Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Nehmen Sie bitte Platz . Die Sitzung ist eröffnet .
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie
herzlich .
Bevor wir in die Regierungsbefragung und anschließend in die Fragestunde eintreten, möchte ich gerne Ihre
Zustimmung zu einer interfraktionellen Vereinbarung
herbeiführen, nämlich den Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Buchpreisbindungsgesetzes auf
der Drucksache 18/8043 dem Ausschuss für Gesundheit
zur Mitberatung zu überweisen . Können Sie sich damit
anfreunden? - Das ist offenkundig der Fall . Da wird sich
der Ausschuss freuen, dass das mit diesem einmütigen
Votum des Plenums auch zu seiner Mitberatung überwiesen ist .
Denjenigen, die nach der Regierungsbefragung, zu der
wir gleich unter Tagesordnungspunkt 1 kommen werden,
an der Fragestunde beteiligt sind, will ich schon jetzt den
Hinweis geben, dass weit weniger als die Hälfte der eingereichten Fragen zur mündlichen Beantwortung übrig
geblieben sind, sodass diejenigen, die glauben, möglicherweise just in time zur Beantwortung ihrer Frage erscheinen zu können, vielleicht ein bisschen neu disponieren sollten, weil diese womöglich zügiger aufgerufen
wird, als man anhand der Papierform vermuten könnte .
Nun kommen wir zum Tagesordnungspunkt 1:
Befragung der Bundesregierung
Die Regierung hat als Thema der heutigen Kabinettssitzung den Berufsbildungsbericht 2016 angegeben .
Das Wort für den einleitenden fünfminütigen Bericht
hat die Bundesministerin für Bildung und Forschung,
Frau Dr . Wanka .
Ich darf jetzt schon bitten, soweit es absehbare Nachfragen aus den Fraktionen gibt, mir Hinweise zu geben,
um das vorab sortieren zu können .
Frau Ministerin, Sie haben das Wort .
Vielen Dank, Herr Präsident . - Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Wir haben heute früh im Kabinett
den Berufsbildungsbericht 2016 beraten . Man kann sagen - das vielleicht auch als Botschaft an die jungen
Leute, die heute hier sind -: Die Ausbildungschancen für
junge Leute sind derzeit in Deutschland so gut wie seit
über 20 Jahren nicht mehr . Wir haben mehr als 522 000
abgeschlossene Ausbildungsverträge, und es sind noch
41 000 Stellen offen . 41 000 Stellen warten auf junge
Leute, die Interesse daran haben, eine Ausbildung zu beginnen .
Auf der anderen Seite haben rund 21 000 junge Leute - die genaue Zahl steht im Bericht - noch keine oder
noch nicht die richtige Ausbildung gefunden . Das ist eines der Probleme, an deren Lösung wir seit Jahren arbeiten, nämlich dass die Wünsche der Jugendlichen zu
den Möglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt passen müssen .
Viele unserer Instrumente - über einige werden wir ja
heute in der Befragung vielleicht auch reden - sind darauf ausgerichtet, dies passend hinzubekommen und den
jungen Leuten zu zeigen, wie vielfältig die Berufsmöglichkeiten und wie interessant die unterschiedlichen Berufe sind .
Die Zahl der Ausbildungsverträge ist annähernd so
hoch wie im letzten Jahr - nur ein klein wenig niedriger. Ein Grund dafür ist natürlich die demografische Entwicklung . Wenn wir in der Bundesrepublik Deutschland
insgesamt wesentlich weniger junge Leute haben, die in
einen Ausbildungsberuf gehen können, dann macht sich
das auch an der Zahl der Ausbildungsverträge bemerkbar . Zum anderen haben wir in den letzten Jahren natürlich auch ein gestiegenes Interesse am Studium bemerkt .
Was für uns kritisch ist und uns Sorgen macht, ist die
Tatsache, dass die Ausbildungsbetriebsquote, das heißt
die Zahl der Betriebe, die ausbilden, verglichen mit der
Gesamtzahl der Betriebe, gesunken ist . Wir liegen derzeit
bei etwa 20 Prozent . Der Schnitt lag über viele Jahre bei
25 Prozent . Die Ausbildungsbetriebsquote ist seit 2009
gesunken . Wenn man genauer hinschaut, dann stellt man
fest: Es sind nicht die großen und mittleren Betriebe diese bilden mehr oder auf gleichem Niveau aus -, sondern es sind vor allen Dingen die kleinen und kleinsten
Betriebe, die nicht mehr ausbilden - zum Teil auch aus
Resignation, weil sie über Jahre keinen Lehrling, keinen
Auszubildenden mehr bekommen haben .
Wir waren und sind stolz, dass es uns gelungen ist, die
Zahl der jungen Leute, die im Übergangssystem sind darin waren einmal über 400 000 junge Leute -, Schritt
für Schritt jedes Jahr zu senken, und zwar um insgesamt
165 000 . Jetzt sind erstmals nach einer Reihe von Jahren
mehr junge Leute im Übergangssystem, nämlich 7 Prozent . Nach Auswertungen des BIBB handelt es sich um
junge Flüchtlinge, die zu uns gekommen sind und sich
jetzt im Übergangssystem in einer schulischen Fortbildung befinden. Das Übergangssystem ist ja das System,
was jungen Leuten, die noch nicht ausbildungsreif sind,
die Möglichkeit zur Ausbildungsreife bieten soll . Deswegen sind sie, glaube ich, an dieser Stelle ganz richtig
aufgehoben .
Wenn man sich die Zahlen genauer anschaut, dann
stellt man außerdem fest: Vor allen Dingen bei den Jugendlichen mit ausländischer Staatsangehörigkeit - ich
meine jetzt nicht die jungen Flüchtlinge, die gekommen
sind, sondern die Jugendlichen mit Migrationshintergrund, bei denen zum Teil schon die Eltern oder Großeltern nach Deutschland gekommen sind - nehmen zurzeit,
obwohl es Steigerungen gab, nur rund 31 Prozent eine
berufliche Ausbildung auf. Bei den deutschen Jugendlichen sozusagen sind es 56 Prozent . Deswegen sind
Maßnahmen wie die KAUSA-Servicestellen für uns sehr
wichtige Instrumente, um die Zahlen in diesem Bereich
zu verbessern . Wir werden die Zahl der 13 KAUSA-Servicestellen in diesem Jahr verdoppeln, um sehr viel mehr
junge Leute und junge Unternehmer mit Migrationshintergrund zu erreichen .
Insgesamt kann man sagen, dass die Maßnahmen, die
wir in der Allianz für Aus- und Weiterbildung vereinbart haben, greifen . Wir haben zum Beispiel 5 000 junge
Menschen in einer assistierten Ausbildung . Wir treiben
Dinge wie Bildungsketten in starkem Maße voran . Das
ist immer noch das beste Instrument, um für eine berufliche Ausbildung zu werben und richtige Entscheidungen
herbeizuführen .
Letzte Bemerkung: Eine unserer großen Aktivitäten - eine Maßnahme unseres Hauses gemeinsam mit
dem Zentralverband des Deutschen Handwerks und der
Bundesagentur - ist ein Programm, das 10 000 junge
Leute, junge Flüchtlinge, in Ausbildung, in handwerkliche Berufe, bringen soll . Es gibt 41 000 unbesetzte Stellen . Wenn es uns wirklich gelingt, 10 000 dieser jungen
Flüchtlinge in eine handwerkliche Ausbildung zu bringen, dann geht es um eine Größenordnung, die all das
übertrifft, was wir durch viele Einzelinitiativen bisher erreicht haben . Darum ist das, wie ich glaube, eine Chance,
die wir nutzen sollten, und damit kann sich die Lage in
einer Situation, in der wir mehr Fachkräfte brauchen, in
eine positive Richtung entwickeln .
Herzlichen Dank . - Wir beginnen jetzt mit den Nachfragen . Die erste Nachfrage stellt Frau Hein .
Vielen Dank . - Frau Ministerin, ich gebe zu, dass ich
die positive Sicht, die Sie versucht haben zu verkünden,
nicht so ganz teilen kann; denn aus den Daten und Zahlen, die uns bisher zugänglich waren, bzw . aus Zeitungsberichten oder Pressemitteilungen ist zu entnehmen, dass
es an den signifikanten Stellen, über die wir in den letzten Jahren immer wieder geredet haben, lediglich Veränderungen von unter 1 Prozent gibt, und das seit dem
Jahre 2012 . Deswegen können wir nicht von einer Verbesserung reden - wir würden es zumindest nicht tun -,
sondern eher von einer Stagnation .
Unter diesem Gesichtspunkt stellt sich für mich die
Frage: Vor kurzem wurde der Bericht zur Evaluation des
Berufsbildungsgesetzes veröffentlicht . Auch die Bundesregierung ist zu dem Schluss gekommen, dass es nur
marginaler Veränderungen bedarf . Ich würde Ihnen gern
die Frage stellen, wieso wir unter diesen Gesichtspunkten, wo wir doch einen erheblichen Handlungsbedarf
haben - das haben Sie zum Teil selbst gesagt -, einen
geringen Novellierungsbedarf beim BBiG haben sollen .
Danke schön .
Frau Hein, Sie haben von Stagnation gesprochen . Worauf beziehen Sie das? Auf die Zahl der Ausbildungsverträge?
Ja, 0,1 Prozent .
Ja . - Man überlege sich einmal, dass in dem Zeitraum von 2006 bis 2015, in dem das untersucht wurde,
die Zahl der jungen Menschen, die die Schule verlassen
und damit überhaupt in eine Ausbildung gehen könnten,
um 14 Prozent zurückgegangen ist . Wenn man einmal
diejenigen herausrechnet, die eine Studienberechtigung
haben, und diejenigen nimmt, die keine Studienberechtigung haben - das sind ja in allererster Linie diejenigen,
auf die wir im Ausbildungssystem warten -, dann sieht
man, dass seit 2006 die Zahl der infragekommenden jungen Leute um 22 Prozent zurückgegangen ist, die Zahl
der Ausbildungsverträge um 9 Prozent . Daran sieht man,
dass es dort eine enorme Kraftanstrengung von allen beteiligten Seiten gibt - die spürt man -, und das würde
ich nicht als Stagnation bezeichnen . Das muss man, auch
wenn man in der Opposition ist, fairerweise registrieren .
Sie haben außerdem von der Evaluation des Berufsbildungsgesetzes gesprochen . Den Schluss, dass das
Berufsbildungsgesetz beispielsweise die Ursache der
Passungsprobleme ist, kann ich überhaupt nicht teilen .
Ich denke, wir werden über die Notwendigkeit einer
Novellierung diskutieren . Aber dafür, dass das Gesetz
novelliert werden muss, weil es an ihm liegt, dass es zu
Passungsproblemen kommt, sehe ich kein Indiz .
Rainer Spiering .
Frau Ministerin, herzlichen Dank für den Berufsbildungsbericht . Sie haben bei einem Unterpunkt die
Flüchtlinge erwähnt und gesagt, dass sie jetzt vorrangig
an Schulen unterrichtet werden . Ich möchte vorwegschicken: Wir haben heute Morgen ein Gespräch mit VW gehabt . Es ging auch darum, wohin es in Zukunft geht . Da
wird es um die große Frage der Digitalisierung gehen .
Eine zentrale Rolle im Rahmen der Berufsausbildung - ich glaube, da sind wir uns alle einig - spielt der
Lernstandort Berufsschule, vielleicht sogar die zentralste
Rolle . Vor dem Hintergrund der Herausforderungen der
Zukunft - Stichwort „Digitalisierung“, aber auch die
vielen Menschen, die frohen Mutes nach Deutschland
kommen - würde ich gerne wissen: Was plant die Bundesregierung im Bereich der Berufsausbildung, auch vor
dem Hintergrund, dass Länder mit der Bewältigung dieser großen Herausforderungen völlig überfordert sind?
Was machen wir im Rahmen der universitären Berufsschullehrerausbildung? Wie fördern wir sie? Wo stehen
wir da?
Herr Kollege .
Und was plant die Regierung, um der Herausforderung „Digitalisierung des Lernstandortes Berufsschule“
gerecht zu werden?
Frau Ministerin .
Vielen Dank . - Die universitäre Berufsschullehrerausbildung ist ein Punkt, dem wir bei der Qualitätsoffensive Lehrerbildung besondere Aufmerksamkeit gewidmet
haben . Das ist ja ein Programm, bei dem es nicht darauf ankommt, die Länder zu entlasten, die natürlich die
Hauptlast der Lehrerausbildung tragen, sondern bei dem
es darum geht, neue Wege zu erproben, zum Beispiel hinsichtlich der Frage, wie man die Digitalisierung in der
Lehrerausbildung, auch in der Berufsschullehrerausbildung, verankern kann . Ich glaube, mehr als die Hälfte
der Projekte, die dort eingereicht wurden, beschäftigt
sich mit diesem Thema, auch im Hinblick auf die Berufsschulen . Ich will aber nicht verhehlen, dass ich mir noch
mehr konkrete Projekte gerade im Bereich der Berufsschullehrerausbildung gewünscht hätte, weil wir schon
seit Jahren Probleme haben, überhaupt geeignete junge
Leute zu finden, die sich für dieses Studium bewerben. Das ist also ein Aspekt, der für uns sehr wichtig ist .
Das, was wir im Bereich der überbetrieblichen Ausbildungsstätten machen, gehört zu den Maßnahmen, die wir
im Rahmen unserer Kompetenzen durchführen können .
Dort können wir mit Geld fördern, dort können wir mit
Know-how fördern .
Frau Ministerin .
Wir wollen aber auch die betrieblichen Ausbilder im
Bereich der Medieninformatik fit machen. Wir haben
Projekte, in deren Rahmen wir jetzt ungefähr 1 200 Ausbilder in diesem Bereich weiterbilden . Das sind Bereiche, in denen die Bundesregierung Akzente setzt - aber
natürlich nicht im Bereich der Berufsschulen, der in der
originären Verantwortung der Länder liegt; da haben wir
keinen Zugriff .
Gut .
Aber in der Hinführung und auch in der Ausbildung
der Berufsschullehrer und eben dann vor Ort, da sind wir
als Bundes -
Vielen Dank . Wir hatten jetzt eine etwas längere Frage
und eine folgerichtig etwas längere Antwort . Aber da es
viele Nachfragen gibt, würde ich noch einmal darum bitten, dass wir uns um die Einhaltung der Grenze von einer
Minute bemühen . - Frau Walter-Rosenheimer .
Sehr geehrte Frau Ministerin, Sie haben vorhin selbst
erwähnt, dass viele Betriebe mittlerweile davon absehen,
auszubilden, dass die Ausbildungsquote jetzt bei circa
20 Prozent liegt, nachdem es über Jahre hinweg 25 Prozent waren, und es vor allem kleine und Kleinstunternehmen sind, die sich da ausklinken . Meine Frage an Sie
ist, ob Sie sich von einer Stärkung der überbetrieblichen
Ausbildung versprechen würden, dass diese kleinen Betriebe und Kleinstunternehmen wieder Interesse an der
Ausbildung gewinnen und sich dann vorstellen können,
da wieder mitzumachen . Also, sehen Sie darin einen
Weg?
Ja, sehe ich auf jeden Fall . Wir versuchen auch, die
kleinen und kleinsten Betriebe zu stärken - das Problem ist ja nicht neu -, und haben zum Beispiel in einem Programm die Möglichkeit eröffnet, auch Verbundausbildung zu ermöglichen, also dass mehrere Betriebe
gemeinsam die Ausbildung zum Beispiel eines Drehers
realisieren . Die außerbetrieblichen Ausbildungsstätten
sind ein ganz wichtiges Element, um die Betriebe zu
motivieren und ihnen zu zeigen: Wenn die jungen Leute
dort ausgebildet werden, dann können sie mehr als der
Meister im Betrieb, vor allen Dingen im Hinblick auf Informatik und Digitalisierung .
Katrin Albsteiger .
Frau Ministerin, herzlichen Dank für Ihren Bericht .
Ich denke, dem Bericht ist durchaus zu entnehmen, dass
es die eine oder andere Herausforderung gibt, den einen
oder anderen Punkt, auf dem wir noch aufbauen müssen,
auch politisch . Auf der anderen Seite wird aber durchaus
auch bestätigt, dass unsere politische Arbeit erfolgreich
gewesen ist . Wir sehen auch an der niedrigen Jugendarbeitslosigkeitsquote in unserem Land, dass die berufliche
Bildung ein Erfolgsmodell ist . Mich würde interessieren,
in welcher Art und Weise sich die Bundesregierung einsetzt, um auch in anderen europäischen Ländern dabei
unterstützend tätig zu sein .
Es gab in den letzten Jahren nicht nur ein großes Interesse vonseiten anderer Länder in Europa, sondern auch
vonseiten Chinas oder auch der amerikanischen Ministerin jetzt auf der Messe in Hannover an der dualen Ausbildung . Wir versuchen, diesem großen Interesse Rechnung
zu tragen, indem wir alle, die damit befasst sind - ob das
nun das Auswärtige Amt ist, ob das die Kammern sind -,
an einen von uns koordinierten runden Tisch zu bringen
und dort zu besprechen, wie zum Beispiel Griechenland
oder anderen Ländern, die daran Interesse haben, das
System der dualen Ausbildung zu vermitteln ist . Wir haben dafür beim BIBB in Bonn eine Anlaufstelle mit mittlerweile ungefähr 17 Mitarbeitern eingerichtet, die sich
professionell um das Thema kümmern .
Es geht nicht darum, dass wir unser duales Ausbildungssystem eins zu eins auf China übertragen . Vielmehr
soll entschieden werden: Welche Elemente unserer dualen Ausbildung passen zu dem dortigen System, um die
besondere Verbindung von betrieblicher und schulischer
Bildung zu realisieren?
Auch auf europäischer Ebene haben wir Abkommen
geschlossen, um die duale Ausbildung beispielsweise
nach Spanien oder in andere Länder zu übertragen . Man
muss sagen: Unsere Firmen im Ausland, vor allem die
größeren, versuchen immer, dort duale Ausbildung anzubieten .
Frau Binder .
Vielen Dank, Herr Präsident . - Frau Ministerin, zum
30 . September 2015 gab es 20 700 unversorgte Jugendliche . Die Allianz für Aus- und Weiterbildung hatte damals versprochen, wer bis dahin noch nicht vermittelt
oder versorgt sei, solle von der BA drei Stellenangebote
bekommen . Ich wüsste jetzt gerne: Wie viele dieser jungen Menschen haben tatsächlich Angebote erhalten, noch
dazu drei Stück? Ich wüsste, wenn möglich, auch gerne:
Wie viele davon konnten denn vermittelt werden?
Die Zahlen liegen uns nicht vor, das ist auch nicht so
einfach nachzuverfolgen . Aber im Rahmen der Allianz
für Aus- und Weiterbildung sind wir mit dem Arbeitsministerium, das in Bezug auf diesen Part mehr Einsichtsmöglichkeiten hatte, auf einem guten Weg .
Ich kann sagen, dass die Wirtschaft im Jahr 2015
7 300 zusätzliche Ausbildungsstellen zur Verfügung gestellt hat und dass es im März dieses Jahres im Vergleich
zum März 2014 20 000 Ausbildungsstellen mehr gab .
Kollege Rossmann .
Frau Ministerin, ein Erfolg ist ja auch, dass Bund
und Länder zusammen mit den Tarifpartnern erreicht
haben, dass die Zahl der Jugendlichen im sogenannten
Übergangssystem deutlich zurückgegangen ist, von über
400 000 auf 250 000 . Ich frage mich, ob wir nicht besser
statt von einem Übergangssystem von einem Einstiegssystem sprechen sollten, um der Denunziation, dass es
dabei nur um Warteschleifen geht, schon vom Begriff her
entgegenzutreten . Deshalb meine Frage: Haben Sie Ideen, wie man das Einstiegssystem alias Übergangssystem
verbessern bzw . so ausrichten könnte, dass am Ende noch
mehr junge Menschen einen direkten Einstieg in eine
vollwertige Berufsausbildung erreichen?
Ja, Herr Rossmann . - Wir wissen ja, dass „Übergangssystem“ einmal die richtige Vokabel war, weil es in einer
Zeit, in der es bundesweit zu wenige Ausbildungsplätze gab, eigentlich ein Zwischenparken war . Wir wissen
auch, dass die unterschiedlichsten Dinge im Übergangssystem stattgefunden haben .
Unser Ziel ist, dass es ein Einstiegssystem für diejenigen wird, die wirklich der Unterstützung bedürfen . Wenn
die Gruppe von Jugendlichen nicht zu groß oder zu heterogen ist - als Beispiel sind jene zu nennen, die schon
eine Ausbildung haben, aber noch etwas Weiteres suchen -, dann ist es möglich, es noch mehr zu strukturieren . Derzeit haben wir ein sehr breitgefächertes Angebot,
wobei wir in den Beratungen mit den Ländern natürlich
immer auf das, was die Länder an der Stelle für eine optimale Lösung hielten, Rücksicht genommen haben . Aber
wenn es sich auf die Kerngruppe konzentriert, dann kann
es, glaube ich, auch strukturierter, also so, wie es Ihnen
vorschwebt, gestaltet werden .
Frau Pothmer .
Das passt ja . Bei meiner Frage geht es auch um das
Übergangssystem . Frau Wanka, Sie haben in Ihrer letzten
Haushaltsrede schon prognostiziert, dass die Zahl der Jugendlichen im Übergangssystem wieder anwachsen würde . Das hat mich, ehrlich gesagt, mit tiefer Sorge erfüllt;
denn wir wissen ja, dass das Übergangssystem - das
wissen wir aus den gemachten Erfahrungen, das wissen
wir durch Evaluierungen - die an es gesetzten Erwartungen bei weitem nicht erfüllt, nämlich die Jugendlichen
tatsächlich der Ausbildungsreife näherzubringen . Im
Gegenteil: Das Übergangssystem wirkt eher demotivierend . Man kann zusammenfassend sagen: Es ist teuer und
schlecht .
Deswegen finde ich es hochgradig bedauerlich, dass
wir in dieser Situation die Jugendlichen in dem, wie Sie
ja selbst sagen, zumindest noch sehr breiten Angebot
zwischenparken . Ich hätte von Ihnen deswegen gerne
ein paar konkretere Hinweise darauf, wie Sie das Übergangssystem tatsächlich zu einem System des Einstiegs
auf dem Weg zu einer abgeschlossenen Berufsausbildung
entwickeln wollen .
Ich muss Sie korrigieren . Ich habe nicht gesagt, dass
wir da jetzt junge Leute parken, sondern ich sagte, dass
wir zeitweise - zum Beispiel zu Ihrer Regierungszeit
war es so - eine hohe Anzahl an jungen Leuten in diesem Übergangssystem hatten . Da gab es wirklich viele
Parkmöglichkeiten . Wir haben uns seit Jahren intensiv
bemüht, sie zu reduzieren . Das ist auch gelungen - aber
noch nicht hinreichend .
Der jetzige Anstieg ist auf die Tatsache zurückzuführen, dass man, was ich gut finde, sich um diese Jugendlichen bemüht und sie zumindest in eine schulische Vorbereitung im Hinblick auf eine Ausbildung bringt .
