Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Nehmen Sie bitte Platz . Die Sitzung ist eröffnet .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alle
herzlich zu unserer Plenarsitzung .
Wir beginnen heute mit dem Tagesordnungspunkt 17:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einstufung der Demokratischen
Volksrepublik Algerien, des Königreichs Marokko und der Tunesischen Republik als sichere Herkunftsstaaten
Drucksache 18/8039
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({0})
Drucksache 18/8311
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor . Über den Gesetzentwurf
werden wir nach der Debatte namentlich abstimmen .
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen . - Das ist offensichtlich unstreitig . Dann können wir so verfahren .
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Bundesinnenminister Thomas de Maizière .
({1})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung kennt
natürlich auch die kritischen Fragen und Themen, die mit
der Menschenrechtslage in Algerien, Marokko und Tunesien verbunden sind . In Algerien sieht das Strafgesetzbuch vor, dass Männer, die ein Mädchen unter 18 Jahren vergewaltigt haben, dann straffrei ausgehen können,
wenn sie ihr Opfer heiraten .
In Marokko müssen Aktivisten mit staatlichem Druck
rechnen, wenn sie den Anspruch Marokkos auf die Region Westsahara kritisieren . In Tunesien können Männer
wegen homosexueller Handlungen strafrechtlich belangt
werden . Das wissen wir . Deswegen wird unser Land
Menschen aus diesen Herkunftsstaaten auch dann weiterhin Schutz gewähren, wenn ihnen ein individuelles
Verfolgungsschicksal droht .
({0})
Das ist unsere Pflicht. Das ist richtig so, und dazu steht
die Bundesregierung .
So wichtig und berechtigt das Ansprechen der Probleme ist - das werden wir sicher gleich von der Opposition in der Debatte hören -, so gering allerdings sind die
Erfolgsaussichten für Asylanträge von Antragstellern aus
diesen Ländern . Warum ist das so? Ein Recht auf Asyl
erhält man in Deutschland nicht allein dadurch, dass es in
einem Herkunftsland eine sicher kritikwürdige Rechtslage gibt; es muss eine persönliche Verfolgung vorliegen .
Die persönliche Verfolgung kann und muss der Antragsteller in seinem Asylverfahren vortragen . So sieht es das
Asylrecht vor .
Das Bundesverfassungsgericht stellt hohe Anforderungen an die Bestimmung eines Staates als sicherer
Herkunftsstaat . Es räumt dem Gesetzgeber jedoch einen
breiten Entscheidungs- und Beurteilungsspielraum für
die Bestimmung eines Staates als sicherer Herkunftsstaat
ein . Davon hat der Gesetzgeber auch schon bei zwei afrikanischen Staaten Gebrauch gemacht . Im Fall Ghana hat
das Verfassungsgericht diese Einstufung überprüft und
bestätigt .
Artikel 16 a Absatz 3 Satz 2 Grundgesetz lautet:
Es wird vermutet, daß ein Ausländer aus einem solchen Staat nicht verfolgt wird, solange er nicht Tatsachen vorträgt, die die Annahme begründen, daß er
entgegen dieser Vermutung politisch verfolgt wird .
Gegenstand dieser Vermutung ist nicht, dass einem Ausländer aus einem sicheren Herkunftsstaat dort keine
unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung oder Behandlung droht . Es wird allein vermutet, dass ein Ausländer aus einem solchen Staat nicht politisch verfolgt wird .
Die von der Opposition vorgetragenen und sicher
gleich noch zu hörenden Argumente zur Menschenrechtslage in den Maghreb-Staaten werden und wurden
berücksichtigt . Durch die abstrakte Androhung der Todesstrafe und die abstrakte Strafbarkeit von Homosexualität allein ergeben sich jedoch kein Asylgrund und auch
kein Schutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention . Das
ist ein Grundprinzip unseres Asylrechts, und an diesem
Prinzip werden wir auch festhalten .
({1})
Zweiter Punkt - und der ist entscheidend -: Antragsteller aus diesen Ländern werden in der Regel nicht
politisch verfolgt . Das belegen die Entscheidungen des
Bundesamts für Migration und Flüchtlinge im gesamten
Jahr 2015, und das belegen auch die Entscheidungen in
den ersten Monaten dieses Jahres . Seit Februar werden
die Anträge von Menschen aus diesen Staaten vorrangig
bearbeitet . Die ohnehin niedrige Gesamtschutzquote hat
sich noch einmal gesenkt . 2015 betrug sie noch 2,1 Prozent . Im ersten Quartal dieses Jahres ist sie auf 0,7 Prozent gefallen . Daraus kann man schließen: Es werden
auch solche Vermutungen widerlegt . Es gibt also Fälle,
in denen Asyl gewährt wird . Aber über 99 Prozent der
Antragsteller aus diesen Staaten wurde im Jahr 2016 kein
Recht auf Asyl gewährt .
Mit diesem Gesetz werden wir also den Zeitaufwand
straffen, der mit der Prüfung dieser Anträge verbunden
ist, und an die tatsächlichen Erfolgsaussichten anpassen .
Das machen wir auch, um die Anreize zu senken, hier einen erfolglosen Asylantrag zu stellen, weil man in dieser
Zeit vielleicht kostenlos untergebracht wird oder weil die
Leistungen hier besser sind als die Lebensbedingungen
im Herkunftsland .
Das Bundesamt, aber auch die Länder und die Ausländerbehörden treffen immer wieder auf mangelnde Mitwirkungsbereitschaft von Staatsangehörigen aus diesen
Staaten . Viele Asylsuchende aus diesen Ländern lassen
sich mehrfach registrieren, stellen aber keinen Asylantrag
oder erscheinen einfach nicht zu Anhörungsterminen .
Die Zahl der Registrierungen in den letzten 15 Monaten
war viermal so hoch wie die Zahl der Asylanträge . Diese
Differenz ist im Vergleich zu anderen Herkunftsstaaten
ganz besonders hoch .
Mit den besonderen Aufnahmeeinrichtungen, die wir
mit dem Asylpaket II geschaffen haben, der damit verbundenen Residenzpflicht und der deshalb möglichen
schnelleren Rückführung beheben wir viele Mängel des
bisherigen Asylverfahrens . Das ist ein weiterer wichtiger
Schritt, um unser Asylsystem effizienter zu machen.
Deutschland wird seiner humanitären Verantwortung
gerecht, auch mit diesem Gesetz . Wer die Voraussetzungen für das Recht auf Asyl erfüllt, kann bleiben . Wer die
Voraussetzungen nicht erfüllt, soll unser Land wieder
verlassen . So einfach ist das . Am besten kommt er gar
nicht erst, wenn von vornherein klar ist, dass er höchstwahrscheinlich zurückkehren muss .
Zum Helfenkönnen gehört auch, Nein sagen zu können, nämlich dort, wo keine humanitäre Hilfe gebraucht
wird .
({2})
Das ist legitim . Das zu sagen, ist fair und ehrlich .
Schon die Diskussion über die Einführung des Gesetzes im Januar hat im Februar zu einem spürbaren Rückgang bei den Neuzugängen aus diesen Ländern geführt .
Waren es im Januar noch deutlich über 3 000 Neuzugänge, so verzeichneten wir im Februar nur noch etwa 600 .
Daraus sollte man aber nicht den Schluss ziehen, dass
dieses Gesetz nun nicht mehr erforderlich ist, im Gegenteil . Umgekehrt wird ein Schuh daraus . Wir haben viele
Gesetze leider - das gilt erst recht im Asylrecht - unter
dem Druck der Ereignisse beschlossen . Mir wäre es lieber gewesen, wenn wir ohne den Druck der Ereignisse,
vorbeugend und ohne politischen Streit solche gesetzgeberischen Entscheidungen treffen würden, damit der
Druck der Ereignisse erst gar nicht entsteht .
({3})
Wir stehen in engem Kontakt mit den Regierungen
von Tunesien, Marokko und Algerien, um unsere Zusammenarbeit auch beim Thema Rückführung zu verbessern .
Die Staaten selbst wollen übrigens, dass ihre Länder als
sichere Herkunftsländer eingestuft werden .
({4})
Sie sollten sich einmal in die Lage des Landes Tunesien versetzen . Ich habe in letzter Zeit Tunesien dreimal
besucht . Es handelt sich hier um eine fragile, sich entwickelnde Demokratie . Dann hören die dort lebenden
Menschen aus Europa und insbesondere aus Deutschland, dass es sich bei diesem Staat um kein sicheres Herkunftsland handelt . Das ist für viele, die für Demokratie
kämpfen, eine Beleidigung ihrer Anstrengungen in der
letzten Zeit .
({5})
Bei meiner Reise Ende März haben wir Vereinbarungen über Möglichkeiten der Rückführungen erzielt .
Die ersten Rückführungen sind erfolgt, und sie werden
weitergehen . Wir setzen weiter auf die Hilfsbereitschaft
gegenüber verfolgten Menschen, aber eben auch auf eine
Begrenzung des Zuzugs von den Menschen, die keines
Schutzes bedürfen .
Wir nutzen jetzt - das ist meine abschließende Bemerkung - gemeinsam mit den Ländern, den Kommunen und der ganzen Bevölkerung die Gelegenheit, uns
auf die Integration derer zu konzentrieren, die eine gute
Bleibeperspektive haben, gerade auch weil die Zahl derer, die kommen, zurückgegangen ist . Wir werden diese
Ziele mit dem Integrationsgesetz verfolgen . Fördern und
Fordern werden hier die Prinzipien sein .
Die Eckpunkte sind bekannt: Sprachkurse, Orientierungskurse, Arbeitsgelegenheiten, Arbeitsangebote,
Bleibeperspektive während der Ausbildung genauso wie
Wohnsitzzuweisung für anerkannte Flüchtlinge, solange
sie noch keine Arbeit haben, Verpflichtung zu Integrationsleistungen, Ermöglichung der Leiharbeit für Geduldete und eine Bindung des dauerhaften Aufenthalts an
die bisher erbrachten Integrationsleistungen . Fördern
und Fordern - beides gehört zusammen . Einen entsprechenden Gesetzentwurf werden wir im Kabinett hoffentlich - vermutlich - noch im Mai beschließen und dann
hier baldmöglichst beraten .
({6})
Mit dem heutigen Gesetzentwurf verfolgt die Bundesregierung einen konsequenten Kurs: Schutz für die, die
Schutz brauchen, und rasche Beendigung des Aufenthalts
in Deutschland für die, die keinen Schutz brauchen, und
zwar insbesondere für diejenigen aus den sicheren Herkunftsstaaten . Das sind klare Ansagen nach innen und
nach außen .
Danke schön .
({7})
Für die Fraktion Die Linke erhält die Kollegin Ulla
Jelpke das Wort .
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Innenminister, Sie haben eigentlich am Anfang Ihrer Rede
all die Argumente gebracht, warum Algerien, Marokko
und Tunesien nicht als sichere Herkunftsstaaten eingestuft werden dürfen; denn Sie haben im Grunde genommen bestätigt, dass es in diesen Ländern erhebliche Menschenrechtsverletzungen gibt .
({0})
Deswegen sagen wir hier auch ganz klar: Das Asylrecht
darf nicht eingeschränkt werden .
({1})
Schutzsuchende haben das volle Recht auf Asyl!
({2})
Was bedeutet es denn, wenn diese drei Staaten als sichere
Herkunftsstaaten eingestuft werden? Das bedeutet, dass
die Asylsuchenden von dort aus Sicht hiesiger Behörden
einen unbegründeten Asylantrag stellen, und zwar alle .
Das bedeutet, dass sie in Sonderlagern untergebracht
werden, dass sie einer verschärften Residenzpflicht unterliegen, dass sie von allen möglichen Integrationsmaßnahmen, die von Anfang an nötig wären, ausgeschlossen
sind . Dieses Recht auf ein faires Asylverfahren, der Anspruch auf eine individuelle Beurteilung muss weiterhin
voll anerkannt werden . Wir lehnen ein Asylrecht zweiter
Klasse grundsätzlich ab .
({3})
Aus den Berichten von Amnesty International und
dem Hochkommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge, UNHCR, die der Bundesregierung vorliegen, geht
eindeutig hervor, wie weitgehend diese Menschenrechtsverletzungen in den Maghreb-Staaten sind . An vielen
Einzelbeispielen wird das dort beschrieben . Diese Organisationen lehnen es ebenfalls ab, dass wir bei diesen
Ländern von sicheren Herkunftsstaaten reden .
In allen drei Ländern gibt es schwere Menschenrechtsverletzungen, zum Beispiel die Verletzung von
Frauenrechten . Sie selber haben eben das Beispiel genannt . Wenn eine Minderjährige vergewaltigt wird und
der Vergewaltiger sie heiratet, geht er straffrei aus . Das
ist doch ein Skandal . Stellen Sie sich das einmal vor!
({4})
Meinungsfreiheit und Versammlungsfreiheit werden
dort missachtet . Ich nenne weiterhin die Homosexuellenverfolgung . Homosexuelle müssen nach wie vor mit
Strafverfolgung und Inhaftierung bis zu drei Jahren rechnen . Nicht zu vergessen: In allen Ländern wird gefoltert .
In Marokko gibt es nicht die Unschuldsvermutung . Wer
nicht geständig ist, kann nicht vor Gericht gestellt und
verurteilt werden. Also wird häufig ein Geständnis durch
Folter erzwungen, damit eine Verurteilung stattfinden
kann . Auch das sind Skandale .
Wer zum Beispiel die völkerrechtswidrige Besatzung
in der Westsahara in Marokko kritisiert, muss damit rechnen, inhaftiert zu werden . In Tunesien hat es mehrere
Fälle gegeben, wo Mitarbeiter der Sicherheitsbehörden
beispielsweise auf protestierende Arbeitslose, auf Menschen, die für ihre Rechte eingetreten sind, geschossen
haben . Auch in anderer Form sind dort Menschenrechte
verletzt worden .
All das sind relevante Asylgründe . Beispielsweise der
Jurist Reinhard Marx, aber auch Amnesty International
haben in der Anhörung sehr deutlich gemacht, dass es
überhaupt keinen Grund gibt, diese Länder als sicher einzustufen . Auch wenn es sich nur um wenige Fälle und um
keine Systematik handeln sollte, wie Sie sagen, ist das
schon asylrelevant, und das darf nicht dazu führen, dass
man diese Länder als sicher einstuft .
Die Bundesregierung, aber auch wir hier im Parlament haben - das hat uns das Bundesverfassungsgericht
ins Stammbuch geschrieben - eine besondere Sorgfaltspflicht, zu prüfen, ob es Menschenrechtsverletzungen
gibt . Hier ist nicht die Rede von Systematik . Es reicht,
dass Gruppen diskriminiert oder verfolgt werden . Diskriminierung oder Verfolgung muss nicht die Masse der
Menschen betreffen, die in diesen Ländern leben .
Im Übrigen hat die Bundesregierung in der Begründung zum Gesetzentwurf nicht dargelegt, welche Stellungnahmen von welchen NGOs inwiefern berücksichtigt wurden . Zum Beispiel sagen die Kirchen, Pro Asyl,
das Deutsche Institut für Menschenrechte und Amnesty
International - deren Vertreter waren zur Sachverständigenanhörung eingeladen - Nein zur Einstufung dieser
Länder als sichere Herkunftsstaaten .
Frau Kollegin, achten Sie bitte auf die Zeit .
Dass so wenige kämen - das ist Ihr Argument, das Sie
immer wieder vorbringen -, hat das Bundesverfassungsgericht lediglich als ein Indiz bezeichnet, aber nicht als
einen wirklichen Handlungsgrund, Staaten als sicher einzustufen .
Das entscheidende Kriterium für eine solche Einstufung als sicherer Herkunftsstaat - Sie stellen ja immer
wieder darauf ab, es kämen so wenige - ist vor allen Dingen die Lage dort in den Ländern . Entscheidend ist vor
allem, ob die Menschen dort sicher sind vor Verfolgung,
Folter und Diskriminierung . Genau das ist nicht gewährleistet . Deswegen fordern wir, dass es keine weiteren
Einschnitte in das Grundrecht auf Asyl gibt .
({0})
Frau Kollegin, Sie müssen nun zum Schluss kommen .
Ja . - Zum Schluss möchte ich einfach sagen: Wer diese Länder als sicher einstuft, ermutigt auch ihre Regierungen, weiterhin diese Menschenrechtsverletzungen zu
praktizieren . Schon deswegen muss man ganz klar sagen:
Nein, Menschenrechtsverletzungen der Art, wie sie hier
vorgetragen wurden, können von uns nicht akzeptiert
und nicht auch noch belohnt werden, indem man diese
Länder als sicher einstuft .
Ich danke Ihnen .
({0})
Burkhard Lischka ist der nächste Redner für die
SPD-Fraktion .
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir stufen
heute Tunesien, Marokko und Algerien als sichere Herkunftsstaaten ein, und zwar nicht, Frau Jelpke, um das
Asylrecht zu schwächen, sondern um es zu stärken .
({0})
Unser Asylrecht soll all diejenigen schützen, die in ihren
Heimatländern politisch verfolgt werden oder vor Krieg
und Tod fliehen. In den Ländern Tunesien, Marokko und
Algerien ist das eben nicht der Fall .
Die Einwanderung aus diesen Staaten erfolgt gerade
nicht überwiegend als Flucht vor Krieg und politischer
Verfolgung . Bei über 99 Prozent der Menschen, die von
dort kommen, ist die Motivlage eine vollkommen andere,
zum Beispiel der Wunsch nach einem besseren Leben .
Das halte ich für menschlich verständlich; aber es ist
eben kein Asylgrund, und zwar nirgendwo auf der Welt .
({1})
Die wenigen, die von dort kommen, weil sie verfolgt
oder diskriminiert werden, haben auch in Zukunft die
Möglichkeit, Asyl hier in Deutschland zu bekommen .
Daran ändert auch die Einstufung als sichere Herkunftsländer überhaupt nichts .
({2})
Aber für die übergroße Mehrzahl von 99 Prozent derjenigen, die aus den Maghreb-Staaten kommen, bedeutet
diese Einstufung zügigere Verfahren . Die Ressourcen,
die dadurch freigesetzt werden, kommen wiederum Menschen zugute, die aus Heimatländern fliehen, in denen sie
tatsächlich, und zwar massenhaft, von Kriegshandlungen
bedroht sind . Deswegen sage ich ganz deutlich - gerade
auch an die Adresse der Opposition -: Wer in Deutschland auch in Zukunft zahlreiche politisch Verfolgte und
Kriegsflüchtlinge aufnehmen will, der kann daneben
nicht auch noch unbegrenzt Menschen aufnehmen, die
aus ganz anderen Motiven kommen .
({3})
Wer die Aufnahmebereitschaft in unserem Land, Herr
Beck, für Flüchtlinge erhalten will, der sollte sie nicht
überstrapazieren .
({4})
Ich finde, Begrenzungen und klare Regeln helfen, hier
Akzeptanz zu erhalten .
Herr Beck, wenn wir Demokraten solche klaren Grenzen nicht ziehen, dann überlassen wir das Feld tatsächlich
den Rechtspopulisten und den Fremdenfeinden . Insofern
ist natürlich Politik immer auch ein Ringen um Kompromisse zwischen dem, was vielleicht wünschenswert ist,
und dem, was machbar ist . Vor diesem Hintergrund ist
dieser Gesetzentwurf - so meine ich - ein ausgewogener,
aber eben auch ein notwendiger Kompromiss .
({5})
Jetzt sollten wir uns vor allen Dingen an die Arbeit
machen, um uns um die Menschen zu kümmern, die in
unserem Land sind, weil sie vor Krieg und Verfolgung
geflohen sind. Herr de Maizière, Sie haben das Integrationsgesetz angesprochen . Jetzt müssen wir unsere Kraft
darauf konzentrieren, dass wir aus diesen Flüchtlingen
Mitschüler und Arbeitskollegen machen .
({6})
Darauf sollten wir unsere Energie verwenden, Herr Beck .
Recht herzlichen Dank .
({7})
Die Kollegin Amtsberg hat nun für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dass das
Mittel der Einstufung als sichere Herkunftsstaaten mittlerweile nur noch innenpolitisch von Interesse ist oder
auch nur noch innenpolitisch begründet wird, ist aus den
Redebeiträgen der regierungstragenden Fraktionen hervorgegangen .
({0})
Als wir damals in diesem Kontext über die Sicherheit
von Menschen auf dem Westbalkan gesprochen haben,
wurde immer wieder behauptet, es gebe keine systematische, keine staatliche Verfolgung . Die Diskriminierungen von Roma seien Einzelfälle, die vor allen Dingen
aus der Gesellschaft kämen, eben nicht staatlicherseits
betrieben würden .
Dazu hatte meine Fraktion damals schon eine grundlegend andere Auffassung . Aber immerhin gab es hier
eine Auseinandersetzung darüber, was Mehrfachdiskriminierung bedeutet, ob sich aus dieser auch ein Schutzanspruch oder das Recht auf Asyl ableitet . Diese Mühe
machen Sie sich jetzt bei dieser Frage gar nicht mehr,
liebe Kolleginnen und Kollegen und Sie, Herr Innenminister . Sie schreiben in Ihrem Gesetzentwurf über die vielen Menschenrechtsverletzungen und über Verfolgungen,
kommen aber nicht zu dem richtigen Schluss . Kurzum,
Sie erkennen, dass es diese Menschenrechtsverletzungen gibt, und trotzdem wollen Sie die Einstufung, weil
es eben nicht um die Wahrung der Menschenrechte vor
Ort geht, sondern rein um Innenpolitik . Das halten wir
für falsch .
({1})
Menschenrechte sind nicht relativierbar . Wenn Verletzungen der Menschenwürde erkannt werden, dann müssen sie eben auch bekämpft werden und dürfen nicht totgeschwiegen werden . Herr Innenminister, eine abstrakte
Androhung der Todesstrafe, eine abstrakte Verfolgung
von Homosexuellen? Da kann man wirklich nur sagen:
Abstrakt ist das vielleicht für uns hier, wenn wir von außen darauf gucken, aber doch nicht für die Menschen, die
vor Ort leben und in dieser Situation bestehen müssen .
({2})
Immer wieder rechtfertigen Sie diesen Gesetzentwurf
damit, dass durch ihn eine schnellere Abschiebung und
eine schnellere Ablehnung gewährleistet werden sollen .
Diese Argumentation ist extrem unehrlich; denn bereits
jetzt gibt es die Möglichkeit, diese Staaten zu priorisieren, Anträge schneller zu bearbeiten, ohne diese scharfe
Klinge anzusetzen .
({3})
Genau das ist es, was wir hier an dieser Stelle kritisieren . Denn es hat eben den Nachteil, dass man den Regierungen im Maghreb damit das Gefühl vermittelt, diese
Menschenrechtsverletzungen, die vielen Defizite, die wir
erkennen und sogar in der Gesetzesbegründung aufführen, seien in Ordnung . Das können wir so nicht machen .
So funktioniert keine Menschenrechtspolitik .
({4})
In allen drei Ländern wird die Meinungs- und Pressefreiheit sicherlich in einem unterschiedlichen Maße,
aber in vielen Fällen in schwerwiegender und unverhältnismäßiger Weise verletzt . In keinem der Staaten ist die
Justiz tatsächlich unabhängig . Verletzungen des Folterverbots sind in allen drei Staaten generell und durchgängig verbreitet . Frauen und Mädchen sind in den drei
Staaten nur unzureichend vor Vergewaltigung geschützt .
Sexuelle Gewalt wird nicht ausreichend strafrechtlich
verfolgt . In Algerien und Tunesien - darauf wurde schon
hingewiesen - ist Vergewaltigung weiterhin nicht strafrechtlich zu ahnden, wenn der Vergewaltiger das Opfer
heiratet . Diesem Umgang mit Frauen wird mit der Einstufung der drei Staaten als sichere Herkunftsstaaten ein
Gütesiegel aufgedrückt . Das ist doch nicht das, was wir
uns in der Vergangenheit gerade in diesem Kontext von
Frauenrechten, von Schutz von Frauen in diesen Ländern
gewünscht haben .
({5})
Da müssen wir doch viel schärfer hingucken und sagen:
Mit diesen Menschenrechtsverletzungen können wir
nicht leben, und wir verstehen es, wenn Menschen aus
diesen Ländern aus diesen Gründen fliehen.
Weil in der Debatte hier immer wieder kommt, dass
weiterhin sozusagen eine individuelle Prüfung möglich
ist, muss ich noch einmal sagen: Wenn man von der
Grundvermutung ausgeht: „Es liegt keine Verfolgung
vor“, dann wird es in der Praxis schwieriger - da können
Sie jeden einzelnen Menschen fragen, der davon betroffen ist -, die Verfolgung nachzuweisen, glaubhaft zu machen . Man muss sich in die Menschen hineinversetzen,
die keine Erfahrung damit haben, über ihr Schicksal, über
die Erfahrungen, die sie in ihren Ländern gemacht haben,
offen zu reden, diese zur Disposition zu stellen und darüber zu argumentieren . Sie müssen am Ende Menschen
davon überzeugen, dass ihnen das tatsächlich passiert ist .
Das ist die Realität, mit der wir uns auseinandersetzen
wollen .
Am Ende des Tages ist die Einstufung als sichere Herkunftsstaaten mit genau diesem Vorwurf belastet, nämlich
dass wir nicht genau prüfen, dass wir für diese Länder
eine Vorvermutung haben und dass wir es nicht schaffen,
die wenigen Fälle, in denen wirklich Verfolgung vorliegt,
herauszufiltern, weil wir einen Deckel draufschieben und
sagen: Da liegt eigentlich keine Verfolgung vor . - Man
muss deutlicher und intensiver prüfen und mit weniger
Vorverurteilungen arbeiten . Nur so kann man diese Menschen ausfindig machen und ihnen hier in Deutschland
helfen .
({6})
Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen .
Unsere Position dazu ist klar - wir haben sie in der
Vergangenheit schon häufiger deutlich gemacht -: Wir
glauben nicht, dass sichere Herkunftsstaaten zu sicheren
Ländern werden, nur weil man sie als solche labelt . Man
muss harte Menschenrechtsarbeit vor Ort leisten, und das
ist die Aufgabe, die wir zu erledigen haben und der Sie
leider nicht gerecht werden .
({0})
Das Wort erhält nun die Kollegin Nina Warken für die
CDU/CSU-Fraktion .
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir debattieren heute schon zum wiederholten Mal über
das Thema „sichere Herkunftsstaaten“, und es ist immer
dieselbe Kritik, die hier vorgetragen wird; die Argumente sind genannt . Klar ist auch, dass einige Kolleginnen
und Kollegen das Konzept der sicheren Herkunftsstaaten grundsätzlich ablehnen; das ist auch jetzt wieder klar
geworden . Ich möchte gern noch einmal die Gelegenheit
nutzen, um mit den wesentlichen Vorwürfen aufzuräumen .
Erstens . Die Einstufung als sicheres Herkunftsland ist
keine Maßnahme, um Schutzsuchende ungerecht zu behandeln oder um zu verhindern, dass sie in Deutschland
Schutz suchen . Im Gegenteil: Die Einstufung als sichere
Herkunftsstaaten ist vielmehr eines der wenigen Instrumente, die wir auf nationaler Ebene haben, um gegen
Asylmissbrauch und gegen illegale Migration vorzugehen .
({0})
Die Zahlen zeigen eindeutig, dass von den vielen
Menschen, die aus den Maghreb-Staaten zu uns gekommen sind, nur ganz wenige wirklich schutzbedürftig sind .
Von den rund 2 600 Asylanträgen, über die das BAMF
2015 entschieden hat, wurden nur ganze 41 positiv beschieden . Die Gerichte bestätigen uns, dass nur in ganz
wenigen Einzelfällen ein Schutzbedarf besteht . Nur in 7
von über 700 Gerichtsentscheidungen wurde das BAMF
korrigiert .
Doch trotz dieser geringen Anerkennungschancen
kamen letztes Jahr rund 26 000 Asylsuchende aus den
Maghreb-Staaten, ein Viertel davon allein im Dezember .
Alles spricht dafür, dass dieser Zustrom in Wirklichkeit
nichts mit Verfolgung zu tun hat .
Als Gesetzgeber ist es doch unsere Aufgabe, liebe
Kolleginnen und Kollegen, etwas gegen eine solche
Zweckentfremdung unseres Asylsystems zu tun .
({1})
Sorgen wir mit der Einstufung dafür, dass die Zahl der
unbegründeten Asylanträge aus den Maghreb-Staaten
zurückgeht; denn sie gehen zulasten unserer Kommunen und auch zulasten der Menschen, die unseren Schutz
wirklich brauchen .
Ich bin mir im Übrigen sicher: Viele der Migranten
aus dem Maghreb wissen auch, dass sie nicht schutzbedürftig sind . Viele konnten zum Beispiel nur mithilfe der
Polizei dazu gebracht werden, ihren Antrag beim BAMF
zu stellen und zur Anhörung zu erscheinen. Häufig wurde auch versucht, durch Mehrfachregistrierungen an
unterschiedlichen Orten das Verfahren künstlich in die
Länge zu ziehen und zusätzliche Leistungen zu erhalten .
Ein solches Verhalten - da geben Sie mir sicher recht lässt doch an der Ernsthaftigkeit dieser Asylanträge stark
zweifeln und zeigt, wie notwendig die Einstufung der
Maghreb-Staaten ist .
({2})
Aber klar ist auch: Für die wenigen Fälle, in denen tatsächlich ein Schutzgrund besteht, ändert sich mit der
Einstufung nichts . Diese Anträge werden auch weiterhin
positiv beschieden werden können .
Zweitens, meine Damen und Herren, möchte ich mit
einem Irrtum aufräumen: Von der Opposition wird immer
wieder behauptet, die Einstufung als sicheres Herkunftsland würde nichts bringen . Lassen Sie mich deshalb
den Gegenbeweis antreten: Die Zahl der unbegründeten
Asylanträge aus den Balkanstaaten ist nach der Einstufung sehr deutlich zurückgegangen . Die Maßnahmen,
die wir mit dem Asylpaket II eingeführt haben wie die
Wohnpflicht in einer speziellen Aufnahmeeinrichtung,
ein beschleunigtes Verfahren mit zügiger Abschiebung,
ein generelles Arbeitsverbot und die Möglichkeit der
Verhängung von Wiedereinreisesperren, haben eine
deutliche Signalwirkung . Diese brauchen wir auch für
die Maghreb-Länder, damit hier der falsche Anreiz wegfällt, aus rein wirtschaftlichen Gründen einen Asylantrag
zu stellen .
({3})
Laut BAMF hat bereits die Tatsache, dass wir über diesen Gesetzentwurf beraten, zu einem Rückgang der Neuzugänge aus dem Maghreb geführt . Während im Januar
dieses Jahres noch über 3 000 Menschen kamen, waren
es im April nur noch knapp 400 . Wir sehen also, dass
die Maßnahmen, die wir in der Asylpolitik ergreifen, in
den Herkunftsländern sehr genau beobachtet werden . Es
wäre deshalb ein großer Fehler, wenn wir bei diesem Gesetz jetzt wanken würden .
Drittens ist es mir sehr wichtig, eine Sache ganz deutlich zu betonen: Deutschland hat sich die Einstufung als
sicheres Herkunftsland bei keinem einzigen Staat leicht
gemacht . Wir haben letztes Jahr bei den Balkanstaaten
genau geprüft, ob die Voraussetzungen für die Einstufung
vorliegen . Genauso haben wir das bei Marokko, Tunesien und Algerien getan . Dafür machen das Grundgesetz,
das europäische Recht und die Gerichte klare Vorgaben:
Der Gesetzgeber muss die Gesamtsituation im Land beurteilen . Keine Bevölkerungsgruppe darf systematisch,
generell und durchgängig unterdrückt oder verfolgt werden . Das haben wir getan . Die Gesamtsituation wurde in
allen drei Ländern anhand mehrerer Erkenntnisquellen
gründlich beurteilt, darunter auch Berichte von Menschenrechtsorganisationen wie dem UNHCR, Amnesty
International oder Human Rights Watch .
Auch in der Sachverständigenanhörung und in der
Ausschussberatung haben wir uns über die Lage informiert und diese erörtert . Das Ergebnis ist eindeutig: Die
Schwelle zu einer systematischen und durchgängigen
Verletzung schwerwiegender Menschenrechte wird in
Marokko, Algerien und Tunesien nicht überschritten .
Daran ändern auch die Einzelfälle von Verfolgung, etwa
wegen Homosexualität, nichts, auch wenn wir diese natürlich kritisieren . Wir stellen mit der Einstufung - das
wurde uns auch immer wieder vorgeworfen - ganz bestimmt keinen Blankoscheck für Menschenrechtsverletzungen in den Maghreb-Staaten aus . In der Anhörung
ging es auch darum, die rechtlichen Voraussetzungen
und die bei der Bewertung anzulegenden Maßstäbe zu
erörtern . Diesbezüglich hat die Anhörung Folgendes erbracht: Der Gesetzgeber hat einen Bewertungsspielraum,
welche Erkenntnisquellen er für die Beurteilung heranzieht und wie er die einzelnen Quellen gewichtet . Am
Ende muss er sich ein Gesamturteil bezüglich der Umstände im Land bilden . Es geht nicht darum, jeden Einzelfall zu betrachten; denn die Einstufung ist eine gesetzliche Regelvermutung, die explizit Ausnahmen zulässt
und die vom Bundesamt und auch von den Gerichten im
Einzelfall widerlegt werden kann . Es geht also gerade
nicht um eine hundertprozentige Sicherheit, sondern um
eine systematische Betrachtung .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, anhand all dieser
Vorgaben, haben wir sehr sorgfältig geprüft, ob die Voraussetzungen für die Einstufung vorliegen . Ich will auch
gar nicht bestreiten, dass es in den Maghreb-Ländern
noch viele Probleme gibt, die bewältigt werden müssen .
Fest steht aber: Das Asylrecht ist nicht das richtige Instrument, um diese Probleme anzugehen . Und selbst wenn
wir wollten, können wir die Probleme in diesen Ländern
doch nicht mit dem deutschen Asylrecht lösen . Das ist
Aufgabe der Außen- und Entwicklungspolitik .
({4})
Deutschland tut ja auch eine ganze Menge und hilft
den Maghreb-Staaten . Allein im letzten Jahr haben wir
rund 700 Millionen Euro für die Entwicklungszusammenarbeit mit Marokko, Algerien und Tunesien bereitgestellt . Diese Mittel wurden für die gezielte Verbesserung
der Lebensbedingungen in diesen Ländern eingesetzt,
unter anderem für Projekte zur Stärkung von Frauen- und
Minderheitenrechten, guter Regierungsführung und der
Zivilgesellschaft und für die Aus- und Fortbildung von
Polizei und Justiz . Diese Maßnahmen zur Bekämpfung
der Fluchtursachen müssen auf europäischer Ebene noch
viel stärker gebündelt und intensiviert werden .
Meine Damen und Herren, wenn eifrig kritisiert wird,
ist es manchmal wichtig, die Dinge anhand der Fakten
noch einmal geradezurücken . Deswegen fasse ich zusammen: Erstens . Die Einstufung der Maghreb-Staaten
ist notwendig, um falsche Anreize und die Zahl der unbegründeten Asylanträge aus diesen Ländern zu reduzieren
und um unsere Kommunen zu entlasten . Zweitens . Die
Einstufung bedeutet nicht, dass keine Asylanträge aus
diesen Ländern gestellt werden können . Drittens . Die
rechtlichen Voraussetzungen für die Einstufung wurden
sorgfältig geprüft und liegen vor .
Lassen wir uns deshalb nicht von der Opposition mit
ihrer Kritik in die Irre führen, sondern stimmen dem Gesetzentwurf mit breiter Mehrheit zu .
Vielen Dank .
({5})
Andrej Hunko ist der nächste Redner für die Fraktion
Die Linke .
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Innenminister! Der russische Dichter Alexander Puschkin
sagte einmal:
Im Prinzip bin ich ja nicht abergläubisch, aber wenn
wir heute Freitag den 13 . hätten, käme ich doch lieber ein andermal wieder .
Das Gleiche habe ich heute Morgen gedacht, als ich den
Gesetzentwurf der Bundesregierung noch einmal gelesen
habe . Heute ist ein schwarzer Freitag für das Grundrecht
auf Asyl in Deutschland .
({0})
Dieser Gesetzentwurf ist eine weitere Verstümmelung
des Asylrechts in Deutschland .
({1})
Herr de Maizière, Sie haben die Menschenrechtsverletzungen in Algerien, Marokko und Tunesien angesprochen, die es offensichtlich gibt . Ich frage mich: Welche
Signalwirkung geht in diesen Ländern von der Einstufung als sicherer Herkunftsstaat aus? Ich glaube, dass
diejenigen, die dort für die Menschenrechtsverletzungen
verantwortlich sind, sagen werden: Wir sind jetzt ein
sicherer Herkunftsstaat . Der Druck ist sozusagen weg .
Wir können noch weiter Homosexuelle zum Beispiel in
Gefängnissen foltern oder Anhänger der Saharauis in der
Westsahara in Marokko . Das ist ein falsches Signal für
die Länder .
({2})
Zahlreiche Organisationen - Amnesty International,
das Deutsche Institut für Menschenrechte, Pro Asyl, der
Lesben- und Schwulenverband in Deutschland, auch die
beiden großen Kirchen - haben sehr deutlich gesagt, dass
sie diesen Gesetzentwurf ablehnen . Sie legen doch so
viel Wert auf die Zivilgesellschaft, auch in anderen Ländern . Hier ignorieren Sie vollständig die Einschätzungen
der von mir genannten Organisationen. Ich finde das
arrogant . Ich frage die Bundesregierung: Warum hören
Sie nicht auf diese Organisationen? Diese sagen klar: Sie
verletzen hier Ihre Sorgfaltspflicht.
({3})
Ein Wort an die Grünen: Ich habe die Rede sehr wohl
gehört . Ich teile auch die Punkte . Wir haben hier im Bundestag die missliche Situation: 80 Prozent Regierung,
20 Prozent Opposition .
({4})
Wir diskutieren hier . Es steht ohnehin alles fest . Aber im
Bundesrat hätten wir die Möglichkeit, mit Linken und
Grünen dieses Gesetz zu stoppen,
({5})
weil die Stimmen nicht ausreichen, wenn sich die Regierungen, an denen Grüne und Linke beteiligt sind, am
Ende enthalten, können wir das Gesetz stoppen . Ich glaube, es wird wichtig sein, sehr genau hinzuschauen, wie
der Bundesrat am Ende im Juni entscheidet . Lasst uns
gemeinsam dieses Gesetz stoppen . Es ist ein unwürdiges
Gesetz . Das Konzept der sicheren Herkunftsstaaten ist
Teil dieses schäbigen, so genannten Asylkompromisses
von 1993 . Dieses Konzept ist ein falsches Konzept . Wir
lehnen es grundsätzlich ab .
Vielen Dank .
({6})
Ich erteile dem Kollegen Sebastian Hartmann für die
SPD-Fraktion das Wort .
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Deutschland ist und bleibt ein weltoffenes Land, das wie
kein anderes in Europa international geachtet wird und
seine internationale Verantwortung gerade auch in Krisenzeiten vorbildlich wahrnimmt . Daran wird auch die
Einstufung dreier Staaten als sichere Herkunftsstaaten
nichts ändern, meine Damen und Herren .
({0})
Reden wir nicht drum herum: Natürlich ist das Konzept der sicheren Herkunftsstaaten umstritten . Auch in
der SPD-Fraktion haben wir darum gerungen und darüber diskutiert, ob man diese Einstufung vornehmen kann .
Wir haben im Innenausschuss beraten . Wir haben eine
Anhörung durchgeführt . Aber wir werden heute diesem
Gesetzentwurf zustimmen, weil wir verschiedene gute
Gründe dafür haben .
Wichtig ist vor allen Dingen, dass man zwischen zwei
Gruppen unterscheiden muss . Wir wollen ein effektives, ein effizientes Asylsystem - effektiv, weil wir das
Asylrecht dem zuweisen, der es wirklich verdient, der als
Flüchtling, als Asylsuchender darauf angewiesen ist, in
unserem Rechtsstaat Asyl zu erhalten . Und er wird weiterhin Asyl erhalten . Davon zu unterscheiden ist derjenige, der dieses System nutzt, um ein Bleiberecht zu konstruieren, obwohl er eigentlich ein anderes Rechtssystem
bräuchte, vielleicht aber auch ganz andere Gründe hat .
Der wird - auch unabhängig von der Einstufung als sicherer Herkunftsstaat - kein Bleiberecht über das Asylrecht konstruieren können . Der Verantwortung, hier zu
unterscheiden, müssen wir gemeinsam gerecht werden .
Man muss auch mit einem weiteren Punkt aufräumen .
Insofern sage ich - das habe ich auch in erster Lesung
gesagt -: Lassen Sie uns doch von mutmaßlich sicheren
Herkunftsstaaten sprechen .
({1})
Es geht nämlich um eine widerlegbare Vermutung der
Verfolgungsfreiheit . Es wird nach wie vor darum gehen, zu belegen, dass man verfolgt ist . Das ist genau der
Punkt, den wir beachten werden .
Wir haben uns die Punkte, die der Bundesrat eingebracht hat, zu eigen gemacht . Wir haben sie in der Anhörung thematisiert . Es sind bestimmte Gruppen benannt worden - ich benenne sie konkret: die Lesben und
Schwulen -, die einer Verfolgung ausgesetzt sind . Wir
Deutschen sollten uns die Einstufung da nicht zu einfach
machen; denn wir selbst haben unser Strafrecht erst 1994
entsprechend angepasst und sind noch lange nicht am
Punkt vollständiger Gleichberechtigung angekommen,
liebe Kolleginnen und Kollegen .
({2})
Insofern werden wir das auch nicht schematisch machen .
Es ist eine widerlegbare Vermutung .
Wenn wir jetzt über das Verfassungsgerichtsurteil von
1996 sprechen, dann müssen wir es richtig einordnen und
einen Unterschied erkennen: Wir haben nun eine veränderte Situation, weil wir im Oktober mit den Änderungen im Asylrecht eine Verfeinerung der Zusammenarbeit
zwischen der Regierung auf der einen Seite und dem Parlament auf der anderen Seite vorgenommen haben . Das
System der sicheren Herkunftsstaaten ist nicht mehr mit
der Rechtslage zu vergleichen, die bestand, bevor wir die
Asylverfahren beschleunigt haben . Denn die Liste der
sicheren Herkunftsstaaten wird nun einer regelmäßigen
Überprüfung unterzogen, das erste Mal schon im Oktober 2017 . Die Hürde für die Aufnahme in die Liste der
sicheren Herkunftsstaaten liegt viel höher als die Hürde
für die Streichung von dieser Liste; denn die Streichung
ist ein einfacher Schritt seitens der Regierung . Es wird
ein engeres Monitoring der Menschenrechtslage geben . Der Innenminister nickt . Das ist genau der Punkt, auf den
wir gedrängt haben . Das Signal hinsichtlich der sicheren
Herkunftsstaaten ist nun ein anderes; das Streichen von
der Liste ist viel schneller geschehen als die Aufnahme in
die Liste . Wir können darauf stolz sein, dass wir das als
Parlament durchgesetzt haben, auch dank der Anhörung
und der Diskussionen im Innenausschuss .
({3})
Man kann das nicht mehr so schematisch betrachten .
Die SPD hat sich diese Diskussion nicht leicht gemacht .
Wir unterscheiden zwischen den Gruppen und legen
fest, wer Asyl bekommen muss . Wir wissen angesichts
der Zahlen Folgendes - in meinem Heimatland Nordrhein-Westfalen wurde es sehr deutlich -: Es gab über
500 Fälle, in denen Menschen aus den Maghreb-Staaten
gar nicht versucht haben, einen Asylantrag zu stellen,
die bei der Überprüfung schon gesagt haben, das sei gar
nicht der Punkt, den sie erreichen wollten . In diesen Fällen wurde sehr schnell eine Entscheidung gefällt . Es geht
um eine Beschleunigung der Asylverfahren für diese
Gruppe . Denn alle Menschen in diesem Land verlassen
sich darauf - ich sage bewusst: alle Menschen -, dass wir
ein effizientes System haben, bei dem schnell klar wird,
ob man Recht auf Asyl hat oder nicht . Das gilt für die
Bürgerinnen und Bürger dieses Landes, aber es gilt auch
für die Flüchtlinge, die schnell eine klare Aussage über
ihr Bleiberecht und ihre Integrationschancen brauchen .
Auch für diese Menschen beschleunigen wir das Asylverfahren;
({4})
um diese Menschen geht es doch auch . Es geht nicht um
die Gruppe, die dieses Recht ausnutzen will, obwohl es
ihnen nicht zusteht .
Ein weiterer Punkt ist: Ich möchte mich ausdrücklich
bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, bei den Entscheidern des BAMF bedanken . Ich habe hohen Respekt
vor den Menschen, die die Aufgabe haben, über Schicksale zu entscheiden . Diesen Punkt haben wir thematisiert .
Wir haben gefragt: Wenn wir die Regelvermutung einführen, wie genau prüft ihr, dass keine Verfolgung vorliegt?
Wie klärt ihr das mit dem Dolmetschen? Überprüft ihr
die medizinischen Angaben? Die Aussagen der Mitarbeiter des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge - das
kann man im Protokoll nachlesen - sind sehr eindeutig:
Es wird an dieser Stelle keine Verfahrensbeschleunigung
geben, sondern eine schnellere Klärung in Gruppen, aber
derjenige, der seine Gründe vorträgt, kann nach wie vor
sein Schutzrecht beanspruchen .
