vorhin angesprochene Änderungsantrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 18/8622 vor, über den wir zuerst abstimmen .
Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der Änderungsantrag abgelehnt .
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen . - Wer stimmt dagegen? - Enthält sich jemand? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen .
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung . Ich darf diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, bitten, sich von den
Plätzen zu erheben . - Möchte jemand gegen den Gesetzentwurf stimmen? - Möchte sich jemand der Stimme enthalten? - Dann ist der Gesetzentwurf hiermit einstimmig
angenommen .
Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 19:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Susanna
Karawanskij, Klaus Ernst, Jutta Krellmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Finanzaufsicht nach Anlagepleiten zum
Schutz von Verbraucherinteressen stärken
Drucksache 18/8609
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Auch hier soll nach einer interfraktionellen Vereinbarung die Aussprache 25 Minuten dauern . - Auch hier
sehe ich dazu keine Einwände . Also verfahren wir so .
Ich erteile das Wort zunächst der Kollegin Susanna
Karawanskij für die Fraktion Die Linke .
({1})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Worum geht es zu so
später Stunde? Es geht um Augenhöhe . Wir Linke haben
einen Antrag vorgelegt, der mehr Augenhöhe zwischen
Ihnen als Kleinanleger und den großen Unternehmen der
Finanzbranche schaffen soll .
Uns ist es wichtig, dafür zu sorgen, dass Verbraucherinnen und Verbraucher vor finanziellen Verlusten bei
ihrer Geldanlage insbesondere dann geschützt werden,
wenn Anbieter unseriös oder gar betrügerisch handeln .
Gerade im Bereich des Grauen Kapitalmarkts - das ist
immer noch ein weitestgehend unregulierter Markt - gibt
es einen unübersichtlichen Wust von Anlegermodellen,
die stetig erweitert werden . Für die Verbraucherinnen
und Verbraucher, die ihr Geld anlegen, nicht zuletzt, um
beispielsweise etwas für die Altersvorsorge zu tun, und
die dann auch manchmal in risikoreiche Anlageformen
getrieben werden, führen illusorische Gewinnversprechen oder Schneeballsysteme jährlich zu hohen finanziellen Verlusten .
Nun wurde in dieser Wahlperiode - das müssen wir
auch anerkennen - bereits mit dem Kleinanlegerschutzgesetz versucht, Anleger in diesem ungleichen Spiel besser zu schützen. Prospektpflichten wurden verschärft.
Es gibt Werbebeschränkungen . Die Finanzaufsicht BaFin kann mittels einer sogenannten Produktintervention
sogar Finanzpraktiken und -instrumente verbieten . Das
sind alles Fortschritte, die sich allerdings auf die Phase
der Ausgabe von Wertpapieren beziehen, also auf den
Vertrieb und den laufenden Handel der Finanzinstrumente .
Wir möchten mit unserem Antrag den kollektiven Verbraucherschutz stärken . Dazu bedarf es nur einer ganz
kleinen Erweiterung in den entsprechenden Gesetzen,
um die genannte Finanzaufsicht, die BaFin, in die Lage
zu versetzen, die Anleger zu schützen, nachdem eine Anlagepleite passiert ist . Damit hier keine Missverständnisse aufkommen: Die BaFin soll eben nicht einzelne Verbraucherinteressen schützen, sondern die Verbraucher
in der Gesamtheit unterstützen . Das soll sie nach einer
Anlagepleite tun können und müssen . Damit wird sie einen zusätzlichen Auftrag zur kollektiven Sicherung der
Rechtsverfolgung bekommen .
Das klingt erst einmal sehr technisch, ist aber im Grunde sehr einfach . Die BaFin muss dafür sorgen, dass sich
die Anbieter nach einer Anlagepleite eben nicht aus dem
Staub machen, ihre Tat verdecken oder in eine Insolvenz
gehen können . Die Praxis zeigt, dass Anbieter oftmals
eine Pleite aussitzen, wohl wissend, dass ihnen im Falle
eines Scheiterns eines solchen Geldanlagemodells nichts
passiert, unter anderem auch deswegen, weil viele Verbraucherinnen und Verbraucher schlicht und ergreifend
nicht die finanziellen Mittel haben, um einen Fachanwalt
zurate zu ziehen . Manche Anbieter setzen auf Verjährung
oder darauf, das Ganze zu vertuschen . Danach haben die
Kleinanleger nicht die Möglichkeit, Ansprüche geltend
zu machen .