Ansonsten glaube ich, dass die Maßnahmen, die wir
auch in der Allianz verabredet haben, wie die assistierte
Ausbildung oder die Begleitung von Jugendlichen, wenn
sie nicht gleich in der Ausbildung Tritt fassen, durch ehrenamtliche Lotsen und andere, Wege sind, um etwas zu
erreichen . Und damit die Jugendlichen nicht sozusagen
ellenlang auf eine Ausbildung warten, vermitteln wir
ihnen im Übergangssystem zielgerichtet die Qualifikationen, die ihnen fehlen - etwa ein fehlender Berufsabschluss oder ähnliche Dinge -, oder Qualifikationen in
Richtung Digitalisierung, die neuerdings für viele Berufe
gebraucht werden und vielfach nicht vorhanden sind .
Thomas Feist .
Frau Ministerin, vielen Dank für den Berufsbildungsbericht . - Ich, und nicht nur ich, habe den Eindruck, dass
die berufliche Bildung nicht nur Ihnen, sondern auch Ihrem Haus verstärkt am Herzen liegt . Das freut mich sehr,
weil die berufliche Bildung neben der akademischen Bildung eine ganz wesentliche Grundlage dafür ist, wie wir
in Deutschland dastehen .
Zwei Fragen habe ich konkret .
({0})
Bei meiner ersten Frage geht es darum, dass die kleinen
und Kleinstbetriebe kaum noch ausbilden . Hängt das
vielleicht auch damit zusammen, dass wir 2004 viele
Meisterberufe, also Berufe, bei denen ein Meistertitel
für die Übernahme eines Betriebes notwendig war, abgeschafft haben und somit die entsprechenden Betriebe
überhaupt nicht mehr ausbilden? Gibt es da vielleicht
Handlungsbedarf?
Bei meiner zweiten Frage geht es um die Informationskampagne. Ich finde es wichtig, auch jungen Leuten
zu vermitteln: Berufliche Bildung ist etwas wert. - Sie
haben dazu auch etwas gesagt . Inwiefern könnte man
denn die besonders begabten jungen Leute in der beruflichen Bildung, die beispielsweise bei den EuroSkills oder
bei den WorldSkills sehr erfolgreich sind, als authentische Botschafter einsetzen? Denn wenn nur die Politik
das macht, wird das nicht den gewünschten Erfolg haben .
Das müssen gleichaltrige junge Menschen machen .
Ja, das ist ein Problem in Betrieben . Für eine Ausbildung ist im Handwerk ein Meister notwendig . Für die
Berechnung der Ausbildungsbetriebsquote werden alle
Betriebe gezählt, also auch die, die gar nicht ausbildungsberechtigt sind . Der Anteil hat sich natürlich erhöht
aufgrund dieser Entscheidungen, die wir beide und viele
andere in diesem Raum bedauern .
Was die Informationskampagne betrifft, denke ich:
Es wirkt immer am besten, wenn Gleichaltrige werben,
also hier junge Leute, die in der beruflichen Bildung
sind . Dass da die besonders Leistungsstarken von uns
noch stärker eingespannt oder genutzt werden sollen,
ist eine der Überlegungen in unserem Haus . Wir haben
heute eine neue Informationskampagne gestartet, bei der
wir uns sehr stark daran orientiert haben, dass die jungen
Menschen sehr stark über Facebook und ähnliche Informationskanäle miteinander kommunizieren . Wir hoffen,
dass das auch ein Beitrag ist, um deutlich zu machen, wie
attraktiv duale bzw . betriebliche Ausbildung in Deutschland ist .
Kai Gehring .
Frau Ministerin, die Hälfte der nach Deutschland Geflüchteten ist bekanntlich unter 25 Jahre jung. Das heißt,
es geht um mehr als eine halbe Million junger Menschen . Gerade haben Sie einmal mehr verkündet, dass
bei der Qualifizierungsinitiative „Wege in Ausbildung
für Flüchtlinge“ das BMBF mit ZDH und BA zusammen Geflüchtete so unterstützen wollen, dass sie einen
von 10 000 angekündigten zusätzlichen neuen Ausbildungsplätzen erhalten . Uns interessiert natürlich sehr:
Wie hat sich dieses Programm entwickelt? Angesichts
der genannten Zahlen kann das ja nicht alles sein . Was
tun Sie darüber hinaus, um Flüchtlinge in Ausbildung zu
vermitteln und sie dort auch zu einem entsprechenden
Ausbildungserfolg zu führen?
Herr Gehring, als ich einmal las, was Ihre Fraktion
sich wünscht, habe ich mir dabei gedacht: „Die Grünen
kannten unser Programm ‚Wege in Ausbildung‘ schon
vorher“, weil Sie viele Elemente dieses Programms angesprochen haben . Dieses Programm ist zum 1 . April
dieses Jahres gestartet . Es tut mir leid, aber ich kann jetzt
noch keinen Zwischenbericht dazu liefern, wie es sich
gestaltet . Wichtig ist aber, wie viele Ausbildungsplätze
vom Handwerk zur Verfügung gestellt werden; denn das
Programm funktioniert nur - das ist die Bedingung -,
wenn konkrete Ausbildungsplätze zur Verfügung gestellt
werden . Ein Ausbildungsbetrieb muss sagen: Ich möchte
gerne einen jungen Flüchtling als Auszubildenden . - Das
waren auf Anhieb über 2 700 Betriebe, glaube ich . Diese
Zahl wird jetzt natürlich gesteigert .
Darüber hinaus leisten wir eine Vielfalt von Dingen .
Zum Beispiel ist es im Rahmen des Anerkennungsgesetzes - Stichwort „Validierung“ - möglich, dass Fertigkeiten von jungen Flüchtlingen, die keinen Abschluss
haben - haben sie ja in der Regel oft nicht, weil es in
ihren Herkunftsländern keine Ausbildung gibt und sie
nur über eine Grundbildung verfügen -, aber praktische
Fähigkeiten besitzen, weil sie zum Beispiel jahrelang in
einer Schmiede oder Schusterei gearbeitet haben, auf Basis des Systems, das wir jetzt bundesweit gemeinsam mit
den Kammern entwickeln, im Rahmen einer Ausbildung
berücksichtigt werden, wenn die Jugendlichen einen
entsprechenden Abschluss erwerben wollen . Zum Teil
können Sie sogar gleich einen entsprechenden Abschluss
bescheinigt bekommen .
Alles, was wir in den Bereichen Sprache und Integration machen,
Redezeit!
Okay .
Den Satz können Sie natürlich zu Ende sprechen .
({0})
- jetzt war ich ganz diszipliniert, und dann passt es
auch wieder nicht - sind Maßnahmen auf dem Wege
dorthin .
Sehr schön . - Sven Volmering .
Frau Ministerin, vielen Dank auch von meiner Seite
für den Bericht . Mich würde interessieren, wie Sie die
Entwicklung des Ausbildungsmarktes im nächsten Ausbildungsjahr einschätzen, um auch einmal einen Blick in
die Zukunft zu werfen .
Im März eines jeden Jahres werden vorläufige Zahlen
veröffentlicht . Wenn man die Zahlen dieses Jahres mit
den Zahlen aus 2015 vergleicht, sieht man, dass sich die
Tendenz, die wir derzeit haben, fortsetzt . Das heißt, die
Relation zwischen offenen Stellen und Bewerbern wird
aus Sicht der jungen Leute noch besser . Die Zahl der
angebotenen Ausbildungsstellen ist erheblich größer geworden . Diese Entwicklung bricht also nicht ab, sondern
diese Tendenz setzt sich nach den ersten Zahlen, die für
2016 vorliegen, fort .
Frau De Ridder .
Vielen Dank, Frau Ministerin . - Gestern war der Tag
des Brotes . Wir hörten allenthalben, dass auch die Bäcker
Probleme haben, Auszubildende zu gewinnen . Sie haben
eben völlig zu Recht zwischen Bildungsinländerinnen
und Bildungsinländern und geflüchteten Jugendlichen,
die möglicherweise hier in Ausbildung kommen wollen,
differenziert . Sie sahen in diesen jugendlichen Flüchtlingen auch eine Zielgruppe für das Handwerk . Mich würde
vor dem Hintergrund Ihrer Sicht auf den Ausbildungsmarkt interessieren, was Sie für die Qualitätsoffensive
Lehrerbildung zu tun gedenken, und zwar nicht nur mit
Blick auf die Berufsschullehrer, sondern auch mit Blick
auf grundsätzliche didaktische Überlegungen . Das Thema „Digitalisierung“ haben Sie erwähnt . Ich bin sicher,
Sie haben noch weitere gute Ideen .
Die Qualitätsoffensive Lehrerbildung ist ein Wettbewerb . Der Bund zahlt eine halbe Milliarde, die Länder
null . Dieser Wettbewerb läuft . Das heißt, wir sagen nicht:
„Ihr müsst das und das machen“, sondern im Rahmen
dieses offenen Wettbewerbs gehen verschiedene Anträge
ein, in denen es zum Beispiel darum geht, wie wir für eine
bessere Inklusion in der Grundschule sorgen können, wie
wir die berufliche Ausbildung betriebsnäher gestalten
können oder wie wir die Digitalisierung fördern können .
Diese Anträge sind wissenschaftlich bewertet worden,
und dann wurde der Zuschlag erteilt . Das läuft jetzt . Und
es besteht die Verpflichtung, Best-Practice-Beispiele
flächendeckend umzusetzen. Man bekommt also nicht
Geld, um etwas nur zu erproben, sondern wenn man
sagt: „Das ist gut“, dann muss das auch in die Curricula
der unterschiedlichen Lehrerbildungsinstitutionen übernommen werden . Ich kann also nicht vorschreiben, was
genau gemacht werden soll . So war das nicht gedacht .
An dieser Stelle muss man auf die Kreativität und den
Intellekt der Betreffenden vertrauen .
Kollege Mutlu . - Er rechnet noch gar nicht damit,
dranzukommen .
({0})
Herr Präsident, danke . Ich habe wirklich nicht damit gerechnet, dass ich so schnell drankomme . - Meine
Frage an die Ministerin lautet: Welchen Beitrag will die
Bundesregierung zur Erreichung der Ziele des Dresdener
Bildungsgipfels leisten, insbesondere im Hinblick auf
das Ziel der Halbierung der Zahl der Schulabbrecher und
der Zahl der jungen Menschen ohne Berufsausbildung?
Herr Mutlu, auf dem Dresdener Bildungsgipfel wurden ja bestimmte Zielzahlen formuliert, zum Beispiel,
wie Sie sagten, die Halbierung der Zahl der Schulabbrecher . Man kann feststellen, dass die relevanten Indikatoren und Kenngrößen für alle Ziele, die man sich vorgenommen hat, in die richtige Richtung weisen: weniger
Schulabbrecher, mehr Studium und Lehre und anderes .
Nicht in jedem Fall ist die Zielzahl erreicht, wobei sich
der Gipfel auf das Jahr 2015 bezieht . Es muss also erst
noch einmal genau evaluiert werden, wie viel wir bis zu
dem Zeitpunkt erreicht haben . Der Gipfel hatte den Effekt, dass sich jede dieser Größen verbessert hat,
({0})
dass also die Indikatoren von allen Ländern - es geht ja
auch viel um das Schulsystem - sehr viel stärker angenommen wurden . Für mich ist der Bildungsgipfel also
ein ganz wichtiges Instrument gewesen, um die Bildungsrepublik Deutschland ein Stück voranzubringen .
Uwe Schummer .
Bei meiner Frage geht es um junge Menschen, die
eine Hochschulausbildung beginnen und dann während
des Studiums erkennen, dass eine berufliche duale Ausbildung für sie doch besser wäre . Welche Instrumente
gibt es, um Kompetenzen von Studienabbrechern in der
dualen Berufsausbildung anzuerkennen und die Ausbildungsmöglichkeiten zu beschleunigen?
Ich habe mir das angeschaut . Meist konzentrieren wir
uns darauf, wie man den Schwächsten helfen kann, dass
sie doch noch eine Ausbildung machen und abschließen .
Viel zu wenig im Blick der gesamten Wirtschaft sind die
jungen Leute, die pfiffig sind, die ein Studium beginnen
und es dann aus verschiedenen Gründen, zum Beispiel,
weil es sie langweilt oder weil es im Privatleben Veränderungen gibt, abbrechen . Deswegen haben wir eine
Kampagne gestartet, dass man, wenn man aus der Hochschulausbildung in die duale Ausbildung wechselt, nicht
bei null anfangen muss, sondern dass anerkannt wird,
was man geleistet hat, und man dadurch auf einer bestimmten Stufe einsteigt . Dazu haben wir in der Bundesrepublik 18 große Projekte laufen .
Es gibt - dies hatte ich so gar nicht erwartet - sehr große Resonanz von den jungen Leuten, von den Studienabbrechern, -umwandlern oder wie auch immer, die sich
getraut haben und erstaunt waren, wie begeistert man bei
der Industrie- und Handelskammer darüber war, dass sie
Lust haben, jetzt einen Beruf zu erlernen . Das hat also
sehr viel bewegt, auch in den Hochschulen . Man kümmert sich jetzt um diese jungen Leute, vermittelt sie sozusagen und zeigt ihnen, dass sie Chancen in der dualen
Ausbildung haben . Denn wir brauchen die Schwächeren
und auch die Leistungsstarken .
So, ich habe jetzt noch erneute Nachfragen von Frau
Hein, den Kollegen Rossmann, Pothmer, Gehring und
Spiering . Damit würde ich dann gerne diesen Teil der
Befragung abschließen . Jedenfalls hat sich niemand noch
zusätzlich gemeldet .
({0})
- Frau Pothmer, hatte ich Sie gerade nicht aufgerufen?
Sie stehen bei mir auf dem Zettel . Okay . - Frau Hein .
Vielen Dank, Herr Präsident . - Frau Ministerin, ich
finde es ein bisschen schwierig, dass man den Vergleich
zum Jahr 2005 suchen muss - in dem Jahr hatten wir eine
hohe Zahl von Schulabgängern -, um eine Verbesserung
des Übergangs in Ausbildung zu konstatieren . Ich hatte
mich auf das Jahr 2012 bezogen . Seitdem verändern sich
die Zahlen nur noch marginal. Das ist, finde ich, auch
schon ein Problem .
Deshalb habe ich noch eine Frage zum Übergangsbereich . Auch er verändert sich seitdem nur marginal von
etwa 260 000 auf 257 000 . Nun liegt die Zahl dieses Jahr
bei 270 000 . Sie haben das mit dem Aufwuchs durch die
Beschulung Geflüchteter begründet. Ich würde gern wissen, woher Sie diese Zahlen nehmen, ob Sie das verifizieren können . Sie sind meines Wissens nicht erhoben
worden . Wenn Sie sie kennen, wie hoch wäre denn die
Zahl im Übergangsbereich ohne die Geflüchteten?
Ich habe sie nicht erhoben, aber das BIBB hat auf der
Grundlage von Daten des Statistischen Bundesamtes signalisiert, dass diese Größenordnung, diese 7 Prozent, der
Zahl der geflüchteten Jugendlichen entspricht, die in das
Übergangssystem, in die schulische Bildung gekommen
sind . Das ist die Auswertung des BIBB . Ich selbst habe
keine Untersuchung veranlasst . Aber das BIBB ist ja die
Institution, die die Daten für den Ausbildungsmarkt erhebt .
Kollege Rossmann .
Frau Ministerin, in dem Bericht weisen Sie ja ehrlich
darauf hin, dass es in Deutschland rund 2 Millionen junge Menschen ohne Berufsabschluss gibt . Gleichzeitig
haben Sie auf diese Initiative zwischen DIHK, Handwerk und Ihnen, ValiKom, verwiesen, bei der es um die
Feststellung von dem, was die können, im formellen und
informellen Bereich geht . Welche Gedanken verfolgt
die Regierung, um nicht nur Kompetenzen und Lücken
festzustellen, sondern auch nachzuhelfen, dass die Betroffenen einen vollwertigen Berufsabschluss erlangen
können? Wird auch in Bezug auf diese jungen Menschen - wir kennen dies vom Anerkennungsgesetz - ein
System zur Nachqualifizierung aufgebaut? Was sind Ihre
Initiativen dazu?
Geplant ist, dass wir nicht nur Kompetenzen und
Lücken feststellen und sagen, was noch fehlt, um zum
Beispiel Friseur zu werden . Allerdings können wir nicht
in jedem Fall die entsprechende Nachqualifizierung, die
noch fehlt, realisieren .
Wir haben große Programme, zum Beispiel im Arbeitsministerium das Programm „2 . Chance“ . Dieses
Programm bietet allen jungen Menschen zwischen 25
und 34 die Möglichkeit, einen beruflichen Abschluss zu
erwerben. Wenn man hier qualifiziert vorhandene Kompetenzen einschätzt - das gab es ja bis jetzt noch nicht -,
kann man dazu beitragen, dass dieses Programm mehr
als bisher genutzt wird; denn in vielen Bereichen wird
es noch nicht genutzt. Vielleicht ist es, finanziell gesehen, nicht so attraktiv, weil die Betroffenen in Arbeit
sind . Wenn es aber die Chance gibt, dass ihre praktischen
Fähigkeiten wirklich qualifiziert bewertet werden, dann,
glaube ich, werden die Instrumente, die wir schon haben,
noch sehr viel stärker genutzt .
Darüber hinaus müssen wir innerhalb der Regierung
überlegen, welche Nachqualifizierungsmöglichkeiten
wir, ähnlich wie beim Anerkennungsgesetz, aus dem Bereich der BA anbieten können .
Frau Pothmer .
Frau Ministerin, im Rahmen der Allianz für Aus- und
Weiterbildung hat die Wirtschaft im Dezember 2014 die
Schaffung von 20 000 zusätzlichen Ausbildungsplätzen
zugesagt; bereitgestellt hat sie bis jetzt 7 300 . Meine Frage ist: Welche Konsequenz hat dies für die weitere Arbeit
in der Allianz? Was wollen Sie tun, um diese Lücke zu
schließen?
Dieses Angebot der Wirtschaft, das sie gemacht hat,
ist in der nächsten Sitzung der Allianz natürlich ein Thema .
({0})
Ich kann Ihnen dazu folgende Auskunft geben: Dass bis
Ende letzten Jahres 7 300 Ausbildungsplätze zusätzlich
bereitgestellt worden sind, ist völlig korrekt; das sind
noch längst nicht 20 000 . Vergleicht man die Zahl der
Ausbildungsplätze, die im März dieses Jahres gemeldet worden ist, mit der entsprechenden Zahl vom März
des vorletzten Jahres, kann man allerdings ein Plus von
20 000 Plätzen verzeichnen . Das heißt nicht unbedingt,
dass am Ende in Summe auch 20 000 mehr da sein werden. Dafür zu sorgen, ist die Verpflichtung der Wirtschaft;
diese Zusage muss erfüllt werden . Aber bestrafen können
wir sie, sollte dies nicht geschehen, nicht .
Herr Kollege Spiering .
Frau Ministerin, Sie haben die „Qualitätsoffensive
Lehrerbildung“ angesprochen . Ich würde gerne von Ihnen wissen, ob alle Mittel aus dieser Qualitätsoffensive
abgeflossen sind, wenn nein, wie groß die Restbestände
sind, und ob sich die Bundesregierung vorstellen kann,
diese Mittel speziell für die Ausbildung von Berufsschullehrern mit Blick auf die Kernkompetenz Methodik/Didaktik auszuloben .
Bei der Qualitätsoffensive gehen gerade die Projekte der zweiten Bewilligungsrunde an den Start . Danach
muss geschaut werden: Wie viele Mittel sind abgeflossen, und welche Maßnahmen werden nach der Zwischenevaluation weiterhin gefördert? Ich gehe davon aus, dass
wir eine bestimmte Summe zur Verfügung haben werden .
Die Überlegung, die Ausbildung von Berufsschullehrern
bzw . von Lehrern im Allgemeinen eventuell besonders in
den Fokus zu nehmen, wird in unserem Haus angestellt .
Letzte Nachfrage zu diesem Themenkomplex: Kai
Gehring .
Vielen Dank . - Frau Ministerin, in dieser Woche
ist der bundesweite Girls’ and Boys’ Day . Was unternimmt die Bundesregierung eigentlich jenseits dieses
symbolischen Aktionstages, um das nach wie vor sehr
geschlechtsspezifische Ausbildungs- und Berufswahlverhalten von Mädchen und Jungen aufzubrechen und
beiden Geschlechtern ein möglichst breites Spektrum an
Ausbildungs- und Jobmöglichkeiten aufzuzeigen? Wir
glauben, das würde beim Matching helfen, und das wäre
auch ein Beitrag dazu, kein Talent zurückzulassen .
Ganz klar: Das ist ein Instrument . Ich zum Beispiel
bin morgen im Naturkundemuseum,
({0})
und zwar gemeinsam mit jungen Frauen, die sich dafür interessieren . Unser Haus hat im Rahmen seiner
20 000 Projekte ein großes Paket von Maßnahmen zusammengestellt - ich stelle es Ihnen gerne schriftlich
zur Verfügung -, um die MINT-Fächer zu stärken und
Frauen mehr als bisher für eine berufliche Ausbildung
oder ein Studium in diesem Bereich zu motivieren . Ich
kann diese Maßnahmen hier nicht alle aufzählen . Ich
kann Ihnen aber einen Erfolg im Bereich der akademischen Ausbildung nennen: Mittlerweile sind 40 Prozent
aller Bachelorstudenten der MINT-Fächer Frauen; im
OECD-Durchschnitt sind es 26 Prozent .
Auf dem Gebiet der beruflichen Ausbildung ist die Situation leider eine andere . Gerade bei den technischen
Berufen haben wir einen vergleichbaren Erfolg bisher
noch nicht erzielt . Das Interesse ist noch zu gering, und
der Anteil junger Frauen in der beruflichen Ausbildung
ist hier viel geringer als im akademischen Bereich . Deswegen ist es in meinem Haus ein Schwerpunkt, die Dinge, die bei der akademischen Ausbildung gut funktioniert
haben, genau zu analysieren, um herauszufinden, was
man mit Blick auf die berufliche Bildung tun kann, vor
allen Dingen im Hinblick auf die Mädchen . Mit Blick
auf Studentinnen der Informatik und solche Frauen, die
in diesem Bereich eine berufliche Ausbildung machen,
gehen wir das jetzt an . Aber hier ist, wie gesagt, noch
mehr zu tun als im akademischen Bereich .
Vielen Dank, Frau Ministerin, für Ihren Bericht und
die Beantwortung der Fragen .
Ich hatte bei der Nachfrage des Kollegen Gehring einen Augenblick lang die Sorge, dass er mit Blick auf den
Boys’ and Girls’ Day fragen wollte, ob nicht auch dies
gesetzliche Feiertage werden müssten,
({0})
und zwar jeweils gesondert . Ich bin vollständig beruhigt,
dass uns diese Frage, jedenfalls heute, nicht als akuter
Handlungsbedarf erreicht .
Ich darf jetzt fragen, ob es weitere Fragen an die Bundesregierung gibt . - Bitte schön, Frau Haßelmann .
Vielen Dank, Herr Präsident . - Ich habe eine Frage an
die Bundesregierung in Bezug auf einen möglichen Gesetzentwurf zur Abschaffung des § 103 Strafgesetzbuch,
in dem es um die sogenannte Majestätsbeleidigung geht .