Ein Indikator in der Debatte über die Einstufung als
sicherer Herkunftsstaat war die Frage: Wie hoch ist die
tatsächliche Schutzquote der Menschen, die aus den
Maghreb-Staaten kommen? In absoluten Zahlen: 1, 22
oder auch um die 40, wenn wir uns die entschiedenen
Fälle im Jahr 2015 anschauen . Aber erst wenn wir wissen, dass die Schutzquote in absoluten Zahlen nicht sinkt,
obwohl die Zahl der Einreisen deutlich zurückgegangen
ist, weil man nicht mehr den Umweg des Asylantrags gehen muss, wenn man keinen Asylgrund hat, um ein Bleiberecht in Deutschland zu konstruieren, dann haben wir
ein Indiz dafür, dass die Einstufung richtig war .
({5})
Derjenige, der vorher in der Einstufung war, wird es dann
auch bleiben . Das werden wir im Zuge des Monitoring
prüfen .
Wir verlassen uns darauf, dass die Bundesregierung
den Prozess anders anlegt als bei der Einstufung; denn
es ist viel einfacher, von der Liste gestrichen zu werden,
als in sie aufgenommen zu werden . Daran werden wir als
SPD-Fraktion dieses Verfahren messen . Denn die Einstufung zu einem sicheren Herkunftsstaat ist eine Einstufung auf Widerruf . Das ist der Unterschied bei dieser
Änderung des Asylgesetzes . Wir haben das Zug um Zug
gemacht .
({6})
Natürlich standen für die SPD-Fraktion auch andere
Aspekte im Mittelpunkt, nämlich dass es rechtssichere
Verfahren gibt, dass schnelle Entscheidungen getroffen
werden und dass denjenigen, die eine Bleibeperspektive
haben, ein schneller Zugang zu Integrationsmaßnahmen
gewährt wird . Deswegen sagen wir immer: Wir brauchen ein Paket . Wir brauchen ein Integrationsgesetz,
aber auch mehr Personal beim Bundesamt für Migration
und Flüchtlinge, damit mehr Entscheidungen schnell und
rechtssicher getroffen werden können . Wir haben eine
Überprüfung durch unabhängige Gerichte . Deutschland
ist ein Rechtsstaat - Russland ist erwähnt worden -, und
wir verlassen uns darauf, dass die Entscheidungen entsprechend überprüft werden .
({7})
Wir haben uns die Überprüfungsquoten angesehen .
Im Wesentlichen bestätigen sie die Entscheidungen des
Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge . Das spricht
für die Entscheidungsqualität . Auch das werden wir nach
der Einstufung zum sicheren Herkunftsstaat weiter überprüfen .
({8})
Unser Fokus liegt klar auf effektiven und effizienten
Verfahren . Wir haben uns die Entscheidung nicht leicht
gemacht, aber wir werden sie heute treffen, weil wir der
festen Überzeugung sind: Wir sorgen für eindeutige gesetzgeberische Grundlagen . Das Zusammenspiel zwischen Regierung und Parlament wird weiter verfeinert .
Die Listen werden überprüft und gegebenenfalls gekürzt,
wenn es sein muss .
In diesem ausführlichen Prozess haben wir uns die
Stellungnahme des Bundesrates zu eigen gemacht; denn
der Bundesrat muss dem Ganzen auch noch zustimmen .
Wir haben seine Rechte besonders betont, auch als Ergänzung zur Gegenäußerung der Bundesregierung . Wir
haben gesagt: Genau darauf wollen wir den Fokus richten . Es geht darum, dass Menschen ein Recht auf Asyl
haben, wenn sie seiner bedürfen .
Wenn wir als SPD heute zustimmen, dann tun wir das
erstens, weil die Vereinbarungen im Paket getroffen wurden und wir das Gesamtkonzept im Blick haben .
Zweitens . Wir erhalten damit ein Mittel zur Verfahrensvereinfachung und Klärung, um den Menschen, die
kein Asyl bedürfen, klar zu sagen: Ihr habt keine Chance .
Ihr müsst in den Ankunftszentren verbleiben .
Drittens . Zur Debatte über die sicheren Herkunftsstaaten gehört auch, festzustellen: Die Einstufung in sichere Herkunftsstaaten ist kein Allheilmittel . Es reicht
nicht aus, die Liste durch weitere Staaten zu ergänzen .
Vielmehr muss eine entsprechende Diskussion in den betroffenen Staaten geführt werden, damit die Menschen
wissen, welche Chancen sie in Bezug auf das Einwanderungs- oder Asylrecht haben oder eben nicht . Vor allen
Dingen - deswegen die Reise des Innenministers in die
Maghreb-Staaten - müssen die Rückführungen organisiert werden . Wir haben damit in den jeweiligen Staaten
eine entsprechende Debatte ausgelöst .
Viertens . Wir verlassen uns darauf, dass das Monitoring der Bundesregierung weiter verfeinert und den von
uns zugrundegelegten Anforderungen gerecht wird .
Fünftens und abschließend . Lassen Sie uns die Vorlage des ersten Berichts der Bundesregierung über die Einstufung der sicheren Herkunftsstaaten im Oktober 2017
abwarten . Lassen Sie uns abwarten, ob das Instrument
so wirkt, ob die Schutzquote in absoluten Zahlen nicht
sinkt, ob die Zuerkennung nach wie vor rechtssicher erfolgt und ob das Instrument zu einer Verfahrensvereinfachung führt .
({9})
Wir müssen an dieser Stelle auch sagen: Ja, wir haben
diese Liste ergänzt; aber damit ist es auch gut, weil wir
jetzt andere Dinge in den Mittelpunkt rücken müssen,
und zwar die Integration und die Entwicklungszusammenarbeit, die bereits angesprochen worden ist . Wir stellen uns ausdrücklich dahinter, weil wir Fluchtursachen
vor Ort bekämpfen müssen .
Wir werden als Bund unserer Verantwortung gerecht,
wenn wir das Verfahren rechtssicher ergänzen und dafür
sorgen, dass auch nach der Einstufung als sichere Herkunftsstaaten die widerlegbare Vermutung in unserem
Rechtsstaat im Einzelfall genutzt werden kann, sodass
wir uns nicht zu scheuen brauchen, diesem Gesetzentwurf heute zuzustimmen .
Vielen Dank .
({10})
Volker Beck bekommt nun das Wort für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir sind
uns einig hier im Haus: Wir wollen schnelle Verfahren,
schnelle Entscheidungen von hoher rechtsstaatlicher
Qualität . Aber wir wollen diese Verfahrensbeschleunigung nicht um den Preis falscher menschenrechtlicher
Signale und schlechterer Chancen für die Asylrechtsgewährung bei wirklich Verfolgten .
({0})
Die Bestimmung sicherer Herkunftsstaaten erfolgt
nicht im verfassungsrechtlichen Vakuum, sondern dabei
sind die Vorgaben des Grundgesetzes und des europäischen Rechts zu beachten . Artikel 16 a Absatz 3 Satz 1
Grundgesetz sagt: Aufgrund der Rechtslage, der Rechtsanwendung und der allgemeinen politischen Verhältnisse
muss in Ländern, die als sichere Herkunftsstaaten eingestuft werden, gewährleistet sein, „daß dort weder politische Verfolgung noch unmenschliche oder erniedrigende
Bestrafung oder Behandlung stattfindet“. - Ich will Ihnen
an zwei Beispielen deutlich machen, dass das für diese
drei Länder nicht gilt .
Ein Beispiel ist die Westsahara, die seit Jahrzehnten
von Marokko besetzt ist . Die Vereinten Nationen sind
vor Ort, um den Waffenstillstand zu überwachen . Wir
haben der Bundesregierung mehrere Beispiele für Demonstrationen in der Westsahara für die Unabhängigkeit
benannt, bei denen die Demonstranten mit brutaler Polizeigewalt zusammengeprügelt wurden . Wir haben die
Bundesregierung gefragt, ob sie eine Demonstration seit
1975 benennen kann, bei der das anders abgelaufen ist .
Die Bundesregierung musste bekennen, dass es ihr nicht
bekannt ist, dass eine Demonstration frei von Gewalt
stattgefunden hat . Die Bundesregierung versucht, uns in
Sicherheit zu wiegen, indem sie sagt: Bei Saharauis ist
der Status der sicheren Herkunftsländer nur dann anzuwenden, wenn sie die marokkanische Staatsangehörigkeit haben . - Das hat man auf die Frage der Kollegin
Luise Amtsberg geantwortet . Ja, wie kommt denn ein
Saharaui nach Europa? Wenn er nicht durch Mauretanien
flieht, muss er durch Marokko. Dazu muss er sich den
marokkanischen Pass besorgen, und damit fällt er unter
die Regelung der sicheren Herkunftsländer . Es kann doch
nicht ernsthaft angenommen werden, dass die Vereinten
Nationen in der Westsahara präsent sind, weil es dort keine politische Verfolgung, weil es dort keinen kalten BürSebastian Hartmann
gerkrieg gibt . Wir treten die Menschenrechte mit Füßen,
wenn wir diesen Blankoscheck ausstellen .
({1})
Das, was auf die Betroffenen zukommt, ist keine Petitesse . Es geht um verkürzte Klagefristen, es geht um
Beschränkungen im Verfahren, es geht darum, dass man
eine Vermutung widerlegen muss, also höhere Beweislasten hat, und nicht nur um die Fragen Lagerzwang,
Residenzpflicht und Arbeitsverbot, was integrationspolitisch problematisch ist, weil die Leute im Zweifelsfall
eben doch mehrere Monate hier bleiben . Meine Damen
und Herren, überlegen Sie sich gut, was Sie an diesem
Punkt tun .
Zweitens . Allein ein Blick auf die Situation der Homosexuellen in diesen drei Ländern würde ausreichen,
um ihre Einstufung als sichere Herkunftsländer abzulehnen . In allen drei Ländern steht im Strafgesetzbuch explizit, dass gleichgeschlechtliche Handlungen unter Strafe
stehen . Das steht nicht nur dort so, sondern das wird auch
real angewandt .
Amnesty International hat darauf hingewiesen, dass
im Mai und im Juni 2015 in Oujda und Rabat fünf Männer unter anderem wegen unsittlichen Verhaltens und
homosexueller Handlungen zu Gefängnisstrafen von
bis zu drei Jahren verurteilt wurden . In Tunesien, dem
Land, das wir durch Kritik an seiner Menschenrechtslage
nicht beleidigen sollen, wie der Minister meint, wurden
im Jahr 2015 mehrere Männer wegen homosexueller
Handlungen zu Haftstrafen verurteilt . Die Männer wurden vorher gegen ihren Willen anal untersucht; das gilt
nach der europäischen Rechtsprechung als Folter und
unmenschliche Behandlung . - Das sind keine Petitessen .
Herr Minister, das sollten wir nicht kleinreden . Da sollten
wir klar sagen: Das verstößt gegen die Menschenrechte,
das akzeptieren wir nicht, und das unterstützen wir nicht .
({2})
Herr Kollege Beck .
Ich komme zum Schluss . - Der Europäische Gerichtshof hat 2013 ausdrücklich festgestellt, dass Homosexualität als Verfolgungsgrund gilt, auch wenn man durch
verstecktes Leben Verfolgungshandlungen womöglich
minimieren oder abwenden kann . Man kann von Homosexuellen genauso wenig wie von Christen verlangen,
dass sie ihre Identität verheimlichen . Wenn sie wegen
ihrer Identität verfolgt werden, haben sie Anspruch auf
Schutz .
({0})
Dass Sie von der Bundesregierung in Ihrer Gegenäußerung beim Thema Algerien das den Menschen nahelegen
Herr Kollege Beck .
- und dass das BAMF jüngst in einem Einzelfall bei
einem Syrer mit solch einer Begründung ablehnend entschieden hat, zeigt, dass wir ein Rollback beim Thema
„homosexuelle Flüchtlinge und deren Schutz“ haben .
Meine Damen und Herren von der SPD, machen Sie
keine Veranstaltung zu Aktionsplänen gegen Homophobie, sondern stimmen Sie gegen diesen Gesetzentwurf .
Dann tun Sie etwas gegen Homophobie . Das wäre glaubwürdig .
({0})
Nun erhält der Kollege Michael Frieser das Wort für
die CDU/CSU-Fraktion .
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Es geht in keiner Weise darum, Menschenrechtsverletzungen kleinzureden . Das Gegenteil ist der Fall .
Wer ein treffsicheres, ein funktionsfähiges, ein an Menschenrechten orientiertes Asylsystem braucht und erhalten möchte, der muss sich notwendigerweise darüber
Gedanken machen, wie er dieses Asylsystem tatsächlich
durchführbar und organisierbar hält . Deutschland muss
sich bei dieser Frage wirklich vor niemandem auf der
Welt verstecken . Wir haben ein Asylsystem, in dem alles
so gründlich, so tief und so genau aufgearbeitet wird wie
nirgendwo sonst in der Welt . Genau dabei soll es auch
bleiben .
Was wir heute machen, ist eben gerade keine Symbolpolitik nach innen, sondern es ist sehr wohl ein Signal .
Denn wir sagen deutlich: Hier handelt es sich nur darum,
dass wir eine Regelvermutung - ein fürchterliches Wort;
was bedeutet es? - zulassen . Die eingängige, absolut
gefestigte Rechtsprechung sowohl des Bundesverfassungsgerichtes als auch des Europäischen Gerichtshofes
besagt, dass bei Ländern, in denen keine durchgängige
und keine generelle Verfolgung herrscht, durchaus die
Möglichkeit besteht, die Regelvermutung, dass es sich
um sichere Herkunftsstaaten handelt, aufzustellen .
Seien wir doch bitte einmal ehrlich: Die Zahlen zeigen,
dass die Anerkennungsquoten gerade im Hinblick auf Algerien, Marokko und Tunesien von 0 Prozent bis gerade
einmal 2 Prozent reichen . Was bedeutet das? Das bedeutet, dass tatsächlich Prüfungen der Einzelfälle stattfinden.
Dadurch wird gewährleistet, dass eine Verfolgung, wenn
es sie gibt, auch festgestellt wird . Eine Prüfung wird
also definitiv auch nach der Einstufung als sicherer Herkunftsstaat möglich sein . Das wollen wir . Das will unser
Volker Beck ({0})
Rechtsstaat . Das sind wir unserem Asylrecht nach dem
Grundgesetz auch schuldig . Dabei bleibt es .
({1})
Ich bin mir nicht ganz sicher, warum Sie aus der
Opposition versuchen, die Öffentlichkeit darüber zu
täuschen, und behaupten, dass es sich hier um eine Abschaffung des Asylverfahrens im Einzelfall handelt . Das
Gegenteil ist der Fall . Wir müssen auch einmal sehen,
was die Menschen, die aus diesen Ländern kommen, zu
ihren Asylverfahren beitragen . In den seltensten Fällen
wird überhaupt ein Verfolgungsgrund nach dem Asylrecht vorgetragen . In den seltensten Fällen erscheinen
die jeweiligen Antragsteller in der Anhörung überhaupt .
Das heißt natürlich - das ist menschlich verständlich -,
dass sie einen anderen Zweck für ihre Reise bzw . Flucht
nach Deutschland haben . Niemand will darüber den Stab
brechen; aber eine Frage für das Asylverfahren ist das
selbstverständlich nicht .
Entscheidend war - das war mit Sicherheit nicht ganz
leicht -, dass wir diese Länder in den Verhandlungen an
eine Selbstverständlichkeit erinnert haben . Wir haben
die Maghreb-Staaten Marokko, Tunesien und Algerien
an die Pflicht zur Rücknahme ihrer Bürger erinnert. Man
muss deutlich sagen, dass der Innenminister auf seiner
Reise etwas sehr Unangenehmes getan hat: Er hat die
Länder nämlich daran erinnert, dass es eine völkerrechtliche Verpflichtung gibt. Letztendlich war das aber auch
entscheidend und wichtig, um diesen Ländern bewusst
zu machen, dass es einen Prozess in Europa, in Deutschland gibt, bei dem man sich auch mit der Situation der
Menschenrechte in diesen Ländern genau beschäftigt .
Ich sage es an dieser Stelle noch einmal deutlich, Herr
Innenminister: Unseren herzlichen Dank für Ihre nicht
einfache Reise in diese Länder, die Sie unternommen haben, um die Menschen davon zu überzeugen, dass dieses
Thema entscheidend und wichtig ist .
({2})
Und da bin ich bei der außenpolitischen Komponente . Es ist grundfalsch, zu glauben, es betreffe nur die Innenansicht, wenn sich die Politik mit dem Asylsystem
beschäftigt . Wir haben über die Fehlanreize und die Signale nach außen schon diskutiert . Aber die Reise des
Innenministers in diese Länder bedeutet doch, dass wir
dort einen Prozess mit anstoßen und dafür sorgen, dass
ohnehin unbestreitbare Menschenrechtsverletzungen im
Einzelfall thematisiert werden . Hier wollen wir auch die
deutsche Öffentlichkeit nicht täuschen . Genau darum
geht es: Auch mit Blick auf unser Asylsystem wollen
wir darauf hinweisen, dass wir die Entwicklung dieser
Länder durchaus betrachten müssen . Unsere Hilfe und
unsere Entwicklungspolitik müssen einen wesentlichen
Anreiz darstellen, die Anstrengungen dieser Länder, die
durchaus vorhanden sind, zu unterstützen .
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es geht eben
gerade nicht darum, diese Länder in irgendeiner Art und
Weise mit einem Qualitätsstempel für eine unverbrüchliche demokratische Entwicklung zu versehen . Es geht
natürlich darum, unser Asylsystem funktionsfähig zu
halten . Es geht aber auch darum, durch das Zusammenwirken der Politik aus unserem Land heraus deutlich zu
machen, dass wir Fehlanreize und den Migrationsdruck
reduzieren . Am Ende des Tages geht es natürlich auch
darum, dass wir helfen bzw . Hilfestellung leisten .
Wir haben uns diesen Gesetzentwurf nicht leicht gemacht . Ich glaube, auch diese Diskussion heute hat gezeigt, dass wir den Mitarbeitern beim BAMF und beim
Innenministerium mit Blick auf die Verfahren sagen können: Es wird eine Einzelfallprüfung geben, und es wird
nach wie vor eine Qualität des Verfahrens geben . - Aber
am Ende des Tages müssen wir zur Kenntnis nehmen,
dass dieser Gesetzentwurf nicht nur angemessen, sondern auch notwendig, nach den Grundsätzen des Bundesverfassungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofes
verhältnismäßig und letztlich die einzig richtige Antwort
ist, um unser Asylsystem treffsicher und, ja, auch human
zu halten .
Vielen Dank .
({3})
Ich schließe die Aussprache .
Wir kommen nun zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes
zur Einstufung der drei Länder Volksrepublik Algerien,
Königreich Marokko und Tunesische Republik als siche-
re Herkunftsstaaten. Der Innenausschuss empfiehlt in sei-
ner Beschlussempfehlung auf der Drucksache 18/8311,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf der Druck-
sache 18/8039 anzunehmen . Ich darf diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen
bitten . - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Da-
mit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenom-
men .
Ich weise darauf hin, dass mir zahlreiche persönliche
Erklärungen zur Abstimmung vorliegen, die wir wie üb-
lich dem Protokoll beifügen .1)
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung . Wir stimmen nun über den
Gesetzentwurf namentlich ab, und ich bitte die Schrift-
führerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze
einzunehmen . - Ich eröffne die Schlussabstimmung über
den Gesetzentwurf .
Ist ein Mitglied im Hause anwesend, das seine Stimm-
karte noch nicht abgegeben hat? - Da zeigt sich doch ge-
legentlich der Vorzug der Mitgliedschaft in der Fußball-
mannschaft des Bundestages, dass man auch für einen
solchen Schlussspurt die nötige Kondition mitbringt .
Vergleichbare Fälle sind nicht erkennbar . Dann schlie-
ße ich die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen
und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen . Das
Ergebnis der Abstimmung teilen wir dann später mit .2)
1) Anlagen 2 bis 4
2) Ergebnis Seite 16876 D
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Ent-
schließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
auf der Drucksache 18/8425 . Wer stimmt für diesen Ent-
schließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer ent-
hält sich? - Das hat nicht gereicht, Frau Haßelmann; der
Entschließungsantrag ist abgelehnt . - Die Fraktion Die
Linke legt allergrößten Wert darauf, dass ihre Zustim-
mung zum nicht erfolgreichen Entschließungsantrag der
Fraktion der Grünen im Protokoll vermerkt wird, was mit
dieser Bemerkung sichergestellt ist, Frau Sitte .
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 18 a und 18 b
auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus
Ernst, Karin Binder, Susanna Karawanskij, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Vorläufige Anwendung des CETA-Abkom-
mens verweigern
Drucksache 18/8391
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und
Energie ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus Ernst, Jan van Aken, Herbert
Behrens, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Für eine lebendige Demokratie - Fairer Handel statt TTIP und CETA
Drucksachen 18/6818, 18/8128
Auch für diese Aussprache sind nach einer interfraktionellen Vereinbarung 60 Minuten vorgesehen . - Das ist
unbestritten . Dann verfahren wir so .
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Klaus Ernst .
({1})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Heute ist Freitag, der 13 ., und wir reden über
das Gebaren der Bundesregierung zur Inkraftsetzung von
CETA . Das passt irgendwie .
CETA ist kein gutes Abkommen . Es ist ein Freihandelsabkommen, dessen oberstes Ziel die weitere Liberalisierung des Handels ist - Artikel 2 .1 . Es enthält eine
Stillstandsklausel, nach der einmal Liberalisiertes nicht
mehr zurückgenommen werden kann - Artikel 2 .6 . Im
Übrigen: Es beinhaltet Sonderrechte für Unternehmen
durch Schiedsgerichte . Egal ob sie privat oder öffentlich
sind: Es sind Sonderrechte .
({0})
Meine Damen und Herren, wenn Sie wirklich höhere
und bessere Standards wollen würden, dann würde es reichen, ein internationales Verbraucherschutzabkommen
auf den Weg zu bringen . Aber das wollen Sie ja gerade
nicht .
({1})
Heute geht es allerdings um die Frage, wie Sie das
internationale Abkommen CETA gegen den Willen der
Bürger - die Mehrheit ist inzwischen dagegen; das weiß
man - durchsetzen wollen .
({2})
Gerade jetzt ist Wirtschaftsminister Gabriel im
EU-Ministerrat in Brüssel . Er will das Signal an die Öffentlichkeit senden, dass dieses Abkommen als gemischtes Abkommen bewertet wird . Was wäre die Folge? Die
Folge wäre, dass auch die nationalen Parlamente dem
Abkommen CETA zustimmen müssten, bevor es in Kraft
gesetzt wird . Es soll also der Eindruck erweckt werden,
dass die nationalen Parlamente beteiligt werden, und alles ist gut .
Leider - guckt genau hin, liebe Kolleginnen und Kollegen! - ist das alles nur Show; denn im selben Moment
macht die Bundesregierung Druck, um das Abkommen
CETA möglichst schnell vorläufig anzuwenden. Was
bedeutet das? Das Abkommen soll angewendet werden,
bevor die nationalen Parlamente diese Frage ausreichend
beraten und abgestimmt haben . Das ist eine Aushebelung
der Parlamente .
({3})
Der unerträglichen Geheimniskrämerei um dieses
Abkommen, die einige von Ihnen mit Freude verteidigt
haben, folgt also noch ein Schritt mehr, nämlich die Ausschaltung der nationalen Parlamente . Das ist nicht hinnehmbar .
({4})
Mit unserem Antrag wollen wir erreichen, dass diese
Umgehung der nationalen Parlamente verhindert wird .
Eine Inkraftsetzung von CETA darf es erst geben, wenn
die nationalen Parlamente darüber beraten haben . Sonst
entmachten wir uns hier selber .
Ich will das erklären. Durch eine vorläufige Anwendung sollen die Vertragsteile, die in den Kompetenzbereich der EU fallen, noch vor dem Ratifizierungsprozess
durch die Mitgliedstaaten und allein durch Beschluss des
Ministerrates in Kraft treten . Als Entgegenkommen darf
das Europäische Parlament davor über CETA abstimmen . Übrigens: Ein Recht darauf hat es nicht .
({5})
Präsident Dr. Norbert Lammert
Lesen Sie die entsprechenden Bestimmungen nach!
Doch bisher ist äußerst umstritten, welche Bereiche in
den Kompetenzbereich der Mitglieder fallen und welche
nicht . Das ist vollkommen offen . Die EU sagt nach wie
vor: „Das ist alles unser Ding“, und die Nationalstaaten
haben eigentlich gar nichts zu melden .
Auch die Bundesregierung kann dazu weiterhin keine
klare Auskunft geben - und das, obwohl seit Ende Februar der endgültige Vertragstext vorliegt . Die Bundesregierung ist der Auffassung, dass jedenfalls die CETA-Bestimmungen zum Investitionsschutz und zur Beseitigung
von Investitionsstreitigkeiten auch die Zuständigkeiten
der Mitgliedstaaten berühren . Der Juristische Dienst des
Rates der Europäischen Union ist wiederum gegenteiliger Auffassung . Undurchsichtiger geht es wirklich kaum .
Wir sehen: CETA ist ein äußerst kompliziertes und
komplexes Abkommen .
({6})
Ein Aufsplitten in „EU only“-Teile und gemischte Teile
ist weder sinnvoll noch möglich .
({7})
Auch Professor Mayer von der Universität Bielefeld
schreibt in einem Gutachten, das übrigens im Auftrag des
Bundeswirtschaftsministeriums erstellt wurde:
Wie ein Tropfen Pastis ein Glas Wasser trübt, machen schon einzelne Teilaspekte eines Abkommens
das Abkommen als Ganzes von der Zustimmung der
Mitgliedstaaten abhängig .
Ein Gutachten für das Wirtschaftsministerium . - Wenn
man dem folgt, ist vollkommen klar, dass die Bundesregierung im Rat keiner vorläufigen Anwendung eines
solchen Abkommens zustimmen kann .
({8})
Aber es kommt noch dicker . Die EU-Kommission, die
offenlässt, ob CETA als Ganzes nicht doch in alleiniger
EU-Zuständigkeit liegt, will diese Frage mit einem Gutachten vom Europäischen Gerichtshof klären lassen, und
zwar auf der Basis des Freihandelsabkommens mit Singapur . Dieses Gutachten soll es allerdings erst nächstes
Jahr geben. Vorher jedoch soll über eine vorläufige Anwendung entschieden werden . Was ist das denn, meine
Damen und Herren? Da merkt man doch, dass die Leute
hier hinter die Fichte geführt werden . Wenn wir da mitmachen, dann muss ich wirklich sagen: Das versteht kein
Mensch mehr .
({9})
Dieses Abkommen - das kommt hinzu - ist bei den
Bürgern höchst umstritten . Es wird gerade nach der Geheimniskrämerei eine Mitwirkung der Parlamente erwartet. Aber die vorläufige Anwendung schafft Fakten,
bevor die nationalen Parlamente entscheiden dürfen . Was
würde passieren, wenn CETA nach einer vorläufigen Inkraftsetzung in den nationalen Abstimmungen durchfällt? Glauben Sie, dass dann die Abkommen wieder
rückholbar sind? Wenn man eine Schleuse öffnet, fließt
das Wasser durch; das bekommt man nicht mehr zurück .
Genauso ist es bei einem solchen Abkommen .
Meine Damen und Herren, wir erwarten eine klare
Haltung der Bundesregierung, dass es keine vorläufige
Anwendung von CETA gibt . Wir erwarten, dass das deutsche Parlament dem Minister in dieser Frage den Rücken
stärkt und deshalb unserem Antrag zustimmt: Keine vorläufige Anwendung von CETA!
({10})
Bevor der nächste Redner das Wort erhält, will ich das
von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den
Entwurf eines Gesetzes zur Einstufung der drei genannten Länder als sichere Herkunftsstaaten bekannt geben:
abgegebene Stimmen 570 . Mit Ja haben gestimmt 424,
mit Nein haben gestimmt 143, und enthalten haben sich
3 Kolleginnen und Kollegen . Damit ist der Gesetzentwurf angenommen .
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 572;
davon
ja: 424
nein: 145
enthalten: 3
Ja
CDU/CSU
Stephan Albani
Katrin Albsteiger
Peter Altmaier
Artur Auernhammer
Thomas Bareiß
Günter Baumann
Maik Beermann
Manfred Behrens ({0})
Veronika Bellmann
Dr . André Berghegger
Dr . Christoph Bergner
Ute Bertram
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr . Maria Böhmer
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr . Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr . Ralf Brauksiepe
Heike Brehmer
Cajus Caesar
Alexandra Dinges-Dierig
Alexander Dobrindt
Michael Donth
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Hansjörg Durz
Iris Eberl
Jutta Eckenbach
Dr . Bernd Fabritius
Hermann Färber
Uwe Feiler
Dr . Thomas Feist
Ingrid Fischbach
Dirk Fischer ({1})
Axel E . Fischer ({2})
Dr . Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Thorsten Frei
Dr . Astrid Freudenstein
Dr . Hans-Peter Friedrich
({3})
Dr . Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Ingo Gädechens
Dr . Thomas Gebhart
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Josef Göppel
Ursula Groden-Kranich
Hermann Gröhe
Klaus-Dieter Gröhler
Michael Grosse-Brömer
Astrid Grotelüschen
Markus Grübel
Manfred Grund
Oliver Grundmann
Dr . Herlind Gundelach
Fritz Güntzler
Olav Gutting
Christian Haase
Florian Hahn
Dr . Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Matthias Hauer
Mark Hauptmann
Dr . Stefan Heck
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Frank Heinrich ({4})
Mark Helfrich
Uda Heller
Jörg Hellmuth
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Ansgar Heveling
Dr . Heribert Hirte
Christian Hirte
Alexander Hoffmann
Thorsten Hoffmann ({5})
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Dr . Hendrik Hoppenstedt
Margaret Horb
Bettina Hornhues
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Erich Irlstorfer
Thomas Jarzombek
Sylvia Jörrißen
Dr . Franz Josef Jung
Andreas Jung
Xaver Jung
Dr . Egon Jüttner
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Steffen Kanitz
Alois Karl
Anja Karliczek
Bernhard Kaster
Volker Kauder
Dr . Stefan Kaufmann
Dr . Georg Kippels
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Markus Koob
Hartmut Koschyk
Kordula Kovac
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr . Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr . Roy Kühne
Günter Lach
Uwe Lagosky
Dr . Karl A . Lamers
Dr . Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Dr . Silke Launert
Paul Lehrieder
Dr . Katja Leikert
Dr . Philipp Lengsfeld
Dr . Ursula von der Leyen
Antje Lezius
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Andrea Lindholz
Dr . Carsten Linnemann
Patricia Lips
Wilfried Lorenz
Dr . Claudia Lücking-Michel
Dr . Jan-Marco Luczak
Karin Maag
Yvonne Magwas
Thomas Mahlberg
Dr . Thomas de Maizière
Gisela Manderla
Matern von Marschall
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({6})
Reiner Meier
Dr . Michael Meister
Dr . Angela Merkel
Jan Metzler
Maria Michalk
Dr . h .c . Hans Michelbach
Dr . Mathias Middelberg
Dietrich Monstadt
Karsten Möring
Marlene Mortler
Volker Mosblech
Elisabeth Motschmann
Dr . Gerd Müller
Carsten Müller ({7})
Stefan Müller ({8})
Dr . Philipp Murmann
Dr . Andreas Nick
Michaela Noll
Helmut Nowak
Dr . Georg Nüßlein
Julia Obermeier
Wilfried Oellers
Florian Oßner
Dr . Tim Ostermann
Henning Otte
Ingrid Pahlmann
Sylvia Pantel
Martin Patzelt
Dr . Martin Pätzold
Ulrich Petzold
Dr . Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Eckhard Pols
Kerstin Radomski
Alexander Radwan
Alois Rainer
Dr . Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Lothar Riebsamen
Johannes Röring
Dr . Norbert Röttgen
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht
Anita Schäfer ({9})
Dr . Wolfgang Schäuble
Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Jana Schimke
Norbert Schindler
Heiko Schmelzle
Gabriele Schmidt ({10})
Ronja Schmitt
Patrick Schnieder
Dr . Ole Schröder
Dr . Kristina Schröder ({11})
Bernhard Schulte-Drüggelte
Dr . Klaus-Peter Schulze
Uwe Schummer
Christina Schwarzer
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr . Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Tino Sorge
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr . Frank Steffel
Dr. Wolfgang Stefinger
Albert Stegemann
Peter Stein
Sebastian Steineke
Christian Frhr . von Stetten
Dieter Stier
Rita Stockhofe
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Matthäus Strebl
Karin Strenz
Thomas Strobl ({12})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr . Sabine Sütterlin-Waack
Dr . Peter Tauber
Antje Tillmann
Astrid Timmermann-Fechter
Dr . Hans-Peter Uhl
Dr . Volker Ullrich
Arnold Vaatz
Oswin Veith
Thomas Viesehon
Michael Vietz
Volkmar Vogel ({13})
Sven Volmering
Christel Voßbeck-Kayser
Kees de Vries
Dr . Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Albert Weiler
Marcus Weinberg ({14})
Peter Weiß ({15})
Sabine Weiss ({16})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Marian Wendt
Waldemar Westermayer
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Heinz Wiese ({17})
Klaus-Peter Willsch
Barbara Woltmann
Tobias Zech
Heinrich Zertik
Emmi Zeulner
Dr . Matthias Zimmer
Gudrun Zollner
SPD
Niels Annen
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heike Baehrens
Heinz-Joachim Barchmann
Dr . Katarina Barley
Doris Barnett
Dr . Matthias Bartke
Sören Bartol
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding ({18})
Burkhard Blienert
Willi Brase
Dr . Karl-Heinz Brunner
Edelgard Bulmahn
Petra Crone
Bernhard Daldrup
Dr . Daniela De Ridder
Sabine Dittmar
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Michaela Engelmeier
Petra Ernstberger
Saskia Esken
Karin Evers-Meyer
Dr . Johannes Fechner
Dr . Fritz Felgentreu
Elke Ferner
Christian Flisek
Gabriele Fograscher
Dr . Edgar Franke
Ulrich Freese
Dagmar Freitag
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Angelika Glöckner
Ulrike Gottschalck
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Uli Grötsch
Wolfgang Gunkel
Bettina Hagedorn
Metin Hakverdi
Ulrich Hampel
Michael Hartmann ({19})
Dirk Heidenblut
Hubertus Heil ({20})
Gabriela Heinrich
Marcus Held
Wolfgang Hellmich
Heidtrud Henn
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz ({21})
Thomas Hitschler
Dr . Eva Högl
Christina Jantz-Herrmann
Frank Junge
Josip Juratovic
Thomas Jurk
Oliver Kaczmarek
Ralf Kapschack
Gabriele Katzmarek
Ulrich Kelber
Marina Kermer
Lars Klingbeil
Birgit Kömpel
Dr . Hans-Ulrich Krüger
Christine Lambrecht
Dr . Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Gabriele Lösekrug-Möller
Hiltrud Lotze
Dr . Birgit Malecha-Nissen
Caren Marks
Dr . Matthias Miersch
Susanne Mittag
Bettina Müller
Detlef Müller ({22})
Michelle Müntefering
Dr . Rolf Mützenich
Dietmar Nietan
Ulli Nissen
Thomas Oppermann
Mahmut Özdemir ({23})
Aydan Özoğuz
Markus Paschke
Christian Petry
Detlev Pilger
Sabine Poschmann
Florian Post
Achim Post ({24})
Dr . Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr . Sascha Raabe
Dr . Simone Raatz
Martin Rabanus
Gerold Reichenbach
Dr . Carola Reimann
Petra Rode-Bosse
Dennis Rohde
Dr . Martin Rosemann
Dr . Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth ({25})
Bernd Rützel
Johann Saathoff
Annette Sawade
Dr . Hans-Joachim
Schabedoth
Axel Schäfer ({26})
Dr . Nina Scheer
Dr . Dorothee Schlegel
Ulla Schmidt ({27})
Matthias Schmidt ({28})
Carsten Schneider ({29})
Ursula Schulte
Stefan Schwartze
Andreas Schwarz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Norbert Spinrath
Svenja Stadler
Martina Stamm-Fibich
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Claudia Tausend
Michael Thews
Dr . Karin Thissen
Carsten Träger
Ute Vogt
Dirk Vöpel
Gabi Weber
Bernd Westphal
Gülistan Yüksel
Dagmar Ziegler
Stefan Zierke
Dr . Jens Zimmermann
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
Nein
SPD
Ulrike Bahr
Marco Bülow
Dr . Lars Castellucci
Dr . Karamba Diaby
Dr . Ute Finckh-Krämer
Michael Groß
Rita Hagl-Kehl
Cansel Kiziltepe
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe
Hilde Mattheis
Klaus Mindrup
Sönke Rix
Susann Rüthrich
Sarah Ryglewski
Dagmar Schmidt ({30})
Elfi Scho-Antwerpes
Frank Schwabe
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Waltraud Wolff ({31})
DIE LINKE
Jan van Aken
Dr . Dietmar Bartsch
Karin Binder
Matthias W . Birkwald
Heidrun Bluhm
Christine Buchholz
Eva Bulling-Schröter
Roland Claus
Sevim Dağdelen
Dr . Diether Dehm
Wolfgang Gehrcke
Annette Groth
Dr . Gregor Gysi
Dr . André Hahn
Heike Hänsel
Dr . Rosemarie Hein
Inge Höger
Sigrid Hupach
Susanna Karawanskij
Kerstin Kassner
Katja Kipping
Jan Korte
Jutta Krellmann
Katrin Kunert
Caren Lay
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Stefan Liebich
Dr . Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Birgit Menz
Cornelia Möhring
Norbert Müller ({32})
Dr . Alexander S . Neu
Thomas Nord
Harald Petzold ({33})
Richard Pitterle
Martina Renner
Dr . Petra Sitte
Kersten Steinke
Dr . Kirsten Tackmann
Azize Tank
Frank Tempel
Dr . Axel Troost
Kathrin Vogler
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Katrin Werner
Birgit Wöllert
Jörn Wunderlich
Hubertus Zdebel
Pia Zimmermann
Sabine Zimmermann
({34})
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Annalena Baerbock
Marieluise Beck ({35})
Volker Beck ({36})
Dr . Franziska Brantner
Agnieszka Brugger
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Harald Ebner
Dr . Thomas Gambke
Kai Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Dr . Anton Hofreiter
Dieter Janecek
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Stephan Kühn ({37})
Christian Kühn ({38})
Markus Kurth
Monika Lazar
Steffi Lemke
Dr . Tobias Lindner
Peter Meiwald
Irene Mihalic
Beate Müller-Gemmeke
Özcan Mutlu
Dr . Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Cem Özdemir
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth ({39})
Corinna Rüffer
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Ulle Schauws
Dr . Gerhard Schick
Dr . Frithjof Schmidt
Kordula Schulz-Asche
Dr . Wolfgang StrengmannKuhn
Hans-Christian Ströbele
Dr . Harald Terpe
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Dr . Julia Verlinden
Doris Wagner
Beate Walter-Rosenheimer
Dr . Valerie Wilms
Enthalten
SPD
Andreas Rimkus
Swen Schulz ({40})
Ewald Schurer
Nächster Redner ist der Kollege Joachim Pfeiffer für
die CDU/CSU-Fraktion .
({41})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich glaube, manchmal besteht die Gefahr, dass man den
Wald vor lauter Bäumen nicht sieht . Freihandel ist seit
über 200 Jahren unbestritten eine Formel für Wachstum,
eine Formel für Wohlstand, eine Formel zur Schaffung
von Arbeitsplätzen .
({0})
Die Absenkung von Zöllen führt dazu, dass es eine
große Auswahl an Produkten zu niedrigen Preisen gibt
und dass der Wettbewerb intensiviert wird . Das ist eben
das Kernelement in der sozialen Marktwirtschaft . Der
Wettbewerb führt dazu, dass Effizienzpotenziale gehoben werden, die dann den Menschen zum Vorteil gereichen . Das ist Freihandel . Diesen Erfolg leben wir in
Deutschland jeden Tag . Es gibt kein Land in der Welt,
das so sehr in die Globalisierung und in den weltweiten
Handel eingebunden ist wie Deutschland:
({1})
nicht nur unsere leistungsfähige Industrie, sondern
vor allem auch die mittelständischen Unternehmen in
Deutschland .
Ich komme aus der Region Stuttgart . Dort gibt es sehr
viele mittelständische Unternehmen, sogenannte Hidden
Champions, Weltmarktführer in bestimmten Bereichen .
Ich nenne hier nur Stihl, Kärcher, Leibinger, Schnaithmann und wie sie alle heißen . Das sind kleine Unternehmen mit zum Teil 30, 40 oder 50 bis hin zu mehreren
Hundert oder Tausend Beschäftigten . Alle diese Unternehmen haben heute einen Exportanteil von weit über
50 Prozent bis zum Teil 90 Prozent . Das bildet die Basis
für unseren Wohlstand in diesem Land .
({2})
Da treten Sie an und sagen: Handel braucht ganz offensichtlich keine Regeln . Wir gestalten die Globalisierung nicht, oder wir überlassen sie anderen . - Das ist
definitiv nicht unsere Politik. Wir wollen die Globalisierung gestalten . Deshalb brauchen wir Regeln . Die Globalisierung braucht Regeln und muss gestaltet werden .
Worum geht es? Es geht um die Absenkung von Zöllen, und zwar auch bei CETA .
({3})
Wir haben nur noch 22 Prozent Zoll auf Baumaschinen, Züge und stromproduzierende Geräte und 11,5 Prozent auf Wein, Bier, Liköre und Schokolade . Damit sparen die EU-Exporteure selbst dann, wenn die Exporte
nicht ansteigen würden, 500 Millionen Euro jährlich bei
Exporten nach Kanada .
Aber das ist keine statische Betrachtung . Schauen wir
uns doch die Hunderte von Freihandelsabkommen an,
die Deutschland in der Vergangenheit geschlossen hat
oder die die EU abgeschlossen hat, seit die Zuständigkeit
bei ihr liegt . Nehmen wir zum Beispiel das Freihandelsabkommen mit Südkorea . Damals gab es auch Befürchtungen, insbesondere seitens der Automobilindustrie,
dass die Koreaner davon vielleicht stärker profitieren
würden als wir . Was aber ist das Ergebnis dieses Abkommens? Die EU-Ausfuhren nach Südkorea sind insgesamt
um 35 Prozent gestiegen . Bei den vollständig liberalisierten Gütern sind sie sogar um 46 Prozent gestiegen . Das
Freihandelsabkommen zwischen der EU und Südkorea
ist also ein Erfolgsrezept .
Der Marktanteil der deutschen Premiummarken in
Südkorea hat sich von 25 Prozent auf 75 Prozent erhöht,
und dies in den Jahren der vorläufigen Anwendung dieses
Abkommens . Die Zuständigkeit liegt bei der EU, und in
der Tat besteht ein Wirrwarr . Man kann sich darüber unterhalten, ob man ihn vielleicht bereinigen sollte .
Generell liegt die Zuständigkeit bei der EU . Die EU
verhandelt die Freihandelsabkommen in einem Rahmen,
den die nationalen Staaten - so auch wir - der EU vorgeben . Dann kommt man irgendwann zu einem Ergebnis, und dann wird es vom EU-Parlament genehmigt,
das dafür die gleiche demokratische Legitimation hat
wie wir im Deutschen Bundestag . Da diese Abkommen
aber auch sogenannte gemischte Anteile enthalten, müssen auch die nationalen Parlamente zustimmen . Zum Teil
sind aber nicht nur die nationalen Parlamente beteiligt:
In Belgien stimmt zum Beispiel auch das Regionalparlament der 70 000 Mitglieder starken deutschsprachigen
Gruppe darüber ab . Man kann sich darüber unterhalten,
ob dieser Prozess sinnvoll ist, weil er sich zum Teil über
Jahre hinzieht .
({4})
Deshalb hat es fast fünf Jahre gebraucht, bis das Abkommen mit Südkorea letztlich von allen 28 Mitgliedstaaten ratifiziert wurde. Als Letzte haben Italien und
Griechenland es im letzten Jahr ratifiziert.
Jetzt haben wir das Abkommen mit Kanada, das neben
der Abschaffung von Zöllen Standards einführt und vereinheitlicht und damit insbesondere doppelte Standards
beseitigt, was wiederum ein großer Vorteil insbesondere
für unseren Mittelstand ist .
Ein großes Thema von CETA ist das Vergaberecht .
Mit CETA haben EU-Unternehmen in Kanada auf allen
Verwaltungsebenen - also nicht nur auf nationaler Ebene, sondern auch in den Provinzen - die Möglichkeit,
sich an öffentlichen Ausschreibungen zu beteiligen . Das
ist bisher nicht der Fall . Auch das bedeutet Wettbewerb
und neue Chancen für Unternehmen aus der Europäischen Union und natürlich auch umgekehrt .
Und da frage ich jetzt: Wo liegen die Gefahren? Wo
liegen die Probleme? Ich kann überhaupt keine erkennen .
Wir gestalten vielmehr gemeinsam mit anderen Partnern
die Globalisierung . Es wäre in der Tat wünschenswert,
wir könnten die Globalisierung im Rahmen der WTO,
der Welthandelsorganisation, multilateral gestalten .
