Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet . Nehmen Sie bitte Platz .
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie alle herzlich .
Bevor wir in unsere Tagesordnung eintreten, möchte
ich dem Kollegen Heinz Wiese nachträglich zu seinem
71 . Geburtstag sowie dem Kollegen Ulrich Freese gratulieren, der am Dienstag seinen 65 . Geburtstag gefeiert
hat . Ihnen wollen wir alle guten Wünsche des Hauses ins
neue Lebensjahr mitgeben .
({0})
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 19 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und SPD
Die transatlantischen Beziehungen zukunftsfest weiterentwickeln
Drucksache 18/8072
Dazu soll nach einer Vereinbarung der Fraktionen eine
Aussprache von 77 Minuten stattfinden. - Dazu stelle ich
Einvernehmen fest . Also können wir so verfahren .
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Kollegen Peer Steinbrück für die SPD-Fraktion .
({1})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich würde gerne einige Bemerkungen machen, die
über den Text des Antrages von CDU/CSU und SPD hinausgehen . Dazu gehört am Beginn das Eingeständnis,
dass die transatlantischen Beziehungen und namentlich
auch die deutsch-amerikanischen Beziehungen nicht frei
von mancher Befremdung und auch manchen Differenzen sind .
Aus europäischer und deutscher Sicht spielt dabei die
Entwicklungsgeschichte des Irakkriegs mit den fatalen
Folgen einer Destabilisierung der ganzen Nahostregion
eine erhebliche Rolle . Die NSA-Überwachungsaktivitäten haben uns empört, jedenfalls so lange, bis der BND
bei ganz ähnlichen Aktivitäten erwischt wurde .
({0})
Die inzwischen sehr starke ideologische Aufladung
des politischen Systems in den USA mit einer scharfen
Polarisierung der Parteien im amerikanischen Kongress
befremdet uns . Sie geschieht ausgerechnet in dem Land,
das uns Deutschen die Demokratie, die Bedeutung von
Checks and Balances und die zentrale Bedeutung, einen
Kompromiss zu finden, maßgeblich beigebracht hat.
Wir beobachten zusammen mit vielen Amerikanern
im derzeitigen Präsidentschaftsvorwahlkampf eine Art
Verwahrlosung der politischen Sitten . Gelegentlich geht
jedenfalls mir die Frage durch den Kopf, ob die viel zitierte Wertegemeinschaft auf Donald Trump noch zutrifft . Die gesellschaftliche und politische Vorbildrolle,
die die USA über lange Nachkriegsjahrzehnte gerade in
Deutschland gehabt hat, ist jedenfalls deutlich getrübt .
Fairerweise wird man allerdings auch sagen müssen,
dass es aus US-amerikanischer Sicht ebenfalls einiges an
Befremdung und Kritik gibt, was Europa und namentlich
Deutschland angeht . Die Amerikaner können bis heute
ein außen- und sicherheitspolitisch kohärentes Konzept
Europas, in dem es selber Verantwortung für seine Sicherheit übernimmt, nicht erkennen . Auch wehren sie
sich - teilweise nachvollziehbar, teilweise nicht - gegen
erhebliche Vorwürfe, die ihnen gelegentlich wegen ihrer
Polizistenrolle gemacht werden, die sie in vielen Regionen ausüben, während sie gleichzeitig für europäische
Sicherheitsinteressen einspringen müssen .
({1})
Wir sind zwar gelegentlich befremdet und halten das
enorme amerikanische militärische Potenzial und seinen
Einsatz für suspekt, aber wenn dann die sechste Flotte
der Vereinigten Staaten von Amerika vor der östlichen
Mittelmeerküste patrouilliert und Präsenz zeigt und Einsätze auch gegen den IS fliegt, ist uns dies ganz recht.
Gelegentlich ist in dieser Debatte eine gewisse Heuchelei
festzustellen .
({2})
Namentlich auch die deutsche sicherheits- und bündnispolitische Zuverlässigkeit ist jedenfalls manchmal
von den Amerikanern hinterfragt worden, nicht aktuell,
aber in der Rückbetrachtung des letzten Jahrzehnts . Die
Untätigkeit und Unwilligkeit der Europäer, die USA,
die immerhin 70 Prozent des Verteidigungsbudgets der
NATO finanzieren, gelegentlich auch zu entlasten, führt
jedenfalls zu gewissen Missstimmungen in den USA .
Das erstreckt sich aus der amerikanischen Sicht auch auf
die Unfähigkeit der Mitgliedstaaten der Europäischen
Währungsunion, den Euro zu stabilisieren und damit Ansteckungsgefahren für das globale Finanzsystem einzudämmen . Das führt zu dem nicht sehr schmeichelhaften
politischen Attest, dass die Europäer selbst nicht in der
Lage seien, sich zu organisieren .
So sind die transatlantischen Beziehungen Mitte des
zweiten Jahrzehnts des 21 . Jahrhunderts keineswegs frei
von Belastungen und Vorhaltungen . In Deutschland ist
deshalb in manchen Debatten - wir werden das zugeben
müssen - auch gelegentlich ein Antiamerikanismus festzustellen . Umgekehrt ist in den USA ein zunehmendes
Desinteresse an Europa festzustellen mit einer deutlicheren Hinwendung zum asiatisch-pazifischen Raum.
All dies vorausgeschickt und dessen unbenommen
bleibt richtig, dass es keine andere so eng verbundene
Staatengemeinschaft gibt wie die Europas und der Vereinigten Staaten von Amerika,
({3})
und zwar historisch, wirtschaftlich, zivilisatorisch, kulturell und mit den enormen Errungenschaften der beiden
atlantischen Revolutionen von 1776 und 1789 mit den
Prinzipien von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Freiheit,
Menschenrechten und Marktwirtschaft . Das hat der deutsche Historiker Heinrich August Winkler das normative
Projekt des Westens genannt .
Ja, die Praxis mit ihren Unvollkommenheiten, mit
ihren Defiziten, mit ihren Ungerechtigkeiten und auch
gelegentlich mit den Verletzungen dieser Prinzipien entsprach und entspricht nicht durchweg diesem normativen
Projekt . Aber die Grundrechtserklärung von Virginia
1776 und die französische Erklärung der Menschen- und
Bürgerrechte von 1789 sind und bleiben einzigartige
Errungenschaften, auf denen die Staatswesen in Europa
und in den USA und unser gemeinsames Gesellschaftssystem des Westens nach wie vor aufbauen .
Diese Errungenschaften finden sich nicht in einem eurasischen Modell des russischen Präsidenten Putin . Diese
finden sich nicht in einem staatskapitalistischen System
mit einem kommunistischen Überbau in China . Diese
finden sich nicht in islamischen Staaten. Diese finden
sich nicht in all den anderen Staaten autokratischer oder
diktatorischer Provenienz, sondern diese finden sich hier.
({4})
Wer auch immer deshalb die Frage - auch aufgrund
gelegentlich auftauchender Kritik - nach einem anderen
Partner, nach einem anderen Alliierten, mit dem wir in
Europa unsere Werte und beständigen Interessen verfolgen können, auch nur unterschwellig stellt, der muss
passen . Wer auch immer die Frage hinzufügt, ob Europa
eines Partners auf der anderen Seite des Atlantiks bedarf,
dem antworte ich mit einem klaren Ja .
In einer gefährlichen Welt, in der einige Kräfte ihr
Unwesen treiben, die nicht verhandlungsfähig und nicht
verhandlungsbereit sind, mit den diversen Konflikten
und auch neuen sogenannten hybriden Kriegen an der
Peripherie Europas, bleibt eine transatlantische Rückversicherung für Europa von zentraler Bedeutung .
({5})
Eine solche Rückversicherung verlangt von uns Europäern und auch von uns Deutschen aber auch einen
Beitrag, der sich gewiss auf diplomatische, humanitäre,
wirtschaftliche und entwicklungspolitische Anstrengungen erstrecken muss, der sich aber eben auch auf die
Abschreckungsfähigkeit der NATO und die Einsatz- und
Bündnisfähigkeit der Bundeswehr erstrecken muss .
({6})
Dieser Satz ist in der deutschen Öffentlichkeit nicht
sehr populär, aber er gehört in diese Debatte . Man kann
nicht nach einer globalen Ordnung rufen, die uns möglichst viel Chaos, Anarchie und menschliches Leid erspart und dann der uns aus westlicher Sicht zwar nicht
mehr singulären, aber jedenfalls immer noch dominant
erscheinenden Ordnungsmacht, nämlich den USA, die
Unterstützung verweigern . Dies ist widersprüchlich .
({7})
All denjenigen - möglicherweise auch in diesem Hause -, die bei diesem Satz zögern oder sogar Zweifel an
seiner Richtigkeit erwecken, stelle ich die Frage: Welche
andere Ordnungsmacht hätten Sie denn lieber?
({8})
Über die Sicherheitsaspekte, die ich bisher erwähnt
habe, hinaus werden sich Europa und die USA mit massiven globalen Verschiebungen beschäftigen müssen . Der
Anteil der Bevölkerung dieser beiden Kontinente bzw .
Teilkontinente an der Weltbevölkerung ist in den letzten
40 Jahren auf 10 Prozent zurückgegangen, und er wird
weiter schrumpfen . Der gemeinsame Anteil der USA
und Europas am globalen Bruttonationaleinkommen ist
in dieser Zeit von 60 Prozent auf 45 Prozent zurückgegangen, und er wird weiter abnehmen . Der Anteil dieser
beiden Kontinente bzw . Teilkontinente am Welthandel
ist von rund 30 Prozent auf inzwischen 20 Prozent zurückgegangen, und er wird weiter abnehmen . Das ist ein
Indiz dafür, dass wir es mit globalen tektonischen Verschiebungen zu tun haben . Die Welt wird multipolarer
mit dynamisch aufsteigenden Regionen . Darüber darf
sich der atlantische Raum mit seinen politischen, gesellPeer Steinbrück
schaftlichen, wirtschaftlichen und auch technischen Errungenschaften nicht marginalisieren .
Schließlich sind die globalen Herausforderungen wie
der Klimawandel sowie die Bekämpfung von Terrorismus, organisierter Kriminalität, Pandemien und Steuerbetrug mit keiner anderen Macht zu lösen als mit den
USA . Ohne das Gewicht der USA an der europäischen
Seite werden diese Probleme nicht bewältigt werden
können .
({9})
Auf die aktuellen zentralen Probleme und kritischen
Einwände zu dem Projekt, das uns am meisten in den
transatlantischen Beziehungen beschäftigt - das ist das
Freihandelsabkommen TTIP -, will ich nur wenige Worte verwenden, nicht aus Geringschätzung gegenüber den
Problemen und kritischen Einwendungen, sondern aus
Zeitgründen . Mir sind - genauso wie Ihnen und weiten
Teilen der Bevölkerung - alle diese Probleme bewusst .
Ich will diese gar nicht in Abrede stellen . Aber ich möchte
auf drei Aspekte in der Debatte über dieses Freihandelsabkommen aufmerksam machen .
Erstens . Wer mit einem sehr skeptischen Blick auf
die teilweise anarchische Entwicklung der Globalisierung schaut, wird für Leitplanken und Verkehrsregeln im
weltweiten Handel eintreten und sich die Frage stellen
müssen, ob in diesem Sinne TTIP nicht eine Chance ist .
({10})
Zweitens . Wenn sich die Europäer und die Amerikaner nicht auf ein solches Freihandelsabkommen einigen - das kann passieren -, dann stellt sich die Frage,
wer stattdessen die Spielregeln global bestimmen wird,
({11})
und das vor dem Hintergrund der Dynamik anderer Weltregionen, die mit Sicherheit zu Ergebnissen kämen, die
europäischen Standards und europäischen Vorstellungen
nicht entsprechen würden . Die augenblickliche Debatte,
die wir zur Lage der europäischen und deutschen Stahlindustrie führen, ist ein leichtes Indiz dafür, was es bedeuten würde, wenn andere die Leitplanken und Verkehrsregeln im weltweiten Handel bestimmen würden .
Drittens . Ist TTIP über seine ökonomische Bedeutung
hinaus nicht auch von einem erheblichen strategischen
Stellenwert im Verhältnis von Europa zu den USA, oder
wie würden sich die transatlantischen Beziehungen in ihrer Qualität entwickeln, wenn TTIP scheitern sollte?
Diese drei Fragen möchte ich über die ziemlich niveaulose Debatte über das Chlorhähnchen hinaus stärker
öffentlich debattiert haben .
({12})
Mein Plädoyer für eine Revitalisierung der transatlantischen Beziehungen folgt keinem Verständnis eines
subalternen oder bedenken- und kritiklosen Verhältnisses
Europas zu den USA, sondern einer sehr nüchternen Sicht
auf unsere beständigen europäischen und deutschen Interessen, getreu einem Zitat des ehemaligen britischen Premierministers Lord Palmerston aus dem 19 . Jahrhundert,
der einmal sinngemäß, bezogen auf England, gesagt hat,
dass England weder ewige Freunde noch ewige Feinde,
sondern nur beständige Interessen hat . Die beständigen
Interessen Deutschlands und Europas gelten einem guten
transatlantischen Verhältnis .
Vielen Dank .
({13})
Stefan Liebich ist der nächste Redner für die Fraktion
Die Linke .
({0})
Guten Morgen, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Wenn die transatlantischen Beziehungen wirklich die Bedeutung haben, die der Kollege
Steinbrück eben beschrieben hat, dann finde ich es schon
erstaunlich, dass kein einziger Minister an dieser Debatte
teilnimmt .
({0})
Ich möchte mit einem Blick zurück beginnen . Heute
vor 71 Jahren haben Truppen der Vereinigten Staaten und
Großbritanniens die niederländische Stadt Arnheim am
Rhein endgültig erobert . Damit ist der Zweite Weltkrieg,
den Nazideutschland entfesselt hat, seinem Ende entgegengegangen . Am 8 . Mai war es so weit: Die Sowjetunion, die USA, Frankreich und Großbritannien haben
Deutschland befreit, und dafür sind wir uneingeschränkt
dankbar .
({1})
Das alliierte Bündnis hat nicht lange gehalten .
Deutschland wurde in West und Ost geteilt, und im Westen Deutschlands haben die USA eine Perspektive angeboten, aus Hunger und Not zu entfliehen und das Land
aus den Ruinen wieder aufzubauen . Diese Hilfe wurde
angenommen und war Grundlage für das Wirtschaftswunder der 50er-Jahre. Viele Menschen empfinden dafür
große Dankbarkeit . Es hat sich ein festes Bündnis zwischen der Bundesrepublik und den USA entwickelt, und
dieses Bündnis wurde nach dem Beitritt der DDR auch
auf den Osten Deutschlands übertragen .
Am 12 . September 2001, also einen Tag nach den
schrecklichen Terroranschlägen in New York City und
Washington, hat Gerhard Schröder gesagt: Es geht um
die Tatsache, dass Deutschland fest an der Seite der Vereinigten Staaten steht und uneingeschränkt - ich betone
das: uneingeschränkt - Solidarität übt .
Uneingeschränkte Solidarität - das war lange das
Dogma im Umgang mit den Vereinigten Staaten . Aber,
liebe Kolleginnen und Kollegen, die Zeiten haben sich
geändert . Unser Bild von den USA ist nicht mehr von
den 50er-Jahren, der Nachkriegszeit geprägt - Rock ‘n‘
Roll, Kaugummi, Elvis Presley - oder von den Protesten
gegen den Vietnamkrieg und den Koreakrieg . Ich glaube,
dass die heutige Generation tatsächlich mehr über 9/11,
über Bushs Krieg gegen den Terror, über die Lügen über
Massenvernichtungswaffen im Irak, über die Bespitzelung der US-Geheimdienste auch hier in Deutschland
nachdenkt und dass sie an US-Bürger wie Snowden und
Manning denkt, die als Whistleblower wichtige Verdienste haben .
({2})
Charles de Gaulle hat gesagt: Zwischen Staaten gibt es
keine Freundschaft, sondern nur Allianzen . Die Allianz
zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den USA
hat sich über die Jahrzehnte geändert . Ich würde sagen:
Sie ist erwachsen geworden . Unter Erwachsenen kann
man auch Nein sagen, und man muss Nein sagen, wenn
etwas erwartet wird, was man falsch findet.
({3})
Es war deshalb richtig, dass die damalige Bundesregierung dem Irakkrieg George W . Bushs widersprochen
hat . Die Folgen dieses Krieges, wie zum Beispiel die
Entstehung der Terrororganisation Daesh oder ISIS, bekommen wir bis heute zu spüren . Es war richtig, dass
sich Deutschland nicht am NATO-Einsatz in Libyen beteiligt hat, den vor allem Hillary Clinton vorangetrieben
hat . Dieser Krieg hat eine ganze Region destabilisiert .
Aber auch die USA haben sich verändert . Die Brücke
über den Pazifik ist mittlerweile wichtiger für viele dort
als die über den Atlantik . Da nostalgisch-sentimental zu
werden, ist sinnlos . The Times They Are a-Changin‘, die
Zeiten ändern sich eben . Der Präsidentschaftswahlkampf
zeigt das in aller Schärfe . In den USA wird so erbittert
gestritten wie wohl nie zuvor .
Über Amerikas Rolle in der Welt, Herr Steinbrück, ob
die USA überhaupt noch eine globale Ordnungsmacht
sein wollen oder können, darüber gibt es Streit . Die Frage der Krankenversicherung, der Cannabislegalisierung,
des Verbots von Abtreibungen, die Frage, wer wen heiraten darf, die Frage, ob man sich Kuba oder Iran annähert
oder lieber nicht - es ist für uns nicht egal, wer dieses
Land regiert, auch für uns hier in Deutschland nicht .
({4})
Schauen Sie sich den Präsidentschaftskandidaten
Donald Trump an, einen Sexisten, einen Rassisten, der
eine Mauer zu Mexiko errichten will, der sich nicht vom
Ku-Klux-Klan distanziert, der für Foltermethoden ist,
die noch schärfer sind als Waterboarding, oder Ted Cruz,
einen religiösen Fanatiker, der die Gesundheitsversicherung wieder abschaffen will, der das Atomabkommen
aufheben will, der auf noch mehr Militär setzt und von
dem viele nicht ganz zu Unrecht sagen, dass er vielleicht
nicht so laut ist wie Donald Trump, aber noch gefährlicher .
Auf der anderen Seite gibt es jemanden wie den Senator Bernie Sanders aus Vermont, der sich selbst demokratischer Sozialist nennt, was in den USA früher
ein politisches Todesurteil gewesen wäre . Ich konnte es
kaum glauben: Vorgestern waren fast 50 000 Menschen
in Manhattan auf den Beinen, um ihm zuzujubeln .
({5})
Das war eine der größten Wahlkampfkundgebungen in
der US-Geschichte . Er will die Superreichen besteuern .
Er will die Unigebühren abschaffen . Er will den Mindestlohn anheben . Er will die Spaltung zwischen Arm und
Reich bekämpfen, und er wendet sich gegen ungerechte
Freihandelsabkommen .
({6})
Ein demokratischer Sozialist für das Weiße Haus ich würde mich wirklich freuen, wenn es so käme; aber
selbst wenn nicht: Die Politik der Demokraten hat er jetzt
schon verändert .
({7})
Die USA sind eben mehr, mehr als Wall Street, Pentagon
und Langley .
Bruce Springsteen hat gesungen: „Born in the USA“ .
Er hat jetzt ein Konzert in North Carolina abgesagt, weil
dort eine gesetzliche Diskriminierung von Transsexuellen stattfindet. Auch das ist Amerika.
({8})
Es gibt das andere Amerika . Es ist bunt . Es ist weltoffen .
Es ist tolerant . Es ist progressiv . Schon allein deshalb
kann Antiamerikanismus niemals links sein .
({9})
Die Welt ist eine andere geworden . Die Antworten
sind häufig noch die alten. Das muss und darf nicht so
bleiben . Es ist Zeit für eine neue transatlantische Partnerschaft, die auf globaler Gerechtigkeit, auf Respekt und
auf Frieden basiert . Sie könnte mit einem wichtigen Signal begonnen werden: dem Abzug der US-Atomwaffen
aus Deutschland .
({10})
Peter Beyer ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion .
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte
damit starten, dem Kollegen Sven Volmering zu seinem
heutigen 40 . Geburtstag herzlich zu gratulieren .
({0})
Dann wäre auch das in die Debatte eingebracht .
Meine Damen und Herren, in den vergangenen Debatten -
Ich vermute, Herr Kollege, dass da wenig zu debattieren ist .
Das stimmt .
Der Sachverhalt ist ziemlich eindeutig .
({0})
Danke für den Hinweis, Herr Präsident . Ein Hinweis,
der von Ihnen kommt, ist natürlich immer richtig .
({0})
- Alles meine Redezeit; das stimmt .
Meine Damen und Herren, ich fange noch einmal an .
({1})
Also: In den transatlantischen Debatten in den vergangenen Jahren haben wir uns eigentlich immer nur einzelnen Elementen dieses sehr wichtigen Verhältnisses
gewidmet . Es waren besondere Anlässe . Es ging dabei
um Jubiläen . US-Präsidenten haben wichtige Reden in
dieser Stadt gehalten . „Mr . Gorbachev, open this gate!
Mr . Gorbachev, tear down this wall!“ Oder: „Ich bin ein
Berliner“ . So etwas haben wir zum Anlass genommen .
Es ging auch um komplizierte, problematische Themen
wie den NSA-Abhörskandal oder TTIP . Deswegen ist es
richtig, dass wir heute - darüber freue ich mich - im Plenum nach einigen Jahren zum ersten Mal wieder eine Generaldebatte, eine breit angelegte Debatte zu den transatlantischen Verhältnissen führen .
Meine Damen und Herren, warum ist es wichtig, sich
den transatlantischen Beziehungen breit angelegt zu widmen? Weil wir feststellen werden - wem es noch nicht
klar ist, der möge jetzt zuhören -, dass uns weitaus mehr
verbindet, als uns trennt . Die transatlantischen Beziehungen sind nicht von ungefähr eine der wichtigsten Säulen der deutschen Außen-, Sicherheits- und auch Wirtschaftspolitik . Eine Bestandsaufnahme wird uns sehr
rasch zu der Erkenntnis führen, dass Deutschland den
Vereinigten Staaten von Amerika sehr viel verdankt . Ich
nenne den Marshallplan . Ich nenne die Tatsache, dass die
Vereinigten Staaten während der Zeit des Kalten Krieges
ein Garant der Freiheit waren . Ich nenne auch die Wiedervereinigung, die ohne die Vereinigten Staaten nicht
möglich gewesen wäre .
Umgekehrt haben viele Deutsche daran mitgewirkt,
die Vereinigten Staaten so aufzubauen, wie wir sie heute
kennen . Erst vor kurzer Zeit haben 50 Millionen US-Bürger - das ist ungefähr ein Sechstel der dortigen Bevölkerung - angegeben, deutsche Wurzeln zu haben . Das ist
die größte Gruppe dort . Elvis Presley wurde in der Debatte schon einmal genannt . Da fällt mir noch ein: Auch
er hat deutsche Wurzeln . Seine Familie hieß ursprünglich
Pressler; es waren Deutsche . Auch in diesem Bereich
gibt es transatlantische Beziehungen . Das ist letztlich
ebenfalls eine Säule . Das geht bis hin zu zwei ehemaligen US-Präsidenten, die direkt deutsche Wurzeln haben .
Meine Damen und Herren, das alles ist Teil unserer
gemeinsamen transatlantischen Geschichte, in der auch
Deutsche in unserem Partnerland, in den USA, ihre Spuren hinterlassen haben .
Die amerikanischen Freunde erkennen den deutschen
Beitrag zur Entwicklung ihres Landes durchaus an . Ich
zitiere an dieser Stelle den ehemaligen Transatlantik-Koordinator und Vorsitzenden der Deutsch-Amerikanischen
Parlamentariergruppe, Hans-Ulrich Klose:
Sie haben uns politisch dadurch gedankt, dass sie
die Wiedervereinigung möglich gemacht haben .
Es sind eben diese gemeinsamen Werte, die wir natürlich auch immer wieder hinterfragen müssen, die uns
aber mit gemeinsamen Interessen wie keine zwei anderen Partner auf der Welt verbinden . Wir sind auch strategischer Partner - wahrscheinlich der einzige wirkliche
Partner der USA . Auf wen sonst sollte man sich trotz der
Krisen und Probleme, die auch wir in Europa haben, in
den USA stützen bei der Bewältigung internationaler Krisen und globaler Fragen, wenn nicht auf uns Europäer?
Zu einer ehrlichen Bestandsaufnahme gehört aber
auch - ich bin dankbar, dass meine beiden Vorredner,
insbesondere Kollege Steinbrück, darauf hingewiesen
haben -, die Probleme anzusprechen . Der NSA-Abhörskandal wurde bereits genannt . Ich könnte eine ganze
Reihe von anderen Dingen, die in einem sehr komplexen,
historisch gewachsenen Verhältnis nun einmal passieren,
nennen . Diese müssen wir ansprechen . Stefan Liebich
hatte es so definiert: Die transatlantischen Beziehungen
sind erwachsen geworden . - Dem stimme ich durchaus
zu .
Meine Damen und Herren, ich habe aber manchmal
den Eindruck, dass wir in den transatlantischen Beziehungen irgendwie gefangen sind, festsitzen zwischen
einer Vergangenheit, die ich gerade kurz skizziert habe,
und der Zukunft, den Zukunftsthemen und dass wir hier
Orientierung brauchen . Dabei sollte es doch gar nicht
so schwierig sein, Orientierung zu finden. Denn es gibt
eine ganze Palette globaler Herausforderungen, bei denen wir wissen, dass es wenig klug und auch überhaupt
nicht machbar ist, einzelstaatliche Lösungen zu finden übrigens auch keine Lösungen, die wir nur in Europa
oder nur in den Vereinigten Staaten angehen können . Da
müssen wir uns zusammentun und überall dort, wo wir
gemeinsame Interessen haben, die Kräfte bündeln . Das
betrifft Themen wie die Sicherheit, den Kampf gegen den
Terrorismus und die Bewältigung der Herausforderungen
bei den Klimaveränderungen .
Im Zusammenhang mit Wirtschaftsthemen möchte
ich das Augenmerk kurz auf das Freihandelsabkommen
TTIP, das gerade verhandelt wird, lenken . Wir sind ja bePeter Beyer
reits wichtige Handelspartner . Nun soll der bedeutendste
Wirtschaftsraum der Welt geschaffen werden . Kollege
Steinbrück hat die Verlagerung des geopolitischen und
bevölkerungsentwicklungsmäßigen Gewichts in den
USA, aber auch weltweit angedeutet . Das ist eine Wahrheit, die wir einfach zur Kenntnis nehmen müssen, insbesondere dann, wenn wir uns einmal selbst die Frage stellen: Wie wollen wir eigentlich hier in Deutschland und
Europa in Zukunft leben? Die Antwort muss doch lauten:
auch in Zukunft in Sicherheit und relativem Wohlstand .
Und noch einmal möchte ich betonen, dass wir das alleine nicht hinbekommen . Dazu braucht es einen starken Partner, und da sind uns die Vereinigten Staaten von
Amerika und übrigens auch die Kanadier am nächsten .
Dann kann das funktionieren .
({2})
Wenn ich von den Kanadiern spreche, möchte ich natürlich auch nicht unerwähnt lassen, dass es auch hier im
transatlantischen Verhältnis ein Megaprojekt gibt, das es
noch zu ratifizieren bzw. umzusetzen gilt: das Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Union und
Kanada, abgekürzt CETA, das als Blaupause für TTIP
gelten soll. Es ist final verhandelt und kürzlich noch um
ein Investitionsschutzkapitel erweitert worden, das jetzt
auch den Sorgen der Bevölkerung, der Öffentlichkeit
Rechnung trägt . Es muss jetzt zügig die Voraussetzung
geschaffen werden, dass das umgesetzt wird, dass wir es
ratifizieren können, damit es im Laufe des nächsten Jahres, 2017, auch tatsächlich in Kraft treten kann .
Auch für TTIP gilt: Es geht voran, und es geht gut
voran . Bei allen Zweifeln, die ich hier immer wieder höre
angesichts eines solchen Projekts: Bei dem transatlantischen Projekt unserer Zeit, bei dem es eben nicht nur um
blanke Wirtschaftszahlen, sondern auch um geopolitische und geostrategische Aspekte, Klugheit und Richtigkeit geht, geht es voran . Zuversichtlich bin ich, dass wir
noch während der Amtszeit der derzeitigen US-Administration, die ja immerhin noch bis zum 20 . Januar 2017
geht, zu guten Ergebnissen kommen .
Gerade in der heutigen Zeit ist es richtig, wieder Brücken zu schlagen, teilweise angekratztes Vertrauen im
transatlantischen Verhältnis wiederherzustellen und aufzubauen, gegenseitiges Verständnis für unterschiedliche
Ansichten über durchaus gleichgelagerte Sachverhalte
zu gewinnen . Das geht natürlich am besten, indem man
sich wechselseitig begegnet und miteinander redet . Viele
Austauschprogramme leisten das bereits, von den politischen Stiftungen über die transatlantischen Vereinigungen wie Atlantik-Brücke, GMF, Aspen und wie sie alle
heißen, bis hin zur AmCham, die in diesem Bereich gute
Arbeit leistet . Deswegen ist es gut, dass bereits zum fünften Mal der amerikanische Präsident in wenigen Tagen
hier nach Deutschland zur Hannover Messe kommt . Die
Vereinigten Staaten sind dieses Jahr Partnerland . Hier
wird es wieder Gelegenheit zu vielen Begegnungen auf
vielen Ebenen, auch auf hochrangiger Ebene, geben . Das
schafft Brücken und schafft Vertrauen, das wir zueinander haben und das wir weiterentwickeln müssen .
Lassen Sie uns die transatlantische Partnerschaft für
eine gemeinsame globale Strategie eines geschlossenen,
der Zukunft zugewandten Westens nutzen . Lassen Sie
uns gemeinsam mit den Amerikanern und den kanadischen Freunden Teil des Teams sein, das den Westen rekonstruiert, nicht territorial, wie es der eine oder andere
östlich von uns auf dem Globus machen möchte, sondern
durch strategisch kluge Arbeitsteilung bei den globalen
Herausforderungen . Denn es geht um unser Land, unsere Sicherheit und nicht zuletzt um die Sicherung unseres
Wohlstands .
Ich danke Ihnen .
({3})
Jürgen Trittin ist der nächste Redner für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir Deutsche haben zu den USA eine besonders enge Beziehung .
Das kann man daran sehen, wie die US-Präsidentschaftswahlen hier verfolgt werden: Trump gegen Cruz, Sanders
gegen Clinton . Dies alles wird verfolgt - Herr Liebich hat
das schon angesprochen -, als würde man mitwählen . Ich
finde, das ist ein gutes Zeichen für die transatlantischen
Beziehungen . Es zeigt, dass sie tief in der Gesellschaft,
bei den Menschen verwurzelt sind .
({0})
Das macht auch die Spannung darüber aus, was dabei herauskommt, was uns erwartet . Ein neuer Kurs der
Isolation? Eine Abschottung, wofür Ted Cruz und Trump
zum Beispiel plädieren?
({1})
Eine interventionsfreudigere Präsidentin wie Hillary
Clinton?
({2})
Die Frage stellt sich natürlich auch und gerade vor dem
Hintergrund: Wie war das bis jetzt?
Ich will an dieser Stelle eines deutlich sagen: Die
acht Jahre der Obama-Administration waren gute Jahre
für die transatlantischen Beziehungen . Präsident Barack
Obama war ein kluger Präsident, manchmal auch klüger
als die Bundeskanzlerin . Er war nämlich schon 2003 gegen den Irakkrieg, mit dessen Folgen wir noch zu tun
haben . Er war mit seiner Gesundheitsreform ein mutiger
Präsident . Manche halten ihn für einen schwachen Präsidenten . Das ist ein Irrtum . Schwach war sein Vorgänger . Der Unilateralismus eines George W . Bush hat im
Ergebnis zu weniger Ansehen, weniger Macht und weniger Handlungsspielraum für die USA geführt . Das ist die
Ursache für die Überdehnung der einstigen Supermacht
USA gewesen .
({3})
Obama hat aus dieser Erkenntnis nur die Konsequenz
gezogen, nämlich umgestellt auf eine kluge Realpolitik .
Er hatte die Erkenntnis, dass auch die Supermacht USA
die Folgen der Globalisierung nicht alleine bewältigen
kann . Er hat auf Kooperation gesetzt . Das hat er getan
beim Klimaabkommen in Paris . In Kioto standen sie noch
abseits . Jetzt haben sie durch ihre Kooperation mit China
dieses Abkommen überhaupt erst möglich gemacht .
Dann gibt es auch eine andere transatlantische Gemeinsamkeit, nämlich die Konsequenz, dass jetzt über
Dekarbonisierung nicht nur in Schlusserklärungen von
Elmau geredet wird . Nein, man sollte doch einmal zur
Kenntnis nehmen, dass jenseits des Atlantiks die Familie
Rockefeller sagt: Wir investieren künftig nicht mehr in
fossile Energien . - Vielleicht kommt das auch bei Sigmar
Gabriel irgendwann einmal an .
({4})
Ich will sehr deutlich sagen, dass es die Obama-Administration gewesen war, die - auch gegen eine Mehrheit
im Kongress, die dafür gewesen ist, den Ukraine-Krieg
und die Krise dort mit Waffenlieferungen zu verschärfen - durchgesetzt hat, dem Verhandlungskurs der Europäer und der deutschen Bundesregierung in dieser Frage den Rücken freizuhalten . Auch das hat letztendlich
Minsk möglich gemacht .
({5})
Natürlich bin ich bei Ihnen, Herr Liebich: Atomwaffen in Büchel - das ist ein schlechtes Kapitel .
Ich bin auch bei all denen, die sagen: Obamas Vision
einer nuklearwaffenfreien Welt ist noch nicht Wirklichkeit geworden . - Aber ich möchte auch auf eines hinweisen: Der einzige wirkliche Schritt nuklearer Abrüstung
der vergangenen Jahre ist mit diesem Präsidenten möglich gewesen: Es ist selbstbewussten Europäern - zusammen mit den USA und zusammen mit China und Russland - gelungen, ein nukleares Wettrüsten mit dem Iran
im Nahen Osten zu unterbinden . Das wollen Ted Cruz
und Donald Trump jetzt rückgängig machen .
({6})
Ich finde, das ist eine gute Bilanz. Das knüpft übrigens an Vorarbeiten deutscher Außenminister, Fischer,
Westerwelle, Steinmeier, an .
Es gibt aber natürlich Dinge, wo man auch Klartext
reden muss . Warum zum Beispiel gibt es - obwohl man
jetzt dabei ist, mit Russland zu verhandeln - für Syrien immer noch kein UN-Mandat? Wir Deutsche sollten
klarmachen, dass wir den Willen zur Kooperation begrüßen . Aber Kooperation ist noch kein Multilateralismus
im Rahmen der Vereinten Nationen .
Oder nehmen wir ein anderes Beispiel, ein Beispiel,
das auch die Stärke von Demokratien aufzeigt . Obama
hat jetzt in einem Interview gesagt, sein schlimmster
Fehler war die Intervention in Libyen . - Da war Frau
Merkel übrigens klüger .
({7})
Ich sage das an dieser Stelle, weil damals eine ganze Batterie von Leitartiklern in diesem Land geschrieben hat,
diese Haltung - sie wurde übrigens von fast allen Parteien in diesem Hause getragen - sei Antiamerikanismus .
Nein! Ich glaube, es war richtig, vor einer Intervention zu
überlegen, was das an Konsequenzen haben kann . Deswegen glaube ich, dass diese Selbstkritik berechtigt war .
({8})
Natürlich muss man darüber sprechen, dass unter der
Präsidentschaft Obamas der Drohnenkrieg ausgeweitet
worden ist . Das geschah übrigens auch über Ramstein .
Wir alle wissen, dass dies im Kampf gegen den Terrorismus vielfach eben nicht hilfreich war . Im Gegenteil: Dieser Drohnenkrieg in Somalia, im Jemen und in Pakistan
hat weite Teile dieser Regionen destabilisiert . Und wir
wissen: Destabilisierte Räume sind Räume für Terrorismus . Ich glaube, an dieser Stelle ist dann auch Klartext
angesagt .
({9})
Manchmal stellt man ja fest, dass die Herausforderungen, vor denen wir stehen, sehr ähnlich sind . Rechten
Terror gibt es - angefangen bei Timothy McVeigh - in
den USA ebenso wie bei uns, wo es um den NSU geht .
Es gibt islamistische Terroristen in San Bernardino, aber
auch in Europa, in Molenbeek und hier . Ich glaube, dass
wir eine gemeinsame Herausforderung haben, dem zu
begegnen . Dem wird man übrigens nicht mit neuen Mauern begegnen können, sondern nur, wenn man darauf
setzt, dass wir unsere Werte - nämlich demokratische
Gesellschaften, die auf Teilhabe abzielen - wirklich ernst
nehmen .
({10})
Das ist der tiefe Grund für die Freundschaft und die Zusammenarbeit mit den USA .
Dabei sollte man sich vor Überheblichkeit schützen .
Gerade im Zusammenhang mit TTIP gibt es auch solche
Stimmen, nach dem Motto: Hier in Europa ist alles gut,
und in den USA ist alles schlecht . - Ich will Ihnen nur ein
Beispiel geben: Kennen Sie den Unterschied zwischen
Good Governance und Bad Governance? Good Governance: Die USA haben eine Environmental Protection
Agency . - Wir haben Alexander Dobrindt .
({11})
Die einen sorgen mit Milliardenstrafen dafür, dass VW
geltendes Recht einhält; die anderen tragen großes Karo
zur Schau und tauchen ansonsten ab .
({12})
Deswegen glaube ich, meine Damen und Herren, dass wir
uns auch bei TTIP darum bemühen sollten, vonei nander
zu lernen, um den jeweils besseren Standard durchzusetzen . Aber das, lieber Kollege Steinbrück - ich teile ja
Ihre strategische Überlegung -, was da im Rahmen der
realen Geschichte, der TTIP-Verhandlungen, passiert, ist
doch kein „levelling up“, vielmehr ist es ein „race to the
bottom“, das hier organisiert wird .
({13})
Was erzählen Sie denn dem deutschen Mittelständler,
der künftig in den USA weiter mit „‚Buy American‘claus es“ konfrontiert sein wird, mit Regeln, die bei uns
gegen den Binnenmarkt verstoßen?
Das ist doch gegen die Marktwirtschaft und gegen den
Mittelstand .
({14})
Sie sagen, es solle neue Leitplanken geben . Schauen
Sie sich doch mal die Kapitel zur regulatorischen Kooperation an! Dann stellen Sie fest: Hier wird ein bürokratisches Monster geschaffen, das gerade verhindern soll,
dass besser demokratisch reguliert wird, dass es mehr
Leitplanken gibt .
({15})
Das ist das Gegenteil von dem, was Sie uns zurzeit bei
TTIP versprechen . Meine Damen und Herren, wie man
so etwas organisiert, erleben wir jeden Tag im TTIP-Leseraum . Wir können jetzt diese Debatte gar nicht miteinander führen, weil das Einzige ist, was ich dazu sagen
kann - um Thomas de Maizière zu zitieren -: Das könnte
die Bevölkerung schwer verunsichern .
({16})
Das ist übrigens der Grund, warum am 23 . April viele
Menschen in Hannover gegen TTIP demonstrieren werden . Diejenigen, die da demonstrieren, sind aber keine
Antiamerikaner . Sie wissen: Nur fairer Handel ist freier
Handel .
({17})
Sie können sich dabei auf viele Menschen, auch in den
USA, berufen . Ich zitiere:
… wir sollten … auf … Regelungen verzichten
… die Unternehmen das Recht einräumen, ausländische Regierungen gerichtlich dazu zu zwingen,
Umweltstandards zu senken oder das öffentliche
Gesundheitswesen zu verschlechtern …
Hillary Clinton .
({18})
Oder:
Ich glaube an fairen Handel, von dem der Mittelstand und … Familien profitieren, nicht nur große
multinationale Konzerne .
Bernie Sanders .
Also: Demonstrieren wir nächste Woche Samstag gemeinsam im Geiste von Sanders und Clinton für fairen
Freihandel, für soziale Marktwirtschaft und Demokratie .
Das ist gelebte deutsch-amerikanische Freundschaft .
({19})
Das Wort erhält jetzt die Kollegin Dagmar Freitag für
die SPD-Fraktion .
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
transatlantische Verhältnis - ein immer wieder polarisierendes Thema . Die einen denken an Persönlichkeiten
wie Martin Luther King mit seiner weltberühmten Rede
„I have a dream“ auf den Stufen des Lincoln Memorials . Andere haben ein geradezu verklärtes Bild von dem
„sweet land of liberty“, das für viele als Einwanderungsland so attraktiv ist .
Dagegen haben wir natürlich auch andere Assoziationen, die uns - ich muss das einräumen - manchmal
einigermaßen fassungslos machen: Guantánamo, Waterboarding, die laschen Waffengesetze, der ungeheure
Einfluss der Waffenlobby auf politische Entscheidungsträger, Schüsse weißer Polizisten auf farbige Landsleute
oder auch die Todesstrafe, die es immer noch in vielen
Bundesstaaten der Vereinigten Staaten gibt .
Diese wenigen Beispiele sind - je nach Standpunkt Gründe entweder für einen geradezu plumpen Antiamerikanismus oder aber für ein relativ verklärtes Bild dieses
Landes . Beides ist aus meiner Sicht nicht gerechtfertigt .
Die Beziehungen zu Kanada und den Vereinigten
Staaten haben für unser Land - Herr Kollege Steinbrück
hat nachdrücklich darauf hingewiesen - eine besondere Bedeutung . Unbestritten ist aber auch: Es hat immer
wieder Irritationen gegeben . Wir müssen daran arbeiten,
sie abzubauen, und zwar auf beiden Seiten des Atlantiks .
Dabei ist natürlich ein kritischer Blick völlig unverzichtbar . Denn nur so kann eine Partnerschaft, die Werten verpflichtet ist, auch wirklich gelebt werden.
Klar ist aber auch: Diese Partnerschaft hat nichts von
ihrer Bedeutung eingebüßt . Ich würde sagen: Vielleicht
ist sie heute wichtiger denn je . Denn in einer globalisierten Welt sehen sich Deutschland und natürlich auch
Europa ganz gewaltigen Herausforderungen gegenüber .
Außenminister Steinmeier hat zu Beginn seiner zweiten
Amtszeit davon gesprochen, dass die Welt aus den Fugen
geraten sei . An dieser Zustandsbeschreibung, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat sich bis heute nichts geändert - leider! Brutale Bürgerkriege, zerfallende Staaten,
auch zunehmende Wetterextreme - all das löst Fluchtbewegungen von Millionen von Menschen aus . Deren Folgen kann kein Staat im Alleingang bewältigen . Diese und
weitere Herausforderungen machen klar: Deutschland
und Europa brauchen verlässliche Partner .
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben mehrfach
darauf hingewiesen: Gute transatlantische Beziehungen
sind keine Selbstverständlichkeit, kein Selbstläufer .
Ein Beispiel, das zugegebenermaßen keine weltpolitische Bedeutung hat, aber für den Deutschen Bundestag, für uns alle hier, von besonderer Bedeutung ist, ist
das Parlamentarische Patenschafts-Programm . Das US
State Department hat vor zwei Jahren einseitig die paritätische Finanzierung, die über 30 Jahre funktioniert hat,
aufgekündigt und damit dieses wunderbare Austauschprogramm letztlich infrage gestellt . Dieses Programm
hat immerhin mehr als 23 000 junge Menschen aus unseren Ländern in das jeweilige Partnerland geführt, hat die
Gelegenheit gegeben, Kultur und vieles andere kennenzulernen, die Sprache zu lernen . Es war klar erkennbar:
Die Prioritäten des State Department hatten sich auch bei
diesen Austauschprogrammen auf andere Regionen dieser Welt verlagert . Dann ist es parteiübergreifend durch
Gespräche zwischen Abgeordneten gelungen, die Finanzierung auf den alten Ansatz zurückzuführen . Ich möchte
die Gelegenheit nutzen, den Kolleginnen und Kollegen
aus allen Fraktionen dieses Hauses, aber auch den Kollegen auf amerikanischer Seite - namentlich möchte ich
G . T . Thompson und Jim McDermott nennen - dafür zu
danken, dass es gemeinsam gelungen ist, das Programm
zum alten Ansatz zurückzuführen . Das ist eine gute
Nachricht für Deutschland und für die USA . Es ist vor
allen Dingen eine gute Nachricht für junge Menschen
beider Länder .