Die Bundeskanzlerin hat ja letzte Woche in einer
Pressekonferenz angekündigt, dass sie beabsichtigt, den
§ 103 Strafgesetzbuch - Majestätsbeleidigung - jetzt
sehr schnell und sehr zeitnah abzuschaffen . Ich habe
daneben öffentliche Äußerungen von Herrn Kauder,
dem Fraktionsvorsitzenden, dazu gelesen, und auch von
Herrn Oppermann war zu vernehmen, dass er hier initiativ werden möchte .
Meine Frage an die Bundesregierung lautet deshalb:
Wann gedenken Sie, den Gesetzentwurf zeitnah in den
Deutschen Bundestag einzubringen?
({0})
Das war nicht Gegenstand der Beratungen im Kabinett .
({0})
- Ja, das darf ich doch .
Im Rahmen unserer Geschäftsordnung ist gefragt worden, ob es unabhängig von den heutigen Themen in der
Sitzung des Kabinetts Überlegungen oder gar Festlegungen der Bundesregierung dazu gibt .
({0})
Bei der Abschaffung des § 103 StGB geht es ja auch
um die Fragen, wie das Verhältnis zum Bundespräsidenten ist usw . Hier sind wir in einer intensiven Diskussion
und Abstimmung . Es ist unsere Absicht, alle Folgerungen genau zu bedenken, bevor wir an eine Änderung des
Gesetzes gehen .
Herr Kollege Ströbele .
Danke, Herr Präsident . - Ich habe dazu eine Ergänzungsfrage .
Mindestens genauso interessant wie die Frage, wann
das eingebracht wird, ist ja die Frage, was in dem Gesetzentwurf dazu stehen wird, ab wann dieses Gesetz in Kraft
tritt . Wird bei den Überlegungen, die Sie ja in den Raum
gestellt haben, auch berücksichtigt, ob das Verfahren gegen Herrn Böhmermann zu diesem Zeitpunkt schon zu
Ende ist, weshalb ihm die Aufhebung der Bestimmung
nicht mehr zugutekommen kann, oder geht das seinen
normalen rechtlichen Gang, sodass möglicherweise auch
Herr Böhmermann noch in den Genuss der Aufhebung
dieses Paragrafen kommen kann?
Sehr geehrter Herr Abgeordneter, wir haben über diesen Punkt noch nicht entschieden .
Ich darf im Übrigen darauf aufmerksam machen: Auch
der Gesetzgeber wird sich mit diesem Text beschäftigen
müssen . - Frau Künast, vielleicht können Sie das für den
Rechtsausschuss auch noch einmal unterstreichen .
({0})
Danke für den Hinweis, Herr Präsident . Natürlich
werden dazu am Ende intensivste Beratungen im Rechtsausschuss dieses Hauses und drei Lesungen stattfinden
müssen . Das war aber gar nicht der Kern meiner Frage .
Frau Wanka hat gesagt, sie würden das alles beraten .
Die Kanzlerin hat aber selber verlautbart bzw . unwidersprochen verlautbaren lassen, dass sie eine Aufhebung
des § 103 StGB will, in dem es um die sogenannte Majestätsbeleidigung geht . Dies solle aber erst 2018 in Kraft
treten .
Daran schließt sich ja die Frage an: Soll das so sein,
oder ist das noch offen in der Diskussion, sodass man das
unter gehöriger Beteiligung des Rechtsausschusses auch
innerhalb von drei bis vier Monaten - selbst inklusive einer Anhörung - entscheiden kann? Ich frage danach, weil
ich jetzt gerne einmal wissen möchte, ob 2018 stimmt
oder ob Sie das hier widerrufen .
({0})
Wenn es stimmen sollte, dann stellt sich natürlich die
Frage: Warum sollte aus heutiger Sicht 2018 etwas richtig sein, was 2016 noch nicht richtig sein soll, nämlich
die Abschaffung?
Frau Ministerin, es hat selten die Gelegenheit zu Widerrufen gegeben . Das ist eine seltene Vorlage .
Ich wollte nur sagen: Netter Versuch, aber meine Antwort ist klar .
({0})
- Die, die ich gerade gegeben habe .
({1})
Liebe Frau Künast, der Gesetzgeber sitzt nicht auf der
Regierungsbank . Völlig unabhängig, zu welchem Zeitpunkt die Regierung einen Gesetzentwurf einbringen
will: Ob und wann dieser Gesetzentwurf verabschiedet
wird, entscheidet der Bundestag . Das könnte früher oder
später sein, als die Überlegungen der Bundesregierung
vorsehen,
({0})
die offenkundig noch nicht abgeschlossen sind . - Frau
Haßelmann .
Vielen Dank, Herr Präsident . - Seien Sie versichert,
Herr Präsident, dass wir wissen, dass wir das Parlament
und damit der Gesetzgeber sind . Noch lieber wäre es mir,
wenn Frau Wanka sagen würde: Wir bereiten gar keinen
Gesetzentwurf vor, sondern wir schließen uns dem Gesetzentwurf zur Abschaffung des § 103 StGB von Bündnis 90/Die Grünen an, der schon eingebracht ist, und
müssen gar keine eigene Arbeit mehr leisten . - Von daher
ist meine Frage: Haben Sie sich denn mit unserem Gesetzentwurf vielleicht schon befasst, da Sie im Moment
doch alle Aspekte erörtern?
Ich betone noch einmal, dass dies der Bereich des regierungsinternen Handelns ist. Über diesen befinden wir
in der Regierung und informieren dann .
Jetzt liegt mir noch der Wunsch des Kollegen Kekeritz
nach einer Frage zu anderen Themen vor . Oder hat sich
das erledigt?
({0})
- Wer nicht da ist, kann auch keine Fragen stellen . - Dann
schließe ich damit die Regierungsbefragung ab .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf:
Fragestunde
Drucksache 18/8190
Wir beginnen in dieser Woche mit dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend . Die Frage 1 der Kollegin Beate
Walter-Rosenheimer wird schriftlich beantwortet . Damit
können wir diesen Bereich wieder verlassen .
Wir kommen dann zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit . Hier steht die Kollegin
Fischbach zur Beantwortung zur Verfügung .
Auch die Fragen 2 und 3 der Kollegin Scharfenberg
werden schriftlich beantwortet .
Wir kommen zur Frage 4 der Kollegin Pia
Zimmermann:
Seit wann haben nach Kenntnis der Bundesregierung welche staatlichen bzw . im öffentlichen Auftrag tätigen Institutionen Kenntnis von dem jetzt bekanntgewordenen systematisch
organisierten Betrug in der Pflege?
Liebe Frau Kollegin Zimmermann, ich beantworte
Ihre Frage wie folgt: Der Bericht des Bundeskriminalamtes vom Oktober 2015 wurde dem Bundesministerium
für Gesundheit am 22 . April 2016 übermittelt . Darüber
hinaus stand nach Informationen der Bundesregierung
eine Information des BKA über die Erkenntnisse zum
Abrechnungsbetrug im Gesundheitswesen durch sogenannte russische Pflegedienste in Berlin auf der Tagesordnung der Sitzung vom 10 . und 11 . März 2016 der
Konferenz der obersten Landessozialbehörden . An dieser Veranstaltung hat kein Ressort der Bundesregierung
teilgenommen . Der dortige Vortrag des BKA sollte der
Sensibilisierung der nachrangigen Träger der Sozialhilfe
dienen .
Dem Bundesministerium des Innern wurde der Auswertebericht des BKA am 19 . April 2016 zugesendet .
Das BKA hat das BMI am 25 . April 2016 darüber informiert, dass die gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen
über den GKV-Spitzenverband seit November 2014 in
die Auswertung eingebunden waren, dass das BKA die
Bundesvereinigung der kommunalen Spitzenverbände im Dezember 2015 über die Ereignisse der strategischen Auswertung informiert und um Sensibilisierung
nachgeordneter Stellen in eigener Zuständigkeit gebeten
hat, dass im Dezember 2015 das Ministerium für Arbeit,
Integration und Soziales, NRW, als Geschäftsstelle der
Konferenz der obersten Landessozialbehörden durch
Versand eines Berichts informiert worden ist, dass mit
Schreiben vom 30 . September 2015 das Ministerium für
Arbeit, Integration und Soziales dem BKA mitteilte, dass
das Anliegen des BKA am 4 . Dezember 2015 in der Arbeitsgruppe der KOLS „Auswirkungen des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs/des Zweiten Pflegestärkungsgesetzes - PSG II - auf die Hilfe zur Pflege nach dem
Zwölften Buch Sozialgesetzbuch“ behandelt wurde . Das
Ministerium für Gesundheit ist kein Mitglied dieser Konferenz .
Nachfrage? - Bitte schön .
Vielen Dank, Herr Präsident . - Vielen Dank für die
Beantwortung der Frage . Allerdings fehlt mir ein bisschen die Bezugnahme auf die Systematik in der ganzen
Geschichte . Das ist der erste Punkt . Der zweite Punkt:
Mir fehlt eine Aussage zur Mitverantwortung der Bundesregierung .
Deshalb möchte ich auf Ihre Antwort eingehen und
Sie fragen: Worin sieht die Bundesregierung denn die
Ursachen für diesen systematischen Betrug in der Abrechnung von Pflegeleistungen, und wie bewertet sie ein
mögliches Mitverschulden ihrerseits, was die bestehende
Gesetzgebung angeht?
Ich muss noch dazu sagen: Ich finde es einigermaßen
verwunderlich, dass vonseiten der Bundesregierung so
wenig Selbstkritik kommt . Wenn ich mich recht erinnere,
haben Sie es doch befürwortet, dass Pflege auch in private Hände kommt, dass man sich mit der Pflege finanziell
verbessern kann bzw . dass man mit der Versorgung von
kranken und pflegebedürftigen Menschen Gewinn machen kann . Insofern wäre es doch gut, zu sagen, welche
Mitverantwortung die Bundesregierung in Bezug auf die
vorliegenden Sachverhalte hat .
Frau Kollegin, ich kann Ihnen versichern, dass wir mit
unseren Gesetzentwürfen gerade für den Pflegebereich
alles tun, damit die Menschen, die Pflegeleistungen brauchen, diese auch bekommen . Wir tun alles, damit sie die
hochqualitativen Pflegeleistungen und die Unterstützung
bekommen, die sie brauchen .
Ich weise darauf hin, dass die Machenschaften, die
jetzt bekannt geworden sind, nicht der organisierten Kriminalität zuzuordnen sind, weil sie sich unterhalb der
Schwelle befinden. Es handelt sich hier um organisierten
Betrug, mit dem man in dieser Weise nicht rechnen konnte . Wir haben dann aber die notwendigen Schritte veranlasst . Das heißt, wenn ein Betrugsfall durch Hinweise
aufgedeckt wird, dann müssen an erster Stelle die Strafverfolgungsbehörden eingeschaltet werden . Sie müssen
ihre Arbeit tun; denn den Hinweisen muss natürlich in
strafrechtlicher Hinsicht nachgegangen werden .
Ein zweiter Schritt besteht dann darin, dass die verantwortlichen Stellen im Gesundheitswesen an einen Tisch
geholt werden müssen, um die Sache zu klären . Das hat
der Bundesminister für Gesundheit sofort getan, nachdem er Kenntnis von diesem Sachverhalt bekommen
hatte . Ich denke, damit sind wir in einem ersten Schritt
unserer Verantwortung nachgekommen .
Frau Klein-Schmeink .
Präsident Dr. Norbert Lammert
Waren der Bundesregierung und dem Gesundheitsministerium die Problemanzeigen des Berliner Senats
aus dem Jahre 2012 sowie die Veröffentlichungen der
AOK Nordost dazu bekannt, mit denen darauf hingewiesen wurde, dass ein Drittel der 560 in Berlin zugelassenen ambulanten Pflegedienste falsch abrechnet? Wenn ja,
was haben Sie dann nachfolgend ab dem Jahr 2012 in
dieser Hinsicht unternommen?
Frau Kollegin, nachdem diese Dinge damals in der
Amtszeit des Vorgängers von Hermann Gröhe im Gesundheitsministerium besprochen worden waren, wurden mit dem Inkrafttreten des Assistenzpflegegesetzes
zum 1 . Januar 2013 - dabei geht es um Änderungen im
SGB XI - die Zusammenarbeit und der Datenaustausch
zwischen Pflegekassen, Krankenkassen und Sozialhilfeträgern bei Fehlverhalten und in Betrugsfällen verbessert .
Herr Kollege Terpe .
Vielen Dank, Herr Präsident . - Frau Staatssekretärin,
ich möchte da noch einmal nachhaken . Gibt es denn konkrete Gegenmaßnahmen, die die Vorgänger von Herrn
Gröhe - vielleicht auch Herr Gröhe selbst - eingeleitet
haben, als diese zwei Hinweise aus Berlin in den Jahren 2012 und 2014 - es war ja nicht nur ein Hinweis,
sondern es waren zwei - bekannt wurden?
Herr Kollege, wir haben bei den Gesetzgebungsverfahren zu den Pflegestärkungsgesetzen I und II alle
Hinweise und Informationen, die uns vorlagen, in die
Beratungen miteingebracht. Mit beiden Pflegestärkungsgesetzen haben wir eine Vielzahl von Regelungen auf
den Weg gebracht, um die Qualität und auch die Prüfungs- bzw . Kontrollmöglichkeiten zu verbessern . Ich
nenne in dem Zusammenhang beispielhaft die unangemeldeten Besuche, die in Verdachtsfällen möglich sind .
Weiter nenne ich das Beispiel, dass seit Januar dieses
Jahres der MDK im Bereich der Abrechnungen Prüfungen vornehmen muss . Vorher war es eine Kannleistung .
Es gibt also eine Menge von Regelungen, die wir mit den
beiden Pflegestärkungsgesetzen eingeführt haben.
Frau Binder .
Vielen Dank, Herr Präsident . - Mich würde interessieren, in welcher Form Pflegebedürftige und ihre Angehörigen unterstützt werden, wenn sie sich aufgrund eines
Betrugsverdachtes an den Bevollmächtigten wenden?
Ich würde in dem Zusammenhang auch gerne wissen,
wie in diesem Bereich mit Whistleblowerinnen umgegangen wird. Im vergangenen Jahr wurde elf Pflegekräften fristlos gekündigt, weil sie auf Missstände aufmerksam gemacht haben. Ich finde, dass diese Missstände in
einem direkten Zusammenhang mit den Betrugsvorwürfen zu betrachten sind . Denn letztendlich werden diese
Betrügereien begangen, weil in der Pflege zu wenig Zeit,
zu wenig Personal und zu wenig Material eingesetzt werden, um die Menschen anständig zu versorgen .
Frau Kollegin, ich möchte noch einmal ganz deutlich
machen, dass wir aufgrund dieses organisierten Betruges
nicht alle Pflegebedürftigen und ambulanten Pflegedienste in einen Topf werfen und sie alle gleichsam mitverurteilen dürfen . Dagegen wehre ich mich ganz entschieden .
Der Großteil unserer Pflegeeinrichtungen und Pflegekräfte leistet eine hervorragende, qualitativ wertvolle Arbeit und ist mit Herzblut dabei .
({0})
Deshalb kann ich das so nicht stehen lassen .
Diejenigen, die Beanstandungen haben, können sich
an den Pflegebevollmächtigten der Bundesregierung
wenden . Er kümmert sich darum, wie er es auch getan
hat, als er den Brief aus Berlin bekommen hat . Die Hinweise, die wir bekommen, fließen in unsere politischen
Beratungen mit ein .
Dann rufe ich jetzt die Frage 5 der Kollegin
Zimmermann auf:
In wie vielen Fällen wurde der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange der Patientinnen und Patienten
sowie Bevollmächtigter für Pflege, Staatssekretär Karl-Josef
Laumann, über Verdachtsfälle oder Unregelmäßigkeiten in
der Leistungsabrechnung in Pflegeeinrichtungen seit seinem
Amtsantritt informiert, und welche Maßnahmen wurden davon ausgehend von der Bundesregierung ergriffen?
Die Fragen 4 und 5 gehen eigentlich in eine Richtung .
Daher können wir gleich zu den Zusatzfragen kommen .
Bitte, Frau Zimmermann .
Vielen Dank, Herr Präsident . - Frau Fischbach, zu
Frage 5 muss ich noch einmal nachfragen, was ganz genau passiert ist, nachdem Sie von dem Bezirksstadtrat
von Dassel aus Berlin vor mehr als zwei Jahren aufgefordert wurden, seitens des Bundes aktiv zu werden, um den
Nährboden für solchen Betrug trockenzulegen . Ich wiederhole: vor mehr als zwei Jahren . Sie haben lediglich
den völlig leeren und nutzlosen Pflege-TÜV eingesetzt.
Das war aber schon alles . Darum frage ich noch einmal:
Welche Maßnahmen - und zwar Maßnahmen, die sofort
beginnen und nicht erst im Jahr 2020 - hat die Bundesregierung ganz konkret ergriffen?
Wenn Sie an dieser Stelle sagen, dass Sie so wenig
gewusst haben, dann muss ich feststellen, dass Sie die
konkrete Lage in vielen Pflegesituationen anscheinend
gar nicht kennen. Denn sonst wäre seit den ersten Pflegeskandalen in den letzten zehn Jahren sehr viel mehr
passiert . Ich frage Sie jetzt noch einmal ganz konkret:
Welche Sofortmaßnahmen sind bzw . werden geplant, um
die Personalsituation zu verbessern?
Ich nenne Ihnen zunächst die Maßnahmen, die wir bereits ergriffen haben, nachdem einzelne Hinweise eingegangen sind . Wir reagieren auf alle Hinweise . Ich sage es
noch einmal: Bitte tun Sie in dieser Situation nicht so, als
seien diese Einzelfälle die Gesamtheit und als sei das der
Alltag in Deutschland . Das ist nicht so .
Aber ich sage Ihnen gerne, was wir bisher getan haben. Mit dem Ersten Pflegestärkungsgesetz wurde mit
Wirkung zum 1. Januar 2015 die Nachweispflicht für die
Kostenerstattung in der Verhinderungspflege verschärft.
Hier waren in der Vergangenheit Missbrauchsfälle bekannt geworden . Wir haben darauf reagiert .
Mit dem Zweiten Pflegestärkungsgesetz wurde zum
1 . Januar 2016 eingeführt, dass der Medizinische Dienst
der Krankenversicherung bei Anzeichen von Qualitätsmangel, Betrug etc . unangemeldete Anlasskontrollen
auch in der ambulanten Pflege durchführen kann. Zudem
wurde eine Pflichtprüfung von Abrechnungen durch den
MDK bei allen Regelprüfungen eingeführt .
Mit dem Korruptionsbekämpfungsgesetz werden die
Fehlverhaltensbekämpfungsstellen der Krankenkassen
gestärkt . Diese Stellen müssen künftig stärker zusammenarbeiten .
Noch eine Zusatzfrage, Frau Zimmermann? - Nein .
Frau Klein-Schmeink .
In Frage 5 geht es darum, in wie vielen Fällen der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange der Patientinnen und Patienten sowie Bevollmächtigter für Pflege über solche Unregelmäßigkeiten informiert worden
ist; das ist die Ausgangsfrage . Dann hat es ein Schreiben
des stellvertretenden Bezirksbürgermeisters von Berlin-Mitte vom 26 . Mai 2014 an den Bevollmächtigten
für Pflege, Karl-Josef Laumann, gegeben. Angesichts
dessen stellt sich die Frage, ob Karl-Josef Laumann in
seiner Funktion den Gesundheitsminister über dieses
Schreiben informiert hat, in dem ausdrücklich gesagt
wird, dass es zu Unregelmäßigkeiten in einem großen
Umfang gekommen ist, die auf organisierten Betrug und
einen bestimmten kulturellen Zusammenhang hinweisen .
Erstens . Ist der Gesundheitsminister in dieser Form informiert worden? Zweitens . Was haben Sie ganz konkret
unternommen?
Das Schreiben aus dem Bezirk Berlin-Mitte ist das
einzige, das dem Bevollmächtigten für Pflege zugegangen ist . Der Staatssekretär hat darauf umgehend geantwortet . Das Schreiben enthält den Hinweis, dass zum damaligen Zeitpunkt, bezogen auf ganz Berlin, angeblich
150 Strafanzeigen wegen betrügerischer Abrechnung
oder betrügerischer Erbringung von Pflegeleistungen
vorliegen würden . Des Weiteren wird in dem Schreiben
ausgeführt, dass die aus diesen Anzeigen folgenden Ermittlungen bereits durch die Landespolizei an die Staatsanwaltschaft übergeben wurden . - Erster Schritt: Die
Staatsanwaltschaft ist zu informieren . Zweiter Schritt:
Ein runder Tisch ist eingerichtet worden, um die Fehlentwicklungen aufzuklären . Der Staatssekretär ist von
einem regionalen Problem ausgegangen; so war es dem
Brief zu entnehmen . Er hat zudem den GKV-Spitzenverband angeschrieben und hat das, was angesprochen wurde, in die politischen Beratungen eingebracht .
Ich rufe die Frage 6 der Abgeordneten Maria KleinSchmeink, Bündnis 90/Die Grünen, auf:
Warum kündigt die Bundesregierung erst nach diversen
Presseberichten zum Abrechnungsbetrug durch ambulante
Pflegedienste an, dagegen vorzugehen, obwohl der Bericht
des Bundeskriminalamtes, in dem diese Betrugsfälle berichtet
werden, seit Oktober des letzten Jahres vorliegt?
Frau Staatssekretärin, bitte .
Liebe Frau Kollegin Klein-Schmeink, Ihre Frage beantworte ich wie folgt: Der Bericht des Bundeskriminalamtes wurde dem Bundesministerium für Gesundheit
am 22 . April 2016 übermittelt . Vorher ist kein Eingang
des Berichts im BMG erfolgt . Dem Bundesministerium des Innern wurde der Auswertebericht des BKA am
19 . April 2016 zugesandt .
Haben Sie eine Zusatzfrage?
Ja .
Das hatte ich vermutet . - Bitte schön .
Ich habe eine Zusatzfrage, weil es Diskrepanzen zwischen den verschiedenen Daten gibt, die unter anderem in
Zeitungsartikeln erschienen sind . Wie ist es zu verstehen,
dass einerseits die Welt am 21 . April 2016 im Interview
mit Minister Gröhe unter der Überschrift „Jeder Betrugsfall ist einer zu viel“ behauptet, den BKA-Bericht gebe es
seit Oktober, und dass der Minister das nicht dementiert
und sogar behauptet, sie hätten bereits gehandelt, und
dass andererseits die Sprecherin des BMG, Katja Angeli,
einen Tag später der Presse mitteilt, der Bericht habe dem
Ministerium nicht vorgelegen? Was stimmt denn nun?
Hat er vorgelegen, oder hat er nicht vorgelegen?
Das ist klar und eindeutig aufzuklären: Der Bericht
hat nicht vorgelegen . Aber über diesen Bericht wurde
auf informelle Art und Weise informiert . Das Haus hat
davon Kenntnis bekommen . Als das Bundesministerium
für Gesundheit von den Vorgängen erfahren hat, hat es
am 19 . April ein Gespräch mit dem GKV-Spitzenverband und anderen Beteiligten auf Fachabteilungsebene
geführt . Bei diesem Gespräch ging es um Versorgungsprobleme in der gesamten Intensivpflege, im Krankenhausbereich und in der ambulanten Krankenpflege. Aber
es wurden auch Maßnahmen erörtert, die es ermöglichen
sollten, kurzfristig zu einer Verbesserung der Prüfmöglichkeiten in der ambulanten Intensivpflege zu kommen.