Dann kommen wir aber leider nicht in der Geschwindigkeit voran, wie wir uns das wünschen . Deshalb hat sich
die EU entschlossen - nachdem viele andere Regionen
bzw . Länder dieser Welt bilaterale Abkommen geschlossen haben, um die Globalisierung in ihrem Sinne zu gestalten -, dass wir nicht abseits stehen sollten, sondern
mitspielen und versuchen, unsere Standards zu Weltstandards zu machen, damit diese Standards dann hoffentlich
wiederum in multilaterale Abkommen einfließen können.
Das Gleiche gilt auch bei Fragen zu Investitionssicherheit und Schiedsgerichtshöfen . Das vorliegende Abkommen zwischen der EU und Kanada sieht zum ersten
Mal ein neues Verfahren bei Schiedsgerichten vor . Richter entscheiden . Sie sind unabhängig, werden von den
Vertragsparteien ernannt und dürfen keine Nebeneinkünfte haben . Auch Berufungsinstanzen sind vorgesehen . Verhandlungen sind öffentlich . Schriftsätze werden
veröffentlicht . Es gibt vieles andere mehr, was es in der
Vergangenheit nicht gab . Das ist das beste Abkommen,
das wir jemals hatten .
Wir haben vielleicht die Chance, die Punkte, die wir
gemeinsam mit Kanada erarbeitet haben, in andere Abkommen hineinzuverhandeln . Auch bei TTIP wird darüber gesprochen und verhandelt . Die Amerikaner sehen
das zum Teil anders . Aber deshalb wird ja verhandelt .
Wir verhandeln des Weiteren mit den ASEAN-Staaten,
Japan und China . Gerade im Hinblick auf die asiatischen Länder ist es wichtig, dass wir Investitions- und
Planungssicherheit für unseren Mittelstand, unsere Wirtschaft, unsere Unternehmen und unsere Arbeitnehmer
schaffen . Wir wollen all das, was wir im Abkommen mit
Kanada erreicht haben, in zukünftige Handelsabkommen
einfließen lassen.
Nun müssen Sie mir einmal erklären - ich kann das
beim besten Willen nicht erkennen -, wo hier Gefahren
für den Verbraucherschutz und den Menschen - Sie sprechen von Paralleljustiz - bestehen .
({5})
Freihandel, der im Rahmen der Globalisierung von uns
mitgestaltet wird, ist und bleibt die beste Formel für
Wachstum, Wohlstand und Arbeitsplätze .
({6})
Wir stimmen deshalb gerne dafür und sind froh, dass
CETA nun endlich verabschiedet werden und in Kraft
treten kann .
({7})
Darf ich mit Blick auf die besondere Verantwortung
des Parlaments vielleicht eine Bitte für die weitere DisDr. Joachim Pfeiffer
kussion und die Behandlung des Themas äußern? Wir
sollten mit aller möglichen Sorgfalt zwei Dinge auseinanderhalten, nämlich zum einen die Frage, was von solchen Abkommen überhaupt zu halten ist - darüber gibt
es Streit; dieser ist fraglos zulässig -, und zum anderen
die Frage, ob für ein ausverhandeltes Abkommen eine
mögliche Zustimmung der Bundesregierung zum vorläufigen Inkraftsetzen eines Teils dieses Abkommens ohne
Zustimmung des Bundestages erfolgen kann und erfolgen soll . Diese beiden Dinge hängen eng miteinander
zusammen, sind aber völlig unabhängig voneinander zu
entscheiden .
({0})
Darauf bitte ich im Interesse des ganzen Hauses alle Beteiligten jede denkbare Sorgfalt zu verwenden .
({1})
Die Kollegin Katharina Dröge ist die nächste Rednerin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrter Herr Präsident, ich möchte mich
erst einmal für diese klaren Worte zum parlamentarischen Beratungsprozess und zur Verantwortung, die wir
im Abstimmungsprozess haben, bedanken .
({0})
Ich finde, dass das eine sehr wichtige Aussage Ihrerseits
ist . Deswegen ist es wichtig, dass wir heute auch über
die Frage der vorläufigen Anwendung dieser Abkommen
sprechen . Zuvor möchte ich einen Schritt zurückgehen .
Ich möchte über beides sprechen, nämlich sowohl über
die Beratung des Inhalts als auch später über die Beratung des Verfahrens und in diesem Zusammenhang über
unser parlamentarisches Selbstverständnis, also darüber,
wie ernst wir das eigentlich nehmen, was wir hier im Parlament tun .
Das Abkommen mit Kanada liegt seit fast zwei Jahren,
seit Sommer 2014, in englischer Sprache vor . Wir haben
darüber diskutiert, wann der richtige Zeitpunkt wäre,
über dieses Abkommen zu beraten . Wir als Grüne und
auch die Fraktion Die Linke haben immer wieder Anträge mit Kritik am Verhandlungstext in das Parlament eingebracht . Im Sommer letzten Jahres haben wir einen sehr
ausführlichen Antrag in die Beratungen eingebracht . Sie
als Koalitionsfraktionen haben uns immer wieder gesagt,
dass Sie über das Abkommen genauso ernsthaft beraten
wollen wie wir, aber erst dann, wenn das Abkommen in
deutscher Sprache vorliegt, wenn eine fundierte Beratung des Textes möglich ist . Dieses Argument nehme ich
durchaus ernst .
Das Problem ist nur: Wir haben jetzt die Information bekommen, dass der Handelsministerrat im Oktober
dieses Jahres über das Abkommen beschließen wird . Das
Abkommen liegt aber immer noch nicht in deutscher
Sprache vor . Höchstwahrscheinlich wird das erst Ende
Juni/Anfang Juli, also zu Beginn unserer parlamentarischen Sommerpause, vorliegen . Es sind 500 Seiten Vertragstext und 1 500 Seiten Anhänge . Die Frage, die ich
Ihnen ganz ernsthaft stellen möchte, ist: Wie stellen Sie
sich dann ein geordnetes parlamentarisches Beratungsverfahren, von dem Sie immer gesprochen haben, vor?
({1})
Ich denke, es liegt in unserer Verantwortung, jetzt ein geordnetes parlamentarisches Beratungsverfahren sicherzustellen . Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass, wenn
die Bundesregierung im Handelsministerrat sowohl über
den Vertragstext als auch gegebenenfalls über die vorläufige Anwendung des Abkommens entschieden hat, danach noch eine parlamentarische Beratung erfolgen wird .
({2})
Sie als Regierungsfraktionen müssen, wenn Sie noch
etwas an diesem Vertragstext ändern wollen oder wenn
Sie Ihrer Bundesregierung noch etwas mit auf den Weg
geben wollen, was das Abstimmungsverhalten betrifft,
jetzt über das Abkommen reden . Ich muss Ihnen ganz
ehrlich sagen: Egal, auch wenn das Abkommen in englischer Sprache vorliegt, die Analyse muss jetzt erfolgen .
Die Schiedsgerichte - da müssten doch auch Sie mir zustimmen - sind das beste Beispiel dafür, dass es notwendig ist, jetzt über dieses Abkommen zu reden .
({3})
Sie haben gerade hier gefeiert, dass Sie Veränderungen in Bezug auf die Schiedsgerichte durchgesetzt haben . Wir sagen: Das reicht nicht; das ist immer noch das
alte ISDS . Ich gebe Ihnen recht, dass es hier Veränderungen gegeben hat . Die hat es aber nur gegeben, weil wir
uns dieses Vertragswerk im Sommer 2014 angeschaut
haben und kritisiert haben, was daran schlecht ist . Wir
haben Druck auf die Bundesregierung ausgeübt und gesagt, dass es mit uns keine Zustimmung zu solch einem
Abkommen geben wird, wenn diese schlechten Regelungen enthalten sind . Nur durch diesen Druck ist überhaupt
etwas passiert . Ich frage Sie: Wann kommt der Druck von
Ihnen? Wenn wir mit der Beratung warten, bis es endlich
einen deutschen Vertragstext gibt, was sollen wir dann
im September 2016 noch machen? Einen Monat später
soll das Abkommen beschlossen werden . Was sollen wir
dann noch verändern?
Ich gebe Ihnen ein zweites Beispiel, das zeigt, warum es so wichtig ist, jetzt darüber zu beraten . Es geht
um die Regelungen zur regulatorischen Kooperation .
Wir haben im letzten Sommer herausgefunden, dass
im CETA-Vertragstext eine Regelung steht, wonach es
Gremien geben wird, die über den Vertrag entscheiden
können, ohne dass die Beteiligung der Parlamente sichergestellt ist . Die Bundesregierung hat mehrfach auf
Präsident Dr. Norbert Lammert
unsere Fragen geantwortet, das stimme nicht . Sie hatte
es selber nicht gesehen . Irgendwann hat sie gemerkt: Oh,
die Grünen haben recht . Da gibt es doch eine Formulierung, dass die Parlamente nicht eingebunden werden
müssen . - Jetzt ist diese Regelung aus dem Vertragstext
herausgenommen worden . Das geschah, weil wir so genau hingeschaut haben .
Es gibt eine ganze Reihe weiterer problematischer
Formulierungen, die immer noch im Vertragstext stehen .
Deswegen kann ich nur an Sie appellieren: Nehmen Sie
die Arbeit, die wir miteinander machen müssen, ernst!
Das Zeitfenster schließt sich . Im Herbst 2016 ist das
Ganze vorbei .
({4})
Das Thema Schiedsgerichte ist weiterhin im Vertragstext . Sie müssen sich mit unseren Argumenten
auseinandersetzen . Es stehen weiterhin intransparente
Beratungsgremien drin . Es ist weiterhin die richterliche
Unabhängigkeit nicht gesichert . Es gibt weiterhin unpräzise Rechtsbegriffe . Es gibt weiterhin keine Begrenzung
der Schadenssummen . Klagen wie die von Vattenfall
oder die von Philip Morris gegen Australien oder auch
die von TransCanada gegen die USA sind mit diesem
System der Schiedsgerichte weiterhin möglich . Wenn
Sie als SPD sagen, Sie wollten die Schiedsgerichte nicht,
dann sage ich Ihnen: Jetzt ist der Zeitpunkt, um Druck
auf die Bundesregierung auszuüben, um noch irgendetwas zu bewegen .
({5})
Ebenso verhält es sich mit dem Vorsorgeprinzip, der
Sicherung der kommunalen Daseinsvorsorge . Wir haben in verschiedenen Anträgen geschrieben, dass es da
Probleme in diesen Abkommen geben wird . Die europäischen Verbraucherschutzstandards sind eben nicht gesichert, ebenso nicht die kommunale Daseinsvorsorge . Im
ganzen Vertragstext gibt es Rechtsunklarheiten . Wann,
wenn nicht jetzt, wollen wir dafür sorgen, dass sich etwas ändert? Ich kann nur an Sie appellieren: Setzen Sie
sich gemeinsam mit uns dafür ein, dass es ein ordentliches parlamentarisches Beratungsverfahren gibt, dass
es nicht zu einer vorläufigen Anwendung dieses Abkommens kommt, damit wir die Rechte, die das Parlament
hat, auch tatsächlich nutzen können .
({6})
Das Wort erhält nun der Kollege Klaus Barthel für die
SPD-Fraktion .
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Liebe Frau Dröge, genau das
tun wir .
({0})
Zunächst einmal muss man festhalten, worüber wir
heute beraten und entscheiden . Es geht um zwei Anträge
der Linksfraktion, einen älteren mit dem Titel „Für eine
lebendige Demokratie - Fairer Handel statt TTIP und
CETA“ und einen neuen Antrag zum vorläufigen Inkrafttreten des Abkommens . Der Antrag der Grünen zu CETA
ist zurückgezogen und heute von der Tagesordnung abgesetzt worden . Das ist auch zu begrüßen, weil auch dieser Antrag überholt war und wir jetzt in eine neue Phase
eintreten .
Den älteren Antrag der Linken von November 2015
können wir heute problemlos ablehnen . Das macht auch
deutlich, was das Problem unserer Beratungen ist: Der
Antrag bezieht sich nämlich auf einen CETA-Text, den
es nicht mehr gibt . Er ist also überholt .
({1})
Auf die inhaltlichen Widersprüche und Probleme dieses
Antrags der Linken zu CETA habe ich hier schon in der
ersten Beratung hingewiesen .
Was die Abstimmung über diese Anträge angeht, will
ich vorsorglich noch einmal sagen - wir wissen ja, was in
den Netzwerken passiert -: Wenn wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten diese Anträge zu CETA heute
ablehnen bzw . überweisen, heißt das noch lange nicht,
dass wir am Ende für dieses Vertragswerk oder für TTIP
sind - davon sind wir weiter entfernt denn je -; vielmehr
sind wir jetzt in den Beratungen .
({2})
Herr Kollege Barthel, darf die Kollegin Sitte eine
Zwischenfrage stellen?
Aber sicher .
Vielleicht nur eine kurze Korrektur, Herr Kollege . Es
ist das Schicksal von Anträgen, dass sie irgendwann eingebracht werden . Dann werden sie in den Ausschüssen
beraten, und dann kommen sie, mit einer Beschlussempfehlung versehen, wieder zurück . In der Zwischenzeit
passiert politisch natürlich etwas, unter anderem, weil
solche Anträge gestellt worden sind .
({0})
Dieser Antrag ist älteren Datums, es hat sich etwas verändert, und wir schließen diese Debatte heute mit einer
Beschlussempfehlung ab . Das heißt: Dieser Antrag ist
nicht veraltet . Er ist vielmehr eingebracht worden und
hat Wirkung gezeigt .
({1})
Heute wird die Behandlung dieses Antrags mit der Abstimmung über die Beschlussempfehlung abgeschlossen .
Uns reicht das aber nicht; deshalb gibt es einen zweiten Antrag . Die Kollegen haben gerade erläutert, warum
das nicht reicht .
({2})
Darum war es ja klug, dass wir den ersten Antrag in
die Ausschüsse überwiesen haben, was jetzt auch für den
zweiten Antrag gilt .
({0})
Wir haben damals schon gesagt: Der Antrag bezieht sich
auf einen Text, den wir nicht kennen und der sich zwischenzeitlich auch noch verändert hat . Das ist genau der
Punkt .
({1})
Ihr aktueller Antrag zu CETA, den der Kollege Ernst
vorgestellt hat, ist natürlich wesentlich spannender . In
der Tat ist die Frage zu klären, wie ein vorläufig in Kraft
getretener CETA-Vertrag durch nationale Parlamente gegebenenfalls rückholbar ist . Das müssen wir noch klären .
Aber eine Entscheidung über diesen Antrag kann es doch
erst geben, wenn folgende Bedingungen erfüllt sind:
Erstens . Der Vertrag muss von der EU-Kommission
vorgelegt sein, das heißt, er muss in die Landessprache
übersetzt worden sein . Das wird voraussichtliche Ende
Juni dieses Jahres der Fall sein . Vorher wird die EU-Kommission den Vertragsentwurf nicht in den Rat und nicht in
die europäischen Gremien einbringen können .
Zweitens . Der Europäische Rat muss sich mit der Frage, ob es sich um ein gemischtes oder nicht gemischtes
Abkommen handelt, befasst und dazu einen Beschluss
gefasst haben . Die Position der Bundesregierung dazu ist
bekannt .
Drittens . Der Rat muss dem Vertrag insgesamt zustimmen oder ihn ablehnen, und dann muss er noch durch das
Europäische Parlament .
Der zweite Teil des Entscheidungsprozesses findet im
Herbst statt . Es gibt also überhaupt keinen Grund, heute
über den Antrag der Linken zu entscheiden, und deswegen überweisen wir ihn .
Wir haben uns schon darauf verständigt, Kollege
Ernst, dass sich der Bundestag noch vor der Ratsbefassung, noch vor der Ratsentscheidung ausführlich mit
CETA befassen wird und gegebenenfalls der Bundesregierung einen Auftrag mit auf den Weg geben kann . Das
heißt für uns: Wir werden den Antrag überweisen . Dann
können wir ihn im Wirtschaftsausschuss und in anderen
Ausschüssen in Ruhe beraten, etwa in Form von Anhörungen . Für uns geht Sorgfalt vor Schnelligkeit, und
deswegen wollen wir diesen Antrag an die Ausschüsse
überweisen . Wir wollen jetzt eben nicht Knall auf Fall
entscheiden müssen, bevor wir eine deutsche Fassung
haben, sondern das Ganze in Ruhe im Parlament beraten .
Das ist der Sinn der Übung .
({2})
Zum Inhalt nur ganz kurz noch: Einerseits sehen wir
natürlich, dass es große Fortschritte gegeben hat . Meine Kolleginnen und Kollegen werden dazu in der Folge noch etwas sagen . Aber Fakt ist doch - das hat auch
Frau Dröge zugegeben -: Im letzten halben Jahr hat diese
Bundesregierung, hat Bundeswirtschaftsminister Sigmar
Gabriel in der Substanz mehr erreicht als in den letzten
fünf Jahren, in denen verhandelt worden ist .
({3})
Frau Dröge hat gesagt, der Entwurf liege seit zwei
Jahren in Englisch vor . Ich will nur einmal daran erinnern, dass Frau Malmström uns damals in Brüssel zu
CETA erklärt hat - wir waren zusammen dort -: It is
done . - Aber Tatsache ist: Es ist eben nicht „done“ . Wir
müssen uns einfach einmal vorstellen, was es bedeutet
hätte, wenn es von Anfang an die Transparenz, für die wir
gesorgt haben, gegeben hätte, wenn es von Anfang an das
öffentliche Interesse gegeben hätte, wenn es von Anfang
an die qualifizierte Arbeit in den Parlamenten gegeben
hätte und wenn es von Anfang an eine Regierungsbeteiligung der SPD gegeben hätte, die dafür gesorgt hat, dass
sich etwas bewegt hat .
({4})
Herr Kollege Barthel, der Kollege Ernst möchte Ihnen
mit einer ganz kurzen Zwischenfrage Gelegenheit für
eine ganz kurze Erweiterung Ihrer Redezeit geben . Das
ist eine unwiderstehliche Versuchung, nicht?
Sie sagen es .
Bitte schön .
Herzlichen Dank . - Meine Frage ist wirklich ganz
einfach . Wenn es hier darum geht, zu entscheiden, ob
das Abkommen vorläufig in Kraft gesetzt werden kann ohne Parlament - oder nicht, ist es völlig unerheblich, ob
der Text in Chinesisch, Französisch, Russisch oder sonstwie vorliegt . Würden Sie mir da zustimmen?
Nein. Eine vorläufige Inkraftsetzung kann es doch nur
geben, wenn sich der Rat damit beschäftigt hat und zum
Beispiel die Frage des gemischten Abkommens entschieden ist und damit auch klar ist, wer die Zuständigkeiten
hat . Wenn es nämlich kein gemischtes Abkommen sein
sollte, wie die Kommission glaubt, dann wird es auch gar
keine nationale Befassung geben können .
({0})
- Deswegen wird es auch keine vorläufige Zustimmung
geben,
({1})
weil die Bundesregierung ja die Auffassung vertritt, dass
es ein gemischtes Abkommen ist . - Die Frage, ob eine
vorläufige Inkraftsetzung erfolgt, wird erst dann entschieden, wenn der Rat dem Vertrag insgesamt zustimmt
oder eben nicht zustimmt .
({2})
- Das wird eben zu klären sein .
({3})
- Darum habe ich ja gesagt: Wir werden hier auch im
Rahmen der Ausschüsse, etwa in Form von Anhörungen,
beraten, wie sich die Sache verhält und welche Empfehlungen wir der Bundesregierung dann für die Zustimmung - gemischtes oder nicht gemischtes Verfahren,
vorläufige Inkraftsetzung - mitgeben. Das ist jetzt nicht
zu entscheiden . Der Eindruck, der hier erweckt wird, das
wäre in den nächsten zwei, drei Wochen zu entscheiden,
ist falsch . Das steht nicht an .
({4})
- Das ist in der Tat eine Grundsatzfrage; die wollen wir
klären . Diese Frage können wir aber nicht heute klären .
({5})
Wir befinden uns mitten im Prozess, weil wir keine deutsche Textfassung haben und weil wir ständig darauf hingewiesen haben, hier nicht über etwas entscheiden zu
wollen und zu können, das uns nicht vorliegt . Das beweisen auch Ihre Anträge dazu, die schon überholt sind,
wenn sie hier in die dritte Beratung kommen .
({6})
Wir sehen aber an diesem Verlauf und an dem, was
wir noch vorhaben, dass auch in der Handelspolitik Demokratie möglich ist und dass wir auch zu entsprechenden Verfahren der Beratung in den Parlamenten kommen
können . Für uns bleiben in der Tat noch viele inhaltliche
Probleme - Kollegin Dröge hat darauf hingewiesen -,
zum Beispiel die rote Linie, dass Investoren eben nicht
besser zu behandeln sind als Menschen, der Positivlistenansatz, die Sperrklinkenklausel für Rekommunalisierung
usw . Das wollen wir anhand eines deutschen Textes, der
schwer genug zu verstehen sein wird, den wir in Englisch
aber nicht verstehen, im Detail beraten .
({7})
Wir werden der Bundesregierung auch etwas mit auf
den Weg geben, was das vorläufige Inkrafttreten betrifft.
Wir werden juristisch klären müssen, welche Rolle nationale Parlamente in diesem Prozess der Entscheidung
spielen können . Das ist eine Frage, die in der Tat geklärt
werden muss .
Herr Kollege .
Darin sind wir uns einig . Deswegen wollen wir heute
nicht entscheiden, sondern erst beraten und uns mit der
Substanz beschäftigen .
({0})
Peter Beyer erhält nun das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion .
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir haben vorhin schon gehört, dass wir es, wenn man zurückschaut,
mit einer Reihe von Anträgen zu diesem Thema zu tun
haben, die da formell entweder direkt oder indirekt mit
hineinspielen . Ich bin dem Kollegen Joachim Pfeiffer
ausdrücklich dankbar, dass er noch einmal die Vorteile
von Freihandelsabkommen - auch vor dem geschichtlichen Hintergrund, wie sich das entwickelt hat - beleuchtet hat .
({0})
Ich glaube, das ist gerade für die Fraktion Die Linke doch
ganz erquicklich, weil sie das immer noch nicht verstanden hat .
({1})
Freihandelsabkommen, meine Damen und Herren,
werden zur wirtschaftlichen Verbesserung gerade auch
für die EU und für Deutschland beitragen, so eben auch
CETA, wie es entworfen ist, das Handelsabkommen mit
den Kanadiern . Es ist vielleicht ganz gut, das anfangs
noch einmal einzuordnen . Ich will ein paar Zahlen nennen, um die Dimension aufzuzeigen und klarzumachen,
über was wir uns hier unterhalten: Kanada ist für die Europäische Union der zwölftwichtigste Handelspartner .
2014 belief sich das Volumen des Handels mit Waren
und Dienstleistungen zwischen Kanada und der Europäischen Union auf 32 Milliarden Euro . Deutschland ist
innerhalb der EU-Mitgliedstaaten für Kanada der wichtigste Handelspartner - mit einem Volumen im Jahr 2014
von 9 Milliarden Euro; das ist der Wert der Ausfuhren
von Waren und Dienstleistungen von Deutschland nach
Kanada . Bei diesen Zahlen - sie sind schon für sich eindrücklich - sieht man: Da ist noch ganz schön Luft nach
oben .
Worum geht es bei CETA, in diesem ganz konkreten
Fall? Es geht um den Wegfall von Zöllen . Es geht um den
Abbau der sogenannten nichttarifären Handelshemmnisse . Es geht um den Zugang zu Märkten, zu öffentlichen
Aufträgen in Kanada, aber auch vice versa . Es geht um
eine verstärkte Zusammenarbeit bei der Regulierung .
Das sind Inhalte, die hohes Potenzial haben, die Wirtschaftskraft zu verbessern .
Schauen wir uns in den Anträgen einmal an, was die
Opposition durch die Freihandelsabkommen alles befürchtet . Es heißt, es sei problematisch, dass sich CETA
und TTIP - das möchte ich hier ausdrücklich mit in die
Debatte einbringen - stärker als vorherige Abkommen
auf Deregulierung, Liberalisierung, Wettbewerb und
Kostensenkung konzentrieren . Ich sehe bei diesen angeblichen Problemen gar nichts Negatives, meine Damen
und Herren; ganz im Gegenteil . Da müsste doch eigentlich ein Jubelschrei bei all jenen durch die Herzen gehen,
({2})
die wirtschaftspolitisch und auch mit Wirtschaftsverstand denken . Das liegt doch auf der Hand .
({3})
Das Problem liegt, glaube ich, ganz woanders, nämlich bei den Antragstellern selbst .
({4})
Denn sie setzen die positiven Auswirkungen von Freihandelsabkommen immer mit der Absenkung von Standards gleich . Aber da machen Sie einen Denkfehler . Sie
haben Freihandel nicht verstanden . Ich möchte an der
Stelle nicht noch einmal all das Richtige erzählen, was
insbesondere Kollege Pfeiffer hier ausgeführt hat; es ist
ja schon in die Debatte eingeführt worden . Deregulierung hat nichts mit geringeren Standards zu tun, sondern
schlicht mit weniger Normen und Vorschriften des Staates, mit weniger staatlichem Eingreifen . Dagegen können
Sie doch auch unter dem Stichwort „Bürokratieabbau“
überhaupt nichts haben . Wollen Sie mehr Bürokratie?
Nein!
({5})
Wir müssen sie abbauen . Das schafft Wirtschaftskraft .
Das stärkt die Wirtschaft . Das ist gut für Arbeitsplätze .
Das ist gut für die Bürger . Deswegen können wir natürlich nicht empfehlen - das wird Sie nicht überraschen -,
den Anträgen zuzustimmen .
({6})
Die Antragsteller sind vor allem immer gut im
Schlechtreden . Da schwingt - das möchte ich hier auch
ganz persönlich betonen - immer auch ein Stück Antiamerikanismus mit .
({7})
Auch - wie soll man das formulieren? - Antikanadismus
spielt mit eine Rolle . Alles dies ist leider immer noch
ablesbar, zum Teil explizit, zum Teil zwischen den Zeilen . Das ist etwas, was wir sicherlich auch mit bedenken
müssen .
Wie wollen wir in Zukunft leben? Wollen wir nicht
unseren Wohlstand, den relativen Wohlstand in Deutschland, in Europa, halten? Ich meine: Ja . Wir müssen alles
dafür tun, dass wir den Lebensstandard halten und möglichst noch ausbauen . Das geht eben nicht, indem wir uns
der immer weiter zusammenrückenden Welt verschließen, indem wir versuchen, die Globalisierung zurückzudrehen, was schon im Ansatz ein untauglicher Versuch
wäre . Wir haben es in der Hand, Globalisierung zu gestalten, zu regulieren . Das ist der Weg, der beschritten
werden muss, meine Damen und Herren .
({8})
Von den vielen anderen Befürchtungen, die sich in den
nach der Rechtsförmlichkeitsprüfung von CETA veröffentlichten Texten gar nicht mehr wiederfinden, möchte
ich nur zwei benennen:
Umweltschutz . Es hat sich nicht bestätigt, dass Umweltschutzstandards beeinträchtigt werden .
Schiedsgerichte . Beim Aufbau der Schiedsgerichtsbarkeit ist einiges erreicht worden . Es stimmt nicht, dass
das immer noch auf dem gleichen Stand ist, der zunächst
in den Texten niedergeschrieben war . Da ist einiges verändert worden . Zu den Verbesserungen gehören zum Beispiel die genaue Definition, was Investitionsrechte sind,
das Prinzip „Wer verliert, der zahlt“, die Unzulässigkeit
der Klagen von Briefkastenfirmen und auch die Öffentlichkeit der Verfahren und von Dokumenten . Das sind
wesentliche Fortschritte, die wir nicht negieren sollten .
Was die Debatte über die Schiedsgerichte angeht,
kommen noch einige wesentliche Vorschläge hinzu - das
müssen wir auch bedenken -, die jetzt im Rahmen der
Verhandlungen über das Freihandelsabkommen zwischen
der EU und den Vereinigten Staaten von Amerika von der
EU-Kommission gemacht wurden . Die EU-Kommission
wird nicht müde - sie hat es auch aktuell wieder getan -,
das sogenannte „right to regulate“ für den nationalen Gesetzgeber zu betonen . Durch Investitionsschutzklagen
können keine nationalen Gesetze ausgehebelt werden .
Auch die Unabhängigkeit der Richter soll verbessert
werden; Richter dürfen ab ihrer Ernennung nicht mehr
parallel als Gutachter oder Anwälte in anderen Investitionsschutzverfahren tätig sein . Eine Berufungsinstanz
wird eingeführt . - Bei all diesen wesentlichen Verbesserungen kann ich beim besten Willen nichts Negatives
mehr erkennen .
Deutschland geht ja auch nicht jungfräulich in Investitionsschutzdebatten hinein . Deutschland hat 130 ich betone es: 130 - Investitionsschutzabkommen mit
Schiedsgerichtsklauseln abgeschlossen, ist zweimal verklagt und kein einziges Mal verurteilt worden . Vor diesem Hintergrund müssen wir nicht immer dann, wenn es
um Schiedsgerichte geht, den Teufel an die Wand malen
und den Untergang des Abendlandes einläuten . Das wird
der Sache überhaupt nicht gerecht, meine Damen und
Herren .
Was die vorläufige Anwendbarkeit des CETA-Abkommens angeht, wurde ja schon vieles Richtiges gesagt .
Es geht nur um Sachverhalte, die ausdrücklich und klar
der Zuständigkeit der EU zugewiesen sind . Wir dürfen
doch bei der ganzen Debatte nicht ausblenden, dass spätestens durch den Lissaboner Vertrag das Aushandeln
und der Abschluss von Handelsabkommen der EU übertragen worden sind . Das ist geltende EU-Vertragsrechtslage . Punkt! Das können wir nicht einfach durch solche
Debatten wegdiskutieren; das ist so . Natürlich - darauf
haben auch alle anderen Redner hingewiesen - müssen
wir als Abgeordnete sehr darauf achten, dass wir im Ratifizierungsprozess ein Wörtchen mitzureden haben, da es
sich bei TTIP und CETA um gemischte Abkommen handeln wird; denn wir sind Volksvertreter im besten Sinne
des Wortes und wollen die Bürger vertreten . Wir wollen
mitreden und über diejenigen Punkte, die nationale Belange betreffen, mitdebattieren . Es ist sinnvoll, dass die
Teile von CETA - später auch von TTIP -, die in der Tat
der originären Zuständigkeit der EU zugewiesen sind,
direkt anwendbar sind . Das ist gut und wichtig für die
Marktteilnehmer . Dadurch kommt dieses Abkommen unmittelbar denjenigen zugute, für die es gemacht ist, und
eröffnet ihnen neue Chancen .
Meine Damen und Herren, mit CETA liegt ein ambitioniertes Abkommen vor, das insbesondere nach dem
Regierungswechsel in Kanada - das dürfen wir nicht
ausklammern - im Rahmen der Rechtsförmlichkeitsprüfung eine textliche Veränderung erfahren hat . Es ist ein
ambitioniertes, es ist ein gutes Abkommen, das gut für
uns alle ist: für die europäischen und auch für die deutschen Bürgerinnen und Bürger . Aus meiner Sicht ist es
abschlussreif . Deswegen werbe ich dafür, dass wir die
Anträge aus der Opposition nicht mittragen .
Vielen Dank .
({9})
Alexander Ulrich erhält das Wort für die Fraktion Die
Linke .
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
bin eigentlich sehr dankbar, dass Sie, Herr Lammert, hier
auf etwas hingewiesen haben, was, glaube ich, bei vielen
der regierungstragenden Fraktionen immer noch nicht
angekommen ist: Wenn wir es zulassen, dass CETA vorläufig zur Anwendung kommt, entmachtet sich der Bundestag selbst .
({0})
Dass der Bundestagspräsident Ihnen das vorhalten muss,
ist eigentlich traurig . Aber bitte hören Sie doch einmal
auf den Bundestagspräsidenten, auf Herrn Lammert .
({1})
Die heutige Debatte, die auf unserem Antrag vom November des letzten Jahres basiert, ist gut; denn es geht
ja nicht nur um die vorläufige Anwendung von CETA,
sondern um TTIP und CETA insgesamt . Wenn die Bevölkerung einen weiteren Beweis braucht, dass CDU/CSU
und SPD diese Verträge offensichtlich gegen die Mehrheit der Bevölkerung durchpauken wollen, dann hat ihn
die heutige Debatte erbracht . Ich glaube daher, dass es
zwingend notwendig ist, auch in Deutschland Volksabstimmungen zu wesentlichen Verträgen zuzulassen .
({2})
In anderen Ländern, etwa in den Niederlanden oder in
Belgien, wird über die Verträge abgestimmt . Wenn die
Ablehnung gegen TTIP und CETA in Deutschland riesengroß ist, die Bundesregierung diese aber mit den sie
tragenden Fraktionen durchpauken will, dann brauchen
wir endlich auch in Deutschland eine Volksabstimmung
über solche Verträge . Wir Linke fordern das .
({3})
Ich möchte an dieser Stelle auch sagen: Wir haben im
Bundestag schon sehr viele Debatten zu diesem Thema
geführt . Immer wieder kommt der gleiche Vorwurf: Warum debattieren wir darüber, wenn doch noch nichts vorliegt? Ich sage: Diese Debatten waren richtig gut . Das
verdeutlicht auch das gute Zusammenspiel zwischen der
Opposition im Bundestag und der außerparlamentarischen Bewegung .
({4})
Mit jeder Debatte im Bundestag, mit jeder Aktion der
außerparlamentarischen Bewegung ist der Widerstand
größer geworden . Bitte schicken Sie noch öfter Herrn
Pfeiffer an das Mikrofon . Dann haben wir bald hundert
Prozent Ablehnung in Deutschland .
({5})
Aber, Herr Barthel, so einfach machen wir es Ihnen
nicht . Wenn in einigen Jahren wieder einmal ein Kongress der SPD stattfindet und wieder eine Reinigungskraft Herrn Gabriel fragt, warum sie noch eine Partei
wählen soll, die den Umweltschutz abgebaut hat, die Arbeitnehmerrechte abgebaut hat, die Sozialstandards abgebaut hat und das Primat der Politik weiter geschwächt
hat, dann kann er sich nicht mehr hinstellen und sagen:
Schuld sind die Schwatten . - Übrigens: Bei dem Thema,
das in dieser Woche behandelt wurde, waren die Schwatten nicht schuld . An der Agenda 2010, an Hartz IV wart
ihr alleine schuld .
({6})
Wenn das Thema wieder aufkommt, hat es Herr
Gabriel in der Hand, in Brüssel deutlich zu machen: Wir
sind gegen CETA und TTIP, und wir sind gegen eine vorläufige Anwendung des Abkommens. Genau das erwarten wir von Herrn Gabriel als Minister .
({7})
Deshalb fordern wir hier die Bundesregierung nochmals
auf, die von der EU geplante vorläufige Anwendung von
CETA zu verhindern .
({8})
Wir lassen auch nicht zu, dass der Ball immer über Brüssel gespielt wird . Sie sagen - Herr Lammert, ich bin
gleich am Schluss -: Wir wollen das erst entscheiden,
wenn wir den Auftrag bekommen . In der EU-Kommission, in den Räten passiert nichts ohne deutsche Beteiligung . Wir wissen, dass die EU-Kommission die vorläufige Anwendung vorbereitet. Sie haben es jetzt in der
Hand, Nein zu sagen, statt nachher sagen zu müssen:
Brüssel ist schuld . - Dieses Schwarze-Peter-Spiel mit
Brüssel können Sie schon im Vorlauf verhindern . Entweder sagen Sie jetzt: „Wir machen da nicht mit“, oder
Sie sind mit schuld, wenn es zur vorläufigen Anwendung
kommt .
({9})
Noch einmal: TTIP und CETA werden von SPD und
CDU/CSU durchgedrückt . Wir sind dagegen .
Vielen Dank .
({10})
Nächster Redner ist der Kollege Dirk Wiese für die
SPD-Fraktion .
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Eine Anmerkung zu Ihnen, Herr Ulrich: Sie
haben Susanne Neumann angesprochen, die auf unserer
Wertekonferenz gewesen ist . Susanne Neumann ist der
SPD beigetreten und nicht der Linkspartei, weil sie uns
vertraut, die Probleme zu lösen .
({0})
Jetzt inhaltlich zu Ihrem Antrag . Der erste Punkt, den
Sie heute mit Ihrem Antrag vorgelegt haben, bezieht sich
auf die Frage des gemischten Abkommens . Herr Ernst,
Sie behaupten immer wieder in Ihren Anträgen, das sei
nicht eindeutig . Zahlreiche Gutachten, beantragt durch
die SPD-Bundestagsfraktion und die Bundesregierung,
und der Juristische Dienst des Europäischen Rates haben eindeutig bestätigt, dass es sich bei CETA um ein
gemischtes Abkommen handelt . Sie haben immer wieder
behauptet, dass die Kommission möglicherweise zu einer
anderen Entscheidung kommt . In dem Fall, also wenn die
EU sagen sollte, dass es kein gemischtes Abkommen ist,
kann der Europäische Rat die Kommission mit qualifizierter Mehrheit überstimmen, und er hat schon signalisiert, dass er das tun wird . Das, was Sie hier immer wieder vorbringen, ist juristisch falsch . Es ist ein gemischtes
Abkommen, und das wird im Oktober bestätigt werden .
({1})
Zweiter Punkt . Herr Präsident, Sie haben uns Abgeordneten noch einen Hinweis gegeben . Ich bin Ihnen
auch dankbar, dass Sie einen Brief an den Rechtsausschuss geschrieben haben . Der Rechtsausschuss hat sich
mit Ihrem Anliegen zu Fragen des gemischten Abkommens ausführlich befasst . Ich möchte noch einmal darauf
hinweisen, dass der Rechtsausschuss fraktionsübergreifend, also mit CDU/CSU, Grünen, SPD und Linkspartei - ich glaube, Sie wissen gar nicht, was sie beschlossen
haben -, deutlich gemacht hat, dass wir die Parlamentsrechte gestärkt sehen wollen und generell von gemischten
Abkommen ausgehen . Das haben die Sachverständigen
auch bestätigt . Wir haben Ihnen diesen Brief zukommen
lassen . Ich glaube, das waren sehr gute Beratungen, die
wir fraktionsübergreifend geführt haben . Sie müssen den
Brief nur auch mal lesen .
({2})
Der zweite Punkt, den ich ansprechen möchte, ist die
vorläufige Anwendbarkeit. Die vorläufige Anwendung
des CETA-Abkommens tritt nur in Kraft, wenn sowohl
der Europäische Rat als auch das Europäische Parlament
dem zustimmen .
({3})
Ich weiß, dass es im Vertrag von Lissabon dazu Unklarheiten gibt;
({4})
man hätte sich an der einen oder anderen Stelle genauer ausdrücken können . Aber es ist mittlerweile gewohnheitsrechtlich anerkannt und von der EU-Kommission
bestätigt, dass ohne die Zustimmung des Europäischen
Parlamentes dieses Abkommen nicht vorläufig angewandt wird . Das bitte ich auch einmal zur Kenntnis zu
nehmen .
({5})
Es ist richtig, dass hier Gewohnheitsrecht besteht . Darum
wird da ohne die Kolleginnen und Kollegen im Europäischen Parlament nichts gehen . Sie werden sich bis Januar
oder Februar Zeit für die Beratungen nehmen .
Im Hinblick auf die vorläufige Anwendbarkeit will
ich einen Punkt für die SPD-Bundestagsfraktion ganz
deutlich machen . Es gibt im Lissabon-Vertrag im Bereich des Investitionsschutzes Unklarheiten hinsichtlich
sogenannter Direktinvestitionen auf der einen Seite, die
in der Alleinzuständigkeit der EU-Kommission liegen,
und Portfolioinvestitionen auf der anderen Seite, die in
die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fallen . Ich sage für
die SPD-Bundestagsfraktion ganz eindeutig: Aufgrund
dieser gemischten Zuständigkeiten, die ich für eindeutig
halte, muss das ganze Investitionsschutzkapitel in CETA
von der vorläufigen Anwendbarkeit ausgenommen werden . Dafür werden wir uns als SPD-Bundestagsfraktion
einsetzen, weil sonst eine Bindungswirkung ausgelöst
würde, die wir an dieser Stelle - ich glaube, parteiübergreifend - nicht wollen .
({6})
Ich will einen dritten Punkt ansprechen . Herr Kollege
Klaus Ernst, Sie zitieren bei Gutachten - das machen Sie
ganz geschickt - immer die Überschriften . Sie nehmen
die Kritik des Deutschen Richterbundes am Investitionsschutzgerichtshof auf Grundlage von CETA auf . Sie
machen sich die Meinung des Deutschen Richterbundes
zu eigen . Ich nenne einmal ein Beispiel: Der Deutsche
Richterbund kritisiert, dass dort die Unabhängigkeit der
Richter nicht gewährleistet ist . Die 15 öffentlich-rechtlich bestellten Richter bekommen dafür, dass sie sich in
der ersten Instanz nur bereithalten, jeweils 2 000 Euro
monatlich, ohne überhaupt ein Verfahren durchzuführen .
Dafür, dass sie sich in der Berufungsinstanz nur bereithalten, bekommen sie 7 000 Euro . Wenn das Gehälter
sind, die der Linkspartei nicht ausreichen, dann habe ich
bis zum heutigen Tage etwas noch nicht mitbekommen .
In diesem Sinne: Vielen Dank und allen schöne
Pfingsten.
({7})
Für Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt die Kollegin
Bärbel Höhn .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
glaube, diese Woche hat deutlich gemacht, wie wichtig
es ist, auch hier im Bundestag über CETA und TTIP zu
diskutieren, über die Inhalte und das Verfahren . Von daher: Danke an die Grünen und die Linken, dass wir die
entsprechenden Tagesordnungspunkte haben .
({0})
Herr Barthel, Sie haben gesagt, man könne erst dann
über diese Texte reden, wenn sie vorlägen, und die Anträge, die hier vorlägen, bezögen sich auf die alten Texte .
Wir haben seit mehreren Wochen die neuen Texte von
CETA; sie liegen vor .
({1})
- Ja gut, auf Englisch . Aber es gibt ja den einen oder anderen, der sich den Text aus dem Englischen übersetzen
lassen kann oder Englisch kann .
Die CDU/CSU sagt immer - das regt mich langsam
auf -, dass die Standards des Verbraucherschutzes durch
diese Verträge nicht abgesenkt werden . Das untermauern Sie nie mit Textpassagen . Ich möchte, dass endlich
einmal ein Befürworter dieser Handelsverträge mit mir
wirklich über Textpassagen diskutiert und nicht einfach
immer allgemein sagt: Alles ist gut .
({2})
Dann machen wir das doch einmal . Der neue Text von
CETA, der vorliegt, beinhaltet bis heute nicht einmal das
Wort „Vorsorge“ .
({3})
Ich erwarte, dass in einem Vertrag, den wir mit Kanada
abschließen, die Vorsorge inhaltlich berücksichtigt wird .
Sonst können wir die Vorsorge auch nicht inhaltlich
durchsetzen .
({4})
Der Begriff „Vorsorge“ fehlt, aber die Passagen, die
regeln, wie die Kanadier ihre gentechnisch veränderten
Produkte auf den europäischen Markt bringen können,
was über Jahrzehnte bei der WTO kritisch diskutiert worden ist, stehen alle im Text . Das heißt, auf der einen Seite
ist die Tür geöffnet, um Gentechnikprodukte nach Europa zu bringen, auf der anderen Seite sehen wir hier von
der Vorsorge nichts . Das geht so nicht .
({5})
Frau Kollegin Höhn, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Wiese?
Na klar . Ich habe sowieso so wenig Redezeit, deshalb
freue ich mich natürlich darüber .
({0})
Frau Kollegin Höhn, vielen Dank dafür, dass Sie die
Zwischenfrage zulassen . - Sie haben gesagt, dass wir in
den Text einsteigen und inhaltlich diskutieren sollten .
Das Angebot will ich gerne annehmen und in diesem Zusammenhang eine Frage stellen .
Der CETA-Vertragstext steht bei mir schon lange in
zwei Leitz-Ordnern auf dem Schreibtisch; mit den Anhängen sind das gut 1 500 Seiten . Ich nehme den Text
sehr interessiert auseinander und hole mir die entsprechende Expertise .
Meine konkrete Frage: In Artikel X .2 ist eindeutig
festgelegt, dass die gesamte regulatorische Kooperation,
die zwischen der kanadischen Seite und der Seite der Europäischen Union angedacht ist, wenn das Abkommen
letztendlich in Kraft tritt - wir müssen an dieser Stelle ja
noch im Konjunktiv reden -, auf einer freiwilligen Basis beruht . Gleichzeitig ist in Artikel X .6 - oder X .7 eindeutig festgelegt, dass sämtliche Beratungen und der
Einigungsprozess, auf den man sich in Bezug auf die
freiwillige Kooperation geeinigt hat, durch demokratisch
legitimierte Gremien, abhängig von der EU-only-Zuständigkeit, der gemischten Zuständigkeit, gehen müssen und dass es kein Inkrafttreten durch ein irgendwie
geartetes Gremium gibt . Vielmehr müssen die Prozesse
demokratisch legitimiert sein . Stimmen Sie mir zu, dass
das so im CETA-Text, der uns bis jetzt in der englischen
Fassung vorliegt, drinsteht?
