Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie alle herzlich. Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.
Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, haben wir
heute noch einige Wahlen durchzuführen.
Die CDU/CSU-Fraktion schlägt vor, dass im Stiftungsrat der Bundesstiftung Baukultur für den ausgeschiedenen Kollegen Peter Götz als Nachfolger der Kollege Volkmar Vogel als Mitglied gewählt wird. Die
SPD-Fraktion schlägt für dieses Gremium als Nachfolger der Kollegin Petra Müller den Kollegen Hampel,
Ulrich vor. Sind Sie mit diesen Vorschlägen einverstanden? - Das ist offenkundig der Fall. Dann sind die Kollegen Vogel und Hampel als Mitglieder des Stiftungsrates gewählt.
Die Fraktion der SPD schlägt vor, im Stiftungsrat der
Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung für den ausgeschiedenen Kollegen Wolfgang Thierse als Nachfolger den Kollegen Dietmar Nietan als ordentliches Mitglied und als dessen Nachfolger als stellvertretendes
Mitglied den Kollegen Dr. Lars Castellucci zu wählen.
Als weiteres ordentliches Mitglied soll die Kollegin
Hiltrud Lotze für den ausgeschiedenen Kollegen Lars
Lindemann und als weiteres stellvertretendes Mitglied
die Kollegin Christina Kampmann für den ausgeschiedenen Kollegen Patrick Kurth gewählt werden. Darf ich
auch hierzu Ihr Einvernehmen feststellen? - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann sind die genannten Kolleginnen und Kollegen als Mitglieder und stellvertretende
Mitglieder des Stiftungsrates gewählt.
Schließlich schlägt die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor, für den Beirat bei der Bundesnetzagentur für
Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen die Kollegin Tabea Rößner als persönliches
stellvertretendes Mitglied der Kollegin Katharina Dröge
und die Kollegin Dr. Julia Verlinden als persönliches
stellvertretendes Mitglied des Kollegen Oliver Krischer
zu wählen. - Auch hierzu kann ich keinen Widerspruch
erkennen. Dann sind die beiden Kolleginnen als persönliche stellvertretende Mitglieder des Beirats gewählt.
Es gibt eine interfraktionelle Vereinbarung, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste
aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und
SPD
Umgang in der Bundesregierung und im
Deutschen Bundestag mit den Vorwürfen gegen Sebastian Edathy
({0})
ZP 2 Eidesleistung des Bundesministers für Ernährung und Landwirtschaft
ZP 3 Vereinbarte Debatte
zur Lage in der Ukraine
ZP 4 Wahl der Mitglieder des Beirats für die grafische Gestaltung von Sonderpostwertzeichen
beim Bundesministerium der Finanzen
({1})
Drucksache 18/567
ZP 5 Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Haltung der Bundesregierung bei der Zulassung der Genmaislinie 1507 und zur Sicherstellung der Wahlfreiheit in Bezug auf gentechnikfreie Lebensmittel
Dabei soll wie immer, soweit erforderlich, von der
Frist für den Beginn der Beratungen abgewichen werden. Die als Zusatzpunkt 3 vorgesehene vereinbarte Debatte zur Lage in der Ukraine soll vor dem Tagesordnungspunkt 2 aufgerufen werden und eine Stunde
dauern. Außerdem wird der Tagesordnungspunkt 16 c
abgesetzt. Sind Sie auch damit einverstanden? - Das ist
der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 2 auf:
Eidesleistung des Bundesministers für Ernährung und Landwirtschaft
Präsident Dr. Norbert Lammert
Der Herr Bundespräsident hat mir mitgeteilt, dass er
am 17. Februar 2014 gemäß Art. 64 Abs. 1 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland auf Vorschlag der Frau Bundeskanzlerin den Bundesminister für
Ernährung und Landwirtschaft, Herrn Dr. Hans-Peter
Friedrich, aus seinem Amt als Bundesminister entlassen
und Herrn Christian Schmidt zum Bundesminister für
Ernährung und Landwirtschaft ernannt hat.
Nach Art. 64 Abs. 2 des Grundgesetzes leistet ein
Bundesminister bei der Amtsübernahme den in Art. 56
vorgesehenen Eid.
Herr Schmidt, ich darf Sie zur Eidesleistung zu mir
bitten.
({2})
Herr Minister, ich bitte Sie, den im Grundgesetz vorgesehenen Eid zu leisten.
Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des
deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze
des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann
üben werde, so wahr mir Gott helfe.
Sie haben den im Grundgesetz vorgesehenen Eid geleistet. Ich darf Ihnen im Namen des ganzen Hauses und
persönlich alle guten Wünsche für Ihr neues Amt aussprechen.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte bei dieser Gelegenheit dem Kollegen Dr. Hans-Peter Friedrich
im Namen des Hauses für seine Tätigkeit in der Bundesregierung herzlich danken.
({1})
Lieber Kollege Friedrich, auch und gerade die gestrige
Debatte hat deutlich gemacht, dass unbeschadet mancher
kritischer und selbstkritischer Hinweise Sie sich im ganzen Hause einer großen persönlichen Wertschätzung erfreuen. Deswegen freuen wir uns auf die weitere Zusammenarbeit.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Nachrichten
und Bilder aus Kiew und anderen Orten der Ukraine in
den letzten Tagen haben uns alle schockiert. Wochenlange friedliche Proteste Hunderttausender Bürger sind
umgeschlagen in blutige Gewalt mit brennenden Straßenzügen und Barrikaden, mit zahlreichen Verletzten
und inzwischen auch mindestens zwei Dutzend Toten
aufseiten der Demonstranten wie auch der Sicherheitskräfte.
Der Deutsche Bundestag hat nicht zu entscheiden,
welchen Weg die Ukraine gehen will und in welche
Richtung. Aber wir haben das Recht und die Pflicht, für
das Grundrecht der Menschen in diesem Land wie überall auf der Welt einzutreten, selbst darüber zu entscheiden, wie sie leben und von wem sie regiert werden wollen.
({3})
Wir bewundern den Mut und die Entschlossenheit von
immer mehr Menschen, von immer mehr Frauen und
Männern, auch gegen Drohungen und Repressionen ihr
eigenes Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Ihnen
gelten unsere Unterstützung und unsere Solidarität.
({4})
Alle Beteiligten, in den Behörden wie auf den Straßen, auf beiden Seiten der Barrikaden, müssen einsehen,
dass sich weder gewünschte Veränderungen durch Gewalt erzwingen noch notwendige Veränderungen dauerhaft mit Gewalt verhindern lassen. Deshalb fordern wir
alle auf, auf Gewalt zu verzichten. Wir unterstützen die
Bemühungen der Europäischen Union, insbesondere
auch die Mission der Außenminister, die sich in diesen
Stunden darum bemühen, zur Deeskalation der Lage beizutragen, und appellieren an die Verantwortlichen,
schnellstmöglich zur friedlichen Beilegung des Konflikts auf dem Verhandlungswege zurückzukehren.
Die ukrainische Regierung steht in einer besonderen
Verpflichtung, die sie nicht länger verweigern darf. Unsere Erwartung an den Staatspräsidenten ist klar und unmissverständlich: Werden Sie Ihrer Verantwortung gerecht! Halten Sie weiteren Schaden vom eigenen Land
und von Ihren Bürgern ab! Vor allem: Lassen Sie endlich
eine offene Debatte über die seit langem geforderte Verfassungsreform zu!
({5})
Unser Respekt gilt allen aufrechten Demokraten. Unser tief empfundenes Mitgefühl gilt allen Opfern der Gewalt und ihren Angehörigen.
Ich rufe unseren Zusatzpunkt 3 auf:
Vereinbarte Debatte
zur Lage in der Ukraine
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung, die wir
vorhin bestätigt haben, sind für die Aussprache 60 Minuten vorgesehen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst dem
Kollegen Niels Annen für die SPD-Fraktion das Wort.
({6})
Vielen Dank, Herr Präsident. - Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Wenn wir die Nachrichten über die
Toten, die Verletzten, die Verwundeten in der Ukraine
betrachten, dann dürfen wir eines nicht vergessen: Diese
Tragödie betrifft auch uns, weil das, was dort passiert, in
unserer unmittelbaren Nachbarschaft stattfindet. Deshalb ist es gut, dass während dieser Debatte die Außenminister Polens, Frankreichs und Deutschlands in Kiew
bei Präsident Janukowitsch sind und dort den erneuten
Versuch unternehmen, zu einer politischen Lösung des
Konfliktes beizutragen und für eine Atempause zu sorgen. Ich danke Außenminister Steinmeier für diese Initiative; denn es ist vielleicht der vorerst letzte Versuch,
eine weitere Eskalation zu verhindern.
Die Nachricht von einem Gewaltverzicht, die uns gestern am späten Abend erreicht hat, gibt Hoffnung, dass
der heutige Besuch tatsächlich etwas bewirken kann.
Aber Sie alle haben in den letzten Stunden und Minuten
vielleicht die Nachrichten von weiteren Schusswechseln
auf dem Maidan gehört. Es ist wirklich eine angespannte
Situation, und die Lage steht auf der Kippe. Es ist völlig
klar: Bei einem weiteren Rückschlag werden die EUAußenminister in Brüssel gar nicht umhinkommen,
Sanktionen zu beschließen.
Ich bin mir sehr bewusst darüber, dass Sanktionen natürlich nicht die Lösung des Problems darstellen. Unsere
Politik der Östlichen Partnerschaft steht am Scheideweg.
Wir dürfen in der Ukraine nicht wieder den Eindruck erwecken, das Land müsse sich quasi zwischen Russland
und Europa entscheiden. Diese Nullsummenlogik müssen wir überwinden. Aber damit gar kein Missverständnis aufkommt: Die Hauptverantwortung für die Eskalation tragen Präsident Janukowitsch und seine Entourage.
({0})
Er hat es seit Wochen in der Hand, den Weg für umfassende Reformen freizumachen. Die Vorschläge dafür liegen seit langem auf dem Tisch. Seiner Hinhaltetaktik haben wir es letztlich zu verdanken - das ist auch ein Teil
der Wahrheit -, dass die extremistischen Kräfte innerhalb der Opposition immer mehr Zulauf bekommen haben.
Die Gewalt der letzten Tage ist ganz besonders bitter,
weil wir doch ein wenig Anlass zur Hoffnung hatten.
Nach Vermittlung durch die OSZE haben die Demonstranten das Kiewer Rathaus geräumt. Die Voraussetzungen für eine Amnestie sind geschaffen worden. Vielleicht ist es auch die Furcht vor einer in Sichtweite
kommenden politischen Lösung, die extremistische
Kräfte auf beiden Seiten angestachelt hat, jetzt eine Lösung zu verhindern. Wir kennen das von anderen Konflikten. Auch die gewaltbereiten extremistischen Kräfte
innerhalb der Opposition tragen somit Verantwortung für
die Lage.
Die Leidtragenden dieser Eskalation sind wieder einmal die Menschen, junge Menschen, alte Menschen,
zum Teil ganze Familien - wir alle haben die Bilder
noch im Kopf -, die seit Wochen und Monaten auf der
Straße für etwas kämpfen, das wir für selbstverständlich
halten. Sie wollen Teil dieses Europas sein, und das ist
auch ihr gutes Recht. Deshalb müssen wir hier im Hohen
Hause unterstreichen: Wir stehen an ihrer Seite.
({1})
Wenn es jetzt keine Lösung gibt, werden sie zerrieben
zwischen dem brutalen, rücksichtslosen Vorgehen der
ukrainischen Sicherheitskräfte auf der einen Seite und
dem martialisch auftretenden sogenannten Rechten
Block auf der anderen Seite. Präsident Janukowitsch hat
es in der Hand, die Gewaltspirale zu stoppen. Aber dafür
muss er Schluss machen mit seiner Politik des Hinhaltens und Täuschens und endlich wie der Präsident des
ganzen Landes handeln.
({2})
Dem Gewaltverzicht müssen eine Rückkehr zur Verfassung von 2004 und vorgezogene Neuwahlen noch in diesem Jahr folgen.
Mein Appell richtet sich an
Nutzen Sie die Atempause der gestrigen Vereinbarung!
Setzen Sie eine Verfassungskommission ein, und bilden
Sie unverzüglich eine repräsentative Übergangsregierung! Ziehen Sie Ihre Sicherheitskräfte zurück, und stoppen Sie die Offensive Ihres Geheimdienstes!
({0})
Herr Präsident, schaffen Sie endlich die Voraussetzung
für eine Wiederaufnahme des politischen Prozesses.
Ich danke Ihnen.
({1})
Nächster Redner ist der Kollege Stefan Liebich für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Brennende Barrikaden und Zelte, brennende Verwaltungsgebäude, Soldaten, die in die Menge schießen, Demonstranten, die Molotowcocktails auf Soldaten und
Polizisten werfen - das sind die Bilder, die uns allerdings nicht mehr nur aus der Hauptstadt Kiew erreichen.
In Lwiw haben Demonstranten einen Panzerwagen in
Brand gesteckt, in Ternopil stürmten sie das Büro der
Staatsanwaltschaft. Verletzte und Tote sind zu beklagen.
Die Nacht von Dienstag zu Mittwoch war die blutigste,
die die Ukraine seit langer Zeit erlebt hat, und man muss
befürchten, nachdem der Gewaltverzicht offenkundig
nicht eingehalten wird, dass sich die Situation kurzfristig
nicht verbessern wird.
Wer das Schwert nimmt, wird durchs Schwert umkommen. Wer die Kalaschnikow nimmt, hat mit einem Kopfschuss zu rechnen. … Wer andere willkürlich der Freiheit beraubt, hat bald selbst keine
Fluchtwege mehr. … Deshalb müssen wir, die wir
hier versammelt sind, strikt das Prinzip der Gewaltlosigkeit vertreten. Das gilt auch gegenüber von
Provokateuren, die in unseren Reihen sind.
Diese Worte sprach am 25. September 1989 beim Friedensgebet in der Leipziger Nikolaikirche der Pfarrer
Christoph Wonneberger. Viele, vor allem jene, die in der
DDR gelebt haben, denken angesichts der Bilder aus der
Ukraine an diese Zeit zurück. Wir sind dankbar, dass uns
das 1989 erspart blieb. Wir wissen, dass auch friedlicher
Protest Veränderungen erzwingen kann. Unser Appell an
alle Beteiligten des Konflikts in der Ukraine lautet daher: Keine Gewalt!
({0})
Dabei kommt der Regierung eine herausgehobene
Verantwortung zu. Präsident Janukowitschs Auffassung,
Demokratie sei es nur, wenn man das Wahlergebnis akzeptiere, ist falsch. Es kommt erstens darauf an, was man
aus seinen Wahlergebnissen macht, und zweitens gehören Meinungsfreiheit und friedliche Proteste dazu. Rosa
Luxemburg hat 1918 in ihrem Text zur Russischen Revolution formuliert:
Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur
für Mitglieder einer Partei - mögen sie noch so
zahlreich sein - ist keine Freiheit.
({1})
Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden.
Aber auch die Opposition trägt Verantwortung. Eine
kleine Gruppe zum Teil rechtsradikaler und neofaschistischer Hooligans darf nicht das Bild von den Protesten
prägen. Ihr Mittel, die Gewalt, wird von der Mehrheit
der Demonstranten abgelehnt. Wer Gewalt ausübt, von
welcher Seite auch immer, muss strafrechtlich belangt
werden.
Aber allgemeine Sanktionen - da habe ich eine andere Meinung als Niels Annen -, die im schlimmsten
Fall den Teil der Menschen treffen, die mit demokratischen Mitteln für ihre Meinung streiten, lehnen wir ab.
({2})
Wer Sanktionen fordert, der scheidet als Vermittler in einem Konfliktlösungsprozess aus. So hat es Staatssekretär Dr. Ederer gestern früh im Auswärtigen Ausschuss
gesagt. Da muss ich ihm recht geben.
({3})
Statt größerer Abgrenzung müssen wir unsere Türen
endlich für die Ukrainerinnen und Ukrainer öffnen. Visafreiheit für die Europäische Union, das wäre eine sinnvolle Botschaft an die Demonstrantinnen und Demonstranten auf dem Maidan.
({4})
Auch wenn einer der Schlüssel für die Lösung des
Konflikts in Moskau liegt: Gerade wir Deutschen dürfen
mit Blick auf unsere Geschichte gegenüber der Ukraine
im letzten Jahrhundert nicht einfach über die Köpfe der
Ukrainerinnen und Ukrainer hinweg nach vermeintlichen Lösungen suchen. Die OSZE oder der Europarat,
wo Russland, die Ukraine, Deutschland und die anderen
EU-Mitgliedstaaten gleichberechtigte Mitglieder sind,
können und müssen eine aktive Vermittlerrolle einnehmen. Die Bundesregierung sollte sie dabei aktiv unterstützen. Am Ende des Prozesses kann ein politischer
Neuanfang stehen. Hier gilt es zuallererst, eine Lösung
für den Konflikt um die Verfassung zu finden.
Noch viel wichtiger als all dies ist aber: Das Land
braucht endlich eine Regierung und eine Opposition, die
nicht zuerst an sich oder an die Gunst schwerreicher Oligarchen denken, sondern an ihre Bürgerinnen und Bürger, die in großer Zahl in bitterer Armut leben.
({5})
Und die Ukraine braucht Nachbarn, die nicht zuerst auf
Einflusssphären und Absatzmärkte schauen, sondern an
einer wirklichen Partnerschaft arbeiten.
Vielen Dank.
({6})
Andreas Schockenhoff ist der nächste Redner für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
sind zutiefst erschüttert über die Eskalation der Gewalt
in der Ukraine. Wir trauern um die Opfer der blutigen
Zusammenstöße. Wir sprechen dem ukrainischen Volk
unsere Anteilnahme aus und sichern ihm unsere volle
Solidarität zu. Wir sind froh, dass es jetzt die Chance für
einen Waffenstillstand gibt. Wir fordern alle Verantwortlichen auf, das Ihre dazu beizutragen, dass dieser Waffenstillstand hält.
({0})
Zur Stunde ist Außenminister Steinmeier mit seinem
französischen und seinem polnischen Kollegen in Kiew.
Damit sind zwei Botschaften verbunden: Erstens. Die
Europäische Union ist bereit, zu vermitteln, um das Land
aus dieser existenziellen Krise herauszuführen. Zweitens. Die Europäische Union muss bereit sein, über die
Östliche Partnerschaft hinaus der Ukraine in einem
schwierigen Transformationsprozess zu helfen.
Die Vermittlung ist notwendig, weil die Konfliktparteien selbst nicht aus der Sackgasse herausfinden, zumal
Präsident Janukowitsch in den letzten Tagen zu einem
echten Dialog nicht wirklich willens war. Wir brauchen
deswegen einen fortgesetzten, anhaltenden Vermittlungsbeitrag. Dazu kann, wie gerade gesagt wurde, die
OSZE beitragen. Dazu kann auch ein Hoher Vertreter
der Europäischen Union einen Beitrag leisten.
Wenn es in diesem Zusammenhang die Aufforderung
aus Moskau gibt, sich nicht von außen in Angelegenheiten der Ukraine einzumischen, dann müssen wir das als
eine zynische Unterstellung zurückweisen, zumal da gerade Moskau vor Unterzeichnung des AssoziierungsabDr. Andreas Schockenhoff
kommens durch offene Erpressung zur Eskalation der
politischen Krise in der Ukraine mit beigetragen hat.
({1})
Ich will nachdrücklich unterstützen, was der Kollege
Annen gesagt hat: Wir dürfen uns keine Nullsummenlogik aufzwingen lassen. Russland gewinnt nicht, wenn
die Ukraine die Zusammenarbeit mit der Europäischen
Union aufkündigt. Wir gewinnen nicht, wenn die
Ukraine nicht mit Russland zusammenarbeitet. Wir gewinnen entweder alle durch zunehmende Kooperation
und Integration in Europa, oder wir verlieren alle durch
Instabilität und Unsicherheit in Europa.
Wahr ist auch, dass es in der Ukraine inzwischen um
einen echten Systemkonflikt geht. Zur Wahrheit gehört,
dass Moskau für die Menschen auf dem Maidan und für
einen großen Teil der Zivilbevölkerung in der Ukraine
für den Status quo steht. Aber die Menschen wollen anders leben. Die Menschen wollen in Freiheit leben. Die
Menschen wollen in einem Rechtsstaat mit freien und
fairen Wahlen, mit unabhängigen Gerichten, mit Meinungsfreiheit und unabhängigen Medien leben. Die
Menschen sind nicht länger bereit, eine systemische
Korruption hinzunehmen, mit der sich die Machthaber
exzessiv bereichern.
Wenn Präsident Putin die Ukraine als ein Brudervolk
bezeichnet, dann muss es uns zu denken geben, dass
Russland für viele Menschen in der Ukraine an Anziehungskraft verloren hat. Das ist für uns kein Grund zur
Genugtuung, im Gegenteil. Wir haben in der Europäischen Union mit der Finanzkrise, mit der Überwindung
der Ungleichgewichte und mit unseren inneren strukturellen Problemen genügend Probleme zu lösen. Aber
dass die Menschen in der Ukraine eine europäische Perspektive brauchen, dass das, was wir an Hilfen anbieten,
eben nicht wertneutral ist, sondern mit einem Leben in
Freiheit nach den Idealen der sozialen Marktwirtschaft,
mit Gerechtigkeit verbunden ist, zeigt sich in diesen Tagen ganz besonders.
Diese europäische Perspektive muss über eine kurzfristige Lösung hinaus für die Menschen spürbar bleiben. Zu einer kurzfristigen Lösung gehören erstens ein
anhaltender Waffenstillstand, zweitens eine sofortige
Umsetzung der Amnestie, drittens die Bildung einer nationalen Übergangsregierung und viertens die Rückkehr
zur Verfassung von 2004 mit echten Parlamentsrechten.
Dazu gehört, dass wir für die Menschen Europa erlebbar
machen, etwa durch Studienprogramme und durch Stipendienprogramme vergleichbar zu ERASMUS. Dazu
gehört auch, dass wir - wie für die Republik Moldau den Menschen in der Ukraine durch eine Perspektive auf
Visafreiheit zeigen, dass Europa spürbar und erlebbar
bleibt.
Nur das ukrainische Volk selbst kann aus dieser Krise
herausfinden. Es gibt im Europa der souveränen Staaten
kein Zurück zu privilegierten Einflusszonen. Dabei
braucht die Ukraine die Hilfe der Europäischen Union.
Wir sind bereit, darüber mit anderen zu reden. Eine
Rückkehr zum Status quo ante gibt es nicht. Wir sind vor
allem bereit, darüber auch mit Russland zu reden.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort erhält nun die Kollegin Katrin GöringEckardt, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Europa ist unser Schicksal. - Das hat vor zwei Wochen einer der Protestierenden auf dem Maidan zwischen den
Barrikaden in der Kälte mitten in der Nacht zu mir gesagt. Vor zwei Wochen bestand noch viel Hoffnung, dass
die Beharrlichkeit helfen würde, eine Ukraine zu schaffen, die offen ist, demokratisch und europäisch. Seit vorgestern Abend ist diese Hoffnung schwer erschüttert.
Manche sagen auch: Sie ist völlig versiegt. Wir alle sind
betroffen von den Bildern. Wir denken an die Toten, wir
trauern mit den Angehörigen. Wir denken an die Verletzten, an die Verfolgten und auch an die Helferinnen und
Helfer, die sich selbst in Gefahr bringen.
Kirchen sind zu Lazaretten geworden. Der evangelische Pfarrer der deutschen Auslandsgemeinde sagte in
einem Interview: „Ich halte die Steinwürfe für eine gezielte Provokation.“ Es falle schon auf, dass die Polizei
darauf sofort mit massiver Gewalt geantwortet hat. Auch
in seiner Kirche in der Mitte von Kiew ist ein Lazarett
eingerichtet.
Meine Damen und Herren, das Regime Janukowitsch
hat verhindert, dass im Parlament überhaupt noch über
eine Verfassungsänderung, über mehr demokratische
Rechte, über die Möglichkeit des Machtwechsels debattiert wird. Genau das war der Auslöser für die Eskalation. Gleichzeitig hat die Regierung Janukowitsch die
Zugeständnisse der Opposition, nämlich beispielsweise
die Räumung des Rathauses, als Schwäche deklassiert.
Dann kam die Räumung des Maidan, und dann wurde
die Eskalation auf die Spitze getrieben.
Gestern Abend gab es wieder einen Funken Hoffnung
auf einen Waffenstillstand. Er ist heute Morgen, so
scheint es jedenfalls, vorbei, und eine Lösung ist nicht in
Sicht. Angesichts von Toten und Verletzten und angesichts ausufernder Gewalt hoffe ich sehr, dass das Signal
der EU-Außenminister heute so deutlich ausfällt, wie es
die Lage gebietet.
({0})
Dazu gehört auch, dass die kriminellen Geldflüsse der
Verantwortlichen gestoppt werden, meine Damen und
Herren.
({1})
Dazu gehört, dass Auslandskonten gesperrt und Visasperren für einzelne Beteiligte ausgesprochen werden.
Die Vereinigten Staaten haben hier einen ersten Schritt
getan.
Freilich, Frau Merkel: Man ist hinterher immer
schlauer. Ich maße mir nicht an, anders gehandelt zu haben. Aber was wäre passiert, wenn der Druck in dieser
Woche auch aus Deutschland schon stärker gewesen
wäre, als Vitali Klitschko und Arsenij Jazenjuk hier gewesen sind, und wir deutlicher gemacht hätten, dass
Sanktionen auch sehr bald ausgesprochen werden können? Ich glaube, wir haben tatsächlich eine Verantwortung. Nicht nur auf europäischer Ebene müssen wir Position beziehen. Ich finde, Deutschland kann in diesem
Konflikt keine neutrale Position einnehmen, meine Damen und Herren,
({2})
und zwar, weil es um Europa geht, weil es um Freiheitsrechte geht, nach denen die Menschen streben, für die sie
kämpfen und für die sie so viel aufs Spiel setzen. Es geht
nicht darum, naiv zu sein. Es geht nicht darum, so zu
tun, als ob es nicht auch nationalistische Kräfte auf dem
Maidan gebe. Natürlich gibt es die. Trotzdem müssen
wir in aller Klarheit auf der Seite der europäischen Werte
und der Freiheitsrechte stehen und stehen bleiben.
({3})
Wenn ich mir anschaue, wie viele klare Worte dazu
gefallen sind - aus der Europäischen Union, aus den
Vereinigten Staaten -, dann hoffe ich sehr, dass auch wir
uns zu solch klaren Worten durchringen können. Frau
Merkel, es war vorhin eigentlich sehr schön, dass Sie bei
dem Satz des Präsidenten, dass die Ukraine frei entscheiden können muss, aus Versehen - weil Sie das auf der
Regierungsbank nicht dürfen - geklatscht haben. Ja, genau darum geht es.
({4})
Frau Kollegin Göring-Eckardt, gestatten Sie eine
Zwischenfrage der Kollegin Hänsel?
Sehr gerne.
Danke schön. - Frau Göring-Eckardt, Sie sagten gerade: Wir können keine neutrale Position einnehmen. Ich möchte bezweifeln, dass Deutschland bereits eine
neutrale Position eingenommen hat. Wir wissen doch,
dass die Opposition, zum Beispiel Klitschko, beste Kontakte pflegt und seine Partei, die UDAR, seit Jahren von
der Konrad-Adenauer-Stiftung finanziert und unterstützt wird. Das heißt doch nicht, dass wir eine neutrale
Position hätten.
Was die Eskalation angeht, wurde hier von mehreren
Rednern und Rednerinnen festgestellt, dass die Gewalt
auch von den Demonstranten und Demonstrantinnen
ausging. Ich möchte Sie fragen: Wie würden Sie reagieren, wenn es von Parteien Aufrufe gibt, dass alle, die registrierte Waffen haben, auf den Maidan kommen sollen? Ich möchte von Ihnen gerne wissen: Wie würden
Sie darauf reagieren? Wollen Sie verhindern, dass der
gewalttätige Teil der Demonstrantinnen und Demonstranten weiter ermuntert wird, indem Sie einseitig
Sanktionen aussprechen? Was haben Sie denn für eine
Vorstellung von Politik, wenn Sie nur gegen einen Teil
Sanktionen aussprechen wollen?
({0})
Frau Hänsel, sorry, aber wenn wir über Sanktionen
wie Geldflüsse-Stoppen reden, wenn wir über Sanktionen im Hinblick auf Konten reden, mit denen
Janukowitsch, seine Familie, sein ganzer Clan auch Gelder für Unterstützung ins Ausland geschafft haben,
({0})
dann trifft das genau die Richtigen; da bin ich mir ganz
sicher.
({1})
Natürlich brauchen auch die Regierungsleute einen irgendwie geordneten Rückzug; aber damit sie sich nicht
aus dem Staub machen können, um sich in Westeuropa
ein schönes Leben zu machen, finde ich es richtig, dass
man hier Visasperren verhängt, meine Damen und Herren und Frau Hänsel.
({2})
Die Opposition auf dem Maidan, in Lemberg und in
vielen anderen Orten der Ukraine ist zum großen Teil
friedlich
({3})
und hat sich von den nationalistischen Kräften distanziert. Diese Opposition auf Twitter zu diffamieren mit
den Worten „Faschos in Militärkleidung“, wie es eine Ihrer Kolleginnen gemacht hat, das geht nicht, Frau
Hänsel. Das sind Leute, die für die Freiheit kämpfen und
die alles riskieren dafür.
({4})
Meine Damen und Herren, wenn wir über Klarheit reden, dann heißt das auch, dass wir klare Worte in Richtung Russland, in Richtung Putin sagen müssen. Man
kann nicht in Sotschi den weltgewandten Gastgeber
spielen und gleichzeitig Janukowitsch decken, stützen
und unterstützen, während er den Protest niederwalzt.
Meine Damen und Herren, auch hier ist von unserer
Seite und vonseiten der EU Klarheit gefragt.
({5})
Meine Damen und Herren, Europa ist unser Schicksal. Wir denken bei Europa manchmal zuerst an Bürokratie, Glühbirnenverbot, Hilfspakete, Lobbyismus oder
ich weiß nicht was. Die meisten Menschen, die auf dem
Maidan stehen, und diejenigen, die sie unterstützen, finden: Europa ist eine Verheißung von Frieden, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Wir dürfen nicht versagen,
wenn es um die Freiheit geht. Dazu brauchen wir eine
klare Haltung, den nötigen Druck und konsequentes
Handeln. Das sind wir den Menschen auf dem Maidan
genauso wie der europäischen Idee schuldig.
Vielen Dank.
({6})
Ich erteile das Wort nun dem Kollegen Franz Thönnes
für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
war am Sonntag und am Montag in Kiew, um politische
Gespräche mit Vertretern der Parteien und der Zivilgesellschaft zu führen. Auf dem Weg zum Maidan am
Sonntagabend kam ich am Rathaus vorbei, das entsprechend den Verabredungen gerade geräumt wurde, damit
am Tag darauf das Amnestiegesetz umgesetzt werden
konnte. Wir alle kennen die Bilder vom Maidan, die
durch die Medien gegangen sind. Die Atmosphäre, die
ich vorgefunden habe, war einerseits ruhig und offen,
andererseits aber auch von Anspannung und Bereitschaft
geprägt. Es macht betroffen, wenn man an der von Kerzen beleuchteten Gedenkstätte für die - zu diesem Zeitpunkt noch vier - Toten steht und sieht, welche Opfer
gebracht worden sind und welche Folgen die gewalttätigen Auseinandersetzungen hatten.
Neben dem freundlichen und friedlichen Erscheinungsbild habe ich leider auch sehr wehrbereite Erscheinungsformen gesehen von radikalen Gruppen, die zur
Gewalt bereit sind. Das ist nicht die Mehrheit - man darf
es auch nicht so hinstellen -; aber man darf auch nicht
verschweigen, dass es so etwas gibt. Wir müssen allen
Provokateuren, egal auf welcher Seite sie stehen, die
Stirn bieten; denn sie stehen einem fairen Verhandlungsprozess im Wege.
({0})
Ich habe bei den Menschen Müdigkeit, Anspannung
und Sorge gesehen; aber ich habe auch Hoffnung gesehen: die Hoffnung auf eine freiheitliche, auf eine rechtsstaatliche Zukunft, auf eine Zukunft in Europa, in der
man einen guten Platz hat, in der man auch ein Stück
weit Hoffnung auf ein wenig Wohlstand haben kann.
Um Hoffnung ging es auch in den Gesprächen, die
sich angeschlossen haben: Hoffnung auf Rückkehr zur
Verfassung von 2004, Hoffnung darauf, im Parlament,
am Verhandlungstisch zu einer friedlichen Lösung zu
kommen, Hoffnung auf Unterstützung durch die Europäische Union und auch Hoffnung auf Sanktionen, durch
die die andere Seite dazu bewegt wird, Interesse an einer
Einigung zu zeigen, aber auch Hoffnung auf Verhinderung des angesichts der angespannten wirtschaftlichen
Situation drohenden ökonomischen Zusammenbruchs.
Diese Hoffnungen habe ich mitgenommen, als ich weggefahren bin, aber auch das Bewusstsein, dass das gegenseitige Vertrauen dort gering ausgeprägt ist. Dort ist
nur ein Funke notwendig, um eine Explosion auszulösen.
Das alles haben wir seit Dienstag leider erlebt: das
Abgehen vom Kurs des Verhandelns, das Verlassen des
Verhandlungstischs, die Provokation, die Verfassungsdebatte im Parlament, die verabredet war, von der Tagesordnung abzusetzen. Wir haben eine unverhältnismäßige
Reaktion der Sicherheitskräfte erlebt, als die Demonstranten zum Parlament zogen, und wir haben Provokationen auf beiden Seiten gesehen, die an dieser Stelle
keinen Platz haben. Scharfschützen auf den Dächern
haben genauso wenig etwas in einem vernünftigen Verhandlungsprozess zu suchen wie Menschen, die mit
Benzinkanistern in Parteizentralen hineingehen.
({1})
Deutlich wurde auch die Hoffnung, dass man einen
guten Weg für die Ukraine findet. Doch die Brutalität,
mit der die Sicherheitskräfte vorgegangen sind, hat diesen Funken Hoffnung am Ende zerstört. Wir müssen
deutlich sagen: Diese Brutalität ist für uns inakzeptabel;
sie ist intolerabel. Verantwortlich dafür sind der Staatspräsident Janukowitsch und die Verantwortlichen in den
Sicherheitskräften.
({2})
Über 1 000 Verletzte und inzwischen 30 Tote: Das
sind die Folgen. Unsere Gedanken sind bei ihren Familienangehörigen.
Ich glaube, es war notwendig und wichtig, dass gestern sehr intensiv versucht worden ist, über alle möglichen Kanäle einzuwirken: über die deutsch-französischen Regierungskonsultationen, über Telefonate, über
Gespräche, über Kontakte und auch über die klare Aussprache von Sanktionen. Ich denke, dass das Telefonat
der Bundeskanzlerin ebenso wie die Gespräche, die der
Bundesaußenminister am vergangenen Donnerstag und
Freitag in Moskau geführt hat, dazu beigetragen haben,
dass über Nacht der Hauch einer Chance für einen Waffenstillstand entstanden ist.
Dass heute Morgen festzustellen ist, dass das Fundament, auf dem diese Hoffnung beruht, sehr dünn ist,
sollte uns nicht entmutigen, sondern wir sollten jetzt
auch einen Funken Hoffnung in die Mission der drei EUAußenminister setzen. Vielleicht ist es ein ermutigendes
Zeichen, dass sich hier genau die Länder darum bemühen, weiter eine friedliche Entwicklung in Europa zu ermöglichen, die am stärksten von den Folgen des Zweiten
Weltkrieges betroffen worden sind.
Bei der Ukraine haben wir es mit dem zweitgrößten
Flächenstaat in Europa zu tun; dort leben über 45 Millionen Menschen. Es gilt daher, eine Perspektive zu entwickeln, die nicht „entweder-oder“ lautet, sondern die der
Ukraine ihren Platz in Europa, inmitten der Europäischen Union und mit Russland, ermöglicht. Es muss
Freiraum dafür geschaffen werden, dass die Menschen in
der Ukraine unter freiheitlichen und rechtsstaatlichen
Bedingungen selbst bestimmen können, welchen Weg
sie gehen. Das heißt, sie müssen zur Verfassung von
2004 zurückkehren und freie Wahlen durchführen können, in der sie über ihre Volksvertretung und ihren Präsidenten entscheiden.
Wir haben als Mitgliedsland der Europäischen Union
die Aufgabe, gemeinsam mit Russland dafür zu sorgen,
dass es gelingt, die Ukraine in die Europäische Gemeinschaft, in diese Staatengemeinschaft, aufzunehmen,
wenn sie es will, und Formen zu finden, mit denen ein
friedliches Zusammenleben in Europa, auf unserem
Kontinent, möglich ist.
({3})
Nächster Redner ist der Kollege Andrej Hunko für die
Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich
glaube, es gibt niemanden, dem die Bilder der letzten
Tage aus der Ukraine und die Eskalation der Gewalt
nicht nahegehen und der die Opfer auf allen Seiten nicht
bedauert. Das geht auch mir so als jemandem, dessen Familie in der Ukraine dem Bürgerkrieg in den 20er-Jahren, dem Massenhunger in den 30er-Jahren und den
Zwangsumsiedlungen in den 40er-Jahren weitgehend
zum Opfer gefallen ist.
Ich wünsche mir sehr, dass das 21. Jahrhundert für die
Ukraine besser wird, als es das 20. Jahrhundert war.
({0})
Voraussetzung dafür ist aber, dass die Spirale der Eskalation durchbrochen wird und dass die Ukraine nicht in einen Bürgerkrieg abgleitet. Wir müssen alles tun, um
diese Eskalationsspirale zu durchbrechen.
Ich glaube nicht, dass es zielführend ist, wenn die
komplexe Situation in der Ukraine einseitig dem Präsidenten Janukowitsch angelastet wird und dabei verharmlost und verschwiegen wird, welche Kräfte zum Teil
auch auf dem Maidan aktiv sind.
({1})
Ich glaube auch nicht, dass es zielführend ist, wenn, wie
heute, der französische, der polnische und der deutsche
Außenminister mit der Androhung von Sanktionen nach
Kiew fahren.
Ich war im Herbst 2012 Wahlbeobachter des Europarates in Kiew. Mein Eindruck der Situation ist, dass dieses Land sozial zutiefst gespalten ist, dass sich in den
letzten 20 Jahren eine kleine Schicht unglaublich bereichert hat und dass diese kleine Schicht extremen Einfluss auf die Politik nimmt. Das ist - wir haben es in die
Erklärung des Europarates aufgenommen - eine Oligarchisierung der Politik in der Ukraine. Sie betrifft alle
geostrategischen Orientierungen. Sie betrifft sowohl die
sogenannten prowestlichen Parteien als auch die prorussischen Parteien. Ich sage ganz klar, dass wir an der
Seite der Ukrainer und Ukrainerinnen stehen, wenn es
darum geht, diese Oligarchisierung der Politik und diese
soziale Spaltung in der Ukraine zu überwinden.
({2})
Leider ist es so, dass die Entwicklung in der Ukraine
nach dem Scheitern des Assoziierungsabkommens sehr
stark von geostrategischen Interessen überlagert wird,
und zwar sowohl von der russischen Seite als auch von
europäischer und US-amerikanischer Seite. Es ist leider
so, dass von beiden Seiten massiver Druck dahin gehend
ausgeübt wird, die Ukrainer in die eigene Einflusssphäre
zu ziehen und sie aus der anderen Einflusssphäre herauszuholen.
Herr Kollege Hunko, darf Ihnen der Kollege Sarrazin
eine Zwischenfrage stellen?
Ja, bitte schön.
Verehrter Herr Kollege Hunko, ich möchte Ihnen eine
ganz simple Frage stellen. Glauben Sie eigentlich, dass
Herr Präsident Putin - Sie haben gerade vom Einfluss
der Vereinigten Staaten von Amerika und der Russischen
Föderation geredet -, als er vor drei Tagen die ersten
Tranchen für das Regime, die Regierung in der Ukraine
freigegeben hat, die Möglichkeit gehabt hätte, Einfluss
auf Herrn Janukowitsch dahin gehend zu nehmen, eine
Räumung des Maidan zu unterbinden? Glauben Sie, dass
Herr Putin die Möglichkeit gehabt hätte, auf Herrn
Janukowitsch Einfluss zu nehmen, um zu verhindern,
dass der Maidan geräumt wird, was der entscheidende
Schritt zur Eskalation war?
Ich sage deutlich: Ja, es gibt eine Einflussnahme von
russischer Seite auf Präsident Janukowitsch. Es gibt aber
ebenso eine Einflussnahme von europäischer und von
US-amerikanischer Seite auf die Opposition. Da fordere
ich ganz eindrücklich, dass die Kooperation mit faschistischen Kräften auf dem Maidan beendet wird.
({0})
Ich will verdeutlichen, was damit gemeint ist. Die
Partei Swoboda, die leider gegenwärtig zusammen mit
dem rechten Block die organisatorisch und ideologisch
dominante Kraft auf dem Maidan ist, wird vom Jüdischen Weltkongress als neonazistisch eingestuft. Die europäischen Bündnispartner dieser Partei sind die Jobbik
in Ungarn, die British National Party in Großbritannien
oder in Deutschland - Vertreter von Swoboda waren einmal hier gewesen - die NPD in Sachsen. Das ist die politische Ausrichtung dieser Partei. Wir fordern ganz klar,
dass die Kooperation mit solchen Kräften beendet wird.
({1})
Nun möchte Ihnen die Kollegin Haßelmann eine
Frage stellen.
Gerne.
Vielen Dank, Herr Hunko. Vielen Dank, Herr Präsident, dass Sie die Frage zulassen. - Herr Hunko, ich
möchte Sie aus aktuellem Anlass bitten, uns Ihre Position zu folgendem Sachverhalt zu erläutern. Ich will Sie
fragen, ob Sie sich von dem Tweet Ihrer Kollegin Sevim
Dağdelen, die die aktuelle Debatte anscheinend nicht im
Plenum, sondern vielleicht aus ihrem Bundestagsbüro
verfolgt und kommentiert, an die Grünen distanzieren.
Ich lese Ihnen den Tweet einmal vor und bitte Sie, sich
dazu zu positionieren und davon zu distanzieren:
Unerträglich diese verwelkten Grünen, die die Faschisten in der #Ukraine verharmlosen, die antisemitische Übergriffe begehen. Ein Tabubruch!
Ich finde es unerträglich, in dieser Art und Weise unsere
Debatte zu kommentieren.
({0})
Davon gehört es sich zu distanzieren, wenn man als
Sprecher der Linken hier redet.
Frau Kollegin, ich kann mich schlecht zu Tweets äußern, die ich nicht kenne.
({0})
- Nun hören Sie einmal zu! - Aber ich will schon sagen,
dass ich es tatsächlich problematisch finde - das habe ich
eben auch ausgeführt -, dass Kräfte wie die SwobodaPartei als Teil des Oppositionsbündnisses in der Ukraine
akzeptiert und toleriert werden.
({1})
- Ich habe die Debatte so wahrgenommen. Mir geht die
hier stattgefundene Distanzierung von diesen Kräften
nicht weit genug. Seit den Parlamentswahlen im Oktober
2012, die ich beobachtet habe und bei denen ich das
auch schon gesagt habe, sind die Vaterlandspartei, die
Klitschko- oder UDAR-Partei und die Swoboda-Partei
in einem gemeinsamen Oppositionsbündnis.
({2})
Ich kritisiere das, und ich fordere eine Distanzierung von
solchen Parteien.
({3})
- Mag sein, dass Sie das anders wahrnehmen. Ich sehe
das so, und ich will jetzt mit meiner Rede fortfahren.
Ich glaube, wir brauchen gegenüber der Ukraine und
gegenüber Osteuropa eine andere Ostpolitik. Die
Ukraine ist nach wie vor ungefähr hälftig an Russland
und hälftig an der Europäischen Union orientiert. Wenn
die Spannungen zwischen der EU und Russland weiter
verschärft werden, dann wird das auf dem Rücken der
Ukraine und der Menschen dort ausgetragen, und das
Land wird in einen Bürgerkrieg getrieben.
Ich fordere eine neue Ostpolitik, die vor allen Dingen
auf Kooperation mit Russland setzt. Ich fordere auch
eine Wirtschaftspolitik, die vor allen Dingen auf die soziale Entwicklung in der Ukraine setzt statt auf die Öffnung der Märkte für europäische Konzerne. Vor allen
Dingen fordere ich - das hat mein Kollege Liebich vorhin schon gesagt; dazu werden wir auch eine Initiative
einbringen -, dass endlich das restriktive Visaregime gegenüber den Menschen in der Ukraine aufgehoben wird
und dass es eine Visaliberalisierung gibt,
({4})
damit sich die Zivilgesellschaft in der Ukraine mit der
europäischen Zivilgesellschaft austauschen kann.
Vielen Dank.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte mir zu
dem gerade stattgefundenen Vorgang eine knappe Bemerkung erlauben. Nach meinem Stilempfinden sollte es
sich von selbst verbieten, dass jemand, der an einer Debatte nicht teilnimmt, aus welchem Grund auch immer,
Präsident Dr. Norbert Lammert
gleichzeitig über welches Medium auch immer diese Debatte kommentiert.
({0})
Das Wort erhält nun der Kollege Norbert Röttgen für
die CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Auch ich möchte nach diesem Beitrag in der Debatte als Mitglied der CDU/CSU-Fraktion ausdrücklich
mein Bedauern darüber ausdrücken, dass die Fraktion
der Linken diese Debatte nicht dazu genutzt hat, sich
von der Methode zu distanzieren und sie zurückzuweisen. Dass einzelne Stimmen, die es in dieser Opposition
gibt, dazu benutzt werden, die Opposition und ihr Eintreten für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte insgesamt zu diffamieren, lehnt das Haus ab.
({0})
Sie haben die Chance verpasst, sich davon zu distanzieren.
Ich bedaure das auch deshalb - ich möchte bewusst
damit beginnen -, weil die politische Situation in der
Ukraine auch in der politischen Debatte, die wir heute
führen, zunächst und zuallererst eine zutiefst menschliche Dimension und menschliche Seite hat. Wenn Todesopfer zu beklagen sind, dann gehört unser Mitgefühl den
Opfern von Gewalt und deren Angehörigen, und zwar
den Opfern jeglicher Gewalt. Wir differenzieren nicht.
Gewaltanwendung jeglicher Art muss unterbunden werden. Das ist unsere erste Forderung.
({1})
Damit wird sichtbar, dass das, was die menschliche Seite
betrifft, auch zutiefst politisch ist. Das Eintreten für Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie hat den Sinn,
den Menschen in seiner Freiheit und Unversehrtheit zu
schützen. Deshalb ist von allen erneut die Forderung zu
erheben - das geschieht auch -: ein Ende der Gewalt,
unbedingt, sofort und auf allen Seiten!
Wie verfahren die Situation aber ist, wird schon dadurch deutlich, dass man, wenn man sie genauer analysiert, wahrscheinlich zu dem Urteil kommen muss, dass
ein weitgehender Kontrollverlust auf den unterschiedlichen Seiten eingetreten ist. Es gibt wahrscheinlich nicht
mehr die Instanz, die allein entscheiden kann. Es ist natürlich nicht die Opposition. Es ist nicht die EU, aber es
sind auch nicht Moskau und die Regierung Janukowitsch
allein. Unter anderem das macht die Lage so verfahren
und kompliziert. Als Ergebnis der Eskalation haben wir
es mit einem weitgehenden Kontrollverlust der Lage zu
tun. Dennoch haben Präsident Janukowitsch und seine
Regierung die entscheidende Verantwortung und die
Möglichkeit, Macht auszuüben. Sie müssen ihre Macht
endlich einsetzen, Gewalt zu unterbinden und Gewaltanwendung wirksam zu verbieten. Janukowitsch muss
alles tun, was noch in seiner Macht steht, um Gewalt zu
unterbinden.
({2})
Das Ende der Gewalt ist die Voraussetzung dafür,
dass das zur Geltung kommt, was die unverhandelbare
Grundlage einer Konfliktlösung ist, nämlich die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts des ukrainischen
Volks; darum geht es. Man muss wieder zu einem politischen Prozess zurückkehren, der Verfassungsreformen
beinhaltet und an dessen Ende die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts durch Neuwahlen zum Präsidentenamt und zum Parlament steht.
Damit bin ich beim Parlament angekommen. Da wir
hier eine Debatte im Parlament führen, fordere ich die
Mitglieder des ukrainischen Parlaments, die Mehrheit,
die darüber entscheidet, auf: Stehen Sie nicht länger einer Debatte über eine Verfassungsreform im ukrainischen Parlament im Wege! Die Verweigerung einer Debatte über eine Verfassungsreform im ukrainischen
Parlament war der Auslöser der Gewalteskalation. Als
Kolleginnen und Kollegen des ukrainischen Parlaments
sollten sie endlich wieder bereit sein, eine Debatte über
Verfassungsreformen zu führen.
({3})
Was können wir tun? Diese Frage wird immer kritischer an uns gestellt. Was müssen wir tun? Was muss der
Westen tun? Diese Fragen sind gar nicht so einfach zu
beantworten. Ich glaube, auch das ist ein Teil der Wahrheit, die wir aussprechen müssen. Auf der einen Seite
haben wir - das ist sehr lobenswert und zu begrüßen Entschlossenheit, Geschlossenheit und Klarheit gezeigt.
Es muss klar sein - das ist es auch -, wo wir stehen.
Wenn in der Mitte Europas Menschen für europäische
Werte demonstrieren und ihr Leben einsetzen, dann
muss die europäische Politik klarmachen - das tut sie
auch -, auf welcher Seite wir stehen, nämlich auf der
Seite europäischer Werte und der Menschen, die für sie
eintreten. Das ist die Klarheit unserer Position.
({4})
Herr Kollege Röttgen, darf der Kollege Alexander
Neu Ihnen eine Zwischenfrage stellen?
Ja, bitte.
Herr Kollege, Ihnen ist bekannt, dass es bereits 2004
eine Verfassungsreform im Sinne der heutigen Opposition gegeben hat. Wollen Sie dementsprechend immer,
wenn die Opposition, die gerade dem Westen genehm
ist, eine Verfassungsreform fordert, auch eine VerfasDr. Alexander S. Neu
sungsreform einfordern? Sie selber haben das Selbstbestimmungsrecht angesprochen. Das Selbstbestimmungsrecht erfordert auch, dass sich die Bundesregierung und
die Konrad-Adenauer-Stiftung bei der Parteinahme zurückhalten und den politischen Kampf den Menschen in
der Ukraine überlassen und nicht von außen steuern.
Auch das ist ein Teil des Selbstbestimmungsrechts. Teilen Sie diese Auffassung, ja oder nein?
Genau weil wir diese Auffassung teilen, treten wir dafür ein und kämpfen die Menschen dort dafür, dass das
Selbstbestimmungsrecht, die Möglichkeit, politische
Freiheiten wahrzunehmen, friedlich zu demonstrieren,
seine Meinung frei zu äußern und frei zu wählen, auch
Ausdruck und Absicherung in einer Verfassung findet.
Eine solche Verfassung gibt es aber im Moment nicht.
Die Rückkehr zur Verfassung von 2004 ist das Mindeste,
um in einem ersten Schritt zu einem politischen Neuanfang in der Ukraine zu kommen. Dafür sollen sich auch
die Machthaber einsetzen. Es geht darum, Herr Kollege,
dass es zu einer Verfassung kommt, die Freiheit und Demokratie gewährleistet.
({0})
Und auf dieser Seite stehen auch wir.
({1})
- Ich glaube, es wird nicht besser, auch wenn Sie es permanent wiederholen.
({2})
Ich frage mich die ganze Zeit, warum Sie als Parlamentarier so reden. Wir sind hier als Parlamentarier, weil
wir Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie haben.
Sie sind Teilnehmer der Demokratie, Sie sind Parlamentarier. Ich frage mich, warum Sie das alles in Zweifel
ziehen, warum es Ihnen so schwerfällt, den Wunsch
nach Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in einem europäischen Land zu akzeptieren. Welche Probleme haben
Sie eigentlich damit, dass auch andere Demokratie und
Freiheit haben wollen? Ich verstehe Ihre Position an dieser Stelle nicht, diese Ignoranz.
({3})
- Vielleicht gehen Sie einmal in sich und denken über
Ihre Position nach, anstatt hier zu reden.
({4})
Ich will einen letzten Punkt ansprechen, weil ich
glaube, dass die Klarheit unserer Position durch Gesprächsinitiative und Gesprächsbereitschaft auch mit
Russland ergänzt werden muss. Auf der Basis des
Selbstbestimmungsrechts müssen wir ins Gespräch mit
der russischen Regierung kommen. Ich sage auch durchaus selbstkritisch aus europäischer Perspektive: Wir
müssen die fatale Psychologie des Entweder-oder durchbrechen und durch eine Ratio von Gespräch, Diplomatie
und Kooperation ersetzen. Wir machen uns nicht altes,
überkommenes Einflusssphärendenken zu eigen, aber
wir wissen und respektieren sehr wohl, dass es in der
Ukraine einen beachtlichen Bevölkerungsteil gibt, der
sich Russland kulturell und traditionell verbunden fühlt.
Darum müssen wir auch mit Russland darüber reden,
weil keiner ein Interesse daran hat, wenn die Ukraine
brennt. Darum müssen wir darüber reden, weil gute
Nachbarschaft im Interesse von beiden ist, des Nachbarn
EU und des Nachbarn Russland. Diese Gesprächsinitiative, diese diplomatische Initiative muss stärker werden.
Entweder-oder ist eine Sackgasse sowohl für die
Ukraine selber, wenn sie gezwungen wäre, einer Alternative den Vorzug zu geben, als auch für die außen- und
europapolitische Situation. Diese fatale Situation, die in
der Perzeption in Russland und der Ukraine vorherrscht,
müssen wir überwinden. Wir müssen zu einem kooperativen Verhältnis kommen. Es gibt, wenn wir den Weg
des Entweder-oder und der Gewalt fortsetzen, nur Verlierer, keine Gewinner.
Wenn wir von der westlichen Seite und der östlichen
Seite zu einer partnerschaftlichen und guten Nachbarschaft mit der Ukraine kommen, wird das für alle ein
Gewinn sein. Ich glaube, für diesen neuen, auch diplomatischen Ansatz müssen wir uns einsetzen. Klarheit
müssen wir einbringen; gleichzeitig darf uns nichts zu
schade sein. Es muss alles eingesetzt werden, was wir an
diplomatischen und außenpolitischen Möglichkeiten und
Potenzialen haben. Es geht um Friede, Freiheit, Menschenwürde und Demokratie, und sie verlangen jeden
Einsatz von uns.
Vielen Dank.
({5})
Norbert Spinrath ist der nächste Redner für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Die dramatische Ent1214
wicklung der letzten Tage in Kiew hat uns sehr deutlich
gemacht, wie wichtig es ist, jetzt zu handeln. Die Welt
hat seit Wochen aufmerksam nach Kiew geschaut und
sich mit diplomatischen Initiativen bemüht, ihren Beitrag zu leisten, um den Konflikt zu beenden. Ich denke,
das hat alle demokratischen Kräfte miteinander vereint.
Dies heute als fehlgeleitet zu geißeln, bezeugt Ihre Auffassung von Demokratie, aber auch von Menschenrechten.
({0})
Die ukrainische Regierung hat sich dagegen auf unverantwortliche Weise ins Abseits manövriert. Sie versucht mit unverhältnismäßigen und brutalen Mitteln, den
Maidan zu räumen. Dabei wird sie immer dreister. Nach
einer blutigen Nacht vorgestern voller Gewalt mit 26 Toten und mehr als 1 000 Verletzten wollte sie gestern eine
Antiterroraktion starten. Die Sicherheitskräfte seien von
den Oppositionellen zum Eingreifen provoziert worden,
behauptet die Regierung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin gelernter
Polizist. In meinem anschließenden Studium befähigte
man mich unter anderem auch zur Bewältigung polizeilicher Großlagen. Mehrere Jahre war ich als Einsatzleiter
bei kleinen und großen Lagen unterwegs.
Daher weiß ich, dass es in einer Demokratie nicht hinnehmbar wäre, auf eine Provokation durch Demonstranten in der in Kiew gesehenen Weise zu reagieren.
({1})
Daher weiß ich auch, dass es nicht möglich ist, innerhalb
von Minuten nach einer Provokation durch Demonstranten spontan in dem Umfang zu reagieren, wie wir ihn in
Kiew gesehen haben. Daher weiß ich auch, dass es einer
präzisen Einsatzplanung und umfangreicher logistischer
Vorbereitungen bedarf, um einen verbarrikadierten Platz
wie den Maidan zu räumen und um, wie vorgestern und
gestern geschehen, die gesamte Stadt Kiew abzuriegeln
und damit den Zustrom weiterer Demonstranten zu unterbinden.
Das lässt für mich eben nur einen Schluss zu - ich bitte
die ganz linke Seite hier, einmal genau zuzuhören -: Die
Eskalation war keine Reaktion auf Provokationen; das
war eine geplante und gut vorbereitete Aktion der Sicherheitskräfte im Auftrag der Regierung.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Europäische
Union stützt sich insgesamt in ihrem Bestand wesentlich
auf ihre friedensstiftende und friedensbewahrende Wirkung. Sie hat mit ihrem Europäischen Auswärtigen
Dienst von Beginn der Auseinandersetzungen in der
Ukraine an deutliche Bemühungen unternommen, diesen
Konflikt positiv zu beeinflussen. Allerdings wurde das
nicht hinreichend öffentlich.
Gestern hat sich die Europäische Union, gestern haben
sich aber auch die USA zur Androhung von Sanktionen
entschlossen. Heute werden die Außenminister des sogenannten Weimarer Dreiecks auf dieser Grundlage in
Kiew verhandeln. Viele Menschen tun sich damit schwer,
mit Sanktionen zu operieren, weil deren Wirksamkeit oft
sehr begrenzt ist, wie die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte zeigen. Aber auch die Diplomatie - das haben wir
in den letzten Wochen ebenfalls erlebt - kann eine sehr
eng begrenzte Wirkung haben. Zumindest die Abläufe
des gestrigen Tages zeigen auf, dass die Androhung von
Sanktionen ein Mittel zum Einlenken sein kann. Denn
jetzt und sofort gilt es deutliche Signale zu setzen.
In der letzten Nacht erreichte uns dann die Eilmeldung, dass sich Präsident und Opposition auf eine Aussetzung der Gewalt geeinigt hätten. Dies könnte Hoffnung für die Menschen in der Ukraine bringen. Doch
schon die Bilder von heute Morgen zeigen, dass die Auseinandersetzungen wieder begonnen haben, als sei gestern Abend nichts geschehen. Ich denke, das zeigt uns
auf, wie wichtig es ist, unsere Bemühungen um die Herbeiführung einer friedlichen Lösung fortzusetzen und bei
diesen eben nicht nachzulassen.
Neben Sanktionen muss aber unabdingbar die Diplomatie weitergehen. Sie muss die Wirkung von Worten
verstärken. Sie muss stärker auf diplomatische Floskeln
verzichten, um mit der notwendigen Schärfe den Druck
auf Janukowitsch aufzubauen. Es gilt, den Staatspräsidenten an der Herbeiführung eines blutigen Bürgerkriegs
zu hindern. Es gilt aber auch, die letzte Chance zu nutzen, bevor extremistische Kräfte endgültig die Oberhand
über die anfangs so vorbildlich friedliche Opposition auf
dem Maidan gewinnen.
Die Europäische Union muss nun entschlossen auftreten. Da geht es gar nicht darum, wer Sieger wird. Wie
mein Kollege Niels Annen eben schon gesagt hat, darf es
nicht darum gehen, dass sich die Ukraine entscheiden
muss zwischen Russland und der EU. Die Ukraine ist
Teil Europas. Sie braucht aber gleichermaßen verlässliche Handelsbeziehungen zu Russland.
Jenseits von Szenarien zu Machtordnungen in Osteuropa müssen alle Anstrengungen darauf gerichtet sein,
eine Regierung, die sich ins Abseits manövriert hat, davon abzuhalten, die Lösung des Konflikts in brutaler Gewalt zum Nachteil ihrer Gesellschaft zu suchen und dabei einen Bürgerkrieg herbeizuführen. Im Vordergrund
müssen Deeskalation und Befriedung stehen. Zwecks
Rückkehr zu von allen Seiten getragenen demokratischen Lösungen muss aber auch - dazu fordere ich die
Außenminister auf, die heute in Kiew sind - in Moskau
deutlich gemacht werden, dass die Ukraine kein Spielfeld für Machtinteressen und Machtoptionen sein darf.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, meinen Dank für
die Aufmerksamkeit verbinde ich mit meinem letzten
Gedanken: Russland und die EU müssen ab sofort an einem Strang ziehen: zur Verhinderung eines Bürgerkriegs
in der Ukraine - im Interesse der demokratischen Kräfte,
im Interesse der Menschen in der Ukraine.
({3})
Das Wort hat nun der Kollege Florian Hahn für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Waffenstillstand, der gestern ausgehandelt wurde und
uns noch Hoffnung gegeben hat, wurde offensichtlich
nicht eingehalten. Reuters meldet aktuell zehn weitere
Tote. Das Treffen mit den Außenministern des Weimarer
Dreiecks, das hoffnungsvoll anvisiert war, hat nicht stattgefunden; auch das läuft gerade über Reuters. Da angesichts dieser Entwicklungen die Fraktion Die Linke mit
gerade einmal elf Kolleginnen und Kollegen in diesem
Haus diesen Zirkus hier veranstaltet und offensichtlich
diese Debatte nicht ernst nimmt, frage ich: Wo ist Herr
Gysi? Wo ist Frau Wagenknecht? Wo ist Frau Kipping?
Wo ist die Führung der Fraktion Die Linke? Ich finde
das unglaublich!
({0})
Es ist keine zwei Jahre her, da haben Menschen auf
dem Maidan und in der ganzen Ukraine die Fußballeuropameisterschaft gefeiert. Seit Wochen erreichen uns nun
erschütternde Bilder von den gleichen Stellen. Der traurige Höhepunkt war in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch mit etwa 30 Toten auf allen Seiten. Wir müssen
befürchten, dass dieses Land in den Bürgerkrieg hineinrutscht.
Mit der Erstürmung des Maidan durch die Polizei mit
Wasserwerfern, mit Blendgranaten, mit unglaublicher
Brutalität hat die ukrainische Regierung die Gewalteskalation ganz bewusst in Kauf genommen. Circa 30 Menschen sind getötet worden, jetzt noch einmal 10. Das
dürfte eine der blutigsten Nächte in Osteuropa seit dem
Zusammenbruch der Sowjetunion gewesen sein. Die
Verantwortung dafür trägt in der Hauptsache das Regime
Janukowitsch.
Die Rede Janukowitschs anlässlich dieser Krawalle
muss sich für die Opfer und für die Familien der Opfer
wie Hohn und Spott anhören. Er nennt sich selbst einen
Feind der Gewaltanwendung. Wir wissen aus vielen
Quellen, dass Oppositionelle geschlagen, gefoltert werden oder gar einfach verschwinden. Er wirft der Opposition vor, sie würde die Grundsätze der Demokratie missachten. Es ist sein Regime, das die Versammlungs- und
Meinungsfreiheit der Bürger in der Ukraine einschränkt.
Es ist sein Regime, das eine Debatte im Parlament nicht
zulässt, in der die Opposition mögliche Verfassungsänderungen diskutieren will.
Der Präsident macht nur eines deutlich: Er will seine
Macht nicht abgeben. Das ist bitter; denn in den letzten
Wochen ist es den gemäßigten Oppositionsführern wie
Klitschko gelungen, die Gewaltbereiten in ihren eigenen
Reihen immer wieder zu beruhigen. Jetzt gibt es Brandanschläge gegen Büros der Opposition im ganzen Land.
Offensichtlich wollen Kräfte Gewalt erzeugen - regierungsnahe Kräfte. Wenn das so weitergeht, kommt es
zum Bürgerkrieg. Deshalb müssen wir alle Beteiligten
an den Verhandlungstisch zurückbringen, und diese
müssen ernsthaft verhandeln. Um das zu erreichen, müssen wir den Druck auf das Regime weiter erhöhen. Sanktionen, vor allem gegen die Oligarchen im Hintergrund,
müssen greifen, können womöglich das entscheidende
Quäntchen ausmachen, damit sich nun etwas tut und wir
eine weitere Eskalation verhindern.
Die nächsten Schritte für eine bessere Zukunft der
Ukraine müssen sein: ernsthafte Verhandlungen mit allen
Beteiligten, eine Übergangsregierung ohne Janukowitsch,
Neuwahlen. Es muss auch verhindert werden, dass dieses Land weiter gespalten wird. Die Oligarchen müssen
entmachtet und Korruption muss bekämpft werden. Hier
wollen wir und hier müssen wir der Ukraine helfen.
Den vielen mutigen Menschen, die aktuell für Frieden, Freiheit und Demokratie in der Ukraine kämpfen,
sollten wir von hier aus zurufen, dass sie durchhalten
sollen, so friedlich wie möglich. Gerade wir Deutschen
wissen, dass sich dieser Mut lohnen kann.
Vielen Dank.
({1})
Nächster Redner ist der Kollege Manuel Sarrazin,
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es ist nicht leicht, hier zu reden. Im Internet
ist von sieben Toten die Rede, die allein heute früh in
Kiew zu beklagen sind. Es ist auch deswegen nicht
leicht, weil man nicht weiß, wie es weitergeht, wenn die
Mission des Weimarer Dreiecks, so wie es jetzt aussieht,
erfolglos ist und die Minister wieder abreisen müssen.
Es ist auch nicht leicht, vor dem Hintergrund der Ereignisse der Linkspartei heute zuzuhören.
({0})
Ich habe Angst vor dem, was passiert. Ich habe Angst
davor, dass es eine Lage geben könnte, in der Stabilität
nicht schnell wiederherzustellen ist. Wer die Verantwortung dafür trägt, kann man klar benennen. Die Verantwortung zeigt sich auch darin, dass spätestens mit dem
Einsatz zur Räumung des Maidan die Legitimität von
Wiktor Janukowitsch in der Ukraine nicht mehr die ist,
die sie vor drei Tagen noch war.
({1})
Glauben Sie wirklich, wenn Sie hier von Stabilität reden,
dass man mit diesem Präsidenten noch in der Lage sein
wird, Stabilität in der Ukraine wiederherzustellen?
({2})
Meine Damen und Herren, ich glaube, dass heute
Berlin, Budapest, Posen, Stettin, Danzig, Leipzig und
Vilnius auf Kiew schauen. Ich glaube, dass viele Menschen, die die Ereignisse in Zentraleuropa im 20. Jahrhundert miterlebt haben, heute auf Kiew schauen. Ich
denke - mit Verlaub -, dass Ihre Einlassungen hier, so
sehr auch ich Herrn Liebich beispielsweise schätze, damit zu erklären sind, aus welcher Tradition Ihre Partei
kommt.
({3})
Ich möchte aber auch sagen: Die Ukraine hat ein
Recht darauf, auch von der deutschen Außenpolitik zuerst aus ihrer eigenen Perspektive betrachtet zu werden,
mit ihren eigenen Interessen und mit ihrer eigenen Situation wahrgenommen zu werden. Die Ukraine hat ein
Recht darauf, dass die deutsche Außenpolitik sagt: Wir
stehen zu den Menschen, die sich für dieses Land einsetzen. Wir stehen zu denen, die seit Monaten friedlich auf
dem Maidan bei klirrender Kälte für Demokratie, für
Freiheit und auch für den Nationalstaat gekämpft haben. - Das müssen sich auch der deutsche Außenminister und die deutsche Kanzlerin zu sagen trauen.
({4})
Wenn man sich die Äußerungen der letzten Stunden
und Tage anschaut - des polnischen Ministerpräsidenten, des Vorsitzenden der Europäischen Volkspartei, des
schwedischen Außenministers, der konservativen litauischen Präsidentin und auch Obamas -, glaube ich, dass
hier vielleicht früher mehr Klarheit und Deutlichkeit gut
gewesen wären.
({5})
Mit dem Befehl zur Räumung des Maidan ist, wie ich
glaube, die Legitimität von Wiktor Janukowitsch nicht
mehr gegeben. Mit der Entscheidung, den Maidan zu
räumen, hat sich der Charakter des Vorgehens der ukrainischen Regierung verändert. Seitdem handelt es sich
eher um eine Niederschlagung denn um einen Teil einer
politischen Lösung. Wenn ich daran denke, wie meine
Freunde in Lemberg empfinden, glaube ich, dass es nicht
einfach möglich sein wird, Stabilität mit einer Rückkehr
zum vorherigen Status wiederherzustellen. Deswegen
gehört es doch zur Wahrheit dazu - das ist auch ein Beitrag zur Lösung der Situation -, zu sagen: Die Verantwortung für diese Desintegration des Staates Ukraine,
die viele schreckliche Bilder erst möglich macht - Bilder, die keiner von uns gutheißt, auch wenn Sie uns das
unterstellen -, trägt das Regime, da es diese Desintegration erst durch das Aussitzen und die fehlende Bereitschaft, zu einer politischen Lösung beizutragen, herbeigeführt hat.
({6})
Herrn Janukowitsch muss doch klar sein, wenn er
denn noch derjenige ist, der dort das Sagen hat, dass er
diese Legitimität nicht wieder herbeiführen kann, indem
er einzig und allein eine Anlehnung an den Kreml versucht. Ich glaube sogar, vor dem Hintergrund des Einflusses, den der Kreml natürlich in der Ukraine geltend
gemacht hat, wie wir in den letzten Monaten erleben
konnten, ist es notwendig, dass auch die Europäische
Union Einfluss geltend macht. Ich teile in dieser Hinsicht die Einschätzung, dass die Europäische Union nicht
ein Mittler ist, der sozusagen neutral verhandeln kann.
Aber Russland ist auch nicht ein Mittler, der neutral verhandeln kann. Was Sie letztlich vorschlagen, ist,
({7})
dass der russische Einfluss in der Ukraine bestehen bleiben soll, sich aber die Europäische Union und der Westen schön zurückhalten sollen. Das ist keine Lösung für
die Ukraine.
({8})
Ich glaube, wir dürfen in dieser Situation eines nicht
vergessen: Wer glaubt, dass die Ukraine jetzt wie im
20. Jahrhundert in einer Art Glacis sei, wo die Einflüsse
der Nachbarn durch klare Grenzen eindeutig aufgeteilt
werden könnten, der bewegt sich in der Logik des
20. Jahrhunderts. Das ist nicht meine Sicht auf die
Ukraine, aber auch nicht auf Russland oder auf uns.
Herr Kollege Sarrazin.
Ich komme zum Schluss. - Ich glaube, wir müssen
deutlich machen, dass die Reaktion darauf, dass diese
Region im 20. Jahrhundert unter den schwersten Verbrechen gelitten hat, weil sie immer Objekt der Machtpolitik ihrer Nachbarn war, sein muss, dass wir dafür sorgen,
dass die Menschen in der Ukraine selber entscheiden
können. Den friedlichen Demonstranten, die seit Monaten auf dem Maidan für dieses Ziel einstehen, möchte
ich von dieser Stelle aus sagen: Djakuju!
Danke schön.
({0})
Karl-Georg Wellmann ist der nächste Redner für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Gewalt in Kiew ist furchtbar. Eben wird gemeldet, dass vor
dem Hotel „Ukraine“ die Leichen von sieben erschossenen Demonstranten liegen. Ich fürchte, das ist heute
noch nicht das Ende. Wenn die Gespräche der Außenminister erfolglos verlaufen sind, dann wird das weitergehen.
Gewalt ist keine Lösung und mit den Anforderungen
der modernen Welt nicht kompatibel. Wir müssen
Janukowitsch sagen: Diese Form von Gewalt bringt dich
politisch ins europäische Mittelalter zurück. Es ist ausweglos.
({0})
Er muss wissen: Die Welt schaut auf Kiew.
Ich möchte Sie mit einem sehr skandalösen Vorgang
vertraut machen. Wir informieren uns vielfach über
Webcams. Viele dieser Webcams sind in Deutschland
gesperrt mit Hinweis darauf, dass die GEMA keine
Rechte zur Nutzung erteilt habe. Ich habe mit der
GEMA gesprochen. Sie sagt: Es ist nicht die GEMA,
sondern es ist Google, das über YouTube diese Webcams
sperrt. - Die Webcams sind ein ganz wichtiges Instrument für Transparenz. Sie sind wichtig dafür, dass sich
die Welt informieren kann, dass sie zusehen kann, was
dort passiert. Es kann nicht sein, dass die Amerikaner,
die uns sonst so gerne über Menschenrechte belehren,
nicht dafür sorgen, dass diese Webcams freigeschaltet
werden.
({1})
Ich kann nur an die Bundesregierung appellieren, dass
sie bei der amerikanischen Regierung interveniert, dass
diese Webcams freigeschaltet werden. Das ist ganz
wichtig.
({2})
Meine Damen und Herren, wahr ist: Allein Sanktionen oder allein die Absetzung eines Präsidenten sind
noch kein Konzept. Wir brauchen für die Ukraine ein
umfassendes politisches und ökonomisches Konzept.
Wahr ist auch: Wir werden nicht gegen Russland eine
nachhaltige Lösung für die Ukraine zustande bringen.
Die Russen haben allerdings kein erkennbares eigenes
Konzept. Es reicht nicht, sich immer nur gegen eine imaginäre Verschwörung zu wenden und uns zu sagen:
Mischt euch nicht ein! - Vielmehr müssen sie selbst Verantwortung wahrnehmen. Wenn Russland Teil des großen Europas sein will und mitreden will, muss es Verantwortung übernehmen und ein Konzept, wie es in der
Ukraine weitergeht, mit uns besprechen; mit uns heißt:
mit der EU, mit Deutschland, Polen, Frankreich und den
anderen Ländern. Wir müssen Russland sagen: Wartet
nicht, bis die ganze Ukraine in Flammen steht.
Der Konflikt ist ja auch nicht im Sinne Russlands. Es
würde ein gespaltenes Land übernehmen. Es müsste alles bezahlen; das tut es im Moment schon. Es gäbe keine
eigene politische Struktur. Und es hätte weiter mit dieser
ukrainischen Regierung zu tun. Auch die Politik Russlands ist ausweglos. Wir müssen Russland sagen:
Kommt endlich an den Verhandlungstisch und sprecht
mit uns, mit der EU, über konstruktive Konzepte.
Die Krise hat vor allem politische Ursachen; das hat
Norbert Röttgen schon gesagt. Wir brauchen endlich einen vertrauenswürdigen Ministerpräsidenten. Wir brauchen ein nationales Rettungsprogramm für die Ukraine.
Wir brauchen deeskalierende Schritte. Janukowitsch
muss dafür sorgen, dass die Spezialeinheit „Berkut“ zurück in die Kasernen kommt und wir nach und nach deeskalierende Schritte in Kiew durchführen können,
({3})
am Ende auch die Räumung von Gebäuden und Barrikaden.
Das Ziel aber ist der Verfassungsdialog. In der
Ukraine muss ein öffentlicher Verfassungsdialog geführt
werden, durch den die Defizite, die im Moment in der
Verfassung bestehen, behoben werden. Dieser Verfassungsdialog muss demokratische Standards herbeiführen, mit denen die Ukraine eine echte Zukunftsperspektive in Europa hat.
Ich danke Ihnen.
({4})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Bernd Fabritius für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Nachrichten und die Bilder der letzten Tage, ja der letzten Minuten, machen zutiefst betroffen. Reuters meldet
im Minutentakt weitere Opfer - Verletzte und Tote. Solche Bilder erinnern mich persönlich schmerzlich an
Selbsterlebtes, und zwar an die Bilder aus Rumänien im
Winter 1989.
Es muss sich nicht alles wiederholen, wenn Menschen
ihr Schicksal im Kampf um Demokratie und Selbstbestimmung in die eigenen Hände nehmen. Wir haben es
hier mit einer schwerwiegenden Krise mitten in Europa
zu tun, die sich inzwischen zu einem Bürgerkrieg entwickelt hat. Gestern erreichten uns erste Meldungen darüber, dass sich das Militär in der Ukraine auf eine Intervention vorbereite. Die humanitäre Lage ist prekär:
Schulen sind geschlossen, der Nahverkehr steht still, die
Krankenhäuser sind übervoll. Der polnische UkraineVermittler Aleksander Kwasniewski spricht bereits von
einem ukrainischen Tiananmen.
Die tragische Zuspitzung der Lage in der Ukraine
kann ich nur auf ein gezieltes unverantwortliches Vorgehen der aktuellen Regierung zurückführen. Präsident
Janukowitsch gibt sich uneinsichtig und spricht von einem Staatsstreich. Zum Schein geht er noch am Wochenende auf die Opposition zu, um dann gezielt und geplant,
also gar nicht kurzfristig - das wurde heute schon dargestellt -, volle Härte zu zeigen. Von Terrorabwehr ist
plötzlich die Rede. Heute Nacht gab es nun ein Gewaltverzichtsabkommen. Die aktuellen Nachrichten zeigen
allerdings, dass es nicht hält. Als verlässlicher Verhand1218
lungspartner hat sich Janukowitsch in den letzten Monaten wahrlich nicht erwiesen - weder im Verhältnis zur
Europäischen Union noch zur Opposition im eigenen
Lande.
Medien sprechen zwar von Provokationen, aber auch
davon, dass die Demonstranten auf dem Maidan vielleicht „gezielte Störenfriede“ selbst im Griff hatten.
Trotzdem räumt die Regierung diese Wirkungsplattform
einer nach Demokratie schreienden Menschenmenge,
steckt deren Zelte in Brand und schießt wild um sich.
Mit Demokratie, mit Verständnis für die eigenen Bürger
oder auch nur dem Wohl des eigenen Landes hat das wenig zu tun. Ich muss schon sagen: Dass man das in diesem Hohen Hause mit Rosa-Luxemburg-Zitaten hinterlegt, kann ich nicht verstehen.
({0})
Die Ukraine, meine Damen und Herren, scheint von
Russland vor die Wahl gestellt zu werden, sich zwischen
der eurasischen Zollunion Putins und einer Annäherung
an die Europäische Union entscheiden zu müssen. Nicht
anders können die Maßnahmen verstanden werden, die
letztlich zum Aussetzen der Assoziierungsverhandlungen und zum Scheitern des Gipfels der Östlichen Partnerschaft in Vilnius geführt haben. Es kann aber auch
nicht um ein Entweder-oder im Sinne Russlands gehen.
Für die Ukraine erscheint dieser Konflikt schier unlösbar, wenn nicht alle Akteure einschließlich Russlands an
einer friedlichen Lösung mitwirken.
Die Ukraine und Russland sind eng verbunden. Kiew
ist als altes Zentrum des ostslawischen Großreichs, der
Kiewer Rus im 9. Jahrhundert, gleichsam die Wiege und
Keimzelle russischer Staatlichkeit und daher Russland
historisch nicht gleichgültig. Die Ukraine ist das wichtigste Bruderland. Sie ist damit Ausgangspunkt und als
ehemalige Sowjetrepublik Wegbegleiter der gemeinsamen Geschichte. Sie ist aber auch ein Land mit einer zutiefst christlichen und in weiten Teilen proeuropäisch
orientierten Bevölkerung, das einen europaorientierten
sicherheitspolitischen Kurs und gute Kooperation mit
der NATO pflegt.
Es muss daher eine ukrainische Lösung im Sinne eines Sowohl-als-auch - selbstverständlich mit der von
den Menschen in der Ukraine gewünschten deutlichen
Annäherung an die Europäische Union - geben, die von
einer breiten demokratischen Mehrheit getragen würde.
Wie können wir dazu beitragen? Deutschland sollte gemeinsam mit den europäischen Partnern über bewährte
Institutionen wie die OSZE und den Europarat den Konflikt positiv beeinflussen und hierbei auch Russland in
die Pflicht nehmen. Sanktionen, die vornehmlich - das
hat Herr Kollege Hahn zutreffend aufgezeigt - Regierung und Oligarchen und nicht etwa die Menschen in der
Ukraine treffen sollen, sind dringend angezeigt. Vor allem vom heutigen Treffen der EU-Außenminister erhoffe ich mir ein klares Signal.
({1})
Als zusätzliche Chance sehe ich die Einbindung unserer
polnischen Freunde, die wir darin bestärken sollten, zur
deutlichen Mäßigung in ihren Nachbarländern beizutragen.
Unsere Außenminister, Frau Kollegin, sind nicht abgereist. N-tv berichtete gerade, dass sie noch miteinander sprechen. Nehmen Sie das als Zeichen einer hitzigen
Situation. Wir brauchen vor allem eine schnelle und
nachhaltige Lösung. Es hat oberste Priorität, weitere Opfer, egal auf welcher Seite, zu verhindern.
An Zuständen wie in Syrien kann in Europa niemand
Interesse haben: weder Russland noch die Ukraine und
schon gar nicht die Europäische Union.
Danke.
({2})
Herr Kollege Fabritius, das war Ihre erste Rede im
Deutschen Bundestag, zu der ich Ihnen herzlich gratuliere, verbunden mit allen guten Wünschen für die weitere Arbeit.
({0})
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 2 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Bekräftigung der Empfehlungen des Abschlussberichts des 2. Untersuchungsausschusses der 17. Wahlperiode „Terrorgruppe
Nationalsozialistischer Untergrund“
Drucksache 18/558
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 96 Minuten vorgesehen. - Dazu höre ich
keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst dem
Kollegen Clemens Binninger für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({1})
Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Dass wir heute erneut über Ergebnisse eines Untersuchungsausschusses debattieren und den dazu vorliegenden
Antrag mit hoher Wahrscheinlichkeit einvernehmlich beschließen werden, ist keine Selbstverständlichkeit. Dass
die Ergebnisse des Untersuchungsausschusses ungekürzt
in den Koalitionsvertrag übernommen wurden, ist auch
keine Selbstverständlichkeit. Dafür bedanke ich mich
noch einmal bei den Parteivorsitzenden; dies war ein
wichtiges Zeichen.
({0})
Dass wir uns heute als 18. Deutscher Bundestag noch
einmal mit den Ergebnissen befassen und die Empfehlungen beschließen und damit ein Zeichen für deren Umsetzung geben, ist ein ebenso wichtiger Punkt.
Heute soll es nicht darum gehen, die Fehleranalyse
noch einmal fortzusetzen. Heute soll der Startpunkt sein
für die Umsetzung unserer Empfehlungen.
Eines will ich aber vorwegschicken - das müssen wir
uns immer wieder in Erinnerung rufen -: Dass es einem
Verbrechertrio gelungen ist, über mehr als zehn Jahre
hinweg in Deutschland 10 Morde, 2 Sprengstoffanschläge und 14 Banküberfälle zu begehen, ohne dass
überhaupt jemand den Zusammenhang erkannt hat, ohne
dass jemand diesem Trio auch nur ansatzweise auf die
Spur gekommen wäre, war nicht nur eine Niederlage für
die Sicherheitsbehörden. Es war mehr: Es war eine Niederlage für unsere Gesellschaft. Dies darf sich nicht wiederholen.
({1})
Wenn wir uns die Ursachen noch einmal vor Augen
halten, dann kann man sie sehr komprimiert in fünf
Punkten zusammenfassen:
Die Zusammenarbeit zwischen Polizei und Staatsanwaltschaften bei den Delikten, die die Ländergrenzen
überschritten haben, war nicht optimal. Die föderale Sicherheitsarchitektur wurde sehr schnell an ihre Grenzen
geführt.
Die Zusammenarbeit zwischen Polizei und Verfassungsschutz war schlecht; man muss das in dieser Deutlichkeit sagen. Die Informationsweitergabe geschah nur
bruchstückhaft, zu spät oder gar nicht.
Das frühe Festlegen auf eine Ermittlungsrichtung bei
diesen Delikten - es muss sich um organisierte Kriminalität handeln - und daran über fast zehn Jahre festzuhalten, war ein weiteres Problem.
Der teilweise problembeladene Umgang mit den Opfern und den Familien der Opfer, der diese fast noch einmal zu Opfern gemacht hätte, war ein großer Kritikpunkt
und darf sich nicht wiederholen. Wer Opfer eines schweren Verbrechens wird, darf nicht durch die Ermittlungen
noch einmal zum Opfer werden.
({2})
Auch der Einsatz der V-Leute war problematisch. Ich
sage gleich dazu: Wir können auf dieses Instrument
nicht verzichten. Aber so, wie dieser Einsatz im Bereich
des Rechtsextremismus in diesen 15 Jahren ablief, standen Aufwand und Risiko, das man dabei eingeht, und
Nutzen in keinem Verhältnis. Er hat nicht dazu beigetragen, diese Serie zu stoppen oder sie gar aufzuklären.
Auch das ist eines der Probleme, die wir klar benennen
müssen, damit so etwas nicht noch einmal vorkommt.
({3})
Welche Empfehlungen sprechen wir aus? In dem Antrag, der uns heute hier vorliegt, sind insgesamt 50 genannt. Ich will nur auf ein paar wenige eingehen; ich
gehe davon aus, dass die Kollegen nachher ganz gezielt
bestimmte Punkte ansprechen werden.
Wir sagen zum einen: Wir wollen an der föderalen Sicherheitsarchitektur festhalten. Aber wenn Ermittlungen
über Ländergrenzen hinweg, in mehreren Bundesländern, geführt werden müssen, dann kann es nicht sein,
dass fünf Polizeien, dass fünf Staatsanwaltschaften parallel zuständig sind und man am Ende ein Kunstgebilde
erfinden muss, um die Ermittlungen abzustimmen. In
solchen Fällen brauchen wir aufseiten der Polizei wie
aufseiten der Justiz eine Stelle, die federführend ist und
auch das Sagen hat; das ist eine der entscheidenden Veränderungen, die wir empfehlen. Wenn das umgesetzt
wird, dann werden die Ermittlungen hier besser vorankommen.
Ein weiterer Punkt. Wir brauchen einen besseren Informationsaustausch zwischen Polizei und Verfassungsschutz unter Beachtung des Trennungsgebots. Ich weiß,
dass das nicht einfach ist. Beim Verfassungsschutz unterliegen viele Informationen - nahezu alle - der Geheimhaltung. Aber es gibt Möglichkeiten, und bei Mordermittlungen, bei Kapitalverbrechen wäre dies auch in
der Vergangenheit schön möglich gewesen.
Der Austausch der Informationen muss hier besser
werden. Ich glaube, dass wir mit der Einrichtung der
Rechtsextremismusdatei, die wir schon in der letzten Legislaturperiode beschlossen haben, einen wichtigen
Schritt gemacht haben. Das ist eine der Empfehlungen,
die wir geben. Die Sicherheitsbehörden in unserem
Land, die den Aufrag haben, gemeinsam für die Sicherheit der Menschen in diesem Land zu sorgen, müssen
vom Gesetzgeber in die Lage versetzt werden, zusammenzuarbeiten und Informationen auszutauschen. Auch
das ist ein wichtiger Punkt, den wir umsetzen müssen.
({4})
Ich habe es gesagt: Wir wollen das Instrument der
V-Leute nicht abschaffen. Es gibt Szenen und Phänomenbereiche, die so abgeschottet sind, dass man ohne
dieses Instrument gar keine Informationen bekommen
würde. Dazu gehört aber auch: V-Leute sind keine Mitarbeiter von Sicherheitsbehörden. Es sind Angehörige
einer kriminellen oder extremistischen Szene, und das
bleiben sie auch. Sie sind nur gegen Geld bereit, mit den
Behörden zusammenzuarbeiten. Deshalb braucht es hier
klare Regeln, mit wem man zusammenarbeitet und mit
wem nicht. Wenn man, wie hier geschehen, V-Leute auswählt, die wegen versuchten Mordes verurteilt sind und
sich dann selber als V-Mann bei einer Verfassungsschutzbehörde andienen, und über viele Jahre führt, dann
überschreitet man im Rechtsstaat, wie ich finde, eine
rote Linie. Auch das darf sich nicht wiederholen.
({5})
Wir müssen aber auch Empfehlungen aussprechen,
die über diesen Bereich hinausgehen. Wir alle haben
diese Mordserie nicht erkannt, auch wir Fachpolitiker
nicht. Ich gehöre seit 2002 dem Deutschen Bundestag
an, und ich kann mich nicht daran erinnern, dass wir uns
im Innenausschuss vor dem Auffliegen des NSU jemals
ausführlich mit dieser Mordserie befasst hätten. Auch
wir haben es also nicht gesehen. Auch viele Journalisten,
die vom Fach sind, haben diesen Zusammenhang nicht
gesehen. Auch über den zu Recht zum Unwort des Jahres gewählten Begriff „Döner-Morde“ hat sich interessanterweise niemand empört, bevor der NSU aufgeflogen ist - dann zu Recht, aber vielleicht zu spät. Insofern
gilt, dass die Empfehlungen nicht nur an die Sicherheitsbehörden gehen; sie gehen auch an uns, an die verantwortlichen Parlamentarier.
Dies betrifft auch ein Feld, mit dem wir uns gerade
befassen, auch ich in meiner neuen Funktion als Vorsitzender des Parlamentarischen Kontrollgremiums: Auch
die parlamentarische Kontrolle der Nachrichtendienste
muss reformiert werden, damit sie effektiver, zielgenauer und ergebnisorientierter durchgeführt werden
kann.
({6})
An wen richten sich diese Empfehlungen? Sie richten
sich nicht nur an den Bundesinnenminister. Sie richten
sich an den Bereich der Polizei, aber auch an den Bereich der Staatsanwaltschaften. Insofern ist auch der
Bundesjustizminister gefordert. Ich finde es gut, Herr
Maas, dass Sie hier heute kurz reden. Vielleicht durchbrechen Sie da die Tradition Ihrer Vorgängerin, die zwar
gerne Vorschläge eingebracht hat, vorwiegend für andere
Ressorts, aber hier eher selten gesprochen hat. Sollte es
zu einer solchen Umkehr kommen, dann ist das ein guter
Start, um zu Ergebnissen zu kommen.
Aber nicht nur die Bundesbehörden, sondern auch die
Behörden der Länder sind in hohem Maße betroffen.
Deshalb müssen wir darauf setzen, dass auch die Länder
unsere Empfehlungen beherzigen. Die Bundesratsbank
ist heute zwar nur überschaubar gefüllt, trotzdem gilt die
Botschaft: Ohne Reformen bei den Sicherheitsbehörden
der Länder wird sich nur wenig verbessern.
Wir haben es immer so gehandhabt, dass wir parteiübergreifend dort Kritik geäußert haben, wo sie notwendig war. Nun muss ich Kritik an der grün-roten Landesregierung in Baden-Württemberg üben. Ich habe nicht
den Eindruck, dass man den bestehenden Reformbedarf
dort wirklich erkannt hat. Ich will das begründen.
Innenminister Gall hat vor einigen Tagen seinen Bericht zur sogenannten Ermittlungsgruppe Umfeld vorgestellt. Es ging darum, Bezüge des NSU nach BadenWürttemberg aufzuklären. Ich will gleich hinzufügen:
Ich kritisiere nicht die Arbeit der Beamten dieser Ermittlungsgruppe, die mit hohem Einsatz und trotz begrenzter
Möglichkeiten das Beste daraus gemacht haben.
In dem Bericht wird festgestellt - und das lässt aufhorchen -, dass von jenen Personen, die Kontakt zum
NSU-Trio oder zu dessen Unterstützern hatten, 52 Personen - ich wiederhole: 52 Personen - Bezüge nach Baden-Württemberg haben. In keinem anderen Bundesland
haben wir eine solche Häufung feststellen können.
Schon allein aufgrund dieser Feststellung finde ich die
Ergebnisse, die Herr Gall präsentiert, sehr mutig. Er legt
sich sehr fest in Bezug darauf, was es alles angeblich
nicht gibt. Es ist wenig Selbstkritik zu erkennen.
Die Ergebnisse der EG Umfeld machen nur einen
kleineren Teil des Berichts aus. Auf über 40, 50 Seiten
setzt sich der Bericht mit den Ergebnissen des Untersuchungsausschusses auseinander, relativiert diese, weist
darauf hin, dass doch alles immer gut war und gut lief.
Aber die Krönung für mich war - ich sage das, damit
Sie sehen, warum ich ein bisschen enttäuscht und verärgert bin -: Auf Seite 102 des Berichtes von Herrn Gall
- insgesamt umfasst er 150 Seiten - geht es um die Rolle
des Gründers des Ku-Klux-Klans in Baden-Württemberg. Man muss bedenken, welche Rolle dieser Mensch
sonst noch gespielt hat. Beim Verfassen des Berichtes
war man sich der Sensibilität dieses Themas offenbar
nicht bewusst. Man zitiert ernsthaft den Ku-Klux-KlanGründer und führt aus, dass auch er seine Rolle immer
bestritten hat. Unterschwellig heißt das doch: Dann wird
es wohl so gewesen sein. - Was ist das für ein Bericht
zur Aufarbeitung der Vorgänge, wenn trotz der gewonnenen Erkenntnisse die Aussage des Ku-Klux-KlanGründers zitiert wird? Hier ist offenkundig mehr Aufklärung gefragt und nicht weniger.
({7})
Wir waren kollegial immer eng beieinander. Liebe
Kollegen der beiden angesprochenen Fraktionen, vielleicht haben Sie die Möglichkeit, darauf hinzuwirken,
dass das eine oder andere noch nachgearbeitet wird. Ich
wäre Ihnen wirklich sehr verbunden.
({8})
Heute gilt es zu betonen, dass wir uns im Parlament
einig darüber sind, was zu tun ist. Heute setzen wir den
Startpunkt für die Umsetzung der Empfehlungen. Nicht
bei allen Empfehlungen wird uns dies von heute auf
morgen gelingen. Aber wir müssen dort Veränderungen
vornehmen, wo sie dringend notwendig sind. Wir alle
sind hier gefragt: der Bund, die Länder, aber auch wir im
Parlament.
Von dieser Debatte sollte das Signal ausgehen, dass
Menschen, egal woher sie kommen, in unserem Land sicher und frei von Angst vor Verbrechen leben können,
dass sie nicht fürchten müssen, dass sie aufgrund ihrer
Herkunft oder Religion Opfer einer Straftat werden, und
dass wir als Parlament alles dafür tun, dass die Bedingungen dafür geschaffen werden. Das ist ein Versprechen, das wir heute geben. An ihm müssen wir uns messen lassen, nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Herzlichen Dank.
({9})
Die Kollegin Petra Pau erhält nun das Wort für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein
Nazitrio namens NSU, Nationalsozialistischer Untergrund, war 13 Jahre lang raubend und mordend durch
Deutschland gezogen. Nach dem 4. November 2011 flog
es auf. Das allgemeine Entsetzen war groß, auch über die
Ignoranz und Arroganz in Sicherheitsbehörden. Was
lange ausgeblendet wurde, weil nicht sein sollte, was
nicht sein darf, wurde manifest: Es gibt tödlichen
Rechtsterrorismus in Deutschland, und es gibt Opfer ebenfalls viel mehr, als bis dato eingestanden wurde. Vor
allem ihnen gilt unser erstes Augenmerk.
Der damalige Bundestag einigte sich fraktionsübergreifend auf einen Untersuchungsausschuss. Ich arbeitete für die Fraktion Die Linke mit. Am 2. September
2013 - der Kollege Binninger hat das eben schon vorgetragen - hatte derselbe Untersuchungsausschuss,
wiederum fraktionsübergreifend, einen Abschlussbericht vorgelegt. Die Linke hatte ihm zugestimmt. Der
Abschlussbericht enthält zugleich unsere weiter gehenden und auch abweichenden Positionen.
Grundsätzlich sind das vor allem drei:
Erstens halten wir die Ämter für Verfassungsschutz
für nicht kontrollierbar und deshalb auch nicht für reformierbar.
({0})
Sie waren Teil des NSU-Desasters. Wir sind der Auffassung, sie sollten deshalb als Geheimdienste aufgelöst
werden.
({1})
Zweitens ist die staatliche Unterstützung für gesellschaftliche Initiativen gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus völlig unzureichend. Wir
brauchen folglich ein neues, ein anderes Fördersystem.
Drittens muss der grassierende Rassismus in der Gesellschaft und institutionell endlich als akutes Problem
anerkannt und politisch bekämpft werden. Ignoranz hilft
da niemandem.
({2})
Militanter Rechtsextremismus hat außerdem eine internationale Dimension, auch für eine soziale und demokratische Europäische Union. Nationalismus und Rassismus töten die europäische Idee, und das will die Linke
nicht.
({3})
Mit dem Schlussbericht des Untersuchungsausschusses waren wir uns allesamt einig: Keiner der NSUMorde und keiner der Anschläge ist schlüssig geklärt. Es
bleiben viele Fragen. Wir haben ebenso beklagt, dass der
Aufklärungswille in den meisten Bundesländern und
Landesparlamenten zu wünschen übrig lässt. Es wird
blockiert, übrigens ganz egal welche Parteifarben gerade
regieren. Ich hatte zwar erwartet, dass Innenminister und
auch Sicherheitsbehörden ein bisschen mauern. Ich gestehe - das diskutiere ich auch mit meinen Kolleginnen
und Kollegen in den Ländern -: Dass aber Parlamentarier kneifen, finde ich schlimmer.
({4})
Nun komme ich zu der Frage: Was ist seit dem Abschlussbericht des NSU-Untersuchungsausschusses des
Bundestages wahrnehmbar passiert? Dazu drei Beispiele:
Erstens wurde die sogenannte Extremismusklausel,
mit der Initiativen gegen Rechtsextremismus, Rassismus
und Antisemitismus von Staats wegen kriminalisiert
wurden, abgeschwächt. Das ist ein Anfang.
Zweitens hat sich der Kölner Polizeipräsident bei den
Betroffenen des NSU-Bombenanschlages anno 2004 in
der Keupstraße dafür entschuldigt, dass sie im Zentrum
der Ermittlungen standen. Ich sage: endlich!
({5})
Drittens. Die Bundesregierung hat seit 1990 knapp
60 Tote rechtsextremer Gewalt eingeräumt. Seriöse Recherchen registrieren 150 bis 180 Tote. Die Diskrepanz
soll nun überprüft werden. Das ist überfällig.