Haben Sie noch eine zweite Zusatzfrage? - Bitte
schön .
Ich möchte gerne definitiv wissen, wann denn dem
Ministerium dieser Bericht zur Kenntnis gelangt ist . Seit
wann haben Sie Kenntnis davon, dass es diesen Bericht
gab?
Der Bericht liegt dem Bundesministerium für Gesundheit seit dem 22 . April 2016 vor . Da ist er uns übermittelt
worden .
Jetzt fragt die Abgeordnete Pia Zimmermann, Die
Linke . Danach hat Dr . Harald Terpe, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, das Wort . - Bitte schön .
Vielen Dank, Herr Präsident . - Mich interessiert in
diesem Zusammenhang, warum die Bundesregierung
den Vorschlag des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen, der in der Debatte über das PSG II gemacht worden ist, ablehnt, eine stärkere Unabhängigkeit des MDK
und der Prüfungen des MDK von den Leistungserbringern herzustellen . Oder ist es etwa so, dass die Bundesregierung das eigentlich für gut hält oder sogar weitere
Vorschläge für eine unabhängige Pflegeprüfung verfolgt?
Frau Kollegin, die Frage haben Sie wortwörtlich heute
schon im Ausschuss gestellt, und Sie haben schon eine
Antwort bekommen . Sie werden sich nicht wundern,
wenn Sie jetzt dieselbe Antwort bekommen . Die Aufgabe
übernimmt der Qualitätsausschuss, den wir im Rahmen
des PSG II eingerichtet haben . Das heißt, bei ihm geht es
jetzt darum, vernünftige Kontrollmöglichkeiten, Prüfinstanzen und Standards zu entwickeln . Dort werden diese
Arbeiten vorbereitet und dann auch in die Wege geleitet .
Nächster Fragesteller ist Dr . Harald Terpe, Bündnis 90/Die Grünen .
Vielen Dank, Herr Präsident . - Frau Staatssekretärin,
in dem BKA-Bericht, der Ihnen vorliegt und der offenbar auch der Presse vorliegt, wird ein Hinweis darauf
gegeben, dass auch Ärzte und Apotheker - wir sprachen
bisher nur von den Pflegediensten - mit involviert sind.
Können Sie das bestätigen? Ist dieser Bericht allgemein
zugänglich?
Ich habe den Bericht noch nicht in Gänze gelesen .
Deswegen kann ich das im Moment nicht bestätigen . Ich
liefere Ihnen diese Informationen gerne nach .
({0})
Schönen Dank . - Nächste Fragestellerin hierzu ist die
Abgeordnete Heike Baehrens, SPD-Fraktion .
Vielen Dank, Herr Präsident . - Sehr geehrte Frau
Staatssekretärin, in den öffentlichen Medien wurde im
Zusammenhang mit diesem Abrechnungsbetrug eine
Summe von 1 Milliarde Euro genannt . Da die diesbezüglichen Ausgaben im Pflegebereich in Deutschland insgesamt 4 Milliarden Euro umfassen, frage ich Sie: Ist es aus
Ihrer Sicht realistisch, dass es sich hier tatsächlich um
einen Betrug in dieser Größenordnung handelt?
Das Bundeskriminalamt hat die Summe von 1 Milliarde Euro, die genannt wurde, nicht bestätigen können .
Wir haben mit Baden-Württemberg ein Bundesland, das
schon bestimmte Prüfkriterien auf den Weg gebracht hat .
Baden-Württemberg hat das durchdekliniert . Das Land
hat keine wissenschaftliche Untersuchung durchgeführt,
kommt aber aufgrund von Stichproben zu dem Ergebnis,
dass wir in einem Bereich von unter 2 Prozent liegen,
sodass wir nicht von 1 Milliarde Euro ausgehen können .
Schönen Dank . - Dann kommen wir zur Frage 7 der
Abgeordneten Maria Klein-Schmeink, Bündnis 90/Die
Grünen:
Was soll bei unangemeldeten, anlassbezogenen Kontrollen bei ambulanten Pflegediensten geprüft werden, und wie
kann durch solche Kontrollen möglicher Abrechnungsbetrug
nachgewiesen werden, vorausgesetzt alle abgerechneten Tätigkeiten sind dokumentiert und abgezeichnet, auch wenn sie
möglicherweise gar nicht erbracht wurden?
Frau Staatssekretärin .
Gerne antworte ich auf Ihre Frage, Frau KleinSchmeink: Die Bundesregierung prüft, wie die Kontrollmöglichkeiten bei ambulanten Pflegediensten zügig weiter verbessert werden können . Als Kurzfristmaßnahme
kommt zunächst ein weiterer Ausbau der bestehenden
Kontrollmöglichkeiten des Medizinischen Dienstes der
Krankenversicherung in Betracht . Die Prüfung hierzu
wird kurzfristig abgeschlossen .
Weiter hat der Spitzenverband Bund der Krankenkassen, GKV-Spitzenverband, zugesagt, die neuen Regelungen für die Fehlverhaltensbekämpfungsstellen der
Kranken- und Pflegekassen des am 14. April 2016 im
Deutschen Bundestag in zweiter und dritter Lesung beschlossenen Gesetzes zur Bekämpfung von Korruption
im Gesundheitswesen zeitnah noch bis zum Herbst dieses Jahres umzusetzen . Das betrifft Richtlinien zur einheitlichen und koordinierten Tätigkeit der Stellen, deren
regelmäßige Berichterstattung und deren Zusammenarbeit mit den Strafverfolgungsbehörden . Das Bundesministerium für Gesundheit wird den Umsetzungsprozess
eng begleiten .
Schließlich soll die neue Pflicht zur regelhaften Abrechnungsprüfung in der ambulanten Pflege nach dem
Elften Buch Sozialgesetzbuch, die seit 1 . Januar 2016 in
Kraft ist, schnell flächendeckend umgesetzt werden. Das
entsprechende Prüfkonzept befindet sich derzeit in einer
Pilotphase . Es ermöglicht bei im Rahmen der Regelprüfung wahrgenommenen Auffälligkeiten in einem zweiten
Schritt vertiefende Prüfungen einzelner Pflegedienste
durch Pflegekassen und den Medizinischen Dienst der
Krankenkassen .
Haben Sie eine Nachfrage, Frau Kollegin? - Bitte
schön .
Sind Sie der Meinung - Sie haben ja gerade einige
Maßnahmen aufgezählt; unter anderem gehört die Prüfung nach § 114 SGB XI dazu -, dass der MDK in der
Lage ist, bei einer solchen Qualitätsprüfung auf der genannten gesetzlichen Grundlage Abrechnungsbetrug
überhaupt festzustellen?
Wir haben mit dem GKV-Spitzenverband Gespräche
geführt; die Vorschläge für die Entwicklung der Konzepte sind im Gange . Das heißt, die Abrechnungsprüfung
erfolgt, wie Sie sagen, im Rahmen des § 114 SGB XI .
Es sollen aber grundsätzlich weitere Arbeitsschritte eingeführt werden, sodass dann auch eine vernünftige Kontrolle möglich ist .
Haben Sie noch Zusatzfragen? - Das ist nicht der Fall .
Nun hat Frau Zimmermann, Fraktion Die Linke, eine
Frage .
Ich habe eine Nachfrage: Die Bundesregierung lehnte im Rahmen der Beratungen des Pflegestärkungsgesetzes II den Vorschlag des Medizinischen Dienstes der
Krankenversicherung zunächst ab, die nun in § 114 a Absatz 1 Satz 3 SGB XI geregelte unangekündigte Anlassprüfung bei ambulanten Pflegediensten zuzulassen.
Meine Frage: Welche Regelung hält die Bundesregierung für erforderlich, um bei solchen Anlassprüfungen
im ambulanten Bereich das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung zu wahren?
Ich hatte vorhin schon einmal geantwortet, als Sie,
Frau Kollegin Zimmermann, fragten, was wir bisher getan haben, und ich hatte noch einmal deutlich gemacht,
dass auf der Grundlage des Zweiten Pflegestärkungsgesetzes rückwirkend zum 1 . Januar 2016 der Medizinische
Dienst der Krankenversicherung unangemeldete Anlasskontrollen bei Zeichen von Qualitätsmängeln, Betrug
etc. auch in der ambulanten Pflege durchführen kann.
Dies betrifft die Einrichtungen .
Was das Aufsuchen einzelner Wohnungen betrifft: Sie
wissen, es gilt der Schutz der eigenen vier Wände, und
es gestaltet sich sehr schwierig . Aber die ambulanten
Pflegeeinrichtungen können bereits heute anlassbezogen
unangemeldet kontrolliert werden .
Danke schön .
Damit kommen wir zur Frage 8 des Abgeordneten
Ebner, Bündnis 90/Die Grünen:
Inwieweit wird sich das Bundesministerium für Gesundheit
({0}) als zuständige Behörde für die Prävention von Erkrankungen wie Krebs - anders als bisher; vergleiche „Der nicht
zuständige Ungesundheitsminister“, taz.die tageszeitung vom
18 . April 2016 - dafür einsetzen, dass die Abstimmung zur
Erneuerung der Glyphosat-Zulassung auf europäischer Ebene,
die für Mai 2016 angekündigt ist, gestoppt wird, bis die Europäische Chemikalienagentur, ECHA, und die WHO-Pestizidexperten vom Joint Meeting on Pesticide Residues ({1})
ihre Bewertung zur gesundheitlichen Bedenklichkeit von Glyphosat für die menschliche Gesundheit vorgelegt haben, und
wie ernst nimmt das BMG die Warnungen der WHO-Experten,
die Glyphosat als wahrscheinlich krebserregend einschätzen?
Frau Staatssekretärin .
Herr Kollege, gerne antworte ich Ihnen auf Ihre Frage:
Die Abstimmung zur Wiedergenehmigung des Pflanzenschutzmittelwirkstoffes Glyphosat auf europäischer Ebene im Rahmen eines EU-Routineverfahrens steht kurz
bevor . Die Risikobewertung des Wirkstoffes Glyphosat
erfolgte gemäß den rechtlichen Vorgaben der EU, insbesondere der Verordnung Nr . 1107/2009 über das Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln sowie der zugehörigen Durchführungsverordnungen .
Die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit,
EFSA, und die EU-Mitgliedstaaten haben die Neubewertung von Glyphosat im Rahmen der routinemäßigen
Überprüfung gemäß diesen verbindlichen Vorschriften
abgeschlossen . Die zuständigen europäischen Experten
bestätigen in der EFSA-Gesamtbewertung, die die zuständigen Behörden aller Mitgliedstaaten einbezogen hat,
anhand des derzeitigen Wissensstandes die gesundheitliche Unbedenklichkeit von Glyphosat bei sachgerechter
Anwendung glyphosathaltiger Pflanzenschutzmittel.
Die Risikobewertung von Glyphosat war aufgrund
der Monographie der Internationalen Agentur für Krebsforschung, IARC, um sechs Monate verlängert worden,
um auch diese intensiv prüfen zu können . In die Analyse flossen weit mehr als 1 000 verschiedene Studien
ein, nach deren zusammenfassendem Ergebnis es unwahrscheinlich ist, dass Glyphosat krebserregend für den
Menschen ist . Die wissenschaftliche Risikobewertung
der EFSA auf der Basis des EU-Rechts berücksichtigt im
Gegensatz zur Arbeit der IARC zusätzlich die Gefahrenabschätzung, ob und wie Menschen, Tiere und Umwelt
einem Stoff ausgesetzt sind .
Alle an der Risikobewertung beteiligten nationalen
und europäischen Behörden erledigten ihre gesetzlichen
Aufgaben mit größter Sorgfalt, unabhängig und streng
auf wissenschaftlicher Grundlage . In der Konsequenz erfüllt der Wirkstoff die Anforderungen des europäischen
Rechts zur gesundheitlichen Unbedenklichkeit für die
Genehmigung von Pflanzenschutzmittelwirkstoffen und
die Zulassung von Pflanzenschutzmitteln. Die Bundesregierung hat sich daher darauf verständigt, dem Verordnungsentwurf der Europäischen Kommission zur Wiedergenehmigung zuzustimmen .
Für alle Aspekte einschließlich der gesundheitlichen
Auswirkungen von Glyphosat ist im Rahmen der Aufgabenverteilung der Bundesregierung das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft federführend
sowie deren zuständige Fachbehörden . Das Bundesministerium für Gesundheit hat im Rahmen seiner Zuständigkeit das Verfahren und das kompetente und unabhängige Urteil der fachlich zuständigen Behörden begleitet .
Haben Sie eine Zusatzfrage, Herr Kollege Ebner? Bitte .
Danke schön, Frau Staatssekretärin, für die Verfahrenserläuterungen, die an dieser Stelle nicht zwingend
notwendig gewesen wären . Ich habe Sie in der Tat als
Vertreterin des Bundesgesundheitsministeriums und damit sozusagen als Vertreterin des Ministeriums, das für
die Prävention vor Erkrankungen wie Krebs wirklich
zuständig ist, gefragt . Es ging mir weniger um die Federführung .
Interpretiere ich es jetzt richtig - ich frage das, damit
alle Menschen in diesem Raum die Antwort eindeutig
gehört haben -, dass das Bundesgesundheitsministerium
die Auffassung der Internationalen Agentur für Krebsforschung nicht teilt und im Gegensatz dazu der Meinung
ist, dass von Glyphosat keine Gesundheitsgefährdung für
den Menschen ausgeht, auch nicht im Hinblick auf eine
Krebserkrankung?
Wir gehen von den Ergebnissen der Untersuchungen
aus, die uns vorliegen . Die Studien belegen, dass bei
sachgerechter Anwendung keine Krebsgefahr vorhanden
ist . Deswegen schließen wir uns den EU-Vorgaben an .
Noch eine Zusatzfrage, Herr Ebner? - Bitte .
Sie haben den Knackpunkt, die sachgerechte Anwendung, schon angesprochen . Mir stellt sich in der Tat die
Frage, wie das Bundesgesundheitsministerium die sachgerechte Anwendung, auf die es ja selber keinen Einfluss
hat, sicherstellen möchte . Es ist mir irgendwie ein Rätsel .
Deshalb möchte ich Sie dazu noch etwas fragen . Bundesgesundheitsminister Gröhe sagt sonst immer, dass
die Bekämpfung von Krebs „eine Herausforderung ersten Ranges“ sei . Nun haben wir es zu tun mit einer renommierten internationalen Krebsforschungsagentur, die
für die WHO tätig ist, die anerkannt ist und die hier Bedenken geäußert hat . Warum greift nach Auffassung des
Bundesgesundheitsministeriums an dieser Stelle nicht
das Vorsorgeprinzip, obwohl es doch um die Vorsorge für
die Gesundheit der Menschen in diesem Land und auch
woanders geht?
Das Prinzip der Vorsorge ist uns sehr wichtig . Nicht
umsonst haben die jetzige Bundesregierung und das Bundesministerium für Gesundheit das Präventionsgesetz im
vierten Anlauf auf den Weg gebracht - ein ganz wichtiger
Schritt .
Ich sage Ihnen noch einmal, Herr Kollege: Nach Prüfung der bislang vorliegenden Studien, Dokumente und
Veröffentlichungen einschließlich der Glyphosat-Monographie der Internationalen Agentur für Krebsforschung
der WHO ist nach derzeitigem wissenschaftlichen Kenntnisstand bei bestimmungsgemäßer Anwendung von Glyphosat keine krebserzeugende Wirkung des Wirkstoffes
Vizepräsident Peter Hintze
für den Menschen zu erwarten . Diese Meinung vertreten nicht nur wir, sondern auch die Experten der anderen
EU-Mitgliedstaaten und der EFSA, der Europäischen
Behörde für Lebensmittelsicherheit, in der veröffentlichten Schlussfolgerung EFSA-„Conclusion“ .
Wir bleiben beim Thema .
Ich rufe Frage 9 des Abgeordneten Harald Ebner auf:
Welche Bedeutung misst das BMG dem Krebsforschungszentrum ({0}) der Weltgesundheitsorganisation hinsichtlich
der Identifizierung von Ursachen, die zu Krebs führen, der
weltweiten Überwachung des Auftretens von Krebs, der Aufklärung der Mechanismen der Krebsentstehung und der Entwicklung wissenschaftlicher Strategien zur Krebsbekämpfung
bei, und inwieweit fließen die wissenschaftlichen Erkenntnisse
des IARC in die Positionsfindungen des BMG bezüglich eines
Verbots von Glyphosat ein?
Frau Staatssekretärin, bitte .
Herr Kollege, ich beantworte Ihre Frage wie folgt:
Die IARC ist die Internationale Agentur für Krebsforschung der Weltgesundheitsorganisation, WHO . Die
Forschungseinrichtung wurde im Jahr 1965 mit der Zielsetzung gegründet, die internationale Zusammenarbeit in
der Krebsforschung zu intensivieren und zu fördern .
Im Zentrum des Mandats der IARC als politisch neutraler und global angesehener Forschungsinstitution steht
die Krebsforschung zur Verbesserung der Krebsbekämpfung . Sie spielt eine weltweit führende Rolle in der Beobachtung der Krebshäufigkeiten sowie der Erfassung der
Sterblichkeiten und der Überlebensraten bei Krebs, unter
anderem mit periodischen Publikationen eines globalen
Krebsatlasses . Die IARC gibt eine Reihe von Monografien über die Gefahren oder die potenziellen Gefahren von krebserregenden Substanzen heraus, die in der
Wissenschaft und Industrie große Beobachtung finden.
Eine Risikobewertung findet dort - das ist ein wichtiger
Punkt - nicht statt .
Die wissenschaftlichen Erkenntnisse der IARC sind,
wie in der Antwort auf Frage 8 erläutert, in den Prozess
mit eingeflossen und wurden auch vom Bundesministerium für Gesundheit zur Kenntnis genommen .
Haben Sie eine Zusatzfrage, Herr Kollege? - Bitte
schön .
Danke schön . - Sie hatten erläutert, dass die anderen
Mitgliedstaaten ebenso wie Deutschland keine Bedenken
sehen, obwohl die IARC Bedenken äußert . Jetzt ist es so,
dass die vorgesehene Abstimmung über die Zulassung
von Glyphosat im zuständigen Gremium gescheitert ist,
weil Mitgliedstaaten plötzlich anderer Meinung waren,
weil eine erhebliche Anzahl von Mitgliedstaaten, nämlich ausreichend viele, um die notwendige Mehrheit zu
verhindern, Bedenken hatten, gegen eine Zulassung votiert haben, unter anderem Frankreich - mit dem Argument, dass genau diese gesundheitlichen Gefahren nicht
geklärt seien, weshalb sie eine Zustimmung nicht in Aussicht stellen könnten . Insofern ist es mit dem Argument:
„Alle teilen die deutsche Bewertung; dann ist die Bewertung der IARC nicht so gewichtig“, nicht so weit her .
Welche Maßnahmen unternimmt das BMG - man
muss dann doch eigene Erkenntnisse sammeln und vielleicht auch mal ein Ressortforschungsprogramm auf den
Weg bringen -, um auch im Hinblick auf die Exposition
der Menschen hier wirklich einmal Kenntnisse zu erlangen?
Wir stehen in regelmäßigem Kontakt und in gutem
Austausch mit dem federführenden Bundesministerium
für Ernährung und Landwirtschaft .
Noch eine Frage? - Bitte .
„Das ist eine Drohung“, sagt mein Kollege Krischer
gerade . Das könnte man so auffassen .
Ich hatte schon etwas mehr Hoffnung in das Bundesgesundheitsministerium gesetzt . Ich muss noch einmal
nachfragen . Die Internationale Krebsforschungsagentur
der Weltgesundheitsorganisation, ein international anerkanntes, sauber und gründlich arbeitendes renommiertes
Gremium mit wirklich renommierten und anerkannten
Wissenschaftlern, hat ihre Gründe sauber dargelegt .
Wenn Sie der Meinung sind, dass die Erläuterungen in
diesem Verfahren irrelevant sind: Sind Sie dann auch der
Meinung, dass wir die IARC gar nicht brauchen?
Ich habe nicht gesagt, dass sie irrelevant sind, Herr
Kollege, sondern ich habe sehr deutlich auf einen feinen Unterschied hingewiesen: Die IARC macht nur eine
gefahrenbezogene Analyse . Das heißt, sie prüft nur, ob
Wirkstoffe krebserzeugend sind . Das, was fehlt, für uns
in diesem Zusammenhang aber wichtig ist - das sage ich
noch einmal sehr deutlich -, ist eine Risikobewertung,
und die wird von der IARC nicht durchgeführt . Ansonsten schätzen wir die Arbeit der IARC; das habe ich in der
Beantwortung Ihrer Frage vorhin auch sehr deutlich zum
Ausdruck gebracht .
Herzlichen Dank, Frau Staatssekretärin .
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur . Zur
Beantwortung steht der Parlamentarische Staatssekretär
Norbert Barthle bereit .
Die Frage 10 des Abgeordneten Stephan Kühn sowie
die Fragen 11 und 12 des Abgeordneten Herbert Behrens
werden schriftlich beantwortet .
Ich rufe die Frage 13 des Abgeordneten Oliver
Krischer, Bündnis 90/Die Grünen, auf:
Seit wann ist der Bundesregierung bzw . dem Kraftfahrt-Bundesamt bekannt, dass Fahrzeuge mehrerer Hersteller den Schadstoff Stickoxid bei niedrigen Temperaturen
stärker in die Luft ausstoßen, und welche konkreten Schritte
will die Bundesregierung unternehmen, um das Problem der
„Thermofenster“ und illegalen Praxis der Abschaltung der
Abgasreinigungssysteme - zuletzt durch ein von der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen in Auftrag gegebenes Gutachten der
Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages als
illegal bezeichnet - zu beheben ({0})?
Herr Staatssekretär, bitte .
Herr Kollege Krischer, mit Veröffentlichung des Berichts der Untersuchungskommission „Volkswagen“ am
22 . April 2016 sind die Felduntersuchungen des KBA
weitestgehend abgeschlossen . Es konnte im Rahmen der
KBA-Felduntersuchung bis zur Veröffentlichung dieses
Berichts kein weiteres Fahrzeug identifiziert werden, das
ebensolche Prüfzykluserkennungen verwendet, wie sie
VW eingesetzt hat .
Über die Maßnahmen zum Thema „Thermofenster“
hat der Minister heute im Ausschuss umfassend Auskunft
gegeben, und darüber hat er auch die Öffentlichkeit informiert .
Im Übrigen wird auf den Bericht der Untersuchungskommission „Volkswagen“ vom 22 . April 2016 verwiesen, der dem Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur zugeleitet und dort, wie gesagt, heute behandelt
bzw . beraten wurde .
Wollen Sie eine Zusatzfrage stellen, Herr Abgeordneter Krischer? - Bitte schön .