Kurzum: Pleitemacher haben so gut wie nichts zu befürchten, während die Verbraucher auf den Kosten, verursacht durch die finanziellen Schäden, sitzen bleiben.
Das muss sich dringend ändern . Meine Damen und Herren, wir können das ändern .
({0})
Wie ich gerade dargestellt habe: Es geht nur um eine kleine Ergänzung, für die ich ausdrücklich werben will . Die
BaFin kann es so ermöglichen, dass Verbraucherinnen
und Verbraucher überhaupt erst einmal die Gelegenheit
zur Rechtsdurchsetzung haben . Das sollte unser aller Anliegen sein .
Die von uns vorgeschlagene Formulierung im Antrag
wäre ein großer Schritt für den finanziellen Verbraucherschutz . Wir haben in unseren Antrag ganz bewusst keine
weiteren Schritte aufgenommen, zum Beispiel die Möglichkeit der Gruppenklage, die Einführung einer Prüfung für Geldanlagen aller Art, also so etwas wie einen
Finanz-TÜV . Es wird weiter Anlageskandale geben, die
meist Kleinanlegerinnen und Kleinanleger treffen . Diese
brauchen von uns mehr Rückendeckung .
Weil das eine kleine Gesetzesänderung ist, weil wir
schon viel für den Verbraucherschutz getan haben und
weil Sie beim letzten Finanzmarktnovellierungsgesetz
die Gelegenheit verpasst haben, diese kleine Änderung
vorzunehmen, die aber für die vielen Kleinanlegerinnen
und Kleinanleger, die mit den Maßnahmen aus unserem
Antrag weniger auf sich allein gestellt wären, sehr wichtig wäre, könnten Sie sich einen Ruck geben und einfach
zustimmen .
Vielen Dank .
({1})
Der Kollege Frank Steffel erklärt jetzt für die CDU/
CSU-Fraktion, ob es diesen Ruck geben wird .
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Der Kollege Frank Steffel würde sehr gerne
erklären, ob wir zustimmen oder nicht zustimmen . Wir
haben nur alle gar nicht genau verstanden, was Sie wollen . Es ist für uns etwas unklar geblieben, was Sie mit
salbungsvollen Worten konkret vorgeschlagen haben .
Dankenswerterweise haben Sie allerdings nicht nur eben,
sondern auch in Ihrem Antrag darauf hingewiesen, dass
die Regierungskoalition den Verbraucherschutz in den
letzten Jahren so massiv gestärkt hat wie noch keine Regierung und keine Koalition vorher .
({0})
Insofern können wir heute erst einmal zur Beruhigung all
jener, die Sie eben versucht haben, zu verunsichern,
({1})
darauf hinweisen, dass der Verbraucherschutz, gerade
bei den Finanzprodukten, noch nie eine größere Rolle als
heute gespielt hat und dass wir heute das höchste Schutzniveau in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland haben .
({2})
Im vergangenen Jahr - ich will uns allen das vergegenwärtigen - haben wir die Aufgaben der Bundesanstalt
für Finanzdienstleistungsaufsicht, der Aufsichtsbehörde über Banken, Finanzdienstleister, den Aktienhandel
und Versicherungen, deutlich - man kann sogar sagen:
drastisch - erweitert . Zusätzlich ist sie nun dem Schutz
kollektiver Verbraucherinteressen verpflichtet. Das haben Sie eben etwas anders dargestellt . Deswegen will ich
es noch einmal ausdrücklich betonen . Es ist gesetzlich
verankert, dass die BaFin auch dem Schutz kollektiver
Verbraucherinteressen verpflichtet ist, und diese Rolle füllt sie nach allem, was wir sehen und hören, auch
außergewöhnlich kraftvoll aus . Nahezu wöchentlich untersagt aufgrund dieser neuen Gesetzesmöglichkeit die
BaFin Angebote von Produkten, ordnet die Abwicklung
unerlaubter Geschäfte an und warnt vor riskanten Anlageprodukten . Das ist auch in diesem Bereich der beste
Verbraucherschutz, den wir jemals hatten .