({1})
Und es zeigt eines: Das letzte Wort haben nicht Ministeriale, sondern die Parlamentarier .
({2})
Herausforderungen sind dazu da, angenommen
zu werden . Die Suche nach Lösungen - so schwer sie
manchmal auch sein mag - kann auch zusammenschweißen . Wir haben es heute Morgen mehrfach gehört: Die
transatlantischen Beziehungen sind weit mehr als nur
eine Zweckgemeinschaft . Deshalb lohnt es sich, daran
zu arbeiten, dafür zu kämpfen . Wir sind dazu bereit . Der
vorliegende Antrag zeigt auf, in welche Richtung es weitergehen soll . Ich bin froh, dass wir heute Morgen Gelegenheit hatten, dies sehr deutlich zu machen . Auch das ist
ein Zeichen an die andere Seite des Atlantiks . In diesem
Sinne werbe ich um die Zustimmung für unseren Antrag .
Vielen Dank .
({3})
Für die Fraktion Die Linke hat nun der Kollege Klaus
Ernst das Wort .
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die bisherige Debatte zeigt - und das ist unbestritten -, dass ein Amerika in der Form nicht existiert,
sondern dass es Licht und Schatten gibt . Das Problem
ist: Wie reagiert unsere Bevölkerung auf Vorgänge, die
die Debatte in den letzten Monaten und Jahren belastet
haben? Sie schreiben in Ihrem Antrag, dass die Beziehungen zu den Vereinten Staaten von Amerika auf gemeinsamen Werten - ich zitiere -,
auf den Prinzipien von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Freiheit, Marktwirtschaft und Respekt vor dem
Individuum gründen .
({0})
- So sieht es aus, aber leider nicht immer in der Praxis .
Amerika hat eben zwei Seiten . Das ist in den Reden,
die wir hier gehört haben und denen ich nur zustimmen
kann, deutlich zum Ausdruck gekommen . Nur: Wenn
wir selber nicht versuchen, in den Beziehungen zu den
Vereinigten Staaten diese Werte, Freiheit, Demokratie,
Rechtsstaatlichkeit, hochzuhalten und zu verteidigen,
auch wenn Dinge passieren, die wir nicht wollen, dann
wird die Bevölkerung eher ein negatives Bild von Amerika und übrigens auch von uns selber erhalten .
Ich frage mich nach wie vor: Welche Konsequenzen
wurden eigentlich aus dem Abhörskandal - die Kanzlerin
wurde ja nun abgehört, das ist bekannt - gezogen? Inwieweit sind wir tatsächlich bereit, die Werte, auf die wir uns
beziehen und die Sie in Ihrem Antrag hervorheben, zu
verteidigen, auch im Verhältnis zu den USA?
({1})
Aber wenn jemand sagt: „Das ist nicht in Ordnung, dass
wir das nicht tun“, dass wir als Europäer zu unterwürfig
seien, dann kommt der Vorwurf des Antiamerikanismus .
Dabei bezieht sich die Kritik auf sehr konkrete Vorgänge,
durch die diese Werte wie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, die Sie in den Vordergrund stellen, verteidigt
werden sollen . Insofern möchte ich den Vorwurf des Antiamerikanismus in dieser Debatte mit aller Schärfe zurückweisen . Es gibt Kritik, die ist berechtigt, und das ist
kein Antiamerikanismus .
({2})
Meine Damen und Herren, ich erinnere an die
McCarthy-Zeit in Amerika, in der Chaplin und andere vor
einen Ausschuss für antiamerikanische Umtriebe gezerrt
wurden . Ich habe durch diesen Vorwurf des Antiamerikanismus den Eindruck, einige wollen die McCarthy-Zeit
in Europa wieder einführen . Bitte, das brauchen wir
nicht, das ist nicht notwendig, und das können wir lassen .
({3})
Jetzt kommen wir zu den zentralen Werten Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, und dann komme ich, Herr
Steinbrück, auch auf die von Ihnen erwähnten Abkommen mit den USA und Kanada. Die Verhandlungen finden und fanden unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt,
übrigens auch weitgehend unter Ausschluss der Abgeordneten, und zwar bis heute . Ich frage mich, wo da die
Grundlagen dieser transatlantischen Freundschaft, nämlich Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, sind . Zur Demokratie gehört eben auch Transparenz, und die haben
Sie nicht hergestellt .
({4})
Nach wie vor sind Schiedsgerichte vorgesehen . Der
Deutsche Richterbund sagt: Die Schaffung von Sondergerichten für einzelne Gruppen und Rechtsgesuche ist
der falsche Weg und rechtlich nicht akzeptabel . - Meine
Damen und Herren, auch das hat mit Rechtsstaatlichkeit
nichts zu tun . Im Übrigen: Bei den Abkommen sind besondere Gremien vorgesehen, die an den Entscheidungen der Parlamente vorbei Regelungen setzen können,
die völkerrechtlich verbindlich sind . Auch das hat mit
Rechtsstaatlichkeit nichts zu tun .
Die Entscheidung, dass man CETA und TTIP vorläufig in Kraft setzt, also bevor Parlamente darüber bei
der Behandlung eines entsprechenden Gesetzes überhaupt debattiert haben, wertet Wolfgang Weiß, Professor
Dr . Wolfgang Weiß, folgendermaßen: Er sagt: Es ist verfassungsrechtlich und demokratiepolitisch unakzeptabel,
dass die vorläufige Anwendung eines Abkommens an den
Parlamenten vorbei erfolgt . - Meine Damen und Herren,
auch das hat mit Rechtsstaatlichkeit nichts zu tun .
({5})
Deshalb sage ich Ihnen: Das, was Sie hier praktizieren, oder das, was Sie hier versuchen zu praktizieren,
nämlich ein Gebilde auf vernünftige Werte zu beziehen,
während diese Werte in der Praxis, insbesondere im Zusammenhang mit den Handelsabkommen, der Realität
nicht standhalten, führt dazu, dass sich Bürgerinnen und
Bürger wehren und dass sie - meines Erachtens ist das
eigentlich nicht richtig - das Verhältnis der Europäer zu
den USA generell infrage stellen .
Diese Handelsabkommen nützen nicht den Bürgern in
den USA, sie nützen nicht den Bürgern in Europa .
({6})
Deswegen werden sie abgelehnt, und deshalb traut sich
auch kein Präsidentschaftskandidat in Amerika, gegenwärtig im Wahlkampf für diese Handelsabkommen einzutreten . Daran sollten wir uns ein Beispiel nehmen und
diesen Unfug lassen .
Ich danke fürs Zuhören .
({7})
Das Wort erhält nun der Kollege Jürgen Hardt für die
CDU/CSU .
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
haben heute viele gute Reden zum Thema „transatlantische Partnerschaft“ gehört .
({0})
Dafür möchte ich danken, das gilt fraktionsübergreifend .
Wir haben aber das eine oder andere gehört, auf das ich
kurz eingehen möchte . Das eine oder andere fehlt vielleicht noch .
Herr Liebich, wenn Sie für Herrn Sanders hier im
Deutschen Bundestag die Lanze brechen, dann müssen
Sie überlegen, ob das in Amerika wirklich als Unterstützung dieses Kandidaten aufgefasst wird .
({1})
Ich fürchte, das ist ein - wie nennt man das? - Danaergeschenk, was Sie da bringen .
({2})
Herr Trittin, vor zwei Jahren haben Sie einen Europawahlkampf geführt mit der Legende vom Chlorhühnchen . Leider setzen Sie diese Legendenbildung weiter
fort . Zum Thema Handelsabkommen möchte ich nur
zwei Dinge konkret anmerken: Erstens . Die Vorstellung,
wir Europäer würden den Amerikanern einen Gefallen
tun, wenn wir ein solches Abkommen abschließen, ist
Unsinn . Umgekehrt: Wir sind die Nation, Deutschland
in Europa, bei der mit Abstand die meisten Arbeitsplätze
vom Außenhandel abhängen . Deswegen ist es in erster
Linie in unserem, im deutschen und im europäischen,
Interesse, dass wir zu einem guten und hohe Standards
sichernden Handelsabkommen mit den USA und mit Kanada kommen .
({3})
Zweitens zum Thema Inhalte . Wir haben jetzt ein gut
ausgehandeltes, faires Abkommen der Europäischen
Union mit Kanada, CETA, auf dem Tisch liegen .
({4})
Das ist der Beleg dafür, dass die Europäische Kommission, dass die neue Handelskommissarin, Frau Malmström,
der Generaldirektor Demarty und der Chefunterhändler
Bercero eine gute Arbeit machen und dass wir darauf setzen dürfen, dass das, was wir, die Mitgliedstaaten der Europäischen Union, der Kommission als Leitplanken, als
Verhandlungsmaßstab für dieses Abkommen mitgegeben
haben, auch umgesetzt und durchgesetzt wird . Da alle
europäischen Parlamente, auch der Deutsche Bundestag,
eines Tages einem Eins-zu-eins-Text des Abkommens in
der jeweiligen Sprache zustimmen müssen, bevor es in
Kraft tritt, bitte ich Sie wirklich: Lassen Sie uns doch
die Verhandler ihre Arbeit machen, und belasten wir das
Thema nicht mit neuen Legenden . Es schadet im Übrigen
auch uns, wenn wir die Perspektiven auf das Handelsabkommen so einseitig verschieben .
({5})
Wenn wir auf den Zustand der transatlantischen Partnerschaft blicken, können wir feststellen, dass - der
Ukra ine-Konflikt ist ein Beispiel dafür - die amerikanische Führung seit einigen Jahren stärker auf Europa setzt,
stärker auf den partnerschaftlichen Ansatz gemeinsam
mit uns, auch stärker auf die Meinung und die Position
der Europäer, sie umgekehrt aber auch mehr Verantwortungsbereitschaft und eine stärkere Übernahme von Verantwortung von uns erwartet . Ich plädiere dafür, dass wir
uns dieser Aufgabe stellen, dass wir darüber im Einzelfall diskutieren, wir diese Aufgabe aber ernsthaft wahrnehmen und alle Anstrengungen unternehmen, ein guter
Partner in dieser Zusammenarbeit zu sein, der entsprechend seiner Leistungsfähigkeit das Nötige tut .
Die Amerikaner haben nach dem Zweiten Weltkrieg
mit dem Marshallplan ein großartiges Beispiel gesetzt,
indem sie den Wiederaufbau Europas und nicht zuletzt
Deutschlands ermöglicht haben . Wenn Sie Luftbilder
von Aleppo sehen, fühlen Sie sich frappierend erinnert
an Luftbilder von Dresden vom Februar 1945 . Es wird
unsere gemeinsame Aufgabe sein, den Wiederaufbau
Syriens, aber auch den Wiederaufbau Libyens und anderer Regionen, die in dieser Art und Weise zerstört sind,
die keine Heimat für Menschen mehr sein können, zu
gewährleisten . Wir können nicht darauf vertrauen, dass
wiederum die Amerikaner in ihr Geldsäckel greifen und
das alles finanzieren. Vielmehr werden sie auf uns setzen,
auf Europa setzen . Sie werden darauf setzen, dass wir
unseren Beitrag zum Wiederaufbau leisten . Ich bin dafür,
dass wir uns dafür einsetzen .
({6})
Wir haben in der transatlantischen Partnerschaft gegenwärtig einen Kontakt auf Regierungs- und Parlamentsebene, wie er enger möglicherweise allenfalls in den
Jahren 1989/1990 im Zusammenhang mit der deutschen
Einheit gewesen ist . Zum fünften Mal kommt der amerikanische Präsident nach Deutschland . Als der neue
Speak er, der neue Mehrheitsführer im Abgeordnetenhaus
der Vereinigten Staaten von Amerika, vergangene Woche
seine Reise auf dieser Seite des Atlantiks beendete, hat er
als einziges Land Deutschland besucht . Er hat den Bundestagspräsidenten getroffen und mit ihm über die Zukunft der transatlantischen Beziehungen gesprochen . Das
ist ein klares Zeichen dafür, dass gerade auch Deutschland in dieser transatlantischen Partnerschaft eine starke Rolle zukommt . In den letzten zwölf Monaten waren
mehr Abgeordnete aus Amerika, Mitglieder des Kongresses, hier in Deutschland als jemals zuvor . Ich glaube, dass auch mehr deutsche Abgeordnete nach Amerika
gereist sind als jemals zuvor . Das sind ganz wichtige und
gute Entwicklungen und Anknüpfungspunkte .
Wir haben die Mittel für den German Marshall Fund,
der unsere Antwort auf die großzügige Marshallhilfe der
Amerikaner nach dem Zweiten Weltkrieg war - er wurde von Willy Brandt ins Leben gerufen -, aufgestockt .
Der Staatsminister im Außenministerium hat, glaube ich,
gerade gestern die Finanzzusage gemacht, mit der die
Arbeit dieser wichtigen Institution auf höherem Niveau
fortgeführt werden kann .
Aber es muss eben auch jede Generation ihr Narrativ,
ihre Geschichte der transatlantischen Freundschaft, der
transatlantischen Partnerschaft neu erfinden. Deswegen
bin ich dafür, dass wir die Agenda der Themen der transatlantischen Partnerschaft, über die außen- und sicherheitspolitischen Fragen und die wirtschaftspolitischen
Fragen - TTIP - hinaus, erweitern um die Themen, die
gerade die junge Generation ansprechen . Amerika schaut
auf Deutschland und Europa, wenn es zum Beispiel um
die Energiewende geht . Es gibt ganz viele Kontakte,
auch auf Ebene der Bundesländer, zu den US-Bundesstaaten . Es gibt zum Beispiel einen ständigen Energiedialog Deutschlands mit Minnesota, bei dem es um die
Frage geht: Wie geht Deutschland diesen Weg? Das Wort
„Energiewende“ ist ähnlich wie der Begriff „Kindergarten“ in die amerikanische Sprache eingegangen, zumindest bei denen, die sich mit diesen Themen befassen .
Wir als Deutsche sind für die Amerikaner auch ein
gutes Beispiel für die Bekämpfung von Jugendarbeitslosigkeit durch gute Ausbildung . Wenn ich als Koordinator
für die transatlantische Zusammenarbeit nach Amerika
reise und dort unterwegs bin, bekomme ich immer einen
Termin beim Gouverneur oder bei dem für Bildung im
jeweiligen Staat Zuständigen, weil die Amerikaner sich
enorm für das interessieren, was wir bei der Bildung von
Jugendlichen und der Vermeidung von Jugendarbeitslosigkeit beim Übergang von der Schule ins Berufsleben
auf die Beine stellen . Da schaut sich Amerika einige Dinge von uns ab . Dieses Pfund sollten wir herausstellen .
Wir sollten dafür sorgen, dass in unseren Austauschprogrammen die gesellschaftliche Wirklichkeit in unseren Ländern immer gut abgebildet wird . Ich glaube,
dass bei den Schülern und Studenten, die aus Amerika zu
uns kommen, die African Americans oder die Amerikaner asiatischer oder lateinamerikanischer Herkunft noch
unterrepräsentiert sind . Bei uns sind in den Austauschprogrammen möglicherweise diejenigen Jugendlichen
unterrepräsentiert, die aus Migrantenfamilien kommen .
Ich kann die Kolleginnen und Kollegen des Deutschen
Bundestages bei der Auswahl von Kandidaten für diese
Programme nur bitten und auffordern, auch einen Blick
darauf zu wenden, dass die deutsche Gesellschaft und die
amerikanische Gesellschaft sich ein Stück verändern . Ich
glaube allerdings, dass wir da auf einem guten Weg sind .
({7})
Wenn wir uns manchmal über Amerika ärgern, dann
hat das vielleicht auch damit zu tun, dass wir glauben,
dass wir Amerika so gut kennen . Ich nenne das Vertrautheitsillusion . Jeder von uns erlebt in seinem Alltag
ständig amerikanische Alltagskultur; unsere FernsehJürgen Hardt
sendungen und Fernsehserien, Produktwelten usw . sind
stark amerikanisch geprägt . Wenn die Amerikaner dann
doch an dem einen oder anderen Punkt anders ticken als
wir, dann sind wir entsetzt und schockiert . Das wären wir
nicht, wenn es um einen anderen ausländischen Partner
ginge . Umgekehrt ist es ähnlich . 30 Prozent der Amerikaner sind deutscher Abstammung, übrigens auch Paul
Ryan; die Familie kommt nicht nur aus Irland, sondern
auch aus Regensburg, wie er uns erzählt hat . Die Amerikaner sagen: Wir sind doch ursprünglich selbst Europäer .
Warum versteht ihr uns nicht besser?
Wir müssen klar feststellen: Es gibt Unterschiede zwischen dem amerikanischen Denken und dem deutschen
und dem europäischen Denken . Aber diese Unterschiedlichkeit ist eine Chance, gemeinsam den besseren Weg
zu finden. Wir sollten bereit sein, in dieser Partnerschaft
mehr Verantwortung zu übernehmen, was die Außenund Sicherheitspolitik und die Wirtschaftspolitik angeht .
Die Welt braucht mehr transatlantische Partnerschaft . In
diesem Sinne ist dieser Antrag ein starkes Bekenntnis zu
diesem Weg auch in der Zukunft .
Herzlichen Dank .
({8})
Für eine Kurzintervention erhält der Kollege Trittin
das Wort .
Lieber Herr Kollege Hardt, Sie haben in Antwort auf
mich über Ihr großes Vertrauen in die Verhandlungen
durch die Europäische Union gesprochen . Ich will vorweg eine Bemerkung machen: Ich bin gebürtiger Bremer .
Wir hatten schon Globalisierung im Mittelalter . Das hieß
damals Hanse . Ohne die Hanse gäbe es heute keinen Bordeaux . Ich bin also kein Gegner des Freihandels .
Vielleicht hätten Sie sich die Mühe machen sollen,
auf die konkreten Argumente einzugehen . Ist es nicht
wahr, dass die Verfassung der Vereinigten Staaten es der
Administration überhaupt nicht erlaubt, die Staaten der
Föderation zu binden und beispielsweise Buy American
Clauses zu verbieten? Ist das nicht ein Gefälle gegenüber
der Europäischen Union, wo solche Ausschreibungen
schlicht und ergreifend gegen die Regeln des Binnenmarktes verstoßen würden?
Ich füge ein Zweites hinzu . Sie haben gesagt, dass Sie
Vertrauen in die Kommission haben . Schauen Sie sich
doch einmal die veröffentlichten Papiere zur regulatorischen Kooperation an, die aus Europa kommen . Die gleiche Kommissarin, die sagt, dass sie das Vorbeugeprinzip
nicht verhandelt - das ist ein Kern europäischer Umweltpolitik -, legt ein Modell vor, wonach Regierungen gezwungen sind, ein Jahr im Voraus ihre Absichten bekannt
zu geben, was sie möglicherweise regulieren würden . In
dem Modell ist detailliert festgeschrieben, wer vorher zu
befragen ist und wie auf Einwände zu reagieren ist, und es
soll eine Pflicht geben, am Ende des Jahres einen Bericht
darüber vorzulegen, was erfolgt ist und was nicht . Das
ist ein bürokratisches Monster . Wenn sich das irgendeine
Umweltpolitikerin oder ein Umweltpolitiker ausgedacht
hätte, dann wären die Handelskammern, dann wären Sie
auf den Barrikaden, um solch ein Monster zu verhindern .
Hier sagen Sie, dass Sie Vertrauen haben, dass die Europäer das machen .
Merken Sie sich eines: Ich habe vorhin bewusst gesagt, dass es nicht die Amerikaner sind, sondern dass es
auch die Verhandlungsstrategie der Europäischen Union
ist . Für diese Verhandlungsstrategie muss sich auch die
Bundesregierung mitverantworten, weil sie am Ende im
Rat zustimmen muss .
({0})
Zur Erwiderung, Herr Kollege Hardt .
Herr Präsident! Lieber Kollege Trittin, zunächst einmal muss ich konstatieren: Das Niveau der Diskussion
steigt. Das finde ich gut. Wir reden jetzt nicht mehr über
das Chlorhühnchen, sondern über konkrete, schwierig zu
verhandelnde Dinge .
Ich möchte kurz auf beide Punkte eingehen:
Erstens . Natürlich kann die amerikanische Administration für alle Bundesentscheidungen garantieren, dass
das im Sinne des Wettbewerbs möglich ist .
({0})
Sie kann auch für alle Investitionen in den Staaten, in
denen Bundesfinanzmittel verwendet werden, garantieren . Was Kanada betrifft, haben wir erreicht, dass die
Mitgliedstaaten, die Provinzen Kanadas, dem Handelsabkommen zustimmen, sodass das Abkommen auch mit
Blick auf das, was in den Provinzen investiert wird, gilt .
Ich glaube, das ist die richtige Marschrichtung für die
Verhandlungen der Europäischen Kommission über dieses Thema . Ich bin zuversichtlich, dass wir uns ein Stück
weit in diese Richtung bewegen .
Das Zweite ist das Thema „regulatorische Kooperation“ . Klar ist, dass am Ende des Tages die Parlamente, die
frei gewählten Volksvertreter, darüber entscheiden müssen, welche Regelungen sie in ihrem Raum anwenden .
Aber ich finde es, wenn man einen gemeinsamen Handelsraum hat, gemeinsame Standards vereinbart hat und
sich auf die wechselseitige Anerkennung von Standards
verständigt hat, klug, dass man dann, wenn man neue
Standards setzen will, weil neue Fragen aufkommen,
auch darüber redet, ob man nicht gemeinsam einen hohen
neuen Standard für das entsprechende Thema entwickelt .
In diesem Sinne sind die regulatorischen Kooperationsräte zu verstehen . Letztlich müssen die Parlamente, der
Kongress und das Europaparlament sowie die Parlamente der Mitgliedstaaten, entscheiden, was sie daraus machen . Deswegen habe ich vor dieser Art von Zusammenarbeit keine Angst .
({1})
Detlef Müller erhält nun das Wort für die SPD-Fraktion .
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als Freund der USA hat man es heutzutage nicht
leicht . Das Misstrauen in der deutschen Bevölkerung
gegenüber dem mächtigen Verbündeten ist groß . War es
kürzlich noch das Treiben der NSA, ist es heute die Rhetorik eines Donald Trump, die viele Deutsche verstört .
Deswegen bin ich sehr dankbar für den vorliegenden
Antrag, der die guten transatlantischen Beziehungen, die
guten Beziehungen zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten sowie Kanada, angemessen, aber auch
kritisch würdigt .
({0})
In Ostdeutschland war die Bindung an die USA nie
besonders ausgeprägt . Aber auch in Westdeutschland
sehe ich eine wachsende Entfremdung von den USA
mit ihrem militärischen Engagement in aller Welt, ihren
mächtigen Geheimdiensten und der uns manchmal doch
fremden politischen Kultur; auch der Folterskandal von
Abu Ghuraib ist unvergessen . Nichtsdestotrotz gilt immer noch und weiterhin - ich zitiere aus dem Antrag -:
Deutschland und Europa sind mit keiner Region der
Welt so eng verbunden wie mit Nordamerika . Die
Vereinigten Staaten und Kanada sind zentrale Verbündete und Freunde der Europäischen Union und
Deutschlands .
Das bisweilen wilde Treiben amerikanischer Geheimdienste kann die engen und freundschaftlichen Bande
nicht zerschneiden . Es sind nämlich die Bande einer
demokratischen Wertegemeinschaft . Wir brauchen die
USA, gerade heute . Wir stehen deshalb zur transatlantischen Kooperation in der Außen- und Sicherheitspolitik
und in der NATO .
({1})
Die USA haben erstmals seit 40 Jahren Frankreich
als wichtigsten Handelspartner Deutschlands abgelöst .
Aber der wichtigste Aspekt sind, wie ich finde, die vielen
freundschaftlichen und vertrauensbildenden Bande über
den Atlantik hinweg: Freundschaften, familiäre Beziehungen, Schüleraustausche, Studienaustauschprogramme, gemeinsame Forschungsprojekte, kulturelle und
sportliche Kooperationen, aber auch das Parlamentarische Patenschafts-Programm, dessen geplante Kürzungen von amerikanischer Seite zurückgenommen wurden;
meine Kollegin Dagmar Freitag wies darauf hin .
Immer aber gilt: Auch unter Freunden muss bisweilen
hart und auf Augenhöhe verhandelt werden . Das gilt für
das geplante Freihandelsabkommen TTIP genauso wie
für das CETA-Abkommen mit Kanada . An dieser Stelle
darf ich Ihnen, Herr Bundestagspräsident Lammert, aber
auch Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel ganz
ausdrücklich danken . Die Einrichtung eines Leseraums
im Bundeswirtschaftsministerium für die Abgeordneten
des Deutschen Bundestages zur Einsichtnahme in die
Verhandlungsdokumente war gegenüber den Amerikanern ein hartes Stück Arbeit .
({2})
Es war ein wichtiges Signal, dass wir als Parlamentarier
demokratische Teilhabe und Transparenz einfordern .
({3})
Aber ein kleines Räumchen und 371 Seiten Verhandlungsdokumente, deren Aktualität zweifelhaft ist - mit
Querverweisen auf andere, nicht vorhandene Dokumente -, die ich als gelernter Lokomotivführer mit durchaus
alltagstauglichen Englischkenntnissen bewältigen muss,
können wirklich nur ein Anfang sein . Deswegen bitte ich
darum, dass die konsolidierten Verhandlungsergebnisse
schnellstmöglich auch auf Deutsch zur Verfügung gestellt werden .
({4})
Für uns Parlamentarier ist dies die Grundlage für eine
differenzierte Bewertung, ohne die eine Zustimmung zu
den Dokumenten schwerlich möglich sein wird .
Zur demokratischen Teilhabe gehört aber auch, dass
beide Abkommen, TTIP und CETA, als sogenannte gemischte Abkommen behandelt werden, wodurch dann
die EU-Mitgliedstaaten an der Ratifizierung mitwirken
können . Nur so entsteht letztlich auch Vertrauen . Deswegen halte ich es nicht für förderlich, wenn über eine vorläufige Inkraftsetzung von Teilen CETAs nachgedacht
wird .
Freundschaftliche Bande pflegen wir über den respektvollen Umgang und das offene Wort . Unsere Kritik
an der Anwendung der Todesstrafe, am nach wie vor
existierenden Gefangenenlager in Guantánamo ist ebenso wichtig und richtig . Wir werden immer darauf pochen,
dass Spähmaßnahmen unter Verbündeten tabu sind . Die
Aussage der Bundeskanzlerin „Ausspähen unter Freunden, das geht gar nicht“ ist mittlerweile zu einem geflügelten Wort geworden . Aber natürlich hat sie mit dieser
Aussage recht .
Wir werden immer darauf drängen, dass geheimdienstliche Aktivitäten mit den Verbündeten abzusprechen sind
und sich auf das Notwendigste beschränken müssen; aber
wir werden dabei immer zu unseren Partnern auf der anderen Seite des Atlantiks stehen . Der Blutzoll, den die
USA und, nicht zu vergessen, Kanada geleistet haben,
um das Schlachten im Ersten und Zweiten Weltkrieg zu
beenden, um Deutschland von der Nazibarbarei zu befreien, wird immer unvergessen bleiben . Als Chemnitzer
weiß ich: Chemnitz wurde nicht nur von der Roten Armee, sondern auch von der US Army befreit .
({5})
Trotz des weiten Atlantiks, der die USA und Kanada von
Europa trennt, sind sie uns doch immer Verbündete, Partner, Freunde und Mitglieder einer gemeinsamen Wertegemeinschaft .
Vielen Dank .
({6})
Vielleicht sollte ich in Ergänzung eines Hinweises,
den der Kollege Müller gerade gegeben hat, was den Zugang zu Dokumenten angeht, hier noch einmal vortragen,
was ich gestern im Ältestenrat mitgeteilt habe: Die Verpflichtung der Bundesregierung zur Unterrichtung des
Bundestages über alle Angelegenheiten im Rahmen der
Europäischen Union ist durch unseren jetzt möglichen
Zugang zu den Verhandlungsdokumenten weder kompensiert noch aufgehoben .
({0})
Es wird also weitere Unterrichtungspflichten geben.
Es ist mit dem Wirtschaftsministerium geklärt, dass es
regelmäßig zusammenfassende Berichte über den Verhandlungsfortschritt gibt . Das ist, glaube ich, eine wichtige Ergänzung im Hinblick auf die Transparenz, auf die
wir gemeinsam großen Wert legen müssen .
Was die die Öffentlichkeit verständlicherweise beunruhigende Frage des vermeintlich vorzeitigen Inkrafttretens ohne Beteiligung des Parlaments angeht, hat die
rechtliche Prüfung ergeben, dass es jedenfalls mit Blick
auf solche denkbaren Bestandteile eines solchen Abkommens, die der Zuständigkeit der nationalen Parlamente,
in diesem Fall des Bundestages, unterliegen, keinerlei
Möglichkeit der vorzeitigen Inkraftsetzung solcher Bestandteile des Vertrages ohne Beteiligung des Parlaments
geben kann . Punkt!
({1})
Jetzt hat der Kollege Florian Hahn für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort .
({2})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Mein Großvater, Wilhelm Hahn, Geburtsjahr 1909, war Student der Ökonomie und hat Anfang
der 1930er-Jahre am Studentenaustausch mit den USA
teilgenommen . Ihn hat es dann nach Dayton, Ohio, verschlagen, wo dieses Jahr die Convention der Republikaner stattfinden wird. Er lernte dort die Schwester seines
Austauschpartners und Freundes kennen, Ruth Assling „Assling“ wie „Aßling“ nach dem oberbayerischen Dorf
im Landkreis Ebersberg, angrenzend an meinen Wahlkreis -; die beiden heirateten und bekamen vier Kinder .
Meine Großmutter verbrachte den Krieg als Amerikanerin in Deutschland . Das ist ein persönliches Beispiel für
die zahllosen engen Beziehungen, die wir in vielfältiger
Weise schon lange mit dem großen Bruder auf der anderen Seite des Teiches haben .
Auch wenn zwischen den USA und Europa der Große
Ozean liegt, durchleben wir oft ähnliche Trends und Entwicklungen, im Moment zum Beispiel eine Renaissance
des Populismus: Ressentiments gegen die da oben, gegen
Freihandel, gegen Fremde, Flüchtlinge und Billigproduzenten werden von Donald Trump und AfD gleichermaßen genutzt . Deren Aussagen sind so ähnlich, dass Zeitungen bereits ein Ratespiel daraus machen: Wer hat es
gesagt - Frauke Petry oder Donald Trump?
Für uns in der Politik ist eine andere Frage entscheidend: Was hat es bewirkt? Wir müssen abstrakte Ängste von berechtigten Anliegen unterscheiden . Das heißt
für Europa und natürlich insbesondere für Deutschland,
dass wir uns allen Facetten der Flüchtlingskrise stellen,
auch den unbequemen Fragen und Handlungsoptionen .
Die USA dagegen müssen sich eingestehen, dass das
Bild vom Tellerwäscher zum Millionär längst Utopie ist .
Wachsende Importe aus China und zunehmende Automatisierung haben zu einer brodelnden Mischung geführt .
Die Finanzkrise war der Sargnagel für die Hoffnung vieler Wähler der Arbeiter- und Mittelklasse . Viele wurden
zurückgelassen . Die Beschwerden dieser Wähler sind
berechtigt . Vom aktuellen wirtschaftlichen Aufschwung
profitieren nur wenige.
Politiker auf beiden Seiten des Atlantiks sind daher
gefordert . Wir müssen die Komfortzone eingespielter
Politikprozesse verlassen und die nationalen Trends ernst
nehmen . AfD und Trump sind nur die Symptome eines
drängenden Phänomens, dem verlorenen Vertrauen in
eine demokratische Ordnung und eine liberale Marktwirtschaft . Wir stehen in der Verantwortung, den demokratischen Diskurs zu eröffnen . Es kann nur neue Gräben
schaffen, wenn wir diesen Akteuren das demokratische
Existenzrecht absprechen . Stattdessen müssen wir sie
argumentativ stellen und sie auf ein Normalmaß zurückstutzen . Wir müssen die legitimen Bedürfnisse aufnehmen, statt sie volkspädagogisch wegzutherapieren in den USA, in Europa und natürlich in Deutschland .
Entscheidend hierbei sind unsere Übersetzungsleistungen . Wir müssen gemeinsam Chancen klar benennen,
Erreichtes deutlich herausstellen und Herausforderungen ansprechen . Das transatlantische Handelsabkommen
steht dafür exemplarisch . Die Facetten des Abkommens
sind vielschichtig . Wir brauchen daher gute Dolmetscher,
um die Chancen aufzuzeigen . Gleichzeitig müssen wir
als Sprachrohr für die Bedenken der Bürger dienen und
ihre Sorgen ernst nehmen . Niedrige Schutzstandards sind
genauso tabu wie die Aufgabe unseres Rechtssystems .
Als Verteidigungs- und Außenpolitiker appelliere ich an
Sie, das Gesamtbild im Auge zu behalten . Die geostrategische Lage verändert sich . Handelsbeziehungen haben
eine neue strategische Bedeutung .
Detlef Müller ({0})
Die amerikanische und die europäische Wirtschaft
sind seit jeher stark miteinander verflochten. Die Handelsbeziehungen machen die Hälfte der Weltproduktion
aus: knapp 40 Prozent des weltweiten Bruttoinlandsproduktes und rund 60 Prozent der Direktinvestitionen .
Beim bayerischen Außenhandel nehmen die USA die
erste Stelle ein, noch vor China und Österreich . Das
Handelsvolumen in Bayern betrug 2015 fast 35 Milliarden Euro . Bayerische Unternehmen exportierten im Jahre
2013 fast fünfmal so viele Güter in die Vereinigten Staaten wie in die Russische Föderation . Das möchte ich vor
dem Hintergrund mancher Diskussionen daheim und der
Frage, wer für uns wirtschaftlich und für den Erhalt von
Arbeitsplätzen wichtig ist, deutlich machen .
So wie es bei der Montanunion um mehr als um den
Zugang zu Kohle und Stahl ging, geht es bei TTIP um
mehr als um Handel und Investment . Die USA und Europa blicken auf die gemeinsame geostrategische Herausforderung, den globalen ökonomischen Einfluss zu erhalten . Es geht um gemeinsame Maßstäbe, Standards und
Regulierungen . Es geht darum, das Erreichte der letzten
sieben Dekaden zu schützen . Das wissen im Übrigen, lieber Herr Trittin, auch kluge Köpfe in Ihren Reihen .
({1})
Manchmal ist es auch die Aufgabe der Politik, Erinnerungen wiederzubeleben, als Zeitzeuge auf das Erreichte
und unsere gemeinsamen Leistungen hinzuweisen . Die
liberale europäische Nachkriegsordnung wäre ohne die
Amerikaner nicht möglich gewesen . Lange Zeit war Europa und insbesondere Deutschland ein Konsument amerikanischer Sicherheitsgarantien . Die USA waren der
Ziehvater Europas, der in einer gespaltenen Welt schützend vor uns stand . Die heutigen engen Beziehungen
gründen im gemeinsamen Bemühen, den Kalten Krieg
zu gewinnen .
Erstmals sprach der ehemalige Präsident George
Bush am 31 . Mai 1989 in Mainz von einer neuen Rolle
Deutschlands . Man sei mehr als Verbündete und Freunde, man sei „Partners in Leadership“ . Fast im gleichen
Satz nannte er in der Konsequenz die Notwendigkeit, als
Akteur mehr Verantwortung in der Weltpolitik zu übernehmen . Dieser Appell galt nicht nur Deutschland; Europa sollte Position beziehen .
Heute stehen wir vor neuen Herausforderungen . Wir
erleben ein neues internationales System, in dem unterschiedliche Herrschaftssysteme miteinander wettstreiten .
Unsere liberale, pluralistische Demokratie konkurriert
mit neuen Regimen, Ideen und Identitäten . Für uns heißt
das: Die transatlantischen Beziehungen sind wichtiger
denn je .
Im Interview mit dem Journalisten Jeffrey Goldberg
fordert Präsident Obama zu Recht eine neue Aufgabenteilung . Er spricht sich mit aller Deutlichkeit für ein strategisches Burden Sharing aus . Im Klartext: Europa muss
einen größeren Anteil an der gemeinsamen Verantwortung des Westens tragen .
Deutschland hat auf das veränderte strategische Umfeld reagiert . Wir haben uns zu einer Kehrtwende entschieden . Die Verteidigungsministerin setzt mit ihren
Zusagen in Bezug auf das Budget, die Ausrüstung, das
Personal und die Interoperationalität ein klares Zeichen
für unsere transatlantischen Partner . Deutschland ist
bereit, als eine Führungsnation Verantwortung zu übernehmen, militärisch und politisch . Auch das kommende
Weißbuch soll das abbilden .
Trotzdem: Die langen Jahre der Friedensdividende erfordern Geduld . Das gilt vor allem auch für die NATO .
2011 hörten wir noch pessimistische Äußerungen über
die Zukunft der Allianz . „Lebendig, aber innerlich zerrissen“, schrieb eine Tageszeitung . Vor dem Hintergrund
der Herausforderungen im Osten und im Süden haben
wir 2014 in Wales zu einer neuen Bündnisstärke gefunden . 28 Staaten einigten sich auf militärische Schritte,
mit Europa als Hauptakteur und den USA als Rückversicherung .
Unsere gemeinsame militärische Präsenz in Osteuropa
ist wichtig . Ich möchte ausdrücklich darauf hinweisen,
dass wir einerseits Abschreckung, andererseits trotz aller
Provokationen aber auch Augenmaß benötigen . Das habe
ich erst nach Ostern bei meinem Besuch in Wa shington
in vielen Gesprächen deutlich gemacht . Europa kennt die
Risiken neuer Eskalationsspiralen . Bewährte Verträge
sollten erhalten bleiben . Das gilt beispielsweise auch für
die NATO-Russland-Akte .
Präsident Obama liegt richtig, wenn er sagt, dass keine
Regierung, keine Gesellschaft die aktuellen Herausforderungen alleine bewältigen kann . Als Politiker sind wir
auf beiden Seiten des Atlantiks vor allem auch innenpolitisch gefordert, diese Botschaft zu vermitteln . Unsere
Übersetzungsleistungen sind ebenso gefordert wie unser
strategisches Denken . Perspektivisch wird es darum gehen, die Sicherheit des Westens neu zu erfinden. Bedrohungen wie transnationaler Terrorismus, Cyberangriffe
und Radikalisierungen erfordern dies . Amerika bleibt
dabei unser engster Partner . Diese Partnerschaft müssen
wir - beide Partner - hegen und pflegen.
Vielen Dank .
({2})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Andreas Nick für die CDU/CSU-Fraktion .
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
bevorstehende Besuch von Präsident Obama in Hannover ist Anlass für diese Debatte
({0})
und auch Beleg dafür, wie eng und wichtig die transatlantischen Beziehungen auch im Jahr 2016 sind . Die Tradition der Verbundenheit reicht jedoch deutlich weiter
zurück als das NATO-Bündnis und auch der Beitrag der
USA zur deutschen Einheit, zum Marshallplan oder zur
Berliner Luftbrücke . Schon die deutsche Freiheitsbewegung im 19 . Jahrhundert wäre ohne das Vorbild der USA
nicht denkbar gewesen . Bereits 1832 rief Philipp Jakob
Siebenpfeiffer, Initiator des Hambacher Festes, dort aus:
Wir beneiden den Nordamerikaner um sein glückliches
Los, das er sich mutvoll selbst erschaffen hat . - 1848
waren die Vereinigten Staaten die einzige Großmacht
ihrer Zeit, die sich bei der Frankfurter Nationalversammlung in der Paulskirche durch einen Gesandten vertreten
ließ . Nach dem Scheitern der 48er-Revolution fanden
viele deutsche Liberale eine neue Heimat in den USA,
und auch während der Nazidiktatur waren die USA Zufluchtsort für zahlreiche Emigranten aus Deutschland.
Uns verbindet eben mehr als historische Erfahrungen
oder gemeinsame Werte .
Laut einer aktuellen Studie haben mehr als die Hälfte der Amerikaner ein exzellentes Bild von Deutschland .
Über 60 Prozent aller Amerikaner glauben, dass beide
Länder eine enge Bindung haben und Deutschland eines
der fünf wichtigsten Partnerländer der USA ist . Die USA
waren und sind Garant für die europäische Sicherheit .
Zusammen mit den Staaten der Europäischen Union sind
sie weltweit unser wichtigster Partner und verlässlichster
Verbündeter . Die transatlantische Partnerschaft ist neben
der europäischen Integration der wichtigste Pfeiler deutscher Außenpolitik . Um es mit den Worten von Helmut
Kohl zu sagen: Das Bündnis mit den freiheitlichen Demokratien des Westens ist der Kernpunkt deutscher
Staatsräson . - Dieser Leitsatz hat auch im 21 . Jahrhundert unverändert Gültigkeit .
({1})
Gleichwohl gibt es unter engen Partnern und Freunden
auch immer wieder Meinungsverschiedenheiten, die zum
Teil auch aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Erfahrungen oder kulturellen Prägungen erwachsen . Deshalb
ist ein breiter Dialog und Gedankenaustausch zur Vertiefung des gegenseitigen Verständnisses, gerade auch unter
Parlamentariern beider Länder, notwendig . Formate für
diesen informellen Austausch sind daher unverzichtbar,
beispielsweise das jährliche Congress Bundestag Forum,
für dessen Organisation ich - sicher auch im Namen vieler Kollegen aus allen Fraktionen - dem GMF und der
Bosch-Stiftung besonders danken möchte .
({2})
Unsere Gesellschaften profitieren im 21. Jahrhundert
wie nie zuvor in der Geschichte vom offenen Austausch .
Die Ströme von Menschen und Gütern, von Kapital und
Informationen, die uns verbinden, sind um ein Vielfaches wichtiger geworden als die Kontrolle über geografisch abgegrenzte Räume. Konnektivität zu ermöglichen,
dafür einen verlässlichen Rahmen zu bieten, aber auch
Schutz und Sicherheit vor äußerer Bedrohung zu gewährleisten, ist eine zentrale politische Aufgabe; Kollege
Steinbrück hat das vorhin schon angesprochen . Deshalb
ist das Transatlantische Freihandelsabkommen TTIP so
wichtig, und deshalb bedarf es auch klarer Regeln etwa
zum Fluggastdatenaustausch, wie sie gestern im Europäischen Parlament verabschiedet wurden .
Für die weltweite Vernetzung steht aber kaum etwas
mehr als das Internet, das World Wide Web . Das Netz ist
ein Raum der Meinungsvielfalt und Teilhabe und nicht
zuletzt ein Motor für Innovation, Wirtschaftswachstum
und Arbeitsplätze der Zukunft . Regeln und Rahmenbedingungen für ein offenes und freies globales Netz
können nicht alleine auf nationaler Ebene geschaffen
werden . 2014 haben die USA angekündigt, die Kontrolle über ICANN, die Organisation zur globalen Vergabe
kritischer Internetressourcen wie Domainnamen und
IP-Adressen, abzugeben . Das ist ein wichtiger Schritt
im Sinne eines offenen, dezentral kontrollierten Netzes
auf Basis eines Multi-Stakeholder-Ansatzes . Es wäre zu
begrüßen, wenn eine der nächsten Veranstaltungen des
Internet Governance Forums der Vereinten Nationen bei
uns in Deutschland stattfinden würde.
Auf beiden Seiten des Atlantiks brauchen wir immer
wieder eine Verständigung über die richtige Balance von
Freiheit und Sicherheit in unseren offenen und pluralistischen Gesellschaften . Aber die Debatte um Informationssicherheit und Datenschutz ist nicht nur eine Frage
zwischen Staaten und Regierungen, so wichtig etwa das
Format des deutsch-amerikanischen Cyberdialogs ist .
Wir brauchen Rechtssicherheit für alle Bürgerinnen und
Bürger und für alle Unternehmen beim dringend notwendigen transatlantischen Datenaustausch . Deshalb ist eine
verlässliche Nachfolgeregelung zu Safe Harbor unverzichtbar .