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, das alles ist zu
wenig. Niemand, keine Regierung, keine Behörde - weder im Bund noch in den Ländern -, war daran gehindert, die Schlussfolgerungen, die Empfehlungen aus dem
Bericht des Untersuchungsausschusses umzusetzen.
Dies geschah bislang kaum. Das verlängert das Desaster.
Die Todesspur gewalttätiger Nazis geht übrigens quer
durch die Bundesrepublik, West und Ost, Nord und Süd,
und ist auch nicht auf das NSU-Netzwerk reduzierbar. In
Sachsen-Anhalt begann diese Woche ein Prozess gegen
gewalttätige Nazis. Sie hatten 2013 in Bernburg einen
Imbiss überfallen, den Betreiber rassistisch beschimpft
und halb totgeschlagen. Es waren Wiederholungstäter,
vorbestraft und landesweit bekannt. Trotzdem tun sich
Polizei und Justiz schwer damit, überhaupt ein politisches Motiv zu erkennen. Ich könnte ähnliche Fälle aus
den vergangenen Monaten aufzählen: aus Bayern, Baden-Württemberg und immer wieder aus Sachsen. All
das sind ernste Hinweise darauf, dass zu viele die Lektion NSU noch immer nicht gelernt haben, und das muss
sich ändern.
({6})
Eine aktuelle Zahl möge die Brisanz des militanten
Rechtsextremismus zusätzlich unterstreichen: Laut einer
Antwort aus dem Bundesinnenministerium wurden in
den Jahren von 2003 bis 2012 mindestens 1 794 Angriffe registriert, bei denen Nazis Waffen eingesetzt haben oder damit gedroht haben. Mit anderen Worten: Im
statistischen Schnitt gibt es bundesweit jeden zweiten
Tag eine bewaffnete Attacke durch Rechtsextremisten.
Kurzum: Die Gefahr ist nicht gebannt. Sie ist ungebrochen hoch. Auch deshalb dürfen wir das Kapitel NSU
nicht schließen.
({7})
In diesem Zusammenhang: Behauptungen aus Sicherheitsbehörden, die ich gelegentlich höre, der Ermittlungsdruck habe die militante Naziszene eingeschüchtert, sind schlicht falsch. Im Gegenteil: Die NPD und die
autonome Naziszene machen in Wort und Tat bundesweit mobil, vor allem gegen Menschen in Not, gegen
Flüchtlinge und Asylsuchende, wie in den Pogromjahren
1991 und 1992. Daher sollten wir, sollten alle demokratischen Parteien alles vermeiden, was von diesen Nazis
und Rassisten als aufmunternd verstanden werden
könnte.
({8})
Auch deshalb müssen die 50 Schlussfolgerungen aus
dem Bericht des NSU-Untersuchungsausschusses endlich umgesetzt werden. Das wird im aktuellen Antrag
gefordert. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es drängt.
({9})
Die Kollegin Eva Högl hat nun das Wort für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist sehr gut,
dass wir heute Morgen hier zusammenkommen, um
noch einmal die Empfehlungen des NSU-Untersuchungsausschusses mit Nachdruck zu bekräftigen. Ich
bedanke mich bei allen, die hier im Deutschen Bundestag an dieser Debatte teilnehmen, und bei allen, die diese
wichtige Debatte verfolgen.
Herr Präsident, wir setzen damit eine Anregung von
Ihnen um. Denn Sie waren es, der uns am Ende der letzten Legislaturperiode im Kreise der Obleute, die wir uns
bei Ihnen versammelt hatten, empfohlen hat, zu Beginn
der neuen Legislaturperiode, wenn wir dem Deutschen
Bundestag wieder angehören, die Empfehlungen des
NSU-Untersuchungsausschusses noch einmal auf unsere
Tagesordnung zu setzen und damit diesen neuen Deutschen Bundestag zu verpflichten, die Empfehlungen des
NSU-Untersuchungsausschusses umzusetzen. Das machen wir heute. Es ist ein ganz starkes, gutes und wichtiges Signal, dass wir dies verabredet haben.
({0})
Die Große Koalition hat verabredet - ich begrüße
ganz ausdrücklich, dass uns dies gelungen ist -, alle
Empfehlungen des Untersuchungsausschusses umzusetzen. Dort, wo der Bund betroffen ist, werden wir das zügig und engagiert machen. Dort, wo die Länder betroffen
sind - das sind zahlreiche Empfehlungen -, werden wir
das in einem konstruktiven Dialog mit den Bundesländern - wir können ihnen nichts vorschreiben, aber wir
können Dinge anregen - gemeinsam auf den Weg bringen.
Es sind mittlerweile mehr als zwei Jahre vergangen,
seit wir den NSU und die fürchterlichen Zusammenhänge entdeckt haben. Es ist in diesen zwei Jahren schon
einiges geschehen; das ist gut. Es bleibt aber noch ganz
viel zu tun. Darum soll es hier heute in unserer Debatte
gehen.
Ich möchte gleich zu Beginn sagen, dass eines geschafft wurde - dafür sage ich ganz herzlich Danke in
Richtung der Bundesregierung, und zwar der Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig und dem Bundesinnenminister Thomas de Maizière -: Es wurde, quasi als
erste Amtshandlung, gemeinsam die Extremismusklausel abgeschafft.
({1})
Herr de Maizière, schütteln Sie nicht mit dem Kopf. Das
war ein starkes Signal. Es ist für alle Verbände und Initiativen in unserem Land, die sich gegen Rechtsextremismus und für unsere Demokratie engagieren, sehr
wichtig, dass diese Klausel verschwunden ist und durch
eine andere Erklärung ersetzt wurde. Ich begrüße das
ganz ausdrücklich.
({2})
Auch die Bundesländer haben schon einiges auf den
Weg gebracht. Ich nenne nur wenige exemplarisch - niemand möge beleidigt sein, wenn sein Bundesland nicht
genannt wird -: Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen
reformieren den Verfassungsschutz ganz engagiert. Hier
in Berlin steht eine Reform der Polizei auf der Tagesordnung.
Ich sage auch etwas zu Baden-Württemberg
- Clemens Binninger hat zu Recht kritisiert, dass die
Aufarbeitung dort etwas schleppend verlaufen ist -: Gerade in Baden-Württemberg haben wir viele Verbindungen gefunden. Es gibt dort eine sehr vernetzte rechtsextreme Szene. Natürlich hat der Mord an Michèle
Kiesewetter in Heilbronn viele Fragen aufgeworfen, die
weit davon entfernt sind, aufgeklärt zu sein.
Aber ich möchte auch sagen: Ich begrüße ganz ausdrücklich, dass jetzt beschlossen wurde, dass sich eine
Enquete-Kommission bzw. ein Sonderausschuss des
Landtags - ähnlich einem Untersuchungsausschuss,
wollen wir einmal sagen - die ganzen offenen Fragen
noch einmal vornimmt und sie aufarbeitet. Wir sollten
Baden-Württemberg von dieser Stelle aus auf jeden Fall
dafür danken, dass es in dieser Richtung weitermacht,
und diese Bemühungen ganz tatkräftig unterstützen, damit vielleicht auch dort noch die eine oder andere offengebliebene Frage geklärt werden kann.
({3})
Zwei Themen möchte ich ganz kurz ansprechen: Verfassungsschutz und Polizei. Es ist so, dass wahrscheinlich - jetzt benutze ich einen Superlativ - am meisten
Vertrauen beim Verfassungsschutz erschüttert wurde.
Auch zwischen den Fraktionen gibt es die größten Unterschiede, was den Verfassungsschutz angeht. Der Verfassungsschutz ist also ein wichtiges Thema. Wir als
SPD sagen ganz klar: Wir brauchen einen Verfassungsschutz; wir brauchen auch V-Leute.
Aber wir wissen auch - deswegen müssen wir ihn
ganz grundlegend reformieren -: Ein Verfassungsschutz
kann nur dann erfolgreich arbeiten, wenn er das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger hat. Ein Verfassungsschutz braucht einen festen Platz in unserer Demokratie.
Ich werbe deshalb von dieser Stelle aus bei allen, die mit
dem Verfassungsschutz zusammenarbeiten und mit den
Reformen befasst sind, dafür, mehr Kontrolle bzw. parlamentarische Kontrolle nicht als Misstrauen zu verstehen,
sondern als richtige Konsequenz aus dem, was wir im
NSU-Untersuchungsausschuss aufgeklärt und herausgearbeitet haben, nämlich sich selbst an die Spitze der Bewegung zu setzen und den Verfassungsschutz grundlegend zu reformieren.
({4})
Ich werbe von dieser Stelle aus auch ganz ausdrücklich bei der Polizei, bei allen, die bei der Polizei arbeiten,
dort Verantwortung tragen und mit der Arbeitsweise der
Polizei befasst und mit den Reformen betraut sind, dafür,
auf unsere Empfehlungen nicht reflexartig nach dem
Motto zu reagieren: Bei uns gibt es keine Vorurteile; bei
uns gibt es keine institutionelle Diskriminierung.
Wir haben partei- und fraktionsübergreifend feststellen müssen - das war eine bittere Erkenntnis -: Wenn die
Opfer andere Opfer gewesen wären, wäre anders ermittelt worden. Das war, wie gesagt, eine ganz bittere Erkenntnis. Deswegen sagen wir gemeinsam - wir drücken
das unterschiedlich aus -: Es gab institutionelle Diskriminierung. Sie war in Teilen rassistisch motiviert; man
muss das so deutlich ausdrücken. Ich bitte diejenigen,
die uns kritisieren, weil wir das ihrer Meinung nach
nicht deutlich genug ausdrücken, und sagen: „Das war
institutioneller Rassismus“, uns nicht unter Druck zu setzen. Ich bitte die Verantwortlichen bei der Polizei, die
Fehler nicht zu negieren, sondern zu sagen: Ja, es ist etwas schiefgelaufen. Der Untersuchungsausschuss hat
das herausgearbeitet. Wir müssen alle gemeinsam aus
diesen Fehlern lernen.
({5})
Eine allerletzte Bemerkung, meine Damen und Herren. Es darf nie wieder passieren, dass, wie in Hoyerswerda geschehen, ein junges Paar, das sich aktiv gegen
Rechtsextremismus engagiert, von der Polizei gesagt bekommt: Wir können euch nicht schützen; ihr müsst bitte
wegziehen. - Das darf es nie wieder geben in unserem
Land!
({6})
Wir müssen die Polizei so stark machen, dass sie alle
Bürgerinnen und Bürger schützen kann. Wir müssen an
der Seite aller Bürgerinnen und Bürger stehen und es alle
gemeinsam als unsere Aufgabe betrachten, uns überall,
an jeder Stelle, zu jedem Zeitpunkt gegen Rechtsextremismus zu engagieren. Deswegen darf der Bericht des
NSU-Untersuchungsausschusses nicht in einer Schublade verschwinden, sondern muss für uns eine Handlungsempfehlung sein.
Herzlichen Dank.
({7})
Als nächster Redner hat Christian Ströbele das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich begrüße ganz besonders die Vertreterinnen und Vertreter der Amadeu-Antonio-Stiftung und der Mobilen
Beratung für Opfer rechter Gewalt hier im Raume; ich
freue mich, dass Sie unserer Diskussion heute folgen
wollen.
({0})
In dieser Debatte geht es um den Bericht des Untersuchungsausschusses. Wenn ich mich mit den Vorgängen
um den NSU beschäftige, bin ich noch immer empört
und fassungslos. Ich habe versucht, Erklärungen dafür
zu finden, warum die Sicherheitsbehörden in Deutschland - Verfassungsschutz und Polizei - bundesweit mehr
als zehn Jahre lang, so unendlich lange, so dramatisch
versagt haben.
({1})
- Leider. - Wir haben nicht den einen Grund dafür feststellen können; aber wir haben eine ganze Reihe von
Gründen gefunden, die immer wieder eine Rolle gespielt
haben - ich will einige davon aufzählen -: bürokratische
Ignoranz, so nach dem Motto „Sind wir überhaupt zuständig?“, Inkompetenz, Konkurrenzdenken, Vorurteile,
aber auch das Selbstverständnis des Verfassungsschutzes: „Wir sind doch nicht zur Unterstützung der Polizei
da! Wir sind doch eine eigene Polizei. Was mischen die
sich hier ein? Wir sind ein eigener Sicherheitsbereich.“
Wir haben auch in Teilen der Sicherheitsbehörden
- nicht überall, aber in Teilen; das muss man so sagen institutionellen Rassismus und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit gefunden.
Der Fall ist mit dem Aufdecken des skandalösen Versagens der Sicherheitsbehörden nicht beendet. Gestern
hat mich ein Journalist vom MDR angesprochen - ich
glaube, Sie auch, Herr Binninger -, weil man herausbekommen hat, dass Uwe Böhnhardts Handy drei Wochen
nachdem er untergetaucht war abgehört worden ist. Wir
fragen uns: Warum eigentlich nur für knapp einen Monat? Über dieses Handy hat sich eine ganze Reihe von
Personen bei ihm gemeldet, die alle zum NSU-Umfeld
gehören; einer von ihnen sitzt inzwischen beim Oberlandesgericht München auf der Anklagebank. Diese Maßnahme ist dann abgebrochen worden. Am selben Tag, als
sie abgebrochen wurde, sind die Aufnahmen gelöscht
worden. Keiner weiß, warum. Die Aufnahmen sind jedenfalls nicht ausgewertet worden. Gegen die Personen,
die man identifizieren konnte, ist nichts unternommen
worden. - Da fragt man sich, wie so etwas kommt. In
solchen Situationen fällt es mir schwer, an das Zusammentreffen so vieler Zufälle zu glauben.
({2})
Wir haben der Öffentlichkeit in Deutschland und insbesondere den Angehörigen der Opfer versprochen,
möglichst alles aufzuklären. Wir waren uns beim Verfassen des Untersuchungsausschussberichtes natürlich einig, dass wir damit nicht alles aufgeklärt haben. Ein Teil
muss jetzt beim Oberlandesgericht München weiter aufgeklärt werden. Wenn ich solche Sachverhalte erfahre
wie gestern, dann weiß ich, dass auch wir Abgeordnete
weiter aufklären müssen, und das verspreche ich auch
der Öffentlichkeit. Dafür brauchen wir nicht gleich einen
neuen Untersuchungsausschuss, sondern das können wir
im Innenausschuss und müssen wir im Parlamentarischen Kontrollgremium tun. Und um diese Aufklärung
müssen sich auch die Bundesregierung und die Länderregierungen kümmern. Deshalb sollten wir einfordern,
dass auf der Tagesordnung unserer parlamentarischen
Institutionen regelmäßig Berichte zur Entwicklung des
Rechtsextremismus - vor allen Dingen des gewaltbereiten und gewalttätigen Rechtsextremismus - in Deutschland stehen, in denen es um folgende Fragen geht: Was
machen die da? Was machen V-Leute da? Inwieweit sind
V-Leute in solche Taten möglicherweise verwickelt?
Welche V-Leute hat man da überhaupt angestellt?
In den neuesten Veröffentlichungen aus Berlin und
Thüringen tauchen immer neue V-Leute auf, die im Umfeld des NSU-Trios tätig gewesen sind. Der Verdacht erhärtet sich, dass sie eine größere Rolle gespielt haben als
nur die, ihren V-Leute-Führern hin und wieder einen
Tipp zu geben. Was haben sie dazu beigetragen, dass
dieses NSU-Trio so lange verborgen bleiben konnte?
Haben sie nicht zumindest bei den Behörden, denen sie
berichtet haben, die Gewissheit gefördert, die gewaltbereite rechtsextreme Szene im Griff zu haben, weil sie
dort ja ihre V-Leute eingesetzt haben? Dabei wurde allerdings übersehen, dass diese nie etwas berichtet haben,
was zur Aufdeckung der Zusammenhänge oder gar zur
Festnahme dieses Trios geführt hat.
({3})
Deshalb ist der Einsatz von V-Leuten im rechten Bereich nicht zu vertreten. Sie kosten nicht nur viel Geld,
sondern sie schaden auch mehr, als sie nützen, weil sie
eine Sicherheit vortäuschen, die letztlich gar nicht gegeben ist.
({4})
Wir Grünen haben in einem Sondervotum eine ganze
Reihe von Punkten aufgelistet, um die sich die Behörden
zusätzlich kümmern müssen. In Bezug auf den Verfassungsschutz sind wir anderer Auffassung als die Mehrheit. Das will ich hier jetzt im Einzelnen nicht mehr darlegen.
Ich erwarte nun, ein halbes Jahr nach der Vorlage des
Berichtes, vom Bundesinnenminister, dass er uns von
ersten Maßnahmen und auch darüber berichtet, was
im Innenministerium geschehen ist, um solches Versagen in Zukunft zu verhindern. Ich erwarte auch, dass
wir - nicht nur, weil wir es den Angehörigen der Opfer
versprochen haben, sondern auch, weil wir es uns selbst
und unserer Gesellschaft schuldig sind - alles tun, um
aufzuklären und solches Versagen mit solchen entsetzlichen Folgen in Zukunft zu verhindern.
({5})
Jetzt hat Herr Bundesinnenminister Dr. de Maizière
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Mordtaten der Terrorgruppe „Nationalsozialistischer
Untergrund“ bleiben, wie wir gehört haben, für uns alle,
für den Deutschen Bundestag und für die Bundesregierung, Mahnung, Warnung und Auftrag.
Aus Hass und Verachtung haben die Täter das Leben
von zehn Menschen zerstört und noch mehr Menschenleben gefährdet. Sie haben unendliches Leid über die Familien der Opfer gebracht.
Die Täter hatten aber auch zum Ziel, in ganz Deutschland Terror und Unsicherheit zu stiften und den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft zu erschüttern. Dieser
Zusammenhalt beruht ganz wesentlich auf dem Respekt
vor der Würde des jeweils anderen. So hat es auch Eingang in unsere Verfassung gefunden: Die Würde eines
jeden Menschen ist unantastbar. - Das unterstreicht unsere Verantwortung.
Viele haben es schon gesagt: Wir müssen alles dafür
tun, dass jede und jeder in unserem Land sicher leben
kann, in dem Vertrauen, Teil einer freien und toleranten
Gesellschaft zu sein, ohne Diskriminierung und ohne
jede Zurücksetzung. Das gilt selbstverständlich auch für
Flüchtlinge und Asylbewerber, unabhängig davon, welche Staatsbürgerschaft sie haben, und sogar unabhängig
davon, ob sie sich hier legal oder illegal aufhalten.
({0})
Deshalb ist schon die Verhinderung und Bekämpfung
extremistischer Ideologien und erst recht der daraus erwachsenen Straftaten eine der Kernaufgaben der Bundesregierung.
Aber nicht nur in den Regierungen, in den Parlamenten und in der Justiz, sondern auch in der Bevölkerung
muss diese Verantwortung tief verankert sein. Die Zivilgesellschaft in Deutschland, die Gesellschaft freier Bürger, muss stark und selbstbewusst sein, damit sich Hass
und menschenverachtendes Gedankengut bei uns gar
nicht erst entwickeln und verbreiten können. Es wäre
falsch, diese Aufgabe den Sicherheitsbehörden alleine
zu überlassen. Ich bin überzeugt: Nur wenn wir als Bürgergesellschaft und als wehrhafte Demokraten zusammenstehen, um Toleranz, Vielfalt und friedliches Zusammenleben in unserem Land zu schützen, wird dies eine
nachhaltige Wirkung haben, und zwar nicht nur in Notund Krisenzeiten.
({1})
Frau Högl hat ein schönes Beispiel aus Hoyerswerda
genannt. Der Schutz von Menschen, die dort leben und
die sich in ihrer Umgebung nicht mehr sicher fühlen,
darf nicht alleine der Polizei überlassen werden, sondern
dies ist eine Aufgabe für die Gesellschaft der Bürgerinnen und Bürger von Hoyerswerda, von Sachsen und von
ganz Deutschland.
({2})
Die Bundesregierung wird aus den Verbrechen der
NSU wichtige Lehren für die Arbeit unserer Sicherheitsbehörden ziehen. Hier sind Fehler offenbar geworden,
die der Untersuchungsausschuss eingehend analysiert
hat. Ich möchte erneut dem Untersuchungsausschuss,
aber auch den Mitarbeitern des Untersuchungsausschusses für ihre fraktionsübergreifende Arbeit herzlich danken.
({3})
Ich finde es auch großartig, dass bei dieser Debatte die
Fraktionsvorsitzenden fast aller Fraktionen außer der der
Linken da sind.
({4})
Der Untersuchungsausschuss stellte eine Reihe von
Versäumnissen und Organisationsmängeln bei den Sicherheits- und Strafverfolgungsbehörden fest, des Bundes und der Länder. Festgestellt - das wurde hier schon
gesagt; ich will es mit meinen Worten formulieren wurde auch eine Art Gleichgültigkeit oder ein Mangel an
Empathie mit Opfern und Angehörigen. In diesem Untersuchungsausschuss fiel in diesem Zusammenhang ein
sehr schöner Begriff: eine unzureichende Arbeitskultur.
Wir müssen im Bund und in den Ländern dafür sorgen,
dass künftig Ermittlungen nicht eindimensional geführt
werden, Menschen nicht vorschnell verdächtigt werden
und Hassmotive bei Straftaten systematischer untersucht
und aufgeklärt werden. Die Analysekompetenz muss
verbessert werden.
Zu alledem hat der NSU-Untersuchungsausschuss einen umfassenden Bericht mit 50 sehr konkreten Empfehlungen verfasst. Diese Empfehlungen richten sich - das
ist vielleicht in der Debatte ein bisschen zu kurz gekommen - nicht nur an Polizei, Justiz und Verfassungsschutz
in Bund und Ländern. Vielmehr richten sie sich auch an
die Gesellschaft. Sie richten sich auch an uns, was die
Verstetigung der Programme zur Stärkung der Demokratie betrifft - dazu sage ich gleich ein Wort - und die bessere Einbindung der Zivilgesellschaft in die Konzeption
dieser Programme. Diese Empfehlungen sind für die
Bundesregierung, nicht nur weil es im Koalitionsvertrag
steht, Richtschnur für die Zukunft.
Frau Kollegin Pau, ich weiß, es gab ein Minderheitenvotum Ihrer Fraktion, was die Arbeit der Verfassungsschutzbehörden angeht. Aber wenn man gut und frühzeitig gegen Tendenzen gegen unsere Verfassung vorgehen
will, lange bevor Straftaten verübt werden, dann braucht
man einen besseren Verfassungsschutz, nicht die Abschaffung des Verfassungsschutzes.
({5})
Kollege Maas und ich werden dem Bundeskabinett
einen Bericht vorlegen, in dem umfassend beschrieben
wird, wie es um die Umsetzung der Empfehlungen steht.
Dieser Bericht, Herr Kollege Ströbele, wird dem Bundeskabinett in der nächsten Woche vorgelegt
({6})
und dann auch dem Parlament zugeleitet. Heute reicht
meine Redezeit nicht aus, um die einzelnen Umsetzungsschritte vorzutragen.
Der Bericht zeigt, dass die Bundesregierung unmittelbar nach der Aufdeckung der Mordserie erste umfassende Maßnahmen getroffen und Konsequenzen gezogen hat. Diese reichen von der nachrichtendienstlichen
Früherkennung bis zur Strafverfolgung; auf die Datei hat
Herr Binninger schon hingewiesen. Diese Maßnahmen
umfassen die Verbesserung der internen Abläufe wie
auch strukturelle Verbesserungen bei der Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden.
In dem Bericht werden auch die Maßnahmen beschrieben, die zur Förderung der Demokratie und zur
Stärkung der Zivilgesellschaft bereits getroffen wurden.
All dies stellt eine gute Grundlage dar, um den begonnenen Reformprozess in enger Zusammenarbeit mit den
Ländern fortzusetzen.
Für die Umsetzung der Empfehlungen werden wir
auch gesetzliche Änderungen brauchen. Wir bereiten
zurzeit eine Novellierung des Gesetzes über das Bundesamt für Verfassungsschutz vor. Ziel ist eine effizientere
Abstimmung und Arbeitsteilung mit dem Verfassungsschutzverbund. Es geht auch um eine bessere Analysefähigkeit im Bundesamt für Verfassungsschutz selbst.
Das wollen wir, und wir können es nur erreichen - so
hat es der Untersuchungsausschuss gesagt -, wenn wir
das Bundesamt für Verfassungsschutz als eine Zentralstelle sowie seine Rolle bei der Koordinierung der Verfassungsschutzbehörden der Länder stärken.
({7})
Das werden wir frühzeitig mit den Ländern besprechen
und mit ihnen - und nicht gegen sie - umsetzen. Aber
dass es so bleibt, wie es jetzt ist, wird keine Lösung sein.
({8})
Ich möchte um Ihrer aller tatkräftige Unterstützung
bitten, auch der Innenminister der Union und der SPD,
damit wir diese Reformbemühungen erfolgreich umsetzen können.
Andere Aufgaben, insbesondere der Wandel - ich
nenne noch einmal den Begriff der Arbeitskultur - der
Sicherheitsbehörden, werden sicher länger brauchen.
Hierbei geht es um Führung, um Sensibilität, um offene
Augen ohne Vorurteile. Ich bin zuversichtlich, dass die
angestoßenen Veränderungen das Problembewusstsein
der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und der Führungskräfte nachhaltig schärfen.
Letztlich werden wir die Probleme nur gemeinsam
mit staatlichen und zivilgesellschaftlichen Maßnahmen
eindämmen können. Dazu gehört auch Förderung. Dazu
gehören auch die Angebote, die die Bundesregierung in
verschiedenen Ressorts in einem ganzheitlichen Ansatz
denjenigen unterbreitet, die sich für unsere offene und
demokratische Gesellschaft engagieren.
Frau Högl, Sie haben gesagt, die Extremismusklausel
sei abgeschafft worden. Dabei habe ich ein bisschen mit
dem Kopf gewackelt. Denn zur vollen Wahrheit gehört,
dass wir zwar die Erklärung, die die Antragsteller unterschreiben mussten, abgeschafft haben, aber zugleich in
die Förderbescheide eine Nebenbestimmung aufnehmen:
die Bedingung, dass sie alles dafür tun, dass mit staatlichem Geld keine Extremisten gefördert werden. Frau
Kollegin Schwesig und ich haben exakt das in einer gemeinsamen Presseerklärung unterstrichen. Wir wollen
nicht, dass mit staatlichem Steuergeld Extremisten von
rechts oder links gefördert werden.
({9})
Deswegen war Ihr Satz zwar richtig, aber nicht ganz
vollständig. Das musste ich auch für unsere Seite noch
einmal erklären.
Meine Damen und Herren, die Vergangenheit ist hinreichend aufgeklärt. Die Geschehnisse sind analysiert.
Wir müssen jetzt nach vorne blicken und Konsequenzen
ziehen. Darin sind wir uns einig. Ich bin zuversichtlich,
dass wir uns dabei alles in allem auf einem guten Weg
befinden, alles zu tun, damit sich eine solche Mordserie
nicht wiederholt, damit Hass in unserem Land keine
Chance hat, und alles zu tun, was den Zusammenhalt unseres Landes stärkt. Das ist das Mindeste, was wir den
Opfern dieser Mordserie schuldig bleiben.
({10})
Jetzt hat Martina Renner als nächste Rednerin das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen und Kolleginnen Abgeordnete! Es geht darum, ein Versprechen
einzulösen, das Politik und Regierung gegeben haben:
restlose Aufklärung im NSU-Komplex. Denn für die
Angehörigen der vom NSU Ermordeten und die Verletzten der Sprengstoffanschläge gilt noch immer, was
Aysen Tasköprü im Februar 2013 an
„Alles, was ich noch
möchte, sind Antworten.“
Wenn wir heute über Konsequenzen und Schlussfolgerungen aus dem Untersuchungsausschuss sprechen,
dann müssen wir nicht nur zu den Vorschlägen Bilanz
ziehen, die von allen Fraktionen gemeinsam unterbreitet
wurden und auf deren vollständiger Umsetzung wir bis
heute harren. Wir müssen auch über schmerzhafte Erkenntnisse sprechen, die viele von uns in den letzten
zweieinhalb Jahren gewonnen haben.
Ich war Mitglied des Thüringer Untersuchungsausschusses. Ich bin unzufrieden, dass wir bis heute nicht
wissen, warum die Fahndung nach dem mutmaßlichen
Kerntrio des NSU seit 1998 erfolglos blieb. Ich bin unzufrieden, dass wir noch immer nicht wissen, was das
Motiv für die Ermordung der Polizistin Michèle
Kiesewetter in Heilbronn war. Ich bin unzufrieden, dass
wir noch immer nicht wissen, welche Rolle die V-Leute
im NSU-Unterstützernetzwerk tatsächlich innehatten
und was am 4. November 2011 in Eisenach tatsächlich
geschah. Aber meine offenen Fragen sind nichts gegen
das nicht eingelöste Versprechen auf Aufklärung, wie es
die Angehörigen der durch den NSU Ermordeten beklagen, und die mangelnde Bereitschaft, über Rassismus zu
sprechen.
({0})
Ich will anhand von drei aktuellen Beispielen meine
Zweifel zum Ausdruck bringen, ob wir wirklich alles,
aber auch alles unternehmen, damit menschenverachtende Einstellungen, Rassismus und daraus folgende Gewalttaten zurückgedrängt werden.
Erstens. Ich erwarte beim Thema Neonazigewalt endlich eine neue Ermittlungskultur der Polizei. Wenn wie
vorletztes Wochenende in Thüringen 15 bis 20 Neonazis
eine Veranstaltung im Gemeindesaal von Ballstädt überfallen und ein Dutzend Menschen zum Teil schwer verletzen, dann will ich keine Erstmeldungen mehr lesen, in
denen zielgerichtete, organisierte Neonaziangriffe als
Kirmesschlägerei unter Alkoholeinfluss verharmlost und
entpolitisiert werden.
({1})
Zweitens. Ich erwarte auch von den Staatsanwaltschaften ein anderes Umgehen mit der tödlichen Dimension neonazistischer Gewalt. Ende April beginnt vor
dem Landgericht Kempten der Prozess gegen mehrere
Thüringer Neonazis, die im Sommer 2013 einen 34-jährigen Mann aus Kasachstan auf einem Volksfest in Kaufbeuren zu Tode geprügelt haben sollen. Einer der Tatverdächtigen hatte die Opfer des NSU im sozialen
Netzwerk Facebook verhöhnt. Die Staatsanwaltschaft
Kempten ist sich schon vor Prozessbeginn sicher, dass
kein ausländerfeindliches, rassistisches oder rechtsextremes Motiv vorliegt. Da fühle ich mich an die Justizakten
der 90er-Jahre zu schweren Neonazigewalttaten erinnert,
die wir alle gelesen und kopfschüttelnd zur Kenntnis genommen haben. So etwas darf sich nie wieder wiederholen.
({2})
Drittens. Und die Politik? Das Innenministerium in
Stuttgart hat gerade einen Bericht vorgelegt; ich muss
den Titel nicht wiederholen, da ihn Herr Binninger bereits genannt hat. Darin wird jede rassistische Ermittlungspraxis gegen Angehörige der Roma-Minderheit
nach dem Mord an Michèle Kiesewetter in Heilbronn
klipp und klar geleugnet. Das ist Reinwaschen in Reinkultur. Von der geforderten neuen Fehlerkultur keine
Spur! Auch das müssen wir klar benennen.
({3})
Kurzum: Das Aufklärungsversprechen von Bundeskanzlerin Merkel treibt mich und, wie ich gesehen habe,
auch viele Kolleginnen und Kollegen in diesem Haus
weiter um. Wir alle unterliegen sicherlich parteipolitischen Zwängen. Aber wir werden so lange weiterfragen
- das versprechen wir -, notfalls jahrelang, bis sich etwas ändert und Aysen Tasköprü endlich Antworten hat.
Danke.
({4})
Jetzt hat der Bundesjustizminister Heiko Maas das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die schrecklichen Verbrechen des NSU sind uns
mittlerweile seit mehr als zwei Jahren bekannt. All das,
was dort geschehen ist, muss uns nach wie vor mit doppelter Scham erfüllen, zum einen Scham darüber, dass in
Deutschland wieder Menschen wegen ihres Glaubens
und ihrer Herkunft planvoll ermordet wurden, und zum
anderen Scham deshalb, weil der Staat und die Behörden
fast 14 Jahre nicht in der Lage waren, diese Taten zu erkennen, aufzuklären und vor allem zu verhindern.
Das unsägliche Leid, das die Terroristen des NSU angerichtet haben, kann niemand wiedergutmachen. Aber
wir haben die Pflicht, gemeinsam dafür zu sorgen, dass
sich solche Taten nie wieder wiederholen. Nie wieder
dürfen Justiz und Polizei blind sein gegenüber rassistischen und fremdenfeindlichen Motiven. Nie wieder dürfen bei der Aufklärung terroristischer Gewalt die Erfahrungen des Generalbundesanwalts ungenutzt bleiben.
Und nie wieder dürfen Verbrecher von unklaren Zuständigkeiten bei der Justiz profitieren. Das ist Auftrag aus
den Empfehlungen des Untersuchungsausschusses zum
NSU.
({0})
Der Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages hat viele konkrete Empfehlungen erarbeitet. Lassen Sie mich das einmal sagen als einer, der damals die
Arbeit von außen beobachtet hat. Nicht nur die Aufklärungsarbeit des Bundestages in diesem Zusammenhang
hat Maßstäbe gesetzt; auch die Schlussfolgerungen und
Handlungsempfehlungen, die gegeben worden sind, sind
wegweisend. Deshalb wollen wir diese auch umsetzen.
Wir wollen die Zuständigkeit des Generalbundesanwalts erweitern und sicherstellen, dass er zukünftig frühzeitig eingeschaltet wird, wenn es um rassistische oder
fremdenfeindliche Taten geht. Herr Binninger, mein
Ministerium wird hierzu noch vor Ostern einen Gesetzentwurf vorlegen. Also, ich fordere mich hier nur selber
zum Handeln auf und nicht andere. Damit dokumentiere
ich, dass uns die Ergebnisse dieses Ausschusses wichtig
sind und wir sie sehr schnell umsetzen wollen.
({1})
In dem Entwurf soll Folgendes geregelt sein: Erstens.
Der Generalbundesanwalt soll künftig immer dann die
Ermittlungen an sich ziehen können, wenn objektiv ein
besonders bedeutendes Staatsschutzdelikt vorliegt. Die
subjektive Seite, die Motive der Täter bleiben einstweilen außen vor; denn die sind zu Beginn der Ermittlungen
oft noch gar nicht bekannt.
Zweitens. Wenn die Staatsanwaltschaften der Länder
Anzeichen dafür haben, dass der Generalbundesanwalt
für einen Fall zuständig sein könnte, dann müssen sie
den Generalbundesanwalt in Zukunft unverzüglich informieren. Das wollen wir im Gesetz klarstellen, und damit wollen wir vor allen Dingen erreichen, dass die Experten vom Generalbundesanwalt frühzeitig in die
laufenden Ermittlungen eingebunden werden können
und ihre Erfahrung dort genutzt werden kann.
Drittens. Der Generalbundesanwalt soll - das halte
ich für ganz wesentlich - zukünftig auch Streitigkeiten
über die Zuständigkeiten - das ist eines der Probleme in
diesem Zusammenhang gewesen - entscheiden können.
Wenn es, wie im Fall des NSU, mehrere Taten in verschiedenen Ländern gibt und die Staatsanwaltschaften
sich nicht einig werden, ob und wo die Ermittlungen
konzentriert werden, dann soll zukünftig darüber der Generalbundesanwalt entscheiden. Es darf einfach nicht
sein, dass Konkurrenzdenken und Eifersüchteleien Ermittlungen in solchen Fällen behindern.
({2})
Wir wollen außerdem die Opfer einer Straftat über
ihre Rechte im Strafverfahren besser informieren - das
tun wir ohnehin bei der Umsetzung der EU-Opferrichtlinie im nächsten Jahr -, und wir wollen auch das Strafgesetzbuch ändern.
Wir werden sicherstellen - das ist in der Debatte angesprochen worden -, dass rassistische, fremdenfeindliche oder sonstige menschenverachtende Motive bei der
Strafzumessung stärker berücksichtigt werden können.
Damit sensibilisieren wir zugleich die Ermittlungsbehörden. Es geht eben nicht nur darum, was jemand getan
hat, sondern es geht an der Stelle auch um die Frage, ob
ermittelt werden muss, aus welchen Motiven ein Täter
gehandelt hat; denn nur dann können die Gerichte die sogenannte Hasskriminalität auch angemessen bestrafen.
Klare Regeln und Gesetze sind notwendig und wichtig, aber es gibt auch den menschlichen Faktor, auch bei
Ermittlungen von Behörden. Damit alle unsere Sicherheitsbehörden wirksam gegen rassistische und fremdenfeindliche Taten vorgehen, brauchen wir Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die das haben, was wir heute
interkulturelle Kompetenz nennen. Wer den Betreiber eines Dönerlokals nicht als engagierten Unternehmer
sieht, sondern ihn in erster Linie schnell mit Mafia, Menschenhandel oder Drogen in Verbindung bringt, der hat
nichts verstanden und dem wird es vor allen Dingen
kaum gelingen, einen Fall vernünftig aufzuklären.
({3})
Deshalb müssen wir Vorurteile und falsche Klischees
überwinden, und deshalb kommt es auch darauf an, wie
unser Personal in den Behörden zusammengesetzt ist.
Ich meine, wir brauchen in Justiz und Polizei nicht nur
Kollegen, die Heiko oder Thomas heißen, sondern wir
brauchen auch Mehmet und Ayse; denn auch das wird
der Aufklärung zuträglich sein.
({4})
Rund 20 Prozent der Bevölkerung in Deutschland haben heute einen Migrationshintergrund. Diese Vielfalt
unserer Gesellschaft muss sich auch beim Personal von
Justiz und Polizei niederschlagen. Ich weiß, dass hier vor
allem die Länder gefordert sind. Aber auch das ist eine
ganz wichtige Konsequenz aus dem, was der Untersuchungsausschuss herausgearbeitet hat, und auch das
müssen wir in unsere Behörden tragen. Ich meine, das
sind wir den Opfern des NSU und ihren Angehörigen
schuldig.
Herzlichen Dank.
({5})
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Irene Mihalic
das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wie sind die Ereignisse in der Öffentlichkeit damals eigentlich angekommen? Am 4. November 2011
fahndete die Polizei in Eisenach nach Bankräubern, und
sie fand die NSU-Terroristen Uwe Böhnhardt und Uwe
Mundlos tot in ihrem Wohnmobil. Sie hatten vorher, unterstützt von Beate Zschäpe, bei 14 Raubüberfällen insgesamt 600 000 Euro erbeutet. Bis zu ihrem Tod konnten
Böhnhardt und Mundlos nicht gestellt werden. Fast
13 Jahre blieben die NSU-Terroristen unentdeckt. Fast
13 Jahre konnten sie mit einfachen Mitteln ein unbehelligtes Leben führen, Freundschaften zu Nachbarn aufbauen, ja sogar Urlaub an der Ostsee machen. In 13 Jahren haben sie zehn Menschen kaltblütig exekutiert,
unentdeckt, unbehelligt und völlig ungestört.
Die deutschen Sicherheitsbehörden haben angesichts
des rechtsextremistischen Terrors dramatisch versagt.
({0})
Der Verfassungsschutz konnte den Terror von rechts weder erkennen noch analysieren. Der NSU-Terror folgte
eben nicht dem klassischen Muster mit Führungsspitze
und Bekennerschreiben, welches man zum Beispiel von
der RAF kannte. Durch das Denken in solchen Stereotypen war der Verfassungsschutz völlig blind für den Terror von rechts, und diese Blindheit, Herr Minister, lässt
sich nicht wegreformieren. Deshalb muss der Verfassungsschutz in seiner heutigen Form aufgelöst werden.
({1})
Aber auch die Polizei hat schwere Fehler gemacht.
Ein rechtsextremistischer Hintergrund wurde bei den Ermittlungen von vornherein stets ausgeschlossen.
({2})
Stattdessen bestimmten allzu oft rassistische Vorurteile
gegenüber den Opfern die Ermittlungsarbeit. Ein mafiöser Hintergrund bei so einem Mord - na klar! Ein Ehrenmord - immer vorstellbar im Migrantenmilieu! Das Label der Boulevardpresse war „Döner-Morde“. Aufklären
sollte eine Soko „Bosporus“. Wenn der Fokus der Ermittlungen allein auf den Opfern liegt, dann ist es kein
Wunder, dass man die Täter nicht findet.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße sehr,
dass wir hier heute noch einmal das interfraktionelle Ergebnis des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses zum NSU gemeinsam beschließen wollen. Damit
setzen wir ein ganz wichtiges Zeichen, vor allem mit
Blick auf die Familien der Opfer. Wir alle schämen uns
dafür, dass die NSU-Morde lange Zeit so gravierend
falsch eingeordnet wurden. Zu Recht fordern daher die
Opferfamilien, dass nicht bereits zwei Jahre nach Aufdeckung des NSU-Terrors das große Abhaken beginnt.
Nein, wir stehen gerade erst am Anfang, und deshalb
kann der gemeinsame Beschluss auch nur der erste
Schritt sein. Wir müssen deutlich weiter gehen, wenn
wir dem Rechtsextremismus den Nährboden für die Saat
von Gewalt und Terror entziehen wollen.
({4})
Dafür brauchen wir eine neue Polizei- und Behördenkultur. Allzu oft wurden gerade die Familien der Opfer
mit ihren Anliegen nicht ernst genommen. Sie wurden
verhöhnt und waren selbst übelsten Verdächtigungen
ausgesetzt. Wir brauchen hier einen Neustart in den
Strukturen und in der Ausbildung. Dort, wo personelles
Versagen nachweisbar ist, muss es auch zu dienstlichen
Konsequenzen kommen, in erster Linie natürlich bei
denjenigen, die in leitenden Positionen standen und
heute teilweise noch stehen.
({5})
Die Strukturen des Verfassungsschutzes haben die
Aufdeckung des rechten Terrors vereitelt, weil sie den
falschen Mustern gefolgt sind. Er muss daher in seiner
heutigen Form aufgelöst werden. Wir brauchen stattdessen eine völlig neu strukturierte Inlandsaufklärung mit
einer deutlich verbesserten parlamentarischen Kontrolle.
({6})
Der Einsatz von V-Leuten, gerade in der rechten
Szene, muss ein für allemal beendet werden.
({7})
Wir haben dem Rechtsextremismus mit diesem Instrument sowohl Geld als auch Struktur gegeben, anstatt
wertvolle Erkenntnisse zu gewinnen. Auf der anderen
Seite waren die letzten Regierungen - man muss es sagen - eher geizig, wenn es um die finanzielle Unterstützung von Initiativen gegen rechts ging, insbesondere
was die Verlässlichkeit einer Finanzierung anging. Wir
fordern eine verbindliche Zusage des Bundes, diese Initiativen mit jährlich mindestens 50 Millionen Euro zu
unterstützen;
({8})
denn diese Mittel werden für Opferberatungsstellen,
Ausstiegsprojekte und vieles mehr ganz dringend gebraucht.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage vom
Kollegen Binninger?
Selbstverständlich.
Vielen Dank, Frau Kollegin Mihalic. - Keine Sorge,
ich will das Bild unserer interfraktionellen Einigkeit
nicht trüben; ich habe einfach eine Bitte an Sie. Sie haben den Großteil Ihrer Redezeit auf das Thema der Abschaffung des Verfassungsschutzes verwandt. Das ist das
Sondervotum von Grünen und Linken gewesen; da hatten wir keinen Konsens.
Sie kommen aus dem Polizeipräsidium Köln. In Köln
gab es ja den Sprengstoffanschlag in der Keupstraße, bei
dessen Aufklärung im Jahr 2004 wirklich eine Menge
schieflief und es ein Bündel an Fehlern gab, wie wir sie
sonst in keinem Fall gefunden haben. Ich möchte Sie
einfach nur fragen: Wären Sie bereit, vielleicht aus Ihrer
eigenen Erfahrung damals, als Sie dort Dienst gemacht
haben, ein paar Sätze dazu zu sagen?
({0})
- Natürlich kein Geheimnisverrat, Frau Kollegin, nur etwas, was öffentlich ist.
({1})
Keine Sorge! Ich werde keine Geheimnisse verraten,
Kollege Binninger, selbstverständlich.
Sie haben natürlich völlig recht mit Ihrer Kritik - Sie
werden es auch meinen Ausführungen vorhin entnommen haben -, dass nicht nur beim Verfassungsschutz ein
eklatantes Versagen festgestellt worden ist. Es ist schon
bei meinen Vorrednerinnen und Vorrednern angeklungen: Wir müssen natürlich auch bei der Polizei in die
Strukturen hinein. Wir müssen auch da dafür sorgen,
dass sich solche Ereignisse, wie sie damals in Köln passiert sind - es hat auch da eine falsche Einordnung der
Dinge gegeben -, nicht wiederholen. Ich denke, in der
Frage, an diesem Punkt sind wir uns alle einig.
({0})
Lassen Sie mich noch einen Aspekt ansprechen, und
zwar was die Arbeit der zivilgesellschaftlichen Initiativen angeht, die durch die unsägliche Extremismusklausel immer noch massiv behindert wird. Da ist es eben
nicht von Belang, liebe Kolleginnen und Kollegen von
der SPD, Frau Högl, ob das Bekenntnis zur Verfassung
wie bisher durch Unterzeichnung einer solchen Klausel
oder in einem verbindlichen Begleitschreiben erfolgt.
Diese Klausel muss ganz verschwinden; denn sie ist eine
völlige Verkehrung.
({1})
Wenn wir den zivilgesellschaftlichen Initiativen ständig
Knüppel zwischen die Beine werfen, dann unterstützen
wir indirekt Hass und Gewalt von rechts. Letztlich darf
der Staat für die rechte Gefahr nicht länger blind sein.
Das muss uns beim dringend notwendigen Umbau der
Sicherheitsarchitektur leiten. Kollege Binninger, also
auch da der Blick ganz klar auf die Polizei gerichtet!
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Konsequenzen
aus den Verbrechen des NSU gehören zu den wichtigsten
parlamentarischen Aufgaben für diese Legislaturperiode. Lassen Sie uns da gemeinsam an die Arbeit gehen,
Punkt für Punkt! Dabei gilt: Kosmetik und gute Vorsätze
reichen nicht aus. Die Struktur hat versagt, und deshalb
muss die Struktur verändert werden.
Vielen Dank.
({2})
Als nächster Redner hat der Kollege Armin Schuster
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Öffentlichkeit schockiert, Zuwanderinnen und Zuwanderer
verunsichert, die Menschen im Land erschüttert, Sicherheitsexperten sprachlos - das wurde ja schon beschrieben -, so war jetzt lange der Zustand oder ist der Zustand
immer noch. Deshalb, finde ich, sollten wir das ganz
starke Signal, dass wir überfraktionell diese Einigkeit
haben, nicht überlagern durch eine Debatte, in der vielleicht hier noch ein bisschen eigenes Votum betont wird,
Frau Pau, vielleicht dort noch ein bisschen Votum betont
wird, Frau Mihalic. Dass der Deutsche Bundestag so einig zusammensteht, ist ein unglaublich gutes Signal.
Ich will Ihnen helfen. Ich würde Ihnen nicht die Frage
stellen, ob wir das PP Köln abschaffen sollen; das machen wir natürlich nicht. Ich glaube einfach, dass es eine
Nummer zu hart ist, zu sagen: Wir schaffen den Verfassungsschutz ab, bauen ihn dann neu auf. - Gehen Sie
doch mit uns den Weg der Reform! Da können Sie im
Prinzip das Gleiche tun. Wir haben ja nicht gesagt, wie
stark wir reformieren.
Frau Pau, es ist nicht wertlos, wenn ich Ihnen sage: Es
wäre schon wahnsinnig gut, wenn die Linke einmal ihr
Verhältnis zu dem Begriff „Nachrichtendienst“ entdecken würde. Wir sprechen von Nachrichtendiensten
und nicht von Geheimdiensten.
({0})
Ich könnte mir sogar vorstellen, einen Geheimdienst abzuschaffen; aber nicht einen Nachrichtendienst. Den
braucht dieses Land.
({1})
Wer den Empfehlungskatalog intensiv studiert, erkennt unendliche Chancen, die Sicherheitsarchitektur
Deutschlands weiterzuentwickeln. Es ist nötig. Wir haben im September 2013 von einem erheblichen Systemversagen der deutschen Sicherheitsdienste gesprochen,
nicht nur der Polizei und des Verfassungsschutzes, sondern auch der Justiz, der Gesellschaft, der Parlamente
und der Regierungen in Bund und Ländern. Wenn man
ein solch hartes Urteil fällt, wartet man natürlich auf das
Echo der Menschen draußen. Ich reise viel zum Thema
NSU durch das Land. Vor allem nach den Vorträgen sagen die Leute mir: Sie haben recht. - Vorher sind sie alle
ziemlich angefasst, als würde man in einer Wunde herumstochern. Wenn man mit ihnen spricht, dann merken
die Leute, dass sich etwas tun muss.
Der Bundespräsident hat den Untersuchungsausschuss im Januar 2013 gefragt: Was ist das wichtigste
Ziel Ihrer Arbeit? - Wir haben übereinstimmend gesagt:
Dass das Thema in der 18. Wahlperiode unverändert
wieder auf der Tagesordnung ist und wir nicht zur Tagesordnung übergehen.
Das haben wir in drei Punkten erreicht.
Erstens. Der Bundesinnenminister hat es vorgetragen.
Sehr wohltuend waren die Äußerungen des Bundesjustizministers, die mir gut gefallen haben, weil der Aspekt
der Justiz sehr stark im Vordergrund stand.
Zweitens. Der Koalitionsvertrag beinhaltet das
Thema geradezu prominent. Das hätte ich mir gar nicht
so gut vorstellen können. Herzlichen Dank an die Verhandler!
Drittens. Dass wir die Empfehlungen heute in einem
fraktionsübergreifenden Antrag behandeln, bekräftigt
die Ernsthaftigkeit unseres Vorhabens. Wir wollen unbedingt weitermachen. So scharf, wie es einige vor mir getan haben, formuliere ich das jetzt einmal nicht. Ich versuche es noch auf die konziliante Art. Wir brauchen die
Armin Schuster ({2})
Länder - wenngleich ich da, Stichwort Baden-Württemberg, so meine Zweifel habe -, wir brauchen ihre Bereitschaft, wir brauchen ihre Mitwirkung. Dieser überfraktionelle Konsens ist auch deshalb so wichtig, weil Sie
alle mithelfen können, weil Sie überall mitregieren. Bitte
nutzen Sie Ihre Vernetzung und Ihre Kontakte. Wir müssen die Länder bewegen.
Wer hochflexible Ermittlungsgruppen in überregionalen Verfahren möchte, muss eine Lösung zwischen Bund
und Ländern finden. Wer eine Zusammenarbeit zwischen den Ländern, zwischen Bund und Ländern, zwischen Verfassungsschutz, Polizei und Staatsanwaltschaften erreichen und dabei noch das Trennungsgebot
verfassungskonform weiterentwickeln will, braucht eine
große Übereinstimmung. Die Aus- und Fortbildung von
Mehmet und Aischa müssen wir deutschlandweit in
16 Ländern und im Bund harmonisieren.
({3})
- Von Heiko und Thomas auch. - So etwas konnten wir
bisher. Ich hoffe, von der Innen- und Justizministerkonferenz Impulse für das Land zu bekommen.
Meine Damen und Herren, der Fall des NSU ist für
die föderale Sicherheitsstruktur nicht einzigartig. Wenn
wir uns den spektakulärsten ungelösten Fall organisierter
Kriminalität in diesem Land vornehmen und analysieren
würden, was würden wir feststellen? Die Täter operieren
länderübergreifend, nutzen ganz stark IT-Strukturen. Die
Zuständigkeit unserer Behörden würde sich wahrscheinlich über eine Vielzahl von LKA, Staatsanwaltschaften,
den Bundesnachrichtendienst, Verfassungsschutzämter
etc., etc. erstrecken. Wo liegt der Unterschied? Nicht nur
aus dem NSU-Bericht, sondern auch aus den künftigen
und heute schon vorhandenen Bedrohungsszenarien
ziehe ich meine Motivation, die Forderung zu erheben,
besser überregional zu kooperieren, bessere gemeinsame
Best-Practice-Standards zu etablieren, verlässlichere
Kommunikations- und Führungsstrukturen in diesem
Land zu schaffen.
Qualität ist ein Markenzeichen Deutschlands. Qualität
entsteht am besten dezentral. Deswegen bin ich der festen Überzeugung, dass die föderale Struktur für uns gut
ist. Um es mit den Worten von Tomasi di Lampedusa zu
sagen: Wenn wir wollen, dass alles so bleibt, wie es ist,
dann ist es nötig, dass alles sich verändert. Deshalb
möchte ich weiter Finger in Wunden legen. Deshalb sind
jetzt, vor allen Dingen in den Parlamenten und Regierungen, Vorbilder gefragt, die sich nicht abgrenzen, sondern kooperieren wollen. Deshalb möchte ich die Arbeit
an der deutschen Sicherheitsarchitektur sogar institutionalisieren. Herr Bundesinnenminister, ich fand Ihre Idee
richtig - ich lobe Sie in jeder Rede für den damaligen
Vorschlag -, die Sicherheitsarchitektur in Deutschland
von einer Kommission analysieren und bewerten zu lassen. Ich würde mich freuen, wenn es dazu wieder käme.
Ich könnte mir übrigens auch vorstellen, dass, wenn Sie
ressortübergreifend und Bund-Länder-übergreifend
50 Empfehlungen in Sachen NSU-Folgerungen zu koordinieren haben, auch da eine symbolhafte Institutionalisierung in Form einer Geschäftsstelle, eines Beauftragten das deutliche Signal - nach innen wie nach außen senden könnte: Wir meinen es ernst.
Meine Damen und Herren, wer die Sicherheitsarchitektur fortentwickeln will, hat zwei gute Gründe: erstens
die modernen Erscheinungsformen der Kriminalität und
zweitens das Versprechen, das wir einzulösen haben, das
Versprechen, das wir den Hinterbliebenen der Opfer des
NSU-Terrortrios hier in diesem Hause gegeben haben:
Wir wollen erst ruhen, wenn alle Empfehlungen, die wir
geben konnten, umgesetzt wurden, sodass das nie wieder
passiert.
Danke schön.
({4})
Als nächster Redner hat der Kollege Sönke Rix das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Eigentlich hatte ich - nichts gegen Sie, Frau Präsidentin! gehofft, dass Herr Lammert noch im Präsidium ist. Als
ich meine Rede vorbereitet habe, wusste ich, dass die
Debatte in der Kernzeit stattfindet, in der normalerweise
der Bundestagspräsident den Vorsitz hat. Nun hat sich
der Beginn unserer Debatte wegen der Ukraine-Debatte
verschoben. Aber ich wollte Herrn Lammert noch einmal danken; vielleicht können Sie ihm den Dank ja ausrichten, aber er wird es möglicherweise auch hören.
Das will ich gerne machen.
Danke schön. - Als die Mitglieder des Untersuchungsausschusses - Frau Högl hat es heute schon einmal gesagt - bei ihm waren, hat er die Initiative für ein
Nachdenken über die Frage ergriffen: Wie gehen wir als
Parlament mit den Erkenntnissen, die wir im Untersuchungsausschuss gewonnen haben, um? Wir wissen ja:
So mancher Untersuchungsausschussbericht, so mancher Bericht einer Enquete-Kommission sowie andere
Dinge verschwinden in Schubladen. Ich finde es richtig,
dass wir als neugewähltes Parlament mit der heutigen
Beschlussfassung noch einmal bekräftigen, was wir in
diesem Bericht überwiegend gemeinsam festgehalten
haben, auch wenn es einige Einzelvoten gibt. Aber der
gemeinsame Bericht ist ein gutes Zeichen auch für diese
Wahlperiode und ein guter Auftrag an die Bundesregierung und an uns als Parlament. Herzlichen Dank dafür.
({0})
Ich will ganz kurz auf das kleine Streitthema „Extremismusklausel“ eingehen. Denen, die da nur die halbe
oder zumindest nicht die ganze Wahrheit gesagt haben,
will ich an dieser Stelle sagen: Es gibt jetzt - dafür bin
ich Ihnen, Herr de Maizière, und auch Frau Schwesig
sehr dankbar - eine gemeinsame Linie der Bundesregierung, wie man mit Projekten umgeht, die staatliche Mittel zur Förderung von Demokratie haben wollen. Das ist
schon einmal sehr wichtig.
({1})
Die gab es vorher nämlich nicht. Vorher gab es quasi
eine Einzelbewertung aus dem Hause der Familienministerin. Sie hat darum gebeten, dass die Klausel unterschrieben wird. Diese Unterschrift ist nun nicht mehr
erforderlich. Es wird natürlich den Hinweis geben, dass
alles auf rechtlicher Grundlage basiert. Das ist aber eine
Selbstverständlichkeit, und darüber hat sich im Zusammenhang mit den Projekten aus den Häusern auch vorher
niemand beschwert. Ich finde es richtig, dass die Unterschrift nun wegfällt.
({2})
Wir haben uns im Untersuchungsausschuss nicht immer nur mit der Frage beschäftigt, was die Sicherheitsbehörden und die Justiz falsch gemacht haben. Wir haben
uns, als wir mit Zeugen gesprochen und Sachverständige
eingeladen haben, auch intensiv mit der Frage beschäftigt: Wie kann es eigentlich passieren, dass wir als Gesellschaft einen Boden bereitet haben, auf dem aus
Rechtsextremismus sogar Rechtsterrorismus entstehen
konnte? Wie konnte es passieren, dass, wie im Falle von
Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe, junge Menschen, die,
wie wir erfahren haben, eine gewisse Perspektive hatten,
in den Rechtsextremismus abgewandert und sogar zu
Rechtsterroristen geworden sind?
Wir müssen uns vorstellen: In den 90er-Jahren
brannte in Rostock ein Asylbewerberheim, und die
Nachbarn haben geklatscht. Die Sicherheitsbehörden
waren überfordert. Diese Situation ist für uns heute immer noch unbegreiflich. Ich hoffe, dass es nie wieder zu
solch einer Situation kommt.
({3})
Wir haben im Rahmen unserer Untersuchungen leider
erkannt, dass einer der im Rahmen des NSU-Prozesses
Beschuldigten Mitglied bei der Bundeswehr war und dort
offen zu Protokoll gegeben hat - das ist aktenkundig -,
dass er sich als nationalsozialistisch bezeichnet. Bei der
Bundeswehr sind daraus damals keine Konsequenzen
gezogen worden. Er wurde sogar noch zum Gefreiten
befördert und bekam ein relativ durchschnittliches
Dienstzeugnis. Auch das gehört zur Wahrheit dazu.
Auch an dieser Stelle fehlte die Sensibilisierung in einem Bereich unserer Gesellschaft.
In den 90er-Jahren wurden die Anti-Antifa Ostthüringen und der Thüringer Heimatschutz gegründet, in denen auch Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe Mitglied
waren. Die Staatsanwaltschaft Gera ging damals jedoch
nicht von einer kriminellen Gesamtstruktur aus. Auch
das ist wieder ein Beweis dafür, dass die Sensibilität gegenüber diesen Taten und vor allem gegenüber dem
Rechtsextremismus nicht vorhanden war. Unser Eindruck ist, dass es die Bereitschaft dazu in der Bundeswehr, der Gesellschaft und den Medien nicht gab; Herr
Binninger hat das angesprochen. Deshalb ist es nach wie
vor eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, sich gegen
Rechtsextremismus zu wehren.
({4})
Ich bin froh, dass wir in unserem Abschlussbericht
geschrieben haben, dass wir die Zivilgesellschaft an dieser Stelle weiterhin stärken wollen. Dazu gehören nicht
nur der Umgang mit der Extremismusklausel - mit Unterschrift oder ohne -, sondern auch die Bereitstellung
von mehr Mitteln, um diese dauerhafte Aufgabe einer
dauerhaften Finanzierung zuzuführen. Deshalb bin ich
dankbar, dass wir heute diesen gemeinsamen Antrag beschließen werden.
Herzlichen Dank.
({5})
Als nächster Redner hat der Kollege Dr. Sensburg das
Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Fast anderthalb Jahre hat der NSU-Untersuchungsausschuss gearbeitet. Es ist ein starkes Zeichen,
dass sowohl die Einsetzung als auch die Beschlussempfehlung und der Abschlussbericht einstimmig erfolgten
und dass wir hier im Deutschen Bundestag große Einheit
zeigen. Es ist ein wichtiges und richtiges Zeichen. Genauso richtig ist es, dass wir dieses Thema in der
18. Wahlperiode quasi nicht als Akte zuklappen, sondern
aufgeklappt lassen. Das ist ein starkes und gutes Zeichen; das haben meine Vorredner bereits hinreichend bekundet.
Mich freut, dass die Kolleginnen und Kollegen - insbesondere Frau Kollegin Högl, als es um Baden-Württemberg ging - hier jetzt nicht in Klein-Klein verfallen,
sondern wir uns einig sind, gemeinsam an dem Ziel zu
arbeiten, dass weiter aufgeklärt wird. Ich freue mich,
dass wir nicht in Fraktionsdiskussionen verfallen, sondern gemeinsam an einem Strang ziehen. Ich finde, das
ist ein sehr starkes Zeichen.
Ich finde es genauso wichtig, dass wir in enger Zusammenarbeit mit den Bundesländern die weiteren notwendigen Aufklärungen betreiben. Viele Maßnahmen
sind nun einmal in den Bundesländern zu treffen. Ich bin
daher ein wenig traurig, dass die Bundesratsbank, die
sonst auch nicht besonders gut gefüllt ist, heute bei diesem Thema leider auch recht leer ist. Die ersten Kolleginnen und Kollegen gehen schon, obwohl die Debatte
noch nicht zu Ende ist. Ich hätte mir gewünscht, dass die
Bundesratsbank gerade heute etwas stärker gefüllt ist.
({0})
Die besondere Einigkeit, die hier zutage tritt, ist bei einem Untersuchungsausschuss keine Selbstverständlichkeit. Es ist in der Regel ein scharfes Schwert der Opposition, um zu ermitteln. Wenn man aber genauer hinschaut,
dann erkennt man, dass ein Untersuchungsausschuss eigentlich ein zentrales Recht des Parlaments, der parlamentarischen Demokratie ist. Auch an dieser Stelle gilt
daher: Es ist ein gutes Zeichen, dass dieser Untersuchungsausschuss als ein zentrales Instrument des gesamten Parlaments genutzt worden ist.
Ich danke allen Mitgliedern des Untersuchungsausschusses, die in diesen fast anderthalb Jahren intensiv
gearbeitet haben: mit doppelter Sitzungszeit, mit vielen
Sitzungen und einer hohen Schlagzahl. Das war eine intensive Arbeit. Ganz herzlichen Dank an alle, dass Sie
hier so intensiv gearbeitet haben.
Ich danke aber auch den Mitgliedern der Bundesregierung und der Behörden. Es war nicht immer leicht
im Untersuchungsausschuss. Es war nicht mit allen Behörden einfach. Aber im Ergebnis ist es dann doch gelungen. Gerade auch der Innenminister Thüringens, Herr
Geibert, der uns viele Erkenntnisse über den Thüringer
Verfassungsschutz vermittelt hat, hat dazu beigetragen,
dass der Untersuchungsausschuss arbeiten konnte.
Von der einen oder anderen Seite wurden die Polizei
und der Verfassungsschutz intensiv kritisiert. Dazu ist
viel gesagt worden. Vieles ist richtig. Ich möchte aber
auf das eingehen, was der Kollege Binninger erwähnt
hat. Wenn wir den Polizei- und Sicherheitsbehörden
Blindheit vorwerfen, dann müssen wir auch sagen, dass
wir alle blind waren. Das ist eine Lehre des Untersuchungsausschusses. Nicht nur Polizei- und Sicherheitsbehörden haben es nicht gesehen, sondern auch in der
Berichterstattung der Presse konnten wir nichts von einem deutlichen Fingerzeig nach rechts lesen. Auch in
unseren Debatten gab es keinen Hinweis in diese Richtung. Ausnahmsweise muss ich einmal die Linke loben,
was ich sehr selten tue. Sie hat deutlich gesagt, dass auch
sie trotz erster Nachfragen nicht weitergebohrt hat. Die
Erkenntnis, dass wir zu wenig gemacht haben, muss uns
alle bewegen. Das ist ein ganz wesentliches Fazit dieses
Untersuchungsausschusses.
Wir müssen wachsamer sein. Wir müssen erkennen,
dass in den letzten Jahren - Frau Kollegin Pau hat es gesagt - 60 Menschen getötet worden sind. Vor kurzem
wurde vor dem Landgericht Halle ein Fall verhandelt,
der sich in Eisleben ereignete. Dort wurden auf grausamste Weise Menschen zusammengeschlagen, weil sie
einen Migrationshintergrund haben. Das muss uns einfach stutzig machen und zum Nachdenken anregen. Ich
danke daher allen Vereinigungen, Gruppen und Gesellschaftsgliederungen, die immer wieder auf rechts zeigen,
Sensibilität wecken und sich einsetzen. Auch wir wollen
mit den Ergebnissen des Untersuchungsausschusses da
ansetzen, wo Toleranz, Kompetenz und Sensibilität gefordert werden. Das ist ein wesentlicher Bestandteil des
Untersuchungsberichtes.
Es sind auch Fehler gemacht worden. Bei einigen
wurde der Finger in die Wunde gelegt. Ich möchte nicht
mehr auf den polizeilichen Bereich eingehen, sondern
ich möchte auf den Bereich der Justiz eingehen. Wir
müssen feststellen, dass in vielen Bereichen der Justiz
Sachverhalte nicht richtig verfolgt wurden oder nicht zur
Anklage gebracht wurden. Es kann nicht sein, dass
Böhnhardt 1993 in U-Haft weitere Taten vollbringen
konnte - gemeinsam mit Sven R. und zwei weiteren folterte er einen Mithäftling - und dies keine strafrechtlichen Konsequenzen hatte und es auch nicht zur Anklage
kam.
({1})
Wir haben 1996 Fotos einer Kreuzverbrennung im
Stil des Ku-Klux-Klans gefunden. Als später die Zeugin
Zschäpe vernommen wurde, hat sie konkrete Personen,
die den Hitlergruß und den Kühnengruß zeigten, benannt. Auch hier wurde wieder nicht strafrechtlich ermittelt und die Sache zum Abschluss gebracht. Das kann
nicht sein. Wir müssen hier stärker sensibilisieren. Ich
hoffe, dass wir aus den Ergebnissen den Schluss ziehen,
dass Aus- und Fortbildung bei der Polizei und der Justiz
intensiviert werden müssen. Auch das EDV-Wirrwarr
zwischen den Bundesländern muss aufgelöst werden,
damit wir effektiv und intensiv arbeiten können.
({2})
Meine Damen und Herren, uns muss es gelingen, alle
Empfehlungen aus dem Untersuchungsausschuss umzusetzen. Wir werden das gemeinsam mit der Bundesregierung tun. Ich freue mich, dass heute zwei Minister gesprochen haben. Wir werden die Umsetzung als Parlament
begleiten. Ich hoffe, dass wir in dieser Legislaturperiode
konkrete Erfolge erzielen. Das sind wir den Opfern
schuldig.
({3})
Jetzt hat die Kollegin Ulrike Bahr das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das
kroch.“ Über 50 Jahre alt ist dieser Satz aus Bertolt
Brechts Arturo Ui. Man könnte meinen, über eine so
lange Zeitspanne hätte er Staub ansetzen und an Aktualität einbüßen können. Doch weit gefehlt. Dies haben gerade die Ergebnisse des NSU-Untersuchungsausschusses
uns allen wohl in erschreckendem Ausmaß vor Augen
geführt.
Umso wichtiger ist es, diesen Bericht nicht in der
Schublade verschwinden zu lassen. Das Wiederaufgreifen und der Entschluss zur Bekräftigung der Empfehlungen des NSU-Untersuchungsausschusses setzen hier ein
wichtiges und vor allem ein dringend notwendiges Zeichen im Hinblick auf eine funktionierende, verantwortungsbewusste und wehrhafte Demokratie.
({0})
Wir müssen uns in der Tat wehren, und leider nicht im
Sinne von „Wehret den Anfängen!“. Denn dieser Punkt
ist bereits weit überschritten: Rechtsextreme und antisemitische Einstellungen sind längst in unserer Mitte angekommen. Jeder zehnte Deutsche neigt laut der letzten
Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung von 2012 zu rechtsextremem Denken. Dies zeichnet, wie ich finde, ein sehr
alarmierendes Bild der Situation in Deutschland, einem
Land, das ich persönlich viel lieber als weltoffen, tolerant und bunt wahrnehmen würde.
({1})
Der erschreckende Blick in die braunen Sümpfe in
Deutschland darf aber über eines nicht hinwegtäuschen:
Es gibt sie - jene, die immer und immer wieder gegen
rechtsextreme Aufmärsche, gegen Rassismus und Antisemitismus aufstehen, die sich von rechten Drohungen
nicht einschüchtern lassen. In ganz Deutschland wehren
sich Bürgerinnen und Bürger, unzählige Vereine und Initiativen sowie viele Kommunen gegen rechte Umtriebe.
Sie sagen: Wir sind bunt, und das soll so bleiben.
({2})
Dieses Netz von bunten Städten und Gemeinden zieht
sich mittlerweile über ganz Deutschland, und darauf dürfen alle Beteiligten wirklich stolz sein.
Genau hier sind wir auf dem richtigen Weg. Denn das
A und O für einen nachhaltigen und effektiven Kampf
gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus ist eine lebendige Zivilgesellschaft. Wo Menschen
erfahren, was man miteinander bewegen kann, werden
sie für extremes Gedankengut weniger empfänglich.
Hier sind auch wir als Politikerinnen und Politiker gefragt. Politik muss wieder erlebbar und nahbar sein, nah
am Menschen. Demokratie ist für viele zu abstrakt, zu
weit entfernt von ihrem Alltag. Es ist unsere Aufgabe,
zivilgesellschaftliches Engagement zu fördern, uns selber daran zu beteiligen und uns immer und immer wieder dafür starkzumachen.
({3})
Dann wird auch wieder verständlicher, was Demokratie
im Kern ausmacht: das Recht auf Beteiligung.
In Anlehnung an die Empfehlungen des NSU-Untersuchungsausschusses findet sich auch im Koalitionsvertrag ein klares Bekenntnis zur Förderung zivilgesellschaftlichen Engagements, um rechtsextremistischen
Strömungen entgegenzuwirken. Dafür ist es unbedingt
notwendig, die vielen Projekte, die die Demokratie vor
Ort hochhalten, auf eine sichere finanzielle Basis zu stellen. Wie wir aus dem letzten Jahr wissen, machte die
Angst vor dem finanziellen Aus auch vor so renommierten Projekten wie Exit-Deutschland nicht halt, und das
darf nicht wieder passieren.
({4})
Die Wertschätzung, die den Initiativen bei diversen Feierlichkeiten immer und immer wieder pathetisch versichert wird, muss sich auch in ihrer Finanzausstattung widerspiegeln.
Zusätzlich muss es unser Ziel sein, erfolgreiche Projekte zu verstetigen, um den Initiativen vor Ort das regelmäßig wiederkehrende Zittern um Förderzusagen zu
ersparen.
({5})
Denn für ihre wichtige Arbeit brauchen sie vor allem eines: Planungssicherheit. Die im Koalitionsvertrag festgehaltene Aufstockung der Haushaltsmittel ist hier ein
wichtiger Schritt, um eine ausreichende Finanzierungssicherheit zu gewährleisten.
({6})
Gerade in diesem Bereich sollte zudem nicht immer gelten: Wer zahlt, schafft an.
Wir brauchen dringender denn je zivilgesellschaftliches Engagement. Deshalb müssen wir eine Partnerschaft fördern, und zwar eine Partnerschaft auf Augenhöhe und mit Beteiligungsformen, bei denen die
Expertise aus der Zivilgesellschaft aufgegriffen wird, um
das Engagement konsequent weiterzuentwickeln.
Ein wichtiges Signal im Hinblick auf eine gleichberechtigte Partnerschaft ist hier auch die gemeinsame
Entscheidung des Familien- und des Innenministeriums,
bei den Bundesprogrammen zur Demokratieförderung
zukünftig auf die sogenannte Extremismusklausel zu
verzichten. Die Parallelität des gemeinsamen Kampfes
gegen Rechtsextremismus und des gleichzeitigen Generalverdachts, damit linksextremen Einstellungen nahezustehen, ist weder zeitgemäß, noch entspricht dies einem
partnerschaftlichen Verständnis im Verhältnis zwischen
Politik und Zivilgesellschaft.
Im Kampf gegen rechts können und müssen wir Parteilinien überspringen. In meinem Wahlkreis gibt es beispielsweise ein „Bündnis für Menschenwürde“, in dem
sich alles vereint, was in Augsburg aktiv ist. Hier kämpfen Altlinke Seite an Seite mit wackeren Christsozialen,
Jung neben Alt, Kirche mit Gewerkschaften und Polizei
gemeinsam gegen rechte Umtriebe und zeigen Flagge,
wenn, wie womöglich am kommenden Wochenende
wieder, Nazis aufmarschieren.
Gerade hier spielt der Bereich der Bildung eine ganz
wesentliche Rolle. Denn Bildung und Aufklärung sind
mächtige Schutzwälle gegen extremes Gedankengut.
({7})
Vor dem Hintergrund unserer Geschichte müssen wir
Kindern und Jugendlichen helfen, ihre Persönlichkeit zu
stärken. Wir müssen ihnen vermitteln, dass unsere Demokratie ein wichtiges Gut ist und dass unsere Gesellschaft ohne Solidarität und Respekt niemals eine gute
sein kann.
Zivilcourage kommt nicht von selbst, aber sie entsteht, wenn man weiß, wofür wir sie brauchen. Unsere
Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass wir alle wieder bewusst zu schätzen wissen, was es heißt, in einer Demokratie zu leben. Erst dann gibt es für Rechtsextreme keinen Nährboden mehr.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Das war die erste Rede der Kollegin Bahr, und gleich
zu einem Thema, das uns alle sehr bewegt.
({0})
Als nächster Redner hat der Kollege Martin Patzelt
das Wort. Auch für ihn ist das seine erste Rede.
({1})
Sie meinen: vor diesem Hause!
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Besucher hier im Bundestag! Die Demokratieförderung ist zwar die letzte Empfehlung, die der Untersuchungsausschuss in seinem Abschlussbericht gegeben
hat, aber sie ist nicht die letzte in ihrer Bedeutung. Aus
meiner Sicht ist sie von grundlegender Bedeutung.
Die Bundesregierung hat Bemühungen um Förderung
von Demokratie und Menschenfreundlichkeit und
gegen faschistische Ideologien und extremes Verhalten
seit dem Jahr 2000 gefördert. Seit 2008 wurden rund
377 Millionen Euro aus verschiedenen Ressorts zusammengelegt, um die Kommunen bei spezifischen Programmen zu unterstützen.
Ich konnte in kommunaler Verantwortung erleben,
wie durch eine wachsende, sich profilierende Begleitung
und Beratung die Ratlosigkeit und die Ohnmacht der
Menschen in meiner Stadt angesichts öffentlicher rassistischer Übergriffe und einer sich etablierenden Szene
von rechtsradikalen Jugendlichen sich wandelten. Ich
konnte erleben, wie in einer deutsch-polnischen Doppelstadt mit vielen ausländischen Studenten aus hilflosen
und spontanen Aktivitäten der Bürgerinnen und Bürger
ein bedachter Widerstand gegen fremdenfeindliche
Übergriffe organisiert wurde und ein friedliches und tolerantes Miteinander in der Stadt wuchs. Es waren insbesondere die vom Bund bereitgestellten finanziellen Mittel, die uns dabei halfen.
Wir müssen die Absicht zur Verstetigung der Förderung und Entwicklung flächendeckender Beratungsstrukturen unterstützen und, wo nötig und sinnvoll, auch
entsprechende Mittel aufstocken, damit die gewonnenen
spezifischen Erfahrungen und Kompetenzen nicht verlorengehen. Meine Vorrednerin hat das ausführlich begründet. Frau Pau, ich kann in diesem Zusammenhang
keine Uneinigkeit im Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses finden. Für mich war beim Lesen gerade in diesem Punkt eine große und bewundernswerte
Einigkeit erkennbar.
Die bislang geforderte Kofinanzierung von besonders
erfolgreichen Modellprojekten soll auf den Prüfstand gestellt werden. Man überlegt, ob man nicht auf den kommunalen Anteil verzichten könnte, falls die Kommunen
kein Geld dafür haben. Davor warne ich ganz entschieden. Ohne einen finanziellen Beitrag der Länder und
Kommunen laufen diese Gefahr, ihre eigene Verantwortlichkeit zu unterschätzen.
({1})
Die Menschen müssen an ihren Lebensorten gemeinschaftlich um Demokratie und Toleranz ringen und sich
Fremdenhass und politischem Extremismus entgegenstellen. Dies muss man sich etwas kosten lassen. Sie
müssen verstehen lernen, dass es ihr Ding ist, diesen unermüdlichen Einsatz für demokratisches Zusammenleben zu gestalten. Ausgaben für einen solchen Einsatz
sind genauso wichtig oder vielleicht sogar noch wichtiger als andere Ausgaben, die Kommunen tätigen müssen, etwa für gereinigte Straßen, gepflegte Grünanlagen
oder Politessen.
Der Bund kann und soll dauerhaft helfen, aber er darf
nicht die Verantwortung vor Ort mindern. Denn nur an
den Lebensorten selbst wird Erziehung und Bildung zu
demokratischem Verhalten vollzogen. Die Lebenskontexte sind geeignet, die Alternativlosigkeit und die Wertschätzung demokratischen Lebens überhaupt erfahrbar
zu machen und demokratisches Zusammenleben geradezu zu trainieren. Gedenk- und Feiertagsrituale, Stundentafeln und Bildungsreisen sind wichtig, aber sie reichen bei weitem nicht aus. Sie können nicht die
widersprüchlichen Alltagserfahrungen, die Konflikte
und Frustrationen als Lernfelder ersetzen. Direkte Begegnungen mit fremden, mit schwachen, mit hilfebedürftigen Menschen, die Übernahme von Verantwortung
für Menschen und für Lebensbereiche, kurzum: die Partizipation junger Menschen am Leben der Erwachsenengeneration, das sind die geeigneten Orte der Begleitung
und Förderung junger Menschen und auch für spezifische Projekte.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir alle sind noch
am Üben; denn auch verbale Gewalt wird als Gewalt
empfunden. Strukturelle Gewalt, zum Beispiel im Verwaltungshandeln, führt zu Ohnmachtserfahrungen, und
ein andauernder Entzug von Aufmerksamkeit und Zuwendung führt zu Vereinsamung.
Ich konnte in Vorbereitung dieser Rede nicht darauf
verzichten, noch einmal meinen Blick auf die Täter zu
richten. Ich habe in der ausgezeichneten Recherche von
Christian Fuchs, Die Zelle, versucht, eine Antwort auf
die Frage zu finden, warum gerade Mittelstandskinder,
ohne materielle Not und ohne erkennbare soziale Verwerfungen aufgewachsen, sich in dem Gestrüpp nationalsozialistischer Ideologien verfangen konnten und warum sie zu so furchtbaren und systematischen Morden
fähig wurden.
Der Untersuchungsausschuss konnte und wollte auf
solche Fragen keine Antworten geben. Dabei sind das
die Fragen, die vor allen pädagogischen und politischen
Interventionen stehen. Unsere Förderung darf nicht als
ein Feuerwehr- oder Reparaturprogramm verstanden
werden, sondern es muss auch nach den Ursachen und
den diesbezüglichen Bedingungen des Aufwachsens gefragt werden. Fehlende Empathie, ungenügende Frustrationstoleranz, keine Konfliktkompetenz und ungezügelte
Aggression sind Warnzeichen. In diesen Zusammenhängen ist es unerlässlich, nach den Entwicklungsbedingungen von Kindern in der Drehtür zwischen familiärer und
öffentlicher Erziehung zu fragen. Die anthropologischen
Wissenschaften geben uns dazu heute gute Antworten wenn wir sie nur hören wollen.
Die beabsichtigten Evaluationen von erfolgreich geförderten Programmen stimmen hoffungsvoll. Ich bin
der Bundesregierung dankbar, dass sie sich in dem Koalitionsvertrag so einmütig und so geschlossen zur Fortsetzung und Evaluierung dieser Programme entschlossen
hat.
Noch ein Wort an uns alle: Vielleicht sind es gerade
unsere unbewältigten und verdrängten Konflikte und
Ängste, die es der nachfolgenden Generation schwer
machen, in eine lebbare Zukunft zu gehen. Vielleicht
führt unser unbedarfter Zugriff auf Ressourcen jeder Art
zu einer Situation, die jungen Menschen Angst macht,
die sie fragen lässt, wie sie in Zukunft leben sollen. Eine
junge Generation, die nicht vom Beispiel und vom Optimismus der Älteren getragen und bewegt wird, kann
kein Vertrauen in die Zukunft entwickeln. Deshalb brauchen junge Menschen vor allem ältere und authentische
Kontaktpersonen - angefangen bei den Eltern bis hin zum
Nachbarn, zum Ausbilder, zum Lehrer -, die sie annehmen
mit ihren Eigenheiten und Fehlern, mit ihren Schwächen,
mit ihrer anstrengenden eigenen Sprache und ihrer eigenen Kultur, die ihre Ängste und Fähigkeiten ernst nehmen, die Wertschätzung vermitteln und ihnen bei Problemen helfen, die mit ihnen im dauernden Gespräch
bleiben und dabei erfahren, dass solch eine Kommunikation auch ihnen selbst helfen kann, ihre Ideologien aufzubrechen. Das bleibt schwer. Hier kann und soll professionelle Beratung aus Sackgassen und Engpässen
heraushelfen.
Wir selbst müssen mit Blick auf unsere Kultur des
Umgangs im Deutschen Bundestag das Miteinander immer wieder neu üben - daran entscheidet sich, ob und
wie Demokratie gelingt, ob sie wirklich und tatsächlich
die Ultima Ratio unseres Zusammenlebens ist -, indem
wir in der Sache scharf die Klingen kreuzen, der Person
aber immer die gute Absicht unterstellen; denn immer
neues, auch nach Enttäuschung investiertes Vertrauen ist
die beste Alternative zu Gewalt und Kraft. Das ermöglicht uns eine gute individuelle Zukunft und eine gute
Zukunft unseres Landes und unserer Erde.
Vielleicht ist es tatsächlich an der Zeit, eine eigene Jugendpolitik zu entwickeln, so wie es im Koalitionsvertrag schon anklingt. Ein erster Schritt könnte sein, dass
wir die Kinderkommission um eine Jugendkommission
erweitern.
Ich danke Ihnen.
({3})
Jetzt hat die Kollegin Susanne Mittag das Wort.
({0})
- Ich hatte schon darauf hingewiesen. Ich sage es aber
noch einmal: Das war die erste Rede des Kollegen vor
diesem Hause.
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich hoffe,
als Schlussrednerin kann ich Ihre Aufmerksamkeit noch
ein bisschen bannen.
Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe waren das, was
sich deutsche Sicherheitsbehörden anscheinend jahrelang nicht vorstellen konnten: eine rechtsextremistische
Terrorzelle. Erst nach dem Banküberfall und den darauf
folgenden Suiziden von Böhnhardt und Mundlos im November 2011 endeten die Mordanschläge, ohne dass die
Sicherheitsbehörden auch nur ahnten, wen sie da tot im
brennenden Wohnmobil vorgefunden haben. In den darauffolgenden Wochen und Monaten machte sich Fassungslosigkeit auch bei den Ermittlungsbehörden breit.
Die Frage, die wir uns alle gestellt haben, lautete: Wie
war es nur möglich, dass dieses Trio ungehindert jahrelang mordend durch diese Republik ziehen konnte?
Die strafrechtlichen Fragen klärt derzeit die Justiz;
dafür ist der Deutsche Bundestag nicht das richtige Gremium. Allerdings war es bei all diesen gravierenden
Fehlern, Pannen und fragwürdigen Ermittlungsansätzen
unerlässlich, dass wir als Politik klären, was genau
schiefgelaufen ist und was wir ändern müssen, damit wir
als Gesellschaft solche terroristischen Umtriebe künftig
schneller erkennen und auch bekämpfen können.
({0})
Der Deutsche Bundestag ist der zentrale Ort für die
politische Auseinandersetzung. Hier ringen wir um Positionen - das haben wir heute Morgen schon gemerkt -,
suchen Mehrheiten, und wir streiten, manchmal auch
härter, als es eigentlich sein müsste. Ganz anders war es
im NSU-Untersuchungsausschuss. Die Aufarbeitung
dort war geprägt vom Willen aller Fraktionen, gemeinsam die Missstände aufzuklären und konstruktive Vorschläge zur Beseitigung zu erarbeiten. Dafür möchte
auch ich mich bei allen Beteiligten, die dem Ausschuss
zum Erfolg verholfen haben, ganz herzlich bedanken.
({1})
Die im Untersuchungsausschuss geübte Praxis, dem
Phänomen des Rechtsterrorismus gemeinsam zu begegnen, muss weiterverfolgt werden. Mir als neugewählter
Abgeordneten des 18. Deutschen Bundestages ist es
wichtig, dass wir hier und heute die Ergebnisse des Untersuchungsausschusses fraktionsübergreifend bekräftigen und als Arbeitsprogramm mit in diese neue Legislaturperiode nehmen. Ich denke, alle neuen Abgeordneten
werden mir da zustimmen.
({2})
Das sind wir den Opfern, aber auch unserer Demokratie
schuldig.
Meine Vorredner Eva Högl und Sönke Rix haben als
Mitglieder des NSU-Untersuchungsausschusses die beschämenden Ergebnisse mit vorgestellt und klare Forderungen an die Politik in Bund und Ländern, an die Sicherheitsbehörden, aber auch an uns alle als Gesellschaft
formuliert. Das ist eben schon vorgetragen worden.
Bei allem, was wir in den kommenden Jahren in Bund
und Ländern als Politik verabschieden werden, ist mir
eines besonders wichtig: Lassen Sie uns nicht diejenigen
vergessen, die es dann auf der Straße umsetzen sollen.
Als ehemalige Polizeibeamtin weiß ich, wovon ich spreche. Wir dürfen also nicht immer nur neue Strukturen,
andere Herangehensweisen sowie Eigen- und Fremdkontrollen bei Ermittlungsabläufen in den Behörden einfordern, sondern wir müssen gleichzeitig auch sagen,
wie die Kollegen vor Ort das leisten sollen. Denn oftmals fehlt es an Zeit, an Möglichkeiten und an Personal.
Ich sage hier ganz klar und deutlich: Wir werden in
Bund und Ländern nicht umhin kommen, mehr Geld für
Sachmittel und Personal auszugeben, wenn wir unsere
Forderungen hier ernst meinen. Wir haben ja bald Haushaltsberatungen.
({3})
Ich möchte noch auf einen mir wichtigen Aspekt eingehen und klarstellen: Der teilweise erhobene Vorwurf,
die Polizei und die Sicherheitsbehörden seien durchgängig rassistisch und hätten ein frühzeitiges Erkennen des
NSU-Terrors bewusst verhindert, weise ich für die SPD
zurück. Gleichmacherei bringt uns hier kein Stück weiter.
({4})
Vielmehr haben sich in den Sicherheitsorganen unbewusste Verdachts- und Vorurteilsstrukturen, Eitelkeiten
und mangelnder Informationsaustausch so potenziert,
dass sich hier alles zu einem Berg von Fehlern aufgetürmt hatte, der kaum zu begreifen ist.
Daher halte ich es für vollkommen richtig, dass nun in
den Bundesländern die Altfälle aus den Jahren 1990 bis
2011 nach bisher unentdeckten rechtsextremistischen
Hintergründen erneut überprüft werden. Ich gehe davon
aus, dass mit gleichem Nachdruck auch den Altfällen
nachgegangen wird, bei denen sich keine rechtsextremen
Anhaltspunkte ergeben, sondern andere, sei es organisierte Kriminalität oder seien es Anhaltspunkte aus dem
näheren Umfeld des Opfers.
Die Lehre aus dem NSU-Terror ist, dass jedes Opfer
einer Straftat das gleiche Recht auf bestmögliche Ermittlungen hat, frei von Vorurteilen und Unterstellungen.
Das gilt unabhängig von Geschlecht, Rasse, Hautfarbe,
Sprache und Religion, unabhängig von politischen und
sonstigen Anschauungen, nationaler oder sozialer Herkunft, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit,
unabhängig von Vermögen oder sonstigem Status. Denn
jedes Opfer einer Straftat ist dem Staate und unserer Gesellschaft ja wohl gleich viel wert und verdient unsere
Unterstützung.
Herzlichen Dank.
({5})
Auch für die Kollegin Mittag war es ihre erste Rede.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit schließe ich
die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den interfraktionellen Antrag auf Drucksache 18/558 mit dem Titel „Bekräftigung der Empfehlungen des Abschlussberichts des
2. Untersuchungsausschusses der 17. Wahlperiode ,Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund‘“. Wer
stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? Gibt es Enthaltungen? - Damit ist dieser Antrag einstimmig angenommen worden - ein gutes Zeichen für dieses
Haus.
({1})
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 c auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heidrun
Bluhm, Caren Lay, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Mieterhöhungsstopp jetzt
Drucksache 18/505
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heidrun
Bluhm, Caren Lay, Halina Wawzyniak, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Mietenanstieg stoppen, soziale Wohnungswirtschaft entwickeln und dauerhaft sichern
Drucksache 18/504
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit ({1})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heidrun
Bluhm, Caren Lay, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Marktmacht brechen - Wohnungsnot durch
Sozialen Wohnungsbau beseitigen
Drucksache 18/506
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit ({2})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 96 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das auch so beschlossen.
Damit eröffne ich die Aussprache. Als erste Rednerin
hat die Kollegin Caren Lay das Wort.
({3})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Werfen Sie mit mir gemeinsam einen Blick auf
den deutschen Wohnungsmarkt: Wer ein Studium in Heidelberg aufnimmt, der darf sich auf eine saftige Kaltmiete von etwa 10 Euro pro Quadratmeter gefasst machen. Eine Rentnerin, die in Prenzlauer Berg wohnt und
dort vielleicht auch ihren Lebensabend verbringen will,
weil sie seit 50 Jahren in ihrem Kiez zu Hause ist, muss
damit rechnen, bei der nächsten Modernisierung vor die
Tür gesetzt zu werden. Eine junge Familie in der Dresdner Neustadt muss damit zurechtkommen, dass ihre
Miete in wenigen Jahren um 30 Prozent gestiegen ist.
Verdrängung, Gentrifizierung und Mietenexplosion auf
der einen Seite, Spekulation mit Wohnraum und hohe
Renditen aufseiten der Vermieter auf der anderen Seite,
das ist die Situation auf dem deutschen Wohnungsmarkt.
Hier muss dringend etwas passieren.
({0})
Meine Damen und Herren, es wäre die erste gute Tat
dieses neu gewählten Bundestages, wenn wir gemeinsam festhalten könnten, dass die Vorgängerregierung
komplett versagt hat, als es darum ging, die Mieterinnen
und Mieter vor einer Mietenexplosion zu schützen, und
dass wir hier gemeinsam etwas auf den Weg bringen
müssen.
({1})
Union und FDP haben doch tatenlos zugesehen! Sie
haben zugelassen, dass die Zahl der Sozialwohnungen in
zehn Jahren um ein Drittel zurückgegangen ist. Sie haben die Privatisierung öffentlicher Wohnungen nicht nur
nicht gestoppt, sondern sie auch selber mit betrieben;
noch im letzten Jahr wurden 11 000 Wohnungen, die im
Besitz des Bundes waren, ohne Not an eine Heuschrecke
verkauft. Sie haben zugelassen, dass der deutsche Wohnungsmarkt zu einem Eldorado für die internationale
Spekulantenszene geworden ist. Die CDU/CSU zuckt da
mit den Achseln und sagt: So ist sie eben, die Marktwirtschaft. - Das Gegenteil ist der Fall: Sie haben die Rechte
der Mieterinnen und Mieter weiter reduziert, und zwar
im Rahmen des sogenannten Mietrechtsänderungsgesetzes.
Deswegen sagen wir als Linke ganz klar: Die oberste
Pflicht muss es jetzt sein, dafür zu sorgen, dass Wohnen
in Deutschland bezahlbar bleibt - auch und gerade für
Menschen mit geringem Einkommen.
({2})
- Ich freue mich über den Applaus aus Reihen der SPD. Wir haben als Linke heute ein ganzes Maßnahmenpaket
vorgelegt. Eine ganz wichtige Forderung ist die Forderung nach einer Mietpreisbremse. Eine andere Forderung betrifft einen Neustart im sozialen Wohnungsbau;
meine Kollegin Frau Bluhm wird gleich näher darauf
eingehen.
Aber zurück zur Mietpreisbremse: Ich freue mich,
dass die Idee einer Mietpreisbremse im Wahlkampf eine
Rolle gespielt hat, dass dieser Begriff verwendet wurde
und dass es im Koalitionsvertrag Aussagen dazu gibt.
Mit Blick auf die Vorstellungen der Koalition verdient
die Mietpreisbremse jedoch ihren Namen nicht.
({3})
Die Koalition will nämlich, dass die Mieten bei Wiedervermietung nicht stärker als um 10 Prozent steigen, gemessen an der örtlichen Vergleichsmiete. Wir fragen
uns: Warum soll die Miete bei einer Wiedervermietung
überhaupt steigen, wenn an der Wohnqualität überhaupt
nichts verbessert wurde?
({4})
Das ist doch völlig unlogisch: Frau A. wohnt in einer
Wohnung, für die sie 500 Euro Miete zahlt. Wenn jetzt
Frau B. in diese Wohnung einzieht, soll sie 550 Euro bezahlen. - Warum soll das so sein? Das kann mir wirklich
niemand erklären.
Kommen wir zum zweiten Pferdefuß: Diese „Mietpreisbremse“ soll auch nur für fünf Jahre gelten und
auch nur dann, wenn die Länder bereit sind, sie umzusetzen. Da stellen sich zwei Fragen: Was passiert nach diesen fünf Jahren? Und, viel wichtiger: Was passiert eigentlich, wenn die unionsregierten Länder sagen: „Nein,
wir setzen das nicht um, wir wollen in unseren Ländern
keine Mietpreisbremse haben“? Meine Damen und Herren, das macht wirklich keinen Sinn. Sie delegieren hier
die Verantwortung an die Länder und wollen Ihre Hände
in Unschuld waschen. Das verdient den Namen „Mietpreisbremse“ nun wirklich nicht.
({5})
Mit einer solchen „Mietpreisbremse“ kann man die Mieten genauso bremsen, wie man einen Lkw mit einer
Fahrradbremse bremsen kann.
Wir als Linke schlagen etwas rigidere Regeln vor, die
die Mieterinnen und Mieter schützen.
({6})
Wir sagen: Erstens. Mieterhöhungen nur aufgrund von
Wiedervermietung darf es überhaupt nicht mehr geben;
dafür gibt es nun wirklich keinen Grund. Zweitens.
Wenn die Miete erhöht wird, soll sie nur im Rahmen des
Inflationsausgleiches steigen dürfen. Das wäre der erste
Schritt dahin, dass Wohnen in Deutschland bezahlbar
bleibt.
Meine Damen und Herren, ich freue mich, dass unsere Forderung, bei Maklerverträgen ein Bestellerprinzip
einzuführen, jetzt von der Koalition aufgegriffen wird.
({7})
Anders macht das wirklich keinen Sinn. Wer beispielsweise in Berlin eine Wohnung sucht, der muss erst einmal mindestens anderthalb Kaltmieten an den Makler
zahlen, selbst wenn der Vermieter ihn bestellt hat. Da
frage ich Sie: Welcher Rentner, welche Studentin kann
sich das denn überhaupt leisten? Das muss endlich geändert werden.
({8})
Meine Damen und Herren, in der Mietenpolitik muss
etwas passieren. Wir fordern eine echte Mietpreisbremse
und einen Neustart im sozialen Wohnungsbau. Wir wollen die Spekulation mit Wohnraum eindämmen. Die Privatisierung von öffentlichem Wohnraum muss endlich
ein Ende haben.
({9})
Die Mietenpolitik ist eine der größten sozialen Herausforderungen der nächsten vier Jahre. Wir als Linke werden hier Druck machen; das darf ich Ihnen versprechen.
Vielen Dank.
({10})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, jetzt hat der Kollege Dr. Luczak das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Frau Lay, Sie haben recht: Auf dem Mietwohnungsmarkt muss etwas passieren; aber - das kann
ich Ihnen vorab schon einmal sagen - das, was Sie vorschlagen, das wird jedenfalls nicht passieren.
({0})
Man muss sich nur einmal ansehen, welche Wortwahl
die Linke in ihren Anträgen bei der Aufstellung ihrer
Forderungen benutzt. Da heißt es: „Mieterhöhungsstopp
jetzt“, „Marktmacht brechen“, „Wohnen in der City
[wird] zum elitären Statussymbol“. Meine Damen und
Herren, das sind die Schlagworte, die die Linke in ihren
Anträgen verwendet.
({1})
Ich muss sagen: Angesichts dieser Wortwahl - sie findet
sich eigentlich ständig in den Anträgen der Linken kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren: Ihnen geht
es nicht um die Sache, sondern allein um populistische
Forderungen und um Stimmungsmache. Damit werden
Sie den Menschen in diesem Lande nicht gerecht, meine
Damen und Herren von den Linken.
({2})
Es verwundert ja auch schon, dass Sie gerade jetzt mit
Ihren Vorschlägen um die Ecke kommen. Sie wissen
doch ganz genau, dass wir in wenigen Wochen einen ersten Referentenentwurf bekommen werden, in dem wir
uns dezidiert und explizit mit diesen Forderungen zum
Mietrecht auseinandersetzen werden. Auch das zeigt
wieder einmal, dass es Ihnen nicht um die Sache geht,
sondern dass Sie an dieser Stelle Krawall machen wollen.
({3})
Ich rate Ihnen: Warten Sie den Entwurf ab, und setzen
Sie sich konstruktiv damit auseinander. Dann können
wir ja vielleicht über das eine oder andere miteinander
reden.
Aber was machen Sie stattdessen? Sie legen uns hier
heute - das kann ich gar nicht anders formulieren - ein
Sammelsurium an Unsinn vor.