Zur Unterstützung hat die Koalition übrigens bei den
Verbraucherzentralen den Finanzmarktwächter neu geschaffen . Ich will auch das noch einmal ausdrücklich
unterstreichen . Dort sitzen Experten, die unmittelbar auf
Hinweise eingehen und unmittelbar für Verbraucher mit
dem Ohr am Bürger sind und die Produkte thematisieren
und kritisieren, vor denen wir zu Recht gemeinsam warnen wollen .
Sie erfahren aus erster Hand, wo Missstände sind .
Wird ein Risiko identifiziert, kann die BaFin den Verkauf
problematischer Produkte an Kleinanleger untersagen
und in letzter Konsequenz - was ein sehr weit gehender
Schritt ist, den es in fast keinem anderen Marktsegment
gibt - die Produkte sogar komplett verbieten . Man übertrage das einmal auf andere Teile unserer Wirtschaft . Da
würde es zu Recht einen erheblichen Aufschrei von Konsumenten und Verbrauchern geben .
Obwohl das Kleinanlegerschutzgesetz noch keine
zwölf Monate in Kraft ist, haben wir es bereits sinnvoll
geändert . Ich will auch darauf hinweisen; denn es ist völlig klar: Unternehmen sind jetzt zusätzlich gezwungen,
sämtliche von der BaFin angeforderten Unterlagen unverzüglich herauszugeben . Die BaFin kann Vermögenswerte einfrieren oder Anbietern die Zulassung komplett
entziehen . Diese Befugnisse sind außergewöhnlich umfassend . Sie wirken abschreckend, und sie ermöglichen
der Behörde ein sehr gezieltes Durchgreifen im Interesse
der Verbraucher .
Uns allen ist bewusst - das müssen wir nicht immer
wieder betonen, aber wir tun es gern -: Wir sind keineswegs am Ziel . Wir werden auch nie am Ziel sein . Denn es
ist wie in allen Bereichen des Lebens: Die Märkte entwickeln sich weiter . Den Menschen, ob gut meinenden oder
böse meinenden, kriminellen oder weniger kriminellen,
fällt immer wieder etwas Neues ein . Unseriöse Anbieter
suchen sich neue Wege, um an das Geld von Verbrauchern und Anlegern zu kommen . Daher haben wir vereinbart, das Gesetz Ende 2016 auf seine Wirksamkeit zu
überprüfen und damit bereits ein Jahr nach Inkrafttreten
noch einmal nach Bedarf zu ergänzen .
Viele Schutzmöglichkeiten für Verbraucher vor Risiken im Finanzmarkt ignorieren Sie in Ihrem Antrag völlig . Ich will nur auf den Ombudsmann hinweisen, den es
schon sehr lange gibt . Das ist eine große Errungenschaft,
die übrigens außergewöhnlich intensiv genutzt wird . Die
Verfahren sind kostenfrei . Sogar die Versicherer bezahlen die Verfahren im Zweifelsfall . Auch die Behauptung,
es gebe keinen Rechtsschutz, ist falsch . Natürlich sind
auch diese Verfahren vom Rechtsschutz gedeckt . Wir
haben die Haftpflichtversicherung für Finanzvermittler
mehrfach ausgeweitet und haben damit auch vielen Verbrauchern berechtigte Sorgen genommen .
So schutzlos, unwissend und unbeholfen, wie Sie die
Bürger darstellen, sind diese in der Regel Gott sei Dank
nicht . Das zeigen Hunderte, ja Hunderttausende von Verfahren, die beispielsweise nach der Pleite von Lehman
Brothers auch zur Entschädigung von Anlegern geführt
haben . Das zeigen auch Kapitalanlegermusterverfahren . Denken Sie an die Verfahren gegen die Telekom
und gegen die Daimler AG . Das zeigen hunderttausend
Verfahren bei Bankenombudsmännern im Jahr 2014 . Ich
wiederhole: 100 000 Bürgerinnen und Bürger haben von
diesem Recht Gebrauch gemacht . Sie sind weniger uninformiert und unbeholfen, als Sie es darstellen .