({0})
Herr Wiese, Sie sind Jurist . Der erste Punkt ist, dass
in der neuen Fassung in Bezug auf die regulatorische
Kooperation einige Punkte gegenüber der alten Fassung
geändert worden sind . Es gibt aber immer noch Gremien,
die nicht demokratisch legitimiert sind, aber die Anhänge
mit wichtigen Details verändern können . Deshalb lehnen
wir die Passagen über die regulatorische Kooperation im
Vertrag eindeutig ab . So wollen wir das nicht .
({0})
Im Übrigen haben Sie überhaupt nichts zu den Gentechnikkapiteln gesagt, über die ich gerade rede . Hier ist
nichts geändert worden . Bisher ist es so: Gegenüber Gentechnikpflanzen, deren Risiko noch nicht überprüft worden ist, gilt in Europa die Null-Toleranz . Das heißt, diese
Produkte dürfen in anderen Produkten nicht auftauchen .
In diesem Vertrag steht jetzt aber, dass es das gemeinsame Ziel ist, diese Null-Toleranz-Regelung abzuschaffen .
Was ist das denn? Das ist doch eine Absenkung des Verbraucherschutzniveaus, nicht mehr und nicht weniger .
Deswegen muss das da gestrichen werden .
({1})
Es gibt im Vorgriff auf den Vertrag sogar schon jetzt
Veränderungen beim Verbraucherschutz . Letzte Woche
haben sich Kanadas Sojahersteller bei der Europäischen
Kommission beschwert, sie wollten endlich eine Zulassung für ihre gentechnisch veränderten Sojaprodukte haben; denn das sei ihnen in den Verhandlungen zu CETA
zugesichert worden . Der Verbraucherschutz wird also
schon im Voraus ausgehebelt, und das geht einfach nicht .
Das dürfen wir nicht zulassen .
({2})
Wenn CETA vorläufig in Kraft tritt, dann heißt das
doch de facto, dass sich die Gentechnikunternehmen aus
den USA die Hände reiben; denn dann brauchen sie TTIP
überhaupt nicht mehr . Die Unternehmen haben nicht
nur Briefkastenfirmen, sondern sie haben richtige Tochtergesellschaften in Kanada und können dann über das
CETA-Abkommen all ihre Gentechnikprodukte schön
nach Europa bringen . Deshalb, meine Damen und Herren, dürfen wir einer vorläufigen Inkraftsetzung, aber
auch einer Inkraftsetzung von CETA nicht zustimmen;
denn sie würde Fakten schaffen, die wir dann nicht mehr
ändern können .
Vielen Dank .
({3})
Nächster Redner ist der Kollege Max Straubinger für
die CDU/CSU .
({0})
Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute über
die beiden von der Linksfraktion vorgelegten Anträge
zur Aussetzung des CETA-Verfahrens . Ich glaube, dass
den Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion nicht
bewusst ist, was es bedeutet, ein umfassendes Freihandelsabkommen zu erarbeiten und entsprechend mitzugestalten .
Ich verstehe die ablehnende Haltung gegenüber CETA
und auch gegenüber TTIP nicht; denn letztendlich beruht
der Erfolg unserer Volkswirtschaft, vor allen Dingen der
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die in unseren erfolgreichen Betrieben arbeiten, darauf, dass wir umfassenden Freihandel mit vielen Ländern betreiben . Unter
diesem Gesichtspunkt sollte man diese Vereinbarungen
bewerten .
({0})
Herr Kollege Ernst, Sie waren Betriebsrat, und zwar in
einem international tätigen Unternehmen, und müssten
daher wissen, was es bedeutet, Zugang zu anderen Märkten zu haben .
({1})
- Ja, aber den kann man immer verbessern . Herr Kollege
Ernst, das kann man immer verbessern .
({2})
Die Vorteile von CETA liegen doch auf der Hand:
99 Prozent der Zölle und sonstigen Barrieren werden
letztendlich abgebaut . Damit wird ein besserer Marktzugang für unsere Produkte geschaffen - zum Segen für unsere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, weil sie dadurch dauerhaft krisenfeste Arbeitsplätze haben werden .
Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Linken,
die Sie sich doch immer als Arbeitnehmervertreter bezeichnen, müssten doch eigentlich glühende Unterstützer
von TTIP und CETA sein .
({3})
Auf Basis von CETA werden sich Firmen aus
Deutschland und anderen EU-Ländern an Ausschreibungen der öffentlichen Hand in Kanada beteiligen können,
was bisher nicht möglich ist . So wie in Amerika „Buy
American“ gilt, gilt in Kanada „Buy Canadian“ . Für uns
bedeuten diese Abkommen Marktzugänge; denn dann
können sich unsere Firmen dort engagieren . Ich glaube,
das muss unser Ziel sein . Wir müssen im Sinne unserer Exportwirtschaft arbeiten; denn 50 Prozent unserer
Dienstleistungen, Waren und Güter gehen in den Export .
Verehrter Herr Kollege Ernst und liebe Kolleginnen und
Kollegen der Linken, Sie brüsten sich zwar immer damit,
für die Arbeitnehmer einzutreten, in diesem Fall sind Sie
letztendlich aber nicht bereit, durch die Verträge einen
gestaltenden Beitrag zu leisten .
({4})
Wir haben bei den Verträgen, die die EU ausgehandelt hat, darauf geachtet - das ist mitentscheidend -, dass
unsere Daseinsvorsorge, dass vor allen Dingen unsere
kommunalen Einrichtungen geschützt bleiben; denn das
ist für uns eine wesentliche Grundlage . Dasselbe gilt für
Urheberrechte, in besonderer Weise für regionale Herkunftsbezeichnungen; denn auch sie können ein wesentlicher Anreiz unserer Produkte sein . Das muss am Ende
gesichert bleiben . Ich bin davon überzeugt, dass wir mit
einer positiven Einstellung mit diesem Abkommen etwas
Vernünftiges für die Menschen in unserem Land erreichen .
Ich habe den Eindruck, dass es ständig um Grundsätzliches geht . Die Vertreter der Linken, aber auch von
Bündnis 90/Die Grünen, die letztendlich auch Vertreter
der Globalisierungskritiker sind, können sich mit solchen
Vereinbarungen wie TTIP oder CETA in keiner Weise
identifizieren.
Herr Kollege Straubinger, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ernst?
Vom Kollegen Ernst immer .
({0})
Herzlichen Dank . - Herr Kollege Straubinger, oder
Max, wir kennen uns ja doch ein bisschen
({0})
- ja, so ist die Welt; von Bayer zu Bayer -, ich will noch
einmal darauf hinweisen, dass wir jetzt auch darüber diskutieren, ob man das vorläufig anwenden soll. Wärst du
mit mir der Auffassung, dass es - selbst wenn man all
das, was hier eingebracht wurde, akzeptieren würde, die
„großen Chancen“ - angesichts der großen Zweifel in
der Bevölkerung, ob es tatsächlich so wie dargestellt ist,
sinnvoll wäre, eine entsprechende Debatte im Parlament
mit einer Abstimmung über ein Ratifizierungsgesetz zu
führen, bevor man die Verträge vorläufig in Kraft setzt?
Schließlich sind sie dann nicht mehr zurückzuholen . Das
wäre doch unabhängig von der Argumentation sinnvoll .
Die zweite Frage, die ich habe: Die zusätzlichen Möglichkeiten für die Exportindustrie sind dargestellt worden . Ich weiß, dass die Exportindustrie, beispielsweise
die Automobilindustrie, höchst erfolgreich ist, dass wir
Exportweltmeister waren, es pro Kopf immer noch sind,
also eigentlich gar keine Probleme haben, die gelöst werden müssen . In den Handelsabkommen soll aber geregelt
werden, beispielsweise bei TTIP, dass es beim Zugang
unserer Automobilindustrie zum Automobilmarkt in den
USA nur dann einen Fortschritt gibt, wenn gleichzeitig
eine Regelung gefunden wird, die zulasten unserer Bauern geht . Wir beide sind aus Bayern . Dort gibt es auch
Bauern . Wie wollen wir das hinbekommen? Warum sollen die Bauern dafür bluten, dass wir im Bereich der Automobilindustrie noch mehr Exporte haben? Ist das nicht
ein bisschen daneben?
({1})
Lieber Kollege Ernst, wenn Sie die Debatte aufmerksam verfolgt hätten, dann hätten Sie gehört, wie die verschiedenen Vorredner die Grundlagen für eine vorläufige
Inkraftsetzung dargestellt haben . Kollege Beyer und auch
Kollege Wiese haben sehr zutreffend dargestellt, welche
Mechanismen wir auf der europäischen Ebene haben; wir
haben sie im Lissabon-Vertrag vereinbart . An diese sollte
man sich halten .
Natürlich kann man wieder unterschiedlicher Rechtsauffassung sein - wie immer: zwei Juristen, drei Meinungen; Entschuldigung gegenüber den Juristen -, aber
es ist auch immer darauf zu achten, was gültiges Recht
ist. Das gültige Recht erlaubt eine vorläufige Inkraftsetzung in einzelnen Bereichen . Diese sind abgegrenzt . Jetzt
kann man sich natürlich über die Abgrenzung trefflich
streiten . Ich bin nicht der Meinung, die Kollege Wiese
vertreten hat, dass wir zumindest die Investitionsschutzklausel ausnehmen sollten; denn das ist ein wesentlicher
Bestandteil . Firmen müssen sich darauf verlassen können, bei ihren Investitionen Schutz zu haben, wobei das
zwischen Deutschland und Kanada vielleicht weniger
problematisch ist . Lieber Kollege Wiese, Sie wissen vielleicht, es gibt 28 EU-Länder, in denen es unterschiedliche Rechtsauffassungen gibt, die wir dabei zu beachten
haben . - Kollege Ernst, meine Antwort ist noch nicht
vorbei . Sie müssen stehen bleiben; denn es kommt noch
der zweite Teil der Beantwortung .
({0})
Zweiter Teil meiner Antwort . Sie versuchen jetzt natürlich, einen Keil zwischen Industrie und Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie Bäuerinnen und Bauern zu treiben .
({1})
- Nein . - Das ist ein völlig unstatthaftes Vorgehen, das
Sie hier betreiben . Denn gleichzeitig werden die Agrarmärkte für die europäische Landwirtschaft geöffnet . Mit
diesem Abkommen wird möglich, dass wir für Milch,
Käse und sonstige Produkte einen besseren Zugang nach
Kanada haben . Das müssen Sie in den Vordergrund stellen, statt plakativ zu sagen, hier würde Industriepolitik
gegen Landwirtschaft ausgespielt . Im Gegenteil: Hier
werden für beide Bereiche besondere Möglichkeiten des
Handelns bzw . des Austausches geschaffen, und zwar
eine positive Entwicklung auf beiden Seiten .
({2})
Kollege Ernst, jetzt können Sie sich setzen .
Werte Kolleginnen und Kollegen, ich möchte darauf
hinweisen, dass Schiedsgerichte per se nichts Schlechtes sind; darüber wird meistens gestritten . Ich kann auch
nicht erkennen, dass die über 130 Abkommen Deutschlands mit anderen Ländern, in denen private Schiedsgerichte vereinbart worden sind, negative Auswirkungen in
den betreffenden Ländern, ob in Deutschland oder auch
in dem Land, mit dem Deutschland den Vertrag geschlossen hat, gehabt hätten . Deshalb ist diese plakative Verteufelung von Schiedsgerichten in der Öffentlichkeit nicht
in Ordnung, bei der Sie so ungefähr sagen: Da gibt es ein
schlimmes Gericht, eine völlige Neuartigkeit .
Dabei ist zu beachten, dass wir auch in unserem
Rechtssystem danach trachten, manche Streitigkeiten
nicht im Gericht zu entscheiden, sondern eine freiwillige
Vereinbarung zu treffen . Dies ist auch in diesem Bereich
besonders notwendig, und zwar zum Schutz der investierenden Betriebe in vielen Ländern der Welt und in diesem
Fall vor allen Dingen in Kanada . Es geht darum, dass
die Investitionen vor Diskriminierung geschützt werden .
Das bedeutet aber noch lange nicht, dass staatliches Handeln beeinträchtigt wäre, wenn es neue Erfordernisse im
Verbraucherschutz oder in anderen Bereichen gäbe .
Frau Kollegin Höhn, Sie legen dar, dass es angeblich
keinen vorsorgenden Verbraucherschutz in den Vereinbarungen gäbe .
({3})
- Nein, das ist nur angeblich . Natürlich ist Verbraucherschutz vereinbart,
({4})
aber alles auf wissenschaftlicher Basis .
({5})
Man kann den Verbraucherschutz natürlich nicht nach
dem „Gift des Monats“, das die Grünen erfunden haben,
ausrichten . Nach solchen Kriterien kann man keinen Verbraucherschutz betreiben . Der Verbraucherschutz muss
auf wissenschaftlicher Grundlage gestaltet werden .
({6})
Das ist dann ein nachvollziehbarer Verbraucherschutz .
Verbraucherschutz darf nicht im Rahmen von Kampagnen betrieben werden, und es darf auch nicht lediglich
der Schein von Verbraucherschutz erweckt werden . Dagegen wehren wir uns, liebe Frau Kollegin .
Herr Kollege Straubinger, es gibt zwei Wünsche nach
Zwischenfragen, von der Kollegin Höhn und der Kollegin Künast, wobei sich die Kollegin Höhn als Erste gemeldet hat . Gestatten Sie diese Zwischenfragen?
Ja, ich bin gerne dazu bereit, wobei das für die Kolleginnen und Kollegen, die möglicherweise in die Pfingstferien wollen, dann natürlich eine Verlängerung bedeutet .
({0}): Ausrede!)
- Nein, nein . - Aber ich bin gerne bereit, die Fragen zuzulassen .
Dann beginnen wir mit der Kollegin Höhn .
Herzlichen Dank, dass Sie die Frage zulassen . - Herr
Straubinger, das war eine ganz entscheidende Aussage,
die Sie eben gemacht haben; es ist gut, dass hier alles
protokolliert wird . In der Gentechnikforschung ist es so,
dass 80 Prozent der Gutachten indirekt oder direkt von
den Unternehmen finanziert werden, die die Gentechnikprodukte selber herstellen . Natürlich sind die Ergebnisse
dieser Gutachten immer pro Gentechnik . Das ist doch
logisch. Ein Unternehmen wird ja kein Gutachten finanzieren, das zu einem Ergebnis kommt, das für die Gentechnik negativ ausfällt .
Unter diesen Gesichtspunkten hatte die EU bisher immer Vorbehalte gegen das sogenannte wissenschaftsbasierte Anerkennungsverfahren; denn es ist de facto ein
risikobehaftetes Anerkennungsverfahren . Die Risiken
werden nämlich vor allen Dingen von den Unternehmen
erforscht, die davon profitieren. Sie sagen jetzt: Genau
so muss es gemacht werden; wir brauchen ein wissenschaftsbasiertes Verfahren . - Für die Verbraucher in
Deutschland bedeutet das, dass sie die negativen Auswirkungen von beiden Seiten erhalten: Sie bekommen
die Gentechnik, und zwar so, wie die Nordamerikaner es
wollen, sie haben aber nicht die Haftungsrechte, die es in
Amerika gibt . Würden Ihre Vorschläge umgesetzt, würde
es für die Verbraucher in Europa sogar schlimmer als für
die Verbraucher in Amerika . Was Sie vorhaben, ist wirklich das Allerschlimmste, das man sich vorstellen kann,
Herr Straubinger . Das geht überhaupt gar nicht .
({0})
Frau Kollegin Höhn, Sie wissen haargenau, dass wir
die Grüne Gentechnik in Europa ablehnen . Deshalb wird
sie hier auch keinen Zutritt haben, ganz einfach . So ist es .
({0})
Jetzt kommt die Kollegin Künast mit ihrer Zwischenfrage .
({0})
Herr Straubinger, der einzige Satz von Ihnen, den ich
gut fand, war: Sie wissen genau, dass wir die Grüne Gentechnik ablehnen . - Vor zehn Jahren wäre Ihnen auch das
nicht über die Lippen gekommen . Bevor Sie diesen Satz
zu Papier gebracht hätten, hätte sich eher Ihr Stift verbogen; aber das ist ja schon mal etwas .
({0})
Sie haben im Zusammenhang mit der Frage, welchen
Prinzipien der Verbraucherschutz folgt, von „wissenschaftsbasiert“ geredet . Ist Ihnen eigentlich bewusst,
dass es, was die Prinzipien betrifft, in Europa und in den
USA bzw . in Kanada eine grundsätzlich andere Herangehensweise gibt? Bei uns ist es das Vorsorgeprinzip, das
„precautionary principle“, das besagt: Wenn es bei einem Stoff wissenschaftlich begründete Hinweise darauf
gibt, dass er mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit zu
einem Schaden führt, dann lassen wir ihn im Interesse
der Sicherheit der Verbraucher, ihrer Gesundheit und der
Umwelt nicht zu und sagen: Er ist nicht verkehrsfähig .
({1})
Die Amerikaner folgen eher dem WTO-Prinzip . Sie würden einen Stoff erst dann verbieten und ihn aus dem Verkehr ziehen - ich überzeichne das etwas -, wenn weltweit alle Wissenschaftler sagen würden: Er ist gefährlich;
er löst bestimmt Krebs aus . - Das sind zwei Prinzipien,
die nicht identisch sind .
Ich frage Sie: Wie kann man Ihrer Meinung nach sicherstellen, dass unser Vorsorgeprinzip, mit dem wir
Alte, Junge und Babys in vielen Bereichen vor gesundheitlichen Gefahren schützen, im Rahmen von CETA
verankert wird, wenn es nicht einmal drinsteht und nicht
bekräftigt wird, sondern wenn sogar eher die Gefahr
droht, dass es später in der regulatorischen Kooperation
unter die Räder kommt? Ich weiß nicht, wie Sie das machen wollen . Sie reden dies einfach nur weg .
({2})
Frau Kollegin Künast, wir reden hier nichts weg . Der
vorsorgende Verbraucherschutz, der bei uns Gültigkeit
hat, findet hier tagtäglich Anwendung. Wir haben gestern
im Parlament über eine solche Frage diskutiert . Dabei
wurde auf wissenschaftlich basierter Basis vom Bundesministerium der Landwirtschaft dargelegt, natürlich
aufgrund der wissenschaftlichen Erkenntnisse und der
wissenschaftlichen Erarbeitung durch die nachgeordnete
Behörde, dass der Wirkstoff Glyphosat hier eine Zulassung bekommen soll . Dies ist letztendlich auch mit durch
das Vorsorgeprinzip entstanden und nicht unter dem Gesichtspunkt der Kampagnenfähigkeit einzelner Teile, die
mit eine Rolle spielen . Ich bin sehr zuversichtlich, dass
wir dies beherrschen können .
Angesichts dessen, dass auch in Amerika Verbraucherschutz eine Gültigkeit hat -, das werden Sie wohl nicht
bestreiten, Frau Kollegin Künast -, werden wir sicherlich
vernünftige Regelungen und ihre Umsetzung haben .
({0})
Herr Kollege Straubinger, Sie haben schon ausführlich und außerordentlich freigiebig Zwischenfragen zugelassen . Es gibt eine weitere vom Kollegen Barthel .
Jawohl .
Ich würde allerdings vorschlagen, dass wir nach dieser
Zwischenfrage etwas zurückhaltender sind .
Genau dies sollte meine Zwischenfrage auslösen . Kollege Straubinger, geben Sie mir recht, dass zu alledem,
was uns hier an Zwischenfragen und an Textbausteinen
zu CETA um die Ohren gehauen wird, heute kein Antrag
vorliegt und wir darüber eigentlich gar nicht beraten?
({0})
- Nein, der Grünenantrag steht heute gar nicht zur Entscheidung an, und die anderen auch nicht .
({1})
Ein zweiter Punkt ist, dass Sinn und Inhalt unserer
Bestrebungen ist, das Verfahren so durchzuführen, wie
die Koalition im Wirtschaftsausschuss mit vorgeschlagen
hat, nämlich in Ruhe darüber zu beraten, wenn der deutsche Text vorliegt, und genau dann all diese Probleme
zu wälzen, die Sie vorgetragen haben . Es führt uns jetzt
überhaupt nicht weiter, uns links und rechts einzelne Kapitel von CETA um die Ohren zu hauen .
({2})
Da haben Sie, Herr Kollege Barthel, völlig recht . Dieses Verfahren stellt die richtige Vorgehensweise dar . Ich
habe den offensichtlichen Eindruck, dass die Kolleginnen und Kollegen der Opposition immer lieber vorher
diskutieren und stärker über Mutmaßungen diskutieren
als über Inhalte .
({0})
Deshalb pflichte ich Ihnen bei, dass wir das Verfahren
ganz geordnet tätigen .
({1})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich möchte zum
Schluss feststellen: Die deutsche Wirtschaft und die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben ein gehöriges
Interesse daran, dass wir mit internationalen Vereinbarungen weiterhin positiv auf die Märkte treten können .
Das gilt für viele Bereiche . Damit ermöglichen wir vor
allen Dingen, dass Arbeitsschutzstandards auch in anderen Ländern angehoben werden . Es hat noch kein einziges Abkommen dazu geführt, dass Arbeitsschutzstandards geschleift worden wären, wie es immer befürchtet
wird, lieber Kollege Ernst. Beste Beispiele findet man
im Handel, wenn man über den Zugang von Entwicklungsländern zu unseren Märkten redet . Unsere Handelsunternehmen werden beauftragt, Vereinbarungen dahin
gehend zu schließen, dass Kinderarbeit verboten ist und
dass bessere Arbeitsschutzstandards geschaffen werden,
um die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in diesen
Ländern zu schützen .
Wir sollten also nicht so viele Ängste in die Gesellschaft tragen, die in keinster Weise begründet sind .
({2})
Im Gegenteil: Letztlich können wir vielen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern nicht nur bei uns in
Deutschland, sondern auch in anderen Ländern Hilfestellungen geben und Positives bewirken .
In diesem Sinne: Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit .
({3})
Für die SPD spricht jetzt die Kollegin Dr . Nina Scheer .
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich denke, es ist ganz selbstverständlich, dass
der Prozess des Entstehens des Vertrags nicht so ausgestaltet werden kann, dass elementare Prozessschritte wie
zum Beispiel die Ratifikation von Verträgen hinterher
untergraben sind . Insofern ist es selbstredend, dass ein
Prozess, bei dem aus einer vorläufigen Anwendung ein
faktisches Untergraben des Ratifikationsprozesses folgt,
von uns nicht mitgetragen wird .
Jetzt stellt sich die Frage, welche Schlussfolgerung
wir zum jetzigen Zeitpunkt daraus ziehen . Dirk Wiese hat
schon zu Recht darauf hingewiesen, dass wir im Bereich
der Schiedsgerichtsbarkeit auch auf Drängen unseres
Wirtschaftsministers Sigmar Gabriel in den letzten Monaten bereits maßgebliche Änderungen erreicht haben und das, obwohl das noch kurz vorher für die Opposition,
aber auch für Teile aus unseren Reihen allein vom formalen Ablauf her undenkbar erschien . Man hat gesagt:
Nein, das ist ausverhandelt, wir befinden uns nur schon
in der Rechtsförmlichkeitsprüfung, das geht formal eigentlich gar nicht, und die anderen verlassen sich ja auch
auf diesen Prozess . Bei genauerem Hinschauen hat man
aber gesehen: Das ist nicht vertretbar, man kommt so
nicht weiter, so ein Vertragsergebnis wird hinterher nicht
abstimmungsfähig sein .
Also musste man sich diesen Dingen natürlich widmen . Deswegen ist auch die Auseinandersetzung mit genau diesen Punkten, die wir für nicht praktizierbar halten,
notwendig . Hier ist die Schiedsgerichtsbarkeit ein Element, aber nicht das einzige .
Genau in diesem Prozess befinden wir uns gerade.
Frau Dröge, Sie haben auch erwähnt, inwiefern dieser
Prozess und die Auseinandersetzung darüber hier im Parlament, um diese Dinge zu klären, wichtig sind . Ich denke, gerade mit Blick auf die sehr differenzierten und sehr
unterschiedlichen Positionen alleine in meiner Fraktion
und beim Koalitionspartner ist zu erkennen, dass wir hier
noch große Klärungsbedarfe haben .
Ich möchte jetzt auch noch einmal an der Frage ansetzen, was wir von Freihandelsabkommen überhaupt
erwarten .
Wenn gesagt oder einfach unterstellt wird - das ist ja
gerade schon aufgegriffen worden -, wir würden dem
Wissenschaftsansatz folgen und damit das Vorsorgeprinzip quasi über Bord werfen, dann muss ich sagen: Nein,
dann haben wir keine Grundlage, um zu einer Einigung
zu kommen . Das gilt genauso, wenn unterstellt wird, wir
wollten, dass Freihandel im Grunde genommen mit dem
freien Markt gleichzusetzen ist . Nein, wir sind eigentlich
schon einen Schritt weiter . Wir haben doch in den letzten
Monaten erfahren, dass es sich zuspitzt . Der Kristallisationspunkt liegt genau darin, dass wir einerseits zwar Handel wollen und in der globalisierten Welt auch Handel
brauchen - als Exportnation wäre das auch schwer anders
vorstellbar -, andererseits aber auch Regeln benötigen .
({0})
Die Vereinbarungen auf Ebene der UN vom letzten September - die UN-Nachhaltigkeitsziele - haben auch gezeigt, dass wir noch einen großen Bedarf haben, uns gemeinsame Regeln zu geben .
Ich finde, unser Hauptklärungsbedarf besteht darin,
dass wir noch einmal herausarbeiten müssen, inwiefern
die Verhandlungsmandate und die Prozesse, die in den
letzten Jahren daraus entstanden sind, tatsächlich mit
den teilweise sehr alten Verhandlungsaufträgen, die zurzeit noch „in der Mache“ sind, und dem gewachsenen
Wunsch nach einer gerechteren Welt und fairen Handelsbedingungen kompatibel sind. Wir befinden uns im besten Prozess, um genau dieses zu klären. Insofern finde
ich es verfehlt, jetzt das Augenmerk auf die vorläufige
Anwendung zu richten, zu einem Zeitpunkt, an dem wir
noch gar nicht wissen, was hinterher bestenfalls überhaupt vorläufig angewendet werden kann.
Ich habe nur noch wenige Sekunden Redezeit und
komme zum Schluss: Herr Pfeiffer, Sie haben sich hier
bemüht, ein paar Mittelständler zu zitieren, die sich das
so vorstellen, wie Sie sich das vorstellen . Ich fange erst
gar nicht damit an, die Mittelständler zu nennen, die große Vorbehalte haben und die gerne fairen Handel wollen
statt den Freihandel, den Sie wollen .
({1})
Ich glaube, wenn ich die alle aufzählen würde, dann würden wir noch über Pfingsten hier sitzen.
Vielen Dank .
({2})
Abschließender Redner in dieser Aussprache ist der
Kollege Rainer Spiering für die SPD .
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute, kurz vor dem
Pfingstfest, ist ja vielleicht ein interessanter Tag, um dieses Thema zu debattieren .
({0})
- Das ist angekommen .
Unbemerkt durch große Teile von uns selbst und
der Bevölkerung ist Deutschland zu einem der größten
Agrar exporteure der Welt geworden . Das hat vielleicht
die eine oder andere Folge, die uns in Deutschland möglicherweise nicht schmeckt . Fakt ist aber: Deutschland
ist einer der größten Agrarexporteure der Welt geworden,
und zwar auf der Basis unseres vorsorgenden Prinzips
und auf der Basis sehr wohlüberlegter Produkte . Einer
ausgesprochen intensiven und erfolgreichen Landwirtschaft ist eine sehr intensive und gut funktionierende
deutsche Landmaschinentechnologie vorgelagert .
Ja, ein Freihandelsabkommen kann Komplikationen
mit sich bringen; die diskutieren wir jetzt, vielleicht auch
im großen Rahmen, im Rechtsraum . Vielleicht kann man
aber auch eine Umkehrung machen und unser Augenmerk im Moment darauf richten, welche Chancen dieses Abkommen bieten kann . Vielleicht ist es auch eine
Chance, die Basis unserer Produktion in andere Länder
zu exportieren . Frau Höhn und Frau Künast, Sie haben
eben gesagt: Wir handeln nach dem Vorsorgeprinzip .
Vielleicht führt das dazu, dass auch andere Länder in der
Lage sind, zu akzeptieren, dass wir unglaublich gute und
tolle Produkte haben .
Der kanadische Markt ist unter anderem sehr aufnahmefähig für Milchprodukte .
({1})
Wir haben eine sehr intensive Milchproduktion . Wir haben zurzeit mit unserer Milchproduktion intensive Probleme . Deswegen stelle ich mir die Frage, ob wir nicht
einmal eine Umkehrung der Ideengebung eines Freihandelsabkommens, trotz aller Kritik, die daran geübt wird,
machen können .
Also, alle importierten Güter der Agrar- und Ernährungswirtschaft müssen weiterhin die strengen Vorschriften der EU oder Kanadas im Bereich von Gesundheit und
Sicherheit erfüllen . Kanada akzeptiert einen sehr umfassenden Schutz für europäisch geschützte Ursprungsbezeichnungen. Es gibt also keine Verpflichtung für die
EU, Rechtsvorschriften zu ändern, um die Einfuhr von
genetisch veränderten landwirtschaftlichen Kulturpflanzen zu kontrollieren .
Jetzt erlaube ich mir einen Schlenker und sage etwas
zu genveränderten Produkten . Meine sehr persönliche
Meinung dazu ist: Wissenschaft ist immer nur der Zeitpunkt des Wissens, das man hat . Gerade bei der Veränderung von Gengut kann mir überhaupt kein Wissenschaftler sagen, ob diese Veränderung auf Dauer gut geht . Egal
wie stark er in der Forschung ist: Das kann er mir nicht
sagen . Deswegen sage ich, dass wir mit genveränderten
Produkten nichts zu tun haben wollen - das ist auch die
Meinung der SPD-Fraktion -, weil Wissenschaft an ihre
Grenzen kommt . Man kann es zwar Science Base nennen, aber da gibt es eine Grenze . Deswegen wollen wir
das nicht . Deswegen nehmen Sie uns bitte ab, dass wir
alles tun und auch dafür geradestehen werden, dass die
Veränderung des Genguts nicht eintritt . Das Vertrauen
sollte man haben .
({2})
Jetzt, Frau Höhn, komme ich zu der Frage, die Antragsgrundlage ist. Da gibt es etwas, was ich schade finde . 2009 haben wir mit den Lissabon-Verträgen einen
sehr wichtigen und effizienten Schritt gemacht - ob er
gut war, diskutieren wir gerade -, nämlich die Handelspolitik in die Hände der EU zu legen . Ich weiß nicht, ob
sich damals alle darüber im Klaren waren, welch weitreiDr. Nina Scheer
chender Schritt das ist . Aber es ist ein ganz elementarer
Schritt zur Europäisierung des gemeinsamen Marktes .
Genau da grätschen wir jetzt rein .
Als Antwort auf die Frage nach der Anwendung haben
wir Kriterien, mit denen wir zumindest nach meinem Dafürhalten sicherstellen, dass dieses Abkommen nicht in
Kraft treten kann, wenn das Europäische Parlament und
der Europäische Rat das nicht wollen . Nach den geltenden Rechtsvorschriften und danach, wie wir im Moment
europäisches Recht umsetzen, wird die Inkraftsetzung
nicht erfolgen, wenn der Europäische Rat und das Europäische Parlament nicht zustimmen . Meine große Bitte
ist - deswegen eben der Hinweis auf Pfingsten -, dass
wir einmal dem Europäischen Parlament trauen und auch
an die große europäische Idee glauben .
Danke schön .
({3})
Vielen Dank . - Ich schließe damit die Aussprache .
Wir kommen jetzt zu dem Antrag der Fraktion Die
Linke auf Drucksache 18/8391 . Die Fraktion Die Linke
wünscht Abstimmung in der Sache . Die Fraktionen von
CDU/CSU und SPD wünschen die Überweisung an den
Ausschuss für Wirtschaft und Energie . Nach ständiger
Übung stimmen wir zunächst über den Antrag auf Ausschussüberweisung ab . Ich frage deshalb: Wer stimmt für
die Überweisung an den Ausschuss? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist die Überweisung
mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die
Stimmen der Fraktion Die Linke und von Bündnis 90/
Die Grünen beschlossen .
Wir kommen jetzt zum Tagesordnungspunkt 18 b: Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Energie zu dem Antrag der
Fraktion Die Linke mit dem Titel „Für eine lebendige
Demokratie - Fairer Handel statt TTIP und CETA“ . Der
Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 18/8128, den Antrag der Fraktion Die Linke
auf Drucksache 18/6818 abzulehnen . Wer für diese Beschlussempfehlung stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen . - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die
Beschlussempfehlung ist damit angenommen mit den
Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen
der Fraktion Die Linke bei Enthaltung von Bündnis 90/
Die Grünen .
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 19 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung des Wettbewerbs im Eisenbahnbereich
Drucksache 18/8334
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur ({0})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 38 Minuten vorgesehen . - Widerspruch
sehe ich keinen . Dann ist diese Redezeit so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache und darf zu Beginn dieser
Aussprache dem Parlamentarischen Staatssekretär Enak
Ferlemann für die Bundesregierung das Wort erteilen .
({1})
Sehr geschätzter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Die Bundesregierung legt Ihnen heute einen Gesetzentwurf zur Stärkung des Wettbewerbs im Eisenbahnbereich
vor . Dabei geht es um ein sehr wichtiges Gesetz, auf das
viele im Eisenbahnsektor schon seit längerer Zeit warten .
Die Eisenbahn ist ein faszinierendes Verkehrssystem .
Aber die Eisenbahn braucht einen rechtlichen Rahmen
und eine infrastrukturelle Ausstattung . Die Zukunft des
Eisenbahnwesens liegt nicht in den nationalen Bahnen,
sondern in einem europäischen Eisenbahnraum . Ich betone: in einem gemeinsamen europäischen Eisenbahnraum. Denn Zugverkehr ist dann besonders effizient,
wenn er über lange Strecken geht, insbesondere was den
Hochgeschwindigkeitsverkehr angeht, aber auch im Güterverkehr . Deswegen ist Eisenbahn ein prioritäres europäisches Verkehrssystem .
Dafür brauchen wir neben der Infrastruktur, die an
vielen Stellen noch Ausbaubedarf hat, aber in Europa in
einem guten Zustand ist, vor allem einen Ordnungsrahmen . Wir brauchen transparente Regeln für den Wettbewerb . Wir brauchen höhere Sicherheitsstandards und die
Möglichkeiten, Innovationen in das System einführen zu
können .
Dabei haben die EU-Kommission und mit ihr auch das
Europäische Parlament seit langen Jahren einen Grundsatz: Die Effizienz des Systems erfordert die Trennung
von Netz und Betrieb . Das heißt, die Infrastruktur ist
staatlich und der Betrieb durch viele verschiedene Betreiber privat .
Wir in Deutschland haben dazu eine etwas andere Position .
({0})
Wir fahren ein sogenanntes integriertes System . Das
heißt, wir trennen nicht Netz und Betrieb, sondern wir
fahren beides in einem integrierten Modell, was viele
Vorteile bietet .
({1})
Allerdings hielt man in Europa vom ersten bis zum
vierten Eisenbahnpaket an dem Grundsatz fest . Aber
durch beharrliches Wirken gerade dieser Bundesregierung ist es gelungen, als Ausnahme von diesem starren
Grundsatz möglich zu machen, dass auch integrierte Modelle aus europäischer Sicht genehmigungsfähig sind .
Aber wenn man dies durchsetzen will, braucht man,
da man es mit Monopolen zu tun hat, eine Marktdarstellung . Dafür braucht man eine strenge Regulierung . Wir
haben Ihnen in der vergangenen Legislaturperiode den
Entwurf eines sehr strengen Regulierungsgesetzes vorgelegt, der damals nicht mehr vom Parlament beschlossen
wurde . Wir haben Ihnen in dieser Legislaturperiode wiederum einen Regulierungsgesetzentwurf vorgelegt, der
eine Regulierung nach dem Standard der EU-Richtlinien
ausweist . Überall da, wo die EU-Richtlinie Spielraum
für nationale Gesetzgebung lässt, haben wir ihn genutzt,
um das Gesetz besonders einfach, aber auch besonders
transparent und gut umsetzbar zu machen . Ich glaube, es
ist gut, dass die Europäer uns nicht mit einer Verordnung
beschränken, sondern eine Richtlinie erlassen haben, die
uns einen gewissen Handlungsspielraum gibt, und den
haben wir genutzt .
Wir haben uns für die Entgeltregulierung entschieden .
Ich glaube, es ist gut, dass wir das gemacht und Ihnen
einen entsprechenden Vorschlag vorgelegt haben . Denn
so wird vorab klargestellt, wer welche Trassenpreise zu
bezahlen hat . Damit ein Monopolist sich nicht selber die
Trassenpreise so genehmigen kann, wie er sie gerne hätte, haben wir Ihnen, glaube ich, ein gutes System vorlegen können, mit dem sie im Markt simuliert werden .
Ein Sonderfall ist der Nahverkehr . Parallel zu den
Beratungen über das Regulierungsgesetz geht es um
das Regionalisierungsgesetz . Hiermit gibt der Bund den
Ländern das Geld, um den Nahverkehr auf der Schiene
in Deutschland möglichst effektiv und effizient zu betreiben . Dafür stellen wir ab diesem Jahr die sagenhafte
Summe von 8 Milliarden Euro bis einschließlich 2031
bei einer jährlichen Steigerungsrate von rund 1,8 Prozent
bereit . Die Länder erwarten von uns, dass wir bei den
Trassenpreissteigerungen nach Möglichkeit nicht über
diese 1,8 Prozent hinausgehen; denn dann wird die effektive Summe geringer .
({2})
Dem wollen wir auch Rechnung tragen . Deswegen haben
wir Vorschläge gemacht, aus denen hervorgeht, wie wir
diesem Länderbegehren entsprechen können . Wir wollen
dem Regulierer zwar Vorgaben machen . Aber diese Vorgaben dürfen das Regulieren nicht unmöglich machen .
Ich glaube, wir haben im Gesetzentwurf einen guten Weg
vorgeschlagen .
Natürlich muss man wissen, dass alles, was wir im
Nahverkehr nicht umlegen können, auf den Fernverkehr und den Güterverkehr zusätzlich umgelegt werden
muss . Wir haben uns aber dazu entschieden, Ihnen dies
vorzuschlagen, weil wir uns mit den Ländern bei den
Beratungen über das Regulierungsgesetz so verständigt
haben . Es ist daher richtig, das so im Gesetzentwurf vorzusehen . Wir werden gerade über diesen Punkt sicherlich
eine breite Debatte führen: Ist die vorgeschlagene Regelung gut? Kann man sie so umsetzen? - Auch die Länder
werden sich an dieser Diskussion weiterhin beteiligen .
Aber insgesamt kann man feststellen, dass wir für die
Diskussion eine sehr gute Grundlage geschaffen haben .
Ich wünsche mir, dass das von Ihnen und den Ländern im
Bundesrat mitgetragen wird .
Es ist wichtig, dass wir diese Regulierung bekommen;
denn nur mit einer strengen Regulierung können wir das
integrierte Modell weiterhin betreiben und es bei der Europäischen Kommission genehmigungsfähig halten . Das
ist für unser Eisenbahnwesen eine zwingende Voraussetzung . Deswegen hat dieser Gesetzentwurf die von mir
eingangs geschilderte Bedeutung .
Ich wünsche uns gute Beratungen dieses Gesetzentwurfs und freue mich auf kontroverse, aber letztlich zielführende Debatten, die dann hoffentlich zum Beschluss
dieses Gesetzentwurfs führen werden .
Herzlichen Dank .
({3})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Sabine Leidig für
die Fraktion Die Linke .
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Gäste! Ich glaube, kein Eisenbahnregulierungsgesetz - egal wie es aussieht - löst das Grundproblem . Das
Grundproblem bei der Bahn ist nicht die Trennung bzw .
Nichttrennung von Netz und Betrieb, sondern die Tatsache, dass die Deutsche Bahn AG auf Privatisierungskurs gesetzt wurde und darauf ausgerichtet ist, betriebswirtschaftlichen Gewinn zu machen . Richtig wäre, die
Deutsche Bahn am Gemeinwohl zu orientieren und das
Unternehmensziel so festzulegen, dass möglichst viele
Menschen gute Bahnanbindungen haben .
({0})
Deshalb ist es eigentlich höchste Zeit, dass Sie eine Reform der Unternehmensform planen, anstatt an Symptomen herumzudoktern, die nicht zu heilen sind, weder mit
Wettbewerbsverstärkung noch mit Anreizsystemen . Die
Grundausrichtung wird schließlich bisher durch Gewinnmaximierung bestimmt .
Wir haben dieses Problem in der Vergangenheit an
vielen Stellen gesehen . Hervorragend zu sehen war das
bei Hartmut Mehdorn als Gallionsfigur, der die Deutsche
Bahn AG auf Börsenkurs getrimmt hat . Unter ihm wurden 40 Prozent der Weichen aus dem Netz entfernt und
80 Prozent der Gleisanschlüsse gekappt . Tausende Bahnhöfe wurden verrammelt, verriegelt und verkauft . Wir haben Streckenstilllegungen und Kaputtsparen erlebt . Das
S-Bahn-Chaos in Berlin - das ist noch gar nicht so lange
her - ist entstanden, weil Werkstätten geschlossen wurden . Das alles wurde gemacht, weil Mehdorn sparen und
die Bahn für die Börse attraktiv machen wollte . Dieser
Kurs ist leider noch nicht zu Ende . Unter Herrn Grube,
der sagt, dass es um das Brot-und-Butter-Geschäft geht,
wurde die Strategie des Konzerns Deutsche Bahn AG
fortgesetzt, Auslandsbeteiligungen einzukaufen .
Wir haben inzwischen einen Global Player Deutsche
Bahn, bei dem mehr als 50 Prozent des Umsatzes nicht
aus dem Eisenbahnbetrieb kommen, sondern von der
Straße, vom Flugverkehr und von der Logistik, die mit
der Bahn gar nichts zu tun haben . Das ist ein grundsätzliches Problem, weil sich dann natürlich das Augenmerk
des Managements auf ganz andere Dinge richtet . Daran
müssen wir etwas ändern .
Wenn Herr Grube jetzt darüber redet, dass er private Investoren an der Logistiksparte beteiligen will, dann
heißt das, dass private Kapitalanleger direkt mit am
Tisch des Deutsche-Bahn-Konzerns sitzen . Sie können
jetzt schon davon ausgehen, dass alles, was sich aus deren Sicht nicht rentiert, geschlossen und kaputtgemacht
wird . Es wird jetzt schon darüber geredet, dass Hunderte
Güterverladestationen stillgelegt werden . Ich bitte Sie:
Wenn wir über die Verkehrswende reden und wenn wir
mehr Güter auf der Schiene transportieren wollen, dann
müssen wir doch diese Kapazität erhalten und ausweiten .
({1})
Auch wenn es sich im Moment nicht lohnt, so ist das
doch eine volkswirtschaftliche Perspektive und eine Frage der Nachhaltigkeit . Deshalb müssen wir die Deutsche
Bahn ganz anders aufstellen .
Ich möchte Sie einmal auf einen anderen Bereich aufmerksam machen, der auch eine große Bedeutung hat
und der völlig anders organisiert ist: Das ist die Wasserwirtschaft . Ich war vor ein paar Jahren in einem Wasserwerk und habe dort mit den Beschäftigten und auch
mit dem Chef des Wasserwerks sprechen können . Ich
fand ganz interessant, mit welcher Selbstverständlichkeit
diese Mitarbeiter davon ausgehen, dass es ihre Aufgabe
ist, möglichst viele Menschen mit gutem Trinkwasser zu
versorgen, möglichst effizient für die Volkswirtschaft die
Abwasserentsorgung zu organisieren und die Wasserreservoire zu schützen .
Sie bekennen sich - das tun sie auch öffentlich; das ist
sehr spannend - zu einem Unternehmen in öffentlicher
Hand, zu ihrer gemeinwohlorientierten Verantwortung .
Nix Global Player, nix Privatisierung . Sie lehnen die
Intervention der Monopolkommission, die auch immer
wieder kommt, ab, weil sie sagen: Was öffentliches Gut
ist, muss in öffentlicher Verantwortung und am Allgemeinwohl orientiert organisiert werden .
({2})
Das heißt zum Beispiel auch, dass in der Allianz der öffentlichen Wasserwirtschaft 100 Prozent der Einnahmen,
die aus der Wasserbewirtschaftung erzielt werden, wieder in die Wasserbewirtschaftung hineinfließen.
({3})
- Nein . Grube hat Arriva für 2 Milliarden Euro gekauft .
Das ist ein Busunternehmen, ein Global Player, der überhaupt nichts mit der Eisenbahn zu tun hat . Das ist der
Grundfehler . So etwas brauchen wir nicht .
({4})
Wir haben als zweites Prinzip der öffentlichen Wasserwirtschaft die Kooperation mit anderen Partnern . Nix
Wettbewerb, nix Konkurrenz . Kein Ausstechen anderer
und dafür sorgen, dass über Trassenpreise möglichst viele andere zahlen müssen .
Ich möchte zum Schluss noch sagen: Weder der Zusammenschluss der Privatbahnen noch die Träger des
öffentlichen Nahverkehrs sind mit Ihrem Eisenbahnregulierungsgesetz einverstanden . Sie sagen: Die Grundprobleme werden damit nicht gelöst . - Ich bitte Sie, sich nicht
an diesem 480-Seiten-Machwerk abzuarbeiten, sondern
eine grundlegende Neuorientierung in die Diskussion zu
bringen .