({4})
Sie lassen in Ihren Forderungen jegliche Kenntnis von
wirtschaftlichen Zusammenhängen vermissen. Sie werfen Zerrbilder an die Wand und machen vor allen Dingen
eines deutlich: Sie sind immer noch nicht in der sozialen
Marktwirtschaft angekommen, sondern leben noch immer in Ihren sozialistischen Fantasien.
({5})
Sie sprechen in Ihren Anträgen zum Beispiel von der
„monopolartigen Dominanz des Privateigentums“
({6})
und von Eigentümern, die die angespannte Marktsituation „hemmungslos“ ausnutzen. Sogar das Wirtschaftsstrafgesetz wollen Sie jetzt für Eigentümer verschärfen.
Bei Ihnen ist immer noch der Eigentümer der Böse. Begreifen Sie doch endlich einmal: Eigentum ist nichts
Schlechtes, sondern die Grundlage unserer gesellschaftlichen und auch verfassungsrechtlichen Ordnung.
({7})
Ich muss sagen, ich finde es sehr schade, dass Sie sich
in dieser Art und Weise mit der Mietenproblematik auseinandersetzen; denn das Thema ist wirklich sehr wichtig.
Ich finde, am Anfang einer solchen Diskussion muss
immer eine nüchterne Bestandsaufnahme stehen. Ja, es
gibt eine dynamische Mietpreisentwicklung. Ja, es gibt
auch Menschen, die sich ihre Wohnung nach einer Mieterhöhung nicht mehr leisten können. Aber zur Wahrheit
gehört doch auch, dass diese Phänomene nicht überall zu
finden sind. Vielmehr ist das doch vor allen Dingen ein
Problem von Ballungszentren, von großen Städten und
von Universitätsstädten.
({8})
Auf dem platten Land, in weiten Teilen der neuen Bundesländer und in vielen anderen strukturschwachen Regionen, werden Sie oftmals genau die umgekehrte Situation finden: Dort gibt es flächendeckenden Leerstand
und Vermieter, die überhaupt nichts mehr in ihre Wohnungen investieren.
Herrscht also einerseits Wohnungsknappheit, werden
an anderen Orten Hunderte Wohnungen abgerissen. Insofern: Der Wohnungsmarkt ist sehr differenziert, und
deswegen müssen die Antworten auf diese Fragen auch
sehr differenziert ausfallen, und das vermisse ich in Ihren Vorschlägen hier völlig.
({9})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Lay?
Ja, sehr gerne.
Herr Kollege, vielen Dank, dass Sie eine Zwischenfrage zulassen. - Sie haben darauf verwiesen, dass die
Situation in den verschiedenen Städten und Regionen in
Deutschland unterschiedlich ist. Das ist in der Tat richtig
und auch völlig unbestritten.
Ich darf Sie trotzdem fragen: Was nutzt es eigentlich
jemandem, der in Berlin, Frankfurt oder München händeringend eine Wohnung sucht, weil dessen Arbeitsplatz
nun einmal in der Großstadt ist, dass meinetwegen in der
Uckermark oder auch im Bayerischen Wald die Mieten
noch bezahlbar und günstig sind? Vielleicht können Sie
das dem Hohen Hause einmal erklären.
({0})
Liebe Frau Lay, das erkläre ich Ihnen sehr gerne.
Es geht darum, dass wir nicht alles über einen Kamm
scheren,
({0})
sondern dass sich die Differenziertheit des Wohnungsmarktes tatsächlich auch in den Lösungsvorschlägen niederschlägt. Es macht eben schon einen Unterschied, ob
man sich mit der Situation in großen Städten oder in Ballungszentren oder mit der Situation auf dem platten Land
oder in strukturschwachen Regionen auseinandersetzt.
Dort müssen wir jeweils andere Lösungen finden.
Deswegen haben wir ja zum Beispiel - das haben Sie
gerade erwähnt - in unserem Mietrechtsreformgesetz der
letzten Legislaturperiode in Bezug auf die Kappungsgrenzen, also die Möglichkeit, Mieterhöhungen innerhalb eines laufenden Mietvertrages vorzunehmen, gesagt: Wir geben den Ländern die Möglichkeit, zu
entscheiden, wo sie das machen wollen, weil die Länder
natürlich am besten wissen, wo Wohnungsknappheit
herrscht. - Es macht doch keinen Sinn, alles über einen
Kamm zu scheren und gleichzumachen. Ich weiß, das ist
immer Ihre Politik, aber das führt an dieser Stelle nicht
weiter, sondern wir müssen uns zielgenaue Regelungen
überlegen. Das haben wir in der letzten Legislaturperiode getan, und das werden wir in dieser Legislaturperiode genauso machen, Frau Lay.
({1})
Ich will in Bezug auf steigende Mieten aber auch sagen: Für die Union und auch für mich persönlich ist es
ganz wichtig, dass die Menschen - gerade junge Familien nicht aus ihren angestammten Kiezen verdrängt werden
dürfen. Die soziale Ausgewogenheit des Mietrechts war
und ist für die Union immer eine Selbstverständlichkeit.
Um uns daran zu erinnern, brauchen wir Sie von den
Linken nicht.
({2})
Die entscheidende Frage ist nur: Wie können wir
Mietsteigerungen nachhaltig dämpfen? Sie schlagen uns
- das haben Sie ja gerade gesagt - ein ganzes Maßnahmenbündel vor: Sie schlagen vor, dass Mieterhöhungen
ohne Wohnwertverbesserung nur noch zum Ausgleich
der Inflation zulässig sind.
({3})
Bei der Wiedervermietung einer Wohnung wollen Sie es
Eigentümern grundsätzlich verbieten, die Miete zu erhöhen.
({4})
Mieterhöhungen ohne adäquate Gegenleistung sollen zukünftig sogar strafbar werden.
({5})
Diese Vorschläge - es gibt noch viel mehr, die ich hier
erwähnen könnte - zielen im Kern darauf ab, privates
Eigentum, private Investitionen und letztlich die soziale
Marktwirtschaft auf dem Wohnungsmarkt abzuschaffen
und durch ein staatlich reguliertes Mietensystem und
staatlichen Wohnungsbau zu ersetzen. Da sage ich ganz
klar: Das wird es mit der Union nicht geben.
({6})
Für uns ist völlig klar und eindeutig: Das beste Mittel
gegen steigende Mieten ist immer noch der Bau von
mehr Wohnungen;
({7})
denn das ist letztlich die Ursache für steigende Mieten:
Es gibt schlechterdings zu wenig Angebote auf dem
Wohnungsmarkt. Natürlich, auch hier ist der Staat in der
Pflicht.
({8})
Er muss den Wohnungsbau fördern. Das tun wir umfangreich mit diversen Förderprogrammen, zum Beispiel mit
den Mitteln des Bundes für die soziale Wohnraumförderung. Hier stellt der Bund den Ländern immerhin bis
zum Jahre 2019 jedes Jahr über eine halbe Milliarde
Euro zur Verfügung.
An dieser Stelle sage ich: Wir als Bund haben die
klare Erwartung, dass diese Mittel zweckentsprechend
eingesetzt werden und wirklich für den Bau neuer Wohnungen verwandt werden, nicht für andere Sachen. Da
können Sie sich einmal an die eigene Nase fassen, liebe
Kolleginnen und Kollegen von den Linken. Sie haben in
der Zeit Ihrer Regierungsverantwortung hier in Berlin
mit diesem Geld über zehn Jahre lang alte Schulden getilgt. Von diesem Geld ist keine einzige neue Wohnung
gebaut worden. Also: Fassen Sie sich mal an Ihre eigene
Nase!
({9})
Klar ist jedenfalls: Angesichts knapper Haushaltskassen werden wir das Problem nicht allein über staatliche
Förderung lösen können; vielmehr sind wir dabei zwingend auf private Investitionen angewiesen. Hier geht es
auch gar nicht so sehr um die großen Finanzinvestoren,
auf die Sie immer so gerne schimpfen, sondern es geht
vor allen Dingen um die privaten Kleinvermieter: Über
60 Prozent der Wohnungen in unserem Lande werden
von privaten Eigentümern angeboten. Das ist etwa der
Handwerksmeister, der vielleicht Mitte 50 ist, der sich
eine Wohnung oder zwei Wohnungen als Altersvorsorge
angeschafft hat und diese dann vermietet. Solche Menschen brauchen wir, wenn es auch zukünftig genügend
Wohnraum in unserem Land geben soll.
Diese Menschen investieren natürlich aber nur dann
in den Wohnungsneubau, wenn sich das für sie irgendwie rechnet.
({10})
Man muss wissen: Als Anlageform ist die Vermietung von
Wohnungen - bei allen Unterschieden, die es da gibt - im
Kern relativ renditeschwach. Die Durchschnittsrendite bei
diesen privaten Kleinvermietern - noch einmal: sie bieten
60 Prozent der Wohnungen in unserem Land an - liegt bei
gerade einmal 2,14 Prozent.
Was würde nun passieren, wenn wir Ihre Vorschläge
umsetzten? Dieser Handwerksmeister würde sich sehr
genau überlegen, ob er sein Geld dann nicht lieber aufs
Tagesgeldkonto legt, statt sich mit Mietnomaden und
Ähnlichem herumzuärgern.
({11})
Unter dem Strich würde es weniger Investitionen in den
Wohnungsneubau geben. Weniger Investitionen bedeuten aber weniger Wohnungen, und weniger Wohnungen
bedeuten weniger Angebote; weniger Angebote bedeuten steigende Mieten - so sind die Zusammenhänge in
der Marktwirtschaft.
Das, was Sie uns als Linke vorschlagen, würde die
Mieten also nicht senken. Diese Vorschläge würden umgekehrt dazu führen, dass die Situation mittelfristig noch
viel schlechter wird. Ich sage Ihnen eines: Die Mieterinnen und Mieter in unserem Land werden sich bei Ihnen
bedanken.
({12})
Es geht noch weiter - ich glaube, darin sind wir uns
alle einig -: Neben dem Ziel, bezahlbaren Wohnraum zu
schaffen, wollen wir auch Wohnraum haben, der energetischen Ansprüchen genügt und den Anforderungen einer älter werdenden Gesellschaft gerecht wird. Beides ist
mit Blick auf die demografische Entwicklung und auf
unser gesamtgesellschaftliches Ziel des Klimaschutzes
völlig unabdingbar.
Natürlich, auch hier gilt wieder: Der Staat muss seiner
Verantwortung gerecht werden. Insofern haben wir im
Koalitionsvertrag - das ist gut und richtig - vorgesehen,
zum Beispiel die Mittel der KfW-Programme zur energetischen Sanierung aufzustocken und das Verfahren
deutlich zu vereinfachen. Aber trotzdem: Öffentliche
Förderung bzw. staatliche Mittel sind begrenzt. Umso
mehr brauchen wir Rahmenbedingungen, die Eigentümer nicht von Investitionen abhalten. Wir brauchen auch
bei der energetischen Sanierung und beim altersgerechten Umbau privates Kapital, wenn wir unsere Ziele erreichen wollen.
({13})
Wenn wir nun die Modernisierungsumlage, so wie Sie
das vorschlagen, auf 5 Prozent reduzieren und diese
dann letztlich sogar abschaffen, dann frage ich Sie: Welcher Eigentümer soll zukünftig noch investieren? Welcher Eigentümer soll denn noch Geld in die Hand nehmen, wenn sich das für ihn überhaupt nicht mehr
rechnet? Niemand wird das mehr machen. Die Folge
wäre, dass privater Wohnraum dem Verfall ausgesetzt
wäre. Die Folge wäre, dass weniger Wohnungen energetisch modernisiert und altersgerecht umgebaut würden.
Wozu das führt, konnte man bis 1990 in der damaligen
DDR beobachten. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber
ich will zu der Situation nicht zurück, die wir da gehabt
haben.
({14})
Richtig ist, dass wir genau das Gegenteil machen
müssen: Wir müssen Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass mehr in den Wohnungsneubau und in die Modernisierung des Wohnungsbestandes investiert wird.
Deswegen bedarf es für Investitionen wirtschaftlicher
Anreize und nicht zusätzlicher Hürden.
All das, was ich gerade ausgeführt habe, gilt natürlich
auch für die Vorschläge, die unser Justizminister Maas in
wenigen Wochen vorlegen wird. Deswegen sage ich an
dieser Stelle ganz klar: Ja, die Mietpreisbremse aus dem
Koalitionsvertrag wird kommen, weil sie ein Instrument
ist, um kurzfristig gegen steigende Mieten vorzugehen.
Aber klar muss auch sein, dass die Mietpreisbremse nur
bei den Symptomen ansetzt. Die Ursache für steigende
Mieten, nämlich zu wenig Wohnungsneubau, wird damit
in keiner Weise beseitigt, im Gegenteil: Mit der Mietpreisbremse werden die Rahmenbedingungen für Eigentümer, in Wohnungsneubau zu investieren, sogar verschlechtert. Deswegen sage ich ganz klar: Wir müssen
die Mietpreisbremse so ausgestalten, dass sie nicht zu einer Investitionsbremse wird, meine Damen und Herren.
({15})
Das Gleiche gilt auch für die geplanten Änderungen
bei der Modernisierungsumlage. Hier müssen wir zum
Beispiel sehr genau im Blick behalten, ob das, was wir
geplant haben, nämlich die Umlagefähigkeit bis zum
Zeitpunkt der Amortisation zu befristen, richtig ist. Ich
persönlich halte das für eine Regelung, die in der Praxis
kaum umsetzbar sein wird. Ich glaube, sie wird auch in
gewisser Weise einen Systembruch darstellen, weil mit
einer Modernisierung immer eine Erhöhung des Wohnwertes einhergeht. Dieser Wohnwert bleibt schließlich
bestehen, wenn die Modernisierungskosten sich amortisiert haben.
Im Kern würde diese Regelung also bedeuten, dass
ein Mieter die Wohnwertsteigerung nach Erreichen der
Amortisation zum Nulltarif hätte. Damit wäre, glaube
ich, das Äquivalenzprinzip in einem sehr wesentlichen
Punkt ausgehebelt. Deswegen müssen wir uns sehr genau überlegen, ob das der richtige Weg ist.
Zum Schluss, meine Damen und Herren von den Linken: Sie sehen also: Die Wohnungsmarktpolitik ist sehr
komplex und vielschichtig. Ihre einfachen und populistischen Parolen leisten überhaupt keinen Beitrag dazu,
hier zu angemessenen Lösungen zu kommen. Deswegen
werden wir Ihre Anträge ablehnen.
({16})
Als nächster Redner hat der Kollege Christian Kühn
das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren auf den Rängen! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Beim Thema Wohnen geht es nicht um ein x-beliebiges Produkt oder eine Ware wie eine Zahnbürste, eine
Dienstleistung oder ein Möbelstück. Wohnen ist ein hohes
Gut. Die Lage einer Wohnung entscheidet heute über die
Kreditwürdigkeit und den Zugang zu Arbeit, Bildung,
Gesundheit und Sicherheit. Ein Stadtteil oder eine Straße
sind nicht nur eine Postanschrift; sie sind für viele Menschen Identität, soziales Umfeld und Heimat.
Mit einer Wohnung erhält man einen grundrechtlich
garantierten Schutz. Spricht man mit obdachlosen und
wohnungslosen Menschen bei den Vesperkirchen im
Land, die gerade ihre Tore geöffnet haben, dann kann
man erahnen, was es bedeutet, wenn man den Rückzugsraum und Schutzraum Wohnung nicht mehr hat.
Wohnen ist viel mehr als Markt und Ware. Deswegen
ist es unsere Pflicht, Wohnraum zu schützen und ihn
eben nicht rein marktwirtschaftlichen Gesetzen zu überlassen.
({0})
Die Wohnungsmärkte in den großen Städten boomen.
Ich finde es ein bisschen untertrieben, das eine normale
dynamische Entwicklung zu nennen. Gerade in den Ballungsräumen und Universitätsstädten läuft das aus dem
Ruder. Sie können täglich nicht nur in Berliner Zeitungen, sondern auch in anderen nachlesen, wie stark die
Mietanstiege in diesen Ballungszentren sind.
Immer mehr Menschen ziehen in die Städte, und das
ist auch gut so. Aber der Platz wird knapp, und dadurch
steigen eben die Preise. Dieser Effekt wird durch die
Niedrigzinspolitik verstärkt: Bei den niedrigen Zinsen
legen immer mehr Menschen ihr Geld in Betongold, also
in Immobilien, an und wollen dafür eine Rendite, zum
Teil auch eine hohe Rendite.
An diesem Montag hat eine Meldung der Bundesbank
uns Wohnungspolitiker aufhorchen lassen: In den Großstädten weichen die Preise für Wohnimmobilien um
25 Prozent nach oben ab. Sogar eine Immobilienblase ist
bei lang anhaltender Niedrigzinspolitik nicht mehr auszuschließen.
Deswegen ist es richtig, jetzt in die Wohnungsmärkte
einzugreifen. Dabei kann man nicht von einer dynamischen Entwicklung sprechen. Vielmehr laufen in Teilen
Deutschlands die Märkte aus dem Ruder.
({1})
Unser Mietrecht lässt einen Spielraum für Mietpreissteigerungen zu, der gerade in den wachsenden Regionen
Christian Kühn ({2})
ausgenutzt wird. Das heißt dann: Wer genügend Geld
hat, kann in den Städten wohnen bleiben.
Die wachsenden Märkte sind überhitzt. Ich finde, wir
brauchen dringend eine Abkühlung bei den Mietmärkten, und zwar schnell, damit wir der Polarisierung und
sozialen Entmischung in unseren Städten etwas entgegensetzen können.
({3})
Wir Grünen stehen für lebenswerte, durchmischte
Städte, in die man gerne investiert, in denen man aber
auch gerne lebt. Dafür brauchen wir grundsätzlich ein
umfassendes wohnungspolitisches Konzept, das an unterschiedlichen Stellschrauben dreht. Staat, Mieterinnen
und Mieter sowie Eigentümerinnen und Eigentümer
müssen gemeinsam daran arbeiten, die drei großen Herausforderungen zu bewältigen: altersgerechter Umbau,
energetische Sanierung und sozialer Ausgleich. Leider
sehe ich ein solch umfassendes Konzept bei der Großen
Koalition nicht. Bei Ihnen fehlen nämlich die Investitionsanreize, Herr Luczak.
({4})
- Nein, bei Ihnen fehlen die Investitionsanreize.
Wir finden die Mietpreisbremse als ein Instrument,
das schnell eingeführt wird, richtig. Sie ist im Kern ein
Rettungsschirm, der schnell aufgespannt werden muss.
Sie sagen nun aber: Das verhindert den Neubau. - Das
ist falsch. Für den Neubau gilt sie gar nicht. Ich rate Ihnen, einen Blick in den eigenen Koalitionsvertrag zu
werfen.
({5})
Ich rate Ihnen: Rücken Sie von Ihren Wahlversprechen
nicht ab! Führen Sie die Mietpreisbremse ein! Bleiben
Sie hier standfest, wie man auf dem Bau sagt.
Bei der Modernisierungsumlage bin ich sehr skeptisch, was die geplante zeitliche Begrenzung angeht.
Wenn Sie diese einführen, werden Sie sich in juristischen Fallstricken verheddern. Deswegen sage ich Ihnen: Schwenken Sie auf unser Konzept und die inhaltliche Beschränkung auf den altersgerechten Umbau und
die energetische Sanierung um. Wir brauchen echte Anreize. Auch wir wollen die KfW-Programme verstetigen.
Wir wollen sie aus dem nicht funktionsfähigen Emissionshandel herauslösen, der letztlich die Finanzierungsbasis dafür bildet. Die Mittel für diese Programme müssen auf mindestens 2 Milliarden Euro jährlich erhöht
werden. Zudem müssen Sie in die Quartierssanierung
mehr investieren. Mir fehlen hier die Zahlen der Großen
Koalition. Ich bin gespannt, ob Sie am Ende bei den
Haushaltsberatungen wirklich liefern.
({6})
Beim sozialen Wohnungsbau sollten wir uns als Wohnungspolitiker ein bisschen ehrlich machen: Die Federführung der Gesetzgebung liegt bei den Ländern. Wir als
Bund zahlen die Entflechtungsmittel. Wenn man wirklich etwas Substanzielles ändern will, dann muss man in
eine neue Föderalismusreform einsteigen, dies dort als
Thema gezielt setzen und darüber nachdenken, wie der
soziale Wohnungsbau in Deutschland neu organisiert
werden soll. Ihnen in der Großen Koalition fehlt die
Kraft, dieses Thema wirklich anzugehen. Das finde ich
schade. Das ist eine vertane Chance für die Wohnungspolitik.
({7})
Wir Grünen stehen für eine neue, innovative Wohnungspolitik, in der alle wohnungspolitischen Instrumente aufeinander abgestimmt sind. Es geht um die
Energiewende, den demografischen Wandel und den
sozialen Zusammenhalt in Deutschland. Beim Wohngeld - das ist ein Beispiel dafür, was wir unter einer
neuen Wohnungspolitik verstehen - wollen wir einen
Klimazuschuss obendrauf setzen; denn wenn wir den
Heizkostenzuschuss wieder einführen, zahlen wir letztlich die Heizkosten für schlecht isolierte Wohnungen.
Das macht weder volkswirtschaftlich noch haushalterisch Sinn. Deswegen bedarf es eines Klimazuschusses
beim Wohngeld.
({8})
Das ist das, was wir Grünen mit einer klimafreundlichen und bezahlbaren Wohnungspolitik meinen. Die Anträge der Linken verstehen wir in Teilen sehr gut. Wir
werden sie in den nächsten Wochen weiter prüfen. Heute
ist die erste Lesung. Wir werden darüber im Ausschuss
weiter beraten.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Als nächster Redner hat der Parlamentarische Staatssekretär Florian Pronold das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Wohnen“ kommt aus
dem Althochdeutschen und bedeutet „zufrieden sein“.
Wenn ich mir die Entwicklung gerade in Ballungsräumen und in vielen Universitätsstädten anschaue, dann
muss ich feststellen: Viele Menschen sind mit ihrem
Wohnumfeld nicht mehr zufrieden. Sie sind nicht mehr
zufrieden damit, dass die Mieten bei Wiedervermietung
in Städten zwischen 20 und 50 Prozent ansteigen, ohne
dass tatsächlich irgendetwas an der Wohnung gemacht
wurde. Die Menschen sind unzufrieden damit, dass sie,
wenn sie eine Wohnung - auch auf angespannten Wohnungsmärkten - gefunden haben, 2,3 Monatsmieten als
Maklergebühren zahlen sollen. Sie verstehen nicht, warum
das so sein muss.
Wir als Große Koalition haben darauf reagiert. Unser
Koalitionsvertrag gibt - das ignoriert die Linke in ihren
Anträgen komplett - abgestimmte, zielgenaue Antworten auf die Probleme. Erstens erzielen wir Verbesserungen beim Mietrecht, indem wir die Mieterinnen und
Mieter deutlich besser schützen. Zweitens regen wir Investitionen an. Wir wissen, dass es auf angespannten
Wohnungsmärkten mehr Wohnungsbaus bedarf. Wer
sich die aktuellen Entwicklungen anschaut, sieht, dass
die Investitionen in den Wohnungsneubau anziehen und
dass dies zu einer Entspannung führt.
Das sind Themen, die wir angehen wollen. Die Bundesregierung und insbesondere das neue Umwelt- und
Bauministerium, wenn ich die Kurzformulierung benutzen darf, haben sich vorgenommen, in einem Bündnis
für bezahlbares Wohnen und Bauen alle Aspekte, die
hier auch von den Vorrednern angesprochen worden
sind, zusammenzubringen.
Wir brauchen energetisch sanierte Wohnungen, wir
brauchen altersgerecht gestaltete Wohnungen, wir brauchen aber auch bezahlbaren Wohnraum für viele Menschen, die heute Sorge haben, ob sie sich als Rentnerinnen und Rentner ihre Wohnung noch leisten können.
Auch der Polizeibeamte oder die Krankenschwester machen sich Sorgen, dass sie die nächste Mietsteigerung
nicht mehr tragen können und deswegen ausziehen und
an den Stadtrand ziehen müssen. Für all diejenigen wollen wir etwas machen. Ich finde, wir haben in dem Koalitionsvertrag wirklich ganz tolle Dinge aufgeschrieben,
die wir Stück für Stück umsetzen werden.
({0})
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Ströbele?
Gerne.
Danke, Herr Staatssekretär. - Ich habe eine Frage:
Trifft es zu, dass die Bundesregierung beabsichtigt, eine
Mietpreisbremse einzurichten, diese aber zeitlich zu befristen, auf beispielsweise fünf Jahre?
({0})
Wenn das zutrifft, glauben Sie dann nicht mit mir, dass
für die Mieter die Aussicht, dass in fünf Jahren die Miete
völlig freigegeben wird und ohne jede Einschränkung erhöht werden kann, keine Perspektive, sondern ein Horror
ist?
Lieber Kollege Ströbele, wir haben bei jeder Mietrechtsänderung, die wir in diesem Hause machen, eine
zeitliche Befristung von vier Jahren; denn jede neue
politische Konstellation kann das bestehende Mietrecht
verändern. Wir haben uns in der Großen Koalition darauf verständigt, diese Mietpreisbremse unter bestimmten Bedingungen einzuführen.
Erstens. Wir wollen sie regional ausgestalten, weil
wir wissen, dass es das Problem, dass es bei Wiedervermietung zu solchen Sprüngen kommt, nur bei 10 bis
15 Prozent der Wohnungsmärkte überhaupt gibt. Zweitens. Wir wollen die Mietpreisbremse zeitlich befristen,
um zu sehen, ob das ein Instrument ist, das auch tatsächlich wirkt und funktioniert. Deswegen haben wir im Koalitionsvertrag festgelegt, dass wir eine Periode von fünf
Jahren vorsehen, um dieses Instrument zu testen. Sollte
es sich als wirkungsvoll herausstellen, ist es der nächsten
Koalition doch völlig unbenommen, diese zeitliche Befristung aus dem Gesetz herauszunehmen und ein bewährtes Instrument - ich bin überzeugt davon, dass es
das ist - weiter fortzuführen.
({0})
Ich möchte gerne noch auf den Redebeitrag von der
Kollegin Lay eingehen. Warum kommen wir auf den Gedanken, bei der Wiedervermietung nicht die ortsübliche
Miete zugrunde zu legen, sondern einen Betrag, der
10 Prozent darüber liegt? Dem liegt doch eine ganz
praktische Überlegung zugrunde, die jeder, der sich einmal mit der Vielfältigkeit von Vermietungen beschäftigt
hat, sofort erkennen muss.
Es gibt eine ganze Menge von Vermieterinnen und
Vermietern - die sind angesprochen worden -, die die
Miete nicht erhöhen. Es gibt eine ganze Menge, die kleinere Maßnahmen beim Mieterwechsel durchführen, die
nicht unter die Modernisierungsumlage fallen. Weil wir
verhindern wollen, dass permanent ein Druck zu Mieterhöhungen besteht, und weil wir nicht wollen, dass kleinere Maßnahmen unterbleiben, wollen wir bei der Wiedervermietung einen gewissen Spielraum bieten, damit
so etwas auch gemacht wird. Wir wollen dafür sorgen,
dass es zu einem ausgewogenen Verhältnis kommt. Unser Ziel ist es, Exzesse zu verhindern. Wir wollen verhindern, dass es, ohne dass etwas an der Wohnung gemacht worden ist, auf einmal zu Steigerungen von 20 bis
50 Prozent kommt. Das werden wir mit dieser Mietpreisbremse erreichen.
({1})
Wir werden gleichzeitig eine weitere Sorge aufgreifen: Viele Mieterinnen und Mieter haben selbst bei an
sich sinnvollen Dingen wie zum Beispiel der energetischen Sanierung Sorge, dass die Wohnung luxusmodernisiert wird und dass sie sich die Wohnung nicht mehr
leisten können. Das Problem wollen wir angehen, indem
wir eine Härtefallklausel für Mieterinnen und Mieter
schaffen, wie es im Koalitionsvertrag steht, und indem
wir darüber reden, wie wir eine vernünftige zeitliche Befristung hinbekommen und welcher Anteil umgelegt
werden kann.
({2})
- Zunächst einmal gilt der Koalitionsvertrag, und wir
werden ihn umsetzen. Dieses Projekt wird unter der Federführung des Justizministeriums zügigst auf den Weg
gebracht.
({3})
Sie werden das hier sehr schnell auf den Tisch bekommen, und dann können wir uns darüber unterhalten.
Letzter Satz, Frau Präsidentin; Sie ermahnen mich
schon. Wir werden dafür Sorge tragen, dass wir einen
vernünftigen Mix aus sozialer Wohnraumförderung, aus
mietrechtlichem Schutz und aus Investitionstätigkeit
hinbekommen, damit für alle Menschen in der Bundesrepublik Deutschland das Wort „wohnen“ mit dem Wort
„genießen“ wieder in Übereinstimmung gebracht wird.
({4})
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Heidrun
Bluhm das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
„Mietanstieg stoppen, soziale Wohnungswirtschaft entwickeln und dauerhaft sichern“, „Mieterhöhungsstopp
jetzt“, „Marktmacht brechen - Wohnungsnot durch Sozialen Wohnungsbau beseitigen“: Herr Kollege Luczak,
ich wiederhole das sehr gerne. Ich finde es extrem arrogant, wenn Sie sich hier vorne hinstellen und allein die
Titel unserer Anträge so disqualifizieren.
({0})
Wissen Sie überhaupt, wie viele Bürgerinnen und Bürger
genau so die Wohnungspolitik empfinden und in diesem
Parlament ein Sprachrohr brauchen? Dass Sie nur die
Vermieterseite vertreten und so tun, als wenn Sie die
Mieterseite ebenfalls bedienten, das kennen wir seit Jahren.
({1})
Hier muss noch einmal deutlich klargestellt werden, dass
dem nicht so ist.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bundeskanzlerin hat in ihrer Regierungserklärung vor ungefähr einem
Monat versprochen, im Mittelpunkt des Regierungshandelns stehe für sie der Mensch. Im Zweifel müsse man
sich für die Menschen entscheiden. Nun, wie es scheint,
hat die Bundesregierung noch etwas Zeit, sich mit sich
selbst oder sich nur mit ganz speziellen Menschen zu beschäftigen, bevor sie dazu kommt, sich mit den Problemen der Menschen im Allgemeinen zu beschäftigen ({3})
Zeit, die die Menschen im konkreten, im richtigen Leben
aber nicht haben. Auch können die Bürgerinnen und
Bürger nichts dafür, dass die Regierung so lange braucht,
um zum Handeln zu kommen, und dass wir zwischenzeitlich durch andere Aufgaben dabei aufgehalten werden, uns ihnen zuzuwenden. Wir haben die Zeit genutzt
und haben unsere Anträge mit diesen Überschriften
heute hier so vorgelegt.
Herr Luczak, die Analyse, von der Sie sprechen und
die Sie gern durchgeführt sähen, liegt seit langem vor. Es
gibt mehrere Wohnungsmarktberichte, die wir bereits in
den vergangenen Legislaturen zur Kenntnis genommen
haben. Es gibt die Studie des Pestel-Instituts vom Oktober 2013, in der festgestellt wird, dass in Ballungsgebieten 30 bis 50 Prozent aller Haushalte Anspruch auf einen
Wohnberechtigungsschein, also auf eine sozial gebundene Wohnung, hätten. Das entspricht einem Bedarf von
circa 5,6 Millionen Sozialwohnungen oder rund 28 Prozent des Mietwohnungsbestandes. Ende der 1970erJahre lag der Bestand an Sozialwohnungen in Deutschland bei knapp 30 Prozent. Heute beträgt er nur noch
7 Prozent am gesamten Wohnungsmarkt, und dieser Anteil ist weiter sinkend.
Angesichts dieser Fakten ist die im Koalitionsvertrag
angekündigte „Wiederbelebung“ des sozialen Wohnungsbaus nicht zu erreichen. Mit 518 Millionen Euro
jährlich, befristet bis 2019, lassen sich nicht einmal die
zukünftigen Verluste an Sozialwohnungen ausgleichen.
Auch das ist keine Trendwende. Selbst wenn die von uns
in unseren Anträgen geforderten 700 Millionen Euro
jährlich fließen würden, reichten sie dafür allein nicht
aus;
({4})
aber sie wären wenigstens ein Signal an die Länder und
die private Wohnungswirtschaft, dass wirklich Wiederbelebung und nicht nur Notbeatmung gemeint ist.
({5})
Wenn die Länder dann mit gleicher Summe kofinanzieren, könnten wir die Entwicklung auch umkehren.
Was wir vor allem und dringend brauchen, ist ein Paradigmenwechsel in der politischen Einstellung der Regierung. Angesichts der aufgestauten Probleme durch
den demografischen Wandel, durch die Klimaveränderung oder aber auch durch die Zuwanderung von Migranten und Flüchtlingen nach Deutschland darf sich der
Bund nicht länger hinter dieser Länderzuständigkeit verschanzen. Die ausschließliche Marktorientierung der
bisherigen Politik in der Wohnungswirtschaft muss insgesamt auf den Prüfstand gestellt werden.
({6})
Die Linke will kommunale und genossenschaftliche
Wohnungswirtschaft wieder deutlich stärken und der
Renditelogik der Immobilienmärkte weiter entgegenstellen. Herr Luczak, auch das ist Eigentum; das ist öffentliches und solidarisches Eigentum. Es muss genauso geschützt werden wie das Privateigentum.
({7})
Aber die Tendenz Ihrer Politik entwickelt sich immer
noch in die entgegengesetzte Richtung: Die Privatisierung nimmt weiterhin ihren Lauf. Anstelle einer „Maasvollen“ Mietpreisbremse des Justizministers brauchen
wir eine radikale Privatisierungsbremse.
({8})
Wohin die bisher geübte Praxis der Wohnungsprivatisierungen führt, zeigt uns sehr anschaulich das Beispiel
der ehemals bundeseigenen TLG-Wohnungen in Ostdeutschland: Nach kurzer Schamfrist hat die TAG Immobilien Aktiengesellschaft, die Käuferin der TLG
Wohnen, die Mieten flächendeckend angehoben, die Bestands- und erst recht die Wiedervermietungsmieten, in
Dresden zum Beispiel um 20 Prozent. Die zahnlose, mit
der vorherigen Bundesregierung ausgehandelte Sozialcharta und die steuerfinanzierte Ombudsstelle haben
keine der Mieterinnen und Mieter davor geschützt. Um
dem Ganzen die Krone aufzusetzen, beteiligt sich jetzt
die unter Aufsicht des Bundesfinanzministeriums stehende Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder,
VBL genannt, also eine Anstalt des öffentlichen Rechts,
an der privaten TAG Immobilien Aktiengesellschaft, die
diese Mietenpolitik betreibt.
Mit über 10 Prozent Aktienanteil ist die VBL einer der
größten Aktionäre bei der privaten Aktiengesellschaft
TAG geworden, die von ebendiesem Finanzministerium
rund 11 500 Wohnungen in Ostdeutschland gekauft hat und das noch unter Umgehung der Grunderwerbsteuer.
Nicht nur, dass die VBL dadurch mit Beitragsgeldern der
Beschäftigten des öffentlichen Dienstes der TAG Immobilien Aktiengesellschaft hilft, den Kaufpreis für die
vom Bund erworbenen Wohnungen zu refinanzieren; sie
wirkt nun auch noch darauf hin, dass ihr finanzielles
Engagement sich über steigende Mieten rentiert. Das ist
so paradox, so krank wie das ganze System.
({9})
Aber die Bundesregierung hält das alles, wie sie uns in
ihrer Antwort auf unsere entsprechende Kleine Anfrage
in der vergangenen Woche wissen ließ, für legal und völlig normal, eben für systemkonform.
Dieses System der Wohnungswirtschaft muss sich
grundlegend ändern. Das Entstehen monopolartiger
Strukturen auf dem Wohnungsmarkt muss verhindert
werden. Ein weiteres Wuchern von rein renditeorientierten Finanzinvestoren in der Wohnungswirtschaft muss
unterbunden und zurückgedrängt werden.
({10})
Die Wohnungswirtschaft muss verändert und mindestens
um das Element eines nicht renditeorientierten Sektors
erweitert werden.
Der soziale Wohnungsbau, so wie die Linke ihn versteht, muss zum Kern eines neuen, gemeinwohlorientierten Segments in der Wohnungswirtschaft entwickelt
werden,
({11})
nicht durch Enteignung, sondern durch Hinzufügung auf
dem Wohnungsmarkt. Mit den Ländern sollten dazu differenzierte Vereinbarungen geschlossen werden, die sowohl Neubau als auch Sanierung oder auch den Ankauf
von Belegungsrechten ermöglichen. Wichtig ist: Die
Zweckbindung muss unbefristet und damit dauerhaft
festgeschrieben sein.
({12})
Herr Luczak, Sie haben heute daran appelliert, mit den
Ländern solche Vereinbarungen zu verabreden. Ich muss
Ihnen sagen: Herr Schäuble hat sie im letzten Jahr geopfert und aufgegeben.
Mittel müssen überall dort in den sozialen Wohnungsbau fließen, wo Wohnungsnot besteht, und zur Herausbildung eines dauerhaften sozial gebundenen Bestandes
in der kommunalen und genossenschaftlichen Wohnungswirtschaft verwendet werden. Das wäre eine wirksame Alternative zur rein marktwirtschaftlich aufgestellten Wohnungswirtschaft. Nur so wird es uns gelingen,
die bestehenden wirtschaftlichen und rechtlichen Ungleichgewichte zwischen Anbietern und Nachfragern,
also zwischen Vermietern und Mietern, auf dem Wohnungsmarkt aufzuheben.
Erinnern wir uns an das, was Frau Merkel in ihrer Regierungserklärung gesagt hat: Wir wollen im Zweifel für
die Menschen sein.
({13})
Ich bin sehr gespannt auf die Gesetzesinitiativen der Regierung.
({14})
Als Nächster erteile ich das Wort unserer Kollegin
Sylvia Jörrißen, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, dass wir das Antragspaket der Linken heute nutzen, um über die Wohnungssituation zu sprechen. Klar ist aber, dass die Situation
deutlich komplexer ist, als von den Kollegen ausgemalt.
Erlauben Sie mir, in dieser Debatte darauf hinzuweisen, dass die Wohnungspolitik kein Politikfeld ist, das
für parteipolitische Punktsiege missbraucht werden
sollte.
({0})
Wir reden beim Thema Wohnung über das unmittelbare
Zuhause, das Heim der Menschen. Entscheidungen, die
wir treffen, haben unmittelbaren Einfluss auf dieses
engste und persönliche Umfeld; da stimme ich dem Kollegen Kühn von den Grünen absolut zu. Aber gerade
deshalb muss alles gut überlegt sein. Die Maßnahmen,
die wir treffen, dürfen nicht Ausfluss populistischer Forderungen sein.
({1})
Wenn ich mir den Wohnungsmarkt in unserem Land
anschaue, dann sehe ich ein Erfolgsmodell. In anderen
Ländern war der Immobilienmarkt der Auslöser der
Wirtschafts- und Finanzkrise, bei uns wirkt er bis heute
stabilisierend. Seine Mischung aus Eigentum, Miete und
genossenschaftlichem Wohnen macht den entscheidenden Unterschied. Eine sichere Wohnsituation bedeutet
Lebensqualität für die Menschen in unserem Land. Das
haben sich CDU/CSU und SPD auf die Fahnen und in
den Koalitionsvertrag geschrieben.
({2})
Auf der einen Seite gibt es in Deutschland eine ganze
Reihe von wirtschaftlich starken und aufstrebenden Regionen. Sie sind attraktiv für Zuzüge. Hier passen regionales Wohnungsangebot und Nachfrage aktuell nicht immer
zusammen. Auf der anderen Seite - das lassen Sie in Ihrem Antrag bewusst aus - gibt es vor allem in strukturschwachen Regionen einen massiven Wohnungsleerstand.
Diese regional völlig gegensätzlichen Probleme lösen Sie
mit Ihrer Pauschalforderung nach 150 000 neuen Sozialwohnungen nicht.
({3})
Einzige Lösung ist - da bin ich mir sicher -, dass sich
die regionalen Wohnungsteilmärkte den veränderten Bedingungen anpassen. Dazu brauchen wir Wohnungsneubau - kommunalen, genossenschaftlichen und privaten und gerade keine Privatisierungsbremse, wie Sie sie fordern, Frau Bluhm.
({4})
Dafür muss die Politik in allen drei Bereichen passgenaue Anreize schaffen.
Seit der Föderalismusreform 2006 sind die Länder für
die soziale Wohnraumförderung verantwortlich. Wir
verschanzen uns nicht hinter dieser gesetzlichen Regelung; vielmehr wird der Bund die Länder dabei bis Ende
2019 mit jährlich 518 Millionen Euro unterstützen. Ich
sage ausdrücklich: unterstützen.
({5})
Es wird kritisch zu beobachten sein, ob und wie die einzelnen Länder ihrer Verantwortung gerecht werden. Die
Selbstverpflichtung zur Zweckbindung ist für mich dabei selbstverständlich. Das Geld muss in den sozialen
Wohnungsbau fließen.
({6})
Es geht nicht an, dass es zum Stopfen selbst verursachter
Haushaltslöcher verwendet wird. Ich erwarte aber auch,
dass sich die Bundesländer mit eigenen Mitteln beteiligen. Ursprünglich war die soziale Wohnraumförderung
hälftig angelegt. Der Bund hat klare und gesetzliche Zusagen gemacht. Auf die Antwort der Länder bin ich sehr
gespannt.
({7})
Licht ins Dunkel wird der Immobilienwirtschaftliche
Dialog bringen, den wir ausbauen und an dem wir nun
auch die Länder beteiligen. Für mich zeigt die Debatte
auf Bundesebene, dass wir unseren Blick viel stärker darauf richten müssen, was die Länder vor Ort zur Problemlösung beitragen. Ich bedaure sehr, dass das im Gesetz zu den Kompensationsmitteln nicht zu regeln war.
Jetzt müssen wir dringend einen anderen Weg finden,
um Transparenz herzustellen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wünschenswert und
wichtig sind ausreichende Anreize für den Wohnungsneubau. Private Investoren wollen mit Verkauf oder
Vermietung Geld verdienen. Das ist aber, anders als teilweise dargestellt, nichts Verwerfliches. Der gesellschaftliche Nutzen liegt in einem ausgeglichenen Wohnungsmarkt.
({8})
Auch hier wollen wir entsprechende Rahmenbedingungen schaffen. Entbürokratisierung und Verschlankung
von Genehmigungsverfahren sind das eine. Steuerliche
Anreize wären das andere.
({9})
Diese sind im Koalitionsvertrag nicht erwähnt,
({10})
aus unserer Sicht ausdrücklich aber auch nicht ausgeschlossen. Auch hier kommt es wieder darauf an, wie
sich die Länder verhalten. Wir sollten uns diese Option
je nach Entwicklung auf dem Wohnungsmarkt offenhalten.
({11})
Die Anforderungen an den Wohnungsbau unterscheiden sich nicht nur regional, sondern vor allem auch hinsichtlich der Zielgruppen. Es werden spezialisierte
Wohnraumlösungen gebraucht. Wohnen im Alter, Familienwohnen oder auch studentisches Wohnen sind nur einige Beispiele, die aber die Vielschichtigkeit der Herausforderungen verdeutlichen.
Der viel beschworene demografische Wandel stellt
auch an den Wohnungsmarkt neue Anforderungen. In
vielen Wohnungsteilmärkten heißt das neben dem Neubau vor allem auch Umbau von Bestandswohnungen für
bezahlbares und vor allem altersgerechtes Wohnen. Wir
wollen selbstbestimmtes Wohnen und damit ein Höchstmaß an Lebensqualität in allen Lebensaltern. Sie, sehr
geehrte Kolleginnen und Kollegen von den Linken,
schlagen eine planwirtschaftliche Verordnung von
150 000 neuen, mietpreisgebundenen Wohnungen sozusagen als Allheilmittel vor. Wir dagegen wollen individuelle und regional angepasste Anreize schaffen.
({12})
Ziel ist für mich ein gesunder Wohnungsmarkt, der
die Nachfrage bedient und auf Veränderungen selber reagiert. Die Maßnahmen zur Wiederbelebung des sozia1248
len Wohnungsbaus und die Mietpreisbremse, auf die
meine Vorredner zur Genüge eingegangen sind, sind
erste konkrete Projekte, die wir auf den Weg bringen
wollen. Weitere regional angepasste und zielgruppenorientierte Maßnahmen und Programme zur Förderung
des Wohnungsneubaus und -umbaus werden folgen.
({13})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, seien Sie
versichert: Dieses Thema ist bei CDU/CSU und SPD in
guten Händen - auch ohne den Schaufensterantrag der
Linken. Wir setzen auf ein vielschichtiges Programm,
zielgruppengerechte und regionale Förderung und gezielte Anreize. So sieht gute Politik für Deutschland aus.
({14})
Das war die erste Rede unserer Kollegin Sylvia
Jörrißen im Deutschen Bundestag. Wir gratulieren ihr
dazu herzlich
({0})
und wünschen ihr und uns weiterhin spannende parlamentarische Debatten.
Als Nächster erteile ich das Wort der Kollegin Lisa
Paus, Bündnis 90/Die Grünen.
({1})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesbank hat in ihrem jüngsten Monatsbericht festgestellt, dass die Immobilien in deutschen Großstädten um
25 Prozent überbewertet sind. Das kann man nicht wegdiskutieren und auch nicht wegrelativieren durch irgendwelche Verweise; vielmehr muss man den Menschen in
dieser akuten Situation helfen. 25 Prozent Überbewertung - das ist nicht nichts, sondern ein dramatisches Zeichen. Da herrscht Not, und dagegen müssen Sie etwas
tun.
({0})
Die Folgen dieser Überbewertung, die, wie schon gesagt wurde, ihre Ursache in der Euro-Krise und in der
Krisenpolitik, die von der Bundesregierung mit zu verantworten ist, hat, diese Folgen kann man auch hier in
Berlin erleben: Häuserzeilen, die in den letzten zehn Jahren drei-, vier-, fünfmal verkauft worden sind, - Menschen, die wegen Luxussanierung aus ihrem Kiez an den
Stadtrand verdrängt worden sind -, Rentnerinnen und
Rentner, die sich ihre aktuelle Wohnung, die für sie inzwischen eigentlich zu groß ist, nicht mehr leisten können, die es sich aber auch nicht leisten können, umzuziehen, weil die neue, kleinere Wohnung wegen der nicht
vorhandenen Mietpreisbremse bei der Neuvermietung
um 30 bis 40 Prozent teurer wird, und die deshalb zur
Schuldnerberatung gehen müssen. Das ist die Situation
in Berlin, und deswegen müssen wir jetzt etwas tun in
diesem Lande.
({1})
Sie haben gesagt, dass Sie die Mietpreisbremse einführen wollen. Wir sind da gespannt. Nach allem, was
ich bisher gehört habe, kommt sie mir wie ein löchriger
Schweizer Käse vor.
({2})
Da gibt es die Fünfjahresregelung; das Thema ist schon
angesprochen worden. Und auch für Erstvermietungen
soll die Mietpreisbremse nicht gelten. Darüber hinaus
soll es weitere Ausnahmen geben. Wir werden sehen,
wie bremsend diese Mietpreisbremse tatsächlich wirken
wird. Vor allen Dingen aber ist das zu wenig. Sie haben
auf all das verwiesen, was Sie noch machen wollen.
Aber dabei ist deutlich geworden, dass Sie sich innerhalb der Koalition nicht in allen Punkten einig sind.
Es braucht ein Gesamtpaket. Die Bauministerkonferenz zum Beispiel hat unisono darauf hingewiesen, dass
der Heizkostenzuschuss ein wichtiges Thema ist, um das
sich die Bundesregierung kümmern sollte - bis jetzt
Fehlanzeige. Ein weiteres Thema ist die Modernisierungs- und Instandsetzungsumlage. Darüber gibt es offenbar Streit in der Koalition, und das ist möglicherweise der Grund dafür, dass sie in dem Gesetzentwurf
nicht enthalten ist. Es gibt aber überhaupt keinen Grund,
warum es in dieser Zeit historisch niedrigster Zinsen
nach wie vor möglich ist, jedes Jahr 11 Prozent der Kosten auf die Mieterinnen und Mieter umzulegen. Das ist
ein zentraler Kostentreiber, und deswegen sollten Sie
diesen Punkt in dem Gesetzentwurf, den Sie im März
vorlegen wollen, mit unterbringen. Ansonsten helfen Sie
den Menschen in diesem Lande eben nicht.
({3})
Im Bereich der sogenannten zweiten Miete machen
Sie ebenfalls gar nichts. Sie haben zwar angesprochen,
dass das wichtig ist und Sie zu Runden Tischen einladen.
Konkret ist es aber so, dass Sie diesen Punkt in den Koalitionsverhandlungen am Ende rausgenommen haben. Es
gibt eben keine Erhöhung des KfW-Förderprogramms.
Es gibt keine steuerliche Förderung bei der energetischen Gebäudesanierung. An dieser Stelle machen Sie
gar nichts.
({4})
Deswegen wird bei den Menschen effektiv nichts ankommen. Deswegen haben es die Menschen weiterhin
mit einer Überbewertung der Immobilien von 25 Prozent
zu tun. Schnüren Sie ein vernünftiges Paket, und schnüren Sie es zügig, um den Menschen tatsächlich zu helfen! Dann haben Sie auch unsere Unterstützung. Aber
das, was bisher vorliegt, ist einfach deutlich zu wenig.
({5})
Als nächstem Redner erteile ich dem Kollegen
Dennis Rohde von der SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Das Wohnungsangebot in Deutschland ist derzeit sehr unterschiedlich und wenig einheitlich. In Großstädten, Ballungsräumen und Universitätsstädten ist
Wohnraum rar und oft unerschwinglich teuer. In ländlichen Gebieten hingegen stehen Wohnungen leer, und die
Immobilienpreise befinden sich im Sinkflug. Der Anteil
der Mieterinnen und Mieter in Deutschland liegt bei
circa 50 Prozent. Wohnungen sind Lebens- und Rückzugsraum. Bezahlbares Wohnen sicherzustellen, ist ein
soziales Kernthema und damit etwas, was uns Sozialdemokraten ganz besonders antreibt.
({0})
Soziale Schieflagen zu beseitigen, ist bei weitem
nicht nur ein Thema der Sozial- und Steuerpolitik. Wir
sind nicht ohne Grund vor der Bundestagswahl nie müde
geworden, auch auf die alarmierende Situation auf dem
Wohnungsmarkt aufmerksam zu machen. Für mich steht
fest: Qualitativ gutes und bezahlbares Wohnen darf kein
Luxus sein, weder in München noch in Berlin noch in
Leipzig oder Stuttgart, weder auf dem Land noch in der
Stadt.
({1})
Es ist Aufgabe der Politik, es ist unsere Aufgabe, die
Rahmenbedingungen für einen lebendigen Wohnungsmarkt so zu gestalten, dass dort, wo die Menschen zu
Hause sind, dort, wo ihre Heimat ist, ausreichend guter
und bezahlbarer Wohnraum zur Verfügung steht. Wir
Sozialdemokraten setzen dabei auf eine Stärkung der Investitionstätigkeit sowie auf die Wiederbelebung des
sozialen Wohnungsbaus. Dies flankieren wir mit ausgewogenen mietrechtlichen und sozialpolitischen Maßnahmen: Wir werden erstens die Mietsteigerungen begrenzen. Wir werden zweitens die Investitionen in den
sozialen Wohnungsbau stärken. Wir werden drittens die
energetische Sanierung weiter vorantreiben und viertens
den familien- und altersgerechten Umbau von Wohnungen unterstützen. All das muss man zusammendenken
und darf es nicht isoliert betrachten.
({2})
Es ist Gefahr in Verzug, und zwar nicht erst seit gestern. Lassen Sie mich ein konkretes Beispiel dafür bringen, was auf dem Wohnungsmarkt los ist: Meine Heimatstadt Oldenburg hat 160 000 Einwohner. In den
letzten fünf Jahren haben wir bei Wiedervermietungen
einen Anstieg der Mietpreise von gut 25 Prozent erlebt.
Kostete die kleine 40-Quadratmeter-Wohnung im Jahr
2008 noch gut 285 Euro kalt, so muss man heute durchschnittlich 360 Euro auf den Tisch legen. Das macht monatlich 75 Euro weniger im Portemonnaie. Das sind
stolze 900 Euro im Jahr. Für viele ist das ein ganzer Nettomonatslohn weniger, der nun für Miete draufgeht.
({3})
Bei solchen Fehlentwicklungen dürfen wir nicht wegsehen. Hier müssen wir schnell handeln.
({4})
Die Folgen sind schon jetzt offensichtlich. In vielen
städtischen Räumen werden sozial Schwächere durch
die Preisexplosionen in Vororte und Randgebiete gedrängt, oftmals weit weg von ihrem Arbeitsplatz und
von der Schule der Kinder. Sie sind damit raus aus dem
Viertel, in dem sie aufgewachsen sind. Das ist nicht mein
Verständnis einer sozialen Demokratie. Das ist auch
nicht mein Verständnis eines ausgewogenen Sozialgefüges. Das ist nicht sozial gerecht. Das ist nicht in Ordnung. Ich sage: Das gehört verändert.
({5})
Wir alle wissen doch: Meistens trifft es die Schwächsten. Ich habe vor meiner Wahl in den Deutschen Bundestag unter anderem anderthalb Jahre in einer Schuldnerberatungsstelle gearbeitet. Ich weiß sehr genau: Altersarmut
ist kein Thema, das uns erst in 10 oder 20 Jahren droht.
Ich habe viele Fälle erlebt, in denen insbesondere ältere
Menschen ihr vertrautes Zuhause verlassen mussten,
entweder aufgrund mangelnder Barrierefreiheit oder
weil ihr Zuhause für sie allein einfach zu groß geworden
ist. Es sind genau diese Menschen, die dann auf einen
Mietmarkt treffen, der aus den Fugen geraten ist. Sie leben oftmals von einer kleinen Rente und finden dort
keine Wohnung mehr, wo sie ihr Leben lang daheim waren. Gerade für diese Generation brauchen wir zeitnahe
Lösungen. Wir werden deshalb zur Förderung des generationengerechten Umbaus mit dem Programm „Altersgerecht Umbauen“ einen neuen Weg gehen.
Im CO2-Gebäudesanierungsprogramm möchten wir
bei zusätzlichen Maßnahmen zum altersgerechten und
barrierefreien Umbau einen Förderbonus verankern. Gemeinschaftliche Wohnformen für Ältere wollen wir unterstützen und fördern. - An diesen und vielen anderen
Beispielen wird klar: Es hat zu lange zu vieles brachgelegen. Ich freue mich deshalb, dass die Große Koalition
nun handelt und Lösungen umsetzt. So stelle ich mir
praktische Politik vor.
Wie ich mir praktische Politik nicht vorstelle, kann
man im Übrigen ausgezeichnet an den Anträgen der
Linksfraktion sehen, um die es in dieser Debatte geht.
Sie haben immer ganz viele, ganz konkrete Ideen, wo
man noch ein paar Milliarden ausgeben könnte. Wenn es
aber darum geht, diese vermeintlich tollen Ideen auch
solide zu finanzieren, dann bleibt es immer reichlich leer
in Ihren Anträgen, wie auch in den heute vorliegenden.
Ich sage Ihnen: So geht das nicht.
({6})
Im Gegensatz zu Ihren Anträgen, werte Kolleginnen
und Kollegen der Linksfraktion, wird das Maßnahmenpaket, welches Bundesminister Maas noch vor der Sommerpause in den parlamentarischen Prozess einbringen
wird, dem verfassungsrechtlichen Konflikt gerecht,
nämlich der Eigentumsfreiheit auf der einen und dem
Sozialstaatsprinzip auf der anderen Seite. Wir werden
die Preiserhöhungen auf maximal 10 Prozent der ortsüblichen Vergleichsmiete bei Neuvermietung beschränken
und damit nachhaltig auf die Bremse für Mietpreise treten, ohne dabei potenzielle Investoren abzuschrecken;
denn uns ist auch klar: Das vorhandene Angebot an
Wohnraum in Ballungsräumen ist längst nicht ausreichend. Es braucht Investitionen, die wir nicht blockieren, sehr wohl aber ordnen werden. Die Initiative zur
Schaffung zusätzlichen studentischen Wohnraums setzen
wir übrigens ebenfalls fort.
Lassen Sie mich auch das noch sagen: Zur guten Ordnung gehört auch, dass derjenige, der eine Leistung bestellt, diese auch bezahlt. Von uns würde niemand auf
die Idee kommen, in einer Gaststätte das teuerste Gericht
zu bestellen und die Rechnung dann wie selbstverständlich an den Nebentisch zu reichen. Von daher wird auch
in Zukunft für den Wohnungsmarkt gelten: Wenn der
Vermieter einen Makler beauftragt, dann wird er die Bezahlung nicht mehr auf die Mieterinnen und Mieter abwälzen dürfen. Was ganz normal ist, gilt dann auch im
Maklerrecht.
({7})
Bei Maklerleistungen werden wir zudem für klare bundeseinheitliche Rahmenbedingungen sorgen und Möglichkeiten der Qualitätssicherung abwägen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Wohnen ist
ein Grundrecht. Dieses Recht anzuerkennen und zu stärken, muss selbstverständliche Aufgabe hier im Parlament sein. Wenn fehlende Regelungen, undurchsichtige
Berechnungsvorgänge und ungleiche Entwicklungen
dazu führen, dass viele Mieter an die Seite gedrängt werden, dann ist es ordnungspolitisch geboten, dies abzustellen. Die Mietpreisbremse ist dabei der erste Schritt,
den die Große Koalition geht. Der zweite und der dritte
werden folgen.
Vielen Dank.
({8})
Das war die erste Rede des Kollegen Dennis Rohde,
SPD-Fraktion, im Deutschen Bundestag. Herr Rohde,
wir gratulieren Ihnen zu Ihrer Rede und wünschen für
die weitere parlamentarische Arbeit alles Gute.
({0})
Als nächster Rednerin erteile ich der Kollegin Bärbel
Höhn, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn am Anfang des Monats die Miete überwiesen werden muss, dann ist es den Leuten egal, wie hoch die
Kalt- oder die Warmmiete ist. Sie müssen nämlich die
gesamte Miete überweisen. Wir haben hier sehr viel über
die Kaltmiete geredet. Aber wir müssen auch die Mietnebenkosten beachten; denn diese steigen ebenfalls dramatisch. Wir haben nicht nur bei der Kaltmiete Unterschiede
zwischen Berlin, München, dem Ruhrgebiet oder dem
ländlichen Raum, sondern eben auch bei der Warmmiete. Das betrifft auch die Heizkosten. Wir müssen daher viel stärker daran denken, endlich damit aufzuhören,
das Geld buchstäblich aus dem Fenster zu verheizen,
wenn die Fenster nicht dicht sind oder wenn Einfachverglasung vorhanden ist. Das führt nämlich dazu, dass die
Leute viel zu hohe Mietnebenkosten haben, und das wollen wir ändern.
({0})
Auch in diesem Zusammenhang sind die Leute unterschiedlich betroffen: Die einen können sich eine Dreifachverglasung oder einen Passivhausstandard leisten,
die anderen haben Ölheizungen und müssen deshalb erheblich mehr zahlen. Allein in den letzten zehn Jahren
sind die Kosten für das Heizöl um 140 Prozent gestiegen. Das bedeutet, dass eine Familie, die 2002 noch
1 000 Euro im Jahr für ihre Heizung bezahlt hat, plötzlich 2 400 Euro bezahlt. Das ist eine Steigerung von weit
über 100 Euro im Monat; das macht weit mehr aus als
die Inflationsrate. Dies gilt übrigens nicht nur für Heizöl,
sondern auch für Erdgas oder Fernwärme. Das, meine
Damen und Herren, müssen wir angehen; ansonsten subventionieren wir etwas, was immer teurer wird.
({1})
6,9 Millionen deutsche Haushalte geben mehr als
10 Prozent ihres verfügbaren Einkommens für Energie
aus; 17,3 Prozent der Haushalte, also fast jeder fünfte
Haushalt, sind davon betroffen. Ich finde, das ist nicht
hinnehmbar. Es geht hier auch darum, den Anteil der
Heizkosten an den Kosten der Unterbringung zu senken;
denn von den 13 Milliarden Euro, die von den Kommunen und der öffentlichen Hand dafür gezahlt werden,
entfallen allein 2 Milliarden Euro auf die Heizkosten.
Wir wollen das ändern, und zwar vor Ort, in den Kommunen, weil wir glauben, dass die Leute dort am besten
wissen, was getan werden kann.
({2})
Wir wollen das ändern, indem wir den Kommunen
Mittel aus dem Energieeffizienzfonds zur Verfügung
stellen. Es gilt nämlich, Förderinstrumente und steuerliche Förderungen anzubieten. Dazu haben wir hier übrigens einen Antrag gestellt, den Schwarz-Gelb damals
abgelehnt hat.
({3})
Wir wollen eine steuerliche Förderung, und wir wollen
Mittel aus dem Energieeffizienzfonds gerade für Investitionen in Mietshäuser. Wir wollen mehr Geld für Sanierungen bereitstellen. Programme zur Erhöhung der EnergieBärbel Höhn
effizienz sind auch Konjunkturprogramme. Sie schaffen
Arbeitsplätze und bringen den Menschen, die eine
Warmmiete zahlen, Entlastung. Sie schaffen mehr Wertschöpfung hier in Deutschland und führen dazu, dass
Kommunen und die öffentliche Hand entlastet werden.
Gerade deshalb wollen wir diesen Weg gehen.
({4})
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss.
Was wir nicht wollen - das wäre zynisch -, ist, nur auf
warme Winter zu hoffen. Im Übrigen werden wir eine
ganze Menge kalter Winter bekommen; denn wir können
nicht davon ausgehen, dass wir davon profitieren, wenn
wir selber das Klima aufheizen. Das PIK hat nämlich
festgestellt: Der Klimawandel wird verstärkt dazu führen, dass wir hier kalte Winter bekommen. Was jetzt in
Nordamerika passiert, wird auch bei uns häufiger passieren; wir haben es zwei Jahre hintereinander erlebt. Tun
wir also etwas dagegen, dass die Menschen in kalten
Wohnungen sitzen, weil sie sich Wärme nicht mehr leisten können! Auch das gehört zum Thema Miete. Wir
wollen, dass die Wohnung genau das ist, was mehrfach
gesagt worden ist: das Heim, der Ort, an dem sich die
Leute wohlfühlen.
Danke schön.
({5})
Als Nächster erteile ich der Kollegin Dr. Anja
Weisgerber, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und
Kollegen! Ich freue mich, dass ich meine erste Rede in
diesem Hause zu einem Thema halten darf, das für unsere Gesellschaft von großer Bedeutung ist. Deutschland
ist ein Land der Vermieter und Mieter. Über 40 Prozent
der Deutschen wohnen zur Miete. Die Wohnung, in der
man lebt, ist für jeden von uns ein wichtiger Rückzugsort. Für uns, die CDU/CSU, hat die Wohn- und Lebensqualität der Menschen deshalb einen hohen Stellenwert.
Ausreichender und bezahlbarer Wohnraum sowie ein
ausgewogenes Mietrecht sind dabei unerlässlich.
({0})
Wir sind uns diesbezüglich unserer politischen Verantwortung sehr bewusst. Deshalb haben wir im Koalitionsvertrag ausdrücklich festgehalten, dass wir das
Mietrecht ändern, den sozialen Wohnungsbau stärken
und mehr Anreize für Investitionen schaffen wollen; das
ist ganz wichtig.
({1})
Dabei binden wir alle relevanten Akteure ein, von den
Kommunen über die Länder bis hin zu den Wohnungsgesellschaften und den privaten Immobilienbesitzern.
Eines ist mir dabei ganz besonders wichtig: Wir arbeiten
für eine lebenswerte Heimat in ganz Deutschland, und
zwar in der Stadt und auf dem Land.
({2})
Der Wohnungsmarkt in Deutschland entwickelt sich
sehr unterschiedlich. In immer mehr Groß- und Hochschulstädten unseres Landes haben wir die angespannten
Wohnungsmärkte, von denen gerade viel berichtet
wurde, mit steigenden Mieten und steigenden Preisen.
Ich kann mich an viele Berichte von jungen Studenten
erinnern, die entweder gar keine Wohnung oder nur eine
völlig überteuerte Wohnung finden. Doch wir stellen
auch eine gegenteilige Entwicklung fest - das muss man
ganz klar sagen -: In den ländlichen Räumen, in manchen Bereichen der neuen Bundesländer oder auch in
meiner fränkischen Heimat, gibt es auch Wohnungsleerstände. Auf diese Unterschiede am Wohnungsmarkt
brauchen wir passgenaue, regionale Antworten und keinen Einheitsbrei, der von oben verordnet wird.
({3})
Frau Bluhm, ich möchte ganz klar sagen: Wir verschanzen uns, anders als Sie es gerade beschrieben haben, nicht hinter der Länderzuständigkeit, sondern wir
geben mit der regionalisierten Mietpreisbremse genau
die richtige Antwort. Damit geben wir den Ländern bei
Wiedervermietungen in Gebieten mit angespannten
Wohnungsmärkten die Möglichkeit, Mieterhöhungen auf
maximal 10 Prozent oberhalb der ortsüblichen Vergleichsmiete zu beschränken. Die Mietpreisbremse wirkt
eben genau dort, wo sie wirken muss. In den Ländern
kennt man die Situation vor Ort am besten und kann so
die Mietpreisbremse zielgerichtet einsetzen.
({4})
Es wurde behauptet, dass wir nur die Vermieterseite
vertreten. Das ist einfach nicht wahr. Auch wir nehmen
die Ängste der Menschen sehr ernst, die befürchten, ihre
Wohnungen und ihre vertraute Umgebung verlassen zu
müssen, weil sie sich die Miete schlicht nicht mehr leisten können. Mit unseren Vorschlägen überlassen wir die
Menschen eben nicht den marktwirtschaftlichen Mechanismen, wie das gerade beschrieben wurde. Unsere
Mietpreisbremse ist vielmehr das richtige Instrument gegen die immer weiter steigenden Mieten. Das ist soziale
Marktwirtschaft.
({5})
Es kommt darauf an, wie man die Mietpreisbremse
ausgestaltet. In ihrem Antrag fordern die Linken, dass
Mieterhöhungen nur noch in Höhe des Inflationsausgleichs zulässig sind. Da kann ich nur sagen: Bei Ihnen
fehlen die Investitionsanreize. Das ist nicht nur eine
Mietpreisbremse, sondern auch eine Investitionsbremse.
Das können Sie doch nicht wollen.
({6})
Wenn das, was die Linken vorschlagen, Gesetz
würde, würde sich die Situation am Wohnungsmarkt
noch weiter zuspitzen, weil dann keiner mehr in neue
Wohnungen investieren würde. Dadurch würden die
Mieten noch weiter steigen. Ich sage Ihnen: Der beste
Mieterschutz ist immer noch der Bau neuer Wohnungen.
({7})
Wenn wir wollen, dass ausreichend neue Wohnungen
gebaut werden, dann brauchen wir private Investoren.
Hierbei denke ich nicht an renditeorientierte Finanzinvestoren, wie die Linken sie nennen, sondern an die
Millionen privater Kleinanbieter auf dem Wohnungsmarkt, die mehr als 60 Prozent der Wohnungen in
Deutschland halten. Diese investieren aber nur, wenn es
sich für sie wirtschaftlich lohnt. Das wird bei einer Mietpreisbremse, wie die Linken sie wollen, nicht der Fall
sein.
({8})
Auch wir denken an die Menschen mit geringem Einkommen. Wir wollen ihnen gutes Wohnen ermöglichen.
Seit Jahren sinkt die Zahl der Wohnungen mit Mietpreisbindung. Diesen Trend wollen wir umkehren. Deswegen
unterstützen wir die Länder weiterhin und stellen ihnen
bis 2019 jährlich 518 Millionen Euro für den sozialen
Wohnungsbau zur Verfügung.
Wir erwarten aber von den Ländern, dass sie diese
Mittel zweckgebunden für den sozialen Wohnungsbau
einsetzen. Denn es kann doch nicht sein, dass der Bund
den Ländern Millionen Euro an Bundesmitteln für den
sozialen Wohnungsbau überweist und manche von ihnen, zum Beispiel das Land Berlin in den letzten Jahren,
davon nur Altverbindlichkeiten tilgen und keine einzige
neue Sozialwohnung bauen.
({9})
Hier sind die Länder in der Verantwortung. In Bayern
zum Beispiel funktioniert das mit der zweckgebundenen
Verwendung von Mitteln sehr gut. Deshalb werden wir
darauf hinwirken, dass sich die Länder verpflichten, die
Mittel zweckgebunden in den Wohnungsbau zu investieren.
Als Umweltpolitikerin ist es mir besonders im Hinblick auf den Klimaschutz wichtig, dass wir Anreize für
Investitionen in energetische Modernisierungsmaßnahmen setzen. Auf diesem Gebiet müssen wir allerdings
noch viel tun. Aus meiner Erfahrung als ehemalige
Europaabgeordnete weiß ich, dass wir in Bezug auf das
Thema Energieeffizienz, im Unterschied zum Ausbau
erneuerbarer Energien und der Verringerung von Treibhausgasemissionen, die Einsparziele auf europäischer
Ebene bis 2020 nicht erreichen werden.
Der Gebäudesektor kann einen enormen Beitrag zur
Steigerung der Energieeffizienz leisten. Allein 40 Prozent der Energie wird im Gebäudesektor verbraucht.
Hier gibt es Einsparpotenziale, die wir nutzen müssen.
Wir müssen die richtigen Rahmenbedingungen schaffen,
damit Vermieter in die energetische Sanierung investieren. Frau Höhn, in diesem Punkt gebe ich Ihnen absolut
recht.
Energetische Sanierung nutzt nicht nur dem Klima, sondern sie nutzt auch den Mietern, weil sie durch die sinkenden Energie- und Heizkosten bares Geld im Bereich der
Nebenkosten sparen. Deshalb werden wir das erfolgreiche
KfW-geförderte Gebäudesanierungsprogramm weiter
fortschreiben, aufstocken und verstetigen. Das sind die
Investitionsanreize, die wir geben.
({10})
Abschließend möchte ich noch etwas zur Städtebauförderung sagen. An dieser Stelle sind wir uns gar
nicht so fern. Ich freue mich außerordentlich darüber,
dass wir die Mittel der Städtebauförderung auf ein neues
Rekordniveau aufstocken, nämlich von 455 Millionen Euro auf 700 Millionen Euro jährlich. Das ist ein
starkes Signal an unsere Städte und Gemeinden. Im Koalitionsvertrag haben wir festgelegt, dass wir das Programm „Soziale Stadt“ aufwerten, um damit Gebiete mit
besonderen Integrationsanforderungen zu unterstützen.
Als Abgeordnete aus dem ländlichen Raum möchte
ich - wie zu Beginn meiner Rede; da schließt sich der
Kreis -, eines abschließend betonen: Wir können unsere
wirtschaftspolitischen Ziele nicht erreichen, wenn wir
nur auf die Metropolregionen und die Städte setzen. Wir
brauchen auch die ländlichen Räume.
({11})
Deshalb ist es wichtig, dass wir auch weiterhin nicht nur
die Städte von der Städtebauförderung profitieren lassen,
sondern eben auch - wie in der Vergangenheit - die
ländlichen Räume. Das ist ganz wichtig; denn wir wollen gleichwertige Lebensbedingungen in allen Teilen
Deutschlands schaffen.
Vielen Dank.
({12})
Die Kollegin Dr. Weisgerber hat viele Reden im
Europäischen Parlament gehalten; im Bundestag war es
heute die erste. Dazu gratulieren wir herzlich.
({0})
Wir begrüßen Sie bei uns und freuen uns auf die weitere
parlamentarische Zusammenarbeit.
Als Nächstem erteile ich das Wort dem Kollegen Dirk
Wiese, SPD-Fraktion.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Bei der Durchsicht der Anträge vonseiten der
Opposition zu meiner Linken zur heutigen Debatte fiel
mir spontan ein bekanntes Zitat eines ehemaligen Nationalspielers ein:
Zu fünfzig Prozent haben wir es geschafft, aber die
halbe Miete ist das noch nicht.
({0})
So einst Rudi Völler nach kräftezehrendem Spiel. Die
Sinnhaftigkeit dieser treffenden Analyse unseres ehemaligen Nationalspielers erschließt sich auch dem leidenschaftlichen Fußballfan nicht auf Anhieb. So ist das
heute auch mit Ihren Anträgen. Ist es doch die jetzige
Bundesregierung aus SPD, CDU und CSU, die im Koalitionsvertrag - auf die Seite 80 ff. des ausgehandelten
Koalitionsvertrags darf man durchaus selbstbewusst hinweisen - in einem sehr sozialdemokratischen Passus
zum guten und bezahlbaren Wohnen viele richtige und
wichtige Weichenstellungen zur Besserstellung von
Mieterinnen und Mietern vereinbart hat, und das ist gut
so;
({1})
denn wir können auf alles Mögliche verzichten, auf das
iPad, auf das Handy, auf den Fernseher, aber nicht auf
ein Dach über dem Kopf für uns und unsere Familie.
Eine Familie mit Kindern braucht eine ordentliche Wohnung und eine funktionierende Heizung. Das ist eine
Existenzfrage und eine Frage der Würde. Deshalb hat
die Politik die Pflicht, dafür zu sorgen, dass Wohnraum
bezahlbar ist, auch wenn man weniger Geld zur Verfügung hat.
({2})
Die alte Bundesregierung - gestatten Sie mir die
kleine Anmerkung - hat eher wenig dafür getan. Darum
ist es gut, dass die SPD jetzt mit in der Regierungsverantwortung ist und wir die Situation und die rechtliche
Stellung von Millionen Menschen verbessern.
({3})
Allerdings muss man dazu bereit sein, Regierungsverantwortung zu übernehmen. Ich glaube, daran fehlt es
bei den Antragstellern.
({4})
Lukas Siebenkotten, Direktor des Deutschen Mieterbundes, brachte es in einem Kommentar wie folgt auf
den Punkt:
Die große Koalition kommt beim Mietrecht gleich
zur Sache.
Was haben wir im Detail vor? Wir geben den Ländern
die Möglichkeit, eine Mietpreisbremse einzuführen. Das
ist dringend notwendig. Die Vermieter wollen und sollen
ordentlich Geld verdienen - keine Frage -, aber man
muss auch Maß halten und darf die Not anderer Menschen nicht schamlos ausnutzen, wie es vor allem in einigen Großstädten geschieht. Geld verdienen ist völlig in
Ordnung, aber nicht mit Wuchermieten. Gegen Wuchermieten kann man etwas tun, indem man die Mietpreisbremse zieht, und das machen wir jetzt in der Großen
Koalition.
({5})
Künftig sollen nur noch höchstens 10 Prozent der
Modernisierungskosten auf die Miete umgelegt werden
dürfen. Wir passen die Härtefallklausel an, um Mieter
vor finanzieller Überforderung bei einer Sanierung zu
schützen. Für alle Mietverhältnisse wird klargestellt werden, dass nur die tatsächliche Wohn- und Nutzfläche
Grundlage für die Festlegung der Miethöhe sein kann.
Oder um es einmal umgangssprachlich auf den Punkt zu
bringen: Wenn die Bude 100 Quadratmeter zum Wohnen
hat, dann sollen die Leute auch nur für 100 Quadratmeter Miete zahlen. Alles andere ist aus meiner Sicht Betrug.
({6})
Uns geht es darum, dass sich Städte an den Bedürfnissen, Ansprüchen und Möglichkeiten ihrer Bewohner
orientieren müssen. Für diese Form der Bürgernähe
fehlte in der letzten Legislaturperiode an der einen oder
anderen Stelle leider die nötige Sensibilität. Darum lassen wir das Programm „Soziale Stadt“ wieder aufleben.
Das ist genau der richtige Weg.
({7})
Vor welchen Herausforderungen stehen wir jetzt?
Nach den Daten des Statistischen Bundesamtes sinkt die
Bevölkerungszahl - so wird es prognostiziert - in den
kommenden Jahren rapide. Gibt es daher weniger Nachfrage für ein gleichbleibendes Angebot mit der Folge,
dass die Mietpreise sinken? Weit gefehlt. Boomenden
Regionen auf der einen Seite stehen auf der anderen
Seite Regionen gegenüber, die von einem massiven Bevölkerungsrückgang betroffen sind. Trotzdem steigt in
beiden Regionen die Wohnungsnachfrage tendenziell an,
da der Trend zur Individualisierung immer mehr zu einer
kleineren Personenzahl pro Wohneinheit führt.
Darum ist es wichtig, den Wohnungsbau in den Ballungszentren, wie im Koalitionsvertrag vorgesehen, zu
stärken und die Initiative zur Schaffung von zusätzlichem studentischem Wohnraum fortzusetzen. Eine Zeit
meines Studiums habe ich in Münster verbracht. Ich
kann Ihnen eines sagen: Machen sie niemals den Fehler,
eine Anzeige für ein freies WG-Zimmer aufzugeben. Als
ich das einmal gemacht habe, dachte ich, vor dem Haus
fände eine Demonstration statt, so groß war der Andrang.
({8})
Aber - auch das muss man an dieser Stelle sagen - es
gibt Regionen, in denen die Bevölkerungszahl schrumpft.
Die Leute sterben weg oder ziehen weg. Zurück bleiben
Häuser und Wohnungen, die niemand braucht, niemand
will und niemand nutzt. Sie stehen leer, obwohl sie in einem guten Zustand sind. Wenn wir nichts tun, werden
sie verrotten. Es wäre aus meiner Sicht ein Trauerspiel,
wenn unsere schönen und lebenswerten Dörfer, Kleinstädte und ländlichen Regionen eine solche Zukunft hätten. Deswegen müssen wir etwas unternehmen, damit
unsere Dörfer und gerade die kleinen Städte im ländlichen Raum so lebenswert bleiben, wie sie es heute sind.
Auf die entsprechenden Programme hat mein Kollege
Dennis Rohde vorhin schon hingewiesen.
In meinem Heimatwahlkreis, dem Sauerland, in Südwestfalen - übrigens ist dies mittlerweile die größte Industrieregion von Nordrhein-Westfalen; hier schlägt
heute das industrielle Herz von NRW -, ist das eine der
größten Herausforderungen für die kommenden Jahre.
({9})
Noch einmal zurück zu Ihren Anträgen. Herr Luczak,
Sie sind vorhin auf die Überschriften eingegangen. Sie
müssen aber auch einmal den Inhalt der Anträge betrachten. Ausführungen über „die monopolartige Dominanz
des Privateigentums“ oder die Konservierung der herrschenden Verhältnisse mögen in Ihren Reihen, den
Reihen der Linken, vielleicht bei dem einen oder anderen einen romantisierenden Seufzer des heraufzubeschwörenden Klassenkampfes hervorrufen, ändern aber
nichts am Ergebnis.
({10})
Denn Phrasen bringen, ehrlich gesagt, keine Veränderungen.
In den kommenden Wochen werden wir als Große
Koalition die entscheidenden Verbesserungen im Mietund Maklerrecht umsetzen. Damit lösen wir eines unserer zentralen Wahlversprechen ein und zeigen, warum es
die richtige Entscheidung der SPD war, Regierungsverantwortung zu übernehmen. Endlich können wir das tun,
was wir am besten können: die Lebenswirklichkeit der
Menschen in diesem Land verbessern und Perspektiven
schaffen.
({11})
Zum Abschluss sage ich: Das ist insgesamt wesentlich mehr als die halbe Miete. Das sind Verbesserungen
für Millionen von Menschen. Ich glaube, an dieser Stelle
wäre auch Rudi Völler begeistert.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({12})
Das war die erste Rede unseres Kollegen Dirk Wiese
im Deutschen Bundestag. Wir wünschen ihm für seine
parlamentarische Arbeit alles Gute.
({0})
Die Frage, Herr Kollege Wiese, wo genau das industrielle Herz Nordrhein-Westfalens schlägt, wird wahrscheinlich noch weiter behandelt werden,
({1})
aber das kann ja in späteren Debatten erfolgen.
Ich erteile das Wort der Kollegin Yvonne Magwas,
CDU/CSU-Fraktion.
({2})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Vorredner haben schon eine ganze
Reihe von Aspekten angesprochen, die die Wohnsituation in Deutschland betreffen. Wer die Debatte in den
letzten Monaten verfolgt hat, der weiß, dass wir im
Wohnbereich einige offene Baustellen haben. Dazu
brauchen wir aber keine Anträge der Linken. Ein Blick
in den Koalitionsvertrag reicht aus, um zu sehen, dass
wir als Koalition das Thema angehen, und zwar gründlich und ohne Schnellschüsse.
({0})
Dass es sich beim Wohnen um keine Bagatelle handelt, kann man schon dem Ursprung des deutschen Wortes „wohnen“ entnehmen. Der Staatssekretär hat uns ja
schon darauf hingewiesen, dass es so viel wie „zufrieden
sein“ bedeutet.
({1})
Wir sind uns sicherlich alle einig, dass wir den Wert des
Wohnens und einer guten Wohnung sehr schätzen.
Schließlich ist das Wohnen eines der Grundbedürfnisse
der Menschen. Es ist daher gut und richtig, dass sich der
Staat mit diesem Thema auseinandersetzt bzw. beschäftigt und auch gesetzliche Regelungen vorhält.
Meine Damen und Herren, wie sieht es denn nun
wirklich mit der Wohnzufriedenheit der Mieter in
Deutschland aus? Da sagen nämlich viele Studien unisono, dass sich über 80 Prozent der Mieter ihre Wohnung leisten können und mit ihrer Wohnsituation zufrieden sind. Deutschland ist wohl ein Land, in dem sich die
Mieter grundsätzlich wohlfühlen.
({2})
Uns ist aber auch bewusst, dass Menschen, sei es verschuldet oder unverschuldet, in Situationen geraten können, in denen sie sich eine angemessene Wohnung nicht
mehr leisten können. Für diese Fälle halten wir eine
Reihe von Werkzeugen vor, die sozial schwache Bürgerinnen und Bürger unterstützen. Wir tun als öffentliche
Hand bereits eine Menge. Ich finde, wir sollten bei allen
diskussionswürdigen Punkten auch dies einmal positiv
zur Kenntnis nehmen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie man vielleicht
hört, komme ich aus Sachsen. Meine Heimat ist das
ländlich geprägte Vogtland. Sie gehört sicherlich nicht
zu den Gebieten, wo Schlagworte wie „Mietpreisbremse“ oder „rasante Mietsteigerungen“ in Diskussionen breiten Raum einnehmen. Ganz im Gegenteil:
Der demografische Wandel führt bei uns eher dazu, dass
wir mit Wohnungsleerstand zu kämpfen haben. Das
Schrumpfen der Bevölkerungszahl hat aber auch die
Folge, dass die Wohnqualität für die verbleibenden Menschen stagniert oder sogar sinkt. Welcher Vermieter will
noch investieren, wenn morgen vielleicht der Mieter
nicht mehr da ist? Das ist eine große Herausforderung
für uns im ländlichen Raum. Ich denke, gegenüber dem
Thema Mietpreisbremse darf das Problem des LeerstanYvonne Magwas
des nicht kleingeredet werden. Wir als Koalition tun das
nicht.
({3})
Meine Damen und Herren, staatliche Hilfen im
Wohnbereich sind natürlich für den ländlichen Raum genauso wichtig wie für die urbanen Zentren. Drei Förderwerkzeuge möchte ich kurz hervorheben. Es handelt sich
um die Kosten der Unterkunft und Heizung im Rahmen
des Bezuges von ALG II, die Mietkostenübernahme im
Rahmen der Grundsicherung und den Bezug von Wohnkostenzuschüssen in Form des Wohngeldes. Alle drei
Formen der staatlichen Unterstützung ermöglichen es
einkommensschwachen Bürgerinnen und Bürgern, ihren
Wohnraum zu finanzieren.
Kurz zu den Zahlen. Allein für die KdU sind im Jahr
2012 1,12 Milliarden Euro bereitgestellt worden. Für
das Wohngeld waren es im gleichen Jahr 591 Millionen Euro. Das sind aber nur die Mittel des Bundes.
Hinzu kommen noch die Mittel der Länder, die ebenfalls
diese Höhe haben. Ich denke, Bund und Länder meistern
hier eine solidarische Aufgabe im Sinne des Gemeinwohls.
({4})
In letzter Zeit konnten wir aber auch beobachten, dass
die Haushaltsmittel für das Wohngeld nicht zur Gänze
ausgeschöpft wurden. Das kann sicherlich verschiedene
Gründe haben. Die gute wirtschaftliche Lage spricht sicherlich auch dafür, dass viele ehemalige Bezieher von
Wohngeld durch einen beruflichen Wiedereinstieg nicht
mehr auf die Unterstützung angewiesen sind. Hinzu
kommt aber auch eine Art Verdrängungseffekt, nämlich
dass über die Wohnkostenvollfinanzierung beim ALG II
potenzielle Wohngeldbezieher faktisch abgeschöpft werden; denn der Bezug von ALG II und der Bezug von
Wohngeld schließen sich aus.
Was heißt das nun für uns? Wir müssen diese Entwicklung ernst nehmen und das Förderinstrument Wohngeld überprüfen, verbessern und neu justieren. Deswegen haben wir dies im Koalitionsvertrag festgeschrieben.
Unser Ziel bleibt es, mit dem Wohngeld denjenigen zu
helfen, die eigentlich in der Lage sind, auf eigenen Beinen zu stehen, denen sozusagen nur ein Quäntchen an
finanzieller Kraft fehlt. Damit meine ich beispielsweise
ältere Menschen mit einer geringen Rente oder kurzfristig Arbeitslose. Da dies aber keine alleinige Aufgabe des
Bundes ist, muss es hier eine enge Abstimmung mit den
Ländern geben. Nach dem, was man aus der Bauministerkonferenz hört, bin ich guter Dinge, dass wir einvernehmlich zu Lösungen kommen.
Lassen Sie mich abschließend noch ein Wort zum
Thema Energie sagen. Ich weiß, es wird darüber diskutiert, ob man dem Wohngeld wieder einen Energie- und
Heizkostenzuschuss aufschlagen sollte. Wenn man diese
Diskussion aufnehmen würde - wofür ich durchaus Verständnis hätte -, dann müsste man sicherlich vorrangig
über eine sinnvolle und vor allem finanzierbare dauerhafte Lösung sprechen, eine Lösung, bei der auch Aufwärts- und Abwärtsentwicklungen der Energiepreise berücksichtigt wären. Darüber hinaus gibt uns die
Energiewende auf, auch über Anreize zum Energiesparen nachzudenken; das müsste in einer Diskussion über
einen Energie- und Heizkostenzuschuss meiner Meinung
nach auch zum Tragen kommen.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben den Koalitionsvertrag unter das Motto „Deutschlands Zukunft
gestalten“ gestellt. Als Solidargemeinschaft, die den
Wert der sozialen Marktwirtschaft fest im Blick hat, werden wir auch im Wohnbereich Lösungen finden. Wir
werden die Probleme eindämmen, ohne dabei die
Grundlagen eines intakten Wohnungsmarktes außer
Acht zu lassen. Wir tun dies für die Menschen und für
die Zukunft in unserem Lande.
Ich freue mich auf die Ausschussberatungen und
danke Ihnen recht herzlich.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das war die erste
Rede der Kollegin Yvonne Magwas im Deutschen Bundestag. Wir gratulieren ihr herzlich zu ihrer Rede. Ich
wünsche Ihnen und uns eine interessante parlamentarische Zeit.
({0})
- Wir können noch einen kleinen Moment abwarten; mit
Verlauf der Debatte wird die Gratulationscour immer
größer.
({1})
Wenn es eine größere Feier wird, würde ich es nach
draußen verlegen;
({2})
sonst werden wir hier weitermachen wollen.
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Kollegen Michael Groß von der SPD-Fraktion.
({3})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich weiß,
wo das industrielle Herz in Deutschland liegt.
({0})
Ich bin da noch Traditionalist: Es liegt zwischen Duisburg und Dortmund.
({1})
Da wollte ich noch einmal betonen: Wir haben noch eine
riesige Wertschöpfung in diesem Bereich, und das prägt
natürlich auch das Leben.
Uns wurde hier vorgeworfen, dass wir beim Thema
Mietpreisentwicklung unsere Hände in Unschuld waschen wollten und dass wir hier untätig seien. Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn in den ersten 100 Tagen ein Gesetzentwurf für
eine Mietpreisbremse eingebracht wird, muss man doch
sagen: Schneller geht es wirklich nicht.
({2})
Besonders wichtig ist uns, dass ein sozialer Ausgleich
zwischen Vermietern, Investoren und Mietern hergestellt
wird. Wir werden dafür sorgen - auch im Zusammenhang mit der Modernisierungsumlage, die wir kappen
wollen -, dass die soziale Funktion des Mietrechts wieder gestärkt wird. Das ist unsere Ambition, unsere Zielsetzung, und das werden wir umsetzen.
({3})
Wir Sozialdemokraten haben uns in den letzten Jahren insbesondere für gutes Wohnen und Leben in den
Städten eingesetzt. Die „Soziale Stadt“ gehört zur Daseinsvorsorge. Wir wollen eben nicht, dass sich in den
Städten Armen- bzw. Reichenghettos bilden, sondern
wir wollen, dass die Menschen integriert in den Städten
leben können, ein Zuhause finden; man kann es als Heimat bezeichnen. In einigen Regionen besteht in Bezug
auf bezahlbarem Wohnraum ohne Zweifel ein Nachholbedarf, und in allen Landesteilen gibt es einen Mangel
an generationengerechten und familiengerechten Wohnungsangeboten - und das insbesondere für die Empfänger unterer und mittlerer Einkommen.
Es wurde schon mehrfach festgestellt, dass die Wiedervermietungsmieten in Wachstumsregionen doppelt so
stark steigen wie die Bestandsmieten. Das ist insbesondere in den Städten mit über 500 000 Einwohnern zu beobachten. Die Einkommen haben mit dieser Entwicklung natürlich nicht standgehalten. 35 Prozent der
Mieterhaushalte haben ein monatliches Nettoeinkommen von unter 1 300 Euro, und sie müssen 30 bis
40 Prozent ihres Einkommens für das Wohnen ausgeben.
Hinzu kommt noch das Thema Energiearmut; Frau
Höhn ist darauf eingegangen. Ich will an dieser Stelle
sehr deutlich sagen: Wir müssen alles dafür tun, dass
auch die Energie bezahlbar bleibt. Wir dürfen die Menschen aber natürlich nicht damit überfordern, dass die
Baukosten und die Modernisierungskosten durch zu
hohe Anforderungen in den Verordnungen in die Höhe
getrieben werden, wodurch die Modernisierung unbezahlbar wird.
({4})
Wir brauchen also ein Maßnahmenbündel, das gerade
schon vorgestellt worden ist:
Uns ist wichtig, dass wir das genossenschaftliche
Wohnen unterstützen. Der soziale Wohnungsbau soll mit
über 500 Millionen Euro pro Jahr weiter gefördert werden, und wir Sozialdemokraten erwarten hier auch einen
zweckgebundenen Mitteleinsatz. Ich komme aus NRW
und könnte mich natürlich hier hinstellen und sagen: Das
haben wir schon immer getan. - Es gibt aber eben auch
andere sozialdemokratische und nicht nur CDU-regierte
Länder, die dafür stehen.
Die Mittel für die Städtebauförderung - das ist ein
wichtiges Thema - werden aufgestockt. Für das BundLänder-Programm „Soziale Stadt“ werden 150 Millionen Euro bereitgestellt. Das ist für uns ein Herzensthema.
Das Wohngeld muss dringend angepasst werden. Die
Zahl der Haushalte, die Wohngeld empfangen, nimmt
deutlich ab. Fünf Jahre nach der letzten Wohngeldanpassung hat sich deren Wirkung halbiert. Hier müssen wir
unbedingt etwas tun.
Wir brauchen Verlässlichkeit bei der energetischen
Gebäudesanierung; das ist deutlich gesagt worden. Modernisierung mit Augenmaß ist notwendig, und wir brauchen eben auch eine Kommission, um die Baukostenentwicklung zu überprüfen; diese wollen wir einsetzen.
Die Linke fordert, dass wir gemeinsam mit den Städten und Ländern Aktionspläne zur Behebung akuter
Wohnungsengpässe erarbeiten. Wir Sozialdemokraten
wollen mehr: Wir wollen ein Bündnis für bezahlbares
Wohnen mit allen Akteuren auf dem Wohnungsmarkt
- von der Wohnungswirtschaft über die Gewerkschaften
bis zum Mieterbund - und sehr passgenaue individuelle
Lösungen finden.
Sie können sich übrigens das Bündnis für Wohnen in
NRW angucken. Das ist ein Erfolgsmodell.
Herzlichen Dank. Glück auf!
({5})
Als nächster Rednerin erteile ich der Kollegin
Mechthild Heil, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Linke fordert: „Mieterhöhungsstopp
jetzt“. Dabei müssten Sie doch eigentlich wissen - und
das nicht erst seit der heutigen Debatte -, dass unser
Minister Maas schon im Frühjahr einen Gesetzentwurf
zur Mietpreisbremse und zur Maklerprovision vorlegen
will.
({0})
Sie als Linke wollen jetzt noch schnell auf den Zug aufspringen. Dass Sie damit nicht glaubwürdig sind und Sie
damit auch keiner ernst nimmt, versteht sich von selber.
({1})
Wir sagen: Mieten müssen auch in Ballungsräumen
bezahlbar bleiben. - Wir haben im Koalitionsvertrag
vereinbart, den sozialen Wohnungsbau neu zu beleben.
Dazu unterstützen wir die Länder mit sage und schreibe
518 Millionen Euro.
({2})
Diese Mittel sind zweckgebunden für den Bau neuer
Sozialwohnungen und für die Sanierung des Bestandes.
({3})
Die Länder müssen nämlich einen Teil der Finanzierung
mittragen und dürfen sich nicht wieder aus der Verantwortung schleichen. Wir werden verhindern, dass diese
Mittel, wie in der Vergangenheit geschehen, von den
Ländern zweckentfremdet werden.
Wir denken an die Menschen mit geringem Einkommen. Deshalb werden wir die Regelungen zum Wohngeld weiter verbessern.
Frau Kollegin, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage
von der Frau Kollegin Bluhm zu akzeptieren?
Von den Linken? - Nein. Ich meine, die haben heute
genug gesagt. Danke.
({0})
Wir werden die kostenlose Energieberatung für Haushalte mit einem niedrigen Einkommen ausbauen. Sie
von den Linken fordern eine kostenlose Mieter- und
Energieberatung für alle. Ich frage: Warum sollen denn
leistungsfähige Mieter keinen Eigenanteil bezahlen? Es
ist vernünftig, wenn sie einen Eigenanteil zahlen. Deshalb werden wir das so ins Gesetz schreiben.
({1})
Ziel unserer schwarz-roten Koalition ist, ausreichend
Wohnraum zu schaffen und in Ballungsräumen die Mieten bezahlbar zu halten. Unser Ziel ist es aber nicht, eine
Investitionsbremse einzuführen. Wir wollen auch keinen
deutschlandweiten Einheitswohnungsmarkt schaffen. Es
ist nun einmal ein Unterschied, ob ich in der wunderschönen, aber dafür dünn besiedelten Eifel, aus der ich
komme, wohne oder baue oder eben in München. Dieser
Unterschied muss sich widerspiegeln und spiegelt sich
auch immer im Mietpreis wider.
Wir wollen eine Mietpreisbremse, aber bei der Ausgestaltung werden wir genau hinsehen. Es darf nicht
dazu kommen, dass weniger Wohnraum gebaut wird,
und es muss am Ende auch in den Wohnungsbestand investiert werden.
({2})
Günstige Mieten bringen nämlich überhaupt nichts,
wenn es keine Wohnungen mehr zu vermieten gibt oder
die Wohnungen verkommen sind. Billigen, aber maroden Wohnraum zuhauf - das kennen wir aus der ehemaligen DDR. Das müsste Ihnen doch eine Lehre sein.
Wir müssen aufpassen, dass uns das Ziel, günstigen
Wohnraum zu schaffen, nicht am Ende einen ganzen
Markt kaputtmacht. Natürlich sieht das die linke Seite
dieses Hauses anders. Sie wollen die Bundesregierung
auffordern - ich zitiere aus Ihrem Antrag -,
geeignete Schritte gegen die Einflussnahme ausschließlich renditeorientierter Finanzinvestoren auf
dem Wohnungsmarkt zu unternehmen …
({3})
Das ist weder sozial noch marktwirtschaftlich. Wer soll
denn in den Wohnungsbau investieren? Der Staat? Soll
der Staat Wohnraum für 80 Millionen Menschen bereitstellen, am besten mietfrei und mit einem Einheitssofa?
({4})
Sie blenden vollkommen aus: Der Wohnungsmarkt in
Deutschland ist vielschichtig, vom Häuslebauer mit Einliegerwohnung über gemeindliche und genossenschaftliche Gesellschaften bis zu weltweit agierenden Bauträgern - das alles bildet unser deutscher Wohnungsmarkt
ab.
Gerade weil ich Verbraucherpolitikerin bin, kann ich
Ihre Marktskepsis überhaupt nicht nachvollziehen. Den
Verbrauchern und in diesem Fall den Mietern ist nicht
geholfen, wenn man die Investoren vertreibt. Stattdessen
müssen wir für Investoren Anreize schaffen, damit sie
mehr in Wohnungsbau investieren.
({5})
Wenn nämlich das Angebot größer ist, erhöht sich auch
der Wettbewerb um die Mieter, und die Mietpreise sinken. Das passiert aber eben nur, wenn es sich lohnt, in
Wohnungsbau zu investieren. Ich bin der Überzeugung:
Fairer Wettbewerb ist an dieser Stelle der beste Verbraucherschutz.
Als Abgeordnete einer ländlichen Region möchte ich
noch einen anderen Aspekt in die Debatte einbringen. Die
Entscheidung, insbesondere die Ballungsgebiete bzw. die
Städte mit positiver Einwohnerentwicklung zu fördern,
würde die ländlichen Räume benachteiligen. Im ländlichen Raum haben wir einen großen Vorteil, und der heißt:
preiswerter Wohnraum. Damit können wir punkten.