Der informierte Verbraucher hat also unzählige Möglichkeiten, auch nach einem Schaden auf dem Finanzmarkt zu seinem Recht zu kommen . Wer allerdings
überhaupt kein Interesse an Informationen über Finanzprodukte hat, dem kann ich nur raten: Lassen Sie die
Finger von diesen Produkten . Denn wenn man Produkte
nicht versteht, dann sollte man sie nicht kaufen und sein
Geld besser anders einsetzen .
({3})
Der jetzt eigentlich vorgesehene Kollege Gerhard
Schick gibt seine Rede zu Protokoll . Das macht die Debatte nicht unbedingt lebhafter, verkürzt aber die Debattenzeit, sodass als Nächstes gleich die Kollegin Sarah
Ryglewski für die SPD-Fraktion das Wort erhält .
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Frau Karawanskij, Sie wissen ja, dass mir das Thema
Verbraucherschutz und insbesondere auch die Belange der Kleinanlegerinnen und Kleinanleger besonders
wichtig sind . Ich betone das an dieser Stelle auch noch
einmal ganz explizit . Ich glaube, das Vertrauen, das in
der Finanzmarktkrise verloren gegangen ist, stellen wir
in erster Linie nicht dadurch wieder her, dass wir über
Trennbanken, über Hochfrequenzhandel und über andere
Dinge diskutieren, sondern das stellen wir im Wesentlichen dadurch wieder her, dass wir den Leuten das Gefühl
geben, dass ihre Geldanlagen bei uns in sicheren Händen
sind, dass wir uns darum kümmern, dass sie da gut abgesichert sind und dass sie ihr sauer Erspartes nicht an
irgendeinen windigen Anlageberater verlieren .
({0})
In dieser Hinsicht, Frau Karawanskij, sind wir uns
einig . Aber wir sind uns leider nicht in der Bewertung
einig, ob die hier zur Verfügung stehenden Instrumente
eigentlich ausreichen . Ich glaube, dass wir schon jetzt die
Möglichkeit haben, mit dem, was wir jetzt beschlossen
haben, zu einem wirksamen Verbraucherschutz zu kommen . Die verschiedenen Maßnahmen, die wir beschlossen haben - das wurde auch schon ausführlich dargestellt -, sind wichtige Schritte: angefangen bei der BaFin
als kollektive Verbraucherschutzinstitution bis hin zu
Warnhinweisen zu Produkten des Grauen Kapitalmarkts
etc . Ich glaube, das muss ich hier nicht weiter benennen .
Besonders wichtig ist auch - darauf haben Sie selber
hingewiesen -, dass wir eben auch die Möglichkeit haben, diese marktschreierischen Werbestrategien endlich
zu verbieten .
({1})
- Ja, dazu komme ich gleich auch noch einmal . - Wenn
wir jetzt einmal an Prokon denken: Ich erinnere mich
noch gut an diese Aufhänger „20 Prozent risikolos“, die
in der Straßenbahn hingen . Alles das - da dürfen wir uns
doch nichts vormachen - hat auch dazu beigetragen, dass
Menschen überhaupt in diese Situation gekommen sind .
Wir tun ja nicht nur etwas im Bereich der Information . Das, was Sie sagen, ist ja im Grunde genommen
nicht verkehrt, nämlich dass wir einen Schritt weitergehen . Aber da tun wir doch einiges . Es ist ja nicht so,
als würden wir nur sagen: Wir informieren, sodass sich
der Verbraucher erkundigen kann . Wenn er dann auf ein
Produkt hereinfällt, ist er selber schuld . - Wir haben ja
auch in anderen Bereichen etwas gemacht . Die BaFin hat
die Möglichkeit, Produkte, die sich als schädlich erweisen, vom Markt zu nehmen . Das ist - das hat auch Herr
Steffel gesagt - eine ganz große Errungenschaft und etwas, was in anderen Bereichen undenkbar wäre .