({3})
Gerade die global agierenden Unternehmen der Internetökonomie haben eine zentrale Rolle bei der Klärung der
Frage, welche Zukunftsrechte nationale Regierungen auf
die Daten ihrer Kunden beanspruchen . Die Klage von
Microsoft gegen den Zugriff der US-Regierung auf ihre
Datencenter in Irland verdeutlicht, dass diese Diskussion auch eine transatlantische Komponente hat . Auch die
Europäer sollten sich hier in angemessener Weise einbringen; denn gerade die global agierenden Player der
Internetökonomie wie Apple, Google oder Microsoft
können aus ihrem wohlverstandenen Eigeninteresse heraus durchaus wichtige Verbündete sein, wenn es darum
geht, einen verlässlichen und international akzeptierten
Rechtsrahmen auch im Washingtoner Politikbetrieb einzufordern .
Meine Damen und Herren, die deutsch-amerikanischen Beziehungen müssen aber mehr sein als Traditionspflege oder die Angelegenheit von Regierungen. Sie
brauchen auch in Zukunft eine breite gesellschaftliche
Verankerung . Über Jahrzehnte haben die in Deutschland stationierten US-Soldaten nicht nur während ihrer
Dienstzeit hier, sondern vor allem auch nach der Rückkehr in ihre Heimat einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet .
({4})
Jeder deutsche USA-Reisende kennt die Erfahrung eines zufälligen Zusammentreffens mit Menschen, die
begeistert von ihrer Zeit in Frankfurt, Heidelberg oder
„K-Town“, Kaiserslautern, aber auch in Hahn, Bitburg
oder Spangdahlem berichten . Viele dieser Standorte sind
inzwischen Geschichte . Die Bedeutung dieses Kitts geht
zurück . Wirtschaftliche Zusammenarbeit allein kann dies
nicht ersetzen . Deshalb sind Austauschprogramme zwischen unseren Ländern wie unser Parlamentarisches Patenschafts-Programm so wichtig .
Wir müssen aber auch neue gesellschaftliche Gruppen
mit teils anderem kulturellen Hintergrund - Jürgen Hardt
hat es vorhin schon angesprochen - für die Zukunft der
transatlantischen Beziehungen gewinnen . Deshalb freue
ich mich ganz besonders, Anfang Mai erstmals die Teilnehmer eines neuen Begegnungsprogramms im Bundestag begrüßen zu können, das gezielt junge Hispanics aus
den USA und junge Deutsche mit türkischen Wurzeln
zusammenbringt . Das ist ein wichtiger Beitrag zu einer
neuen, bunteren transatlantischen Generation .
({5})
Ich danke dem American Institute for Contemporary
German Studies, AICGS, für diese hervorragende Initiative, die auch mit ERP-Mitteln des Bundeswirtschaftsministeriums unterstützt wird .
Liebe Kollegen, im November 2016 wird ein neuer
amerikanischer Präsident gewählt .
({6})
Auch in Deutschland verfolgen wir diesen Prozess mit
Aufmerksamkeit und teilweise leider auch mit Sorge .
Aber unser Vertrauen in die amerikanische Gesellschaft
und Demokratie ist groß, dass am Ende eine verantwortliche Entscheidung einer breiten Mehrheit der amerikanischen Wähler stehen wird . Eines steht bereits so gut wie
fest: Auch der neue Präsident oder die neue Präsidentin
wird in den ersten Monaten nach Amtsantritt zu einem
Besuch nach Deutschland kommen, und zwar aus Anlass
des G-20-Gipfels im Juli 2017 in Hamburg .
Wir setzen fest darauf, die transatlantischen Beziehungen auch mit neuen Partnern in Washington zukunftsfest
gestalten und gemeinsam weiterentwickeln zu können .
Vielen Dank .
({7})
Ich schließe die Aussprache .
Wir kommen zur Abstimmung über den gemeinsa-
men Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf
Drucksache 18/8072 mit dem Titel „Die transatlanti-
schen Beziehungen zukunftsfest weiterentwickeln“ . Wer
diesem Antrag zustimmen will, bitte ich um das Handzei-
chen . - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Da-
mit ist der Antrag mit den Stimmen der Koalition gegen
die Stimmen der Opposition angenommen .
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 20 a bis 20 c
auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Neunten Gesetzes
zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch - Rechtsvereinfachung
Drucksache 18/8041
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Kipping, Sabine Zimmermann ({1}),
Matthias W . Birkwald, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE
Die Gewährleistung des Existenz- und Teilhabeminimums verbessern - Keine Rechtsvereinfachung auf Kosten der Betroffenen
Drucksache 18/8076
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({2})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr . Wolfgang Strengmann-Kuhn, Kerstin
Andreae, Markus Kurth, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Grundsicherung einfacher und gerechter gestalten - Jobcenter entlasten
Drucksache 18/8077
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({3})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Für die Beratung dieser Vorlagen ist eine Debattenzeit
von 60 Minuten vorgesehen . Hat dagegen jemand Einwände? - Das ist nicht der Fall . Dann verfahren wir so .
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Parlamentarischen Staatssekretärin Gabriele LösekrugMöller .
({4})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich freue mich darüber,
dass wir heute einen wahrhaftig langen Prozess endlich
auf die Zielgerade bringen können . Dieser Gesetzentwurf
basiert auf der sehr intensiven Arbeit der Bund-Länder-Arbeitsgruppe der ASMK - das sind die Arbeits- und
Sozialminister der Bundesländer - zur Rechtsvereinfachung im SGB II . Ja, viele Beteiligte hätten gern noch
weitere Änderungen erreicht . Ja, nicht auf alles, was
wünschenswert gewesen wäre, konnten wir uns einigen .
Aber jetzt können wir den Gesetzentwurf endlich im
Bundestag beraten . Jeder Schritt in die richtige Richtung
bringt uns voran . Das gilt im Leben allgemein und in diesem besonderen Fall auch .
Ich kann sagen: Dieses Gesetz ist ein Schritt in die
richtige Richtung und in der Tat ein echter Fortschritt .
({0})
Was erreichen wir? Wir erreichen, dass Leistungsberechtigte entlastet werden . Es werden aber auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Jobcentern entlastet .
({1})
Zudem werden auch - eine Vermutung, die sich bestätigen wird - die Sozialgerichte entlastet .
({2})
Das Leistungs- und Verfahrensrecht wird an über 30 Stellen geklärt und vereinfacht . Das schafft Rechtssicherheit .
Das vermeidet Widersprüche und Klagen . Damit ist es
im Sinne von uns allen .
Wo kommen wir ganz konkret voran? Zum Beispiel
bei den Regelungen zur Anrechnung von Einkommen .
Sie werden pauschalisiert und vereinfacht, etwa bei geringen Zinserträgen oder beim Bezug von Mutterschaftsgeld während des Mutterschutzes . Außerdem fallen, ich
will sagen: unnötige Bescheide weg; denn der Bewilligungszeitraum wird von grundsätzlich 6 auf 12 Monate
verlängert .
({3})
Damit sparen wir jedenfalls nach Adam Riese bestenfalls
jeden zweiten Antrag .
({4})
Das freut Antragsteller und Behörde gleichermaßen . Die
Leistungsberechtigten erhalten mehr Beratung als früher .
Stärker als bisher wollen wir außerdem ihre Potenziale in
den Blick nehmen und sie mit einer Eingliederungsvereinbarung konkret einbinden .
Neu, meine Damen und Herren, ist die nachgehende
Betreuung, also der Brückenbau über die Arbeitsaufnahme hinaus . Wir bleiben dran und unterstützen weiter, um
die Menschen selbst und ihr Arbeitsverhältnis in den Monaten nach Beschäftigungsaufnahme nachhaltig zu stabilisieren . Darin sehen wir einen sehr großen Fortschritt .
({5})
Gewinner sind aber auch die Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter in den Jobcentern - und das genau im richtigen Moment: Viele Flüchtlinge, die im letzten Jahr
zu uns gekommen sind, wechseln in der nächsten Zeit
als Asylberechtigte und anerkannte Flüchtlinge in den
Rechtskreis des SGB II . Damit sie hier Fuß fassen und
auf eigenen Beinen stehen können, wollen wir sie bestmöglich - wie alle anderen auch - betreuen und sie in
Praktika, berufsbezogene Sprachkurse, Ausbildung und
Arbeit vermitteln . Gleichzeitig wollen wir unsere Anstrengungen bei der Betreuung von Langzeitarbeitslosen
verstärken . Für diese oftmals schwierige Arbeit brauchen
die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Jobcentern
Kraft und Zeit . Die geben wir ihnen mit den Rechtsvereinfachungen .
({6})
Wir wollen, dass alle - ob sie schon lange ohne Arbeit
sind oder sich hier ein neues Leben aufbauen wollen die Chance auf einen erneuten oder einen erfolgreichen
Neustart in Deutschland haben . Für diese Aufgabe brauchen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Jobcentern Kapazitäten . Wir helfen mit diesem Gesetz, sie freizuschaufeln . Deshalb werden die Menschen, die neben
Arbeitslosengeld I auch Arbeitslosengeld II beziehen,
zukünftig von der Agentur für Arbeit betreut - wie alle
anderen Versicherten, die Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung erhalten . Auch darin sehen wir einen
großen Fortschritt .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, über eine Regelung - das will ich gern abschließend sagen - freue ich
mich persönlich ganz besonders . Auszubildende sind
künftig nicht mehr ausgeschlossen von Leistungen des
SGB II . Das ist wirklich ein Meilenstein .
({7})
Damit werden hoffentlich mehr junge Menschen, die bisher gar keine oder nur eine geringe Ausbildungsförderung erhalten, eine Ausbildung beginnen . Sie können nun
ergänzende Leistungen aus dem SGB II erhalten und so
ihre Ausbildung finanzieren.
Ich fasse zusammen: Wir konzentrieren die Arbeit
der Jobcenter . Wir vereinfachen das Leistungsrecht und
erweitern Beratungsansprüche . Das sind in der Tat Fortschritte . Deshalb bitte ich Sie um Unterstützung bei diesem Gesetz .
Vielen Dank .
({8})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Katja Kipping für
die Fraktion Die Linke .
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau
Staatssekretärin, das war ja ein Paradebeispiel fürs
Schönreden .
({0})
Hartz IV basiert auf der Annahme, der Einzelne sei
schuld an seiner Erwerbslosigkeit . Hartz IV basiert auf
der Annahme, dass Erwerbslose Bürgerinnen und Bürger
zweiter Klasse sind .
({1})
Von der Angst vor Hartz IV sind inzwischen auch Menschen betroffen, die noch einen Job haben; denn der Fall
in Hartz IV kann sehr schnell gehen . Deswegen lassen
wir als Linke, auch wenn Sie verbissen an Hartz IV festhalten, nicht locker und sagen immer wieder: Hartz IV
gehört ganz grundsätzlich abgeschafft .
({2})
Was das Haus von Andrea Nahles nun als Gesetzentwurf vorgelegt hat, ist in vieler Hinsicht ein Offenbarungseid . Es ist bezeichnend, dass die Ministerin nicht
einmal den Mumm hat, diesen Gesetzentwurf selber vorzustellen .
({3})
Dieser Gesetzentwurf macht doch deutlich: Sie wollen
an Hartz IV nichts grundsätzlich ändern . Sie wollen von
den alltäglichen Nöten der Menschen in Hartz IV nichts
mildern . Ihnen geht es doch nur um einen reibungslosen
Vollzug .
Angeblich geht es um Rechtsvereinfachung und Bürokratieabbau . Doch nicht einmal diesem bescheidenen,
selbstgesteckten Ziel wird der Gesetzentwurf gerecht . Es
gibt ein Schreiben der Personalräte der Jobcenter, und darin heißt es, der Gesetzentwurf ist für die Belegschaften
„nicht nur enttäuschend, er ist ärgerlich und selbst eine
weitere Belastung“ . Eine weitere Belastung, so sehen das
die Personalräte der Jobcentermitarbeiter, die, die Ihren
Gesetzentwurf am Ende ausbaden müssen .
({4})
Schaut man sich nun die geplanten Änderungen an, so
ist klar: Schwarz-Rot plant keine Rechtsvereinfachung .
Sie wollen einfach nur eine weitere Kelle Sanktionen
obendrauf legen . Ich will das verdeutlichen . So soll innerhalb von Hartz IV ein zweites Repressionsinstrument
ausgebaut werden . Das läuft unter dem Begriff „Ausweitung der Ersatzpflichtigkeit bei sozialwidrigem Verhalten“ . Das ist die Sprache Ihres Gesetzes . Allein dieser
Begriff ist entlarvend, und er verrät, wie die Bundesregierung über Erwerbslose wirklich denkt .
({5})
Wer in Erwerbslosen mündige Bürgerinnen und Bürger
sieht, der verwendet solche Begriffe auf keinen Fall .
({6})
Eine solche Ersatzpflicht, also die Kürzung des Arbeitslosengeldes II, soll nun auch dann eintreten, wenn
das sozialwidrige Verhalten die Hilfebedürftigkeit nicht
nur herbeiführt, sondern sie „erhöht, aufrechterhalten
oder nicht verringert wurde“ . Übersetzen wir diese bürokratischen Formulierungen einmal ganz konkret in die
Praxis . Eine Kürzung um 30 Prozent bedeutet für einen
voll Bezugsberechtigten, dass ihm pro Monat nur noch
282,80 Euro für alle Kosten außer der Miete und den
Heizkosten bleiben . 282 Euro im Monat - das bedeutet 9,43 Euro am Tag für alle Ausgaben . Wer von Ihnen
käme mit 9,43 Euro über den Tag?
({7})
Übrigens, Sie müssen auch noch Geld für den Fall zurücklegen, dass irgendwann einmal die Waschmaschine
kaputtgeht .
Kurzum: Anstatt die Hartz-IV-Sanktionen abzuschaffen, was so nötig wäre, plant Andrea Nahles ein zweites
Repressionsinstrument . Ich habe den Eindruck: Seit der
Einführung von Hartz IV sind Sie in puncto Erwerbslosigkeit keinen Deut klüger und keinen Deut sozialer geworden .
({8})
Ursprünglich war geplant, die besonders harten Sanktionsregelungen abzumildern . Noch im Oktober letzten
Jahres haben hier Rednerinnen der SPD gesagt, an die
Sofortsanktionen bei den unter 25-Jährigen und den Jugendlichen und an die Sanktionierung bei den Kosten
der Unterkunft müsse man heran . Alle Bundesländer
waren sich darin einig, dass man das abmildern muss,
mit einer Ausnahme, nämlich Bayern . Und was macht
die Sozialministerin? Anstatt couragiert ihre Position zu
vertreten, anstatt sich couragiert für Erwerbslose einzusetzen, knickt sie vor Horst Seehofer ein. Ich finde es
beschämend, wie sich diese Bundesregierung von Horst
Seehofer am Nasenring durch die Manege führen lässt .
({9})
Unsere Position als Linke ist ganz klar: Wir befürworten jeden Schritt weg von diesen Sanktionen . Wir sagen
aber auch ganz klar: Wir pochen auf das Grundrecht auf
soziale Sicherheit . Deswegen meinen wir: Alle Sanktionen und Leistungseinschränkungen sowohl beim SGB II
als auch bei der Sozialhilfe gehören abgeschafft, und
zwar sofort .
({10})
Dafür streiten wir nicht nur hier im Bundestag, sondern
auch in den Landesregierungen . So hat sich beispielsweise das Sozialministerium von Thüringen, vertreten durch
Heike Werner, gemeinsam mit den Brandenburgern im
Bundesrat für diese Position stark gemacht .
({11})
Zu den von Ihnen vorgesehenen Veränderungen gehört auch die Einschränkung bei rückwirkender Nachzahlung rechtswidrig vorenthaltener Leistungen . Das
heißt in der Konsequenz: Es werden Menschen, deren
Heizkosten systematisch zu niedrig angesetzt wurden,
Schwierigkeiten haben, die vorenthaltenen Leistungen
später rückwirkend wiederzubekommen, selbst wenn sie
vor Gericht Recht bekommen; denn es wird nur noch für
die Zukunft der höhere Betrag gezahlt und nicht für die
Vergangenheit . Damit hat das Amt doch einen Anreiz, im
Zweifelsfall immer gegen die Betroffenen zu entscheiKatja Kipping
den . Selbst wenn sie klagen und Recht bekommen, gilt
das erst für die Zukunft .
({12})
Solange die Klage dauert - in der Regel dauert das recht
lange -, müssen sie selber sehen, wie sie klarkommen;
sie bleiben damit auf den Kosten sitzen . Sie sparen auf
dem Rücken von Erwerbslosen und Aufstockenden . Sie
gönnen diesen Menschen nicht einmal das Wenige, das
ihnen laut Gesetz zusteht. Ich finde, das ist zutiefst schäbig .
({13})
An diesem Beispiel wird einmal mehr deutlich:
Hartz IV ist Ausdruck sozialer Kälte . Leider ist das
nicht nur ein sprachliches Bild . Für Menschen, die auf
Hartz IV angewiesen sind und deren Heizkosten vom
Amt zu niedrig berechnet werden, ist das ganz konkreter
Alltag . Sie müssen in der kalten Jahreszeit kalkulieren,
wie viel Heizung und wie viel Wärme sie sich überhaupt
noch leisten können .
Geplant war Bürokratieabbau, herausgekommen ist
noch mehr Ärger für Erwerbslose wie für Beschäftigte,
also auf beiden Seiten des Tisches wird es für die Betroffenen schlimmer mit diesem Gesetz . Wenn ich mir die
Entstehungsgeschichte dieses Gesetzentwurfs ansehe,
dann wundert mich das auch nicht . Wir haben immer angemahnt: Beziehen Sie doch die Fachleute der Praxis ein,
das heißt die Betroffeneninitiativen, Sozialverbände, Gewerkschaften . Aber nein, die Regierung hat die Fachleute der Praxis, wie Gewerkschaften und Sozialverbände,
im Übrigen auch die Opposition, komplett ausgegrenzt .
Kein Wunder also, wenn so ein Murks herauskommt .
({14})
Falls noch irgendjemand glaubte, man könnte das System Hartz IV mit kosmetischen Korrekturen verbessern,
der wird durch die Geschichte dieses Gesetzentwurfs eines Besseren belehrt . Wenn das Fundament und die Wände eines Hauses dermaßen falsch konstruiert sind, dann
nützt es eben nichts, wenn man die Farbe der Türklinken
ändert . Deswegen sagen wir ganz klar: Hartz IV muss
gänzlich abgeschafft werden . Wir streiten stattdessen für
gute Arbeit und für eine sanktionsfreie Mindestsicherung
von 1 050 Euro . Schwarz-Rot möchte die Sanktionslogik
von Hartz IV noch verschärfen . Wir als Linke hingegen
streiten für soziale Garantien des Lebens, für eine Gesellschaft, an der alle teilhaben können, in der sich alle
entfalten können und in der alle frei von Existenzangst
und frei von Bevormundung sind .
Vielen Dank .
({15})
Das Wort erhält nun der Kollege Karl Schiewerling
für die CDU/CSU-Fraktion .
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das war mal wieder ein Lehrstück aus der Küche der Linken . Das kenne ich seit 2005 .
({0})
Frau Kipping - das muss ich Ihnen sagen -, seitdem
bleiben Sie sich treu, aber ich bleibe mir auch treu . Was
ich Ihnen schon 2006 gesagt habe, sage ich Ihnen auch
heute: SGB II ist ein lernendes System . Das merken Sie
daran, dass wir schon das neunte Änderungsgesetz diskutieren . SGB II ist kein starres System . Jeden Monat
gehen 90 000 Menschen aus der Grundsicherung heraus .
Das heißt, wir haben es nicht mit einem monolithischen
Block zu tun, sondern mit Entwicklungen .
Hartz IV setzt auf Fordern und Fördern - ja, das ist
richtig -, aber Hartz IV hat auch seine Grenzen; das will
ich gern zugestehen . Weil wir in diesem Gesetz den Anspruch haben, jedem Einzelnen gerecht zu werden, und
weil die Lebenssituationen der Menschen höchst unterschiedlich sind, werden, auch zu meinem Leidwesen, zu
viele Klagen eingereicht .
Das Gesetz, das wir heute auf den Tisch legen, ist zwischen 16 Bundesländern, unter anderem auch den Bundesländern, in denen Sie mitregieren, und der Bundesregierung abgestimmt .
({1})
Deswegen wundere ich mich sehr darüber, in welcher
Form Sie jetzt hier auftreten . Sie sagen, das sei alles nur
eine Geschichte der Bundesarbeitsministerin . Es ist aber
das Ergebnis der Bund-Länder-Gespräche . Ich kann nur
hoffen und gehe davon auch aus, dass über die Länder die
Praxis vor Ort, die Praxis der Agenturen und der Jobcenter, in dieses Gesetz eingeflossen ist.
({2})
Herr Kollege Schiewerling, darf die Kollegin Kipping
dazu eine Zwischenbemerkung machen?
Von mir aus ja; eine .
({0})
Werter Kollege Schiewerling, Sie haben hier den Eindruck erweckt, dass auch die Bundesländer, in denen die
Linke mit in der Regierung ist, Thüringen und Brandenburg, diesen Gesetzentwurf so mittragen würden . Vor
diesem Hintergrund frage ich: Ist Ihnen bekannt, dass es
im Bundesrat - im Fachgremium für Soziales - genau
diese beiden Bundesländer waren, die deutliche Veränderungen eingefordert haben, nämlich eine generelle
Abschaffung der Sanktionen oder zumindest die AbmilKatja Kipping
derung, und dass sie insofern den vorliegenden Gesetzentwurf, weil das darin unterbleibt, nicht teilen und nicht
zu verantworten haben?
({0})
Frau Kollegin Kipping, ist Ihnen bekannt, dass die
Bundesländer im Endeffekt auch mit Ihren Stimmen diesen Vereinbarungen zugestimmt haben?
({0})
Sonst hätte es das Abstimmungsergebnis 15 : 0 nicht gegeben .
({1})
Es kann ja sein, dass bei der Konferenz der Arbeits- und
Sozialminister andere Positionen vertreten worden sind .
Aber hinterher ist unter denen, die bei den Ländern das
Sagen haben, abgestimmt worden, und das ist das Ergebnis dieses Abstimmungsprozesses .
({2})
Meine Damen und Herren, das vorliegende Neunte
SGB-II-Änderungsgesetz beinhaltet viele Regelungen,
von denen ich hoffe, dass sie sich positiv auswirken . Es
wird in einer Zeit vorgelegt, in der wir einen hohen Aufwuchs an Beschäftigung haben -731000 zusätzliche sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse
seit dem letzten Jahr - sowie etwa 600 000 offene Stellen, also ein Arbeitsmarktumfeld, das für die Unterbringung auf dem Arbeitsmarkt günstiger eigentlich nicht
sein kann .
Deswegen, glaube ich, ist es gut, wenn wir uns mit
diesem Gesetz jetzt auf die Personengruppen konzentrieren, die Probleme haben, auf dem ersten Arbeitsmarkt
unterzukommen oder wieder in Beschäftigung zu kommen . Die Rechtsvereinfachungen dienen ja dazu, in den
Ämtern den Einzelnen mehr helfen zu können .
Aber ich sage auch sehr deutlich: Es gibt Zielgruppen, bei denen wir uns sehr schwer tun, sie überhaupt
zu erreichen . Das ist eine Diskussion, die wir seit längerem im Deutschen Bundestag führen, zumindest so
lange, wie ich dabei bin . Es geht um die Zielgruppe der
jungen Menschen, die durch nahezu alle sozialen Raster fallen . Es sind junge Menschen, die von ihrer Familie
nicht erreicht werden, weil schon ihre Herkunftsfamilie
nicht mehr erreicht worden ist . Sie werden von der Schule nicht erreicht . Sie werden von der Agentur für Arbeit
nicht erreicht . Sie werden von den Sozialämtern nicht
erreicht . Die Problemlage dieser jungen Menschen, die
in unserer Gesellschaft leben, wird sozusagen erst dann
in der Öffentlichkeit bekannt, wenn sie so drängend ist,
dass Polizei und Staatsanwaltschaft da sind, oder wenn
beispielsweise ein 15-jähriges Mädchen vor der Niederkunft steht, ein Kind erwartet, und wissen will, wohin es
sich wenden kann .
Diese Situation erleben wir in einer Reihe von Einrichtungen, die sich um diese Jugendlichen, diese jungen
Menschen kümmern . Diese sorgen dafür, dass die vielfältigen Lebenssituationen, die auch mit unterschiedlichen
Sozialgesetzen hinterlegt sind, aufgegriffen werden, um
den jungen Menschen tatsächlich helfen zu können . Da
geht es dann um die Kinder- und Jugendhilfe, um das
SGB VIII, es geht um das SGB III, um die aktive Arbeitsmarktförderung, es geht um die Grundsicherung, es
geht um das Bildungs- und Teilhabepaket, es geht um die
Sozialhilfe, und es geht nicht zuletzt - im SGB V - um
die Fragen der psychischen Belastungen und der psychischen Hilfen . Alle diese Hilfen, die dringend notwendig wären, erreichen diese Zielgruppen nicht, weil sie
kaum irgendwo aufgegriffen werden . Deswegen habe ich
mich sehr darüber gefreut, dass es uns mit diesem Gesetzgebungsverfahren gelungen ist, einen neuen § 16 h
im Zweiten Buch Sozialgesetzbuch unterzubringen, der
die Möglichkeit eröffnet, die Schnittstellen, an denen es
heißt: „Dafür ist ja eigentlich jemand anderes zuständig“,
zu überwinden und diesen jungen Menschen Hilfen aus
einer Hand geben zu können .
Meine Damen und Herren, ich habe mich sehr gefreut, dass dieses Anliegen in unserer Fraktion eine große
Unterstützung erfahren hat durch unseren Fraktionsvorsitzenden Volker Kauder . Ich habe mich sehr darüber
gefreut, dass dieses Anliegen von Anfang an eine persönliche Unterstützung erfahren hat durch die Bundeskanzlerin selbst, die in der Karwoche, also in der Woche vor
Ostern, eine solche Einrichtung besucht hat .
({3})
Ich bin sehr froh und dankbar, dass die Bundesarbeitsministerin und das Bundesarbeitsministerium dieses Anliegen sieht und mitträgt und möchte an dieser Stelle neben
der Bundesarbeitsministerin und der Fachabteilung insbesondere der Staatssekretärin Lösekrug-Möller für ihre
Unterstützung sehr herzlich danken .
({4})
Meine Damen und Herren, mit diesem Akzent, den
wir in diesem Gesetzgebungsvorhaben setzen, wollen
wir deutlich machen, dass wir keinen verloren gehen
lassen, dass wir alles daransetzen, um jedem Menschen
in unserer Gesellschaft, mag er sich noch so schwertun,
eine Perspektive aufzuzeigen und diesen Menschen zu
helfen . Wir kümmern uns jetzt um die, denen kaum noch
einer hilft . Das sind andere Töne - das will ich gerne zugestehen - als die sozialpolitischen Töne, die die Linken
anschlagen . Uns geht es nicht darum, Hilfesysteme zu
zerschlagen, sondern darum, bestehende Hilfesysteme so
zu nutzen, dass die Hilfe bei den Menschen ankommt .
Hartz IV muss nicht abgeschafft werden, Hartz IV muss
immer wieder als lernendes System verändert werden .
({5})
Wir müssen den Menschen eine Perspektive geben, und
diese Perspektive lautet: Wir lassen keinen durchs soziale
Netz fallen; wir wollen den Menschen helfen . Das ist unser Anliegen, und dem dient auch dieser Gesetzentwurf .
Ich danke Ihnen sehr .
({6})
Der Kollege Strengmann-Kuhn erhält nun das Wort
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Karl Schiewerling betont in seinen Reden immer gerne
die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt, den Anstieg der
Beschäftigung - sogar der sozialversicherungspflichtigen
Beschäftigung - und die gute ökonomische Situation .
({0})
Damit hat er auch recht . Aber was dabei vernachlässigt
wird, ist, dass diese gute Situation der Wirtschaft bei vielen Menschen in Deutschland nicht ankommt . Wir haben
seit Jahren ein Rekordmaß an Ungleichheit in Deutschland und ein Rekordmaß an Armut . Der soziale Zusammenhalt in Deutschland ist ernsthaft gefährdet, und da
müssen wir unbedingt ansetzen .
({1})
Jetzt kommen die geflüchteten Menschen zu uns. Das
wird diese Spaltung, die wir in der Gesellschaft haben,
zumindest kurzfristig noch weiter verstärken . Es ist schon
gesagt worden: In den nächsten Wochen und Monaten
erhalten die Menschen, wenn ihr Asylverfahren beendet
ist, Leistungen gemäß SGB II . Das heißt, die Jobcenter
werden zusätzlich belastet, bekommen zusätzliche Kundinnen und Kunden, wie es im Amtsjargon heißt . An dieser Stelle wäre es eigentlich völlig richtig, zu sagen: Wir
vereinfachen die Grundsicherung, entbürokratisieren sie,
machen Licht in dem Dschungel von Grundsicherungsleistungen, sehen zu, dass die Menschen, die Anspruch
auf Grundsicherung haben, diesen auch leicht erhalten,
um damit für ein Stück weit mehr soziale Sicherheit in
Deutschland zu sorgen .
({2})
Der zweite Punkt ist, dass wir dafür sorgen müssen,
dass die Jobcenter tatsächlich entlastet werden, um die
Geflüchteten in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Es darf
aber auch nicht vergessen werden, die Langzeitarbeitslosen besser zu unterstützen und besser in den Arbeitsmarkt zu integrieren . Das war eigentlich das Ziel von
Hartz IV . Die Verfestigung von Langzeitarbeitslosigkeit
ist ein Riesenproblem, das wir endlich angehen müssen .
({3})
Der Ansatz, wir vereinfachen das System und entlasten die Jobcenter, wir gehen die soziale Spaltung in
Deutschland an, ist eigentlich völlig richtig . Wenn man
sich den Gesetzentwurf ansieht - die Staatssekretärin hat
gesagt, da ist ein jahrelanger Prozess dahinter -, dann
stellt man fest: Da ist nichts, da ist gar nichts . Man sieht
daran, wie die Reihen heute hier besetzt sind und dass die
Ministerin nicht anwesend ist, welchen Stellenwert dieser Gesetzentwurf auch für die Regierungskoalition hat,
nämlich einen sehr geringen .
({4})
Viele große Punkte sind in diesem Gesetzentwurf gar
nicht angegangen worden, manche sind auch im Gesetzgebungsprozess herausgenommen worden . - In den Reihen der Union wird der Kopf geschüttelt . Warum ist die
Ministerin nicht da und stellt den Gesetzentwurf selber
vor, wenn es so ein großer Wurf ist? Es ist kein großer
Wurf .
({5})
Es ist ein Bündel von bürokratischem Kleinkram, der
die Jobcenter in dieser Situation mehr belasten wird, weil
sie eine Fülle von neuen kleinteiligen Regeln wieder neu
umsetzen müssen . Die Jobcenter müssen entlastet und
nicht belastet werden, was der Gesetzentwurf machen
wird .
({6})
Wir haben deswegen einen Alternativantrag mit Alternativvorschlägen vorgelegt, mit dem das gesamte Grundsicherungssystem tatsächlich vereinfacht wird und die
Jobcenter entlastet werden . Ein wichtiger Punkt wäre,
erst einmal die Menschen aus Hartz IV herauszuholen,
die gar nicht dorthin gehören . Ich habe eben schon gesagt, es ging eigentlich darum, eine Grundsicherung für
Arbeitsuchende zu schaffen . Nun haben wir eine große
Menge von Erwerbstätigen im Hartz-IV-System . Es gibt
mehr Erwerbstätige als Langzeitarbeitslose, die Hartz IV
beziehen . Wenn man die Kinder noch mitzählt, dann
leben fast 50 Prozent der Hartz-IV-Bezieher in einer
Bedarfsgemeinschaft, die Erwerbseinkommen hat . Die
müssen wir aus dieser Sicherung herausnehmen . Sie sind
dort, weil sie hohe Wohnkosten haben, weil sie Kinder
haben . Deswegen müssen wir an dieser Stelle die vorgelagerten Sicherungssysteme stärken, um die Erwerbstätigen aus Hartz IV herauszuholen .
({7})
Wie gesagt: Viele Familien, viele Kinder sind dabei .
Die Auszubildenden gehören eigentlich auch nicht
dazu . Es ist für die Auszubildenden sicher ein Fortschritt,
dass sie eine existenzsichernde Leistung bekommen .
Aber eigentlich müsste es eine Grundsicherung für Auszubildende geben . Die bildungssozialen Sicherungssysteme BAföG etc . müssen gestärkt werden, damit sie gar
nicht erst in Hartz IV kommen . Auch hier müssen wir die
vorgelagerten Sicherungssysteme stärken, um die Auszubildenden herauszunehmen; denn auch die gehören nicht
zu den Jobcentern .
({8})
Die Jobcenter sollen sich auf die Arbeitslosen konzentrieren .
Es sind einige Punkte im Gesetzgebungsprozess herausgefallen . Eine einfache Möglichkeit, die Jobcenter
schnell und effektiv zu entlasten, wäre eine Aussetzung
der Sanktionen, die sowohl die Jobcenter als auch die
Betroffenen belasten . Wir brauchen ein Sanktionsmoratorium .
({9})
Dann würden gleich Kapazitäten frei .
Aber das Wenigste wäre - das ist schon angedeutet
worden -, dass die Punkte, die - bis auf Bayern und
CSU - Konsens sind, wenigstens umgesetzt werden .
Die verschärften Regelungen bei jüngeren Erwachsenen
unter 25 Jahre und auch Sanktionen der Kosten der Unterkunft müssen beseitigt werden . Alle Praktiker sagen
Ihnen: Das kann im Extremfall zu Obdachlosigkeit führen . Und, wie gesagt, die Sanktionen gegen die Jüngeren
sind eher kontraproduktiv . Sie führen eher zu sozialer
Ausgrenzung und den Problemen, die Karl Schiewerling
eben zu Recht angesprochen hat . Deswegen müssten die
Jüngeren genauso behandelt werden wie die Älteren . Das
wäre ein wichtiger Punkt .
({10})
Es gibt viele Brocken, die überhaupt nicht angegangen
werden . Das Bildungs- und Teilhabepaket ist ein bürokratisches Monster . Bei den Kosten der Unterkunft gibt
es eine Fülle von bürokratischen Regelungen bzw . viele
Sonderregelungen, welche die Jobcenter und die Kommunen teilweise überfordern . Es gibt viele Sonderregelungen im Hartz-IV-Gesetz, die diskriminierend sind und
abgeschafft werden müssten .
Teilweise sind im Gesetzentwurf neue Verschärfungen
enthalten . Katja Kipping hat ein paar Beispiele genannt,
die auch wir als Problem ansehen . Es handelt sich dabei
nicht um Rechtsvereinfachung, sondern um Rechtsverschärfung .
Eigentlich müsste man sich das gesamte System der
Grundsicherungsleistungen einmal anschauen . Es gibt
fünf verschiedene Grundsicherungsleistungen in drei
verschiedenen Gesetzen . Die Regelungen in den einzelnen Gesetzen sind völlig unterschiedlich . Eine Große
Koalition könnte sich einmal daranmachen und gleiche
Sachverhalte auch gleich regeln . Damit hätte man eine
Vereinfachung in der Verwaltung und bessere Transparenz für die Betroffenen .
({11})
Ich will nur einen Punkt herausnehmen . Dabei geht
es - das klingt erst einmal relativ technisch - um die
Anrechnung von Partnereinkommen . Der Begriff „Bedarfsgemeinschaften“ - den gibt es bei Hartz IV im Sozialgesetzbuch II - ist vielleicht bekannter . Im Sozialgesetzbuch XII läuft die Einkommensanrechnung anders .
Da gibt es eine individualisierte Leistung, wo auch Partnereinkommen - aber nur von Partnern, die mehr verdienen, als das eigene Grundsicherungsniveau ausmacht angerechnet wird .
Wenn man es im Sozialgesetzbuch II so machen würde wie im SGB XII, hätte das zur Folge, dass die Hilfe auf die Menschen fokussiert wird, die sie tatsächlich
brauchen . Wenn es ein Paar gibt, wo eine Person wenig
und die andere relativ viel verdient, dann werden beide
von den Jobcentern betreut . Es müsste aber so sein, dass
sich die Jobcenter auf die tatsächlich Arbeitslosen konzentrieren .
All diese Probleme werden von der Großen Koalition
nicht angegangen . Es wird nichts für den sozialen Zusammenhalt in dieser Gesellschaft getan . Diese Rechtsvereinfachung stellt eine verpasste Chance dar . Die Große Koalition hätte sie nutzen können . Wir haben einen
Alternativantrag vorgelegt, der die Jobcenter tatsächlich
entlasten, die Grundsicherung vereinfachen und den sozialen Zusammenhalt in Deutschland stärken würde .
Vielen Dank .
({12})
Vielen Dank Herr Kollege Strengmann-Kuhn . - Schönen guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Der nächste Redner in der Debatte ist Markus Paschke
für die SPD .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau
Kipping, Sie haben vorhin ein Paradebeispiel erwähnt .
Ich finde, Ihre Rede war ein Paradebeispiel für Schlechtreden und auch für Ignoranz .
({0})
Wir wollen mit den Rechtsvereinfachungen im SGB II
nicht nur für die Ämter, sondern auch für die betroffenen Menschen Erleichterungen schaffen . Wir sagen: Der
Mensch muss im Mittelpunkt stehen . Deshalb werden
wir die Jobcenter und die Betroffenen von Bürokratie
entlasten . Somit bleibt mehr Zeit und mehr Energie für
die Betreuung und die Förderung .
({1})
Ich will dies an einigen Beispielen deutlich machen .
Eine wirkliche Erleichterung ist die Verlängerung des
Bewilligungszeitraums .
({2})
Zukünftig müssen Anträge auf Leistung nur einmal im
Jahr gestellt werden . Mit dieser Änderung entfallen somit
pro Jahr rund 2,5 Millionen Weiterbewilligungsanträge .
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder
-bemerkung?
Ich würde gern erst einmal fortfahren .
Auch nicht von Frau Pothmer?
Auch nicht von Frau Pothmer .
Gut, alles klar .
({0})
Haben Sie sich einmal durch diese Anträge hindurchgekämpft? Ich mache das im Rahmen meiner Bürgersprechstunden regelmäßig . Das Rauschen im Blätterwald
ist beeindruckend, das Arbeiten darin mühselig . Denn es
geht nicht nur um die Anträge, sondern auch um die damit verbundenen Unterlagen, die aber nun nur noch einmal im Jahr eingereicht werden müssen .
Ein weiteres Beispiel ist die Gesamtangemessenheitsgrenze für die Bedarfe für Unterkunft und Heizung . Zukünftig zählt die Summe für die Bewertung der Angemessenheit einer Wohnung . Es spielt - solange sich die
Summe im Rahmen der Gesamtangemessenheitsgrenze
bewegt - keine Rolle mehr, ob eine höhere Miete für eine
Neubauwohnung mit höheren Standards, dafür aber mit
niedrigeren Heizkosten, gezahlt wird oder ob die Miete
niedriger ist, die Heizkosten aber höher sind. Ich finde
es gut, dass zukünftig SGB-II-Bezieher nicht mehr von
modernen Wohnungen ausgeschlossen sind, anders als
bisher, als nur die Miete, die lediglich einen Teil der Gesamtkosten ausmacht, mit einer Angemessenheitsgrenze
belegt wurde .
Ansprüche nach dem SGB II können zukünftig auch
nicht mehr gepfändet oder übertragen werden . Das ist
eine Forderung, die die Betroffenen und ihre Interessenvertreter schon lange gestellt haben .
Nach bisheriger Rechtslage muss jede erwerbsfähige
leistungsberechtigte Person bei Krankheit einen gelben
Schein vom Arzt vorlegen . Das gilt auch für Personen,
die aktuell für eine Arbeitsaufnahme gar nicht infrage
kommen, weil sie zum Beispiel eine Schule besuchen
und einen Schulabschluss machen . Das entfällt nun für
viele. Ich finde, das ist ein großer Fortschritt für die Betroffenen und auch im Hinblick auf die Bürokratieentlastung .
Mit dem Gesetzentwurf stärken wir auch die Eingliederungsvereinbarung . Dazu gehört eine stärkere Nutzung
der Potenzialanalyse; denn nur wenn klar ist, wo Stärken
und Schwächen liegen, können Hilfe und Unterstützung
effektiv geleistet werden . Damit soll der Gedanke des
Förderns mehr Bedeutung bekommen .
Wichtig ist mir insbesondere, dass diejenigen, deren
Arbeitslosengeld zu gering ist, um ihren Lebensunterhalt
zu bestreiten, also diejenigen, die aufstocken müssen, zukünftig bei Weiterbildungen und bei der Jobsuche von
der Bundesagentur für Arbeit unterstützt, gefördert und
betreut werden .
({0})
Das hat auch mit Anerkennung und Würde zu tun; denn
sie haben sich Ansprüche nach dem SGB III erarbeitet .
Sie haben in der Regel wahrscheinlich nur zu wenig verdient, um Ansprüche zu haben, die ausreichend sind, um
ihr Leben zu gestalten. - Ich finde, all das sind Schritte in
die richtige Richtung .
Last, but not least sind die Verbesserungen bei der
Ausbildungsförderung ein ganz wichtiger Punkt .
({1})
Bisher war es so, dass jeder, der eine Ausbildung aufnahm, mit dem Tag, als er sie begann, weniger Geld zur
Verfügung hatte, als wenn er im System des SGB II geblieben wäre . Das haben wir jetzt für viele geändert . Sie
bekommen nicht mehr weniger Geld, sondern sie haben
mindestens die gleichen Ansprüche wie vorher, und das
ist auch gut so .
({2})
Es ist kein Geheimnis, dass wir von der SPD-Fraktion
gern noch mehr für die Menschen in unserem Land erreicht hätten . So hege ich zum Beispiel immer noch die
Hoffnung, dass wir es schaffen, im parlamentarischen
Verfahren den Gesetzentwurf um eine Bagatellgrenze für
Rückforderungen zu ergänzen . Denn auch das wäre eine
spürbare Entlastung für alle Beteiligten . Es kann doch
nicht sein, dass durch eine Rückforderung von 5 Euro in
den Ämtern Arbeitskosten von 50 Euro entstehen .
({3})
Das steht wirklich in keinem Verhältnis .
Das gilt allerdings auch für die Blockadehaltung der
CSU beim Thema der Sanktionen . Kürzungen bei den
Kosten der Unterkunft sind nicht nur sinnlos, sondern
einfach nur gefährlich; sie gefährden Mietverhältnisse . Auch die besonders scharfen Regelungen für unter
25-Jährige haben alle Experten als nicht zielführend bezeichnet . Sie bringen nichts .
({4})
Wir haben das hinlänglich diskutiert . Die CSU verhindert
leider bis heute eine faire Lösung .
({5})
Wer ständig Sand ins Getriebe streut, kann nicht der Motor der Nation sein .
({6})
Da Horst Seehofer zu Recht die Entwicklungen bei der
Rente kritisiert hat - er bezeichnet sie als neoliberal -,
gebe ich die Hoffnung nicht auf, dass sich diese Erkenntnis auch in Bezug auf die Sanktionen durchsetzt .
Mein Fazit für heute: Es ist ein guter Entwurf, der in
die richtige Richtung geht .
({7})
Ich denke, wir werden im parlamentarischen Verfahren
sicher noch über das eine oder andere reden können .
({8})
Vielen Dank, Markus Paschke . - Das Wort hat nun
der sehr verehrte Dr . Matthias Zimmer für die CDU/
CSU-Fraktion .
({0})
- Wenn Sie wüssten, wie er sich neben anderen Kolleginnen und Kollegen für Ihre Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in der Mitarbeiterkommission des Bundestages einsetzt, dann würden Sie das „sehr verehrter Dr . Zimmer“
verstehen .
({1})
Sehr verehrte Frau Präsidentin!
({0})
Nach so einer freundlichen Begrüßung fällt es ausgesprochen schwer, das ein oder andere schärfere Wort anzubringen .
({1})
- Sehr schön . Wenn ich eine Minute mehr Zeit habe,
dann kann man das ganz gut gestalten .