({5})
Das Wort hat die Kollegin Kirsten Lühmann für die
SPD-Fraktion .
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Anwesende! Ich komme auf das Thema der heutigen Debatte
zurück . Das Thema ist, dass die Bundesregierung einen
Entwurf für ein Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs im
Eisenbahnbereich eingebracht hat . Ich habe es Ihnen mitgebracht . Ich habe vielleicht eine andere Zählung als Sie,
Frau Leidig . Hier sind es 294 Seiten plus einige Anlagen,
also ein sehr gewichtiges Gesetzeswerk .
Wir haben heute die erste Lesung . Bei diesem komplexen Regelwerk wird es sicher noch einige Zeit dauern, bis wir uns hier zur endgültigen Verabschiedung
dieses Gesetzes wiedertreffen . Wie schon vom Staatssekretär erwähnt, handelt es sich um die Umsetzung einer
EU-Richtlinie . Für die SPD ist aber diese Regulierung
im Eisenbahnbereich auch ein Teil, der sich in die Gesamtstrategie Bahn dieser Bundesregierung einfügt, die
wir im Koalitionsvertrag vereinbart haben .
Wir wollen einen funktionierenden, leistungsfähigen
und bezahlbaren Schienenverkehr .
({0})
Hierbei sind der Ausbau und der Erhalt des Schienennetzes sowie dessen optimale Nutzung im Personen- und
im Güterverkehr notwendige Voraussetzungen . Mit der
LuFV, der Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung,
haben wir seit 2009 ein Steuerungsinstrument in der
Hand, um die Infrastrukturmittel, die wir zur Verfügung
stellen, wirksam und qualitätsoffensiv einzusetzen .
({1})
Zu Beginn dieser Legislaturperiode haben wir den
Vertrag erneuert, und wir stellen in den Jahren 2015 bis
2019 die Rekordsumme von insgesamt 28 Milliarden
Euro für den Erhalt der Schieneninfrastruktur zur Verfügung .
Kollegin Lühmann, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung der Kollegin Leidig?
Ich würde gerne zu Ende vortragen . Dann können
wir uns gerne unterhalten . Außerdem - ich habe es ja
gesagt -: Wir werden diskutieren . Das hier ist die erste Lesung . Ich glaube, wir haben jede Menge Zeit - im
Ausschuss, in den Anhörungen -, darüber noch zu diskutieren, Frau Leidig .
({0})
Mit dem neuen Bundesverkehrswegeplan haben wir
eine Strategie für die nächsten Jahre vorgelegt, die mit
dem Prinzip „Erhalt vor Neubau“ und der Engpassbeseitigung von hochbelasteten Korridoren den Schwerpunkt
an der richtigen Stelle gesetzt hat . In dieser Legislaturperiode haben wir zusätzlich zu den von mir eben genannten LuFV-Mitteln insgesamt 4,5 Milliarden Euro
für diese Bedarfsplanmaßnahmen, also die Mittel zum
Neubau, zur Verfügung gestellt . Neben dem Erhalt und
Ausbau der Kapazität des Schienennetzes sowie natürlich dem Lärmschutz, dem wir als Bundesregierung und
der sie tragenden Koalition ein besonderes Augenmerk
schenken, gehören faire Preise für die Benutzung der
Infrastruktur und ein diskriminierungsfreier Zugang für
alle Wettbewerber zum Gerüst des Ganzen .
Aber die beste Infrastruktur nutzt wenig, wenn Verkehre aufgrund von Intransparenz und nicht klarer Preisgestaltung nicht ausreichend auf der Schiene landen .
Beim Schienennetz haben wir nämlich die Situation - im
Gegensatz zum Personenverkehr und Güterverkehr -,
dass der DB-Konzern über ein Monopol verfügt . In einem Monopol muss der Staat die Möglichkeit haben,
Renditen zu begrenzen . Gerade weil es ein Monopol ist,
müssen die zugrundeliegenden Preise zur Nutzung der
Infrastruktur auch transparent sein .
Es ist schon etwas seltsam, wenn sich Eisenbahnverkehrsunternehmen darüber beschweren, dass sie bei einem Halt an einem Bahnhof zwar ein Entgelt bezahlen
müssen, es ihnen aber nicht völlig klar ist, wofür sie eigentlich bezahlen, und dass sie gegebenenfalls auch für
eine Ausstattung zahlen müssen, die entweder gar nicht
vorhanden ist oder die ihre Kunden nicht nutzen können .
({1})
Daher wollen wir mit diesem Gesetz mehr Transparenz
schaffen . Transparenz konnten wir bisher aufgrund fehlender gesetzlicher Grundlagen nicht vollständig schaffen . Mit diesem Gesetz schaffen wir sie .
Allerdings - auch das hat diese Regierung vereinbart - wollen wir keine Überregulierung bis ins letzte
Schräublein des Schienennetzes oder bis zum letzten Seifenspender in den sanitären Anlagen bei Station und Service, sondern wir wollen - das haben wir im Koalitionsvertrag beschrieben - eine Regulierung mit Augenmaß .
Zentrale Themen hierbei sind die weitere Verbesserung des diskriminierungsfreien Zugangs und die Optimierung der Ausgestaltung der Regulierung . Auch hier
kommt der Bundesnetzagentur eine zentrale Rolle zu, die
wir stärken werden .
Die Preise für die Nutzung der Eisenbahninfrastruktur
sollen künftig nicht mehr unkontrolliert steigen können,
vor allem nicht im Personennahverkehr . Die dort tätigen
Bahnen bzw . die Bestellenden ihrer Nahverkehrsleistungen beklagten in der Vergangenheit die Erhöhung der
Trassenpreise, die teilweise schneller stiegen als die Mittel, die den Auftraggebenden zur Verfügung standen .
Wird mit dem neuen Gesetz nun alles besser? Hat
die Bahn die Trassenpreise bislang korrekt berechnet?
Geht der Konzern effizient mit öffentlichen Geldern um?
Genehmigt er sich bei der Kalkulation zu viel Rendite?
Reichen ein Mehr an Transparenz und eine Einsetzung
aus, den Anstieg der Trassenpreise begrenzen zu können? Was bringt diese Regulierung schließlich für die
Verbrauchenden?
Der Bundesrat hat 57 Änderungsanträge eingebracht,
da er einige der von mir aufgeworfenen Fragen im Gesetz nicht hinreichend beantwortet sieht . Die Bundesregierung hat hierzu eine Gegenäußerung gemacht und
ist dabei bereits auf einige Vorschläge des Bundesrates
eingegangen .
Eines steht allerdings auch fest: Es müssen noch einige wichtige Punkte geklärt werden, so die Frage, wie die
Trassenpreise im Nahverkehr begrenzt werden . Hier gibt
es noch unterschiedliche Auffassungen zwischen Bund
und Ländern über die Auslegung des Inhalts der schon
gestern hier debattierten Vereinbarung zu den Regionalisierungsmitteln. Wer zahlt das Defizit, wenn die nachgewiesenen notwendigen Steigerungen der Trassenpreise
die dafür zur Verfügung stehenden Regionalisierungsmittel eines Bundeslandes übersteigen? Ein anderes Bundesland mit möglichen Überschüssen, eine Art Länderfinanzausgleich bei den Regionalisierungsmitteln? Oder
gar der Fernverkehr, was die neue Angebotsoffensive der
Bahn in diesem Bereich schon beenden würde, ehe die
ersten Verkehre auf den neuen Strecken begonnen hätten? Hier müssen wir im laufenden parlamentarischen
Verfahren Antworten und sinnvolle Regeln finden wie
auch für das Thema „Zugang zu Serviceeinrichtungen“ .
Abschließend stelle ich fest: Wir sind mit dem Gesetzentwurf auf einem guten Weg . Wo Wettbewerb funktionieren soll, benötigen wir Regeln, und dies umso mehr,
wenn es sich wie bei der Eisenbahninfrastruktur um ein
Monopol handelt . Der Gesetzentwurf verfügt da über einen interessanten Instrumentenmix,
Frau Kollegin Lühmann, achten Sie bitte auf die Zeit .
- um Anreiz, Transparenz und Effizienz in das deutsche Schienennetz zu bringen . Daher freue ich mich auf
spannende Beratungen .
Herzlichen Dank .
({0})
Das Wort hat der Kollege Matthias Gastel für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Lustlos und deutlich verspätet hat uns
die Bundesregierung einen Entwurf für ein Eisenbahnregulierungsgesetz vorgelegt . Man könnte doch glatt
meinen, es ginge um etwas Nebensächliches . Dabei geht
es um wesentliche Fragen: Funktioniert der Wettbewerb
auf der Schiene, oder funktioniert er nicht? Machen wir
die Bahn so attraktiv, dass mehr Menschen mit der Bahn
fahren, anstatt das Auto oder das Flugzeug zu nutzen?
Spielt die Schiene ihr Potenzial aus, damit weniger Güter
auf der Straße transportiert werden müssen? Das sind die
entscheidenden Fragen . Daran muss sich der Gesetzentwurf messen lassen .
({0})
Leider trägt das, was wir von Ihnen vorgelegt bekommen haben, kaum zur Erreichung der eben definierten
Ziele bei . Die Bundesländer wie die Bahnbranche sind
von Ihnen enttäuscht, und das aus guten Gründen . Ihnen
fehlen nämlich sowohl die Ziele als auch die richtigen
Instrumente dafür .
Was ist denn beispielsweise mit dem Deutschlandtakt?
Dieser braucht einen verlässlichen Taktfahrplan . Aber
gemäß Ihrem Entwurf eines Eisenbahnregulierungsgesetzes können bestimmte Züge den Takt regelrecht zerschießen .
Was ist mit der Möglichkeit, Trassen- und Stationspreise auf ihre Angemessenheit überprüfen zu lassen?
Die Eisenbahnverkehrsunternehmen können das künftig
nicht mehr gerichtlich klären lassen . Ich erinnere daran,
dass die Abschaffung der Regionalfaktoren auf eine erfolgreiche Klage von Eisenbahnverkehrsunternehmen
zurückgegangen ist . Und ob die Bundesnetzagentur
schlagkräftig genug ist, diese Aufgabe zu übernehmen
und auch entsprechende Anordnungen durchzusetzen,
kann man doch leicht bezweifeln .
Was ist mit der Entwicklung der Höhe der Trassenpreise? Das ist der entscheidende Hebel dafür, ob auf
der Schiene mehr oder weniger Verkehr abgewickelt
wird . Sie lassen mit diesem Gesetzentwurf das Ansteigen der Trassen- und Stationspreise, die schon jetzt auf
einem sehr hohen Niveau sind, weiter zu und tun nichts
dagegen . Entweder führt nämlich die Begrenzung des
Anstiegs der Trassen- und Stationspreise für den Regionalverkehr zu noch stärkeren Verteuerungen im Personenfernverkehr und im Güterverkehr - gerade der Schienengüterverkehr ist extrem preissensibel -, oder aber die
Trassen- und Stationspreise steigen für den Regionalverkehr stärker als die Regionalisierungsmittel des Bundes
für die Länder . Dann müssten die Länder entweder eigene Haushaltsmittel einsetzen oder Züge abbestellen . Und
das kann ja wohl nicht unser Ziel sein .
({1})
Wir dürfen nämlich nicht vergessen, dass die Trassenpreise bis zu 35 Prozent der Ticketpreise im Nah- und
Fernverkehr ausmachen, also einen erheblichen Anteil
der Preise, die die Kunden nachher zu bezahlen haben,
ausmachen . Die Lösung wäre die Einführung des Grenzkostenprinzips . Niedrigere Preise würden zu mehr Personen- und Güterverkehr auf der Schiene führen, und
mehr Züge brächten höhere Einnahmen . Das bedeutet,
zumindest ein Teil der Einnahmeausfälle wäre damit
kompensiert . Eine Mindestlösung aber wäre eine gesetzliche Trassenpreisbremse, also eine Kostenbremse, von
der alle Schienenverkehre entsprechend profitieren.
Aber Sie haben kein Interesse, endlich einmal neue
Wege zu gehen . Ihr Gerede von „Stärkung der Schiene“
oder „mehr Güter auf die Schiene“ zerplatzt wie Seifenblasen an den Tatsachen Ihrer Politik .
({2})
Dieses Desinteresse an der Schiene zeigt sich nicht
nur am vorliegenden Entwurf eines Eisenbahnregulierungsgesetzes; es zeigt sich auch bei Ihrem Entwurf des
Bundesverkehrswegeplans . Zwei Drittel aller Schienenprojekte sind noch nicht einmal bewertet worden . Aber
schon bevor sie bewertet worden sind, wollen Sie das
entsprechende Ausbaugesetz verabschieden . Daran sieht
man mal wieder, wie wenig wichtig Ihnen die Schiene
ist . Man kann sich kaum vorstellen, dass Sie den Entwurf des BVWP vorgestellt hätten, ohne dass vorher alle
Straßenprojekte bewertet worden wären . Damit hätten
Sie sich gar nicht rausgetraut . Bei der Schiene machen
Sie es . Es ist einfach nur traurig, mit ansehen zu müssen,
wie einseitig die Große Koalition auf das Auto und auf
den Lkw setzt .
({3})
Sie ziehen sich auf eine rein technokratische Umsetzung von EU-Vorgaben zurück . Sie lassen sämtliche
Chancen für ein Wachstum auf der Schiene links liegen .
Hören Sie auf den Rat der zahlreichen Akteure in der
Bahnbranche und der Bundesländer! Sie werden nämlich
mit Ihrem Gesetzentwurf keinen Erfolg haben, und zwar
nicht deswegen, weil heute Freitag, der 13 ., ist, sondern
deswegen, weil Ihr Gesetzentwurf schlicht und ergreifend nichts taugt .
({4})
Korrigieren Sie Ihren Gesetzentwurf! Stellen Sie die
Weichen für mehr Personen- und Güterverkehr auf der
Schiene!
({5})
Das Wort hat der Kollege Dirk Fischer für die CDU/
CSU-Fraktion .
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben die äußeren Daten gehört: Der Gesetzentwurf
wurde durch die Bundesregierung beschlossen . Auch die
Gegenäußerung der Bundesregierung zur Stellungnahme
des Bundesrats mit 57 Änderungs- bzw . Ergänzungswünschen liegt uns vor . Die Wünsche der Länder zeigen
allerdings auch, dass diesem Gesetz eine hohe fachpolitische Bedeutung für den Schienenbereich zukommt .
Wir werden uns, Kollege Gastel, im parlamentarischen
Verfahren intensiv damit auseinandersetzen . Der zentrale
Punkt ist ja, dass hier eine Richtlinie der Europäischen
Union umgesetzt werden muss und wir damit auch Vorgaben zu beachten haben .
Ich glaube, dass es richtig war, dass der federführende Ausschuss - vorbehaltlich der Überweisung, die wir
gleich zu beschließen haben werden - bereits beschlossen hat, eine öffentliche Anhörung durchzuführen . Dabei
werden wir uns mit diesem Artikelgesetz, dessen Kernbereich der Erlass eines neuen Eisenbahnregulierungsgesetzes ausmacht, auseinandersetzen . Aber wir werden natürlich andere Materien zu bearbeiten haben; ich komme
gleich darauf zurück . Damit wird ja die EU-Richtlinie,
die eine Überarbeitung des ersten Eisenbahnpakets von
2001 darstellt, umgesetzt . Wir sind aber schon ziemlich
spät damit dran, sie in nationales Recht zu überführen . Wir müssen daher ein zügiges Beratungsverfahren
durchführen; denn die Europäische Union hat sich schon
gemeldet, was die Pflicht zur termingerechten Umsetzung anbelangt .
Das erste Eisenbahnpaket hatte die Grundlage für die
Liberalisierung des europäischen Eisenbahnmarkts gelegt . Damit ist schon der diskriminierungsfreie Zugang
zum Netz durch die Europäische Union vorgegeben worden . Ich denke, dass wir doch einiges zu tun haben, die
neue Richtlinie, die die Konkretisierung der wettbewerblichen Regeln im europäischen Eisenbahnmarkt beinhaltet, umzusetzen . Das ist ein weiterer wichtiger Schritt,
den Wettbewerb im Schienensektor und den grenzüberschreitenden Schienenverkehr zu stärken und Monopolstrukturen, wo es sie denn noch gibt, bei Eisenbahnen
in Europa in ein wettbewerbliches Marktumfeld zu überführen .
Der Entwurf enthält also mehrere Elemente: ein neues Eisenbahnregulierungsgesetz, Änderungen des Bundeseisenbahnverkehrsverwaltungsgesetzes, Änderungen
des Gesetzes über die Bundesnetzagentur, eine Änderung
des Personenbeförderungsgesetzes sowie die Aufhebung
der Eisenbahninfrastruktur-Benutzungsverordnung,
der Eisenbahnhaftpflichtversicherungsverordnung und
der Eisenbahnunternehmer-Berufszugangsverordnung .
All das wird in das Gesetz integriert, und die bisherige
Rechtsmaterie kann aufgehoben werden . Das Ganze ist
also auch ein wichtiger Schritt zu einer Rechtsbereinigung .
Ich glaube, dass wir damit nicht nur das bestehende
Eisenbahnrecht verbessern, sondern auch neue Grundlagen für eine optimierte Wettbewerbsordnung schaffen .
Dies ist ein Anliegen, das meine Fraktion nachhaltig unterstützt und für wichtig hält . Denn eines ist klar: In einer
Wettbewerbsordnung ist der Kunde durch die Angebotsvielfalt und seine Auswahlmöglichkeiten König, in einer
Monopolordnung ein armer Kerl, weil er keine Auswahlmöglichkeiten hat und bei schlechten Leistungen nicht zu
einem anderen Anbieter wechseln kann .
({0})
In diesem Sinne bin ich wie Ludwig Erhard ein entschiedener Verfechter eines marktorientierten Leistungswettbewerbs, der Unternehmen zwingt, die Qualität von Leistungen zu verbessern und die Kosten zu senken .
({1})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, das können wir
im Moment eigentlich an der Entwicklung unseres Unternehmens DB AG ablesen; denn der Anteil der privaten
Wettbewerber im Markt steigt .
({2})
Damit muss sich die DB AG dem Preis- und Qualitätsdruck stellen, um auch weiterhin erfolgreich sein zu können .
Der Wettbewerb auf der Schiene setzt den Wettbewerb
um die Schiene voraus . Dafür sind klarere Regeln für
Nutzung der Eisenbahninfrastruktur notwendig . Es gilt
also, den diskriminierungsfreien Zugang zur Eisenbahninfrastruktur weiter zu verbessern, die Entgeltregulierung
für die Nutzung der Schienenwege neu auszugestalten
und die Befugnisse der Bundesnetzagentur als Aufsichtsbehörde zu stärken . Ich will kurz einige Bemerkungen zu
diesen drei Bereichen machen .
Zugang zur Eisenbahninfrastruktur . Einen diskriminierungsfreien Zugang zu Eisenbahnanlagen und Serviceeinrichtungen soll eben dieses neue Gesetz garantieren . Jedes Eisenbahnverkehrsunternehmen hat das Recht,
Eisenbahnanlagen und Serviceeinrichtungen eines Infrastrukturbetreibers zu nutzen . Der Betreiber dieser Anlagen und Einrichtungen muss seine Leistung zu angemessenen, diskriminierungsfreien Bedingungen erbringen .
Der Betreiber darf bei der Erstellung des Netzfahrplans
keinen Antrag auf Nutzung seiner Trassen unbeachtet
lassen, und er muss miteinander konkurrierende Anträge
verschiedener Unternehmen durch Verhandlungen miteinander koordinieren . Auch ausländische Unternehmen,
insoweit sie grenzüberschreitende Verkehre anbieten,
müssen dieses Recht haben . Der Betreiber hat schließlich
auch Kapazitätsreserven innerhalb seines erstellten Netzfahrplans vorzuhalten, um auf vorhersehbare Anträge auf
Zuweisung von Schienenwegekapazität außerhalb des
Netzfahrplans reagieren zu können .
Darüber hinaus werden natürlich auch klarere Regeln
für die Nutzung des Schienennetzes gemacht . Eine wesentliche Neuerung ist auch, dass bei der beabsichtigten
Stilllegung von Serviceeinrichtungen als Teil der Eisenbahninfrastruktur eine Genehmigungspflicht durch die
zuständige Aufsichtsbehörde, also das Eisenbahn-Bundesamt, eingeführt wird . Auch das ist ein wesentlicher
Punkt .
Entgeltregulierung . Auch hier - darauf ist ja schon
hingewiesen worden - gibt es jetzt klarere Regeln, wie
diese Entgelte festzulegen sind . Wir werden uns mit den
Einzelheiten für die verschiedenen Segmente Schienenpersonennahverkehr, Schienenpersonenfernverkehr und
Güterverkehr noch zu befassen haben . Die Trassenentgelte für den Schienenpersonennahverkehr unterliegen
im Gesetzentwurf einer Sonderregelung, wobei in jedem
einzelnen Land der SPNV künftig als ein eigenes Marktsegment definiert werden soll. Bei der Erhöhung der
Trassenpreise müssen auch die zur Verfügung stehenden
Mittel, insbesondere die Regionalisierungsmittel, in die
Entgeltbildung einbezogen werden .
Befugnisse der Bundesnetzagentur . Ich will darauf
hinweisen, dass wir über die Überwachung der Entflechtungsvorschriften hinaus der Bundesnetzagentur auch
einen Genehmigungsvorbehalt für die Trassenentgelte
übertragen haben . Wichtig ist, dass der Bundesnetzagentur jetzt auch im Eisenbahnbereich Beschlusskammern
zugeordnet sind und damit eine Angleichung der Regulierung im Eisenbahnbereich an die Regulierung in den
Bereichen Telekommunikation, Post und Energie vorgenommen wurde .
Ich glaube, dass wir uns jetzt intensiv an die Arbeit
machen sollten, wobei wir uns auch mit den Änderungswünschen der Länder auseinandersetzen müssen, damit
wir so schnell wie möglich ein zustimmungspflichtiges
Gesetz zustande bringen. Es ist auch unsere Pflicht gegenüber Brüssel, dass wir das zügig machen .
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit und freue
mich auf die inhaltliche Debatte im Ausschuss .
({3})
Das Wort hat der Kollege Martin Burkert für die
SPD-Fraktion .
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir als SPD das steht für uns fest - wollen einen starken und leistungsfähigen Schienenverkehr in Deutschland . Dafür
schaffen wir nun die Rahmenbedingungen, die politisch
notwendig sind .
({0})
Es wurde mehrfach darauf hingewiesen: Wir haben
schon einiges erreicht . Ich denke, die Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung II ist ein Vorzeigemodell für
ganz Europa . Darüber hinaus war die Erhöhung der Regionalisierungsmittel dringend notwendig, um den Schienenpersonennahverkehr in Deutschland sicherzustellen .
Gestern gab es hierzu im Plenum ja eine Aussprache .
Heute beraten wir einen Gesetzentwurf mit dem Titel
„Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs im Eisenbahnbereich“ . Es gilt, die europäische Richtlinie aus dem Jahre
2012 in deutsches Recht umzusetzen, und zwar mit dem
Schwerpunkt der Entgeltregulierung, das heißt Schaffung von Anreizen für die Betreiber der Schienenwege
zur Senkung der Infrastrukturkosten und der Trassenentgelte . Entgelte für die Nutzung der Schienenwege sollen zukünftig durch die Bundesnetzagentur genehmigt
werden . Ziel dabei ist: mehr Fairness im Wettbewerb auf
der Schiene, mehr Kostentransparenz bei der Nutzung
der Schieneninfrastruktur und Schaffung eines diskriminierungsfreien Zugangs zur Schieneninfrastruktur in
Deutschland .
Ich betone aber ausdrücklich, dass wir im Schienenverkehr eine Regulierung mit Augenmaß und keine
Überregulierung haben wollen . Mit dem vorliegenden
Gesetzentwurf sind wir dabei auf einem guten Weg, Herr
Kollege Ferlemann . Selbstverständlich müssen wir die
angesprochenen 57 Punkte, die der Kollege Fischer genannt hat, mit den Bundesländern diskutieren, die ja über
50 Änderungen wollen .
({1})
Meine Kollegin Lühmann hat die Knackpunkte aus Sicht
unserer Fraktion bereits angesprochen . Ich möchte in Anbetracht der Zeit nur noch folgende Punkte ansprechen:
Zunächst zur Umsetzung der EU-Richtlinie in
Deutschland: Übergeordnetes Ziel ist die Schaffung eines einheitlichen europäischen Eisenbahnraumes, das
heißt, für Fahrzeuge gelten überall gleiche Vorschriften
und überall sind gleiche Signaltechniken verfügbar . Dies
begrüßen wir ausdrücklich, um das deutlich zu sagen .
Wegen verspäteter Umsetzung dieser Regulierung
läuft gegen uns ein Vertragsverletzungsverfahren . Ich
will aber schon darauf hinweisen, dass es ein Skandal
ist, dass zwar europaweit die Regulierung greift, aber in
einem Land wie Frankreich auf der Schiene überhaupt
noch kein Wettbewerb existiert, während wir hier schon
den Wettbewerb regulieren . Es kann nicht sein, dass dort
Wettbewerb überhaupt erst ab 2026 möglich ist . Ich sage
der Bundesregierung: Wir müssen im Europäischen Rat
darauf drängen, dass das aufhört . Der Wettbewerb muss
überall in Europa möglich sein, liebe Kolleginnen und
Kollegen .
({2})
Dann will ich etwas zur Haftpflichtversicherungssumme sagen . Im Ausschuss haben wir noch die Zugunglücke in Bad Aibling, in Mannheim, in Freihung in guter
Erinnerung . Diese geschahen alle in dieser Legislatur .
Wir hatten in Italien den schlimmen Güterzugunfall in
Viareggio . Er kostete 75 Millionen Euro . Bei vielen Eisenbahnunternehmen gibt es eine zu geringe Kapitaldecke . Das heißt, im Schadensfall droht die Insolvenz, aber
es droht auch eine unzumutbare Unsicherheit für Geschädigte wie auch für den Verursacher . In letzter Konsequenz heißt das: Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer,
deren Unternehmen von Insolvenz bedroht wäre, blieben
auf der Strecke, und Geschädigte könnten nicht entschäDirk Fischer ({3})
digt werden . Deshalb müssen wir hier den Vorschlag
diskutieren, ob wir eine gestaffelte Erhöhung der Haftpflichtversicherungssumme vornehmen. Man kann sich
vorstellen, dass Gefahrguttransporte anders versichert
werden müssen als normale Transporte . Ich glaube, die
14 Millionen Euro, die im Gesetzentwurf stehen, reichen
pauschal nicht aus . Andererseits haben sich schon Betreiber von Museumsbahnen mit historischen Eisenbahnfahrzeugen gemeldet und darauf hingewiesen, dass die
Versicherungssumme für sie zu hoch ist . Auch da müssen
wir Regelungen finden.
In § 28 des Gesetzentwurfs wird auf den Produktivitätsfaktor Bezug genommen . Dort steht, dass dieser
Faktor, der anhand der vom Sachverständigenrat des
Statistischen Bundesamtes für alle Wirtschaftsbereiche
ermittelten Werte bestimmt wird, bei der Entgeltbildung
zugrunde gelegt wird . Das ist schwierig, weil der Faktor die Gesamtwirtschaft umfasst, aber nicht unbedingt
für den Eisenbahnsektor sachgerecht ist . Hier wurde
vorgesehen, dass das Ministerium davon abweichen
kann; darüber müssen wir reden . Es wäre aber gut, wenn
eine verpflichtende Einbindung von unabhängigen Forschungsinstituten mit Erfahrungen im Eisenbahnbereich
vorgesehen werden könnte .
Ich will zum Schluss darauf hinweisen, dass die Materie sehr komplex ist . Es ist schwierig, der Bevölkerung
überhaupt zu erklären, worum es hier geht . Dieses umfangreiche Gesetz ist kompliziert genug . Sollte es dazu
kommen, dass der Vermittlungsausschuss angerufen
wird, dann kann ich nur empfehlen, auf die Erfahrungen
aus einer Sternstunde des Parlaments zurückzugreifen:
Es gab den Fall, dass im Vermittlungsausschuss, als es
um das Personenbeförderungsgesetz ging, ein Ausschuss
mit Fachpolitikern eingesetzt wurde, dessen Arbeit am
Ende dazu geführt hat, dass wir mit den Ländern ein vernünftiges, gutes Gesetz auf den Weg gebracht haben .
({4})
Ich will meinem Fraktionsvorsitzenden, aber auch Herrn
Kauder nicht zu nahe treten; aber wenn man sich mit
solch einem Gesetz befasst, wäre es gut, im Vermittlungsausschuss einen Fachausschuss zu bilden, weil die
Materie wirklich umfangreich ist und in die Tiefe geht .
Ich wünsche mir gute Beratungen . Ich bin überzeugt,
dass wir am Ende hier im Parlament einen Gesetzentwurf
verabschieden, der seinen Namen verdient .
In diesem Sinne: Schöne Pfingsten!
({5})
Ich schließe die Aussprache .
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/8334 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall .
Dann ist die Überweisung so beschlossen .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung zum Deutschlandstipendium über die Ergebnisse der
Evaluation nach § 15 des Stipendienprogramm-Gesetzes und der Begleitforschung
Drucksache 18/7890
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . - Ich höre keinen Widerspruch . Dann ist das so beschlossen .
Damit keine Missverständnisse aufkommen: Ich habe
weder eine Aussprache hier im Plenum eröffnet noch
eine Aussprache auf der Regierungsbank . Insofern bitte
ich jetzt einfach, die notwendige Aufmerksamkeit herzustellen .
({0})
- Das wird Ihnen Ihre Parlamentarische Geschäftsführerin sicherlich gleich erklären, was das Problem war .
Ich eröffne die Aussprache . Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Thomas Rachel .
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Unser Land braucht mehr denn je junge Menschen, die mit ihrem Fachwissen und ihren innovativen
Ideen den Wandel in unserer Gesellschaft gestalten und
sich für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft einsetzen . Um diese Persönlichkeiten sehr frühzeitig zu unterstützen und ihre Leistungen anzuerkennen, fördern wir
die jungen Menschen seit fünf Jahren mit dem Deutschlandstipendium in Höhe von 300 Euro, das von Staat und
Privat zusammen finanziert wird. Allein im Jahr 2014
hatten wir mehr als 22 500 junge Deutschlandstipendiatinnen und -stipendiaten - junge Menschen, die bei ihren
Begabungen, Träumen und Projekten unterstützt werden .
So wurde zum Beispiel die junge Syrerin Samaa Hijazi
gefördert, die an der Charité Medizin studiert und deren
Deutschlandstipendium von der Stiftung Charité gefördert wird . Sie hat Deutsch gelernt mit einem Stipendium
des Goethe-Instituts, hat einen Medizinstudienplatz bekommen . Über ihre Erfahrungen auf dem Weg aus dem
zerstörten Syrien über Amman nach Deutschland hat sie
ein Buch geschrieben .
Warum spreche ich darüber so ausführlich? Ich finde,
wir müssen uns mehr bewusst machen, wie viele Stipendiatinnen und Stipendiaten es gibt, für die das DeutschMartin Burkert
landstipendium einen ganz entscheidenden Unterschied
bei ihrer Studienfinanzierung ausmacht.
({0})
Mit einer Evaluation haben wir untersucht, ob an allen
Hochschulstandorten ausreichend private Mittel eingeworben werden können oder ob Ausgleichsmaßnahmen
erforderlich sind . Ich denke, das ist ganz wichtig; denn
alle Studierenden sollen unabhängig vom Studienstandort die Chance haben, ein Deutschlandstipendium zu erhalten .
({1})
Die Untersuchung hat gezeigt, dass an allen Hochschulstandorten Bedingungen herrschen, die den Hochschulen
eine erfolgreiche Mittelakquise erlauben . Wir brauchen
keine gesetzliche Ausgleichsmaßnahme . Was den Erfolg
einer Hochschule verstärkt, ist ein reicher Erfahrungsschatz im Fundraising . Hochschulen werben nämlich
umso erfolgreicher Fördermittel ein, je länger sie am Stipendienprogramm teilnehmen .
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, die
Förderung des Deutschlandstipendiums ist sozial ausgewogen . Die Stipendiatinnen und Stipendiaten unterscheiden sich auch in Bezug auf ihre soziale Herkunft nicht
von der allgemeinen Studierendenschaft .
({2})
So beträgt der Anteil der Nichtakademikerkinder unter
den Deutschlandstipendiaten wie bei den anderen Studierenden 50 Prozent .
Der Anteil von Studierenden an Fachhochschulen war
bei den Deutschlandstipendiaten mit 33 Prozent ebenso
hoch wie der Anteil der FH-Studenten an der Studierendenschaft insgesamt, aber er war deutlich höher als bei
den Begabtenförderungswerken; da lag er bei gut 11 Prozent .
Sogar mehr als jeder vierte Stipendiat hat eine Einwanderungsgeschichte . Im Durchschnitt der Studierenden ist
dies nur jeder Fünfte . Das zeigt: Das Deutschlandstipendium fördert junge Menschen mit Einwanderungsgeschichte überproportional, und das ist gut so .
({3})
Die Ergebnisse der Begleitforschung unterstreichen,
dass wir mit einem ganzheitlichen Verständnis unseres
Leistungsbegriffs beim Deutschlandstipendium den richtigen Weg eingeschlagen haben; denn die Hochschulen
berücksichtigen bei der Vergabe keineswegs nur die
Noten, nein, sie berücksichtigen auch ehrenamtliches
Engagement und die Überwindung von Hürden im Lebenslauf .
Das Deutschlandstipendium hat darüber hinaus vielfache Formen freiwilligen Engagements angeregt; schauen
Sie sich zum Beispiel die dadurch entstandenen studentischen Flüchtlingsinitiativen oder die Mentoringprogramme der Förderer an . Viele der Förderer berichten,
wie gewinnbringend für sie der frühzeitige Kontakt mit
begabten Studierenden ist . Das wird als das zweitwichtigste Motiv angegeben hinter der Tatsache, dass sie gesellschaftliche Verantwortung übernehmen wollen . Das
wollen wir natürlich unterstützen .
({4})
Die Begabtenförderung in Deutschland ist insgesamt
enorm gewachsen . Die Zahl der Deutschlandstipendiaten
hat schon nach vier Jahren fast die Zahl der Stipendiaten
der bewährten Begabtenförderungswerke erreicht, die
teilweise über Jahrzehnte oder wie die Studienstiftung
des deutschen Volkes bereits seit 90 Jahren existieren .
Insgesamt konnte die Zahl der aus Bundesmitteln vergebenen Stipendien für Studierende seit dem Jahr 2005
bis heute, also in der Zeit, in der Angela Merkel Bundeskanzlerin ist, mit derzeit rund 50 000 Stipendiatinnen
und Stipendiaten mehr als verdreifacht werden . Das ist
ein ganz essenzieller Beitrag zu mehr Bildungsgerechtigkeit in unserem Land .
({5})
Zugleich haben wir das BAföG kontinuierlich weiterentwickelt . Wir heben die Bedarfssätze und Einkommensfreibeträge jeweils um 7 Prozent an . Der Kreis der
BAföG-Empfänger wird im Jahresdurchschnitt um rund
100 000 junge Menschen ausgeweitet . Seit 2005 sind die
Gesamtausgaben für das BAföG auf 3,2 Milliarden Euro
ausgeweitet worden, also um etwa ein Drittel gewachsen . Das ist eine Leistung mittlerweile ausschließlich
des Bundes . Insofern herzlichen Dank auch an den Deutschen Bundestag, der dieses mit unterstützt .
({6})
Das Deutschlandstipendium hat sich zu einer wichtigen Säule der Begabtenförderung in Deutschland entwickelt . Wir haben 22 500 Stipendiaten, die allein im
Jahr 2014 gefördert wurden . Die sozial schwächeren Studierenden haben die Möglichkeit, neben der BAföG-Förderung zusätzlich das Deutschlandstipendium zu bekommen . Das heißt, gerade die sozial Schwächeren
profitieren in doppelter Weise, denn sie profitieren von
dieser Kombinationsmöglichkeit .
({7})
Mit dem Deutschlandstipendium haben wir etwas erreicht, was uns besonders glücklich macht: Erstmals in
der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland wurden
in erheblichem Maße private Mittel zusätzlich zur staatlichen Förderung, die ohnehin ausgebaut worden ist, für
die Bildung mobilisiert . 24 Millionen Euro sind allein in
2014 bei Privatleuten, Stiftungen und Einrichtungen für
die Bildung mobilisiert worden . Das ist ein Riesenerfolg .
Er trägt zu mehr Bildungsgerechtigkeit in unserem Land
bei . Deshalb werden wir vonseiten der Bundesregierung
das Deutschlandstipendium als wichtigen Bestandteil der
individuellen Förderung junger Menschen auch in Zukunft weiter kontinuierlich ausbauen .
Herzlichen Dank .
({8})
Das Wort hat die Kollegin Nicole Gohlke für die Fraktion Die Linke .
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin . - Kolleginnen und
Kollegen! Es ist oft schade, dass die öffentliche Aufmerksamkeit für Bundestagsdebatten am Freitagnachmittag
eher gering ist . Heute passt die geringe Aufmerksamkeit
allerdings ganz gut zum ebenfalls sehr geringen Beitrag,
den das Deutschlandstipendium zur individuellen Studienförderung leistet .
({0})
Mit nicht einmal 1 Prozent geförderten Studierenden
ist das Deutschlandstipendium das Programm, das am
stärksten an den Bedürfnissen der Studierenden vorbeigeht . Deswegen fordert die Linke, diesen Rohrkrepierer
nach fünf Jahren Probezeit endlich wieder einzustellen .
({1})
Wie ein trotziges Kind gesteht die Bundesregierung
das Scheitern ihres Eliteprojekts nicht ein . Sie versucht
wirklich verzweifelt, die Sache schönzureden . Die Erklärung dafür ist einfach: Sie wollen mit dem Deutschlandstipendium eine neue Form der Studienfinanzierung
durchdrücken, und zwar eine Elitenförderung auf Kosten
der Breite .
({2})
Diese elitäre und unsoziale Politik ist Ihnen offenbar so
wichtig, dass Sie nicht einmal den offensichtlichen Misserfolg Ihres Bildungsprojektes wahrnehmen . Ich empfehle ein wenig mehr klaren Kopf und Urteilsvermögen .
Das wäre besser als so viel ideologische Verblendung .
({3})
Auch nach fünf Jahren sind die Fakten, wie sie waren:
Nicht einmal 1 Prozent der Studierenden wird mit dem
Deutschlandstipendium gefördert . Die Bundesregierung
bewegt sich noch nicht einmal mehr in Richtung der ursprünglich geplanten Gefördertenquote von 8 bis 10 Prozent .
Kollegin Gohlke, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Feist?
Ja, selbstverständlich .
Recht vielen Dank, Frau Kollegin . - Weil Sie das so
pointiert vorgetragen haben,
({0})
fühle ich mich jetzt doch bemüßigt, eine Zwischenfrage zu stellen . Sie haben gesagt, die Zahl der über das
Deutschlandstipendium geförderten Studierenden sei
viel zu gering . Deshalb meine Frage: Was ist Ihr persönlicher Beitrag zur Förderung eines Studenten oder einer
Studentin mit einem Deutschlandstipendium?
Meine Aussage war, dass das Deutschlandstipendium
offensichtlich kein Instrument zur individuellen Studienförderung ist, weil es nicht einmal 1 Prozent der Studierenden erreicht .
({0})
Das habe ich gesagt . Ich habe nicht gesagt, dass die Zahl
zu gering ist . Ich habe gesagt, es erreicht kaum Studierende . Das hat sich auch nach fünf Jahren Probezeit, in
der Sie sich mit diesem Programm abmühen, nicht verändert . Ich denke, daraus könnte man politische Schlüsse
ziehen .
({1})
Ich habe mich bei den Hochschulen genau kundig gemacht . Am Mittwochabend erst war ich übrigens in Leipzig . Die Hochschulen bezeichnen das ganze Verfahren
nach wie vor als eine Belastung . Es ist eine Belastung,
Stipendiengeber zu finden und die Auswahlverfahren
durchzuführen .
({2})
Und der Bundesrechnungshof kritisiert das Deutschlandstipendium immer wieder wegen ausufernder Verwaltungskosten und der Verschwendung von Steuergeldern .
Die 300 Euro, die monatlich einkommensunabhängig
an wenige, an sehr wenige vergeben werden, sind nicht
bedarfsdeckend . Das bedeutet, sie werden überwiegend
zur Aufstockung des viel zu geringen BAföG genutzt .
Deswegen sagen wir als Linke klar: Erhöhen Sie endlich
das BAföG,
({3})
und zwar so, dass Studierende damit über die Runden
kommen und gut studieren können, anstatt neue, untaugliche Förderinstrumente einzuführen .
Dazu kommt, dass das Deutschlandstipendium überhaupt nicht zur Planungssicherheit beiträgt . Denn nach
einem Jahr wird geprüft, ob die Stipendiatinnen und StiParl. Staatssekretär Thomas Rachel
pendiaten immer noch förderwürdig genug sind, und die
Stipendiengeber entscheiden neu, ob die Förderung überhaupt aufrechterhalten werden soll oder nicht . Auch hier
sage ich: Stärken Sie lieber das BAföG
({4})
- das beinhaltet einen Rechtsanspruch auf Studienförderung -, anstatt mit dem Deutschlandstipendium Unsicherheit und Willkür zu erzeugen .
({5})
Sie reden immer so gerne von den angeblich besonders leistungsstarken und begabten Studierenden, die
Sie mit dem Stipendium zusätzlich belohnen wollen . Ich
glaube, ehrlich gesagt, Sie operieren mit einem ziemlich
antiquierten Begriff von Begabung und Leistung .
({6})
Der Begriff der Leistungsstärke oder der Begabung hat
wirklich null Erklärungskraft . Er sagt etwas über Leistungsunterschiede zwischen Menschen aus, die man
vielleicht beobachten kann, aber er sagt eben nichts über
die gesellschaftlichen Umstände aus, die diese Unterschiede erst hervorbringen und beeinflussen. Genau auf
diese gesellschaftlichen Umstände müsste man aber das
politische Augenmerk legen, zum Beispiel auf die Fragen: Wie dick ist der Geldbeutel der Eltern? In welchem
Viertel ist jemand aufgewachsen? Welche Schule wurde
besucht? Mit welchen Schwierigkeiten hatte man oder
frau zu kämpfen?
({7})
Es wundert mich auch nicht, dass der Begabungsbegriff, so wie Sie ihn verwenden, bei denjenigen besonders beliebt ist, die am Ende die Zahl der Geförderten
einschränken wollen . Der Begriff soll am Ende dafür herhalten, zu rechtfertigen, warum man nicht alle gleichermaßen gut fördert, sondern nur die wenigen, bei denen
es sich lohnt . Genau das ist das Problem mit dieser Bundesregierung . Statt sich darum zu kümmern, Bildungsdiskriminierung abzubauen, beschäftigen Sie sich mit der
Förderung der wenigen, der vermeintlichen Elite, und zementieren so die Spaltung der Gesellschaft .
({8})
Ihr Deutschlandstipendium hat nicht einen jungen
Menschen zusätzlich an die Hochschule gebracht . Es hat
nicht einem Menschen aus einer armen Familie oder aus
einem nichtakademischen Elternhaus eine neue Perspektive eröffnet .
({9})
Das aber könnte das BAföG,
({10})
wenn die Bundesregierung es endlich wieder zu einer
Förderung machen würde, die zum Leben und Studieren
reicht und mit der man sich am Ende des Studiums auch
nicht verschulden muss . Also erhöhen Sie endlich die
BAföG-Freibeträge und -Bedarfssätze um 10 Prozent,
und schaffen Sie den Darlehensteil ab .
({11})
Der Regierung geht es ganz offenbar ums Prinzip,
um das Prinzip von Auslese und Elite . Uns geht es auch
ums Prinzip, um die Prinzipien von Chancengleichheit,
Rechtssicherheit und vom aktiven Ausgleich von Benachteiligungen . Treten Sie das Deutschlandstipendium
in die Tonne, und widmen Sie sich wieder einmal Projekten mit Zukunft .
Vielen Dank .
({12})
Für die SPD-Fraktion hat die Kollegin Marianne
Schieder das Wort .
({0})
Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich kann das Ergebnis der Evaluation zum Deutschlandstipendium, kurz und knapp zusammengefasst, nicht
anders beschreiben als: eigentlich nichts Neues . Alle Vorbehalte gegen diese Form der Studienförderung wurden
bestätigt .
({0})
Dennoch stellt der Bericht fest, es gebe keinen Handlungsbedarf für den Gesetzgeber . Lieber Herr Staatssekretär, das sehen wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten anders .
({1})
Gerne möchte ich an einigen Punkten festmachen, wo
wir die Schlussfolgerungen aus dem Bericht nicht nachvollziehen können .
So wird beispielsweise festgestellt, dass die meisten
Hochschulen kaum Probleme haben, die nötigen privaten Mittel einzuwerben, die für die Kofinanzierung des
Stipendiums notwendig sind . So weit, so gut . Aber was
ist mit den etwa 10 Prozent der Hochschulen, die sich
laut Bericht im Jahre 2014 gar nicht an dem Programm
beteiligt haben?