Wir haben mit dem Finanzmarktwächter eine Möglichkeit geschaffen, dass man sich den Finanzmarkt aus
der Perspektive der Verbraucherinnen und Verbraucher
anguckt, frühzeitig Auffälligkeiten benennt und dann
auch tätig werden kann .
({2})
Ich glaube, dass damit schon ein Großteil der Punkte, die
in Ihrem Antrag aufgegriffen werden, geregelt ist .
Ich gehe nun einmal auf die Artikel ein, die Sie in Ihrem Antrag als Referenz genannt haben, damit Sie auch
sehen, dass wir uns das doch sehr genau angeguckt haben .
Sie haben darin einen Artikel der Verbraucherschutzzentrale Hamburg mit dem Titel „Geschlossene Fonds . Gute
Chancen vor Gericht“ zitiert . Verbraucherinnen und Verbraucher haben die Möglichkeit, bei Anlagepleiten vor
Gericht ihre Rechte geltend zu machen . Das Problem ist
nur, dass viele Leute einfach einen großen Respekt vor
dem haben, was vor Gericht passiert . Natürlich gibt es
auch ein gewisses Risiko, aber am Ende bekommen die
Leute meistens recht; die müssen das Ganze noch nicht
einmal letztinstanzlich durchklagen, sondern am Ende
knicken die meisten Banken sogar ein, gehen in den Vergleich, weil sie wissen, dass es ausgeurteilt wird .
Wir haben mit dem Finanzmarktwächter und im Übrigen auch mit den Verbraucherzentralen ganz wertvolle
Instrumente in der Hand, die den Menschen nicht nur
umfassend Informationen über ihre Rechte zukommen
lassen, sondern die ihnen auch konkrete Hilfestellungen
anbieten, wie sie rechtlich vorgehen können . Es gibt eine
Haftung bei Falschberatung . Das haben wir gerade im
Rahmen des Finanzmarktregulierungsgesetzes aufgegriffen und diskutiert . Ich glaube, da sind wir auf einem ganz
guten Weg .
({3})
Was die Frage angeht, was passieren soll, wenn am
Ende des Tages ein Anbieter in Insolvenz geht, und was
dann, wenn das Geld weg ist, passieren soll, da habe ich
mich hier schon, als wir über das Finanzmarktregulierungsgesetz diskutiert haben, gefragt, wie Sie das denn
machen wollen . Darauf wäre ich sehr gespannt gewesen .
Sie sagen, dass Sie das in Ihrem Antrag klar und präzise
dargelegt haben . Vielleicht haben wir alle hier das nicht
verstanden, aber, ehrlich gesagt, die konkreten Maßnahmen, die wirksam werden sollen, wenn auf einmal das
Geld weg ist, haben Sie nicht dargelegt . Es hätte mich
wirklich gefreut, wenn das geschehen wäre . Da haben
wir in der Tat eine Regelungslücke, aber noch keine Lösung . Diese hätte ich gern von Ihnen gehört .
({4})
- Na ja, gut . Das muss ich mir, glaube ich, nicht vorwerfen lassen .
Ich komme zum Schluss . Ich glaube, wir haben hier in
den letzten Jahren eine ganze Reihe von Maßnahmen beschlossen, die uns wirklich auf einen guten Weg gebracht
haben . Herr Steffel hat es gesagt: Verbraucherschutz ist
etwas, bei dem es ständig Veränderungen gibt . Der Finanzmarkt ist ein Markt, auf dem ständig neue Produkte
angeboten werden . Das ist ein Hase-und-Igel-Spiel . Da
müssen wir immer wieder genau schauen, wie wir da
nachsteuern können . Da - das kann ich Ihnen versprechen - haben Sie mich an Ihrer Seite . Die Offenheit,
die signalisiert wurde, wenn es darum geht, die entsprechenden Gesetze zu evaluieren und zu schauen, wo wir
nachsteuern müssen, werden wir uns zu eigen machen .
Ich hoffe, dass dann größere Einigkeit als heute Abend
herrscht .