Das, was der Kollege Strengmann-Kuhn sagt, regt
eigentlich immer zum Nachdenken an . Aber in diesem
Fall ist die ein oder andere Replik erforderlich . Da ist
zunächst einmal, lieber Wolfgang Strengmann-Kuhn,
der Begriff des Bürokratiemonsters aus dem Bildungsund Teilhabepaket, der mich begrifflich doch sehr an das
Bürokratiemonster erinnert, das der Wirtschaftsflügel in
Bezug auf die Aufzeichnungspflicht nach dem Mindestlohngesetz sieht . Ich habe mich gefragt, ob die Grünen
bei dem Vokabular angekommen sind, das sie eigentlich
immer haben wollten .
({2})
Auch das Thema Armut ist angesprochen worden . Ich
möchte an dieser Stelle zwei Hinweise zum Thema Armut geben . Wir haben eine Einkommensspreizung, die
unter Rot-Grün bis 2005 zugenommen hat und seitdem
relativ stabil ist; sie wird sich durch den Mindestlohn
vermutlich etwas abschwächen . Ich will dafür plädieren,
dass man mit dem Begriff „Armut“ etwas vorsichtiger
umgeht . Er ist auf der einen Seite eine wissenschaftliche
Kategorie - das wissen wir beide relativ gut -, aber auf
der anderen Seite ist er auch ein Begriff, der einen hohen
Polarisierungseffekt hervorrufen kann . Davor sollten wir
uns ein wenig hüten .
({3})
Wir haben im letzten Jahr - ich will nicht sagen: gefeiert - daran gedacht, dass vor zehn Jahren Hartz-IV
und SGB II auf den Weg gebracht wurden . Wir haben
inzwischen das neunte Änderungsgesetz zum SGB II auf
den Weg gebracht . Wir haben also statistisch gesehen fast
jedes Jahr ein Änderungsgesetz vorgelegt, mit dem wir
nachsteuern, mit dem wir die Instrumente schärfen, mit
dem wir Verwaltung vereinfachen, mit dem wir für mehr
Effizienz sorgen und durch die Rückmeldung der Praktiker vielleicht auch für ein klein wenig mehr Gerechtigkeit in den Verfahren sorgen .
Karl Schiewerling hat es auf den Punkt gebracht, indem er gesagt hat: SGB II ist ein lernendes System . Ich
finde, das ist auch gut so. Im Jahr 2005 hatten wir eine
sehr hohe Anzahl an Arbeitslosen . Mittlerweile konnten
wir einen deutlichen Rückgang bei der Arbeitslosigkeit
verzeichnen . Die Erfahrungen, die wir zwischenzeitlich
mit diesem Instrument gesammelt haben, gehen also in
unsere Erörterungen ein .
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder
-bemerkung von Dr . Franziska Brantner?
Gerne .
Herzlichen Dank für die Zulassung der Frage . Sie haben gerade so schön gesagt, das SGB II sei ein lernendes System, und man würde es weiter verbessern . Daher
meine Frage: Wie wollen Sie im parlamentarischen Prozess mit dem Entwurf zur Neuregelung der temporären
Bedarfsgemeinschaften umgehen? Das hat wichtige Auswirkungen auf die Alleinerziehenden . Eigentlich haben
wir gelernt, dass es in diesem Bereich eine Unterfinanzierung gibt, wenn sich Eltern die Aufgabe teilen . Wie
wollen Sie als Abgeordneter der Regierungskoalition mit
diesem Entwurf umgehen? Oder wollen Sie lieber aus
den Erfahrungen lernen und den Alleinerziehenden, die
sich die Betreuung partnerschaftlich aufteilen, unter die
Arme greifen?
Verehrte Frau Kollegin Brantner, ich spüre in Ihrer
Wortmeldung ein gewisses Bedauern darüber, dass Sie
das SGB II vor zehn Jahren zwar auf den Weg gebracht
haben, aber mittlerweile nicht mehr in der Lage sind, an
der Verbesserung des SGB II mitzuarbeiten, weil Sie seit
zehn Jahren in der Opposition sind . Gleichwohl: Wir haben von der Bundesregierung und von den Bundesländern ein Paket vorgelegt bekommen, das wir heute in die
parlamentarische Beratung einbringen werden .
Wie der Kollege Paschke schon gesagt hat: Es gibt
von der einen oder anderen Seite sicherlich noch Wünsche, die Regelungen auf die eine oder andere Art und
Weise zu ergänzen . Das werden wir in den parlamentarischen Beratungen berücksichtigen . Ich bin mir sicher,
dass die Frage, die Sie angebracht haben, auch ein wesentlicher Bestandteil der parlamentarischen Beratungen
sein wird . - Danke schön .
Meine Damen und Herren, ich will drei besondere
Neuerungen hervorheben, die mir in diesem Zusammenhang wichtig sind . Eine hat Markus Paschke eben schon
erwähnt . Das ist die Entschärfung der Schnittstelle von
Ausbildungsförderung und Grundsicherung . Die berufliche Ausbildung soll nicht dadurch verhindert werden,
dass weniger Geld da ist als nach SGB II . Ich glaube, das
ist eine sinnvolle Ergänzung dessen, was wir gestern im
Zusammenhang mit dem Gesetz zur beruflichen Weiterbildung diskutiert haben . Die Logik dahinter ist schlicht
und einfach, dass Bildung und Weiterbildung nachhaltiger sind als die schnelle Vermittlung in den Arbeitsmarkt .
Ich glaube, das ist eine gute Erkenntnis, die wir in den
letzten zehn Jahren gewonnen haben .
({0})
Der zweite Bereich - Karl Schiewerling hat ihn erschöpfend behandelt - ist der neue § 16 h SGB II, der
gewissermaßen einen Auffangtatbestand für diejenigen
Jugendlichen schafft, die durch die Raster fallen und
durch die Hilfesysteme nach SGB III und SGB VIII oder
auch durch die bisherige Ausgestaltung der Hilfesysteme
nach SGB II nicht erfasst werden können .
Ein dritter Bereich, der mir ganz besonders wichtig
ist, ist die Stärkung der Eingliederungsvereinbarung . Ich
glaube, es ist ein zentrales Element des Förderns und
Forderns, dass wir die Eingliederungsvereinbarung stärken, dass wir eine Potenzialanalyse vornehmen und dies
auch regelmäßig überprüfen und fortschreiben . Ich glaube persönlich - und da schaue ich jetzt besonders auf die
Kolleginnen und Kollegen von der Linken -, dass dies
zusätzlich auf beiden Seiten zu einer gewissen Ernsthaftigkeit führt und vielleicht die eine oder andere Sanktion
überflüssig macht. Das wäre auch in unserem Interesse.
({1})
Meine Damen und Herren, man darf immer noch
träumen . Wenn es nach mir ginge, dann würde ich drei
Bereiche anführen, in denen ich noch Wünsche für das
parlamentarische Verfahren hätte . Der erste Bereich ist
die Zwei-in-fünf-Regelung, dass man also innerhalb von
fünf Jahren nur zwei Jahre lang fördern kann. Ich finde,
wir sollten überlegen, ob wir unter bestimmten Bedingungen, meinetwegen mit einer degressiven Ausgestaltung oder einer Verpflichtungserklärung von Arbeitgebern dahin gehend, dass jemand übernommen wird, ein
drittes Jahr fördern können . Ich glaube, von den Praktikern würde dies als sehr sinnvoll erachtet . Ich glaube, wir
tun uns einen großen Gefallen, wenn wir dieses Thema
ernsthaft im parlamentarischen Verfahren erörtern .
({2})
Der zweite Bereich, der in diesem Zusammenhang
steht, ist die Förderung von Vollzeitmaßnahmen für die
berufliche Weiterbildung auch dann, wenn sie nicht um
ein Drittel verkürzt werden . Der Bundesrat hat das vorgeschlagen . Das ist im Ministerium auf wenig Gegenliebe
gestoßen, aber ich halte es für eine sehr sinnvolle Angelegenheit, unter bestimmten Bedingungen das dritte Jahr
zu fördern . Auch hier kann man sich darüber unterhalten,
ob man dies an Bedingungen knüpft wie etwa an die Zusage eines Arbeitgebers für eine spätere Übernahme . Das
halte ich auch für eine ausgesprochen sinnvolle Sache .
Der dritte Bereich sind AGHs und die Stärkung lokaler Akteure . Es ist ein lang gehegter Wunsch, dass wir
uns bei den Arbeitsgelegenheiten sehr genau darüber unterhalten, wie wir es hinbekommen, dass diese Kriterien
nicht strikt angewendet werden, sondern dass die Sozialpartner vor Ort erhebliche Entscheidungsmöglichkeiten
haben . Ich denke, wenn wir die Sozialpartner vor Ort
stärken, dann können die Kriterien weitgehend wegfallen . Das gibt dann zwar einige Probleme, was den Nachvollzug in Nürnberg angeht, aber das gibt den lokalen
Akteuren vor Ort erheblich mehr Flexibilität .
Meine Damen und Herren, wir haben jetzt einen ersten Schritt gemacht, wir gehen in das parlamentarische
Verfahren . Wir haben an der einen oder anderen Stelle
noch eine größere Wunschliste, das ist eine ganz natürliche Entwicklung .
({3})
Auch der Bundesrat wird noch etwas mitreden können . Auch die Opposition wird mitreden, verehrte Frau
Pothmer, dessen bin ich mir sicher . Ich freue mich auf die
Beratungen im Ausschuss .
Herzlichen Dank .
({4})
Vielen Dank, lieber Kollege Zimmer . - Der nächste
Redner ist Dr . Matthias Bartke für die SPD .
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Im Sommer 2014 gab es eine Koalitionsgruppe zur Flexirente .
Die Arbeitsgruppe hatte damals länger als ein Jahr verhandelt . Unsere Fachsprecherin, Katja Mast, hatte das
zum Anlass genommen, die Verhandlungsdauer mit der
Schwangerschaft eines Nashorns zu vergleichen .
({0})
Nun debattieren wir heute nicht über Rentenfragen,
sondern über Rechtsvereinfachungen im SGB II, und
die basieren auf den Vorstellungen der Bund-Länder-Arbeitsgruppe aus dem Jahr 2014 . Um bei den Dickhäutern
zu bleiben: Die 540 Tage einer Nashornschwangerschaft
haben wir schon überschritten, die zwei Jahre einer Elefantenschwangerschaft sind in Sicht . Es steht zu hoffen,
dass wir sie nicht erreichen .
({1})
Im Vorfeld hat der bayerische Löwe Seehofer schon
einmal gebrüllt . Löwen sind bekanntermaßen keine
Dickhäuter . Herr Seehofer hat gesagt - das ist weniger
spaßig -:
Das Verwässern der Sanktionen bei Drückebergern
wird die CSU verhindern .
Ganz unabhängig vom Stil dieser Aussage ist sie inhaltlich falsch . Herr Seehofer bezog sich auf das Vorhaben
unserer Ministerin Andrea Nahles, die verschärften
Sanktionsregeln für unter 25-Jährige abzuschaffen und
sie denen für ältere Arbeitsuchende anzupassen . Außerdem sollte die Kürzung bei den Kosten für Unterkunft
und Heizung abgeschafft werden . Auf dieses Vorhaben
hatten wir uns mit sämtlichen Experten bereits geeinigt .
Gemeinsame Erkenntnis war: Die teilweise überharte
Sanktionierung von Jugendlichen und die Streichung
der Kosten für Unterkunft wirken kontraproduktiv . Herr
Strengmann-Kuhn hat das eben durchaus zutreffend dargestellt . Deswegen sage ich: Schlecht gebrüllt, bayerischer Löwe!
({2})
Nach der Verweigerungshaltung der CSU hat sich
unsere Ministerin Nahles entschieden, die Verbesserung
des Sanktionsregimes vom restlichen Gesetzgebungsverfahren abzukoppeln; denn die anderen mit dem Gesetzentwurf vorgeschlagenen Rechtsvereinfachungen sind
dringend notwendig . Wir wollen die unnötige Bürokratie
in den Jobcentern abbauen . Die Jobvermittler sollen die
Chance haben, ihrer Berufsbezeichnung gerecht zu werden, und nicht ihre ganze Energie auf Verwaltungsvorgänge verwenden müssen .
Meine Damen und Herren von der Linken, erfreulicherweise konnten auch Sie sich durchringen, in Ihrem
Antrag Vorschläge des Gesetzentwurfs zu begrüßen . Ich
war, ehrlich gesagt, überrascht . Sie beziehen sich dabei
insbesondere auf die Verlängerung der Dauer der Bewilligung der Bescheide auf zwölf Monate und die Einschränkung der Verpflichtung zur Krankmeldung.
({3})
Ich sage Ihnen aber: Der Gesetzentwurf enthält noch
deutlich mehr Verbesserungen . Leider haben Sie die nicht
erkannt, und leider erheben Sie am Ende doch wieder nur
Ihre alte Forderung, Sanktionen komplett abzuschaffen .
Dabei war Ihr Antrag zu Beginn deutlich differenzierter .
Sie haben ebenso wie ich kritisiert, dass die Sondersanktionen für Jugendliche und die Kürzung bei den Kosten
der Unterkunft nicht abgeschafft werden .
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenbemerkung
oder -frage von Herrn Birkwald von der Linken?
Da er das vorher schon so nett angekündigt hat, gerne .
Wie? So geht das aber nicht . So läuft das nicht - damit
das ganz klar ist .
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin . - Vielen Dank, Kollege Bartke, dass Sie die Zwischenfrage zugelassen haben .
Sie haben eben gesagt, dass Sie sich dafür aussprechen,
die verschärften Sanktionen für Jugendliche abzuschaffen . Das erkenne ich ausdrücklich an, auch wenn ich alle
Sanktionen abgeschafft haben will .
Ich frage Sie als SPD-Abgeordneten, weil die SPD das
Familienministerium besetzt, warum Sie Alleinerziehende und Kinder mit diesem Gesetz so strafen . Ich zitiere
aus der heutigen Ausgabe der Welt. Die Überschrift lautet:
Hartz-IV-Reform trifft vor allem Trennungskinder Bundesregierung will Alleinerziehenden Geld streichen, wenn der Nachwuchs tageweise beim anderen
Elternteil ist .
Die Kollegin Brantner hatte das Thema ja eben angesprochen . Es ist so, dass alleinerziehende Frauen, wenn
sie das Kind für ein Wochenende zum Vater geben, Geld
abgezogen bekommen . Das Kinderzimmer bleibt aber,
die Zahnbürste bleibt, und alle anderen Aufwendungen
für das Kind bleiben auch . Die Familienverbände sagen
unisono: Das ist völliger Unsinn . Sie fordern im Gegenteil einen Umgangsmehrbedarf . Das fordert nicht nur ein
Familienverband, sondern drei, und auch der Deutsche
Juristinnenbund . Meine Frage an Sie, da die SPD die
Familienministerin stellt: Warum belasten Sie Alleinerziehende, die zu 40 Prozent voll oder ergänzend auf
Hartz IV angewiesen sind, mit diesem Gesetz so enorm?
Ich finde, wir sollten etwas für Kinder und Jugendliche
und für Alleinerziehende tun und sie nicht noch bestrafen .
({0})
Um es vorab zu sagen: Die Frage war angekündigt,
aber nicht der Inhalt der Frage . Deswegen sage ich Ihnen:
Ich freue mich, dass Sie so konstruktiv an den Beratungen teilnehmen . Ich würde mich auch freuen, wenn Sie
weiterhin so konstruktiv agierten
({0})
und in den Ausschussberatungen zur Sache argumentierten . Ich will jetzt nicht ins Detail gehen .
({1})
- Ich erläutere das nicht weiter . Es ist damit beendet .
Der Gesetzentwurf enthält noch deutlich mehr Verbesserungen .
Moment . War das jetzt die Antwort?
Das war die Antwort .
({0})
Ach so, gut .
Zum Thema Sanktionen haben Sie eine Kleine Anfrage gestellt, über deren Beantwortung durch die Bundesregierung letzte Woche in der Presse breit diskutiert wurde .
Da fand sich unter anderem die Schlagzeile: Fast 40 Prozent der Klagen gegen Sanktionen sind erfolgreich . Ich
sage Ihnen, Herr Birkwald, ausdrücklich Danke für diese
Anfrage . Die Zahlen alarmieren auch uns . Jede unrechtmäßige Sanktion ist eine zu viel . Auf die Gründe dafür
müssen wir ein Auge haben, und wir müssen daraus unsere Konsequenzen ziehen . Aber ich kann Ihnen schon
jetzt sagen: Das wird nicht die Abschaffung der Sanktionen sein, wie Sie direkt wieder geschlussfolgert haben . In
dieser Position hat uns die Mehrheit der Experten in der
letztjährigen Anhörung bestätigt .
Mir ist besonders wichtig, dass die Beratung als ausdrückliche Leistung des Gesetzes in den vorliegenden
Gesetzentwurf eingeführt wird . Die Beratung ist in der
Vergangenheit oft zu kurz gekommen . Ich wünsche mir,
dass der fördernde Charakter dieser Regelung gelebt
werden wird .
({0})
Eine Beratung ist erst dann durch Wertschätzung geprägt,
wenn sie auf Augenhöhe erfolgt . Unter dieser Voraussetzung kann sie den Leistungsempfänger darin unterstützen, seine Hilfebedürftigkeit zu überwinden: Welche
Möglichkeiten zum Nachholen von Qualifikationen gibt
es? Wo bestehen Chancen zum beruflichen Aufstieg?
Zukünftig soll außerdem für jeden erwerbsfähigen
Leistungsberechtigten eine Potenzialanalyse der bisherigen Eingliederungsvereinbarung vorgeschaltet werden .
Individuelle Potenziale statt standardisierte Verwaltungspraxis haben hier neuen Raum . In der Eingliederungsvereinbarung wird dann festgelegt, in welche Tätigkeitsbereiche vermittelt werden soll . Damit können
Vermittlungen unterhalb vorhandener Qualifikationen
verhindert werden . Mit dem Gesetz entfällt in Zukunft
auch die Darlehensregelung, wenn eine Maßnahme nach
Wegfall der Hilfebedürftigkeit weiter gefördert wird .
Den Teilnehmern wird es so erleichtert, die Maßnahme
abzuschließen . Außerdem müssen sie nicht mit Schulden
in die Erwerbstätigkeit starten .
Am Schluss noch zu einer mir besonders wichtigen Regelung, die auch schon Frau Staatssekretärin
Lösekrug-Möller dargestellt hat . Auszubildende und
Schüler, die BAföG erhalten, sollen künftig aufstockend
Arbeitslosengeld II erhalten können . Wenn eine Ausbildung allein durch die Ausbildungsvergütung nicht finanziert werden kann, ist das meistens schon der Anfang
vom Ende . Durch die Neuregelung werden Aufnahme
und Absolvierung einer Ausbildung endlich erleichtert .
Uns liegt am Herzen, dass wir für die Leistungsempfänger Verbesserungen erreichen . Ich bin überzeugt, dass
wir mit dem Gesetzentwurf die besten Voraussetzungen
dafür geschaffen haben . Auch in meiner Fraktion sind wir
noch nicht vollends zufrieden, und - Herr Schiewerling
hat es eben angekündigt - wir werden noch über unterschiedliche Änderungswünsche gemeinsam diskutieren .
Ich freue mich daher auf das Beratungsverfahren und setze auf die Zusammenarbeit auch mit Ihnen .
Ich danke Ihnen .
({1})
Vielen Dank, Herr Kollege Bartke . - Der nächste Redner in der Debatte: Kai Whittaker für die CDU/
CSU-Fraktion .
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kollegen! Politik beginnt ja
bekanntlich mit dem Betrachten der Wirklichkeit . Der
eine muss sie etwas länger betrachten als der andere, um
sie zu erkennen, aber am Ende bleibt es dieselbe Wirklichkeit . Wenn ich mir die eine oder andere Rede der Opposition hier anhöre, dann habe ich den Eindruck, dass
Sie heute beim Betrachten noch etwas Nachhilfe brauchen .
({0})
Ich bin meinem AG-Chef Karl Schiewerling sehr
dankbar dafür, dass wir heute dieses Gesetz auf den Weg
bringen können, in dem wir nicht nur die technischen
Vereinfachungen bei Hartz IV, auf die sich Bund und
Länder geeinigt haben, durchsetzen,
({1})
sondern auch noch einmal den Instrumentenkasten in
den Blick nehmen . Warum ist der Instrumentenkasten so
wichtig? Uns, der Union, ist es wichtig, Menschen wieder in Arbeit zu bringen anstatt sie teuer und ineffizient
zu verwalten . Das ist der Punkt, den wir mit dieser Reform machen .
({2})
Menschen, die lange arbeitslos sind, haben viele soziale Probleme und einen langen und steilen Weg zurück in
die Arbeitswelt vor sich . Sie brauchen Hilfe, indem wir
ihnen eine Treppe in diesen ersten Arbeitsmarkt bauen .
Mit diesem Gesetz bauen wir ein paar Stufen in diese
Treppe ein .
({3})
Ich möchte heute auf eine dieser Stufen hinweisen,
weil sie mir persönlich sehr wichtig ist, nämlich die
Öffnung der Integrationsbetriebe . Ich halte das für einen Meilenstein . Denn wir, die Union, waren immer der
Ansicht, dass wir lieber Arbeit als Nichtstun finanzieren.
Diese Integrationsbetriebe schaffen genau das . Sie sind
ein gutes Beispiel . Sie sind ein Erfolgsmodell . Das ist
der Unterschied zwischen uns und Ihnen: Sie wollen
Langzeitarbeitslose in einem sogenannten dritten sozialen Arbeitsmarkt parken und sie so aus der Statistik heraushaben,
({4})
weil Sie den Glauben an diese Menschen verloren haben .
({5})
Das ist die Wahrheit . Wir hingegen möchten mit den
Integrationsbetrieben ein Mittel finden, wie wir diese
Menschen wieder in den ersten Arbeitsmarkt zurückbekommen . Diese Integrationsbetriebe sind kein dritter
Arbeitsmarkt, und sie arbeiten auch nicht im zweiten
Arbeitsmarkt, sondern sie sind mittendrin im wirtschaftlichen Leben im ersten Arbeitsmarkt . Deshalb halte ich
diesen Schritt für wichtig .
Wir öffnen den Arbeitsmarkt für schwerbehinderte
Langzeitarbeitslose . Es ist zugegebenermaßen eine vorsichtige Öffnung, weil wir die Integrationsbetriebe auch
nicht überlasten wollen . Aber für über 80 000 Menschen
in diesem Land ist das eine echte Perspektive, ein erster
kleiner Schritt . Jede große Reise beginnt eben mit dem
ersten Schritt . Deshalb bin ich darüber sehr glücklich .
({6})
Es gibt im Gesetzentwurf noch viele weitere Verbesserungen, die schon angesprochen worden sind: Wir führen ein Profiling ein. Da machen wir nichts anderes, als
die Stärken der Langzeitarbeitslosen zu analysieren, um
zu erfahren, was sie können und wo wir sie noch fördern
können . Wir führen für Langzeitarbeitslose, die wieder
in den ersten Arbeitsmarkt kommen, eine nachgehende
Betreuung ein, damit sie stabil bleiben und nicht in die
Langzeitarbeitslosigkeit zurückfallen . Wir machen auch
im Bereich der Ausbildung etwas .
57 Prozent der Langzeitarbeitslosen haben keine
Ausbildung . Würden sie eine machen, verdienten sie
mit ihrem Azubigehalt weniger, als wenn sie weiterhin
Hartz IV bekämen . Das habe ich nicht verstanden, das
haben wir nie verstanden, und deshalb ändern wir das
jetzt, indem wir Hartz IV für Langzeitarbeitslose, die
eine Ausbildung machen wollen, öffnen .
({7})
Gibt es noch Potenzial nach oben, Herr StrengmannKuhn? Natürlich gibt es das . Es handelt sich um einen
Gesetzentwurf der Ministerin . Das parlamentarische Verfahren beginnt erst . Jetzt sind wir gefordert . Ich denke, in
den nächsten Wochen werden wir noch einige Verbesserungen in das Gesetz einfließen lassen können.
Jetzt können Sie uns vorwerfen, das alles sei nur ein
Reförmchen .
({8})
Aber den Vorwurf, dass die Große Koalition nur noch
kleine Gesetze durchbringt, lasse ich Ihnen nicht durchgehen . Denn wenn man sich grundsätzlich über Hartz IV
unterhält, dann muss man feststellen, dass man auch bei
Ihnen nicht wirklich fündig wird . Sie möchten Hartz IV
am liebsten abschaffen: Augen zu, Geld an die Langzeitarbeitslosen überweisen und versprechen, dass Deutschland ein Land ist, in dem Milch und Honig fließen.
({9})
Aber Sie bringen mit diesen Maßnahmen keinen einzigen
Menschen zusätzlich in Arbeit .
Zugleich versteifen Sie sich nur auf das Thema „Sanktionen abschaffen“. Auch da hilft, finde ich, die Betrachtung der Wirklichkeit . Wir haben letztes Jahr gelernt,
dass die Sanktionsrate in diesem Land bei circa 1 Prozent
der Fälle liegt . 1 Prozent!
({10})
In Großbritannien sind es 5 Prozent, in den Niederlanden
sind es 35 Prozent . Wenn Sie sagen, dass in Deutschland
eine Herrschaft des Sanktionsregimes besteht, muss ich
Ihnen entgegnen: Das ist nicht der Fall. Ich finde, wir
sind, was Sanktionen angeht, ziemlich harmlos unterwegs .
({11})
Von den Grünen höre ich die Sätze, dass man das Verfahren vereinfachen und Hartz IV einfacher gestalten
möchte . Das möchte ich auch sehr gerne . Aber wenn man
sich Ihre Anträge anschaut, stellt man fest, dass sie genau das Gegenteil bewirken würden . Sie wollen letztlich
eine komplett individuelle Betrachtung der Leistungen
der Menschen . Für jeden einzelnen Euro, der ausgezahlt
wird, soll eine individuelle Auswertung, eine individuelle Einschätzung vorgenommen werden, damit sich am
Ende keiner beschweren kann . Damit sorgen Sie nur für
Bürokratieaufwuchs .
({12})
Wir brauchen eigentlich genau das Gegenteil, nämlich
mehr Pauschalierung .
({13})
Wir bräuchten Pauschalierung bei den Wohnkosten, wir
bräuchten Pauschalierung bei den Bagatellgrenzen etc .
pp . Aber davon ist bei Ihnen momentan wenig zu sehen .
Sie verlieren sich im Klein-Klein .
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenbemerkung
oder -frage von Frau Kipping?
So kurz vor dem Ende meiner Rede, ehrlich gesagt,
nicht mehr . Nein, danke .
Ich möchte noch einmal deutlich machen: Wenn wir
Hartz IV reformieren wollen, brauchen wir Pauschalierungen in der Art, wie ich es gerade gesagt habe . Wir
brauchen auch eine wesentlich bessere individuelle Betreuung der Menschen .
({0})
Denn wenn die Hälfte der Jobcenter-Mitarbeiter nichts
anderes zu tun hat, als auszurechnen, wie viel Euro ein
Mensch am Ende des Monats überwiesen bekommt,
dann helfen wir zu wenig und verwalten zu viel .
({1})
Da müssen wir noch einmal ran . Ich muss aber ehrlich
sagen: Ich sehe weder bei Ihnen von den Linken noch bei
Ihnen von den Grünen den Willen, das zu tun .
({2})
Wenn ich in die Gesichter hier schaue,
({3})
denke ich, dass ich Ihnen bei der Betrachtung der Wirklichkeit auf die Sprünge geholfen habe . Zumindest bestätigt sich Schopenhauers Aussage, der einmal festgestellt
hat:
Im Reiche der Wirklichkeiten ist man nie so glücklich wie im Reiche der Gedanken .
Ich danke Ihnen .
({4})
Vielen Dank, Herr Kollege Whittaker . - Das Wort zu
einer Kurzintervention hat die Kollegin Kipping .
Herr Whittaker, Sie haben ja versucht, uns zu belehren, und den Eindruck erweckt, dass es Sanktionen nur
bei 1 Prozent der Fälle gibt . Deswegen sei das alles nicht
schlimm . Dazu muss ich sagen: Da sind Sie schlecht informiert . Ich beziehe mich hier auf Zahlen, die uns die
Bundesregierung als Antwort auf eine Anfrage geliefert
hat: Es sind 3 Prozent aller infragekommenden Personen,
die sanktioniert werden . Wenn man zusammenzählt, wie
viele Sanktionen verhängt worden sind, so stellt man fest,
dass es im letzten Jahr fast 1 Million, nämlich 980 000,
waren . Bei den unter 25-Jährigen, bei den Jugendlichen
liegt die Rate der Betroffenen sogar bei 4 Prozent .
Hinzu kommt: Nicht nur diejenigen, gegen die tatsächlich eine Sanktion verhängt worden ist, sind davon
betroffen, sondern auch viele andere, weil die Möglichkeit einer willkürlichen Kürzung wie ein Damoklesschwert über vielen hängt . Das führt natürlich auch zu
entsprechenden Ängsten .
({0})
Herr Whittaker, Sie haben die Möglichkeit zu einer
Erwiderung .
Vielen Dank . - Frau Kollegin Kipping, ich beziehe
mich auf eine Studie von Spermann, die vorletztes Jahr
herausgekommen ist . Da ist von 1 Prozent die Rede .
Aber ob es jetzt 1, 2 oder 3 Prozent sind:
({0})
Im europäischen Vergleich ist Deutschland nicht das
Land, als das Sie es hinzustellen versuchen . Es ist nicht
so, dass wir hier mit der Sanktionsmachete herumlaufen
und die Menschen in Angst und Schrecken versetzen .
Das Gegenteil ist der Fall: Wir versuchen, zu helfen, wo
wir können . Andere Länder sind da wesentlich strenger
unterwegs . Deshalb ist Ihre Aussage schlicht und ergreifend eine politische Nebelkerze .
({1})
Vielen Dank, Herr Kollege . - Der letzte Redner in der
Debatte - wir haben ja viel vom bayerischen Löwen geredet; jetzt kommt der Löwe aus dem Allgäu -: Stephan
Stracke .
({0})
Liebe Frau Präsidentin, vielen herzlichen Dank für das
sehr schöne Intro . - Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Arbeitsmarkt in Deutschland ist tatsächlich
in einer hervorragenden Verfassung . Dazu trägt Bayern
als Jobmotor und Stabilitätsanker in vielen Bereichen
maßgeblich bei . Wir haben weniger Arbeitslose, mehr
sozialversicherungspflichtig Beschäftigte und deutlich
über 630 000 offene Stellen. Davon profitieren natürlich
auch diejenigen, die sich auf dem Arbeitsmarkt schwertun: Ältere, Menschen mit Behinderung, aber auch Langzeitarbeitslose .
Sicherlich ist auch die Erkenntnis richtig, dass Langzeitarbeitslose zu wenig von dieser Entwicklung profitieren. Dabei haben wir schon einiges auf den Weg
gebracht, um in diesem Bereich für Verbesserungen zu
sorgen . Der Schlüssel liegt aber vor allem in einer persönlichen Beratung vor Ort . Genau da setzt der vorliegende Gesetzentwurf an . Mit diesem Gesetzentwurf
werden das Leistungs- und Verfahrensrecht des SGB II
und damit die Arbeit der Jobcenter deutlich vereinfacht .
Unnötige Bescheide, Anrechnungsregeln, Verfahrensvereinfachungen - auf all das zielt der Gesetzentwurf ab,
und wir nehmen damit in diesem Bereich eine zentrale
Weichenstellung vor . Diese Erleichterungen sind in der
Tat überfällig .
Hierüber gab es schon eine lange Debatte . Es wurden
durch eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe Vorbereitungen
getroffen . Mich erstaunt, wie viele Vorschläge hier neuerdings vonseiten der Bundesländer auf den Tisch gekommen sind . Ich glaube, im Rahmen der anstehenden
Debatte müssen wir uns auf das Wesentliche konzentrieren und dürfen uns nicht mit der Beratung kleinteiliger Vorschläge verzetteln . Ich bin auf die entsprechende
Sachverständigenanhörung gespannt, die wir in diesem
Bereich vornehmen wollen .
Interessant ist im Rahmen dieser Debatte, welche Vorschläge vonseiten der Opposition unterbreitet werden .
({0})
Oftmals zielen diese Vorschläge darauf ab, die Zielrichtung des Gesetzes zu sprengen. Sie stellen häufig ein
ganzes Sammelsurium dar . Entscheidend ist aber wohl
die Frage der Sanktionen . Die Linken fordern eine sanktionsfreie Mindestsicherung . Die Grünen positionieren
sich mit der Forderung, die Sanktionen auszusetzen .
Dem stellen wir entgegen: Wir halten an Sanktionen fest,
weil wir sie für richtig erachten . Jeder hat Verantwortung: Verantwortung für sich, aber auch Verantwortung
gegenüber denjenigen, die einem helfen und einen unterstützen . Deshalb ist es nur fair, dass es keine Leistung
ohne Gegenleistung gibt .
Für uns gilt das Prinzip des Förderns und Forderns .
Dass der diesem Prinzip zugrundeliegende Gedanke jetzt
auch von der Koalition noch einmal unterstrichen wird,
zeigen die Ergebnisse des Koalitionsausschusses . Wir
haben uns dort darauf verständigt, ein Integrationsgesetz
auf den Weg zu bringen, gerade unter dem Leitgedanken
des Förderns und Forderns . Das ist genau das Richtige .
Was wir nicht tun, ist, zu lasche Sanktionen zu verhängen . Deswegen haben wir uns dagegen gesperrt .
Wir sperren uns allerdings nicht gegen Vereinfachungen im Sanktionsrecht, etwa was Pauschalierungen oder
anderes angeht . Aber Sanktionen müssen weiter wirksam
bleiben . Sie müssen weiterhin wirksame Anreize bieten,
damit diejenigen, die mit den Jobcentern zu tun haben,
mit diesen kooperieren, aktiv nach Arbeit suchen und
insgesamt rascher eine Arbeit aufnehmen . All dies ist in
diesem Bereich unumstritten .
({1})
Wenn wir über bestehende Instrumente reden, die wir
unter Umständen gemeinsam ausbauen wollen, dann
muss allerdings noch eine andere Sache stimmen, nämlich die Sicherstellung der Mittelausstattung der Jobcenter und eine faire Verteilung der Finanzlasten auf alle
Bundesländer . Es gilt ja: Ohne Geld ist vieles nichts .
Deswegen muss es auch um die Verteilung der Eingliederungsmittel im SGB II gehen . Das tun wir im Bereich
der Flüchtlinge, indem wir dem Grundsatz folgen: Das
Geld soll dorthin fließen, wo die Arbeit anfällt. Wir müssen noch genauer hinschauen, wo die Arbeit tatsächlich
anfällt . Zum anderen müssen wir auch sehen, dass die
Gelder dorthin fließen, wo die Langzeitarbeitslosen sind.
In Teilen Deutschlands, auch in Bayern, haben wir es mit
Menschen zu tun, die sich in einer Situation verfestigter
Langzeitarbeitslosigkeit befinden. Für diese sind höhere
Aufwendungen nötig, um ihnen gute Chancen zu geben .
Deswegen müssen wir die Mittelausstattung noch einmal
verändern . Das werden wir im Rahmen der anstehenden
Beratungen zu einem der Kernbestandteile machen .
Ich freue mich auf die Beratungen . Ich glaube, das
führt dazu, dass wir diesen Gesetzentwurf noch besser
machen . Die Vorlage ist ganz ordentlich .
Herzliches Dankeschön!
({2})
Vielen Dank, Herr Kollege Stracke . - Damit schließe
ich die Aussprache .
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/8041, 18/8076 und 18/8077 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen . - Sie sind damit einverstanden . Dann sind die
Überweisungen so beschlossen .
Bevor ich den nächsten Tagesordnungspunkt aufrufe,
bitte ich alle, die nicht zuhören oder sich beteiligen wol-
len, um beschleunigte Platzwechsel .
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 21 a bis 21 d auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia
Kotting-Uhl, Annalena Baerbock, Bärbel Höhn,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
30 Jahre Tschernobyl, 5 Jahre Fukushima Atomausstieg konsequent durchsetzen
Drucksache 18/7656
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-
schätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia
Kotting-Uhl, Annalena Baerbock, Bärbel Höhn,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Atomkraftwerk Cattenom sofort abschalten
Drucksache 18/7668
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia
Kotting-Uhl, Kai Gehring, Dr . Franziska
Brantner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Keine öffentlichen Forschungsgelder für den
Wiedereinstieg in atomare Technologien 6. Energieforschungsprogramm vollständig in
Richtung Energiewende weiterentwickeln
Drucksache 18/5211
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({2})
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({3})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicher-
heit
Federführung strittig
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Energie ({4}) zu dem Antrag der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, Annalena Baerbock,
Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Für mehr Transparenz in der Internationalen
Atomenergie-Organisation sowie eine starke
und unabhängige Weltgesundheitsorganisation
Drucksachen 18/7658, 18/8101
Ich würde gerne die Debatte eröffnen . Ich bitte die
Kolleginnen und Kollegen, mir nicht den Rücken zuzudrehen, sondern Platz zu nehmen, damit wir mit der Debatte beginnen können .
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . - Auch dazu
höre und sehe ich keinen Widerspruch . Dann ist das so
beschlossen .
Ich gebe der ersten Rednerin in dieser Debatte das
Wort . Das ist Sylvia Kotting-Uhl für Bündnis 90/Die
Grünen .
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Der 26 . April 1986 hat sich mir, damals
Mutter mit kleinen Kindern, als Datum unauslöschlich
eingebrannt . Natur, vor allem Regen, war plötzlich gefährlich, meine alternative Selbstanbauerei ungesünder
als alte Konserven, Leben und Vertrauen in das Dasein
plötzlich auf den Kopf gestellt und alles Handeln geprägt
von der Sorge, die Kinder zu schützen . Was war das alles
für ein Federstrich im Vergleich zum Leben der Menschen um Tschernobyl herum bzw . in Weißrussland - das
Land, das den größten Niederschlag des atomaren Fallouts zu ertragen hatte .
Schauen wir heute nach Tschernobyl, dann sehen wir,
dass der damals von den Liquidatoren unter dem Einsatz der eigenen Gesundheit aufgebaute Sarkophag vor
sich hin rottet . Das Gelände hat sich zu einem tödlichen
Biotop entwickelt . Menschen kämpfen um ein bisschen
Entschädigung vom Staat . Spricht man mit ihnen, dann
hört man: Die meisten von ihnen leiden unter einem geschwächten Immunsystem . Sie haben Angst vor Krebs . Junge Frauen, die Kinder von Tschernobyl, die nun ihrerseits Kinder bekommen, haben, leider berechtigt, eine
sehr viel größere Angst als Frauen an anderen Orten der
Welt, Kinder mit Schädigungen zur Welt zu bringen .
30 Jahre danach muss man sagen: Es ist noch lange nicht
vorbei .
Spreche ich mit Menschen in Fukushima, dann erfahre ich, dass auch dort die Angst um die Kinder präsent
ist . Auffällig sind Anomalien an ihren Schilddrüsen .
Bauern haben Sorge, ihre Existenzgrundlage vollständig
zu verlieren, auch wenn sie nicht in belasteten Gebieten leben; denn keiner in Japan will ihre Produkte mehr
kaufen . Ähnlich geht es den Fischern in der Präfektur
Fukushima . Auch deren Fänge will niemand mehr kaufen, geschweige denn essen . Sie versuchen alles, um zu
überleben . Und auf der Anlage wird alles versucht, um
an dem Ort der Kernschmelzen die Folgen in den Griff
zu bekommen . Ich war dort, und ich kann die Menschen,
die dort arbeiten, nur bewundern . Sie schalten Hoffnung
und die Gedanken an erreichbare Ziele ihres Tuns aus,
weil sie sonst aufhören müssten . Sie versuchen alles und
wissen fünf Jahre danach: Es ist noch lange nicht vorbei .
Es gibt auch andere schwere Schicksale auf der Welt;
das ist völlig richtig . Das alles ist aber so unnötig . Atomkraft ist eine Technologie, die die Welt nicht braucht .
({0})
In Deutschland sind wir auf dem Weg, diese Erkenntnis in die Realität umzusetzen . Und die Frage, die sich
stellt, lautet: Was können wir tun, um andere Länder von
der Richtigkeit dieses Weges zu überzeugen? Das Beste,
was wir tun können, ist natürlich, ein gutes, gelingendes
Beispiel zu geben, zu zeigen, dass Atomausstieg, Klimaschutz, hoher Lebensstandard und Wirtschaftskraft
zusammengehen, ja, sich sogar gegenseitig befördern
können und sich nicht im Wege stehen .
Um glaubwürdig zu sein, muss man aber auch konsequent sein . Nicht konsequent ist es, einen Abschaltplan
für Atomkraftwerke vorzulegen, aber keinen Abschaltplan für die Urananreicherungsanlage in Gronau und die
Brennelementefabrik in Lingen .
({1})
Nicht konsequent ist es, sich nicht der Klage anderer Länder gegen die Subventionen für ein geplantes AKW-Projekt - ich rede von Hinkley Point in Großbritannien - anzuschließen . Nicht konsequent ist es auch, über Euratom
und das nationale Energieforschungsprogramm viel Geld
in die atomare Forschung zu stecken, übrigens ganz im
Widerspruch zu Ihrem eigenen Koalitionsvertrag, in dem
Sie festgeschrieben haben, dass die Energieforschung
vollständig auf die Energiewende ausgerichtet werden
soll .
Das Argument, das ich höre, wenn ich das anspreche,
lautet: Wir wollen national den Anschluss nicht verlieren . - Ich frage Sie: Den Anschluss woran, bitte? Den
Anschluss an die Weiterentwicklung einer Technologie
oder, im Falle des Ausstiegs, im Rahmen von Transmutation in den Wiedereinstieg in eine Technologie, von der
wir hier in Deutschland sagen, dass ihr Risiko der Gesellschaft nicht mehr zumutbar ist? Wie konsequent ist
das denn?
({2})
Anderen Bevölkerungen und Gesellschaften wollen wir
zumuten, was wir hier für nicht mehr zumutbar halten?
Solches Agieren macht neben der Geldverschwendung
auch unser eventuell gutes Beispiel zahnlos . Unglaubwürdigkeit ist das Ende der Überzeugungskraft .
Doch auch die deutsche Bevölkerung ist angesichts
der Alterung der europäischen Atomkraftwerke bedroht .
Die atomaren Altlasten an unseren Grenzen sind ins Gerede gekommen . Fessenheim, Cattenom, Doel, Tihange, Temelin, Beznau, Leibstadt sind Namen, bei denen
man nicht an schöne Landschaften oder kleine Städtchen
denkt, sondern an fehlende Sicherheitsvorkehrungen in
Atomkraftwerken, mangelhafte Erdbeben- oder Überschwemmungsauslegungen und an Löcher in Herzen von
Reaktordruckbehältern . Diplomatie und das Hoffen auf
das eigene Beispiel geraten dort, wo die eigene Bevölkerung bedroht ist, an ihre Grenzen .
Ursächlich für die prekäre Situation ist wieder einmal
der uralte Euratom-Vertrag . Jedes Land übt seine Atomaufsicht souverän aus - das ist die Standardantwort der
Bundesregierung auf meine Anfragen . Liebe Bundesregierung, ich vermisse Ihre Initiative zu einer Reform des
Euratom-Vertrages . Ich vermisse Ihre Initiative, diesen
Uraltvertrag, wenn er schon nicht abgeschafft werden
soll, doch zumindest so grundsätzlich zu reformieren,
dass Regelungen, wonach jedes Land völlig souverän
und ohne Rücksicht auf die Nachbarn, die von einem
GAU bedroht wären, die Aufsicht über seine Atomkraftwerke und deren Sicherheit ausübt, geändert werden .
({3})
Hans Blix sagte nach dem GAU von Tschernobyl als
damaliger Direktor der IAEO, angesichts der Wichtigkeit
der Kernenergie könne die Welt jedes Jahr einen Unfall
vom Ausmaß Tschernobyls ertragen . Ein Blick nach
Tschernobyl 30 Jahre nach dem Unfall oder nach Fukushima 5 Jahre danach macht den ganzen Wahnsinn einer
solchen Aussage klar . Lassen Sie uns mit allen Kräften
und mit allen Mitteln dafür sorgen, dass Tschernobyl und
Fukushima sich nicht wiederholen - nicht bei uns, nicht
an unseren Grenzen, nirgendwo auf der Welt!