({2})
Steigen die noch ein, oder gibt es da auf Dauer kein Interesse am Deutschlandstipendium? Die vorgelegten
Zahlen erwecken jedenfalls nach meinem Dafürhalten
nicht den Eindruck, als würde eine flächendeckende Beteiligung aller Hochschulen kurz bevorstehen . Ich meine,
dass wir darüber diskutieren müssen, ob wir es hinnehmen wollen, dass öffentliche Mittel zur Verfügung gestellt werden und dass junge Menschen, die eigentlich
die Voraussetzungen für dieses Deutschlandstipendium
erfüllen könnten, schon allein deswegen nicht in den Genuss dieser Förderung kommen können, weil sich ihre
Hochschule nicht am Programm beteiligt .
({3})
Weiter heißt es im Bericht: Die Förderquote steigt . Auch das klingt zunächst einmal ganz gut . Aber bei näherer Betrachtung stellt man fest, dass mit 22 500 Geförderten im Wintersemester 2014/15 lediglich 0,84 Prozent
aller Studierenden in den Genuss des Deutschlandstipendiums kamen .
Liebe Kolleginnen und Kollegen aus den Reihen der
Union, ich kann mich noch erinnern, was hier gesagt
worden ist, als es mit dem Deutschlandstipendium losging . Da hat die damalige schwarz-gelbe Regierung von
mindestens 8 Prozent der Studierenden gesprochen, die
gefördert werden sollen .
({4})
Im Koalitionsvertrag haben wir immerhin erreichen können, dass die Zielquote auf 2 Prozent heruntergehandelt
wurde . Aber wo sind wir gelandet? Bei nicht einmal
1 Prozent der Studierenden, die in den Genuss dieses
Stipendiums kommen . Ein Drittel der für das Deutschlandstipendium bereitgestellten Mittel werden nicht einmal abgerufen . Von ursprünglich 55 Millionen Euro, die
eingeplant waren, wurden 31 Millionen Euro ausgegeben . Ich denke, ehrlich gesagt, Erfolgsgeschichten sehen
anders aus .
({5})
Dieses Ergebnis ist weniger ein Anlass, einen positiven
Schluss zu ziehen, sondern eher ein Anlass, wirklich
darüber nachzudenken, ob dieses Förderinstrument das
richtige ist .
({6})
Das Ganze geht aber noch weiter . Der Bericht spricht
wieder von dem viel zu hohen Durchführungsaufwand,
der die Hochschulen nicht gerade einlädt, sich an diesem
Programm zu beteiligen; auch darüber müssen wir als
Gesetzgeber reden .
Über den gesetzlichen Prüfungsauftrag hinaus wurde
eine Sozialstudie durchgeführt, um über den sozialen
Hintergrund der Stipendiatinnen und Stipendiaten Näheres zu erfahren . Im Großen und Ganzen, so das Ergebnis,
entspricht das Bild der Geförderten in seiner sozialen
Zusammensetzung dem Bild in der Gesamtstudierendenschaft . Der Anteil von Studierenden mit Migrationshintergrund ist sogar etwas höher .
({7})
Im Bericht freut man sich auch - hören Sie zu! -:
Die aus dem hohen Anteil der BAföG-Empfänger
unter den Stipendiatinnen und Stipendiaten abgeleitete Vermutung, dass das Programm auch sozial
benachteiligte Gruppen erreicht, hat sich bestätigt .
Ich frage mich: Ist es ein Anlass zur besonderen Freude, dass mit einem Stipendienprogramm auch sozial benachteiligte Gruppen erreicht werden? Ja, ich will doch
hoffen, dass es selbstverständlich ist, dass ein Stipendienproramm gerade auf sozial benachteiligte Gruppen
abzielt .
({8})
Alles andere wäre doch skandalös . Liebe Kolleginnen
und Kollegen, das ist wieder ein Punkt, an dem man über
diesen Bericht diskutieren kann .
({9})
- Ich glaube, ich habe ihn besser verstanden als Sie, weil
Sie das nicht wahrhaben wollen, und das wider klare
Fakten .
({10})
Der Bericht hebt lobend hervor, dass sich die Hochschulen dank dieser Stipendien besser in der Region und
mit der Wirtschaft vernetzen . Die Notwendigkeit der
Vernetzung ist überall erkannt . Die Hochschulen sind
hier sehr aktiv . Sie treiben die Vernetzung innerhalb der
Region und mit der regionalen Wirtschaft wirklich intensiv voran . Dafür möchte ich mich auch bedanken . Aber
braucht es dazu ein Deutschlandstipendium?
({11})
Was bewirkt es denn? Der Bericht fördert in diesem
Zusammenhang zutage, dass 65 Prozent der eingeworbenen Mittel aus Unternehmen kommen und zwei Drittel
dieser Mittel zweckgebunden vergeben werden . Vergeben werden sie vor allen Dingen in die Bereiche der Ingenieur- und Naturwissenschaften sowie der Mathematik .
({12})
Aber was ist mit den Geistes- und Gesellschaftswissenschaften und mit dem Lehramt? Wollen wir, dass die BesMarianne Schieder
ten gar nicht erst ein Studium in diesen Bereichen aufnehmen, weil sie sehen, dass sie dann kaum eine Chance
haben, ein Deutschlandstipendium zu bekommen? Liebe
Kolleginnen und Kollegen, ich kann nicht nachvollziehen - auch wenn Sie sich noch so aufregen -,
({13})
wie Sie nach diesem Bericht zu der Feststellung kommen
können, dass es für den Gesetzgeber keinen Handlungsbedarf gibt .
({14})
Ich meine, sogar das Gegenteil ist der Fall: Wir haben
allen Anlass, wirklich intensiv darüber nachzudenken,
ob die bereitgestellten Mittel nicht besser in den Begabtenförderungswerken angelegt wären . Und: Lieber Herr
Staatssekretär, Sie können mit uns natürlich immer über
den Ausbau des BAföG reden .
({15})
Das BAföG ist nicht nur ein sozialdemokratisches Erfolgsprojekt, sondern auch das richtige Instrument, um
jungen Menschen zu sagen: Auch wenn eure Elternhäuser dazu finanziell nicht in der Lage sind, es gibt verlässliche Rahmenbedingungen, die euch ein Studium
ermöglichen .
({16})
Ich hoffe, dass wir über diesen Bericht noch einmal reden
und die Zahlen gemeinsam realistisch analysieren können .
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und darf
Ihnen allen ein schönes Pfingstfest wünschen.
({17})
Das Wort hat der Kollege Kai Gehring für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen .
({0})
Frau Präsidentin! Nach dieser großartigen Oppositionsrede der SPD-Kollegin
({0})
muss ich mich jetzt richtig ins Zeug legen; denn offensichtlich können SPD, Grüne und Linke heute gemeinsam das Deutschlandstipendium abschaffen, und das
wäre gut so .
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, eigentlich sollte
hier und heute über die neue Exzellenzinitiative und über
den Nachwuchspakt für 1 000 Tenure-Track-Professuren
debattiert werden . Leider waren CDU/CSU und SPD zu
diesen milliardenschweren Weichenstellungen für die
Universitäten in der Republik nach wie vor nicht sprechund debattierfähig . Also mussten sie die Debatte in dieser
Woche absagen . Angemessen und souverän geht anders .
({2})
Sei es drum, diskutieren wir also zum x-ten Mal über
das Deutschlandstipendium . Das ist dereinst auf FDPMist gewachsen und sollte „der Einstieg in eine neue Stipendienkultur“ werden . Ein halbes Jahrzehnt später ist
klar: Da ist kein Kulturwandel . Die Bundesregierung hat
alle ihre selbstgesteckten Ziele verfehlt . Das Deutschlandstipendium ist für die wenigen, die es überhaupt
bekommen, natürlich eine gute Sache . Insgesamt ist es
jedoch eindeutig ein Misserfolg;
({3})
denn an über 99 Prozent der bundesweit 2,7 Millionen
Studierenden geht das Deutschlandstipendium vorbei .
Stellen Sie sich einen dieser völlig überfüllten Hörsäle in der Republik vor, und fragen Sie mal, welcher der
Studis denn ein Deutschlandstipendium erhält . Wenn Sie
Glück haben, dann werden sich ein bis zwei Finger heben, und das kann es doch wohl nicht sein .
({4})
Das Programm ist meilenweit vom ursprünglichen
Ziel entfernt, 8 Prozent eines Studierendenjahrgangs zu
erreichen, und es ist weit entfernt von den 2 Prozent, die
Union und SPD bis 2017 erreichen wollen . Förderer sind
Mangelware . Niemand steht Schlange . Das Deutschlandstipendium ist nichts anderes als ein Ladenhüter . Das
muss die Koalition doch endlich eingestehen .
({5})
Den Kolleginnen und Kollegen von der SPD ist das
doch auch klar . Das hat Marianne Schieder gerade sehr
deutlich zum Ausdruck gebracht . Alle Vorbehalte werden
durch die Evaluation bestätigt, haben Sie gesagt . Das
stimmt . Swen Schulz hat beim letzten Mal als Haushälter
gesagt: „Dieses verfehlte Projekt ist und bleibt ein Rohrkrepierer und sollte endlich eingestellt werden .“ Glückwunsch und Applaus, wir sind einer Meinung .
({6})
Die Evaluation des Deutschlandstipendiums fällt äußerst durchwachsen aus . An einigen Hochschulen läuft
es gut, an anderen so lala, und fast ein Drittel macht bei
diesem Murks gar nicht erst mit . Diese ernüchternde Bilanz steht im Gegensatz zur Stellungnahme der Bundesregierung . Da wird wider besseres Wissen der Misserfolg
schöngeredet . Das ist hochschulpolitische Beratungsresistenz im Endstadium .
({7})
- Ich sage ja, das ist jetzt die x-te Debatte, und die Argumente stimmen weiterhin .
Das Deutschlandstipendium hat die soziale Ungleichheit beim Zugang zum Campus leider nicht abgemildert,
sondern den Status quo zementiert . Es ist eine schlecht
organisierte Lotterie mit schlechten Gewinnchancen für
alle . Besonders schlecht sind die Stipendienchancen in
strukturschwachen Regionen, an kleinen und privaten
Hochschulen und für Leute, die Fächer studieren, die für
die Wirtschaft wenig interessant erscheinen .
({8})
Deshalb: In der Gesamtschau ist diese Stipendienlotterie
einfach ungerecht .
({9})
Die Bundesförderung für das Deutschlandstipendium
war schon bei der Einführung überflüssig; denn das wollten die Wirtschaftsverbände jahrelang allein machen .
Nehmen wir sie doch endlich beim Wort . Es bedarf keines extra Steuergeldes für das Deutschlandstipendium,
sondern der Eigeninitiative der Wirtschaft . Das wäre ein
Weg .
Unsere Studienfinanzierungslandschaft braucht das
Deutschlandstipendium jedenfalls nicht . Sie nehmen es
als Angebotserweiterung, ich sehe darin eine Zersplitterung der Studienfinanzierung. Deutschland hat mit den
Stipendien der Begabtenförderungswerke, mit den Aufstiegs- und Weiterbildungsstipendien ein hinlänglich differenziertes Stipendiensystem .
({10})
Das müssen wir gemeinsam weiterentwickeln, damit dies
stärker zu mehr Bildungsgerechtigkeit beiträgt .
({11})
Eine Sache, die wir zügig angehen wollen, ist, mehr
Stipendien für Flüchtlinge aus Kriegs- und Krisengebieten bereitzustellen . Im Zusammenspiel mit einer weiteren Öffnung des BAföG würde das den Geflüchteten
helfen, nach Unterdrückung und Flucht ins studentische
Leben durchzustarten . Das wäre ein Fortschritt .
({12})
- Ja, aber sie kriegen das BAföG zu spät . Der Zugang
muss früher erfolgen .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in die soziale Öffnung der Hochschulen zu investieren, ist super angelegtes Geld . Dass Union und SPD entschieden haben, das
BAföG sechs Jahre lang nicht zu erhöhen, war eine falsche Entscheidung . So eine Hängepartie darf es nie wieder geben .
({13})
Das BAföG muss entlang steigender Lebenshaltungskosten und Preise erhöht werden, und zwar regelmäßig
und automatisch . So etwas sollte man im Gesetz festschreiben .
({14})
- Sie müssen es schon ertragen, dass wir Ihr Regierungsprojekt nicht „geil“ finden. Dass das Pinkwart-Gedenkstipendium der FDP die Menschen, die studieren, und
die Hochschulen nach wie vor nicht überzeugt, zeigt die
Evaluation eindeutig .
({15})
Ich komme zum Schluss . Die Deutschlandstipendien in die Hände der Stifter - ohne Bundesmittel -, ein
Stipendiensystem, das stärker auf Bildungsgerechtigkeit
setzt, und vor allem ein BAföG, das zum Leben reicht:
So schaffen wir mehr Chancengerechtigkeit für alle in
unserem Land; denn wir wollen das Studieren gerechter
finanzieren.
({16})
Das Wort hat die Kollegin Sybille Benning für die
CDU/CSU-Fraktion .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Es braucht nicht
viel, um sinnvoll Geld auszugeben . Beim Deutschlandstipendium sind es zum Beispiel ganze 150 Euro im
Monat pro Stipendium, und der Staat legt noch einmal
150 Euro drauf . Mit diesen 300 Euro im Monat, die nicht
zurückgezahlt werden müssen, bekommen überdurchschnittlich engagierte Studierende unter Berücksichtigung ihrer biografischen Daten - das wissen auch Sie und unabhängig von ihrem sozialen Status - hören Sie
jetzt ruhig einmal zu! - Anerkennung für ihre Leistung
und nicht zuletzt finanziellen Spielraum.
({0})
Das Deutschlandstipendium ist ein Novum für die Stipendienkultur in Deutschland . Erst fünf Jahre jung,
({1})
ist es nicht mehr wegzudenken . Die Hochschulen selbst Unis, Fachhochschulen, Kunsthochschulen, Musikhochschulen, öffentliche und private Hochschulen - entscheiden nach ihren eigenen Kriterien, wer wen fördert . Das
gab es zuvor noch nicht .
Dass das Stipendium wirkt, zeigt dieser Evaluationsbericht, über den wir heute sprechen .
({2})
- Ich glaube fast, Sie haben ihn wirklich nicht gelesen .
({3})
Jeder hat sich nur das herausgesucht, was ihm gerade
passt . Wenn Sie aber das ganze Konzept hinter diesem
Deutschlandstipendium verstanden hätten, dann hätten
Sie hier nicht die Worte benutzt, die Sie eben gewählt
haben .
({4})
Das Deutschlandstipendium wirkt: Es wirkt auf die
Studierenden, die sich zusätzlich angesprochen fühlen
und Kontakte zu ihren Förderern bekommen . Es wirkt
an den Hochschulen . Gerade auch durch den Auswahlprozess bekommen sie einen neuen Blick auf die Studierenden, und in den Förderern entdecken sie neue Kooperationspartner . Es wirkt auf die Förderer, die Zugang zu
ihren Stipendiaten und auch zu Hochschulen erhalten . So
entstehen Netzwerke, die allen Beteiligten zugutekommen .
({5})
Meine Damen und Herren, „Global denken, lokal handeln“, das ist das Konzept, nachdem man zwar das große
Ganze im Blick haben soll, aber bereits im eigenen Umfeld selber ansetzen kann .
({6})
Nach diesem Prinzip bilden sich in ganz Deutschland
Wissensregionen . Hier arbeiten Schulen, Hochschulen,
Unternehmen, Stiftungen, kommunale Einrichtungen
und Forschungsinstitute an gemeinsamen Zielen .
Auch in Zeiten modernster Kommunikationstechniken entstehen tragfähige Bindungen über persönliche
Kontakte . Der hier gelebte Austausch und die damit verbundenen Innovationseffekte machen Wissensregionen
zu einem zentralen Element . Dies dient sowohl der regionalen Entwicklung als auch der Bildung und Wissenschaft .
({7})
Insbesondere MINT-Regionen machen es uns vor . Wir
alle kennen welche, und wenn nicht, dann säße man hier
falsch . Viele MINT-Regionen gehen hier mit gutem Beispiel voran .
Das Deutschlandstipendium unterstützt diese Art des
Netzwerkens .
({8})
Es bringt die am Bildungsprozess Beteiligten und die daran Interessierten zusammen . Das ist ein ganz wichtiger
Aspekt .
({9})
Vernetzungsaktivitäten - wie zum Beispiel das Feiern
der Stipendienvergabe, Dialogveranstaltungen, fachübergreifende Projekte und Themenklassen an den Hochschulen, Werksbesichtigungen, Praktika, die Betreuung von
Bachelor- und Masterarbeiten sowie Mentoring- und Patenschaftsprogramme der Förderer - werden zunehmend
angeboten und durchgeführt . Viele Best-Practice-Beispiele machen da doch Lust auf mehr .
({10})
Liebe Zuhörer, die Fragen, die mich als Berichterstatterin immer wieder beschäftigen, werden jetzt in diesem
Evaluationsbericht endlich wissenschaftlich beantwortet:
Haben alle Willigen die Möglichkeit, ein Stipendium zu
bekommen oder auch ein Stipendium zu vergeben? Gibt
es regionale Differenzen? Wenn ja, welche?
Dieser Evaluationsbericht zeigt: Deutschlandweit haben alle Hochschulen grundsätzlich die gleichen Chancen zur Gewinnung von Stipendiengebern . Allerdings
haben diejenigen einen Vorteil, die bereits Erfahrungen
mit öffentlich-privaten Partnerschaften und Fundraising
haben . Ihnen gelingt es etwas leichter, privates Engagement für das Deutschlandstipendium zu wecken . Aber
wen wundert das! Je länger man dabei ist, desto mehr
Erfolg hat man .
({11})
Aber jeder kann sich für ein Deutschlandstipendium
bewerben . Deswegen wird wirklich jedem eine Chance
gegeben, sowohl den Hochschulen als auch den Stipendiengebern .
({12})
- Hören Sie doch einmal zu!
Um nachhaltig wirken zu können, brauchen wir Vertrauen und Planbarkeit . Die CDU/CSU-BundestagsfrakSybille Benning
tion steht dafür und achtet seit Beginn darauf, dass durch
ausreichende Mittel im Haushalt die Finanzierungszusage des Bundes auch bei steigenden Stipendiatenzahlen gedeckt ist . Diese oppositionellen Nebelkerzen und
diese ständigen Querfeuer konnten die wirklich positive
und stetige Entwicklung nicht stoppen, nur - da hören
Sie gut zu! - dass Sie damit vielen jungen Menschen die
Möglichkeit eines Deutschlandstipendiums genommen
haben, da das ständige Zweifeln und das ewige Schlechtreden dieses Stipendiums nicht wenige Förderer abgehalten haben .
({13})
Das kann ich Ihnen aus so manchem Gespräch heraus
bestätigen .
({14})
Damit muss jetzt endlich Schluss sein . „Think positive“,
wenn Sie das kennen .
({15})
Dieser Evaluationsbericht hilft, das weitere Gelingen des
Deutschlandstipendiums zu organisieren .
Meine Damen und Herren, ich wünsche mir für alle
zukünftigen Stipendiaten und Netzwerker, dass jetzt noch
mehr Unternehmen, Vereine, Organisationen und Privatpersonen überzeugt sind und Vertrauen in die Menschen
und dieses Programm haben . 150 Euro im Monat für einen Studierenden mit allen Möglichkeiten - ich komme
aus Westfalen -: Gesagt, getan! Ich habe es gemacht . Ich
bin Stipendiengeber .
({16})
Sie auch? Machen Sie doch mal was!
Danke schön .
({17})
Der Kollege Swen Schulz hat für die SPD-Fraktion
das Wort .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Große Koalition hat insbesondere bei Bildung, Wissenschaft und
Forschung wirklich viel hinbekommen .
({0})
Alphabetisierung, kulturelle Bildung, „Haus der kleinen
Forscher“, Hochschulförderung,
({1})
Nachwuchswissenschaftler, Meister-BAföG: Das sind
nur einige Stichworte, natürlich nicht zu vergessen die
Verbesserung des BAföG als Kern der sozialen Bildungsfinanzierung für Schüler und Studierende.
({2})
Gemeinsam mit meiner Kollegin Hübinger habe ich hier
und dort im Haushaltsausschuss behilflich sein können.
({3})
- Danke schön .
Es gibt aber Themen, da kann ich - das muss ich
gestehen - über den geschätzten Koalitionspartner von
CDU und CSU nur den Kopf schütteln .
({4})
Ich wundere mich wirklich, mit welcher Verbissenheit
Sie diesen Fehlschlag Deutschlandstipendium bejubeln .
({5})
Jedes Jahr sind die Zahlen niederschmetternd .
({6})
Jedes Jahr holen Sie sich aufs Neue eine schallende Ohrfeige ab . Anstatt einmal etwas zu ändern, stellen Sie sich
immer wieder brav hin und erwarten die nächste Schelle
im nächsten Jahr . Ich verstehe das nicht, Kolleginnen und
Kollegen .
({7})
Es gibt gut 20 000 Stipendien . Aber es ist schon gesagt
worden, was Schwarz-Gelb als Ziel ausgegeben hatte:
8 Prozent der Studierenden sollten das Deutschlandstipendium erhalten . Das wären über 200 000 Menschen .
({8})
Eine neue Stipendienkultur sollte Einzug halten . Es gab
sogar Leute, die davon träumten, das BAföG abzuschaffen und durch das Deutschlandstipendium zu ersetzen .
({9})
Heute, Jahre danach, erreichen Sie weniger als 1 Prozent .
({10})
In den Koalitionsverhandlungen - die Kollegin Schieder
hat es schon gesagt, und ich selber war dabei - haben
wir Ihnen abgerungen, das Ziel von 8 Prozent auf 2 Prozent zu reduzieren . Weniger war mit Ihnen nicht machbar . Aber selbst von diesen 2 Prozent sind Sie meilenweit
entfernt .
({11})
Regelmäßig wird das im Haushalt zur Verfügung gestellte Geld nicht abgerufen, obwohl wir die Mittel im
Haushaltsausschuss zuletzt schon gekürzt haben . Der
Titel „Deutschlandstipendium“ ist einer der fünf am
schlechtesten laufenden Haushaltstitel .
({12})
Bald sind an die 100 Millionen Euro ungenutzt an den
Bundesfinanzminister zurückgeflossen. Was hätten wir
mit 100 Millionen Euro alles Gutes tun können, Kolleginnen und Kollegen?
({13})
- Ich habe noch mehr Zahlen . Vielleicht regen Sie sich
dann noch weiter darüber auf .
({14})
Das Ministerium hat versucht, den Mittelabfluss zu
steigern, indem es den Deckel für die Einwerbung von
Stipendien gelüftet hat . Trotzdem ist der Anstieg bescheiden: von 24 Millionen Euro private Stipendienmittel im
Jahr 2014 auf 25,1 Millionen Euro im letzten Jahr .
({15})
Das ist eine Steigerung von weniger als einem Zwanzigstel .
Dem stehen fast 6 Millionen Euro Kosten für Akquise, Werbung und Verwaltung gegenüber . Dabei ist noch
gar nicht eingerechnet, dass die privaten Stipendiengeber
ihre Ausgaben steuerlich geltend machen können . Das
kann wirklich nicht die schöne neue Stipendienkultur
sein, meine sehr verehrten Damen und Herren .
({16})
Es würde mich nicht wundern, wenn die Förderquote aktuell sogar rückläufig ist.
Um es zusammenzufassen: Das Deutschlandstipendium ist ein Ladenhüter, und noch dazu ein sehr teurer .
({17})
Das ist nicht exklusiv meine Einschätzung, sondern ich
teile sie mit dem Bundesrechnungshof . Oder um aktuelle Presseberichte zu nehmen: Die taz schreibt: Das
Deutschlandstipendium ist ungerecht .
({18})
- Herr Kollege, wenn Ihnen die Welt näher liegt:
({19})
Die Welt hält das Deutschlandstipendium für einen - Zitat - „Rohrkrepierer“ .
({20})
Ich betone: Wir achten die Stipendiengeber und natürlich die Stipendiaten sehr . Hier soll nicht der Eindruck
entstehen, dass wir deren Engagement und Leistung geringschätzen . Wir sind für Begabtenförderung, aber sie
muss realistisch und an den Bedarfen orientiert sein .
({21})
Nicht die Stipendiaten und die Stipendiengeber sind
das Problem . Vielmehr ist das politische Instrument des
Deutschlandstipendiums falsch konstruiert .
({22})
Es ist erstens schade um das verlorene Geld, und zweitens wirkt das Deutschlandstipendium wie eine Bremse
für die bewährten Begabtenförderwerke .
({23})
Diese hatten gute Steigerungsraten, bis Schwarz-Gelb
das Deutschlandstipendium eingeführt hat . Seitdem stagniert die Begabtenförderung . Das ist eine Fehlsteuerung,
die wir schleunigst korrigieren müssen, Kolleginnen und
Kollegen .
({24})
Ich habe noch einen Hinweis, den ich bei allem Konflikt in dieser Sache, der auch durch die Reaktionen hier
deutlich wird, mit einem Vorschlag zur Güte verbinde .
Das Ministerium hat den Deutschen Bundestag über die
Swen Schulz ({25})
Ergebnisse der Evaluation und der Begleitforschung unterrichtet . Aber die Untersuchungen selbst haben Sie uns
nicht zugeleitet . Das wäre aber wichtig, damit wir uns ein
eigenes Bild im Detail machen können .
({26})
Jetzt mein Vorschlag: Wenn wir uns die vollständigen
Unterlagen sorgfältig ansehen konnten, sollten wir noch
einmal darüber sprechen . Vielleicht kommen wir gewissermaßen auf der Zielgeraden dieser Wahlperiode noch
zusammen und finden eine tragfähige Konstruktion für
die Stipendien und die Begabtenförderung in der nächsten Dekade . Das wäre verdienstvoll .
Herzlichen Dank .
({27})
Vielen Dank . - Als Nächstes erhält jetzt die Kollegin
Cemile Giousouf, CDU/CSU-Fraktion, das Wort
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich muss zugeben, ich habe schon lange nicht mehr so
viele ideologisch verblendete Redebeiträge von den Kollegen der Opposition, aber auch leider vom Koalitionspartner gehört .
({0})
Zwei Punkte kann ich feststellen: Erstens hat man das
Prinzip der Begabtenförderung nicht verstanden, und
zweitens haben Sie sich nicht mit den Studierenden unterhalten . Das hat man ganz deutlich gemerkt .
({1})
Seit seiner Einführung 2011 hat sich das Deutschlandstipendium als wichtige Säule der Begabtenförderung
etabliert . Im Jahr 2014 wurden 22 500 Studierende gefördert;
({2})
beteiligt sind rund 288 Hochschulen bzw . 90 Prozent aller staatlichen Hochschulen .
({3})
Das Deutschlandstipendium aktiviert Unternehmen,
Stiftungen und Privatpersonen für ein finanzielles Engagement in der Bildung . Mehr als das: Es stärkt die Attraktivität der Hochschulen und trägt zur Ausbildung von
Hochqualifizierten bei.
({4})
Richtig ist auch: Trotz der Erfolge - das geben wir
ohne Weiteres zu - werden wir in dieser Legislaturperiode die sehr ambitioniert gesteckten Ziele voraussichtlich
nicht erreichen . Laut Koalitionsvertrag sollten 2 Prozent
der Studierenden bis Ende des Jahres 2017 gefördert
werden .
({5})
2014 betrug die Förderquote 0,84 Prozent der Studierenden . Die Tendenz geht aber deutlich nach oben .
({6})
Eine neue Stipendienkultur in Deutschland braucht eine
gewisse Zeit . Diese müssen Sie uns auch zugestehen .
({7})
Jetzt aufgepasst, Herr Schulz! Sie haben behauptet, es
gehe überhaupt nicht voran . Die Anzahl der Stipendiaten
in Deutschland hat sich dank des Deutschlandstipendiums schon heute verdoppelt .
({8})
Im vergangenen Jahr 2015 haben über 7 000 Studierende
allein in Nordrhein-Westfalen ein Deutschlandstipendium erhalten . Das entspricht einem Anstieg um 7,3 Prozent im Vergleich zu 2014, wie das Statistische Landesamt in Düsseldorf jüngst mitteilte .
Ich möchte noch auf drei wesentliche Ergebnisse des
Berichts in aller gebotenen Kürze eingehen .
An allen Hochschulstandorten sind die Bedingungen
gegeben, private Mittel ausreichend einzuwerben . Ein
allgemeiner Einfluss von Regionalfaktoren auf die Förderquote ist nicht vorhanden, entgegen den Voraussagen
der Kritiker . Wenn wir also sagen können, dass die 2 Prozent in dieser Legislaturperiode wahrscheinlich nicht erreicht werden: Warum haben Sie dann nicht die Größe,
zuzugeben, dass Sie mit all den anderen Prognosen, die
Sie in den letzten Jahren aufgestellt haben, todsicher daneben lagen?
({9})
Das Deutschlandstipendium ist von allen Stipendienarten das mit der größten sozialen Streuung .
({10})
- Frau Kollegin, schauen Sie sich einfach einmal die
Zahlen an; auch der Staatssekretär hat sie vorgetragen . Swen Schulz ({11})
Entgegen dem Gerede von einer reinen Eliteveranstaltung fragt der zugrundeliegende Leistungsbegriff nicht
nur nach Noten .
({12})
Vielmehr berücksichtigen wir in den Lebensläufen auch
soziale Brüche und Hindernisse, die die Bildungsbiografie der jungen Menschen beeinflusst haben. So erhalten
Studierende mit Migrationshintergrund dem Bericht zufolge überdurchschnittlich oft ein Deutschlandstipendium .
({13})
Wir können Sie behaupten, dass junge Menschen, die aus
sozial schwachen Milieus kommen, hier nicht unterstützt
werden? Die Zahlen besagen das genaue Gegenteil .
({14})
28 Prozent - mehr als jeder vierte Stipendiat - haben eine
Einwanderungsgeschichte in der Familie . Im Vergleich
zum Migrationsanteil an allen Studierenden schneidet
das Deutschlandstipendium sogar um 5 Prozentpunkte
besser ab . Ja, liebe Kolleginnen und Kollegen, auch das
ist einen Applaus wert . Das ist gelebte Anerkennungskultur der unionsgeführten Regierung .
({15})
Das Deutschlandstipendium wirkt sich ganz eindeutig förderlich auf die Netzwerke zwischen Hochschulen, Förderern und Geförderten aus . Vor allem sind es
mittelständische Unternehmen, welche die Chancen für
sich entdeckt haben . Daneben gibt es Großunternehmen,
Stiftungen und Einzelpersonen, die Stipendien finanzieren . Frau Gohlke, Sie haben eben behauptet, nicht einem
Studierenden aus sozial schwierigen Verhältnissen sei
geholfen worden . Ich möchte gerne als Abgeordnete des
Ruhrgebiets ein Beispiel aus meiner Region nennen
({16})
und auf die Unterstützung durch einen Fußballverein aus
der Ruhrregion eingehen . Bekanntlich ist morgen der
letzte Bundesligaspieltag . Der FC Schalke 04 mag eine
durchwachsene Saison gespielt haben . Aber die Unterstützung dieses Traditionsvereins für das Deutschlandstipendium ist aller Ehren wert . Die Stiftung „Schalke
hilft!“ unterstützt neun Studierende mit einem Deutschlandstipendium . Der Verein weiß um die Auswirkungen
des Strukturwandels, die in der Region noch immer zu
spüren sind . Den Standort zu stärken und junge Menschen mit erschwertem Zugang zur Bildung zu unterstützen, liegt „Schalke hilft!“ deshalb besonders am Herzen .
Wer also auf die Westfälische Hochschule geht, hat die
Chance, durch den FC Schalke und das BMBF gefördert
zu werden, Leistungen an der Universität und im Ehrenamt vorausgesetzt . Eine tolle Kooperation! Von den
Blau-Weißen können die Roten und die Grünen definitiv
noch lernen .
Herzlichen Dank .
({17})
Vielen Dank . - Damit schließe ich die Aussprache .
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/7890 an den Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung vorgeschlagen . Wie ich sehe, sind Sie damit einverstanden und freuen
sich auf die Diskussionen im Ausschuss . Die Überweisung ist beschlossen .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Anja
Hajduk, Britta Haßelmann, Kerstin Andreae,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Die Neuordnung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen jetzt angehen
Drucksache 18/8079
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({0})
Finanzausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . - Ich sehe, Sie
sind damit einverstanden . Dann ist so beschlossen .
Ich bitte Sie, jetzt relativ zügig die Plätze einzunehmen und die Gespräche am Rande einzustellen .
Ich eröffne die Aussprache . Das Wort hat die Kollegin
Anja Hajduk, Bündnis 90/Die Grünen .
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Werte Kollegen! Ich zitiere gleich zu Beginn:
Spätestens Ende 2019 müssen die Bund-Länder-Finanzbeziehungen neu geordnet sein . Der Länderfinanzausgleich ist zu diesem Zeitpunkt neu zu regeln . … In dieser Legislaturperiode müssen dafür
die Weichen gestellt werden .
So steht es im Koalitionsvertrag dieser Legislaturperiode .
({0})
Das ist alles richtig . Des Weiteren wird dort gesagt,
dass bis Mitte der Legislaturperiode Ergebnisse zu den
nachfolgenden Themenbereichen vorliegen sollen: zum
europäischen Fiskalvertrag, zur Schaffung von Voraussetzungen für die Konsolidierung und dauerhafte Einhaltung der neuen Schuldenregel in den Länderhaushalten, zu Einnahmen- und Aufgabenverteilung und
Eigenverantwortung der föderalen Ebenen, zur Reform
des Länderfinanzausgleichs, zu den Altschulden, Finanzierungsmodalitäten und Zinslasten und zur Zukunft des
Solidaritätszuschlags .
Sie merken an diesem ganzen Strauß von Punkten,
dass das eine große Reform ist . Das sind wichtige Aufgaben . All diese müssen angegangen werden . Der Anlass
ist ziemlich klar: 2019 laufen der Länderfinanzausgleich
in dem jetzt definierten Sinne und ebenso der Solidarpakt
Ost aus .
Gemessen an dieser Aufgabenstellung - das ist sicherlich eines der ganz großen Reformvorhaben im Koalitionsvertrag - müssen wir zweieinhalb Jahre später - über
die Hälfte der Legislaturperiode ist bereits verstrichen feststellen, dass Sie vollständig gescheitert sind .
({1})
Gemessen an der Bedeutung einer so großen Reform ist
das für eine Große Koalition schon ein Armutszeugnis .
Nun kann man fragen: Was sind die Gründe dafür? Sie
haben sich bei dem Aufsetzen dieser Reform gescheut,
eine transparente Beteiligung der wichtigen Akteure sicherzustellen . Da haben nicht Bund, Länder und Kommunen in einer Kommission zusammengesessen, es sind
keine Parlamente befasst worden, sondern Sie haben diese Gespräche in die Hinterzimmer verschoben . Das war
eine Entscheidung der Kanzlerin, des Bundesfinanzministers und des Vizekanzlers . Dieses Verfahren ist vor die
Wand gerauscht .
({2})
Das hat auch einen Grund . Wenn man im Hinterzimmer verhandelt, das Thema intransparent hält, dann
entfalten die Verabredungen auch keine Verbindlichkeit .
Das ist ein Problem . Das läuft jetzt nicht unter der Rubrik
„So ist die Politik; die kriegt es nicht hin“, sondern das
wird Folgen haben .
Nun kann man sagen: Frau Hajduk, es liegt doch jetzt
seit Dezember eine Einigung der Länder vor . - Das ist
richtig . Seit dem 3 . Dezember gibt es einen Beschluss
der Ministerpräsidenten der Länder zur Zukunft dieser
Reform . Dazu kann ich nur feststellen, dass diese Einigung der Länder in der Folge den Charakter unseres
solidarischen Miteinanders, des Miteinanders von Bund,
Ländern und Gemeinden, nachhaltig verändern würde;
({3})
denn die Länder schlagen vor, dass der Länderfinanzausgleich, der solidarische Ausgleich untereinander, komplett abgeschafft werden soll .
({4})
Er soll insgesamt durch eine höhere Bundesbeteiligung ersetzt werden . Ich sage ganz eindeutig: Dieser
Vorschlag überzeugt mich nicht;
({5})
denn er unterhöhlt unseren Föderalismus . Da geht es
nicht nur darum, ob der Bund oder die Länder mehr
zahlen, sondern es geht auch darum, ob sich die Länder
zutrauen, untereinander solidarisch zu sein . Das ist ein
wichtiger Baustein eines solidarischen Föderalismus .
({6})
Herr Brinkhaus, wenn Sie jetzt sagen: „Wir teilen diese Kritik an dem Ländervorschlag“, dann muss ich Ihnen
entgegnen: Es ist trotzdem notwendig, dass der Bundesfinanzminister jetzt die Kraft entfaltet, nicht nur eine eigene Kritik am Ländervorschlag vorzulegen - das hat er
getan, durchaus auch in diesem Sinne -, sondern auch
uns, diesem Parlament, endlich einmal Gesetzentwürfe
vorzulegen, sodass wir der Lösung dieser Aufgabe einen
Schritt näherkommen .
({7})
- Das ist keine Frage der Naivität; es ist eine Frage der
Verantwortung .
({8})
Sie als Regierungsfraktionen tragen mit Verantwortung
dafür, dass unser vornehmstes Recht, das Budgetrecht,
auch durch uns beraten und geregelt wird .
({9})
Sie werden nicht leugnen, Herr Brinkhaus, dass die Zeit
dafür immer knapper wird .
Deswegen sage ich Ihnen: Wir müssen diese große
Reform jetzt schrittweise angehen . Darüber wird es noch
viele Gespräche mit den Ländern geben . Wir sollten dabei die Altschuldenproblematik nicht vergessen . Wir
sollten die Steuerverwaltung effizienter machen. In Zeiten von Panama Papers ist das wichtig und richtig .
({10})
Außerdem sollten wir ziemlich alte Zöpfe wie Probleme
der Finanzierung im Bildungsbereich abschneiden .
({11})
Ich sage Ihnen: Es ist besonders wichtig, die Spreizung zwischen armen und reicheren Kommunen anzugehen . Die positiven Ergebnisse der öffentlichen Haushalte täuschen doch darüber hinweg, dass es Regionen
gibt, die nicht genügend Geld haben, ihre Infrastruktur
zu finanzieren. Wenn jetzt einige Bundesländer - das gilt
nicht für alle - beim Aufstellen der Finanzplanungen ein
Problem haben, weil die Bund-Länder-Finanzbeziehungen ab 2019 nicht geregelt sind - es ist unklar, ob diese
Länder die Schuldenbremse am Ende dieses Jahrzehnts
sicher einhalten können -, dann kommt darin ebendiese
Verantwortung zum Ausdruck, diese große Reform jetzt
erfolgreich anzugehen .
Das ist kein Machtspiel zwischen Bund und Ländern,
Herr Brinkhaus, sondern das ist ein Spiel mit dem Feuer .
Es geht um das Vertrauen, dass die staatlichen Ebenen
ihre Aufgaben wahrnehmen können . Es geht darum, dass
die Bürgerinnen und Bürger die Sorge haben, unsere Finanzverfassung trage nicht mehr .
Zum Schluss sage ich Ihnen Folgendes:
Aber sehr kurz, Frau Hajduk .
Es wäre doch wirklich fatal, wenn ausgerechnet der
Finanzminister, der in dieser Legislaturperiode die
Schuldenbremse eingehalten hat, derjenige wäre, der die
Akzeptanz für ebendiese Schuldenbremse untergraben
würde, weil die Länder und Kommunen keine Aussicht
haben, sie ab 2020 einzuhalten . Insofern legen Sie uns
jetzt endlich diese Gesetzentwürfe zur Beratung vor .
Schönen Dank .
({0})
Vielen Dank . - Der Kollege Ralph Brinkhaus hat jetzt
die Gelegenheit, darauf zu antworten . Er spricht für die
CDU/CSU-Fraktion .
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau
Hajduk, ich hätte mir gewünscht, dass Sie in Ihrem Wortbeitrag ein bisschen mehr die Rolle der Bundesländer in
diesem ganzen Spiel beleuchten . Ich glaube, wir sind uns
hier im Deutschen Bundestag in vielen Punkten, übrigens
parteiübergreifend, sehr einig, etwa was das Budgetrecht
und die finanziellen Kapazitäten des Bundes angeht.
Aber das Problem ist: Wir haben 16 Ministerpräsidenten .
Wir können hier so viele Gesetzentwürfe einbringen, wie
wir wollen . Aber das ist eine Geschichte, die wir nur gemeinsam zustande bringen, und darüber, wie das gelingen kann, gibt es unterschiedliche Auffassungen .
Vielleicht noch einmal zur Erklärung: Was sind überhaupt Bund-Länder-Finanzbeziehungen? Dabei geht es
um die Aufteilung der Steuergelder zwischen dem Bund
auf der einen Seite und den Ländern und Kommunen auf
der anderen Seite und um die Aufteilung der Steuereinnahmen, die den Ländern zufallen, zwischen den einzelnen Bundesländern . Das hört sich jetzt sehr einfach an .
Aber das, was über die Jahrzehnte dabei herausgekommen ist, ist ein Konstrukt, das so intransparent und kompliziert ist, wie ich es in der Politik eigentlich noch nie
gesehen habe . Wenn Sie sich dazu einmal eine Aufzeichnung mit Strichen und Kästchen machen würden, dann
würde jedes Burda-Schnittmuster dagegen verblassen .
({0})
Das Ganze ist mit unglaublich vielen Ausnahmen und
Rückausnahmen gesegnet . Dieses System ist nicht nur
intransparent und kompliziert, sondern es ist auch absurd .
Um Ihnen dafür ein Beispiel zu nennen: Irgendjemand
ist einmal auf die Idee gekommen, dass es Bundesländer gibt, die eigentlich kein Geld haben, sich ein eigenes
Parlament oder eine Landesvertretung hier in Berlin zu
leisten, weil sie zu klein sind . Diese Länder haben besonders hohe Kosten der politischen Führung im Vergleich
zu ihrer Einwohnerzahl . Es ist gesagt worden: Da muss
der Bund eingreifen . - Das könnte man ja bei Bundesländern wie Bremen verstehen - ob wir es gutheißen, ist
eine andere Frage . Fakt ist: Momentan bekommen 10
von 16 Bundesländern diese Zuweisung, weil sie besonders hohe Kosten der politischen Führung haben . Diese
Zuweisung geschieht nach einem System, das vorsieht,
dass Rheinland-Pfalz mehr Geld bekommt als das etwa
gleich große Sachsen . Hamburg, das noch viel kleiner ist,
bekommt überhaupt nichts .
Das heißt, dieses System ist hinreichend absurd und
gehört dringend reformiert, und zwar nicht nur punktuell und minimal-invasiv, sondern grundlegend: Es muss
sozusagen auf einen Stock gesetzt und neu aufgebaut
werden . Ich befürchte nur, dass wir mit unserer föderalen
Verfassung dazu nicht mehr in der Lage sind und deswegen mit der ganzen Sache anders umgehen müssen .
Man könnte jetzt den ganzen Nachmittag darüber
sprechen, aber ich fasse es einmal kurz zusammen, indem ich mit vier Irrtümern aufräumen, auf einen Vorschlag eingehen, zwei Fragen stellen möchte und dann
zum Schluss kommen werde .
Ich fange einmal mit den vier Irrtümern an .
Erster Irrtum . Es wird ja immer so getan, als würden die Steuerzuwächse, die wir haben - die liegen im
zweistelligen Milliardenbereich pro Jahr -, ausschließlich beim Bund liegen . Wenn man den einen oder anderen Landesfinanzminister hört, denkt man immer, der
Herr Schäuble hat Steuerzuwächse, und die Länder haben nichts . Weit gefehlt . Von den Steuerzuwächsen, die
wir haben, entfallen pro Euro ungefähr 60 Cent auf Länder und Kommunen und 40 Cent auf den Bund .
Zweiter Irrtum . Es wird immer so getan, als seien Länder und Kommunen arm und der Bund reich . Fakt ist: Die
Verschuldung beträgt ungefähr 1,3 Billionen Euro beim
Bund und 0,8 Billionen Euro bei den Ländern und Kommunen . Bei der Pro-Kopf-Verschuldung sind nur Bundesländer wie Bremen und das Saarland noch schlechter
als der Bund . Es ist auch eine Wahrheit, dass wir da mit
mehreren Hundert Milliarden Euro auseinanderliegen .
Dritter Irrtum . Es wird ja immer so getan, als täte
der Bund nichts für die Kommunen . Das ist in unserem
Grundgesetz eigentlich auch so vorgesehen .
({1})
Danach darf der Bund auch gar nichts für die Kommunen tun, weil die Kommunen Bestandteil der Länder sind
und die Länder dafür zuständig sind, dass die Kommunen genug Geld haben . Nichtsdestotrotz tut der Bund
für die Kommunen etwas . Wir haben die Kosten für die
Grundsicherung im Alter übernommen - das ist ein satter
zweistelliger Milliardenbetrag allein in dieser LegislaturAnja Hajduk
periode -, wir sind stärker in die Übernahme der Kosten
der Unterkunft eingestiegen - das sind auch ungefähr
5 Milliarden Euro -, wir sind in den ganzen Kitabereich
eingestiegen - das sind ebenfalls über 5 Milliarden Euro .