Herzlichen Dank, Herr Präsident . - Herr Barthle, Sie
haben nichts zu meiner Frage gesagt, gar nichts . Ich habe
gefragt: Seit wann ist die Bundesregierung darüber informiert, dass Autohersteller ihre Abgasreinigungseinrichtungen bei bestimmten Außentemperaturen - manche bei
10 Grad, manche bei 17 Grad, manche bei noch höheren
Temperaturen - abregeln? Es geht gar nicht um Volkswagen, es geht nicht um diese Software, es geht auch nicht
um den Untersuchungsbericht; es geht einzig und allein
um die Frage, seit wann die Bundesregierung von dieser,
wie wir seit Vorlage des Untersuchungsberichts wissen,
flächendeckenden - so kann man es, glaube ich, sagen Praxis bei den Automobilherstellern weiß . Ich möchte
hier ein konkretes Datum hören .
Herr Kollege Krischer, die Bundesregierung hat immer betont, dass wir einzelne Ergebnisse aus den Untersuchungen der eingesetzten Untersuchungskommission
dann der Öffentlichkeit mitteilen, wenn der Bericht vorliegt . Der Bericht wurde am 22 . April 2016 vorgelegt,
und damit ist Ihre Frage nach dem Datum beantwortet .
Noch eine Zusatzfrage? - Bitte .
Herr Staatssekretär, es tut mir leid: Die Frage ist nicht
beantwortet; denn dazu steht nichts im Bericht . Ich habe
gefragt, seit wann Sie das wissen . Ich möchte nicht wissen, wann Sie den Untersuchungsbericht veröffentlicht
haben, sondern ich möchte die Information haben, wann
diese Frage beantwortet worden ist . Ich kann daraus nur
Folgendes schließen: Sie wollen sie nicht beantworten .
Sie wollen mir diese Information nicht liefern . Sie haben
auch nicht gesagt, dass Sie sie nachliefern können . Sie
wollen nicht preisgeben, seit wann der Bundesregierung
die Information vorliegt, dass bei bestimmten Außentemperaturen abgeregelt wird .
Ich möchte noch etwas ansprechen, was im zweiten
Teil meiner Frage zum Ausdruck kam und wozu Sie auch
nichts gesagt haben . Wir haben den Wissenschaftlichen
Dienst des Deutschen Bundestages beauftragt, zu prüfen, ob diese Praxis nach EU-Recht überhaupt zulässig
ist . Der Wissenschaftliche Dienst kam zu der Einschätzung, dass die Praxis, Abgasreinigungseinrichtungen bei
bestimmten Außentemperaturen abzuregeln, nicht zulässig - sprich: illegal - ist . Meine Frage lautet daher ganz
konkret: Wie ist die Haltung der Bundesregierung? Ist
das illegal? Ist das legal? Auf welche Rechtsgutachten
oder anderen Expertisen stützen Sie Ihre Haltung?
Die Auffassung der Bundesregierung ist, dass die Anpassung der Emissionskontrollsysteme an verschiedene
Fahr- und Umweltbedingungen auf Grundlage des europäischen Rechts zulässig, also nicht unerlaubt ist . Allerdings hat sich während der Untersuchungen beim KBA
ergeben, dass Anpassungen vorgenommen worden sind,
die aus unserer Sicht in diesem Rahmen nicht zu erklären
sind .
({0})
Deshalb wurde mit den Herstellern die Vereinbarung getroffen, diese Anpassungseinrichtungen so auszurichten,
dass sie sich auf das tatsächlich notwendige Maß beschränken . Die deutschen Hersteller haben sich bereits
schriftlich bereit erklärt, dies auch im Rahmen von Rückrufaktionen innerhalb der Serviceintervalle im Blick zu
haben .
Dann kommen wir zur Frage 14 des Abgeordneten
Oliver Krischer, Bündnis 90/Die Grünen:
Wie hoch ist die Zahl der Leihbeamten im Bundesverkehrsministerium in den Abteilungen L, LA ({0}) und G in
den vergangenen acht Jahren gewesen ({1}), und aus welchen Unternehmen/Verbänden/Institutionen kamen die Leihbeamten jeweils?
Bitte schön, Herr Staatssekretär .
Herr Kollege Krischer, in den genannten Abteilungen des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur waren in den letzten acht Jahren keine
Leihbeamten bzw . Beschäftigten aus Unternehmen und
Verbänden tätig . Im Rahmen des deutsch-französischen
Austausches wird aufgrund einer Vereinbarung mit dem
französischen Ministerium für Infrastruktur, Verkehr,
Wohnungswesen, Tourismus und Meeresangelegenheiten vom 18 . Juni 2004 regelmäßig jeweils ein französischer Beamter bzw . eine französische Beamtin für zwei
Jahre im Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur aufgenommen . Aktuell ist eine französische
Beamtin in der Abteilung L eingesetzt .
Haben Sie eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter
Krischer? - Bitte .
Ich möchte das noch einmal klarstellen: Ich habe Sie
also richtig verstanden, dass es in den genannten Abteilungen keine Leihbeamten mit Ausnahme des Austauschs mit Frankreich gegeben hat; das kann man hier
so festhalten .
So ist das .
Okay . - Danke .
Die Fragen 15 und 16 der Kollegin Dr . Valerie Wilms
sowie die Frage 17 des Kollegen Dr . André Hahn werden
schriftlich beantwortet .
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit .
Die Frage 18 des Kollegen Dr . André Hahn sowie die
Fragen 19 und 20 der Kollegin Sylvia Kotting-Uhl werden schriftlich beantwortet .
Dann kommen wir zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie . Zur Beantwortung steht Frau Parlamentarische Staatssekretärin
Brigitte Zypries bereit .
Die Frage 21 des Kollegen Stephan Kühn sowie die
Fragen 22 und 23 der Kollegin Bärbel Höhn werden
schriftlich beantwortet .
Wir kommen zur Frage 24 des Abgeordneten HansChristian Ströbele:
In welcher finanziellen Gesamthöhe sind jeweils in den
Jahren 2010 bis 2015 den Firmen Heckler & Koch, Sig Sauer,
Oberland Defence und Carl Walther andere Ausfuhrgenehmigungen für Kleinwaffen erteilt worden als die, die die Bundesregierung in ihren jährlichen öffentlichen Berichten über
ihre Genehmigungspolitik erfasst hat, und welche Angaben
macht die Bundesregierung zur jeweiligen Art der gelieferten
Waffen?
Frau Staatssekretärin .
Vielen Dank, Herr Präsident . - Herr Abgeordneter,
für die angefragten Firmen sind in den Jahren 2010 bis
2015 Ausfuhrgenehmigungen für Kleinwaffen in folgender finanzieller Gesamthöhe erteilt worden: für Gewehre
mit KWL-Nummer in Höhe von insgesamt 168 344 332
Euro, für Maschinenpistolen in Höhe von 54 178 021
Euro und für Maschinengewehre in Höhe von 30 028 661
Euro . Der Firma Heckler & Koch sind Ausfuhrgenehmigungen für Gewehre mit einer KWL-Nummer in Höhe
von 139 478 664 Euro, für Maschinenpistolen in Höhe
von 54 097 732 Euro und für Maschinengewehre in Höhe
von 18 218 013 Euro erteilt worden . Die Firma Sig Sauer
hat keinerlei Ausfuhrgenehmigungen erhalten . Die Firma
Oberland Defence hat Ausfuhrgenehmigungen für Gewehre mit KWL-Nummer in Höhe von 5 653 630 Euro
erhalten . Die Firma Walther hat keine Genehmigung erhalten . Die restlichen Firmen haben Genehmigungen in
Höhe von insgesamt 35 102 975 Euro erhalten . Ich reiche
Ihnen die Zahlen gern schriftlich nach .
Da ich nicht weiß, ob Sie die Zusatzfrage, die mir hier
aufgeschrieben wurde, tatsächlich stellen werden, möchte ich gerne darauf hinweisen, dass in dieser Antwort
auch die Ausfuhrgenehmigungen in EU-, NATO- und
NATO-gleichgestellte Länder berücksichtigt sind .
Das kompensiert natürlich nicht die Zusatzfragen des
Kollegen Ströbele .
Das ist klar . Nur wenn er diese Frage nicht stellt: Was
mache ich dann?
Das habe ich schon verstanden .
Es muss ja gesagt werden, dass das nicht nur Drittländer betrifft .
Herr Abgeordneter Ströbele, haben Sie eine Zusatzfrage?
Vizepräsident Peter Hintze
Meine erste Frage: Welche Kriterien müssen erfüllt
sein, damit eine Firma in Deutschland als unzuverlässig
gilt und ihr keine Ausfuhrgenehmigungen für Kriegswaffen erteilt werden? Reicht dafür nicht, dass gegen
Geschäftsführer und Mitarbeiter der Firma nicht nur
strafrechtliche Ermittlungsverfahren eingeleitet werden,
sondern auch Anklage erhoben wird? Mit anderen Worten: Warum bekommt die Firma Heckler & Koch immer
noch Ausfuhrgenehmigungen, obwohl ein Verfahren gegen sie inzwischen bei Gericht anhängig ist, nicht bei der
Staatsanwaltschaft? Das konnte man gestern sehr schön
im Fernsehen verfolgen .
Die Frage kann ich nur eingeschränkt beantworten .
Als Juristin weiß ich natürlich, dass die Beurteilung der
Frage nach der Zuverlässigkeit immer vom Einzelfall abhängig ist . Es gibt im Zweifel keine allgemeingültige Definition dessen, was unzuverlässig ist. Ich weiß nicht, ob
die Firma Heckler & Koch noch Genehmigungen für den
Bereich bekommt, wo Zuverlässigkeit die Voraussetzung
ist . Ich will Ihnen das aber gerne schriftlich nachreichen .
Noch eine Zusatzfrage?
Ja, sie ist ganz kurz . - Spielt es bei den Überlegungen,
ob eine Genehmigung erteilt wird, eine Rolle, in welchem Landesteil oder in welchem Wahlkreis eine Firma
liegt, wie zum Beispiel bei der Firma Heckler & Koch?
Das kann ich mir nicht vorstellen .
Danke schön . - Wir sind damit am Ende dieses Geschäftsbereiches . Vielen Dank, Frau Staatssekretärin .
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Auswärtigen
Amtes . Zur Beantwortung der Fragen steht Staatsminister Michael Roth bereit .
Die Frage 25 des Abgeordneten Niema Movassat, die
Frage 26 des Abgeordneten Özcan Mutlu, die Fragen 27
und 28 der Abgeordneten Sevim Dağdelen sowie die Frage 29 der Abgeordneten Luise Amtsberg werden schriftlich beantwortet .
Wir kommen zur Frage 30 der Abgeordneten Katja
Keul, Bündnis 90/Die Grünen:
Inwiefern hat die Bundesregierung Kenntnisse darüber, ob
im Januar 2016 in Sidi Bouzid ({0}) Minderjährige im
Anschluss an politische Demonstrationen verhaftet, mehrere
Wochen gefangen gehalten und dabei gefoltert wurden, und
wie fließen solche staatlichen Handlungen in die Einstufung
Tunesiens als „sicherer Herkunftsstaat“ ein?
Herr Staatsminister, bitte .
Vielen Dank, Herr Präsident . - Frau Abgeordnete
Keul, über den konkreten Sachverhalt, den Sie in Ihrer
Frage, bezogen auf die Situation in Sidi Bouzid, schildern, hat die Bundesregierung keine Kenntnis .
Mitte Januar dieses Jahres war es in vielen Teilen Tunesiens zu Protesten gegen die hohe Arbeitslosigkeit sowie gegen Korruption und Vetternwirtschaft gekommen .
Dabei kam es stellenweise zu Vandalismus und auch zu
Plünderungen . Die tunesische Regierung betonte ausdrücklich, dass die Demonstrationen selbst rechtmäßig
seien und von den Ordnungskräften auch pflichtgemäß
geschützt worden seien . Aus Kreisen der Zivilgesellschaft wurde geäußert, dass der Unmut aus der Mitte
der Demonstranten gegenüber den Plünderungen dazu
geführt habe, dass die Proteste schlussendlich wieder abgeflaut seien.
Dann befragen Sie uns noch zu unserem Vorschlag
zur Einstufung Tunesiens als sogenannter sicherer Herkunftsstaat . Dieser Vorschlag erfolgte auf Grundlage einer umfassenden Prüfung anhand der vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Kriterien . Dabei hat sich die
Bundesregierung anhand der Rechtslage, aber auch der
konkreten Rechtsanwendung und der allgemeinen politischen Verhältnisse in Tunesien ein Gesamturteil über die
für eine Verfolgung bedeutsamen Verhältnisse in Tunesien gebildet . Die Bundesregierung kam zu dem bekannten
Urteil, dass die Voraussetzungen für die Einstufung als
sicheres Herkunftsland erfüllt sind .
Haben Sie eine Zusatzfrage, Frau Abgeordnete Keul?
Ja, habe ich . Vielen Dank . - Sie haben jetzt gesagt,
dass Sie von diesem konkreten Vorfall keine Kenntnis haben . Das kann ich nachvollziehen . Mir ist dieser
Vorfall konkret und glaubwürdig geschildert worden .
Werden Sie denn weiteren Berichten zu diesen Vorgängen nachgehen und sie prüfen? Wenn sich herausstellte,
dass Bürgerinnen und Bürger in Tunesien tatsächlich bei
der Wahrnehmung des Demonstrationsrechts willkürlich
verhaftet und anschließend auch körperlich misshandelt
werden, wäre das dann etwas, was Sie bei Ihrer Entscheidung möglicherweise berücksichtigen müssten?
Selbstverständlich nehmen wir mit großer Aufmerksamkeit die Menschenrechtslage nicht nur in Tunesien
wahr . Wir beobachten sie kontinuierlich, zumal Folter ein
wesentliches Kriterium bei der Beurteilung der Lage und
der Entscheidung darüber ist, ob man ein Land zu einem
sogenannten sicheren Herkunftsland erklären kann .
Für uns ist aber auch die Rechtslage ausschlaggebend - nicht allein, aber auch . Die Rechtslage in Tunesien sieht folgendermaßen aus: Nach Artikel 23 der tunesischen Verfassung - sie stammt aus dem Jahr 2014 - wird
jede Form von seelischer und physischer Folter als ein
Verbrechen eingestuft, das auch nicht verjährbar ist . Dessen ungeachtet leugnet die tunesische Regierung jedoch
nicht, dass Folter im Bereich von Polizei und Justiz in
Einzelfällen noch zur Anwendung kommt . Sie bekennt
sich zu ihrer Bestrafung auf Grundlage der entsprechenden Vorgaben der Verfassung . Entsprechende Zeichen
sind auch der Beitritt Tunesiens zur Antifolterkonvention
und die Einrichtung einer nationalen Behörde gegen die
Folter .
Noch eine Zusatzfrage?
Ja . - Es ist völlig unstrittig, dass in der Verfassung
jede Menge sehr lobenswerte Dinge stehen . Nichtsdestotrotz muss ich nachfragen; denn in der vergangenen
Woche hat sich der UN-Ausschuss gegen Folter mit Tunesien beschäftigt. Im offiziellen Bericht der tunesischen
Organisation gegen Folter sind auch Fälle von Folter an
Minderjährigen aufgeführt . Amnesty International hat
bei der Anhörung vor dem Ausschuss erneut dargestellt,
dass Folter in Tunesien trotz aller Bemühungen der Regierung weiterhin an der Tagesordnung ist . Haben Sie
Kenntnis von den UN-Berichten, die jetzt vorliegen, und
sind sie in Ihre Entscheidung eingeflossen?
Ich habe versucht, Ihnen deutlich zu machen, dass
die Bundesregierung über den konkreten Fall, den Sie
in Ihrer Frage schildern, keine eigenen Erkenntnisse hat .
Selbstverständlich sind uns die Berichte von Amnesty
International, aber auch von anderen Nichtregierungsorganisationen oder auch UN-Organisationen bekannt . Wir
lassen natürlich all diese Berichte in unser Urteil einfließen . Wir werden auch die Menschenrechtslage in Tunesien weiterhin sehr aufmerksam verfolgen .
Danke schön . - Wir kommen zum Geschäftsbereich
des Bundesministeriums des Innern . Zur Beantwortung
steht der Parlamentarische Staatssekretär Professor
Dr . Günter Krings bereit .
Ich rufe die Frage 31 des Abgeordneten HansChristian Ströbele auf:
Teilt die Bundesregierung die kritische Bewertung des
Bundesministers des Innern der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu den Ermittlungsbefugnissen des Bundeskriminalamtes vom 20 . April 2016, diese erleichtere nicht den
Kampf gegen den internationalen Terrorismus, was nach dieser Meinung offenbar Aufgabe der Rechtsprechung sein soll,
und auf welche Punkte und Passagen des Urteils des Gerichts
wird diese Bewertung gegebenenfalls bezogen bzw . gestützt?
Herr Staatssekretär, bitte .
Ganz herzlichen Dank, Herr Präsident . - Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Lieber Herr Ströbele, die
Befugnisse des Bundeskriminalamts zur Abwehr von
Gefahren durch den internationalen Terrorismus sind
von besonderer Bedeutung . Aufgabe der Rechtsprechung ist - da stimmen wir Ihnen zu - die Wahrung und
Durchsetzung des Rechts . Die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts werden von der Bundesregierung umgesetzt .
Haben Sie eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter
Ströbele?
Ich will die Frage, wie Ihre Erklärung mit der Äußerung des Bundesinnenministers zu vereinbaren ist,
nicht wiederholen; vielmehr möchte ich mich auf den
neu bekannt gewordenen Sachverhalt beziehen, wonach
sich der Bundesinnenminister, der Verfassungsminister,
in einem Interview dahin gehend geäußert haben soll,
dass das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber,
also dem Deutschen Bundestag, nicht so häufig „in den
Arm fallen“ soll . Ist das nach Auffassung der gesamten
Bundesregierung die richtige Reaktion darauf, dass das
Bundesverfassungsgericht bei 14 von 15 Bestimmungen
eines Gesetzpakets gesagt hat: „Entweder sind sie nichtig, weil sie verfassungswidrig sind, oder sie sind verfassungswidrig und müssen nachgebessert werden“? Ist das
nicht ein Grund dafür, dass sich der Bundesinnenminister
vielleicht einen anderen Job suchen sollte?
Wenn ich darf, Herr Präsident?
Ich bitte darum .
Lieber Kollege Ströbele, zunächst einmal hat uns das
Bundesverfassungsgericht - Sie haben es nur angedeutet - Aufgaben auferlegt, was die Nachbesserung unter
dem Gesichtspunkt des Verhältnismäßigkeitsprinzips
von Vorschriften anbelangt . Es hat im Wesentlichen
keine zentralen Vorschriften aufgehoben . Der Minister
hat - das habe ich in meiner ersten Antwort eben ähnlich
formuliert - in diesem Interview unter anderem gesagt:
Ich habe das Urteil des … Senats … zur Kenntnis
genommen . Es ist zu respektieren und umzusetzen .
Das ist als Verfassungsminister auch seine Aufgabe, da
wird ihm auch kein anderer Bundesminister in der Regierung widersprechen .
Allerdings befinden wir uns - um mit Peter Häberle
zu sprechen - in einer „offenen Gesellschaft der VerfasStaatsminister Michael Roth
sungsinterpreten“ . In einer freiheitlichen Demokratie
müssen Verfassungsorgane miteinander kommunizieren,
auch kritisch kommunizieren dürfen . Das gilt insbesondere auch für das Bundesverfassungsgericht, das nicht
nur ein Gericht ist, sondern auch ein Verfassungsorgan,
worauf die Richter zu Recht großen Wert legen . Deshalb muss vor und auch nach Urteilen des Bundesverfassungsgerichts, unbeschadet der vollumfänglichen und
konsequenten Umsetzung der Urteile, ein Diskurs, eine
politische Bewertung möglich sein . Das ist kein Widerspruch, das ist eine Selbstverständlichkeit . Wir sind kein
Richterstaat, sondern eine offene Demokratie . Man muss
mit solchen Urteilen daher offen umgehen können .
Sie haben dezidiert nach der Rechtsauffassung der
gesamten Bundesregierung gefragt . Ich darf darauf hinweisen, dass nicht das Bundesinnenministerium Partei in
Karlsruhe war, sondern die Bundesrepublik Deutschland .
Die Bundesrepublik wird in solchen Verfahren durch die
Bundesregierung vertreten, die Bundesregierung wiederum benennt - wie auch in diesem Fall - einen Prozessvertreter, der die Rechtsauffassung der gesamten
Bundesregierung vertritt . Richtig ist: Wir haben uns mit
unserer Rechtsauffassung nicht voll durchsetzen können .
Insoweit kennen Sie auch die Rechtsauffassung der Bundesregierung .
Noch eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Ströbele?
Danke, Herr Präsident . - Herr Staatssekretär, wir reden über ein Gesetz, das vom Bundesinnenminister der
Großen Koalition 2009 eingebracht wurde; nicht von diesem Bundesinnenminister, sondern vom damaligen Bundesinnenminister . Das Bundesverfassungsgericht stellt
nun fest, dass große Teile des Gesetzes verfassungswidrig sind . Wäre es nicht die richtige Reaktion des Verfassungsministers, zu sagen: „Mea culpa, mea culpa! Da ist
etwas schief gegangen . Wir reparieren das so schnell wie
möglich, und wir werden in Zukunft mehr darauf achten,
dass Gesetze verfassungskonform formuliert werden“,
statt jetzt nachzuhaken und zu sagen: „Ihr sollt euch in
das Gesetzgebungsverfahren nicht einmischen, ihr sollt
dem Gesetzgeber nicht in den Arm fallen“? Das Bundesverfassungsgericht ist dem Gesetzgeber im Übrigen zu
Recht in den Arm gefallen .
Herr Staatssekretär .
Der Bundesinnenminister hat - das habe ich jetzt
schon zweimal gesagt; ich sage es Ihnen gern zum dritten
Mal - deutlich gemacht, dass nicht nur selbstverständlich
die Vorgaben aus Karlsruhe umgesetzt werden, sondern
dass sie auch schnellstmöglich umgesetzt werden . Das ist
auch unser Interesse .
Aber noch einmal: Es gehört in einer freiheitlichen
offenen Demokratie dazu, dass man nach einem Urteil
über das Urteil auch politisch reden darf . Wer das nicht
möchte, hat offenbar einen anderen Staat vor Augen . Wir
haben mit dem Bundesverfassungsgericht ein Gericht,
aber zugleich ein Verfassungsorgan, das sich diesem Diskurs nicht nur stellen muss, sondern auch gerne stellt .
Das wissen wir aus vielen Diskussionen, die wir mit Verfassungsrichtern führen .
Insofern waren die Äußerungen des Bundesministers
richtig . Denn er hat auf diese Punkte und auf die politischen Implikationen eines Urteils hingewiesen, ohne in
irgendeiner Form auch nur in Abrede zu stellen, dass wir
natürlich konsequent die Vorgaben befolgen werden .
Herzlichen Dank . - Die Frage 32 des Abgeordneten
Andrej Hunko, die Frage 33 der Abgeordneten Beate
Walter-Rosenheimer und die Frage 34 der Abgeordneten
Ulla Jelpke werden schriftlich beantwortet .
Wir kommen dann zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz . Die
Frage 35 der Abgeordneten Corinna Rüffer wird ebenfalls schriftlich beantwortet .