Vielen Dank .
({5})
Der voraussichtlich letzte Redner heute Abend ist der
Kollege Alexander Radwan für die CDU/CSU-Fraktion .
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Steffel und Frau Kollegin Ryglewski
haben die Diskussion bereits angesprochen . Ich gehe
davon aus, dass die Linke in absehbarer Zeit einen entsprechenden Antrag erneut einbringen wird . Vielleicht
nehmen Sie dann unsere Anregungen auf .
({0})
- Wenn Sie sie immer aufnehmen, dann freue ich mich
umso mehr . Dann werde ich demnächst darauf zurückkommen . Aber nicht Versprechen geben, die man nicht
halten kann!
({1})
Sie haben vorhin in Ihrer Argumentation dargelegt,
was passiert, wenn der Anleger wegen einer Insolvenz
sein Geld verliert . Wir sprechen von Verbraucherschutz
und müssen uns die Frage stellen, wie wir dann dafür
sorgen können, dass er die Ansprüche, die aus dem ihm
entstandenen Schaden resultieren, durchsetzen kann; das
sind zwei unterschiedliche Paar Schuhe .
Es wurde schon ausführlich dargelegt, dass der Verbraucherschutz eine ganz andere Priorität bekommen
hat . Ursprünglich war die Finanzaufsicht für die Marktstabilität, die Risiken und die makroprudenzielle Aufsicht zuständig . Diese wurde in Deutschland sukzessive
ergänzt und immer weiter ausgebaut durch den kollektiven Verbraucherschutz . Nun werden Produkte und Geschäftspraktiken genau überprüft . Das geht bis hin zu
Produktverboten . Die BaFin hat also zukünftig die Aufgabe, auf diesem breiten Feld tätig zu werden, und zwar
nicht nur, wenn allgemeine Hinweise vorliegen, sondern
auch, wenn es Einzelhinweise gibt . Wenn sich jemand
gegenüber der BaFin entsprechend äußert und wenn die
BaFin bestimmte Einzelfälle mitbekommt, kann sie tätig
werden und dafür sorgen, dass der Verbraucherschutz zur
Geltung kommt . Wir sollten nicht ausblenden, dass hier
eine Weiterentwicklung stattgefunden hat .
Nun stellt sich für mich die Frage, welche Schritte wir
demnächst gehen . Ich ziehe eine Parallele zu anderen VerSarah Ryglewski
braucherschutzbereichen, um darzulegen, was geschieht,
wenn ein entsprechender Schadensfall eingetreten ist . Im
Bereich der Hygiene haben die Landratsämter die Zuständigkeit, Maßnahmen zu ergreifen und Betriebe zu kontrollieren . Ähnliches gilt im Umweltschutz . Nach Ihrem
vorgeschlagenen System soll das Landratsamt, das für die
Einhaltung der Hygienevorschriften zuständig ist, auch
noch dafür sorgen, dass der Betreffende den Schaden,
der ihm entstanden ist, geltend machen kann . Das ist aber
nicht die Aufgabe hoheitlichen Handelns . Um den Schaden zu beziffern und entsprechende Ansprüche durchzusetzen, haben wir Gerichte . Frau Karawanskij, darüber bin
ich auch froh; denn die Gerichte sind dazu da, hoheitliches
und zivilrechtliches Handeln neutral und unabhängig zu
überprüfen . Sollte zum Beispiel die BaFin Hinweisen nicht
nachgekommen sein und falsch gehandelt haben, wird das
Handeln der BaFin gerichtlich überprüft werden . Für mich
ist wichtig, dass diese Möglichkeit weiterhin besteht .
Wir erleben das gerade bei den Bausparkassen . Die Bausparkassen haben zivilrechtlich relevante Kündigungen
vorgenommen . Hierzu häufen sich momentan die Gerichtsverfahren . Wir erleben landauf, landab die unterschiedlichsten Gerichtsentscheidungen in diesem Bereich . Das wird
letztinstanzlich entschieden . Aber die Menschen kommen
zu ihrem Recht, wenn es einen Schaden gibt . Deshalb bitte ich Sie: Erwecken Sie hier nicht den Eindruck, dass die
Verbraucher letztendlich rechtlos sind . Sie haben die Möglichkeit, das entsprechend einzuklagen und durchzusetzen .