Wenn Sie die Fortführung der Gemeindeverkehrsfinanzierung, die Entflechtungsmittel für den Städtebau und
die diversen Investitionspakete nehmen, dann sind wir
bei weit über 15 Milliarden Euro .
Dann müssen wir noch sehen, dass wir bei den Regionalisierungsmitteln - wir haben gestern die Debatte
geführt - wohl auch noch kein Ende gefunden haben und
dass da auch schon wieder Wünsche vorgetragen werden - der öffentliche Personennahverkehr betrifft auch
die Kommunen -, obwohl wir auch hier in dieser Legislaturperiode schon mehr als 1 Milliarde Euro draufgelegt
haben .
Das heißt, wir haben ein richtig sattes Paket für Länder und Kommunen geschnürt, wobei die Bildungsausgaben - BAföG und solche Sachen - noch nicht einmal
darin enthalten sind .
Dazu nur zwei Bemerkungen: Erstens . Jedes Mal,
wenn wir etwas machen, heißt es, wir brauchen noch
mehr . Und zweitens . Danke hat auch noch niemand gesagt . Das heißt, wir geben von unseren eigenen Mitteln,
von diesen 40 Cent von jedem Steuer-Euro - 60 Cent
gehen woandershin -, noch eine Menge ab, um es den
Ländern und Kommunen zu ermöglichen, ihren Aufgaben nachzukommen .
Meine Damen und Herren, jetzt komme ich zu dem
vierten Irrtum, der Bund tue nichts im Bereich der Sonderaufgabe Migration . Wenn man sich einmal anschaut,
was im Bundeshaushalt an verschiedenen Stellen - von
der Fluchtursachenbekämpfung in den Herkunftsländern
bis zur Finanzierung von Migration in diesem Land aufgewandt wird, dann sind wir auch bei 16 Milliarden
Euro in diesem Jahr . Das Ganze steigt bei moderat steigenden Migrationszahlen auf 20 Milliarden Euro an .
Darin sind solche Sachen enthalten wie die, dass wir
für jede Asylbewerberin und jeden Asylbewerber trennscharf 670 Euro pro Kopf und Monat geben . Ich hoffe,
das wird auch an die Kommunen weitergereicht .
Das geht noch weiter: Wenn die Asylbewerberin bzw .
der Asylbewerber aus dem Asylverfahren heraus ist, bekommt sie bzw . er Leistungen nach den Sozialgesetzbüchern, die weitestgehend vom Bund finanziert werden vielleicht bis auf die Kosten der Unterkunft . Wir haben
im Haushaltsausschuss auch Pakete für die Bereiche
unbegleitete Jugendliche, Städtebau und Kita geschnürt .
Nicht zuletzt gibt der Bund auch sehr viel für Sprachförderung und entsprechende Dinge aus .
Es ist nicht kleinzureden, was da seitens der Kommunen gemacht wird, weil es großartig ist, mit welcher Opferbereitschaft diese Herausforderungen im Bereich der
Migration angenommen worden sind und wie die entsprechenden Maßnahmen auch bezahlt worden sind und
bezahlt werden . Aber es ist ein Irrtum, anzunehmen, dass
der Bund nicht dabei ist .
Das waren die vier Irrtümer .
Jetzt kommt der eine Vorschlag: Der Vorschlag der
Länder vom Dezember des letzten Jahres, auf den Sie ja
auch Bezug genommen haben, ist erstens nicht sonderlich hilfreich, weil er die Grundprobleme und Fehlanreize in diesem System nicht beseitigt .
({2})
Und dieses Burda-Schnittmuster wird auch nicht wesentlich unkomplizierter . Das ist das erste Manko .
Das zweite Manko ist, dass dieser Vorschlag der Länder nur funktioniert, wenn der Bund zusätzlich zu dem,
was ich Ihnen eben noch einmal erläutert habe, über
9,5 Milliarden Euro auf den Tisch legt . Dabei glaube ich
sogar, dass der Betrag mittlerweile noch ein bisschen höher ist .
Das ist ein tolles Demokratieverständnis, wenn sich
16 Ministerpräsidenten zusammensetzen und sagen:
„Wir haben eine Lösung für unser Problem, kostet zwar
irgendwie 9,5 Milliarden Euro, aber das zahlen wir nicht
selbst, sondern das kann dann der Bund bezahlen“, und
sich dann darüber beschweren, dass hier im Deutschen
Bundestag gesagt wird: Na ja, ist schwierig, wenn solch
ein Vertrag zulasten Dritter abgeschlossen wird, bei dem
wir nicht mitreden können .
({3})
- Ich habe nicht mehr viel vorzutragen . Ich ziehe das
durch . Sie können gleich eine Kurzintervention machen . - In der Budgetverantwortung müssen wir als Bundestag dagegenhalten .
Im Übrigen wissen wir auch eines, meine Damen und
Herren: Wenn dieser Vorschlag hier im Deutschen Bundestag eins zu eins abgesegnet worden wäre: Die Tinte
des Bundespräsidenten darunter wäre noch nicht trocken
gewesen, es wären weitere Forderungen gekommen zu
den Kosten der Unterkunft, zu Investitionen, zur Integration und - das haben Sie auch gesagt - zur Bildung .
Es würde nämlich gesagt werden: Jetzt heben wir das
Kooperationsverbot im Bereich Bildung auf, damit der
Bund auch die Schulen bezahlen kann . - Bei den Universitäten haben wir ja schon etwas gemacht; da ist der
Sündenfall bereits erfolgt . - Das zu dem Vorschlag .
Jetzt kommen die zwei Fragen, die ich mir stelle . Die
erste Frage lautet - Sie haben sie auch schon angesprochen -: Wie sieht es denn eigentlich mit dem föderalen
Selbstverständnis in diesem Land aus? Wie sieht es mit
dem Anspruch auf Eigenstaatlichkeit aus, wenn erstens
bei allen zusätzlichen Problemen immer der Bund gerufen wird und die eigene finanzielle Verantwortung nicht
wahrgenommen wird und wenn zweitens der brüderliche
Finanzausgleich zwischen den Bundesländern komplett
aufgehoben wird und es zu einem väterlichen Finanzausgleich kommt, in dem nur noch der Bund dafür zuständig
ist? - Das ist das erste Problem .
Das zweite Problem, das mich beschäftigt, ist eines,
das ich als Haushälter habe . Wenn ich mir anschaue,
welche Lasten wir uns momentan für den Bundeshaushalt aufbürden - innere Sicherheit, äußere Sicherheit,
Migration, Euro-Rettung, viel Geld für Kommunen und
Länder, was ich gerade schon erzählt habe - und was
wir jetzt noch zusätzlich draufsetzen - aufgrund der
demografischen Entwicklung werden wir im nächsten
Jahrzehnt erhebliche Belastungen in den Sozialversicherungssystemen haben, teilweise selbst verursacht durch
die Beschlüsse zur Mütterrente und zur Rente mit 63 und
solche Dinge -, dann frage ich mich wirklich: Welcher
Gestaltungsspielraum ist denn für die Haushälter, die
in zehn Jahren in diesem Saal hier sitzen, noch vorhanden? Können sie überhaupt noch irgendetwas Eigenes
machen, oder sind sie so gefesselt - auch durch wieder
ansteigende Zinsen für unsere Schulden und durch alles
andere, was ich Ihnen eben erzählt habe -, dass sie im
Prinzip nur noch als Notar hier sitzen und abnicken können? Sie werden sagen müssen: Eigene Projekte - wir
hatten gerade eine Debatte über Bildung - können wir
gar nicht auf den Weg bringen .
Herr Kollege Brinkhaus, ich muss Sie unterbrechen .
Gestatten Sie dazu eine Zwischenfrage der Kollegin
Hajduk?
Ich habe jetzt noch 43 Sekunden .
Die haben Sie auch weiterhin . Sie haben jetzt die
Chance, die Redezeit zu verlängern .
Gut, dann machen wir jetzt noch eine Zwischenfrage .
Frau Hajduk .
Die Zeit wird angehalten .
Ja natürlich, immer . Wir wollen auf den Rest Ihrer
Rede nicht verzichten .
Vielen Dank, Herr Kollege Brinkhaus . - Wir sind uns
einig: Das ist eine komplexe Thematik . Wir sind uns einig: Sie ist auch extrem umstritten . - Ich habe Ihnen sehr
wohl zugehört, aber ich habe in Ihrer Rede nicht gehört,
ob Sie es nicht richtig finden, dass wir demnächst trotzdem diese Reform anpacken und zu einer Lösung kommen müssen . Wenn Sie mir nur immer erklären, warum
das alles nicht geklappt hat und warum das nicht geht,
dann landen wir am Ende in der Problematik, dass wir
für Bund, Länder und Kommunen - die Finanzierungssituation ist teilweise sehr unterschiedlich - keine verlässliche Perspektive haben . Verstehe ich Sie richtig, dass
Sie sagen wollen: „Wir kriegen das nicht hin, und dann
legen wir die Hände in den Schoß“? Das kann es doch
nicht sein!
Zweitens würde ich Sie bitten, zur Kenntnis zu nehmen - die Mehrbelastung des Bundes, die die Länder sich
wünschen, ist natürlich keine Selbstverständlichkeit -,
dass die Reaktion des Bundesfinanzministeriums auf den
Ländervorschlag mittlerweile doch fast eine Annäherung
bedeutet, nämlich den fiskalischen Rahmen, wenn auch
nicht in den Strukturen, den Ländern zuzugestehen? Das
kann also nicht das Hauptproblem sein .
Zu dem zweiten Teil: Ich bin Mitglied des Parlaments
und nicht Vertreter des Bundesfinanzministeriums.
Zu dem ersten Teil: Ich hatte am Anfang der Rede pädagogisch sehr wertvoll erläutert: vier Irrtümer, ein Vorschlag, zwei Fragen und eine Schlussfolgerung . Warten
Sie einfach die Schlussfolgerung ab; dann kommt auch
der Vorschlag zu der ganzen Sache .
({0})
Bei dieser Schlussfolgerung bin ich mittlerweile; die Zeit
läuft ja auch ab .
Um das einmal zusammenzufassen: Die Erwartungshaltung der Länder in diesem ganzen Prozess lässt sich
wie folgt beschreiben: Der Bund zahlt für alles, es wird
spitz abgerechnet, und es darf nichts kontrolliert werden . - Das ist eine Sache, die so nicht funktioniert . Dementsprechend brauchen wir ein faires Miteinander, in
dem wir die Sache neu aufsetzen und auch einmal ganz
rigoros gucken:
({1})
Wer hat denn welche Aufgaben zu erfüllen? Wie ist die
Finanzausstattung für diese Aufgaben?
Das funktioniert nicht, indem ich irgendwo invasiv
eingreife und beispielsweise Folgendes mache: Weil
einem Bundesland in diesem Ländervorschlag irgendwo noch 30 Millionen Euro fehlen, denke ich mir eine
Bundesergänzungszuweisung dafür aus, dass es da keine
Bundesforschungseinrichtung gibt .
({2})
Das funktioniert nicht .
({3})
Wir haben unsere Vorschläge vorgelegt . Meine verbliebene Redezeit ist jetzt bei minus sieben Sekunden,
({4})
aber wir können gerne eine zweite Debatte eröffnen, damit ich Ihnen das entsprechend erläutern kann . Ihr Vorschlag ist mir allerdings aus Ihren Ausführungen auch
nicht deutlich geworden . Es gibt keinen großen grünen
Knopf, auf den ich drücken kann, um das Problem einfach zu lösen . Eines kann ich Ihnen aber sagen - Sie haben ja beklagt, dass die Transparenz fehlt -: Sie glauben
doch wohl nicht, dass eine gemeinsame parlamentarische
Arbeitsgruppe aus Grünen, Linken und Koalitionsfraktionen dazu führt, dass die Ministerpräsidenten hinterher
sagen: Ja, das ist es; das machen wir jetzt . - Insofern ist
die ganze Sache etwas komplizierter .
Danke schön .
({5})
Vielen Dank . - Jetzt hat der Kollege Dr . Axel Troost,
Fraktion Die Linke, das Wort .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Kollege Brinkhaus hat sozusagen alles in einen Topf geworfen und alle Zahlungen, die es vom Bund für die Länder oder für die Kommunen gibt, mit einbezogen .
({0})
Wir reden im engeren Sinne über den Länderfinanzausgleich . Das ist sozusagen nur ein kleines Teilstückchen
davon . Ich beschäftige mich mit dieser Frage seit 33 Jahren . Im Gegensatz zu allen anderen haben wir als Linke
2013 eine Kommission eingesetzt, haben einen sehr konkreten Vorschlag gemacht, ein 61-seitiges Konzept erarbeitet, haben eine Kurzfassung davon erstellt, die man
hier auch einsehen kann . Darin sagen wir nicht: „Der
Bund soll alles bezahlen“, sondern wir machen ganz konkrete Vorschläge . Diese sollte man sich erst einmal anschauen, bevor man uns in irgendeiner Form diffamiert .
({1})
- Ja, ja .
Worum geht es aber? Es ist völlig richtig: Man hätte
wirklich eine Föderalismuskommission III gebraucht . Ich
war Mitglied der Föderalismuskommission II und weiß,
dass da viel und auch grundsätzlich diskutiert wurde .
Aber man ist eben auch zu einem Ergebnis gekommen,
({2})
und zwar unter Beteiligung der Kommunen und der Parlamente . Das, was nun aktuell passiert ist, war wirklich
Kindergarten . Man hat erst einmal die Länder untereinander verhandeln lassen . Die waren sich natürlich nicht
einig . Aber dann ist man im Dezember zu einer Einigung
gekommen . Diese Einigung enthält für meine Begriffe da würde ich Frau Hajduk überhaupt nicht zustimmen ja durchaus viele sehr vernünftige Elemente:
({3})
Auch wir wollen, dass die kommunalen Steuereinnahmen auf die Finanzsituation der Länder angerechnet
werden, wenn auch zu 100 statt zu 75 Prozent . Nach wie
vor bleibt es bei einem Ausgleich zwischen den Ländern .
Das war ja auch nicht so klar .
({4})
Es gibt jetzt ein Konzept für Bremen und das Saarland,
damit diese Länder nicht insolvent gehen . Es gibt die Idee,
die ich für richtig halte, gemeinsame Staatsanleihen von
Bund und Ländern aufzulegen . Ich halte auch den gefundenen Kompromiss auf der Basis des nordrhein-westfälischen Vorschlages, den Länderfinanzausgleich mit der
Frage des Umsatzsteuervorwegausgleiches zu verbinden,
nicht für falsch . Das ist ja in sich ein Finanzausgleich,
weil die Ergebnisse praktisch die gleichen sind .
({5})
- Doch, man kann das ja in der Tabelle vergleichen . Insofern finde ich den Vorschlag gar nicht so verkehrt.
Es mag einzelne Punkte geben - darüber habe ich ja
auch mit Herrn Meister schon diskutiert -, die nicht ganz
schlüssig sind; aber das sind kleinere Punkte im Vergleich zum Ganzen .
Wir kritisieren nach wie vor, dass dieses Konzept
strukturblind ist . In unserem Konzept haben wir immer
wieder gefordert: Länder mit besonders hoher Arbeitslosigkeit und Armut müssten eigentlich mehr Geld bekommen, weil die Höhe der Leistungen, die von ihnen
zu zahlen sind, bundeseinheitlich geregelt ist und sie
aufgrund dieser Ausgaben natürlich entsprechende finanzielle Belastungen haben und ihnen das Geld für andere
Ausgaben fehlt .
Aber wie schon gesagt: Ich glaube, dass das vorgelegte Konzept der Länder im Prinzip gar nicht so schlecht
war . Der Bund hat es aber drei Monate liegen lassen und
ist dann mit einem Vorschlag angetreten, mit dem er das muss man ganz eindeutig sagen - das Ganze fundamental abgeblockt hat . Es geht ja nicht um die 9 Milliarden Euro, die der Ländervorschlag nennt, sondern es
geht um 1,4 Milliarden Euro mehr, als der Bund sowieso
angeboten hatte . Die Differenz ist gar nicht so groß,
({6})
und möglicherweise hätte man über diese Differenz sogar noch diskutieren können .
({7})
Aber im Vorschlag des Bundes kommt völlig systemfremd auf einmal vor: Wenn ihr eine Einigung haben
wollt, müssen wir eine Bundesfernstraßen-AG machen .
({8})
Die Länder sollten sozusagen von der Hoheit, die sie im
Augenblick im Straßenbau haben, im Auftrage des Bundes ihre Kompetenzen abgeben .
({9})
Das hat mit Länderfinanzausgleich überhaupt nichts zu
tun .
({10})
Nächster Vorschlag: Länder, die strukturschwach und
steuerschwach sind, sollen die Möglichkeit erhalten, Sozialleistungszahlungen im Bereich Behinderte und Kinder einzusparen, also von bundeseinheitlicher Gesetzgebung abweichen zu dürfen . Das ist aus unserer Sicht ein
Skandal,
({11})
der zu einem Senkungswettlauf im Bereich der Sozialleistungen führen kann . Deswegen sind wir der Ansicht - im Augenblick sieht es so aus -, dass der Bund
entweder kein Interesse an einer vernünftigen Einigung
hat oder aber hofft, in einer Riesenerpressungsaktion bei
den berühmten Kaminrunden der Ministerpräsidentinnen
und Ministerpräsidenten - ohne Finanzminister und Verkehrsminister - den großen Coup zu machen .
({12})
Das kann aber nicht zu einem Ergebnis führen, das dann
für 20 oder mindestens für 10, 15 Jahre Bestand hat . Insofern kann ich Sie nur auffordern: Entweder macht man
den Prozess noch einmal transparent, oder man muss
ganz anders aufeinander zugehen . Ich freue mich, dass
wir gestern in der Obleuterunde besprochen haben, dass
wir uns das Thema im Finanzausschuss noch einmal vornehmen und dann intensiver diskutieren können . Aber es
ist fünf vor zwölf bei einem ganz wichtigen Thema .
Danke schön .
({13})
Vielen Dank . - Für die SPD-Fraktion hat jetzt der Kollege Carsten Schneider das Wort .
({0})
Ja, liebe Kolleginnen und Kollegen, als Herr Troost
gerade sagte, dass er sich seit 33 Jahren intensiv mit der
Lektüre des Länderfinanzausgleichs auseinandersetzt,
({0})
habe ich gedacht: Literarisch ist das Ganze nicht so unterhaltsam .
Wenn man sich den Bund-Länder-Finanzausgleich,
den solidarischen Ausgleich zwischen den Ländern, anschaut, den wir laut Grundgesetz haben, und auch die
Regelung, die wir jetzt seit 2005 bis 2019 mit dem Solidarpakt II haben, dann stellt man fest: Das hat sich in
Deutschland bewährt . Das solidarische Ausgleichssystem zwischen finanzstarken und finanzschwachen Ländern hat sich bewährt . Es hat diesem Land gutgetan .
({1})
Es ist eine Grundvoraussetzung, dass es einen Ausgleich
zwischen finanzschwächeren und finanzstärkeren Ländern gibt . Wir haben Länder, deren Finanzschwäche
zum großen Teil durch die Geschichte bedingt ist; hier
denke ich an die ostdeutschen Länder . Nirgendwo in
Ostdeutschland sind große Konzernzentralen . Dementsprechend sind die Körperschaftsteuereinnahmen nicht
in dem Maße vorhanden . Der Ausgleich ist notwendig,
damit die Gemeinden, beispielsweise bei mir in Thüringen, aber auch die Länder die sozialen Dienstleistungen
erbringen können - wie auch in Teilen Bayerns, Hessens
oder Baden-Württembergs -; in den finanzschwachen
Ländern gibt es niedrigere Standards in der Besoldung
von Polizisten und Lehrern und auch bei anderen Angeboten . Das wird in etwa so bleiben; denn es geht hier
nicht um eine Nivellierung . Im Kern brauchen wir als
verbindendes Element in Deutschland einen funktionierenden Finanzausgleich zwischen Starken und Schwachen im Grundgesetz und in der Realität .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, von daher ist es aus
meiner Sicht ganz klar, dass das Verfahren, auf das sich
die Ministerpräsidenten geeinigt haben, total transparent
ist . Sie haben das alles zitiert . Die Regelungen sind vorhanden . Nicht im Hinterzimmer, sondern in der Öffentlichkeit wird das ausgetragen, wie heute hier im Bundestag . Auch wir als SPD-Fraktion haben uns oft genug dazu
geäußert . Uns passt diese Einigung aus verschiedenen
Gründen nicht .
({2})
Ich will darauf zu sprechen kommen . Die Gründe sind
sehr im Konsens mit dem, was Herr Kollege Brinkhaus
und auch Sie, Frau Kollegin Hajduk, gesagt haben . Wenn
wir den Ausgleich zwischen der unterschiedlichen Finanzkraft der Länder haben wollen, dann ist es zwingend, dass sich das auch in der wirtschaftlichen Dynamik
abbildet . Das erkennt man schon, wenn man einen Blick
auf die Forschungseinrichtungen wirft . Wo Forschung ist,
ist auch wirtschaftliche Entwicklung . Schauen wir uns
die Landkarte an: In Baden-Württemberg und in Bayern
gibt es viele Forschungseinrichtungen und damit auch finanzstarke Unternehmen . Manche gibt es auch in Hessen
und in Hamburg . Wir haben schwächere Regionen und
welche, die im Durchschnitt liegen . Zu den Schwächeren gehören die ostdeutschen Länder, aber auch einige
westdeutsche Flächenländer . Diese brauchen besondere
Unterstützung .
Der Vorschlag, den die Länder gemacht haben, sieht
eine Einigung zulasten Dritter vor . Der Dritte ist hier der
Bund . Deswegen sind wir als Gesetzgeber gefordert, uns
dazu zu verhalten - das tun wir heute in dieser Debatte;
das haben wir auch vorher schon getan - und einen eigeDr. Axel Troost
nen Vorschlag zu unterbreiten . Den will ich Ihnen auch
nennen; denn wir sind hier nicht im luftleeren Raum . Die
Entsolidarisierung geht mit dem Vorschlag der Länder
einher . Herr Troost, hier sind wir unterschiedlicher Auffassung . Es hat mich sehr gewundert, dass Sie jetzt gesagt
haben, Sie fänden die Einigung der Ministerpräsidenten
gut . Es ist das Gegenteil eines solidarischen Ausgleichs,
({3})
weil die finanzstarken Länder überproportional von den
Steuermehreinnahmen und der Finanzkraft profitieren
würden . Es würde dort mehr Geld verbleiben, und die
Unterschiede zwischen den Ländern würden größer werden .
({4})
Damit der Ausgleich dann aber trotzdem noch irgendwie
stattfinden könnte, müsste der Bund das Ganze bezahlen.
Dann stößt der Bund aber irgendwann an die Grenze seiner Leistungsfähigkeit .
Kollege Brinkhaus hat vorhin darauf hingewiesen, wie
viel Unterstützung wir in dieser Legislaturperiode schon
geleistet haben, insbesondere für Länder und Kommunen . Das hat es in keiner Legislaturperiode zuvor in diesem Ausmaß gegeben . Man stellt sich schon die Frage,
wo wir hier eigentlich noch Bundespolitik machen . Wir
brauchen die Handlungsfähigkeit des Bundes, damit er
für die finanzschwachen Länder da sein kann. Deswegen
braucht es auch einen solidarischen Ausgleich .
An dieser ganz entscheidenden Stelle, bei der Entsolidarisierung der Länder und dem Mehrbehalt bei den finanzstarken Ländern - letztendlich wird die Klage von
Bayern und Hessen ja geführt, weil sie meinen, dass ihr
Eigenbehalt bei Steuermehreinnahmen zu gering ist -,
geht diese Einigung fehl . Sie geht zulasten des Bundes,
weil in einem ersten Schritt, ab 2020, gut 10 Milliarden
Euro zusätzlich vom Bund verlangt werden, ohne dass
die Frage der Gegenfinanzierung thematisiert wird. Dieser Betrag soll dynamisch aufwachsen .
Herr Kollege Schneider, wenn Sie jetzt irgendwann
einmal einen Punkt machen würden, dann könnte ich Sie
fragen, ob Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Troost
gestatten .
Aber gern .
Bitte schön, Herr Kollege Troost .
({0})
- Er darf trotzdem fragen, wenn er noch Wissensdrang
hat .
({1})
Es ist weniger Wissensdrang, sondern eher Aufklärungsdrang . - Zunächst ist es so, dass Ihre sozialdemokratische Finanzministerin aus Erfurt mit diesem
Vorschlag schon sehr zufrieden war - so, wie auch die
Vertreter aus meinem Land Brandenburg sehr zufrieden
waren . Insofern kann er nicht ganz so schlecht und ungerecht gewesen sein .
({0})
- Ja, doch, sonst hätten sie sich natürlich nicht damit einverstanden erklärt . Das ist doch logisch . ({1})
Für meine Begriffe unterliegen Sie hier einem Irrtum .
Man hat sich auf den Vorschlag des Landes Nordrhein-Westfalen zum Umsatzsteuervorabausgleich eingelassen . Wenn man dann aber den normalen Bund-Länder-Finanzausgleich draufsetzte, hieße das natürlich,
dass die Leistungen von Bayern und Baden-Württemberg 1,5 bis 2 Milliarden Euro höher ausgewiesen würden . Ich habe meinen Leuten im Osten gesagt: Das ist
unverantwortlich . Denn egal, was man da 2019 über eine
Excel-Tabelle ausrechnen würde - ab 2020 oder 2022
wüsste keiner mehr davon . Dann wird gesagt: Das kann
doch nicht sein, dass so viel Geld aus unseren Haushalten in den Osten fließt. - Deswegen hat man das in einer
Stufe miteinander verrechnet .
Wenn Sie sich die Unterschiede gegenüber dem anschauen, was es vorher in der Geschichte des Bund-Länder-Finanzausgleichs schon einmal gab, und betrachten,
inwiefern es Zuwächse in den einzelnen Bundesländern
gibt, dann stellen Sie fest, dass es im Ergebnis praktisch
mit dem anderen Verfahren identisch ist . Das heißt, der
zusätzliche Betrag, die 1,4 Milliarden Euro, kommt nicht
durch den Ausgleichsmechanismus zustande, sondern
resultiert aus anderen Forderungen . Darüber kann man
möglicherweise reden .
Herr Kollege Troost, ich bin mir nicht sicher, was die
Frage war .
({0})
- Nein, das nehme ich nicht zur Kenntnis, sondern dem
widerspreche ich .
Erstens . Was die Einigung der Länder und die Einschätzung einzelner Vertreter der Länder betrifft - in den
Ländern sind ja alle Farben dabei, auch Grüne und die
Linkspartei, und sie haben diesem Vorschlag im Endeffekt zugestimmt -, halte ich für die SPD-Bundestagsfraktion fest, dass wir in der Einigung keine Fortentwicklung
Carsten Schneider ({1})
und Stabilisierung des solidarischen Ausgleichssystems
erkennen, sondern eine Entsolidarisierung zulasten des
Bundes .
({2})
Ich will es gerne noch einmal sagen: Der entscheidende Punkt ist nicht die Festsumme von knapp 10 Milliarden Euro - 8,5 oder 9,6 Milliarden Euro -, sondern die
Dynamik des Ausgleichs . Wir haben bisher einen mehr
oder weniger progressiv ansteigenden Ausgleichstarif .
Dadurch, dass die Umsatzsteuerfestbeträge - bisher waren sie fest - dynamisiert würden, wäre der Länderanteil
zulasten des Bundes größer . Der Eigenbehalt der Länder,
insbesondere der finanzstarken, würde durch die Linearisierung des Ausgleichstarifs - zwischen „linear“ und
„progressiv“ gibt es einen großen Unterschied - festgeschrieben, und vor dem Hintergrund der Belastung - ich
glaube, sie haben sich auf 63 oder 67 Prozent geeinigt gibt es ein geringeres Ausgleichsvolumen . Dementsprechend ist es eine Entsolidarisierung gegenüber dem bestehenden, jetzigen System .
Jetzt komme ich zu Frau Hajduk . Die letzten 39 Sekunden nutze ich, um zu sagen: Wir haben auf Grundlage
des Grundgesetzes und der Verfassungsrechtsprechung
ein ausgeurteiltes System, das sich bewährt hat . Es ist
nur befristet, bis 2019 . Es spricht aber, wenn man keinen
besseren Vorschlag hat, nichts dagegen, den bestehenden
Finanzausgleich zu entfristen und ihn mit der bisherigen
Systematik weiterzuführen, kombiniert mit einer Initiative des Bundes, um den besonderen Finanzbedarf in den
extrem finanzschwachen Ländern - Saarland, Bremen,
ein Teil der ostdeutschen Länder - zu decken . Das wird
notwendig sein, dazu sind wir auch bereit .
Dass der Bund gar nichts zusätzlich gibt, das wird
nicht gehen . Aber dass wir quasi 10 Milliarden Euro auf
den Tisch legen und dynamisch wachsende Ausgaben
übernehmen, um die Ungleichheit zwischen den Ländern
auszugleichen, das wird nicht gehen . Das wäre das Ende
der Bundespolitik . Dann sind wir nur noch Notare im
Bundestag und haben keinen eigenen Gestaltungsspielraum mehr . Das wollen wir als Sozialdemokraten nicht .
({3})
Vielen Dank . - Für die CDU/CSU-Fraktion erhält
jetzt der Kollege Bartholomäus Kalb das Wort .
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Die Grünen wollen mit ihrem Antrag eine
intensivere parlamentarische Debatte über eine Neuordnung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen anstoßen .
Dem stimme ich absolut zu . Ich weiß, dass laut unserer
Verfassung auch die Mitglieder des Bundesrates an den
parlamentarischen Debatten teilnehmen können, aber ich
stelle hier nur eine konzentrierte Einigkeit in der Abwesenheit fest .
({0})
In der Tat würde ich eine frühere Einbindung des
Bundestages sehr begrüßen; da sind wir uns, glaube ich,
alle einig . Allerdings möchte ich nicht erleben, dass wir
wieder nur an Kommissionen verwiesen werden - eine
besonders hohe, elitäre Form des Zeitvertreibs -, deren
Arbeit ohne Ergebnisse bleibt und wir keine Vorschläge haben, die im parlamentarischen Verfahren umgesetzt
werden könnten .
Die Grünen müssen allerdings schon aufklären, welche Rolle sie dem Föderalismus in dieser Frage beimessen wollen . Sie wollen auf der einen Seite, wie wir alle,
dafür sorgen, dass der Bund nicht zu sehr in Anspruch
genommen wird, aber gleichzeitig wollen sie an anderer Stelle das Kooperationsverbot aufheben; Kollege
Brinkhaus hat das Notwendige dazu gesagt . Sie wollen
auch an anderer Stelle mehr Zentralisierung . Das wollen
wir aber nicht . Man kann nicht auf der einen Seite für den
Föderalismus sein, aber auf der anderen Seite, nur weil es
gerade passt, dagegen sein .
({1})
- Ja, darauf komme ich noch zurück .
Worin ich Ihnen zustimme - das ist keine Frage -: Wir
alle müssen darauf Wert legen, dass die Länderhaushalte
konsolidiert werden, damit die Länder in der Lage sind,
die Schuldenbremse einzuhalten . Aber hier liegt die Verantwortung in erster Linie bei den Ländern selbst .
({2})
Konsolidierung bedeutet, dass auch in den Ländern
und Kommunen eine sehr verantwortungsbewusste
Haushaltspolitik betrieben wird . Man darf sich nicht nur
auf den Bund verlassen . Die Verantwortung liegt in besonderer Weise bei den jeweiligen Landesregierungen .
Wir wissen, dass wir solidarisch sein müssen, dass wir
unterstützen müssen, beispielsweise die Länder, die sich
aus eigener Kraft nicht helfen können wie Bremen und
das Saarland . Auch hier gibt es vernünftige Vorschläge,
wie geholfen werden kann, aber die Hilfe muss befristet
und konditioniert sein und die Einhaltung der Konditionen eng überwacht werden .
Es geht darum, dass die Länder in Zukunft ein höheres
Maß an Eigenverantwortung wahrnehmen müssen . Wir
schlagen vor, hier den Spielraum zu erweitern . Bundesminister Schäuble hat in diesem Zusammenhang einen
sehr guten Vorschlag gemacht: Bei sozialen Leistungen
soll beispielsweise eine Öffnungsklausel gelten, die es
den Ländern ermöglicht, von den Vorgaben des Bundes
in gewisser Weise abzuweichen .
Wir müssen auch dafür sorgen, dass die Länder die
Möglichkeiten wahrnehmen, eigene Finanzkraftverstärkungen zu erzielen, beispielsweise durch eine Verbesserung bei den wirtschaftlichen Aktivitäten . Es gibt auch
Carsten Schneider ({3})
die Diskussion über Zuschläge bei bestimmten Steuern
usw .; das will ich jetzt aber nicht vertiefen . Jedenfalls
müssen wir erreichen, dass die richtigen Anreize gesetzt
werden .
Damit bin ich beim nächsten Thema - es ist auch
schon angesprochen worden -: Das derzeitige Finanzausgleichssystem bietet keine Anreize, weder für die
Geberländer noch für die Nehmerländer . Die Geberländer werden von dem Schicksal ereilt, dass sie fast jeden
Euro, der zusätzlich in die Kasse kommt, in den Länderfinanzausgleich geben müssen; die Nehmerländer sind in
der Weise negativ betroffen, dass Eigenanstrengungen
sozusagen nicht belohnt werden, weil dann weniger Finanzausgleichsleistungen in ihre Kassen fließen.
Hier müssen wir das Gleichgewicht, die Balance wiederherstellen . Es kann nicht sein, dass bald ein einziges
Bundesland allein - ich trage heute eine weißblaue Krawatte, weil ich aus Bayern komme -,
({4})
mehr als die Hälfte des Länderfinanzausgleichs leistet.
Bayern wird in diesem Jahr vermutlich 5,45 Milliarden
Euro leisten . Wir müssen die Dinge wieder ins Gleichgewicht, ins Lot bringen . Leistung muss sich wieder
lohnen, und zwar für beide Seiten, für die Geberländer,
aber auch für die Nehmerländer . Das heißt, es müssen die
richtigen Anreize geschaffen werden . Das heißt auf der
anderen Seite aber nicht, dass wir nicht solidarisch sein
wollen . Es bleibt dann immer noch genug übrig, was die
Geberländer für die Nehmerländer leisten müssen . Aber
wir müssen die notwendigen Veränderungen vornehmen .
Manches muss wieder auf die Füße gestellt werden .
Wir wollen, dass die föderalen Strukturen nicht beschädigt werden . Dafür brauchen wir die Länder; auch
sie müssen ihren Beitrag leisten . Wir wollen aber auch
nicht, dass der Föderalismus von der Bundesseite her in
Gefahr gerät . Vorhin ist das Stichwort „Steuerverwaltung“ genannt worden . Das Stichwort „Bundesauftragsverwaltung“ ist auch schon in die Diskussion eingeführt
worden . Ich habe nicht den Eindruck, dass zentrale Verwaltungen - ich nenne als Beispiele das Eisenbahn-Bundesamt und die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung - in
der Summe leistungsfähiger sind als föderal strukturierte
Verwaltungen . Ich lege sehr viel Wert darauf, dass wir
das so sehen .
Wir brauchen mehr und nicht weniger Eigenverantwortung im Bereich des Bund-Länder-Finanzausgleichs .
Wir brauchen mehr Anreize für eigene Leistungen . Wir
wollen den Föderalismus nicht durch die Hintertür abschaffen . Wir sollten aber auch darauf achten - wir sind
an der jetzigen Situation ja nicht ganz unschuldig; Kollege Brinkhaus hat das angesprochen -, dass wir nicht immer wieder neue Mischfinanzierungen und ähnliche Dinge einführen . Wir müssen darauf achten, dass in Zukunft
jede Ebene wieder stärker ihrer eigenen Verantwortung
gerecht wird, auch ihrer Finanzverantwortung, und man
nicht, wenn es bequemer ist, nach dem Bund zu rufen,
nach dem Bund ruft . Unser Ziel muss ein transparentes,
ein solidarisches, ein faires und ein anreizorientiertes
System sein, das ein gesundes finanzielles Fundament für
einen funktionierenden Föderalismus in unserem Land
darstellt .
Herzlichen Dank .
({5})
Vielen Dank . - Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist jetzt der Kollege Johannes Kahrs,
SPD-Fraktion .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Man fragt sich, warum wir gerade jetzt diese
Debatte führen .
({0})
Die Grünen haben diese Debatte angemeldet . Das liegt,
glaube ich, daran, dass Mitte Juni Gespräche stattfinden
werden, bei denen es zu einer Einigung kommen wird
oder auch nicht . Deswegen ist der Zeitpunkt für diese
Debatte relativ geschickt gewählt .
Wenn man sich die Reden hier angehört hat, hat man,
glaube ich, festgestellt, dass sich die Opposition mit keinem eigenen Vorschlag vorgewagt hat . Man hat hier und
da etwas abgewogen, man hat erst das eine ein bisschen
kritisiert und dann das andere; aber man hat nicht genau
gesagt, was der Bund genau tun soll . Das ist für die Opposition natürlich auch schwierig, weil die Grünen und
die Linke in einigen Ländern inzwischen mitregieren und
die Interessen überall unterschiedlich sind .
Genauso ist das natürlich bei dem einen oder anderen
Kollegen . Der Kollege Barthl Kalb, den ich sehr schätze,
kann ja schon, wenn er redet, seine Herkunft nicht verleugnen .
({1})
Er hat natürlich auch die bayerischen Interessen gleich
mit eingebracht und sie ganz elegant in dieses System
eingefädelt . Neben ihm sitzt Kollege Rehberg aus Mecklenburg-Vorpommern . Auch er hat das bemerkt und geschmunzelt .
({2})
So merkt man, dass wir hier zwar alle Bundespolitiker
sind, aber natürlich alle eine Heimat haben und landespolitische Interessen eine Rolle spielen . Deswegen ist es
auch nicht ganz einfach, hier unvoreingenommen über
die Interessen des Bundes zu reden; denn wir alle haben
natürlich durchaus auch regionale Interessen .
Interessant - diese kleine Anmerkung sei mir gestattet - war das Plädoyer des Kollegen Barthl Kalb gegen
eine Bundesautobahngesellschaft . Daraufhin hat sich
Bundesverkehrsminister Dobrindt, der aus dem gleichen
Bundesland kommt, in die hinteren Reihen der Union
verzogen, damit man den Konflikt nicht gleich sieht.
Denn der eine, der Bundesminister, möchte die Gründung
einer Bundesautobahngesellschaft, und der andere - auch
er kommt aus Bayern - stellt sich als Haushälter hin und
sagt: Gibt es nicht! - Man merkt, dass das alles streng auf
der Sachebene behandelt wird .
({3})
Man merkt, dass hier jeder seine eigene Herkunft, aber
auch seine eigene Fachlichkeit nicht verleugnen kann .
Die Differenzen, die man hier im Deutschen Bundestag bemerkt, hat man natürlich auch zwischen den Ländern und dem Bund . Das muss man eingestehen, wenn
man ehrlich ist . Natürlich ist es so, dass sich die Länder,
wenn sie sich einigen, in der Regel nicht zu ihren Lasten
einigen . Das habe ich in den letzten Jahren im Deutschen
Bundestag noch nicht erlebt; das hat nie stattgefunden .
Der Bund hingegen ist auch nicht als der große Samariter
bekannt, der nur gibt und schenkt .
({4})
- Kollege Brinkhaus, ich glaube Ihnen vieles, aber so
wirken Sie nicht . - In der Vergangenheit hat der Bund
seine Interessen am Ende auch relativ hart durchgesetzt .
Oder wollen Sie mir sagen, dass Bundesfinanzminister
Schäuble ein elendiges Weichei ist und nicht in der Lage
ist, Interessen zu verteidigen, von den Länderministern
über den Löffel balbiert wird und als Finanzminister eine
Fehlbesetzung ist? Kollege Brinkhaus, das würde ich Ihnen nicht abnehmen .
({5})
Sie würden es auch nicht sagen . Aber das wäre natürlich
die Konsequenz, wenn wir dem Bund vorwerfen würden,
dass er hier ständig wider seine eigenen Interessen handelt .
Nachdem wir nun festgestellt haben, dass es Interessen der Länder gibt - Kollege Dobrindt unterhält sich
gerade darüber - und dass es Interessen des Bundes gibt,
muss man sie natürlich alle irgendwann vereinen . Dass
sich hier heute niemand mit tapferen Vorschlägen, wie
das aussehen soll, vorgewagt hat, liegt einfach daran,
dass wir alle noch nicht genau wissen, wie diese Einigung aussieht . Wir kritisieren natürlich, dass Bund und
Länder ohne das Parlament verhandeln .
({6})
Da sind wir uns alle einig; denn wir sind ja das Parlament . Im Ergebnis werden wir aber auch hier darüber
abstimmen müssen .
Ich glaube, das Wesentliche ist, dass hier alles mit allem zusammenhängt . Das ist eine alte Haushälterwahrheit . Die Frage, wie das mit dem Soli weitergeht, ist gar
nicht zu beantworten, ohne die Frage zu beantworten,
wie die Bund-Länder-Finanzbeziehungen laufen . Die
Frage, ob es einmal eine Finanztransaktionsteuer geben
wird, hat durchaus auch etwas damit zu tun, wie die finanzielle Lage des Bundes aussieht . Die Frage, wie wir
die Unterbringung und Integration von Flüchtlingen finanzieren, hat - man kann es kaum glauben - auch etwas
mit den Bund-Länder-Finanzbeziehungen zu tun .
Wenn wir uns anschauen, was noch alles damit zu tun
hat - ich möchte jetzt gar nicht über das Thema Verkehr
reden; das wurde in den letzten Tagen häufig genug gemacht -, dann sollten wir einfach feststellen: Wir haben
unterschiedliche Interessen . Wir werden die Interessen
des Bundes mit vertreten . Aber natürlich wird es Kompromisse geben . Wir alle glauben nicht, dass die Länder
auf ihre Interessen verzichten. Ich halte Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble für einen unerschrockenen
Kämpfer im Interesse der Sache des Bundes . Im Gegensatz zu Herrn Brinkhaus halte ich ihn nicht für ein Weichei .
Vielen Dank .
({7})
Vielen Dank . - Damit sind wir am Ende dieses Tagesordnungspunktes angekommen .
Zwischen den Fraktionen wurde vereinbart, dass die
Vorlage auf Drucksache 18/8079 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen wird . Sind Sie
damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall . Dann ist
die Überweisung so beschlossen .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Oliver
Krischer, Herbert Behrens, Dr . Anton Hofreiter,
Dr . Sahra Wagenknecht, Dr . Dietmar Bartsch,
Stephan Kühn ({0}) und weiterer Abgeordneter
Einsetzung eines Untersuchungsausschusses
Drucksache 18/8273
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({1})
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . - Ich höre dazu
keinen Widerspruch . Dann ist so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache . Das Wort hat der Kollege
Oliver Krischer, Bündnis 90/Die Grünen .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Seit Bekanntwerden des Abgasskandals am 22 . September letzten Jahres durch die Veröffentlichung der EPA
sind sieben Monate vergangen . Inzwischen liegt uns ein
Untersuchungsbericht aus dem Kraftfahrt-Bundesamt
vor . Er hat mit einer Legende aufgeräumt, die vorher in
diesem Saal, in den Ausschüssen und auch in der ÖffentJohannes Kahrs
lichkeit immer wieder verbreitet worden ist, nämlich mit
der Legende, dass der Abgasskandal ein Problem von
VW ist und von ein paar wild gewordenen kriminellen
Ingenieuren ausgelöst worden ist . Der Untersuchungsbericht, den Herr Dobrindt vorgelegt hat, so defizitär, wie
er ist - dazu komme ich gleich noch -, sagt aber eines
klar und deutlich: Es handelt sich um ein flächendeckendes Problem der Automobilindustrie . Ich sage auch ganz
deutlich: nicht nur der deutschen, sondern der gesamten
Automobilindustrie .
Wir haben nun gelernt, warum die Autos auf dem
Papier immer sauberer werden und die Grenzwerte angeblich einhalten, tatsächlich aber in den Städten die
Stickoxidwerte immer weiter steigen, jedenfalls nicht
sinken, Deutschland mit einem Vertragsverletzungsverfahren konfrontiert ist, Klagen und Gerichtsurteile drohen und - man kann es nicht oft genug sagen - jedes Jahr
10 000 Menschen durch Verkehrsemissionen sterben .
Das sind doppelt so viele wie Unfalltote . Es sollte jede
Anstrengung der Politik wert sein, auch nur einen dieser
Toten zu vermeiden .
({0})
Meine Damen und Herren, ich habe - da kann ich für
meine Fraktion und, ich glaube, auch für die Fraktion
der Linken sprechen - nach den letzten sieben Monaten
meine Zweifel, dass diese Bundesregierung hier wirklich
alle Anstrengungen unternimmt . Das möchte ich in aller
Deutlichkeit sagen .
({1})
Wir beantragen heute die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses, unter anderem deshalb, weil wir
wissen möchten, warum uns Wissenschaftler, Journalisten und Studien seit Jahren immer wieder auf dieses
Problem hinweisen, die Öffentlichkeit davon weiß, in
Zeitschriften darüber berichtet wird, aber das zuständige
Verkehrsministerium und die nachgeordneten Behörden
überhaupt nicht reagiert haben .
({2})
Meine Damen und Herren, wie kann es sein, dass
staatliche Institutionen die massenhaften Hinweise auf
das Manipulieren, Frisieren, Betrügen und Schummeln
ignorieren? Dafür gibt es bis heute keine Erklärung . Das
muss aufgeklärt werden .