Damit kommen wir zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Finanzen . Die Frage 36 der Abgeordneten Ulla Jelpke wird schriftlich beantwortet .
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales . Die Frage 37 der
Abgeordneten Corinna Rüffer, die Fragen 38 und 39 der
Abgeordneten Sabine Zimmermann ({0}) sowie die
Fragen 40 und 41 der Abgeordneten Katrin Kunert werden schriftlich beantwortet .
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung . Die Frage 42 des Abgeordneten Niema Movassat und die Frage 43 des Abgeordneten
Andrej Hunko werden ebenfalls schriftlich beantwortet .
Wir sind damit am Ende der Fragestunde .
Ich unterbreche die Sitzung des Deutschen Bundestages bis exakt 15 .35 Uhr . Dann wird der Zusatzpunkt
Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen zum Thema „Umgang mit der Presse- und
Meinungsfreiheit in der Türkei“ aufgerufen . Also: Um
15 .35 Uhr setzen wir das Plenum mit der Aktuellen Stunde fort .
({1})
Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet .
Ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Umgang mit der Presse- und Meinungsfreiheit
in der Türkei
Ich eröffne die Aussprache . Das Wort hat als erste
Rednerin Frau Katrin Göring-Eckardt, Bündnis 90/Die
Grünen .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen! Ich zitiere:
Es wird dringend davon abgeraten, in der Öffentlichkeit politische Äußerungen gegen den türkischen Staat zu machen . . .
So steht es auf der Homepage des Auswärtigen Amts,
eine Information für Türkei-Reisende .
Es gibt Menschen, die haben diesen Satz in der jüngeren Vergangenheit nicht beachtet, zum Beispiel Hasnain
Kazim, der Türkei-Korrespondent des Spiegels - im
März musste er ausreisen: Akkreditierung nicht verlängert -, zum Beispiel die niederländische Journalistin
Ebru Umar - Grund: kritische Äußerungen gegenüber
Herrn Erdogan auf Twitter . ARD-Korrespondent Volker
Schwenck durfte gar nicht erst einreisen, der amerikanische Journalist David Lepeska ebenfalls nicht . Ganz zu
schweigen von den noch laufenden Prozessen gegen Can
Dündar und Erdem Gül von der Zeitung Cumhuriyet. Sie
sind wegen angeblicher Unterstützung einer Terrororganisation mit lebenslanger Haft bedroht . Meine Damen
und Herren, auf der Liste der „Reporter ohne Grenzen“
zur Pressefreiheit steht die Türkei aktuell auf Platz 151
von 180, damit hinter Ländern wie Simbabwe, Bangladesch oder Äthiopien . Das kann uns nicht egal sein als
Demokratinnen und Demokraten .
({0})
Diese Entwicklung kam nicht über Nacht . Die Bundesregierung muss es bemerkt haben und ist untätig geblieben . Heute sagt ein Regierungsvertreter, der nicht genannt werden will, es gäbe keine schwarzen Listen von
Journalisten in der Türkei . Gibt es keine, oder wissen
wir nichts Genaueres? Die Konsequenz ist dieselbe: Ein
Land, das immer noch die EU-Mitgliedschaft anstrebt,
das kann nicht repressiv und willkürlich mit Journalistinnen und Journalisten umspringen . Wir müssen das als
demokratischer Staat, müssen das als Europäer, die ihre
Werte verteidigen, ansprechen .
({1})
Das ist eine Entwicklung, die nicht nur Journalistinnen
und Journalisten betrifft . Sie betrifft Künstler, sie betrifft
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, sie betrifft
kritische Oppositionelle .
Herr Erdogan ist Wiederholungstäter . Er ist nämlich
nicht nur schnell beleidigt, er setzt sich auch gleich mit
dem türkischen Staat, nach dem Motto: Der Staat bin
ich . Wer gern ein absolutistischer Monarch sein will, der
nimmt natürlich nicht nur jede Kritik an seiner Person
übel, sondern versteht auch jede Kritik an staatlicher
Willkür als Majestätsbeleidigung . Auch das ist für Demokratinnen und Demokraten unerträglich .
({2})
Über 2 000 Prozesse führt er, zum Beispiel gegen
„Academics for Peace“, deren Vertreter wegen Kritik
am Vorgehen gegen die Kurden inhaftiert wurden . Die
Dresdner Sinfoniker sollen besser nicht mehr über Völkermord in Armenien konzertieren, und die EU-Kommission hat Informationen über das entsprechende Projekt von der Homepage genommen . Meine Damen und
Herren, dass eine EU-Kommission und eine deutsche
Bundesregierung das nicht klar und deutlich benennen
und kritisieren - übrigens ein Projekt, das mit Mitteln
des deutschen Staates gefördert wird -, das ist für mich
eine Absurdität . Das geht nicht . Das müssen Sie ändern!
({3})
Nicht zuletzt: Es wird gegen Jan Böhmermann wegen
Verstoßes gegen § 103 des Strafgesetzbuchs ermittelt .
Ich habe mir erzählen lassen, dass es unter Juristinnen
und Juristen einen Spruch gibt, den man gerne und überall zitiert: Ein Federstrich des Gesetzgebers, und ganze
Bibliotheken werden zur Makulatur . - Sie hätten jetzt
die Chance, Sie hätten jetzt die Gelegenheit . Warten Sie
nicht bis 2017, warten Sie bitte nicht bis 2018 oder bis
wann auch immer, sondern schaffen Sie jetzt nach unserer Vorlage sofort den § 103 StGB ab .
({4})
Beleidigung bleibt strafbar, ja, aber die Grenze zwischen Kritik und Beleidigung darf nicht politisch,
sondern muss juristisch definiert werden. Es gilt die
Herrschaft des Rechts und eben keine Willkür . Die Presse- und Meinungsfreiheit ist ja nicht zuletzt auch hier bei
uns unter Druck . Gerade weil in Deutschland antidemokratische und autoritäre Kräfte gerne den Kampfbegriff
der vermeintlichen Lügenpresse im Mund führen, gerade
weil die Kommentarspalten von Onlinemedien schon vor
aus Russland oder sonst woher finanzierten Trollen kapitulieren und schließen mussten, gerade deswegen müssen
wir doch klar Haltung zeigen - klar Haltung zeigen für
die Meinungsfreiheit, klar Haltung zeigen für die Pressefreiheit . Das gilt im Land, aber das gilt natürlich auch erst
recht bei Partnern, wie die Türkei einer sein soll . Das ist
nicht bequem, aber es ist unverzichtbar .
({5})
Ja, Deutschland unterstützt die Türkei finanziell bei
den Herausforderungen, mit der großen Zahl der Geflüchteten umzugehen, aber es darf nicht einen Hauch
eines Hinweises darauf geben, dass damit die Frage der
Meinungsfreiheit und der Pressefreiheit gleich mit verdealt wird . Die Kanzlerin hat - ich bedaure das sehr und
zutiefst; sie ist die Kanzlerin eines demokratischen Landes - am Samstag, als sie in der Türkei war, dies nicht
Vizepräsident Peter Hintze
angesprochen . Sie hat sich nicht mit Journalistinnen und
Journalisten getroffen . Sie hat sich nicht mit Oppositionellen getroffen . Das wäre die Chance gewesen, zu zeigen, wie viel wert uns unsere Werte sind . Diese Chance
hat sie verpasst . Das kritisieren wir sehr laut, sehr deutlich . Wer die Meinungsfreiheit verteidigen will, der tut
das hier im Land und auch überall sonst auf der Welt,
gerade für diejenigen, um die es geht .
({6})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Dr . Andreas Nick, CDU/CSU-Fraktion .
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
„Gerade als Freunde der Türkei beobachten wir manche
Entwicklungen bei Meinungsfreiheit, Rechtsstaatlichkeit
und dem Umgang mit Minderheiten mit Aufmerksamkeit
und - zweifellos auch mit weiter wachsender - Sorge .“
Dies habe ich als Türkei-Berichterstatter meiner Fraktion in den vergangenen zweieinhalb Jahren vielfach so
oder ähnlich festgestellt, nicht nur von diesem Pult aus,
sondern selbstverständlich auch in zahlreichen Gesprächen mit Regierungsvertretern und Parlamentariern in
der Türkei, zuletzt Anfang März gemeinsam mit Staatsministerin Böhmer in Ankara . Hören Sie doch bitte auf,
ständig so zu tun, als hätten wir in dieser Frage irgendeinen Nachholbedarf .
({0})
Natürlich sind Einschränkungen der Meinungs- und
Pressefreiheit für uns nicht hinnehmbar . Allein die Zahl
von über 2 000 Verfahren wegen Beleidigung ist sicherlich Beleg für die überaus ausgeprägte Empfindlichkeit
des türkischen Staatspräsidenten . Es war deshalb ein
wichtiges und auch in der Türkei stark beachtetes Signal, dass der deutsche Botschafter in Ankara, Martin
Erdmann, im März den Auftakt des Prozesses gegen zwei
Redakteure der Zeitung Cumhuriyet persönlich beobachtet hat . Auch wenn es nur den Anschein gibt, es gäbe
schwarze Listen mit den Namen ausländischer Journalisten, denen systematisch Akkreditierung oder Einreise
verweigert wird ({1})
dies ist natürlich völlig inakzeptabel . Auch das sollte
doch in diesem Hause völlig unstrittig sein .
({2})
Deshalb fordern wir hier umfassende Aufklärung und
eine Rückkehr zur Einhaltung international üblicher
Standards auch beim Umgang mit ausländischen Pressevertretern .
Diese bedauerlichen Entwicklungen vollziehen sich
aber auch vor dem Hintergrund einer zunehmenden politischen Polarisierung in der Türkei . Neben dem gewaltsamen Konflikt mit der PKK trägt dazu gerade auch im
Bereich der Medien und der Justiz die Auseinandersetzung mit der Gülen-Bewegung bei . Es ist nicht hilfreich,
dass sich die parteipolitische Aufstellung in der Türkei
zunehmend an religiös-weltanschaulichen und ethnischen Trennungslinien zwischen Religiösen und Laizisten, Sunniten und Aleviten, kurdischer Minderheit und
türkischen Nationalisten orientiert . Das erschwert eine
Zusammenarbeit über Parteigrenzen immer mehr .
Wir in Deutschland sollten uns aber davor hüten, zu
dieser Polarisierung unsererseits gezielt weiter beizutragen . Wir alle miteinander sollten auch der Versuchung
widerstehen, mit erhobenem Zeigefinger unseren eigenen
politischen Willen an die Stelle des demokratischen Prozesses in der Türkei zu setzen oder aus innenpolitischen
Motiven bewusst oder unbewusst gewisse Ressentiments
gegenüber der Türkei zu bedienen oder gar zu schüren .
Lassen Sie mich mit Blick auf die jüngste Debatte in
Deutschland daher eines klar sagen: Für jeden türkischen
Bürger, auch für den türkischen Präsidenten, wie politisch sympathisch oder missliebig er wem auch immer
möglicherweise gerade sein mag, gilt das gleiche Recht
auf Schutz vor persönlichen Verunglimpfungen und Beleidigungen wie für jeden anderen in unserem Lande
auch .
({3})
Auch das macht unseren Rechtsstaat aus . Deshalb ist es
Angelegenheit unserer unabhängigen Justiz, diese Frage
im Einzelnen zu klären .
Die Türkei ist nach wie vor - daran muss man hier ja
gelegentlich erinnern - ein demokratischer Staat, und wir
wollen, dass dies so bleibt .
({4})
Wir müssen deshalb auch zur Kenntnis nehmen, dass es
politische und gesellschaftliche Mehrheiten in der Türkei gibt, die sich in demokratischen Wahlen ausdrücken .
Selbstverständlich ist die legitime türkische Regierung
der erste Ansprechpartner der Bundesregierung in der
zwischenstaatlichen Zusammenarbeit . Dass gerade wir
als Parlamentarier darüber hinaus breite Kontakte mit
Vertretern aller Parteien pflegen, ist richtig und notwendig . Ich treffe mich in Ankara regelmäßig auch mit
Vertretern der CHP, und ich habe zusammen mit Jürgen
Hardt vor wenigen Wochen auch Herrn Demirtas hier in
Berlin getroffen .
({5})
- Darum geht es . Hier brauchen wir doch überhaupt keinen Gegensatz aufzubauen .
Im Hinblick auf die Sicherung der demokratischen
Grundstruktur einer Gesellschaft und eines Staates sind
Pressefreiheit und Unabhängigkeit der Justiz zweifellos
besonders sensible Bereiche . Beides ist nicht verhandelbar .
({6})
Die Position der Bundeskanzlerin und der Bundesregierung ist hier völlig unzweideutig .
Aber es gilt auch: Wenn wir berechtigte Kritik üben
und vor allem positiven Einfluss ausüben wollen, dann
wird uns das eher gelingen, wenn wir es glaubwürdig aus
einer Position als Freunde und Partner der Türkei tun .
({7})
Gerade durch die Eröffnung der Kapitel 23 und 24 im
Rahmen des Beitrittsprozesses können wir den Dialog zu
Fragen der Meinungs- und Pressefreiheit intensivieren
und so unsere Möglichkeiten erhöhen, die Entwicklung
in der Türkei positiv zu beeinflussen. Denn hier geht es
keineswegs - das wird oft falsch dargestellt - um Verhandlungen, sondern um die Überprüfung der Einhaltung
der für die EU unverzichtbaren Standards im Acquis
communautaire .
({8})
Die Türkei ist und bleibt für uns, weit über die Flüchtlingspolitik hinaus, ein wichtiger strategischer Partner .
Gerade wir in Deutschland haben aus vielfältigen Gründen ein vitales Interesse an einer prosperierenden Türkei mit einer stabilen Demokratie und einer lebendigen
Zivilgesellschaft, in der Meinungs- und Pressefreiheit
einen selbstverständlichen Platz haben .
Vielen Dank .
({9})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Dr . Dietmar Bartsch, Fraktion Die Linke .
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist gut,
dass die Grünen eine Aktuelle Stunde zu diesem Thema
beantragt haben . Ich glaube, wir müssen diese Debatte
in einen Gesamtkontext stellen . Es hat natürlich mit dem
Deal der Bundesregierung zum Thema Flüchtlinge zu
tun . Es hat damit zu tun, dass Herr Erdogan in der Türkei
verkündet hat, dass ab 1 . Juli dieses Jahres Visafreiheit
herrschen wird . Es gibt im Übrigen auch den Zusammenhang, dass der Parlamentspräsident, Herr Kahraman,
gesagt hat, man brauche eine islamische Verfassung .
Das alles sind Dinge, die mit zu diesem Thema gehören . Herr Erdogan hat, wenn man es nett sagen möchte,
eine Schlüsselstellung . Man kann aber auch sagen: Herr
Erdogan nutzt diese und erpresst Europa . Das Schlimme
ist: Er kann Europa erpressen, meine Damen und Herren .
({0})
Thomas Jefferson hat vor rund 240 Jahren gesagt:
Wo Pressefreiheit herrscht und jedermann lesen
kann, da ist Sicherheit .
Ich füge heute hinzu: Wo Journalistinnen und Journalisten frei berichten können, nicht attackiert, verhaftet oder
ermordet werden, dort erst können Bürgerinnen und Bürger die Demokratie frei gestalten .
({1})
Wie aber ist die Lage in der Türkei? „Reporter ohne
Grenzen“ hat festgestellt, dass die Türkei bei der Pressefreiheit auf Platz 151 von 180 Ländern liegt . Aktuell
sind über drei Dutzend Journalistinnen und Journalisten
in Haft . Unsere Fraktion hatte in der letzten Woche die
Ehefrau von Can Dündar, dem Chefredakteur der Cumhuriyet, zu Besuch . Wenn man einen Betroffenen in der
Fraktion zu Besuch hat und mit ihm redet, dann gewinnt
man einen anderen Eindruck . Man erfährt zum Beispiel,
dass Redaktionen gestürmt werden . Wenn man sich das
alles vor Augen führt, bekommt man eine andere Sicht
auf die Situation .
Im Übrigen betrifft das inzwischen auch Journalisten
von hier . Der ARD-Journalist Volker Schwenck wurde
über zehn Stunden am Flughafen in der Türkei festgehalten und an der Einreise gehindert . Seit dem Amtsantritt
von Herrn Erdogan gab es in der Türkei über 2 000 Verfahren wegen Verunglimpfung des Staatspräsidenten .
({2})
Meine Damen und Herren, das ist doch skandalös .
({3})
Herr Böhmermann, der hier genannt wurde, ist nur das
prominenteste Beispiel hier in Deutschland . Viele haben
gesagt, dass es ein großer Fehler der Kanzlerin war, sich
hierzu öffentlich zu äußern . Sie hat diesen Fehler eingeräumt . Es wurde auch wirklich Zeit .
Aber, meine Damen und Herren, es ist mehr nötig .
Wenn früher autokratische Staatschefs besucht wurden,
dann hatte der Besucher immer eine Liste mit Personen
dabei, die aus dem Gefängnis zu entlassen waren und vor
Verfolgung geschützt werden sollten . Hatte die Bundeskanzlerin auf ihrer Reise eigentlich auch einen solchen
Zettel mit? War das so? Haben Sie Herrn Erdogan wirklich entsprechende Hinweise gegeben?
Mich erinnert das Verhalten der Kanzlerin daran,
was in der Reisewarnung des Auswärtigen Amts steht Katrin Göring-Eckardt hat das zitiert -:
Es wird dringend davon abgeraten, in der Öffentlichkeit politische Äußerungen gegen den türkischen Staat zu machen . . .
Genau das hat Frau Merkel offensichtlich völlig in sich
aufgenommen .
Lieber Herr Nick, Sie haben gesagt: Wir betrachten
das mit Aufmerksamkeit - na, Donnerwetter! -, wir haben keinen Nachholbedarf - na, Donnerwetter! -, wir
wollen keinen erhobenen Zeigefinger. - Entschuldigen
Sie, bei dieser Entwicklung ist nun wirklich etwas mehr
nötig .
({4})
Wie hat Maxim Gorkij gesagt?
Die Abschaffung der Pressefreiheit ist eine physische Vergewaltigung und der Demokratie unwürdig .
Wir müssen aufpassen, dass das Grundrecht auf Presseund Meinungsfreiheit hierzulande und in Europa nicht
aktuellen politischen Erwägungen geopfert wird .
Es ist eben so: Der lange Arm Erdogans reicht inzwischen sehr weit . Am Wochenende wurde die Forderung
des türkischen EU-Botschafters bekannt, Fördermittel der Europäischen Union für das Konzertprogramm
Aghet - Agit der Dresdner Sinfoniker nicht auszuzahlen . In diesem Stück wird der Massenmord an den Armeniern vor hundert Jahren als Genozid bezeichnet . Die
EU-Kommission ist der Forderung zwar nicht nachgekommen, hatte aber nach Angaben der Dresdner Sinfoniker eine Entschärfung der bisherigen Formulierung auf
ihrer Internetseite angekündigt, und die Projektbeschreibung wurde deshalb von der Internetseite heruntergenommen . Das dürfen Demokratinnen und Demokraten
nicht akzeptieren . Die Erpressungen müssen aufhören .
({5})
Ich will zum Schluss kommen und noch einmal zitieren:
Die Presse muss die Freiheit haben, alles zu sagen,
damit gewisse Leute nicht die Freiheit haben, alles
zu tun .
In diesem Sinne, Frau Bundeskanzlerin und liebe
Bundesregierung - der Bundesaußenminister ist ja anwesend -: Finden Sie deutliche Worte! Es geht nicht um
erhobene Zeigefinger, es geht um die Werte, die wir haben - die Werte in unserem Land und die Werte Europas .
Deswegen erwarten wir eine deutliche öffentliche Positionierung .
Die Türkei ist ein NATO-Partner, und sie will sogar in
die EU . Bei diesen Voraussetzungen - Stichworte: Frauenrechte, Politik gegen Kurdinnen und Kurden, Trennung
von Kirche und Staat, nicht zuletzt Pressefreiheit - ist das
für uns hier in diesem Hause aber nicht akzeptabel . Das
dürfen wir in diesem Hause - und zwar alle politischen
Parteien - niemals akzeptieren .
Herzlichen Dank .
({6})
Als nächster Rednerin erteile ich der Abgeordneten
Dr . Dorothee Schlegel, SPD-Fraktion, das Wort .
({0})
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen!
„Die Gedanken sind frei“, sagt ein altes Volkslied . Aber
wir erleben, dass in der heutigen Türkei selbst die Freiheit der Gedanken bedroht ist . Wir beobachten, dass die
Presse- und Meinungsfreiheit dort in einem erbärmlichen
Zustand ist . Diese Entwicklung hat sich mir in der letzten
Woche in Ankara und in Istanbul auch bestätigt .
Als Berichterstatterin war ich mit einer Delegation des
EU-Ausschusses vor Ort . Zwei Tage vor der Fortsetzung
seines Prozesses trafen wir in Istanbul den Journalisten
Can Dündar in den Redaktionsräumen der Cumhuriyet.
Der Chefredakteur dieser ältesten Zeitung der Türkei
wurde vom Staatspräsidenten persönlich angeklagt genauso wie etliche seiner Kollegen und annähernd
2 000 Bürgerinnen und Bürger .
Dündar hatte neben kritischen Kolumnen auch Bilder
veröffentlicht, auf denen Lastwagen des Geheimdienstes
zu sehen sind, die syrische Islamisten mit Waffen beliefern . Die ihm drohende Strafe ist zweimal lebenslänglich .
Bei allem Pessimismus habe ich Can Dündar als sehr
geradlinigen Menschen empfunden . Mich hat beeindruckt, dass er entschlossen für seine Sache einsteht trotz staatlicher Einschüchterung . Ein gutes Vorbild!
Wenige Tage zuvor konnte ich hier im Reichstag ebenfalls mit seiner Ehefrau, Dilek Dündar, sprechen - auch
darüber, wie in der Türkei neuerdings Terrorismus definiert wird . Sie sagte: Wir haben Hoffnung, aber Wunder
können wir nicht erwarten . - Can Dündar hofft auf die
Wachsamkeit der EU und darauf, dass nicht nur sein Prozess international beobachtet wird .
Im Januar letzten Jahres sprach der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoglu auf Einladung der Körber-Stiftung in Berlin . Auf die Einschränkung der Pressefreiheit hin angesprochen, betonte er, die türkische
Presse sei frei . In einem offenen Brief an die „Kanzlerin
der freien Welt“, vom Spiegel am Samstag veröffentlicht,
weist Dündar auf eine gemeinsame Pressekonferenz von
Davutoglu mit Angela Merkel im Rahmen der Verhandlungen zum EU-Türkei-Aktionsplan im Februar dieses
Jahres hin . Wieder auf die Pressefreiheit angesprochen,
antwortete der Ministerpräsident, dass in türkischen Gefängnissen keine Journalisten säßen, die für ihre Arbeit
bestraft würden . Zur selben Zeit, so Dündar, saß er in
Haft .
Meine Damen und Herren, wenige Tage nun vor dem
Internationalen Tag der Pressefreiheit, am 3 . Mai, haben
wir letzte Woche erlebt, dass ausländischen Journalisten
die Einreise in die Türkei verweigert wurde; meine Kolleginnen und Kollegen haben darauf schon hingewiesen .