({4})
Wir haben Ihnen heute mit unserem zugegebenermaßen umfassenden Antrag einen ganzen Katalog von Maßnahmen vorgelegt, die genau dafür Hilfestellung geben .
Ich bitte Sie, sich in den Beratungen auf uns zuzubewegen und am Ende diesen Antrag mit uns gemeinsam zu
beschließen .
Vielen Dank .
({5})
Vielen Dank, Sylvia Kotting-Uhl . - Der nächste Redner in der Debatte: Steffen Kanitz für die CDU/
CSU-Fraktion .
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir erinnern
in diesem Jahr an die katastrophalen Unfälle von Tschernobyl vor 30 Jahren und an die schrecklichen Ereignisse
von Fukushima vor 5 Jahren . Völlig unabhängig davon,
wie viele Tote wir durch diese Ereignisse zu beklagen
haben, können und müssen wir feststellen: Jedes Opfer
war eines zu viel .
Wir denken aber nicht nur an die Opfer der Vergangenheit, sondern auch an die betroffenen Menschen in
den Regionen von Tschernobyl und Fukushima, die dort
heute noch leben . Wir müssen diese Regionen mit unserem Wissen und unserer Tatkraft finanziell unterstützen
und auch weiterhin vor Ort humanitäre Hilfe leisten .
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen,
ich stimme Ihnen zu, dass diese Katastrophen und ihre
Auswirkungen ein sehr sensibles Thema sind . Jedoch ist
es, glaube ich, wichtig, dass diese Vorfälle nicht - von
keiner Seite - instrumentalisiert werden . Wir sollten vielmehr versuchen, diese Ereignisse, so schlimm sie auch
waren, sachlich einzuordnen . Übertriebene Panikmache
hilft, glaube ich, niemandem weiter . Ein Beispiel für diese Panikmache, die Sie betreiben, darf ich Ihnen kurz aus
Ihrem eigenen Antrag vorhalten . Zu möglichen weiteren
Risiken in Fukushima schreiben Sie - ich zitiere -:
Ein weiterer Störfall könnte bereits durch ein mittleres Erdbeben ausgelöst werden . Erneut könnte eine
große Menge Radioaktivität in die Atmosphäre gelangen .
Meine sehr verehrten Damen und Herren, diese Aussage ist in etwa so zutreffend wie die These, dass Sie von
einem Auto überfahren werden könnten, wenn Sie die
Straße überqueren .
({0})
Ich halte das für höchst unseriös und bitte, in Zukunft
darauf zu verzichten .
({1})
Wenn ich mir nun die inhaltlichen Punkte Ihres Antrags zu Tschernobyl und Fukushima anschaue, kann ich
Ihnen nur in Ihrem Bedauern um die vielen Opfer der Katastrophe zustimmen . Darin erschöpfen sich aber schon
unsere Gemeinsamkeiten .
Zunächst einmal verharmlosen Sie die Anstrengungen der Energiewende, die wir in Deutschland schon
geschafft haben . Als einziges Land der Welt hat Deutschland aus den furchtbaren Ereignissen von Fukushima
die drastische Konsequenz gezogen, vollständig aus der
Kernenergie auszusteigen . Das ist eine riesige Aufgabe,
der wir uns stellen, die aber erst einmal bewältigt werden
muss . Dabei gilt es zunächst die dringendsten Probleme
vor unserer eigenen Tür zu lösen, wie zum Beispiel den
Netzausbau, die Speicherproblematik bei erneuerbaren
Energien oder die auch für unsere Wirtschaft so wichtige
Grundlastversorgung .
({2})
Wir sind dabei ein gutes Stück vorangekommen . Wir haben nur noch neun Reaktoren in Betrieb . Letztes Jahr ging
Grafenrheinfeld vom Netz . Im Jahr 2017 folgt Block B
des Kernkraftwerks Gundremmingen . 2022 werden dann
alle Kernkraftwerke in Deutschland abgeschaltet sein .
Unsere Bemühungen in der Energiewende fordern
alle Beteiligten, und wir tun alles dafür, dass es - Stichwort „Kosten“ - nicht zu einer Überforderung kommt .
Die Welt wird uns erst folgen, liebe Kolleginnen und
Kollegen von den Grünen, wenn wir liefern, wenn die
deutsche Energiewende gelingt . Es reicht also nicht aus,
sozusagen immer nur zu fordern: „Folgt dem deutschen
Weg!“ Wir müssen auch unter Beweis stellen, dass dieser
Weg funktioniert .
({3})
Auch Ihre Forderung, dass Deutschland vollständig
aus der Nuklearforschung aussteigen soll, ist für mich
völlig unverständlich . Gerade für den Kompetenzerhalt
ist die Forschung von wesentlicher Bedeutung . Denn wir
müssen für den sicheren Restbetrieb und den sicheren
Rückbau der Kernkraftwerke dringend Know-how im
eigenen Land halten .
({4})
Mir ist schleierhaft, wie Sie diese enorme Aufgabe angehen wollen, wenn Sie jede Form nuklearer Forschung
verbieten wollen .
({5})
Solange wir Zwischenlager betreiben und stillgelegte Kernkraftwerke rückbauen, brauchen wir weiterhin
Kompetenz in den kommenden Jahrzehnten . Schon heute gibt es in Deutschland keinen einzigen Studiengang
mehr mit kerntechnischem Bezug . Insbesondere beim
Rückbau kerntechnischer Anlagen besitzen wir aber momentan eine einzigartige Kompetenz, für die ich werben
will und für die wir, wie ich finde, auch alle gemeinsam
in der Welt werben können, unabhängig davon, welche
politische Couleur wir haben . Mir wäre es lieber, wenn
wir international Kraftwerke zurückbauen, die vom Alter her die Höchstdauer überschritten haben, und dies mit
deutschem Know-how, mit deutschen Ingenieuren tun
würden, als wenn andere das tun . Also lassen Sie uns bei
jungen Leuten dafür werben und ihnen sagen: Hier ist
noch ein großes Zukunftsfeld vor euch . Hier könnt ihr
arbeiten .
({6})
Zudem ist Ihre Forderung, die Reaktorsicherheitsforschung vom Bundeswirtschaftsministerium in das Bundesumweltministerium zu überführen, für mich nicht
nachvollziehbar . Die nukleare Sicherheits- und auch Entsorgungsforschung ist schon jetzt ausschließlich sicherheitsorientiert . Es geht nicht um einen Wiedereinstieg in
die Kernenergie zur Stromproduktion .
Ihr Antrag zeigt aus meiner Sicht deutlich, dass die darin enthaltenen Forderungen nicht nur gegen international
gültige Grundsätze verstoßen - die Joint Convention mit
ihrem Trennungsgrundsatz ist angesprochen worden -,
sondern auch klar gegen unsere Sicherheitsinteressen gerichtet sind . Ich glaube, das ist auch der Punkt: Mithilfe
einer eigenständigen sicherheitsorientierten Forschung
will sich die Bundesregierung und wollen wir uns in
Deutschland die Kompetenz bewahren, die Sicherheit
von Kernkraftwerken in Deutschland und auch in Europa
weiterhin unabhängig beurteilen zu können und gegebenenfalls auch zu ihrer Verbesserung beizutragen .
Wir brauchen auch weiterhin die Nuklearforschung
im Bereich der Medizin, um Behandlungsmethoden
gegen Krebs zu entwickeln . Wir brauchen die Materialforschung, um Alterungsprozesse in Kernkraftwerken
prognostizieren zu können . Wenn Länder weiterhin ihre
Kernkraftwerke betreiben, dann doch am liebsten mit
deutschem Fachwissen und nach deutschen Sicherheitsstandards .
Sie wollen die sichersten Nuklearanlagen der Welt,
ohne in die dafür notwendige Forschung zu investieren .
Das ist, um einmal ein Bild zu verwenden, in etwa so, als
wenn Sie Ihre Mannschaft nach der ersten Halbzeit vom
Platz nehmen und den Gegner bitten, den Spielbetrieb
einzustellen . Mit dieser Einstellung, liebe Kolleginnen
und Kollegen, überzeugen Sie kein Nachbarland davon,
unsere Sicherheitsstandards zu übernehmen .
({7})
Gerade in puncto Sicherheit gibt es noch einen weiteren Aspekt, bei dem ich ein sehr sensibles Vorgehen
für geboten halte . Diesbezüglich werden aber, wie ich
glaube, in Ihrem Antrag sehr bewusst oder auch unbewusst Ängste geschürt: Stichwort „Sicherheit der europäischen Kernkraftwerke“ . Es ist ja vollkommen richtig,
dass wir meldepflichtige Ereignisse nicht verharmlosen
dürfen, sondern einordnen müssen . Das Beispiel Belgien
ist genannt worden . Die Terrorangriffe in Brüssel und die
Berichterstattung dazu, die uns in den Tagen danach erreichte, waren durchaus besorgniserregend . Da hieß es in
Bezug auf Tihange, dass Betriebspersonal evakuiert worden sei . Und die Menschen haben den Eindruck bekommen, dass möglicherweise ein Anschlag kurz bevorsteht .
Insofern ist es wichtig, einzuordnen, was passiert ist:
Nach den schrecklichen Anschlägen von Paris hat sich
Belgien entschlossen, eine allgemeine Sicherheitsstufe 3
auszusprechen, was dazu führte, dass auch kerntechnische Anlagen unter besonderen Schutz gestellt wurden .
Als sich dann dieser schreckliche Anschlag in Brüssel
ereignete, wurde die Terrorwarnstufe auf 4 erhöht, was
zwangsläufig dazu führte - so ist es in jedem Handbuch
vorgesehen -, dass das Betriebspersonal auf ein Minimum reduziert wurde . Es gab also keine überhastete
Rückführung, keine Evakuierung der Menschen, sondern
das war ein ganz normaler Vorgang, sofern man in diesem Zusammenhang davon sprechen kann .
Noch ein paar Worte zu Ihren Ausführungen zur
Brenn elementeherstellung bei ANF in Lingen . Sie tun in
Ihrem Antrag so, als würden dort Massen von hoch radioaktivem Abfall produziert . Ich war selbst dort und habe
die Pellets in der Hand gehalten . Ich hatte einen Handschuh an . Der Handschuh diente nicht meinem Schutz,
sondern dem Schutz der Pellets . Ich bin nicht verstrahlt
worden . Es fallen eben keine hoch radioaktiven Abfälle
an, sondern einzig und allein schwach radioaktive Abfälle in Form von Schutzkleidung und Reinigungsmaterial .
Ein ganz wesentlicher Punkt ist: Lingen ist nicht nur
in der Lage, Brennelemente zu fertigen, sondern auch
dazu, alte aktivierte Brennelemente auseinanderzunehmen . Das ist eine ganz wesentliche Voraussetzung für die
Herstellung von Brennstofffreiheit beim Rückbau von
Kernkraftwerken .
Zudem bildet Lingen qualifizierten Nachwuchs in Sachen Strahlenschutz aus . Das führt dazu, dass wir kerntechnisches Know-how für den Rückbau von Kernkraftwerken in Deutschland erhalten .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum
Schluss . 2016 ist das Jahr der Entscheidung für das
Gelingen des sicheren und zeitnahen Ausstiegs aus der
Kern energie . Die Aussicht auf ein Endlager für hoch radioaktive Abfallstoffe ist ein wesentlicher Schlüssel dafür,
dass wir bis 2022 aussteigen und die Hinterlassenschaften der Kernenergie auch für zukünftige Generationen sicher entsorgen können . Herr Trittin, die Finanzierung bildet die Grundlage . Der Bericht der Endlagerkommission
bildet den Rahmen . Ebenfalls wollen wir in diesem Jahr
das Standortauswahlgesetz novellieren . Ich möchte alle
Beteiligten herzlich bitten, diesem Zeitplan zu folgen .
Nach meinen Ausführungen wird es Sie nicht verwundern, dass ich Ihrem Antrag zum jetzigen Zeitpunkt nicht
folgen kann .
Vielen Dank .
({8})
Vielen Dank, Kollege Steffen Kanitz . - Der nächste
Redner in der Debatte: Hubertus Zdebel für die Linke .
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! In
diesen Tagen gedenken überall auf der Welt Menschen
der Atomkatastrophen von Fukushima und Tschernobyl,
die für Hundertausende Menschen Leid, Tod und Vertreibung zur Folge hatten und noch immer zur Folge haben .
Beide Katastrophen müssen für uns alle eine Mahnung
sein, dafür einzutreten, dass sich so etwas nirgends auf
der Welt wiederholt .
({0})
Die Atomenergie ist in allen Anwendungen derart zerstörerisch und letztlich nicht zu beherrschen, dass wir
sie aus dieser Welt verbannen müssen, sowohl in Form
von Atomwaffen als auch als Stromerzeugungsenergie in
Atomkraftwerken .
({1})
Wir Linken haben bereits in der letzten Sitzung angesichts der Jahrestage der Katastrophen von Fukushima
und Tschernobyl und unter dem Eindruck der Ereignisse zum Beispiel um die Risikoreaktoren Tihange, Doel,
Cattenom und Fessenheim und andere einen Antrag in
den Bundestag eingebracht, der in vielen Punkten die
gleiche Stoßrichtung wie die nun vorgelegten Anträge
der Grünen hat . Wir müssen den Ausstieg in Deutschland forcieren . Wir müssen dabei auch die bislang beim
Atomausstieg vergessenen Uranfabriken in Gronau und
Lingen endlich einbeziehen .
({2})
Diese versorgen brandgefährliche Atommeiler nicht nur
in Belgien und Frankreich mit Brennstoff . Die deutsche
Beihilfe zu einem nächsten Super-GAU im Ausland
muss beendet werden, am besten sofort .
({3})
Dazu gehört auch, dafür zu sorgen, dass die Konzerne,
die sich jahrzehntelang eine goldene Nase mit der Atomenergie verdient haben, für die Milliarden Euro an Kosten des Atomausstiegs tatsächlich aufkommen und dass
diese Kosten nicht bei den Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern landen .
({4})
Deswegen fordert die Linke gerade mit Blick auf die für
Juni geplante Aufspaltung von Eon, das Nachhaftungsgesetz endlich im Bundestag zu verabschieden .
({5})
Es ist ein absoluter Skandal, dass das die ganze Zeit von
der CDU/CSU-Fraktion blockiert wird, mit allen Milliardenrisiken, die damit verbunden sind .
({6})
Da radioaktive Wolken keine Grenzen kennen, müssen die Atomgefahren in Europa insbesondere mit Blick
auf die Uraltreaktoren verringert werden . Die Ängste
der Menschen in den Grenzregionen zu Frankreich und
Belgien - fahren Sie einmal nach Aachen! - sind weder
irrational noch übertrieben . Hier kann und darf sich die
Bundesregierung nicht länger diplomatisch zurückhalten
und der Atomlobby im Ausland das Feld überlassen . Es
braucht einen Atomausstieg in Europa, und das muss die
Bundesregierung in ihrem Handeln in allen europäischen
Gremien endlich deutlich machen . Sie muss die Initiative
ergreifen und Vorschläge entwickeln .
({7})
Das gilt auch für den Euratom-Vertrag; denn Euratom
verfestigt die Förderung der Atomenergie und dient einzig der Atomlobby . Wir fordern stattdessen, den Euratom-Vertrag aufzulösen und zu einer Einrichtung einer
alternativen europäischen Gemeinschaft zur Förderung
von erneuerbaren Energien und Energieeinsparungen zu
kommen . Das wäre der richtige Weg .
({8})
In diesem Sinne freuen wir uns, gemeinsam mit den Grünen in den Ausschüssen für eine europäische Atomausstiegsdebatte mehr Druck auf die Regierung zu machen .
Es gibt Gründe genug, die Atommeiler endlich abzuschalten .
Ein neuer und beklemmender Grund sind die wachsenden Terrorgefahren . Die Ereignisse in Belgien und
Frankreich sollten uns allen eine Warnung sein . Erst gestern war zu lesen, dass Terrorverdächtige eventuell auch
die ehemalige Atomforschungsanlage in Jülich ausgespäht haben . Das sei nur einmal erwähnt, auch wenn es
nun unterschiedliche Meldungen dazu gibt . Es ist bislang
nicht geklärt, ob das stimmt .
({9})
- Hören Sie lieber zu!
Unabhängig davon wurde gestern bekannt, dass im
AKW Philippsburg in Baden-Württemberg ein Mitarbeiter eine regelmäßige Prüfung an einem Störfallmonitor
zwar dokumentiert, tatsächlich aber nicht durchgeführt
hatte . Gleiches hat sich offensichtlich auch am AKW Biblis in Hessen 2014 und 2015 ereignet . Das spricht in
erster Linie für schwere Mängel in der Sicherheit . Wir
Linken erwarten, dass sich die Bundesatomaufsicht dieser Fälle annimmt und den Ausschuss für Reaktorsicherheit umfassend über diese ganzen Vorgänge informiert .
({10})
Ich sage zum Schluss noch etwas zu Herrn Kanitz .
Richtig ist: Wir sollten keine Panik machen . Da stimme ich Ihnen ausdrücklich zu . Aber die Relativierung,
die Sie dauernd betreiben, geht meines Erachtens auch
nicht . Richtig ist vor allen Dingen, dass die noch in Betrieb befindlichen AKWs, die zur Stromproduktion nicht
gebraucht werden, ein viel zu großes Risiko darstellen .
Das wird immer deutlicher . Wir haben die Alternative,
die Gefahren zu reduzieren, bevor es zu spät sein könnte .
Abschalten heißt die einzige Möglichkeit .
Danke für Ihre Aufmerksamkeit .
({11})
Vielen Dank, Hubertus Zdebel . - Die nächste Rednerin ist Rita Schwarzelühr-Sutter für die Bundesregierung .
({0})
Rita Schwarzelühr-Sutter, Parl . Staatssekretärin bei
der Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit:
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Den Atomausstieg konsequent durchsetzen - was heißt das? Ich glaube, am heutigen Tag ist es
wichtig, zu sagen, dass die Atomenergie aus unserer heutigen Sicht eine Sackgasse war, eine technologische Entwicklung, die einfach nicht zukunftsfähig ist . Orte wie
Tschernobyl und Fukushima sind uns eine Mahnung und
sollten uns auch in der nächsten Zeit immer wieder daran
erinnern .
({1})
Wir haben uns in Deutschland konsequent auf den
Weg gemacht . Wir haben zuerst 2001/2002 unter einer
rot-grünen Bundesregierung den Atomausstieg beschlossen . Viele haben sich den Atomausstieg damals etwas
schneller vorgestellt, aber es gab einen Kompromiss mit
den Energieversorgern . Nach der Reaktorkatastrophe
von Fukushima vor fünf Jahren ist dann der Ausstieg aus
dem Ausstieg aus dem Ausstieg tatsächlich in einem breiten politischen Konsens und vor allem gesellschaftlichen
Konsens bekräftigt worden . Ich glaube, es ist ganz wichtig, dass damals der gesellschaftliche Konsens gefunden
wurde, den man jetzt auch nicht mehr umkehren kann .
Erstmals wurden feste Daten für die Abschaltung und
die Stilllegung der Atomkraftwerke gesetzlich verankert .
Acht Reaktoren gingen 2011 vom Netz, einer letztes Jahr,
und die letzten werden dann 2022 abgeschaltet werden .
Doch sicherlich ist es damit nicht getan . Die Gefahren
von Unfällen müssen bis zum letzten Tag auf ein Minimum reduziert werden . Darüber hinaus müssen wir für
die gleiche Sicherheit sorgen, wenn wir die Atomkraftwerke stilllegen und zurückbauen . Das ist schon eine
Herausforderung; denn man muss die Kompetenz der
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, auch wenn die Atomkraftwerke abgeschaltet werden, erhalten . Das ist eine
Schwierigkeit, mit der wir uns auseinandersetzen .
Der Ausstieg aus der Atomkraft heißt auch, sich mit
den Folgefragen zu beschäftigen, nämlich der Entsorgung der radioaktiven Abfälle . Wir haben im vergangenen Jahr mit dem NaPro eine Bilanz gezogen . Wir haben
geschaut, welche Abfälle wir zu entsorgen haben . Das
war ein wichtiger Schritt . Die Kommission zur Überprüfung der Finanzierung des Kernenergieausstiegs und die
Endlagerkommission arbeiten kräftig . Ich möchte mich
an dieser Stelle ganz herzlich bei ihnen bedanken; denn
das sind Fragen, die wir heute lösen müssen und die wir
nicht vor uns herschieben können . Wir haben da eine große Verantwortung .
({2})
Wir werden auf der Basis dieser Empfehlungen die
nächsten Schritte einleiten . Die Umsetzung all dessen
kann nur gelingen, wenn die Öffentlichkeit beteiligt wird
und wir für Vertrauen und Akzeptanz auch in den Verfahren sorgen .
({3})
Gerade die letzten Wochen zeigen, dass trotz des deutschen Atomausstiegs Risiken bleiben . Radioaktivität
macht an Grenzen nicht halt . Fessenheim, das nächstgelegene französische Atomkraftwerk, liegt direkt am Rhein .
Ich will nicht immer von meiner Heimat reden . Ich bin
gut bedient mit Beznau, Leibstadt und Gösgen und den
anderen kerntechnischen Anlagen in der Schweiz . Es gibt
noch Tihange und Doel in Belgien .
Wir nehmen die Ängste und Sorgen der Bevölkerung
sehr ernst . Wir werden auch bei unseren Nachbarn nicht
lockerlassen . Wir haben von Anbeginn dieser Legislatur
an immer wieder den Dialog gesucht . Wir waren vor Ort
und haben darauf hingewiesen, dass es durch die Alterung der Atomkraftwerke Sicherheitsbedenken gibt . Wir
arbeiten mit ganzer Kraft auf ein hohes Sicherheitsniveau
hin, und wir erinnern natürlich daran, dass Zusagen zu
Abschaltungen, wie bei Fessenheim, auch eingehalten
werden .
Soweit es um die Verlängerung der Laufzeit von Reaktoren in anderen Staaten geht, haben wir gesagt: Wir
wollen eine Umweltverträglichkeitsprüfung, die verpflichtend ist. - Das ist bis heute nicht so. Frau KottingUhl, Sie haben die Souveränität der jeweiligen Staaten
bei diesem Thema hinterfragt . Aber wollen wir, die wir
auf erneuerbare Energien, auf eine Energiewende setzen,
auf unsere Souveränität bei diesem Thema verzichten?
({4})
- Das ist nichts anderes . Wir sind aktiv dabei, auf europäischer Ebene genau das Thema Sicherheit in den Mittelpunkt zu stellen . Zu betrachten ist da zum einen die Technik und zum anderen immer wieder der Mensch, wie wir
auch gestern in Philippsburg gesehen haben . Deswegen
ist die Frage der Sicherheitskultur von großer Bedeutung .
({5})
- Zur Versorgungssicherheit haben wir, wie gesagt, einen
gesellschaftlichen Konsens . Ich glaube, da sind wir in
Deutschland gut bedient .
Die deutsche Position können wir international nur
dann erfolgreich durchsetzen - da komme ich wieder zu
den Erneuerbaren -, wenn die anderen Staaten uns weiterhin als kompetent erachten . Deswegen ist der Kompetenzerhalt in unseren Gremien wichtig, und deshalb
ist es wichtig, Forschung zu betreiben, auch am KIT in
Karlsruhe, Frau Kotting-Uhl, wo es auch um Endlagerforschung geht .
({6})
Wir müssen die Kompetenz erhalten . Gucken Sie sich
doch einmal die Altersstruktur der Forscher an!
({7})
- Sie blicken immer nur zurück, Herr Trittin . Ich gucke
auch mal nach vorne . Wenn uns diese Fragen eine lange
Zeit beschäftigen, nicht nur 10 oder 20 Jahre, dann müssen wir schauen, wann die Kernphysiker in Rente gehen,
Parl. Staatssekretärin Rita Schwarzelühr-Sutter
und dafür sorgen, dass wir auch übermorgen noch welche
haben, die sich mit diesen Fragen auseinandersetzen und
uns Antworten geben .
({8})
Wenn wir den Atomausstieg konsequent fortsetzen, ist
es wichtig, dass die Energiewende nicht nur national gelingt, sondern von uns auch global vorangetrieben wird .
Wir haben schon im Vorfeld des Klimagipfels, auch zum
Beispiel im Zusammenhang mit IRENA, deutlich machen können, dass wir als Industrieland da eine Vorreiterrolle haben und dass wir sie erfolgreich übernehmen .
Deswegen denke ich, das beste Mittel, um den Atomausstieg konsequent zu betreiben, ist es, auf die erneuerbaren
Energien zu setzen . Am Ende sollte es ein ökonomisches
Argument sein, mit dem wir die anderen überzeugen, und
nicht eine Änderung des Euratom-Vertrages;
({9})
das ergibt sich dann automatisch durch die Erneuerbaren .
Herzlichen Dank .
({10})
Vielen Dank, Frau Kollegin . - Der nächste Redner:
Dr . Heinz Riesenhuber für die CDU/CSU-Fraktion .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Zum Gedenken an
Fukushima oder an Tschernobyl haben Herr Kanitz und
Frau Kotting-Uhl in eindrucksvoller Weise etwas Richtiges gesagt . Was hier heute ansteht, ist die Frage: Wie
gehen wir mit den Konsequenzen um, die wir daraus gezogen haben?
Sie schreiben in der Überschrift eines Antrags „Keine
öffentlichen Forschungsgelder für den Wiedereinstieg in
atomare Technologien“ . Das ist schon ein bisschen heikel . Das klingt so, als ob jemand von uns die Absicht
hätte, einen Wiedereinstieg in atomare Technologien
zu betreiben . Wir haben hier in diesem Hause über alle
Fraktionsgrenzen hinweg beschlossen, dass wir aussteigen . Das ist ein sehr umfassendes und grundsätzliches
Programm, ein volkswirtschaftliches Experiment von einem Ausmaß, das es noch nirgends gegeben hat .
Der gleichzeitige Ausstieg aus der Kernenergie und
aus den fossilen Energien - beides in einem begrenzten
Zeitraum - ist ein Riesenprojekt . Das gelingt nur dann,
wenn wir diese Einmütigkeit, mit der wir es damals beschlossen haben, auch jetzt, beim schwierigen Vollzug
der einzelnen Schritte, bewahren, wenn wir uns auf das
konzentrieren, was wesentlich ist und was die Sache voranbringt, und wenn wir die Schlachten der Vergangenheit hier nicht in Scharmützeln wiederholen .
Sie schreiben in Ihrem Antrag, dass der Kurs der
Bundesregierung in eine andere Richtung gehe, und Sie
bringen dann drei Beispiele . Sie sagen, Transmutation sei
eine schlimme Sache, für die die Bundesregierung Geld
ausgeben würde . Wie ist die Sachlage? Erstens ist Transmutation, wenn sie denn gelingt - da habe ich durchaus
noch offene Fragen; das Ganze befindet sich noch im Stadium der Grundlagenforschung -, eine reizvolle Idee zur
Umwandlung langlebiger radioaktiver Isotope in kurzlebigere Stoffe . Zweitens ist es eine gute Sache, wenn wir
die Menge an hochradioaktivem Abfall einschließlich die
des Plutoniums um zwei Drittel reduzieren können . Was
gibt die Bundesregierung für dieses inkriminierte Projekt
aus? Sie gibt 66 607 Euro aus, nicht 66 Millionen Euro .
({0})
Das ist gerade einmal so viel, wie ein braver Mitarbeiter
verdient, der versucht, die Rechenprogramme für die Sicherheitsanalysen dieser Technologie zu begreifen .
Erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Sylvia
Kotting-Uhl?
Aber gerne, mit Frau Kotting-Uhl rede ich mit Vergnügen . Nur stoppen Sie bitte die Uhr .
({0})
Selbstverständlich, ist doch schon passiert .
Vielen Dank, Herr Riesenhuber, dass Sie die Frage zulassen . - Die Höhe dieser Finanzmittel kann man nicht
ganz beurteilen, da ja sehr viel Geld über Euratom, woran wir mit gut 20 Prozent beteiligt sind, in die Transmutation und übrigens auch nach Karlsruhe ins KIT
fließt. Insofern ist das ein verschlossenes Buch, und wir
wissen nicht, was da genau reinfließt.
Ich möchte Sie aber zu Ihrer Aussage befragen, Transmutation sei eine gute Sache . Selbst die größten Befürworter der Transmutation gestehen zu, dass, wenn sie
denn gelingt - klar, es gibt viele Zweifel, die auch Sie teilen -, nicht der gesamte Atommüll transmutiert werden
kann . Ein Teil wird sich vermutlich dieser Transmutation
entziehen, auch der verglaste Atommüll . Das heißt, man
braucht auf jeden Fall zusätzlich ein vielleicht verkleinertes Endlager für 1 Million Jahre .
Wenn ich eine Technologie, die noch erforscht und
entwickelt wird, bewerte, dann gehe ich davon aus, dass
sie gelingt und frage mich: Möchte ich sie haben? Transmutation bedeutet - deshalb unsere Formulierung vom
„Wiedereinstieg“ -: Ich brauche eine Wiederaufarbeitung mit der entsprechenden Anlage, ich brauche eine
Brütertechnologie . Im Grunde macht das nur Sinn - so
forschen die Franzosen - in Verbindung mit der vierten
Generation von Reaktoren, weil ich mir dann zumindest
einbilden kann, dass ich einen Brennstoffkreislauf habe .
Aber auf jeden Fall brauche ich mindestens eine Wiederaufarbeitungsanlage und einen Brüter .
Parl. Staatssekretärin Rita Schwarzelühr-Sutter
Die entscheidende Frage ist nun: Macht das Sinn für
Deutschland? Ist das eine gute Sache für ein Land, das
den Atomausstieg beschlossen hat?
Sehr verehrte Frau Kotting-Uhl, was die Kosten angeht, ist es tatsächlich so: Das BMWi zahlt 66 600 Euro
für die Beteiligung an der Sicherheitsforschung mit Bezug zur Transmutation . Was die Gelder, die über Euratom fließen, angeht: Das ist komplizierter. Damit wird
die Anlage MYRRHA in Belgien finanziert. Das ist ein
Forschungsreaktor, der neben der Transmutationsforschung viele unterschiedliche Aufgaben einschließlich
der Krebsforschung hat . Das heißt also, der Reaktor an
sich macht in vieler Hinsicht Sinn, und der Beitrag, den
wir leisten, ist winzig .
Jetzt fragen Sie nach dem strategischen Ziel . Ich habe
es Ihnen gesagt: Ich habe bei der Transmutation durchaus
Vorbehalte . Aber ich werde mich hüten, bei einem Projekt, das einen Kern von Vernunft hat - und das hat es -,
im Stadium der Grundlagenforschung zu sagen: Lasst die
Finger davon . - Wir müssen für künftige Generationen
die Möglichkeiten, zwischen Alternativen zu entscheiden, erweitern, nicht verengen . Wir müssen ihnen die
Möglichkeit geben, das Neue anzuwenden . Wir müssen
hier die Forschung so offen anlegen in ihrer Freiheit, wie
sie das Grundgesetz garantiert, dass die Möglichkeiten
erhalten bleiben . Entscheidend wird dann sein, was wir
technisch daraus machen . Das ist eine ganz andere Frage .
({0})
Hier habe ich Zweifel an der technischen Vernunft des
Gesamtkonzepts - das gebe ich zu -, zumindest dann,
wenn ich mir anschaue, wie es sich heute darstellt . Ich
habe in dieser Angelegenheit gewisse Vorbehalte bezüglich der denkbaren Kosten . Ich habe Zweifel, ob
es wirtschaftlich ist . Trotzdem sage ich: Wenn wir mit
66 000 Euro den Zugang zu Wissen erhalten, das die Europäer gemeinsam erarbeiten, dann ist das etwas, was für
uns nützlich ist . Ich war immer der Auffassung, dass denken nützt - selbst in der Politik .
({1})
Ein zweites Thema spreche ich hier sehr verkürzt an .
Sie erwähnten gerade die Reaktoren der vierten Generation . Hier haben sich neun Nationen zusammengetan übrigens gehört auch Euratom dazu -, um sich sechs verschiedene Reaktortypen anzuschauen, auch unter dem
Aspekt, ob man andere Kühlmittel - metallische Kühlmittel, Helium oder was auch immer - einsetzen kann,
um die Technik sicherer zu machen: proliferationssicher,
sicher gegen Angriffe und sicher, was die Entsorgung
anbelangt . Wir beteiligen uns nicht an diesem Projekt,
sondern wir begleiten es mit einem Beitrag - er beträgt
allenfalls 4 Millionen Euro -, der allerdings schwer abgrenzbar ist . Wir schauen uns hier die Sicherheitstechniken an, damit wir sprachfähig sind .
Ein völlig anderes Thema ist die Fusion . Hier muss ich
aufpassen, sonst halte ich dazu eine Grundsatzrede . Vor
längerer Zeit, als ich angefangen habe, zu studieren, sagte man mir: Schöne Technik, dauert nur 30 Jahre . - Heute
sagen mir die Leute: Schöne Technik, 30 Jahre .
({2})
Was man aber nicht übersehen darf, ist: Wir sind immer näher an die Kriterien herangekommen, die für das
Brennen des Plasmas notwendig sind . Gegenüber den
ersten Versuchen haben wir einen Faktor von 5 Millionen
erreicht . Wir haben jetzt noch einen Faktor fünf zu meistern . Wir sind immer noch in der Grundlagenforschung;
das räume ich ein . Wir wissen nicht, ob der Stellarator
Wendelstein 7-X die richtige Technologie ist, den unsere
Leute in Greifswald mit großer Intelligenz entwickeln,
oder ob es ein Tokamak wie ITER ist . Aber wir haben
eine Chance - es wird später zu beurteilen sein, ob das
Vorhaben erfolgreich ist -, Kernfusion, die etwas völlig
anderes ist als Kernspaltung, zu betreiben . Das ist schon
interessant .
Bei einem Kernreaktor wie beispielsweise einem
Leichtwasserreaktor kann ein GAU passieren . Wir haben
darüber gesprochen . Wenn etwas bei einer Kernfusion
passiert, geht der Ofen aus . Das ist alles . Die radioaktiven Abfälle sind zudem kurzlebiger und sehr viel weniger . Die Entsorgung ist ein geringeres Problem . Trotzdem sage ich: Auch hier ist Grundlagenforschung zwar
prima . Aber wenn sich abzeichnet, dass wir es können,
müssen wir noch schauen, ob diese Sache für uns und für
die Zukunft wirtschaftlich ist .
Angesichts der von mir genannten Aspekte plädiere ich
dafür, erstens das Wissen zu erweitern und zweitens unsere Energien darauf zu konzentrieren, dass die Energiewende gelingt . Frau Kotting-Uhl, Sie haben ganz richtig
gesagt - hier kann ich nur mit Leidenschaft zustimmen -:
Die Energiewende muss so laufen, dass wir andere Länder davon überzeugen, dass sie vernünftig ist . - Das gelingt, wenn wir eine gute Forschung machen . Wir geben
hier 600 Millionen Euro für erneuerbare Energien und
Energieeffizienz im Rahmen des 6. Energieforschungsprogramms pro Jahr aus, zusätzlich 187 Millionen Euro
aus dem Energie- und Klimafonds . Das Entscheidende
ist aber die Umsetzung vor Ort: dass wir die Systeme integrieren und dass die Energieerzeugung versorgungssicher und umweltfreundlich, aber auch bezahlbar ist .
Wenn die anderen nicht sehen, dass wir es können und
dass es bezahlbar ist, dann reiten wir zwar voraus . Aber
wir sind dann ein Vorreiter in majestätischer Einsamkeit,
dem niemand folgt . Die Folge wird sein, dass wir die
Kosten für unsere Energiewende - 25 Milliarden Euro
im Jahr allein aufgrund des EEG - zu tragen haben, ohne
dass das Klima geschützt wird, weil die anderen nicht
mitmachen und uns nicht darin folgen, die Kernreaktoren
abzuschalten . Deshalb muss das System, das wir anstreben, gelingen .
Es wird entscheidend sein, dass wir nicht zu lange über
die Dinge sprechen, wo wir unterschiedlicher Auffassung
sind . Unterschiedliche Auffassungen gibt es auch; wir
sind ja verschieden . Viele von uns denken bei der Arbeit,
und deshalb kann es kritisch werden . Wir müssen aber
dort, wo wir einig sind, den Laden zusammenhalten, die
Sache voranbringen und uns auf die Lösung der eigentliSylvia Kotting-Uhl
chen Probleme konzentrieren . Die Energiewende müssen
wir insgesamt so hinkriegen, dass sich die Welt darüber
freut . Sie soll sich darüber freuen, dass die Deutschen aus
einem fröhlichen Geist heraus tüchtig sind, dass ihnen
etwas eingefallen ist und dass sie einmütig dazu stehen:
die Grünen, die CDU und sogar die CSU - und die SPD
natürlich auch .
({3})
Es wäre ausgesprochen ärgerlich, wenn wir die SPD
nicht mit der gleichen Herzlichkeit an unserer Seite willkommen hießen . Selbst die Linken mögen hier einmal
nachdenklich werden .
Wir müssen - das sollte uns gelingen - gemeinsam an
den Problemen arbeiten, und wir sollten uns nicht an den
Dingen aufhalten, wo wir durchaus ideologische Differenzen haben mögen . Vielmehr sollten wir Deutschland
voranbringen, sodass wir hier eine gute Zukunft haben,
an der sich andere erfreuen und bei deren Gestaltung sie
mitmachen wollen . Das ist besser, als einen Prozess gegen Hinkley Point zu führen . Wir müssen es so machen,
dass die Leute Lust darauf haben . „Nichts entsteht, es sei
denn aus der Lust“, sagt der heilige Augustinus . Und in
diesem Geiste wollen wir uns daranmachen, die Zukunft
zu gestalten .
({4})
Vielen herzlichen Dank, lieber Dr . Heinz
Riesenhuber . - Ganz in diesem Geiste hat als letzter Redner Marco Bülow für die SPD das Wort .
({0})
Danke, Frau Präsidentin! - Sehr geehrte Damen und
Herren! Gigantische Subventionen, ein riesiger Aufwand
über mindestens fünf Jahrzehnte hinweg, unkalkulierbare Risiken und vor allen Dingen Atommüll, wofür es immer noch kein Endlager gibt und worunter Generationen
nach uns noch zu leiden haben werden, die nie mitbestimmen durften, ob sie diese Technologie haben wollten
oder nicht: Das ist die Geschichte der Atomenergie bis
heute . Für mich ist das einer der größten Irrwege, den
die Menschen gerade im technologischen Bereich eingeschlagen haben .
({0})
Das gipfelte leider in den Katastrophen von Tschernobyl
und von Fukushima vor fünf Jahren, deren Opfern wir
in der nächsten Sitzungswoche noch gedenken werden .
Man muss sich gerade einmal Tschernobyl angucken:
Dort wurden 200 000 Quadratkilometer kontaminiert .
Das ist ungefähr viermal die Fläche der Schweiz und mehr
als die Hälfte des deutschen Gebietes . Man muss sich
einmal vorstellen, das wäre hier passiert . 300 000 Menschen haben auf Dauer ihre Heimat verloren . 600 000 Liquidatoren waren dort im Einsatz . Niemand kann genau
beziffern, wie viele davon sterben mussten . Es gab aber
auf jeden Fall sehr viele Opfer . Auch heute noch gibt es
viele, die unter der Katastrophe leiden .
Die meisten in Deutschland, auch wenn manche Zwischenrufe etwas anderes zeigen könnten, haben dazugelernt . Leider haben bei weitem noch nicht alle Länder in
Europa dazugelernt . Ich bin daher für diese Debatte dankbar, die von der Opposition ausgeht . Auch bin ich dafür
dankbar, dass wir in der Großen Koalition gemeinsam
versuchen, einen Antrag auf den Weg zu bringen . Wir laden alle ein, dabei mitzumachen . Ich bin hoffnungsfroh,
dass uns das gelingen wird . Des Weiteren bin ich dankbar, dass die Ministerin in Europa immer wieder deutlich
gemacht hat, dass der Ausstieg aus der Atomkraft nicht
das Einzelprojekt eines Landes sein darf, sondern dass
auf Dauer Sicherheit nur gewährleistet ist, wenn wir in
ganz Europa aus der Atomkraft aussteigen .
({1})
Ich will darauf zurückkommen, was es ausmacht,
wenn in Europa etwas passiert . Es wäre nicht mit dem
vergleichbar, was in Tschernobyl war . Das Land ist dort
sehr dünn besiedelt . Die Pannenreaktoren in Europa
stehen übrigens teilweise seit 40 Jahren . Wer in diesem
Raum benutzt zu Hause noch Technik, die 40 Jahre und
älter ist? Wahrscheinlich niemand . Aber gerade bei solch
einer Hochsicherheitstechnologie, bei der so viel passieren kann, wird sie noch benutzt . Die Reaktoren werden
leider nicht abgeschaltet . Wenn ein grenznahes Atomkraftwerk oder überhaupt ein Atomkraftwerk in Europa
in die Luft fliegt oder gleiche Probleme aufweist wie das
in Fukushima, dann müssten wir ganze Landstriche Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz usw . - evakuieren . Das ist eine Aufgabe, ein Horrorszenario, das ich
hier gar nicht an die Wand malen möchte . Man muss aber
sagen: Genau darüber müssen wir hier diskutieren . Wir
müssen weitermachen, müssen unser Engagement weiter
intensivieren, damit Europa am Ende frei von Atomkraft
ist . Zumindest habe ich mir die politische Aufgabe gestellt, daran weiter mitzuwirken .
({2})
Wir alle, gerade wir Deutschen, haben nach den Terroranschlägen in Belgien und Frankreich große Solidarität geübt . Aber wir müssen auch an die Solidarität der
Franzosen und Belgier appellieren und sie bitten, diese
Technologie gerade in den grenznahen Gebieten abzuschalten, auch um die Menschen hier zu schützen . Das
gehört zur Solidarität dazu . Solidarität mit Blick auf die
Terrorgefahr darf keine Einbahnstraße sein .
({3})
Zum Schluss . Die Zukunft - da möchte ich an meinen
Vorredner anknüpfen - müssen wir als Erstes im Blick
haben . Ich glaube, die Zukunft der Energie kann nur heißen: erneuerbar und effizient. Wir haben die Energiewende eingeleitet . Gerade Menschen wie Hermann Scheer,
Ernst Ulrich von Weizsäcker und Michael Müller, aber
auch viele andere stehen dafür . Ich glaube, dass der Weg
noch weit ist, und natürlich ist er nicht einfach . Ich glaube aber, dass wir nicht bremsen dürfen, dass wir nicht
stoppen dürfen und dass die erneuerbaren Energien auch
in Deutschland weiterhin unserer hauptsächlichen Aufmerksamkeit bedürfen - gerade damit wir den anderen
Ländern deutlich machen können, dass es einen anderen
Weg gibt .
({4})
Ich denke, es muss unsere nächste Aufgabe sein, genau
dafür zu sorgen . Ich glaube vor allem, dass wir es den
nächsten Generationen schuldig sind, ihnen unser Land
ohne weiteren Atommüll, ohne weitere Gefahren und mit
einer Energieform zu hinterlassen, die friedlich ist, die
sauber ist und die vor allen Dingen keinen Müll hinterlässt .
Vielen Dank .
({5})
Vielen Dank, Marco Bülow . - Damit schließe ich diese Aussprache .
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/7656 und 18/7668 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen .
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall . Dann
sind die Überweisungen so beschlossen .
Die Vorlage auf Drucksache 18/5211 soll ebenfalls an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden . Da ist aber die Federführung strittig . Die
Fraktionen der CDU/CSU und SPD wünschen Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Energie, die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht Federführung
beim Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung .
Ich lasse jetzt zuerst über den Überweisungsvorschlag
von Bündnis 90/Die Grünen abstimmen, also Federführung beim Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung . Ich frage Sie, wer für diesen
Überweisungsvorschlag stimmt . - Wer stimmt dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist abgelehnt . Zugestimmt haben Bündnis 90/Die
Grünen und die Linke, abgelehnt CDU/CSU und SPD .
Ich lasse jetzt über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU und SPD abstimmen: Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Energie . Wer
stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag
ist mit Zustimmung bei CDU/CSU und SPD und Ablehnung bei Bündnis 90/Die Grünen und der Linken angenommen .