Städte dagegen können mit guter Infrastruktur, mit flächendeckender medizinischer Versorgung, manchmal
auch mit einer großen Vielfalt kultureller oder gastronomischer Angebote punkten.
Die Höhe der Mietkosten ist Teil der Entscheidung,
ob jemand aufs Land zieht oder nicht. Auf diesen Wettbewerbsvorteil will ich nicht verzichten. Wir sehen an
anderen Ländern, welche Probleme eine starke Zentralisierung bringt. Schauen wir nach Paris oder nach London. Eine solche negative Entwicklung will ich in
Deutschland nicht haben. Ich will nicht, dass unsere
ländlichen Regionen weiter entvölkert werden.
({6})
Der ländliche Raum braucht deshalb unsere Aufmerksamkeit, die Aufmerksamkeit der Politik. Aber die Linke
zwingt uns auch heute wieder eine Debatte auf, in der es
ständig und ausschließlich um das städtische Lebensmilieu gehen soll,
({7})
und zwar mit drei zum Teil inhaltsgleichen Anträgen zu
einem Thema, das wir schon längst auf der Agenda haben.
({8})
Im Gegensatz zu Ihnen, sehr verehrte Kollegen von
den Linken, wollen wir bezahlbaren Wohnraum schaffen, ohne unser marktwirtschaftliches System aus den
Angeln zu heben, und wir wollen genauso Anwalt der
Ballungsräume sein wie der ländlichen Räume.
({9})
Wir sind eben nicht auf einem Auge blind.
({10})
Der Wohnungsmarkt ist nämlich ein sozialer und ein
ökonomischer Raum. Beides ist untrennbar, auch wenn
die Linke das nie verstehen wird, obwohl sie es eigentlich aus ihrer Geschichte längst hätte lernen müssen.
Vielen Dank.
({11})
Zur letzten Rede in dieser Debatte erteile ich das Wort
der Kollegin Ulli Nissen, SPD-Fraktion, die jetzt wiederum ihre erste Rede im Deutschen Bundestag hält.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gestern
vor 95 Jahren hat das erste Mal eine Frau in einem deutschen Parlament gesprochen: Marie Juchacz. Sie war
Sozialdemokratin, Sozialreformerin, Frauenrechtlerin
und Gründerin der Arbeiterwohlfahrt. Heute darf ich,
Ulli Nissen, Sozialdemokratin, Frauenpolitikerin und,
nicht zu vergessen, AWO-Mitglied, meine erste Rede im
Deutschen Bundestag halten,
({0})
und dann noch zum wichtigen Bereich Wohnen. Es ist
für mich wirklich eine sehr große Ehre, heute hier reden
zu dürfen.
Ich kann mir kein Thema vorstellen, zu dem ich lieber
reden würde. Denn für mich als Frankfurter Abgeordnete ist ausreichender bezahlbarer Wohnraum von zentraler Bedeutung. Es gibt immer mehr Regionen in
Deutschland, wo Wohnraum knapp wird. Seit Jahren erleben wir in Städten wie München, Frankfurt und Hamburg, dass gutes Wohnen immer mehr zum Luxus wird.
Ich erlebe es vor Ort in meinem Wahlkreis. Frankfurt ist
einer der teuersten Ballungsräume Deutschlands. Inzwischen ist es fast der Normalfall, dass 30 bis 40 Prozent
des Haushaltseinkommens für Wohnen ausgegeben werden. Bei manchen einkommensschwachen Familien ist
es schon jeder zweite Euro.
Die Bevölkerung Frankfurts wächst, wie die vieler
anderer Städte auch, jährlich um mehr als 10 000 Menschen. Wir haben jetzt schon nicht genügend Wohnraum
für diese Personen. Was bedeutet es, wenn wir nicht handeln? Die Mieten steigen weiter. Wer eine neue Wohnung braucht, weil sich zum Beispiel die Lebensumstände ändern, kann kaum mehr im angestammten
Umfeld bleiben. In Frankfurt zum Beispiel kommen bei
einer attraktiven Lage einer Wohnung mehr als 100 Bewerberinnen bzw. Bewerber auf eine Wohnung. Zum
Teil werden bei Wiedervermietungen mehr als 50 Prozent aufgeschlagen. Wer kann sich das noch leisten?
Wir dürfen es nicht zulassen, dass die Mieten ins
Unermessliche steigen, ganze Stadtteile komplett umstrukturiert werden und sich deren Charakter verändert.
Familien, Rentner, Studenten und Normalverdiener in
Frankfurt - ich denke, auch in vielen anderen Großstädten - können sich viele Stadtteile nicht mehr leisten. Das
haben wir gerade in Frankfurt durch den Neubau der
Europäischen Zentralbank erlebt: Den „betroffenen“
Stadtteil Ostend kann sich kaum noch ein Mensch leisten.
Ich bin sehr viel im Wahlkreis vor Ort unterwegs, und
immer wieder kommen Menschen verzweifelt auf mich
zu, die mir sagen: Ich kann mir meine Wohnung nicht
mehr leisten. - Dazu tragen auch Luxussanierungen bei.
Gentrifizierung ist eine Folge. Dagegen müssen wir vorgehen. Wir brauchen nicht nur mehr bezahlbaren Wohnraum, sondern auch dringend Regulierungen. Denn die
Situation in den betroffenen Gebieten wird nicht besser,
auch bedingt durch die steigende Zahl von Einpersonenhaushalten. Aufgrund des demografischen Wandels brauchen wir auch - das ist heute schon öfter angesprochen
worden - dringend mehr generationengerechte Wohnungen.
Wir müssen dringend handeln, und das tut die rotschwarze Bundesregierung.
({1})
Im ersten Schritt kommt die Mietpreisbremse. Bei einer Wiedervermietung kann künftig in Ballungsräumen
die Mieterhöhung auf maximal 10 Prozent über der ortsüblichen Vergleichsmiete beschränkt werden. Das ist ein
ganz, ganz wichtiger Aspekt, insbesondere für Frankfurt.
Dass dies eines der ersten Vorhaben der rot-schwarzen
Koalition ist, zeigt, wie wichtig uns Mieterinnen und
Mieter sind.
Sinnvoll wäre es, auch beim Mietspiegel Änderungen
vorzunehmen, indem bei der Berechnung der Vergleichsmiete alle Mieten und Mieterhöhungen herangezogen
würden.
Die Maklergebühren müssen dringend neu geregelt
werden. Wichtig ist: Wer bestellt, bezahlt. Die dementsprechende Änderung müssen wir ganz dringend vornehmen, und ich bin froh, dass wir das machen.
Die Modernisierungskosten sollen künftig nur noch in
Höhe von bis zu 10 Prozent auf die Mieter umgelegt
werden, und dies auch nur bis zur Amortisation der Kosten. Dies haben wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten lange gefordert. Ich bin froh, dass wir das in
die rot-schwarze Koalitionsvereinbarung aufgenommen
haben.
({2})
Durch eine Neuregelung des Wohngelds wollen wir
die Leistungen verbessern und es an die Bestandsmietenund Einkommensentwicklung anpassen. Notwendig ist
hier auch wieder eine Energiekostenkomponente.
Verbesserungen beim Programm „Soziale Stadt“ werden dazu beitragen, dass mehr Brennpunkte Hilfe erhalten. Die letzte Bundesregierung hatte die Mittel dieses
erfolgreichen Programms drastisch gekürzt. Ich bin sehr
froh, dass wir das ändern; denn das hatte fatale Folgen in
vielen Stadtteilen.
Zusätzlich setzen wir auf die Wiederbelebung des sozialen Wohnungsbaus. Wir unterstützen diesen bis Ende
2019 mit jährlich 518 Millionen Euro. Diese Mittel müssen aber zur Schaffung von bezahlbarem Wohnraum genutzt werden und dürfen nicht für die Förderung von
Wohneigentum verwendet werden; die letzte CDU-Landesregierung in Hessen hatte diese Mittel ja „fremdverwandt“.
({3})
Außerdem setze ich mich natürlich dafür ein, dass es
keine weiteren Privatisierungen von öffentlichem Wohneigentum gibt.
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen
und Kollegen, es ist gut, dass die schwarz-rote - Verzeihung - rot-schwarze Koalition das angeht.
({4})
- Ich wollte meinen Kollegen von der Großen Koalition
ein kleines Bonbon geben.
Ich freue mich auf die Umsetzung und darauf, dass
wir etwas im Sinne der Menschen tun.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Wir gratulieren der Kollegin Ulli Nissen zu ihrer ersten Rede.
({0})
Ich bin sicher: In der Koalition wird die Frage der Nomenklatur im Hinblick auf die Farbreihenfolge noch geklärt werden können.
({1})
Ich schließe hiermit die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/505, 18/504 und 18/506 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe keinen
Widerspruch, das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({2}) zu dem Antrag der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in
Afghanistan ({3}) unter Führung der NATO
auf Grundlage der Resolution 1386 ({4})
und folgender Resolutionen, zuletzt Resolution 2120 ({5}) vom 10. Oktober 2013 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen
Drucksachen 18/436, 18/602
- Bericht des Haushaltsausschusses ({6}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
Drucksache 18/615
Hierzu liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktion
Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.
Über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zum Antrag der Bundesregierung werden wir
später namentlich abstimmen.
Es wäre übrigens schön, wenn die Kolleginnen und
Kollegen, deren Aufmerksamkeit sich nicht auf diesen
Tagesordnungspunkt richtet, uns jetzt verlassen oder
sich wieder entspannt hinsetzen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. - Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat das
Wort der Kollege Dr. Rolf Mützenich von der SPD-Fraktion.
({7})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Fraktion hatte in dieser Woche eine
ausführliche Aussprache auch über Auslandseinsätze,
aber insbesondere über die aktuellen Herausforderungen
in der internationalen Politik, vor allem über die Entwicklung in der Ukraine; das war am Dienstag. Die
schlimmen Bilder, die schlimmen Berichte und all das,
was man in den letzten Minuten und Stunden gehört hat,
beschäftigen uns im Deutschen Bundestag den ganzen
Tag über, also nicht nur heute Morgen, und überschatten
in der Tat auch diese Debatte. Es ist schrecklich, wie
viele Menschen getötet und verletzt wurden. Gleichzeitig will ich daran erinnern, wie gut es ist, dass nach Beendigung des Ost-West-Konflikts die Nachfolgestaaten
der Sowjetunion auf Atomwaffen verzichtet haben. Wie
schlimm wäre die internationale Situation heute, wenn
ein Land, das innenpolitisch so zerrissen ist wie die
Ukraine, noch über Atomwaffen verfügen würde! Deswegen können wir sagen, dass wir zweimal großes
Glück hatten, zum einen mit der deutschen Wiedervereinigung, zum anderen mit der friedlichen Wiedervereinigung Europas und darüber hinaus.
Als wir in dieser Woche in meiner Fraktion über Auslandseinsätze gesprochen haben, waren sowohl neue Abgeordnete als auch viele, die schon länger Mitglied des
Deutschen Bundestages sind, gemeinsam der Auffassung: Wir Außenpolitiker können zwar fachlichen Rat
geben, aber wir können dem einzelnen Abgeordneten
nicht die Gewissensentscheidung abnehmen. - Das gilt
heute genauso wie in Zukunft. Der große Wert solcher
Debatten wie der heutigen besteht somit im fachlichen
Ratschlag, der Einordnung in das Völkerrecht, der Auskunft über die internationalen Rahmenbedingungen und
der Vergewisserung darüber, ob es eine außenpolitische
Strategie für den Einsatz von Soldatinnen und Soldaten
gibt. Letztlich muss aber eben jeder selbst die Entscheidung treffen.
Ich glaube, egal ob man mit Ja oder Nein stimmt,
manchmal bleibt doch bei dem Einzelnen ein leichter
Zweifel über das, was in den nächsten Monaten passiert.
Umso mehr muss man bei Auslandseinsätzen darauf
achten, sie ernsthaft durchzuführen. Es geht hier nämlich
nicht nur um ein kulturelles und politisches Vermächtnis
Deutschlands; auch andere europäische Parlamente
schauen sehr ernsthaft auf den Deutschen Bundestag,
weil sie das Recht, das der Bundestag hat, gerne für sich
selbst hätten; zum Teil haben sie es ja auch schon erkämpft. Ein Resultat dieser Ernsthaftigkeit ist, dass
Raum für eine Demokratisierung der Außen- und Sicherheitspolitik geschaffen wird; denn im Gegensatz zu früher nimmt das Parlament auch in diesem Bereich mehr
und mehr Verantwortung wahr, nicht mehr nur über
Haushaltsfragen, sondern auch ganz konkret bei einzelnen Entscheidungen.
In der Tat unterscheiden sich die jeweiligen Auslandseinsätze. Sie haben unterschiedliche Voraussetzungen, und es gibt unterschiedliche Einflussmöglichkeiten.
Immer wieder müssen wir uns vergewissern, ob auch
wirklich alle nichtmilitärischen Mittel ausgeschöpft worden sind. Auf der einen Seite muss das große Risiko, das
der Einsatz von Soldatinnen und Soldaten in militärischen Auslandseinsätzen birgt - darin unterscheiden sie
sich ja von anderen Einsätzen -, immer im Verhältnis zu
den Erfolgsaussichten abgewogen werden. Auf der anderen Seite müssen wir jede Möglichkeit nutzen, auf andere Instrumente, insbesondere Instrumente der politischen und zivilen Konfliktbearbeitung, zurückzugreifen.
Diese Debatte über die Verlängerung des Afghanistan-Einsatzes ist auch eine besondere Debatte; denn über
das Mandat in diesem Rahmen wird heute das letzte Mal
im Deutschen Bundestag in namentlicher Abstimmung
abgestimmt. Über dieser Debatte liegt aber natürlich wie
auch in den letzten Jahren der Schatten des 11. September. Zwar wissen wir in Deutschland und in Europa, dass
der 11.09. die Strukturen der internationalen Politik nicht
verändert hat, aber persönlich wissen viele von uns noch
genau, wo sie sich am 11. September aufgehalten haben,
als diese schrecklichen Bilder die gesamte Welt erreicht
haben. Die USA dagegen stehen nach wie vor unter dem
Eindruck dieser Bilder und treffen so weiterhin politische Entscheidungen, die zum Teil zu kritisieren sind.
Ich will ganz deutlich sagen: Damals war die Unterstützung für den Afghanistan-Einsatz in der Tat größer.
Deswegen müssen wir Lehren daraus ziehen, auch für
zukünftige Auslandseinsätze. Insbesondere wäre die
Schlussfolgerung richtig, dass man gerade bei so herausragenden Entscheidungen des Deutschen Bundestages
- das bezieht sich sowohl auf die Regierung als auch auf
das Parlament - in Zukunft etwas bescheidener formuliert. So erhält man auch ganz andere Möglichkeiten.
Man sollte vor allem die Abstimmung mit anderen Partnerländern frühzeitiger auf den Weg bringen und durchaus bereit sein, Fehler einzugestehen. Hinzu kommt,
dass man das Land, das um Hilfe bittet, und dessen Bewohner respektvoll behandelt.
Bezüglich Afghanistan sollte man sich immer vor Augen führen, dass es sich nicht nur um ein Land im Bürgerkrieg handelt, sondern auch um ein Land mit einer
langen Geschichte und einer reichen Kultur und dass
viele Menschen dort versuchen, eine bessere Zukunft
aufzubauen. Dabei können wir helfen. Wir sollten unseren Respekt von dieser Stelle aus bekunden.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in der Gesamtschau
bleibt der Afghanistan-Einsatz in der Tat umstritten und
widersprüchlich. Wir sollten Schwarz-Weiß-Malerei, zu
der vielleicht der eine oder andere neigt, vermeiden und
uns stattdessen ernsthaft damit befassen und schauen,
wo es Verbesserungen gibt, wo es Rückschritte gegeben
hat, wo es Unterlassungen gab, aber auch, wo sich möglicherweise in den nächsten Monaten neue Chancen ergeben.
Ich glaube, keiner von uns ignoriert, dass es weiterhin
Gewalt und Korruption gibt und dass der Drogenanbau
dieses Land belastet. Andererseits ist es mithilfe der internationalen Gemeinschaft - dazu gehören sowohl die
militärische Komponente als auch die zivilen Helferinnen und Helfer - gelungen, an der einen oder anderen
Stelle dafür zu sorgen, dass Grundbedürfnisse nach Wasser, Medizin und Bildung befriedigt werden können. Wir
vergessen oft, dass es für ein Land wie Afghanistan, das
wahrscheinlich im Jahr 2050 doppelt so viele Menschen
wie heute hat, selbst dann eine Herausforderung wäre,
diese Grundbedürfnisse zu befriedigen, wenn es keinen
Bürgerkrieg gäbe.
In dem geschaffenen Sicherheitsumfeld muss nun dafür gesorgt werden, dass das Land vorankommt und es
einer besseren Zukunft entgegengeht, indem einerseits
kleine Betriebe und die Landwirtschaft gedeihen können, auf der anderen Seite aber auch eine kritische Öffentlichkeit entsteht. Wir vergessen oft, dass zurzeit eine
kritische Öffentlichkeit mit Erfolg versucht, auf Korruption und viele andere Mängel hinzuweisen.
Wir haben in den letzten Jahren große und kleine Helden gesehen. Kleine Helden sind zum Beispiel diejenigen, die auch dann zur Schule gegangen sind, wenn ihre
Eltern letztlich bedroht wurden. Frau Kakar, die wir hier
im Deutschen Bundestag empfangen durften, wurde umgebracht, weil sie ihren Polizeidienst ausgeübt hat. Sie
war eine Mutter von sechs Kindern, die gegen Taliban,
aber auch gegen den Drogenanbau in Kandahar massiv
vorgegangen ist. Alles das verbindet sich letztlich mit
diesem Mandat, und auch, dass auf dieser Basis nach den
Wahlen, die in den nächsten Wochen durchgeführt werden, der erste demokratische Machtwechsel in diesem
Lande garantiert werden könnte. Unter anderem das
zeigt, wie wichtig es ist, diesem Land in den nächsten
Wochen seine Aufmerksamkeit zu schenken und es zu
unterstützen.
({1})
Meine Damen und Herren, zum zu beschließenden
Mandat: Es beinhaltet einen deutlichen Rückgang der
Zahl der einzusetzenden Soldatinnen und Soldaten. Dabei sollten wir anerkennen, wie aufwendig der Abzug
aus Afghanistan ist, wie viel Energie gerade von der
Bundeswehr in die Logistik gesteckt werden muss, damit er ungehindert ablaufen kann. Gleichzeitig findet die
Ausbildung der Sicherheitskräfte statt. Herr Minister
Müller hat uns bei der Einbringung des Antrags ja noch
einmal eindringlich darauf hingewiesen, dass wir dieses
Land gerade im Hinblick auf den zivilen Aufbau - das
haben wir in den letzten Jahren immer wieder betont nicht vergessen dürfen.
Ich will gegen Ende meiner Rede auch noch einmal
auf die diplomatischen und politischen Rahmenbedingungen hinweisen, unter denen wir diesen AfghanistanEinsatz durchführen. Da brauchen wir in dieser Großen
Koalition keine Nachhilfe. Außenminister Steinmeier
hat bereits beim G-8-Gipfel in Heiligendamm bewiesen,
wie wichtig diplomatische Vorgänge gerade für diese
Region waren. Dort haben sich nämlich ein pakistanischer und ein afghanischer Außenminister zum ersten
Mal getroffen, um überhaupt einmal über die Sicherheitsbedürfnisse in ihren Ländern zu reden.
Wir wollten das Ganze ja immer politisch begleiten.
Erst die Obama-Administration - die USA sind der
größte Truppensteller dort - hat aber erlaubt - auch das
ist noch nicht so lange her -, diese politischen Gespräche
zu führen. Die Herstellung regionaler Rahmenbedingungen und die diplomatischen Anstrengungen, die die Bundesregierung in der Vergangenheit unternommen hat,
aber auch jetzt und auch in Zukunft unternimmt, sind
also sehr wichtig. Wir müssen uns dabei darauf verlassen, dass die Regionalmächte im unmittelbaren Umfeld
Afghanistans auch in Zukunft ihre Verantwortung für
dieses Land tragen und nicht erneut einen Konflikt auf
afghanischem Gebiet austragen. Ich glaube, das im Blick
zu behalten, gehört zu einer klugen Außenpolitik dazu.
Zum Abschluss. Der Fraktionsvorsitzende der Linken, Kollege Gysi - gerade sehe ich ihn leider nicht; er
hat ja bei der Einbringung des Antrags eine sehr
schwarz-weiß gehaltene Rede vorgetragen, die nach
meinem Dafürhalten allein innenpolitische Bedürfnisse
bedient hat -, hat eine interessante Bemerkung gemacht;
Herr Kollege Gehrcke, vielleicht können Sie darauf eingehen. Herr Gysi hat zum Beispiel gesagt, es sei unter
Umständen wichtig, zu überlegen, ob das kommende
Mandat nach Kap. VI der UN-Charta gezeichnet werden
könnte. Darüber müssen wir diskutieren. Das hängt mit
dem Truppenstellerstatut und vielem anderen zusammen. Vielleicht könnten Sie uns heute hier im Deutschen
Bundestag die Frage beantworten, ob die Linke, wenn
dieser Einsatz in Zukunft nach Kap. VI der UN-Charta
mandatiert wird, bereit ist, diesem Mandat beizutreten.
Das könnte eine interessante Debatte nach sich ziehen.
Vielen Dank.
({2})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Kollegen Wolfgang Gehrcke, Fraktion Die Linke.
({0})
Natürlich bekommt der Kollege Mützenich von mir
eine Antwort. Was denn sonst?
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ehe ich zu
Afghanistan argumentiere, möchte ich schon noch einen
Appell loswerden; schließlich befinden wir uns in einer
außenpolitischen Debatte. Bei allen Bildern aus der
Ukraine, die man sieht, und bei allen Differenzen, die
wir sicherlich miteinander haben, müsste von diesem
Parlament ein Appell ausgehen: Gewalt, wer auch immer sie anwendet, gehört nicht nach Europa. Gewalt
muss aus dem Zusammenleben der Völker insgesamt
und der innenpolitischen Auseinandersetzung auf alle
Fälle ausgeschlossen werden.
({0})
Das wollte ich zu Anfang noch einmal sagen, damit das
klargestellt ist.
Jetzt zum Afghanistan-Mandat. Ich möchte, dass wir
uns als Erstes darüber verständigen, was hier beantragt ist.
Es wird so getan und argumentiert, als sei es ein Abzugsmandat. Tatsächlich ist beantragt, dass über 3 000 Bundeswehrsoldaten, nämlich bis zu 3 300, in Afghanistan
bleiben - mindestens bis Ende des Jahres. Dass es das
letzte Mal ist, lieber Herr Kollege Mützenich, dass wir
hier über ein Mandat für Afghanistan sprechen, bezweifle ich in hohem Maße; denn es wird ein Anschlussmandat geben, kein ISAF-Mandat, sondern ein anderes,
das die UNO formulieren muss. Dafür sollen - so ist
vorgesehen - 8 000 bis 12 000 NATO-Soldaten bleiben,
darunter 600 bis 800 Bundeswehrsoldaten. Das steht im
Fortschrittsbericht. Das werden wir hier bereden müssen. Wir sind also nicht an einem Endpunkt der Debatte
über die Afghanistan-Einsätze.
Wir sind für sofortigen Abzug und vollständigen Abzug,
({1})
aus einem Hauptgrund: Es geht nur über Verhandlungen,
auch mit den Taliban. Diese Verhandlungen sind angeleiert worden; sie finden statt.
In Afghanistan ist das Gefühl, dass das Land von ausländischen Truppen besetzt ist, das Hauptargument, das
den Taliban und anderen immer wieder die Leute zutreibt. Man muss deswegen die Besatzung beenden,
sichtbar beenden, wenn man über Verhandlungen Erfolge erreichen will.
({2})
Das ist unser Motiv dabei. Dafür streiten wir von Anfang
an.
Heute ist jeder für Verhandlungen. Der arme Herr
Steiner wurde als Botschafter strafversetzt, weil er das in
Gang gebracht hat. Zu Beginn der Mandatierung sind
wir verhöhnt und verspottet worden, als wir gesagt haben: Man kann das nur mit Verhandlungen lösen. - Da
waren Verhandlungen tabu. Bekennen Sie sich dazu! Wir
waren in dieser Frage weitsichtiger. Das finde ich gar
nicht bedeutsam, aber immerhin: Wir haben es gesagt.
Das Zweite ist: Hier muss Klarheit darüber geschaffen werden, wo die grundsätzlichen Differenzen liegen.
Ich zitiere für eine Mehrheit hier im Bundestag einmal
den Bundespräsidenten, Herrn Gauck. Er hat in München gesagt: „Der Einsatz der Bundeswehr war notwendig …“ - Meine Position, die Position meiner Fraktion,
ist: Der Einsatz der Bundeswehr, der Eintritt Deutschlands in diesen Krieg, war moralisch schändlich, politisch falsch und antihuman.
({3})
Das sind die grundsätzlichen Differenzen, und darüber
kommen wir nicht hinweg. Das werden wir miteinander
zu diskutieren haben.
({4})
Wir werden auch zu diskutieren haben, wer Verantwortung dafür trägt, dass in diesem Konflikt 70 000 Menschen
umgekommen sind. Ich möchte auch, dass den Opfern
von Kunduz hier von diesem Platz endlich Respekt entgegengebracht wird und dass man um Verzeihung bittet
für das, was man dort angerichtet hat. Auch das müsste
zur deutschen Politik gehören.
({5})
Jetzt muss ich Ihre Frage beantworten. Entschuldigung, das ist jetzt ein bisschen Eigenwerbung. Lesen Sie
mein Buch darüber,
({6})
wie der Bundestag in den Afghanistan-Krieg reingelogen worden ist! Auf Seite 20 ist eine Rede von mir von
2001, in der ich vorgeschlagen habe, dass statt eines
Kriegseinsatzes nach Kap. VII ein nach Kap. VI der UNCharta mandatierter Einsatz, also ein Blauhelmeinsatz,
das Adäquate wäre, um die Konflikte in Afghanistan zu
beenden. Von Ihnen hat keiner zugestimmt. Von Ihnen
hat keiner Interesse daran gehabt. Ihnen ging es gar nicht
darum, den Konflikt anders zu lösen. Man hatte sich entschieden: Die Bundeswehr wird geschickt. Das soll so
gelöst werden.
Was Sie jetzt fordern, habe ich also schon 2001 vorgeschlagen. Jetzt werden wir einmal sehen, was die
UNO beschließt. Wir müssen uns damit auseinandersetzen. Sie sind aber gar nicht an einer inhaltlichen Debatte
zur Lösung interessiert, sondern nur daran, möglicherweise bei uns bestehende Konflikte zu eskalieren. Das
geht schief. Wir sind uns in der Frage einig. Was Sie jetzt
vorbringen, wurde schon 2001 von mir gesagt. Hätten
Sie mein Buch gelesen, hätten Sie es gewusst.
Danke sehr.
({7})
Als Nächstem erteile ich das Wort dem Kollegen
Peter Beyer, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Welches Bild haben wir Deutsche heute von Afghanistan? Seit zwölf
Jahren kämpfen deutsche Soldatinnen und Soldaten am
Hindukusch. Der ursprüngliche Aufbaueinsatz sah sich
zunehmend mit kriegsähnlichen Zuständen konfrontiert.
Es wäre verfehlt, zu glauben, Soldatinnen und Soldaten
würden in ein Kriegsgebiet geschickt und beschäftigten
sich dort vor allem mit dem Bohren von Brunnen und
dem Bau von Mädchenschulen.
Wir haben 2001 Verantwortung übernommen. Diese
gibt es nicht zum Nulltarif und auch nicht ohne Risiko.
Einmal übernommene Verantwortung kann man nicht
einfach wieder abgeben, nur weil einem die Sache unangenehm wird. Ein solches Handeln wäre verantwortungslos. Wer Einfluss auf die weitere Entwicklung in
Afghanistan nehmen will, muss einen Beitrag für den
Erfolg der gemeinsamen Sache leisten, und zwar zivil
wie militärisch. Das hat Deutschland in den letzten gut
zehn Jahren getan, und zwar mit vorbildlichem Engagement unserer Soldatinnen und Soldaten. Sie haben Ausgezeichnetes geleistet und viel für die Menschen in Afghanistan geschaffen.
Ja, bitte.
Es gibt den Wunsch der Kollegin Buchholz von der
Fraktion der Linken nach einer Zwischenfrage oder Zwischenbemerkung. Möchten Sie die zulassen?
Im Moment nicht.
Dafür spreche ich an dieser Stelle den deutschen Soldatinnen und Soldaten meinen ausdrücklichen Dank aus.
({0})
Ich sage auch: Die Entscheidung, die der Bundestag
am 16. November 2001 getroffen hat, war richtig. Es
war auch richtig, was Peter Struck seinerzeit gesagt hat:
dass deutsche Interessen auch am Hindukusch verteidigt
werden. Denn der Kern der Mission ist nach wie vor,
Frieden und Sicherheit zu schaffen, für stabile Verhältnisse zu sorgen und ein durch jahrzehntelange Kriege
zerrüttetes Land wieder aufzubauen.
Damals wie heute gab und gibt es keine einfachen Lösungen für Afghanistan. Es ist eine Politik der kleinen,
deshalb aber nicht weniger wichtigen Schritte. Das hat
gerade die kontroverse Debatte in erster Lesung in der
vergangenen Sitzungswoche in diesem Haus gezeigt.
Unsere Ziele für den Einsatz in Afghanistan waren in
der Tat hochgesteckt, mit den heutigen Erfahrungen vielleicht zu hoch. Dennoch geht es heute nicht um das, was
nicht erreicht werden konnte, und ebenfalls nicht um
das, was versäumt wurde. Wir entscheiden heute vielmehr über die Zukunft. Vielleicht erscheint es aus unserer hochtechnologischen Perspektive als zu wenig, wenn
eine neugebaute Brücke oder instandgesetzte Straße in
der afghanischen Berg- und Steppenwelt einem Kind
den Weg zu Bildung oder einer schwangeren Frau den
Weg zu medizinischer Versorgung ebnet. Es mag für uns
nahezu unvorstellbar sein, ohne Strom und fließendes
Wasser zu leben. In Afghanistan beschreibt das leider
immer noch zu häufig die Normalität.
Meine Damen und Herren, der Westen muss sich endlich von der viel zu lange aufrechterhaltenen Illusion
befreien, Afghanistan nach westlichem Vorbild modernisieren zu wollen und dabei zu glauben, kulturelle Unterschiede ebenso überwinden zu können wie 100 Jahre technologischen Rückstands aufzuholen. Vielmehr muss es
zukünftig darum gehen, eine erneute Machtübernahme
der Taliban zu verhindern. Es gibt hoffnungsvoll stimmende Anzeichen dafür, dass die Taliban verstanden haben, dass sie das Land nicht, wie einst 1996, mit einem
Handstreich einnehmen können, und dass sie wissen,
dass ihre zukünftige Rolle eine politische sein wird beispielsweise bei den Vorbereitungen für die Präsidentschaftswahlen im April dieses Jahres, auch wenn die
Taliban keinen eigenen Kandidaten aufstellen. Sie unterstützen die Wahl zwar nicht, rufen aber auch nicht zu ihrem Boykott auf. Das lässt aufhorchen.
Bildung ist einer der Schlüssel bei allen Aktivitäten.
98 000 Lehrerinnen und Lehrer wurden in den vergangenen Jahren aus- und fortgebildet. Darüber hinaus wurde
der Neubau bzw. die Instandsetzung von über 550 Grundund weiterführenden Schulen finanziert. Heute gehen in
ganz Afghanistan über 9,2 Millionen Kinder zur Schule.
39 Prozent davon sind Mädchen. Diese neu entstandene
ISAF-Generation ist alphabetisiert, die Jungen und Mädchen können lesen und schreiben.
Zum Wichtigsten zählt, dass selbsttragende Sicherheitsstrukturen geschaffen werden. Ein Beispiel aus dem
Polizeiaufbau: Allein im laufenden Jahr wurden in Kabul und Masar-i-Scharif zwölf Ausbildungsprojekte abgeschlossen und dabei über 460 Trainees im Rahmen
von Mentoring-Projekten und Professionalisierungskursen aus- und fortgebildet.
Und doch: Niemand ist ehrlich bei der Betrachtung
und Bewertung Afghanistans, der die Probleme beschönigt oder gar verschweigt. Die Regierung von Hamid
Karzai ist korrupt. Die staatlichen Institutionen funktionieren noch nicht wie erhofft. Es fällt zunehmend
schwerer, sich das Katz-und-Maus-Spiel Karzais mit der
NATO und insbesondere mit den Amerikanern länger
anzuschauen. Der deutsche Botschafter in Kabul, Martin
Jäger, äußerte erst kürzlich, dass Karzai die amerikanisch-afghanischen Beziehungen einer schwerwiegenden Belastungsprobe aussetze. Das liege nicht allein an
dessen Verweigerungshaltung bei der Unterzeichnung
des bilateralen Sicherheitsabkommens, BSA, mit den
USA, sondern auch an der Antiamerika-Propaganda.
Unter anderem warf Karzai den US-Truppen vor, die
Taliban durch ihre Operationen zu stärken.
({1})
Kürzlich hat er sogar angedeutet, die USA steckten hinter einigen schweren Anschlägen. Das ist inakzeptabel
und nicht konstruktiv.
Meine Damen und Herren, wahr ist aber auch, dass es
jetzt das falsche Signal wäre, anzudrohen, die Unterstützung nach dem auslaufenden ISAF-Mandat im Dezember dieses Jahres gänzlich einzustellen. Der afghanische
Präsident muss begreifen, dass wir sehr zeitnah ein kla1264
res Bekenntnis erwarten, spätestens nach den Wahlen im
April.
Vor dem Land liegt ein bedeutungsvolles Jahr. Im Juli
2013 wurde mit der Reform der Wahlgesetze die notwendige rechtliche Grundlage für demokratische Wahlen geschaffen. Die Wahlvorbereitungen sind auf einem
guten Weg. In den Zentren hängen flächendeckend
Wahlplakate, und es finden öffentliche Diskussionen der
Kandidaten statt; insgesamt elf Kandidaten stellen sich
zur Wahl. Von dieser Wahl hängt letztlich auch die Zukunft Afghanistans ab. Wir sollten Vertrauen haben;
denn die Dinge haben sich in den Köpfen vieler Menschen zum Positiven verändert. Deshalb teile ich die oft
vernommene Einschätzung nicht, dass die ISAF-Mission
insgesamt gescheitert ist.
Nun liegt es auch an uns, die positive Stimmung zu
erhalten und dazu beizutragen, eine rasche Klärung der
rechtlichen Grundlage für die Nachfolgemission „Resolute Support“ herbeizuführen. Denn wenn wir als Teil
der internationalen Gemeinschaft dieses Land und seine
Menschen moralisch, ökonomisch und politisch alleine
ließen, wenn wir wegschauten und insgeheim oder ganz
offen froh wären, dass wir 2014 zu mehr oder weniger
großen Teilen raus sind aus der Sache, dann machten wir
einen folgenschweren Fehler. Deshalb möchte ich - hoffentlich zum letzten Mal - um Ihre Zustimmung zu einer
Verlängerung des ISAF-Mandats werben.
Vielen Dank.
({2})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort der
Kollegin Christine Buchholz, Fraktion Die Linke.
Herr Kollege Beyer, Sie haben hier über Verantwortung gesprochen. Sie wissen wie ich, dass es in der
Nacht vom 3. auf den 4. September 2009 auf Befehl der
Bundeswehr einen Angriff gab, durch den in der Region
Kunduz bis zu 142 Menschen zu Tode gekommen sind.
Sie wissen wie ich, dass es bisher keine angemessene
Entschädigung der Opfer gibt, und Sie wissen wie ich,
dass es keine Entschuldigung seitens der Bundesrepublik
Deutschland gegenüber den Hinterbliebenen und ihren
Familien gegeben hat. Ich frage Sie: Was werden Sie
tun, damit die Hinterbliebenen endlich eine angemessene Entschädigung bekommen?
({0})
Mögen Sie darauf antworten, Kollege Beyer?
Herr Präsident, das möchte ich in aller Kürze. - Ich
habe vollstes Vertrauen in die Bundesregierung, dass sie
das verantwortungsvolle Handeln, das sie bisher gezeigt
hat, fortführt und sich dieser Sache ernsthaft annimmt.
({0})
Das sollte unser aller Überzeugung sein.
({1})
Als Nächstem erteile ich das Wort dem Kollegen
Omid Nouripour, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am
15. April 2010 wurde Oberstabsarzt Dr. Thomas Broer
von Taliban getötet, als er Verwundeten helfen wollte. Er
war 33 Jahre alt und ein werdender Vater.
Am 24. Dezember 2010 wurde zwischen Kholm und
Kunduz in der Provinz Balkh ein Berater der KfW Entwicklungsbank von Taliban erschossen. Er verbrachte
Heiligabend ohne seine Familie, weil er den Bau einer
Straße in einer strukturschwachen Gegend betreute.
In der Nacht vom 3. auf den 4. September 2009 starb
Sanaullah auf einer Sandbank im Kunduz-Fluss, als zwei
entführte Tanklastwagen bombardiert wurden. Er wurde
zehn Jahre alt.
Vor wenigen Wochen, am 23. Januar 2014, wurden in
der Provinz Laghman fünf Kinder von den Taliban erschossen, weil sie Volleyball spielten.
Kann man nach all den Opfern zufrieden sein mit
dem, was wir erreicht haben? Ist der Einsatz nach zwölf
Jahren nicht als gescheitert zu betrachten, weil wir nun
abziehen und nicht einmal mit Gewissheit sagen können,
ob die afghanischen Institutionen in der Lage sind, die
Sicherheit selbst zu tragen?
Es ist beileibe nicht alles schlecht in Afghanistan. Es
ist viel erreicht worden. Nur, wir hätten viel mehr erreichen können, und wir hätten auch viel mehr erreichen
müssen.
({0})
Dass das nicht geschafft wurde, lag nicht an zu wenig
Militär. Es lag an zu wenig Diplomatie, an zu wenig ziviler Aufbauarbeit, an zu wenig Staatlichkeit und an zu
wenig Koordination.
Nun geht ISAF zu Ende. Meine Fraktion hat seit längerem eine Abzugsperspektive gefordert. Nun wird sie
vollzogen. Das ist auch richtig so. Es ist allein deswegen
richtig, weil die völkerrechtliche Grundlage für ISAF
Ende 2014 nicht mehr gegeben ist. Wir als Fraktion werden dem ISAF-Mandat dieses Mal deshalb mehrheitlich
zustimmen.
Weil es die letzte Debatte ist, möchte ich die Chance
nutzen, einigen zu danken. Ich möchte selbstverständlich
der Bundeswehr danken. Kein Einsatz hat die Bundeswehr so verändert wie dieser. Ich möchte aber nicht nur
den Uniformierten danken, wobei man niemals die Polizei vergessen darf, die in Afghanistan unglaublich viel
getan hat; das kommt in den Debatten immer zu kurz.
({1})
Wir dürfen auch die vielen Tausend Helferinnen und
Helfer nicht vergessen, die als Diplomaten, als Entwicklungs- und Aufbauhelferinnen und -helfer und in anderen Funktionen in Afghanistan waren. Sie haben viel
Kraft, Herzblut, Zeit und Mühe investiert.
({2})
Wir dürfen auch ihre Familien nicht vergessen, die in
dieser Zeit viele Opfer gebracht haben.
Mein größter Dank aber geht an die Afghaninnen und
Afghanen, allen voran an die Afghaninnen. Sie leben seit
über 40 Jahren in einem Kriegsland. Sie haben Krieg
und Entbehrung erlebt und wagen es dennoch immer
wieder, Hoffnung zu schöpfen. Sie arbeiten unermüdlich
am Wiederaufbau ihres Landes. Sie sind zu Recht stolz
auf das, was in den letzten Jahren erreicht worden ist, allerdings leider Gottes fast nur in urbanen Zentren. Diese
Menschen haben Freiheit erlebt. Es ist eine neue Generation herangewachsen, die erlebt hat, wie es ist, in einem
Konflikt auch einmal eine Atempause haben zu können.
Diese Menschen dürfen wir nicht vergessen. Das Wichtigste ist, dass von hier aus die Botschaft ausgeht, dass
unsere Solidarität nach ISAF nicht enden wird.
({3})
Mardom mohtaram Afghanestan, payane ISAF
payane hambastegiye ma nist. Ma shoma ra faromoush
nakhahim kard.
Herzlichen Dank.
({4})
Als Nächstes erteile ich das Wort dem Kollegen
Thomas Hitschler, SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir stimmen heute zum letzten Mal über die
Verlängerung des ISAF-Mandats ab.
({0})
Als einige von Ihnen das erste Mal über das ISAF-Mandat abstimmten, war ich 19. Der Einsatz der Bundeswehr
hat damit fast mein gesamtes bisheriges politisches Leben begleitet und auch in besonderer Weise das Leben
von vielen Menschen in unserer Gesellschaft verändert
und beeinflusst.
Am 11. September 2001 habe ich zu Hause auf der
Couch den feigen Anschlag auf die amerikanische Nation verfolgt und gesehen, wie das World Trade Center
in sich zusammengefallen ist. Ich war mir damals der
Tragweite dieses feigen Anschlages in keiner Weise bewusst. Wir haben erlebt, wie der Konflikt und der Krieg
zum Teil unserer Realität wurden. Plötzlich war von
Krieg und von gefallenen deutschen Soldaten die Rede.
Allein die öffentliche Auseinandersetzung über die Begrifflichkeit des gefallenen deutschen Soldaten hat viel
in unserer Gesellschaft verändert.
Heute, fast 13 Jahre später, diskutieren wir im Bundestag zum letzten Mal über die Verlängerung des ISAFMandates. Ich bin mir sicher: Keiner von Ihnen hat sich
die Entscheidung zu diesem Mandat bisher einfach und
leicht gemacht, und das ist auch gut so. Selbst wenn der
Krieg Einzug in unseren politischen Alltag gehalten hat,
darf er immer nur der letzte Ausweg in einem Konflikt
sein.
Ich bin mir sicher, dass es eine besondere Errungenschaft des deutschen Parlamentarismus ist - um die uns
übrigens viele andere Staaten beneiden -, dass diese Einsatzfragen hier von uns Volksvertreterinnen und Volksvertretern beraten und beschlossen werden.
({1})
Diese besondere Errungenschaft, der wir uns zu jedem
Zeitpunkt bewusst sein sollten, müssen wir auch in Zukunft bewahren und verteidigen. Nur der Deutsche Bundestag soll darüber entscheiden dürfen, ob unsere Soldatinnen und Soldaten in Kampfeinsätze gehen.
Wenn wir heute nach Afghanistan schauen, sehen wir
ein Land, das sich sechs Wochen vor einer wichtigen demokratischen Entscheidung befindet. Wahlen werden
vorbereitet, und man hat den Eindruck, die Menschen
freuen sich darauf. Sie wollen wählen und wollen an ihrem Staat mitwirken. Dies zeigen nicht nur die millionenfachen Registrierungen für das Wählerregister, sondern auch die Berichte, die uns unsere Einsatzkräfte vor
Ort bei vielen Gelegenheiten gegeben haben. Die Wahlen werden in eigener Verantwortung und in anscheinend
relativer Sicherheit durchgeführt. Drücken wir den Menschen in Afghanistan die Daumen und wünschen ihnen
viel Erfolg für diese wichtige Entscheidung, vor der sie
stehen.
({2})
Afghanistan hat sich aber auch auf den Weg gemacht,
eigene institutionelle Prozesse in Gang zu bringen, eine
eigene unabhängige Verwaltung zu schaffen und damit
auch ein Stück Rechtsstaatlichkeit herzustellen. Es entwickelt damit hoffentlich langfristig ein Fundament, um
friedlich leben zu können. Nebenher entsteht eine echte
Zivilgesellschaft. Wer hätte das vor 13 Jahren gedacht,
liebe Kolleginnen und Kollegen? Zusätzlich stellt man
fest, dass nach jahrzehntelanger fundamentalistischer
Bildungsfeindlichkeit heute wieder mehr junge Frauen
und Männer Zugang zu Bildung haben. Dies ist die beste
Voraussetzung und der optimale Grundstein für eine
langfristige positive Entwicklung in diesem Land.
In afghanisch-deutscher Kooperation wurden Krankenhäuser gebaut, um das Gesundheitssystem wieder auf
stabilere Beine zu stellen. Die enorm hohe Säuglingssterblichkeit zeigt dennoch, dass wir Deutsche weiterhin
Unterstützung leisten sollten, um den Afghanen eine positive Zukunft zu geben.
({3})
Derzeit dienen etwa 3 000 Soldatinnen und Soldaten in
Afghanistan. Ihnen und den zahlreichen zivilen Helferinnen
und Helfern - mein Vorredner hat es gerade gesagt - gilt
mein besonderer Dank und, wie ich hoffe, auch unsere besondere Anerkennung.
({4})
Wir müssen aber mehr tun, als einfach nur Danke zu
sagen. Wir müssen uns darum kümmern, dass diejenigen, die ihr Leben in unserem Auftrag riskiert haben,
nach ihrer Heimkehr die verdiente Anerkennung erhalten. Wir müssen uns darum kümmern, dass diejenigen,
die es nicht unversehrt nach Hause geschafft haben, von
unserem Staat dennoch eine gute Lebensperspektive erhalten. Und wir dürfen diejenigen nicht vergessen, die
im Einsatz gefallen sind.
Meine Damen und Herren, der Einsatz in Afghanistan
ist von besonderer Komplexität. Wir alle müssen gemeinsam anerkennen, dass Fehler gemacht wurden, und
sicherstellen, dass die richtigen Schlüsse aus diesen Fehlern gezogen werden. Zeigen wir Respekt gegenüber der
Leistung unserer Soldatinnen und Soldaten, und erkennen wir an, was noch zu tun ist und vor uns liegt.
Am 31. Dezember dieses Jahres wird der Kampfeinsatz
enden. Niemand von uns darf naiv sein und glauben, ab diesem Zeitpunkt ist Afghanistan eine Demokratie nach westlichem Muster. Es wird in Afghanistan - auch für die Bundeswehr - noch viel zu tun geben. Wir werden auch künftig
als Partner zur Seite stehen und Aufbauhilfe leisten. Wir
werden als Partner bei der Entwicklungszusammenarbeit
und dem zivilen Aufbau eine wichtige Rolle spielen müssen.
Lieber Kollege Gehrcke, wir werden in Verhandlungen eintreten. Im Übrigen hat 2007 der Südpfälzer Kurt
Beck und nicht die Linkspartei den Vorschlag unterbreitet, die Taliban an den Gesprächen zu beteiligen.
({5})
Wir müssen aber auch erkennen, dass die Diskussion
über Afghanistan noch lange Zeit Teil unseres Alltags
sein wird.
Junge Menschen, die heute in Afghanistan ungefähr
so alt sind, wie ich es war, als der Einsatz begann, können sich nicht mehr an ein Leben ohne Krieg erinnern.
Für sie stellt der Übergang vom Kampfeinsatz unserer
Streitkräfte hin zu einer Unterstützungsmission einen
wichtigen Wegpunkt dar - hoffentlich hin zu Frieden,
Freiheit und Demokratie.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, als Teenager im
Jahr 2001 habe ich sicher keine Sekunde daran gedacht,
einmal vor Ihnen um die Zustimmung für die finale Verlängerung des ISAF-Mandates bitten zu können. Nehmen Sie bitte die bisherige Bilanz des langen Einsatzes
wohlwollend zur Kenntnis. Gehen Sie auch den letzten
Schritt gemeinsam mit uns. Ich bitte Sie deshalb um Ihre
Zustimmung zum Antrag der Bundesregierung.
Vielen Dank.
({6})
Das war die erste Rede des Kollegen Thomas
Hitschler im Deutschen Bundestag. Dazu gratulieren wir
Ihnen herzlich.
({0})
Ich nutze den kurzen Moment der Gratulation, um auf
Folgendes hinzuweisen: Der Kollege Nouripour hat am
Schluss seiner Rede die Fremdsprachenkenntnisse der
Kolleginnen und Kollegen ein wenig überschätzt. Es ist
nett, wenn man zu einem solchen rhetorischen Mittel
greift; nur sollte man vielleicht auch die Übersetzung anfügen.
({1})
- Das haben wir alle hier oben nicht mitbekommen. Da
bitte ich um Nachsicht. Es ist jedenfalls auf alle Fälle so
zu halten. Danke.
Wir hören als Nächste unsere Kollegin Heike Hänsel
von der Fraktion Die Linke.
({2})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Laut dem jüngsten Bericht der UN-Mission in Afghanistan, UNAMA, ist 2013 das schlimmste Jahr für afghanische Frauen, Mädchen und Jungen seit 2009, mit
der höchsten Zahl an getöteten und verletzten Frauen
und Kindern. Erneut wurden Hunderte Zivilisten von der
sogenannten internationalen Schutztruppe ISAF getötet,
davon allein 19 Prozent durch Luftangriffe. Was das
konkret bedeutet, zeigt die Aussage eines Arztes über
ein vierjähriges Mädchen, das nach einem Luftangriff in
ein Krankenhaus gebracht wurde: Fast ohne Gesicht,
beide Augen verloren; ihre gesamte Familie wurde getötet, als das Fahrzeug, in dem sie fuhren, bei einem Luftangriff bombardiert wurde. - In Afghanistan wird täglich getötet und gestorben, und deswegen fordert die
Linke seit 13 Jahren ein Ende dieses Krieges und einen
Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan.
({0})
- Genau, weil wir in einer Kriegssituation sind.
Übrigens sind allein im letzten Jahr 4 600 afghanische
Soldaten und Polizisten getötet worden. Ich finde, das
muss man hier, weil Sie jetzt immer auf die Sicherheitsstrukturen der Afghanen setzen, auch mal erwähnen.
Auch das zeigt, wie brutal es dort zugeht und wie die SiHeike Hänsel
cherheitslage ist. Jetzt sterben eben afghanische Soldaten, und auch das lehnen wir ab.
({1})
Im Hinblick auf die Erreichung all der Ziele, die Sie
zur Rechtfertigung dieses Krieges hier immer wieder angegeben haben und auch immer noch angeben - Entwicklung, Frauenrechte, Demokratie, Frieden -, sind Sie
gescheitert. Der Afghanistan-Krieg hat mindestens
70 000 Menschen das Leben gekostet. Das Land zählt
immer noch zu den ärmsten Ländern der Erde, und das
trotz milliardenschwerer Entwicklungsprogramme. Das
zeigt, dass wir unter der Bedingung von Besatzung und
Krieg keine nachhaltige Entwicklung ermöglichen können; das muss doch die Erkenntnis sein.
({2})
Und was habe ich letzte Woche von Außenminister
Steinmeier gehört? Seine Erkenntnis aus dem Afghanistan-Krieg ist: Wir müssen jetzt bessere Militäreinsätze
planen, müssen uns besser koordinieren und die zivilmilitärische Vernetzung verbessern. - Das ist doch keine
angemessene Konsequenz aus diesem Krieg. Die Konsequenz muss sein, dass wir die Bundeswehr generell nicht
ins Ausland schicken und militärische Interventionen ablehnen.
({3})
Alle danken hier immer - ich muss sagen, sehr ritualhaft - den deutschen Soldatinnen und Soldaten.
({4})
Ich möchte heute einmal den Friedensaktivisten danken,
die sowohl in Deutschland - übrigens auch heute vor
dieser Debatte wieder - als auch in Afghanistan und
weltweit über Jahre hinweg auf die Straße gegangen sind
und gegen diesen Krieg demonstriert und protestiert haben, die afghanische Friedenskräfte vor Ort unterstützen
und über 13 Jahre hinweg versucht haben, Alternativen
zu entwickeln und zu zeigen, dass es nicht darum gehen
kann, den Krieg zu gewinnen; wir müssen den Frieden
gewinnen.
({5})
Sie reden jetzt viel von internationaler Verantwortung. Ich frage mich: Warum übernehmen Sie nicht erst
einmal Verantwortung für das, was in Afghanistan passiert ist, für die Tausenden von Toten, für die auch die
ISAF-Schutztruppe verantwortlich ist? Meine Kollegin
hat es angesprochen: Für die Angehörigen der Opfer, der
Toten des Kunduz-Angriffes - Sie sprachen von einem
„verantwortungsvollen Handeln“ der Bundesregierung,
Herr Beyer - gab es eine Entschädigung von 5 000 USDollar. Das darf ja wohl nicht wahr sein. Sie verstecken
sich hinter Gerichtsbeschlüssen. Das ist wirklich beschämend. Das ist keine menschenwürdige Unterstützung für
die Hinterbliebenen.
({6})
Warum übernehmen Sie eigentlich keine Verantwortung für den schmutzigen Drogenkrieg, den die USA in
der Grenzregion Pakistan/Afghanistan, und übrigens
auch in Afrika, führen? Er wird auch von deutschem Boden aus geführt, nämlich von den US-Kommandozentralen AFRICOM und EUCOM in Stuttgart. Das könnten
Sie hier unterbinden. Ich frage mich, warum diese Einrichtungen nicht längst geschlossen worden sind; denn
sie sind verantwortlich für diesen schmutzigen Krieg
und den Tod von Hunderten von Zivilisten in Afghanistan und Pakistan.
({7})
Die Linke fordert einen vollständigen Abzug aus Afghanistan und keine dauerhafte Besatzung mit US-Truppen von bis zu 10 000 Soldaten über Jahre hinweg, wie
das geplant ist. Man spricht vom Jahr 2024, und falls es
die Sicherheitssituation erfordert, auch noch über diesen
Zeitraum hinaus. Wir wollen einen vollständigen Abzug
aus Afghanistan und keine dauerhafte Besatzung. Wir
wollen, dass afghanische Friedenskräfte, die eine mutige
Arbeit machen, aber bislang wenig unterstützt werden,
endlich die Unterstützung bekommen, die sie benötigen.
Danke.
({8})
Als Nächstem erteile ich das Wort dem Kollegen
Henning Otte, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Heute beraten wir im Deutschen Bundestag zum letzten
Mal die Mandatierung des Bundeswehreinsatzes im
Rahmen der ISAF. Der Kampfeinsatz der Bundeswehr
zusammen mit vielen Nationen zur Befriedung Afghanistans wird Ende 2014 beendet sein.
Bevor man ein Fazit aus ISAF zieht, sollten wir uns
vergegenwärtigen, dass der Gesamteinsatz für die Sicherheit Afghanistans noch lange nicht zu Ende sein
wird.
({0})
Die internationale Gemeinschaft ist bereit, weiterhin einen Beitrag zur Stabilisierung zu leisten - sofern das
Land Afghanistan dies will, sofern die Bedingungen für
die deutschen Soldaten stimmen und sofern die USA als
unsere Partner dies leisten wollen.
Was wäre wohl aus diesem Land und der gesamten
Region geworden, wenn die internationale Gemeinschaft
nicht bereit gewesen wäre, Verantwortung zu tragen?
Frau Hänsel, Sie haben von Besatzung gesprochen.
Überlegen Sie bitte: Was war denn mit den Steinigungen
in den Stadien?
({1})
Was war denn mit den Anschlägen in New York mit den
vielen Toten? Die nehmen Sie offensichtlich billigend in
Kauf. Das ist beschämend.
({2})
Der internationale Terrorismus hätte Deutschland weiterhin bedroht. Der Beitrag der Bundeswehr und der alliierten Streitkräfte hat zu einer Befriedung Afghanistans
und damit zur Stärkung der Sicherheit auch Deutschlands beigetragen. Das ist ein Erfolg.
Wir danken dafür unseren Soldatinnen und Soldaten.
Wir danken dafür den Polizisten und auch den zivilen
Helfern aus Deutschland, die bereit waren, für die Sicherheit unseres Landes diesen sehr herausfordernden
Dienst zu leisten.
({3})
Herr Kollege Otte, der Kollege Ströbele hat den
Wunsch nach einer Zwischenfrage bzw. einer Zwischenbemerkung. Wollen Sie das zulassen?
Ich würde gerne mit meiner Rede fortfahren, Herr
Präsident.
Viele Fortschritte - die sollte sich Herr Ströbele erst
anhören ({0})
sind in diesem Land erzielt worden. Beispielsweise
wurde im deutschen Zuständigkeitsbereich ein Flughafen als Lebensader gebaut. Freie Parlamentswahlen stehen unmittelbar bevor. Das Land Afghanistan ist, so wie
von unserer Bundeskanzlerin Angela Merkel gefordert,
bereit zur Übernahme der Verantwortung für das eigene
Land.
Wir können feststellen, dass sich die Situation in Afghanistan grundlegend verbessert hat. Das haben gestern
im Verteidigungsausschuss nicht zuletzt die Ausführungen des zuständigen deutschen Generals im Regional
Command North mehr als verdeutlicht. Aus dem Ansatz
der vernetzten Sicherheit, der von Deutschland aus in
der NATO und damit auch in Afghanistan implementiert
worden ist, ist eine weitgehend selbsttragende Sicherheitsstruktur entstanden, die von den Afghanen nun
selbst permanent weiterentwickelt werden muss. Sie
wollen diese Sicherheitsstruktur auch weiterentwickeln.
Die Menschen in Afghanistan sind nicht zuletzt durch
die Unterstützung Deutschlands in die Lage versetzt
worden, ihr Leben selbst zu gestalten. Das ist ein Fortschritt. Diesen Fortschritt müssen wir weiter begleiten.
Es geht darum, dass ein Land, das zu scheitern und zu
zerfallen drohte, befähigt wird, eigene starke und belastbare Staatsstrukturen zu schaffen - auch ein Gewaltmonopol -, die Wachstum und Fortschritt ermöglichen. Einen wesentlichen Beitrag dazu hat die Bundeswehr
geleistet: mit Profession, mit Motivation, ja, auch mit
Leidenschaft. Leider mussten wir auch Opfer bringen.
Ich denke gerade in dieser Stunde auch an die 55 Gefallenen und deren Familien. Wir werden sie nicht vergessen.
({1})
Sie sind uns gleichsam Mahnung und Verpflichtung,
wenn es um die zukünftige deutsche Sicherheitspolitik
geht. Wir müssen uns zukünftig stärker von vornherein
darüber klar werden, wo und wofür wir uns engagieren.
Diplomatie und Entwicklungshilfe müssen immer Vorrang vor militärischen Mitteln haben. Aber wenn Soldaten eingesetzt werden, dann müssen die Handlungsanweisungen klar und am Auftrag orientiert sein. Auch
hier haben wir gelernt.
Die Einsätze auf dem Balkan, aber vor allem die Einsätze in Afghanistan haben aus der Armee der Einheit
eine Armee im Einsatz gemacht. Die Ausrüstung ist mit
großer Kraftanstrengung auf ein Niveau gebracht worden, welches auch den internationalen Vergleich nicht zu
scheuen braucht. Hier sind wir top.
In diesem Zusammenhang möchte ich von einem
Truppenbesuch im letzten Jahr in Afghanistan berichten.
Wir wurden von dem militärischen Seelsorger gebeten,
am Ehrenhain für gefallene Soldaten eine Kerze anzuzünden. Die Kollegin der Linken hat dies verweigert.
Ungeachtet der Leistungen und der Opfer, die unsere
Soldaten für die Sicherheit und den Schutz unserer Bürgerinnen und Bürger erbracht haben, sieht sich die Fraktion Die Linke nicht in der Lage, Menschlichkeit und
Anteilnahme zu zeigen.
({2})
Stattdessen bedienen Sie sich auch heute um Ihrer selbst
willen Klischees. Damit erhalten Sie sich offensichtlich
eine feste Wählerstruktur.
({3})
Sie sind als Linke nicht in der Lage, Verantwortung für
unser Land zu tragen.
({4})
Die Bundeswehr ist in der Lage, der Politik die Mittel
und Fähigkeiten zur Verfügung zu stellen, die für Einsätze im Sinne einer vernetzten Sicherheit je nach Intensität und zeitlicher Dauer erforderlich sind. Das ist
exemplarisch in Afghanistan zu sehen: Wir bilden beispielsweise ANA-Kräfte aus, es gibt Kampfeinsätze, es
gibt aber auch begleitende Schulungen für die Sicherheitskräfte. Um der Politik diese Möglichkeiten an die
Hand zu geben, muss die Bundeswehr auch zukünftig
über das gesamte Spektrum der Fähigkeiten verfügen.
Das ist der Grund, warum die Neuausrichtung der Bundeswehr an dem Ordnungsmerkmal „Breite vor Tiefe“
ausgerichtet ist. Diese Ausrichtung erfolgt anhand der siHenning Otte
cherheitspolitischen Notwendigkeit, der sicherheitspolitischen Realität und des sicherheitspolitischen Anspruchs.
Deutschland profitiert wie vielleicht kein anderes
Land von der freien Welt. Wir müssen bereit sein, uns
dafür einzusetzen, dass die Welt so frei und so gut es
geht auch sicher bleibt. Daher bin ich den Rednern, insbesondere unserem Bundespräsidenten, unserer Verteidigungsministerin und unserem Bundesaußenminister, für
die Worte bei der Sicherheitskonferenz in München
dankbar.
Das Prinzip der Rahmennation hat sich bewährt und
spiegelt sich in der zukünftigen Struktur der Bundeswehr
wider, die wir entsprechend weiterentwickeln wollen.
Wir haben ein sehr tragfähiges Gleichgewicht zwischen
sicherheitspolitischer Verantwortung und finanzieller
Reichweite erreicht. Wir haben die richtigen politischen
und strukturellen Schlüsse gezogen. Es hat sich auch gezeigt: Die Menschen in Deutschland verstehen den Einsatz der Bundeswehr, wenn wir ihnen mit Klarheit und
Wahrheit erklären, warum und wo unsere Streitkräfte
eingesetzt sind.
({5})
Wir haben am KFOR-Einsatz gesehen, dass die Einsätze nicht als beendet erklärt werden können, ehe nicht
alle Soldaten wieder nach Hause, zurück in unser Land
gekommen sind. In diesem Sinne müssen die zukünftigen Mandate für Afghanistan sorgfältig an der tatsächlichen Lage ausgerichtet sein. Das vorliegende Mandat erfüllt diesen Anspruch. Daher wird die CDU/CSUFraktion zustimmen.
Herzlichen Dank.
({6})
Wir werden jetzt noch zwei Kurzinterventionen hören, bevor wir in der Debatte fortfahren. Kollege Otte,
Sie haben die Möglichkeit, auf diese zu reagieren.
Als Erstes hat der Kollege Hans-Christian Ströbele
das Wort zu einer Kurzintervention.
({0})
Danke, Frau Präsidentin. - Ich habe mich gemeldet,
Herr Kollege Otte, weil das Ziel, der Sinn, der Zweck
dieses Kriegseinsatzes der Bundeswehr nicht nur von
den verschiedenen Rednern unterschiedlich dargestellt
worden ist, sondern in Ihrem Beitrag sogar gewechselt
hat. Geht es beim Kriegseinsatz der Bundeswehr dort darum, die Konsequenzen aus dem 11. September 2001 zu
ziehen - das ist lange her -, oder geht es darum, Straßen
und Brücken zu bauen, oder geht es darum, freie Wahlen
zu ermöglichen? Zu all dem findet sich in dem ursprünglichen Auftrag der UNO überhaupt nichts.
Ich bin ja von Anfang an dabei und kenne auch die
Debatten seit dem November 2001. Deshalb habe ich
eine Frage. Diese Frage wollte ich Ihnen während Ihrer
Rede stellen; jetzt mache ich es im Rahmen einer Kurzintervention. Wir stimmen hier nicht über ein Abzugsmandat ab. Wir stimmen hier heute in der namentlichen
Abstimmung über die Fortsetzung des Kriegsmandates
ab. Soll weitere zehn Monate wie bisher in Afghanistan
Krieg geführt werden? Das heißt, werden weiterhin gezielte Tötungsaktionen, sei es durch US-Drohnen im
deutschen Verantwortungsbereich, sei es durch Kommandounternehmen im deutschen Verantwortungsbereich - möglicherweise mit deutscher Beteiligung -, und
andere kriegerische Einsätze durchgeführt? Darum geht
es hier. Für einen Abzug brauchen Sie kein Bundestagsmandat.
({0})
Die deutschen Soldaten können jederzeit abziehen, wenn
der Krieg zu Ende ist oder das Ende des Krieges erklärt
wird.
Das heißt, wir müssen uns darüber im Klaren sein: Jeder, der hier für dieses Mandat stimmt, übernimmt die
Verantwortung für die Tötung weiterer Menschen, Zivilisten, Angehöriger der afghanischen Sicherheitskräfte,
aber auch der deutschen Bundeswehr oder anderer
NATO-Streitkräfte, im deutschen Verantwortungsbereich. Das ist die Frage, um die es jetzt geht. Es darf
nicht darum herumgeredet werden. Die Verteidigungsministerin, die ja bezeichnenderweise hier heute nicht
dazu spricht, hat zu keinem Zeitpunkt gesagt, was es eigentlich bedeutet, dass wir den Krieg dort jetzt noch
weitere zehn Monate fortführen, obwohl wir wissen,
dass der Krieg verloren ist. Für die weiteren Tötungen,
die dort stattfinden, gibt es damit überhaupt keine Berechtigung.
({1})
Sie haben das Wort zur Erwiderung.
Sehr geehrter Herr Ströbele, es handelt sich hierbei
nicht um einen Kriegseinsatz. Ich empfinde auch Ihr Vokabular angesichts des Fortschritts dort und der Sorge
um das Wohl der Menschen in Afghanistan als völlig unakzeptabel.
({0})
Dieses Mandat basiert auf einem Beschluss der Vereinten Nationen; er wird von vielen Nationen getragen.
Ich möchte sagen: Zwei Dinge unterscheiden uns,
glaube ich, ganz besonders von Ihnen. Wir setzen uns
weiterhin für die Sicherheit in einer freien Welt ein, und
wir - im Gegensatz zu Ihnen - würden die Menschen
dort nicht im Stich lassen.
({1})
Zu einer weiteren Kurzintervention hat die Kollegin
Christine Buchholz das Wort.
Herr Otte, Sie wissen ganz genau, dass meine Kollegin auf der Delegationsreise nach Afghanistan an der
Gedenkveranstaltung teilgenommen hat. Das ist auch
richtig so; denn die Linke trauert selbstverständlich um
jeden einzelnen Soldaten, der in Afghanistan zu Tode
gekommen ist.
({0})
Allerdings messen wir nicht mit zweierlei Maß. Wir
trauern genauso um die Soldatinnen und Soldaten, die
im Einsatz auf Ihre politische Entscheidung hin ihr Leben lassen oder traumatisiert, an Seele oder Körper verwundet nach Hause kommen, wie wir auch um die Menschen trauern, die als Zivilistinnen und Zivilisten in
Afghanistan gestorben sind - durch ISAF, durch die
Bundeswehr. Deswegen haben wir uns selbstverständlich auch an den Gesprächen über ein Gedenken für die
gestorbenen Soldaten beteiligt.
({1})
Gleichzeitig sagen wir aber auch: Wir beteiligen uns
nicht an einer Zweiteilung dieses Gedenkens. Wir wollen, dass derer, die den Einsatz durchführen, und der zivilen Opfer gleichermaßen gedacht wird. Wir nehmen
zur Kenntnis, dass unsere Vorschläge, beispielsweise der
Vorschlag, hier im Bundestag eine Gedenkveranstaltung
für die Opfer von Kunduz durchzuführen, von Ihnen
vom Tisch gewischt wurden. Von daher: Versuchen Sie
nicht, uns so darzustellen, als gingen die Opfer unter
denjenigen, die letztendlich die politischen Entscheidungen, die Sie hier vorbereiten, ausführen, an uns vorbei!
Auch wir möchten, dass die Soldatinnen und Soldaten
unversehrt bleiben. Das Beste ist, Sie holen sie zurück,
und zwar sofort. Dann wird nämlich niemand weiter
traumatisiert, und dann wird auch niemand weiter zu
Tode kommen.
({2})
Kollege Otte, Sie haben das Wort.
Sehr geehrte Frau Buchholz, die Dauer Ihrer Kurzintervention zeigt, dass Sie nach Argumenten dafür suchen, warum es Ihnen in Ihren Reden nicht gelungen ist,
deutlich zu machen, dass auch Sie für gefallene deutsche
Soldaten Trauer empfinden,
({0})
und dass es Ihnen unangenehm ist, dass ich dies angesprochen habe.
({1})
Das mag so sein. Aber die deutsche Öffentlichkeit muss
erfahren, in welcher politischen Ecke Sie stehen.
({2})
Bevor wir mit der Debatte fortfahren, bitte ich die
schon zahlreich erschienenen Kolleginnen und Kollegen, Platz zu nehmen und dafür zu sorgen, dass wir auch
den weiteren Rednerinnen und Rednern mit der notwendigen Aufmerksamkeit folgen können. Sie können mir
glauben: Wir haben hier im Saal für jeden Kollegen und
für jede Kollegin einen Stuhl.
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege Uwe Kekeritz das Wort.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
In der letzten Woche hat Entwicklungsminister Müller
hier Stellung bezogen. Um es ehrlich zu sagen: Bei sehr
vielen Themen ist Herr Müller sehr klar. Beim Thema
Afghanistan war er meines Erachtens ziemlich konturlos.
({0})
In Anbetracht der schwierigen Lage in Afghanistan
wäre es aber zwingend notwendig, dass sich der Entwicklungsminister klar und deutlich positioniert. Der
Minister müsste belegen, dass sich die Bundesregierung
kohärent, abgestimmt und intensiv auf die Zeit nach dem
Truppenabzug vorbereitet. Hierfür gibt es verschiedene
Szenarien. - Herr Minister, ich habe Sie nicht gesehen;
sonst hätte ich Sie direkt angesprochen. - Es eilt; denn
nicht nur der aktuelle Fortschrittsbericht zeigt, wie viel
zu tun bleibt.
Nur zwei Beispiele: Die Zahl der Binnenflüchtlinge
ist inzwischen auf über 600 000 angestiegen. Der Drogenanbau und der Drogenhandel greifen um sich wie nie
zuvor. Wir alle kennen natürlich die weiteren Probleme,
die wir gemeinsam mit den Menschen vor Ort strukturiert und vor allen Dingen geplant angehen müssen.
Heute rächt sich, dass die von uns seit Jahren gestellte
Forderung nach einer unabhängigen Evaluierung des zivilen Engagements in Afghanistan schlicht ignoriert
wurde. Die möglichen Erkenntnisse einer qualifizierten
Evaluation würden sich in der zukünftigen Zusammenarbeit mit Afghanistan sehr schnell auszahlen.
({1})
Die Weigerung, eine solche Evaluierung heute durchzuführen, halte ich, Herr Minister, für einen ganz großen
Fehler.
({2})
Anstatt zu evaluieren, plant das BMZ eine Kurzstudie
zu Evaluierungsoptionen. Vielleicht ist ein Fachmann
oder eine Fachfrau da, der bzw. die erklären kann, was
das bedeutet. Was auch immer da herauskommen soll,
eine Kurzstudie kann nicht die Grundlage der Arbeit
nach dem Abzug in Afghanistan liefern. Es scheint so,
als ob das BMZ die Bedeutung von Evaluierungen noch
nicht begriffen hat. Wer darauf verzichtet, erhöht das Risiko eines entwicklungspolitischen Fehlschlages. So etwas dürfen und wollen wir uns einfach nicht leisten.
({3})
Der Verzicht auf Evaluierung ist unprofessionell. Herr
Müller, nehmen Sie den gewaltigen Umbruch, der uns in
Afghanistan im Herbst bevorsteht, sehr ernst und lassen
Sie sich bitte auch diesbezüglich nicht falsch beraten!
Gleiches gilt für die Sicherheit der zivilen Kräfte.
Herr Minister Müller, Sie haben im Spiegel angekündigt,
die zivilen Kräfte ohne militärischen Schutz vor Ort arbeiten zu lassen. KfW und GIZ sehen das allerdings
ganz anders: Beide Organisationen haben mir auf Anfrage schriftlich mitgeteilt, dass sie ohne militärischen
Schutz ihr Engagement nicht wie bisher fortsetzen können. Herr Minister Müller, ich kann Ihnen nur raten: Setzen Sie sich rasch mit Vertretern der Durchführungsorganisationen zusammen und klären Sie das!
({4})
Das muss geklärt werden, Herr Müller, nicht in fünf Monaten, sondern heute.
Viele NGOs positionieren sich übrigens ganz anders
als KfW und GIZ: Die Deutsche Welthungerhilfe, Misereor und die EKD teilen mir mit, dass sie auf jeden Fall
wie bisher weiterarbeiten werden und dass sie auch in
Zukunft keinerlei Arbeitsbeziehung zur Bundeswehr
bzw. NATO wünschen.
({5})
Das sind Beispiele, die deutlich machen, wie notwendig Vorbereitung und kohärente Abstimmung in den
Ministerien für diese Zukunftsaufgabe sind und wie
wichtig es ist, gemeinsam mit der Zivilgesellschaft eine
Strategie für Afghanistan zu entwickeln. In Afghanistan
müssen wir zeigen, was internationale Verantwortung
für uns bedeutet: mehr Diplomatie, mehr ziviles Engagement, mehr kohärente und mit anderen Staaten abgestimmte Entwicklungszusammenarbeit. Herr Minister,
Sie sind in der Verantwortung; wir werden Sie da nicht
rauslassen.
Danke schön.
({6})
Die Kollegin Julia Bartz hat für die CDU/CSU - ({0})
- Es tut mir leid: Mir ist keine Kurzintervention angezeigt worden; dann kann ich das auch nicht erahnen.
({1})
- Bei mir ist nichts angemeldet.
({2})
- Ich danke dem Fraktionsvorsitzenden der Unionsfraktion, dass er gerade die Arbeit des Parlamentarischen
Geschäftsführers übernommen hat.
Bevor ich das Wort zur Kurzintervention erteile, mache ich darauf aufmerksam, dass wir selbst ohne Kurzintervention noch circa 13 Minuten Debattenzeit haben. Es
gibt also keine Veranlassung, jetzt hier auf dem Sprung
zu stehen. Nehmen Sie bitte Platz, liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sollten Sie der Debatte nicht folgen können
oder wollen, führen Sie notwendige Gespräche bitte außerhalb des Saales, sodass wir hier auch allen Beiträgen
folgen können.
({3})
Das gilt ausnahmslos für alle Fraktionen hier im Hause. Machen Sie es Ihren Fraktionsvorsitzenden und Ihren
Parlamentarischen Geschäftsführern doch bitte nicht so
schwer.
({4})
- Hinten in den Reihen der Fraktion Die Linke stehen
auch noch zwei.
({5})
- Die Zusammenarbeit zwischen Frau Wawzyniak und
Herrn Kauder funktioniert schon. Ich nehme an, dass
Frau Wawzyniak ihm demnächst behilflich ist, auch
noch die Kollegen in den Reihen der Unionsfraktion
zum Hinsetzen zu bewegen.
Ich erteile das Wort zur Kurzintervention.
Vielen Dank, Frau Präsidentin! Ich mache es auch
ganz kurz, meine Damen und Herren. Nachdem ich eben
mehrfach angesprochen wurde und hier in dem sehr relevanten Bereich der Sicherheit Vorwürfe in den Raum gestellt wurden - dass wir die Sicherheit der Partnerorganisationen, der GIZ, der Deutschen Welthungerhilfe oder
der vielen anderen, die in Afghanistan großartige Arbeit
leisten, nicht ausreichend berücksichtigen würden -,
muss ich richtigstellen: Die Sicherheit - der Soldatinnen
und Soldaten wie der Kolleginnen und Kollegen der Entwicklungszusammenarbeit - hat für uns selbstverständlich oberste Priorität. Die ISAF und die Soldatinnen und
Soldaten haben hier in den vergangenen Jahren großartige Arbeit geleistet. Die Zusammenarbeit war sehr gut
und reibungslos.
Es gibt selbstverständlich ein Konzept der vernetzten
Sicherheit zwischen dem Außenministerium, dem Verteidigungsministerium und dem Entwicklungsministerium. Auf diesem Konzept bauen wir auf und werden
wir die Zusammenarbeit fortsetzen.
Wir alle haben klargestellt, dass wir Karzai und die
Regierung auffordern, das Sicherheitsabkommen mit
den Vereinigten Staaten zu unterzeichnen. Ich habe aber
auch gesagt - und das sage ich jetzt auch hier noch einmal -: Die Entwicklungsarbeit hat vor ISAF begonnen,
und sie wird auch nach ISAF fortgeführt werden, unabhängig davon, wie die Entscheidungen im militärischen
Bereich aussehen werden und wie sich Karzai und die
Afghanen aufstellen. Sie wird es auch danach geben; sie
ist ein unabhängiger Beitrag zur Stabilisierung der Lage
in Afghanistan.
Auch dafür gibt es natürlich ein Sicherheitskonzept,
das so auf die Gefährdungslage abgestellt ist, dass - ich
sage es einmal so - die Sicherheit der zivilen Helfer in
Afghanistan gewährleistet ist. Das ist sehr wichtig.
Herzlichen Dank.
({0})
Kollege Kekeritz, Sie haben die Möglichkeit, dem
Kollegen Müller zu antworten.
Herr Minister, danke für Ihre Antwort. - Ich habe
nicht gesagt, dass Sie gar nichts tun. Darum geht es
nicht. Ich habe Sie aufgefordert, das Verfahren, das Sie
in Zukunft anwenden wollen, transparent zu machen und
vor allen Dingen auch mit der NGO-Szene zu besprechen.
Sie werden ja sicherlich nicht nur ein Szenario vorbereiten. Kein Mensch weiß, wie es im November, im Dezember und in den darauf folgenden Monaten in Afghanistan ausschauen wird. Sie werden also mindestens drei
Szenarien vorbereiten müssen. Diese müssen bitte schön
nicht nur zwischen den Ministerien, zwischen dem
BMZ, dem Verteidigungsministerium und dem Außenministerium, sondern vor allen Dingen auch mit der
NGO-Szene abgesprochen sein. Das ist ein ganz wichtiges Kriterium, das Sie erfüllen sollten. Dafür ist die Zeit
jetzt nicht mehr sehr lang. Hier müssen Sie in die Puschen kommen.
({0})
Ihre Aussage, dass das Konzept der vernetzten Sicherheit großartig und erfolgreich war, wage ich zu bezweifeln. Es war kein vollkommener Fehlschlag, aber es
ist doch so, dass viele NGOs heute sagen: Das war der
falsche Ansatz. Für uns wäre ein anderer Ansatz richtiger gewesen.
Um in Zukunft solche Probleme zu vermeiden, bitte
ich um Transparenz, und zwar sehr schnell.
Danke schön.
({1})
Die Kollegin Julia Bartz hat nun für die CDU/CSUFraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen
und Kollegen! Heute und vergangene Woche haben wir
hier im Hohen Hause über die vielen positiven Entwicklungen, die ISAF bewirkt hat, gesprochen.
Den Menschen in Afghanistan geht es heute zum
überwiegenden Teil deutlich besser als vor zwölf Jahren.
Die Kindersterblichkeit hat sich halbiert, die Lebenserwartung hat sich erhöht, und das Bruttoinlandsprodukt
hat sich binnen zehn Jahren verdoppelt. Für mehrere
Millionen Menschen gibt es neue Straßen und Brücken,
Stromversorgung, Trinkwasser und Internetanschlüsse.
Im afghanischen Parlament sitzen 28 Prozent Frauen.
Bei den Provinzratswahlen im April treten über
300 Frauen an.
({0})
Unter den 200 000 ausgebildeten Lehrkräften sind
61 000 Frauen. Während 2001 nur knapp 1 Million Jungen in Afghanistan zur Schule gingen, lernen heute
9,2 Millionen afghanische Schulkinder Lesen und
Schreiben - darunter 39 Prozent Mädchen.
Auch wenn es im Bereich der Frauenrechte in Afghanistan noch großen Verbesserungsbedarf gibt: Hier
wächst eine gebildete und vielversprechende Generation
heran, die eines Tages Verantwortung in ihrem Land
übernehmen muss.
({1})
Die junge Generation, die mit Unterstützung der
ISAF heranwächst, gibt Anlass zur Hoffnung. Trotzdem
zeigt uns der Fortschrittsbericht der Bundesregierung
viele Bereiche auf, die aktuell und auch in Zukunft eine
große Herausforderung bedeuten und unsere Anwesenheit weiterhin sinnvoll machen. Die aktuelle Lage entspricht sicherlich nicht in allen Bereichen den Zielen, die
wir mit unseren Verbündeten auf dem gemeinsamen
Weg formuliert haben. Nicht immer haben wir die EreigJulia Bartz
nisse treffend beurteilt. Mitunter haben wir, daraus ableitend, Ziele zu hoch gesetzt, auch wenn wir viel erreicht
haben.
Deutschlands historisch gewachsene Erfahrung in
Afghanistan und die noch 2001 bestehenden institutionellen sowie persönlichen Kontakte beschränkten sich
damals im Wesentlichen auf Kabul sowie den paschtunischen Osten des Landes. Gleichwohl ließen wir uns aufgrund der dort seinerzeit herrschenden vermeintlich
schlechteren Sicherheitslage dazu hinreißen, einer Stationierung in dem als ruhiger wahrgenommenen multiethnischen Norden zuzustimmen.
Wir setzen künftig auf eine stärkere Vernetzung. Zukünftig könnten uns auch mehr Gelassenheit bei der Lagebeurteilung und das Ertragen von zum Teil künstlich
aufgebautem Druck durch unsere Verbündeten in eine
bessere Position bringen. Genau das tun wir.
({2})
Damit meine ich, dass unsere Bündnispartner manchmal
dazu neigen, uns vorzuwerfen, wir würden uns „too
little, too late“, also übersetzt: zu langsam, zu wenig beteiligen.
({3})
Wir sind jedoch der zweitgrößte Beitragszahler in der
NATO. Andere Staaten nutzen die NATO für ihre Interessen ganz klar aus. Wir tun das nicht. Wir haben auch
innerhalb der NATO-Befehlsstruktur nicht die Posten
inne, die eigentlich unserem finanziellen Beitrag entsprechen würden.
({4})
Das liegt aber auch daran, dass wir nicht die Ersten sind
und ganz sicher auch nicht die Ersten sein wollen, die
„boots on the ground“ sofort Soldaten entsenden.
Mit „mehr Gelassenheit bei der Lagebeurteilung“
meine ich: Wir zahlen erstens unseren Beitrag, nutzen
zweitens unsere Macht nicht für unsere Zwecke aus und
haben drittens eine Parlamentsarmee. Wir entscheiden
also nicht von heute auf morgen, unsere Truppen zu entsenden, sondern wir entsenden erst, nachdem das Parlament entschieden hat.
({5})
Dass Krieg nicht erst nach Ausrufen des Verteidigungsfalles für deutsche Soldatinnen und Soldaten zur
Tagesrealität werden kann, wissen wir seit unseren Einsätzen auf dem Balkan. Wie wichtig, ja überlebenswichtig eine moderne Ausrüstung ist, mussten wir in
Afghanistan erleben. Bei unseren Rüstungs- und Ausrüstungsprojekten sollten wir stets im Blick haben, was
unseren Soldatinnen und Soldaten die bestmögliche Umsetzung ihres Auftrags bei höchster Sicherheit ermöglicht. Genau das tun wir auch.
({6})
Kommen wir dem nicht nach, werden wir zukünftig immer größere Schwierigkeiten haben, Menschen für den
faszinierenden, für die Sicherheit unseres Staates unabdingbaren, aber auch lebensgefährlichen Beruf der Soldatin oder des Soldaten zu gewinnen.
Bei der zukünftigen Formulierung konkreter Einsatzziele sollten wir stets deren Umsetzbarkeit und Erreichbarkeit vor Augen haben und diese auch entsprechend
kommunizieren. Darauf werden wir besonders achtgeben. Diese Schlüsse ziehen wir aus unserer bisherigen
Beteiligung in Afghanistan für ihre Fortsetzung sowie
für mögliche zukünftige Missionen andernorts.
Kommendes Jahr jährt sich der erste offizielle deutsche Kontakt mit Afghanistan durch die NiedermayerMission zum hundertsten Mal. In diesem vergangenen
Jahrhundert hat Deutschland über viele Jahre hinweg zu
den Stämmen am Hindukusch Kontakt gehalten, die wir
heute als Afghanistan kennen, die wir aber in unserer
Wahrnehmung - stark verkürzt - erst seit 2001 betrachten.
Lange Zeit waren wir in der Entwicklungs- und Wirtschaftshilfe in Afghanistan tätig. Wir wollen diese alte
freundschaftliche Verbundenheit zum afghanischen Volk
fortsetzen. Bundesminister Gerd Müller hat dazu vergangene Woche den Fahrplan für 2015 und darüber hinaus
aufgezeigt. Bis 2016 werden wir bis zu 430 Millionen
Euro pro Jahr in die wirtschaftliche, soziale und politische Entwicklung Afghanistans investieren. Das ist
wichtig und richtig, meine sehr verehrten Damen und
Herren.
({7})
Ich darf daran erinnern: Fast auf den Tag genau heute
vor 25 Jahren verließ die Rote Armee Afghanistan, nach
neun Jahren Besatzung, die sie selbst als Hilfe deklariert
hatte. Sie ließ das afghanische Volk im Stich.
({8})
Die Folgen waren Bürgerkrieg, Unsicherheit und hunderttausendfacher Tod.
Diesen Fehler sollten wir nicht wiederholen, und das
werden wir auch nicht. Unsere Aufgabe in Afghanistan
ist noch nicht beendet. Es ist auch unsere moralische
Pflicht, den Prozess der vollständigen Übergabe der
Sicherheitsverantwortung an die 350 000 afghanischen
Sicherheitskräfte geordnet zu Ende zu führen.
({9})
Damit schaffen wir die Voraussetzung, dass sich das
Erreichte manifestiert und darauf aufbauend dem afghanischen Volk eine gute Zukunft ermöglichen kann. Diesen Prozess möchten wir auch über 2014 hinaus begleiten. Innerhalb der NATO planen wir dazu eine
Ausbildungs-, Beratungs- und Unterstützungsmission.
Kollegin Bartz, achten Sie auf die Zeit? Sonst geht
das auf Kosten der Kollegin Pfeiffer.
Ich komme zum Schluss. - Sehr geehrte Damen und
Herren, mit meinem Werben für eine Verlängerung des
Mandats würdige ich insbesondere den unermüdlichen
Einsatz unserer Soldatinnen und Soldaten, aber auch den
unserer zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Mit
größtem Engagement und unter größten Strapazen für
sie selbst und ihre Familien haben sie in Afghanistan ein
Umfeld geschaffen, in dem sich wie schon in den 20er-,
60er- und 70er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts
erste Erfolge bei Sicherheit, Freiheit und Selbstbestimmung entwickeln konnten.
Es gilt, diesen Erfolg gerade nach den von uns selbst
gemachten Erfahrungen in Afghanistan zukünftig abzusichern und auch der nächsten afghanischen Regierung
dabei zu helfen, den beschrittenen Weg fortzusetzen.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Sibylle Pfeiffer für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Dass ich hier stehe, hat, denke ich, Symbolcharakter.
Denn wir werden auf diese Art und Weise dokumentieren, was wir auch praktisch umsetzen: den Übergang
von militärischer Stabilisierung zur Entwicklungspolitik.
Das wird dadurch sichtbar, dass als letzte Rednerin zur
ISAF-Debatte eine Entwicklungspolitikerin redet. Das
ist nicht selbstverständlich; das wissen wir auch.
({0})
- Wir sind nicht am Ende der Kette, sondern am Anfang,
liebe Kollegin Hänsel. Denn wir Entwicklungspolitiker
kommen jetzt erst richtig in Schwung.
({1})
Davon bin ich fest überzeugt, vor allen Dingen, wenn
wir die Entwicklungspolitik so machen, wie wir sie uns
vorstellen, wie sie unser Bundesminister Müller vorgibt
und wie wir sie als Große Koalition unterstützen werden.
Machen wir uns nichts vor: Die Situation in Afghanistan wird nicht besser, jedenfalls nicht sofort. Denn in
nächster Zeit werden wir erst einmal schwierige Zeiten
zu bestehen haben. Das eine ist nämlich, dass Afghanistan vor Wahlen steht. Was das in Afghanistan heißt, wissen wir nicht. Die Afghanen wählen einen neuen Präsidenten für ihr Land. Wir wissen definitiv jetzt schon,
dass es nicht bei einem einzigen Wahlgang bleiben wird.
Das heißt, es wird zu einer Stichwahl kommen müssen,
und es wird ein Machtvakuum geben.
Die Frage ist: Welche Kräfte haben mittlerweile auf
die Wahl eingewirkt? Wie demokratisch wird diese
Wahl? Welche terroristischen Kräfte wie die Taliban und
andere haben darauf eingewirkt? Es kann unter Umständen sein, dass es ein relativ großes Machtvakuum geben
wird, was ich uns nicht wünsche, weil es unsere Arbeit
erschweren und die Arbeit der Entwicklungspolitik stören würde. Es wäre für die Zukunft Afghanistans mit Sicherheit nicht hilfreich.
Das Zweite wird sein, dass wir mit unseren Truppen
peu à peu aus Afghanistan abziehen. Parallel dazu brauchen wir dann das bilaterale Sicherheitsabkommen. Im
Gegensatz zu Ihnen, lieber Herr Gehrcke, Kollege
Kekeritz und Herr Ströbele, fordern wir den Einsatz der
Regierung nicht nur dann, wenn es darum geht, unsere
Hilfskräfte zu unterstützen und zu schützen. Vielmehr ist
es Aufgabe auch von uns Parlamentariern, unsere Entwicklungshelfer vor Ort nicht im Stich zu lassen, sie zu
unterstützen und zu schützen. Das ist die zweite große
Aufgabe, die wir zu erledigen haben und die wir als Parlamentarier auch gerne erledigen wollen.
Wenn es nun zu einer instabilen Lage in Afghanistan
kommt: Was ist dann zu tun? Was ist zu tun, wenn die
Wahl nicht demokratisch abläuft? Was passiert, wenn
irgendwelche terroristischen Gruppierungen die Wahl
torpedieren? Wir müssen von uns aus die Regierung unterstützen und für Klarheit in der Zusammenarbeit sorgen. Wir müssen das von uns aus in die Hand nehmen.
Wir müssen mit den Afghanen die Rahmenbedingungen
schaffen, die wir schon in Tokio vereinbart haben. Es
geht darum, dass die Afghanen selber Verantwortung
übernehmen. Daran müssen wir sie erinnern. Die Afghanen müssen aber nicht nur für ihre eigene Sicherheit,
sondern auch für die Sicherheit unserer Entwicklungshelfer, Unterstützer und Experten Verantwortung übernehmen.
Wir sehen aber noch offene Baustellen in Afghanistan. Eine davon stellt für meine Begriffe das größte Entwicklungshemmnis dar: die Korruption. Wir müssen als
Parlamentarier und Regierungsmitglieder darauf hinweisen, dass wir Korruption ablehnen und dass dagegen etwas getan werden muss.
({2})
Denn Korruption hemmt eine positive Entwicklung und
schadet den Afghanen vor Ort. Auch wir tun uns schwer,
die Entwicklungszusammenarbeit in Afghanistan zu
rechtfertigen, wenn es dort Korruption gibt. Schließlich
sind wir unseren Steuerzahlern verpflichtet. Natürlich
stellt sich grundsätzlich die Frage, ob wir mit korrupten
Regierungen zusammenarbeiten sollen. Nein, das tun
wir nicht. Deshalb müssen wir Bedingungen stellen und
ihre Einhaltung einfordern. Erst dann können wir eine
ordentliche Aufbauarbeit leisten.
({3})
Wir wollen zum Wohle aller Afghanen, dass die Menschenrechte und insbesondere die Frauenrechte in
Afghanistan eingehalten werden. Wir wollen ein Land
ohne Terror und Unterdrückung. Wir wollen den Menschen Perspektiven durch eine funktionierende Wasser-,
Energie- und Gesundheitsversorgung sowie Bildungsmöglichkeiten geben. Deshalb engagieren wir uns für
die Afghanen. Sie haben unsere Unterstützung verdient.
Wir sagen sie ihnen zu und freuen uns auf die Zusammenarbeit mit ihnen.
Vielen Dank.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Druck-
sache 18/602 zu dem Antrag der Bundesregierung auf
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher
Streitkräfte an dem Einsatz der Internationalen Sicher-
heitsunterstützungstruppe in Afghanistan unter Führung
der NATO. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung, den Antrag auf Drucksache 18/436
anzunehmen. Wir stimmen nun über die Beschlussemp-
fehlung namentlich ab.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die
vorgesehenen Plätze einzunehmen. Während dies ge-
schieht, mache ich darauf aufmerksam, dass mir mehrere
Erklärungen nach § 31 unserer Geschäftsordnung vorlie-
gen, die wir entsprechend unseren Regeln zu Protokoll
nehmen.1)
Sind alle Schriftführerinnen und Schriftführer an Ih-
rem Platz? - Das ist der Fall. Ich eröffne die namentliche
Abstimmung über die Beschlussempfehlung.
Vorsorglich bitte ich schon einmal die Kolleginnen
und Kollegen, die an unseren weiteren Beratungen nach-
her nicht teilhaben wollen, uns den Blick in den Saal
freizumachen, damit wir nach Abschluss dieser Abstim-
mung den nächsten Tagesordnungspunkt geordnet aufru-
fen und abwickeln können.
Gibt es noch ein Mitglied des Hauses, welches seine
Stimme nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall. Ich
schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerin-
nen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen.
Das Ergebnis der namentlichen Abstimmung wird Ihnen
später bekannt gegeben.2)
Wir sind noch immer beim gleichen Tagesordnungs-
punkt und kommen nun zur Abstimmung über die
Entschließungsanträge. Ich bitte, dem Präsidium zu er-
möglichen, die Abstimmungsergebnisse zweifelsfrei
feststellen zu können. Dieser Appell richtet sich sowohl
an die Regierungsbank als auch an die Fraktionen. Wir
kommen zum Entschließungsantrag der Fraktion Die
Linke auf Drucksache 18/608. Wer stimmt für diesen
Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Der Entschließungsantrag ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion
1) Anlagen 2 bis 6
2) Ergebnis Seite 1277 D
Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion
Die Linke abgelehnt.
Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 18/609. Wer stimmt für diesen
Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Der Entschließungsantrag ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die
Linke gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Harald
Ebner, Renate Künast, Nicole Maisch, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2001/110/EG des Rates
über Honig
KOM({0}) 530 endg.; Ratsdok. 13957/12
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes
Wahlfreiheit für Verbraucherinnen und Verbraucher herstellen - Honig mit gentechnisch
veränderten Bestandteilen kennzeichnen
Drucksache 18/578
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft ({1})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Es handelt sich um eine Überweisung im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 a bis 22 i auf.
Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen,
zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 22 a:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Energie ({2}) zu der Verordnung der Bundesregierung
Erste Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung
Drucksachen 18/299, 18/413 Nr. 2, 18/516
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/516, die Aufhebung der Verordnung auf Drucksache 18/299 nicht zu verlangen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPDFraktion, der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen.
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz
({0})
Übersicht 1
über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht
Drucksache 18/593
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 22 c:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({1})
Sammelübersicht 7 zu Petitionen
Drucksache 18/507
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 7 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 22 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({2})
Sammelübersicht 8 zu Petitionen
Drucksache 18/508
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 8 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 22 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({3})
Sammelübersicht 9 zu Petitionen
Drucksache 18/509
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 9 ist mit den Stimmen
der Unionsfraktion und der SPD-Fraktion gegen die
Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 22 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({4})
Sammelübersicht 10 zu Petitionen
Drucksache 18/510
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 10 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 22 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({5})
Sammelübersicht 11 zu Petitionen
Drucksache 18/511
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 11 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die
Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 22 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({6})
Sammelübersicht 12 zu Petitionen
Drucksache 18/512
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 12 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die
Linke gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 22 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({7})
Sammelübersicht 13 zu Petitionen
Drucksache 18/513
Hierzu liegt mir eine Erklärung nach § 31 unserer Ge-
schäftsordnung des Kollegen Frank Tempel vor. Diese
Erklärung nehmen wir entsprechend unseren Regeln zu
Protokoll.1)
Wer stimmt für die Sammelübersicht 13? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelüber-
sicht 13 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 g sowie
den Zusatzpunkt 4 auf. Es geht um Wahlen zu Gremien.
Tagesordnungspunkt 5 a:
Wahl der Mitglieder des Kuratoriums der
„Bundesstiftung Magnus Hirschfeld“
Drucksache 18/560
Es liegen Wahlvorschläge aller Fraktionen auf Druck-
sache 18/560 vor. Wer stimmt für diese Wahlvorschläge? -
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Wahl-
vorschläge sind einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 5 b:
Wahl der Mitglieder des Stiftungsrates der
„Stiftung Berliner Schloss - Humboldtforum“
Drucksache 18/561
1) Anlage 8
Vizepräsidentin Petra Pau
Hierzu liegen Wahlvorschläge der Fraktionen CDU/
CSU, SPD und Die Linke auf Drucksache 18/561 vor.
Wer stimmt für diese Wahlvorschläge? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Wahlvorschläge sind
einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 5 c:
Wahl der Mitglieder des Beirats für Fragen
des Zugangs zur Eisenbahninfrastruktur ({8})
Drucksache 18/562
Dazu liegen Wahlvorschläge aller Fraktionen auf
Drucksache 18/562 vor. Wer stimmt für diese Wahlvorschläge? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Die Wahlvorschläge sind einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 5 d:
Wahl der Mitglieder des Verwaltungsrates bei
der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht
Drucksache 18/563
Hierzu liegen Wahlvorschläge der Fraktionen der
CDU/CSU, der SPD und der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 18/563 vor. Wer stimmt für diese Wahlvorschläge? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Die Wahlvorschläge sind einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 5 e:
Wahl der Mitglieder des Beirats zur Auswahl
von Themen für die Sonderpostwertzeichen
ohne Zuschlag beim Bundesministerium der
Finanzen ({9})
Drucksache 18/564
Dazu liegen Wahlvorschläge der Fraktionen der
CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 18/564 vor. Wer
stimmt für diese Wahlvorschläge? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Wahlvorschläge sind einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 5 f:
Wahl der Mitglieder des Rundfunkrates und
des Verwaltungsrates der Deutschen Welle gemäß der §§ 31 und 36 des Deutsche-Welle-Gesetzes ({10})
Drucksache 18/565
Hierzu liegen Wahlvorschläge der Fraktionen der
CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 18/565 vor. Wer
stimmt für diese Wahlvorschläge? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Wahlvorschläge sind einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 5 g:
Wahl der Mitglieder des Verwaltungsrates
und der Vergabekommission der Filmförderungsanstalt gemäß der §§ 6 und 8 des Filmförderungsgesetzes ({11})
Drucksache 18/566
Hierzu liegen Wahlvorschläge der Fraktionen der
CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 18/566 vor. Wer
stimmt für diese Wahlvorschläge? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Wahlvorschläge sind einstimmig angenommen.