Sie wurden festgesetzt, verhaftet, freigelassen und wieder zurückgeschickt . Diese Vorgänge sind alarmierend;
denn Journalisten müssen ihrer Aufgabe ungehindert
nachgehen können .
({0})
EU-Parlamentspräsident Martin Schulz hat recht: In
Demokratien haben schwarze Listen weder für Journalisten noch für Akademiker oder sonstige Berufsstände
etwas zu suchen . - Wir erleben in der Türkei derzeit ein
großes Aber gegen die denkende Elite . In Ankara sagte
mir eine Journalistin der oppositionellen Zeitung Sözcü:
Wie lange können wir noch weiterschreiben? - Sie war
zuvor bei der Tageszeitung Hürriyet entlassen worden .
Sie erzählte: Nach einem kurzen Sommer der Demokratie begannen dann im letzten November Repressionen,
Kündigungen, Strafgebühren, Übergriffe, und in den
Köpfen setzte die Selbstzensur ein .
Der CHP-Vorsitzende Kemal Kilicdaroglu war bei
unserem Treffen im türkischen Parlament darin mit mir
einig, dass die EU-Beitrittsverhandlungen für eine demokratische Türkei lebensnotwendig seien . Bereits vor
57 Jahren stellte die Türkei einen Assoziierungsantrag
an die damalige Europäische Wirtschaftsgemeinschaft .
Nicht nur Kilicdaroglu ist enttäuscht darüber, dass der
Türkei von der früheren schwarz-gelben Bundesregierung die EU-Beitrittstür ohne Not zugeschlagen wurde .
Heute stehen wir vor den Folgen dieser Fehlentscheidung . Zehn Jahre eines möglichen Demokratisierungsprozesses gingen verloren . Wir waren mit Gerhard
Schröder und Joschka Fischer in dieser Frage schon einmal weiter .
({1})
Es ist höchste Zeit, dass die EU die Verhandlungskapitel 23 und 24 zu Justiz und Menschenrechten öffnet; denn
dann müssen die Fakten auf den Tisch und Grundwerte
diskutiert werden . Die Einschränkung von Grundrechten
und die Rechtsunsicherheiten schaffen in der Türkei ein
Klima der Angst . Sie gehen dann Hand in Hand mit dem
Verlust von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Pressefreiheit, Säkularismus und Religionsfreiheit .
Wir dürfen also die gesellschaftlichen Kräfte in der
Türkei, die mit hohem Einsatz gegen Repressionen und
für die Annäherung an die EU kämpfen, nicht alleine lassen . Daher ist eine Fortsetzung eines sachlichen, klaren
und kritischen Dialogs mit der türkischen Regierung unabdingbar . Wir fordern ein Ende der Gewalt im Südosten
der Türkei und eine Fortsetzung der Friedensverhandlungen . Und wir fordern die Freilassung von Journalisten
aus türkischen Gefängnissen .
Herzlichen Dank .
({2})
Das Wort hat die Kollegin Elisabeth Motschmann für
die CDU/CSU-Fraktion .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Pressefreiheit liegt in der Türkei am Boden; da gibt
es überhaupt nichts zu beschönigen . Das wird auch niemand tun . Diese Situation besorgt uns aus drei Gründen:
Erstens . Die Türkei ist ein NATO-Partner . Zweitens . Sie
will Mitglied in der EU werden . Drittens . Die Türkei ist
aus strategischen Gründen für uns wichtig .
Jedem ist klar: Ohne Pressefreiheit kann es keine Mitgliedschaft in der EU geben; das ist völlig unbestritten .
Es kann sie übrigens auch nicht ohne Religionsfreiheit,
ohne unabhängige Justiz und ohne Einhaltung von Menschenrechten geben . Wenn das nicht gewährleistet ist,
wird die Türkei kein Mitglied der EU werden können .
Sie wird es auch nicht werden können - es sei mir hier
noch erlaubt, das besonders zu betonen -, wenn die Frauenrechte nicht gewährleistet sind .
Blicken wir einmal einen Augenblick zurück: Das
Ringen um die Presse- und Meinungsfreiheit hat sehr
früh begonnen . Wenn man darauf schaut, wird einem
klar, wie erkämpft und gar nicht selbstverständlich sie
ist . Schon vor 400 Jahren formulierte John Milton, ein
Vordenker der Pressefreiheit:
Die Freiheit steht an der Wiege aller großen Gedanken . … Gebt mir die Freiheit zu wissen, mich mitzuteilen und, vor allem, frei nach dem Gewissen zu
urteilen .
Diese Worte sind nach 400 Jahren aktueller denn je . Freiheit ist das Fundament der Demokratie, und insofern gibt
es da keinen Rabatt .
({0})
- Ja, bitte! Es freut mich, wenn Sie sich einen Satz merken, den ich Ihnen sage . Das kann ja nicht falsch sein . Übrigens hat auch Immanuel Kant engagiert für die
Freiheit des Denkens geworben und von der Freiheit der
Feder gesprochen . Insofern haben wir allen Grund, die
Presse- und Meinungsfreiheit zu verteidigen und sie auch
als Eintrittskarte für jegliche Mitgliedschaft in der EU zu
benutzen .
({1})
Aber das, was für uns selbstverständlich ist - Artikel 5 Grundgesetz -, ist in vielen Ländern nicht selbstverständlich . In Russland, in China und im Iran ist das
nicht selbstverständlich . Ich könnte die Liste beliebig
verlängern . Egal, wo die Pressefreiheit gefährdet ist - Sie
sind da immer ein bisschen auf dem linken Auge blind -,
müssen wir das anmahnen . Ein selektives Gewissen - da
habe ich bei Ihnen manchmal ein bisschen Sorge - kann
es nicht geben .
({2})
Die Tatsache, dass der türkische Präsident die Pressefreiheit ohne Frage zurzeit mit Füßen tritt, müssen wir
natürlich in aller Deutlichkeit kritisieren, und genau das
tut die Bundeskanzlerin, und genau das tut der Außenminister . Sie brauchen auch gar keine Listen, Herr Bartsch;
denn die Namen sind ja bekannt . Sie haben sie doch alle
genannt . Man muss also weder der Bundeskanzlerin
noch dem Außenminister eine Liste zustecken . Das haben die - dessen seien Sie ganz gewiss - gut im Kopf .
({3})
- Ja, gut, sie soll sie aber nennen und das bei Erdogan
einfordern .
({4})
Natürlich ist es eine Schande, Frau Göring-Eckardt,
dass die Türkei in Bezug auf die Pressefreiheit auf
Platz 51 liegt .
({5})
- Entschuldigung! 151, das meinte ich auch . - Schlechter
geht es bald gar nicht mehr . Das ist eine Schande . Vor allem ist es eine Schande für dieses Land . Das hätte etwas
Besseres verdient . Es bleibt nur die Frage, welche Konsequenzen wir daraus ziehen . Sollen wir etwa deshalb
nicht mit der Türkei verhandeln, wenn es um die Flüchtlingsfrage geht? Das wäre doch genau falsch . Sprechen,
diskutieren, verhandeln und auch streiten ist das Gebot
der Stunde . Der türkische Ministerpräsident Davutoglu er ist hier schon wiederholt zitiert worden - hat gesagt:
Wir können über alles reden, auch über die Pressefreiheit . - Dann tun wir es doch auch! Wir dürfen die Brücken, die es ohne Frage gibt, nicht abbrechen, sondern
müssen versuchen, sie zu stabilisieren .
Viele Menschen - dazu gehört auch Herr Bartsch fürchten, dass wir durch die aktuellen Vereinbarungen
mit der Türkei in der Flüchtlingsfrage erpressbar seien .
Das ist doch total falsch . Sie wissen das selber, Herr
Bartsch .
({6})
Niemand will das, schon gar nicht die Bundesregierung .
({7})
Pressefreiheit ist nicht verhandelbar . Gerade weil wir mit
der Türkei in enger Verbindung stehen, haben wir doch
die Möglichkeit - ich beende meine Rede, Frau Präsidentin -, Einfluss zu nehmen und auch Druck auszuüben.
({8})
Die Unterdrückung der Meinungsfreiheit und der Pressefreiheit ist in kommunistisch regierten Ländern ebenso anzuprangern - das sollten Sie sich merken - wie in
islamisch regierten Ländern . Einen Unterschied gibt es
nicht. Das, finde ich, ist wichtig. Ich bin gespannt auf
die nächste Aktuelle Stunde zum Thema Russland, China
oder Ähnliches .
({9})
Das Wort hat die Kollegin Sevim Dağdelen für die
Fraktion Die Linke .
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Bundesregierung! Die willfährige Haltung der deutschen
Bundeskanzlerin, die bei dieser wichtigen Debatte heute
schon wieder nicht anwesend ist - wahrscheinlich eröffnet sie gerade ein neues EU-Beitrittskapitel für die Türkei -,
({0})
gegenüber dem türkischen Staatspräsidenten Erdogan hat
verheerende Konsequenzen . Erdogan und das AKP-Regime fühlen sich nämlich durch den schmutzigen
EU-Türkei-Flüchtlingsdeal regelrecht ermutigt, immer
härter gegen Kritiker im Inland, aber zunehmend auch
im Ausland vorzugehen .
Für all das, was wir jetzt erleben - von den Forderungen des türkischen Parlamentspräsidenten nach einem
Gottesstaat in der Türkei bis hin zu den Einreiseverboten
für ausländische Journalisten -, trägt diese Bundesregierung eine Mitverantwortung .
({1})
Kanzlerin Merkel und ihr Vize Gabriel machen Erdogan
nämlich durch ihre beständige Zusammenarbeit stark .
Während in Ankara eine Mörderbande regiert, die Journalisten wie Can Dündar verfolgen lässt, weil diese Waffenlieferungen an islamistische Gotteskrieger in Syrien
durch den türkischen Geheimdienst aufgedeckt haben,
hält es die Bundeskanzlerin nicht einmal für nötig, auch
nur zu erwägen, sich mit verfolgten Journalisten in der
Türkei zu treffen. Ich finde, das ist ein Armutszeugnis für
eine Bundesregierung und für eine Bundeskanzlerin, die
sich als Kanzlerin der freien Welt feiern lässt .
({2})
Gehört es eigentlich zum guten Ton, wenn ein
NATO-Land oder EU-Beitrittskandidat wie die Türkei
Waffen an islamistische Mörderbanden in Syrien liefert,
mit denen dann schlimmste Kriegsverbrechen begangen
werden? Was diese Bundesregierung in puncto Türkei
abliefert, ist wirklich zum Fremdschämen, meine Damen
und Herren .
({3})
Sie machen sich an den Verbrechen Erdogans mitschuldig, und Sie ermutigen ihn tagtäglich, noch dreister
vorzugehen . Wenn Sie noch einen Funken Anstand hätten, dann würden Sie dieses unwürdige Schauspiel beenden . Ich meine damit: tatsächlich beenden . Es geht nicht
nur darum, öffentlich Haltung zu zeigen - und noch nicht
einmal dazu ist die Bundesregierung imstande -, sondern
auch darum, Konsequenzen zu ziehen . Wo sind denn die
Konsequenzen angesichts der Verbrechen gegen die Zivilgesellschaft in der Türkei durch das AKP-Regime?
Die polizeiliche, militärische und geheimdienstliche Kooperation wird überhaupt nicht angetastet, nicht einmal
vor dem Hintergrund, den ich gerade erwähnt habe, nämlich dass islamistische Mörderbanden durch die türkische
Regierung weiter bewaffnet werden . Sie ziehen noch
nicht einmal einen Waffenexportstopp in Erwägung, wie
er 1992 unter Bundeskanzler Kohl und Außenminister
Genscher angesichts eines Massakers in Cizre durch die
türkische Regierung und das Militär an den Kurden möglich war . Nicht einmal dazu sind Sie fähig .
({4})
Weil die SPD offensichtlich sehr enge Verbindungen zu
der Rüstungsindustrie hat, darf es keinen Waffenexportstopp geben. Ich finde, das ist eine moralische Bankrotterklärung in der Außenpolitik dieser Bundesregierung .
({5})
Man sieht das auch im Vergleich mit anderen Staaten .
Während die Stadt Genf sich dem widerlichen Ansinnen
des Despoten Erdogan verweigert, die Meinungsfreiheit
zu schleifen, kriecht die Bundesregierung zu Kreuze .
Während die Genfer sie mit einem Löwenherz verteidigen, gibt es bei der Bundesregierung nur Duckmäusertum und eine Vorverurteilung eines Satirikers durch die
Bundeskanzlerin höchstpersönlich . Ich wünschte mir
mehr Genf in Berlin als die Bundeskanzlerin und das Außenministerium .
({6})
Wir müssen hier Position beziehen und eine klare Haltung nicht nur gegenüber der Zivilgesellschaft, den verfolgten Kurden, den verfolgten Aleviten, den verfolgten
Armeniern oder den verfolgten Journalisten und Gewerkschaftern in der Türkei einnehmen . Vielmehr müssen wir
sogar - dazu hat uns diese Bundesregierung gebracht unsere verfassungsmäßigen Grundwerte und Grundrechte verteidigen, weil Sie in den letzten Jahren Dialog mit
Unterwerfung verwechselt haben . Wir brauchen einen
Dialog mit der Türkei . Aber wir brauchen keine Unterwürfigkeit, kein Duckmäusertum, keine ständigen Bücklinge in Ankara, die der Zivilgesellschaft in der Türkei
mehr schaden als helfen .
Vielen Dank .
({7})
Der Kollege Martin Dörmann hat für die SPD-Fraktion das Wort .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Presse- und Meinungsfreiheit sind Grundpfeiler jeder
Demokratie . Es muss uns deshalb umtreiben, dass in immer mehr Staaten Journalisten und andere kritische Stimmen mit Repressalien bedroht werden . Wir sollten laut
vernehmbar unsere Stimme erheben, um unabhängige
Berichterstattung zu schützen .
Das gilt auch und gerade für die Türkei, die aus vielen
Gründen ein wichtiges Partnerland für Deutschland ist .
Umso mehr muss uns beunruhigen, dass die Türkei auf
der von „Reporter ohne Grenzen“ aufgestellten Liste der
Pressefreiheit weit hinten liegt, nämlich auf Platz 151 von
180 Staaten . Seit Jahren gibt es dort eine sehr negative
Entwicklung in Bezug auf Presse- und Meinungsfreiheit,
entscheidend forciert durch die zunehmend autokratische
Politik des heutigen Staatspräsidenten Erdogan . Hunderte türkische Journalisten müssen sich wegen kritischer
oder investigativer Veröffentlichungen vor Gericht verantworten . Inzwischen sind beinahe 2 000 Menschen mit
Strafverfahren wegen Beleidigung des Präsidenten oder
ähnlicher Vorwürfe überzogen worden . Die FAZ schrieb
gestern von einem „Zustand fortgeschrittenen Majestätsbeleidigungswahns“ des Präsidenten, der mit den Methoden eines Polizeistaats vorgehe . Nun sind auch verstärkt
ausländische Journalisten im Visier . Es häufen sich Berichte über schwarze Listen . Der Spiegel-Online-Korrespondent Hasnain Kazim musste kürzlich aus Angst vor
einer Festnahme das Land verlassen . Gestern schrieb er
auf Spiegel Online:
Die Türkei setzt internationale Pressevertreter unter
Druck, mit Einreiseverboten, Anzeigen und Hasskampagnen im Internet . Die Reporter spüren jetzt
die Angst, die ihre einheimischen Kollegen schon
lange kennen .
Vermehrt interveniert die Türkei jetzt bei unliebsamen
Beiträgen sogar im Ausland, wie mit der Einbestellung
des deutschen Botschafters wegen eines Erdogan-kritischen Satireliedes in der ARD-Sendung extra3. Vor
diesem Hintergrund war es richtig, dass Außenminister
Frank-Walter Steinmeier und Justizminister Heiko Maas
im Kabinett gegen den Antrag der Türkei im Fall Böhmermann und damit gegen eine Strafverfolgungsermächtigung wegen Majestätsbeleidigung gestimmt haben;
({0})
denn bei dieser Ermessensentscheidung kam es eben
nicht auf juristische Erwägungen an, sondern vor allem
auf die politische Wirkung . Die Verweigerung der Ermächtigung wäre ein starkes Signal gewesen, für Satire- und Meinungsfreiheit und gegen die Strategie des türkischen Präsidenten, kritische Stimmen mit den Mitteln
des Strafrechts einzuschüchtern .
Die Kanzlerin hat leider anders entschieden und damit
in Kauf genommen, dass hierdurch in den Augen vieler
Menschen die gegenteiligen Signale gesetzt wurden . Das
Votum der Kanzlerin ist aber auch widersprüchlich; denn
sie selbst hat ja die Sondervorschrift des § 103 Strafgesetzbuch, landläufig als Majestätsbeleidigung bekannt,
als für die Zukunft entbehrlich bezeichnet und deren Abschaffung angekündigt . Die Justiz kann ja bekanntlich wie im vorliegenden Fall - wegen des normalen Beleidigungstatbestandes unabhängig ermitteln, genauso wie bei
jedem anderen Bürger, aber eben nicht mit einer erhöhten
Strafandrohung wie bei Staatsoberhäuptern . Nun fragt
sich jeder doch: Warum soll jetzt noch zur Anwendung
kommen, was eigentlich entbehrlich ist? Das öffnet letztlich Spekulationen Tür und Tor . Es darf doch gar nicht
erst ein falscher Eindruck etwa in Bezug auf das Flüchtlingsabkommen der EU mit der Türkei erweckt werden .
Vielmehr müssen wir klarmachen: Presse-, Kunst- und
Meinungsfreiheit sind für uns nicht verhandelbar .
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die SPD-Bundestagsfraktion hat gestern einen Gesetzentwurf zur sofortigen Abschaffung dieses unzeitgemäßen § 103 Strafgesetzbuch vorgelegt; denn es sind nicht die Obamas dieser
Welt, die sich darauf berufen; es sind andere . Deshalb
zum Schluss mein Appell an unseren Koalitionspartner:
Lassen Sie uns diese unselige Sondervorschrift doch einfach schnell streichen! Lassen Sie uns ein klares Signal
setzen, dass wir autokratischen Machthabern kein Sonderrecht mehr einräumen; denn unsere Haltung muss
doch klar sein: Im Zweifel für die Freiheit .
Vielen Dank .
({2})
Das Wort hat die Kollegin Claudia Roth für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Worum geht es? Es geht um die Pressefreiheit,
also um das unzensierte Veröffentlichen von Informationen und Meinungen . Es geht darum, Fakten zu recherchieren, Licht ins Dunkel zu bringen und die Kontrolle
der Regierung erst zu ermöglichen . Es geht um nichts
weniger als um das Grundnahrungsmittel in der Demokratie . Aber auch die Kunst, auch die Satirefreiheit - sie
machen uns reich, sie müssen respektiert und geschützt
werden als universelles Recht, also bei uns und bei unseren Partnern .
({0})
Was ist die Realität bei unserem Partner Türkei? Entrechtung des Rechts, Freiheit im freien Fall, systematischer Abbau der Demokratie . Wer in der Türkei objektiv
und kritisch berichtet und damit auch die dunklen Räume
des AKP-Regimes erhellt, der lebt in Angst und Gefahr:
wenn es um die Abschiebung von Flüchtlingen nach Syrien geht, wenn es über die geheimen Waffenlieferungen
der Regierung an Islamisten zu berichten gilt, wenn die
Situation in den kurdischen Städten, in denen ein Krieg
gegen die eigene Bevölkerung geführt wird, Thema ist .
Aber wir vergessen sie nicht: Can Dündar und Erdem
Gül von der Cumhuriyet, die wegen Beleidigung des
Staatspräsidenten verurteilt worden sind und denen jetzt
hohe Strafen wegen angeblicher Spionage und Unterstützung einer terroristischen Organisation drohen . Wir vergessen sie nicht: Cevheri Güven und Murat Capan von
der Nokta, angeklagt wegen angeblicher Putschpläne . Ihr
Verbrechen: ein Titelblatt zum Bürgerkrieg im Südosten
der Türkei . Abdülhamit Bilici, ehemaliger Chefredakteur
der auflagenstärksten Zeitung, der Zaman: Ihm wird die
Unterstützung von Terroristen vorgeworfen, seine Redaktion wurde gestürmt und unter Zwangsverwaltung
gestellt, genauso wie die des Medienkonzerns Koza-Ipek
und die von Fernsehsendern wie Bügün und Kanaltürk.
Inzwischen gilt aber diese systematische Kriminalisierung nicht mehr nur für Journalisten aus oder in der
Türkei; es sind mehr und mehr auch ausländische Korrespondenten von Repression in ihrer Arbeit betroffen . Ich
will auch sie benennen: Volker Schwenck, David Lepeska, Ebru Umar, Giorgos Moutafis und Hasnain Kazim.
Sie, wie die 2 000 Personen, die in der Türkei derzeit
wegen angeblicher Beleidigung des Präsidenten angeklagt sind, brauchen kein stillschweigendes Wegducken,
sie brauchen unsere laute Stimme der Kritik . Vor allem
brauchen sie unsere deutliche Unterstützung .
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer soll uns denn in
Zukunft darüber informieren, was los ist in dem Land,
dem wir nun das Schicksal von Millionen von geflüchteten Menschen anvertrauen? Oder reicht uns etwa eine
von der türkischen Regierung inszenierte Potemkin’sche
Politshow in aufpolierten Flüchtlingslagern aus?
Bei der Kritik an Erdogan - das ist uns sehr wichtig oder der Kritik an der türkischen Regierung geht es aber
nicht um ein antitürkisches Ressentiment . Kritik heißt
nicht: „Schlagt alle Türen zu!“; denn Erdogan ist nicht
die Türkei . Es geht stattdessen darum, diejenigen Kräfte
zu unterstützen, die eine demokratische Türkei wollen,
die eine europäische Türkei wollen, die keine islamische
Türkei und keine Verfassungsänderung wollen .
Doch genau bei den demokratischen, europäischen
Kräften ist nun der Eindruck entstanden, Deutschland
und Europa hätten sie vergessen und ließen sie allein .
Das ist wirklich verheerend . Deshalb: Lassen wir sie
nicht im Stich! Verkaufen wir sie nicht für einen gefährlichen Deal mit Erdogan, der uns und die Türkei teuer zu
stehen kommt, von den Flüchtlingen ganz zu schweigen .
Mit diesem Deal wird doch nicht Stabilität, nicht Frieden unterstützt, sondern ein Destabilisator in einer gefährlich instabilen Region, ein Autokrat, der polarisiert,
der spaltet, der kriminalisiert, der beleidigt, der neue
Fluchtursachen schafft und der so längst auch der wirtschaftlichen Entwicklung in der Türkei massiv schadet .
All das kann doch überhaupt nicht in unserem Interesse
sein . Deshalb bin ich sehr froh, dass wir uns - nicht zuletzt in Erinnerung an den ermordeten Journalisten Hrant
Dink - wenigstens einigen konnten, zum Genozid an den
Armeniern ein klares gemeinsames Zeichen zu setzen .
Vielen Dank .
({2})
Der Kollege Matern von Marschall hat für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort .
({0})
Verehrte Frau Präsidentin! Herzlichen Dank . - Ich
frage mich ein wenig, wozu die Debatte dient, ob sie
gegebenenfalls auch einfach nur ein Testen und Abklopfen politischer Nähe zwischen den Fraktionen im linken
Spektrum ist . Das könnte auch gut sein .