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Energie zum
Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Für mehr Transparenz in der Internationalen Atomenergie-Organisation sowie eine starke und unabhängige
Weltgesundheitsorganisation“. Der Ausschuss empfiehlt
in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/8101,
den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 18/7658 abzulehnen . Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen .
Zugestimmt haben CDU/CSU und SPD, dagegen waren
Bündnis 90/Die Grünen und die Linke .
Jetzt kommt ein spannendes Thema . Sie sind alle herzlich eingeladen, sich zu beteiligen . Ansonsten bitte ich,
zügig die Plätze zu wechseln bzw . den Saal zu verlassen .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes
über die finanzielle Hilfe für Dopingopfer der
DDR ({0})
Drucksache 18/8040
Überweisungsvorschlag:
Sportausschuss ({1})
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . - Es gibt keinen
Widerspruch . Dann ist das so beschlossen .
Ich bitte die interessierten Kolleginnen noch einmal,
Platz zu nehmen, um dem ersten Redner würdig zu lauschen bzw . ihm zu folgen, und das ist der Parlamentarische Staatssekretär Dr . Schröder für die Bundesregierung .
({2})
- Lauschen heißt ja nicht notwendigerweise folgen; manche folgen ihm ganz sicher . - Herr Schröder, Sie haben
das Wort .
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Machenschaften der DDR-Diktatur wirken
auch nach über 25 Jahren fort . Die Opfer des DDR-Unrechtsregimes leiden noch heute . Das gilt auch für den
Bereich des staatlich organisierten Leistungssports . Ich
spreche von den Opfern des DDR-Dopings .
Ohne Rücksicht auf Gesundheit und Menschenwürde
ging es den Verantwortlichen darum, durch möglichst
viele Medaillen das sozialistische System als überlegen
und besonders leistungsfähig darzustellen . Das DDR-Regime und der DDR-Sport haben dabei unheilvoll zusammengewirkt .
Mit der Neuauflage des Dopingopferhilfefonds wollen wir das Leid der DDR-Dopingopfer anerkennen .
Das ist mir angesichts der vielen Einzelschicksale, die
unter gravierenden gesundheitlichen Folgen leiden, ein
ganz besonderes Anliegen . Auch nach so langer Zeit dürfen wir die Augen vor dem Schicksal vieler ehemaliger
DDR-Leistungssportler nicht verschließen . Sie leiden bis
heute an den gesundheitlichen Spätfolgen des Dopings .
Einige von ihnen werden jetzt denken: Wieso Opfer?
Die DDR-Leistungssportler waren doch im Vergleich zu
anderen DDR-Bürgern eher privilegiert . - Eine derartige Betrachtung greift allerdings zu kurz . Der Bundesgerichtshof hat dazu Folgendes festgestellt: „Auch wenn
die DDR-Leistungssportler keine Systemgegner waren,
so wurden sie doch zum Opfer des DDR-Systems, da ihnen ohne Rücksicht auf ihren Willen eine sogar ihrem
Wissen vorenthaltene Aufopferung ihrer Gesundheit abverlangt wurde .“
Minderjährigen wurden im zentralgelenkten DDRSport ohne deren Wissen männliche Sexualhormone
zur Leistungssteigerung gegeben . Das systematische
Doping wurde nicht nur zentral organisiert, es wurde
auch bewusst verschleiert und unterlag strenger Geheimhaltung . Den minderjährigen Sportlern und ihren Eltern
wurde weisgemacht, sie würden harmlose Vitamine und
Aufbaustoffe erhalten, und so wurden sie für staatliche
Zwecke instrumentalisiert . Dabei wurde vor nichts zurückgeschreckt . Sehr bewegt hat mich die Berichterstattung über DDR-Turnerinnen . Sie wurden als Kinder mit
Steroiden gedopt, um sie künstlich klein zu halten, um
sie dann später als Jugendliche nach ihrer Karriere mit
Wachstumshormonen wieder zu strecken . Meine Damen
und Herren, das waren großangelegte unverantwortliche
Menschenversuche .
({0})
Viele DDR-Leistungssportler haben heute bleibende
Gesundheitsschäden wie Organschädigungen und Tumore . Vor dem Bundesgerichtshof wurde ein Fall von
damals minderjährigen Sportlerinnen verhandelt . Bei
fünf der neun Schwimmerinnen wurden irreversible Gesundheitsschäden durch die Gabe künstlicher männlicher
Sexualhormone festgestellt: Stimmvertiefung, vermehrte
Körperbehaarung sowie Leberschädigungen, um nur einige Symptome zu nennen .
Lassen Sie mich noch etwas zum Hintergrund des Fonds
sagen: Bereits 2002 wurde ein Hilfefonds für DDR-Dopingopfer aufgelegt . Er endete mit dem Jahr 2007 . Aus
dem damaligen Fonds haben 194 DDR-Dopingopfer eine
finanzielle Unterstützung in Höhe von rund 10 500 Euro
erhalten . Es wurden mit Abstand nicht alle Dopingopfer
erfasst . Die Frage, die sich uns gestellt hat, ist natürlich: Was war der Grund dafür? Viele Betroffene haben
schlichtweg nichts vom Fonds aus dem Jahr 2002 gewusst, und die schweren Gesundheitsschäden als Folge
des Dopings sind teilweise erst Jahre später aufgetreten .
Auch haben viele Betroffene erst Jahre später überhaupt
einen Zusammenhang zwischen den Schädigungen und
dem Doping erkennen können .
Meine Damen und Herren, die Beratungsstelle des
Doping-Opfer-Hilfe-Vereins wurde erst 2013 gegründet und klärt seitdem entsprechend auf . All das war ein
langer Erkenntnisprozess für die Betroffenen . Deswegen
müssen wir heute davon ausgehen, dass voraussichtlich
1 000 weitere DDR-Dopingopfer nach den damaligen
Kriterien anspruchsberechtigt gewesen wären . Es ist somit ein Gebot der Gleichbehandlung, auch all denjenigen
einen Betrag in Höhe von 10 500 Euro auszuzahlen, die
nach den damaligen Kriterien des Dopingopfer-Hilfegesetzes 2002 anspruchsberechtigt gewesen wären .
Mit dem vorgesehenen Einmalbetrag in Höhe von
10 500 Euro werden wir das Leid der Dopingopfer natürlich nicht nachhaltig lindern können . Wir können es
auch nicht wiedergutmachen; das ist mir bewusst . Aber
wir wollen mit dieser Zahlung unserer moralischen Verantwortung gerecht werden .
({1})
Meine Damen und Herren, es geht darum, den Dopingopfern jetzt wirklich schnell und unbürokratisch gerecht zu werden und ihnen zu helfen . Deshalb soll der
Fonds nun erneut aufgelegt werden . Theoretisch können
die Dopingopfer auch einen Anspruch nach dem Opferentschädigungsgesetz geltend machen, doch die Hürden
sind enorm hoch, und die gestellten Anträge führen in der
Regel nicht zum Erfolg .
({2})
Aus den letzten drei Jahren sind mir gerade einmal drei
erfolgreiche Klagen bekannt . Eine Änderung des Opferentschädigungsgesetzes ist uns jedoch aus Gründen der
Gleichbehandlung nicht möglich .
Meine Damen und Herren, der vorgelegte Gesetzentwurf orientiert sich daher weitgehend am Dopingopfer-Hilfegesetz aus dem Jahr 2002 und enthält nur
die entsprechenden Anpassungen, die notwendig sind .
Anders als im Jahr 2002 legen wir jetzt einen Festbetrag
fest . Im Jahr 2002 gab es ja noch eine große Diskussion
darüber in der Regierungskoalition, damals bestehend
aus SPD und Grünen, die das nicht wollten, und der damaligen Opposition, der CDU/CSU . Die Linke, bzw . die
damalige PDS, hat sich sehr indifferent verhalten . Die
meisten haben dagegengestimmt, einige haben sich, soweit ich das richtig nachgelesen habe, enthalten .
Meine Damen und Herren, angesichts des schweren
Schicksals vieler DDR-Dopingopfer und ihres teils sehr
schlechten Gesundheitszustandes ist jetzt Eile geboten .
Die Bundesregierung hat den Gesetzesentwurf deshalb
als besonders eilbedürftig erklärt, und ich hoffe und
wünsche mir sehr, dass Sie, verehrte Kolleginnen und
Kollegen, das Zweite Dopingopfer-Hilfegesetz noch vor
der Sommerpause verabschieden und damit den Weg für
eine Auszahlung an die Dopingopfer in der zweiten Jahreshälfte frei machen .
Das Bundesministerium des Innern hat schon Anfang
des Jahres die dafür erforderlichen administrativen Vorkehrungen getroffen und das Bundesverwaltungsamt
mit den notwendigen Vorbereitungen beauftragt . Schon
heute können sich die Betroffenen an die konkreten Ansprechpartner im Bundesverwaltungsamt wenden, damit
das Geld, wenn die Voraussetzungen im Bundestag dafür
geschaffen sind, möglichst schnell zur Verfügung gestellt
werden kann .
Die Entscheidung, den Fonds neu aufzulegen - das
muss ich einräumen -, ist spät getroffen worden . Ich meine aber, nicht zu spät . Die Bundesregierung hat Verantwortung gegenüber den DDR-Dopingopfern übernommen, und wir haben gehandelt .
Ich wünsche mir, dass der organisierte Sport, der
Deutsche Olympische Sportbund als Nachfolgeorganisation des DDR-Sports ebenfalls seiner Verantwortung
gegenüber den DDR-Dopingopfern gerecht wird .
({3})
Auch wenn es Doping im staatlichen Auftrag war, so
ist der Sport natürlich nicht frei von jeglicher Schuld
gewesen . Das DDR-Regime und der DDR-Sport haben
wirklich unheilvoll, kollusiv zusammengewirkt . Daher
sollte auch der organisierte Sport seinen Beitrag leisten .
Es gibt zum Beispiel Härtefälle unter den Dopingopfern
der DDR, die einer weiteren Unterstützung bedürfen .
Hier gäbe es Möglichkeiten, sich besonders zu engagieren . Insofern appelliere ich an dieser Stelle nochmals an
den Deutschen Olympischen Sportbund, ebenfalls seiner
Verantwortung gerecht zu werden .
Vielen Dank .
({4})
Vielen Dank, Dr . Schröder . - Der nächste Redner in
der Debatte: Dr . André Hahn für die Linke .
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ein
Zweites Dopingopfer-Hilfegesetz ist seit langem überfällig . Deshalb sind wir als Linke und deshalb bin ich froh,
dass nun endlich ein Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf dem Tisch liegt . Immerhin liegen zwischen der Verabschiedung des ersten Dopingopfer-Hilfegesetzes und
dem jetzigen Entwurf 14 Jahre . Dieses erste Dopingopfer-Hilfegesetz trat 2007, also schon vor über acht Jahren,
wieder außer Kraft . Lediglich 194 Betroffene haben damals eine Entschädigung erhalten . Die Zahl der tatsächlich Anspruchsberechtigten soll deutlich höher sein . Die
Schätzungen liegen zwischen 1 000 und 2 000 ehemaligen Sportlerinnen und Sportlern . Einige von ihnen sind
inzwischen leider bereits verstorben . Umso wichtiger ist
es, dass der Gesetzentwurf jetzt nicht nur in erster Lesung
auf den Weg gebracht, sondern möglichst auch noch vor
der Sommerpause hier im Parlament verabschiedet wird .
({0})
Bis dahin sollten wir die Chance nutzen, am vorgelegten Gesetzentwurf einige Änderungen vorzunehmen . Ich
möchte aus Sicht der Linken hier nur drei Punkte nennen:
Erstens . Ich beginne mit dem Titel des Gesetzentwurfs, in dem leider wieder nur von finanzieller Hilfe
für Dopingopfer der DDR die Rede ist . Die Position der
Linken dazu ist ganz klar: Mehr als 25 Jahre nach der
deutschen Einheit sollte endlich Schluss damit sein, die
Opfer in Ost und West aufzuteilen . Das neue Gesetz muss
für alle Dopingopfer gelten, egal ob sie in der DDR oder
der alten BRD Leistungssport betrieben haben .
({1})
Auch wenn die abschließenden Ergebnisse der unabhängigen Evaluierungskommission Freiburger Sportmedizin noch nicht vorliegen - was sich zuletzt dort
abgespielt hat, ist wirklich ein Trauerspiel und wird den
Sportausschuss noch beschäftigen -, so ist inzwischen
doch wohl unstrittig, dass es in der DDR systematisches
Doping gab, dass aber eben auch in der alten Bundesrepublik in erheblichem Umfang und zum Teil mit staatlicher
Unterstützung im Leistungssport gedopt wurde . Deshalb
sollten wir endlich allen Betroffenen in Deutschland, die
die Anspruchsvoraussetzungen erfüllen, Zugang zu den
Leistungen nach dem Dopingopfer-Hilfegesetz ermöglichen, unabhängig davon, wo sie geboren wurden oder
ihren Sport betrieben haben .
({2})
Zweiter Punkt . Die Dopingopfer sollen analog
zum ersten Gesetz eine Einmalleistung in Höhe von
je 10 500 Euro erhalten . Das klingt erst einmal nicht
schlecht, ist aber mit Blick auf die zum Teil erheblichen
Gesundheitsschäden, die sie infolge des Dopings nachweislich erlitten haben, eher eine symbolische Hilfe .
Nach der Begriffsbestimmung „erhebliche Gesundheitsschäden“ in § 3 müssen die Betroffenen mehrheitlich eine
anerkannte Schwerbehinderung haben . Wer sich jedoch
mit dem Behindertenrecht und vor allem mit dem aktuell
in der Diskussion befindlichen Bundesteilhabegesetz beschäftigt, der weiß, dass die meisten behindertenbedingten Nachteile letztlich nicht ausgeglichen werden und in
vielen Fällen zu dauerhafter Verarmung der Betroffenen
und zum Teil auch zur Verarmung ihrer Angehörigen
führen . Deshalb ist unsere Verantwortung für diese Menschen mit der einmaligen Zahlung von 10 500 Euro nicht
vom Tisch . Wir brauchen eine wissenschaftliche und politische Begleitung bei der Umsetzung des Gesetzes, um
dann gegebenenfalls weitere erforderliche Maßnahmen
beschließen zu können .
({3})
Drittens . Wenn ich über Verantwortung rede, dann
rede ich auch über die Verantwortung des DOSB als
Nachfolgeorganisation der Sportverbände der alten BRD
und der DDR . Hier will ich ganz deutlich sagen: Es reicht
nicht aus, wenn der Deutsche Olympische Sportbund
zwar verbal seine Bereitschaft erklärt, konstruktive Gespräche zu führen, und betont, dass er zu seiner moralischen Mitverantwortung steht, aber immer dann kneift,
wenn es ernst wird und wenn es um eine finanzielle Beteiligung geht . Ich erwarte daher vom DOSB, dass er sich
mit einem nennenswerten Betrag an dem einzurichtenden Hilfsfonds für die Dopingopfer beteiligt .
({4})
Hier stimme ich auch Herrn Staatssekretär Schröder ganz
ausdrücklich zu .
Lassen Sie mich abschließend sagen: Das hier und
heute diskutierte Dopingopfer-Hilfegesetz ist sicher nur
ein kleiner, aber dennoch sehr notwendiger Teil in der gesamten Debatte um früheres und derzeitiges Doping im
Sport . Die Linke unterstützt im Grundsatz den vorliegenden Gesetzentwurf ebenso wie das vor wenigen Monaten
verabschiedete Anti-Doping-Gesetz und die anstehende
Gesetzesänderung zur Strafbarkeit des Sportwettbetrugs .
Wir benennen aber zugleich auch die Mängel an den Gesetzentwürfen in der Hoffnung, dass sich in der Koalition
nicht Parteidogmen durchsetzen, sondern der Sportsgeist
obsiegt und unsere konstruktiven Änderungsvorschläge
wenigstens teilweise von der Koalition übernommen
werden .
In diesem Sinne: Sport frei und herzlichen Dank .
({5})
Vielen Dank, Dr . Hahn . - Das Wort hat jetzt für die
SPD-Fraktion Michaela Engelmeier .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Unter der olympischen Idee versteht man eine Geisteshaltung, die auf der Ausgewogenheit von Körper und
Geist beruht . Sport, Kultur und Erziehung sollen in einer
Lebensweise verbunden werden, die auf Freude am körperlichen Einsatz, auf dem erzieherischen Wert des guten
Beispiels und auf der Achtung fundamental und universal gültiger ethischer Prinzipien beruht .
Zwar begrüßten in der ehemaligen DDR die Funktionäre und Trainer ihre Athletinnen und Athleten stets mit
dem Gruß „Sport frei“, doch waren die Menschen weder
frei noch konnten sie über ihren Körper frei verfügen .
So schätzen Experten, dass in der DDR von 1974 bis
1989 etwa 12 000 Sportlerinnen und Sportler systematisch gedopt wurden . Mit dem vorliegenden Entwurf zum
Zweiten Dopingopfer-Hilfegesetz möchten wir unseren
Beitrag zur öffentlichen Anerkennung leisten und stellen
für Anspruchsberechtigte insgesamt 10,5 Millionen Euro
zur Verfügung .
Der erste Fonds war ein voller Erfolg, jedoch nur für
die bereits angesprochenen 194 anerkannten Personen .
Diese Lücke der Ungerechtigkeit möchten wir heute
schließen . Gewiss kann dieser Fonds nur einen kleinen
Beitrag leisten . Kein Geld der Welt kann für das angeordnete Staatsdoping entschädigen . So leben die Menschen
und ihre Angehörigen noch heute mit den Folgen des
körperlichen Missbrauchs .
Mit der politischen Vorgabe des Staatsplans 14 .25
zum Aufbau eines geheimen und umfassenden Systems
des staatlich organisierten und erzwungenen Dopings
bei Leistungssportlern verfolgte die DDR das Ziel, den
sportlichen Ruhm des sozialistischen Vaterlandes zu steigern. Damit war dem Einsatz von perfiden Mitteln wie
der Behandlung von Minderjährigen mit männlichen Sexualhormonen Tür und Tor geöffnet . Dabei spornte jeder
Erfolg die damaligen Funktionäre noch mehr an mit dem
Ergebnis, dass die DDR insgesamt 204-mal Olympiagold
für sich verbuchen konnte . Somit bot der DDR-Hochleistungssport in besonderem Maße die Möglichkeit, internationales Ansehen zu erwerben .
Nach dem Fall der Mauer kam es zu zahlreichen Gerichtsverhandlungen . Doch statt die Ärzte für ihre Handlungen mit dem Entzug ihrer Zulassung zu bestrafen,
kamen sie meist mit geringen Strafen davon . Mehr noch:
Aufgrund ihres Wissens waren sie nun für Sportverbände
außerhalb unseres Landes interessant . Das und die derzeitigen Enthüllungen in Russland, Großbritannien usw .
zeigen, dass das Thema Doping leider sehr aktuell bleibt .
Anders als beim ersten Dopingopfer-Hilfegesetz von
2002 beteiligen sich diesmal weder der Deutsche Olympische Sportbund noch Jenapharm an der Ausgestaltung
des Fonds . Gerade von einem Pharmaunternehmen, welches heute mit dem Slogan „Liebe . Leben . Gesundheit .“
wirbt, hätte ich mir mehr Verantwortung gewünscht .
({0})
Denn es leistete durch die Herstellung von Substanzen
wie Oral-Turinabol, dem sogenannten „Blauen Blitz“,
oder Mestanolon einen enormen Beitrag zum Staatsdoping .
Der frühere Arzneimittelhersteller VEB Jenapharm
produzierte die Medikamente einzig für Dopingzwecke .
Sie waren nie zugelassen und kamen nie auf den Markt .
Der Einsatz von nicht einmal in der DDR zugelassenen
Medikamenten zur Leistungssteigerung ist durch Stasiakten und Zeugenaussagen bewiesen . Zu einem ähnlichen
Ergebnis kam übrigens 2005 auch eine vom Nachfolgebetrieb Jenapharm in Auftrag gegebene Studie . Darüber
hinaus deckt sie auf, dass das Unternehmen nicht nur
Dopingmittel produzierte, sondern auch Präparate entwickelte, die die Dopingeinnahme verschleiern sollten .
So sehen sich die Opfer im Nachgang als menschliche
Versuchsobjekte der Pharmabranche .
Schon Anfang der 1970er-Jahre waren dem Volkseigenen Betrieb Jenapharm, dem VEB Jenapharm, und
den Verantwortlichen im Sport die schädlichen Nebenwirkungen bekannt . Im Nachgang zu den Olympischen
Spielen in Montreal 1976 gab es wegen der starken Nebenwirkungen durch den „Blauen Blitz“, ein künstliches
männliches Sexualhormon, die Anordnung, die Applikation sofort auszusetzen - ohne Erfolg . Zu groß war die
Sorge, dass sich die Zahl der Siege der DDR verringern
würde. Auch die Auflistung von verbotenen Wirkstoffgruppen durch das Internationale Olympische Komitee
zwei Jahre zuvor, 1974, ließ die DDR-Staatsführung
kalt . So waren die Funktionäre weiterhin um eine systematische staatliche Lenkung des verordneten Dopings
bemüht . Den Athletinnen und Athleten hielten die damaligen Ärzte und Trainer bewusst die Information vor, was
das für Pillen, Injektionen und Spritzen waren, die sie
regelmäßig bekamen .
Heute geht es uns nicht nur um Tumorbildungen, um
Krebs als Folge jahrelanger Anabolikavergiftungen oder
um lebensgefährliche Herzerkrankungen . Nein, es geht
uns auch um Anerkennung für die Betroffenen, die nicht
nur unter den körperlichen Folgen, sondern auch unter
psychischen Belastungen leiden .
Wie die Folgen für die Athletinnen und Athleten der
DDR zeigen, ist Doping kein Wundermittel, sondern es
birgt enorme Gefahren für Körper und Geist . Deswegen
ist es uns wichtig, dass wir unseren Kampf gegen Doping
weiterführen . Dabei ist uns mit dem Anti-Doping-Gesetz
aus dem letzten Jahr ein Meilenstein gelungen . Denn immer noch greifen laut einer Studie der Deutschen Sporthilfe etwa 6 Prozent der Spitzensportler in Deutschland
zu solchen Mitteln .
Zum Schluss meiner Rede möchte auch ich an den
Deutschen Olympischen Sportbund und an Jenapharm
dringend appellieren, sich ihrer Verantwortung zu stellen . Von ihnen geleistete Zahlungen von vor zehn Jahren waren ein richtiger Schritt . Öffnen Sie Ihre Herzen,
öffnen Sie Ihre Schatullen, gehen Sie den Weg weiter,
den Sie damals beschritten haben, und beteiligen Sie sich
bitte an dem neuen Fonds!
({1})
Vielen Dank, Michaela Engelmeier . - Nächste Rednerin in der Debatte: Monika Lazar für Bündnis 90/Die
Grünen .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Endlich liegt er also vor, der Entwurf des Zweiten Dopingopfer-Hilfegesetzes . Besser spät als nie, ist man versucht zu sagen; denn die zweite Auflage dieses Gesetzes
ist mehr als überfällig . Da sind wir uns zum Glück alle einig; schließlich sind mittlerweile schon DDR-Dopingopfer gestorben . Dass wir dieses Thema hier im Bundestag
beraten, ist auch ein Verdienst der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen . Wer weiß, wie lange die Regierungskoalition dieses Gesetzesvorhaben noch hinausgezögert hätte,
hätten wir als Opposition nicht über Jahre hinweg konstant Druck gemacht .
({0})
Ich erinnere mich zum Beispiel noch sehr gut an eine
Sportausschusssitzung vor circa einem Jahr und an die
Worte des Parlamentarischen Staatssekretärs . Ich freue
mich, dass die Regierung und auch Sie, Herr Schröder,
ihre Meinung geändert haben . Bei dieser Sitzung habe
ich nämlich gedacht: Zum Glück war sie nicht öffentlich .
Ansonsten sehen wir das eher nicht so; aber das war keine schöne Auseinandersetzung, die wir geführt haben .
Allerdings ist das Ergebnis entscheidend, und das geht in
die richtige Richtung .
({1})
Mit dem Ersten Dopingopfer-Hilfegesetz konnte 2002
die Situation für viele vom DDR-Staatsdoping betroffene Sportlerinnen und Sportler zumindest vorübergehend
gemildert werden . Wie wir heute wissen, wurden Kindern und Jugendlichen zwangsweise unter anderem Anabolika und Wachstumshormone verabreicht . Wer die als
Vitamintabletten deklarierten Mittel nicht nehmen wollte, wurde meist, ohne es zu wissen, weiter gedopt, zum
Beispiel in Form von Schokolade . Die Opfer leiden heute
noch sowohl körperlich als auch psychisch .
Das Zweite Dopingopfer-Hilfegesetz ist, auch wenn
der Entwurf reichlich spät kommt, eine wichtige Sache .
Der erste Hilfsfonds hat immerhin schon - das wurde
heute schon gesagt - 194 DDR-Dopingopfer entschädigt . Aber wie wir alle regelmäßig erfahren, melden sich
immer noch weitere Opfer . Das liegt zum einen daran,
dass bei vielen erst in jüngster Vergangenheit Spätfolgen
auftraten, oder daran, dass diese Dopingopfer erst durch
die mediale Aufmerksamkeit mitbekommen haben, dass
die Krankheiten, die sie jetzt haben, eventuell auf die damalige Dopingpraxis zurückzuführen sind .
Für uns können die einmaligen Zahlungen an die
DDR-Dopingopfer allerdings nur ein Anfang sein . Sie
sind notwendig, aber nicht ausreichend .
({2})
Denn Opfer bleibender Schäden benötigen auch eine
bleibende Hilfe . Die Einmalzahlung ist wichtig, und sie
ist vor allem eine moralische Anerkennung des Zwangsdopings . Aber damit ist es noch nicht getan . Wir brauchen eine dauerhafte Unterstützung der Dopingopfer in
Form einer Rente . Deshalb setzen wir uns weiter dafür
ein, dass die DDR-Dopingopfer Zugang zu Renten nach
dem Opferentschädigungsgesetz bekommen . Es ist schon
angesprochen worden, wie langwierig und beschämend
es ist, dass die Dopingopfer jahrelang quasi Bittsteller in
den Sozialbehörden und auch vor Gericht sind .
({3})
Die Rechtsprechung der Gerichte ist leider nicht einheitlich; das Ganze ist wirklich sehr zäh . Hier gilt es, den
Dopingopfern möglichst niedrigschwellig zu helfen und
vor allem die bürokratischen Hürden abzubauen .
Es ist auch wichtig, den Dopingopfer-Hilfe-Verein,
den es ja seit Jahren gibt, und seine Beratungsstelle weiterhin finanziell und verstetigt zu fördern. Diese Förderung ist bis jetzt, so denke ich, auf einem sehr niedrigen
Level . Wir alle bekommen etwas zurück, nämlich die
fachliche Beratung . Sie ist sozusagen eine Peer-to-PeerBeratung: Betroffene beraten Betroffene .
An dieser Stelle möchte aber auch ich an den DOSB
appellieren . Als Rechtsnachfolger des DDR-SportsysMichaela Engelmeier
tems sollte auch der DOSB endlich Verantwortung übernehmen und erneut seinen finanziellen Beitrag leisten.
({4})
Die Politik hat die ersten Schritte getan . Nun ist auch der
organisierte Sport an der Reihe . An den DOSB gerichtet,
sage ich deshalb: Lassen Sie diese Menschen nicht im
Regen stehen .
({5})
Ich möchte die heutige Debatte nutzen, um an die
Dopingpraxis in Westdeutschland zu erinnern; denn
auch das gehört zu den dunklen Kapiteln der deutschen
Sportgeschichte . Heute wissen wir: In den 1970er-Jahren bekleckerten sich besonders das Bundesinstitut für
Sportwissenschaft und die Sportwissenschaftler der Uni
Freiburg in Sachen Dopingbekämpfung nicht gerade mit
Ruhm . Auch dieses Unrecht muss aufgeklärt werden .
Doping schadet nicht nur den Sportlerinnen und
Sportlern; Doping schadet auch dem Ansehen des Sports
insgesamt . Nach den Korruptionsfällen in den Spitzenverbänden ist es auch und vor allem das Doping, welches die Integrität des Sports massiv beschädigt . Lassen
Sie uns also die Aufarbeitung der Dopinggeschichte als
Ansporn dafür nehmen, jetzt und in Zukunft für einen
sauberen Sport zu kämpfen .
Vielen Dank .
({6})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Johannes
Steiniger das Wort .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich glaube,
diese Debatte hat gezeigt: Es ist ein wahnsinnig ernstes
Thema . Die Schicksale, die hier von verschiedenen Rednern beschrieben worden sind, machen betroffen .
Lassen Sie mich, bevor ich auf das Dopingopfer-Hilfegesetz konkret zu sprechen komme und dabei in medias res gehe, zunächst einen kurzen Blick darauf werfen,
was wir derzeit international in Sachen Doping erleben
müssen . Wir sehen auf der einen Seite Marokko und
Äthiopien, denen das Olympia-Aus droht, weil sie sich
dem Kampf gegen Doping verweigern . Kenia, die Ukraine und Weißrussland weisen gravierende Defizite in der
Frage der Bekämpfung von Doping auf . Der chinesische
Schwimmverband soll Ergebnisse von positiven Proben
vertuscht haben . Erst kürzlich haben wir Berichte über
Doping aus England gehört . Ich glaube, es ist nicht übertrieben, zu sagen, dass die Integrität des Sports und der
olympische Gedanke gefährdet sind .
Als Koalition machen wir deshalb Ernst im Kampf
gegen Doping und haben im vergangenen Jahr das Anti-Doping-Gesetz verabschiedet . Dass es jetzt erste Ermittlungen gibt, zeigt: Dieses Gesetz greift . In diesem
Zusammenhang zitiere ich einen ermittelnden Staatsanwalt im Fall von Doping beim Ringen . Dieser hofft, dass
sich das - Zitat - „Kartell des Schweigens“ hinter den
Dopingnetzwerken durch das Gesetz aufbrechen lässt .
Um genau ein solches Netzwerk an Hintermännern
geht es auch bei der Aufarbeitung des Zwangsdopings
in der DDR . Im DDR-Dopingprogramm waren es allerdings keine privaten kriminellen Netzwerke, sondern es
war der DDR-Unrechtsstaat selbst . Herr Dr . Hahn, das
genau ist doch der Unterschied . Es gab das privat organisierte Doping auf der einen Seite und das von der DDR
als Staat von oben herab organisierte Doping auf der anderen Seite, bei dem Sportlerinnen und Sportler ohne ihr
Wissen gedopt wurden . Die Bundesrepublik Deutschland
ist hier eben nicht der Rechtsnachfolger der DDR . Deswegen ist es richtig, wie wir an dieser Stelle das Dopingopfer-Hilfegesetz im Anschluss an das Gesetz von 2002
gemacht haben .
({0})
Im - auch das wurde schon erwähnt - sogenannten
Staatsplanthema 14.25 gipfelte das geheime und flächendeckende System, in dem, staatlich organisiert und von
oben erzwungen, Leistungssportler ohne ihr Wissen gedopt wurden . Das war vermutlich ein einzigartiger Missbrauch mit Medikamenten, ein großer Menschenversuch
durch den Staat, wie das gerade eben auch der Staatssekretär gesagt hat .
Die DDR war in der Folge eine der erfolgreichsten
Sportnationen der Welt . 1988 in Seoul beispielsweise belegte sie Platz 2 im Medaillenspiegel . Wie wir heute aber
wissen, meine sehr geehrten Damen und Herren, war
dieser vermeintliche Erfolg sehr teuer erkauft . Nicht nur
die Attribute des sauberen Sports, Fairness und Chancengleichheit, wurden nachhaltig beschädigt, sondern
auch die Athletinnen und Athleten wurden durch einen
verordneten Raubbau am eigenen Körper gesundheitlich,
teilweise massiv, geschädigt .
Wir haben heute einige Beispiele gehört . Gesundheitliche Folgeschäden sind unter anderem Krebs, Organversagen, Hormonstörungen oder Störungen des
Bewegungsapparats . Im Übrigen kann man nur jedem
empfehlen, einmal einen Blick auf die Homepage des
Vereins doping-opfer-hilfe zu werfen, auf der die Bandbreite an Krankheiten sehr genau dokumentiert ist .
Die Diskussion, die wir heute darüber führen, wie wir
den Opfern von damals helfen können, ist auch ein Signal an die Sportler, die dieser Tage vielleicht mit dem
Gedanken spielen, mithilfe von Doping ihre Leistung zu
steigern: Ihr schadet der Integrität des Sportes . Ihr werdet auch dank des Anti-Doping-Gesetzes bestraft werden . Aber vor allem: Ihr geht ein enorm großes Risiko
für eure Gesundheit ein . - Doping ist gefährlich . Doping
lohnt sich nicht . Deswegen: Finger weg von Doping!
({1})
Zurück zum Dopingopfer-Hilfegesetz . Die Zahlen zeigen das Ausmaß des Zwangsdopings in der DDR . Über
10 000 Spitzenathleten im Leistungs- und Nachwuchssport wurden zu DDR-Zeiten gedopt. Wie perfide und
systematisch gedopt wurde, zeigt sich in der Rolle des
sogenannten Sportmedizinischen Dienstes, SMD . Die
Spitzensportler in der DDR wurden nämlich nicht nur
von ihren Trainern und Betreuern bewusst hinters Licht
geführt, sondern auch von den lokalen Vereinsärzten, die
das Vertrauen der Sportlerinnen und Sportler ausnutzten
und sie täuschten .
1990 - diese Zahl ist interessant - umfasste allein der
Sportmedizinische Dienst 600 Mitarbeiter . Man sieht,
wie flächendeckend dieses Netz gewesen ist. Dessen
Mitarbeiter haben sich ausschließlich mit dem Leistungssport befasst . Hier wird deutlich, wie stark und
übermächtig der Staat auf der einen Seite war und wie
klein dagegen der einzelne Sportler auf der anderen Seite
gemacht wurde .
Im Deutschlandfunk kamen unter dem Titel „Auf der
Strecke geblieben . Die Opfer des deutsch-deutschen
Medaillenrennens“ die Schicksale ostdeutscher Zwangsdopingopfer zur Sprache . Vor allem ihre Wut und Enttäuschung kamen zum Ausdruck . Die schockierenden
Berichte darüber, zu welch krassen Mitteln sogar bei
Minderjährigen gegriffen wurde, haben verschiedene
Redner angesprochen . Die meisten Opfer haben erst Jahre nach dem Mauerfall von dem systematischen Doping
an ihrem Körper erfahren . Für die Dopingopfer war und
ist die Realisierung des Geschehenen ein schmerzhafter
Prozess. Es ist unbegreiflich und nicht zu verstehen, dass
man diese Schäden eben nicht selbst zu verantworten hat,
sondern dass andere sie einem zugefügt haben .
Das Erste und das jetzt folgende Zweite Dopingopfer-Hilfegesetz sind ein starkes Zeichen dafür, dass die
Bundesregierung und der Bundestag das Leid der Opfer
und deren Schicksal anerkennen . Es geht eben nicht nur
um eine finanzielle Einmalzahlung, sondern wir sagen
auch: Wir erkennen dieses Leid und dieses Schicksal an .
({2})
Der Parlamentarische Staatssekretär Dr . Schröder hat
bereits erläutert, wie dieses Zweite Dopingopfer-Hilfegesetz an das erste Gesetz von 2002 anschließt . Ich möchte
mich auch im Namen der AG Sport für die Initiative und
das Engagement bedanken, und ich möchte auch appellieren, dass wir mit diesem Gesetz jetzt schnell, bis zur
Sommerpause, fertig werden .
Zusammenfassend will ich an dieser Stelle noch sagen, dass es uns als CDU/CSU-Fraktion wichtig war,
dass jeder Geschädigte den gleichen Betrag erhält - unabhängig davon, wann der Antrag gestellt wurde, ob dies
also von 2002 bis 2007 der Fall war oder ab jetzt geschieht - und dass die Ansprüche niedrigschwellig und
kurzfristig geltend gemacht werden können . Durch die
Abwicklung über das Bundesverwaltungsamt kann dies
treffsicher geschehen .
Wenn wir den Gesetzentwurf verabschiedet haben,
ist es unser Auftrag als Gesetzgeber, den potenziell Anspruchsberechtigten mitzuteilen, dass sie von dem Dopingopfer-Hilfegesetz Gebrauch machen können .
Meine Damen und Herren, ich wünsche mir sehr, dass
wir mit diesem guten Gesetzentwurf ein Stück Gerechtigkeit für die Opfer des DDR-Dopings schaffen können,
und ich freue mich, wenn wir das bis zur Sommerpause
hinbekommen .
Herzlichen Dank .
({3})
Das Wort hat die Kollegin Pflugradt für die SPD-Fraktion .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir behandeln heute den Gesetzentwurf über eine finanzielle Hilfe für Dopingopfer der DDR, den Entwurf des Zweiten
Dopingopfer-Hilfegesetzes . Wir haben es heute schon
mehrfach gehört: Es ist wichtig, dass wir darüber reden .
Nach diesem Gesetz werden wir den Opfern des staatlich verordneten Dopings in der DDR finanzielle Hilfe
gewähren . Voraussetzung hierfür ist, dass ihnen ohne
ihr Wissen oder gegen ihren Willen Dopingsubstanzen
verabreicht wurden und es wahrscheinlich ist, dass sie
deshalb erhebliche gesundheitliche Schäden erlitten haben oder nach wie vor erleiden . Des Weiteren dürfen sie
aus dem ersten Fonds keine finanziellen Hilfen erhalten
haben .
Es ist ganz einfach eine Frage der Solidarität, weitere
Opfer genauso zu entschädigen, wie es der erste Fonds
getan hat . Darum hätte auch ich es gut gefunden, wenn
sich Jenapharm und der Deutsche Olympische Sportbund
daran beteiligt hätten - einfach aus Gründen der Gerechtigkeit und Gleichbehandlung .
({0})
Die SPD-Bundestagsfraktion bekennt sich heute jedenfalls erneut zu dieser moralischen Verpflichtung, und
das möchte ich ganz intensiv betonen . Es muss einmal
mehr ein deutliches Zeichen gesetzt werden, dass man
angesichts der gesundheitlichen Schäden durch das staatlich verordnete Doping in der DDR nicht einfach zur Tagesordnung übergehen kann .
Nach wie vor sind jedoch medizinische Fragen, die
auch schon beim ersten Fonds im Vordergrund standen,
noch nicht hinreichend geklärt . Dopinganalytiker und
Endokrinologen bestätigen übereinstimmend, dass in jedem Einzelfall geprüft werden muss, ob die Ursache der
gesundheitlichen Schäden tatsächlich in der Gabe von
Dopingsubstanzen liegt .
Ein wahrscheinlicher Zusammenhang ist kein ursächlicher Zusammenhang . Wenn wir nicht wollen, dass die
Gelder, die wir für Dopingopfer bereitstellen, überwiegend für weitere medizinische Gutachten ausgegeben
werden, dann müssen wir im Interesse einer guten, einwandfreien Regelung zu nachvollziehbaren Kriterien
dafür kommen, wer Entschädigungsleistungen erhält
und wer nicht . Nicht nachvollziehbar ist es, einen wahrscheinlichen Zusammenhang als einen ursächlichen Zusammenhang darzustellen .
Natürlich bin ich dafür, das Unrecht an den Sportlerinnen und Sportlern aufzuklären, anzuerkennen und gerecht zu entschädigen . Ich bin aber für eine Differenzierung und genauere Betrachtung . Wir bewegen uns hier in
einer sehr komplizierten rechtlichen Materie .
Wir erwarten von den Opfern keinen Nachweis bis
ins letzte Detail, sondern begnügen uns mit einer Wahrscheinlichkeit . Lassen wir die Entschädigungszahlungen
auf Wahrscheinlichkeiten basieren, dann kann man an
dieser Stelle eben nicht sehr viel mehr tun .
Deshalb freue ich mich, dass in Mecklenburg-Vorpommern, an der Uniklinik Greifswald und an den Helios-Kliniken in Schwerin, zwei Studien zu diesem Thema
geplant sind . Die eine ist eine Langzeitstudie, die andere
ist eine etwa zweijährige Studie, die voraussichtlich ab
dem Sommer die Daten analysieren und auswerten wird,
die der Doping-Opfer-Hilfe-Verein sammelt . Vielleicht
hätten wir vor der Auflegung des zweiten Fonds auf die
Ergebnisse der Studie warten sollen; dann hätten wir eine
genauere Datenbasis gehabt, um besser zwischen Wahrscheinlichem und Tatsächlichem zu unterscheiden .
Darüber hinaus stellt sich für mich die Frage der Nachweispflicht im Antragsverfahren. Es gab Sportlerinnen
und Sportler, die Kenntnis vom Einsatz von Dopingmitteln hatten und ihn billigend in Kauf genommen haben .
Sicher, die Versuchung war groß . Der Staat begünstigte
den Erfolg . Aus meiner Sicht gab es Täter, Mitwisser,
Halbwissende und Menschen, die weggeschaut haben .
Es gab tatsächlich aber auch Nichtwissende, Ahnungslose und Opfer . Diese Unterschiedlichkeit sollten wir beachten, wenn wir die Problematik angehen .
Wir können auch heute nicht mit Sicherheit sagen, wer
was wann mit oder ohne Wissen, gegen den Willen oder
mit stillschweigendem Einverständnis eingenommen hat .
Wir werden nicht mit absoluter Sicherheit den Nachweis
des wissentlichen oder willigen Dopings führen können .
Es wäre aber grundsätzlich falsch, daraus zu folgern,
dass daher keine Entschädigung gezahlt werden sollte .
Hier sind mit Sicherheit Menschen vorsätzlich manipuliert worden .
Das ist eine Mahnung, dass sportliche Höchstleistungen nicht um jeden Preis erstrebenswert sind, weder für
den persönlichen Ruhm oder zum Gewinnstreben noch
zur staatlichen Repräsentation . Es ist eine Aufforderung,
in dem Kampf nicht nachzulassen, die Prävention zu
verstärken, die Kontrollen zu verbessern und Vergehen
stärker und einheitlich zu sanktionieren . Das wünsche
ich mir nicht nur für Deutschland, sondern für die ganze
Welt .
({1})
Auch in diesem Zusammenhang bin ich froh, dass wir
das Anti-Doping-Gesetz bereits verabschiedet haben . Es
hilft zwar nicht gegen vorsätzliches Staatsdoping, aber es
bestraft diejenigen, die sportlichen Erfolg über Dopingsubstanzen zu erzielen versuchen . Mit diesem Gesetz
geben wir keine endgültige Antwort auf die bestehenden
Probleme des anhaltenden Dopings . Es vergeht kaum
eine Woche, in der wir nicht von neuen Dopingfällen
erfahren . Zumindest entschädigt es aber diejenigen, die
durch den Staat bewusst einer möglichen Gefahr ausgesetzt waren und die benutzt und manipuliert wurden .
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
({2})
Ich schließe die Aussprache .
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/8040 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall .
Dann ist die Überweisung so beschlossen .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Halina
Wawzyniak, Sigrid Hupach, Christine Buchholz,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Einrichtung einer Kommission beim Bundesministerium der Finanzen zur Evaluierung
der Staatsleistungen seit 1803
Drucksache 18/4842
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . - Ich höre keinen Widerspruch . Dann ist so beschlossen .
Wenn alle teilnehmenden Kolleginnen und Kollegen
einen Platz gefunden haben, können wir die Debatte eröffnen .
Ich eröffne die Aussprache . Das Wort hat die Kollegin
Halina Wawzyniak für die Fraktion Die Linke .
({1})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir reden über einen Antrag, der den Weg dafür
ebnen soll, einen Verfassungsauftrag einzulösen, und
zwar noch bevor dieser schon 100 Jahre besteht . Es geht
nicht um den Glauben von Menschen . Die ReligionsfreiJeannine Pflugradt
heit ist ein hohes Gut . Sie soll nicht angetastet werden,
und das wird sie durch den vorliegenden Antrag auch
nicht . Das zu erwähnen, ist mir auch angesichts der Geschichte meiner Partei ausgesprochen wichtig .