Zusatzpunkt 4:
Wahl der Mitglieder des Beirats für die grafische Gestaltung der Sonderpostwertzeichen
beim Bundesministerium der Finanzen
({12})
Drucksache 18/567
Hierzu liegen Wahlvorschläge der Fraktionen der
CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 18/567 vor. Wer
stimmt für diese Wahlvorschläge? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Wahlvorschläge sind einstimmig angenommen.
Ich nehme an, dass ich für das gesamte Haus spreche,
wenn ich all den Kolleginnen und Kollegen, denen wir
gerade verantwortungsvolle Aufgaben übertragen haben,
im Übrigen immer einstimmig, viel Erfolg in ihrer Arbeit wünsche.
({13})
Bevor wir in der Tagesordnung fortfahren, gebe ich
Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern
ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung
bekannt: abgegebene Stimmen 599. Mit Ja haben
498 Kolleginnen und Kollegen gestimmt, mit Nein haben 84 Kolleginnen und Kollegen gestimmt, und es gab
17 Enthaltungen. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 599;
davon
ja: 498
nein: 84
enthalten: 17
Ja
CDU/CSU
Stephan Albani
Katrin Albsteiger
Peter Altmaier
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Günter Baumann
Maik Beermann
Manfred Behrens ({14})
Veronika Bellmann
Sybille Benning
Dr. Andre Berghegger
Dr. Christoph Bergner
Ute Bertram
Steffen Bilger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexandra Dinges-Dierig
Alexander Dobrindt
Michael Donth
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Vizepräsidentin Petra Pau
Hansjörg Durz
Jutta Eckenbach
Hermann Färber
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Dirk Fischer ({15})
Axel E. Fischer ({16})
Klaus-Peter Flosbach
Thorsten Frei
Dr. Astrid Freudenstein
Dr. Hans-Peter Friedrich
({17})
Michael Frieser
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Cemile Giousouf
Josef Göppel
Reinhard Grindel
Ursula Groden-Kranich
Klaus-Dieter Gröhler
Michael Grosse-Brömer
Astrid Grotelüschen
Markus Grübel
Manfred Grund
Oliver Grundmann
Monika Grütters
Fritz Güntzler
Christian Haase
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Matthias Hauer
Mark Hauptmann
Dr. Stefan Heck
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Frank Heinrich ({18})
Mark Helfrich
Jörg Hellmuth
Rudolf Henke
Ansgar Heveling
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Alexander Hoffmann
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Dr. Hendrik Hoppenstedt
Margaret Horb
Bettina Hornhues
Charles M. Huber
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Erich Irlstorfer
Thomas Jarzombek
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung ({19})
Xaver Jung
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Steffen Kanitz
Alois Karl
Anja Karliczek
Bernhard Kaster
Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Dr. Georg Kippels
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Carsten Körber
Markus Koob
Kordula Kovac
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Dr. Roy Kühne
Günter Lach
Uwe Lagosky
Dr. Karl A. Lamers
Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Barbara Lanzinger
Dr. Silke Launert
Paul Lehrieder
Dr. Katja Leikert
Dr. Philipp Lengsfeld
Philipp Graf Lerchenfeld
Dr. Ursula von der Leyen
Antje Lezius
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Andrea Lindholz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Wilfried Lorenz
Dr. Claudia Lücking-Michel
Daniela Ludwig
Karin Maag
Thomas Mahlberg
Gisela Manderla
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({20})
Dr. Michael Meister
Dr. Angela Merkel
Jan Metzler
Maria Michalk
Dr. h.c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Karsten Möring
Marlene Mortler
Elisabeth Motschmann
Carsten Müller
({21})
Stefan Müller ({22})
Dr. Philipp Murmann
Michaela Noll
Helmut Nowak
Dr. Georg Nüßlein
Wilfried Oellers
Florian Oßner
Dr. Tim Ostermann
Ingrid Pahlmann
Sylvia Pantel
Dr. Martin Pätzold
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Ronald Pofalla
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Kerstin Radomski
Alexander Radwan
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({23})
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht
Anita Schäfer ({24})
Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Annette Schavan
Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Jana Schimke
Tankred Schipanski
Heiko Schmelzle
Gabriele Schmidt ({25})
Patrick Schnieder
Nadine Schön ({26})
Dr. Ole Schröder
Dr. Kristina Schröder
({27})
Bernhard Schulte-Drüggelte
Dr. Klaus-Peter Schulze
Uwe Schummer
Armin Schuster ({28})
Christina Schwarzer
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Tino Sorge
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Dr. Wolfgang Stefinger
Albert Stegemann
Peter Stein
Erika Steinbach
Sebastian Steineke
Johannes Steiniger
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Max Straubinger
Matthäus Strebl
Karin Strenz
Thomas Strobl ({29})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Sabine Sütterlin-Waack
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Astrid Timmermann-Fechter
Dr. Hans-Peter Uhl
Dr. Volker Ullrich
Arnold Vaatz
Oswin Veith
Thomas Viesehon
Volkmar Vogel ({30})
Sven Volmering
Christel Voßbeck-Kayser
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Nina Warken
Kai Wegner
Albert Weiler
Marcus Weinberg ({31})
Peter Weiß ({32})
Sabine Weiss ({33})
Ingo Wellenreuther
Marian Wendt
Kai Whittaker
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Heinz Wiese ({34})
Elisabeth WinkelmeierBecker
Oliver Wittke
Dagmar G. Wöhrl
Barbara Woltmann
Tobias Zech
Heinrich Zertik
Emmi Zeulner
Dr. Matthias Zimmer
Gudrun Zollner
Vizepräsidentin Petra Pau
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heike Baehrens
Heinz-Joachim Barchmann
Dr. Katarina Barley
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Dr. Matthias Bartke
Sören Bartol
Dirk Becker
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding ({35})
Burkhard Blienert
Dr. Karl-Heinz Brunner
Martin Burkert
Dr. Lars Castellucci
Petra Crone
Bernhard Daldrup
Dr. Daniela De Ridder
Dr. Karamba Diaby
Sabine Dittmar
Martin Dörmann
Siegmund Ehrmann
Michaela Engelmeier-Heite
Dr. h.c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Saskia Esken
Karin Evers-Meyer
Dr. Johannes Fechner
Dr. Fritz Felgentreu
Elke Ferner
Christian Flisek
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Ulrike Gottschalck
Kerstin Griese
Uli Grötsch
Gabriele Groneberg
Bettina Hagedorn
Rita Hagl-Kehl
Ulrich Hampel
Sebastian Hartmann
Michael Hartmann
({36})
Dirk Heidenblut
Hubertus Heil ({37})
Gabriela Heinrich
Marcus Held
Wolfgang Hellmich
Dr. Barbara Hendricks
Heidtrud Henn
Gustav Herzog
Dr. Eva Högl
Matthias Ilgen
Christina Jantz
Frank Junge
Josip Juratovic
Thomas Jurk
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Christina Kampmann
Ralf Kapschack
Gabriele Katzmarek
Ulrich Kelber
Marina Kermer
Arno Klare
Lars Klingbeil
Dr. Bärbel Kofler
Birgit Kömpel
Anette Kramme
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Christine Lambrecht
Christian Lange ({38})
Steffen-Claudio Lemme
Gabriele Lösekrug-Möller
Hiltrud Lotze
Kirsten Lühmann
Caren Marks
Katja Mast
Klaus Mindrup
Bettina Müller
Michelle Müntefering
Andrea Nahles
Dietmar Nietan
Thomas Oppermann
Mahmut Özdemir ({39})
Aydan Özoguz
Detlev Pilger
Sabine Poschmann
Joachim Poß
Florian Post
Dr. Sascha Raabe
Dr. Simone Raatz
Martin Rabanus
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Andreas Rimkus
Dr. Martin Rosemann
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth ({40})
Bernd Rützel
Johann Saathoff
Annette Sawade
Dr. Hans-Joachim
Schabedoth
Marianne Schieder
({41})
Udo Schiefner
Dr. Dorothee Schlegel
Ulla Schmidt ({42})
Matthias Schmidt ({43})
Carsten Schneider ({44})
Ursula Schulte
Swen Schulz ({45})
Frank Schwabe
Stefan Schwartze
Andreas Schwarz
Dr. Carsten Sieling
Rainer Spiering
Svenja Stadler
Peer Steinbrück
Christoph Strässer
Claudia Tausend
Michael Thews
Wolfgang Tiefensee
Ute Vogt
Dirk Vöpel
Bernd Westphal
Andrea Wicklein
Gülistan Yüksel
Dagmar Ziegler
Stefan Zierke
Dr. Jens Zimmermann
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Luise Amtsberg
Kerstin Andreae
Annalena Baerbock
Volker Beck ({46})
Ekin Deligöz
Dr. Thomas Gambke
Kai Gehring
Anja Hajduk
Dr. Anton Hofreiter
Dieter Janecek
Tom Koenigs
Stephan Kühn ({47})
Renate Künast
Markus Kurth
Steffi Lemke
Dr. Tobias Lindner
Dr. Konstantin von Notz
Friedrich Ostendorff
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth ({48})
Elisabeth Scharfenberg
Dr. Gerhard Schick
Dr. Frithjof Schmidt
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Doris Wagner
Nein
CDU/CSU
Norbert Schindler
SPD
Klaus Barthel
Bärbel Bas
Marco Bülow
Dr. Ute Finckh-Krämer
Wolfgang Gunkel
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz ({49})
Cansel Kiziltepe
Daniela Kolbe
Christian Petry
Dr. Wilhelm Priesmeier
Kerstin Tack
Rüdiger Veit
Waltraud Wolff
({50})
DIE LINKE
Dr. Dietmar Bartsch
Matthias W. Birkwald
Christine Buchholz
Roland Claus
Dr. Diether Dehm
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Diana Golze
Dr. Gregor Gysi
Dr. Andre Hahn
Dr. Rosemarie Hein
Inge Höger
Sigrid Hupach
Ulla Jelpke
Susanna Karawanskij
Kerstin Kassner
Katja Kipping
Jan Korte
Jutta Krellmann
Katrin Kunert
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Cornelia Möhring
Niema Movassat
Thomas Nord
Harald Petzold ({51})
Richard Pitterle
Vizepräsidentin Petra Pau
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Azize Tank
Frank Tempel
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Dr. Sahra Wagenknecht
Halina Wawzyniak
Katrin Werner
Birgit Wöllert
Jörn Wunderlich
Hubertus Zdebel
Pia Zimmermann
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Sylvia Kotting-Uhl
Christian Kühn ({52})
Monika Lazar
Peter Meiwald
Beate Müller-Gemmeke
Corinna Rüffer
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Dr. Harald Terpe
Enthalten
SPD
Ewald Schurer
Sonja Steffen
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Katja Dörner
Katharina Dröge
Matthias Gastel
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Sven-Christian Kindler
Irene Mihalic
Özcan Mutlu
Ulle Schauws
Dr. Julia Verlinden
Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Haltung der Bundesregierung bei der Zulassung der Genmaislinie 1507 und zur Sicherstellung der Wahlfreiheit in Bezug auf gentechnikfreie Lebensmittel
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Harald Ebner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Vorab herzliche Glückwünsche an unseren neuen Minister Schmidt! - Er ist nicht da.
Was für ein Start der Großen Koalition! Nach rekordverdächtigen 59 Tagen ist der erste Minister weg, und in
der letzten Woche hat sie schon die erste historische
Chance verpasst, in Europa eine Ablehnung der Gentechnik zu erreichen.
({0})
Verpasst! Versemmelt! Auf Ihre Kappe geht es, wenn im
nächsten Jahr gentechnisch veränderter Mais auf unseren
Äckern wächst. Es ist kurios, wie Sie sich jetzt herausreden wollen. Sie tun so, als ob Ihr Abstimmungsverhalten im Rat in Brüssel keine Rolle gespielt hätte. Das Ergebnis lehrt uns anderes. 19 von 28 Staaten haben gegen
die Zulassung gestimmt. Das ist eine überwältigende
Mehrheit. Nur 50 Stimmen haben gefehlt, davon 29 von
Deutschland. Die Bundeskanzlerin war doch bei den
CO2-Grenzwerten für Pkw auch nicht zimperlich,
Deutschlands Gewicht in die Waagschale zu werfen.
Aber hier hat sie die Hände in den Schoß gelegt, um sie
hinterher in Unschuld zu waschen. Das lassen Ihnen die
Menschen in diesem Land nicht durchgehen.
({1})
Gänzlich unbeschwert kommt jetzt die CSU daher.
Ich zitiere:
Die CSU sagt klipp und klar Nein zu den GenmaisBeschlüssen der EU. … Bayern muss frei bleiben
von Gentechnik. … Was auf unseren Äckern und
Feldern angebaut wird, bestimmen wir selbst und
nicht EU-Bürokraten …
({2})
So der Bayernkurier am Samstag.
Wo sind wir denn? Sind wir bei Grimms Märchen?
Wollen Sie Ihre Kanzlerin jetzt als EU-Bürokratin abkanzeln? Sie ist doch für die Zulassung verantwortlich.
({3})
Statt wie bei Ausländermaut und Flüchtlingen Europa-Bashing zu betreiben, hätten Sie doch jetzt zu Ihrer
Verantwortung stehen und mit Ihrem Lieblingskoalitionspartner SPD einen Beschluss gegen den Genmais
herbeiführen müssen.
({4})
In Brüssel dafür, in Bayern dagegen: Das ist doch nur
noch peinlich.
({5})
Bevor Sie weiter Sprüche à la „in Bayern nicht“ klopfen, schenken Sie den Menschen doch reinen Wein ein.
Für regionale Anbauverbote gibt es doch überhaupt
keine Rechtsgrundlage. Sie gackern über ungelegten Eiern.
Aber es kommt noch besser: Für ein nationales Anbauverbot wollen ja weder der CSU-Agrarminister noch
die SPD-geführten Ministerien - Wirtschaftsministerium, Umweltministerium - die notwendigen Daten erheben. Ihnen reicht die Bewertung der EFSA. Was denn
jetzt? Sie sind gegen die Zulassung, aber für die EFSABewertung. Wer soll denn das jetzt glauben?
Schauen wir einmal auf die Fakten. Pollen der Genmaislinie 1507 sind 350-mal giftiger als die des Vetters
MON 810, der unter Kanzlerin Merkel wegen Risiken
für die Umwelt verboten worden ist. Sogar die gentechnikfreundliche EFSA hat Auflagen zum Schutz von Naturschutzgebieten und Schmetterlingen gefordert. Die
fehlen im Zulassungsvorschlag der Kommission. Das
Bundesamt für Naturschutz stellt fest: Es gibt keine ausreichende Risikoprüfung, es gibt kein ausreichendes Risikomanagement. Von der Glufosinattoleranz will ich
noch gar nicht reden. Und Sie wollen den Menschen
weismachen, alles wäre in Ordnung?
({6})
Statt die eigene Fachbehörde zu ignorieren und die
Zulassung durchzuwinken, hätte die Bundesregierung in
Brüssel entschlossen mit Nein stimmen müssen. Das ist
das, was die Menschen von Ihnen erwartet hätten.
({7})
Wer braucht denn den Merkel-Mais? „Report München“ brachte es am Dienstag auf den Punkt. Hinter den
Heilsversprechen der Gentechlobby steckt genau: nichts.
Die Wirksamkeit gegen Maisschädlinge ist in Brasilien
schon nach zwei Jahren dahin. Dort werden mehr Pestizide eingesetzt, nicht weniger. Jahr für Jahr steigt die
Anwendung. Was nutzt denn der ganze Zirkus? Das
braucht kein Mensch.
({8})
Wir brauchen nicht noch mehr industriellen Maisanbau in Europa. Wir brauchen vernünftige Fruchtfolgen
und Alternativen zum chemischen Pflanzenschutz.
Glaubt die Kanzlerin denn ernsthaft an die Märchen der
Gentechlobby von höheren Erträgen und trockentoleranten Wunderpflanzen? Nach 20 Jahren Gentechanbau
herrscht hier völlige Fehlanzeige. Wir haben genug normal gezüchtete Maissorten am Markt, die trockentolerant sind, aber nur eine einzige gentechnisch veränderte.
Wenn Sie also wirklich etwas für die Welternährung tun
wollen, dann kümmern Sie sich um die Umsetzung des
TAB-Berichts zur Welternährungsforschung und des
Weltagrarberichtes.
({9})
Die Abstimmung im Rat haben Sie jetzt verbockt.
Wir wollen für alle in diesem Land die Wahlfreiheit, sich
auch künftig für gentechnikfreie Produkte entscheiden
zu können. Da geht es demnächst auch um die Kennzeichnungspflicht für gentechnisch veränderten Honig.
Wir erwarten von Ihnen die Prüfung der Möglichkeiten
einer Klage gegen die Zulassung von Genmais, den
Schutz der Honigrichtlinie vor Aufweichung und die
Aussetzung der Verhandlungen zum Freihandelsabkommen zwischen EU und USA, weil mit diesem Abkommen die europäischen Gentechnikstandards umgangen
werden könnten. Damit können Sie etwas für die Gentechnikfreiheit und für die Wahlfreiheit in Europa tun.
Danke schön.
({10})
Das Wort hat die Parlamentarische Staatssekretärin
Dr. Maria Flachsbarth.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auf der Tagung des Rates für Allgemeine Angelegenheiten am
11. Februar, also in der letzten Woche, wurde der Vorschlag der Europäischen Kommission zur Anbauzulassung für die gentechnisch veränderte Maislinie 1507 erörtert. Da der Ministerrat am 11. Februar mangels
formaler Abstimmung keine Stellungnahme abgegeben
hat, liegt die endgültige Entscheidung über die Anbauzulassung nun in den Händen der Europäischen Kommission. Deutschland hat sich im Rat für Allgemeine Angelegenheiten aufgrund unterschiedlicher Auffassungen
innerhalb der Bundesregierung der Stimme enthalten.
Viele Verbraucherinnen und Verbraucher, aber auch
Landwirte in unserem Land verbinden mit einem Anbau
der gentechnisch veränderten Maislinie 1507 wesentlich
mehr Sorgen als die Hoffnung auf einen möglichen Nutzen. Diese Sorgen nimmt die Bundesregierung sehr
ernst.
({0})
Auf der anderen Seite, liebe Kollegen von den Grünen,
ist zu berücksichtigen, dass sich die EU-Kommission bei
ihrem Vorschlag auf insgesamt sechs Stellungnahmen
der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit,
also der EFSA, stützen kann, wonach im Ergebnis der
Anbau der gentechnisch veränderten Maislinie 1507
keine höheren Risiken für die Umwelt zur Folge hat als
der Anbau von herkömmlichem Mais.
({1})
Außerdem wurde in den Beratungen darauf hingewiesen, dass es in der EU bereits rund 30 gentechnisch veränderte Maislinien gibt, die eine Zulassung als Lebensund Futtermittel haben, darunter eben auch diese Maislinie 1507, die 2005 als Futtermittel und 2006 als Lebensmittel zugelassen worden ist.
({2})
Eine erforderliche Mehrheit gegen die Anbauzulassung der Maislinie 1507 ist dann im Rahmen des im Rat
für Allgemeine Angelegenheiten unter den Mitgliedstaaten eingeholten Meinungsbildes nicht zustande gekommen. Sie wäre übrigens auch nicht zustande gekommen,
lieber Herr Kollege Ebner, wenn Deutschland gegen die
Zulassung votiert hätte.
({3})
Es ist nun vielmehr davon auszugehen, dass die Kommission den Vorschlag zur Zulassung des Anbaus dieser
Maislinie veröffentlicht. Dabei bleibt abzuwarten, wann
das definitiv passieren wird.
({4})
Unser Haus, das Bundesministerium für Ernährung
und Landwirtschaft, geht davon aus, dass aufgrund der
zeitlichen Verläufe der Mais in dieser Legislaturperiode
ganz sicher nicht mehr angebaut werden wird.
({5})
Ein möglicher Anbau würde dann 2015 - das wissen
Sie - auf sehr restriktive Haftungsregeln des Gentechnikgesetzes in Deutschland treffen, die wir hier aus gutem Grund miteinander verabschiedet haben.
({6})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Bundesregierung tritt für eine EU-Kennzeichnungspflicht für
Produkte von Tieren ein, die mit gentechnisch veränderten Pflanzen gefüttert werden. Das haben die Regierungsparteien, also die Unionsparteien und die SPD, im
Koalitionsvertrag miteinander vereinbart. Darüber hinaus hat die Bundesregierung in ihrem Koalitionsvertrag
festgeschrieben, dass an der Nulltoleranz gegenüber
nichtzugelassenen gentechnisch veränderten Bestandteilen in Lebensmitteln und an der Saatgutreinheit selbstverständlich festgehalten wird.
({7})
Die derzeit geltenden gemeinschaftsrechtlichen
Kennzeichnungsregelungen gehen nach der Auffassung
der Bundesregierung und der Koalitionsfraktionen aber
nicht weit genug. Denn danach erfolgt der Schutz der
Rechte der Verbraucher durch die nach EU-Recht geltende Zulassungspflicht sowie durch die daneben bestehende Kennzeichnungspflicht von Futter- und Lebensmitteln, die aus gentechnisch veränderten Organismen
entweder direkt hergestellt werden, diese enthalten oder
aus diesen bestehen.
Ausgenommen von der Kennzeichnungspflicht sind
Futter- und Lebensmittel - das ist wahrscheinlich bekannt -, deren gentechnisch veränderter Anteil zufällig
oder aber technisch unvermeidbar und nicht höher als
0,9 Prozent ist. Diese Ausnahmen gelten selbstverständlich nur für solche gentechnisch veränderten Organismen, die auf europäischer Ebene zugelassen sind und somit kein Sicherheitsrisiko darstellen.
Die Bundesregierung ist der Auffassung, dass Milchund Fleischprodukte von Tieren, die mit gentechnisch
veränderten Futtermitteln gefüttert wurden, ebenfalls gekennzeichnet werden müssen.
({8})
Eine solche umfassende Positivkennzeichnung würde
eine vollständige Verbrauchertransparenz im Hinblick
auf die Verwendung von Gentechnik in der Lebensmittelproduktion bewirken.
Um bereits vor der Einführung einer solchen umfassenden Kennzeichnung auf europäischer Ebene - Sie
wissen, wie lange das dauern kann - mehr Klarheit über
die Verwendung von Gentechnik in der Lebensmittelproduktion zu schaffen, ist in Deutschland schon am 1. Mai
2008, also nunmehr vor sechs Jahren, die nationale Regelung mit der freiwilligen „Ohne Gentechnik“-Kennzeichnung in Kraft getreten. Diese Kennzeichnung ermöglicht Verbraucherinnen und Verbrauchern, sich
durch ihre Kaufentscheidung für Produkte mit dem
„Ohne Gentechnik“-Siegel gezielt gegen den Anbau und
gegen die Verwendung gentechnisch veränderter Nutzpflanzen als Lebensmittel oder Futtermittel aussprechen
zu können.
({9})
Zur Erhöhung von Transparenz und Information und
zur Stärkung der Wahlfreiheit unterstützen die Bundesregierung und insbesondere mein Haus, das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft, deshalb
die breitere Anwendung der „Ohne Gentechnik“-Kennzeichnung.
Herzlichen Dank.
({10})
Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin
Dr. Kirsten Tackmann das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Gäste! Meine Damen und Herren von der Union,
ich verstehe Ihren Phantomschmerz bei diesem Thema.
Ich glaube, dass Sie gerade in dieser Debatte die FDP
schmerzlich vermissen. Aber die Kanzlerin tritt ja dieses
politische Erbe an, wie wir aus gut unterrichteten Kreisen vernommen haben. Zu dumm nur, dass mit der deutschen Enthaltung in Brüssel der Koalitionsvertrag schon
gebrochen ist, kaum dass die Tinte richtig trocken ist.
Die Demontage des Agrarministers hat auch gleich stattgefunden, der ja explizit gegen die Zulassung des
Mais 1507 war.
Schlimmer ist aber, dass sich damit Deutschland in
der EU isoliert. 19 Mitgliedstaaten haben die Anbauzulassung abgelehnt, nur fünf waren dafür, darunter
Schweden und Finnland, deren Maisanbau, wie man sagen muss, ein sehr übersichtliches Ausmaß hat.
Schade, dass das Zulassungsverfahren für diesen
Mais noch nach den vor den Lissabonner Verträgen geltenden Regularien stattfindet. Danach kann die EUKommission noch allein entscheiden, weil keine Zweidrittelmehrheit der Stimmen der Mitgliedstaaten gegen
die Zulassung gegeben ist. Nach den neuen Lissabonner
Regeln müsste der EU-Agrarrat, also alle Landwirtschaftsminister der Mitgliedstaaten, mit EU-Parlament
und unter Vermittlung der EU-Kommission in einen sogenannten Trilog treten. Das ist ein kleiner, wenn auch
durchaus wichtiger demokratischer Fortschritt, zumal
das EU-Parlament gerade klar gefordert hat, alle Zulassungsanträge für Genmais oder für gentechnisch veränderte Pflanzen auf Eis zu legen. Diese Position teilen wir
von den Linken vollständig.
({0})
Das Brüsseler Abstimmungsergebnis zeigt vor allen
Dingen drei Dinge:
Erstens. Es geht gar nicht um diesen Mais. Dessen
Zulassung soll vielmehr der Türöffner sein für sieben
weitere Anbauzulassungen, die noch in der Pipeline
sind. Das muss verhindert werden.
({1})
Zweitens. Deutschland hat mit seiner Enthaltung die
Anbauzulassung erst ermöglicht. Deutschlands Nein allein hätte keine qualifizierte Mehrheit dagegen bedeutet,
aber die Kanzlerin - sie ist auch sonst nicht so bescheiden - hat doch politisches Gewicht in Europa und in der
Welt. Deshalb wäre es ein starkes Signal gewesen, wenn
Deutschland Nein gesagt hätte.
({2})
Dies gilt übrigens auch für das Freihandelsabkommen
mit den USA. Vielleicht war gerade dieses Signal nicht
gewollt. Genau das ist inakzeptabel.
({3})
Drittens. Gerade weil das EU-Parlament künftig ein
Mitspracherecht hat, sage ich für die Linke: Augen auf
bei der EU-Wahl!
({4})
Die Befürworter der Gentechnik und ihre Freunde
von der CDU behaupten, die Agrogentechnikgegnerinnen und -gegner hätten keine Ahnung und seien ideologisch so verblendet, dass sie die Beglückungen der
Agrogentechnik nicht erkennen würden. Deswegen reden wir doch einmal Klartext. Der Mais 1507 macht die
Kritik übrigens besonders leicht. Selbst viele Länderagrarminister haben die Gefolgschaft verweigert. Der Mais
1507 hat gleich zwei gentechnische Veränderungen:
Zum einen ist er resistent gegen den Unkrautvernichter Glufosinat. Wozu ist das gut? Man kann mit Glufosinat alle Pflanzen auf dem Acker totspritzen. Nur der
gentechnisch veränderte Mais kann auf diesem Acker
wachsen. Ich finde das gruselig. Aber es kommt noch
viel absurder: Glufosinat ist schon seit November 2013
in Deutschland für den Maisanbau und ab 2017 in der
gesamten EU verboten, weil es so giftig ist. Wer braucht
- außer Pioneer - einen solchen Mais?
Zum anderen produziert der Mais ein Bakterientoxin,
das die Raupen des Maiszünslers abtöten soll. Das ist so
ähnlich, als ob man eine Kuh genetisch verändert, damit
sie ihr eigenes Antibiotikum produziert. Das ist absurd
und unverantwortlich.
({5})
Aber es geht noch absurder. Ein ähnliches Toxin produziert der Mais MON 810 - Herr Ebner hat gerade darauf hingewiesen -, dessen Anbau die Bundesregierung
aus gutem Grund längst verboten hat. Das Gift wirkt
nicht nur gegen den Maiszünsler, sondern auch gegen
nützliche Insekten. Mais 1507 produziert aber noch sehr
viel mehr Bakterientoxin. Deswegen ist es völlig logisch, dass man den Anbau dieser Maislinie jetzt ablehnt. Report München hat am vergangenen Dienstag
sehr eindrucksvoll berichtet, dass in Brasilien wenige
Jahre nach der Anwendung von Mais 1507 Resistenzen
aufgetreten sind. Auch hier wieder: Wer braucht diesen
Mais außer Pioneer?
Abschließend noch zur Behauptung, die Wissenschaft
habe alles geprüft und hielte das für unbedenklich. Es
gibt seit Jahren massive Kritik am Zulassungsverfahren.
Um nur die Hauptdefizite zu nennen: Es fehlen Langzeituntersuchungen und unabhängige Studien. Es fehlt
Transparenz im Verfahren. Es fehlen Folgeabschätzungen für die gentechnikfreie Land- und Lebensmittelwirtschaft. Aber auch diese Defizite sind noch nicht alles.
Die zuständige Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit, EFSA, steht unter dem klaren Verdacht, zu
große Nähe zur Gentechniklobby zu haben. Also: Geprüft und für gut befunden? Das ist absurd.
Für die Linke sage ich ganz klar: Wir haben die Bundesregierung agrogentechnisch geprüft, aber nicht für
gut befunden.
Vielen Dank.
({6})
Die Kollegin Elvira Drobinski-Weiß hat für die SPDFraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer auf den Tribünen!
Ich gehe jetzt nicht auf die Haltung der Bundesregierung
ein. Mir ist es wichtig, etwas zur Wahlfreiheit der Verbraucherinnen und Verbraucher zu sagen. Die Frau
Staatssekretärin hat dieses Thema bereits gestreift.
Ich denke, es ist wichtig, dass wir zu einer sachdienlichen Arbeit zusammenfinden, an deren Ende Lösungen
stehen, von denen die Verbraucherinnen und Verbraucher auch profitieren. Es muss jetzt darum gehen, dafür
zu sorgen, dass hier kein gentechnisch veränderter Mais
angebaut wird. Es ist schon gesagt worden: In diesem
Jahr wird der Mais 1507 nicht mehr angebaut.
({0})
Aber wir müssen die Zeit nutzen, damit wir rechtzeitig
zur nächsten Aussaat eine rechtssichere Regelung haben.
Zum Thema Opt-out und regionale Anbauverbote ist
in der Presse viel zu lesen. Eine Ausstiegsmöglichkeit
für einzelne Mitgliedstaaten ist aber immer nur die
zweitbeste Lösung;
({1})
Denn die GVO-Verunreinigungen machen nicht an der
Landesgrenze halt. Deshalb müssen wir uns auch weiterhin auf EU-Ebene für die Verbraucherinnen und Verbraucher einsetzen, die nicht nur in Deutschland, sondern in der ganzen EU mehrheitlich die Agrogentechnik
ablehnen.
Wir sollten auch aufpassen, dass da keine Missverständnisse entstehen. Auf EU-Ebene liegt aktuell ein
Vorschlag für eine Opt-out-Regelung vor. Er ist aus unserer Sicht indiskutabel. Denn er sieht vor, dass Mitgliedstaaten, die keinen GVO-Anbau wollen, mit dem
Unternehmen, das den Antrag auf Zulassung einer Sorte
gestellt hat, darüber verhandeln. Ich denke doch, da sind
wir alle uns einig: Das wollen wir nicht.
({2})
Eine Regierung darf doch nicht vom Entgegenkommen
eines Unternehmens abhängig sein.
({3})
Das entspricht nicht unseren Vorstellungen von Souveränität und Demokratie. Aus guten Gründen hat deshalb
auch die schwarz-gelbe Vorgängerregierung diese Regelung abgelehnt.
({4})
- Bitte hören Sie zu.
({5})
Der Ausgang solcher Verhandlungen ist absehbar;
schließlich beantragt das Unternehmen ja gerade die Zulassung auf EU-Ebene, damit das Produkt auch angebaut
werden kann. Ohne Gegenleistung geht da also gar
nichts. Eine mögliche Gegenleistung könnte dann die
Zustimmung der Regierung zur Zulassung auf EUEbene sein. Wollen Sie das? - Ich denke, das müssen wir
ablehnen.
({6})
Wenn wir eine Opt-out-Lösung, also eine Ausstiegsklausel wollen, dann sollte sich diese an den am 5. Juli
2011 vom Europäischen Parlament mit großer Mehrheit
angenommenen Vorschlägen orientieren. Denn darin hat
das Europäische Parlament die Vorlage für eine rechtssichere Begründung von Anbauverboten in einzelnen Mitgliedstaaten geliefert.
Eine andere Stellschraube bei der Sicherung der
Wahlfreiheit ist Transparenz. Die bekommt man als Verbraucherin oder Verbraucher aber nur, wenn man beim
Lebensmittelkauf selbst erkennen kann, ob ein Produkt
GVO-verändert ist oder nicht. Wir, CDU, CSU und SPD,
haben uns im Koalitionsvertrag darauf geeinigt, dass wir
für eine EU-weite Kennzeichnungspflicht für Produkte
von Tieren sind, die mit genveränderten Pflanzen gefüttert worden sind; die Staatssekretärin hat es auch schon
erwähnt. Ich finde, das muss jetzt aktiv angegangen werden.
({7})
Denn wo landet der gentechnisch veränderte Mais? Na,
klar: im Futtertrog. Aber leider können wir das nicht erkennen, wenn wir die Produkte kaufen; denn bei Milch,
Eiern, Käse, Fleisch oder daraus gefertigten Produkten
muss nicht angegeben werden, dass bei der Fütterung
der Tiere GVO-veränderte Pflanzen verwendet worden
sind.
Sie kennen die Umfragen, nach denen die Mehrheit
der Bevölkerung GVO-Pflanzen ablehnt, auf dem Acker
wie auch auf dem Teller. Ich finde, die Verbraucher sollen beim Einkauf endlich selbst entscheiden können, was
sie kaufen wollen. Das können wir nur mit einer entsprechenden Kennzeichnung erreichen. Dafür setzen wir,
CDU/CSU und SPD, uns gemeinsam ein.
({8})
Das wird die Bundesregierung auf EU-Ebene angehen.
Vielen Dank.
({9})
Gratulation zur Punktlandung! Das muss man heute
wirklich vermerken. - Das Wort hat der Kollege Oliver
Krischer für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich finde, es ist wichtig, hier in der Debatte einmal zu sagen, dass es ein Riesenerfolg ist, dass Deutschland frei
von Agrogentechnik ist.
({0})
Diesen Erfolg, meine Damen und Herren, gäbe es nicht
ohne das Gentechnikgesetz, ohne das von Renate Künast
geschaffene Standortregister. Das ist die Grundlage dafür, dass wir in diesem Land keine Agrogentechnik haben.
({1})
Ich freue mich, dass das, was Grüne vor zehn Jahren vertreten haben, in der Politik inzwischen weitgehender
Konsens ist.
Wenn man einmal in die Wahlprogramme, in die Regierungsprogramme schaut, dann muss man zur Kenntnis nehmen: Viereinhalb von fünf Parteien in diesem
Haus wollen keine Gentechnik, wollen keine Agrogentechnik. Im Koalitionsvertrag findet sich eine eindeutige
Aussage dazu. Man kann sie nur so verstehen, dass Sie
selbstverständlich nichts zulassen wollen.
Jetzt passiert aber das Verrückte: Deutschland enthält
sich in Brüssel bei der Abstimmung über den Genmais
1507 und ermöglicht so seine Zulassung.
({2})
Meine Damen und Herren, ich hätte erwartet, dass Sie
für Mehrheiten kämpfen, dass Sie das, was in Deutschland Realität ist, europaweit möglich machen. Aber davon habe ich überhaupt nichts gemerkt.
({3})
Frau Drobinski-Weiß, es ist ja schön, dass Sie hier die
Kämpferin gegen Gentechnik mimen. Ich hätte mich gefreut, wenn Sie hier so ehrlich gewesen wären wie im
ARD-Morgenmagazin. Dort haben Sie gesagt, wie es
wirklich ist - ich zitiere -: „Die Kanzlerin will den Genmais.“
({4})
Damit haben Sie zugegeben, dass es völlig egal ist, was
in Wahlprogrammen, in Parteitagsbeschlüssen oder im
Koalitionsvertrag steht. Am Ende zeigt Mutti, wo der
Hammer hängt, und am Ende entscheidet sie: Wir wollen
Gentechnik in Europa.
({5})
Ich kann Ihnen von CDU/CSU und SPD nur sagen: Bei
diesem Thema liegen Sie flach auf dem Boden. Das ist
keine Koalition, das ist Kapitulation!
({6})
Anstatt jetzt aber zuzugeben: „Ja, allen schönen Worten zum Trotz haben wir das Thema versemmelt, jetzt
kommt die Zwangsbeglückung mit Gentechnik“, kommen nur Ausflüchte. Jetzt sind Opt-out-Regelungen im
Gespräch, die es den Ländern ermöglichen sollen, sich
herauszuwinden. Das ist aber keine Lösung, schon allein
deshalb nicht, weil Pollen über große Strecken durch die
Luft fliegen können und bekanntlich vor Ländergrenzen
keinen Halt machen. Sie sehen: Opt-out-Regelungen
helfen uns nicht weiter. Wir brauchen ein flächendeckendes Verbot von Gentechnik. Darum müssen Sie sich
kümmern.
({7})
Die Opt-out-Regelung und all die anderen Vorhaben,
die jetzt diskutiert werden, sind nicht nur von der Sache
her, sondern auch juristisch absurd. Wir wollen keinen
Flickenteppich in Europa und erst recht keinen Flickenteppich in Deutschland, der entsteht, wenn jedes Bundesland seine eigenen Regelungen trifft. Das macht
überhaupt keinen Sinn.
Dahinter steckt Prinzip. Das haben wir beim Thema
CCS schon einmal erlebt. Auch damals standen Sie unter
dem Druck, Entscheidungen treffen zu müssen. Vor Ort
haben Sie dann so getan, als seien Sie die größten Kritiker. Es wurde vereinbart, dass sich die Länder von den
Regelungen verabschieden können. Juristisch ist das alles wackelig. Bei der Gentechnik wird es am Ende auch
so sein: Es braucht nur einer zu klagen, dann kippen die
Regelungen. Dann haben Sie mit Zitronen gehandelt und
dem Schutz der Verbraucher vor Gentechnik einen absoluten Bärendienst erwiesen.
({8})
Das Thema setzt sich fort. Es geht nicht nur um Genmais 1507. Demnächst müssen wir darüber abstimmen,
wie Honig gekennzeichnet werden soll. Es stellt sich die
Frage: Gibt es die Möglichkeit, klar zu kennzeichnen,
dass eine Honigsorte aus Pollen von gentechnisch veränderten Pflanzen hergestellt wird? Auch hier muss ich davon ausgehen, dass Sie wieder umfallen werden.
Ich mache mir die allergrößten Sorgen, wenn ich an
das Freihandelsabkommen denke. Wenn Sie mit dieser
Position und unter dem Druck, den die Kanzlerin ausübt,
verhandeln, dann wird am Ende durch das Freihandelsabkommen der Gentechnik die Tür nach Europa geöffnet. Aber dagegen werden wir mit allem Nachdruck
kämpfen.
({9})
Ich sage Ihnen zum Schluss: Weder die Menschen in
unserem Land noch die Menschen in Europa wollen
Agrogentechnik auf ihren Tellern. Wir werden dagegen
ankämpfen, dass die Menschen durch den Pro-Gentechnik-Kurs von Angela Merkel, der nun auch öffentlich so
benannt worden ist, zwangsbeglückt werden. Vielmehr
sollen sie vor Gentechnik geschützt werden. Wir wollen
in Deutschland weiterhin eine gentechnikfreie Landwirtschaft und eine gentechnikfreie Ernährung.
Ich danke Ihnen.
({10})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Kees
de Vries das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Wir sprechen heute in dieser Aktuellen Stunde auf Antrag der Grünen wieder über die
Maissorte 1507, die sich vor dem Maiszünsler schützt,
dessen Raupen jedes Jahr weltweit bis zu 4 Prozent der
Maisernte zerstören. Dafür sorgt ein Gen, das aus dem
Bakterium Bacillus thuringiensis stammt, kurz: BT. Ich
gebe gerne zu: Es gibt eine Alternative. Man kann dieses
BT-Toxin, wie es übrigens im Biolandbau praktiziert
wird, auch spritzen. Dann hat man nicht das Risiko, dass
auch andere Insekten und Schmetterlinge abgetötet werden.
({0})
Nebenbei bemerkt ist diese Maissorte gegen das für
Maisanbau in Europa nicht zugelassene Herbizid Glufosinat resistent. Im Übrigen wird der deutsche Landwirt
diese Maissorte wegen der gesetzlich geregelten verschuldensunabhängigen gesamtschuldnerischen Haftung nicht anbauen können.
({1})
Damit ist klar, dass es hier im Grunde nicht um den
Mais 1507 geht. Nein, es geht um die Frage, ob wir die
Forschung an der Grünen Gentechnologie auch in Europa fortsetzen und damit die Zukunft in eigenen Händen behalten oder uns von der weltweiten Entwicklung
abkoppeln und dieses Feld anderen überlassen.
({2})
Ich spreche mich klar und deutlich dafür aus, dass wir
diese Entscheidung ausschließlich auf der Basis wissenschaftlicher Bewertungen treffen.
({3})
Natürlich sind dabei die Risiken von genveränderten
Organismen abzuwägen, aber auch die damit verbundenen möglichen Chancen für die Landwirtschaft, die von
Einsparungen bei den Pflanzenschutzmitteln bis hin zu
sicheren Erträgen in benachteiligten Gebieten reichen.
Vielleicht können wir uns die Meinung „Wir brauchen
Grüne Gentechnik nicht!“ in Deutschland zurzeit leisten.
Aber es gibt andere Länder, auch in Europa, und es wird
andere Zeiten geben.
({4})
In der Position der Fraktion der Grünen kommen die
Ängste hinsichtlich neuer Techniken, unbekannter Pflanzen oder Organismen zum Ausdruck. Diese sind sehr
ernst zu nehmen, weil ein großer Teil der Bevölkerung
diese Ängste teilt. Deshalb ist es wichtig, die Emotionen
in dieser Diskussion herunterzufahren und uns auf verlässliche wissenschaftliche Untersuchungen zu stützen.
({5})
Der US-Hersteller DuPont Pioneer hat 2001 die Zulassung durch die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit, EFSA, für die Maislinie 1507 beantragt.
Seitdem gab es in 2005, 2006, 2008, 2011 und 2012 Gutachten, die keine wissenschaftlichen Anhaltspunkte ergaben, dass diese Maissorte eine Gefahr für Mensch,
Tier oder Umwelt ist. Die Kommission hat aufgrund dieser Unbedenklichkeitsbescheinigungen dem Antrag auf
Anbau dieser Maissorte nach Maßgabe des Jahres 2012
stattzugeben. Vergessen wir aber nicht: In den letzten
zwölf Jahren hatten alle die Chance, ihre Bedenken vorzutragen, gehört zu werden und den Vorschlag unter allen Gesichtspunkten zu diskutieren. Alle Argumente
konnten in dieser Zeit ausführlich ausgetauscht werden.
Trotzdem: Es gab und gibt keine Mehrheit für und es
gab und gibt keine Mehrheit gegen den Vorschlag der
Kommission. Da es auch in unserer Koalition Meinungsverschiedenheiten gab, musste sich Deutschland logischerweise der Stimme enthalten. Das hat übrigens auch
Ministerin Künast 2004 bei dem Mais MON 863 getan.
({6})
Lassen Sie mich zum Schluss auf Folgendes hinweisen: Wenn wir die Menschen ehrlich informieren wollen
und wenn wir die auf Emotionen basierenden Ängste abbauen wollen, dann brauchen wir eine lückenlose Prozesskennzeichnung in der Lebensmittelproduktion, aber
das nicht nur für Produkte tierischer Herkunft. Nur so
kann jeder die Fakten erkennen, und nur so werden wir
Ängste, die gar nicht sein müssten, abbauen können.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Kollege de Vries, das war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag. Ich gratuliere Ihnen ganz herzlich und
wünsche Ihnen viel Erfolg für Ihre weitere Arbeit. Auch
das sei vermerkt - viele schaffen das nicht -: Sie sind in
der vorgegebenen Redezeit geblieben.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Eva Bulling-Schröter für
die Fraktion Die Linke.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
88 Prozent der Bevölkerung hier in diesem schönen
Land lehnen Lebensmittel, die genmanipuliert sind, ab.
({0})
Jetzt höre ich: Das wissen wir. - Dann frage ich Sie: Warum enthalten Sie sich in Brüssel? Ich muss Ihnen vorwerfen: Sie haben sich mit daran beteiligt, Sie waren zumindest mit schuld, dass jetzt dieser Genmais eingeführt
wird.
Es gibt ja drei Parteien in der Koalition. Ich habe Ihr
Interview sehr genau verfolgt, in dem Sie sehr armselig
sagen mussten: Wir wollten ja, aber wir durften nicht. ({1})
Die CSU hat dann ein Flugblatt herausgebracht: Kein
Genmais nach Bayern! - Das ist ja schön. Sie wissen,
dass die Bayern natürlich auch gegen Genmais sind. Der
CSU-Generalsekretär sagt dazu ein klares Nein. Ich
frage mich: Warum setzen Sie sich in dieser Koalition
nicht durch?
({2})
Vor der Bundestagswahl hat Horst Seehofer gesagt:
Mit unserer Maut setzen wir uns durch. - Dann ging es
um den Koalitionsvertrag. Da hat er wieder gesagt: Wir
setzen uns durch wie bei der Maut. - Ich frage mich:
Warum setzen Sie sich nicht durch? Sie verteilen solche
Flugblätter in Bayern, geben Presseerklärungen heraus,
in denen Horst Seehofer und Marcel Huber zitiert werden, die eigentlich alle gegen Genmais sind. Ich sage den
bayerischen Wählerinnen und Wählern: Die CSU ist in
der Regierung und nicht in der Opposition. - Sie machen
das schon seit vielen Jahrzehnten so: Schon unter Franz
Josef Strauß hat man gegen die in Bonn geschimpft,
dann gegen die „Preißn“ in Berlin und so getan, als sei
man nicht beteiligt. Sie sind aber an der Regierung beteiligt.
({3})
Jetzt ist die Frage: Warum ist die CDU so dafür? Das
fragen sich ja viele. Ich habe den Eindruck: Es ist wieder
einmal ein Kotau vor den USA, ein Vorgriff auf das
TTIP-Abkommen. Wenn ich mir anschaue, was in den
USA passiert, sehe ich, dass dort ein Gesetz verabschiedet wird, welches es den Gentechnikherstellern ermöglicht, sich über gerichtlich angeordnete Verkaufsstopps
für Saatgut hinwegzusetzen. Tolle Demokratie! Es gibt
dort die FDA, die Food and Drug Administration, die für
den Schutz der öffentlichen Gesundheit zuständig ist.
Wenn man einmal genauer hinschaut, merkt man, dass
ein Großteil der Beamten dort ehemalige Führungskräfte
aus Gentechnikunternehmen sind. Das ist interessant.
Die Linke hat dazu schon 2006 eine Anfrage gestellt:
Auch bei uns gibt es in den Ministerien Vertreter der
Pharmakonzerne.
Eine Recherche der Initiativen „Kein Patent auf Leben!“ und der „Coordination gegen BAYER-Gefahren“
belegt, dass zum Beispiel Bayer, aber auch andere Konzerne zu den weltweit führenden Anbietern der Grünen
Gentechnik aufgeschlossen haben. Pioneer ist der umsatzstärkste; aber die anderen Konzerne liegen dicht dahinter.
Jetzt rede ich über Patente, die in München genehmigt
werden: Von rund 2 000 Patenten, die das Europäische
Patentamt in den letzten 20 Jahren auf transgene Pflanzen gewährt hat, besitzt der Bayer-Konzern 206. Dabei
geht es um Mais, Weizen, Reis, Gerste, Soja, Baumwolle
und sogar genmanipulierte Bäume. Bayer liegt auf Platz
eins, noch vor Pioneer mit 179, BASF mit 144, Syngenta
mit 135 und Monsanto mit 119 Patenten. Es werden immer mehr. Es gibt dann zum Beispiel die Genmaus und
das Genschwein. Wir demonstrieren immer wieder dagegen. Die Leute wollen das nicht.
({4})
Ich zitiere Ruth Tippe von „Kein Patent auf Leben!“:
Bei Pestiziden und Saatgut besitzen die zehn größten Agro-Unternehmen schon heute einen Marktanteil von über 70 %. Ziel dieses Oligopols ist es, den
Markt unter sich aufzuteilen und letztlich die Ernährungsgrundlagen der Menschheit zu kontrollieren. Patente auf Pflanzen und Tiere sind dabei ein
zentrales Hilfsmittel.
Ich sage Ihnen: Die Menschen wollen das nicht. Ich bin
der Meinung, Sie sollten das endlich akzeptieren.
({5})
Auch wenn Sie eine Große Koalition sind und eine
80-Prozent-Mehrheit haben: 88 Prozent der Menschen in
Deutschland wollen das nicht. Da nutzt das, was Sie jetzt
alles fordern, nichts.
({6})
- Sie können mir ja eine Frage stellen, wenn Ihnen das
nicht passt. Wen bzw. welchen Konzern vertreten Sie?
({7})
Ich möchte Ihnen jetzt noch etwas vorlesen: die Eidesformel des Bundespräsidenten, des Bundeskanzlers
und der Bundesminister:
Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des
deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren,
Schaden von ihm wenden … werde.
Ich sage Ihnen: Tun Sie das endlich!
({8})
Einen Schaden durch Gentechnik wollen wir nicht.
({9})
Ich habe Ihnen hier einen Biomais mitgebracht. Wir
wollen solchen Mais, aber nicht den, den Sie wollen im Interesse der Konzerne, die Sie vertreten, und ihrer
Profite.
({10})
Das Wort hat der Kollege Dr. Matthias Miersch für
die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben in dieser Frage einen offenen Dissens innerhalb der Bundesregierung.
({0})
Wir haben, Frau Kollegin Lemke, eine Erfahrung gemacht, die auch Ihnen, glaube ich, nicht ganz fremd ist,
wenn man politische Verantwortung übernimmt. Ich
glaube sogar, Sie waren damals, als es um die Novellierung des Gentechnikrechts ging, Berichterstatterin, und
ich war als Sachverständiger im Deutschen Bundestag.
Ich habe den Eindruck, bei den damaligen Entscheidungen wollten die Grünen andere Regelungen.
({1})
Aber Sie waren in Verantwortung, und Sie mussten
Kompromisse schließen.
({2})
- Mit der SPD. Trotzdem finde ich, wir haben ein Gentechnikrecht - eben haben Sie es noch gelobt -, das richtig klasse ist. Darauf können wir auch stolz sein.
({3})
Was ich sagen will, ist: Wenn man politische Verantwortung übernimmt, dann kann man sich in bestimmten
Punkten durchsetzen. Aber es gibt eben auch Themen,
bei denen man sich vielleicht nicht durchsetzen kann.
Dann muss man um den besten Weg ringen, Herr
Hofreiter; dazu lade ich Sie ein. Denn eines steht fest:
Wir haben in den Koalitionsvertrag hineingeschrieben,
dass die unterzeichnenden Parteien die Vorbehalte des
Großteils der Bevölkerung gegenüber der Grünen Gentechnik anerkennen.
({4})
Ich kann nur sagen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Als
Abgeordneter des Deutschen Bundestages kann ich es
nicht akzeptieren, wenn sich die Bundesregierung bei einer zentralen Zulassungsfrage enthält. Das ist keine Haltung.
({5})
Ich glaube, dass es legitim ist, dass der Ball dann,
wenn sich die Bundesregierung nicht verständigen kann,
wieder beim Parlament liegt, dass wir dann offen darum
ringen müssen, was es für uns heißt, dass wir die Vorbehalte anerkennen.
({6})
Ethische Fragen sind die Sternstunden des Parlaments. Deswegen, Herr Hofreiter:
({7})
Ich lade Sie ein - das wäre meine Bitte -, dass wir gemeinsam überlegen, wie wir eine solche Situation künftig verhindern können.
({8})
Ich bin fest davon überzeugt, dass von dieser Brüsseler
Entscheidung ein Signal ausgehen wird und wir in den
nächsten Wochen mehrere Anträge auf Zulassung bekommen werden.
({9})
Ich möchte diese Debatte nicht vor dem Hintergrund eines Antrags der Grünen, der Linken, der SPD oder der
CDU/CSU führen - denn dann müssten wir alle wieder
in unsere Gräben -,
({10})
vielmehr ist mir diese Frage so wichtig, dass ich Sie
- alle zusammen - einladen möchte, Herr Ebner, gemeinsam mit uns nach einer Lösung zu suchen. Bei den
Biopatenten haben wir das zusammen geschafft.
({11})
Lassen Sie uns in den nächsten Wochen überlegen, ob
wir hier eine breite Debatte über die Fragen der Ethik
hinbekommen, auch über die Fragestellung, die Herr de
Vries angesprochen hat. Ich habe dazu eine völlig andere
Meinung, auch aus anwaltlicher Erfahrung: zum Beispiel in dem Fall, dass Landwirt gegen Landwirt steht.
Ich möchte mit Ihnen gerne über eine Konsultationspflicht reden: dass dann, wenn man sich innerhalb der
Bundesregierung nicht verständigen kann, das Parlament
zumindest befragt werden muss. Ich bin mir sicher: Jeder von uns hat eine Haltung, und zwar keine Enthaltung, sondern eine klare Position: ja oder nein. Diese Debatte wünsche ich mir, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({12})
Ich bitte die Bundesregierung darüber hinaus, Frau
Staatssekretärin, zu prüfen, ob die Gründe, die Ministerin Aigner damals bei der Maissorte MON 810 angeführt
hat, nicht auch jetzt zutreffen: ob die Gesundheitsrisiken
nicht derart massiv sind, dass man für ein nationales Anbauverbot plädieren muss.
({13})
Das Dritte, was ich mir von dieser gruppenübergreifenden Debatte wünsche, ist ein Diskurs darüber, wie
wir die europäische Rechtsetzung zukünftig mit beeinflussen wollen.
({14})
Ich glaube, dass man über eine Opt-out-Klausel, wie sie
die CSU, aber auch SPD-Agrarminister wie Till
Backhaus jetzt ins Spiel bringen, zumindest debattieren
muss, wenn die Zulassung auf europäischer Ebene in die
Hose gegangen ist.
({15})
Diese Debatte, Herr Ebner, wünsche ich mir. Ich glaube,
wenn wir sie in diesem Haus sachlich führen, werden
wir dem großen Thema „Gentechnik in der freien Natur“
gerecht.
Ich lade alle ein, die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Gentechnikgesetz einmal zu lesen.
Ich bin mir sehr sicher: Uns allen wird bewusst, dass es
ähnlich wie in der Debatte über Stammzellen oder über
das Klonen um urethische Fragestellungen geht, die wir
in diesem Parlament dringend diskutieren müssen, wenn
wir unserer Aufgabe als Abgeordnete gerecht werden
wollen. Wir können uns bei dieser wichtigen Frage nicht
enthalten.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({16})
Der Kollege Artur Auernhammer hat nun für die
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nachdem ich diesem Hohen Hause jetzt acht Jahre nicht
angehört habe, mache ich heute eine Feststellung: Die
Sachkenntnis in manchen Redebeiträgen von den Grünen hat nicht zugenommen, im Gegenteil: Sie hat abgenommen.
({0})
Im Jahre 2004/2005 hat in Deutschland flächenmäßig
der größte Anbau gentechnisch veränderter Pflanzen
stattgefunden. Wer war damals in der Regierungsverantwortung, wer war damals Bundeslandwirtschaftsministerin? Mir fällt der Name gerade nicht ein. Vielleicht
können Sie mir weiterhelfen.
({1})
Ich bitte Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren: Kehren wir zurück zur Sachlichkeit! Kehren wir zurück zum Thema: zur eigentlichen Gentechnik. Bei der
Gentechnik haben wir eigentlich drei Themenbereiche:
Bei der sogenannten Roten Gentechnik geht es darum, Krankheiten zu heilen. Sicherlich ist keiner von Ihnen dagegen, Schlaganfallpatienten, Krebskranken oder
Zuckerkranken zu helfen oder sie zu heilen.
({2})
Es besteht sicherlich Einigkeit in diesem Hause: Wir
wollen bei der Roten Gentechnik weiterkommen.
Bei der sogenannten Weißen Gentechnik müssen wir
feststellen, dass davon schon sehr viel in unseren Lebensmitteln enthalten ist. Dass viele Verarbeitungsprozesse durch die Weiße Gentechnik unterstützt werden,
ist, glaube ich, auch bekannt.
An der Grünen Gentechnik scheiden sich jetzt die
Geister. Warum? Weil es bei der Grünen Gentechnik
jetzt um den Schritt raus aus dem Labor, raus aus der
Forschung, hin aufs freie Feld geht. Da müssen wir - darüber sind wir uns in diesem Hause wahrscheinlich noch
nicht ganz einig - besonders achtgeben.
({3})
Wobei ich gleichzeitig sagen muss: Zulassung bedeutet
nicht gleich Anbau.
({4})
Wir haben, nicht nur in Süddeutschland, eine sehr klein
strukturierte und damit vielfältige Agrarstruktur - mit
bäuerlichen Familienbetrieben - und auch sehr vielfältige Vermarktungsstrukturen. Auf der Grünen Woche haben wir gerade wieder erlebt, wie vielfältig unsere Landwirtschaft in Deutschland sein kann. Diese zu erhalten
und zu fördern, ist auch Aufgabe der Politik.
Vieles haben wir in Deutschland den Naturwissenschaften zu verdanken. Wir sind ein Volk der Dichter
und Denker. Wir sollten uns aber auch fragen: Müssen
wir all das tun, was die Naturwissenschaften ermöglichen? Brauchen wir in dem einen oder anderen Bereich
nicht auch ethische Leitplanken? Dazu, dieses zu diskutieren, lade ich Sie ein.
({5})
Ich selbst kann Ihnen als praktizierender Landwirt
sagen, dass mir der Anbau gentechnisch veränderter Organismen auf meinem Feld nichts nutzt.
({6})
Denn wenn über 80 Prozent der deutschen Bevölkerung
- ob es 80 oder 85 Prozent sind, ist zweitrangig -, also
die große Mehrheit, sagen: „Wir wollen keinen Anbau
gentechnisch veränderter Pflanzen in Deutschland“,
kann ich als Landwirt doch nicht etwas produzieren, was
der Verbraucher mir nicht abkaufen will.
({7})
Stellen Sie sich einmal vor: Die deutsche Automobilindustrie würde etwas produzieren, was niemand kaufen
will.
({8})
Ich als Landwirt stehe ja am Beginn der Wertschöpfungskette. Das möchte ich hier auch noch betonen.
Vorrangig der Landwirt und Produzent sollte für diese
Arbeit honoriert werden - und nicht irgendwelche Konzerne, die vielleicht in Nordamerika sitzen.
Lassen Sie uns deshalb gemeinsam nach Lösungen
suchen, um mit der Gentechnik verantwortungsbewusst
umzugehen.
({9})
Dazu zählt für mich eine wirklich umfangreiche Kennzeichnung aller GVO-Produkte. Hier sollten wir gemeinsam nach einer europäischen einheitlichen Kennzeichnung suchen. Schließlich soll letztendlich der
Verbraucher entscheiden dürfen, was er einkauft. Aber
auch der Verzicht auf die Nutzung von Gentechnik in
Deutschland gehört für mich dazu.
({10})
Die Initiativen für gentechnikfreie Anbauregionen
sind deshalb zu begrüßen. Ich hoffe, wir erreichen die
sogenannte Opt-out-Lösung und werden in Zukunft hier
in Deutschland, wie bisher auch, gentechnikfrei bleiben
können.
({11})
Ich lade Sie deshalb nochmals dazu ein, mit der nötigen Sachkompetenz gemeinsam nach Lösungen zu
suchen - auch die Kolleginnen und Kollegen der Grünenfraktion. Es geht um das Wohl des deutschen Volkes
und auch um das Wohl der deutschen Bäuerinnen und
Bauern.
Vielen Dank.
({12})
Der Kollege René Röspel hat für die SPD-Fraktion
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Viele Jahrzehnte haben Bäuerinnen und Bauern
- Ökobauern wie konventionelle Landwirte - dann,
wenn der Maiszünsler ihr Maisfeld befallen hat, auf ein
Mittel zurückgreifen können, das sich Bt-Toxin nennt.
Das ist das Proteingift aus einem Bodenbakterium, das
in einer inaktiven Form ausgebracht werden kann. Wenn
es von den Schadinsekten aufgenommen wird, wandelt
es sich im Verdauungstrakt in eine aktive Form um und
führt dazu, dass der Schädling stirbt. Das nicht verbrauchte Toxin wird über Sonnenlicht und anderes degradiert, also unschädlich gemacht.
Das hat lange Jahre funktioniert. Irgendwann kamen
kluge Wissenschaftler auf die Idee, sich zu fragen: Wie
wäre es, wenn wir aus dem Bodenbakterium das Gen für
dieses Gift herausnehmen und zum Beispiel in eine
Maispflanze einbauen, mit dem Vorteil, dass diese
Maispflanze dieses Gift dann ständig produziert? - Das
ist in der Tat wissenschaftlich hoch spannend und funktioniert - jedenfalls mit unterschiedlichen Auswirkungen -,
hat aber eben nicht nur Vorteile, sondern auch eine Reihe
von Nachteilen:
Die aktive Form dieses Giftes wird während der
gesamten Vegetationsdauer permanent in der Pflanze
produziert. Es wird nicht nur von Schadinsekten aufgenommen, sondern auch Nützlinge - sogenannte Nichtzielorganismen - nehmen dieses Gift auf. Dadurch, dass
das Gift permanent produziert wird, ist natürlich die Gefahr sehr groß, dass Resistenzen entstehen, und die
Wahrscheinlichkeit dafür wird sogar immer größer.
Es gibt also eine Reihe von Fragezeichen, die sich mit
dieser Technologie in Verbindung bringen lassen.
Herr Auernhammer, Sie haben von Wissenschaftlichkeit gesprochen. Ich nehme diesen Ball auf. - Es gibt
eine ganze Reihe von Studien - wir haben das in den
letzten Jahren immer wieder diskutiert -, die die Unbedenklichkeit dieses Maises bzw. dieser Technologie
darlegen. Meistens werden diese übrigens von Unternehmen, die dahinter stehen, finanziert und sehr gut ausgestattet. Sagen wir einmal so: Das ist mittlerweile ein
recht hoher Stapel.
Aber es gibt eben auch wissenschaftliche Arbeiten,
die das in Zweifel ziehen, in denen Bedenken geäußert
werden, ob das unproblematisch ist, oder in denen gefragt wird: Was passiert eigentlich, wenn nach einer solchen Vegetationsperiode das Gift immer noch im Boden
vorhanden ist und nicht abgebaut wird? - Das ist vielleicht ein etwas kleinerer Stapel, weil dies die Ergebnisse meist öffentlich finanzierter Forschung sind. Wir
haben in den letzten Jahren gemeinsam versucht, zu erreichen, dass diese kritische Forschung stärker berücksichtigt wird.
Aber dann hat man eben zwei unterschiedliche wissenschaftliche Positionen. Mir ist es noch nicht gelungen
- ich beobachte die Szene relativ gut -, eine eindeutige
wissenschaftliche Positionierung herauszufinden. Dann
sage ich an dieser Stelle - weil es eben eine politische
Entscheidung geben muss -: Politik muss eine Entscheidung treffen, wenn wissenschaftlich nicht eindeutig ist,
was passiert.
({0})
Die SPD hat diese Entscheidung vor vielen Jahren getroffen, nämlich vor dem Hintergrund folgender Frage:
Was passiert eigentlich, je nachdem, wie wir uns entscheiden? Wenn wir jetzt den Anbau zulassen und wir in
20 Jahren feststellen, dass tatsächlich Probleme auftreten, ist es nicht mehr umkehrbar. Dann sind diese Pflanzen „draußen“. Das wäre dann so wie bei der Atomenergie: Wir werden zeit unseres Lebens und darüber hinaus
im Atomzeitalter leben.
Vor diesem Hintergrund - da gebe ich Matthias
Miersch völlig recht - sage ich: Angesichts der Tatsache,
dass wir hier Entscheidungen treffen müssen, bei denen
es nicht möglich ist, sie in der nächsten Legislaturperiode oder vielleicht zwei Generationen später wieder
rückgängig zu machen, hat sich die SPD - und übrigens
nicht nur sie, sondern auch die Grünen und die Linken dafür entschieden, diesen gentechnisch veränderten
Pflanzen in Deutschland noch keinen Raum zu geben.
Diese Haltung hat eben auch Auswirkungen in der
Abstimmung der SPD-geführten Ministerien innerhalb
der Bundesregierung. Das Wirtschaftsministerium unter
Sigmar Gabriel hat bei der Zulassung des Genmaises mit
Nein gestimmt. Das Umweltministerium unter Barbara
Hendricks hat bei der Zulassung des Genmaises mit
Nein gestimmt. Und das Justizministerium, auch SPDgeführt, hat ebenfalls Nein gesagt. Die Position der SPD
ist also ziemlich klar. Wir sind für diese Haltung auch in
diesem Hause als „gentechnikfeindlich“ und „Technikgegner“ jahrelang beschimpft worden; wie auch immer.
Interessanterweise hat auch das CSU-geführte Landwirtschaftsministerium mit Nein gestimmt, gegen die
Zulassung. Ich hätte heute gerne eine Begründung dafür
gehört, aber diese habe ich leider nicht vernommen.
Aber immerhin: Es war ein Nein.
Jetzt haben aber Kanzleramt und alle CDU-geführten
Ministerien wie das für Gesundheit und das für Forschung mit Ja gestimmt. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen und von den Linken, wären Sie an
unserer Stelle, wäre es genauso gekommen,
({1})
mit einer Ausnahme: Da eure Fraktionen kleiner sind,
hätte es nicht aus drei Ministerien ein Nein gegeben,
sondern vielleicht nur aus zwei, weil ihr nicht so viele
Ministerien gehabt hättet.
({2})
Aber am Ende ist nach der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien auf europäischer Ebene
eine Enthaltung herausgekommen. Das finden wir sehr
bedauerlich und schlecht. Ich hätte mir auch ein deutliches Wort der Kanzlerin im Sinne der Richtlinienkompetenz gewünscht: Will sie nun gentechnisch veränderte
Pflanzen zulassen oder nicht?
({3})
Da mogelt man sich ein bisschen durch; das muss ich so
sagen.
Deswegen kann ich Ihnen versprechen, dass wir uns
als SPD weiterhin auf diesem Kurs bewegen und versuchen, alles dafür zu tun, dass gentechnisch veränderte
Pflanzen in Deutschland nicht angebaut werden.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat die Kollegin Rita Stockhofe für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Warum beschäftigen wir uns so intensiv und so gegensätzlich mit diesem Thema? Sicherlich
tragen Umfragen wie die von Greenpeace ihren Teil
dazu bei. Das Resultat: 88 Prozent der deutschen Bevölkerung sind gegen genmanipulierte Pflanzen in unserem
Land;
({0})
das haben die Kollegin von der Linken und auch andere
vorhin schon erwähnt.
Wie kam es zu diesem Ergebnis? Bei den Antwortmöglichkeiten gab es „Ja“, „Nein“, „Weiß nicht“. Viele
von Ihnen haben sicherlich häufiger E-Mails in Ihrem
Postfach, in denen zur Teilnahme an solchen Umfragen
aufgefordert wird. Ich weiß nicht, wie Sie sich da verhalten - ich antworte nur dann, wenn ich meine Antwort begründen kann, weil ich finde: Alles andere ist unseriös.
({1})
Nichtsdestotrotz ist es so, dass viele Menschen diesem Thema gegenüber kritisch sind. Woran liegt das?
Viele Menschen sind unsicher. Woher kommt diese Unsicherheit? Wenn bei der Berlinale der Film Tante Hilda!
gezeigt wird, der eine manipulierte Pflanze zeigt, die eigentlich der Bekämpfung des Welthungers dienen soll,
dann aber zu einer Umweltkatastrophe beiträgt, schürt
das Ängste.
({2})
Ist es demgegenüber nicht besser, wenn wir sachlich fundierte Argumente bringen, um diese Unsicherheiten und
Ängste zu nehmen?
Wenn dann noch der Vergleich mit der Atomenergie
kommt, macht das die ganze Geschichte natürlich nicht
besser. Es gibt über 1 000 wissenschaftlich fundierte
Studien, die belegen, dass weder für Mensch und Tier
noch für die Umwelt Risiken bestehen, wenn genveränderte Pflanzen angebaut oder konsumiert werden. Selbst
das Verdauungssystem der Bienen ist analysiert worden,
und sogar darüber gab es keine negativen Erkenntnisse.
Bereits seit 18 Jahren wird Gentechnik von Landwirten genutzt. Weder ein Mensch noch ein Tier oder die
Natur sind in dieser Zeit dadurch zu Schaden gekommen. Auch Herr Ebner kennt sicherlich niemanden, der
dadurch zu Schaden gekommen ist. Die wenigsten Menschen wissen, dass sie regelmäßig Produkte konsumieren, die gentechnisch veränderte Bestandteile enthalten,
und das, obwohl wir eine Kennzeichnungspflicht haben.
Lebensmittel von Tieren, die mit gentechnisch verändertem Futter gefüttert werden, müssen nicht gekennzeichnet werden, und zwar deswegen, weil keine gentechnischen Veränderungen festgestellt werden können.
Forscher aus München haben zwei Jahre lang Kühe mit
gentechnisch verändertem Mais gefüttert, in der Milch
aber keine gentechnischen Veränderungen festgestellt.
Somit findet auch hier keine Kennzeichnung statt.
Über 80 Prozent des Sojas, das weltweit hergestellt
wird, ist gentechnisch verändert. Da Soja ein wichtiger
Proteinlieferant ist, ist es Bestandteil nahezu jeder Futterration von Schweinen. Auch in der Rinderhaltung wird
es regelmäßig eingesetzt. Zur Geflügelhaltung, in der
das nicht gemacht werden soll, ist vorgestern eine Pressemitteilung herausgegeben worden, dass gar nicht genug GVO-freies Soja zur Verfügung steht, um das Geflügel gentechnikfrei zu ernähren.
({3})
Wir alle essen also bereits seit Jahren genveränderte
Lebensmittel, egal ob aus konventioneller Erzeugung
oder aus der Biobranche. Bioanbieter nutzen häufig die
CMS-Technik. Dabei werden nützliche Gene zwischen
Arten transferiert. Biochicorée enthält beispielsweise die
Erbsubstanz der Sonnenblume und Brokkoli Gene des
japanischen Rettichs. Das hat nichts mit einer Wertung
zu tun; das ist einfach Realität.
Enzyme, Hefen und Geschmacksstoffe werden ebenfalls gentechnisch hergestellt. Wenn wir nun die Forschung anderen Ländern überlassen, stehlen wir uns aus
der Verantwortung und vertun Chancen.
({4})
Es kann doch nicht sein, dass die Angst, die aus Unsicherheit und mangelnder Aufklärung entsteht, über der
Vernunft steht, die auf einem fundierten Forschungsergebnis beruht. Ein Artikel aus der Zeit Online trifft den
Nagel auf den Kopf mit der Aussage - Zitat -:
Es geht nicht um das Ende der Welt, es geht um
eine mit 20 Jahren noch immer junge Technologie,
die kritisch hinterfragt werden sollte, aber kein
Grund zur Panik ist.
In der Medizin sind genveränderte Produkte mittlerweile anerkannt.
({5})
Das war nicht immer so. Aber durch den großen Nutzen
bei der Behandlung von Krankheiten ist die Akzeptanz
in den Köpfen der Bevölkerung angekommen. Als bekanntes Beispiel möchte ich Insulin nennen. Aus diesem
Grund haben wir die Möglichkeit, diese Medikamente
nun in Deutschland selber herzustellen und auch weiterzuentwickeln. Diese Chance haben wir in der Grünen
Gentechnik nicht.
Mittlerweile gibt es gentechnisch veränderte Lebensmittel wie den Goldenen Reis, die Krankheiten vorbeugen können. Durch die Aufnahme von Vitamin A in diesen speziellen Reis können Sehstörungen und Blindheit,
die in Asien häufig durch Vitamin-A-Mangel ausgelöst
werden, vermieden werden.
Hier sind wir jetzt bei einem neuen Thema, dem Welthunger. Es gibt keine einheitliche Meinung, die besagt,
dass der Welthunger durch genveränderte Pflanzen bekämpft werden kann. Aber die Chance dazu sollten wir
uns offenhalten.
({6})
Wir in Deutschland haben Lebensmittel im Überfluss.
Das ist nicht selbstverständlich, und das ist auch nicht
überall so, im Gegenteil.
Abschließend möchte ich festhalten: Ich bin davon
überzeugt, dass wir es uns nicht leisten können, die Gentechnik zu ignorieren, auch im Hinblick auf die rapide
wachsende Weltbevölkerung. Es muss selbstverständlich
sein, dass wir verantwortungsvoll damit umgehen. Dazu
könnte eine neue transparente Kennzeichnungspflicht
beitragen.
Danke schön.
({7})
Kollegin Stockhofe, das war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag. Wir gratulieren Ihnen dazu herzlich
und wünschen Ihnen Erfolg in Ihrer Arbeit.
({0})
Das Wort hat der Kollege Hermann Färber für die
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir alle sind
uns bewusst, dass ein Großteil der Bevölkerung die Gentechnik kritisch betrachtet, dieser neuen Technologie kritisch gegenübersteht. Für mich ist ganz klar: Jeder, der
für sich die Gentechnik ablehnt, hat das gute Recht dazu.
Er muss sich deshalb auch gegenüber niemandem rechtfertigen. Wir als Abgeordnete aber müssen Entscheidungen für andere treffen. Deshalb haben wir auch die
Pflicht, zu erklären, wie wir zu unseren Entscheidungen
kommen.
Für mich können Entscheidungsgrundlagen in Fragen
der Gentechnik nur wissenschaftliche Erkenntnisse sein.
Wir können uns hier nicht auf Emotionen oder auf unser
Bauchgefühl berufen. Wir brauchen eine objektive und
verlässliche Grundlage. Diese bietet uns die Wissenschaft.
({0})
Wir haben in Deutschland und auch in Europa renommierte Forschungsinstitute. Ich denke an die HelmholtzGemeinschaft, die Max-Planck-Gesellschaft und die
Fraunhofer-Gesellschaft. Sie garantieren gerade im sensiblen Bereich der Gentechnik eine verantwortungsbewusste Forschung, und zwar - das ist sehr wichtig - unter rechtsstaatlicher Kontrolle.
({1})
Es muss auch klar sein: Wer diese Forschung in
Deutschland verhindert, treibt sie lediglich in andere
Länder, und zwar in Länder, wo es weniger Kontrolle
und Schutz gibt und wir keinerlei Einfluss darauf haben,
in welche Richtung die Forschung geht und wie die dazugehörige Sicherheitsforschung aussieht.
({2})
Bei den Maissorten, die bisher zur Debatte standen,
bietet die gentechnische Veränderung im Moment überhaupt keinen Vorteil bei einem Anbau in Deutschland.
Bei unseren Fruchtfolgen, die wir Landwirte praktizieren, kommen wir mit den konventionellen Sorten hervorragend klar. Wie gesagt, ist der Anbau genveränderter Pflanzen schon allein wegen der Abstands- und
Haftungsregelungen in Deutschland völlig unattraktiv.
Ich sehe im Moment auch keine Gefahr bzw. keinen Anlass, dass dieser Anbau bei uns stattfinden wird. Ich kann
es auch keinem empfehlen, schon allein deshalb nicht,
weil es gar keinen Sinn machen würde. Mit anderen
Worten - das sage ich Ihnen an dieser Stelle als praktizierender Landwirt -: Wir brauchen den Mais 1507 derzeit bei uns nicht.
({3})
Ich kann verstehen, dass ein Konzern wie Monsanto
bei vielen Menschen Unbehagen auslöst. Es ist aber
sachlich nicht angemessen, die Diskussion über die Gentechnik allein auf die Problematik und die Patentlizenzen
von Monsanto zu reduzieren. Ich bin der Ansicht: Die
Debatte über die Gentechnologie muss von der Debatte
über Patentinhabe und Vermarktungswege getrennt geführt werden.
Wir brauchen in dieser Diskussion aber auch mehr
Ehrlichkeit.
({4})
Dazu gehört - das haben schon meine Vorredner gesagt -,
dass wir anerkennen, wo bisher in Europa und in Deutschland Gentechnik schon eingesetzt wird. Das ist nicht nur in
der Medizin und bei einem großen Teil von Geschmacksstoffen, Hefen und Enzymen der Fall, sondern auch bei Futtermitteln. Heute wurde schon gesagt: Weltweit werden 80
bzw. 81 Prozent des gesamten Sojaanbaus mit gentechnisch
verändertem Saatgut durchgeführt. Seit knapp zwei Jahrzehnten - auch das muss uns bewusst sein - werden diese
Sojabohnen in die Europäische Union importiert; sie werden bei uns an Tiere verfüttert, und in unseren Läden finden
sich Milch und Fleisch dieser Tiere. Der bekannte Schaden
aus der Produktion ist gleich null.
({5})
Lassen Sie mich noch einen Satz zu diesem Thema
anfügen. Es muss auch gesagt werden: Lebensmittel hier
in Deutschland sind heute so gut und so sicher, wie sie es
noch nie in unserer Geschichte waren. Auch das ist Ergebnis wissenschaftlicher Forschung.
({6})
Ich möchte zum Schluss kommen. Ich wünsche mir
einfach eine sachliche Debatte, eine Debatte, die im Einzelfall durchaus Chancen und Risiken betrachtet. Ich
habe Respekt vor jedem hier, der eine andere Ansicht
hat; ich erwarte aber auch den Respekt vor meiner Position. Ich schlage Ihnen vor: Lassen Sie uns offen über
die bisherige Forschung und über die bisherigen Erfahrungen aus dem Anbau diskutieren, und zwar ohne
Scheuklappen, ohne Vorurteile in die eine oder andere
Richtung! Lassen Sie uns dann auf wissenschaftlicher
Basis verantwortbare Entscheidungen für jeden Einzelfall treffen! Ich freue mich auf die Gespräche mit Ihnen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Herzlichen Dank, Herr Kollege Färber. Das war Ihre
erste Rede. Ich gratuliere Ihnen dazu im Namen des gesamten Hauses.
({0})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b auf:
a) - Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Auswärtigen Ausschusses
({1}) zu dem Antrag der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter
deutscher Streitkräfte an der EU-geführten Ausbildungsmission EUTM Mali auf
Grundlage des Ersuchens der malischen
Regierung sowie der Beschlüsse 2013/34/
GASP und 2013/87/GASP des Rates der
Europäischen Union ({2}) vom 17. Januar
2013 und vom 18. Februar 2013 in Verbindung mit den Resolutionen 2071 ({3}),
2085 ({4}) und 2100 ({5}) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen
Drucksachen 18/437, 18/603
- Bericht des Haushaltsausschusses ({6}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
Drucksache 18/616
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({7}) zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Dr. Frithjof Schmidt, Omid Nouripour,
Agnieszka Brugger, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
zu der Abgabe einer Regierungserklärung
durch die Bundeskanzlerin zum Europäischen Rat am 19./20. Dezember 2013 in Brüssel
Drucksachen 18/196, 18/531
Zu dem Antrag der Bundesregierung liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
vor. Über die Beschlussempfehlung zu dem Antrag der
Bundesregierung werden wir später namentlich abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Damit ist so beschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich darf Sie jetzt
bitten, die Plätze wieder einzunehmen. Dann könnte ich
die Aussprache eröffnen und den ersten Redner aufrufen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Niels Annen, SPD-Fraktion.
({8})
Verehrte Frau Präsidentin, vielen Dank. - Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Erinnern wir uns: Vor gut
einem Jahr waren islamistische Rebellen aus dem Norden Malis auf dem Vormarsch in Richtung Hauptstadt
Bamako. Wären sie damals nicht durch das entschlossene Eingreifen von Frankreich am Weitermarsch gehindert worden, dann könnten wir heute nicht über die Fortschritte beim Wiederaufbau auch der staatlichen
Strukturen im Norden des Landes miteinander diskutieren.
({0})
Vermutlich wäre ein weiterer afrikanischer Staat zu einem Failed State geworden und in die Hände islamistischer Rebellen gefallen.
Das ist glücklicherweise nicht eingetreten. Die Tatsache, dass sich der politische Prozess gut entwickelt hat,
dass Fortschritte beim Wiederaufbau des Landes erzielt
werden konnten, dass Präsidentschafts- und Parlamentswahlen stattgefunden haben und eine neue Regierung
ihre Arbeit aufnehmen konnte, hat auch damit zu tun,
dass die internationale Gemeinschaft Mali eben nicht im
Stich gelassen hat. Außerdem hat es damit zu tun, dass
wir mit EUTM Mali und mit der UN-Mission
MINUSMA unsere Entschlossenheit zum Handeln demonstriert haben.
({1})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die außenpolitische Debatte der vergangenen Wochen hat zum Teil
fast skurrile Züge angenommen. So wurde unterstellt,
Deutschland beabsichtige jetzt, quasi routinemäßig überall und gerade in Afrika Soldaten einzusetzen. Ich will
an dieser Stelle klar sagen: Das ist eine bewusste Verdrehung der Tatsachen. Eine Zahl macht das deutlich: Auf
dem Höhepunkt unseres Engagements - wir hatten heute
eine Debatte zu Afghanistan - hatte Deutschland 10 000
Soldatinnen und Soldaten im Auslandseinsatz. Heute liegen wir bei unter 5 000, mit fallender Tendenz. Statt
mehr Soldaten schicken wir weniger Soldaten ins Ausland.
Dennoch beschließen wir heute mit der Verlängerung
des EUTM-Mali-Mandates eine geringfügige Erhöhung
der Mandatsobergrenze von 180 auf 250 Soldaten. Ihr
Auftrag ist es, die malischen Streitkräfte so auszubilden,
dass sie zukünftig in der Lage sind, im eigenen Land für
Sicherheit zu sorgen. Seit Februar 2013 konnten bereits
knapp 3 000 malische Soldaten ausgebildet werden. Ich
finde, auch das ist ein Anlass, den deutschen Soldatinnen
und Soldaten zu danken, die diese schwierige Aufgabe
bewältigt haben und weiter bewältigen.
({2})
Was machen wir in Mali? Wir stärken malische Eigenverantwortung, indem wir die taktischen Fähigkeiten
der malischen Soldaten verbessern. Darüber hinaus leisten deutsche Soldatinnen und Soldaten Sicherungsaufgaben sowie Sanitätsdienste. Wir begrüßen den Beschluss,
Teile der Deutsch-Französischen Brigade in Mali einzusetzen.
({3})
Dies ist der erste gemeinsame Einsatz in Afrika. Er ist
auch ein politisches Bekenntnis zur revitalisierten Zusammenarbeit zwischen unseren Ländern.
Unser Engagement ist keineswegs auf den militärischen Part begrenzt. Für die Lösung des komplizierten
innermalischen Konfliktes ist der politische Prozess entscheidend; jeder von uns ist sich darüber im Klaren. Die
Verhandlungen müssen fortgesetzt werden. Gerade die
Einbeziehung der Tuareg ist eine komplexe Aufgabe.
Ziel muss es sein, die Gruppen miteinander auszusöhnen, in die staatlichen Strukturen, die reformbedürftig
sind - das haben die Ereignisse der letzten Monate gezeigt -, mit einzubeziehen. Nur dann kann langfristig
eine Stabilisierung gelingen.
Ich habe hier vor drei Wochen mit dem malischen
Versöhnungsminister sprechen können. Ich kann Ihnen
sagen: Die Erwartungen an uns sind hoch. Wir werden
sie gar nicht alle erfüllen können. Umso wichtiger ist es,
dass wir auch im Deutschen Bundestag zu prominenter
Zeit darüber diskutieren. Wir müssen unsere Anstrengungen verstetigen und auch weiter intensivieren. Das
gilt auch für die Entwicklungszusammenarbeit.
Ich will die Gelegenheit nutzen, hier nicht nur den
deutschen Soldatinnen und Soldaten zu danken, sondern
auch den Diplomaten, den Entwicklungshelfern. Ich will
aber auch die deutschen Stiftungen erwähnen, die vor
Ort sind. Sie leisten ihre Arbeit in keiner ganz einfachen
Situation. Für unsere Expertise hier im Deutschen Bundestag haben sie wichtige Beiträge geleistet.
({4})
Ich begrüße die Bestrebungen für eine zivile GSVPMission in Mali. Das unterstreicht auch den politischen
Charakter dessen, was wir hier miteinander diskutieren:
dass es um eine frühzeitige und um eine nachhaltige
Stärkung funktionstüchtiger, demokratischer, legitimer
Strukturen geht. Es ist also ein umfassender Ansatz, über
den wir hier reden.
Außenminister Steinmeier hat in seiner Rede in München zu Recht darauf hingewiesen, dass Deutschland bereit ist, mehr Verantwortung zu übernehmen. Mali ist ein
Beispiel dafür, wo wir Verantwortung in einem umfassenden Sinne übernehmen. Ich glaube, es kann uns allen
miteinander nicht gleichgültig sein, wenn Staaten zerfallen und in die Hände extremistischer Kräfte gelangen.
Lassen Sie uns, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, darüber reden, was unser Beitrag zur Stabilisierung
dieser Region sein kann! Lassen Sie uns über die notwendigen politischen und entwicklungspolitischen, diplomatischen und, wie in diesem Falle, bescheidenen militärischen Mittel reden! Lassen Sie uns dieses Mandat
verlängern und in die notwendige Diskussion darüber
eintreten, wie wir die krisenhaften Teile des afrikanischen Kontinents unterstützen können!
Ich bitte um Zustimmung und danke für die Aufmerksamkeit.
({5})
Für die Fraktion Die Linke spricht jetzt die Kollegin
Christine Buchholz.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit großem Tamtam hat Angela Merkel gestern in Paris die
Ausweitung des Militäreinsatzes in Mali verkündet und
das auch noch als einen großen Beitrag zur deutsch-französischen Freundschaft verkauft. Richtig ist: Frankreich
und Deutschland haben ein gemeinsames Ziel. Paris will
Einfluss in Afrika halten; die Bundesregierung will ihren
Einfluss vergrößern. Doch die Haushalte in beiden Ländern sind klamm. So macht man einen Deal: Paris hat
die Militärbasen und die Beziehungen zu den nicht selten korrupten Machthabern in Afrika; Berlin wird eingeladen, Lasten zu übernehmen. Dafür darf die Bundeswehr im Huckepack in die Kriegsgebiete.
({0})
Militärpartnerschaft ist nicht das, was wir Linke unter
der deutsch-französischen Freundschaft verstehen.
({1})
Die militärische Ausbildungsmission der EU in Mali
geht an der Lösung der Probleme im Land vorbei:
Erstens. Die Ausbildungsmission ist von dem Kampfeinsatz der französischen und der afrikanischen Truppen
nicht zu trennen. Die malischen Pioniere, Sanitäter und
nun auch bald Infanteriekräfte, die die Bundeswehr ausbildet, werden für den Krieg im Norden eingesetzt.
Zweitens. Man kann Terror nicht mit Krieg bekämpfen,
({2})
im Gegenteil: Experten schätzen, dass von den circa
2 500 Aufständischen und Dschihadisten, die 2012 den
Norden kontrolliert haben, circa 1 500 getötet oder verhaftet worden sind, aber an die 1 000 sich in den Bergen
und in den Dörfern weiter versteckt halten. Sie sind also
nicht weg. Sie beantworten die entscheidende Frage
nicht: Was sind die wirtschaftlichen und sozialen Wurzeln des Widerstands und des Dschihadismus in Mali?
Warum hat der malische Staat so wenig Unterstützung in
weiten Gebieten des Nordens?
Die Menschen, die in die Nachbarländer geflohen
sind - 160 000 -, können nicht zurück. Medienberichten
zufolge genehmigt die malische Regierung ihnen nicht
die Rückkehr. Gestern mutmaßte der Vertreter des Auswärtigen Amtes im Verteidigungsausschuss, warum. Er
sagte, die malische Regierung würde vor Angst, Aufständische könnten in das Land zurückkehren, die Rückkehr der Flüchtlinge verzögern. Das zeigt doch nur, dass
Ihr Ansatz keine Lösung bietet.
({3})
Drittens. Es hat bereits vor 2012 militärische Ausstattungshilfe und Ausbildung durch die Bundeswehr gegeben, übrigens auch von Frankreich und den USA. Das
hat die Krise nicht verhindert. Vielmehr sind mit Unterstützung Frankreichs und der internationalen Gemeinschaft die sozialen und politischen Kräfte gestärkt worden, die vor 2012 das Sagen im Land hatten und damit
mitverantwortlich für die Entwicklung der letzten Jahre
sind.
Viertens. Wir sind gegen diesen Einsatz, weil das militärische Handeln nicht von den wirtschaftlichen Interessen zu trennen ist.
({4})
Mali - das müssen auch die Grünen zur Kenntnis nehmen - ist der drittgrößte Goldproduzent in Afrika. Das
Land sitzt auf reichen Öl- und Gasvorkommen, und in
der Region gibt es Uranabbau. Der Bergbauminister
Boubou Cissé erklärte im September 2013, dass alle Verträge zwischen Mali und den internationalen Bergbaukonzernen sowie alle Lizenzen auf den Prüfstand kommen. Aber über wie viel Unabhängigkeit verfügt eine
Regierung, die zur Herstellung ihrer Macht in der Hand
jener Länder ist, aus denen die Bergbaukonzerne stammen?
({5})
Cissé erhielt sogleich Gegenwind: von Richard Zink,
dem Vertreter der Europäischen Union, aber auch von
dem Vertreter des Bergbauverbands in Mali, Abdoulaye
Pona. Die Revision der Bergbauverträge müsse im Interesse der Investoren sein, sagte dieser. - Das ist definitiv
eine Position, die wir als Linke nicht teilen.
({6})
Lassen Sie mich eines sagen: Herr Arnold von der
SPD hat mir in der letzten Debatte vorgeworfen, es sei
eine Ungeheuerlichkeit, darauf hinzuweisen, dass die
Bundeswehr nicht nur die malische Armee trainiere,
sondern auch sich selbst.
({7})
Bitte verkaufen Sie die Öffentlichkeit nicht für dumm!
({8})
Natürlich muss die Bundeswehr, wenn sie in mehr afrikanische Einsätze geschickt werden soll, dort Erfahrungen sammeln, um fit zu werden.
Das ist der Effekt, der ja genau in Ihre außenpolitische
Strategie passt, eine Strategie, um im Rahmen von europäischen und anderen multilateralen Einsätzen deutsche
Soldaten in die Welt zu schicken. Was mit Transport,
Ausbildung und Sanitätern beginnt, kann mit Kampfeinsätzen enden. Wir halten diese Strategie für falsch. Deswegen werden wir auch heute gegen die Beteiligung an
EUTM Mali stimmen.
({9})
Es spricht jetzt der Kollege Dr. Andreas Nick, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die CDU/CSU-Fraktion unterstützt den Antrag der Bundesregierung zur Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter Streitkräfte an der EU-geführten Ausbildungsmission
EUTM Mali, der heute erneut zur Beratung und zur endgültigen Beschlussfassung ansteht. Im Kern beschließen
wir die Verlängerung des Mandats bis zum 28. Februar
2015 und die Anhebung der Personalobergrenze von 180
auf bis zu 250 Einsatzkräfte. Lassen Sie mich noch einmal betonen: Es handelt sich bei EUTM Mali ausdrücklich nicht um einen Kampfeinsatz, sondern um eine Trainingsmission.
({0})
Schwerpunkt des Einsatzes bleibt die Pionierausbildung für malische Soldatinnen und Soldaten. Bis Mai
2014 werden planmäßig vier Gefechtsverbände die Ausbildung durchlaufen haben. Einige dieser Verbände haben bereits erfolgreich zur Verbesserung der Sicherheitslage im Norden des Landes beigetragen.
Damit verbunden sind ebenso die Erweiterung um
Beratungsleistungen für das Verteidigungsministerium
und die Führungsstäbe in Mali wie notwendige Sicherungsmaßnahmen zum Schutz der Mission selbst. Im
Mittelpunkt des Mandats steht also ganz eindeutig die
Befähigung lokaler Sicherheitskräfte mit dem Ziel eines
langfristig stabilen Staates.
Teil des Mandats ist auch die sanitätsdienstliche Unterstützung der deutschen Einsatzkräfte und der beteiligten malischen Streitkräfte. Dabei ist auch das Lazarettregiment 21 „Westerwald“ aus Rennerod in meinem
Wahlkreis als Leitverband für das fünfte Kontingent in
Mali vorgesehen, welches im August 2014 startet. Vorgänger dieses Verbandes waren bereits am allerersten
Auslandseinsatz der Bundeswehr überhaupt beteiligt,
nämlich im Jahre 1960 an der humanitären Hilfe nach
dem verheerenden Erdbeben von Agadir in Marokko,
ebenfalls auf dem afrikanischen Kontinent. Ich nutze
deshalb besonders gern die Gelegenheit, allen an der
Mission EUTM Mali beteiligten Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr herzlich für ihr Engagement und die
Mitwirkung an diesem wichtigen Einsatz zu danken.
({1})
Die Mission EUTM Mali ist ein gutes Beispiel dafür,
wie Deutschland seiner gewachsenen internationalen
Verantwortung gerecht wird.
Wir handeln hier erstens gemeinsam mit unseren Partnern in der Europäischen Union. Soldaten aus 23 europäischen Ländern sind im Rahmen der Mission im Einsatz. Die CDU/CSU-Fraktion begrüßt ausdrücklich die
gestrige Entscheidung, in Mali die Deutsch-Französische Brigade erstmals auch im Rahmen einer EU-Mission einzusetzen.
Wir handeln zweitens auf Bitten der malischen Regierung, die im Übrigen über den Rahmen des derzeitigen
Mandats hinaus auch die Ausbildung von weiteren vier
Gefechtsverbänden anstrebt. Darüber wird zu gegebener
Zeit zu entscheiden sein.
Wir handeln drittens im Rahmen eines Mandats der
Vereinten Nationen. Die EU-Mission erfolgt parallel zu
der VN-geführten Mission MINUSMA, deren Einsatzkräfte überwiegend von Soldaten afrikanischer Staaten
gestellt werden, insgesamt etwa 6 400 Soldaten.
Die Verteidigungsministerin hat vergangene Woche
auf das eindrucksvolle Beispiel des aus Ruanda stammenden Offiziers Jean Bosco Kazura verwiesen, der
1994 den Völkermord in seiner Heimat Ruanda - Ruanda ist übrigens das Partnerland meiner Heimat Rheinland-Pfalz - miterleben musste und der heute als Kommandeur der VN-Mission MINUSMA in Mali aktiv ist.
Ich will unterstreichen: Wir unterstützen damit in
Mali auch die weitere Entwicklung regionaler Sicherheitsstrukturen, innerhalb derer die afrikanischen Staaten
selbst die vorrangige Verantwortung für Stabilität auf ihrem Kontinent übernehmen.
Die Entwicklung in Afrika kann uns nicht gleichgültig sein. Das ist nicht nur eine Frage der humanitären
Verantwortung, sondern auch Ausdruck unseres wohlverstandenen Eigeninteresses.
Wir wollen in unserer europäischen Nachbarschaft Sicherheit, Stabilität und nachhaltige Entwicklung ermöglichen.
Unser Engagement muss eingebettet sein in das Gesamtkonzept einer Afrika-Strategie. Dabei müssen wirtschaftliche Zusammenarbeit, Entwicklungshilfe, der
Aufbau staatlicher Strukturen und, wo nötig, militärische
Unterstützung Hand in Hand gehen. Ich freue mich, dass
der frühere Bundespräsident Horst Köhler mit seiner
großen Glaubwürdigkeit bei diesem Thema und mit seiner persönlichen Leidenschaft für Afrika unsere Fraktion
bei der weiteren Entwicklung einer Afrika-Strategie unterstützen wird.
({2})
Meine Damen und Herren, Deutschland profitiert wie
kaum ein anderes Land auf der Welt von der offenen,
freien und sicheren Weltordnung. Es ist deshalb das
überragende strategische Interesse unseres Landes, diese
Ordnung zu bewahren und weiterzuentwickeln. Dazu
leisten wir auch mit der Mission EUTM Mali einen Beitrag. Deshalb bitte ich Sie um die Unterstützung des vorliegenden Antrages.
Herzlichen Dank.
({3})
Kollege Nick, das war Ihre erste Rede in diesem
Hause. Auch Ihnen gratuliere ich im Namen aller Kolleginnen und Kollegen.
({0})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt
der Kollege Cem Özdemir.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir begrüßen, dass die Bundesregierung eine öffentliche
Debatte über die Verantwortung und das internationale
Engagement Deutschlands angestoßen hat. Richtig ist
auch, dass die Bundesregierung eine neue Afrika-Strategie entwickelt. Aber wenn Sie eine neue Afrika-Strategie entwickeln wollen, dann müssen Sie uns, dem Hohen
Haus, auch die Ziele und vor allem die Interessen benennen. Das gehört zu einer ehrlichen Debatte dazu.
Ich habe eine herzliche Bitte: Wir dürfen die Debatte
- das gilt für die Befürworter, zu denen ich mich ausdrücklich zähle, ebenso wie die Mehrheit unserer Fraktion, als auch die Gegner - nicht auf die militärischen
Mittel und die Militäreinsätze reduzieren. Aus dem umfassenden Werkzeugkasten der Außenpolitik darf eben
nicht immer nur der Hammer der militärischen Intervention benutzt werden; manchmal brauchen wir auch den
Schraubenzieher oder den Lötkolben.