({0})
Im Übrigen, Frau Kollegin Schlegel, sind wir in der
vergangenen Woche zusammen in der Türkei gewesen
und teilen im Wesentlichen die Einschätzung über die
Defizite in Rechtsstaatlichkeit, Presse- und Meinungsfreiheit sowie im Demonstrationsrecht . Es geht hier aber
nicht um einen Deal, wie Sie, Kollegin Dağdelen und
Kollegin Roth, gesagt haben; Sie haben das noch mit
dem Adjektiv „schmutzig“ ergänzt . Ich möchte einmal
darauf zu sprechen kommen, dass die Türkei - mit fast
3 Millionen Flüchtlingen - und Deutschland die wesentlichste Hilfe in der Flüchtlingskrise geleistet haben . Deshalb ist auch der Türkei in diesem Falle zu danken . Dies
hat die Kanzlerin völlig zu Recht getan .
({1})
Da hier suggeriert worden ist, die Bundesregierung
kümmere sich nicht um die Defizite, die wir als Delegation des Bundestages vor Ort sehr wohl haben nachvollziehen können, keineswegs nur im Gespräch mit der Regierung, sondern auch mit den Oppositionsparteien, mit
NGOs, politischen Stiftungen und vielen anderen Kundigen, möchte ich Ihnen zitieren, was die Bundeskanzlerin
in der gemeinsamen Pressekonferenz - neben Davutoglu
stehend - mit Blick auf die Pressefreiheit gesagt hat:
Wenn es Fälle gibt, die die Pressefreiheit betreffen …, dann wird das angesprochen, dann wird das
auf den Tisch gelegt, dann können wir darüber auch
sehr offen und ehrlich sprechen .
({2})
Das ist doch im besten Sinne das, was die Kanzlerin tut .
Deshalb liegen Sie da völlig falsch . Die Intensität der Gespräche, die die Kanzlerin in den letzten Monaten im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise mit der türkischen
Regierung geführt hat,
({3})
ist eben sehr wohl eine große Chance, auch andere Themen zu adressieren, und genau dies tut sie .
({4})
Dafür bin ich ihr auch sehr dankbar .
({5})
- Ich komme noch zu den bedrohten Journalisten .
({6})
Wir waren mit der Delegation auch bei Herrn Dündar;
das war - Kollegin Schlegel, Sie haben es erwähnt - ein
interessantes Gespräch . Ich muss jedoch sagen - das ist
mir schon sehr wichtig -: Ich habe Herrn Dündar in unserem Gespräch als einen eleganten, höflichen und zurückhaltenden Mann kennengelernt . Der Text, den er im
Spiegel veröffentlicht hat, ist aber ganz anders; das ist ein
von brachialer Kriegsrhetorik geprägter Text .
({7})
- Ja, das will ich Ihnen sagen: weil die Polarisierung in
der türkischen Gesellschaft unglaublich weit vorangeschritten ist . Ich will Ihnen auch sagen: Wenn Sie diese
Polarisierung aus der Türkei hier ins Parlament tragen,
dann ist das bestimmt nicht der richtige Weg, um die
Menschen in diesem Land auf den Weg einer Annäherung an Europa zu bringen .
({8})
Das ist nämlich der kapitale Fehler, den Sie machen, und
Ihr Geschwätz von Erpressbarkeit, Herr Bartsch, kann
man nicht mehr hören . Das ist unterirdisch und im Grunde auch zynisch gegenüber den Notleidenden .
({9})
Vizepräsidentin Claudia Roth
Sie können sich gern alle gegenseitig beklatschen in diesem Spektrum . Fahren Sie nur fort in dieser Hinsicht!
({10})
- Wenn Sie wenigstens den Sprecher hier ausreden lassen
würden, dann wäre das ganz höflich.
({11})
In einer Aktuellen Stunde gibt es nämlich keine Gelegenheit für Interventionen .
({12})
Deswegen würde ich zumindest gern die fünf Minuten
meiner Redezeit ausschöpfen .
({13})
Eines will ich Ihnen mit Bestimmtheit sagen: Mit dieser Agitation, diesem Kampfgeschrei und diesem Getöse
kommen wir bei der Zusammenarbeit mit der Türkei keinen Schritt weiter .
({14})
Dessen können Sie gewiss sein .
({15})
Womit wir weiterkommen, das ist ein guter, sachorientierter, klarer und transparenter Dialog . Das ist ein gutes
Merkmal unserer an Kompromiss und Konsens orientierten europäischen Debattenkultur .
({16})
Wenn Sie das unterlaufen und genau das Gegenteil tun,
dann stärken Sie die extremistischen Kräfte in der Türkei,
({17})
und das schadet dem, was wir erreichen wollen .
Herzlichen Dank .
({18})
Das Wort hat die Kollegin Michelle Müntefering für
die SPD-Fraktion .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Zunächst einmal muss ich hier feststellen, dass
es hier um mehr geht als um das Abklopfen politischer
Nähe zwischen den Fraktionen .
({0})
Wenn die Pressefreiheit das „Brot der Demokratie“ ist,
wie es der Journalist Heribert Prantl einmal formuliert
hat, dann sieht die Welt ganz schön mager aus, und das
ist kein gutes Zeichen für den Zustand unserer Gesellschaften . Ungefährdet ist Demokratie nie, und das gilt
auch für die Türkei .
Ja, wir beobachten mit Sorge die Einschränkung der
Presse- und Meinungsfreiheit . Diese Beobachtung und
die damit verbundene Sorge sind ganz konkret . Wir haben im Laufe dieser Debatte zahlreiche Beispiele und Berichte auch aus persönlichen Begegnungen gehört: über
Beschlagnahmungen von Zeitungstiteln oder Verlagen,
über Sperrungen von Internetseiten, über Verhaftungen
von Wissenschaftlern, über Interventionen und Einreiseverbote . Mittlerweile trifft es auch deutsche Journalisten .
Das alles macht die aktuelle und intensive Zusammenarbeit in der Flüchtlingsfrage sicher nicht einfacher . Im Gegenteil: Die Reaktionen des türkischen Staatspräsidenten
erschweren sie . Pressefreiheit und Meinungsfreiheit, das
sind keine deutschen Werte, keine türkischen Werte; es
sind gewachsene internationale, universelle Werte . Wir
müssen sie immer wieder neu einfordern, schützen und
pflegen. Ich bin der festen Überzeugung, dass das unsere
Orientierung in der internationalen Politik sein muss, die
wir nicht verlieren dürfen .
({1})
Das Auswärtige Amt hat seine Erwartungen gegenüber
der Türkei klar formuliert . Frank-Walter Steinmeier hat
sich mit Vertretern der Opposition getroffen . Das hätten
wir übrigens auch der Bundeskanzlerin empfohlen .
({2})
Meine Kollegin Dorothee Schlegel hat vorhin schon
unsere politischen Positionen dargestellt . Ich will noch
hinzufügen: Die EU könnte ein Monitoring mit dem
UNHCR für die Einhaltung von Menschenrechten bei
der Zusammenarbeit zur Bewältigung der Flüchtlingskrise einsetzen . Das wäre einmal eine Initiative, die zeigte, dass unsere Werte nicht nur auf dem Papier, sondern
eben auch im Alltag, auch dann, wenn es schwierig wird,
bestehen . Auch die Öffnung der Kapitel über Menschenrechte und Justiz wäre ein Hebel, mit dem sich die Belastbarkeit unserer Beziehungen prüfen ließe .
Lassen Sie mich erwähnen, was in der Türkei und auch
bei vielen Deutschtürken von der Diskussion ankommt denn auch das ist ein Teil der Wahrheit -: oft nur wenige, zugespitzte Worte . Das sollten wir wissen, wenn wir
uns wundern, warum ein Teil der Türkinnen und Türken
gekränkt auf Kritik reagiert . Viele sind verletzt ob der
teilweise auch ausfälligen Bemerkungen . Vielfach werden sie nicht als Kritik am Staatspräsidenten und seiner
Führung verstanden, sondern an allen Türken . Wenn wir
genau hinsehen, stellen wir fest: An vielen Stellen im Internet sind diese Bemerkungen eben auch keine Satire,
keine Kunst, sondern Hetze, auch von rechts .
({3})
Um dagegen vorzugehen, gibt es in der Tat Gerichte weil Demokratie Verantwortung braucht, weil Freiheit
Grenzen hat, weil der Staat seine Bürger schützen muss .
Gerichte sind aber nicht dazu da, um sie politischer Einmischung zu unterziehen oder gar zu instrumentalisieren .
In der Demokratie gilt der Satz von Voltaire: Ich verachte
Ihre Meinung, aber ich gäbe mein Leben dafür, dass Sie
sie sagen dürfen .
Besonders für die Freunde der Türkei ist die aktuelle
Entwicklung niederschmetternd; denn die deutsch-türkischen Beziehungen sind für viele von uns nicht bloß ein
Politikfeld, sondern vielmehr eine Herzensangelegenheit . Das zeigt sich, denke ich, heute in dieser intensiven
Debatte .
Aber wir fangen nicht bei null an . Augenhöhe, Respekt und eine gemeinsame Geschichte helfen, wenn es
darum geht, unter Parlamentariern auch schwierigste
Themen anzusprechen . Das ist möglich, und das ist Realität, und das erwarte ich auch von der Bundesregierung,
von der Spitze der Bundesregierung, liebe Kolleginnen
und Kollegen .
({4})
Es war ein weiterer Autor der SZ, Gustav Seibt - den
möchte ich jetzt noch erwähnen -, der dieser Tage „die
vergessene Liebe zwischen Türken und Deutschen“
beschrieben hat: die außenpolitische Geschichte von
Metternich, Bismarck und Moltke, die Geschichte der
Gastarbeiter - bis zu den Fehlern der EU in der jüngeren
Vergangenheit und dem gewachsenen türkischen Mittelstand in diesem Land -, aber vor allem auch die Geschichte der Türkei, die 1933 zum Exil für Künstler und
für Wissenschaftler wurde .
Sie sind es, die uns heute mahnen und warnen, die unsere Gesellschaft zu dem machen, was sie ist . Wir sollten
ihre Stimmen hören . Mehr noch: Wir als Politiker müssen ihnen die Räume der Artikulation offen halten - mit
einer Außenpolitik der Zivilgesellschaften; denn es gibt
keinen Automatismus in der Geschichte . Wir bestimmen
sie selbst .
Dazu, zum Schluss, verehrte Kolleginnen und Kollegen, Gustav Seibt im Zitat:
Es gibt also - jenseits von NSU, Sarrazin-Debatte,
Böhmermann und Erdoğan - eine deutsch-türkische Geschichte von säkularem Ausmaß und eine
zivilgesellschaftlich-kulturelle Realität, deren Vielschichtigkeit und schiere Interessantheit oft nicht
gegenwärtig sind . Diese Lieblosigkeit ist kaum zu
begreifen, denn sie schwächt die Gesellschaft insgesamt .
Auch Staatspräsident Erdogan wird einmal an dieser
Geschichte gemessen werden .
Vielen Dank .
({5})
Das Wort hat der Kollege Dr . Hans-Peter Uhl für die
CDU/CSU-Fraktion .
({0})
Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und
Kollegen! Wir befassen uns hier im Deutschen Bundestag auf Antrag der Grünen mit der türkischen Innenpolitik .
({0})
Ich darf in aller Bescheidenheit daran erinnern, dass die
eigentliche Aufgabe des Bundestages
({1})
die Kontrolle der deutschen Regierung und nicht der türkischen Regierung ist .
({2})
Aber das ist wohl auch den Grünen und selbst den Linken
aufgefallen . Deswegen musste ein krampfhafter Versuch
gemacht werden, aus dem erkennbar türkischen Fehlverhalten deutsches Fehlverhalten zu machen .
({3})
Dies treibt nun ganz besondere Blüten . Da kommt der
Kollege Bartsch daher und rügt lautstark, dass auf dem
Zettel, wie er sich ausgedrückt hat, der Bundeskanzlerin
auf dem Weg nach Ankara bestimmte Namen von in der
Türkei Verfolgten nicht gestanden hätten . Woher wissen
Sie das eigentlich, Herr Bartsch?
({4})
- Ach, Sie fragen . Okay .
({5})
Ich habe ja mal fragen dürfen .
Dann kommt die Frau Göring-Eckardt mit folgendem
Gedankengang - da treibt der deutsche Schuldkomplex
eine ganz besondere Blüte -: Wären wir - Ihrem - Joschka Fischer gefolgt, wäre die Türkei schon vor zehn Jahren in die EU aufgenommen worden,
({6})
und alles hätte sich völlig anders entwickelt . - Also sind
doch die Deutschen schuld an der Entwicklung in der
Türkei .
({7})
Das ist der deutsche Schuldkomplex auf besonders feinsinnige Art .
({8})
- Ich erlaube mir, davon zu sprechen .
Ich möchte daran erinnern, dass der Herr Erdogan
vom türkischen Volk in direkter Wahl mit 52 Prozent der
Stimmen zum Staatspräsidenten gewählt wurde .
({9})
Frau Roth, Sie sagen: Wir müssen zwischen dem türkischen Volk und Herrn Erdogan unterscheiden . - Da mahne ich zur Vorsicht . Als Demokratin kann man 52 Prozent nicht einfach negieren .
({10})
Nun bin ich der Letzte, der bei der Psychostruktur dieses Herrn sagt: Das können wir in aller Ruhe mit ihm
wegverhandeln .
({11})
Ich befürchte eher, dass dieser Staatspräsident mit seinem weiteren Vorgehen noch viele unliebsame Überraschungen vorhat, auch was die Migration anlangt .
({12})
Deswegen ist es richtig, über Erpressbarkeit nachzudenken . Ich sage zum Thema Erpressbarkeit in Bezug auf
Erdogan nur eines: Wenn wir das Schicksal Deutschlands
allein in die Hände dieses Herrn legen würden,
({13})
dann - um Gottes Willen - wären wir wirklich erpressbar . Deswegen kann ich davor nur warnen .
Wir kommen zu ganz anderen Schlüssen als Sie, Frau
Roth .
({14})
Wir kommen zu dem Schluss, dass wir neben der Sicherung der EU-Außengrenze durch Erdogan durchaus parallel noch Binnengrenzkontrollen nach dem Motto des
Volksmundes: „Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott“, vornehmen müssten, um uns diesem Herrn nicht ganz auszuliefern . - So viel zu diesem Thema .
({15})
Ein schmutziger Deal muss es nicht sein . Wer das Lager, das in der Türkei gebaut wurde, gesehen hat - nur
270 000 Menschen sind dort -,
({16})
muss sagen, dass das ein Vorzeigelager ist und es sich
lohnt, hier Geld hineinzustecken .
Zweitens . Es ist auch wichtig, dass wir noch mehr
Geld ausgeben, um die Menschen in der Region zu halten, um dort einen Bleibegrund zu schaffen, damit dort
Schulausbildung, Berufsausbildung und Ähnliches stattfinden kann, damit sie die Region nicht verlassen. Das
ist, denke ich, kein schmutziger Deal, sondern eine gute
Nachricht .
Aber ich möchte etwas anderes sagen, weil es um die
Meinungsfreiheit überall auf der Welt ging . Machen Sie
mit mir einmal das Gedankenexperiment: Dieser Herr
Böhmermann hätte das, was er in die Kamera gesagt hat,
nicht Erdogan, sondern Putin gewidmet . Herr Bartsch,
hätten Sie dann auch eine Aktuelle Stunde beantragt?
({17})
Ich könnte mir vorstellen, dass nicht nur die deutsche
Parteienlandschaft, sondern auch die deutsche Medienlandschaft ganz anders darüber gesprochen und reagiert
hätte . Aber im Fall Erdogan ist es ja möglich .
Ich habe mit Burkhard Hirsch normalerweise nichts
am Hut, aber hier hat er recht . Ich habe von ihm einen
Leserbrief gelesen . Dort schreibt zu Böhmermanns - er
setzt es in Anführungszeichen - „Kunst“:
… primitive Aneinanderreihung beleidigender, mieser …
Er fährt fort:
Ich bin leidenschaftlich für die Pressefreiheit, aber
nicht für eine Beleidigungsfreiheit …
Das ist auch richtig, Herr Hirsch . Auch das sollte man
sich einmal durch den Kopf gehen lassen .
({18})
Ich möchte zum Schluss kommen . Die EU hat einen
Vertrag mit Erdogan . Ich kann nur dringend ermahnen,
nicht nur den Vertragstext zu lesen und zufrieden mit
nach Hause zu nehmen - Papier ist geduldig -, sondern
auch an den Vollzug des Vertrags zu denken . Ich möchte
mahnen, die Gesetze, die er erlässt, nicht nur zu lesen
und zu glauben, sondern auf den Vollzug der Gesetze zu
achten . Dieser Herr ist für Willkür allemal geeignet . Deswegen muss man ihn sehr genau überwachen .
({19})
Das Wort hat die Kollegin Erika Steinbach für die
CDU/CSU-Fraktion .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meinungs- und Pressefreiheit sind die feinsten Seismografen der Menschenrechtslage eines Landes . Die jährlichen Fortschrittsberichte der EU über die Türkei machen
uns seit Jahren darauf aufmerksam, dass in der Türkei
Meinungs- und Pressefreiheit Schritt um Schritt weniger
geachtet werden . Das haben wir auch hier schon debattiert . Wir haben nicht weggeschaut, sondern wir haben
hier im Hause darüber gesprochen . Vor diesem Hintergrund brauchen wir uns keine Vorwürfe zu machen, aber
wir müssen es immer wieder ansprechen .
Das aber zunehmend aggressivere Vorgehen der Türkei gegen Journalisten, gegen Medien, aber auch gegen
unliebsame Bürger, gegen die Kurden in einer unglaublichen Art und Weise zeigt eine besorgniserregende Entwicklung, die wir nicht einfach negieren dürfen .
Sowohl die EU-Fortschrittsberichte als auch die Berichte verschiedener Menschenrechtsorganisationen wie
„Reporter ohne Grenzen“ belegen seit längerem - nicht
erst jetzt, in einer Situation, in der wir seitens der EU
ein Abkommen mit der Türkei geschlossen haben - die
immer stärkeren Einschränkungen der Meinungs- und
Pressefreiheit durch die türkische Regierung und sogar
durch den Staatspräsidenten höchstpersönlich . Das ist
schon ein Novum, auch innerhalb der Türkei; das muss
man deutlich sagen .
Auf der Rangliste der Pressefreiheit der „Reporter
ohne Grenzen“ - auch das ist schon angesprochen worden - steht die Türkei auf einem blamablen Platz 151
von 180 Staaten . Wenn man sich das vor Augen führt,
dann kann man beklommen werden; denn die Türkei ist
ein EU-Beitrittskandidat . Deshalb darf uns das nicht egal
sein, deshalb haben wir es in der Vergangenheit angesprochen und sprechen es auch jetzt immer wieder an .
({0})
Wir sehen: Redaktionen werden von Regierungsanhängern angegriffen, regierungskritische Medien müssen
mit Razzien rechnen, kritische Journalisten werden inhaftiert und schikaniert, nicht nur offenkundig, sondern
auch unter der Decke . Regierung und Staatsspitze heizen
die Stimmung mit aggressiver Rhetorik und Hetze gegen
Journalisten zusätzlich auf .
Anfang März 2016 stellte die türkische Justiz die
größte oppositionelle Zeitung Zaman unter Zwangsverwaltung, gefolgt von der zur gleichen Mediengruppe
gehörenden Nachrichtenagentur Cihan . Die Strafanzeige gegen den Chefredakteur der Zeitung Cumhuriyet,
Can Dündar - auch wir haben in unserer Arbeitsgruppe
Menschenrechte mit seiner Frau gesprochen -, stellte der
türkische Präsident Erdogan höchstpersönlich . Das ist
schon ein besonderes Kriterium im Hinblick auf die Frage, wie er selbst die Pressefreiheit sieht .
Als das türkische Verfassungsgericht die sofortige
Freilassung von Journalisten nach dreimonatiger Untersuchungshaft anordnete, stellte Präsident Erdogan auch
die Zukunft des Verfassungsgerichtes infrage . Das ist ein
neues Kriterium, wir dürfen es nicht außer Acht lassen .
({1})
Die Repressionen richten sich inzwischen nicht
nur gegen Journalisten und Medien in der Türkei, sondern auch gegen ausländische Journalisten . Erst am
Montag hatten die Behörden dem US-Reporter David
Lepeska die Einreise verweigert . Am Samstag war der
für die Bild-Zeitung arbeitende griechische Fotoreporter
Giorgos Moutafis auf dem Istanbuler Flughafen abgewiesen worden . Die Fälle reihen sich wie eine Perlenkette
aneinander . Die niederländische Journalistin Ebru Umar
wurde am Wochenende nach kritischen Äußerungen über
Präsident Erdogan vorübergehend sogar festgenommen .
Der ARD-Fernsehkorrespondent Volker Schwenck durfte nicht in die Türkei einreisen .
Aber die türkische Regierung geht nicht nur innerhalb
des eigenen Landes gegen unliebsame Medienberichte
und Meinungsäußerungen vor . In der Vergangenheit auch aktuell - waren es zumeist Darstellungen über den
Völkermord an den Armeniern, bei denen die türkische
Regierung auch in anderen Staaten interveniert hat . Das
haben jüngst die Dresdner Sinfoniker zu spüren bekommen . Die Türkei verlangte, beim Projekt „Aghet - Agit“
zum Völkermord an den Armeniern die Begriffe „Genozid“ und „Völkermord“ zu tilgen, und drohte mit einem
Ausstieg aus der gemeinsamen Kulturförderung mit der
EU . Meine liebe Kolleginnen und Kollegen, es kann und
darf wirklich nicht sein, dass sich die EU-Kommission
dem türkischen Druck gebeugt hat .
({2})
Dass die Informationen zum Projekt zeitweise von der
Homepage der EU genommen wurden, war ein peinlicher Akt der Unterwerfung .
Aber auch unsere Medien - liebe Medienvertreter, das
muss ich einmal sagen - sollten sich vielleicht einmal
selbstkritisch hinterfragen . Trotz der aktuellen Debatte über den Genozid an den autochthonen Christen im
Osmanischen Reich habe ich jedenfalls keine einzige
Berichterstattung über die beeindruckende Gedenkveranstaltung der Armenier jetzt am Wochenende hier in
Berlin gelesen . Das ist schon erstaunlich . Ich kann mich
dabei des Eindrucks von Selbstzensur nicht ganz erwehren .
({3})
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wir sind ein
Land, das Wandel und Handel vorantreibt und das den
Menschenrechten einen hohen Stellenwert einräumt .
Trotz allem sind wir immer wieder gezwungen, mit Ländern zu verhandeln, die autochthon regiert sind, die diktatorisch regiert sind . Wir müssen dabei unsere Werte nicht
über Bord werfen, aber wir müssen irgendwie Regularien
finden, wie wir miteinander auskommen. Wir sind nämlich nicht ganz alleine auf diesem schönen Erdball .
Danke .
({4})
Die Aktuelle Stunde ist beendet .
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung .
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 28 . April 2016, 9 Uhr,
ein .
Die Sitzung ist geschlossen .