Deshalb wird meine Fraktion Ihren Antrag ablehnen .
Besten Dank .
({2})
Nun ist auch das geklärt . - Ich schließe die Ausspra-
che .1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/8609 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Federführung beim Finanzausschuss liegen soll . Gibt es dagegen
Einwände? - Das ist nicht der Fall . Dann können wir das
offenkundig so beschließen .
Wir kommen jetzt zum Tagesordnungspunkt 20:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung bewachungsrechtlicher Vorschriften
Drucksache 18/8558
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Die dazu vorbereiteten Reden sollen zu Protokoll ge-
geben werden . - Ich sehe niemanden, der etwas dagegen
hat .2)
1) Anlage 5
2) Anlage 6
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/8558 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . Gibt es
andere Vorschläge? - Das ist auch nicht der Fall . Dann
ist die Überweisung so beschlossen .
Ich rufe Tagesordnungspunkt 21 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur besseren Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf für Beamtinnen und Beamte des Bundes
und Soldatinnen und Soldaten sowie zur Änderung weiterer dienstrechtlicher Vorschriften
Drucksache 18/8517
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Auch hier sollen die Reden zu Protokoll gegeben
werden . - Auch hier sehe ich keinen Widerspruch .3)
Dann gibt es hoffentlich auch keinen Einwand gegen
die Überweisung des Gesetzentwurfes auf der Drucksache 18/8517 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse . - Das ist so . Damit ist die Überweisung so
beschlossen .
Ich rufe Tagesordnungspunkt 22 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Sechsten Gesetzes
zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze ({2})
Drucksache 18/8487
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({3})
Innenausschuss
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO
Die Reden werden zu Protokoll gegeben . Einwän-
de? - Keine .4)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs
auf Drucksache 18/8487 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . Andere Vorschläge? - Keine . Dann ist das so beschlossen .
Tagesordnungspunkt 23:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur
Änderung des GAK-Gesetzes
Drucksache 18/8578
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft ({4})
Innenausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicher-
heit
3) Anlage 7
4) Anlage 8
Weiß jemand, worum es sich dabei handelt?
({5})
- Sehr gut . Dann haben wir das mindestens im Protokoll;
denn Reden werden dazu auch nicht gehalten, sondern
zu Protokoll gegeben .1)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs
auf Drucksache 18/8578 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . Einwände? - Keine . Dann ist das so vereinbart .
Tagesordnungspunkt 24:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur
Änderung des Direktzahlungen-Durchführungsgesetzes
Drucksache 18/8514
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft ({6})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit
Dazu hätte ich mir natürlich jetzt wirklich eine spritzige Debatte vorstellen können .
({7})
Wir lesen die Reden, die zu Protokoll gegeben wer-
den, nach und gewinnen dann sicher eine Vorstellung
über die Debatte, die wir verpasst haben .2)
Jedenfalls wird auch hier interfraktionell die Über-
weisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/8514 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen . Alternativen? - Keine . Dann ist das so verein-
bart .
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 25 a und 25 b auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Be-
kämpfung der Verbreitung neuer psychoakti-
ver Stoffe
Drucksache 18/8579
1) Anlage 9
2) Anlage 10
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({8})
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Frank
Tempel, Kathrin Vogler, Matthias W . Birkwald,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Für eine zeitgemäße Antwort auf neue psychoaktive Substanzen
Drucksache 18/8459
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({9})
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
({10})
- Alle Zwischenrufe werden anstelle der Reden zu Protokoll genommen .
({11})
Na, die Reden auch . Gut .3)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/8579 und 18/8459 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen .
Sind Sie damit einverstanden? - Was bleibt Ihnen anders
übrig . Auch das haben wir damit so beschlossen .
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung .
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 3 . Juni 2016, pünktlich
um 9 Uhr, ein .
Die Sitzung ist geschlossen . Machen Sie etwas aus
dem Rest des Abends . Alles Gute .