({0})
Zu verantwortungsvollem Engagement gehören Diplomatie, Demokratieförderung, zivile Konfliktprävention, humanitäre Hilfe und schließlich die Entwicklungszusammenarbeit.
({1})
Die Trainings- und Ausbildungsmission der EU in Mali
ist ein positives Beispiel dafür. Sie hat bislang einen hilfreichen Beitrag zur Stabilisierung geleistet und damit
auch mitgeholfen, den erneuten politischen Dialog und
den Versöhnungsprozess in Mali zu ermöglichen. Der
Aufbau des Sicherheitssektors in Mali ist noch längst
nicht abgeschlossen; das wissen wir. Wir wissen auch,
dass die Situation im Norden des Landes gerade für die
Zivilbevölkerung nach wie vor angespannt ist. Wir,
Bündnis 90/Die Grünen, werden mehrheitlich dem Mandat zustimmen, gerade weil dieses Mandat eine klare
Aufgabenbegrenzung für die deutschen Soldatinnen und
Soldaten vorsieht.
Frau Buchholz, die Argumente der Linken hätten
mehr Glaubwürdigkeit, wenn Sie sagen würden: Bei diesem Einsatz, den die UN, die Gemeinschaft afrikanischer Staaten, die Nachbarstaaten und die Menschen im
Land befürworten, sind auch wir dafür; bei anderen sind
wir dagegen. Dann wäre es spannend, Ihnen zuzuhören
und Argumente auszutauschen. Aber bei einer Fraktion,
die zu jedem Einsatz, egal was die Vereinten Nationen
sagen, prinzipiell Nein sagt,
({2})
lohnt es sich auch nicht, die Argumente anzuhören.
({3})
Denn dann ist das einfach Ideologie pur und hat mit den
Menschen vor Ort nichts zu tun. Ich bin nicht bei der
Linkspartei, sondern bei den Grünen, aber ich habe in
den linken Lehren Internationalismus anders gelernt. Es
geht um Internationalismus, nicht um Nationalismus,
meine Damen und Herren von der Linkspartei.
({4})
Ich sehe den Einsatz der Deutsch-Französischen Brigade auch im Rahmen dieser Mission als einen Schritt
hin zu mehr Abstimmung in der Europäischen Union,
und die brauchen wir. Frau Ministerin, allerdings hätten
wir da noch eine Frage. Die Brigade ist ja bekannt als
eine schnelle Eingreiftruppe. Da würden wir gerne wissen, was genau die konkrete Aufgabe dieser Brigade in
Mali sein soll.
Ich finde - das muss in einer solchen Debatte ehrlich
gesagt werden -, dass zu jedem Einsatz, also auch zu
diesem, eine Evaluierung durchgeführt werden muss.
Wir wollen wissen, wie viele Soldatinnen und Soldaten
in Mali konkret von der Bundeswehr ausgebildet worden
sind, und natürlich auch, wie der weitere Bedarf hinsichtlich der militärischen Kapazitäten der malischen
Armee ist. Es muss künftig zu jeder Debatte in diesem
Haus gehören, dass wir anschließend gemeinsam auswerten und ehrlich sagen, was richtig gelaufen ist, was
falsch gelaufen ist und wo möglicherweise Konsequenzen gezogen werden müssen.
Frau Ministerin, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir
haben eine weitere Bitte an Sie. Vergessen Sie bitte
nicht: Der Demokratisierungsprozess in diesem Land ist
noch längst nicht abgeschlossen. Es stehen noch Kommunalwahlen an. Die Arbeitsfähigkeit des Parlamentes in
Mali muss noch hergestellt werden. Der Versöhnungsprozess im Land muss endlich in Gang gebracht werden. Bei
diesen Aufgaben muss die Bundesrepublik Deutschland
mindestens dasselbe Engagement zeigen wie bei der
Ausbildungsmission.
Schließlich müssen wir uns um die Flüchtlinge kümmern. Es handelt sich um mehr als eine halbe Million
Menschen, wenn wir die Binnenvertriebenen mitzählen.
Dies birgt ein hohes Störpotenzial für die Region und
kann die Region destabilisieren. Auch hier sind wir gefordert. Darum wünsche ich, dass wir auch zur humanitären Hilfe aktiv beitragen. Die Vereinten Nationen haben uns als Bedarf 6,73 Prozent der entsprechenden
Hilfe mitgeteilt. Es wird Zeit, dass wir unseren Beitrag
leisten und uns nicht hinter anderen verstecken.
({5})
Ich komme zum Schluss. Wir brauchen eine strategische Koordination der Maßnahmen unter Einbeziehung
der Zivilgesellschaft in Mali. Das betrifft insbesondere
die Frauen, weil vor allem sie über die Zukunft des Landes entscheiden werden. Wir brauchen ausdrücklich eine
Einbeziehung der Nachbarländer - ich nenne nur Algerien und Mauretanien -; ohne sie gibt es keine Friedenslösung. Frau Ministerin, wir wollen auch, dass die Trainings- und Ausbildungsmission der EU in die AfrikaStrategie eingebunden wird. Was wir im Land brauchen,
ist Ernährungssicherheit, Demokratisierung, Bestärkung
der Rolle der Frauen und Korruptionsbekämpfung.
Wir stimmen diesem Einsatz zu. Das ist unser Beitrag, unsere Verantwortung gegenüber Mali. Das machen
wir auch aus der Opposition heraus; denn wenn etwas
gemacht wird, was richtig ist, dann fällt uns kein Zacken
aus der Krone, das auch zu sagen.
({6})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Gabi Weber, SPDFraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen
und Kolleginnen! Es ist schön: Ich bin schon die vierte
Rednerin, die sich darüber freut, dass erstmals Teile der
Deutsch-Französischen Brigade im Rahmen des deutschen Kontingents an einer EU-Mission beteiligt werden.
({0})
Wenn wir in der Welt mit einer starken europäischen
Stimme wahrgenommen werden wollen, dann dadurch,
dass dies nicht nur ein symbolischer Ansatz ist, sondern
ein erster Schritt zu einer wirklich gemeinsamen europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik.
Wir verlängern heute das Mandat für die Bundeswehr
in Mali - hoffentlich. Unsere Bundeswehrsoldaten und
-soldatinnen bilden dort malische Streitkräfte aus. Bisher
liegt die personelle Grenze bei 180 Soldatinnen und Soldaten; mit dem neuen Mandat wird diese Zahl um 70 auf
dann 250 Einsatzkräfte erhöht. Von einer Invasion Afrikas, wie es in den vergangenen Tagen einige Male anklang, kann also absolut keine Rede sein.
({1})
Im Gegenteil: Wir werden im Verbund mit den europäischen Partnern auch weiterhin auf Bitten der malischen
Regierung im Land sein.
Völkerrechtliche Grundlage dafür ist ein einstimmiger Beschluss des UN-Sicherheitsrates, letztmalig erneuert im vergangenen April. Darin verurteilt der Sicherheitsrat die von terroristischen, extremistischen und
bewaffneten Gruppen geführte Offensive gegen den Süden Malis. Dort wird betont - ich zitiere -, „dass der Terrorismus nur durch einen nachhaltigen und umfassenden
Ansatz besiegt werden kann, bei dem alle Staaten und
die regionalen und internationalen Organisationen sich
aktiv beteiligen und zusammenarbeiten, um die terroristische Bedrohung einzudämmen, zu schwächen und zu
isolieren“.
Frankreich hat letztes Jahr schnell reagiert und die
Offensive rasch zurückgedrängt. Die Existenz und Einheit des malischen Staates standen auf dem Spiel. Die
Wahrscheinlichkeit, dass der Staat Mali zusammenbrach,
war hoch. Diese Gefahr ist bis heute nicht ganz gebannt.
Die Kolleginnen und Kollegen aus der Entwicklungszusammenarbeit, aber auch viele andere Fachleute wissen,
wie schwer es ist, ein funktionierendes Staatswesen wieder aufzubauen, wenn es einmal zerstört wurde. Dafür ist
Afghanistan zurzeit sicher ein schlimmes und tragisches
Beispiel.
Was tun wir nun in Mali? Und was bedeutet dies für
uns? Ganz sicher keine Kampfeinsätze. Nein, seit letztem Jahr beteiligt sich Deutschland im Rahmen der EU
und als Teil des internationalen Engagements - das betone ich noch einmal - an der Ausbildung der malischen
Armee. Wenn wir eines aus Afghanistan gelernt haben,
dann dass wir nicht früh genug mit der Ausbildung der
einheimischen Sicherheitskräfte beginnen können.
({2})
Ziel der Ausbildung ist es, dass der malische Staat
selbst für Sicherheit und Stabilität innerhalb seiner Grenzen sorgen kann. Das Motto lautet ganz unspektakulär:
Hilfe zur Selbsthilfe. Dabei können wir aber nicht stehen
bleiben. Durch unsere Beteiligung an der militärischen
Ausbildung kommt uns auch eine Verantwortung gegenüber dem Land und den Menschen zu. Dieser werden
wir uns mit mittel- und langfristigen Maßnahmen im
wirtschaftlichen und entwicklungspolitischen Bereich
stellen. Ein Beispiel für die zivil-militärische Zusammenarbeit könnte ein Beitrag der Bundeswehr zur Gesundheitsversorgung der Bevölkerung sein.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Malis neue Regierung nimmt bereits die Verantwortung in die eigenen
Hände. Eine wichtige Aufgabe ist dabei, den Versöhnungsprozess im Land zu unterstützen. Bildung ist ebenfalls eine
Riesenherausforderung. Bildung fördert Deutschland
über seine Beiträge an die EU und bilateral bei der Lehrerausbildung für benachteiligte Kinder.
Im Bereich der Wasserversorgung kooperieren wir
verstärkt mit Mali, insbesondere auch im ländlichen Bereich. Wasser ist die Basis für Landwirtschaft und Leben. Bei über 500 000 Flüchtlingen brauche ich nicht
weiter auszuführen, welche humanitäre Katastrophe
potenziell droht, wenn wir hier unser Engagement zurückfahren würden.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit Blick auf die
demnächst anstehenden Haushaltsdebatten möchte ich
abschließend darauf hinweisen, dass wir langfristig unser entwicklungspolitisches Engagement erhöhen müssen. Mit militärischer Ausbildung allein ist es dort nicht
getan. Auch deshalb ist es wichtig, die Mission jetzt zu
verlängern und darüber hinaus die Anstrengungen im
Entwicklungsbereich nicht zu vernachlässigen.
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank. - Es spricht jetzt der Kollege Michael
Vietz, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Mali steht vor einer wahren Herkulesaufgabe:
Sicherheit, Stabilität, Frieden. Leicht gesagt, schwer in
der Umsetzung; gerade aufgrund der komplexen Situation vor Ort. Bei dieser Aufgabe stehen wir und unsere
Partner an der Seite der Republik Mali. Mit einem vergrößerten Kontingent in der EU-Ausbildungsmission
wollen wir auch weiterhin an der Seite der Bevölkerung
und zu unserer Verantwortung stehen. Lassen Sie mich
an dieser Stelle, anschließend an meine Kollegen, einen
herzlichen Dank an alle ausrichten, die für uns in Mali
unterwegs sind und ihre Aufgaben im Dienste unseres
Landes treu erfüllen.
({0})
Diese Mission basiert auf dem Ersuchen der malischen Regierung, auf Beschlüssen der Europäischen
Union und Resolutionen des UN-Sicherheitsrates. Wir
sind Teil einer verantwortungsbewussten Gemeinschaft.
Deutschland ist ein verlässlicher Partner innerhalb der
EU und der Vereinten Nationen. Aus dieser Partnerschaft ergibt sich eben auch eine sichtbare und aktive
Rolle. Wie diese Rolle dann mit Leben und Charakter
gefüllt wird, liegt in unserem Ermessen, wird jeweils im
Einzelfall geprüft und letzten Endes richtigerweise hier
von uns im Bundestag entschieden.
In den letzten Wochen wurde leidenschaftlich und
vielfältig über die drei Münchner Reden diskutiert. Sowohl im Ausland als auch von Teilen dieses Hauses wurden diese geradezu reflexhaft mit „mehr deutsche Soldaten an die Front“ gleichgesetzt. Pawlow wäre begeistert
gewesen. Diese Reflexe sagen aber im Regelfall deutlich
mehr über die jeweiligen Interpreten aus als über die
Realität und die tatsächliche Außenpolitik Deutschlands.
Da mag der Wunsch Vater des Gedankens gewesen sein.
Lassen Sie uns daran erinnern: 2012 - das ist gar
nicht so lange her - stand Mali kurz davor, zu zerreißen
und zur Beute islamistischer Terroristen gemacht zu
werden. Nachdem Frankreich dies durch sein Eingreifen
verhindert und erst einmal grundlegend für Stabilität gesorgt hat, gilt es nun Mali zu ertüchtigen, damit es wieder selbst für Sicherheit, Stabilität und Frieden in seinen
Grenzen sorgen kann,
({1})
getreu dem Grundsatz: Hilfe zur Selbsthilfe. Je sicherer
und stabiler die Region ist, desto effektiver gestaltet sich
der Wiederaufbau staatlicher und ziviler Strukturen.
Nach einem guten Jahr ist in Mali noch lange nicht alles gut, aber es ist deutlich besser als zu Beginn, mit guten Prognosen für die zukünftige Entwicklung. Die Alternative wären eskalierende Konflikte und ein blutiger
Bürgerkrieg gewesen. Sicherheit, Stabilität und Frieden
sind Grundvoraussetzungen für eine anhaltende stabile
Entwicklung der Region, damit humanitäre Nothilfe wirken kann, Entwicklungszusammenarbeit Früchte trägt
und der Aufbau einer funktionierenden Zivilgesellschaft
gelingt, damit das volle Instrumentarium unserer Außenpolitik - von Entwicklungshilfe über wirtschaftliche Zusammenarbeit und alle diplomatischen Wege, die wir haben - wirkungsvoll zur Geltung gebracht werden kann.
Idealerweise wird dieser Dreiklang aus Sicherheit, Stabilität und Frieden von Mali selbst gewährleistet.
Es sollte im Grunde für jeden einsichtig und verständlich sein, dass die Menschen Perspektiven vor Ort brauchen, um sich eine Zukunft aufzubauen, um aus eigener
Kraft aus der Armutsspirale auszubrechen, um einen
wie auch immer gearteten bescheidenen Wohlstand zu
erlangen, um nicht letzten Endes als Flüchtlinge auf
dem Mittelmeer ihr Leben zu riskieren, aber auch, damit
die Region nicht zum Rückzugsort für internationalen
Terrorismus wird. Das liegt sowohl in unserem ureigensten Interesse wie auch in dem unserer Partner und der
malischen Bevölkerung.
({2})
Das bisher Erreichte darf nicht leichtfertig aufs Spiel
gesetzt werden. Alle Beteiligten in der Region leisten
Außergewöhnliches und sind doch immer wieder mit
Rückschlägen konfrontiert. Mali ist immer noch unsicheres Terrain. Jüngstes Beispiel ist die Entführung von
fünf Mitarbeitern des Roten Kreuzes, die seit Anfang Februar vermisst werden. Mittlerweile hat sich eine islamistische Gruppe zu der Entführung bekannt; die Suche
nach den Entführten ist bislang erfolglos. Solche Meldungen schockieren, gerade wenn wir sehen, in welchem
Ausmaß Mali auf Unterstützung angewiesen ist.
Es sollte unstrittig sein, dass für den Einsatz von humanitärer Hilfe und den Quasineustart des Staates etwas
getan werden muss, damit Institutionen, NGOs und deren Mitarbeiter ihren Job machen können. Auch deren
Arbeit gedeiht am besten, wenn Sicherheit, Stabilität und
Frieden langfristig durch Mali selbst gewährleistet werden. Dazu gehört, weitere Gräueltaten an der Zivilbevölkerung zu verhindern und die systematische Zerstörung
von Kulturgütern, wie etwa in Timbuktu, zu stoppen.
Konfliktpotenzial birgt dabei nicht allein der NordSüd-Konflikt, sondern auch die grundlegende Zerrüttung
der Zivilgesellschaft. Jahre der Korruption und der
Machtkämpfe um Einnahmen aus Drogenschmuggel,
Waffen- und Menschenhandel haben ihren Teil zu dem
Konflikt beigetragen. Hier muss die strukturelle Aufbauhilfe ansetzen.
Es liegt meines Erachtens auf der Hand, dass Pläne
für eine positive wirtschaftliche Entwicklung und eine
Genesung Malis erst dann greifen können, wenn die Gewalt beigelegt ist, wenn die malischen Streitkräfte dies
aus eigener Kraft gewährleisten können.
({3})
Hierauf liegt nach wie vor der Fokus der internationalen
Gemeinschaft. Derzeit brauchen die malischen Streitkräfte einfach noch Unterstützung, um in ihrem eigenen
Land langfristig selbst für Sicherheit, Stabilität und Frieden sorgen sowie dem Terrorismus Einhalt gebieten zu
können.
Es fehlt derzeit noch stark an Training, Logistik, Ausrüstung und Erfahrung. Diese Lücke schließt die Ausbildungsmission, an der wir uns beteiligen. Darum ist die
Zustimmung zum Antrag der Bundesregierung ein richtiger und wichtiger Schritt im Sinne einer verantwortungsvollen Außenpolitik.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Vielen Dank. Herr Kollege Vietz, das war heute Ihre
erste Rede im Bundestag. Ich gratuliere Ihnen im Namen
aller. Als vorletzter Redner vor einer namentlichen Abstimmung zu reden, ist eine besondere Herausforderung.
Herzlichen Glückwunsch!
({0})
Letzter Redner in der Debatte ist jetzt der Kollege
Florian Hahn, CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Vieles ist schon gesagt worden. Vermutlich
werde ich manches wiederholen, aber das lässt sich als
letzter Redner zu einem Thema, über das so große Einigkeit herrscht, nicht ganz vermeiden. Im Zweifel gelingt
es vielleicht doch noch, den ein oder anderen von der
Fraktion Die Linke zu überzeugen, dem Einsatz zuzustimmen.
({0})
Wir geben die Hoffnung nie auf.
({1})
Im Januar 2013 hat sich Frankreich entschlossen, die
malischen Truppen im Kampf gegen islamistische Einheiten im Norden zu unterstützen. So konnte in letzter
Minute ein Vordringen der Rebellengruppen, die für
Flucht und Vertreibung von Hunderttausenden verantwortlich sind, in die Hauptstadt Bamako verhindert werden. Deutschland unterstützt Frankreich im Rahmen der
EU-Mission durch Ausbildung und Beratung der malischen Armee sowie im Rahmen der UN-Friedensmission
MINUSMA durch Transportflugzeuge.
Das Mali-Mandat kann als ausgesprochen erfolgreich
bewertet werden. Ausbildung und Beratung tragen
Früchte. Die Lage in Mali insgesamt hat sich vergleichsweise beruhigt. Unser Engagement im militärischen Bereich beinhaltet die Ausbildung von Sicherheitskräften.
Sie sollen in die Lage versetzt werden, selbst dauerhaft
für Sicherheit und Stabilität zu sorgen. Das ist ein wichtiger Teil unseres vernetzten Ansatzes, der auch den
Aufbau von staatlichen und demokratischen Strukturen
sowie wirtschaftliche Entwicklung beinhaltet.
Im Zuge der Verlängerung des Mandats wollen wir
die Mandatsobergrenze um 70 auf 250 Soldatinnen und
Soldaten erhöhen. Dies ist meiner Ansicht nach richtig
und verhältnismäßig, wobei wir im Blick behalten müssen, dass die Zahl Französisch sprechender Soldaten in
der Bundeswehr begrenzt ist. Deshalb ist es gut, dass
gestern in Paris der Einsatz der Deutsch-Französischen
Brigade vereinbart wurde.
Kolleginnen und Kollegen, wir müssen unseren Einsatz in Mali verlängern, um militärische Strukturen aufzubauen, die nachhaltig und selbstständig funktionieren.
Auch wenn wir das Mandat immer nur um ein Jahr verlängern, sollten wir dafür sorgen, die Infrastruktur für
unsere Soldaten deutlich zu verbessern und auf ein längeres Engagement auszurichten.
Der Einsatz in Mali zeigt, dass wir bereits erfolgreich
Verantwortung in Afrika übernehmen. Aber die Verantwortung besteht nicht allein in der Bereitstellung von
Militär oder Kampftruppen. Es gibt weitere Krisenregionen in Afrika, die uns bereits beschäftigen oder noch beschäftigen werden.
Ich bin der Meinung, dass wir insgesamt unser Augenmerk verstärkt auf den Kontinent Afrika richten müssen. Die CDU/CSU-Fraktion wird zu diesem Thema einen eigenen Kongress durchführen; denn Afrika muss
differenziert betrachtet werden, als Kontinent, der sehr
pluralistisch und heterogen ist.
Wann immer es um einen erneuten Einsatz oder mehr
Engagement geht, sollten wir intensiver als bisher folgende Fragen beantworten: Welche Interessen leiten uns
in Deutschland oder Europa? Was wollen wir in welchem Zeitraum erreichen? Können wir das überhaupt erreichen? Wie wollen wir das erreichen? Welche Instrumente wollen wir einsetzen? Haben wir dafür überhaupt
ausreichende Ressourcen? Das gilt gerade für den Bereich Personal. Wir wissen beispielsweise, dass die Einsatzbelastung in Teilbereichen der Bundeswehr schon
jetzt sehr hoch und manchmal auch grenzwertig ist. Wir,
das Parlament, wollen zusammen mit der Regierung
Antworten auf diese Fragen erarbeiten, bevor wir neue
Einsätze bestreiten. Auf diesen Prozess freue ich mich.
Er setzt viel Bereitschaft zu Transparenz und Kommunikation bei allen Seiten voraus.
Abschließend möchte ich allen deutschen Sicherheitsund Hilfskräften speziell in Mali für ihren Einsatz danken und alles Gute, Erfolg und Gottes Segen wünschen.
Ich bitte um Zustimmung zu diesem Mandat.
({2})
Vielen Dank. - Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Drucksa-
che 18/603 zu dem Antrag der Bundesregierung zur
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher
Streitkräfte an der EU-geführten Ausbildungsmission
EUTM Mali.
Zu dieser Abstimmung liegen drei Erklärungen ge-
mäß § 31 unserer Geschäftsordnung schriftlich vor.1)
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung, den Antrag auf Drucksache 18/437 anzunehmen.
Wir stimmen über die Beschlussempfehlung namentlich
ab. Ich darf die Schriftführerinnen und Schriftführer bit-
ten, ihren Platz einzunehmen. - Sind die Plätze an den
Urnen besetzt? - Das ist noch nicht der Fall. - Jetzt sind
alle Plätze besetzt. Ich eröffne die Abstimmung.
1) Anlage 7
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme noch nicht abgegeben hat? - Ich sehe, das ist
nicht der Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die
Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszäh-
lung zu beginnen. Das Ergebnis der namentlichen Ab-
stimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.1)
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 18/610. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Damit ist der Antrag gegen die Stimmen der Grünen mit
den Stimmen des übrigen Hauses abgelehnt.
Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses
zu dem Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen zu der Abgabe einer Regierungserklärung
durch die Bundeskanzlerin zum Europäischen Rat am
19. und 20. Dezember 2013 in Brüssel. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/531, den Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/196 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen von CDU/CSUund SPD-Fraktion angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Maria
Klein-Schmeink, Elisabeth Scharfenberg,
Kordula Schulz-Asche, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Unabhängige Patientenberatung stärken und
ausbauen
Drucksache 18/574
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Die Aussprache eröffnet die Kollegin Maria KleinSchmeink, Bündnis 90/Die Grünen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau
Präsidentin und - gerade bei diesem Thema - ehemalige
Gesundheitsministerin! Wir bringen an dieser Stelle als
Grüne den Antrag „Unabhängige Patientenberatung stär-
ken und ausbauen“ ein. Warum tun wir das? Seit dem
Jahr 2000 gibt es in Deutschland eine unabhängige Pa-
tientenberatung, gefördert mit Mitteln der GKV, auf den
Weg gebracht durch die damalige rot-grüne Regierung,
und zwar als Modellprojekt mit einer zehnjährigen Mo-
dellphase, die dann mit den Stimmen aller Fraktionen in
diesem Parlament 2011 als Regelaufgabe im Sozialge-
setzbuch verankert worden ist.
1) Ergebnis Seite 1303 C
Diese Entscheidung haben tatsächlich alle Fraktionen
hier im Bundestag begrüßt, wenngleich man sagen muss:
Die FDP musste vonseiten der Union durchaus zum
Jagen getragen werden. Das ist vielleicht auch einer der
Gründe, warum das Potenzial der unabhängigen Patientenberatung nicht so entfaltet werden konnte, wie es
nach dieser Modellphase vielleicht möglich und nötig
gewesen wäre.
Gleichwohl kann man sagen: Nach einer Ausschreibungsphase und dem Zuschlag hat dann die neue UPD
2011 ihren Betrieb aufgenommen. Wir müssen sagen:
Wir blicken heute auf eine echte Erfolgsgeschichte
zurück. Es hat sich gezeigt, dass viele Patientinnen und
Patienten sowohl telefonisch als auch persönlich diese
Beratungsstellen, bundesweit das gesamte Netz, in Anspruch nehmen. Sie suchen neutrale und gut informierte
Beratung bei medizinischen Fragen, bei psychosozialen
Fragen und bei rechtlichen Fragen. Es geht also im Kern
um die Wahrnehmung sozialer Bürgerrechte, die Patientinnen und Patienten zustehen.
({0})
Sehr häufig geht es an dieser Stelle um die Leistungsentscheidungen der Krankenkassen, aber es geht natürlich
auch um das gesamte Versorgungsgeschehen im medizinischen Bereich.
Gleichzeitig ist verankert worden, dass die Beratungsstellen der UPD eine Art Seismograf sind, um Veränderungsbedarf im Gesundheitswesen gerade bezogen auf
die Patienten anzuzeigen und uns als Politik hilfreiche
Tipps zu geben: Wo müssen wir gegensteuern? Wo müssen wir darauf achten, dass die Versorgung besser und
patientengerechter wird? Wo müssen wir als Politik die
entsprechenden Rahmenbedingungen dafür schaffen?
Meine Damen und Herren, wir müssen an dieser
Stelle doch alle das Interesse haben, das, was wir über
viele Jahre aufgebaut und zum Erfolg geführt haben,
durch passende und zielführende gesetzliche Rahmenbedingungen zu erhalten und auszubauen.
({1})
Das genau wollen wir mit unserem Antrag erreichen.
Warum bringen wir den Antrag jetzt ein? Derzeit läuft
die Vorbereitungsphase der Ausschreibung für den
neuen Vertragszeitraum. Wir wissen durch die Begleitforschung und durch die Rechenschaftsberichte, welche
Dinge wir verändern müssen, und sollten jetzt zumindest
die Chance ergreifen, das anzugehen. Dabei geht es um
den Ausbau der Beratungsstellen, es geht um die Verlängerung der Vertragslaufzeiten, und es geht um die Stärkung der Unabhängigkeit.
Zum ersten Punkt. Wir haben derzeit 21 Beratungsstellen im gesamten Bundesgebiet. Das heißt übersetzt:
In Nordrhein-Westfalen, dem größten Bundesland, haben wir drei Beratungsstellen. Daran sieht man: Die
Ausstattung ist nicht besonders fürstlich. Wir meinen,
wir müssen von heute 21 Beratungsstellen auf eine Zielmarke von 31 kommen. Das entspricht in etwa einer Relation von 2,5 Millionen Versicherten zu einer Beratungsstelle.
Weiterhin können wir sagen: Durch die enorme Inanspruchnahme haben wir leider den Zustand, dass viele
dieser Beratungsstellen telefonisch kaum noch erreichbar sind. Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass nur
noch 42 Prozent der Anrufenden direkt durchkommen
können. Das ist ein zentrales Indiz dafür, dass wir jetzt
tätig werden müssen, die Anzahl der Beratungsstellen
auszubauen.
({2})
Zweitens geht es darum, sich noch einmal die Vertragslaufzeiten anzuschauen. Vergegenwärtigen Sie sich
einmal: 2011 ist der Zuschlag erteilt worden; heute,
2014, denken wir schon wieder über die neue Ausschreibung nach. Das zeigt ganz deutlich: Wir müssen die Vertragszeiträume verlängern. Wir schlagen vor, sie von
derzeit fünf auf zehn Jahre zu verlängern. Für das Funktionieren der Beratungsstellen sind ein enormer Entwicklungsaufwand und eine enorme Qualifizierung notwendig. Das sollten wir nicht durch zu enge
Vertragslaufzeiten gefährden.
({3})
Drittens müssen wir die Unabhängigkeit stärken. Es
ist ja nicht ohne Grund so, dass wir keine Gewinnorientierung haben, dass es um kostenfreie und unabhängige
Beratung geht. Wir müssen sicherstellen, dass die Trägerschaft diese Unabhängigkeit tatsächlich unterstützt.
Derzeit ist der GKV-Spitzenverband zuständig. Wir meinen, das ist nicht die richtige Adresse, um zum Beispiel
das jetzt laufende Ausschreibungsverfahren zu begleiten. Immerhin werden in 50 Prozent der Beratungsfälle
Leistungsprobleme, beispielsweise der Krankenkassen,
angesprochen. Daran können wir ganz klar sehen: Hier
gibt es ein Spannungs- bzw. Konfliktfeld. Das sollten
wir ausräumen, indem wir die Trägerschaft neu ordnen
und sie einer wirklich unabhängigen Stelle, beispielsweise dem Bundesversicherungsamt, übertragen.
({4})
All diese Punkte sind geeignet, den Charakter der unabhängigen Beratungsstellen weiter zu profilieren, das
Angebot auszuweiten, in die verschiedenen Bevölkerungsgruppen weiter hineinzureichen und gleichzeitig sicherzustellen, dass unser Gesundheitswesen den Patienten dient und den Wünschen der Patienten durch
unabhängige Beratung und Hilfe gerecht wird. Im Koalitionsvertrag haben Sie dazu, wie wir meinen, durchaus
den einen oder anderen richtigen Schritt formuliert. Bitte
schauen Sie sich unseren Vorschlag im weiteren Beratungsverfahren ergebnisoffen an.
Danke schön.
({5})
Vielen Dank. - Bevor ich dem Kollegen Reiner
Meier, CDU/CSU-Fraktion, das Wort erteile, möchte ich
Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern
ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung
- Drucksachen 18/437 und 18/603 - bekannt geben: abgegebene Stimmen 591. Mit Ja haben gestimmt 526, mit
Nein haben gestimmt 61, Enthaltungen 4. Damit ist die
Beschlussempfehlung angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 590;
davon
ja: 525
nein: 61
enthalten: 4
Ja
CDU/CSU
Stephan Albani
Katrin Albsteiger
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Maik Beermann
Manfred Behrens ({0})
Veronika Bellmann
Sybille Benning
Dr. Andre Berghegger
Dr. Christoph Bergner
Ute Bertram
Steffen Bilger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexandra Dinges-Dierig
Alexander Dobrindt
Michael Donth
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Hansjörg Durz
Jutta Eckenbach
Hermann Färber
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Dirk Fischer ({1})
Axel E. Fischer ({2})
Klaus-Peter Flosbach
Thorsten Frei
Dr. Astrid Freudenstein
Dr. Hans-Peter Friedrich
({3})
Michael Frieser
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Cemile Giousouf
Josef Göppel
Reinhard Grindel
Ursula Groden-Kranich
Klaus-Dieter Gröhler
Michael Grosse-Brömer
Astrid Grotelüschen
Markus Grübel
Manfred Grund
Oliver Grundmann
Monika Grütters
Fritz Güntzler
Christian Haase
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Matthias Hauer
Mark Hauptmann
Dr. Stefan Heck
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Frank Heinrich ({4})
Mark Helfrich
Jörg Hellmuth
Rudolf Henke
Ansgar Heveling
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Alexander Hoffmann
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Dr. Hendrik Hoppenstedt
Margaret Horb
Bettina Hornhues
Charles M. Huber
Anette Hübinger
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
Hubert Hüppe
Erich Irlstorfer
Thomas Jarzombek
Dr. Franz Josef Jung
Xaver Jung
Andreas Jung ({5})
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Steffen Kanitz
Alois Karl
Anja Karliczek
Bernhard Kaster
Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Dr. Georg Kippels
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Markus Koob
Carsten Körber
Hartmut Koschyk
Kordula Kovac
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Dr. Roy Kühne
Günter Lach
Uwe Lagosky
Dr. Karl A. Lamers
Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Barbara Lanzinger
Dr. Silke Launert
Paul Lehrieder
Dr. Katja Leikert
Dr. Philipp Lengsfeld
Philipp Graf Lerchenfeld
Dr. Ursula von der Leyen
Antje Lezius
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Andrea Lindholz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Wilfried Lorenz
Dr. Claudia Lücking-Michel
Daniela Ludwig
Karin Maag
Thomas Mahlberg
Gisela Manderla
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({6})
Dr. Michael Meister
Jan Metzler
Maria Michalk
Dr. h.c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Elisabeth Motschmann
Carsten Müller
({7})
Stefan Müller ({8})
Dr. Philipp Murmann
Michaela Noll
Helmut Nowak
Dr. Georg Nüßlein
Wilfried Oellers
Florian Oßner
Dr. Tim Ostermann
Sylvia Pantel
Dr. Martin Pätzold
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Ronald Pofalla
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Kerstin Radomski
Alexander Radwan
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({9})
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht
Anita Schäfer ({10})
Dr. Annette Schavan
Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Jana Schimke
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Heiko Schmelzle
Christian Schmidt ({11})
Gabriele Schmidt ({12})
Patrick Schnieder
Nadine Schön ({13})
Dr. Ole Schröder
Dr. Kristina Schröder
({14})
Bernhard Schulte-Drüggelte
Dr. Klaus-Peter Schulze
Uwe Schummer
Armin Schuster ({15})
Christina Schwarzer
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Tino Sorge
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Dr. Wolfgang Stefinger
Albert Stegemann
Peter Stein
Erika Steinbach
Sebastian Steineke
Johannes Steiniger
Christian Frhr. von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Max Straubinger
Matthäus Strebl
Karin Strenz
Thomas Strobl ({16})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Sabine Sütterlin-Waack
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Astrid Timmermann-Fechter
Dr. Hans-Peter Uhl
Dr. Volker Ullrich
Arnold Vaatz
Oswin Veith
Thomas Viesehon
Volkmar Vogel ({17})
Sven Volmering
Christel Voßbeck-Kayser
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Nina Warken
Kai Wegner
Albert Weiler
Marcus Weinberg ({18})
Peter Weiß ({19})
Sabine Weiss ({20})
Ingo Wellenreuther
Marian Wendt
Kai Whittaker
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Heinz Wiese ({21})
Elisabeth WinkelmeierBecker
Oliver Wittke
Dagmar G. Wöhrl
Barbara Woltmann
Tobias Zech
Heinrich Zertik
Emmi Zeulner
Gudrun Zollner
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heike Baehrens
Heinz-Joachim Barchmann
Dr. Katarina Barley
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Dr. Matthias Bartke
Sören Bartol
Bärbel Bas
Dirk Becker
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding ({22})
Burkhard Blienert
Dr. Karl-Heinz Brunner
Marco Bülow
Martin Burkert
Dr. Lars Castellucci
Petra Crone
Bernhard Daldrup
Dr. Daniela De Ridder
Dr. Karamba Diaby
Sabine Dittmar
Martin Dörmann
Siegmund Ehrmann
Michaela Engelmeier-Heite
Dr. h.c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Saskia Esken
Karin Evers-Meyer
Dr. Johannes Fechner
Dr. Fritz Felgentreu
Elke Ferner
Christian Flisek
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Ulrike Gottschalck
Kerstin Griese
Uli Grötsch
Gabriele Groneberg
Wolfgang Gunkel
Bettina Hagedorn
Rita Hagl-Kehl
Ulrich Hampel
Sebastian Hartmann
Michael Hartmann
({23})
Dirk Heidenblut
Hubertus Heil ({24})
Gabriela Heinrich
Wolfgang Hellmich
Dr. Barbara Hendricks
Heidtrud Henn
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Dr. Eva Högl
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
Matthias Ilgen
Christina Jantz
Frank Junge
Josip Juratovic
Thomas Jurk
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Ralf Kapschack
Gabriele Katzmarek
Ulrich Kelber
Marina Kermer
Arno Klare
Lars Klingbeil
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe
Birgit Kömpel
Anette Kramme
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Christine Lambrecht
Christian Lange ({25})
Steffen-Claudio Lemme
Gabriele Lösekrug-Möller
Hiltrud Lotze
Kirsten Lühmann
Caren Marks
Katja Mast
Dr. Matthias Miersch
Klaus Mindrup
Bettina Müller
Michelle Müntefering
Dietmar Nietan
Thomas Oppermann
Mahmut Özdemir ({26})
Aydan Özoguz
Markus Paschke
Christian Petry
Sabine Poschmann
Joachim Poß
Florian Post
Dr. Wilhelm Priesmeier
Dr. Sascha Raabe
Dr. Simone Raatz
Martin Rabanus
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Andreas Rimkus
Dennis Rohde
Dr. Martin Rosemann
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth ({27})
Bernd Rützel
Johann Saathoff
Annette Sawade
Dr. Hans-Joachim
Schabedoth
Axel Schäfer ({28})
Marianne Schieder
({29})
Udo Schiefner
Dr. Dorothee Schlegel
Ulla Schmidt ({30})
Matthias Schmidt ({31})
Carsten Schneider ({32})
Ursula Schulte
Swen Schulz ({33})
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Stefan Schwartze
Andreas Schwarz
Dr. Carsten Sieling
Rainer Spiering
Svenja Stadler
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Claudia Tausend
Michael Thews
Wolfgang Tiefensee
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Dirk Vöpel
Bernd Westphal
Andrea Wicklein
Gülistan Yüksel
Dagmar Ziegler
Stefan Zierke
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Luise Amtsberg
Kerstin Andreae
Annalena Baerbock
Volker Beck ({34})
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Katharina Dröge
Dr. Thomas Gambke
Matthias Gastel
Kai Gehring
Anja Hajduk
Dr. Anton Hofreiter
Dieter Janecek
Katja Keul
Sven-Christian Kindler
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Stephan Kühn ({35})
Christian Kühn ({36})
Renate Künast
Markus Kurth
Steffi Lemke
Dr. Tobias Lindner
Beate Müller-Gemmeke
Özcan Mutlu
Dr. Konstantin von Notz
Friedrich Ostendorff
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth ({37})
Elisabeth Scharfenberg
Ulle Schauws
Dr. Gerhard Schick
Dr. Frithjof Schmidt
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Doris Wagner
Nein
CDU/CSU
Dr. Matthias Zimmer
SPD
Klaus Barthel
Dr. Ute Finckh-Krämer
Cansel Kiziltepe
Waltraud Wolff
({38})
DIE LINKE
Dr. Dietmar Bartsch
Matthias W. Birkwald
Christine Buchholz
Roland Claus
Dr. Diether Dehm
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Diana Golze
Dr. Andre Hahn
Dr. Rosemarie Hein
Sigrid Hupach
Ulla Jelpke
Susanna Karawanskij
Kerstin Kassner
Katja Kipping
Jan Korte
Jutta Krellmann
Katrin Kunert
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Cornelia Möhring
Niema Movassat
Thomas Nord
Harald Petzold ({39})
Richard Pitterle
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Azize Tank
Frank Tempel
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Halina Wawzyniak
Katrin Werner
Birgit Wöllert
Jörn Wunderlich
Hubertus Zdebel
Pia Zimmermann
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Peter Meiwald
Corinna Rüffer
Enthalten
SPD
Petra Hinz ({40})
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Monika Lazar
Dr. Harald Terpe
Dr. Julia Verlinden
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
Jetzt hat der Kollege Reiner Meier das Wort.
({41})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das System der Gesundheitsversorgung in Deutschland
gehört zu den besten und leistungsfähigsten Systemen
weltweit. Gleichzeitig hatten die Patienten in unserem
Land noch nie so viele verbriefte Rechte wie heute. Fast
auf den Tag genau vor einem Jahr ist das Patientenrechtegesetz in Kraft getreten und hat die Grundlage dafür
geschaffen, dass der Patient gleichberechtigter Partner
im Gesundheitssystem geworden ist. Dabei ist gelungen,
was im Gesundheitswesen selten genug passiert, nämlich dass eine für alle Akteure tragbare Lösung herausgekommen ist.
({0})
Die Stichworte hierzu heißen „Transparenz“ und
„Rechtssicherheit“. Zum ersten Mal in seiner über 100jährigen Geschichte gibt es im Bürgerlichen Gesetzbuch
eine klare gesetzliche Regelung des medizinischen Behandlungsrechts. Die Zeiten des kunstvollen, aber ungeschriebenen Richterrechts sind jetzt vorbei.
Wer zum Arzt geht, hat ein Recht darauf, alles zu erfahren, was für die Behandlung relevant ist. Das beginnt
bei der Diagnose und geht über die Folgen und Risiken
der Behandlung bis hin zu alternativen Heilungsmöglichkeiten.
Die Kosten sind transparenter geworden; denn der
Arzt muss bei individuellen Gesundheitsleistungen den
Patienten vorher aufklären und informieren, wie viel er
zuzahlen muss.
Es gibt jetzt klare gesetzliche Maßstäbe für die ärztliche Dokumentation; gleichzeitig hat der Patient grundsätzlich das Recht, seine Patientenakte jederzeit einzusehen.
Bei Behandlungsfehlern ist das oberste Ziel die Gesundheit des Patienten. Meine Damen und Herren, auch
im medizinischen Bereich passieren - leider - Fehler,
ganz einfach weil hier Menschen am Werke sind. Heute
kann jedoch ein Arzt Behandlungsfehler gegenüber dem
Patienten zugeben und korrigieren, ohne gleich befürchten zu müssen, strafrechtlich belangt zu werden.
Diese neue Fehlerkultur gilt auch im stationären Bereich. Neben einem verpflichtenden Beschwerdemanagement gibt es eine Förderung für Fehlermeldesysteme in Kliniken. Auch da gilt: Fehler werden wir nie
verhindern können; aber wir können aus Fehlern lernen.
({1})
Wie Sie sehen, hat es etliche Verbesserungen für die
Patienten gegeben, und das ist gut und richtig. Wir wissen aber auch, dass viele Menschen Fragen zu den Vorgängen im Gesundheitswesen haben. Sie wollen zum
Beispiel mehr zur Behandlung, zu Kassenleistungen, zu
ihren Rechten als Patienten wissen. Dabei brauchen sie
Unterstützung und Beratung. Genau deshalb haben wir
die Unabhängige Patientenberatung von Anfang an unterstützt und konsequent weiterentwickelt. Es war nämlich zu Zeiten der christlich-liberalen Bundesregierung
im Jahr 2011, als aus dem Modellversuch „Patientenberatung“ eine Regelleistung gemacht wurde. Das sollten
wir auch nicht vergessen, meine Damen und Herren!
({2})
Die UPD leistet seitdem einen wichtigen Beitrag dazu,
das Leitbild des mündigen und selbstbestimmten Patienten Schritt für Schritt zu verwirklichen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich diese Gelegenheit nutzen, um eine Lanze für die vielen engagierten Mitarbeiter der Unabhängigen Patientenberatung zu
brechen.
({3})
Es ist ihre Arbeit, die von den Patienten zu Recht so gut
angenommen wird. Dafür gebührt ihnen unser aller
Dank.
({4})
Meine Damen und Herren von den Grünen, in Ihrem
vorliegenden Antrag fordern Sie den kontinuierlichen
Ausbau der UPD. Ich gestehe, da sind wir gar nicht weit
auseinander.
({5})
Wir sollten aber auch nicht vergessen, dass es die UPD
in der heutigen Form gerade einmal drei Jahre gibt. Lassen Sie uns doch erst einmal abwarten, wo sich der Beratungsbedarf einpendelt, bevor wir am Geldhahn der Versicherten drehen.
Wir sind uns darin einig, dass wir gezielt auf jene
Menschen zugehen müssen, die besondere Unterstützung brauchen. Die UPD hat darauf hingewiesen, dass
vor allem ältere Menschen, Menschen mit geringen finanziellen Ressourcen und Bürger mit Migrationshintergrund besonderen Beratungsbedarf haben. Dem gerecht
zu werden werden wir uns selbstverständlich bemühen.
({6})
Ich freue mich an dieser Stelle übrigens ganz besonders
darüber, dass Sie das Motto der CSU „Näher am Menschen“ so gut verinnerlicht haben.
({7})
Ihre Forderung, die Zahl der Beratungsstellen von 22
auf 31 Büros auszubauen, halte ich dennoch für verfrüht.
Natürlich liest sich das auf dem Papier zunächst gut,
aber auch wenn Sie den Antrag dreimal einbringen, wird
er dadurch nicht stichhaltiger.
({8})
Bei den allermeisten Patienten ist völlig unklar, ob am
Ende eine spürbare Verbesserung erreicht wird. Nach
den aktuellen Zahlen der UPD wählen etwa 80 Prozent
der Ratsuchenden das Telefon als Beratungsmedium. Sie
selbst schreiben, dass von allen Anrufern bei der UPD
- Sie sagten das vorhin auch - nur noch durchschnittlich
42 Prozent tatsächlich eine Beratung bekommen. Der
Rest - immerhin 58 Prozent der Anrufer - bleibt in der
Wartschleife hängen. Das ist ein Anstieg um 24 Prozentpunkte seit 2010. Da müssen wir, glaube ich, ansetzen.
Das Geld sollte dorthin, wo es am meisten hilft, nämlich
zur Telefonberatung.
Lassen Sie uns an dieser Stelle nicht vergessen, dass
auch andere Stellen viel Gutes in der Patientenberatung
leisten. Ich denke dabei in erster Linie an die Ärzte, aber
auch an die freien Beratungsstellen, die zum Teil ehrenamtlich arbeiten. Auch das muss in dieser Diskussion
einmal gesagt werden.
({9})
Sie schlagen in Ihrem Antrag vor, die bewährte Finanzierungsstruktur der UPD umzubauen. Das überzeugt mich, ehrlich gesagt, nicht. Ihnen schwebt doch
nichts anderes vor als eine gesetzlich verordnete
Zwangsfinanzierung durch die Krankenkassen. Wie Sie
das schaffen wollen, dazu steht in Ihrem Antrag allerdings keine Silbe. Private Krankenversicherungen können Sie nämlich nicht einfach zur Gewährung einer entsprechenden Regelleistung zwingen.
Sie begründen das alles mit Konfliktpotenzial, mit
möglicher Beeinflussung, mit angeblich fehlender Neutralität. Ich sage Ihnen: Die Behauptung allein ist zu wenig. Schon heute ist es den Kassen gesetzlich verboten,
die Beratung der UPD inhaltlich oder dem Umfang nach
zu beeinflussen. Mir liegen keine Anhaltspunkte dafür
vor, dass sich die Krankenkassen in die Beratungstätigkeit der UPD inhaltlich einmischen würden. Ebenso wenig gibt es übrigens belastbare Hinweise darauf, dass sie
ihren Finanzierungsaufgaben nicht nachkämen. Bevor
ich bereit bin, die organisatorische Konstruktion der
UPD anzutasten, erwarte ich von Ihnen mehr als bloße
Behauptungen und Mutmaßungen, ganz besonders dann,
wenn ein Verstoß gegen ein Gesetz im Raum steht.
Wir haben vor drei Jahren das Modell zur Regel gemacht und stehen selbstverständlich weiterhin unabdingbar hinter der Unabhängigen Patientenberatung. Ein
weiterer Garant für die Unabhängigkeit der UPD ist der
Patienten- und Pflegebeauftragte der Bundesregierung,
Karl-Josef Laumann.
Die Patientenberatung ist aber auch ein lernendes
System. Dazu gehört, das System auch lernen zu lassen
und nicht voreilig und unüberlegt daran herumzubasteln.
({10})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben
- damit möchte ich auch schließen - in den letzten Jahren viel für die Patienten erreicht. Wo es sinnvoll ist,
sind wir auch immer für Gespräche offen.
Ein gesunder Mensch hat viele Wünsche, ein kranker
nur einen Wunsch. Ich wünsche Ihnen und uns allen,
dass wir viele Wünsche haben. Aber deswegen ist der
Deutsche Bundestag noch lange kein Wunschkonzert.
Vielen Dank.
({11})
Vielen Dank. - Das war Ihre erste Rede. Herzlichen
Glückwunsch im Namen aller Kolleginnen und Kollegen
dazu!
({0})
Das Wort hat die Kollegin Kathrin Vogler, Fraktion
Die Linke.
({1})
Lieber Herr Kollege Meier, auch ich gratuliere Ihnen
zu Ihrer ersten Rede hier im Haus. Wozu ich Ihnen nicht
gratulieren kann, ist diese ultimative Lobhudelei,
({0})
die Sie gerade auf das sogenannte Patientenrechtegesetz
der letzten Koalition vorgetragen haben, aber dazu später.
Die Unabhängige Patientenberatung, wofür brauchen
wir die eigentlich? Zu mir kam neulich ein Bürger ins
Wahlkreisbüro zur Sprechstunde, der sich von verschiedenen Ärzten, von seiner Krankenversicherung, vom
Medizinischen Dienst schlecht beraten und schlecht behandelt gefühlt hat. Er hatte durchaus erstzunehmende
Hinweise darauf, dass er einen Arbeitsunfall erlitten
hatte, der nicht richtig diagnostiziert und nicht richtig
behandelt worden ist.
({1})
In der Folgezeit haben sich seine Beschwerden verschlimmert. Er hat inzwischen dauerhaft Schmerzen. Inzwischen ist er Erwerbsunfähigkeitsrentner mit einer so
kleinen Rente, dass er davon noch nicht einmal seine
Krankenkassenbeiträge bezahlen kann. Also eine komplexe Problemlage, bei der auch ich als Bundestagsabgeordnete nicht alle offenen Fragen beantworten konnte.
Da war ich natürlich froh, dass es nicht nur für diesen
Bürger, sondern auch für viele Tausend andere das Angebot der Unabhängigen Patientenberatung, der UPD,
gibt. Dieses Angebot ist kostenlos. Es wird inzwischen
bis zu 80 000-mal jährlich in Anspruch genommen:
({2})
entweder an der gebührenfreien Telefonhotline oder persönlich in den Beratungsstellen.
Ich habe also die Hotline angerufen und musste feststellen, dass man da sehr schwer durchkommt. Mein
Ratsuchender wird keine der Beratungsstellen aufsuchen
können, obwohl seine Fragen eigentlich im persönlichen
Gespräch hätten geklärt werden müssen; denn von meiner Heimatstadt sind es bis zur nächsten Beratungsstelle
in Dortmund oder Bielefeld 80 Kilometer. Er kann sich
die Fahrtkosten in Form eines Bahntickets einfach nicht
leisten. So geht es vielen der allein bei uns im Münsterland lebenden 1,5 Millionen Menschen.
Die Beraterinnen und Berater der UPD leisten seit
vielen Jahren eine hervorragende Arbeit.
({3})
Aber ihre Erreichbarkeit für die Menschen, die nicht in
unmittelbarer Nähe einer Beratungsstelle leben, ist tatsächlich auch aus unserer Sicht verbesserungswürdig.
({4})
An der Hotline ist oft kein Durchkommen. Da müssen
sich die Menschen im wahrsten Sinne des Wortes die
Finger wundwählen, weil es einfach zu wenig Beraterinnen und Berater gibt. Wir haben es schon gehört: Nur
ungefähr 42 Prozent der Anrufenden kommen innerhalb
der ersten Stunde durch. Deswegen meint auch die
Linke: Die UPD braucht dringend mehr Personal für die
telefonische Beratung und für den Ausbau des Beratungsnetzes.
({5})
Darauf haben wir übrigens gemeinsam mit den Grünen
schon vor vier Jahren hingewiesen. Das Modellprojekt,
das 2010 ausgelaufen ist, wurde damals in ein Regelangebot überführt, nur leider viel zu spät, sodass bis zur erneuten Ausschreibung schon viele Strukturen weggebrochen waren, da sich zum Beispiel Beraterinnen und
Berater wegbeworben hatten. Deshalb war der Neustart
in den Beratungsstellen ausgesprochen mühsam.
Auch dass die Mittel für die Beratung nicht erhöht
und nicht an die allgemeinen Kostensteigerungen angepasst wurden, war ein Schönheitsfehler, den auch wir
schon damals kritisiert haben. Die Grünen fordern in ihrem Antrag, zunächst einmal 10,5 Millionen Euro für die
UPD bereitzustellen. Das ist bei insgesamt 200 Milliarden Euro im Gesamttopf keine sehr große Summe, aber
das würde doch einige Verbesserungen ermöglichen.
Weil die Beratungsstellen nicht danach fragen, ob jemand privat oder gesetzlich versichert ist, finde ich es
nur logisch, auch die privaten Versicherungen verpflichtend mit in die Finanzierung einzubeziehen.
({6})
Auch ein längerer Förderzeitraum von jeweils zehn
Jahren wäre gut; denn damit könnte besser geplant werden, und auch die Beschäftigten hätten eine bessere Perspektive. Qualifiziertes Personal könnte auch langfristig
gehalten werden.
Wir unterstützen auch die Idee, dass die Finanzierung
unabhängig von den Krankenkassen erfolgen soll.
Schließlich sind es in vielen Fällen die Krankenkassen,
mit denen die Ratsuchenden Probleme haben. Deswegen
sind sie nicht neutral.
Ergänzend schlage ich vor, dass wir auch eine Lösung
für das Problem der Fahrtkosten für Bedürftige suchen,
damit der Besuch von Beratungsstellen nicht weiter zum
Privileg für Großstädter und Besserverdienende wird.
Insgesamt ist zu sagen, dass die Grünen einen Antrag
vorgelegt haben, der die wichtigsten Probleme korrekt
benennt und vernünftige Lösungsvorschläge unterbreitet. Die Linke unterstützt diese Forderungen, und zwar
wirklich von ganzem Herzen. Ich hoffe, dass wir in den
Ausschussberatungen gemeinsam auch die Kolleginnen
und Kollegen der Koalitionsfraktionen davon überzeugen
können. Denn nur gut informierte und selbstbewusste Patientinnen und Patienten, die ihre Rechte kennen, können
sich heute im Dschungel des Gesundheitswesens zurechtfinden.
Wenn es uns dann noch gelingt, diese Koalition dazu
zu bringen, endlich ein Patientenrechtegesetz zu erarbeiten, das diesen Namen wirklich verdient, wäre das ein
richtig guter Tag für die Patientinnen und Patienten in
diesem Land.
({7})
Vielen Dank. - Für die SPD-Fraktion spricht jetzt die
Kollegin Helga Kühn-Mengel.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sie wissen es: Das Wort „Patient“ ist lateinischen
Ursprungs und hat zu tun mit Dulden, Leiden und Geduldhaben. Das wird auch in diesem Gesundheitssystem
verlangt. Es ist zwar sehr gut ausgestattet und steht im
Prinzip auch weltweit gut da, aber die Patientinnen und
Patienten bzw. die Versicherten, die sich in diesem Gesundheitssystem bewegen, müssen teilweise sehr viel
Geduld haben.
Sie müssen etwa lange warten, wenn sie Einsicht in
Behandlungsunterlagen nehmen wollen, oder sie erleben, wenn sie das endlich tun konnten und die rechtliche
Klärung eines Behandlungsfehlers angehen wollen, wie
sie von den Gutachtern der Gegenseite immer wieder gefordert und in ganz schwierige Situationen gebracht werden.
Sie müssen Geduld haben beim Warten auf einen
Facharzttermin.
Psychisch kranke Menschen, die Psychotherapie benötigen, müssen warten, wenn sie zu der Gruppe der
- ich sage das in Anführungsstrichen - „nicht Wartezimmer-fähigen“ Patienten gehören, ein Ausdruck, über den
man wirklich nachdenken muss.
Sie müssen Geduld haben als gestresste, körperlich
und seelisch kranke Mütter, deren Antrag auf eine Mutter-Kind-Kur abgelehnt wurde.
Sie müssen sich als Privatversicherte damit auseinandersetzen, dass ihnen bestimmte Leistungen, zum Beispiel eine ambulante Reha oder die Komplexleistung
Frühförderung, verwehrt werden.
Demenziell Erkrankte, die eine gerontopsychiatrische
Reha haben müssten, erhalten sie nicht.
Ganz schwierig wird es im zahnärztlichen Bereich,
wo Patientinnen und Patienten gar nicht mehr durchblicken, was Regelleistung und was IGeL-Leistung ist und
warum sie hohe Zuzahlungen leisten müssen. Die UPD
stellt in diesem Zusammenhang fest, dass nirgendwo so
viel begutachtet wird wie im privatärztlichen Bereich.
Nicht zuletzt gibt es auch die Patientinnen und Patienten, die sehr viel Geduld haben müssen, wenn sie im
Krankengeldbezug sind, aber von der Krankenkasse in
den Rentenbezug abgedrängt werden sollen.
Und viele wollen nach ihrem Krankenhausaufenthalt
wissen, wie es weitergeht. Wir kennen die Studien: Über
50 Prozent wissen an dieser Stelle nicht, was dann folgt.
Wir alle müssen viel Geduld haben, wenn zum Beispiel der Gemeinsame Bundesausschuss sechs bis sieben
Jahre braucht, um eine neue Leistung in den Leistungskatalog aufzunehmen. Denken wir zum Beispiel an die
Knochendichtemessung. Wenn so etwas endlich Leistung der Krankenkasse wird, dann erleben wir, wie geschehen, dass auf einmal in diesem Bereich doch wieder
eine IGeL-Leistung angeboten wird, die mehr bringt als
die Kassenleistung. In diesem Bereich herrscht also sehr
viel Intransparenz.
All die Fälle, von denen wir als Gesundheitspolitiker
und -politikerinnen Kenntnis erhalten, laufen erst recht
und in größerer Zahl bei der Unabhängigen Patientenberatung Deutschland auf. Diese erfreut sich über die Jahre
hinweg zunehmender Akzeptanz. Wie gesagt handelte es
sich um ein rot-grünes Projekt, zunächst ein Modellprojekt, das dann vor ein paar Jahren in die Regelleistung
überführt wurde. Es ist nun Bestandteil einer ganzen
Kette zur Stärkung von Patientenrechten. Dazu gehört
auch die Stärkung der Selbsthilfe. Ich rechne auch das
IQWiG und vor allem die dritte Bank im Gemeinsamen
Bundesausschuss dazu. Ich wünsche mir, dass endlich
auch die Patientenvertreter und -vertreterinnen ein
Stimmrecht bekommen.
({0})
Aber nicht alles, was wir uns wünschen, konnten wir im
Koalitionsvertrag durchsetzen.
Auf jeden Fall ist festzustellen, dass die UPD enorme
Kompetenzen in diesen Jahren entwickelt hat. Dazu
zähle ich Qualitätssicherung, hohe Standards und Evaluationen, zum Beispiel Auseinandersetzungen mit der
Frage, welche Patienten wir erreichen und welche nicht.
({1})
Natürlich muss sich die PKV stärker beteiligen. Natürlich müssen wir über die Beziehungen zu den Krankenkassen reden. Ich stimme dem Kollegen Meier zu,
dass die Erhöhung der Anzahl der regionalen Beratungsstellen auf 31 nicht die Lösung ist. Die Verdichtung des
Telefonnetzes scheint auch mir sinnvoller zu sein. Die
Menschen wollen nun einmal sprechen. Den Förderzeitraum auf zehn Jahre zu erweitern, mag verwaltungstechnisch und mit Blick auf die Mitarbeiter sinnvoll sein, ist
aber von der Steuerung und der internen Planung her
nicht unproblematisch.
Auch wir sind für eine Stärkung der UPD. Das ist
zwar nicht im Koalitionsvertrag verankert; aber Koalitionspartner und -partnerinnen können sich damit auseinandersetzen, hierbei bewegen und für Veränderungen
sorgen. Festgehalten im Koalitionsvertrag ist auf jeden
Fall - das ist ganz entscheidend für die Versorgungslandschaft - das neue Institut für Qualitätssicherung und
Transparenz im Gesundheitswesen.
({2})
Entscheidend für Patienten und Patientinnen ist, dass
dieses Institut in seinem Internetauftritt Krankenhausvergleiche und viele Informationen zum Gesundheitssystem auf evaluierter, harter Faktenbasis zur Verfügung
stellen wird. Das ist ein wichtiger Punkt in der Versorgungslandschaft. Natürlich kann alles noch besser werden.
Vielen Dank.
({3})
Vielen Dank. - Für die CDU/CSU-Fraktion spricht
jetzt der Kollege Dr. Roy Kühne.
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Sehr geehrte Damen
und Herren! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen!
Die Unabhängige Patientenberatung Deutschland, kurz
UPD, ist, wie bereits mehrfach gesagt, ein erfolgreicher
Baustein zur Stärkung der - wir kennen das Wort inzwischen - selbstbestimmten und selbstbewussten Patienten. Dies sollte der oberste Tenor aller Diskussionen
werden.
Seit ihrer Überführung von einem Modellvorhaben in
die Regelversorgung und der Sicherstellung der Finanzierung durch die GKV im Jahre 2011 - es wurde bereits
mehrfach gesagt, wer das veranlasst hat - steht die UPD
den ratsuchenden Patientinnen und Patienten in Deutschland als kompetenter Partner mit Rat und Tat zur Seite;
das bestreitet niemand. Die Fragestellungen der Menschen sind vielfältig und spiegeln im Grunde die alltäglichen Probleme, die es im Gesundheitswesen gibt, wider.
Ich glaube, wir alle kennen aus unserem eigenen Umfeld
und wahrscheinlich auch aus eigener Anschauung genau
die Probleme, die ich jetzt im Sinn habe.
Man muss dabei bedenken: Qualifizierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die sich durch Fortbildungen bemüht haben, sich ihren Stand zu erarbeiten, versuchen in
den Beratungsstellen oder am Beratungstelefon, fachkundige und wissenschaftlich fundierte Hilfestellung zu
geben. Dafür gebührt ihnen selbstverständlich höchster
Respekt.
({0})
So konnten 2013, wie schon gesagt wurde, in über
80 000 Beratungsgesprächen beispielsweise Fragen zu
den Themen Patientenrechte, Behandlungsfehler, finanzielle Absicherung, aber auch zu psychischen Krankheiten erörtert werden.
Die Patientinnen und Patienten sind im täglichen Umgang mit den Akteuren in unserem Gesundheitswesen in
der Tat verschiedensten Szenarien ausgesetzt. Wie gesagt, schlechte Beratung, Probleme beim Zugang, Wartezeiten - ich glaube, wir kennen das - wurden eindeutig
im „Monitor Patientenberatung 2013“, einem sehr interessanten Werk, von der UPD genannt. Diese Berichte
und Daten der UPD sollten in der Tat Anstoß für die
Politik sein. Sie sollten als Grundlage dienen, um Problemstellungen im Gesundheitswesen zu benennen.
Ross und Reiter sollten ruhig beim Namen genannt werden.
({1})
Das Problem ist - ich glaube, das können wir alle
nachvollziehen -, dass momentan die Daten und Berichte von der UPD selber kommen. Es sollte ruhig betont werden: Als Grundlage für Anpassungen sollten
diese Daten unabhängig erhoben werden und evidenzbasiert sein. Wir sollten schauen, dass auch dieses Produkt
neutral beobachtet wird.
({2})
Es ist nicht so, dass die Ergebnisse der UPD in letzter
Zeit keine Auswirkungen gehabt hätten. Sie kennen das:
Patienten können reagieren. Wir haben die Zahlen mehrfach genannt.
Ein weiteres Beispiel ist das im Jahr 2013 in Kraft getretene Patientenrechtegesetz, das auch in der Praxis sehr
dazu beigetragen hat, bei den Menschen Unsicherheiten
abzubauen und - ich sage das ganz offen - bei denen, die
Medizin veranstalten, Vorsicht aufkommen zu lassen.
Der Patient hat Rechte, und diese werden gestärkt.
({3})
Es geht aber nicht nur um den Leistungsanbieter
- nennen wir ihn Arzt, Apotheker, Physiotherapeuten
oder Logotherapeuten -, sondern das größte Problem ist
häufig die Situation bei den Krankenkassen. Hier ist es
oftmals so, dass Wartezeiten unnötigerweise entstehen.
Ich denke, genau hier sollten das Gesetz und natürlich
auch die unabhängige Patientenberatung ansetzen; denn
die dortigen Entscheidungen müssen tagtäglich an die
Patienten herangetragen und schneller umgesetzt werden. Keiner hat Lust, sechs Monate oder auch nur sechs
Wochen auf Entscheidungen zu warten, die ihn unmittelbar betreffen und in seiner Lebensqualität durchaus
nachhaltig negativ beeinflussen.
({4})
Die UPD bietet somit einen geschützten Raum für die
Ratsuchenden, und das ist gut so. Dort sollen das Selbstbewusstsein und das Wissen der Patienten gestärkt werden. Daher ist die Unabhängigkeit der Beratung das entscheidende Element der UPD. Diese Unabhängigkeit der
Patientenberatung haben wir in § 65 b SGB V festgelegt.
Auch sind hier die Kriterien für die Förderung dieser
Einrichtungen genannt. Diese Kriterien sind eindeutig.
Zudem werden die Ausschreibung und die Vergabe an
zukünftige Träger - ich habe das heute noch einmal ganz
genau nachgelesen - einvernehmlich mit dem Beauftragten der Bundesregierung für die Belange der Patientinnen und Patienten sowie Bevollmächtigten für Pflege
durchgeführt, sodass auch hier die Unabhängigkeit und
damit die Qualität gewährleistet werden.
({5})
Mit der erstmaligen Ernennung eines Staatssekretärs
für Patientenrechte und Pflege hat die jetzige Bundesregierung ganz deutlich gezeigt - ich denke, darauf können wir stolz sein -, wie sehr ihr das Wohl der Patientinnen und Patienten in Deutschland am Herzen liegt. Es ist
nicht mehr nur ein MdB, der diese Aufgabe ehrenamtlich erfüllt. Damit haben wir eine große Stärkung im
System erreicht, und zwar für alle Seiten.
({6})
Jährliche Berichte des GKV-SV legen die Entwicklung der UPD dar und zeigen mögliche Handlungspotenziale auf. Wenn hier ein nachweisbar erhöhter Förderbedarf besteht, dann kann und muss auch entsprechend
gehandelt werden. Der Förderzeitraum von fünf Jahren
- dies ist sicherlich überlegenswert - und die anschließende erneute Ausschreibung dienen auch als Kontrollfunktion. Von dieser Seite her wird sich erweisen, ob die
Träger der Unabhängigen Patientenberatung erfolgreich
sind. Sie werden sich, wenn sie gute Arbeit leisten, gegen Neubewerber auch wieder durchsetzen können.
({7})
Dieser Prozess sollte in jedem Fall transparent sein.
Wir dürfen nicht vergessen, dass im Rahmen der UPD
Beiträge der Versicherten ausgegeben werden. Es geht
um Beiträge der Bürgerinnen und Bürger, und wir haben
verdammt noch mal die Pflicht, damit sorgsam umzugehen. Wenn sich ein entsprechender Bedarf ergibt, ist dem
Ausbau der Beratungsstrukturen der UPD auch nichts
entgegenzusetzen. Er muss allerdings - auch das ist
schon mehrfach gesagt worden - bedarfsgerecht und
nach Abwägung und Ausnutzung aller Effizienzreserven
erfolgen, und es darf nicht einfach nur Geld ins System
gesteckt werden.
({8})
Abschließend möchte ich festhalten: Die UPD hat
sich sicherlich als ganz konkrete Hilfestellung für ratsuchende Menschen erwiesen, und sie muss sich in
Deutschland weiter beweisen. Herr Meier hat es gesagt:
Sie ist seit drei Jahren am Start. Da kann man so ein
Baby noch nicht beurteilen. Auf diesem Weg sehen wir
aber zunächst die Evaluierung und Optimierung der bestehenden Strukturen und die Optimierung und Konsolidierung der Prozesse im Vordergrund. Man darf Geld
nicht einfach nur in ein System stecken, an dessen internen Management man durchaus noch arbeiten kann.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Vielen Dank. - Das war Ihre erste Rede. Auch Ihnen
die herzlichsten Glückwünsche aller Kolleginnen und
Kollegen.
({0})
Die erste Rede ist es auch für die letzte Rednerin in
dieser Debatte. Das ist die Kollegin Bettina Müller,
SPD-Fraktion.
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen
und Herren! Viele der Kolleginnen und Kollegen, die
heute hier sitzen, sind, mit Verlaub, alte Hasen im Gesundheitswesen.
({0})
Trotzdem müssen auch sie manchmal noch aufwendig
recherchieren, was wo wie geregelt ist, welche Leistungsansprüche bestehen, welche Leitlinien oder Richtlinien gelten.
Für Neulinge in der Gesundheitspolitik wie mich gilt
das noch viel mehr, und das, obwohl ich als Anwältin
mit den Schwerpunkten Betreuungs- und Sozialrecht
sehr viel an der Schnittstelle zwischen Versicherten,
Kostenträgern und Leistungserbringern gearbeitet habe.
Wie soll es da erst den - so nenne ich sie mal - Otto Normalversicherten gehen? Wie sollen sie alle Leistungsansprüche kennen und die dann auch noch mit Nachdruck
durchsetzen? Wie sollen sie den Durchblick im dichten
Dschungel des Gesundheitswesens wahren, einem Dickicht, bei dem Behandlungs- und Therapievorschläge
noch dazu oft interessengeleitet sind?
Daher hat die SPD seinerzeit die Unabhängige Patientenberatung erfolgreich gestartet. Sie wird von niemandem mehr angezweifelt.
({1})
Die hohen Kontaktzahlen in den 22 Beratungsstellen unterstreichen die große Bedeutung dieses Angebotes.
Aber natürlich gilt auch hier: Was gut ist, kann noch besser werden.
Ob uns dabei die fünf Vorschläge des Antrags der
Grünen weiterbringen, müssen wir in den Ausschussberatungen noch diskutieren. Die Vorschläge laufen ja im
Kern darauf hinaus, die Zahl der regionalen Beratungsstellen um 50 Prozent zu erhöhen, die Fördersumme zu
verdoppeln und einen unterstellten, vermeintlichen Einfluss der Kostenträger zu reduzieren.
Nun zeigen uns die vorliegenden Daten der Evaluierungsberichte aber Folgendes: Nur etwa 10 Prozent der
Beratungsleistungen erfolgen vor Ort in den regionalen
Beratungsstellen. Die telefonische Beratung liegt bei
80 Prozent. Die meisten Anrufe landen nicht bei den regionalen Beratungsstellen, sondern bei der bundesweiten
Hotline. Auch die Beratung über das Internetportal steigt
stetig an.
Ob daher die Erreichbarkeit durch neun zusätzliche
Standorte in der Praxis zu einer nennenswerten Verbesserung der Situation führt, ist zweifelhaft. Dazu sind gerade die Wege im ländlichen Raum zu weit, die Mobilität von älteren und kranken Menschen - mit ihnen haben
wir es ja weitgehend zu tun - zu eingeschränkt. Daher
sollten wir in den anstehenden Ausschussberatungen
noch einmal prüfen, mit welchen Strukturen die Beratung am besten gewährleistet werden kann. Wir sollten
das vor allem deshalb ernsthaft prüfen, weil wir in der
Großen Koalition einige Veränderungen planen, die sich
auf die Beratungsintensität auswirken werden.
({2})
Denken Sie nur an die Termingarantie bei Fachärzten,
oder denken Sie an den Anspruch auf eine Zweitmeinung bei stationären Behandlungen. Auch hier wird die
Nachfrage nach Beratung eher noch steigen; denn die
Leute wollen natürlich wissen, welcher Arzt, welche
Klinik hierfür infrage kommt.
Wir müssen uns also Gedanken machen, wie wir die
Unabhängige Patientenberatung in die geplante Qualitätsoffensive der Großen Koalition einbinden und nutzen
wollen. Qualität ist schließlich eine der wesentlichen
Säulen der Wirtschaftlichkeit. Und für eine qualitativ
gute Behandlung ist die Mitwirkung des Versicherten
wichtig. Mündige, unabhängig und gut informierte Patienten wirken besser mit als ratlose und verunsicherte.
({3})
Es ist sinnvoll, die Weiterentwicklung der UPD in das
Konzept der Qualitätsverbesserung einzubinden. Über
die Instrumente dafür werden wir uns in den nächsten
Monaten im Ausschuss unterhalten. Dazu zählt unter anderem - das ist schon gesagt worden - auch ein Institut
für Qualitätssicherung, das insbesondere im stationären
Bereich Krankenhäuser bewerten und diese Ergebnisse
auch an die Versicherten weitergeben soll.
Die Koalition plant also umfangreiche Vorhaben mit
mehr Information und Beteiligung von Patienten als zentralem Baustein. Das alles muss dann ohnehin mit bestehenden Informationsangeboten vernetzt werden. Die
UPD sollte dann in diese Angebote passgenau eingefügt
sein. Deshalb gilt: Das neue Qualitätsinstrumentarium
muss von der Koalition jetzt zügig gesetzlich umgesetzt
werden. Dann muss es seine Wirkung entfalten. Daran
anschließend sind unabhängige Beratungsangebote wie
die UPD in dieses System zu integrieren.
Dafür sollten wir uns, meine Damen und Herren, Zeit
nehmen. Eine erneute Ausschreibung und eine Laufzeit
von weiteren fünf Jahren lässt Raum für sinnvolle Beratungsangebote, wenn notwendig sogar für eine grundsätzliche Neuausrichtung der Beratungsangebote. Wir
sind ja nicht gezwungen, damit bis 2020 zu warten. Wir
können auch schon 2016 oder 2017 beginnen. Ein
Schnellschuss führt am Ende zu keiner wirklichen Verbesserung, und für Experimente ist uns, ist der SPD die
Unabhängige Patientenberatung einfach zu schade.
Ich bedanke mich.
({4})
Vielen Dank und herzlichen Glückwunsch von allen
zur ersten Rede!
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/574 an den in der Tagesordnung aufgeführten Ausschuss vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Einsetzung des Parlamentarischen Beirats für
nachhaltige Entwicklung
Drucksache 18/559
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Parlamentarische Staatssekretärin Rita Schwarzelühr-Sutter.
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Mit der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie verfügt die Bundesregierung nun schon seit über zwölf Jahren über eine bewährte und sich ständig weiterentwickelnde Strategie für
eine Politik, die darauf abzielt, heute und in Zukunft allen Menschen die Chance auf ein Leben in Wohlstand,
Gerechtigkeit und einer intakten Umwelt zu ermöglichen.
Die nationale Nachhaltigkeitsstrategie wird bereits in
der vierten Legislaturperiode und über drei verschiedene
politische Koalitionen fortgeführt. Der Grund für den
anhaltenden Erfolg dieser übergreifenden Politikstrategie liegt sicher in den grundlegenden und langfristigen
Fragen zur Erhaltung der Lebensgrundlagen, der Lebensqualität und der Gerechtigkeit, auf die die Strategie
Antworten sucht und finden will.
Es liegt aber auch daran, dass Nachhaltigkeit die gesamte Gesellschaft etwas angeht. Nachhaltigkeit lebt
vom persönlichen und vom zivilgesellschaftlichen Engagement. Von Beginn an wurden gesellschaftliche Gruppen mit einbezogen. Wenn man einmal zurückblickt: Vor
zwölf Jahren war das schon ziemlich innovativ, und das
hat sich bewährt. Die Zustimmung der Bürgerinnen und
Bürger zu den Grundprinzipien der nachhaltigen Entwicklung - das machen die Veranstaltungen, die Onlinedialoge und die direkten Gespräche der vergangenen
Jahre deutlich - ist weiterhin sehr groß. Generationengerechtigkeit, Lebensqualität, sozialer Zusammenhalt und
internationale Verantwortung sind die Grundziele der
Nachhaltigkeitsstrategie, die die Menschen heute und
auch in Zukunft weiter beschäftigen und die sie als wichtig erachten.
Für die Bundesregierung war und ist die Mitwirkung
des Parlaments bei der Umsetzung des Leitbilds einer
nachhaltigen Entwicklung von großer Bedeutung. Seit
2004 wurden viele der Vorschläge und Anregungen des
Parlamentarischen Beirats aufgenommen oder gaben der
Weiterentwicklung der Nachhaltigkeitspolitik wichtige
Impulse. Ich erinnere zum Beispiel an den Austausch
des Ziels und des Indikators beim Thema „Kriminalität
und persönliche Sicherheit“ im vergangenen Fortschrittsbericht 2012. Dieses Ziel liegt dem Beirat und
uns sehr am Herzen. Es zeigt auch, wie die Ausrichtung
eines solchen Indikators zu mehr Zielschärfe führt und
den ganzen Prozess verbessert.
Auch international steht die Nachhaltigkeitspolitik
vor großen Herausforderungen, sei es bei der Weiterentwicklung der EU-Nachhaltigkeitsstrategie im Spannungsfeld mit der EU-2020-Strategie oder den Verhandlungen über die Post-2015-Agenda für nachhaltige
Entwicklung der Vereinten Nationen. Auf diesen Ebenen
wird sich der Beirat sicher wie schon in der Vergangenheit engagieren. Ich begrüße insbesondere, dass sich der
Beirat mit der Nachhaltigkeitspolitik der Vereinten Nationen stärker befassen will.
({0})
Dies ist ein wichtiger Rahmen und Impuls für die Bearbeitung der Zukunftsfragen unserer Bürgerinnen und
Bürger, unserer Volkswirtschaft und Gesellschaft.
Aus diesen Gründen ist die Fortsetzung der Arbeit des
Parlamentarischen Beirats für nachhaltige Entwicklung
auch in der aktuellen Legislaturperiode der Bundesregierung ein sehr wichtiges Anliegen. Wir begrüßen den
heute vorliegenden Einsetzungsbeschluss und unterstützen den Beirat bei seinen Aufgaben.
Nachhaltigkeit kann nur gemeinsam gelingen. Wir
freuen uns auf die Zusammenarbeit zur wirksamen Umsetzung des Leitbildes; denn sowohl national als auch international wie global trägt Nachhaltigkeitspolitik auch
dazu bei, den Menschen ein gutes Leben zu ermöglichen
und gleichzeitig unser gemeinsames natürliches Erbe,
unsere natürlichen Lebensgrundlagen zu erhalten und zu
schützen.
Herzlichen Dank.
({1})
Vielen Dank. - Es spricht jetzt die Kollegin Annette
Groth, Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Finanzkrise, Euro-Krise, Klimakatastrophe, Sterben der
Arten, Ressourcenkrise, Energiekrise, Ernährungskrise,
jährlich über 40 Millionen Tote als Folge von Hunger
und sozialen Krisen. Der Theologieprofessor Ulrich
Duchrow beschreibt diese Krisen im Publik-Forum, einer katholischen Zeitschrift - ich zitiere -:
Meine These ist, dass alle diese Krisen eine zentrale
Ursache haben: Es ist die Zivilisation des Kapitalismus. Ich sage ausdrücklich: Es ist nicht nur die kapitalistische Ökonomie, sondern die gesamte Zivilisation. Denn alle Bereiche des Lebens, Denkens
und Fühlens sind inzwischen unter die Herrschaft
des Geldes in der Form des Kapitals geraten. Und
dieses hat nur ein Ziel: zu wachsen - ohne Rücksicht auf die Folgen. …
Unsere Zivilisation zerstört die Lebensgrundlagen
der Menschheit und der Erde. Die Frage ist deshalb
nicht, ob wir eine neue Kultur des Lebens entwickeln müssen, sondern ob wir sie noch aus Einsicht
gestalten wollen - oder ob wir erst durch immer
größere soziale und ökologische Katastrophen zur
Umkehr gezwungen werden müssen.
Mit anderen Worten: Wenn wir Nachhaltigkeit diskutieren und Vorschläge machen, wie Nachhaltigkeit umgesetzt werden kann, müssen wir uns wohl oder übel mit
unserem kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem auseinandersetzen.
({0})
- Doch.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, schon heute wissen
wir, dass das 2-Grad-Ziel von Kioto nicht erreicht werden wird. Der Klimawandel wird viele Hundert Millionen Menschen zu Klimaflüchtlingen machen. Trotzdem
setzt die Kohlelobby weiterhin auf das massenhafte Verbrennen von Kohle für die Stromproduktion. Trotzdem
wird der Flottenverbrauch der hochtechnisierten und
hochgerüsteten Autos nicht relevant abgesenkt. Trotzdem wird eine Wachstumsstrategie für den Luftverkehr,
beim Ausbau von Flughäfen und bei der Subventionierung von Flugbenzin wider besseres Wissen weiterverfolgt.
Neulich war zu lesen: „Peking unbewohnbar“ - wegen der wahnsinnigen Luftverschmutzungswerte, jeden
Tag weit über 400 Milligramm; 10 Milligramm in der
Luft wären eigentlich erlaubt. Dieses „unbewohnbar“
dürfte auch auf viele andere chinesische Städte zutreffen.
Immer mehr Menschen wehren sich gegen umweltschädliche Projekte wie zum Beispiel Stuttgart 21. Ein
explosionsartiger Bürgerprotest entwickelt sich gerade
in der Oberpfalz. Ja, Sie haben richtig gehört: in der
beschaulichen Oberpfalz. Dort wird jetzt ein Teil der
450 Kilometer langen Stromtrasse Süd-Ost gebaut. Man
muss sich das so vorstellen: 75 Meter hohe Masten,
40 Meter breite Querträger, und in den armdicken Leitungen soll Gleichstrom mit 500 000 Volt fließen. Links
500 000 Volt, rechts 500 000 Volt. Jetzt regt sich Widerstand, da die Menschen in der Region direkt davon betroffen sind.
Ich selbst komme aus Stuttgart und bin davon überzeugt, dass S 21 ein absolut widersinniges und ökologisch schädliches Großprojekt ist. Mit Nachhaltigkeit
hat das nun wirklich gar nichts zu tun.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Verkehrsausschuss ist eines der Hauptthemen der Transport. Über
10 Prozent des Verkehrs entfallen allein auf den Transport von Nahrungsmitteln. Nahrungsmittel werden durch
die Welt gefahren, obwohl viele davon auch regional bezogen werden könnten. Das ist der völlige Wahnsinn und
das Gegenteil von Nachhaltigkeit.
({3})
Hier bin ich wirklich für eine ganz starke Regionalisierung. Das heißt, mein Joghurt und mein Gemüse sollen
aus der Nachbarschaft kommen. Auch darum spricht sich
die Linke gegen das Freihandelsabkommen EU/USA aus,
das noch viel mehr solcher Transporte nach sich ziehen
würde.
Für uns Linke bedeutet Nachhaltigkeit, dass wir Gesellschaft und Ökonomie so gestalten müssen, dass ökologische, soziale und wirtschaftliche Gesichtspunkte
gleichermaßen berücksichtigt werden. Heutige gesellschaftliche und politische Entscheidungen müssen den
nächsten Generationen die Chance auf eine möglichst intakte Natur eröffnen und ihnen Grundlagen für ein gesellschaftlich verträgliches Wirtschafts- und Sozialsystem übergeben.
Die Fraktion Die Linke begrüßt die Einrichtung des
Parlamentarischen Beirats für nachhaltige Entwicklung
und wird ihre Aufgabe darin sehen, immer wieder die
soziale Dimension in die Nachhaltigkeitsdebatte einzubringen.
Danke schön.
({4})
Vielen Dank. - Es spricht jetzt Andreas Jung, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Parlamentarische Beirat für nachhaltige Entwicklung wird in diesem Jahr nach den Jahren 2004, 2006
und 2010 zum vierten Mal eingesetzt. Damit ist er im
zehnten Jahr seines Bestehens. Das ist ein rundes Jubiläum. Er hat damit zwar noch nicht ganz die Volljährigkeit erreicht, aber wir können, glaube ich, sagen, dass
der Nachhaltigkeitsbeirat damit aus dem Gröbsten heraus ist. Er hat sich ganz sicher einen festen Platz im parlamentarischen Gefüge erarbeitet und ist etabliert.
Das ist gut und richtig, weil wir die gemeinsame
Überzeugung haben, dass ein Querschnittsthema wie
Nachhaltigkeit auch ein Querschnittsgremium braucht.
Deshalb begrüße ich es und freuen wir uns, dass wir
heute über einen Einsetzungsantrag beschließen, den alle
Fraktionen des Deutschen Bundestages gemeinsam einbringen. Dafür eine möglichst breite Mehrheit zu finden,
knüpft an unsere von Konsens geprägte Arbeitsweise an.
Denn wir wissen: Je mehr wir uns einig sind, desto stärker ist unser gemeinsames Eintreten für nachhaltige Entwicklung.
({0})
Ich will den Einsetzungsbeschluss und diese Debatte
zum Anlass nehmen, um folgende Frage zu stellen: Warum brauchen wir ein solches Gremium für Nachhaltigkeit überhaupt? Wir brauchen ein solches Gremium deshalb, weil die Politik sowie jede und jeder Einzelne
ständig in der Versuchung sind, mehr an die nächsten
Tage als an die nächsten Jahrzehnte zu denken, in der
Versuchung sind, zu glauben, dass kurzfristige Effekte
langfristiges Denken überlagern. Wir als Nachhaltigkeitsbeirat verstehen uns als Wachhund für Nachhaltigkeit im Parlament, der immer dann aufbellt, der immer
dann Laut gibt, der immer dann dazwischengeht, wenn
Entscheidungen drohen, die dieser langfristigen Verantwortung nicht gerecht werden, wenn Entscheidungen
drohen, die später zum Bumerang werden könnten.
({1})
Das wird auch in Zukunft notwendig sein. Wir können dabei an unsere Arbeit der letzten Jahre anknüpfen.
Diese möchte ich kurz damit umschreiben, dass wir jedes einzelne Gesetz auf Nachhaltigkeit prüfen. Wir haben in der letzten Wahlperiode den Nachhaltigkeitscheck
eingeführt und untersuchen jede einzelne Gesetzesvorlage darauf, ob Ausführungen zu nachhaltiger Entwicklung darin enthalten sind und ob dieses konkrete Vorhaben mit den Vorgaben der Nachhaltigkeitsstrategie
tatsächlich vereinbar ist.
Wir haben damit - ich glaube, das können wir für uns
in Anspruch nehmen - Pionierarbeit geleistet.
({2})
Wir haben einen Beitrag dazu geleistet, dass die Gesetzgebung besser wird, dass sie nachhaltiger wird. Nach anfänglichen Anlaufschwierigkeiten ist es uns zum Ende
der letzten Legislaturperiode gelungen, dass bei den Gesetzentwürfen der Bundesregierung tatsächlich diesem
formalen Erfordernis Rechnung getragen wird.
Unsere Aufgabe wird jetzt sein, zu überlegen, wie wir
über diese formalen Prüfungen hinaus tatsächlich in medias res gehen können, in die materielle Prüfung eintreten können. Da spielt die Musik. Darüber werden wir
uns im Beirat unterhalten.
({3})
Das soll nicht heißen, dass wir bisher nicht auch
schon dort tätig waren, wo die Musik spielt, und dass wir
bei dieser Musik nicht auch mitgespielt haben. Wir haben solche Themen, die wir als besonders wichtig angesehen haben, die über die einzelnen Fachbereiche hinausgehen, herausgegriffen. Ich will unsere Initiativen zur
nachhaltigen Mobilität, unsere Anträge zu Umwelttechnologien, unsere Eingaben zur Reduzierung der Flächeninanspruchnahme ansprechen. An diesen Themen sollten
wir dranbleiben und uns Schwerpunkte suchen, bei denen wir in besonderer Weise auf nachhaltige Politik
drängen.
Unsere Kernaufgabe ist - das ist auch im Einsetzungsbeschluss beschrieben - die Begleitung der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie und der EU-Nachhaltigkeitsstrategie. Ich glaube, das ist eine besonders wichtige
Aufgabe. Es ist vorhin gesagt worden: Vor zwölf Jahren
hat Deutschland als eines der ersten Länder eine solche
Nachhaltigkeitsstrategie eingeführt. Sie ist seitdem immer wieder verbessert worden. Unser Anspruch sollte
sein, die Nachhaltigkeitsstrategie erstens weiterzuführen und zweitens neue Impulse zu geben, sie zu verbessern und besser zu verzahnen, auch mit den Aktivitäten
der Europäischen Union und in den Ländern. Wir sollten
tatsächlich eine konsistente Politik für Nachhaltigkeit
liefern und ein Vorbild für andere abgeben, wie das Fortkommen, wie der Fortschritt bei der nachhaltigen Entwicklung tatsächlich transparent gemacht werden kann.
Das sollten wir hier tun und damit ein Beispiel für andere geben.
({4})
Da ich von der nationalen Ebene und der EU gesprochen habe und davon, ein Beispiel für andere zu geben:
Andreas Jung ({5})
Eine Aufgabe sehe ich in der schon angesprochenen Beteiligung an der internationalen Debatte. Heute leben
7 Milliarden Menschen auf der Erde, 2050 sollen es
9 Milliarden Menschen sein. Diese werden selbstverständlich ihr Recht auf Nahrung, auf Wasser, auf Energie
und auf Rohstoffe geltend machen. Wir wissen: Wenn
nichts passiert, wenn die Entwicklung ausgehend vom
Status quo einfach fortgeschrieben wird, wenn es uns
nicht gelingt, das Ruder hin zu globaler nachhaltiger
Entwicklung herumzureißen, dann wird uns diese Welt
um die Ohren fliegen, dann wird sie im wahrsten Sinne
des Wortes explodieren.
Deshalb müssen wir einen Beitrag leisten. Ich finde,
wir Deutsche haben eine besondere Verantwortung, die
wir als Parlament wahrnehmen müssen. Wir erwarten
von der Regierung, dass das Eintreten für eine globale
nachhaltige Entwicklung die Leitlinie der deutschen Außenpolitik wird. Deutschland muss in besonderer Weise
als Vorreiter, als Dränger auftreten, andere mitnehmen
und international zu solchen Ergebnissen kommen. Das
ist mehr als nötig.
({6})
Das alles können wir nur, wenn wir selber glaubwürdig sind. Dazu gehört die Fortschreibung der Nachhaltigkeitsstrategie. Dazu gehört aber auch, dass wir in den
einzelnen Fachbereichen glaubwürdig sind und den
Punkt „nachhaltige Entwicklung“ umsetzen. Dazu gehört auch - in der mir verbleibenden Redezeit kann ich
nur noch zwei Beispiele nennen - die Finanzpolitik. Wir
müssen die Nullverschuldung erreichen, weil Schulden
Sünde an den nächsten Generationen sind.
({7})
Unsere besondere Aufgabe ist - hier schaut alle Welt
auf uns -, dass wir die Energiewende hin zu erneuerbaren Energien und Energieeffizienz zum Erfolg führen.
Wir müssen den Anstieg der Treibhausgase stoppen. Der
Klimawandel bleibt global gesehen die wichtigste
Herausforderung in unserem Jahrhundert. Es gibt viele
Aufgaben. Ich freue mich, diese Aufgaben mit den Kolleginnen und Kollegen aller Fraktionen anzugehen. Die
Union stimmt dem Einsetzungsbeschluss zu.
Herzlichen Dank.
({8})
Danke, Herr Kollege. Schönen Abend von mir. - Jetzt
hat Dr. Valerie Wilms für Bündnis 90/Die Grünen das
Wort.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Kollege Jung, Sie haben sehr
deutlich dargestellt, wie wir in den letzten vier Jahren
gearbeitet haben. Wir haben beide schon in diesem Gremium gesessen.
Werte Kollegin Groth, ich bin über Ihre Ausführungen ein bisschen erstaunt. Wir haben einen gemeinschaftlichen Antrag aller Fraktionen vorliegen, und Sie
haben gerade Revue passieren lassen, wo es im Nachhaltigkeitsbeirat hingehen soll. Dann landen Sie jedoch auf
einmal bei der Kapitalismuskritik. Ich fühlte mich in
eine andere Welt versetzt.
Vielleicht erinnern Sie sich daran: Heute vor einer
Woche haben wir über Wachstum geredet. Heute versuchen wir, das Ganze etwas anders einzuordnen. Wir reden nämlich über Nachhaltigkeit. Bei Nachhaltigkeit
geht es nicht um das Gegenteil von Wachstum, sondern
um die ökologische und soziale Flankierung des Wachstums. Darum geht es und nicht um Nullwachstum oder
gar kein Wachstum, was uns die Vertreterin der Linkspartei versucht hat zu erläutern.
({0})
Über diese ökologische und soziale Flankierung hätte
der Wirtschaftsminister bei seiner Rede zum Jahreswirtschaftsbericht am Donnerstag letzter Woche reden sollen
oder, besser gesagt: müssen. Heute ist vom Wirtschaftsministerium erstaunlicherweise niemand anwesend. Die
Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“, die es in der letzten Wahlperiode gab und der
einige von uns angehörten, hat gut zwei Jahre lang daran
gearbeitet. Der Bundestag hat beschlossen, dass bei jeder
Wachstumsdebatte auch über soziale und ökologische
Fortschritte oder Rückschritte geredet werden soll. Das
habe ich letzte Woche nicht gehört.
Die Debatte vor einer Woche hat gezeigt, dass die von
der Enquete-Kommission entwickelten zwanzig W3-Indikatoren, die Wohlstandsindikatoren, bislang in der
Politik wirklich niemanden interessieren.
({1})
Der Witz war, dass sie vormals hochgelobt wurden, aber
die Redner zum Jahreswirtschaftsbericht letzte Woche
keine Ahnung davon hatten.
({2})
Damit die ökosoziale Flankierung aber nicht verloren
geht, gibt es im Deutschen Bundestag, wenn wir nachher
abgestimmt haben, endlich wieder den Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung. Er begleitet
schon seit zehn Jahren die nationale Nachhaltigkeitsstrategie und wirft auch einen Blick auf Europa. Wenn man
sich die Nachhaltigkeitsstrategie dort ansieht, dann
gruselt es einen manchmal. Man ist da irgendwie auf
verlorenem Posten. Wir erstellen zudem regelmäßig einen Bericht zu einer entsprechenden Veröffentlichung
des Statistischen Bundesamtes.
Das ist der Unterschied zu dem, was die EnqueteKommission gemacht hat: In der Nachhaltigkeitsstrategie haben wir nicht nur Indikatoren, sondern auch kon1316
krete Ziele vorgegeben. So enthält die Nachhaltigkeitsstrategie beispielsweise im Hinblick auf die Reduzierung
der Treibhausgasemissionen ein Ziel; sie sollen bis 2050
um 80 bis 95 Prozent gegenüber 1990 gesenkt werden.
Der Indikatorensatz der Enquete-Kommission soll nur
dafür sorgen, dass irgendwo ein Lämpchen, ein Warnlämpchen oder ein Hinweislämpchen, blinkt. Meine
Damen und Herren, bitte nicht lachen! Jene, die das in
der letzten Wahlperiode beschlossen haben, meinten das
wirklich ernst. Das ist das Traurige an dieser Geschichte.
Werte Kolleginnen und Kollegen, damit der Nachhaltigkeitsbeirat in jeder Legislaturperiode neu eingesetzt
werden kann, braucht es in jeder Fraktion Befürworter;
wir haben sie gefunden. Wir haben einen gemeinsamen
Entwurf zustande gebracht. Vor zehn Jahren haben wir
die parlamentarische Begleitung der Umsetzung der
nationalen Nachhaltigkeitsstrategie im Beirat in Gang
gesetzt. Aber ich habe heute in dieser kurzen Debatte
gemerkt: Kaum ein Wort wird derart missbraucht wie
das Wort „nachhaltig“.
({3})
Deshalb soll hier nochmal für alle buchstabiert werden,
was das bedeutet: Bei einer nachhaltigen Entwicklung
geht es darum, eine in sich geschlossene Wirtschaftsund Lebensweise zu finden, die die Würde des Menschen als Arbeitnehmer achtet - nicht nur hier, sondern
weltweit - sowie die ökologischen Grenzen unseres Planeten respektiert. Kurz gefasst: Wir brauchen eine dauerhaft tragfähige Wirtschafts- und Lebensweise für jetzige
und künftige Generationen gleichermaßen. Daran, liebe
Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns in den nächsten vier Jahren arbeiten, mit neuen Projekten.
Danke.
({4})
Danke, Frau Kollegin. - Carsten Träger ist der
nächste Redner für die SPD.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Als mittlerweile fünfter Redner stehe ich hier,
und ich kann nicht anders: Auch ich werde das Hohelied
der Nachhaltigkeit singen. Wie die vier Kolleginnen und
Kollegen vor mir bin natürlich auch ich von dem Konzept überzeugt. Wie die vier Kolleginnen und Kollegen
halte auch ich Nachhaltigkeit für unerlässlich, ja, für das
entscheidende Kriterium für gute Politik.
Ich sehe es aber ein bisschen so wie Frau Dr. Wilms:
In dem allumfassenden Konsens liegt auch eine gewisse
Gefahr. Wir führen den Begriff Nachhaltigkeit mittlerweile so häufig, bei so vielen Gelegenheiten, und das oft
so unreflektiert, dass sich der geneigte Zuschauer unter
Umständen manchmal gelangweilt abwendet. Es gibt
inzwischen einen geradezu inflationären Gebrauch des
Begriffs Nachhaltigkeit. Das Wort schmückt Hochglanzbroschüren von Konzernen. Keine politische
Grundsatzrede kommt ohne einen Absatz zur Nachhaltigkeit aus. Auch was wir konsumieren, ist mittlerweile
nachhaltig; Mode, Autos, sogar Urlaubsreisen sind nachhaltig. Der Begriff läuft Gefahr, fast alles zu meinen und
damit dann auch wieder nichts.
Hubert Weiger, der Vorsitzende des BUND, der übrigens auch aus meiner schönen Heimatstadt Fürth
stammt, spricht sogar von einem Missbrauch des Begriffs. Ich zitiere:
Ein bisschen weniger Straßenbau wird als nachhaltiger Straßenbau bezeichnet, ein bisschen weniger
Schulden werden als nachhaltiges Haushalten charakterisiert.
({0})
Ich schlage vor, dass wir hier verbal ein bisschen abrüsten und dem Begriff wieder Trennschärfe geben.