({3})
Es muss auch aufgeklärt werden - das sage ich hier
ganz bewusst -, ob diese staatlichen Stellen am Ende
nicht sogar mitgeholfen haben, ob sie Mittäter waren, ob
es hier eine Kumpanei gab,
({4})
ob Institutionen der Autoindustrie geholfen haben, ob
ganz gezielt Maßnahmen ergriffen wurden, wie zum
Beispiel die Nichtumsetzung von EU-Vorschriften, um
Sanktionen zu vermeiden . Das muss, wie gesagt, aufgeklärt werden .
({5})
Es muss vor allen Dingen aufgeklärt werden: Was sind
eigentlich die Konsequenzen aus diesem Abgasskandal?
Wir wissen jetzt - nach Monaten des Drucks, nach Monaten öffentlicher Debatten -: Was vorher immer abgestritten worden ist, ist ein massenhaftes Phänomen . Aber
was die Konsequenz aus diesem Abgasskandal ist, dazu
hören wir gar nichts . Auf deutschen Straßen fahren Millionen Autos . Wir hören: 630 000 werden zurückgerufen,
und VW ändert irgendetwas an der Software . Aber ob die
Emissionen zurückgehen und ob auch die Fahrzeuge, die
jeden Tag neu verkauft werden, den Anforderungen entsprechen, das wissen wir nicht . Dazu hört man nichts,
dazu war nichts zu lesen . Dazu gab es von dieser Bundesregierung nichts, und, meine Damen und Herren, das
muss aufgeklärt werden .
({6})
Wie nötig das Ganze ist, zeigen die Veröffentlichungen des gestrigen Tages . Wir haben gehört: Es gibt massive Vorwürfe gegen Opel, gegen das Modell Zafira.
Diese Vorwürfe sind keineswegs neu . Sie werden von
der Deutschen Umwelthilfe, von Journalisten, von Wissenschaftlern, von Ingenieuren, die nachgemessen haben, immer wieder vorgetragen . Doch die Reaktion der
Bundesregierung auf diese Enthüllungen ist gleich null .
Ich habe gestern gehört, man werde das prüfen . Ja, meine Damen und Herren, das ist ja genauso, als wenn die
Feuerwehr zum brennenden Haus kommt, bei dem die
Flammen aus dem Dach schlagen, und sagt: Wir werden
erst einmal die Nachbarn fragen, ob es wirklich brennt .
Es ist klar: Hier läuft etwas falsch . Ich erwarte von
dieser Bundesregierung, dass gehandelt wird, und weil
nicht gehandelt wird, müssen wir uns damit auseinandersetzen, was die Konsequenzen sind .
({7})
Zum Schluss muss eines klar sein: Wir haben es hier
mit einem organisierten Staatsversagen zu tun; denn diese Abgasmanipulationen und dieses Frisieren, Schummeln und Betrügen waren nur möglich, weil der Staat
nicht hingeguckt hat, weil er weggeguckt hat, weil er
möglicherweise sogar mitgeholfen hat . Wir müssen klären, wie es dazu kommen konnte, dass bis heute die Enthüllungen nicht durch das Kraftfahrt-Bundesamt, nicht
durch das Verkehrsministerium erfolgen, sondern von
der amerikanischen Umweltbehörde, von Journalisten,
von Wissenschaftlern, von Ingenieuren kommen . Das
sind wir der deutschen Automobilindustrie, das sind wir
den Menschen in unserem Land schuldig .
Sie müssen jetzt zum Schluss kommen .
Eine Automobilindustrie, die die saubersten Autos der
Welt produzieren soll, muss auch ordentlich kontrolliert
werden . Dass es anders nicht geht, haben die letzten sieben Monate mit diesem Vertrauensverlust gezeigt .
Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren .
({0})
Als Nächstes spricht der Kollege Ulrich Lange, CDU/
CSU-Fraktion .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Kollege Krischer, mal ganz ruhig, ganz sachte
und in aller Sachlichkeit: Wir diskutieren gerade über die
Einsetzung eines Untersuchungsausschusses . Da sollte
man nicht am Beginn des Verfahrens mit irgendwelchen
Unterstellungen oder Vorverurteilungen arbeiten
({0})
oder über organisiertes Staatsversagen reden, sondern
man sollte genau das, worum es Ihnen ja angeblich geht,
ernst nehmen und ruhig, sachlich und lückenlos aufklären . Ich glaube, wenn wir uns darauf verständigen können, dann würden auch Sie der Sache einen Dienst erweisen; denn das, was Sie jetzt gerade wieder geboten
haben, war leider ein Beispiel der Unsachlichkeit .
({1})
Ich glaube auch, dass wir uns alle einig sind, dass bewusste Manipulationen an Fahrzeugen und an Abgaswerten zu verurteilen sind, dass wir uns alle einig sind, dass
wir lückenlos aufklären wollen und müssen und dass wir
schon vieles aufgeklärt haben und dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden müssen . Das ist
ein ganz normales rechtsstaatliches Verhalten, und, lieber
Kollege Krischer, dafür zeichnen sich dieser Staat und
dieses Parlament im Zweifel immer noch aus .
({2})
Und genau mit dieser Aufklärung hat unser Bundesminister Alexander Dobrindt begonnen, als die ersten
Vorwürfe gegen VW kamen . Er hat zur sachlichen, lückenlosen und gründlichen Aufklärung eine Untersuchungskommission eingesetzt . Wenn man sich den
Bericht und die Anzahl der überprüften Fahrzeuge, Fahrzeugtypen usw . anschaut, dann sieht man, dass diese Untersuchungskommission die Sache nicht nur ein bisschen
oberflächlich abgehandelt hat, lieber Kollege, wie Sie
behauptet haben, sondern in einer gewissen Tiefe unter
die Lupe genommen hat . Es hat ja auch schon erste Konsequenzen gegeben .
Nachdem wir auch ansonsten immer der Meinung
sind, dass solche Dinge sachlich und gründlich gemacht
werden müssen, ist Ihr Vorwurf, dass das ein paar Tage
oder Wochen gedauert hat, so wohl nicht aufrechtzuerhalten. Als Stichworte nenne ich nur: verpflichtende
Rückrufe, Überprüfungen durch das KBA, Thermofenster, technische und juristische Beurteilung .
({3})
- Lieber Kollege Hofreiter, genau diese Aufregung nützt
jetzt doch nichts . Bleiben Sie am Ende einer solchen Debatte vor Pfingsten doch einfach einmal ruhig! Lassen
Sie den Geist schon ein bisschen auf sich wirken! Dann
werden wir das in aller Ruhe hinbekommen .
({4})
Wir setzen weiter auf diese Maßnahmen und auf das,
was wir schon begonnen haben .
({5})
- Das ist eben eine Unterstellung, lieber Kollege
Hofreiter .
({6})
- Noch einmal: Wenn man etwas aufklären will, dann beginnt man nicht mit Unterstellungen, sondern dann wird
man das mit aller Akribie auch tun .
({7})
Sie sollten den heutigen Tag und die heutige Debatte, in
der es lediglich um die Überweisung eines Antrags zur
Einsetzung eines Untersuchungsausschusses geht, nicht
wieder zum Klamauk verkommen lassen . Das wäre schade und der Sache einfach nicht angemessen .
({8})
Es muss natürlich geklärt werden, was verboten ist
und mit welchen Abschalteinrichtungen man zulässigerweise gearbeitet hat . Ich weise auch noch einmal darauf
hin, dass das KBA bereits angewiesen ist, sogenannte
Dopingtests durchzuführen .
({9})
- Wir werden darüber sprechen . Wir haben dann alle
Zeit, das im Detail zu klären, wenn Sie damit nicht einverstanden sind . - Ferner ist zu nennen: Aufbau staatlicher Prüfstände beim KBA .
({10})
Daneben haben wir natürlich die Frage, was europarechtlich getan worden ist und noch zu tun ist, und es geht
selbstverständlich auch um die Aussagekraft von Emissionstests .
({11})
Alle, die wir hier sitzen, wissen ja - vorausgesetzt,
wir entfernen uns jetzt vom Schaufenster -, über welche
Tatbestände wir uns im Detail unterhalten wollen und
werden .
Durch den Untersuchungsausschuss, dessen Einsetzung ich aufgrund der guten Arbeit der Untersuchungskommission nicht zwingend nachvollziehen kann, besteht die Chance, Vertrauen zurückzugewinnen, das die
Automobilindustrie - nicht wir, lieber Kollege Krischer verloren hat .
({12})
Wir konstruieren Autos nicht . Wie jeder andere Bürger
auch kaufen wir die Autos und verlassen wir uns darauf,
dass diese Autos bester Qualität sind .
({13})
Wir werden diesen Untersuchungsausschuss nutzen, um
dieses Vertrauen „aufzuklären“ und wieder zu stärken .
({14})
Die erste Herkulesarbeit wurde mit dem Bericht bereits erledigt . Schauen Sie sich noch einmal - ich habe es
schon gesagt - die Vielzahl der untersuchten Fahrzeuge
an .
Wir als Parlament müssen uns aber auch über eines
im Klaren sein, wenn wir nach Konsequenzen und nach
Rechenschaft rufen: Es ist nicht Sache des Parlaments
und eines Untersuchungsausschusses, die Verantwortlichen letztlich strafrechtlich zur Rechenschaft zu ziehen .
({15})
- Ich sage das hier ja nur, und zwar ganz direkt, weil
die eine oder andere Sache nicht von ungefähr kommt .
Wenn Sie in die Presse schauen, dann sehen Sie, dass
manchmal einiges vermengt wird . Da müssen wir schon
ganz klar sagen: Wir haben volles Vertrauen in unseren
Rechtsstaat, in die Arbeit der Staatsanwaltschaft und der
Verfolgungsbehörden . Auch diese sind dann gefordert .
All diese Dinge können wir, wenn der Untersuchungsausschuss eingesetzt werden sollte, neben den vielleicht
auch aufkommenden Fragen zur Rolle der Landesregierung in Niedersachsen, lieber Kollege Krischer, diskutieren . Ich denke, wir sollten diesen Ausschuss - ihn zu
fordern, ist das gute Recht der Opposition - nutzen, um
sachlich aufzuklären . Ich kann Sie im Hinblick auf Ihre
Rede von vorhin nur bitten - ich sage es ganz offen: ich
fordere Sie nicht auf, sondern ich bitte Sie, Herr Kollege Krischer -: Missbrauchen Sie demokratische Rechte
nicht zum Klamauk! Machen wir unsere sachliche Arbeit!
Danke schön .
({16})
Vielen Dank . - Das Wort hat jetzt der Kollege Herbert
Behrens, Fraktion Die Linke .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben es mit zweierlei Abschalteinrichtungen zu tun:
zum einen mit der speziellen Hardware und Software, wie
sie bei Automobilfirmen eingesetzt worden sind, um den
Ausstoß von Schadstoffen zu manipulieren . Das hat dazu
geführt, dass Millionen Fahrzeuge viel mehr Stickoxide
ausgestoßen haben als erlaubt . Stickoxide haben - das
wissen wir - schwere gesundheitliche Schäden zur Folge . Insofern ist das keine Kleinigkeit . Darum müssen wir
gründlich und rückhaltlos aufklären, und zwar hier und
jetzt .
({0})
Zum anderen geht es um eine Abschalteinrichtung
ganz anderer Art, nämlich die offensichtliche Abschaltung im Hause des Ministers Dobrindt . Was passierte,
wenn man Fragen nach dem Abgasskandal stellte? Das
Ministerium schaltete ab, produzierte erst einmal Vernebelungsschwaden und ließ nichts weiter von sich hören .
Erst dann, als nicht nur VW, sondern auch andere Automobilhersteller in den Fokus gerieten und sich herausstellte, dass auch sie betrogen und falsche Abgaswerte
angegeben haben, wurde das Ministerium ein bisschen
aktiver . Es setzte eine Untersuchungskommission ein,
die dann allerdings zwei Monate lang die Emissionen
bei den Fahrzeugen nachmessen ließ, aber fünf Monate
brauchte, um diese Messungen auszuwerten .
Das ist eine ganz offenkundige Schieflage, die nicht
dazu geführt hat, beispielsweise die jüngsten Skandale,
die in den letzten Tagen bekannt geworden sind, zu vermeiden . Das ist echtes Versagen des zuständigen Ministeriums . Das ist nicht zu tolerieren .
({1})
Schließlich geht es um die Gesundheit der Menschen
hier im Land . Es geht um Hunderttausende Arbeitsplätze
in der Automobilindustrie, die von den Konzernspitzen
durch jahrelange Manipulationen aufs Spiel gesetzt worden sind . Hier ist Vertrauen zerstört worden, das eben
nicht mit Geheimniskrämerei zurückgewonnen werden
kann . Darum müssen wir tätig werden .
Ich will im Bild des Abgasskandals bleiben . Mit der
Informationspolitik des Ministeriums wurden Grenzwerte weit überschritten, und zwar die Grenzwerte des politisch Erträglichen . Die Opposition hat gar keine andere
Wahl, als das schärfste Schwert zu ziehen und einen Untersuchungsausschuss zu beantragen .
Wir akzeptieren den Umgang mit dem Abgasskandal
so in keiner Weise . Nicht nur, dass im Hause Dobrindt
das Fragerecht des Parlaments beschnitten wurde - das
kennt man schon ein bisschen länger -: Das Ministerium
hat es auch nie für nötig gehalten, auf Umweltverbände
und Verkehrsklubs rechtzeitig zuzugehen . Diese haben
schon vor vielen Jahren und Monaten festgestellt: Es
gibt überhöhte Abgaswerte . Das Ministerium soll sich
darum kümmern . - Die Deutsche Umwelthilfe und der
ADAC haben Daten aus eigenen Messungen vorgelegt .
Null Interesse beim Ministerium! Dort zieht man es vor,
die Automobilindustrie, das heißt die Verursacher dieses
Skandals, zu hofieren, ihnen Geschenke in Form einer
E-Auto-Prämie zu machen und eine zahnlose Untersuchungskommission einzusetzen .
Jetzt geht es darum, dass wir die Betrügereien nicht
zulassen; sie müssen jetzt beendet werden . Sie müssen
schonungslos aufgeklärt werden, und darum brauchen
wir diesen Untersuchungsausschuss .
({2})
Wenn wir über den Abgasskandal reden und einen
Untersuchungsausschuss fordern, dann geht es nicht nur
um die Skandale in der Vergangenheit . Sie haben es alle
mitbekommen: Gestern und heute haben der WDR, der
Spiegel und die Deutsche Umwelthilfe Untersuchungsergebnisse zu weiteren Fahrzeugen vorgelegt . Sie haben
festgestellt: Die Abgaswerte stimmen nicht . Es ist offenbar auch bei zwei Dieselfahrzeugen von Opel eine Motorsoftware eingesetzt worden, die genau das bewirkt,
was bei VW-Fahrzeugen passiert ist .
({3})
Der Opel Zafira war von der Untersuchungskommission des Verkehrsministeriums in Gruppe II eingestuft
worden . Man hat erhöhte Werte festgestellt . Aber Gruppe II besagt nicht, dass man schadstoffbeeinflussende
Software festgestellt hat . Vielmehr geht es hier nur um
überhöhte Werte . Man hat aber gesagt: Es hat keine Abschalteinrichtung festgestellt werden können . - Doch gerade das haben heute der Spiegel, der WDR und die DUH
belegt: Gleich mehrere Abschalteinrichtungen wurden
dort identifiziert.
Bei den gefundenen Einrichtungen geht es nicht nur
um das häufig von Herrn Dobrindt erwähnte Thermofenster, das es übrigens nicht gibt - das ist ein Kunstbegriff
aus der Automobilindustrie -, sondern darum, dass bei
bestimmten Drehzahlen und bei entsprechendem Luftdruck die Abgasbehandlung einfach abgeschaltet wird .
Es stellt sich also die Frage: Hat das Verkehrsministerium wirklich alles darangesetzt, Abschalteinrichtungen
zu erkennen? Warum wurden keine Schritte unternommen, den Betrug zulasten der Verbraucher, des Klimas
und der Umwelt zu beenden?
Auch den Abgeordneten der Koalitionsfraktionen
muss zumindest jetzt klar werden: Es bedarf eines Untersuchungsausschusses, der schonungslos alles auf den
Tisch packt, was wir bislang nicht erkennen konnten .
Darum muss dieser Untersuchungsausschuss heute beschlossen werden .
({4})
Wir haben es gemeinsam in der Hand, dass sich in Zukunft Autokäuferinnen und -käufer darauf verlassen können, dass die Hersteller ihnen die richtigen Angaben zu
Verbrauch und Abgaswerten vorlegen, wenn sie sich ein
Auto kaufen . Der Untersuchungsausschuss muss klarmachen: In Zukunft haben Abgasbetrüger keine Chance
mehr, sich zulasten der Gesundheit und des Klimas zu
bereichern .
Vielen Dank .
({5})
Vielen Dank . - Für die SPD-Fraktion spricht jetzt die
Kollegin Kirsten Lühmann .
({0})
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Anwesende! „Nichts
ist trügerischer als eine offenkundige Tatsache .“ Wir
Freunde der Figur Sherlock Holmes kennen dieses Zitat
natürlich . Die offenkundige Tatsache, über die wir heute
reden, ist, um einen Titel des Stern zu zitieren, der „große
Sprit-Schwindel“ . Aber das wussten wir seit Jahren . Die
Mediathek weist dazu auf Artikel von 2003 bis 2014 hin .
Klar war aber auch immer - ich zitiere -: „Ob der ermittelte Verbrauchswert vom Kunden in der Fahrpraxis erzielt werden kann, scheint eher zweitrangig .“ Zitatende .
Dank des Untersuchungsberichtes des Ministers
Dobrindt und seines Hauses liegt auch das Trügerische
dieser offenkundigen Tatsache auf dem Tisch . Neben
dem Einsatz von Betrugsoftware nutzen viele Fahrzeugherstellenden Regelungslücken in der EU-Richtlinie aus,
die Thermofenster, wie wir sie genannt haben .
Denn zu der Frage, was dem Motor schadet oder was
noch akzeptabler Verschleiß ist, gehen die Meinungen
stark auseinander, und die Richtlinie regelt das nicht . Sie
regelt auch nicht, was man tun kann, wenn man der Meinung ist, das schadet dem Motor . Kann man bei TemperaHerbert Behrens
turen, bei Drehzahlen oder Geschwindigkeiten abschalten? Das ist nicht geregelt .
({0})
Es ist unsere Art, mit trügerischen Tatsachen umzugehen, indem wir schnell und umfassend ermitteln, was tatsächlich passiert ist, differenziert bewerten und dann entsprechende Änderungen auf den Weg bringen, und zwar
sowohl national als auch auf europäischer Ebene . Das ist
der richtige Weg, liebe Kolleginnen und Kollegen .
({1})
Mit Blick auf das heutige Datum muss ich befürchten,
dass das Ziel der Antragstellenden nicht ist, zügig die nötigen Gesetze anzustoßen . Sie bringen heute den Antrag
auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses ein . Er
wird arbeiten und vermutlich im Sommer nächsten Jahres seinen Abschlussbericht vorlegen . Damit ist die Umsetzung eventueller Ergebnisse nicht mehr möglich, weil
wir im Herbst nächsten Jahres Bundestagswahlen haben;
das wissen Sie ganz genau .
({2})
Über den Inhalt des vorliegenden Antrags wird es im
1 . Ausschuss sicherlich eine umfassende Debatte geben .
Das ist dringend nötig; denn Sie fragen in Ihrem Antrag
unter anderem, ob es im angedachten Untersuchungszeitraum ab 2007 für die Bundesregierung Hinweise auf
Abweichungen zwischen Herstellerangaben und Realbetriebsmessungen gegeben hat . Liebe Kolleginnen und
Kollegen, mit einem Blick in die Presse, die ich eben zitiert habe, hätten Sie das selber feststellen können .
({3})
Denn es gibt nicht nur den eben von mir angeführten
Stern-Artikel von November 2007 . Ich zitiere jetzt einmal aus einem Auto Bild-Artikel von 2004 . Das heißt,
noch eine Bundesregierung weiter zurück wusste davon
und hat nach Ihrer Lesart nichts getan . In dieser Bundesregierung gab es meines Wissens auch einige grüne
Minister und Ministerinnen . In der Auto Bild vom 1 . Juli
2004 heißt es:
Das hat jeder schon erlebt: Der Verbrauch des Autos stimmt nicht mit der Werksangabe überein . Kein
Wunder . Die Werksangabe wird unter Laborbedingungen erfahren .
Also, wir sowie diese, die letzte und die vorletzte Regierung wussten es schon immer .
({4})
Die Frage, vor der wir nun stehen, lautet: Was sollen wir
tun?
In einem weiteren Punkt Ihres Antrags fragen Sie nach
den Abschalteinrichtungen . Im Untersuchungsbericht des
BMVI wird zu den normalen Betriebsbedingungen und
der Zulässigkeit von Abschalteinrichtungen ausgeführt:
Deshalb wäre es bereits zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Verordnung . . . angezeigt gewesen, dass
der europäische Gesetzgeber das Tatbestandsmerkmal der „normalen Betriebsbedingung“ präzisiert . . .,
um auf diese Weise eine auch für die Genehmigungsbehörde, in Deutschland das KBA, handhabbare Anwendung der Norm zu ermöglichen .
({5})
Das heißt, es ist kein nationales Problem . Nicht nur wir
wollten das nicht . Vielmehr handelt es sich um ein europäisches Problem . Damit ist Ihre Frage schon beantwortet . Ja, wir brauchen eine Klarstellung in Brüssel .
Wir werden sie jetzt in die Wege leiten und nicht erst im
Sommer 2017 .
({6})
Wir haben hier schon einiges angerissen und gefordert . Zum Beispiel hat mein Kollege Arno Klare gefordert, staatliche Prüfstände einzurichten und die Quellcodes offenzulegen . Der Minister hat vieles zugesagt .
Einiges befindet sich bereits in der Umsetzung. Dabei
gibt es noch viele weitere Bausteine, über die wir nun
diskutieren müssen, sei es die Wiedereinführung der
Endrohrmessung bei der Abgasuntersuchung oder die
Fortführung einer echten Energiewende im Verkehr .
({7})
Unser großes Ziel muss doch eine solche Energiewende sein, um mittel- und langfristig CO2-Emissionen und
Schadstoffe maßgeblich zu reduzieren . Diese Regierung
arbeitet mit konkreten Maßnahmen darauf hin . Das ist
der richtige Weg .
({8})
Dafür benötigen wir keinen Untersuchungsausschuss .
Ich persönlich werde mich trotz dessen, was ich eben
gesagt habe, gerne an einem solchen Untersuchungsausschuss beteiligen und mich konstruktiv in die Debatten
einbringen .
({9})
Ich hoffe nur, dass auch die Antragstellenden ebenso
konstruktiv mitarbeiten und diesen Ausschuss nicht als
politische Bühne nutzen, sondern als ein Gremium, das
uns möglicherweise Erkenntnisgewinne für die Arbeit
der nächsten Bundesregierung geben kann . Darauf wird
diese Bundesregierung jedoch nicht warten .
({10})
Wir werden die erforderlichen Veränderungen sofort in
Angriff nehmen . Das erwarten die Menschen von uns .
Herzlichen Dank .
({11})
Vielen Dank . - Für die CDU/CSU-Fraktion spricht
jetzt der Kollege Oliver Wittke .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Lassen Sie mich mit einer Vorbemerkung beginnen . Herr
Krischer, es ist nicht in Ordnung, dass Sie heute zum
wiederholten Mal zwei völlig unterschiedliche Sachverhalte miteinander vermischen und versuchen, einen Gesamtzusammenhang herzustellen . Sie haben heute zum
wiederholten Mal vor diesem Hohen Haus die kriminelle
Energie, die im VW-Konzern dazu geführt hat, dass in
betrügerischer Absicht Software eingesetzt wurde,
({0})
um Ergebnisse zu verändern, in einen Topf geworfen mit
dem Ausnutzen von Regelungslücken, wie die Kollegin Lühmann das gerade dargestellt hat . Das ist schlicht
unseriös . Es gehört sich nicht, dass kriminelle Machenschaften mit einem anderen Sachverhalt vermischt werden .
({1})
Damit haben Sie schon offenbart, worum es Ihnen eigentlich geht . Es geht Ihnen nicht um Aufklärung, sondern am Ende darum, eine ganze Branche in Misskredit
zu bringen .
({2})
Es geht Ihnen darum, einen Feldzug gegen das Automobil fortzusetzen . Es geht Ihnen eben nicht um Aufklärung,
um eine Verbesserung der Situation . Diese politische Absicht ist heute hier noch einmal offenbar geworden .
({3})
Ich will sagen, dass wir in der Tat vollstes Vertrauen in
die Arbeit des Bundesverkehrsministeriums und des Bundesverkehrsministers, aber auch in die Arbeit der nachgeordneten Behörden haben . Dieses Vertrauen gründet sich
auf den bisherigen Umgang mit dieser Angelegenheit,
die in einem Untersuchungsausschuss in den nächsten
Monaten näher beleuchtet werden soll . Bundesminister
Dobrindt hat besonnen, angemessen, konsequent und zügig reagiert, genau so, wie wir das erwartet haben .
({4})
Er ist nicht in Panikmache verfallen, hat nicht, wie Sie
das machen, skandalisiert,
({5})
sondern hat in der richtigen Reihenfolge zunächst aufgeklärt, dann bewertet und anschließend Konsequenzen
gezogen . So geht seriöse Politik . Das unterscheidet ihn
von Ihnen .
({6})
Unmittelbar nach Bekanntwerden, Frau Kollegin
Künast, ist eine Untersuchungskommission eingesetzt
worden, die insgesamt 53-mal getagt hat . Die Ergebnisse
sind nach wenigen Monaten präsentiert worden, im Übrigen anders als zu Ihrer Zeit als Bundesumweltministerin,
als Sie auf den ADAC-Artikel nicht reagiert haben .
({7})
Darum freuen wir uns auch, Sie wahrscheinlich im Untersuchungsausschuss begrüßen zu dürfen; denn Sie waren
damals mit in der Regierung, als das vorgetragen wurde,
was Ihre Kolleginnen und Kollegen in der Fraktion offenbar zum Gegenstand des Untersuchungsausschusses
machen wollen .
Herr Kollege Wittke, ich muss Sie fragen: Gestatten
Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Krischer?
Nein, Frau Präsidentin, ich möchte gerne im Zusammenhang vortragen .
Gut, danke .
Das Kraftfahrt-Bundesamt ist angewiesen worden, alle
relevanten Fahrzeuge der Euro-5- und Euro-6-Klasse auf
unzulässige Abschalteinrichtungen zu untersuchen . Das
Ergebnis ist Ihnen allen bekannt . Kein anderer Hersteller
hat in betrügerischer Absicht Software manipuliert, so
wie es im VW-Konzern vorgekommen ist .
({0})
Das ist ein Fakt, an dem Sie nicht vorbeikommen, auch
wenn es Ihnen nicht schmeckt . Es ist ein Fakt .
Aber es ist auch richtig: Es sind sogenannte Thermofenster genutzt und weit ausgelegt worden, sodass als
erste Konsequenz aus den Untersuchungen insgesamt
630 000 Fahrzeuge deutscher Hersteller, nämlich von
Audi, von Opel, von Porsche, von Mercedes und von
VW, zurückgerufen und neu eingestellt werden . Damit
wird dieser breite Ermessensspielraum künftig deutlich
eingeengt . Somit kommen wir real zu einer Verbesserung
der Situation . Auch das können Sie doch nicht leugnen .
Hier geht es nicht um zukünftige Fahrzeuge, sondern um
die Fahrzeuge, die heute schon im Verkehr sind . Für die
wird es in den nächsten Wochen und Monaten eine Verbesserung der Abgassituation geben .
Wichtig ist: Es geht nicht nur um die 630 000 Fahrzeuge deutscher Hersteller . Auch ausländische Hersteller
haben ihre Bereitschaft angekündigt, genauso zu verfahren; denn nicht nur deutsche Hersteller sind betroffen,
sondern ganz genauso französische, italienische und andere Hersteller, nur dass die Zulassungsbehörden nicht in
Deutschland sitzen, weshalb nicht direkt Einfluss genommen werden kann . Das heißt, wir werden am Ende bei
weit über 1 Million Autos als Konsequenz aus dem Handeln des Bundesverkehrsministers zu einer deutlichen
Verbesserung kommen . Dafür, Herr Dobrindt, möchten
wir an dieser Stelle herzlich Danke sagen . Das ist eine
erste messbare Konsequenz aus diesem Skandal .
({1})
Ich will aber auch darauf hinweisen, dass dieser Untersuchungsausschuss nicht alle Probleme wird beseitigen können; diesen Eindruck sollten wir nicht erwecken .
Es wird weiterhin strafrechtliche Untersuchungen geben
müssen . Nicht umsonst ermittelt die Staatsanwaltschaft
derzeit gegen 17 Mitarbeiter im weiteren Umfeld des
VW-Konzerns . Da gehört das auch hin; denn wer gegen
Recht verstößt, muss in einem Rechtsstaat von der Justiz, von den Strafverfolgungsbehörden belangt werden .
Das kann nicht Aufgabe eines Untersuchungsausschusses sein . Darum ist es gut, dass die Justiz tätig geworden
ist . Darum ist es gut, dass wir auch da in den nächsten
Monaten wichtige Ergebnisse bekommen werden, die sicherlich zu weiteren Konsequenzen führen werden .
Aber es wird auch auf europäischer Ebene Handlungsbedarf geben; das hat die bisherige Debatte gezeigt . Wir
sind froh darüber, dass das Bundesverkehrsministerium
und Minister Dobrindt angekündigt haben, bei der Europäischen Union solle darauf gedrängt werden, dass
künftig strengere Maßstäbe gelten, dass es strengere Untersuchungen gibt, und zwar nicht nur bei der Typenzulassung, sondern auch im weiteren Verfahren, also auch
dann, wenn Autos zur Abgassonderuntersuchung zum
TÜV oder zu anderen Untersuchungsorganisationen
müssen, um diese Fahrzeuge ebenfalls sauberer zu bekommen . Auch das wird eine ganz wichtige Aufgabe in
den nächsten Monaten sein, die aber eben auf europäischer Ebene angegangen wird .
Für uns ist im Zusammenhang mit dem VW-Skandal
eines besonders wichtig: Es wurde nicht nur schnell,
konsequent und zielgerichtet gearbeitet, sondern es wurde vor allem für die Verbraucher kostenneutral das Vertrauen wiederhergestellt, was zwingend notwendig ist .
({2})
Denn Tatsache ist: Es werden in Deutschland nach wie
vor erstklassige Autos gebaut . Wir werden nicht zulassen, dass Sie eine ganze Branche in Verruf bringen . Darum war es so wichtig, jetzt zu handeln und die Folgen
des VW-Skandals nicht zulasten des Verbrauchers zu regeln .
({3})
Wir möchten, dass weiterhin deutsche Ingenieure in
deutschen Automobilfirmen gute Autos bauen.
({4})
Bei all den Debatten, die wir in den kommenden Wochen und Monaten führen werden, dürfen wir eines nicht
vergessen: Das, was bisher an Umwelterrungenschaften
im Bereich der Automobilindustrie geleistet worden ist,
kam zu einem ganz maßgeblichen Teil aus deutschen
Automobilunternehmen, war von deutschen Ingenieuren
entwickelt . Wenn hier jetzt so getan wird, als seien das
alles Verbrecher, wenn hier jetzt so getan wird, als seien
das die größten Luftverpester, wenn hier jetzt so getan
wird, als sei das eine Industrie von gestern, dann will ich
Ihnen ausdrücklich widersprechen: Wir haben größtes
Vertrauen in die deutsche Automobilindustrie . Wir sind
sicher, dass unsere Ingenieure auch künftig einen Beitrag dazu leisten werden, dass Automobile nicht nur in
Deutschland, sondern weltweit immer sauberer werden
und damit einen wesentlichen Beitrag dazu leisten, dass
die Luft in unseren Städten besser wird . Was Sie gesagt
haben, Herr Krischer, dass in den letzten 20 Jahren die
Luft immer schlechter geworden ist, ist falsch . Das Gegenteil ist der Fall: Die Luft ist deutlich besser geworden .
({5})
Eine letzte Bemerkung, die mir ganz besonders wichtig ist: Wir werden nicht zulassen, dass Sie diesen Untersuchungsausschuss zu einem Tribunal gegen eine ganze
Branche, die für Deutschland von immenser Bedeutung
und Wichtigkeit ist, umfunktionieren .
({6})
Wir sind an Aufklärung interessiert, aber nicht am politischen Kampf gegen die Automobilindustrie in Deutschland . Darum freuen wir uns auf die Diskussion in den
kommenden Monaten .
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
({7})
Vielen Dank . - Jetzt hat der Kollege Oliver Krischer
um eine Kurzintervention gebeten . Bitte schön .
Herr Wittke, da Sie meine Zwischenfrage nicht zugelassen haben, möchte ich an dieser Stelle ein paar Dinge
klarstellen .
Dass Automobilunternehmen die Abgasreinigungseinrichtung bei 10, 17 oder 20 Grad abstellen - man kann
darüber streiten, ob das rechtlich zulässig ist oder nicht -,
ist in der Sache eine Katastrophe . Wie kann es denn sein,
dass Fahrzeuge in Deutschland unterwegs sind, die den
größten Teil des Jahres keine in Betrieb befindliche Abgasreinigungseinrichtung haben? Auch Sie sollten dafür
kämpfen, dass sich das ändert .
({0})
Herr Wittke, es ist nicht in Ordnung, an dieser Stelle bloß auf die EU-Kommission zu verweisen . Schauen
Sie in die EG-Verordnung 715/2007 . Da steht klipp und
klar, dass eine Abgasreinigungseinrichtung bei allen auf
dem Gebiet der EU regelmäßig anzutreffenden Umgebungstemperaturen und -bedingungen zu funktionieren hat . Das ist eindeutig, und 10 Grad, 17 Grad oder
20 Grad sind Temperaturen, die in der EU nun einmal
regelmäßig anzutreffen sind . Ich würde gern einmal wissen - von der Bundesregierung, vom Verkehrsministerium -, auf welche Rechtsgutachter, auf welche Personen
man sich stützt, wenn man sagt: Das ist nicht eindeutig
geklärt . Das ist legal . - Die Juristen, die ich kenne, der
Wissenschaftliche Dienst des Bundestages und viele andere sagen nämlich klar: Das ist illegal . - Insofern sagen
wir: Diese Manipulationen sind genauso illegal wie die
bei VW .
Herr Wittke, Sie haben gesagt, es sei zügig gearbeitet
worden . Das ist nun wirklich ein Witz . Herr Staatssekretär Barthle, der hier sitzt, hat im November 2015 genau
von dem Platz aus geantwortet: Die Messungen sind abgeschlossen . - Das war im November 2015 . Der Bericht
ist im April 2016 vorgelegt worden . Was, in Herrgottsnamen, ist in der ganzen Zeit passiert? Das ist kein zügiges
Arbeiten . Ich kann daraus nur schließen: Das sollte entweder ausgesessen oder verschleppt werden . Am Ende
musste man das mit der Automobilindustrie noch kleinreden, damit der Bericht nicht so gefährlich wird . Das
hat nichts mit zügigem und konsequentem Aufklären zu
tun, Herr Wittke . Das können Sie an der Stelle so nicht
behaupten .
({1})
Herr Kollege Wittke .
Vielen Dank, Frau Präsidentin . - Herr Kollege
Krischer, erstens ist völlig klar: Wenn Abschalteinrichtungen bei Temperaturen von 20 Grad einsetzen, dann ist
das nicht in Ordnung, aber es ist auch nicht illegal, wie
Sie gesagt haben .
({0})
Wenn illegal gehandelt worden wäre, müsste längst die
Staatsanwaltschaft tätig werden . Sie ist aber nicht tätig
geworden .
({1})
Das zeigt doch, dass dieses Verhalten nicht mit dem von
VW vergleichbar ist . Sie vermischen hier wieder zwei
Zusammenhänge, die nichts, aber auch gar nichts miteinander zu tun haben .
({2})
Herr Krischer, jetzt hat überwiegend der Kollege
Wittke das Wort .
({0})
Zweitens . Wir sind froh darüber, dass wir nicht erst
einen Untersuchungsausschuss und dessen Ergebnisse
abwarten müssen, bis gehandelt wird . Dass beispielsweise 630 000 Fahrzeuge deutscher Hersteller und eine im
Moment noch nicht bekannte Zahl von Fahrzeugen ausländischer Hersteller zurückgerufen werden, um diesen
Missstand, den wir gemeinsam bemängeln, abzustellen,
ist ein Verdienst dieses Bundesverkehrsministers . Das
müssen Sie dann auch einmal zur Kenntnis nehmen und
akzeptieren .
({0})
Dazu sind Sie aber nicht bereit, weil Sie hier nur eine
politische Philippika reiten und eben nicht an politischer
Aufklärung interessiert sind .
({1})
Drittens . Natürlich werden wir auch auf europäischer
Ebene neue Regelungen brauchen; denn ich möchte
nicht, dass Typenzulassungen, die in Malta geschehen,
dafür sorgen, dass beispielsweise Partikelfilter auf den
deutschen Markt kommen und deutsche Hersteller, die
erstklassige Qualität liefern, aber teurer sind, verdrängen
und so dazu beitragen, dass die Reinigungswirkung von
Abgasreinigungsanlagen eben nicht mehr gegeben ist .
({2})
Das kriegen wir nur hin, wenn wir auf europäischer
Ebene tätig werden . Darum ist es falsch, wenn Sie sagen,
wir brauchten nicht auf europäischer Ebene zu handeln,
sondern müssten hier handeln . Nein, wir müssen beides
tun . Wir müssen hier handeln, wie wir das in den vergangenen Tagen bereits mit großem Erfolg getan haben, und
auf der anderen Seite Sorge dafür tragen, dass die Regeln in Europa so gesetzt werden, dass nicht in anderen
Ländern andere Standards gelten, die dafür sorgen, dass
unsere Städte verpestet werden . Wenn das das gemeinsame Ziel ist, werden wir schnell übereinkommen, werden
wir zu guten Regelungen kommen . Aber mit Schaum vor
dem Mund, so wie Sie hier eine Philippika - ich sage das
noch einmal - gegen die Automobilindustrie im Allgemeinen reiten,
({3})
werden Sie dieses Ziel nicht erreichen .
({4})
Vielen Dank . - Jetzt hat der Kollege Arno Klare,
SPD-Fraktion, das Wort .
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als letzter
Redner kurz vor dem Pfingstfest muss ich ja jetzt irgendetwas Versöhnliches sagen .
({0})
Ich werde mich bemühen .
Die Grundfrage, die ich mir stellen möchte, ist: Welches Erkenntnisinteresse hat ein solcher Untersuchungsausschuss? Da gibt es erst einmal das durchaus verständliche investigative Interesse - das ist in diesen zig Fragen
im Antrag aufgelistet -: Wer hat was wann von wem gewusst oder warum nicht? Und warum hat man nicht gehandelt? - Das kann ich nachvollziehen . Am Ende ist das
aber zu wenig . Das füllt vielleicht die Munitionsdepots
für den nächsten Wahlkampf mit irgendwelchen, wie ich
hoffe, Rohrkrepierern . Aber das ist nicht das, was ein Untersuchungsausschuss aus meiner Sicht leisten muss . Ein
Untersuchungsausschuss muss sich konstruktiv die Frage
stellen: Was muss man eigentlich tun, damit so etwas nie
wieder passiert?
({1})
- Doch, das müssen wir tun . - Die Bürgerinnen und Bürger, die die Fahrzeuge in dem guten Glauben kaufen,
dass diese Fahrzeuge den Umweltstandards entsprechen,
die sie sich wünschen und mit denen sie im Katalog angeboten werden, müssen sicher sein können, dass dem
auch so ist . Das heißt, das Ganze muss den Verbraucherinnen und Verbrauchern dienen und nicht dazu, dass Ihre
Munitionsdepots gefüllt werden .
({2})
Meines Erachtens geht es zum Beispiel um den Ausrollkoeffizienten. Das ist jetzt hoch technisch: Da wird
auf 140 Stundenkilometer beschleunigt und das Fahrzeug
dann im Leerlauf ausrollen gelassen . So wird der cwWert gemessen, der Rollwiderstand des Fahrzeugs . Das
sind Basiswerte auf dem Prüfstand, die nachher bei der
Typgenehmigung als entscheidende Faktoren eingehen .
Das machen die Unternehmen, die Automobilhersteller,
bisher selbst . Man muss sich die Frage stellen, ob das so
bleiben kann . Dazu möchte ich gern ein paar Leute hören, die mir erklären, wie man das anders machen kann,
sodass diese Aufgabe woandershin, zu unabhängigen Organisationen verlagert wird .
({3})
Das ist ein ganz wichtiger Punkt .
Es gibt, von den Unternehmen selbst durchgeführt, die
„Conformity of Production“-Prüfung . Das heißt, es wird
ein beliebiges Fahrzeug aus der Produktion genommen
und überprüft, ob es mit den bei der Typgenehmigung
festgelegten Parametern übereinstimmt . Auch das machen die Unternehmen selbst . Das könnte und sollte man
wahrscheinlich ebenfalls von unabhängigen Prüfern machen lassen . Dabei würden wahrscheinlich keine anderen
Werte herauskommen; aber es würde sehr viel Vertrauen
schaffen, wenn diese Prüfungen unabhängig wären .
Was ich hier schon einmal gefordert habe - wohlgemerkt: als Erster; darauf lege ich auch Wert -, war, dass
der Quellcode der Software offengelegt wird . Dem ist
das Ministerium gefolgt, logischerweise, nicht, weil ich
es gefordert habe, sondern weil es einfach eine logische
Konsequenz ist . Es geht aber noch weiter . Wir wissen,
dass Software in der Zukunft nicht mehr bei einem
Werkstattbesuch aufgespielt wird, sondern dass das über
die Luft gehen wird. Dann muss auch die Biografie der
Entwicklung dieser Software offen sein . Das heißt, man
muss sozusagen an jedem Punkt diese Software überprüfen können und Einblick haben, und zwar von unabhängigen Dritten, entweder vom KBA selber oder von vom
KBA beauftragten Unternehmen, die das können .
Noch etwas zur Endrohrmessung; Frau Lühmann hat
es gerade angesprochen . Ich habe hier schon mehrfach
gesagt, dass das wichtig und notwendig ist . Es gibt für
Benzinfahrzeuge die Möglichkeit, über den chemisch
repräsentativen Indikator CO, also Kohlenmonoxid, bestimmte Aussagen zu treffen . Wenn der Wert gut ist, sind
die anderen Werte auch gut . Das ist ein Zusammenhang,
den man auf dem Prüfstand bei größeren Messungen
festgestellt hat . Für Dieselfahrzeuge gibt es einen solchen Indikatorwert bisher nicht . Aus dem, was gemessen
wird, dem Abgastrübungswert, dem sogenannten k-Wert,
ergibt sich nicht automatisch, wie der Stickoxidwert ist .
Das heißt, man muss einen Auftrag erteilen - Frankreich
hat das gemacht -, einen solchen Test zu entwickeln . Das
müsste getan werden, um einen Indikatorwert zu haben,
der bei der einfachen Endrohrprüfung eine Rolle spielt .
({4})
- Dann kann man auch auf NOx schließen .
Was man übrigens sofort machen könnte, wäre, den
k-Wert, der derzeit bei 1,7 liegt, auf 0,2 zu reduzieren .
Bei 95 Prozent der geprüften Fahrzeuge liegt der Wert
bei 0,01, also weit darunter . TÜV und DEKRA haben in
einer großangelegten Studie nachgewiesen, dass 25 Prozent der Schadstoffemissionen von Dieselfahrzeugen
eingespart werden könnten, wenn man diesen Wert auf
0,2 setzte, was wir dürften und national auch sofort umsetzen könnten. Dann würden diejenigen herausgefischt,
die schlechter sind, die irgendwelche Rußpartikelfilter
ausgebaut haben oder deren Katalysatoren nichts mehr
taugen usw . Das können wir sofort tun .
Eine letzte Bemerkung . Frau Künast - jetzt ist sie
leider schon weg - war seinerzeit nicht Umweltministerin - Herr Wittke, da haben Sie sich geirrt -, sondern
Agrarministerin . Als sie in dieser Funktion das erste Mal
die Grüne Woche besucht hat, war sie nicht in der Lage,
eine Kuh von einem Bullen zu unterscheiden . Das stand
ganz groß in der Zeitung .
({5})
Das ist wahrscheinlich relativ bezeichnend .
Ob das jetzt versöhnlich war, wage ich zu bezweifeln .
Aber ich hoffe, wir werden dann im Ausschuss sachlich
und vertieft in dem Sinne, wie ich es gerade gesagt habe,
diskutieren können .
Danke .
({6})
Vielen Dank . - Ich schließe die Aussprache .
Zwischen den Fraktionen wurde vereinbart, dass die
Vorlage auf Drucksache 18/8273 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen wird . Sind Sie
damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall . Dann ist
die Überweisung so beschlossen .
Wir sind am Schluss unserer heutigen Tagesordnung .
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 1 . Juni 2016, 13 Uhr, ein .
Ich wünsche Ihnen ein schönes Pfingstfest und hoffentlich ein bisschen Ruhe . Die Sitzung ist geschlossen .