Artikel 140 des Grundgesetzes macht Artikel 138 der
Weimarer Reichsverfassung zum Bestandteil des Grundgesetzes . Die Weimarer Reichsverfassung stammt aus
dem Jahr 1919 . Der Artikel lautet:
Die auf Gesetz, Vertrag oder besonderen Rechtstiteln beruhenden Staatsleistungen an die Religionsgesellschaften werden durch die Landesgesetzgebung abgelöst .
Jetzt kommt der entscheidende Satz:
Die Grundsätze hierfür stellt das Reich auf .
Es geht mithin um die Zahlungsverpflichtung des
Staates an die Kirchen für die vor über 200 Jahren enteigneten kirchlichen Besitztümer . Über das ausgesprochen
sinnvolle und hilfreiche Portal www .kleineanfragen .de
lässt sich leicht herausbekommen, welchen Umfang diese Zahlungsverpflichtungen ausmachen. Knapp 13 Millionen Euro waren es 2015 in Schleswig-Holstein . Etwas
mehr als 24 Millionen Euro waren es im Jahr 2015 in
Sachsen . Knapp 24 Millionen Euro werden im Jahr 2016
in Thüringen fällig . In Berlin wurden im Jahr 2014 knapp
11 Millionen Euro an Staatsleistungen gezahlt .
Wir wollen nun mit unserem Antrag dafür sorgen, dass
eine Kommission zunächst prüft und bewertet, inwiefern
die sogenannten Säkularisierungsverluste durch die seit
1919 gezahlten Leistungen angemessen ausgeglichen
wurden, und dann Vorschläge unterbreitet, welche Konsequenzen der Gesetzgeber im Hinblick auf den zukünftigen Umgang mit diesen Zahlungen aus der Evaluierung
ziehen sollte .
Wir sind also nicht mehr ganz so revolutionär wie
in der vergangenen Legislaturperiode . Da hatten wir
nämlich einen Gesetzentwurf zur Ablösung der Staatsleistungen vorgelegt, den Sie damals abgelehnt haben .
Nun wollen wir Ihnen quasi eine zweite Chance geben,
den Verfassungsauftrag einzulösen, und zwar durch eine
Win-win-Situation für alle .
Da alle hier vertretenen Fraktionen in der vergangenen Legislaturperiode die Notwendigkeit der Einlösung des Verfassungsauftrags anerkannt haben, ist das
meines Erachtens auch kein Problem . Ich zitiere Dieter
Wiefelspütz, SPD:
Ich bin also sehr dafür, … dass wir in Deutschland
einen Diskussionsprozess organisieren - nicht nur
hier im Parlament, sondern auch mit den Kirchen -,
um darüber zu reden, wie das geht .
Die Abgeordnete Flachsbarth, CDU/CSU:
Gesprächen, die eine solche Ablösung im freundschaftlichen Einvernehmen intendieren würden,
würden wir uns nicht entziehen …
Selbst - hören Sie aufmerksam zu - Norbert Geis:
Dazu sind Verhandlungen notwendig mit dem Ziel,
eine einvernehmliche Regelung zu finden.
Josef Winkler, Grüne:
Wir sollten die Auseinandersetzung über Sinn und
Zweck der Staatsleistungen und die rechtlichen
Möglichkeiten ihrer Ablösung führen, …
Wenn wir in dieser Legislaturperiode die Kommission
einsetzen, dann kann diese bis zum Ende der Legislaturperiode ihre Ergebnisse vorlegen . Wir alle könnten uns
dann dazu verhalten und sogar mit konkreten Aussagen,
in welcher Höhe Staatsleistungen noch zu zahlen sind,
ob überhaupt noch Staatsleistungen zu zahlen sind, in die
Debatte gehen . Wir könnten damit sogar in den Wahlkampf gehen, wenn wir das möchten .
Der nächste Bundestag kann dann auf der Grundlage
der Empfehlungen der Kommission das Grundsätzegesetz zur Ablösung der Staatsleistungen beschließen . Wir
alle hätten dann, bevor der Verfassungsauftrag 100 Jahre
alt wird, diesen Verfassungsauftrag eingelöst .
({0})
Meine Fraktion findet, dass es Zeit ist, dass dieser Auftrag eingelöst wird . Wenn ich noch einmal auf die Debatte in der vergangenen Legislaturperiode verweise und die
eben genannten Zitate Ihnen noch einmal in Erinnerung
rufe: Eigentlich sind ja alle hier der Meinung, dass dieser
Verfassungsauftrag eingelöst werden sollte . Wenn das so
ist, dann lassen Sie uns die Expertenkommission einsetzen . In der Kommission sollen Kirchenhistorikerinnen,
Kirchen- und Verfassungsrechtlerinnen, Ökonominnen,
aber auch Vertreterinnen der Länder und der beiden großen Amtskirchen mitarbeiten .
Wir gehen mit diesem Antrag einen Schritt auf alle zu,
nehmen alle Bedenken aus der vergangenen Wahlperiode
auf, machen einen konkreten Vorschlag für einen Weg,
wie man dem Verfassungsauftrag nachkommen kann .
Aus sachlichen Gründen kann also eigentlich niemand
diesem Antrag widersprechen . Deswegen bitte ich Sie:
Stimmen Sie diesem Antrag einfach zu .
({1})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat die Kollegin Margaret
Horb das Wort .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr
geehrte Jugendliche auf der Tribüne! Teil 2: Die Linke
möchte eine Kommission einsetzen, um die Staatsleistungen an die Kirche zu evaluieren, also um den Geldwert festzustellen und zu überprüfen . Zum gleichen Thema haben Sie schon vor zwei Jahren eine Kleine Anfrage
an die Bundesregierung gestellt . Dort verraten Sie uns
auch, wer Sie auf diese tolle und grandiose Idee gebracht
hat .
({0})
Es war - man höre und staune - nicht der Papst, sondern
Wolfgang Kubicki mit einem Fachbeitrag auf focus .de .
Die arme FDP! Zuerst fliegt sie aus dem Bundestag, und
dann klaut ihr die Linke auch noch die Anträge . Das haben unsere Liberalen nicht verdient .
({1})
Wenn sich die Linke aber in Zukunft finanzpolitisch an
der FDP orientieren sollte, dann freuen wir uns ganz besonders auf die Debatten im Finanzausschuss und hier im
Hohen Hause .
Doch nun zur Sache . Was sind Staatsleistungen? In
verschiedenen Phasen der deutschen Geschichte wurde
den Kirchen vonseiten des Staates Vermögen entzogen,
beispielsweise Ländereien .
({2})
Aus den Erträgen dieser Vermögenswerte hatte sich die
Kirche bis dato finanziert. Mit den Enteignungen wurde
den Kirchen somit ein Teil ihrer finanziellen Existenzgrundlage entzogen . Dafür entschädigen die Staatsleistungen . Staatsleistungen sind also keine Geschenke und
auch keine Subventionen, sondern es sind historisch begründete Ersatzleistungen . Diese zahlt - hören Sie genau
zu! - nicht der Bund, sondern diese zahlen die Länder .
({3})
Wahr ist, dass sowohl die Weimarer Reichsverfassung darauf haben Sie zu Recht hingewiesen - als auch das
Grundgesetz eine Ablösung der Staatsleistungen vorsehen . Wahr ist übrigens auch, dass die oft kritisierten Kirchen einer Ablösung der Staatsleistungen nicht im Wege
stehen .
({4})
Viele Bistümer und Landeskirchen haben hier - wie
schon ausgeführt - Gesprächsbereitschaft signalisiert .
Aber natürlich muss eine solche Ablösung fair ablaufen .
Gelegentlich hört man die Behauptung, dass die
Staatsleistungen bereits abgegolten seien, weil sie schon
seit längerer Zeit gezahlt werden . Das ist geradezu absurd . Die Staatsleistungen basieren auf Verträgen zwischen den Kirchen und dem Staat . Das sind keine Ratentilgungsverträge . Wir bezahlen auch kein Haus und keine
Kirche ab . Es handelt sich vielmehr um Entschädigungsleistungen, die auf Dauer angelegt sind . In einem Rechtsstaat ist ein geltender Vertrag ein geltender Vertrag . Dieser wird auch nicht dadurch hinfällig, dass er sehr alt ist .
Nein, die Staatsleistungen müssten in Verhandlungen
zwischen den Ländern und den Kirchen ordnungsgemäß
abgelöst werden . Ablösung bedeutet Aufhebung der Zahlungen gegen Entschädigung .
Wie hoch müssten nun die Entschädigungen ausfallen? Vom 18,6-Fachen der aktuellen Zahlungen über das
20- und 25-Fache bis zum 40-Fachen findet sich hier in
der Literatur alles . Nun könnte man meinen, dass die
Linken genau dafür eine Kommission gründen wollen,
um also herauszufinden, was denn der richtige Faktor ist.
Um Transparenz und Klarheit geht es, könnte man meinen . Doch da kennen wir die Linke besser . Noch in der
letzten Legislaturperiode haben Sie in diesem Haus einen
Gesetzentwurf vorgelegt und wollten den Ländern vorschreiben, die Staatsleistungen abzulösen, wohlgemerkt
mit einer Einmalzahlung in Höhe des Zehnfachen des
bisherigen Jahresbetrags . Damals brauchten Sie keine
Kommission, um die korrekte Höhe der Staatsleistungen
zu bestimmen . Damals kannten Sie diese schon vorher .
Daran sieht man, dass es Ihnen nicht darum geht, Transparenz zu schaffen . Vielmehr möchten Sie etwas ganz
anderes . Sie wollen die Staatsleistungen abschaffen .
Kollegin Horb, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, ich möchte keine Zwischenfrage zulassen . - Zu
fordern, dass diese Staatsleistungen abgeschafft werden,
ist Ihr gutes Recht . Leider geben Sie aber dabei - wie so
oft - Geld aus, das Ihnen gar nicht gehört . Das ist in diesem Fall besonders perfide; denn - Kommission hin oder
her - billig wird die Ablösung dieser Staatsleistungen für
die Länder nicht .
Ich habe mir für mein Heimatland Baden-Württemberg die entsprechenden Zahlen einmal genauer angeschaut . Im Jahr 2016 überweist Baden-Württemberg an
die beiden katholischen Diözesen und die beiden evangelischen Landeskirchen Staatsleistungen in Höhe von
nicht weniger als 118 Millionen Euro .
Das ist zweifellos viel Geld, aber man muss auch bedenken, dass der Landeshaushalt selbst ein Volumen von
über 46 Milliarden Euro hat . Bei den Staatsleistungen
reden wir also hier von 2,5 Promille der Gesamtausgaben . Das ist haushalterisch tragbar . Wenn wir die Staatsleistungen ablösen, dann reden wir nicht mehr nur über
118 Millionen Euro in Baden-Württemberg . Wenn wir
den Ablösefaktor von 18,6 zugrunde legen, dann landen
wir bei einer Größenordnung von 2 Milliarden Euro, allein bezogen auf Baden-Württemberg .
Das ist ein ganz schöner Brocken . 18,6 ist der kleinste Faktor, den ich in der seriösen Literatur habe finden
können . Es gibt Wissenschaftler, die noch höhere Zahlen
ansetzen . Solche Rechnungen muss man für jedes andere
Bundesland auch anstellen - und das in einer Situation,
in der ab 2020 für die Länder die Schuldenbremse greift .
Das heißt nicht, dass man Staatsleistungen nicht ablösen kann . Inhaltlich können wir hinsichtlich der Staatsleistungen über alles reden, aber die Initiative dafür muss
zwingend von den Ländern ausgehen; denn diese zahlen
am Ende die Zeche . Gegen die Länder und ohne Absprache mit den Ländern werden wir dies mit Sicherheit nicht
tun . Wir werden keine Evaluierungskommission einsetzen . Das wäre einfach unredlich .
Liebe Linke, ich mache Ihnen jetzt einen Vorschlag .
Sie sind an einigen Landesregierungen beteiligt . In Thüringen stellen Sie, sehr zu meinem Leidwesen, sogar den
Ministerpräsidenten . Wenn Sie eine Kommission zur
Evaluierung der Staatsleistungen gründen wollen, dann
machen Sie es dort, in den Ländern; denn da gehören dieMargaret Horb
se Kommissionen hin . Was hört man jetzt aus Erfurt zu
den Staatsleistungen? Nichts . Im Bundestag die Anträge
vorlegen, aber in den Ländern die Füße hochlegen . So
geht das nicht, liebe Linke .
({0})
Der historische Hintergrund und der Umfang der
Staatsleistungen sind nämlich in den Ländern, wie bereits ausgeführt, höchst unterschiedlich . Eine Evaluierung sollte daher selbstredend vor Ort stattfinden. Jedes
Bundesland hat die Möglichkeit, im Einvernehmen mit
den Kirchen die Staatsleistungen zu verändern, umzugestalten, abzulösen und vorher meinetwegen auch eine
Evaluierungskommission zu gründen . Wenn die Länder
das tun - gut . Wenn sie das nicht tun, dann lässt das eigentlich nur den Schluss zu, dass die Länder mit dem
derzeitigen System zufrieden sind . Noch einmal: Es sind
die Länder, die dies bezahlen müssen . Die Länder brauchen den Bund nicht, wenn sie die Staatsleistungen ablösen wollen .
Der vorliegende Antrag, den die Linke hier stellt, ist
daher ein bisschen heuchlerisch, ein bisschen unredlich,
aber auf jeden Fall unnötig . Also, liebe Linke, wenn ihr
das nächste Mal einen Antrag von der FDP abschreibt,
dann sucht euch bitte einen Vorschlag aus, der ein bisschen sinnvoller ist . Diesen Antrag werden wir vonseiten
der CDU/CSU-Fraktion auf jeden Fall ablehnen . Ich hoffe, dass Sie mich bei Ihrem nächsten Antrag zitieren .
Herzlichen Dank .
({1})
Zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Wawzyniak
das Wort .
Da Sie eine Zwischenfrage nicht zugelassen haben,
muss ich eine Kurzintervention machen . - Zunächst
möchte ich Sie darauf hinweisen, dass wir in der vorigen
Legislaturperiode - das haben Sie zu Recht erwähnt einen Gesetzentwurf vorgelegt haben . Das war vor dem
Beitrag von Herrn Kubicki . Wenn, dann hat Herr Kubicki
bei uns abgeschrieben . Pech für die Liberalen .
({0})
Ich wollte Sie fragen, ob Sie nicht zugehört haben . Offensichtlich haben Sie nicht zugehört . Deswegen will ich
das an dieser Stelle wiederholen: Ich habe an diesem Pult
gesagt, dass wir die Einwände, die gegen den Gesetzentwurf in der letzten Legislaturperiode gekommen sind,
aufgenommen haben und dass wir vor dem Hintergrund
der Einwände diesen Antrag auf Einsetzung einer Kommission gestellt haben . In dieser Kommission - wenn Sie
den Antrag noch einmal lesen möchten - sind im Übrigen
Ländervertreter vorgesehen . Die Länder wären also mit
am Tisch .
Ein letzter Punkt . Sie haben gesagt, die Länder könnten die Staatsleistungen einfach ablösen . Ich habe vorhin
in der Rede auch Artikel 138 Weimarer Reichsverfassung
zitiert . Die Grundsätze für die Ablösung muss das Reich
und jetzt, da das im Grundgesetz steht, der Bund aufstellen . Die Länder können überhaupt erst dann ablösen,
wenn der Bund die Grundsätze aufgestellt hat . Deswegen
macht eine Kommission beim Bundesministerium der
Finanzen auch Sinn .
Deswegen muss ich Ihnen leider sagen: Einmal zuhören, einmal lesen, das bringt eine bessere Rede .
({1})
Sie möchten erwidern? - Nein . Dann hat jetzt der Kollege Dr . Gerhard Schick für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen das Wort .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist schon bezeichnend, dass Sie nicht geantwortet haben, Frau Horb; ich fand Ihre Rede auch ziemlich schade .
Es ist so, dass man nicht wegnegieren kann, nicht
wegschieben kann, was in der Verfassung steht . In der
Verfassung steht sehr deutlich, dass es da eine Arbeitsteilung gibt . Die Grundsätze müssen wir hier festlegen,
und dann sollen die Länder agieren . Deswegen kann man
da gar keinen Bund-Länder-Konflikt aufmachen, wie Sie
es gemacht haben . Das war ein bisschen billig parteipolitisch - bei einer Frage, bei der man doch zugeben
muss, dass das heutzutage auch viele Menschen in den
Kirchen nicht mehr verstehen . Dass auf der Grundlage
einer historischen Entwicklung in der ersten Hälfte des
19 . Jahrhunderts - das liegt schon arg weit zurück - heute
Zahlungen zwischen Kirche und Staat erfolgen, in einer
ganz vielfältigen und für viele Menschen intransparenten
Art und Weise, ist nicht mehr vermittelbar,
({0})
und zwar auf beiden Seiten nicht mehr vermittelbar . Dem
Steuerzahler ist es nicht vermittelbar, der den Anspruch
hat, dass transparent ist, für was eigentlich Leistungen
gezahlt werden, was die Rechtsgrundlage ist . Es ist auch
auf der Kirchenseite nicht vermittelbar . Viele Mitglieder sagen: Auch wir wollen eine Klarheit bezüglich der
kirchlichen Finanzen und wollen, dass das nicht intransparent geregelt ist .
Es ist außerdem nicht vermittelbar, dass es einen Verfassungsauftrag gibt, der jetzt fast 100 Jahre besteht zunächst in der Weimarer Reichsverfassung, dann im
Grundgesetz -, der Gesetzgeber auf Bundesebene, vorher auf Reichsebene, aber nicht die Kraft findet, die Eckwerte festzulegen . Das kann man doch niemandem mehr
erklären .
({1})
Ich finde, dann darf man auch in der parlamentarischen Auseinandersetzung einmal anerkennen, dass vonseiten der Linksfraktion ein Vorschlag gemacht worden
ist, bei dem vielleicht noch nicht alles so ist, wie wir es
formulieren würden, der aber im Grundansatz trägt, nämlich jetzt in einer Kommission die Menschen, die daran
beteiligt sind - von wissenschaftlicher Seite, von politischer Seite, Bund und Länder und natürlich auch die
Kirchen -, an einen Tisch zu bringen, um einen Weg zu
finden. Dieser Vorschlag ist gut. Ich darf sagen: Unsere
Fraktion unterstützt ihn ausdrücklich .
({2})
Er trägt genau dem Rechnung, was für Ihre Fraktion, Frau Horb, in der letzten Legislaturperiode gesagt
worden ist: Eine einseitige Ablösung ohne solide Rechnungsbasis, ohne Einbeziehung der Länder und der Kirchen darf es nicht geben . - Das soll es auch nicht geben;
Sie könnten zustimmen .
Kollege Geis hat gesagt: „Es gibt in dieser Frage kein
Gewohnheitsrecht .“ Ja, es muss jetzt eine Rechtsgrundlage geschaffen werden .
Sie haben an einer Stelle natürlich recht: Die Länder
haben - das ist, finden wir, ein gangbarer Weg - an einzelnen Stellen Ablösungsvereinbarungen getroffen . Eine
solche gibt es in Nordrhein-Westfalen mit dem Bistum
Paderborn . Das gab es auch schon in Bayern und in
Hessen . Das kann durchaus ein Weg sein, aber er entbindet uns als Gesetzgeber auf Bundesebene nicht von
dem Auftrag, den unsere Verfassung uns gibt, und dem
sollten wir endlich nachkommen . In wenigen Jahren ist
der 100 . Geburtstag der Weimarer Reichsverfassung . Ich
finde, bis dahin sollte man das wirklich geschafft haben.
({3})
Man muss eine Sache natürlich sehen, und da liegt die
Schwierigkeit: Wenn nach den heutigen Zinssätzen - wir
sind quasi bei null - entschädigt werden soll, dann kann
man natürlich astronomische Zahlen zusammenrechnen .
Das ist auch der Grund, warum die Ablösung bisher nicht
geklappt hat . Es wird daher eines Entgegenkommens
auch der Kirchen bedürfen, um eine Frage in der Zukunft
so zu regeln, dass alle in diesem Land das unterstützen
können . Deswegen muss man sich zusammensetzen .
Mein Appell ist, dass sich alle Beteiligten an dieser Stelle
bewegen, hier im Haus und in der Gesellschaft, um eine
zufriedenstellende Lösung für die Zukunft zu finden;
denn dass das viele Leute umtreibt, können Sie an der
gesellschaftlichen Diskussion ja sehen .
Ich will allerdings sagen, dass wir an einer Stelle auch
ein bisschen Zweifel haben, was die Formulierung des
Antrags angeht . Aber so etwas kann man sich im weiteren Verfahren im Ausschuss noch einmal anschauen . Bei
Punkt 3 könnte der Eindruck entstehen, dass es rechtlich
so ist: Das, was seit 1919 schon gezahlt worden ist, kann
man sozusagen anrechnen . - Wir teilen diese Rechtsauffassung so nicht . Aber ich glaube, dieser Punkt muss
nicht so bleiben . Man kann das im Ausschuss vielleicht
noch einmal gemeinsam diskutieren und so formulieren,
dass alle mitgehen . Ich hoffe und wünsche mir wirklich
sehr, dass wir das gemeinsam hinkriegen . Zeiten von
Großen Koalitionen sind ja manchmal auch Zeiten, in
denen längerfristige Aufgaben endlich einmal angegangen werden . Vielleicht geben Sie sich ja einen Ruck . Hier
vor dem 100 . Geburtstag der Weimarer Reichsverfassung
den Auftrag einzulösen, wäre wahrlich wirklich nötig .
({4})
Das Wort hat der Kollege Andreas Schwarz für die
SPD-Fraktion .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als
mir mitgeteilt wurde, dass ich am heutigen Freitagnachmittag eine Rede halten darf, hat mich das erst einmal
sehr gefreut, da zeitgleich auf der Tribüne eine Besuchergruppe aus meinem Wahlkreis Platz genommen hat .
Herzlich willkommen, Memmelsdorf!
({0})
Das Thema dieser Rede reicht bis ins Jahr 1803 zurück . Das war eine Überraschung für mich . Bisher bin ich
davon ausgegangen, dass die stolze Sozialdemokratie im
Prinzip die älteste Konstante in diesem Hohen Hause ist .
Aber nun weiß ich: Der Reichsdeputationshauptschluss
vom 25 . Februar 1803 beschäftigt die Politik dieses Landes sogar noch länger . Worum geht es im Einzelnen? Im
Jahr 1803 wurden im Rahmen der staatlichen Säkularisierung die Kirchen teilweise enteignet, etwa Klöster und
Ländereien. Seither fließen Entschädigungszahlungen,
um beispielsweise die Seelsorge trotzdem aufrechtzuerhalten . Im Jahre 1919 wurden viele Kirchenrechtsregelungen aus dem Kaiserreich in die Verfassung der
Weimarer Republik aufgenommen, aber eben auch, dass
die Regelungen zur Kirchenfinanzierung neu verhandelt
und neu geordnet werden müssten . Der Artikel wurde
ja schon genannt: In Artikel 138 Absatz 1 der Weimarer
Reichsverfassung ist das nachzulesen, und vom Kollegen
Schick haben wir ja die Hausaufgabe bekommen, zum
Jubiläum das zu erledigen . Dieser Auftrag wurde mit Artikel 140 im Jahr 1949 auch ins Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland übernommen . Seither - das ist
sicherlich einigermaßen erstaunlich - ist wenig bis gar
nichts passiert .
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Kirchen in unserem Land tragen eine nicht hoch genug
einzuschätzende Verantwortung für das Gemeinwohl in
Deutschland . Nicht zuletzt in der Flüchtlingsfrage sind
die Kirchen in unserem Land unverzichtbarer Partner einer humanen und menschenwürdigen Flüchtlingspolitik .
Die kirchliche Seelsorge gibt den Menschen in unserem
Land in einer immer schneller werdenden Welt Halt und
Konstanz . Ohne die sozialen und karitativen Leistungen
der Kirchen sähe mit Sicherheit der gesellschaftliche Zusammenhalt in unserem Land ganz anders aus . Diesen
Umstand sollten wir natürlich auch bei der Debatte über
die Finanzierung von Kirchen und Religionsgemeinschaften in unserem Land nicht vergessen .
Vor einigen Jahren haben Sie, liebe Kolleginnen und
Kollegen der Linken, bereits einen Gesetzentwurf zu
diesem Thema eingebracht . Heute diskutieren wir einen
Antrag zu diesem Thema . Sie fordern darin im Wesentlichen vier Punkte . Drei von diesen Punkten können wir
mit Sicherheit etwas abgewinnen, einem jedoch nicht . Da
dieser jedoch der zentrale Punkt des Antrags ist, können
wir dem Antrag insgesamt nicht zustimmen . Sie fordern
nicht zu Unrecht, dass es Zeit wird, den Umfang der Säkularisierungsverluste aus dem Jahr 1803 zu ermitteln .
Dabei spielt natürlich eine Rolle, wie hoch die Entschädigungszahlungen seit dem Jahr 1919 sind . Ich glaube
übrigens, dass die Differenz aus beiden Zahlen Sie eher
überraschen würde als mich . Jetzt stoßen wir aber auf das
aus meiner Sicht entscheidende Problem: In Ihrem Antrag fordern Sie die Einsetzung einer Kommission beim
Bundesfinanzministerium, bestehend aus - ich zitiere -:
Expertinnen und Experten wie ({1})Historikerinnen und ({2})Historikern, Kirchen- und/
oder Verfassungsrechtlerinnen und -rechtlern, Ökonominnen und Ökonomen sowie Vertreterinnen und
Vertretern der Bundesländer sowie der beiden großen Amtskirchen …
Ich sage Ihnen, mit Verlaub, als Franke: Da wird
hoffentlich eher der 1 . FC Nürnberg wieder Deutscher
Meister, als dass diese Kommission in absehbarer Zeit
zu einem Ergebnis kommt . Wenn Sie schon in so einem
großen Rahmen über Staatsleistungen und deren Zukunft
diskutieren wollen, dann frage ich mich: Wo sind die anderen Religionsgemeinschaften, die von Staatsverträgen
profitieren? Ob es nun die jüdische Gemeinde in Sachsen-Anhalt oder die in Hamburg lebenden Muslime und
Aleviten sind: Sollen sie nicht an der Debatte beteiligt
werden?
({3})
Bei dem großen Rahmen, in dem eine solche Kommission tagen müsste, würde eine Lösung vermutlich noch
weitere 100 Jahre dauern . Nein, ich glaube, Sie zäumen
das Pferd mehr von hinten auf . Ja, wenn der Verfassungsauftrag erfüllt werden soll, muss der Bund irgendwann
gesetzgeberisch tätig werden, in welcher Form auch immer . Aber zuvor muss es aus unserer Sicht Gespräche
auf viel kleinerer Ebene geben . Die Staatsverträge sind
zwischen Bundesländern und Kirchen geschlossen und
können nur zwischen diesen einvernehmlich geregelt
werden . Einige Bundesländer zahlen viel, wie wir gehört haben, andere zahlen weniger . Teilweise erfolgt auf
der kommunalen Ebene schon gar keine Zahlung mehr .
Das bedeutet, Gespräche zwischen Landeskirchen, Bundesländern und Kommunen sind nötig . Es gibt Signale:
Sowohl Kirchen als auch Länder sind bereit, Gespräche
zu führen . Erst danach kann nach unserer Auffassung der
Bund hier tätig werden .
Diese Gespräche sind unfassbar komplex; das weiß
ich als ehemaliger Bürgermeister . Dazu kann sicherlich
auch mein Kollege, der hier heute aus Memmelsdorf
anwesend ist, einiges aus seinem Erfahrungsschatz berichten . Beispielsweise mit Kirchen über die Fragen von
Unterhalt und Kirchenbaulast zu diskutieren, gestaltet
sich sehr schwierig und ist auch sehr zeitaufwendig . Im
Übrigen haben Sie ein Bundesland, in dem Sie einmal
einen Testballon steigen lassen können, um zu sehen, ob
Ihre Idee fruchtet und greift .
Bis dahin bedanke ich mich für die Aufmerksamkeit
und wünsche allen ein schönes Wochenende .
Danke .
({4})
Das Wort hat der Kollege Markus Koob für die CDU/
CSU-Fraktion .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Heute beschäftigen wir
uns mit den Staatsleistungen an Kirchen, ein Baustein in
den allgemeinen Finanzbeziehungen zwischen Staat und
Kirche. Per Definition sind Staatsleistungen finanzielle
Zuwendungen des Staates an die Kirchen, die die historische weitreichende Enteignung von kirchlichem Eigentum entschädigen sollen . Diese Leistungen sind also
keine Subventionen, sondern Ersatz dafür, dass der Staat
sich mehrfach in der Geschichte Kircheneigentum angeeignet hat .
Entschädigungszahlungen für diese damaligen massiven Enteignungen werden noch heute an die beiden
großen Amtskirchen in fast allen Bundesländern - mit
Ausnahme von Hamburg und Bremen - erbracht . Im
Jahr 2015 belief sich die gesamte Staatsleistung der
14 Bundesländer an die Kirchen auf 510 Millionen Euro .
Das besondere Merkmal von Staatsleistungen ist: Es sind
wiederkehrende Zahlungsverpflichtungen und keine Ratentilgung - das ist schon mehrfach erwähnt worden mit einem festgelegten oder einem einseitig bestimmbaren Ende . Eine Ablösung müsste vielmehr eine volle
Leistungsäquivalenz und nicht nur eine angemessene
Entschädigung mit sich bringen .
Mir drängt sich dabei, ähnlich wie der Kollegin Horb,
der Verdacht auf, dass es der Linken gar nicht in erster
Linie darum geht, sondern vielmehr darum, die Zahlung
der Staatsleistungen so schnell wie möglich zu beenden .
Sie haben auch in einem Nebensatz erwähnt, man könnte
das auch im Wahlkampf zum Thema machen . Das fand
ich erhellend; das gibt uns Auskunft darüber, was der eigentliche Ansatz dieses Antrages ist .
({0})
Aber Sie sind im Vergleich zum letzten Mal eleganter
geworden, indem Sie nun vorschlagen, eine Kommission einzurichten, und nicht mehr gleich per Gesetz die
Abschaffung fordern . Insofern haben Sie, was Ihren Stil
angeht, etwas gelernt .
Juristen würden es ein Dauerschuldverhältnis nennen .
Im kirchenrechtlichen Fachjargon werden diese StaatsAndreas Schwarz
leistungen Dotationen genannt . Unabhängig davon, ob
Jurist oder Kirchenvertreter: Jeder kann der Verfassung
unmissverständlich den Auftrag entnehmen, dass die
Staatsleistungen abzulösen sind . Darin sind wir uns einig . Das heißt im Klartext: Weg von der dauerhaften,
hin zu einer einmaligen abschließenden und vor allem
angemessenen Zahlung . Das Ziel der Ablösung ist also
legitim, aber spannend ist die Frage des Wie . Ich verrate
Ihnen kein Geheimnis - Frau Kollegin Horb hat es auch
schon gesagt -, wenn ich Ihnen sage, dass wir den Ansatz
der Linksfraktion für falsch halten .
({1})
- Dazu komme ich gleich noch .
({2})
Staatsleistungen abzulösen, entspringt, wie gesagt,
grundsätzlich einer allgemein akzeptierten Logik .
Rechtsverhältnisse und Finanzbeziehungen von Staat
und Kirchen sind in beiderseitigem Interesse zu entflechten . Das ist breiter Konsens . Konsens ist aber auch, dass
das nur dann erfolgreich sein kann, wenn wir es in einem partnerschaftlichen Miteinander in Angriff nehmen .
Vor allem zwischen den Gläubigern und den Schuldnern muss es ein partnerschaftliches Miteinander bei der
Ablösung von Staatsleistungen geben . Und hier ist die
Sachlage eindeutig . Schuldner sind die 14 Bundesländer,
Gläubiger die Kirchen .
Wie beenden nun Gläubiger und Schuldner dieses
Zahlungsverhältnis? Wie können also die Staatsleistungen abgelöst werden?
({3})
Darauf eine Antwort zu geben, ist schwer . Mit Sicherheit
kann gesagt werden: Eine ersatzlose Aufkündigung seitens des Staates - also ein Zahlungsstopp ohne Kompensation - ist weder im Sinne der Verfassung, noch kann
dies angesichts der gesellschaftlichen Bedeutung der
Kirchen von irgendjemandem gewollt sein .
({4})
In der Theorie geht ja immer alles . In der Theorie
könnten wir natürlich, wie von den Linken gewollt, eine
Kommission einsetzen, die uns den Preis für die Ablösung bestimmt .
({5})
Politik findet aber nicht im theoretischen bzw. im luftleeren Raum statt, sondern sie ist praktisch wie jede Bürgerin und jeder Bürger an Rahmenbedingungen gebunden .
Selbst wenn wir unterstellen - ich verweise hier gerne
wieder auf die Kollegin Horb -, dass der kleinste Ablösefaktor 18,6 angewendet werden würde, hätte das eine
gewichtige Konsequenz . Wir würden dann über 9,5 Milliarden Euro reden, die den Bundesländern entzogen werden müssten .
Der zentrale Ansatz, eine Kommission beim Bundesfinanzministerium einzurichten, ist in der Sache nicht
richtig . Die konkrete Ausgestaltung der Staatsleistung ist
in den einzelnen Bundesländern höchst unterschiedlich
und schwer vergleichbar . So haben wir zum Beispiel in
den ostdeutschen Bundesländern die Situation, dass die
dortigen Kirchen aufgrund der deutschen Teilung jahrzehntelang von ihren Rechtstiteln gar keinen Gebrauch
machen konnten . Deshalb sollte man nicht einen akuten
gesetzlichen Handlungsbedarf beim Bund herbeireden,
sondern vielmehr die Bundesländer konstruktiv unterstützen, individuelle Lösungen zu finden.
({6})
Mein Heimatland Hessen hat das übrigens - Stichwort
Ablösung von Kirchenbaulasten - vorbildlich gemacht .
Im Jahr 2003 kam es unter der CDU-geführten Landesregierung mit dem damaligen Ministerpräsidenten Roland
Koch zu einer bundesweit beachteten Rahmenvereinbarung zwischen Staat und Kirchen sowie Städten und Gemeinden. Konkret ging es dabei um die konfliktträchtige
Frage, in welcher Höhe sich das Land Hessen an Bau und
Unterhalt kirchlicher Gebäude beteiligen muss . Das war
kein kleines Problem; denn hier ging es immerhin um
1 200 kirchlich genutzte Gebäude . Die hessische Landesregierung hat nicht nur das Problem identifiziert, sondern auch einen Lösungsprozess initiiert . Die Ablösung
der kommunalen Kirchenbaulasten in Hessen ist seitdem
eine vielzitierte politische Best Practice .
Ich bin mir sicher, dass die hessische Staatskanzlei
gerne auch Anrufe aus Thüringen entgegennimmt, um
darzustellen, wie im Bereich der Ablösung von Staatsleistungen ein zielführender Lösungsprozess eingeleitet
werden kann .
({7})
In der Bundespolitik bestärkt uns das Beispiel Hessen
jedenfalls . Wir müssen den Ländern hier die Flexibilität
lassen, individuelle Lösungen im Zusammenwirken mit
den Kirchen zu finden. Das ist gutes föderales Miteinander, das ist ein partnerschaftliches Miteinander von Staat
und Kirche . Und dazu bekennt sich unsere Fraktion in
aller Form .
({8})
Wir sollten daher zunächst auf freiwillige, in Einzelfragen angemessene Lösungen zwischen den Beteiligten
setzen . Der erste Schritt dazu ist, heute Ihren Antrag abzulehnen .
({9})
Lassen Sie mich die Debatte bewusst im Geist christlicher Friedfertigkeit beenden . Denn am Ende einer solchen Debatte müssen wir den Kirchen vor allem auch
angesichts ihres Beitrags in der gegenwärtigen Situation Dank und Anerkennung zollen . Hunderttausende
Hauptamtliche und Ehrenamtliche in beiden Kirchen
sorgen tagtäglich dafür, dass gesellschaftliches Leben in
Deutschland funktioniert. In den Bereichen Pflege, Seelsorge, Betreuung, Bildung und Denkmalpflege sowie
durch unzählige weitere Tätigkeiten tun Kirchen dies
jeden Tag . Damit decken sie viele Bereiche ab, die für
Staat und Gesellschaft von essenzieller Bedeutung sind .
({10})
Der Staat kann im 21 . Jahrhundert nicht alle Aufgaben
vollumfänglich übernehmen . Er ist auf Ehrenamt und
Engagement angewiesen . Die Kirchen in Deutschland
leisten auf diesem Gebiet enorme Arbeit und dienen in
hervorragender Weise dem Gemeinwohl . Daher sind uns
die gesellschaftliche Bedeutung und das Wirken der Kirchen besonders wertvoll .
In der Tat sind 510 Millionen Euro für die Kirchen
sehr viel Geld . Wenn wir das an ihren gesellschaftlichen
Leistungen messen, wäre die Gesellschaft ohne die staatlichen Leistungen der 14 Länder an die Kirchen aber
nicht reicher, sondern wesentlich ärmer . Das sollte es uns
wert sein .
Vielen Dank .
({11})
Das Wort hat der Kollege Lothar Binding für die
SPD-Fraktion .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Margaret Horb, mich
hat die Schärfe in der Debatte ein kleines bisschen überrascht . Ich weiß nicht genau, was dahintersteckt; denn
eines ist klar: Die soziale Arbeit der Kirchen und Religionsgemeinschaften wird von allen im Haus geschätzt . Es
gibt niemanden, der daran kratzt .
({0})
Das Engagement für Flüchtlinge, für Asylbewerber wird
geschätzt . Es gibt niemanden, der das bestreitet .
({1})
Die Arbeit in der Entwicklungshilfe, der Entwicklungspolitik und für das Gemeinwesen wird geschätzt . Das
wird nicht bestritten . Da muss man sich nicht verkämpfen,
({2})
es darf auch nicht subkutan mitschwingen, so als ob es
da Probleme gäbe .
Es gibt durchaus Bürger, die eine ganz andere Frage
stellen . Mich hat einer angerufen und gefragt, ob ich heute thematisieren würde, wie denn eigentlich die Reichtümer der Kirche bis 1803 entstanden sind . Diese Sache
kirchenhistorisch aufzuarbeiten, wäre sehr kritisch; aber
das ist heute nicht Thema .
({3})
Insofern ist es ganz gut, wenn wir uns den rechtsförmlichen Dingen widmen .
Man muss sagen: Der bayerische Landesbischof hat
sein Befremden darüber zum Ausdruck gebracht, dass
sein Gehalt aus dem Landeshaushalt bezahlt wird . Es ist
also auch in Kirchenkreisen nicht immer ganz klar, wie
diese Verbindung aussieht .
Dieter Wiefelspütz hat am 27 . Juni 2013 gesagt - ich
will es zitieren -:
Nach Art . 140 des Grundgesetzes in Verbindung
mit Art . 138 der Weimarer Reichsverfassung ist der
Bund verpflichtet, ein Grundsätzegesetz über die
Ablösung der Staatsleistungen an Religionsgesellschaften zu erlassen .
({4})
Eigentlich ist alles klar .
({5})
Deshalb muss man gar nicht weiter darüber nachdenken .
Die Rechtslage ist klar .
Was die Dimension angeht, zitiere ich eine Frau, die
es genau weiß, nämlich Kerstin Griese . Sie hat 2013 hier
gesagt, dass der Betrag, um den es geht, 2 Prozent des
Etats für die kirchliche Arbeit ausmacht . Es ist also auch
aus Sicht der Kirche kein Betrag, der finanzpolitisch von
der Bedeutung ist, mit der wir ihn heute betrachten . Also,
die Rechtslage ist klar, die finanzpolitische Frage ist geklärt . Es ist also sinnvoll, das Thema zu behandeln .
Ein bisschen peinlich ist es, dass es so lange gedauert hat . Da will ich vielleicht den Linken den Vorwurf
machen: Der Antrag hätte schon etwa in den 20er-Jahren
gestellt werden müssen .
({6})
Das muss ich sagen . Das sind halt Versäumnisse . Aber
man muss auch über solche Dinge reden .
Euer erster Gesetzentwurf zur Ablösung der Staatsleistungen kam im Jahr 2012 . Diesmal soll evaluiert werden. Das finden die meisten hier gut. Ich persönlich finde
es sehr gut . Ich würde dem Antrag auch zustimmen . Aber
jeder im Haus weiß, dass in Regierungskoalitionen nur
passiert, was beide verabreden . Da gehen wir fair miteinander um . Es bestand keine Chance, dass wir das in der
Koalition so miteinander verabreden . Das hat auch die
Rede von Frau Horb gezeigt . Insofern ist klar, wie wir
uns hier verhalten .
Es ist eine komplizierte Sache, überhaupt zu berechnen, wie hoch ein solcher Ablösebetrag sein müsste . Das
ist sicherlich eine Frage, für deren Klärung man eine
Kommission und wissenschaftliche Beratung braucht .
Ganz besonders braucht man dabei eine Beteiligung
aller, die davon betroffen sind . Wenn man fair mit dem
Thema umgeht, dann findet man auch eine Lösung. Denn
man muss sagen - ob wir nun in einem säkularen oder
einem laizistischen Staat leben -: Auch die Kirche hat ein
Interesse daran, solche Reibungspunkte zu beseitigen .
Denn das ist ja doch eine Sache, über die immer wieder
diskutiert wird . Wenn über 100 Jahre darüber diskutiert
wird, dann könnten beide Seiten ein Interesse haben, das
Problem zu lösen . Wir haben gesehen: Hamburg und
Bremen haben Antworten gefunden . Solche Antworten
könnten auch andere Länder finden.
Wir werden heute zwar nicht diesem Antrag folgen,
aber das Signal ist klar: Wir glauben, dass insgesamt eine
Lösung gefunden werden muss . Vielleicht bekommen
wir in der Großen Koalition, möglicherweise schon in
der nächsten Zeit, einen Lösungsvorschlag in diese Richtung hin .
({7})
Man kann sich ja sehr sanftmütig annähern, in diesem
Sinne: Wir finden eine Kommission, die noch mal darüber nachdenkt, ob sie darüber nachdenkt .
({8})
Schönen Dank, alles Gute .
({9})
Ich schließe die Aussprache .
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/4842 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall . Dann ist die Überweisung
so beschlossen .
Ich rufe den Zusatzpunkt 7 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE
Aktuelle Tarifrunde im Bund und in den
Kommunen - Den öffentlichen Dienst gerecht
entlohnen
Ich eröffne die Aussprache . Das Wort hat der Kollege
Michael Schlecht für die Fraktion Die Linke .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Um 6 Prozent sollen die Einkommen im öffentlichen Dienst steigen, so die Forderung der Gewerkschaften . Ich sage: Recht haben sie! Das ist eigentlich
das Mindeste .
({0})
In den Tarifverhandlungen haben die Arbeitgeber, unter anderem Innenminister de Maizière, eine Erhöhung
von gerade einmal 0,6 Prozent angeboten . Rechnerisch
ergibt sich das aus den drei Nullmonaten und dem 1 Prozent, das es erst ab 1 . Juni geben soll . Das ist eigentlich
gar kein Angebot, das ist eine Zumutung . Nein, das ist
im Grunde genommen eine Unverschämtheit . Es ist eine
Provokation, mit einem solchen Angebot aufzuwarten .
({1})
Im Jahr 2017 sollen die Beschäftigten dann noch einmal 2 Prozent mehr erhalten, jedoch auch erst Mitte des
Jahres, zum 1 . Juni . Damit reduziert sich die Erhöhung
auf das Jahr umgerechnet auf gerade einmal 1,2 Prozent .
Auch das ist wirklich skandalös .
({2})
Dann wollen die Arbeitgeber auch noch, dass die Eigenbeiträge der Beschäftigten zur betrieblichen Zusatzversorgung in Stufen um bis zu 0,4 Prozent erhöht werden .
Ich finde es eigentlich pervers, eine Minierhöhung anzubieten und gleichzeitig höhere Belastungen der Beschäftigten zu fordern .
Verdi hat recht, wenn erklärt wird: Hände weg von
unserer betrieblichen Altersversorgung, gerade in der
heutigen Zeit,
({3})
in der sogar von der CSU die Perspektiven der Rente
problematisiert werden. Wenn ich Krankenpfleger oder
Erzieher wäre oder wenn ich bei der Müllabfuhr arbeiten würde, wüsste ich ganz genau, was ich zu tun hätte:
Streiken! Das ist aus meiner Sicht die einzige Antwort,
die jetzt angezeigt ist. Ich finde es sehr begrüßenswert,
dass Verdi jetzt zu Warnstreiks aufruft .