({1})
Ich möchte jetzt nicht alles wiederholen, was meine
Vorredner schon gesagt haben. Stattdessen möchte ich
Ihnen kurz sagen, warum ich Nachhaltigkeit für wichtig
halte. Worauf sollte sich ein enger gefasster Begriff von
Nachhaltigkeit konzentrieren? Wo setzen wir die
Schwerpunkte?
Wir alle, die wir hier sitzen, kennen natürlich den
Ursprung des Begriffs: Fälle niemals mehr Holz, als angepflanzt wird. - Das ist ein schönes, griffiges Bild, das
zum Ausdruck bringt: Wirtschaftliches Handeln ist erlaubt, aber bitte nur mit Blick auf die Zukunftsfähigkeit
und auf das Gemeinwohl. Übertragen auf heute heißt das
- das wurde schon gesagt -: Wir müssen unseren Kindern und Enkelkindern ein intaktes ökologisches, ökonomisches und, ich betone, soziales Gefüge hinterlassen. In
der öffentlichen Wahrnehmung steht im Zusammenhang
mit dem Begriff Nachhaltigkeit meist die Versöhnung
von Ökonomie und Ökologie im Vordergrund.
Ich schlage vor, dass wir den Fokus ein kleines bisschen hin zum sozialen Aspekt verschieben. Ich bin fest
davon überzeugt, dass die Bereiche Ökologie und Soziales eng miteinander verknüpft sind. Nachhaltigkeit kann
es nur geben, wenn die Bereiche Soziales, Umwelt sowie
wirtschaftliche Interessen gleichermaßen berücksichtigt
werden.
({2})
Unsere Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass wir keine
abgehobene Diskussion über das Thema Nachhaltigkeit
führen. Sie sollte nicht bloß auf Gutverdiener abzielen,
die im Biomarkt einkaufen können oder Hybridautos
fahren. Im Gegenteil: Ich möchte, dass wir unseren Blick
ein bisschen drehen und uns fragen: Wer sind die Leidtragenden von nicht nachhaltiger Politik? Das sind die
Menschen, die an einer stark befahrenen Straße wohnen,
weil die Mieten dort billiger sind, die aber unter Abgasbelastung und Lärm leiden müssen.
({3})
Das sind jene Menschen, die keine Bioprodukte kaufen,
und zwar nicht, weil sie es nicht wollen; vielmehr
können sie es nicht, weil die Produkte ein bisschen teurer sind.
Nach meiner Vorstellung bedeutet mehr Nachhaltigkeit mehr soziale Gerechtigkeit, und mehr soziale Gerechtigkeit bedeutet mehr Nachhaltigkeit. So gesehen ist
nachhaltige Politik nicht nur gute Politik, sondern auch
sozialdemokratische Politik und christliche Politik, sie
ist auch sozialistische Politik und grüne Politik. Hier
schließt sich der Kreis. Denn wir alle beanspruchen für
unsere Politik den Ansatz einer zukunftsfähigen Verbindung von Ökologie, Ökonomie und Sozialem. Wir sind
uns nicht nur heute, sondern generell einig, dass Nachhaltigkeit sehr wichtig für uns ist.
Ich freue mich auf die Diskussion im Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung. Wir sollten
daran arbeiten, den Fokus zunächst ein bisschen und
dann ein Stück weiter zu verschieben. In diesem Sinne
übergebe ich jetzt an den sechsten Redner dieser Debatte.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({4})
Vielen Dank, Herr Kollege. Übergeben dürfen Sie
nicht, das darf nur ich.
Wir gratulieren Ihnen von Herzen zu Ihrer ersten
Rede im Deutschen Bundestag und wünschen Ihnen viel
Erfolg in diesem sehr wichtigen, auf die Zukunft bauenden Bereich.
({0})
Jetzt übergebe ich das Wort dem nächsten Redner und
begrüße Matern von Marschall für die CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir alle wissen: Die Krise der
Europäischen Union, die durchaus eine Krise der Nachhaltigkeit ist, ist keineswegs überwunden. Bedrückender
finde ich heute allerdings eine ganz andere Krise. Mit
Blick auf die Ukraine kann ich nur sagen: Derzeit befindet sich ganz Europa in einer Bewährungskrise.
Wenn die Union ihren östlichen Nachbarn eine
Partnerschaft anbietet, muss sie dafür sorgen, dass die
Länder, denen sie die Partnerschaft anbietet, diese auch
annehmen können, sonst ist eine Außenpolitik, die nachhaltig sein soll, nichts wert. Der Begriff „Nachhaltigkeit“ wäre nicht mehr als eine Worthülse. Darüber ist
vorhin schon gesprochen worden.
In der Ukraine kann es in allerletzter Minute vielleicht noch gelingen, das Allerschlimmste abzuwenden.
Es kann der Weg in die Rechtsstaatlichkeit noch gebahnt
werden, wenn die Europäische Union Klarheit und Entschlossenheit zeigt. Ob aber die Europäische Union auf
Dauer, das heißt nachhaltig, stark ist, darüber entscheiden ihre Bewohner. Wenn ich einige Tage zurückschaue
und mir den Volksentscheid in der Schweiz ansehe, erkenne ich, dass dort Ängste vor einer Außenwelt, die
man als Bedrohung empfindet, zum Ausdruck gebracht
wurden. Das muss uns als Warnhinweis dienen, auch für
die Europäische Union, auch in die Europäische Union
hinein. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass die
Ängste auch bei uns vorhanden sind. Wir dürfen sie
nicht ignorieren, sondern wir müssen den Menschen erklären, welchen Wert diese starke und stabile Europäische Union hat. Das ist eine Frage der Nachhaltigkeit.
({0})
Unser Ansatz ist also weder Rückzug noch Abschottung. Unser Ansatz ist nicht ein Kurs der Konfrontation,
sondern ein Kurs der Kooperation, und zwar, weil wir
überzeugt sind - das ist in unserem Menschenbild verankert -, dass der Mensch zur Zusammenarbeit, zur Kooperation geschaffen ist - und zur Toleranz. Das ist der
Weg der Nachhaltigkeit.
({1})
Die Europäische Union hat gezeigt, dass sie Zukunft
friedlich gestalten kann. Nach zwei Weltkriegen leben
wir unterdessen fast 70 Jahre in Frieden - das gilt für
eine halbe Milliarde Menschen auf diesem Globus - in
freiheitlichen, in solidarischen, in friedlichen Rechtsstaaten. Zu dieser Europäischen Union gehören zum
Beispiel auch Rumänien und Bulgarien. Stellen Sie sich
einen Moment lang vor, in welcher Situation diese Länder sich befinden würden, wenn sie heute nicht Mitglieder der Europäischen Union wären. Stellen Sie sich einmal vor, wie zum Beispiel in Polen über diese Frage
heute gedacht wird.
Unsere Friedensgemeinschaft ist also - das sehen wir
in diesen Tagen mit großer Bestürzung - nicht selbstverständlich, sondern wir müssen täglich daran arbeiten, sie
täglich neu beleben und die Menschen von ihrem Wert
überzeugen. Das ist nachhaltige Politik.
({2})
Ich will auf die vielen anderen Politikfelder, die auch
zur Nachhaltigkeit gehören und hier angesprochen worden sind, nicht näher eingehen: die soliden Haushalte,
die Energiepolitik, die ganz wichtigen Themen, die Sie
alle kennen. Ich wollte auf dieses aktuelle Thema in besonderer Weise eingehen, auf eine nachhaltige Außenpolitik.
({3})
Schlüssel zum Erfolg einer Nachhaltigkeitspolitik
- das möchte ich zum Schluss sagen - ist die Subsidiari1318
tät. Das heißt, wir müssen die Menschen vor Ort mitnehmen, einbeziehen und dürfen nicht ex cathedra eine
Lehre von oben verkünden; das geht nicht. Wir müssen
also die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und ökologischen Gegebenheiten vor Ort berücksichtigen. Nur
dann kann Nachhaltigkeit gelingen.
Der Parlamentarische Beirat bemüht sich darum. Wir
möchten seine Arbeit stützen. Ich bitte Sie von Herzen:
Tun Sie das auch.
Danke.
({4})
Vielen Dank, Herr Kollege. Wir gratulieren Ihnen von
Herzen zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag
und hoffen, dass Sie in diesem Gremium, in diesem Bereich sehr viel Erfolg haben beim grenzüberschreitenden
Denken und bei der Suche nach nachhaltiger Politik.
({0})
Der letzte Redner in dieser Debatte ist Dr. Andreas
Lenz für die CDU/CSU.
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben es schon gehört: Zum vierten Mal setzen wir heute
den Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung ein. Gibt man in der Suchmaschine Google den
Begriff „Nachhaltigkeit“ ein, erscheinen ungefähr
6 590 000 Treffer. Gibt man den englischen Begriff
„Sustainability“ ein, erscheinen gar 38 Millionen Treffer.
Das sind Zahlen, die man sonst nur von Haushaltsberatungen gewohnt ist, die aber auch zeigen, dass der Begriff Relevanz hat, auch wenn er mittlerweile, wie wir
schon gehört haben, inflationär verwendet wird.
Der Begriff der Nachhaltigkeit stammt ursprünglich
- wir wissen es alle - aus der Forstwirtschaft und beschreibt hier den Umstand, dass der Natur auf Dauer
nicht mehr Ressourcen entnommen werden können, als
sie imstande ist, selbst zu reproduzieren. Im sogenannten
Brundtland-Bericht von 1987 wird Nachhaltigkeit als
dann gegeben betrachtet, wenn die gegenwärtige Generation ihre Bedürfnisse befriedigt, ohne die zukünftigen
Generationen zu gefährden. Die Konferenz der Vereinten Nationen in Rio de Janeiro 1992 definierte Nachhaltigkeit als ein Gleichgewicht unter Berücksichtigung
ökologischer, ökonomischer und sozialer Faktoren.
Diese Definition ist mittlerweile sehr weit verbreitet. Sie
ist jedoch auch in ihren Zielkonflikten zu verstehen.
({0})
Der Beirat für nachhaltige Entwicklung übernimmt
seit 2001 die langfristig angelegte Aufgabe, die nationale Nachhaltigkeitsstrategie dauerhaft parlamentarisch
zu begleiten. Eine seiner wichtigsten Aufgaben ist die
Nachhaltigkeitsprüfung bei Gesetzesfolgenabschätzungen. Der Beirat prüft sämtliche Gesetzentwürfe und Verordnungen der Bundesregierung unmittelbar nach Zuleitung an den Bundesrat auf ihre Nachhaltigkeit.
Schauen wir uns einige politische Handlungsfelder im
Hinblick auf eine nachhaltige Entwicklung an. Zunächst
einmal ist die finanzielle Nachhaltigkeit zu erwähnen.
Gerade die Haushaltskonsolidierung kann als Teil einer
nachhaltigen Politik für die folgende Generation verstanden werden. Hier leisten wir mit der Vorlage eines ausgeglichenen Haushalts ab 2015 einen wichtigen Beitrag.
({1})
Im Übrigen ist hier ein gesellschaftlicher Prozess zu spüren, der eine nachhaltige Haushaltspolitik ausdrücklich
unterstützt.
Nachhaltigkeit heißt aber auch Ressourcenschonung.
Ein wichtiges Thema diesbezüglich ist der Flächenverbrauch, der immer noch zu hoch ist. So werden in
Deutschland täglich rund 80 Hektar - das sind circa 120
Fußballfelder - neu versiegelt.
Ein weiteres Handlungsfeld ist die Stärkung der
Kreislaufwirtschaft. Unser Land ist hier bereits sehr gut
aufgestellt und genießt weltweit hohes Ansehen. Müll ist
in Deutschland eine wichtige Ressource.
Lassen Sie mich das Potenzial, das wir hier haben, am
Beispiel der Handyaltgeräte aufzeigen. In Deutschland
liegen rund 106 Millionen Handyaltgeräte in den Schubladen der Bundesbürger. Diese Geräte enthalten viele
wertvolle Rohstoffe wie Gold, Silber, Palladium oder
Kupfer. Bei diesen besagten 106 Millionen Handys sind
dies 3 Tonnen Gold, 30 Tonnen Silber, 1 900 Tonnen
Kupfer, 151 Tonnen Aluminium und 105 Tonnen Zinn.
Hinzu kommen Seltene Erden, die sonst in hohem Maße
auf anderen Wegen beschafft werden müssen. Das bedeutet: Wir müssen das Potenzial der Kreislaufwirtschaft
noch stärker nutzen.
({2})
Aber auch der Verbraucher hat mit seiner Kaufentscheidung enormen Einfluss darauf, welche Produkte
sich auf dem Markt behaupten. Es wird deswegen künftig noch stärker darauf ankommen, das Bewusstsein für
nachhaltige Produkte zu schärfen. Dies kann auch durch
mehr Transparenz - Stichwort „Kennzeichnung“ - geschehen.
Da es um die Zukunft der nächsten Generation geht,
beinhaltet eine nachhaltig angelegte Politik immer auch
eine moralische Komponente. Jede Nachhaltigkeit
braucht ein Stück weit Gemeinsinn und - vor allem deshalb, weil sie in die Zukunft gerichtet ist - Verantwortung. Nachhaltigkeit bedeutet auch Rücksicht auf die
kommenden Generationen und ein Hintanstellen egoistischer und kurzfristiger Bedürfnisse. Vielleicht heißt
nachhaltiges Wirtschaften auch ein Stück weit Verzicht.
Für die Arbeit des Parlamentarischen Beirats für
Nachhaltigkeit wird weiterhin entscheidend sein, dass
wir uns über die Fraktionsgrenzen hinweg auf langfristige Ziele verständigen. Dass dies zeitintensiv ist, brauche ich Ihnen nicht zu sagen. Aber, ich glaube, es lohnt
sich, dass wir miteinander um diesen Konsens ringen.
Ich habe heute im Laufe des Tages mitgezählt, wie oft
das Wort „Nachhaltigkeit“ vor dieser Debatte verwendet
wurde und bin auf 25 Mal gekommen. Daran sieht man das wurde ja schon gesagt -, wie inflationär das Wort
verwendet wird, aber auch, wie wichtig das Wort ist.
„Nachhaltigkeit“ ist ohne Zweifel ein Modewort geworden, auch ein Schlagwort, und manchmal ist es, wie wir
gehört haben, eine Worthülse.
Lassen Sie uns versuchen, den Begriff mit neuem Leben zu füllen. Ich freue mich auf eine gute Zusammenarbeit im Beirat mit nachhaltigen Ergebnissen.
Herzlichen Dank.
({3})
Danke, Herr Kollege. - Auf die nachhaltigen Ergebnisse freuen wir uns alle.
Ich schließe damit die Aussprache. Wir kommen zur
Abstimmung über den interfraktionellen Antrag auf
Drucksache 18/559 zur Einsetzung des Parlamentarischen Beirats für nachhaltige Entwicklung. Wer stimmt
für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Antrag ist einstimmig angenommen. Ich
wünsche von Herzen eine gute Arbeit in diesem wirklich
wichtigen Gremium. Damit ist der Parlamentarische
Beirat für nachhaltige Entwicklung eingesetzt.
({0})
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus
Ernst, Dr. André Hahn, Ulla Jelpke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Straffreiheit bei Steuerhinterziehung durch
Selbstanzeige abschaffen
Drucksache 18/556
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Der erste Redner in der Debatte ist Klaus Ernst für die
Linke.
({2})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Heute sprechen wir die zweite Woche hintereinander über dieses Thema. Trotzdem noch einmal: Um
was geht es uns? Es geht uns darum, dass wir die strafbefreiende Selbstanzeige abschaffen wollen. Warum? Es
gibt eigentlich in § 370 der Abgabenordnung die klare
Regelung: Steuerhinterziehung wird mit Freiheitsstrafe
bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe bestraft, in besonders
schweren Fällen sogar mit sechs Monaten bis zu zehn
Jahren Freiheitsstrafe.
Ich weiß nicht, ob das auch Ihnen aufgefallen ist. Mir
ist aufgefallen, dass, obwohl wir dauernd von schweren
Fällen der Steuerhinterziehung hören, niemand sitzt.
Keiner! Offensichtlich gibt es bei uns Möglichkeiten,
sich bei Steuerhinterziehung von der Strafe zu befreien,
sozusagen die Möglichkeit der Strafhinterziehung.
Meine Damen und Herren, ich denke, dass wir dieses
Thema sehr ernst nehmen müssen, weil in der Bevölkerung langsam der Eindruck entsteht: Die Großen lässt
man laufen, und die Kleinen gehen in den Knast.
Warum ist das so? Warum kann man sich bei Steuerhinterziehung sozusagen der Strafe entziehen? Weil wir
die §§ 371 und 398 a der Abgabenordnung haben, die
besagen, dass es automatisch - das unterscheidet diesen
Punkt von vielen anderen - zu keiner Strafe kommt - automatisch! -, wenn der Steuerhinterzieher sich selbst anzeigt, die Steuern nachzahlt - nicht alles, sondern nur für
einen bestimmten Zeitraum - und in besonders schweren
Fällen 5 Prozent Strafsteuer zahlt. Dann wird von einer
Strafverfolgung automatisch abgesehen. Das heißt, man
ist auch nicht vorbestraft. Man muss im Gegensatz zu
vielen anderen, die eine Straftat begangen haben, vor
keinen Richter.
({0})
- Ja, Zinsen muss man auch zahlen. Wer die zahlt, wird
sich hinterher wahrscheinlich vom Balkon stürzen.
Meine Damen und Herren, da fragt man sich als Bürger natürlich: Ist das eigentlich gerecht? Natürlich fragt
sich auch der kleine Ladendieb, der vor den Richter
muss: Ist das in Ordnung? Der Verkehrssünder, der
Zechpreller, der Kleinkriminelle, alle fragen sich: Ist das
eigentlich okay? Auch wenn es um relativ geringe Beträge geht, müssen sie zumindest vor den Richter. Der
Richter hat dann die Möglichkeit, zu entscheiden: Ist das
ein ganz besonders schlimmes Vergehen? Muss der in
den Knast oder nicht? - Bei Riesenbeträgen greift aber
die Automatik, dass man sich nicht einmal für seine Tat
zu verantworten hat.
Meine Damen und Herren, unser Antrag will - deshalb stellen wir ihn - wieder Gleichheit vor dem Recht
für alle Bürger herstellen; das ist das Ziel unseres Antrags. Das haben wir gegenwärtig nämlich nicht. Genau
aus diesem Grund erscheint die Straftat Steuerhinterziehung dem Bürger nach wie vor als Kavaliersdelikt. Ich
habe in der letzten Woche viele Reden gehört, in denen
es hieß: Ja, aber wir wollen nicht, das ist kein Kavaliersdelikt.
({1})
Durch die Straffreiheit machen wir Steuerhinterziehung
jedoch zum Kavaliersdelikt. Deshalb müssen wir das
Ganze ändern.
({2})
Wir schlagen vor, die Strafbefreiung bei Selbstanzeige
abzuschaffen; dann ist alles wieder im Lot und jeder
wird gleich behandelt.
Ich freue mich, dass der Kollege Andreas Schwarz
von der SPD in der Debatte letzte Woche gesagt hat:
Wer trotz der aktuellen Debatte künftig Steuern hinterzieht und somit den Bürgerinnen und Bürgern in
unserem Land Schaden zufügt, der sollte sich nicht
mehr auf Strafbefreiung verlassen dürfen.
Genau darum geht es. Dann kann der Richter abwägen,
wie schwer die Straftat eigentlich ist; aber es gibt keine
Automatik mehr. Herr Schwarz hat eine Übergangsfrist
für das Auslaufen der aktuell gültigen Regelung vorgeschlagen. Das kann man machen für eine bestimmte
Zeit; aber dann muss Schluss sein.
Natürlich müssen wir Bagatellen regeln: Wenn einer
bei seiner Steuererklärung eine Frist nicht eingehalten
hat, ist das sicherlich anders zu werten, als wenn einer
Millionenbeträge hinterzogen hat.
Über einige Argumente in der letzten Debatte habe
ich mich gewundert, meine Damen und Herren. Hans
Michelbach hat letzte Woche gesagt: „Es ist nicht verboten, Geld im Ausland anzulegen.“ Der ist aber schlau!
Als wäre es in der Debatte darum gegangen, dass man
kein Geld mehr im Ausland anlegen dürfe. Also, mit
welcher Ernsthaftigkeit manchmal die Debatten hier geführt werden, da dreht es einem ja wirklich langsam den
Magen um. Dann hat er gesagt:
Damit wären wir beim eigentlichen Thema der heutigen Aktuellen Stunde. Diese Debatte mit der Attitüde des Klassenkampfes zu führen …
Also wenn man fordert, dass sich bitte schön auch Steuersünder vor dem Kadi zu verantworten haben, dann ist
das schon Klassenkampf? Für jemanden, der so denkt,
muss dann eine Ansammlung von drei Bürgern mit Plakaten schon Bürgerkrieg sein. Da kann ich wirklich nicht
mehr folgen, meine Damen und Herren.
({3})
- Dann gehen Sie einmal zu Herrn Michelbach; er hat
die Debatte so begonnen.
({4})
Herr Graf Lerchenfeld, ich habe auch Ihnen genau zugehört. Sie haben gesagt, auch Brandstifter könnten
Strafbefreiung bekommen: wenn sie löschen. Das Einzige, was mir an diesem Argument gefällt, ist, dass Sie
Steuerhinterzieher mit Brandstiftern vergleichen. An
diesem Vergleich ist was dran: Das eine betrifft vielleicht ein Häuschen, das andere das Klima in der Gesellschaft. Sie haben jedoch vollkommen vergessen, darauf
hinzuweisen, dass derjenige, der ein Haus angezündet
hat, sich in jedem Fall vor einem Richter verantworten
muss, der prüft, ob er auch anständig gelöscht hat und
nicht nur ein wenig gespritzt hat. Genau das ist das Problem bei der strafbefreienden Selbstanzeige: Kein Richter prüft, was der Steuerhinterzieher eigentlich wirklich
gemacht hat.
Meine Damen und Herren, warum hat sich denn Herr
Hoeneß angezeigt, Herr Graf Lerchenfeld? Weil er tätige
Reue zeigen wollte? War es tätige Reue bei Herrn
Hoeneß? Herr Graf, das kann doch nicht Ihr Ernst sein!
Herr Hoeneß hat sich angezeigt, weil er aufgeflogen war.
Er hat zu diesem Mittel gegriffen, um sich letztendlich
vor dem Knast zu retten. Vielleicht gelingt ihm das jetzt
nicht - das ist eine andere Frage -; aber das war sein
Motiv. Mit der Strafbefreiung bei Selbstanzeige hat das
nur insofern etwas zu tun, als dass sie dazu beigetragen
hat, dass der Fall in die Öffentlichkeit kam.
Ein letztes Argument; dann bin ich auch gleich fertig,
Frau Präsidentin.
Ja - ein letztes!
Da ging es um die Frage „Volle Kassen statt voller
Gefängnisse“. Wenn das im Strafrecht zu Ihrem Prinzip
wird, dann bin ich gespannt darauf, wie unser Land
künftig aussieht.
Ich sage zum Schluss: Wir brauchen Rechtsgrundsätze, die für alle gelten, und wir brauchen ein Klima in
unserem Land, das so beschaffen ist, dass es den reicheren Bürgern auch nicht gelingt, sich von Strafverfolgung
freizukaufen - so wie es jetzt Tatbestand ist.
({0})
Danke, Herr Kollege.
Als Nächste hat das Wort Bettina Kudla für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und
Herren! Die Fraktion Die Linke - wir haben es gerade von
Herrn Ernst gehört - fordert in ihrem Antrag die Abschaffung der angeblichen Straffreiheit bei Steuerhinterziehung bei einer Selbstanzeige. Als Begründung führen
Sie an, dass keine Strafverfolgung erfolgen würde.
Bemerkenswert ist: Die Erzielung von Steuereinnahmen zuzüglich Zinsen durch das Eintreiben von hinterzogenen Steuern spielt in Ihrem Antrag überhaupt keine
Rolle.
Steuerhinterziehung ist eine Straftat, und wer bei
Steuerhinterziehung durch die Strafverfolgungsbehörden
erwischt wird, hat sich in Deutschland strafrechtlich zu
verantworten.
Leider wird Steuerhinterziehung in vielen Fällen aber
nicht entdeckt. Daher wurde vor Jahrzehnten das wirksame Instrument der Selbstanzeige geschaffen. Die Finanzbehörden sind nämlich darauf angewiesen, dass der
Steuerpflichtige richtige und vor allem vollständige Angaben macht.
Die Abschaffung der Selbstanzeige würde nicht
zwangsläufig zu weniger Steuerhinterziehung führen. Im
Gegenteil! Die Finanzbehörden können Steuerhinterziehung nämlich in der Regel nicht aufdecken, wenn der
Steuerpflichtige nicht mitwirkt.
Das Instrument der Selbstanzeige wurde vor fast drei
Jahren durch das Schwarzgeldbekämpfungsgesetz verschärft. Die Selbstanzeige ist folglich nicht mehr als Gestaltungsinstrument für Steuerhinterziehung nutzbar.
Selbstverständlich muss die Selbstanzeige aber weiterhin als Korrekturmöglichkeit, insbesondere bei der Umsatzsteuer, bestehen bleiben.
Durch den Strafzuschlag von 5 Prozent bei größeren
Beträgen stellt sich der Steuerhinterzieher schlechter als
der steuerehrliche Bürger. Das ist der springende Punkt,
und den haben Sie in Ihren Ausführungen verschwiegen,
Herr Ernst.
Wer gegen Steuerhinterziehung vorgehen will, muss
sich vor allem aber auch dem Thema Steuervermeidung
widmen. Wir leben in einer globalisierten Volkswirtschaft. Internetunternehmen und Unternehmen mit einem hohen Exportanteil haben es etwas leichter, die
Steuerpflicht von einem Land in ein anderes zu verschieben. Sie können sich also viel leichter der Besteuerung
entziehen als andere Unternehmen.
Wir müssen daher gegen aggressive Steuergestaltung
vorgehen. Das Regelwerk, welches die OECD zum automatischen und grenzüberschreitenden Informationsaustausch vergangene Woche vorgelegt hat, wurde von der
Bundesregierung begrüßt, und auch der Koalitionsvertrag enthält in dem Kapitel „Steuerhinterziehung bekämpfen - Steuervermeidung eindämmen“ wichtige
steuerpolitische Ziele, wie zum Beispiel die Bekämpfung der doppelten Nichtbesteuerung und des doppelten
Betriebsausgabenabzugs. Die DBAs sollten diesbezüglich überprüft werden. Insbesondere der Betriebsausgabenabzug bei Geschäftsbeziehungen mit Briefkastenfirmen ist ebenfalls kritisch zu hinterfragen.
Wir brauchen mehr Transparenz in Steuersachen, und
zwar insbesondere in den Branchen, in denen Steuerhinterziehung besonders leicht möglich ist, nämlich in der
Finanzbranche und in der Rohstoffbranche.
Wir wollen Besteuerungslücken schließen. Das schaffen wir insbesondere mit einem verbesserten Informationsaustausch. Es gilt, diesen Teil des Koalitionsvertrages trotz aller Komplexität und Hürden zügig
umzusetzen;
({0})
denn das liegt nicht nur im Interesse der öffentlichen
Haushalte, sondern das ist auch eine Frage der Wettbewerbsfähigkeit.
Kleine und mittelständische Unternehmen sind hier
gegenüber großen Unternehmen häufig benachteiligt, da
sich große Unternehmen leichter der Besteuerung entziehen können. Ich warne allerdings vor einem Generalverdacht und vor einer zu emotionalen Debatte. Nicht jeder
große Konzern begeht Steuerhinterziehung.
Grundsätzlich gilt: Ziel aller Maßnahmen gegen Steuerhinterziehung ist meines Erachtens nicht, die Leute unbedingt in den Knast zu bekommen, Ziel der Maßnahmen ist in erster Linie, die Steuern einzutreiben. Der
Staat muss das eintreiben, was ihm gesetzlich zusteht.
Die Steuergesetze müssen eingehalten werden.
Wir müssen uns immer fragen: Was steht denn jetzt
im Vordergrund: die strafrechtliche Verfolgung oder die
Zahlung von Steuern? Steuern stehen der Allgemeinheit
zu. Wer hier die Abschaffung der Selbstanzeige fordert,
der verhindert Steuereinnahmen.
({1})
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zusatzfrage oder
Bemerkung von Herrn Ernst?
Bitte schön.
Kollege Ernst, bitte.
Herzlichen Dank, dass Sie die Frage zulassen. - Wenn
ich Sie richtig verstehe, ist bei Ihnen das oberste Motiv
des Strafrechts, die Einnahmen des Staates zu erhöhen,
oder habe ich Sie da falsch verstanden?
({0})
Sie haben gerade gesagt: Wir wollen mit diesem Instrument dazu beitragen, zu möglichst hohen Einnahmen für
den Staat zu kommen. Das ist gut und schön; das wollen
wir ja auch. Aber es handelt sich hier um eine Straftat,
die unterschiedlich behandelt wird.
Wenn dieser Grundsatz prinzipiell gelten würde, dann
wäre es nicht das oberste Ziel der Strafverfolgung, künftige Straftaten durch Androhung einer Strafe zu vermeiden, sondern das oberste Ziel wäre es dann, die Einnahmen des Staates zu fördern. Würde das dann allgemein
gelten oder nur bei Steuerhinterziehung?
Sie führen die Diskussion ideologisch.
({0})
Oberstes Ziel der Steuergesetze ist es, die Steuern einzutreiben. Wie ich bereits sagte: Steuerhinterziehung ist
strafbar. Die Selbstanzeige ist ein Instrument, das zu
mehr Steuerehrlichkeit beiträgt. Machen wir uns nichts
vor: Wenn wir das Instrument der Selbstanzeige abschaffen, dann werden wir der Steuerhinterziehung kaum beikommen. Wir werden diese Straftaten schlichtweg nicht
aufdecken.
({1})
Nach wie vor gilt die Regelung: Wer Steuern hinterzieht, macht sich strafbar.
({2})
Durch die Zahlung des Strafzuschlages von 5 Prozent erlangt der Steuerpflichtige zwar Straffreiheit, aber er
muss diese Strafe zahlen. Damit ist es für den Staat erheblich günstiger.
({3})
Gut, danke schön. Weiter in Ihrer Rede!
({0})
Lassen Sie mich noch ein paar Worte zur Schweiz sagen. Die Ausgangslage für Gespräche mit der Schweiz
ist nach der Ablehnung des bilateralen deutsch-schweizerischen Steuerabkommens durch den Bundesrat und
auch nach dem aktuellen Schweizer Referendum zur Zuwanderung nicht einfacher geworden. Trotzdem sollte
man hier den Willen des Volksentscheids akzeptieren.
Aber die Europäische Kommission sollte gleichzeitig die
Gespräche mit der Schweiz über die Revision des Zinsbesteuerungsabkommens fortsetzen.
Fazit: Es gilt, den Koalitionsvertrag umzusetzen und
die Regelungen zur Selbstanzeige gegebenenfalls zu verschärfen, sobald die Vorschläge der Arbeitsgruppe, welche von der Finanzministerkonferenz eingesetzt wurde,
vorliegen. Keinesfalls darf die Verschärfung aber dazu
führen, dass die Selbstanzeige wirkungslos wird und
dass sich faktisch niemand mehr anzeigt. Die Regelung
zur Selbstanzeige ist übrigens nicht mit der Zielrichtung
der Abschaffung in den Koalitionsvertrag aufgenommen
worden,
Frau Kollegin, denken Sie an Ihre Redezeit.
- sondern mit der Absicht, diese zielgenauer auszugestalten. Der Antrag der Linken ist abzulehnen.
({0})
Danke, Frau Kollegin. - Nächste Rednerin ist Lisa
Paus für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Heute
ging in Hessen am Amtsgericht Eschwege ein Prozess
gegen drei Jugendliche zu Ende. Den dreien drohte bis
zu fünf Jahren Gefängnis, und zwar dafür, dass sie im
Juni letzten Jahres weggeworfene Lebensmittel aus einem Abfallcontainer eines Supermarktes genommen haben sollen, um auf die Verschwendung von Lebensmitteln aufmerksam zu machen und sie der Tafel für
Bedürftige zu übergeben. Fünf Jahre Gefängnis!
({0})
Gegen dieses Strafverfahren hat sich aus meiner Sicht
völlig zu Recht eine Welle der Empörung entwickelt.
Vor gut zwei Stunden ist nun der salomonische Urteilsspruch erfolgt: Die drei Jugendlichen sind aus Mangel an
Beweisen freigesprochen worden. Das ist die gute Nachricht.
({1})
Aber das Entwenden von Lebensmitteln aus Müllcontainern ist weiterhin eine schwere Straftat. Das ist die
schlechte Nachricht, meine Damen und Herren.
Warum erzähle ich das heute? Weil sich an diesem
Fall einmal mehr zeigt, wie sich das Gerechtigkeitsempfinden und geltendes Recht einander in Deutschland
widersprechen. Es ist kaum zu vermitteln, dass Alice
Schwarzer straffrei davonkommt, weil sie ihre Steuerhinterziehung selbst beim Finanzamt angezeigt hat,
während die Staatsanwaltschaft junge Menschen wegen
einer Weiterverwendung bereits weggeworfener Lebensmittel anklagt.
Aber, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von
der Linken, es greift dennoch deutlich zu kurz, jetzt einfach im Umkehrschluss ebenso drakonische Strafen
schon für kleinste Steuerhinterzieher einzufordern,
({2})
zumal die Abschreckungswirkung von hohen Strafen ohnehin zweifelhaft ist. Entscheidend ist das Entdeckungsrisiko. Daran wollen wir arbeiten.
({3})
Wir Grünen wollen die strafbefreiende Selbstanzeige
nicht abschaffen. Aber wir wollen sie überflüssig machen. Das geht zunächst einmal, indem wir das Entdeckungsrisiko deutlich erhöhen. Das schaffen wir erstens mit Transparenz, zweitens mit mehr Transparenz
und drittens mit noch mehr Transparenz.
({4})
In diesem Zusammenhang ist uns Grünen zusammen
mit der SPD mit der Verhinderung des deutsch-schweizerischen Steuerabkommens ein entscheidender Durchbruch für eine europäische Dynamik zugunsten von
mehr Transparenz gelungen.
({5})
Denn seitdem wissen die Steuerbetrüger: Es wird in
Deutschland keine anonyme Amnestie für Steuerhinterziehung im Ausland geben.
({6})
Aber es muss weitergehen. Die Instrumente dafür liegen auf dem Tisch: Erstens. Wir brauchen einen automatischen Informationsaustausch nicht nur für Zinsen, sondern für alle Kapitalerträge in der EU und im Übrigen
auch mit Nicht-EU-Ländern wie der Schweiz.
Zweitens. Wir machen einen automatischen Informationsaustausch in allen Doppelbesteuerungs- oder Steuerinformationsabkommen mit anderen Staaten verpflichtend.
Drittens. Wir wollen die Abschaffung der Abgeltungsteuer in Deutschland, damit auch in Deutschland Kapitaleinkünfte nicht mehr anonym bleiben.
({7})
Aber auch die derzeitigen Regelungen für die strafbefreiende Selbstanzeige gehören auf den Prüfstand. Denn
nach den derzeitigen Regelungen ist der Ehrliche noch
immer zu oft der Dumme. Wer wie Alice Schwarzer über
20 Jahre Steuern auf Erträge von Auslandskonten nicht
gezahlt hat und sich dann selber anzeigt, für den hat es
sich wegen der geltenden Verjährungsfristen eben doch
noch gelohnt, Frau Kudla. Das ist nicht in Ordnung, und
das wollen wir ändern.
({8})
Von der strafbefreienden Selbstanzeige darf kein zusätzlicher Anreiz zur Steuerhinterziehung ausgehen.
Wir wollen auch über die Höhe des Steuerzuschlages
und darüber reden, warum ein Zuschlag erst ab
50 000 Euro fällig wird. Schließlich wollen wir auch
über die Mindeststrafen reden. Wir wollen sie überprüfen, damit wir diese klare Dreiteilung haben. Der Steuerehrliche muss belohnt werden. Das ist das, was wir
wollen. Die strafbefreiende Selbstanzeige ist etwas dazwischen. Wer trotz alledem immer noch weiter Steuern
hinterzieht, muss mit entsprechenden Strafen rechnen.
Für eine entsprechende Reform stehen wir bereit und
hoffen, dass Sie das in den nächsten Wochen entsprechend angehen werden.
Herzlichen Dank.
({9})
Vielen Dank, Frau Kollegin. Jetzt kann ich die Redezeit, die Sie nicht gebraucht haben, niemand anderem
gutschreiben. Aber gut.
Nächster Redner in der Debatte ist Metin Hakverdi
für die SPD.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Das Thema strafbefreiende Selbstanzeige bei
Steuerhinterziehung, deren Abschaffung die Linke heute
wieder einmal fordert, haben wir im Rahmen der Aktuellen Stunde in der letzten Woche ausführlich besprochen.
Die wesentlichen Argumente wurden vorgetragen und
ausgetauscht. Wir können das jede Woche wiederholen,
wenn Sie wünschen.
({0})
- Ich komme gleich darauf zurück, durchaus versöhnlich, Herr Ernst.
Die Debatte hat aufgezeigt - das kann man im Protokoll nachlesen -, dass wir durchaus einen Konsens im
Hause haben, dass wir alle gemeinsam mehr Steuergerechtigkeit in Deutschland wollen.
({1})
Steuergerechtigkeit ist eines der Kernanliegen der SPDFraktion. Auch wir wollen an dem Erreichen des Ziels
mehr Steuergerechtigkeit konsequent weiterarbeiten.
Keine Einigkeit haben wir darüber erzielt, wie dieses
Ziel mehr Steuergerechtigkeit erreicht werden kann. Mit
der Union haben wir uns zuerst darauf geeinigt, die
Steuerhinterziehung stärker zu bekämpfen. Im Koalitionsvertrag haben wir vereinbart - darüber war schon
einiges zu hören -, dass wir gegen grenzüberschreitende
Gewinnverlagerungen von international operierenden
Unternehmen vorgehen werden. Wir haben vereinbart,
dass wir auf nationaler, europäischer und internationaler
Ebene weiter konsequent gegen Steuervermeidung durch
Nutzung von Offshorefinanzplätzen vorgehen wollen.
Außerdem haben wir vereinbart, dass wir im Lichte des
Berichts der Finanzministerkonferenz die Regelung zur
strafbefreienden Selbstanzeige, deren Abschaffung Sie
eilfertig fordern, weiterentwickeln und verschärfen
wollen.
Wenn man das Ziel mehr Steuergerechtigkeit konsequent ansteuert, dann genügt es eben nicht, einen einzelnen Baustein aus dem System der Steuergestaltung zu
betrachten und zu kritisieren. Mehr Steuergerechtigkeit
werden wir nur dann erreichen, wenn wir ein Bündel
verschiedener Maßnahmen weiterentwickeln und aufeinander abstimmen. Die Abschaffung der strafbefreienden Selbstanzeige allein wird eben nicht zu mehr Steuergerechtigkeit führen.
({2})
Mit der Abschaffung der strafbefreienden Selbstanzeige
allein werden Steuerbetrüger nicht zu rechtschaffenen
Bürgern, die sich in die Schlange vor dem Finanzamt
einreihen, um ihre Steuern zu zahlen.
({3})
Wenn die strafbefreiende Selbstanzeige allein abgeschafft würde, würden in diesem Land künftig - so paradox das klingen mag - mehr Steuern hinterzogen. Wenn
wir Ihrem Antrag heute folgen würden: Was würde sich
für die Menschen, die bisher Steuern hinterzogen haben,
ändern? Durch die ersatzlose Streichung der strafbefreienden Selbstanzeige machen wir die Tür zu, durch die
diese Menschen bisher gehen können, um ihrer Steuerpflicht nachzukommen. Hierdurch bekommt der Staat
Einnahmen in nennenswerter Höhe: 3 Milliarden Euro.
Das ist viel Geld. Wenn wir allein das Institut der Selbstanzeige abschaffen würden, bekämen wir auch mit dem
Ankauf von Steuer-CDs eine so hohe Summe nicht herein.
Die strafbefreiende Selbstanzeige ist in weiterer
Hinsicht nützlich. Durch sie bekommen wir wichtige
Hinweise auf weitere Steuerstraftaten; denn in diesen
Verfahren sind die Steuerbürger zur Mitwirkung bei der
Aufklärung verpflichtet. Es gibt kein Zeugnisverweigerungsrecht. Alle Steuersachen müssen lückenlos aufgedeckt werden. Solche wichtigen Informationsquellen
würden verschüttgehen, wenn wir dem Antrag der Linken folgten.
({4})
Die Steuerfahnder würden in der Praxis tatsächlich weniger Steuerstraftaten aufdecken.
Im Ergebnis muss man also fragen: Worauf kommt es
uns bei der Steuergerechtigkeit an? Wollen wir gesinnungsethisch oder verantwortungsethisch entscheiden?
Ist es uns bei der Steuergerechtigkeit wichtiger, sagen zu
können: „Wir haben die richtige Gesinnung“, oder ist es
uns wichtig, dafür zu sorgen, dass möglichst viele Menschen tatsächlich ihre Steuern zahlen?
({5})
Die Wahrheit ist: Wir wollen beides. Wir wollen auch
dem Gerechtigkeitsempfinden der Gesellschaft Rechnung tragen. Der Bericht der Bund-Länder-Fachgruppe
zur Evaluierung der §§ 371 und 398 a der Abgabenordnung hat gute Vorschläge gemacht. Diese sollten wir
aufgreifen und fortentwickeln. Zum Beispiel sollen bei
einfacher Steuerhinterziehung vollständige Angaben zu
dem für die Nachversteuerung relevanten Zeitraum gemacht werden. Mit Blick auf diese Erkenntnisse sollten
wir darüber diskutieren, ob wir die strafbefreiende
Selbstanzeige in Fällen schwerer Steuerstraftaten tatsächlich abschaffen wollen. Das haben wir schon vor einigen Jahren vorgeschlagen. Wir wollen keinen Ablasshandel für Superreiche und Schwerkriminelle, die sich
teure Berater bei der Selbstanzeige und beim Zuschlag
leisten können. Das Papier der Bundesländer enthält
weitere Vorschläge, über die wir diskutieren und die wir
für eine Novellierung dieses Instruments heranziehen
sollten.
Im Ergebnis ist festzuhalten: Solange wir ein internationales Umfeld von sogenannten Steueroasen haben, ist
es richtig, wenigstens die Möglichkeit der strafbefreienden Selbstanzeige zu haben. Aber die Steuergerechtigkeit und das Gerechtigkeitsempfinden der Bevölkerung
verlangen, dass wir die Brücke zur Straffreiheit durch
die Selbstanzeige neu justieren. Hierfür ist der Bericht
der Bund-Länder-Facharbeitsgruppe zur Evaluierung der
§§ 371 und 398 a der Abgabenordnung eine gute Diskussionsgrundlage. Wir werden Ihren Antrag deshalb
ablehnen.
Vielen Dank.
({6})
Vielen Dank, Herr Kollege Metin Hakverdi. Das
ganze Haus gratuliert Ihnen zu Ihrer ersten Rede im
Deutschen Bundestag.
({0})
Nächster Redner in der Debatte ist Philipp Graf
Lerchenfeld.
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Hohes Haus! Wissen Sie, Kollege
Ernst, durch ständiges Behaupten von Halbwahrheiten
werden Tatsachen und Fakten nicht verändert, und falsche Behauptungen werden einfach auch nicht wahrer.
({0})
Vielleicht erziele ich mit der Wiederholung meiner
Darstellung aus der Aktuellen Stunde der letzten Woche
einen gewissen Lernerfolg bei Ihnen. Man sagt ja: Repetitio est mater studiorum. Frei übersetzt: Die Wiederholung ist die Mutter des Lernerfolgs. Oder: Wenn ich es
Ihnen oft genug sage, kapieren auch Sie es vielleicht einmal.
({1})
Ich will es noch einmal ganz deutlich sagen: Steuerhinterziehung ist nicht die einzige Straftat, bei der eine
Selbstanzeige zur Straffreiheit führen kann. Sie haben
das Beispiel des Brandstifters selbst genannt. Hier sollten Sie in das Gesetz schauen. Dort steht nämlich, dass
schon der Versuch des Löschens dazu führen kann, dass
Straffreiheit gewährt wird.
({2})
Gleiches gilt für die Hinterziehung von Sozialabgaben,
bei Geldwäsche, bei Geldfälschung, bei Subventionsbetrug, und es gibt, worauf ich hingewiesen habe, sogar
eine Straffreiheitsregelung im Parteiengesetz.
Wir sind uns über alle Fraktionsgrenzen hinweg einig,
dass Steuerhinterziehung kein Kavaliersdelikt ist. Steuerhinterziehung ist Betrug an der Gesellschaft und muss
deshalb entsprechend verfolgt und bestraft werden. In
Ihrem Antrag, Kollege Ernst, wird auch korrekt darauf
hingewiesen, dass das Steuerstrafrecht in der letzten
Legislaturperiode erheblich verschärft worden ist. Außerdem haben wir im Koalitionsvertrag vereinbart - das
haben Sie allerdings nicht in Ihren Antrag geschrieben -,
dass wir weitere Maßnahmen für notwendig halten. Nun
aber wegen der spektakulären Fälle, die in letzter Zeit
durch die Medien gegangen sind, gleich die Abschaffung der strafbefreienden Selbstanzeige zu fordern, heißt
doch, das Kind mit dem Bad auszuschütten, und ist
wirklich nichts anderes als schnöder Populismus.
({3})
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der Linken,
Ihnen geht es doch gar nicht darum, vermeintliche Ungerechtigkeiten zu beseitigen. Sie versuchen, mit Ihrem
Antrag alle finanziell besser situierten Bürgerinnen und
Bürger erst einmal unter einen Generalverdacht zu stellen. In Ihrer Vorstellungswelt ist anscheinend jeder, der
Vermögen besitzt, per se ein Straftäter, den der Staat
durch die strafbefreiende Selbstanzeige schützen will.
({4})
Sie sprechen vom gleichen Recht für alle. Bei Steuerhinterziehungen, bei denen durch eine umfassende
Selbstanzeige Straffreiheit gewährt wird, geht es doch
nicht nur um die spektakulären Fälle, sondern es geht
zum Beispiel auch um Eltern, die weiter Kindergeld beziehen, weil sie das Alter ihrer Kinder in der Steuererklärung nicht angegeben haben. Es geht auch um den
Rentner, der glaubt, seine Rente nicht versteuern zu
müssen, oder um den Lehrer, der wider besseres Wissen
ein Zimmer seines Hauses als Arbeitszimmer angibt,
oder um die eigentlich ehrlichen Bürger, die in Unkenntnis unseres wirklich komplizierten Steuerrechts fehlerhafte Erklärungen abgeben. In allen diesen Fällen hilft
die Strafbefreiung bei Selbstanzeige, den Weg zur Steuerehrlichkeit wieder zu öffnen.
({5})
Die Finanzbehörden sind gehalten, alle steuerlichen
Sachverhalte zu erfassen. Es ist schon gesagt worden,
dass hierzu die Mitwirkung der Steuerpflichtigen notwendig ist und eine Strafbefreiung auch dazu führt, dass
bei einer Selbstanzeige alle Tatsachen aufgeklärt werden. Sonst hätte der Steuerbetrüger ein Aussageverweigerungsrecht, und wir würden nicht zu den angestrebten
Ergebnissen kommen.
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder
Bemerkung vom Kollegen Ernst?
({0})
Vom Kollegen Ernst immer besonders gerne.
Echt? Gut, dann Kollege Ernst.
Danke schön. - Das scheint der Beginn einer grenzenlosen Freundschaft zu werden.
Das müssen wir noch abwarten, würde ich sagen.
({0})
Ich wollte Sie, Herr Graf, darauf hinweisen, dass wir
genau die Delikte, die Sie ansprechen, mit der Abschaffung der strafbefreienden Selbstanzeige nicht erfassen
wollen und sie deshalb ausnehmen. Wenn Sie unseren
Antrag gelesen hätten, wüssten Sie das. Vielleicht ist es
Ihnen auch entgangen. Es heißt dort - ich möchte zitieren -:
Die Institution der strafbefreienden Selbstanzeige
dient auch als Korrekturmöglichkeit von nicht absichtlich begangenen Fehl- oder Falschangaben.
Dies betrifft insbesondere den Bereich der komplexen umsatzsteuerlichen Melde- und Erklärungspflichten. Leichtfertige Steuerverkürzung ist nicht
gleichzusetzen mit bewusster Steuerhinterziehung.
Genau diesen Punkt greifen wir also auf.
Wir wollen nicht, dass Steuerhinterziehung in Millionenhöhe mit der Tat von jemandem gleichgesetzt wird,
der vielleicht vergessen hat, seine Steuererklärung rechtzeitig abzugeben. Genau das wollen wir nicht. Insofern
stimme ich Ihnen vollkommen zu, dass wir das Ganze
entsprechend regeln müssen.
Wenn Sie mir so weit zustimmen, dann könnte das
mit der Freundschaft vielleicht noch etwas werden.
({0})
Ich möchte Ihnen nur sagen: Sie fordern gleiches
Recht für alle. Gleichzeitig sagen Sie, dass die reichen
und superreichen Steuerbetrüger stärker als die anderen
bestraft werden sollen. Steuerhinterziehung ist grundsätzlich eine Straftat, und das gilt für jeden, in welcher
Höhe er auch immer Steuern hinterzieht. Wir brauchen
eine Strafbefreiung, damit Steuerhinterziehung geahndet
werden kann.
({1})
Ich möchte noch auf eine Sache hinweisen, auf die ich
auch in der letzten Rede hingewiesen habe: Das Steuergeheimnis ist auch ein Dienstgeheimnis. Wir haben in
der letzten Zeit sehr viel von Dienstgeheimnissen gehört
und viel darüber gesprochen. Ich meine, dass es notwendig ist, dass jeder, der ein Steuergeheimnis verletzt, unnachgiebig verfolgt wird.
({2})
Es kann nicht sein, dass jemand in der Öffentlichkeit
durch den Dreck gezogen wird, weil man bei ihm Steuerhinterziehung vermutet oder weil an bestimmte Fernsehanstalten die Information weitergegeben worden ist,
dass eine Hausdurchsuchung stattfindet. So kann man
mit vermeintlichen Steuerhinterziehern nicht umgehen.
Solches Fehlverhalten muss genauso geahndet werden
wie die Steuerhinterziehung.
({3})
Wir können über eine Verschärfung der Regeln zur
Selbstanzeige durchaus reden. Aber wir müssen die andauernde Verletzung von Steuergeheimnissen ebenso ins
Kalkül ziehen. Eine Abschaffung der Selbstanzeige für
alle Steuerdelikte, wie es die Linke in ihrem populistischen Antrag fordert, ist ebenso unsinnig wie kontraproduktiv und geht an der eigentlich zu führenden Debatte
vorbei. Deshalb werden wir Ihren Antrag ablehnen. Ich
hoffe, das tut unserer Freundschaft keinen Abbruch.
Vielen Dank.
({4})
Die Steuer verbindet. - Vielen Dank, Herr Kollege. Nächster Redner ist Lothar Binding für die SPD.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Die Linke hat die Begriffe Straftat, Strafverfolgung, Strafrecht und Gerechtigkeit sehr stark strapaziert. Ich denke, es ist klug, wenn
man nur Vergleichbares miteinander vergleicht. Schauen
wir einmal, wie der Antrag der Linken eigentlich beginnt:
Keine Schwarzfahrerin, kein kleiner Betrüger kann
durch Selbstanzeige einen gesetzlich zugesicherten
Anspruch auf Straffreiheit geltend machen.
Das stimmt.
Interessanterweise wird in diesem Antrag mit der
Überschrift „Straffreiheit bei Steuerhinterziehung durch
Selbstanzeige abschaffen“ ein Schlupfloch für die kleinen Leute gefordert. Da steht nämlich, Bagatelldelikte
sollten künftig nur als Ordnungswidrigkeit behandelt
werden. Es geht dabei um genau diejenigen kleinen
Leute mit ihren kleinen Fehlern, auf denen Sie die Begründung Ihres Antrags aufbauen. Dann müssten Sie
konsequenterweise auch eine Bagatellgrenze für
Schwarzfahrer und für Betrüger fordern. Sie müssen
Gleiches mit Gleichem vergleichen. Dass Sie das nicht
tun, führt in Ihrem Antrag zu einem logischen Fehler.
Eigentlich ist Ihr Antrag gar nicht schlecht. - Ich lasse
jetzt keine Zwischenfrage zu. ({0})
Interessanterweise haben Sie in der 17. Legislaturperiode etwas anderes vorgelegt, nämlich einen Antrag
ohne die Forderung nach dieser Bagatelldeliktregelung.
Das ist doch bemerkenswert. Interessanterweise haben
wir vor zwei Jahren ebenfalls beantragt, die pauschale
Straffreiheit nach einer Selbstanzeige abzuschaffen. Das
geschah teilweise auch, um bestimmte Leute zu erschrecken; das stimmt. Damals hatten wir nämlich schon im
Hinterkopf, dass es sich bei manchen Vergehen um
Kavaliersdelikte handelt. Von Jugendsünden war die
Rede. - Ich assoziiere mit „Jugendsünde“ ganz andere
Sachen.
({1})
Steffen Kampeter hat am 26. April 2013 etwas gesagt,
was auch in der Rückschau ganz anders klingt - Martin
Gerster hat es hier schon einmal zitiert; ich wiederhole
es gern noch einmal -:
Der Fall Hoeneß ist doch nur ein Einzelfall - ein
Zierfisch, ein dicker, fetter Zierfisch.
Über einen Zierfisch könnte man ja diskutieren. Aber
ich würde es doch als zu weitgehend bezeichnen, von einem Einzelfall zu sprechen, weil es nach dem Bekanntwerden dieses Falles zu 50 000 Selbstanzeigen gekommen ist. Ein Einzelfall ist es also nicht. Hier merkt man,
warum die Selbstanzeige nicht funktioniert, wenn man
sie nicht mit Straffreiheit verknüpft. Warum? Wenn man
die Straftäter ganz korrekt verfolgen würde, würde man
größenordnungsmäßig vielleicht 2 000 Straftäter finden
können. Sie können die Verwaltungen aber noch so sehr
aufrüsten mit noch so vielen Steuerfahndern, Buchführungshelfern, Buchprüfern, Bilanzprüfern: Sie würden
immer nur eine bestimmte Zahl von Straftätern finden
- nämlich die angenommenen 2 000 -; aber die anderen
50 000 würden sie nie entdecken. Sie hätten einen doppelten Schaden. Sie würden die Gauner, die Nichtentdeckten, belohnen. Die blieben nämlich straffrei, obwohl
sie straffällig geworden sind; das Entdeckungsrisiko ist
nämlich nahe null. Gleichzeitig hätte der Fiskus große
Ausfälle. Auch das ist eine große Ungerechtigkeit.
Deshalb glauben wir: Die Strafbefreiung bei der
Selbstanzeige ist ein Instrument, das auf dem Entdeckungsrisiko aufbaut, sodass insgesamt Gerechtigkeit
hergestellt wird. Wir haben ja gesehen, wie es funktioniert: Wir kaufen eine CD. Einige Prominente werden
entdeckt. Durch diese Kombination werden alle anderen
Steuersünder sich selbst anzeigen, werden damit offen
sichtbar. Dadurch kommt sozusagen eine selbstinduzierte Steuergerechtigkeit zustande. Das ist eine ganz
gute Sache, um das so zu rechtfertigen.
Ich glaube, an der Stelle muss man das beachten, was
Metin Hakverdi gesagt hat. Er hat nämlich gesagt: Man
muss ein bisschen aufpassen, dass die Verantwortungsethik nicht hinter der Gesinnungsethik zurückbleibt. - Wir sind der Meinung: Die Verantwortungsethik gegenüber dem Staat ist so hoch, dass sich die
Strafbefreiung bei der Selbstanzeige für den Staat nicht
nur rechnet, sondern auch dazu führt, die Kriminellen,
die andernfalls unentdeckt bleiben würden, zu entdeLothar Binding ({2})
cken. Deshalb lohnt es nicht, ein solches Gesetz, wie von
Ihnen vorgeschlagen, zu beschließen.
({3})
Wir werden natürlich eine Verschärfung der Regeln
bei der Selbstanzeige herbeiführen. Wir wollen die
Grenze von 50 000 Euro absenken. Wir wollen den Zuschlag, also den Strafzins, erhöhen. Wir wollen überlegen, wie wir die Menschen stärker sensibilisieren, sodass
sie selbst dahin kommen, weniger Steuern zu hinterziehen. Ich glaube, dass wir auf einem sehr guten Weg sind,
ein Gesetz zu erarbeiten. Wir wollen die Gesetzeslage
verschärfen. Wir wollen aber nicht die Straffreiheit bei
der Selbstanzeige abschaffen - aus den genannten
Gründen.
Schönen Dank.
({4})
Vielen Dank, Herr Kollege Binding. - Das Wort für
eine Kurzintervention hat der Kollege Klaus Ernst.
({0})
Herr Kollege Binding, vielleicht leihen Sie mir noch
kurz Ihr Ohr.
({0})
Ich wollte nur darlegen, wie wir das mit den Bagatelldelikten sehen.
Der wesentliche Unterschied zur strafbefreienden
Selbstanzeige ist der, dass das Gesetz vorschreibt, dass
der Steuerhinterzieher straffrei bleibt. Wenn jemand
schwarzfährt, dann kann der Richter zum Beispiel die
Lebensumstände des Straftäters berücksichtigen. Ich
meine, der Richter würde die Tatsache berücksichtigen,
dass der Straftäter deshalb schwarzgefahren ist, weil ein Beispiel - seine Mutter überraschend ins Krankenhaus gekommen ist und er kein Geld in der Tasche hatte.
Wenn der Richter einen Steuerhinterzieher vor sich hat
und verurteilen muss, sollte er auch berücksichtigen
können, was dessen Motiv war. Vielleicht musste er für
irgendetwas sparen, weil zum Beispiel eine große Operation bevorstand, sodass er seine Steuern gar nicht zahlen konnte. Es müsste der Einzelfall berücksichtigt werden.
Der wesentliche Unterschied zur - wie haben Sie das
im Zusammenhang mit der Straffreiheit bezeichnet? selbstinduzierten Steuergerechtigkeit besteht darin, dass
ein Richter diesen Straftäter nicht einmal zu sehen bekommt. Sonst könnte er sagen: Der hat viel hinterzogen
- im Gesetz ist ja auch ein Rahmen für das Strafmaß vorgesehen: sechs Monate bis zehn Jahre -; danach richtet
sich, welche Strafe er bekommt. - Aber dass der Steuerhinterzieher im Fall der Selbstanzeige von vornherein
per Gesetz straffrei bleibt, obwohl er Straftäter ist, das ist
ein Unterschied auch zum Brandstifter. Darauf wollte
ich nur noch einmal hinweisen.
({1})
Herr Binding, wenn Sie mögen, können Sie darauf
antworten.
Ich will nur eine ganz kurze Erwiderung geben. - Vergleichbarkeit wäre erst dann hergestellt, wenn man in
den von Ihnen genannten Fällen eine automatische Strafzahlung vorsehen würde. Das ist aber nicht so. Jemand
kommt vor den Richter, und dann wird sein Fall verhandelt. Aber bei der Steuerhinterziehung ist es anders. Hier
zeigt sich jemand selbst an. Er muss Mitwirkungspflichten erfüllen - eine ganz harte Strafe; das ist doch klar.
Aber viel schlimmer ist, dass er eine Strafzahlung leisten
muss, und zwar automatisch. Diese wollen wir erhöhen
oder auch staffeln, damit jemand, der wenig Steuern hinterzieht, eine geringere Strafe zu zahlen hat als jemand,
der viel Steuern hinterzieht. Deshalb können wir uns
auch vorstellen, dass jemand, der sehr viel Steuern hinterzieht, auch sehr hohe Strafzahlungen leisten muss,
und zwar automatisch. Durch die Selbstanzeige verpflichtet er sich dazu. Das macht für mich den großen
Unterschied zu den von Ihnen vorgetragenen Fällen aus,
die damit nicht vergleichbar sind.
({0})
Vielen Dank, Herr Kollege Binding. - Als letztem
Redner in dieser Debatte gebe ich das Wort Uwe Feiler
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen
und Kollegen! Auch wenn man durch die öffentliche Berichterstattung der vergangenen Wochen einen anderen
Eindruck gewinnen könnte, schicke ich eines vorweg:
Die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes sind kein
Volk von potenziellen Steuerhinterziehern.
({0})
Bis auf wenige Ausnahmen zahlen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die Rentnerinnen und
Rentner, die Unternehmerinnen und Unternehmer und,
Herr Ernst, auch Vermögende in Deutschland brav ihre
Steuern. Das kann ich Ihnen aus meiner 28-jährigen Tätigkeit in der Finanzverwaltung versichern. Das sagen
aber auch alle Statistiken. Damit versetzen die Bürgerinnen und Bürger nicht zuletzt uns als Abgeordnete in die
Lage, mit ihrem Geld die Aufgaben des Staates zu finanzieren. Gerade deshalb ist es ja wichtig, dass alle ihren
Beitrag dafür leisten.
Jeder Steuerpflichtige muss bei der Steuererklärung
versichern, dass seine Angaben richtig und vollständig
sind. Die Finanzbehörden haben diesen Angaben, soweit
sie schlüssig und glaubhaft sind, zu folgen. Diejenigen,
die sich nicht an die steuerlichen Vorschriften halten,
unrichtige oder unvollständige Angaben machen und dadurch Steuern verkürzen, begehen eine Straftat. Diese
Straftat muss - das ist in diesem Hause unstreitig - verfolgt und geahndet werden, so man sie denn erkennt.
Aber genau hier liegt das Problem. Wie in kaum
einem anderen Rechtsgebiet ist der Staat bei der Steuerfestsetzung auf die Mitwirkung des Steuerpflichtigen
angewiesen. Straftaten müssen folglich erkannt und die
strafbare Handlung des Täters nebst der Besteuerungsgrundlagen ausermittelt werden. Das erfordert Zeit,
enormen Aufwand und vor allem qualifiziertes Personal
in unseren Finanzämtern. Dabei stellt das Delikt der
Steuerhinterziehung durch das Verschweigen etwaiger
Zinseinkünfte nur einen kleinen Ausschnitt aus der
Bandbreite möglicher Fallgestaltungen dar.
Das Institut der strafbefreienden Selbstanzeige wurde
vor knapp 100 Jahren eingeführt, um dem Steuerhinterzieher unter tätiger Reue den Weg zurück in die Gemeinschaft der ehrlichen Steuerzahler zu ermöglichen. Sie ist
aber auch - das muss man ehrlicherweise dazusagen eine deutliche Arbeitserleichterung für die Finanzbehörden. Meinem Heimatland Brandenburg bescherten diese
Selbstanzeigen immerhin zusätzliche Einnahmen von
knapp 4,2 Millionen Euro seit dem Jahr 2010. Da mutet
es schon seltsam an, dass das von einem linken Minister
geführte Finanzministerium in Brandenburg öffentlich
eine neue Rekordzahl von Selbstanzeigen feiert, das
Geld gerne nimmt und gleichzeitig die Abschaffung der
strafbefreienden Selbstanzeige fordert.
({1})
Unsere Abgabenordnung eröffnet dem Steuerpflichtigen nach § 371 die Möglichkeit der strafbefreienden
Selbstanzeige unter gewissen Bedingungen. So muss für
den nicht verjährten Zeitraum die Steuer verzinst, nachentrichtet und ein etwaiger Strafaufschlag nach § 398 a
der Abgabenordnung bezahlt werden. Der Ankauf von
Steuer-CDs hat zweifelsohne den Druck auf die Täter
erhöht und ist in Fällen, in denen kein automatischer Informationsaustausch von Steuerdaten möglich ist, auch
vertretbar. Dennoch bleibt hier ein hoher Ermittlungsaufwand bestehen.
Was würde eigentlich passieren, wenn wir die Möglichkeit der strafbefreienden Selbstanzeige gänzlich abschaffen würden? Das kann man sich gut am Beispiel
des gescheiterten Steuerabkommens mit der Schweiz vor
Augen führen. Ich bitte bereits jetzt um Nachsicht für
das von mir verwendete Bild des Staates als Fischer.
Mit diesem Abkommen wäre es möglich gewesen,
mit einem großen Schleppnetz alle Fische zu fangen, zugegeben zum Preis der Straffreiheit und zum Preis, die
Fische nicht einzeln beim Namen zu kennen. Dieses
Netz wurde gekappt. Nicht zuletzt mit dem Kescher der
Selbstanzeige wurden immerhin noch einzelne, mitunter
auch große Fische gefangen. Diesen Kescher wollen Sie
von der Linken nun auch noch über Bord werfen. Stattdessen wollen Sie es mit der Angelrute versuchen und
darauf hoffen, dass ein Fisch anbeißt.
({2})
Da kann ich Ihnen nur viel Glück wünschen; die Ausbeute wird wesentlich schlechter sein.
Wir sollten uns vielmehr darüber unterhalten, wie wir
das Mittel der Selbstanzeige modifizieren können. Ich
könnte mir vorstellen, den Zeitraum, für den sich der
Steuersünder zu erklären hat, auszuweiten. Wichtig wäre
auch, den Aufschlag nach § 398 a AO zu erhöhen, um zu
vermeiden, dass der von vornherein ehrliche Steuerzahler schlechter gestellt wird als derjenige, der sich selbst
anzeigt und darauf vertraut, durch die Verjährung trotz
des Aufschlages einen finanziellen Vorteil zu erlangen.
Der Vorschlag der Linksfraktion ist in meinen Augen
vollkommen ungeeignet, die Steuerehrlichkeit und Steuergerechtigkeit zu erhöhen, die Einnahmen zu sichern
und die Finanzbehörden in ihrer Arbeit zu unterstützen.
Verlassen Sie daher Ihren Irrweg, denn - frei nach Erich
Kästner - nicht jeder, der nach Indien fährt, entdeckt
Amerika.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Vielen Dank, Herr Kollege Feiler. Das ganze Haus
gratuliert Ihnen zu Ihrer ersten Rede im Bundestag.
({0})
Bleiben Sie der Literatur verbunden. Sie haben gerade
von Fischen und von Steuerpolitik geredet. Ich empfehle
eine Geschichte von Bert Brecht: „Wenn die Haifische
Menschen wären“. Das ist auch eine schöne Geschichte;
sie gefällt Ihnen sicherlich.
Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/556 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines Vierzehnten Gesetzes zur Änderung des Fünften Buches Sozialgesetzbuch
({1})
Drucksache 18/201
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({2})
Drucksache 18/606
- Bericht des Haushaltsausschusses ({3})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
Drucksache 18/617
Hierzu liegen zwei Änderungsanträge der Fraktion
Die Linke sowie ein Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor.
Vizepräsidentin Claudia Roth
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind auch
für diese Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist auch das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und begrüße den Bundesminister für Gesundheit, Hermann Gröhe.
({4})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wer krank
ist, hat Anspruch auf bestmögliche Versorgung und damit auch auf die besten Medikamente. Im Krankheitsfall
gilt nicht der Geldbeutel, sondern das Solidarprinzip unseres Gesundheitswesens. Diese Grundidee, die sich seit
Jahrzehnten bewährt hat, funktioniert deshalb so gut,
weil wir in der Politik stets aufs Neue die Rahmenbedingungen überprüft haben mit dem Ziel, sie unter Qualitäts- und Wirtschaftlichkeitsgesichtspunkten jeweils
neuen Herausforderungen anzupassen.
Das gilt gerade auch für die Arzneimittelversorgung.
Wir alle wollen im Krankheitsfall die besten Medikamente. Eine patientenorientierte Arzneimittelversorgung, die auf Qualität, auf Innovation, auf Bezahlbarkeit
und auf Zuverlässigkeit setzt, wird deshalb wie in den
vergangenen Jahren auch in dieser Legislaturperiode unser Ziel sein.
({0})
Mit dem 14. SGB-V-Änderungsgesetz, das wir heute
abschließend beraten, knüpfen wir dabei an die Arzneimittelpolitik der letzten Jahre an. Uns geht es in diesem
Gesetz um eine nachhaltige, finanzierbare Arzneimittelversorgung für Deutschland als wichtigen Bestandteil
unserer qualitativ hochwertigen Gesundheitsversorgung, eine Arzneimittelversorgung, die die Menschen im
Krankheitsfall mit der besten und wirksamsten Arznei
versorgt, die Preise und Verordnungen wirtschaftlich und
kosteneffizient gestaltet und die schließlich auch verlässliche Rahmenbedingungen für Innovation schafft.
In der letzten Legislaturperiode haben wir mit dem
Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz bereits eine gute
Grundlage dafür geschaffen, diese Zielsetzungen zu erreichen. Wir haben dabei stets betont, dass das AMNOG
ein lernendes System ist und wir Erfahrungen sammeln
müssen und sie einfließen lassen müssen in die Weiterentwicklung stabiler Rahmenbedingungen der Arzneimittelversorgung.
Mit dem vorliegenden Gesetz lösen wir diese Ankündigungen ein; denn es hat sich inzwischen gezeigt, dass
wir für die Bereiche Bestandsmarktbewertung, Preismoratorium, Herstellerrabatte und Erstattungsbetrag angepasste Lösungen finden müssen, um Rechtssicherheit zu
schaffen und der Versorgungswirklichkeit unseres Arzneimittelmarktes gerecht zu werden. Wir legen im Rahmen des Gesetzes solide Lösungen für diese Bereiche
vor.
({1})
Beispiel Bestandsmarktbewertung. Im Gegensatz zu
der inzwischen bewährten frühen Nutzenbewertung für
neue Arzneimittel, die seit 2011 auf den Markt gekommen sind, mussten wir erkennen, dass die Bestandsmarktbewertung für patentgeschützte Arzneimittel, die
vor 2011 ihre Marktzulassung erhalten haben, eine Reihe
von Problemen hervorruft. Dabei handelt es sich um
Probleme, die sowohl rechtlicher als auch praktischer
Natur sind und die die Frage aufwerfen, ob der Aufwand
im richtigen Verhältnis zu den Entlastungen steht, die
wir uns für die gesetzlichen Krankenkassen oder die privaten Krankenversicherer versprechen. Wir haben deshalb beschlossen, die Bewertung des Bestandsmarktes
zu beenden. Bereits gefasste Beschlüsse in diesem Zusammenhang behalten ihre Gültigkeit.
Unsere Entscheidung, das Preismoratorium zu verlängern, sollte eine breite Unterstützung finden. Nicht nur,
dass wir hier mit dem Votum der Patientenverbände, des
GKV-Spitzenverbandes und des Gemeinsamen Bundesausschusses übereinstimmen, auch der Bundesrat hat im
Dezember kurzfristig - dafür waren wir sehr dankbar in einem ersten Schritt der Verlängerung des Preismoratoriums bis zum 31. März 2014 zugestimmt.
({2})
Am Preismoratorium halten wir nun bis 2017 fest.
Das bedeutet: Für Medikamente, die bislang unter die
Bestandsbewertung fallen würden, gilt wie für alle anderen Arzneimittel der Preis vom 1. August 2009 bis zum
Jahr 2017 fort. Ausgenommen sind die Arzneimittel, für
die ein Festbetrag gilt.
Zugleich werden wir den Herstellerrabatt von 6 auf
7 Prozent erhöhen. Auch von dieser Regelung sind Arzneimittel ausgenommen, die patentfrei und wirkstoffgleich sind, da in diesem Bereich ein guter Wettbewerb
für eine entsprechende Preisregulierung sorgt. Damit
greifen wir ein Ergebnis der Anhörung ausdrücklich auf.
({3})
Mit diesen Regelungen sparen wir bei der gesetzlichen
Krankenversicherung rund 650 Millionen Euro im Jahr
und stellen eine bezahlbare Arzneimittelversorgung auf
hohem Niveau sicher.
({4})
In diesem Sinne wollen wir weiterarbeiten. Ich werde
deshalb mit der Pharmaindustrie in einen Dialog eintreten; denn bei aller Kostendiskussion, die notwendig ist,
wollen wir uns immer wieder vor Augen führen: Ohne
die Innovationsfähigkeit unserer forschenden Arzneimittelhersteller müssten die Menschen auf viele Verbesserungen im Arzneimittelbereich verzichten, auf Innovationen, auf die wir zukünftig gerade im Hinblick auf
Mehrfacherkrankungen im Zuge der demografischen
Entwicklung dringend angewiesen sein werden. Nur gemeinsam mit der forschenden Arzneimittelindustrie können wir eine moderne Arzneimittelversorgung für die
Menschen in unserem Land sicherstellen.
({5})
Meine Damen, meine Herren, neben guten Rahmenbedingungen für eine nachhaltige Arzneimittelversorgung setzen wir mit dem vorliegenden Gesetz noch ein
weiteres Zeichen für eine gute Patientenversorgung;
denn wer krank ist, braucht seine Hausärztin oder seinen
Hausarzt.
({6})
Dieser Wunsch kann aber nur erfüllt werden, wenn eine
ausreichende Anzahl an Hausärzten vorhanden ist. Mit
dem vorliegenden Gesetz treffen wir deshalb weitere
Entscheidungen, um die hausärztliche Versorgung in unserem Land für die Zukunft zu sichern. Mit den Neuregelungen in § 73 b SGB V erweitern wir die Gestaltungsspielräume der Vertragspartner. Wir machen damit
den Weg frei für verbesserte Versorgungs- und Vergütungsstrukturen im Bereich der hausarztzentrierten Versorgung. Hiermit schaffen wir Rahmenbedingungen und
Perspektiven gerade für den hausärztlichen Nachwuchs,
auf den wir dringend, nicht zuletzt für die Hausarztversorgung auf dem Land, angewiesen sind.
({7})
Wir bringen also heute ein für die Arzneimittelversorgung wichtiges Gesetz zum Abschluss und stärken zugleich die Hausarztversorgung in unserem Land. Deshalb bitte ich Sie um Ihre Zustimmung.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Vielen Dank, Minister Hermann Gröhe. - Das Wort
hat Kathrin Vogler für die Linken.
({0})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Verehrter Herr Minister, der Titel des Gesetzentwurfs, über den wir heute debattieren, macht
nicht besonders neugierig auf den Inhalt. Aber ich finde,
es lohnt sich, beim 14. SGB V-Änderungsgesetz hinter
die Kulissen zu schauen.
Worum geht es? In ihrem Koalitionsvertrag haben
Union und SPD einen aus meiner Sicht äußerst fragwürdigen Deal zugunsten der Pharmaindustrie und zulasten
der Patientinnen und Patienten und der Beitragszahlerinnen und Beitragszahler ausgehandelt.
Vor anderthalb Stunden habe ich in der Debatte über
die UPD, bei der es um wenige Millionen Euro ging, gehört, dass Vertreter der Union sehr sorgsam mit Versichertengeldern umgehen wollen. Jetzt schenkt die Große
Koalition den Pharmakonzernen etwa 2 Milliarden Euro
jährlich, natürlich nicht aus ihrer eigenen Tasche; denn
dann wäre die geplante Diätenerhöhung ziemlich rasch
verbraucht.
({0})
Sie greifen wieder einmal in die Taschen der Versicherten, also der Beschäftigten, der Rentnerinnen und
Rentner und aller Kassenmitglieder. Damit sie das nicht
so bemerken, nehmen Sie den Pharmafirmen wieder ein
bisschen weg; aber nicht mehr als eine halbe Milliarde
Euro. Das macht alles in allem eine Belastung von
1,5 Milliarden Euro. Die durchschnittliche Beitragszahlerin in der gesetzlichen Krankenversicherung wird also
in jedem Jahr circa 30 Euro draufzahlen müssen.
Wie machen Sie das? Die Krankenkassen erhalten
von den Pharmafirmen einen gesetzlichen Herstellerabschlag, den sogenannten Herstellerrabatt. Bis Ende des
letzten Jahres lag er bei 16 Prozent. Dann fiel er auf
6 Prozent, weil weder die alte noch die neue Koalition
etwas unternahm, um die Dauer dieser Regelung zu verlängern. Jetzt erzählt uns Minister Gröhe etwas von einer
Erhöhung auf 7 Prozent. Das, liebe Kolleginnen und
Kollegen, ist ein Taschenspielertrick: linke Tasche rein,
rechte Tasche raus. Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen.
({1})
Zudem wollen Sie für die patentgeschützten und die
besonders teuren Medikamente, die vor 2011 auf den
Markt gekommen sind, die Nutzenbewertung abschaffen. Das ist wirklich ärgerlich, weil dadurch einige Hundert Millionen Euro aus den Taschen der Versicherten in
andere Taschen wandern. Das wäre schon ein ausreichender Grund, zu diesem Gesetz Nein zu sagen. Uns
geht es aber vor allem um die Behandlungsqualität. Die
Patientinnen und Patienten haben ein Recht darauf, dass
es für ihre Arzneimittel eine Bewertung des Nutzens und
des Zusatznutzens aus Patientensicht gibt; denn leider
haben die meisten teuren Präparate keinen Nutzen, außer
für diejenigen, die damit Geld verdienen wollen.
Passend zur Zweiklassenmedizin schaffen Sie auch
noch Zweiklassenmedikamente. Die ganz neuen Medikamente müssen sich der Prüfung unterziehen, die nicht
ganz so neuen bleiben außen vor. Dafür haben Sie in der
öffentlichen Sachverständigenanhörung jede Menge Kritik bekommen. Nicht nur die Vertreter der Kassen, sondern auch die Ärzteschaft und Patientenorganisationen
unterstützten den Änderungsantrag der Linken, die Nutzenbewertung im Bestandsmarkt fortzusetzen.
Sie argumentieren, dass die bisherige Regelung zu
kompliziert und rechtlich angreifbar gewesen sei. Ich
meine, wenn das so ist, muss man die Regelung einfacher, klarer und juristisch weniger angreifbar machen.
Daran sollten wir gemeinsam arbeiten. Die Abschaffung
der Bewertung ist aus Patientensicht der falsche Weg.
Deswegen lehnen wir den Gesetzentwurf ab.
({2})
Wir hätten auch mindestens einen Lösungsvorschlag.
Die Linke fordert seit Jahren ein Studienregister, in das
alle Studien zu Arzneimitteln vor Beginn verpflichtend
eingetragen werden müssen. Das gilt auch für die Studien, die später abgebrochen werden. Sämtliche Ergebnisse müssen öffentlich zugänglich sein. Wenn wir auf
diese Art und Weise die gesamten Informationen transparent haben, dann würde auch die Nutzenbewertung
mit geringerem Aufwand möglich sein, und die Hersteller könnten die Ergebnisse nicht mehr so leicht frisieren.
Das fordern auch die Grünen in ihrem Entschließungsantrag. Dieser Forderung schließen wir uns an. Lassen Sie
uns entsprechende Regelungen gemeinsam auf den Weg
bringen; denn damit wäre ein großer Schritt zu mehr
Transparenz und Qualität in der Arzneimittelversorgung
getan.
Ich werbe hier jetzt ausdrücklich um Ihre Zustimmung zu unseren Änderungsanträgen. Wir wollen die
Nutzenbewertung des Bestandsmarkts erhalten und den
Herstellerrabatt für die teuren patentgeschützten Arzneimittel bei 16 Prozent fortschreiben. Grundsätzlich halten
wir die Preiskontrolle mit dem Rasenmäher - nichts anderes sind diese Herstellerrabatte - allerdings nicht für
optimal. Deswegen wollen wir die Regelung bis Ende
2015 befristen und die Zeit nutzen, um einen anderen,
nutzenorientierten Mechanismus der Preisbildung zu
schaffen.
({3})
Ihrem Gesetzentwurf können wir in der jetzigen Form
nicht zustimmen. Für Taschenspielertricks zulasten der
großen Mehrheit der Menschen steht die Linke nicht zur
Verfügung.
({4})
Das Wort hat die Kollegin Hilde Mattheis für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Herr Minister! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Frau Vogler, ich bin für meine große Toleranz bekannt, was die Linke anbelangt; aber nicht immer ist eine starke Behauptung besser als ein Beweis.
Ich erkläre Ihnen gerne noch einmal, was wir jetzt hier
machen.
({0})
- Ja, das ist meine pädagogische Langmut.
Wir haben uns im Koalitionsvertrag wirklich eine
Menge vorgenommen.
({1})
Wir wollen uns da an drei Zielen messen lassen: Erstens
wollen wir die Versorgungsqualität für Patientinnen und
Patienten verbessern. Zweitens wollen wir die Situation
der Beschäftigten im Gesundheitswesen stärken. Drittens wollen wir sicherstellen, dass unser System bezahlbar bleibt. Mit diesem 14. SGB-V-Änderungsgesetz stellen wir die Weichen in diese Richtung. - Das AMNOG
ist ein lernendes System; da gebe ich Ihnen gerne recht.
Mit dem vorliegenden Gesetz wollen wir dafür sorgen, dass eine hohe Qualität in der Arzneimittelversorgung gewährleistet bleibt. Auf der anderen Seite wollen
wir die rapiden Kostensteigerungen bei Arzneimitteln
einschränken und dafür sorgen - das sage ich als SPDPolitikerin auch sehr gerne -, dass Arbeitsplätze in mittelständischen Unternehmen, zum Beispiel bei Generikaherstellern, nicht gefährdet werden.
({2})
Wir wollen die Herstellerabschläge auf die Abgabepreise pharmazeutischer Unternehmen sowie das Preismoratorium erhalten. Diese beiden Instrumente haben
sich bei der Dämpfung der steigenden Ausgaben bei
Arzneimitteln wirklich bewährt. Deshalb wollen wir das
Preismoratorium bis zum 31. Dezember 2017 verlängern
und den allgemeinen Herstellerrabatt - auch wenn es Sie
nicht freut - von 6 auf 7 Prozent erhöhen. Sie wissen
doch: Der Rabatt von 16 Prozent auf patentgeschützte
Arzneimittel wäre jetzt sowieso ausgelaufen.
({3})
Ohne die Neuregelung, die wir im Gesetz vornehmen,
würden die Ausgaben für Arzneimittel im Jahr 2014 um
2 Milliarden Euro steigen. Mit unseren Maßnahmen verhindern wir also einen überproportionalen Anstieg der
Ausgaben und leisten einen wichtigen Beitrag zur Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung.
({4})
Ferner haben wir mit dem Gesetz eine rechtliche
Klarstellung vorgenommen. Denn durch die Änderung
der Arzneimittelpreisverordnung stellen wir sicher, dass
der vereinbarte Erstattungsbetrag die Berechnungsgrundlage für die Handelszuschläge des Großhandels
und der Apotheken ist. Damit schließen wir eine gesetzliche Lücke und stellen sicher, dass für die Zuzahlungen
der Patientinnen und Patienten in der Apotheke der niedrige Rabattpreis maßgeblich ist und nicht der höhere Listenpreis. Das ist ein ganz wichtiger Punkt.
Was die Nutzenbewertung anbelangt, sind wir alle
uns vielleicht darüber einig, dass wir mehr darüber wissen müssen, welchen Nutzen ein Arzneimittel tatsächlich für Patientinnen und Patienten hat. Darauf komme
ich gerne später noch einmal zu sprechen.
Was uns auch sehr wichtig ist, ist der Änderungsantrag zur Stärkung der hausarztzentrierten Versorgung,
den wir in den Ausschuss eingebracht haben; das ist einer der wesentlichen Punkte.
({5})
Wir sind es den Patientinnen und Patienten schuldig, dass
wir unmissverständlich - auch über die Fraktionsgrenzen
hinweg - die Versorgungssicherheit im Blick haben.
Deshalb ist dieser Antrag einer der wesentlichen Bestandteile unseres Vorhabens. Durch ihn bestätigen wir,
dass wir den hausärztlichen Nachwuchs fördern wollen.
Das ist ein wichtiges Signal an die Hausärztinnen und
Hausärzte: Wir wollen die jungen Ärzte ermutigen, sich
als Hausärzte niederzulassen. Das ist ein ganz zentraler
Punkt. Sie, Frau Vogler, und auch andere hier wissen
doch: Wenn man mit den Bürgern über Gesundheitsvorsorge spricht, dann stellt man fest, dass die Versorgungsstruktur ein wichtiges Thema ist.
Lassen Sie mich auf den Bereich Generika zu sprechen kommen. Nach der Anhörung im Ausschuss war
uns klar: Wir müssen das, was wir in erster Lesung vorgelegt haben, nachbessern.
({6})
Ein wichtiger Punkt ist: Wir dürfen nicht die Rabatte auf
17 Prozent erhöhen. Wir müssen deutlich machen: Der
Generikamarkt leistet zur Wirtschaftlichkeit unseres Gesundheitssystems einen wichtigen Beitrag. Dass die beiden Änderungsanträge für eine Stärkung sorgen, ist unstrittig. Das kam nicht nur in der Anhörung zum
Ausdruck. Auch die beiden Oppositionsparteien haben
- ich meine, zu Recht - immer deutlich gemacht: Ja, das
brauchen wir.
Zur Nutzenbewertung. Ich gebe gerne zu: Wir haben
erkannt, dass die Nutzenbewertung einen hohen verwaltungstechnischen Aufwand bedeutet. Deshalb sind wir
bereit, uns in einem der nächsten Gesetzgebungsverfahren mit diesem Thema noch einmal auseinanderzusetzen. Es geht in diesem Zusammenhang nämlich auch um
Qualität und Sicherheit. Wenn wir uns über dieses Ziel
einig sind, wäre es doch schön, all die wichtigen Änderungen in Bezug auf die Finanzierbarkeit unseres Gesundheitssystems heute gemeinsam auf den Weg zu bringen.
Vielen Dank.
({7})
Danke, Frau Kollegin. - Das Wort hat Kordula
Schulz-Asche für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Minister! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Im Jahre 2011 gelang
es in Deutschland endlich, zumindest teilweise ein hehres Ziel zu erreichen: Für neu zugelassene Medikamente
und bereits auf dem Markt befindliche patentierte Arzneimittel wurde eine Nutzenbewertung eingeführt. Ich
betone: Bei der Nutzenbewertung geht es um den Nutzen
für die Patientinnen und Patienten.
Das war längst überfällig. Frau Mattheis, ich möchte
daran erinnern: Die SPD hat das damals genauso gesehen. Wir beide haben ursprünglich mehr gefordert, als
dann tatsächlich beschlossen wurde. Das war längst
überfällig; denn laut der Arzneimittelkommission der
deutschen Ärzteschaft haben viele der bei uns zugelassenen Arzneimittel keinen Nutzen bzw. keinen Zusatznutzen für Patientinnen und Patienten. Umso erstaunlicher
ist es nun, dass eine der ersten Maßnahmen der Großen
Koalition ist, die Bewertung des Nutzens von Medikamenten im sogenannten Bestandsmarkt abzuschaffen.
({0})
Bei allem Verständnis für die Interessen der Pharmaindustrie: An erster Stelle bzw. im Mittelpunkt der Gesundheitspolitik müssen immer die Interessen der Patienten stehen.
({1})
Das ist bei CDU/CSU und SPD offensichtlich nicht der
Fall.
({2})
Das ist das erste Armutszeugnis Ihrer Gesundheitspolitik. Dass wir damit hinter die europäischen Standards
zurückfallen, ist ein zweites Armutszeugnis. Ein drittes
Armutszeugnis für die Gesundheitspolitik der Großen
Koalition konnte gerade noch verhindert werden.
Wir erinnern uns gut, dass Sie im Dezember versucht
haben, die jetzt vorliegende Gesetzesänderung im
Schnellverfahren ohne Anhörung durchzuziehen.
({3})
Wäre das so geschehen, Frau Mattheis, dann hätten Sie
durch die vorgesehene Einbeziehung von Generika in
den Herstellerrabatt und das Preismoratorium einer ganzen Branche der Pharmaindustrie schweren Schaden zugefügt. Das ist der Fall gewesen. Sie wollten diese Anhörung, die jetzt stattgefunden hat, nicht. Unter Ihren
Maßnahmen hätte der Generikamarkt schwer gelitten.
({4})
Wir freuen uns, dass Sie das eingesehen haben und bereit
sind, mit einer Änderung diesen schweren Fehler zu korrigieren.
Die Regierungskoalition hat sich bei diesem Gesetzentwurf selbst unter extremen Zeitdruck gesetzt. Das
zeigt sich nicht nur bei den Generika. Das zeigt sich
auch daran, dass die Anhörung, die vor einer Woche
stattgefunden hat, von Ihnen offensichtlich noch nicht
umfassend ausgewertet wurde.
Diejenigen, die bei der bestehenden Regelung zur Bestandsmarktbewertung zu Recht rechtliche Umsetzungsprobleme benannt haben, zum Beispiel die Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe, der Verbraucherzentrale
Bundesverband, das IQWiG sowie die Einzelsachverständigen Professor Wille und Professorin Niebuhr, haben Änderungsvorschläge gemacht, die wir Grünen für
sehr sinnvoll halten und daher in unseren Entschließungsantrag aufgenommen haben.
Dabei geht es uns erstens darum, eine Nutzenbewertung für alle patentgeschützten Medikamente mit neuem
Anwendungsbereich bzw. neuer Anwendungsform
durchzuführen. Lassen Sie mich anmerken, dass seitens
der Koalition gestern im Ausschuss angekündigt wurde,
dass auch auf Ihrer Seite Änderungsbedarf gesehen wird.
Das zeigt aber auch, dass Sie die Anhörung bisher tatsächlich kaum ausgewertet haben.
({5})
Dadurch, dass Sie diese Änderung nicht jetzt vornehmen, sondern wieder verschieben, schaffen Sie neue Ungerechtigkeiten. Auch das zeigt, wie wenig Gedanken
Sie sich gemacht haben. Wir müssen in Ruhe entscheiden. Hier ist nicht mit Schnellschüssen zu arbeiten. Das
zeigt, wie wichtig gerade bei einer Großen Koalition
eine Opposition ist. Wenn man so eine satte Mehrheit
hat, dann gehen einem offensichtlich manchmal die
Pferde durch, und es kommt zu Schnellschüssen.
({6})
Zweitens - auch das steht in unserem Entschließungsantrag - halten wir die Nutzenbewertung des Bestandsmarkts
in den Fällen des Wettbewerbsaufrufs für die Vergleichbarkeit und bei biotechnologischen Medikamenten weiter für
notwendig.
Drittens fordern wir eine gesetzliche Verpflichtung
der Hersteller zur Herausgabe von Studienberichten,
wenn der Gemeinsame Bundesausschuss oder das
IQWiG anfragt.
Viertens - auch das gehört dazu; das ist schon erwähnt worden - fordern wir eine verpflichtende Registrierung und Veröffentlichung der Ergebnisse aller Arzneimittelstudien, auch derjenigen, die wegen
mangelnder Erfolgsaussichten abgebrochen wurden.
({7})
Dadurch können wir hinsichtlich der Nutzenbewertung
Patientensicherheit herstellen. Denn sowohl bei der Nutzenbewertung von Medikamenten als auch bei der Information über Forschungsergebnisse geht es im Wesentlichen um Transparenz. Arzneimittelstudien dürfen nicht
in Schubladen verschwinden, sondern müssen veröffentlicht werden, um auf einer soliden Basis Einschätzungen
zum Nutzen von Wirkstoffen gewinnen und überflüssige
Studien vermeiden zu können.
Eventuell wird es weitere Nachbesserungen durch die
Große Koalition geben. In der vorliegenden Form können wir dem Gesetzentwurf leider nicht zustimmen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Danke, Frau Kollegin. - Das Wort hat Stephan
Stracke für die CSU/CDU-Fraktion.
({0})
Guten Abend, Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf beenden wir insbesondere den Bestandsmarktaufruf bei patentgeschützten Arzneimitteln und
stärken die hausarztzentrierte Versorgung.
Dabei setzen wir wesentliche Vereinbarungen um, die
wir im Rahmen der Koalitionsvereinbarungen getroffen
haben. Wir reden zu Recht viel über die Koalition, über
ihre Funktionsweise und ihre Arbeitsweise. Wenn wir
sagen, dass diese Koalition sich zumindest derzeit als
Arbeitsverhältnis definiert, dann nutzen wir dieses Arbeitsverhältnis, um die Chancen zu verbessern, dass für
die Patientinnen und Patienten sachgerechte und passgenaue Lösungen gefunden werden, damit die Versorgungssituation in Deutschland besser wird. Und genau
das tun wir. Den Grundpfeiler dafür bildet der Koalitionsvertrag, den wir stringent umsetzen. Unser Bundesgesundheitsminister, Herr Gröhe, verfügt über große
Umsicht und zeigt praxisgerechte Lösungen auf, die in
diesem Gesetzentwurf ihren Niederschlag finden. Genau
so wollen wir weitermachen. Dafür sage ich Ihnen herzlichen Dank.
({0})
Das Preismonopol im patentgeschützten Arzneimittelmarkt gehört der Vergangenheit an. Der Zusatznutzen
von Medikamenten steht im Mittelpunkt und bestimmt
den Preis. Die frühe Nutzenbewertung, mit dem Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz eingeführt, ist ein wirkungsvolles Instrument, das sich bewährt hat. Patienten
wollen, dass Innovationen möglichst schnell auf den
Markt kommen. Gleichzeitig wollen Beitragszahler, dass
ihre Beiträge für wirkliche Innovationen ausgegeben
werden und nicht für bloße Innovationsglobuli, das heißt
für diejenigen Innovationen, die tatsächlich halten, was
sie versprechen.
Arzneimittel mit neuen Wirkstoffen müssen einen
nachweisbaren Zusatznutzen gegenüber der Vergleichstherapie aufweisen. Daran halten wir fest. Wir sagen
auch: Das AMNOG - der Minister hat es deutlich gemacht - ist ein lernendes System. Deshalb werden wir
den Bestandsmarktaufruf beenden. Wir beenden ihn,
weil der Aufruf mit hohen Risiken und Unsicherheiten
verbunden ist. Wir sorgen nun für Planbarkeit und
Rechtssicherheit. Dafür gibt es gute Gründe. Die Anhörung hat dies noch einmal deutlich gemacht.
Ein Grund ist die Studienlage. Die einschlägigen Studien sind gerade bei Arzneimitteln, die schon sehr lange
auf dem Markt sind, zum Teil sehr alt. Dies führt zu problematischen Bewertungen, gerade auch hinsichtlich der
Marktdurchdringung und der Abwägungen in diesem
Bereich. Es gibt auch ganz pragmatische Gründe: Wenn
der Aufwand sehr hoch ist und das Verfahren mit sehr
hohen rechtlichen Risiken behaftet ist, macht es Sinn,
den Bestandsmarktaufruf zu beenden. Gleiches gilt für
den Wettbewerbsaufruf.
Jetzt können Sie sagen: Das ist uns egal, egal, was
Rechtsrisiken angeht, und egal, was den Aufwand betrifft. Hauptsache die Ökonomie stimmt in irgendeiner
Weise. - Darauf muss man Ihnen, insbesondere den Kolleginnen und Kollegen von den Linken, sagen: Der Patentschutz für alle infrage kommenden Arzneimittel läuft
2018 aus, sodass wir in dieser Beziehung einen unglaublichen Zeitdruck haben. Die Erwartungen, die gerade
hinsichtlich des Einsparpotenzials damit verknüpft sind,
können nicht in dem Maße erfüllt werden. Das bezieht
sich auch gar nicht auf die Qualität. Denn wir haben na1334
türlich sehr wohl Möglichkeiten, die Qualität weiterhin
sicherzustellen, gerade was die Therapiehinweise, die
Verordnungsausschlüsse oder die Bildung von Festbetragsgruppen angeht.
Ich möchte noch zu einem weiteren Aspekt ausführen
und Stellung nehmen: Das betrifft die Hausarztverträge.
Sie stellen ein sinnvolles und effektives Instrument zur
Förderung der hausärztlichen Versorgung dar. Wir haben
in Deutschland eine qualitativ hochwertige Hausarztmedizin, und es ist unbestritten: Unsere Hausärzte sind das
Rückgrat der medizinischen Versorgung. Der niedergelassene Hausarzt gerade im ländlichen Raum ist häufig
der einzige wohnortnahe ärztliche Ansprechpartner. Als
Generalist übernimmt er oftmals auch eine Lotsenfunktion.
Wir haben uns jetzt darauf verständigt, § 73 b SGB V
zu verändern. Damit stärken wir die hausärztliche Versorgung. Wir streichen die Vergütungsbeschränkungen
im Hausarztvertrag. Dies hat sich in der Praxis als großes Hemmnis für den Abschluss herausgestellt. Dieses
Hemmnis beseitigen wir nun. Wirtschaftlichkeit und
Qualität spielen weiterhin eine hervorragende Rolle. Die
Vertragspartner sind nun gefordert, entsprechende Vereinbarungen zu treffen. Vor allem die Refinanzierungsklausel hat sich in der Praxis als ein großes Problem herausgestellt. Jetzt gilt eine Vierjahresregel, in der die
Wirtschaftlichkeit nachgewiesen werden muss. Dies
schafft auch den notwendigen Spielraum. Das ist ein
wichtiges Signal für die ökonomische Perspektive angehender Hausärzte und wird die Bereitschaft junger
Ärzte, sich der hausärztlichen Tätigkeit zuzuwenden,
weiter fördern.
In der Gesamtschau: ein gutes Gesetz. Lasst es uns
beschließen.
Herzlichen Dank.
({1})
Danke, Herr Kollege. - Das Wort hat Martina StammFibich für die SPD.
({0})
Verehrte Frau Präsidentin! Verehrter Herr Bundesgesundheitsminister Gröhe! Verehrte Kolleginnen und
Kollegen! Ich kann mich inhaltlich nur meiner Fraktionskollegin Hilde Mattheis anschließen. Als neu in den
Bundestag gewählte Abgeordnete freut es mich ganz
besonders, dass ich einen Aspekt hervorheben kann. Zusätzlich zum Gesundheitsausschuss bin ich auch Mitglied im Petitionsausschuss. Petitionen sind auf Bundesebene ein hervorragendes Instrument der Demokratie.
Umso mehr möchte ich auf den Änderungsantrag zu
§ 129 SGB V verweisen, der die Ersetzung eines Arzneimittels durch ein wirkstoffgleiches neu regelt. Ein Ursprung dieser Neuregelung ist eine Petition der
17. Wahlperiode. Im Jahr 2010 lieferte die Deutsche
Schmerzliga e. V., vertreten durch Dr. Marianne Koch,
den Anstoß. Die Petition fand mit 72 000 Unterzeichnern eine breite Unterstützung und wurde demzufolge
auch öffentlich in diesem Haus beraten.
Hauptanliegen der Petentin war, Betäubungsmittel
aus der automatischen Austauschpflicht herauszunehmen. Begründet wurde diese Forderung damit, dass die
Umstellung von einem Präparat auf ein anderes nicht nur
in Einzelfällen, sondern bei der Mehrzahl der Patienten
zu erheblichen Problemen führe. Die Umstellung sei daher kein sinnvoller, dafür aber ein sehr teurer Prozess, da
auch die entstehenden Folgekosten nicht außer Acht gelassen werden dürften.
Dem GKV-Spitzenverband und dem Deutschen Apothekerverband wurde die Möglichkeit gegeben, sich über
eine sachgerechte Lösung zu verständigen. Letztendlich
verliefen die Verhandlungen der beiden Akteure aber
nicht zufriedenstellend. Die Kolleginnen und Kollegen
der 17. Wahlperiode mussten die Akteure wiederholt
zum Handeln auffordern.
Um wieder mehr Bewegung in die stockenden Verhandlungen zu bringen, verabschiedeten die Gesundheitspolitiker aller Fraktionen im Juni im Gesundheitsausschuss eine Entschließung, die eine Frist zur Einigung
bis 1. August 2013 vorsah. Bis dahin sollten die Rahmenvertragspartner, GKV-Spitzenverband und DAV,
übereinkommen. Auf nur zwei Wirkstoffe konnte man
sich letztlich einigen. Vor diesem Hintergrund wird das
Problem jetzt mit diesem Änderungsantrag von uns auf
eine andere institutionelle Entscheidungsebene gehoben.
Die Änderung sieht konkret Folgendes vor: Der Gemeinsame Bundesausschuss bestimmt erstmals bis
30. September 2014 die Arzneimittel, bei denen die Ersetzung durch ein wirkstoffgleiches Arzneimittel ausgeschlossen ist. Dabei sollen insbesondere Arzneimittel
mit geringer therapeutischer Breite berücksichtigt werden. Falls bis 30. September keine Liste vorliegt, besteht
die Möglichkeit einer Ersatzvornahme durch das Bundesministerium für Gesundheit.
({0})
Ziel ist es, den Therapieerfolg und die Sicherheit der Patienten nicht durch den unnötigen und ausschließlich
ökonomisch begründeten Austausch von Medikamenten
zu gefährden.
Die Koalition handelt an dieser Stelle und erteilt einen klaren Auftrag. Es freut mich außerordentlich, dass
der Änderungsantrag eine breite Mehrheit im Ausschuss
gefunden hat. Ich möchte mich für die Unterstützung
ausdrücklich bedanken.
({1})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, für mich
steht fest: An erster Stelle steht das Wohl des Patienten.
Mit diesem Änderungsantrag gehen wir in die richtige
Richtung.
Herzlichen Dank.
({2})
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Das ganze Haus gratuliert Ihnen zu Ihrer ersten Rede.
({0})
Wir wünschen Ihnen viel Erfolg bei der Arbeit im Petitionsausschuss und im Gesundheitsausschuss. Nächstes
Mal dürfen Sie Ihre Redezeit mit großer Lust ausfüllen.
Alles Gute!
Die Debatte wird mit Michael Hennrich für die CDU/
CSU-Fraktion abgeschlossen.
({1})
Frau Präsidentin! Herr Minister Gröhe, es freut mich,
dass Ihr Haus nahezu in Bestbesetzung angetreten ist.
Auch die beiden Staatssekretärinnen darf ich ganz herzlich begrüßen. Das dokumentiert, wie wichtig und ernst
Sie diese Debatte nehmen.
({0})
Frau Vogler, als ich Ihren Redebeitrag gehört habe, ist
mir das Bild von der Kuh in Erinnerung gekommen, die
im Himmel gefüttert und auf Erden gemolken wird. Das
Motto lautet: Die Pharmaindustrie hat’s ja; da können
wir es locker mitnehmen. - Es gibt da aber eine gewisse
Widersprüchlichkeit: Sie sagen selber, dass im Bereich
der Generika Preismoratorium und erhöhter Herstellerabschlag gravierende Folgen für die Industrie haben
könnten.
({1})
Preismoratorium und erhöhter Herstellerabschlag können für die forschende Arzneimittelindustrie aber genauso gravierende Folgen haben. Deswegen war es richtig, dass wir den erhöhten Herstellerabschlag von
16 Prozent auf 6 Prozent gesenkt haben.
({2})
- Das gehört dazu. Frau Vogler, Sie müssen eines bedenken: Als wir den erhöhten Herstellerabschlag im Jahr
2009 beschlossen haben, mussten wir davon ausgehen,
dass wir im Gesundheitssystem im Jahr 2013 ein Defizit
von rund 15 Milliarden Euro haben. Heute haben wir einen Überschuss von 30 Milliarden Euro.
({3})
Schauen Sie einmal in die europäische Transparenzrichtlinie, wie da die Regelungen sind! Ihre Kollegin Frau
Bunge, die ich sehr geschätzt habe, hätte das sicherlich
etwas präziser und besser dargestellt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, über die
Beendigung des Bestandsmarktaufrufes kann man diskutieren. Ich gebe ganz offen zu, dass mich die Äußerungen von Professor Ludwig von der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft schon nachdenklich
gestimmt haben. Er hat gefragt: Macht das Sinn? Wir
müssen den Nutzen bewerten, auch von den Produkten,
die im Bestand sind.
Die Beendigung des Bestandsmarktaufrufes war aber
eine Abwägungssache. Wir haben auf der einen Seite in
der Tat das Problem, dass wir auch für den Bestandsmarkt eine Bewertung wollen. Aber es war kein originärer Wunsch der Politik, den Bestandsmarktaufruf zu
beenden. Dieser Wunsch wurde zum einen vom Gemeinsamen Bundesausschuss an uns herangetragen, zum anderen auch von den Kassen. Mich hat schon erstaunt,
dass der GKV-Spitzenverband das Einsparvolumen
durch den Bestandsmarktaufruf auf maximal 230 Millionen Euro geschätzt hat.
({4})
Das war für mich ein Signal, dass auch die Krankenkassen gesagt haben: Für den großen Aufwand, den wir da
treiben, haben wir zu wenig Erfolg.
Man muss auch sehen, mit welchen Problemen wir tatsächlich zu kämpfen gehabt hätten. Da gibt es rechtliche
Probleme: Wie bekommt man den Bestandsmarktaufruf
diskriminierungsfrei hin? Was hat es für Folgen für den
Wettbewerb, wenn einzelne Produkte aufgerufen werden, die Unternehmen dafür Dossiers erstellen müssen,
diese Produkte einen schlechten Preis bekommen, andere Produkte aber nicht? Das kann man nicht einfach so
regeln, wie das hier einige formuliert haben, sondern das
ist eine komplizierte Materie. Ferner stellen sich methodische Probleme: Wie sollen denn die passenden Vergleichsstudien aussehen? Bei der Bestandsmarktbewertung handelt es sich in der Regel um Produkte, die heute
den Therapiestandard darstellen. Wenn ein solches Produkt bewertet werden soll, stellt sich die Frage: Soll dieses Produkt mit sich selbst verglichen werden? Auch darauf gibt es keine vernünftige Antwort.
Ein letzter Aspekt ist, was der Bestandsmarktaufruf
für den Gemeinsamen Bundesausschuss und das IQWiG
an Arbeitsbelastung bedeutet hätte.
Von daher glaube ich, es war richtig, dass wir uns
dazu entschlossen haben, den Bestandsmarktaufruf zu
beenden, zumal - das ist für mich ganz wichtig - trotzdem die Möglichkeit besteht, Arzneimittel zu bewerten
oder sie von der Verordnung auszuschließen. Ich sage als
Stichworte nur: Therapiehinweise, Leitlinien. Wir haben
mit dem AMNOG eingeführt, dass der Gemeinsame
Bundesausschuss von den Unternehmen neue klinische
Studien einfordern und einzelne Produkte von der Verordnung ausschließen kann.
Wenn man das alles gegeneinander abwägt, kommt
man zu dem Schluss, dass wir heute die richtige Entscheidung getroffen haben.
({5})
Ich habe jetzt noch 20 Sekunden. Ich hätte gern noch
einiges zum Erstattungsbetrag gesagt. Auch den Erstattungsbetrag haben wir neu geregelt; wir sorgen für mehr
Transparenz. Auch das stellt für die Industrie eine Belastung dar.
Ich hätte auch gern noch etwas zu der Substitutionsausschlussliste gesagt, einer guten Regelung, die Sie
wunderbar dargestellt haben. Auch das ist ein wesentlicher Aspekt, für den wir einen guten Ansatz gefunden
haben.
Ich glaube, wenn man das alles zusammen betrachtet,
sieht man, dass wir ein gelungenes Gesetz vorgelegt haben. Es wäre schön, wenn die Opposition zustimmen
würde. Aber das hat sie schon beim AMNOG nicht getan;
({6})
deswegen verwundert es uns nicht, wenn sie auch heute
nicht zustimmt.
Herzlichen Dank.
({7})
Danke, Herr Kollege. - Wir werden gleich sehen, wer
wie abstimmt.
Wir kommen damit zur Abstimmung über den von
den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurf eines Vierzehnten Gesetzes zur Änderung
des Fünften Buches Sozialgesetzbuch. Der Ausschuss
für Gesundheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 18/606, den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 18/201 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Hierzu liegen zwei
Änderungsanträge der Fraktion Die Linke vor, über die
wir zuerst abstimmen.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 18/621? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Damit ist der Änderungsantrag mit den Stimmen der Koalition aus CDU/CSU und SPD bei Enthaltung von
Bündnis 90/Die Grünen und Zustimmung der Antragsteller abgelehnt.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 18/622? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Änderungsantrag ist mit dem gleichen Abstimmungsergebnis abgelehnt, also mit der Mehrheit von
CDU/CSU und SPD bei Enthaltung von Bündnis 90/Die
Grünen und Zustimmung der Antragsteller.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung bei Zustimmung von CDU/CSU und SPD und Ablehnung von
Bündnis 90/Die Grünen und den Linken angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Will sich jemand enthalten? Nicht. Der Gesetzentwurf ist damit durch die Mehrheit
von CDU/CSU und SPD angenommen.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
auf Drucksache 18/623. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Entschließungsantrag ist mit der Mehrheit von CDU/CSU und SPD bei Zustimmung der
Antragsteller und Enthaltung der Linken abgelehnt.
Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Restabend
- der Abend ist noch lange nicht vorbei - und übergebe
an meinen Kollegen Singhammer.
Guten Abend! Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11
auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Christian Kühn ({0}), Dr. Julia Verlinden,
Oliver Krischer, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Heizkosten sparen - Energiewende im Gebäudebereich und im Quartier voranbringen
Drucksache 18/575
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({1})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die zu diesem
Tagesordnungspunkt einen Beitrag leisten werden, Platz
zu nehmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Christian Kühn, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Danke, Herr Präsident. - Sehr geehrte Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der für die
Energiewende zuständige Minister Sigmar Gabriel hat in
seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag 22 Minuten
lang über die Energiewende und die Wirtschaftspolitik
gesprochen, dabei aber leider nichts Substanzielles zur
energetischen Gebäudesanierung gesagt. Es ist bis heute
unklar, wer in der Großen Koalition und zwischen den
Häusern bei der energetischen Gebäudesanierung den
Hut aufhat.
({0})
Ich finde, das geht so nicht weiter. Mit dem Kompetenzgerangel auch zwischen den Ministerien muss endlich
Schluss sein. Wir haben heute Abend diesen Antrag auf
die Tagesordnung gesetzt, damit Sie sich zur energetischen Gebäudesanierung verhalten.
({1})
Christian Kühn ({2})
Es geht hier nicht nur um die Energiewende oder den
Klimaschutz, sondern auch um die Heizkostenbelastung
der Menschen in Deutschland. Es geht im Kern um die
Frage der sozialen Gerechtigkeit. Die Heizkosten stiegen
dreimal so schnell wie die Löhne, beim Öl sogar achtmal
so schnell. Unser Vorschlag ist: Machen Sie aus Ihrem
Bündnis für bezahlbares Wohnen, das Sie hier angekündigt haben, ein Bündnis für klimafreundliches und bezahlbares Wohnen!
({3})
Nehmen Sie mehr Akteure mit auf, etwa die Umweltverbände! Nehmen Sie diejenigen mit auf, die sich mit Heizungsanlagen auskennen, die die Produkte verkaufen,
also den Mittelstand, damit dieses Bündnis endlich auch
ein Bündnis für Klimaschutz und bezahlbares Wohnen
wird, auch hinsichtlich der Heizkosten.
Wenn Sie in diesem Bündnis nicht auch das Thema
Gebäudesanierung im Kern behandeln, dann wird dieses
Bündnis scheitern; denn Klima- und Sozialpolitik gehen
hier Hand in Hand. Wenn Sie dem Thema energetische
Gebäudesanierung in dieser Großen Koalition keine
Aufmerksamkeit schenken, dann zeigen Sie nicht nur
den Menschen mit hohen Heizkosten die kalte Schulter,
sondern eben auch dem Mittelstand, der große Hoffnungen in Sie setzt, gerade bei der Frage des energetischen
Umbaus von Gebäuden.
({4})
Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hat
eine Studie herausgebracht, die besagt, dass bereits bei
einer Sanierungsrate von 2 Prozent 30 000 Arbeitsplätze
in Deutschland geschaffen werden können. Ich finde,
das ist ein Wort. Deswegen sollten wir uns alle gemeinsam dieser Frage widmen. Ich frage Sie aber: Wie wollen Sie die Sanierungsrate steigern, wenn Sie keine planbaren und verlässlichen Mittel für die energetische
Gebäudesanierung zur Verfügung stellen? Rein über Beratung und Information wird das nicht gelingen. Hier
müssen Sie als Große Koalition deutlich mehr Substanz
liefern.
({5})
Liebe CDU, tun Sie endlich etwas für den deutschen
Mittelstand! Liebe SPD, tun Sie etwas für die Mieterinnen und Mieter hinsichtlich der Heizkosten!
({6})
Wenn Sie bei der energetischen Gebäudesanierung versagen, dann versagen Sie bei der Wohnungspolitik insgesamt. Immer nur nach Neubau zu rufen, reicht nicht aus.
Wir müssen auch bei den Bestandsgebäuden vorankommen. Das Gebot der Stunde heißt eben nicht nur „Bauen,
bauen, bauen“, sondern auch „Sanieren, sanieren, sanieren“.
({7})
Zum Thema Sanieren will ich Ihnen sagen: Machen
Sie nicht den gleichen Fehler wie ihre Vorgänger. Bis
jetzt haben wir leider zu viel Polystyrol an der Wand,
aber zu wenig intelligente, innovative Konzepte. Entwickeln Sie schlaue, innovative Konzepte, und bringen Sie
diese natürlichen und ökologischen Bau- und Dämmstoffe auf die Baustellen und in die Häuser.
({8})
Wir brauchen eine ganzheitliche Betrachtung bei der
Wärmeversorgung, bei der ganze Quartiere in den Blick
genommen werden. Wir brauchen eine Offensive bei den
Wärmenetzen und auch im Bestand.
Bauministerin Hendricks spricht immer davon, dass
sie die Sanierungsrate auf 2,5 Prozent erhöhen will. Die
Realität ist: Zwei Drittel der Fassaden und ein Drittel der
Dächer sind ungedämmt; vier Fünftel aller Gas- und Ölheizungen sind nicht auf dem neusten Stand der Technik.
Das ist eine immense Leerstelle, zum einen in der Gesellschaft - damit müssen wir uns beschäftigen - und
zum anderen in Ihrer Politik, weil Sie hier keine Substanz liefern. Ich hoffe - ich sage Ihnen ganz klar: die
Hoffnung stirbt zuletzt -, dass Sie bei den Haushaltsberatungen deutlich nachlegen werden, dass Sie Zahlen liefern, dass sich die beiden Ministerien, die sich hier zuständig fühlen, einigen werden. Dann können wir
gemeinsam hier im Bundestag etwas für Mieterinnen
und Mieter und die Gebäudeeigentümer tun.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und bin
gespannt auf Ihre Ausführungen.
({9})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Herlind
Gundelach, CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
debattieren heute einen Antrag der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen, der sich wie ein Wunschkatalog kurz vor
Weihnachten liest. Das ist das gute Recht der Opposition; denn sie muss sich in der Regel über die Finanzierung keine Gedanken machen. Ob das allerdings zu einer
höheren Akzeptanz bei den Wählern führt, wage ich in
diesem Punkt zu bezweifeln.
Wir als Koalition von CDU/CSU und SPD tragen die
Gesamtverantwortung, und das heißt für uns - für uns in
der CDU/CSU ganz besonders -, dass wir nicht mehr
Geld ausgeben wollen, als wir einnehmen. Sie, meine
Damen und Herren von den Grünen, würden vermutlich
sagen - das haben Sie vor der Wahl auch ausreichend getan -: Lassen Sie uns doch einfach mehr einnehmen,
dann können wir auch mehr ausgeben.
({0})
Das aber ist nicht unsere Politik. Wir wollen weder unseren Bürgern noch unserer Wirtschaft höhere steuerliche
Belastungen zumuten.
({1})
Nun aber zu Ihrem Antrag. Unter Ihren Forderungen
findet sich der Wunsch nach einer steuerlichen Förderung der energetischen Modernisierung als zusätzlicher
Anreiz. Meine Damen und Herren von den Grünen, es
zeugt schon von einer ganz besonderen Chuzpe, dass gerade Sie die steuerliche Förderung als einen der Königswege fordern, nachdem Sie in der vergangenen Legislaturperiode alles dazu beigetragen haben, diese im
Bundesrat und im Vermittlungsausschuss durch immer
neue Forderungen an die Wand fahren zu lassen.
({2})
Wir waren schon immer der Auffassung, dass die
steuerliche Förderung einer der erfolgversprechendsten
Wege ist. Aber wir haben uns im Koalitionsvertrag darauf verständigt - das hat in den Verhandlungen auch
eine ganz erhebliche Rolle gespielt -, dass wir keine
Steuererhöhungen wollen. Die Kehrseite davon ist allerdings, dass wir uns auch keine Steuermindereinnahmen
leisten können, wenn wir unsere politischen Vorhaben
nicht gefährden wollen. Ich kann Ihnen aber versichern,
dass wir den Pfad der steuerlichen Förderung wieder betreten wollen, sobald finanzielle Spielräume dies zulassen. Ich jedenfalls werde mich dafür einsetzen.
Meine Damen und Herren, ich denke, wir alle in diesem Hause sind uns darin einig, dass die Energieeffizienz neben dem Ausbau der Erneuerbaren eine tragende
Säule der Energiewende ist. Deshalb werden wir noch in
diesem Sommer, wie die Vertreterin der Bundesregierung gestern im Ausschuss vorgetragen hat, unsere Maßnahmen zur Umsetzung der EU-Effizienzrichtlinie vorlegen.
Wir sind uns in der Koalition auch darüber einig, dass
wir in unserer Politik und unseren Maßnahmen der Steigerung der Energieeffizienz noch mehr Gewicht beimessen wollen; denn wie wir alle wissen, sind die Einsparpotenziale vor allem im Gebäudebereich riesig. Daher
wollen wir neben der sachgerechten Umsetzung der EUEnergieeffizienz-Richtlinie Märkte für Energieeffizienz
entwickeln, 2014 einen Nationalen Aktionsplan für
Energieeffizienz erarbeiten, die KfW-Programme verstetigen und vor allem auch vereinfachen, eine fundierte
und unabhängige Energieberatung ermöglichen und
selbstverständlich auch das Erneuerbare-Energien-Wärmegesetz im Einklang mit der Energieeinsparverordnung fortentwickeln.
Dabei ist für uns wichtig, dass wir ohne ordnungsrechtlichen Zwang und ohne Eingriff in Eigentum fördern; denn das geht nach hinten los, wie wir alle wissen.
Eine Steigerung der Sanierungsrate ist damit jedenfalls
nicht verbunden.
({3})
Lassen Sie mich auf einen Punkt zu sprechen kommen, den Sie gerade angesprochen haben und der für
mich als ehemalige Wissenschaftspolitikerin von ganz
besonderer Bedeutung ist. Wir müssen auch in der Forschungspolitik einen Schwerpunkt auf die Förderung
von Effizienztechnologien und Innovationen legen. Deshalb ist es wichtig, dass wir unsere Forschungsprogramme aus den letzten Legislaturperioden zielgerichtet
fortführen. Präferenzen für eine bestimmte Technik oder
Zwang hemmen Investitionen, statt sie zu fördern.
Genau so haben wir in den letzten Jahren mit unseren
Maßnahmen zur Steigerung der Energieeffizienz bereits
viel erreicht. Betrachten wir beispielsweise den Zeitraum von 2008 bis 2011: In diesen Jahren haben wir die
Energieeffizienz um durchschnittlich 2 Prozent pro Jahr
verbessert und liegen damit nur knapp unter der Zielmarke von 2,1 Prozent. Wir haben dafür das energetische Gebäudesanierungsprogramm ausgebaut und jährlich 1,8 Milliarden Euro an Fördermitteln zur Verfügung
gestellt. Das war so viel wie bei keiner Regierung zuvor.
Dieses Programm werden wir aufstocken, verstetigen
und vor allem deutlich vereinfachen. Auch darauf haben
wir uns im Koalitionsvertrag verständigt.
Im Rahmen dieser Förderung wurden zum Beispiel
auch Einzelmaßnahmen wie Heizungserneuerungen gefördert. In Anbetracht der Kosten für eine umfassende
Sanierung eines durchschnittlichen Einfamilienhauses
von circa 60 000 bis 75 000 Euro ist dies ein ganz wichtiger Punkt. Denn setzen wir bei der Gebäudesanierung
den bisherigen Hebel von 1 : 12 an, haben wir damit
Energieeffizienzinvestitionen in Höhe von 21 Milliarden
Euro angeschoben.
Wir haben außerdem das Mietrecht angepasst, um
dem sogenannten Vermieter-Mieter-Dilemma zu begegnen. So konnten wir sowohl erreichen, dass den Eigentümern das energieintensive Sanieren erleichtert wird, als
auch, dass die Mieter über sinkende Nebenkosten von
energetischen Sanierungsmaßnahmen profitieren und
nicht überfordert werden.
({4})
Bei einer Mieterquote von 57 Prozent in Deutschland
war diese Mietrechtsanpassung von enormer Bedeutung.
Lassen Sie mich aber noch einen weiteren Punkt Ihres
Antrags ansprechen. Sie fordern auch ein weiteres KfWProgramm. Wissen Sie, wie viele Programme zur Förderung der Erneuerbaren und der Energieeffizienz es
bereits gibt? Allein in der Datenbank des Bundeswirtschaftsministers finden Sie 180 Programme von EU,
Bund und Ländern.
({5})
Laut einer kürzlich erfolgten Umfrage vom Dachverband Deutscher Immobilienverwalter und der KfW führt
dies dazu, dass eine hohe Prozentzahl der Eigentümer
genau wegen dieser Fülle von Programmen und der
komplizierten Antragstellung keine Förderung in Anspruch nimmt. Deswegen wollen wir hier für mehr Vereinfachung und mehr Übersichtlichkeit sorgen.
Außerdem fordern Sie eine Absenkung der möglichen
maximalen Erhöhung des Mietzinses von 11 auf 9 Prozent nach einer Sanierung. Vor der Mietrechtsnovelle in
der letzten Legislaturperiode hatten wir immensen
Sanierungsstau. Es war für Eigentümer schlichtweg unmöglich, eine energetische Sanierung wirtschaftlich
durchzuführen; denn es gab geradezu absurde Regelungen, welche zum Beispiel eine Mietminderung durch
den Mieter von bis zu 50 Prozent zuließen, wenn im
Sommer während der energetischen Modernisierung die
Heizung nicht richtig funktionierte. Daher war unsere
Mietrechtsnovelle dringend geboten. Wir haben diese
auch sozialverträglich ausgestaltet, beispielsweise durch
Härtefallregelungen, um sicherzustellen, dass sich die
Mieter auch nach der Sanierung ihre Wohnung noch leisten können.
Eine maßvolle und gerechtfertigte Mietzinsanpassung
nach einer Sanierung steht dazu nicht im Widerspruch.
Zahlreiche Studien belegen, dass sanierungsbedürftige
Mehrfamilienhäuser durchaus warmmietenneutral saniert werden können; denn eine Mieterhöhung wird
durch Einsparungen bei den Nebenkosten weitestgehend
ausgeglichen. Das gilt im Übrigen nicht nur für Einzelobjekte, sondern auch für ganze Quartiere, wie wir in
Hamburg-Wilhelmsburg - Wilhelmsburg ist ein Stadtteil
mit einem sehr geringen Durchschnittseinkommen durch ein Projekt im Rahmen der Internationalen Bauausstellung im vergangenen Jahr unter Beweis gestellt
haben.
Eine erneute Absenkung der zulässigen maximalen
Mieterhöhung würde sich erneut als Hemmschuh erweisen, da viele Eigentümer schlichtweg befürchten müssten, wieder alleine für die Kosten einer energetischen
Sanierung aufkommen zu müssen. Darüber hinaus
zeichnen Sie ein Bild von deutschen Vermietern, das
schlichtweg falsch ist. Entgegen der häufigen Darstellung sind diese eben keine Spekulanten. In der Praxis
werden Mieten nach einer Sanierung durchschnittlich
um circa 80 Cent pro Quadratmeter angehoben. Durch
eine energetische Sanierung kann ein durchschnittlicher
Haushalt bis zu 1 000 Euro Nebenkosten im Jahr einsparen.
Eine erneute Anpassung des Mietrechts ist also nicht
erforderlich und wäre aus unserer Sicht auch kontraproduktiv.
({6})
Es gibt bei der energetischen Sanierung und bei der
Energieeffizienz keinen Königsweg. Wir müssen neben
standardisierten Methoden individuelle und angepasste
Lösungen finden und zulassen. Wir müssen dabei vor
allem offenbleiben für Fortschritt und Innovation. Damit
unterstützen wir zugleich unsere mittelständische Wirtschaft; denn sie ist der Innovationstreiber in unserer Gesellschaft.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({7})
Frau Kollegin Dr. Gundelach, das war Ihre erste Rede
im Deutschen Bundestag. Ich beglückwünsche Sie dazu,
insbesondere zum Zeitmanagement, und wünsche Ihnen
weitere erfolgreiche Reden hier im Hohen Hause.
({0})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Heidrun Bluhm,
Die Linke.
({1})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen trifft in ihrem Antrag
viele richtige Feststellungen und erhebt Forderungen,
die meinem Anliegen und dem meiner Fraktion in
Sachen Heizkostenersparnis und energetische Sanierung
weitgehend entsprechen. Heizkosten sind keine rein
fiskalische Frage für Familien und Haushalte im Land,
sondern sind eine zutiefst soziale Frage der Daseinsvorsorge.
({0})
Das müssen wir uns immer wieder vor Augen führen.
Neben viel Zustimmung zum Antrag Ihrer Fraktion,
Herr Kühn, habe ich einen Kritikpunkt und kleine Änderungswünsche. Die Kritik zum Anfang: Meine Kritik
richtet sich gegen den Vorschlag, die Mieterhöhung nach
Modernisierung von 11 auf 9 Prozent jährlich zu senken,
wie Sie das in Ihrem Antrag fordern. Die damit möglicherweise beabsichtigte wirtschaftliche Entlastung der
Mieterinnen und Mieter ist von der Tendenz her sicherlich richtig. Aber das Prinzip der Modernisierungsumlage ist aus unserer Sicht grundfalsch. Zum einen ist die
Modernisierungsumlage auf die Modernisierungskosten
fixiert. Auf diese haben die Mieterinnen und Mieter vor
Modernisierung leider fast keinen Einfluss. Zum anderen bleibt der Nutzen der Modernisierungsmaßnahme,
nämlich der Wertzuwachs der Immobilie, beim Immobilieneigentümer, nachdem die Mieterinnen und Mieter
diesen Wertzuwachs vollständig bezahlt haben, egal ob
sie das in neun Jahren wie bisher, in zehn Jahren, wie es
die Koalition vorhat, oder in elf Jahren, nach Ihrem Antrag, abzustottern haben.
Nach unseren Vorstellungen sollte die Höhe der
Modernisierungsumlage nicht an den Kosten orientiert
werden, sondern am Nutzen, den die jeweilig Beteiligten
am Prozess daraus ziehen.
({1})
Mieterinnen und Mieter sollen Kosten in der Höhe tragen, in der sie Einsparungen bei der Heiz- und Energiekostenrechnung am Ende des Jahres tatsächlich erzielen
können. Vermieterinnen und Vermieter sollen den Wertzuwachs ihrer Immobilie tragen, und der Nutzen, den die
ganze Gesellschaft durch die energetische Gebäude- und
Quartiersentwicklung erlangt, soll auch gemeinschaftlich aus öffentlicher Förderung finanziert werden,
({2})
dann aber aus Sicht der Linken mehr über Zuschüsse und
weniger über Kredite, die auch wieder nur die Gesamtrechnung belasten.
Die Linke will auf 5 Prozent der Modernisierungskosten absenken, aber nur um in Stufen aus der ungerechten Modernisierungsumlage zu einem späteren Zeitpunkt ganz auszusteigen; denn wir wissen, dass wir von
11 Prozent ausgehen und nicht von jetzt auf gleich auf
null Prozent senken können.
Damit bin ich bei meinen Ergänzungswünschen. Ein
wirklich tragfähiges Klimaschutzkonzept im Gebäudebereich braucht ein nachhaltig tragfähiges Finanzierungskonzept. Die Größenordnung, die im vorliegenden
Antrag angepeilt wird, nämlich 2 Milliarden Euro
Bundesmittel jährlich für die Gebäudesanierung bereitzustellen und 3 Milliarden Euro jährlich in einen Energiesparfonds einzuspeisen, deckt sich mit dem, was auch
wir für notwendig halten. Aber warum trennen Sie die
Mittel in zwei Fonds? Wäre es nicht flexibler, auch für
diejenigen, die darauf zurückgreifen wollen, wenn dazu
eine Position im Haushalt mit insgesamt 5 Milliarden
Euro veranschlagt wäre und dann sicher für viele Jahre
zur Verfügung stünde?
Der zweite Wunsch, den ich hätte: Heiz- und Energiekosten zu sparen und dabei die erneuerbaren Energien
voranzubringen, hat auch mit der kostengünstigen, flächendeckenden Versorgung mit solchen Energien zu tun.
Neben einem bedarfsgerechten, nicht renditeorientierten
Trassenausbau gehören auch nachhaltige Konzepte zum
Ausbau regionaler Energieversorgung in den Werkzeugkasten der Energiewende. Auch das zu unterstützen,
muss von der Bundesregierung verlangt werden.
Ansonsten - Herr Kühn, Sie ahnen es -: Wir stimmen
dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zu.
Wir werden uns darüber in den entsprechenden Ausschüssen noch unterhalten. Ich hoffe, dass wir am Ende
darüber abstimmen und unsere Änderungswünsche gegebenenfalls Berücksichtigung gefunden haben werden.
Danke schön.
({3})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Nina Scheer,
SPD.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Energiewende im Wärmebereich
ist eine sozial- wie auch umweltpolitisch herausragende
Aufgabe. Insofern ist die mit dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen vorgenommene Thematisierung der
Energiewende im Gebäudebereich gut und zu begrüßen.
Die Bedeutung der Energiewende im Wärmebereich
findet sich auch im Koalitionsvertrag wieder, dem der
vorliegende Antrag in vielen Punkten inhaltlich entspricht.
({0})
Wenn es nun aber um die Umsetzung weiterer Schritte
der Energiewende im Wärmebereich geht, eröffnet dies
auch die Chancen auf ein Umdenken der Politik im Wärmesektor. Ein Umdenken fehlt im Antrag der Grünen.
Ein Umdenken ist notwendig auf der Grundlage bisheriger Erfolge und Erfahrungen bei der Steigerung der
Energieeffizienz sowie dem Ausbau erneuerbarer Energien.
({1})
Ein Umdenken ist aber auch mit Blick auf die kommende neue Rolle des Wärmesektors erforderlich. Während der technologischen und akteursbezogenen Entwicklungen der letzten Jahre zeichnete sich ab, dass der
Wärmesektor als kostengünstige, effiziente und somit
sinnvolle Flexibilitätsoption für den Ausbau fluktuierender erneuerbarer Energien im Strombereich genutzt werden kann.
({2})
Um diese ökonomisch sinnvollen Ansätze sowie umweltpolitischen Chancen zu nutzen und darin enthaltene
Synergien auszuschöpfen, ist bei der Konzeption einer
Wärmestrategie und einer Politik für eine Wärmeenergiewende mehr Systemdenken abzuverlangen.
Welche Konsequenzen ergeben sich nun aus den beiden genannten Punkten? Um die CO2-Reduktionsziele
von mindestens 40 Prozent im Jahr 2020 und langfristig
eine vollständige Dekarbonisierung zu erreichen, müssen die ökonomischen Rahmenbedingungen für die Wärmeenergiewende verbessert werden. Gemäß einer Studie
des BBSR, des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und
Raumforschung im Bundesamt für Bauwesen und
Raumordnung, vom März 2013 wurde ermittelt, dass es
für die Zielerreichung 2020 erstens auf Maßnahmen im
Gebäudebestand ankommen wird und, zweitens, bei einer Haushaltsfinanzierung jährlich 6 Milliarden Euro zur
Verfügung gestellt werden müssten. Es dürfte allen
Vertretern des Hauses klar sein, dass dies gerade bei Gesprächen mit den Haushältern kein politischer Selbstläufer ist. Nichtsdestotrotz wird man in der Koalition offen
darüber reden müssen, auf welchem Weg die offenkundig notwendigen Verbesserungen der ökonomischen
Rahmenbedingungen erreicht werden können: ob mit
haushalterischen Finanzmitteln oder mit haushaltsunabhängigen Instrumenten oder mit einem Mix aus beidem.
Bei den Effizienzmaßnahmen hat man in den letzten
drei Jahrzehnten viele kostengünstige Potenziale zum
Teil schon gehoben. Weitere Potenziale sind zwar noch
vorhanden, aber unabhängig davon, wie sehr man die Effizienzmaßnahmen verstärkt und auch verhältnismäßig
teurere Potenziale erschließt: Am Ende wird man so oder
so den Restwärmebedarf durch erneuerbare Energien decken müssen.
({3})
Man wird also heute schon die Maßnahmen für erneuerbare Energien im Wärmesektor verstärken müssen, um
den aktuellen Stillstand aufzubrechen.
Insofern springt es zu kurz, schlicht die Sanierungsrate zu erhöhen. Hiermit ist für sich genommen keine
Aussage über sinnvolle Effizienz- oder gar Wärmeenergiewende-Maßnahmen getroffen. Die deutsche Wärmepolitik ist bisher sehr stark von dem Fokus auf das einzelne Gebäude geprägt. Nutzt man aber die Chance, den
Wärmesektor als kostengünstige Flexibilitätsoption zu
erschließen, muss der Fokus auf das einzelne Gebäude
verändert werden.
({4})
Stärker müssen größere kommunale Einheiten, Quartiere
oder Stadtteile, bei der Wärmeversorgung in den Mittelpunkt rücken; denn die sehr enge Systemgrenze des Gebäudes kann zu Ineffizienzen führen.
Auch wenn der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen
die Quartiere benennt, lässt er eine solche systemischumdenkende Betrachtung nicht erkennen. Es gilt, durch
Nah- und Fernwärmenetze größere Wärmequellen zu erschließen und diese gleichzeitig zu flexibilisieren, etwa
mit Wärmespeichern und einer bivalenten Auslegung
von Kraft-Wärme-Kopplung. Der Kraft-Wärme-Kopplung sowie der großtechnischen Anwendung von Solarthermie und Großwärmepumpen in Quartieren und
Stadtteilen wird damit eine größere Bedeutung zukommen. Dänemark bietet ein gutes Beispiel dafür.
Dies bedeutet aber auch, dass man sich das Planungsrecht von Bund und Ländern genau anzuschauen haben
wird und den Städten und Gemeinden bei der Planung
der Wärmeversorgung eine größere Rolle zugestanden
werden muss.
({5})
Gute Ansatzpunkte hierzu finden sich etwa im Erfahrungsbericht zum Erneuerbare-Energien-Wärmegesetz.
Bei der verstärkten Vernetzung des Stromsektors mit
dem Wärmesektor wird man sich auch die geltenden
Gesetze und Verordnungen anzusehen haben, um bestehende Hemmnisse für eine verstärkte Nutzung von sogenanntem Power-to-Heat abzubauen. An dieser Stelle sei
nur kurz auf die Energieeinsparverordnung und die Berechnung des Primärenergiefaktors hingewiesen.
Zusammen mit einer verbesserten Finanzierung der
Wärmeenergiewende und der eventuellen Schaffung
neuer Instrumente, etwa im Rahmen der noch vorzunehmenden Umsetzung des Art. 7 der EnergieeffizienzRichtlinie, ergeben sich mit diesem neuen Fokus neue
Geschäftsfelder und Geschäftsmodelle, die durch neue,
vielfältige und dezentrale Akteure und Dienstleister bereitgestellt werden können. So kann und sollte eine neue
Aufbruchdynamik bei der Wärmeenergiewende geschaffen werden.
Vielen Dank.
({6})
Frau Kollegin Dr. Scheer, das war Ihre erste Rede hier
im Deutschen Bundestag. Ich gratuliere Ihnen sehr herzlich dazu und wünsche Ihnen weitere erfolgreiche Redebeiträge im Hohen Hause.
({0})
Ich schließe damit die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/575 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 12 a und 12 b
auf:
a) - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Festsetzung der Beitragssätze in der gesetzlichen
Rentenversicherung für das Jahr 2014
({1})
Drucksache 18/187
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({2})
Drucksache 18/604
- Bericht des Haushaltsausschusses ({3}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
Drucksache 18/618
b) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Sabine
Zimmermann ({4}), Katja Kipping, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stabilisierung der Beitragssätze in der gesetzlichen Rentenversicherung ({5})
Drucksache 18/52
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({6})
Drucksache 18/604
Zu dem Gesetzentwurf der Fraktionen von CDU/CSU
und SPD liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor.
Alle Reden sollen zu Protokoll gegeben werden. Ich sehe, dass Sie damit einverstanden sind.
Damit kommen wir zur Abstimmung über den von
den Fraktionen von CDU/CSU und SPD eingebrachten
Entwurf eines Gesetzes zur Festsetzung der Beitragssätze in der gesetzlichen Rentenversicherung für das
Jahr 2014. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 18/604, den Gesetzentwurf der Fraktionen
von CDU/CSU und SPD auf Drucksache 18/187 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Ich stelle fest,
dass das die Koalitionsfraktionen und die Fraktion Die
Linke sind. Wer stimmt dagegen? - Dagegen stimmt
Vizepräsident Johannes Singhammer
Bündnis 90/Die Grünen. Damit kann ich mir die Frage,
wer sich der Stimme enthält, sparen. Der Gesetzentwurf
ist damit in zweiter Beratung angenommen.
Wir kommen jetzt zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Niemand.
Der Gesetzentwurf ist damit mit den Stimmen von CDU/
CSU, SPD und Linken gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
auf Drucksache 18/611. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Entschließungsantrag ist damit mit den
Stimmen von CDU/CSU und SPD bei Enthaltung der
Linken und Zustimmung von Bündnis 90/Die Grünen
abgelehnt worden.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den von der
Fraktion Die Linke eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Stabilisierung der Beitragssätze in der gesetzlichen Rentenversicherung.
Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/604, den Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke
auf Drucksache 18/52 abzulehnen. Ich bitte jetzt diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das
Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Damit ist dieser Gesetzentwurf mit den Stimmen
von CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen
die Stimmen der Linken abgelehnt. Damit entfällt nach
unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Niema
Movassat, Heike Hänsel, Wolfgang Gehrcke,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
EU-Afrika-Gipfel - Partnerschaft an Gerechtigkeit und Frieden ausrichten
Drucksache 18/503
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({7})
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Diese Reden sollen ebenfalls zu Protokoll gegeben
werden. - Ich sehe, dass alle damit einverstanden sind.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/503 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich sehe auch dazu
Einverständnis. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Nun rufe ich den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur
Änderung des Schulobstgesetzes
Drucksache 18/295
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung und Landwirtschaft
({8})
Drucksache 18/601
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Die Linke vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin ist die
Kollegin Katharina Landgraf, CDU/CSU.
({9})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es gibt sie
also doch, die gute Nachricht aus Brüssel. Als Berichterstatterin für gesunde Ernährung habe ich die Botschaft
der Kommission und die folgende Aktion des Bundesrates mit Wohlwollen aufgenommen. Die Länder sollen für
das Schulobstprogramm mehr Geld erhalten und selber
weniger dafür zahlen. Der Kofinanzierungsanteil von
50 Prozent wird jetzt also auf 25 Prozent gesenkt. Das
klingt gut und verführerisch. Das trifft auch auf die aktuelle Ankündigung zu, dass Brüssel die Obst- und
Schulmilchprogramme zusammenführen will, sodass
man künftig gegebenenfalls gar nichts mehr zuzahlen
müsste.
Mit den heutigen Gesetzesänderungen zum Schulobst
öffnen wir für die Interessenten in Deutschland weit die
Tore und Türen. Das ist erst einmal die wichtigste Voraussetzung dafür, den symbolisch aus Brüssel angebotenen Apfel annehmen zu können, mehr nicht. Ich kann es
mir hier getrost sparen, etwas zu den einzelnen Fristveränderungen zu sagen. Das geht schon in Ordnung. Einen
neuen Sündenfall müssen wir da nicht befürchten.
Jetzt kommt es aber darauf an, etwas daraus zu machen. Bei der praktischen Umsetzung sollte darauf geachtet werden, dass vor allem Obst und Gemüse in die
Schulen kommt, das auch in den betreffenden Regionen
gewachsen ist. Für eine solche Entscheidung brauchen
wir keine Brüsseler und auch keine Berliner Bürokratie.
Wenn sich die Europäische Union dafür einsetzt, die
gesunde Ernährung der jungen Generation zu unterstützen, so haben wir damit das eigentliche Ziel noch längst
nicht erreicht. Die Begeisterung für die tägliche Portion
Obst und Gemüse wird mit einem aus EU-Mitteln finanzierten Programm zwar durchaus positiv begleitet, geweckt wird sie damit aber eher nicht. Auf den Geschmack kommen Mädchen und Jungen im wahrsten
Sinne des Wortes doch wohl erst, wenn in ihren frühen
Jahren die entsprechenden Nerven dafür sensibilisiert
worden sind. Das wiederum kann die Politik nicht wirklich leisten. Das können nur die Erwachsenen, die die
Schutzbefohlenen auch in Sachen Nahrung betreuen und
erziehen.
Unsere Kompetenz als Politiker ist da eher begrenzt.
Wir können lediglich die entsprechenden Rahmenbedingungen organisieren. Das tatsächliche Leben mit Obst
und Gemüse wird vor Ort entschieden: in den Familien,
Kindertagesstätten und Schulen. Dass es da läuft, hängt
einzig und allein von der Kompetenz der Akteure, der
Eltern und Pädagogen, ab. Der Idealfall wäre, wenn Vater und Mutter selbst mit dem Thema gesunde Ernährung
und vor allem mit Obst aufgewachsen sind.
({0})
Die eigene Erfahrung, die man in seiner persönlichen
Entwicklung, in seiner Umgebung, in seiner Familie gemacht hat, ist die beste Wissens- und Handlungsgrundlage. Ist das nicht gegeben, so braucht man eine entsprechende pädagogische Begleitung. Klar ist, dass der
Idealfall im Alltag eher unüblich ist. Deshalb kann ich
ein Obst- und Gemüseprogramm in den Kitas und Schulen nur begrüßen. Wünschenswert ist, dass die Schulen
ein solches Angebot nicht als ein von oben verordnetes
Übel ansehen, das nur mehr Arbeit macht. Das Programm sollte Bestandteil des gesamten Schulbetriebs
und des Unterrichtsprogramms sein. Kurzum: Es sollte
zum ganz normalen Alltag in den Schulen und Einrichtungen gehören.
Wie das entwickelt wird, ist Sache der Träger. Da
können wir von hier aus nur Appelle aussenden und allen Akteuren vor Ort danken, die sich wirklich für eine
gesunde Ernährung in Kitas und Schulen engagieren.
Ich persönlich wünsche mir, dass nach den heute zu
beschließenden Veränderungen des Gesetzes möglichst
alle Bundesländer das Angebot annehmen und sie nicht
ständig den bürokratischen Aufwand solcher Programme
dagegen aufwiegen. Mein Dank gilt letztlich dem Bundesrat wie auch dem Freistaat Bayern dafür, dass sie die
Gesetzesinitiative auf den Weg gebracht haben. Danke
sage ich auch den Landfrauen für ihr Engagement. Den
Damen und Herren aus der Opposition danke ich im Voraus dafür, dass sie mitziehen; denn es gibt sie wirklich:
gute Nachrichten aus Brüssel.
Vielen Dank.
({1})
Als Nächstes spricht die Kollegin Karin Binder, Die
Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Gäste! 918 582 Kinder haben laut der Pressemitteilung vom Bundesministerium für Ernährung und
Landwirtschaft im Schuljahr 2012/2013 an dem EUSchulobstprogramm teilgenommen. Das ist eine tolle
Zahl; aber es ist leider nur ein Bruchteil der Kinder, die
in Deutschland in die Kindergärten und Schulen gehen.
Es sind über 11 Millionen Kinder; das heißt, über 10
Millionen Kinder kamen leider nicht in den Genuss dieses Programms.
Dabei wissen wir alle: Obst und Gemüse sind unerlässlich für eine ausgewogene und gesunde Ernährung.
Wer schon als Kind Obst und Gemüse gegessen hat,
wird diese schöne Gewohnheit sicherlich nicht so
schnell aufgeben und ein Leben lang davon profitieren.
Übergewicht und ernährungsbedingten Erkrankungen
wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen wird hier gut vorgebeugt. Die Linke unterstützt deshalb dieses Schulobstprogramm der EU, und wir unterstützen auch den vorliegenden Gesetzentwurf, wonach der Finanzierungsanteil
entsprechend steigen soll.
Allerdings wünschen wir uns deutlich mehr Engagement vom Bund.
({0})
Mit unserem Entschließungsantrag fordern wir deshalb
die Bundesregierung auf, sich um die Kofinanzierung zu
bemühen. Der Anteil würde vorerst wahrscheinlich nur
ungefähr 5 Millionen Euro betragen, aber wir würden
weit mehr Kinder erreichen als bisher. Für die Kofinanzierung gibt es mehrere gute Gründe:
Erstens hat der Bund eine Fürsorgepflicht gegenüber
allen Kindern und Jugendlichen in diesem Land
({1})
und trägt auch die Verantwortung für die Gesundheitsvorsorge.
Zweitens ist dieses Schulobstprogramm Teil eines
Absatzförderungsprogramms für die Landwirtschaft.
Das ist wunderbar; auch wir begrüßen das. Wir sind sehr
dafür, dass regionale Landwirtschaft und Gartenbaubetriebe unterstützt werden.
({2})
Diese Absatzförderung ist aber aus meiner Sicht eine
Aufgabe des Bundes.
Drittens nehmen bisher leider nur sieben Bundesländer an diesem Programm teil. Grund dafür ist, dass viele
Bundesländer schlichtweg die Mittel nicht mehr haben,
um sich an der Finanzierung zu beteiligen.
Ein weiterer Grund liegt in der Bürokratie. Im Moment kann nicht die Rede davon sein, dass bundesweit
gleichwertige Verhältnisse bestehen. Eine Aufgabe des
Bundes ist doch die Angleichung der Lebensverhältnisse
zwischen Nord und Süd, Ost und West. Wir von den Linken fordern den Bund auf, sicherzustellen, dass alle Kinder und Jugendlichen an diesem Programm teilnehmen
können. Deshalb brauchen wir die Kofinanzierung des
Programmes durch den Bund und nicht über die Länder
alleine; denn allen Schulen muss die Möglichkeit eröffnet werden, daran teilzunehmen.
Wichtig ist auch, die bürokratische Hürde herunterzusetzen.
({3})
Ich höre den Amtsschimmel ganz laut wiehern angesichts dessen, dass Lehrerinnen und Lehrer nach Vorgaben der EU-Bürokratie nicht mitessen und um Himmelswillen nicht in den Obstkorb greifen dürfen. Das
Gegenteil muss doch der Fall sein: Die Lehrer sollen als
Vorbilder fungieren; sie sollen den Kindern zeigen, dass
Obst und Gemüse toll schmecken, und sie ermuntern, hineinzubeißen. Einen solchen bürokratischen Unsinn
kann ich überhaupt nicht verstehen. Deshalb fordere ich
die Bundesregierung auf, diesem ein Ende zu setzen und
ihr ganzes Gewicht in die Waagschale zu werfen, damit
das auf europäischer Ebene geändert wird.
({4})
Abschließend ein weiterer Punkt. Wir müssen erreichen, dass in den Schulen Trinkwasserbrunnen aufgestellt werden, damit sich die Kinder nicht auf dem Klo
das Glas Wasser füllen müssen. Das machen Kids oder
Teenager bestimmt nicht gerne. Die Möglichkeit, Trinkwasser aus Trinkwasserbrunnen zu nehmen, führt dazu,
dass Kinder keine süße Limonade oder gesüßte Säfte zu
sich nehmen; denn auch das hat - das wissen wir alle einen erheblichen Anteil an der Entstehung von Übergewicht. Trinkwasser kostenfrei und flächendeckend in
den Schulen zur Verfügung zu stellen, ist eine wichtige
Forderung. Davon hätte der Bund ganz viel Gewinn,
nämlich gesunde Kinder und gesunde Erwachsene mit
weniger Übergewicht.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({5})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Jeannine Pflugradt,
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Mit der Verabschiedung des deutschen Schulobstgesetzes Ende September 2009 fand
Deutschland eine Antwort auf das von der Europäischen
Union eingeführte Schulobstprogramm. Das Schulobstgesetz ist die Voraussetzung dafür, dass sich deutsche
Schulen an dem von der EU mitfinanzierten Programm
beteiligen können. In Deutschland sind, wie schon erwähnt, die Bundesländer für die Umsetzung des Programms zuständig. Momentan beteiligen sich sieben
Bundesländer - Baden-Württemberg, Bayern, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland, SachsenAnhalt und Thüringen - am EU-Schulobstprogramm.
Ab dem Schuljahr 2014/2015 wird voraussichtlich Niedersachsen in das Programm mit einsteigen.
Heute sprechen wir über das Schulobstgesetz, weil
die EU ab 2014 die Mittel für das Schulobstprogramm
für alle Mitgliedstaaten auf 150 Millionen Euro erhöht.
Das sind 60 Millionen Euro mehr als im vorigen Jahr;
das ist eine ganze Menge. Für Deutschland werden für
das nächste Schuljahr voraussichtlich 19,7 Millionen
Euro zur Verfügung stehen. Die EU übernimmt 75 Prozent der Kofinanzierung statt bisher 50 Prozent. Der Eigenanteil der Länder sinkt somit auf - in Anführungszeichen - „nur noch“ 25 Prozent.
Damit die Mitgliedstaaten von den Änderungen auf
EU-Ebene profitieren können, wurde die Frist für die
Einreichung der Strategien von Ende Januar 2014 auf
Ende April 2014 verschoben. Der vorliegende Gesetzentwurf des Bundesrates nimmt diese Neuerungen auf
und passt sie an das deutsche Recht an. Bis zum 3. April
dieses Jahres haben die Bundesländer nun noch Zeit, ihr
Interesse beim Bundesministerium zu bekunden. Bis
Ende April muss der Bund schließlich seine regionale
Strategie bei der EU-Kommission eingereicht haben.
Ohne die vorgeschlagenen Veränderungen könnten die
teilnehmenden Bundesländer die erwartete Erhöhung
des Kofinanzierungsanteils nicht in Anspruch nehmen.
Zusätzlich enthält der vorliegende Entwurf eine Verordnungsermächtigung für das zuständige Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft, das in Zukunft durch Rechtsverordnung auf solche Mittel- und
Friständerungen der EU zeitnah reagieren soll. Die zur
Verfügung gestellten Mittel sollen für den Ankauf von
Obst und Gemüse und dessen Verteilung an Schulen,
Kindergärten und anderen Vorschuleinrichtungen sowie
- ganz wichtig - für begleitende Informationsmaßnahmen verwendet werden.
Ziel ist eine dauerhafte Erhöhung des Konsums von
Obst und Gemüse bei Kindern, um einen Beitrag zur gesunden Ernährung zu leisten. Momentan haben 1,9 Millionen Kinder in Deutschland Übergewicht. Meine Damen und Herren, das ist eine besorgniserregende und,
wie ich finde, eine erschreckende Zahl.
({0})
Neben dem Angebot einer gesunden Ernährung müssen deshalb auch die Ernährungsbildung verbessert und
vor allem das Bewegungsangebot optimiert werden;
denn das Wissen um eine ausgewogene Ernährung allein
reicht nicht aus, um das tatsächliche Ernährungsverhalten zu verändern. Beispielsweise sollten die Kinder lernen, woher die Nahrung kommt, die gerade verzehrt
wird, wie gesunde und ausgeglichene Ernährung funktioniert oder wie mit Lebensmitteln umgegangen werden
soll.
90 Prozent der Lehrerinnen und Lehrer, der Schulleiterinnen und Schulleiter der in Deutschland beteiligten
Schulen sagen übereinstimmend, dass ein Schulobstprogramm ohne große Probleme in den Schulalltag integriert werden kann. Wichtig ist jedoch ein kostenfreies
Angebot für die Kinder, damit niemand aus sozialen
Gründen ausgeschlossen wird.
({1})
Ein gemeinschaftlicher Verzehr beeinflusst maßgeblich sowohl das Zusammengehörigkeitsgefühl als auch
die Denkweise über die Ernährung. Ich persönlich halte
gesunde Essgewohnheiten von klein auf für enorm wichtig und auch für eine Grundlage für einen gesunden Lebensstil. Obst und Gemüse sind dabei unentbehrlich für
eine vollwertige und ausgeglichene Ernährung. Diese
Lebensmittel enthalten neben Vitaminen, Mineralstoffen, Ballaststoffen sowie Kohlenhydraten auch einen hohen Wasseranteil. Ein hoher Verzehr von Obst und Gemüse hat eine positive Wirkung bei der Vorbeugung von
zahlreichen Erkrankungen.
Schulobstprogramme können und sollen einen direkten Einfluss auf die Ernährungsgewohnheiten der Schüler nehmen. Sie sollen helfen, Kindern Obst und Gemüse
schmackhaft zu machen. Gerade in der heutigen Zeit ist
die Schule auch ein Lernort für gesellschaftliche Aufgaben geworden. Schulen müssen mehr Verantwortung
übernehmen, da viele Eltern sich leider aus dieser Verantwortung aus den verschiedensten Gründen zurückziehen. Wertevorstellungen werden nicht nur von den Eltern weitergegeben, sondern auch von Lehrern und
Mitschülern. Wenn in einer Familie nicht regelmäßig
Obst und Gemüse auf dem Tisch stehen, kann der Verzehr als geplante Routine während der Schulzeit neue
Essgewohnheiten schaffen.
Durch die Einführung von Schulobstprogrammen
übernimmt der Staat eine wichtige Mitverantwortung für
eine gesunde Ernährung von Schulkindern. Deshalb sehe
ich auch den Vorschlag der EU-Kommission zur Zusammenlegung der beiden EU-Programme „Schulobst“ und
„Schulmilch“ sehr positiv. Wie Sie bereits wissen, haben
die ersten Beratungen im Europäischen Rat stattgefunden. Es wird vorgeschlagen, einen gemeinsamen rechtlichen und finanziellen Rahmen für die Verteilung von
Obst und Gemüse sowie Milch an Schulkinder zu generieren und durch verstärkte pädagogische Maßnahmen
zu unterstützen. Die bereitgestellten Mittel sind sicherlich nicht ausreichend, um das Gesamtproblem von
Übergewicht und Fettleibigkeit in den Griff zu bekommen. Programme wie die Verteilung von Obst, Gemüse
und Milch an Schulen sind da sicherlich nur ein Anstoß.
Aber dieser ist meiner Meinung nach sehr wichtig.
({2})
Ich appelliere hier an dieser Stelle an alle Bundesländer, sich an diesem für unsere Kinder und Jugendlichen
sehr wichtigen Programm zu beteiligen. Und an Sie,
liebe Kolleginnen und Kollegen, appelliere ich, sich in
Ihrem jeweiligen Bundesland und Wahlkreis über dieses
- gute - Programm weiter intensiv zu informieren.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wir müssen
heute dieses Geld in unsere Kinder investieren; denn dadurch minimieren wir unkalkulierbare hohe Kosten aufgrund gesundheitlicher Probleme unserer Mitmenschen,
die unsere Gesellschaft auf Dauer belasten können. Nur
gesunde Kinder sind leistungsfähig, und die Wahrscheinlichkeit, ein dauerhafter Leistungsempfänger zu werden,
sinkt durch eine gesunde Ernährung.
Einen persönlichen Wunsch habe ich anschließend:
Lassen Sie uns gemeinsam nach Wegen suchen, dieses
Programm zu erweitern, und beziehen wir die vielen
Sportvereine ein. In diesen Sportvereinen betätigen sich
die Kinder in ihrer Freizeit oder im Rahmen von Ganztagsschulen. Auch das fördert ihre Gesundheit.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Frau Kollegin Pflugradt, das war Ihre erste Rede hier
im Deutschen Bundestag. Meinen Glückwunsch dazu!
Ich wünsche Ihnen, dass Sie hier zahlreiche weitere Reden halten können.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Friedrich Ostendorff,
Bündnis 90/Die Grünen.
({1})
- Die Glückwünsche werden noch abgewickelt und minimieren nicht die Redezeit. ({2})
Ich würde vorschlagen, dass wir jetzt doch starten, Herr
Kollege Ostendorff.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die beabsichtigten Änderungen im Schulobstgesetz finden die
Unterstützung unserer Fraktion.
({0})
Es ist gut, dass die von den Ländern für die Kofinanzierung aufzubringenden Mittel durch die Aufstockung der
EU-Mittel zukünftig stark absinken werden.
Die Schulen sind wichtige Multiplikatoren. Unsere
Kinder sind die Verbraucher von morgen. Hier müssen
Gesundheitserziehung und Ernährungsbildung ansetzen.
Hier müssen die Leitbilder nachhaltigen und regionalen
Wirtschaftens vermittelt werden.
Meine Damen und Herren, wir Grünen wollen keine
krankmachenden, verdorbenen Erdbeeren aus China von
Sodexo für 8 Cent pro Kilo, wo doch bei uns Pflaumen,
Äpfel, Birnen, Kirschen und die ganze Vielfalt an Früchten an den Bäumen hängt, das Gemüse auf den Feldern
wächst oder in unseren Lagern liegt. Wir Grüne wollen
lokal produzierte Lebensmittel. Wir wollen eine regionale handwerkliche Verarbeitung und eine gesunde Esskultur.
({1})
Wir wollen aber auch die Folgen einer globalisierten
Nahrungsproduktion problematisieren. All das lässt sich
durch intelligent gestaltete Schulernährungsprogramme
erreichen.
Es geht darum, dass sich die Kinder die Bauernhöfe
mit den Obstbäumen und Gemüsefeldern anschauen
können und sehen, wie ihre Nahrungsmittel produziert
werden. Es geht darum, den Bezug zu den Lebensmitteln
und ein Gefühl ihrer Wertschätzung zu erreichen. Das
kann kein Lehrbuch vermitteln, sondern nur das eigene
Erfahren, Entdecken und Erschmecken. Es geht also
nicht um Abfüttern, sondern um Gesundheits- und Ernährungserziehung. Ich sage nur: Der Spruch „An apple
a day keeps the doctor away“ gilt hier immer noch.
({2})
In Deutschland beteiligen sich leider erst sieben, zukünftig acht Bundesländer an diesem hervorragenden
Programm. Wer hätte denn gedacht, dass sich auf europäischer Ebene Italien am stärksten engagiert? Ich habe
die Umsetzung dieses Programms, mit dem Regionalität
und Qualität sehr gut umgesetzt werden, in NordrheinWestfalen, dem Vorreiterland bei der Schulobsternährung, von Anfang an begleitet.
Zentral für ein erfolgreiches Schulobst- und -gemüseprogramm ist die Auswahl der Anlieferer; das ist die
zentrale Frage. Die Auswahl erfolgt nicht über eine Ausschreibung, die nur den billigsten Anbieter fördert und
am Ende zu besagten chinesischen Erdbeeren oder zu einem Lieferanten führt, der am Großmarkt zum Schluss
den Ramsch abräumt. Die Anbieter aus der Region - sie
müssen die Lieferanten sein. Das sind oft Bauern und
Bäuerinnen, die direkt vertreiben, oder auch lokale
Händler. Sie werden von den Schulen in NRW vorgeschlagen, beruhend auf guter Erfahrung und Zusammenarbeit. Die Zulassung erfolgt zentral auf Landesebene.
Die Vergütung erfolgt in NRW nach einem Festpreismodell.
Wichtig ist auch die Einbindung von Eltern, Lehrkräften und ehrenamtlichem Engagement in das Programm.
Dies ist notwendig, weil das Obst und Gemüse - wenn
es geht, in Bioqualität - ordentlich gewaschen und geschnitten präsentiert werden muss. Leider essen die wenigsten Kinder einen ganzen Apfel. Mein Dank geht hier
ausdrücklich - es wurde eben schon erwähnt, aber auch
ich will es sagen - an die Landfrauen, die oftmals die
praktische Umsetzung dieses Programms mit ermöglicht
haben.
({3})
Meine Damen und Herren, das ist der Weg, den wir
weitergehen müssen, um zu verhindern, dass unsere
Schulen in Zukunft von den gerade vorgestellten neuen
Paketen von Amazon Fresh beliefert werden.
Bei der Schulverpflegung mit den unmoralisch niedrigen Tagessätzen pro Kind sind wir leider längst noch
nicht bei ausgewogenen, qualitativ hochwertigen Mahlzeiten angelangt. Viele Kinder sind heutzutage leider
von morgens bis abends aus dem Haus und daher oft in
der Auswahl ihrer Ernährung auf sich allein gestellt und
der irreführenden Werbung der Ernährungsindustrie ausgeliefert. Deshalb müssen wir uns in der Politik viel stärker um das Thema ausgewogene Ernährung kümmern.
Für uns alle gilt: Hier gilt es, anzusetzen, um Bewusstsein für gesunde Ernährung auszubilden und regionale
Versorgung flächendeckend umzusetzen. Das heißt für
uns: grüne Ernährungswende.
({4})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Kollegen Alois Rainer, CDU/CSU.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Vielleicht wird es Sie überraschen, dass gerade ich als Metzgermeister
({0})
in meiner ersten Rede zum Thema Schulobst sprechen
darf. Aber unbestritten ist, dass eine gesunde und vor allem ausgewogene Ernährung ein wichtiger Beitrag zu
mehr Lebensqualität ist. Obst und Gemüse sind unentbehrlich für eine vollwertige Ernährung. Vitamine und
Mineralstoffe sind besonders für Kinder und deren Entwicklung wichtig.
Leider müssen wir in der heutigen Zeit oft feststellen,
dass viele Kinder und Jugendliche wenig bis gar kein
Obst oder Gemüse essen.
({1})
In vielen Familien ist es nicht selbstverständlich, dass
frisches Obst und Gemüse regelmäßig auf den Tisch
kommen. Umso wichtiger ist es, dass die Kinder dort,
wo sie sich lange aufhalten, nämlich in der Schule, Obst
und Gemüse zu sich nehmen können.
({2})
Denn regelmäßige Obst- und Gemüsemahlzeiten in der
Schule beeinflussen das Ernährungsverhalten der Kinder
langfristig positiv. Eine gesunde Esskultur beginnt von
klein auf. Wir alle kennen doch den Ausspruch: Was
Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, mit der
heute vorgesehenen Änderung des Schulobstgesetzes
stellen wir langfristig die Weichen für eine bessere Verteilung der Gemeinschaftsbeihilfe unter den Ländern.
Das Schulobstgesetz regelt das Verfahren zur Durchführung des EU-Schulobstprogramms. Insbesondere regelt
es die Fristen für die jährlich einzureichenden Strategien
der Länder und die Verteilung der Gemeinschaftsbeihilfe.
Das bisherige Gesamtbudget der EU für das
Schulobstprogramm wird von 90 Millionen Euro auf
150 Millionen Euro jährlich erhöht. Damit wird der Kofinanzierungsanteil für die Mitgliedstaaten von 50 Prozent auf 25 Prozent gesenkt. Ich hoffe, dass sich das
dann das eine oder andere Land auch leisten kann, liebe
Frau Kollegin.
({3})
Aufgrund dieser Änderung hat die Europäische Kommission die Frist für die Einreichung der Strategien für
das aktuelle Schuljahr vom 31. Januar auf den 30. April
2014 verschoben. Damit es den Ländern bereits im kommenden Jahr möglich ist, von dieser Verbesserung zu
profitieren, hat der Bundesrat am 19. Dezember 2013 beschlossen, einen Gesetzentwurf einzubringen, durch den
insbesondere die Fristen angepasst werden.
Die Mittelaufstockung der EU und die Reduzierung
des Kofinanzierungsanteils für die Mitgliedstaaten von
50 Prozent auf 25 Prozent machen das Schulobstprogramm noch viel attraktiver. Das müsste eigentlich für
alle Länder Grund genug sein, das Programm durchzuführen.
({4})
Bayern hat hier von Anfang an die Initiative dazu ergriffen. Als immer noch amtierender Bürgermeister kann
ich bestätigen, dass wir das Programm an unseren Schulen schon durchgeführt haben.
({5})
Ich freue mich, dass sich die Länder Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, das Saarland, Sachsen und Sachsen-Anhalt dem angeschlossen
haben und weitere Länder mit Sicherheit folgen werden.
Ich würde mich riesig freuen, wenn sich dem Programm
alle Länder anschließen;
({6})
denn, meine sehr verehrten Damen und Herren, wir alle
wollen, dass unsere Kinder frühzeitig an gesundes Essen
herangeführt werden und sich die Ernährungsgewohnheiten damit langfristig ändern.
({7})
Dies ist und muss uns sowohl auf nationaler wie auf europäischer Ebene ein wichtiges Anliegen sein.
Ich möchte mich abschließend bei allen bedanken, die
sich schon jetzt für dieses Programm einsetzen, bei den
Landfrauen - sie sind schon genannt worden -, den
Obst- und Gartenbauvereinen und den vielen freiwilligen Helfern. Wir sind bereits auf einem guten Weg. Lassen Sie uns darum die erforderliche Gesetzesänderung
beschließen.
Vielen Dank.
({8})
Herr Kollege Rainer, Sie haben es erwähnt: Sie haben
als Metzgermeister Ihre erste Rede zum Schulobstgesetz
gehalten. Ich beglückwünsche Sie dazu und wünsche Ihnen weitere erfolgreiche Reden im Hohen Hause.
({0})
Die Glückwünsche werden noch entgegengenommen.
Ich darf aber schon mitteilen, dass damit die Aussprache
zu diesem Tagesordnungspunkt geschlossen ist.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den vom
Bundesrat eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung
des Schulobstgesetzes. Der Ausschuss für Ernährung
und Landwirtschaft empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/601, den Gesetzentwurf des
Bundesrates auf Drucksache 18/295 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen,
um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung von allen Fraktionen des Hohen Hauses angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte jetzt diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist
dieser Gesetzentwurf mit Zustimmung aller Fraktionen
angenommen.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/612. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit
ist dieser Entschließungsantrag mit den Stimmen von
CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der Linken bei
Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 15, den letzten
in unserer heutigen Tagesordnung, auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Agnieszka Brugger, Katja Keul, Omid
Nouripour, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Keine Rüstungsexporte nach Saudi-Arabien
Drucksache 18/576
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({1})
Auswärtiger Ausschuss ({2})
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Federführung strittig
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Agnieszka Brugger, Bündnis 90/Die
Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am 8. Juli
2011 forderte Sigmar Gabriel hier im Plenum in Bezug
auf die Panzerlieferungen nach Saudi-Arabien die Vorgängerregierung dazu auf - ich zitiere -, „die Genehmigung zur Ausfuhr entweder zurückzuziehen oder, wenn
sie noch nicht endgültig gefallen ist, nicht zu erteilen“.
({0})
Noch im Februar 2013 griff Herr Oppermann SchwarzGelb massiv an, weil es Saudi-Arabien - auch hier wieder ein Zitat - „total hochrüsten“ wolle und „aus den öffentlichen Protesten gegen Waffenlieferungen in dieses
Land nichts gelernt“ habe. Ich würde sagen: Damit haben die beiden völlig recht.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, lassen
Sie diesen schönen Ankündigungen jetzt, wo Sie Teil der
Regierung sind, konkrete Taten folgen. Heben Sie den
Vorbescheid für den Export von Patrouillenbooten und
insbesondere auch den für die Panzerlieferung an das
Königreich Saudi-Arabien auf.
({2})
Ich könnte noch viel mehr Zitate der SPD anführen, die
belegen: Eigentlich sind Sie - soll ich besser sagen: waren Sie? - gegen Rüstungsexporte
({3})
in Länder, wo Menschenrechte mit Füßen getreten werden.
Nun versuchen Sie, sich hinter Schwarz-Gelb zu verstecken, und verweisen auf die in der Vergangenheit getroffenen Beschlüsse. Aber das lassen wir Ihnen nicht
durchgehen. Denn jenseits schöner Ankündigungen in
Interviews besteht Ihre erste wahrnehmbare Handlung in
Regierungsverantwortung bei den Rüstungsexporten darin, dass Sigmar Gabriel federführend und aktiv Hermesbürgschaften für die Lieferung von Patrouillenbooten
nach Saudi-Arabien auf den Weg bringt.
({4})
Statt dieses von Ihnen kritisierte Geschäft zu stoppen,
geben Sie nun also auch noch ganz bewusst die Zustimmung, diesen Deal mit deutschen Steuergeldern durch
Hermesbürgschaften abzusichern. Liebe Genossinnen
und Genossen, Sie verhalten sich wie ein Fähnchen im
Wind.
({5})
Meine Damen und Herren von Union und SPD, hören
Sie endlich auf, Rüstungsexportpolitik als Wirtschaftspolitik zu betreiben! Denn das ist ein ziemlich kurzsichtiger und riskanter Kurs.
Zu den Hauptabnehmern deutscher Waffen gehören
neuerdings vor allem die zahlungskräftigen Staaten der
Arabischen Halbinsel. Die Kanzlerin bezeichnet diese
Länder als strategische Partner, die wir mit deutschen
Waffen ertüchtigen müssen. Doch damit rüstet Deutschland eine sicherheitspolitisch höchst instabile Region
hoch und heizt die Rüstungsspirale an. Neben dem Risiko, dass diese Waffen für innere Repression eingesetzt
werden, wissen wir doch alle auch, dass islamistische
Kämpfer von diesen Regimen auf der Arabischen Halbinsel finanziert und ausgerüstet werden, wie zum Beispiel in Syrien und Mali. Sie sehen, meine Damen und
Herren: Diese sicherheitspolitische Kurzsichtigkeit von
Kanzlerin Merkel ist aus vielen Gründen höchst gefährlich.
({6})
Auch die Forderung nach mehr Transparenz und parlamentarischer Beteiligung bei der Kontrolle von Rüstungsexporten müsste den Kolleginnen und Kollegen aus
der SPD-Fraktion ebenso wie die Äußerungen zu den
Rüstungsexporten nach Saudi-Arabien doch sehr bekannt vorkommen. Denn bis vor ein paar Monaten waren dies noch Ihre eigenen Vorschläge. Aber auch hier
sind Sie sehr schnell eingeknickt und haben der Union
nachgegeben. Nun wird es aufgrund Ihrer Untätigkeit
kein gesondertes Gremium im Bundestag geben, das
über Rüstungsexporte unterrichtet wird und die Regierung an dieser Stelle kontrollieren kann.
({7})
Gerade solche sensiblen und kritischen Entscheidungen
wie die Genehmigung von Waffengeschäften muss eine
Regierung doch begründen.
({8})
Sie kann sich dabei nicht hinter den verriegelten Türen
des Bundessicherheitsrates verstecken. Es muss endlich
Schluss sein mit dieser Geheimniskrämerei. Ich finde,
das ist ein unwürdiger Zustand in einer Demokratie,
auch im Hinblick auf uns Abgeordnete.
({9})
Liebe Kolleginnen und Kollegen in der Koalition,
halten Sie sich an Ihre eigenen Rüstungsexportrichtlinien, halten Sie sich an Ihre Versprechen und Ihre moralischen Ansprüche! Seien Sie kein Fähnchen im Wind,
sondern eine verlässliche Beschützerin der Menschenrechte, egal ob Sie regieren oder ob Sie opponieren!
Vielen Dank.
({10})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Kollegen Klaus-Peter Willsch, CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kollegen! Es ist schön, dass wir
nach dem Schulobst noch zu den Patrouillenbooten vor
Saudi-Arabien kommen. Frau Brugger, ich will einfach
einmal erklären, um was es eigentlich geht. Es geht um
einen Auftrag, den der Innenminister von Saudi-Arabien
deutschen Schiffsbauern erteilen möchte. Saudi-Arabien
möchte seine Grenzschutzflotte modernisieren und aus
diesem Grund 146 Boote verschiedenen Typs bei uns
kaufen: 2 Führungsboote, 33 Patrouillenboote, 79 schnelle
Einsatzboote und 32 Arbeitsboote. Dafür gibt es in
Saudi-Arabien natürlich auch einen konkreten Bedarf.
Die Boote sollen im Roten Meer und im Persischen Golf
eingesetzt werden: zur Überwachung von Küstenlinien,
zur Kontrolle und zum Schutz der Hoheitsgewässer und
der internationalen Seewege, zum Schutz von Hafenanlagen und zur Unterbindung von Piraterie, Sabotage und
Terrorismus.
Saudi-Arabien will auch seine Tanker und Ölplattformen bzw. die seiner Kunden vor Piraten und Terroristen
am Horn von Afrika und im Persischen Golf schützen
und seine Grenzregionen gegen Terror jeglicher Art sicherer machen. Ich halte es für völlig legitim, dass
Saudi-Arabien das tut. Ich freue mich darüber, wenn
Saudi-Arabien dafür deutsche Technologie einsetzen
will.
({0})
Wir müssen uns einmal vor Augen führen, in welcher
Region Saudi-Arabien liegt;
({1})
diese Region ist ja nun alles andere als eine Insel der
Glückseligen: Hier liegen Afghanistan, Iran, Irak, Ägypten, Sudan, Somalia, und es gibt Stützpunkte des internationalen Terrorismus, zum Beispiel von Terrorgruppen
wie al-Qaida. Aber diese Region ist auch - das wissen
wir; deshalb sind auch wir selbst dort tätig - für den
Welthandel von herausragender Bedeutung. Die vielbefahrenen Handelsrouten, auf denen die Tanker das Öl
nach Europa und in die USA bringen, liegen in diesem
Raum und brauchen Schutz. Die Straße von Hormus vor
der Küste Irans und der Suezkanal zwischen dem Roten
Meer und dem Mittelmeer sind Achillesfersen des Öltransports. Durch die relativ schmalen Wasserstraßen
schleusen die Tanker einen Großteil des weltweit verbrauchten Öls, viele Millionen Barrel täglich. Wenn einer der angrenzenden Staaten oder Terrororganisationen
diese Wege blockieren, gehen bei uns die Lichter aus.
Deshalb ist es wichtig, dass dort Ordnung gehalten wird.
({2})
Wir sollten uns über jeden, der daran mitwirkt, freuen.
({3})
Dass die Piraterie in diesem Bereich ein großes Problem darstellt, sollte Ihnen nicht entgangen, sondern
aufgrund der allgemeinen Nachrichten und unserer Mitwirkung an den entsprechenden Mandaten durchaus geläufig sein. Saudi-Arabien hat in den zurückliegenden
Jahren nach Schätzungen 100 Millionen Dollar allein an
Lösegeld verloren, das man dort an Piraten zahlen
musste. Ich halte es für absolut legitim, dass SaudiArabien als souveräner Staat seine Küsten optimal schützen möchte; ich finde, wir müssen dafür Verständnis haben. Wenn deutsche Hightechfirmen dafür die geeigneten Gerätschaften haben und sie dorthin verkaufen
können, sollten wir sie dabei unterstützen. Das tun wir.
({4})
Wir können uns unsere Handelspartner natürlich nicht
immer aussuchen oder sie nach unseren Vorstellungen
malen. Aber wenn Sie sich einmal die Rolle SaudiArabiens in der Region anschauen, dann werden doch
wohl auch Sie konzedieren, dass Saudi-Arabien sowohl
beim Friedensprozess im Nahen Osten als auch beim
Antiterrorkampf auf unserer Seite stand.
({5})
Bei Einmischungen in die Innenpolitik anderer Staaten sollten wir uns eine gewisse Zurückhaltung auferlegen. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass nicht überall eine Situation herrscht wie bei uns in Westeuropa, wo
wir seit Jahrzehnten Frieden, Menschenrechte und
Rechtsstaatlichkeit haben.
({6})
Wenn wir das zur Voraussetzung für den Handel in der
Welt machen würden, hätten wir nicht mehr viele Partner.
({7})
Saudi-Arabien ist bei aller berechtigten Kritik an seiner
inneren Verfasstheit
({8})
- darüber brauchen wir nicht zu streiten; das ist doch
völlig klar - ansonsten ein stabiler Faktor für die Zusammenarbeit, ein stabilisierender Faktor im Nahen Osten
und insofern ein wichtiger Partner.
({9})
Nehmen Sie zum Beispiel die arabisch-israelische
Friedensinitiative von 2002. Damals war Abdullah noch
Kronprinz; heute ist er der König von Saudi-Arabien. Er
hat diese Initiative angestoßen.
({10})
Nehmen Sie den Schlichtungsversuch 2011 im Jemen.
Auch in Ägypten spielt Saudi-Arabien eine konstruktive
Rolle. Außerdem ist Saudi-Arabien Gründungsmitglied
und Sprachrohr der Arabischen Liga. Insbesondere in
seiner Politik gegenüber Syrien und beim NahostFriedensprozess agiert es hauptsächlich im Rahmen der
Beschlüsse der Arabischen Liga.
Im außenpolitischen Konzept der Bundesregierung
vom Februar 2012 mit dem Namen „Globalisierung gestalten - Partnerschaften ausbauen - Verantwortung teilen“ heißt es ganz konkret:
Kein Staat der Welt kann heute nur mit militärischen Mitteln oder allein für seine Sicherheit sorgen. Hierbei misst die Bundesregierung insbesondere der Entwicklung und weiteren Vertiefung
sicherheitspolitischer Partnerschaften mit Staaten in
entfernten Regionen sowie deren jeweiligen Regionalorganisationen ({11})
große Bedeutung zu.
Genau dafür steht auch hier Saudi-Arabien.
({12})
Deutschland hat in Sachen Export von Rüstungsgütern
hohe Hürden, hohe Standards.
({13})
Wir liefern keine Waffen an solche Länder, die weitläufig als Schurkenstaaten bezeichnet werden. Wir verkaufen keine Waffen an Regierungen, bei denen wir davon
ausgehen müssen, dass sie diese gegen ihre eigene Bevölkerung richten. Das spielt aber in diesem Kontext
überhaupt keine Rolle, weil wir von Booten reden.
Frau Brugger von den Grünen hat den Wirtschaftsminister zitiert, den Koalitionswunschpartner der Grünen.
({14})
Ich will jetzt auch einmal Sigmar Gabriel zitieren: Die
Debatte um die Bürgschaft sei nicht besonders ehrlich,
hat er gesagt; denn mit Patrouillenbooten könne man
nicht auf Plätzen die eigene Bevölkerung unterdrücken. Genau so ist das.
({15})
Ich will den Blick einmal zurückrichten auf die Zeit,
als die Grünen selbst Verantwortung trugen. Rot und
Grün haben zwischen 1998 und 2002 Genehmigungen
für Rüstungsexporte nach Saudi-Arabien im Wert von
125 Millionen Euro erteilt.
({16})
Darunter waren Teile für Feuerleiteinrichtungen, Kampfflugzeuge, Schießanlagen, Pistolen, Maschinenpistolen,
Herstellungsausrüstung für Maschinenkanonen usw.
({17})
In der zweiten Wahlperiode von Rot-Grün, von 2002 bis
2005, beliefen sich die Rüstungsexporte nach SaudiArabien, obwohl es nur drei Jahre waren, auf 130 Millionen Euro, darunter Pistolen, Gewehre, Scharfschützengewehre, Maschinenpistolen, Dekontaminationsausrüstung, Munition usw. usw.
({18})
Das sind also Oppositionsspielchen, mit denen uns die
Grünen heute Abend die Zeit stehlen.
({19})
Wir reden heute über Boote für den Küstenschutz. Ich
habe Ihnen gerade all das vorgelesen, wozu Sie Ja gesagt
haben. Ich will gar nicht kritisieren, wozu Sie Ja gesagt
haben; ich mahne nur ein bisschen Ehrlichkeit an: dass
Sie hier nicht den einen Tag so handeln und den nächsten
Tag anders reden.
({20})
Die zentralen Merkmale der deutschen Rüstungsexportpolitik sind seit Jahrzehnten konstant. Sie sind
ähnlich wie die Außenpolitik, wenn überhaupt, nur
geringfügigen Schwankungen unterworfen. Natürlich
haben wir auch ein kommerzielles Interesse: Wir wollen,
dass unsere Hightechfirmen mit dem Export Geld verdienen können.
({21})
Unsere Bundeswehr ist als Nachfrager inzwischen nämlich allein nicht mehr in der Lage, ihre Systemfähigkeit
in verschiedenen Bereichen zu erhalten. Wir müssen
deshalb versuchen, andere Märkte mit zu erschließen,
damit wir systemfähig bleiben und damit die Fähigkeit
zur Herstellung eigener Verteidigungstechnologie erhalten.
Zur Situation in Mecklenburg-Vorpommern: In der
Peene-Werft in Wolgast freut man sich auf diesen Auftrag; es geht um 1,4 Milliarden Euro. In einer Region,
die als strukturschwach zu bezeichnen ist und in der es
eine große Schiffbautradition gibt, freut man sich, dass
mit diesem Auftrag die Tradition fortgeschrieben werden kann. Das ist ein ganz wichtiger Punkt.
({22})
In Mecklenburg-Vorpommern betrug die Arbeitslosenquote im Januar 2014 13,2 Prozent. Die Firma Lürssen,
zu der die Peene-Werft in Wolgast, die den Auftrag bekommen soll, gehört, hat 1 400 Mitarbeiter. Allein durch
diesen Auftrag werden bis zu 500 Schiffbauer für mindestens zwei Jahre beschäftigt sein.
({23})
Das sind wichtige Argumente, finde ich; das sollte man
bei so einer Gelegenheit auch einmal erwähnen, ehe man
sich hier zu einer moralisch vermeintlich überlegenen
Position aufschwingt und die Dinge sehr einseitig beleuchtet.
({24})
Seien Sie froh, dass unsere Produkte - ob es Schiffe
sind, ob es Boote sind, ob es Panzer sind, ob es Haubitzen sind, ob es Pkw sind - in aller Welt gefragt sind. Wir
liefern Spitzentechnologie; darauf können wir stolz sein
als Deutsche. Wir sehen keinen Grund, warum wir die in
Aussicht gestellte Genehmigung für die Zusammenarbeit zwischen Saudi-Arabien und Lürssen infrage stellen
sollen. Wir freuen uns darüber.
Danke sehr.
({25})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Inge Höger, Die
Linke.
({0})
Wir wollen gar keine Rüstungsexporte!
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es sind
schon einige Zitate von Herrn Gabriel genannt worden.
Ich möchte noch ein anderes nennen. Noch vor kurzem
sagte er: „Es ist eine Schande, dass Deutschland zu den
größten Waffenexporteuren gehört.“ Dem kann ich nur
zustimmen. Umgekehrt sollte Herr Gabriel dem hier vorliegenden Antrag zustimmen - zumindest wenn er das,
was er verschiedentlich gesagt hat, ernst meint.
Selbst wer nicht grundsätzlich wie die Linke gegen
Rüstungsexporte ist, muss doch sehen, dass Waffenlieferungen an Saudi-Arabien falsch sind. Dagegen sprechen
sowohl die Menschenrechtslage als auch die Spannungen in dieser Region.
Die deutschen Rüstungsexportrichtlinien wurden
eben zitiert, aber nicht richtig. Sie sind hier nämlich eindeutig: Genehmigungen für Waffenexporte dürfen nicht
erteilt werden, wenn interne Repression und Menschenrechtsverletzungen zu befürchten sind oder wenn durch
zusätzliche Waffen bestehende Spannungen und Konflikte aufrechterhalten oder verschärft werden könnten. Beides trifft auf Saudi-Arabien zu. Deshalb ist mein
dringender Appell an die Bundesregierung: Nehmen Sie
wenigstens die eigenen Richtlinien ernst.
({1})
Waffenlieferungen in diese Region sind ein gefährliches Spiel mit dem Feuer. Auf Nachfragen erhielt ich
wiederholt die Antwort, Saudi-Arabien sei für die Bundesregierung ein wichtiger Partner bei der Lösung regionaler Konflikte. Saudi-Arabien ist aber Teil der regionalen Konflikte. Eine weitere Aufrüstung dieses Landes
bringt keine Lösung, sondern verschärft die Spannungen. Oder glauben Sie wirklich, dass eine Aufrüstung
Saudi-Arabiens den Iran zur Abrüstung motivieren
könnte?
Deutsche Waffengeschäfte beschleunigen die Aufrüstungsspirale im gesamten Nahen und Mittleren Osten.
Wir brauchen aber Initiativen für Abrüstung. Dazu gehört zum Beispiel die UN-Initiative für einen Nahen und
Mittleren Osten ohne Massenvernichtungswaffen.
({2})
Auch ich begrüße die arabische Friedensinitiative, die
König Abdullah 2002 angestoßen hat. Das könnte tatsächlich ein Weg zur Lösung des Nahostkonfliktes sein.
Ich weiß aber auch, dass sein Land Israel nach wie vor
nicht anerkannt hat. Ich habe mit Erschrecken die Satellitenbilder einer saudischen Raketenbasis zur Kenntnis
genommen, die der Telegraph im letzten Sommer veröffentlichte. Die dort stationierten ungelenkten Raketen
sind auf zwei Ziele ausgerichtet: auf Tel Aviv und auf
Teheran.
({3})
Mit diesem Land, das als Teil seiner Militärstrategie
auch Angriffe auf Israel plant, wollen Sie tatsächlich
Rüstungsgeschäfte machen? Ich finde das unerträglich.
({4})
Es ist wirklich peinlich, dass Saudi-Arabien inzwischen der wichtigste Abnehmer deutscher Waffen ist.
Dieses Geschäft mit dem Tod wird auch noch durch
staatliche Ausfallbürgschaften abgesichert. Ich frage Sie:
Warum hat die Lürssen-Werft überhaupt eine Hermesbürgschaft beantragt? Zweifelt sie an der Zahlungsfähigkeit des saudischen Königreiches? Wohl kaum!
Offensichtlich hält das Werftmanagement einen Zahlungsausfall aus politischen Gründen durchaus für möglich.
Niemand weiß, wie lange sich das repressive politische System in Saudi-Arabien noch an der Macht halten
kann. Doch mit umfangreichen Waffenlieferungen und
mit Überwachungstechnologie aus Deutschland können
sich die saudischen Eliten auf jeden Fall etwas sicherer
fühlen. Wenn der innenpolitische Druck eines Tages
doch zu stark wird, ist es für die Rüstungsunternehmen
ein sogenannter politischer Schadensfall. Für die saudische Bevölkerung ist das weniger schön. Das könnte einen blutigen Bürgerkrieg nach sich ziehen, bei dem
deutsche Panzer und deutsche Gewehre gegen Demonstrierende eingesetzt werden.
({5})
- Es geht um Panzer und Boote. Beides ist nicht notwendig, sondern erhöht nur die Spannung in dieser Region.
Ein Risiko für deutsche Rüstungsschmieden gibt es
allerdings nicht, weil hier die staatliche Hermesbürgschaft einspringt. Die Absicherung weltweiter Rüstungsgeschäfte durch Hermesbürgschaften muss endlich beendet werden.
({6})
Rüstungsgeschäfte sind menschenverachtend. Ich fordere die Regierung auf, ihre eigenen Ansprüche ernst zu
nehmen. Zu einer verantwortungsvollen Außenpolitik,
von der in der letzten Zeit immer viel gesprochen wurde,
gehört auch, Rüstungsgeschäfte mit Saudi-Arabien künftig nicht mehr durchzuführen. Außerdem bin ich für ein
Verbot von sämtlichen Rüstungsexporten, ganz egal in
welches Land.
({7})
Nächster Redner ist der Kollege Bernd Westphal,
SPD.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich hätte mir für meine erste Rede hier im
Deutschen Bundestag eine andere Tageszeit gewünscht.
Aber da ich einmal in einem Dreischichtbetrieb gearbeitet habe, bin ich Nachtschichten durchaus gewohnt.
({0})
Die Frage, ob Rüstungsgüter exportiert werden sollen, darf für Politiker nie eine leichte Entscheidung sein.
Jeder muss sich der Verantwortung und der Tragweite
seiner Entscheidung bewusst sein, gerade deshalb, weil
die Geschäftspartner oft in hochsensiblen Regionen zu
finden sind.
Der Export von Rüstungsgütern in Drittländer wird in
Deutschland restriktiv gehandhabt, und das ist gut so.
({1})
Die Grundlage für den Export bilden die „Politischen
Grundsätze der Bundesregierung für den Export von
Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern“, die übrigens von der damaligen rot-grünen Regierung beschlossen wurden und in der Fassung vom 19. Januar 2000
weiterhin Gültigkeit besitzen.
Auch im Koalitionsvertrag zwischen SPD und CDU/
CSU ist verankert, dass die Bundesregierung eine zurückhaltende und verantwortungsvolle Rüstungsexportpolitik betreibt.
({2})
Deutschland verpflichtet sich im Koalitionsvertrag,
keine Waffen an Länder, in denen Bürgerkrieg herrscht,
zu liefern. Auch Unrechtsregime erhalten deshalb keine
Waffen, die gegen die eigene Bevölkerung eingesetzt
werden können.
Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel hat diese Position
vor wenigen Tagen noch einmal bekräftigt und sich klar
für eine restriktive Haltung beim Waffenexport ausgesprochen.
({3})
Der Minister hat angekündigt, dass er für jedes Waffengeschäft eine Einzelfallprüfung vornehmen wird, und
rechnet insgesamt mit einem weiteren Rückgang von
Rüstungsexporten.
({4})
Deutsche Rüstungsexporte nach Saudi-Arabien sorgen immer wieder für kontroverse Diskussionen. Von
daher ist der Antrag der Grünen richtig; denn er ermöglicht es, dass es hier in diesem Hause eine Debatte darüber gibt.
Es steht außer Frage, dass sich Saudi-Arabien in den
letzten Jahren zu einem großen Absatzmarkt für deutsche Rüstungsexporte entwickelt hat. Der Rüstungsexportbericht 2012 zeigt, dass mehr als ein Viertel der genehmigten Lieferungen für Saudi-Arabien bestimmt war
- Aufträge mit einem Wert von insgesamt 1,2 Milliarden
Euro. Dazu gehört allerdings auch eine Anlage zur Sicherung der 9 000 Kilometer langen Grenze des Wüstenstaates. Allein dieses Geschäft hat ein Volumen von
1,1 Milliarden Euro. Daher muss man bei der politischen
Bewertung schon berücksichtigen, wann was an wen
und wohin geliefert wird.
Es ist also irreführend, sehr geehrte Kollegin Brugger,
wenn man alle Waffen in einen Topf wirft. Genau diesen
Fehler begehen aber die Grünen mit ihrem Antrag. In
dem Antrag wird gefordert, dass die Rüstungsexportgenehmigung für Saudi-Arabien aufgehoben werden soll,
berücksichtigt wird dabei aber nicht, dass eine Lieferung
von Patrouillenbooten an Saudi-Arabien ein völlig anderer Fall ist, als wenn es Leopard-2-Panzer wären.
({5})
Kann ich die Kritik an einer Lieferung von Leopard2-Panzern durchaus nachvollziehen, weil dabei eben
nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Panzer unter
Umständen gegen die eigene Bevölkerung einsetzt werden können, so stellt sich beim Verkauf von Patrouillenbooten die Situation völlig anders dar.
({6})
Die Boote sollen vor allem zur Erkundung und Aufklärung eingesetzt werden. Das saudi-arabische Innenministerium beabsichtigt, die Patrouillenboote zum Schutz
seiner Küsten im Roten Meer und im Arabischen Golf
einzusetzen. Da Saudi-Arabien ein souveräner Staat ist,
ist dies ein legitimer Wunsch. Saudi-Arabien hat darüber
hinaus auch eine hohe strategische Bedeutung für die
weltweite Energieversorgung. Die Boote sollen deshalb
auch Hoheitsgewässer, internationale Seewege, Offshoreöl- und -gasfelder sowie Hafenanlagen schützen.
Weitere beträchtliche Probleme stellen die in dieser
Region starke Piraterie und der latente Terrorismus dar,
wodurch die internationalen Seewege massiv beeinträchtigt werden. Ich erinnere an die Anstrengungen der internationalen Gemeinschaft, die Seewege vor den Küsten
Somalias zu schützen. Auch die Bundesmarine leistet
dort eine sehr gute Arbeit, um den Piraten und Terroristen Einhalt zu gebieten.
({7})
Saudi-Arabien könnte mit dieser Ausrüstung einen eigenen Beitrag zum Schutz vor diesen Gefahren leisten und
die internationalen Streitkräfte dabei unterstützen. Es
handelt sich hierbei also um legitime staatliche Aufgaben Saudi-Arabiens, die letztlich auch im deutschen und
internationalen Interesse sind.
Deutschland hat auch als Industrie- und Exportnation durchaus berechtigte Interessen. Die Verteidigungsund Sicherheitsindustrie in Deutschland ist mit fast
80 000 hochqualifizierten Arbeitskräften und mehreren
Hunderttausend Beschäftigten in der Zulieferindustrie
ein großer Beschäftigungsfaktor. Der Wunsch der saudiarabischen Regierung, Patrouillenboote von einem deutschen Hersteller zu erwerben, zeigt die hohe Qualität
und Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Verteidigungsund Sicherheitsindustrie.
({8})
Der Auftrag wird auch in ganz erheblichem Maße
zum Erhalt von Arbeitsplätzen an den Standorten der
Lürssen Werft und bei ihren Zulieferern beitragen. Die
positiven Arbeitsplatzeffekte betreffen insbesondere
strukturschwache Gebiete. Aber ich gebe Ihnen recht:
Das allein begründet nicht die politische Legitimation
der Lieferung. Es ist trotzdem ein wichtiges Argument.
Der Blick auf den Einsatzzweck der Boote rechtfertigt allerdings nach Ansicht der SPD-Fraktion diesen
Rüstungsexport. Es kann ausgeschlossen werden, dass
mit Patrouillenbooten gegen die eigene Bevölkerung
vorgegangen werden kann.
Allerdings halte ich eine Hermesbürgschaft für die
Lieferung der Boote aufgrund der wirtschaftlichen
Stärke Saudi-Arabiens für nicht erforderlich. Diese
Bürgschaft sollte die Bundesregierung neu bewerten. In
diesem Punkt ist die Formulierung im Antrag richtig. In
anderen Bereichen allerdings fallen die Formulierungen
weit hinter unsere Bewertung zurück.
Lassen Sie mich zum Schluss noch auf die Frage der
Parlamentsbeteiligung eingehen. Für die SPD steht fest,
dass wir die Transparenz bei diesen hochsensiblen Entscheidungen der Rüstungsexporte dringend erhöhen
müssen.
({9})
Dabei geht es ausdrücklich nicht um die Vermischung
zwischen Exekutive und Legislative. Das lässt schon das
Grundgesetz nicht zu. Die Verantwortung für Rüstungsexporte trägt allein die Bundesregierung. Wir müssen
aber dafür sorgen, dass das Parlament mehr Interventionsrechte erhält, verbunden mit größtmöglicher Transparenz.
Zwei Punkte sind dabei aus meiner Sicht besonders
bedeutsam:
Erstens. Es muss dem Parlament und der Öffentlichkeit grundsätzlich zeitnäher berichtet werden. Wir fordern deshalb die Veröffentlichung des jährlichen Rüstungsexportberichtes noch vor der Sommerpause des
Folgejahres und einen unterjährigen Zwischenbericht.
Zweitens. Über die abschließenden Genehmigungsentscheidungen im Bundessicherheitsrat soll die Bundesregierung den Deutschen Bundestag innerhalb einer
Frist von 14 Tagen informieren.
Diese Maßnahmen erhöhen zweifelsfrei die Transparenz und sollen - so beinhaltet es der Koalitionsvertrag in dieser Legislaturperiode umgesetzt werden.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Glück auf!
({10})
Das war die letzte Rede in dieser Debatte und zugleich die erste Rede des Kollegen Bernd Westphal, den
ich dazu beglückwünsche.
({0})
Ich bin zuversichtlich, dass er auch bald zu anderen Tageszeiten Reden halten wird.
Ich schließe damit die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/576 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Besonderheit ist
jedoch dabei, dass die Federführung strittig ist. Die
Fraktionen von CDU/CSU und SPD wünschen die Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Energie.
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht die Federführung beim Auswärtigen Ausschuss.
Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen - Federführung beim
Auswärtigen Ausschuss - abstimmen. Wer stimmt für
den Überweisungsvorschlag an den Auswärtigen Ausschuss? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? 1354
Vizepräsident Johannes Singhammer
Dieser Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen von
CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und der Linken abgelehnt.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen von CDU/CSU und SPD abstimmen, die Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Energie
anzusiedeln. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Damit ist der Antrag mit den Stimmen von CDU/CSU
und SPD gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und der Linken federführend an den Ausschuss für
Wirtschaft und Energie überwiesen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung angekommen.
Ich danke allen und berufe die nächste Sitzung des
Deutschen Bundestags auf morgen, Freitag, den 21. Februar, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.