({4})
Die Vorstellungen der Arbeitgeber laufen letztendlich
auf Reallohnverluste hinaus . Man kann nur staunen: So
wenig wert ist ihnen die Arbeit der Beschäftigten im öffentlichen Dienst. Das finde ich wirklich zynisch.
({5})
Die Schieflage zwischen den Reallöhnen, die faktisch
seit 2000 stagnieren, und den Gewinnen, die seit 2000
preisbereinigt um mehr als 30 Prozent gestiegen sind,
wird immer größer . Seit dem Jahr 2000 wurde im öffentlichen Dienst der verteilungsneutrale Spielraum, der
die gesamtwirtschaftliche Produktivität und die Inflation
umfasst, nicht ausgeschöpft . Der Rückstand, der sich in
den letzten 15 Jahren ergeben hat, liegt mittlerweile bei
6 Prozent . Von daher ist vollkommen klar: Eine 6-prozentige Erhöhung, wie sie jetzt von Verdi gefordert wird,
ist genau richtig und würde endlich diese skandalöse Lücke schließen .
({6})
Lothar Binding ({7})
Deshalb fordere ich die Bundesregierung und den Innenminister auf
({8})
- es ist irritierend, dass Sie bei Ihrer Fraktion sitzen -, auf
die Forderung der Gewerkschaften einzugehen und sie zu
erfüllen . Das wäre das Mindeste . Dann gibt es auch keine
Warnstreiks mehr .
({9})
Auch im Vergleich mit der Industrie ist der öffentliche
Dienst abgehängt . Die Lücke beträgt rund 10 Prozentpunkte . Ist denn die Dienstleistungsarbeit an Menschen,
die Pflegearbeit uns so viel weniger wert als das Zusammenschrauben von Autos? Ich finde, da läuft etwas vollkommen schief in dieser Gesellschaft .
({10})
Steigende Löhne im öffentlichen Dienst sind ein wichtiger Beitrag zur Stärkung des privaten Konsums und
damit der Binnennachfrage, und sie sind auch wichtig,
um die Deflation zu bekämpfen. Herr de Maizière, die
gleichen Politiker, die die EZB wegen der Nullzinspolitik
schelten, sind jetzt dabei, eine Lohnerhöhung anzubieten,
die absolut deflationär wirkt. Wenn Sie so weitermachen,
dann hat die EZB nie eine Chance, aus ihrer Politik, die
auch ich kritisch beurteile, herauszukommen . Es ist vollkommen abstrus, was Sie da hingelegt haben .
({11})
Die Forderungen von Verdi kosten Bund und Kommunen etwa 6 Milliarden Euro . Angesichts eines Haushaltsüberschusses von 30 Milliarden Euro kann doch wirklich
niemand behaupten, es sei kein Geld da . Um den Arbeitgebern beim Nachdenken zu helfen, kann ich jedenfalls
den Beschäftigten nur empfehlen: Beteiligt euch massenhaft an den Warnstreiks, zu denen jetzt von den Gewerkschaften, von Verdi, aufgerufen wird!
Danke schön .
({12})
Das Wort hat der Kollege Armin Schuster für die
CDU/CSU-Fraktion .
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 66 Jahre alt
ist das Erfolgsmodell Tarifautonomie . - Ich fange jetzt
nicht an, zu singen: 66 Jahre … Sie wissen, was dann
kommt . - Es ist ein spezielles Recht der Verbände des
Arbeitsmarktes, die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen durch Tarifverträge völlig frei von staatlicher Einflussnahme aushandeln zu können.
({0})
Das der Linken zu sagen, ist völlig zwecklos; denn sie
treiben das jedes Jahr . Ich richte mich an die Zuhörer die Kollegen hier wissen das -: Das steht in Artikel 9 Absatz 3 Grundgesetz .
({1})
Das, was die Linke hier beantragt und Herr Schlecht
übelst vorgetragen hat, ist genau das, was wir nicht tun
sollen .
({2})
Frei von staatlicher Einflussnahme heißt nicht, über Tarifverhandlungen im Deutschen Bundestag zu debattieren,
sich einzumischen oder gar zu versuchen, zu beeinflussen . Herr Schlecht, Sie versuchen, zum Streik aufzurufen . Sie nennen es eine Unverschämtheit und skandalös,
was dort verhandelt wird .
({3})
Alles, was an dieser Debatte skandalös und unverschämt
ist, ist, dass sie auf Ihren Antrag hin stattfindet. Das ist
das Problem .
({4})
Woher kommt das? Warum kapiert das die Linke seit
Jahren nicht?
({5})
Eine staatszentrierte sozialistische Denkweise legt gerne
Löhne fest .
({6})
Kämen wir Ihnen da entgegen, wären demnächst die
Brotpreise oder vielleicht die Milchpreise betroffen, ich
weiß es nicht .
({7})
Aber das ist nicht das Modell . Ich glaube, mit allen anderen Parteien hier im Deutschen Bundestag, mit uns,
ist das nicht zu machen, und ich sage Ihnen noch etwas:
Beide Verhandlungsführer, sowohl Herr Bsirske als auch
Herr de Maizière, brauchen ausweislich der Ergebnisse
der letzten Jahre garantiert keine Empfehlungen aus diesem Haus . Die sind selbst gescheit, die sind selbst gut .
Das sieht man auch an den Ergebnissen, die wir hier Jahr
für Jahr vorlegen . Auf diese komme ich gleich noch .
Wenn wir überhaupt über etwas sprechen sollten, dann
über das Danach; das sage ich jetzt bewusst in Richtung
des Innenministers . Egal, was herauskommt - und ich
bin ziemlich sicher, dass etwas Gutes rauskommt -, hätte
ich doch schon gerne die inhaltsgleiche Übertragung:
({8})
für die Beamten, für die Versorgungsempfänger, für die
Soldaten und für die Richter .
({9})
Meine Damen und Herren, in der Debatte geht es um
die Frage: Wie viel wert ist uns der öffentliche Dienst?
Die Zehnjahresbilanz der Union in diesem Haus: Wir
haben die Tarifergebnisse inhaltsgleich auf Beamten,
Soldaten und Richter übertragen, und zwar permanent .
2012 und 2014 waren es über 10 Prozent . Wegen der
Flüchtlingslage ist ein Besoldungsänderungsgesetz in
Kraft, mit dem wir denen helfen, die mithelfen wollen,
zum Beispiel durch Spesenabrechnungen oder Anreize für Pensionäre . Wir haben das Altersgeldgesetz und
das Familienpflegezeitgesetz eingeführt, wir haben die
Professorenbesoldung neu geordnet und ein Fachkräftegewinnungsgesetz verabschiedet, durch das Eingangsbesoldungen nicht, wie in bestimmten Ländern, abgesenkt,
sondern heraufgesetzt werden, bei IT-Fachleuten und bei
Ingenieuren auf A 10 bzw . A 11, usw . Das ist eine Liste
des Vertrauens .
Jetzt komme ich zu den Vergleichen . Der DGB stellt
seit der Föderalismusreform ein Gehaltsgefälle von bis
zu 18,5 Prozent zwischen den Bundesländern fest . Der
Bund bewegt sich im obersten Drittel, beinahe an der
Spitze . Dort oben sind noch Länder wie zum Beispiel
Bayern zu finden. Da die Linke diese Aktuelle Stunde
beantragt hat, habe ich mich gefragt: Was ist eigentlich
mit Brandenburg? Ich muss mir ja das Land raussuchen,
in dem Sie am meisten zu sagen haben .
({10})
Nach der Vertrauensliste kommt jetzt die Trauerliste .
Was ist denn mit Brandenburg? Wo steht ihr denn? Der
Gymnasiallehrer, der in Bayern 60 000 Euro verdient,
verdient bei euch nicht einmal 55 000 Euro . Der Polizeihauptmeister, der in Bayern 40 000 Euro verdient,
verdient bei euch nicht einmal 36 000 Euro . Kehrt doch
mal vor eurer eigenen Haustür und macht eure Hausaufgaben, bevor ihr hier komische Dinge vorschlagt .
({11})
Es gab keine inhaltsgleiche Übernahme der Ergebnisse
der Tarifverhandlungen in Brandenburg 2014 und 2015 .
Na wunderbar, herzlichen Glückwunsch! Und Sie stellen
hier tolle Anträge .
({12})
Meine Damen und Herren, vor allen Dingen den Beamten und den Tarifbeschäftigten dort draußen sage ich:
Entscheiden Sie sich nicht aufgrund einer solch sinnlosen Debatte, die die Linken hier initiiert haben . Entscheiden Sie sich, wem Sie vertrauen und wem Sie misstrauen . - An die Linke gerichtet, sage ich - Herr Schlecht,
ich wollte das eigentlich nicht machen; aber ich mache
es jetzt doch, weil Sie das Wort „pervers“ benutzt haben -: Prüfen Sie einmal Ihr Staatsverständnis . Nehmen
Sie vielleicht einmal Rechtsunterricht; Verfassungsrecht
oder so etwas wäre gut .
({13})
Ich sage das natürlich nicht zu Ihnen, aber draußen würde
ich es so formulieren:
({14})
Wenn man keine Ahnung hat, einfach mal Klappe halten!
({15})
Danke schön .
({16})
Das Wort hat der Kollege Markus Kurth für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Herr Schlecht, auch ich muss sagen: Streckenweise hatte
ich bei Ihrer Rede das Gefühl, mich verirrt zu haben, als
sei ich nicht im Plenum des Deutschen Bundestages, sondern bei irgendeiner Veranstaltung von Verdi .
({0})
Man muss schon überlegen, was man von hier aus sagt .
Ich kann Ihnen das spiegeln und eine andere Position
aufzeigen . Ich bin ja schon ein bisschen länger dabei und
kann mich an Aktuelle Stunden erinnern, die die FDP im
Bundestag beantragt hat, beispielsweise bei Streiks der
IG Metall . In dem Fall hat die FDP auf die Gewerkschaften draufgeschlagen . Sie ist dabei mit einer ähnlich groben, teils platten Rhetorik gegen Arbeitszeitverkürzungen
vorgegangen, wie Sie jetzt umgekehrt auch . Damals habe
ich mich genauso gegen Eingriffe in die Tarifautonomie
vonseiten der Arbeitgeber, indirekt vertreten durch die
FDP, gewehrt. Jetzt finde ich vor allen Dingen die Form,
wie Sie hier Ihre Kritik äußern, zumindest fragwürdig .
({1})
- Ich höre den Zwischenruf, dass der öffentliche Dienst
ein bisschen was anderes ist . Wir reden hier in erster Linie
über Tarifautonomie . Da es um den öffentlichen Dienst
geht, gibt es jenseits der aktuellen Tarifverhandlungen
natürlich einiges dazu zu sagen . Zum Beispiel kann man
sehr wohl etwas zur Finanzausstattung der Kommunen
anmerken . Diesbezüglich stelle ich mit Blick auf mein
Land Nordrhein-Westfalen fest, dass 40 Prozent der
Kommunen ein Haushaltssicherungskonzept aufstellen
Armin Schuster ({2})
mussten und die Große Koalition ihre Versprechen, die
Kommunen finanziell zu entlasten, nicht wahrgemacht
hat .
({3})
Das ist ein Grund, warum Kämmerer berechtigte Tarifforderungen nur noch mit Bauchschmerzen oder gar
nicht mehr erfüllen können . Das ist ein eminent politischer Punkt, und der gehört in den Deutschen Bundestag .
({4})
Die Große Koalition hat beispielsweise bei der Eingliederungshilfe im Zuge des Bundesteilhabegesetzes ein
5-Milliarden-Paket versprochen, was eine Entlastung für
die Kommunen bedeutet hätte . Dieses Paket hat sich in
den verschiedenen Verhandlungssträngen der Bund-Länder-Finanzverhandlungen verflüchtigt. Das ist das Problem, über das wir hier reden müssen; denn eine vernünftige Finanzausstattung der Länder und nicht zuletzt der
Kommunen ist die Grundlage dafür, dass die Arbeitgeber
bei Tarifverhandlungen auf berechtigte Forderungen der
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eingehen können .
({5})
Wenn wir schon über Tarifautonomie sprechen, so
muss ich doch daran erinnern, dass es die Große Koalition war, die mit dem Tarifeinheitsgesetz ihrerseits die
Voraussetzungen dafür geschaffen hat, auch in Tarifautonomie einzugreifen . Das, denke ich, sollte man im
Hinterkopf behalten, wenn noch weitere Rednerinnen
und Redner der Koalition die Linke zeihen, die Tarifautonomie zu beschädigen . Da sind Sie selbst nicht ganz
unschuldig und unbeteiligt .
({6})
Als rentenpolitischer Sprecher der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen muss ich jetzt doch noch auf einen
inhaltlichen Punkt der Tarifverhandlungen eingehen,
nämlich die Altersversorgung . Das ist ja einer der zentralen Streitpunkte: die Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstes . Was macht diese Bundesregierung? Sie
versucht - zumindest verbal, ein Gesetz hat sie ja noch
nicht eingebracht -, die Betriebsrente zu stärken; das behauptet sie zumindest . Sie möchte, nachdem sie eingesehen hat, dass die Riester-Rente ihre hoch gesteckten
Erwartungen nicht erfüllt, die zweite Säule stärken . Es
kann ja wohl nicht sein, dass Sie hier auf der einen Seite bundespolitisch etwas aufzubauen versuchen und das
dann während der Tarifverhandlungen mit dem Hintern
wieder einreißen, indem Sie die Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst schwächen . Das kann nicht funktionieren . Das ist hochgradig widersprüchlich .
({7})
Mit Blick darauf muss man schon sagen, dass gerade
die Zusatzversorgung im Alter beim öffentlichen Dienst
auch ein wesentliches Element der Nachwuchsgewinnung ist . In der Nachbarstadt meines Wahlbezirkes, in
Essen, gehen in den nächsten 15 Jahren 40 Prozent in
der öffentlichen Verwaltung in den Ruhestand . Die haben schon jetzt ein richtig großes Nachwuchsproblem .
Systemadministratoren und gute Verwaltungsjuristen bekommen Sie nicht für ein Butterbrot . Sie verdienen in der
freien Wirtschaft teilweise sogar ein Mehrfaches .
({8})
Neben der Arbeitsplatzsicherheit ist eine vernünftige Altersversorgung für diese Fachkräfte eben auch ein Argument, für den öffentlichen Dienst zu arbeiten . Wir alle,
auch wir hier als Gesetzgeber, sind darauf angewiesen,
dass wir einen guten und funktionierenden öffentlichen
Dienst haben . Wer sonst sollte unsere Gesetze umsetzen?
Ich bin allerdings guter Hoffnung, dass die Sozialpartner, dass Verdi das eigenständig hinbekommt, ohne dass
wir hier Geleitzugdebatten dieser Art führen müssen, wie
Sie sie, Herr Schlecht, eröffnet haben . Wir sollten uns auf
die politischen Sachen konzentrieren .
Vielen Dank .
({9})
Das Wort hat der Kollege Mahmut Özdemir für die
SPD-Fraktion .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Einige wollen offenbar eine Tradition daraus
machen, dass wir im Deutschen Bundestag die Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst begleitend debattieren, und dies, obwohl das Parlament bei den Verhandlungen über die Lohnsteigerungen nach wie vor nicht mit
am Tisch sitzt . Deshalb bleibt die Frage nach der rationalen Berechtigung dieser Debatte weiterhin unbeantwortet, unbeantwortet,
({0})
obschon Recht und Gesetz eine klare Antwort darauf
geben . Artikel 9 Grundgesetz weist die Auseinandersetzung über Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen ganz
klar Arbeitgeberverbänden und den Gewerkschaften zu .
Jede politische Einflussnahme und Meinungsäußerung
zu Forderungen der Arbeitgeber- oder der Arbeitnehmerseite ist damit unzulässig . Die Neutralität der Politik wird
im besonderen Fall des öffentlichen Dienstes auch nicht
durch den Status des Bundesministeriums des Innern als
Verhandlungspartei durchbrochen .
Wir halten fest: Das Anliegen der Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter im öffentlichen Dienst nach einer Lohnerhöhung ist berechtigt . Die konkrete Höhe wiederum ist
Sache der Verhandlungsparteien . Diese Haltung ist im
Übrigen weder mit dem höflichen Entledigen von VerMarkus Kurth
antwortung noch mit Desinteresse gleichzusetzen . Haltung zugunsten des öffentlichen Dienstes zeigen wir als
Sozialdemokraten durch die Wahrnehmung parlamentarischer Pflichten und hier zuvörderst durch verantwortungsvolle Haushaltsgesetzgebung . Der Abschluss der
Tarifvertragsparteien muss schließlich auch im Bundeshaushalt abgebildet werden . Niemals haben der Bund
oder die Kommunen die Beschäftigten hier im Stich gelassen .
({1})
Die derzeitigen Forderungen von 6 Prozent Lohnerhöhung und einer Anhebung der Ausbildungsvergütung
um 100 Euro bedeuten für die Haushalte von Bund und
Kommunen erhebliche Mehrausgaben, die wir zu berücksichtigen haben . Für den Bund würden die Mehrausgaben 1,7 Milliarden Euro und für die Kommunen etwa
5,6 Milliarden Euro betragen . Daher sollten wir besonnen auf das Verhandlungsergebnis der dazu Berufenen
warten, statt hektisch und planlos Aktuelle Stunden einzuberufen .
Der öffentliche Dienst braucht eine verlässliche Stellenausstattung, die sich in den Haushalten widerspiegelt .
Auf diese Weise zeigt man als Abgeordneter verbindliche Solidarität mit den Staatsbediensteten . Übrigens:
Nach drei Verhandlungsterminen sind die üblichen Rituale zwischen den Tarifvertragsparteien hinreichend
zelebriert . Die Feuerwehrleute, die Beschäftigten bei der
Müllabfuhr, die Erzieherinnen und Erzieher in den Kliniken und in der Pflege warten jetzt auf einen vernünftigen
Verhandlungsabschluss . Im Interesse aller Betroffenen
hoffe ich persönlich daher auf einen reibungslosen, gerechten und für beide Seiten guten Gewissens vertretbaren Abschluss .
Obwohl wir als Parlament nicht am Verhandlungstisch
sitzen, sollten wir die heutige Debatte, da sie nun einmal
einberufen ist, als Anstoß dazu nutzen, auf Verbesserungen der gesetzgeberischen Rahmenbedingungen hinzuarbeiten; denn der öffentliche Dienst muss auch weiterhin
gefragt und begehrt sein . Hierzu zählen in der aktuellen
Entwicklung für mich zwei Punkte .
Der Ausschluss von sachgrundlosen Befristungen gehört ins Gesetz .
({2})
Eine Belastung der Tarifvertragsparteien mit diesen Aufgaben dürfen wir nicht zulassen . Hier müssen wir als
Gesetzgeber eine ganz klare Entscheidung treffen . Insbesondere jungen Beschäftigten in öffentlichen Beschäftigungsverhältnissen müssen wir Sicherheit geben, wenn
wir von ihnen erwarten, dass sie in diese Gesellschaft investieren, vom Ehrenamt bis in die Rentenkassen .
({3})
Die Wertschätzung des öffentlichen Dienstes drückt
sich letztlich nicht nur in Lohnsteigerungen aus . Vielmehr muss das Parlament mit dem Haushalt auch die
konkrete personelle Ausstattung gewährleisten . Deshalb
müssen wir die Aufstockung bei der Bundespolizei um
3 000 Stellen auch in anderen Bereichen konsequent als
Beispiel nehmen . Wie wichtig haushalterischer Spielraum ist, um eine entsprechende Personalausstattung
zu erhalten und aufzubauen, zeigen unsere Kommunen,
seitdem in dieser Wahlperiode auf maßgebliche Initiative
der SPD immense Anstrengungen unternommen worden
sind, Städte und Gemeinden von Kosten zu entlasten .
({4})
Da komme ich zum Bundesteilhabegesetz . Wenn Sie
von einer geplanten Entlastung in Höhe von 5 Milliarden Euro sprechen, dann dürfen Sie nicht unter den Tisch
kehren, dass bis dahin durch eine Finanzierung in den
Haushalten 2015, 2016 und 2017 eine Brücke gebaut
worden ist .
({5})
- Lesen Sie es im Haushalt nach; Sie haben mit am Tisch
gesessen .
Unser öffentlicher Dienst ist im Kontext des Flüchtlingszuzuges besonders in Vorleistung gegangen . Vom
Bund bis in die Kommunen haben die Beschäftigten
Überstunden angehäuft und das Bild von Bürokraten in
verstaubten Amtsstuben vollends aus den Köpfen verdrängt . Aber die Anhäufung von Überstunden ist gleichsam ein Zeichen für eine mangelhafte Stellenausstattung .
Hier müssen wir ganz dringend nachsteuern .
({6})
Die angemessene Würdigung des öffentlichen Dienstes basiert nun auf einer kompromissfreudigen Kooperation zwischen dem Bundesministerium des Innern und
den Kommunen auf der einen Seite und den Beschäftigtenvertretern auf der anderen Seite . Diese Kooperation
ist der Garant für einen soliden Abschluss . Ich wünsche
den Verhandlungsparteien in der nächsten Verhandlungsrunde gute Gespräche und einen würdigen Abschluss im
Sinne unseres Gemeinwesens .
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit und ein herzliches Glückauf .
({7})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Oswin
Veith das Wort .
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich hoffe, die Linke wird verstehen, dass ich es
im Namen meiner Fraktion nicht gutheißen kann, dass
wir uns mit der von Ihnen aufgesetzten Aktuellen Stunde wieder einmal in laufende Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst einmischen . Sie machen das eigentlich
immer so . Vor zwei Jahren standen wir das letzte Mal
hier, fast zur selben Zeit . Es ist bei Ihnen ein bisschen
Mahmut Özdemir ({0})
so wie bei Dinner for One - nur dass noch nicht Silvester ist -: the same procedure as every year . Letztes Mal
hieß Ihr Begehren: Höhere Löhne für die Beschäftigten
des öffentlichen Dienstes . Ein anderes Mal hieß es: Der
öffentliche Dienst ist mehr wert . Heute heißt es: Den öffentlichen Dienst gerecht entlohnen .
({1})
- Nur langsam! - Jedes Mal wollten Sie sich dabei in
die laufenden Tarifverhandlungen einmischen, jedes Mal
wollten Sie die Tarifvertragsparteien bevormunden, und
jedes Mal wollten Sie den Verlauf der Tarifverhandlungen irgendwie beeinflussen.
({2})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, jedes Mal haben wir das abgelehnt . Das tun wir heute wieder, und das
ist auch gut so .
({3})
Ich will Ihnen auch sagen, warum wir das tun: weil Tarifverhandlungen immer auch Ausdruck der gelebten
Tarifautonomie sind, sie ist durch unser Grundgesetz
geschützt und gehört zum Grundpfeiler unserer sozialen
Marktwirtschaft . Gott sei Dank ist das so; unseren Verfassungsvätern sei Dank .
Wir haben in Deutschland seit Jahrzehnten ausgezeichnete Erfahrungen damit gesammelt, dass nicht die
Politik die Löhne bestimmt. Daher finde ich es klug, dass
die Tarifhoheit bei den Tarifpartnern verbleibt und wir
uns nicht einmischen . Das sollte auch die Linke so langsam einmal einsehen und beherzigen .
({4})
Wir bleiben bei unserem 67 Jahre alten Erfolgsmodell
Tarifautonomie . Diese Freiheit hat sich in Krisenzeiten
bewährt . Es hat sich gezeigt, wie gut die Tarifpartner zum
Wohle unseres Landes damit umgehen . Schauen wir uns
also einmal den Sachstand an; denn: Nicht an ihren Worten sollt ihr sie messen, sondern an ihren Taten . So heißt
es schon bei Johannes .
({5})
Wir haben die Rahmenbedingungen deutlich verbessert . Dreimal wurden die Tarifabschlüsse inhaltsgleich
auf die Bundesbeamten übertragen, und seit 2012 - auch
Sie wissen das - wird die Sonderzahlung, auch als Weihnachtsgeld bekannt, wieder gewährt .
({6})
Mit dem Fachkräftegewinnungsgesetz haben wir eine
Reihe von positiven Maßnahmen auf den Weg gebracht .
Wir haben den Eintritt in den Ruhestand flexibler gestaltet, gleiche Rechte für Lebenspartnerschaften und die Familienpflegezeit im Beamtenrecht umgesetzt. Wir haben
die Vergütung von Professoren verbessert, das Leistungsprinzip gestärkt und die Portabilität von Versorgungsanwartschaften geschaffen .
Letztes Jahr konnten wir sogar Neuerungen umsetzen, die die Attraktivität des Soldatenberufs gesteigert
haben . Der geschmeidige Begriff dafür hieß „Bundeswehr-Attraktivitätssteigerungsgesetz“ . Wir haben unseren Zeit- und Berufssoldaten Wertschätzung ausgesprochen und mit den vielen Änderungen eine Angleichung
der Rechtslage der Soldaten an Standards erreicht, die für
andere Bundesbeamtinnen und -beamte längst galten .
Im gleichen Jahr konnten wir unsere Flexibilität unter Beweis stellen, als der Arbeitsaufwand im BAMF
überhandnahm . Wir haben reagiert und die Zahl der
Mitarbeiter im letzten Jahr mehr als verdoppelt, nämlich
von 3 500 auf 7 300 . In einem weiteren Schritt haben
wir finanzielle Verbesserungen, speziell für die Beamten
beim BAMF, erreicht, indem wir die Zulage für Arbeit
zu Unzeiten erhöht haben . Damit konnten wir deutlich
entlasten .
Bei all dem, was bereits auf den Weg gebracht wurde, ist es kein Wunder, dass der Bund im Vergleich zu
den Ländern immer noch der beliebteste Arbeitgeber im
öffentlichen Dienst ist . Dabei überzeugen nicht nur die
Besoldung, sondern auch die Arbeitsbedingungen . All
das ist gut für die Attraktivität des öffentlichen Dienstes
auf Bundesebene .
Moderne, attraktive und familienfreundlichere Arbeitsbedingungen tragen dazu bei, unseren öffentlichen
Dienst noch attraktiver zu machen . Die konsequente
Weitergabe der Tarifergebnisse ist dabei nur ein kleiner
Baustein, um zukünftigen Arbeitskräften zu zeigen, dass
sie beim Bund in guten Händen sind .
All das, meine sehr verehrten Damen und Herren, belegt, dass wir es ernst meinen und uns an unseren Taten
messen lassen . Sie von den Linken hingegen sind doppelzüngig . Hier fordern Sie immer gerne und immer viel,
doch dort, wo Sie Verantwortung tragen und umsetzen
könnten, machen Sie es nicht, so zum Beispiel in Thüringen, wo Sie nicht zeitgleich übertragen, sondern schon
zum zweiten Mal in Folge ein ganzes halbes Jahr später .
({7})
Ich sage: Wir werden diesem schlechten linken Beispiel
nicht folgen, sondern unserem Bundesinnenminister den
Rücken stärken bei seinem bereits angekündigten Bemühen, den berechtigten Anliegen der Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes nach angemessener
Lohnerhöhung Rechnung zu tragen, ohne dass es Verhandlungsrituale oder gar Streiks bedarf . Dafür werben
wir .
Da alles schon auf gutem Wege ist, wie Sie gehört haben, war Ihre Aktuelle Stunde auch heute wieder einmal
überflüssig.
({8})
Das Wort hat die Kollegin Jutta Krellmann für die
Fraktion Die Linke .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Seit 30 Jahren nehme ich als Gewerkschaftssekretärin an Tarifverhandlungen teil . Ich bin in dieser
Diskussion völlig irritiert . Als Bundestagsabgeordnete verstehe ich meine Rolle als die einer Arbeitgeberin .
Herr de Mazière ist Verhandlungsführer des Bundes; er
ist also nicht irgendjemand . Deswegen müssen wir doch
mit ihm reden und mit niemand anderem .
({0})
Zwei Forderungen in der Tarifrunde im öffentlichen
Dienst liegen mir deshalb besonders am Herzen: erstens
die Übernahme der Auszubildenden und zweitens die
Abschaffung der sachgrundlosen Befristungen .
({1})
Eine Übernahme der Auszubildenden ist in vielen Tarifverträgen mittlerweile gängige Praxis, insbesondere
in den Industrietarifverträgen . Da muss der öffentliche
Dienst unbedingt nachziehen .
({2})
Auszubildende werden nicht gleich zu Beamten auf Lebenszeit, wenn man ihnen eine Festanstellung garantiert .
Alle reden landauf, landab über den Fachkräftemangel .
Wieso hält man nicht an denen fest, die man jahrelang
teuer ausgebildet hat? Das ist aus meiner Sicht unklug
und in der Diskussion um Fachkräftemangel echt schräg .
({3})
Entweder haben wir tatsächlich einen Fachkräftemangel - dann brauchen wir die Ausgelernten als qualifiziertes Personal im öffentlichen Dienst -, oder das ganze
Gerede vom Fachkräftemangel ist reines Gefasel und Geschwafel, um die Leute gefügig zu machen .
Die zweite Tarifforderung, über die ich sprechen will,
ist die Abschaffung der sachgrundlosen Befristungen . Ich
weise immer wieder darauf hin, wie auffallend hoch die
Befristungsquote im öffentlichen Dienst ist . Können Sie
sich vorstellen, was das für die Beschäftigten bedeutet?
Dass die CDU/CSU das nicht kann - schade, dass Herr
Oellers nicht da ist -, weiß ich aus mehreren Diskussionen . Dabei ist längst klar, dass Befristungen gute Arbeit
verhindern .
Sie, liebe SPD, die Sie sich die Forderung nach guter
Arbeit immer wieder fett auf Ihre Fahnen schreiben, haben nach dieser Diskussion zwei Möglichkeiten . Erstens:
Sie akzeptieren die Notwendigkeit zur Abschaffung der
sachgrundlosen Befristungen .
({4})
Dann lassen Sie uns das endlich machen .
({5})
Oder zweitens: Sie wissen um die Notwendigkeit der Abschaffung und wollen sie - das sagen Sie jedenfalls immer wieder -, aber kuschen weiterhin vor der CDU/CSU .
({6})
Auf genau diesen Zirkus haben die Beschäftigten keine
Lust mehr . Sie wollen endlich die notwendigen Verbesserungen, zumindest in ihrem Beschäftigungsbereich,
durchsetzen .
({7})
Die Kolleginnen und Kollegen mussten das Thema
Befristungen auf die Tarifebene heben, weil die Bundesregierung ihrem Wunsch, an dieser Stelle endlich etwas
zu machen, nicht nachgekommen ist . Es ist eigentlich
Aufgabe des Gesetzgebers, das Problem der Befristungen für alle Beschäftigten zu regeln . Das ist seit Jahren
nicht in Ordnung . Seit Jahren diskutieren wir darüber .
Dass auf diesem Gebiet nichts passiert, das ist einfach
ein Skandal .
Herr Oellers, der, wie gesagt, leider nicht da ist, und die
CDU/CSU können sich noch so sehr aufregen . Wir werden dieses Thema immer wieder auf die Tagesordnung
setzen, sooft wir nur können . Ich sage Ihnen ganz deutlich: Die Linke wird so lange Diskussionen über dieses
Thema führen, bis die sachgrundlosen Befristungen endlich Geschichte sind .
({8})
Leider stellen auch Arbeitgeber zunehmend Forderungen in Tarifrunden, so auch im öffentlichen Dienst . Die
kommunalen Arbeitgeber wollen die tariflich geregelten
Betriebsrenten kürzen .
({9})
Zur Erinnerung: Die Bundesregierung beabsichtigt die
Absenkung des Rentenniveaus bis 2030 auf 43 Prozent,
und das für alle Beschäftigten in Deutschland . Wenn
jetzt die kommunalen Arbeitgeber daherkommen und die
Betriebsrenten kürzen wollen, dann werden die Beschäftigten im öffentlichen Dienst doppelt bestraft: zum einen
durch die Absenkung des Rentenniveaus insgesamt und
zum anderen durch die Kürzung der Betriebsrenten . Die
Bundesregierung denkt als Gegenstrategie gerade darüber nach, die Betriebsrenten zu stärken . Die kommunalen Arbeitgeber im öffentlichen Dienst machen genau
das Gegenteil von dem, was im Moment diskutiert wird .
Das geht doch gar nicht . Mit so etwas muss doch Schluss
sein . Das läuft doch vollkommen gegeneinander . Das ist
gegen die Interessen der Menschen gerichtet .
({10})
Die Ausarbeitung der Leitlinien für gute Arbeit im öffentlichen Dienst können wir hier beeinflussen. Das ist
alles eine Frage des politischen Willens . Wenn wir das
wirklich wollten, dann könnten wir das auch . Es wäre
möglich, dass wir dadurch Verbesserungen für alle Beschäftigten schafften . Bestimmte Tarifforderungen wären
eigentlich gar nicht nötig, wenn das Thema gesetzlich
längst geregelt wäre .
Kollegin Krellmann, achten Sie bitte auf die Zeit .
Ich wünsche den Beschäftigten im öffentlichen Dienst
von meiner Seite aus auf jeden Fall viel Erfolg bei ihrem
Versuch, ihre Forderungen durchzusetzen, und ich hoffe, sie bekommen das hin, weil sie das nicht nur für den
öffentlichen Dienst, sondern für die Beschäftigten insgesamt machen .
Vielen Dank .
({0})
Das Wort hat der Kollege Matthias Schmidt für die
SPD-Fraktion .
({0})
Vielen Dank . - Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren auf den Zuschauertribünen! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine Aktuelle Stunde, so
steht es in unserer Geschäftsordnung, umfasst Themen
von „allgemeinem aktuellen Interesse“ . Man mag hinzufügen: mit Zuständigkeit des Bundestages . Das steht dort
aber nicht .
({0})
Darum konnten Sie genau dieses Thema hier auch zum
Gegenstand einer Aktuellen Stunde erheben . Was das allgemeine und aktuelle Interesse ist, bestimmt allein der
Antragsteller, in diesem Fall die Fraktion Die Linke .
({1})
- Genau . - Frau Sitte, Hut ab! Sie haben es sogar geschafft, mit diesem Thema Ihre Reihen halbwegs zu füllen, obwohl es tatsächlich unstrittig ist, dass es an dieser
Stelle keine Zuständigkeit des Deutschen Bundestages
gibt .
Die Tarifrunde ist aus guten Gründen grundgesetzlich
geschützt . Artikel 9 des Grundgesetzes ist inzwischen
zitiert worden . Die Tarifvertragsparteien sollen frei von
staatlichen Eingriffen und Bevormundungen im öffentlichen Dienst und außerhalb des öffentlichen Dienstes
handeln können .
Frau Krellmann, ich habe mir das, was Sie gerade
gesagt haben, aufgeschrieben . Sie haben gesagt: Leider
stellen auch Arbeitgeber Forderungen in den Tarifverhandlungen . - Ja, es ist genau das Wesensmerkmal von
Verhandlungen, dass beide auf Augenhöhe miteinander
reden und nach einem gemeinsamen Kompromiss suchen . Genau das müssen wir doch auch den Arbeitgebern
zugestehen .
Auch wenn wir alle persönlich eine Meinung zum
Tarifkonflikt haben, sollten wir uns als Bundestag hier
heraushalten .
({2})
Herr Schlecht, ich bin mir nicht sicher, ob Sie den Gewerkschaften mit Ihrem Votum hier einen Gefallen getan
haben; denn Sie haben sich in deren ureigenste Tätigkeit
eingemischt und wollen sie bevormunden . Das ist an dieser Stelle doch überhaupt nicht nötig .
({3})
Auf der einen Seite werden 6 Prozent gefordert, auf
der anderen Seite werden 1 Prozent plus 2 Prozent gleich
3 Prozent angeboten . Man kann hier noch einmal genauer nachrechnen, ob das wirklich stimmt, aber lassen wir
den Tarifvertragsparteien doch Zeit und Raum zur freien
Verhandlung ohne Einmischung von außen .
({4})
Gleichwohl vielen herzlichen Dank an die Fraktion
Die Linke dafür, dass sie dieses Thema auf die Tagesordnung gesetzt hat . Das gibt mir die Gelegenheit zur
Analyse des öffentlichen Dienstes, und es wird Sie nicht
überraschen: Ich komme zu einem Lob .
Frau Krellmann, Sie haben gesagt, Sie sind 30 Jahre
lang Gewerkschaftssekretärin gewesen .
({5})
- Sie sind es noch . - Ich bin vor etwas über 30 Jahren in
den öffentlichen Dienst eingetreten und beobachte den
öffentlichen Dienst seitdem sehr genau . Was vor 30 Jahren in den Amtsstuben los war, ist etwas ganz anderes als
das, was heute dort los ist .
({6})
Damals gab es noch viele buchstäbliche Beamte und Angestellte mit Ärmelschonern, aber das hat sich kolossal
gewandelt . Das liegt auch daran, dass wir im öffentlichen
Dienst akademisch und nicht akademisch sehr gut ausbilden . Ein großes Lob geht hier an das Bundesverwaltungsamt und an die Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung .
Die Beamten und Angestellten, die heute dort tätig
sind, wissen, um was es geht . Denen ist der Wortlaut
nicht wichtiger als der Sinn einer Vorschrift . Sie arbeiten
für das Gemeinwohl - und das sehr erfolgreich .
Wir alle bemerken nur dann, dass der öffentliche
Dienst da ist, wenn einmal etwas nicht klappt . Manchmal
sind wir daran auch selbst schuld . Wer hat nicht selbst
schon einmal vergessen, den Reisepass zu kontrollieren,
und kurz vor der Urlaubszeit festgestellt, dass der Reisepass abgelaufen ist? Andere Fälle sind auch hausgemacht . Die Berliner Bürgerämter sind hierfür ein gutes
Beispiel . Das Land Berlin hat das nun aber auch begriffen und stattet sie wieder besser aus .
Es gibt allerdings auch sehr viele positive Beispiele
im öffentlichen Dienst, zum Beispiel die kommunalen
Krankenhäuser, Kitas und grundsätzlich auch die Schulen, wobei natürlich klar ist, dass es bei den jetzigen Tarifverhandlungen gar nicht um die Landesbeschäftigten
geht . Die Integration von Flüchtlingen ist schon genannt
worden . Und uns Bundestagsabgeordneten helfen die
Ministerien; sie unterstützen uns alle in unserer Arbeit
als Parlamentarier .
Der öffentliche Dienst ist gesamtgesellschaftlich
wichtig und muss, damit dies so bleibt, für die Beschäftigten attraktiv bleiben . Dies haben die Tarifvertragsparteien im Blick, und die Verhandlungen sind bei ihnen in
guten Händen .
Vielen herzlichen Dank .
({7})
Das Wort hat die Kollegin Irene Mihalic für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Herr Schmidt, das allgemeine aktuelle Interesse an den Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst
lässt sich, glaube ich, nicht bestreiten,
({0})
erst recht nicht, wenn der Eindruck entsteht, dass die autonomen Verhandlungen nicht so geführt werden, wie es
vielleicht möglich wäre, und aktuell wieder Streiks im
öffentlichen Dienst drohen .
({1})
Dann frage ich mich auch, ob die Bundesregierung die
Situation ernst genug nimmt .
({2})
Es ist völlig richtig: Die Tarifautonomie steht im
Grundgesetz . Deswegen tun wir gut daran, uns nicht inhaltlich in diese Verhandlungen einzumischen . Deswegen will ich das nicht näher kommentieren, sondern ich
möchte etwas zu der Art und Weise der Verhandlungsführung aufseiten der Bundesregierung sagen .
Wenn der Bundesinnenminister nun verbreiten lässt,
dass Ende April endlich gelingen wird, was in den ersten beiden Verhandlungsrunden bisher nicht gelungen
ist, nämlich konstruktiv zu verhandeln, damit bald ein
gerechter Abschluss erreicht wird, dann weiß ich nicht,
was Sie damit meinen, Herr Schmidt, wenn Sie sagen,
wir müssten den Verhandlungen jetzt noch mehr Zeit und
Raum lassen . Ich glaube, Zeit und Raum waren ausreichend vorhanden, und ich frage mich, was eigentlich in
den ersten beiden Verhandlungsrunden passiert ist .
Für mich heißt das ganz konkret: Es wurde wertvolle
Zeit vertan, die im Interesse der betroffenen Beschäftigten und der Bürgerinnen und Bürger, die nun eventuell
wieder von Streiks betroffen sein werden, besser hätte
genutzt werden müssen .
({3})
Denn durch Streiks beweisen die Tarifparteien ja nur
ihren Willen, aber neue Erkenntnisse bringen sie in der
Regel nicht . Für den Bundesinnenminister gibt es gegenwärtig gar keinen Grund, an dem Willen der Gewerkschaften zu zweifeln . Deshalb muss man im Gespräch
bleiben und sich entsprechend bewegen . Hier wäre ein
selbstkritischer Blick auf die eigene Verhandlungsposition sicherlich hilfreich .
({4})
Was aber auch kritisch überprüft werden sollte, sind
einige Argumente, mit denen sich die Arbeitgeberseite in
den letzten Tagen zu Wort gemeldet hat . Wenn beispielsweise mit den Kosten der Integration der nach Deutschland Geflüchteten argumentiert wird, die noch gar nicht
abschätzbar seien, dann ist das aus meiner Sicht unsachlich und unklug . Das zeigt schon der gemessen am Gesamthaushalt überaus geringe Anteil von Ausgaben zum
Zweck der Integration .
Aber noch ein weiterer Punkt ist in diesem Zusammenhang anzusprechen . Es ist vor allem schlicht unverantwortlich, aus parteipolitischen Gründen die laufenden
Verhandlungen zu nutzen, um Ängste zu schüren, indem
mit Kosten in unbekannter Höhe argumentiert wird .
Auch sollte nicht der Versuch unternommen werden, die
eine Gruppe gegen die andere auszuspielen .
({5})
Ich erwarte vielmehr vom Bundesinnenminister, dass
alle bestehenden Spielräume konsequent genutzt werden .
Denken Sie bitte an die Beschäftigten und vor allem auch
an die von Streiks betroffenen Bürgerinnen und Bürger!
Ganz herzlichen Dank .
({6})
Das Wort hat der Kollege Michael Frieser für die
CDU/CSU-Fraktion .
({0})
Vielen Dank . - Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen
und Kollegen! Ich habe mich schon gefragt, wie lange es
dauern wird, bis die Grünen ihren Balanceakt hin zu den
Linken tatsächlich erfolgreich bestehen . Kollege Kurth
hat noch versucht, sie festzuhalten .
({0})
Ich stelle dazu fest: In diesem Land ist weder der vorsätzliche Zeitdiebstahl unter Strafe gestellt
({1})
noch die Frage der Achtung vor allen Ausdrücken und
Auswirkungen des Grundgesetzes . Es ist also zulässig,
dass wir uns mit dieser Frage beschäftigen . Man muss
aber aufpassen, dass man sich nicht zu sehr im Tonfall
vergreift .
Matthias Schmidt ({2})
Wenn beispielsweise die Gewerkschaften in den Tarifverhandlungen sagen, das Angebot der Arbeitgeberschaft
sei ein Akt der Missachtung, der Geringschätzung oder
der Ignoranz - konkret der Ignoranz gegenüber der Leistung des öffentlichen Dienstes -, dann ist das harter Tobak . Das ist, vor allem angesichts des Angebots, das vorgelegt wurde, nicht gerechtfertigt . Aber wissen Sie, was
der Unterschied ist? Die Gewerkschaft darf das . Sie soll
das sogar . Sie soll sogar Stellung beziehen, auch beim
Betätigungsgebot, nämlich bei der Tatsache, dass sie sich
öffentlich dazu äußern soll . Die Gewerkschaften sind
dazu aufgefordert, ihre Positionen zu untermauern . Was
aber nicht geht, ist, dass man hier so tut, als könne die Legislative in diesem Fall gute Ratschläge erteilen oder als
könne sie in irgendeiner Art und Weise mithelfen . Nein,
die deutsche Tarifautonomie braucht keine Hilfestellung .
Auch die Gewerkschaften brauchen keine Hilfestellung
bei der Frage, wie sie ihre Verhandlungen führen . Man
darf sich als Bürger dieses Landes mit dieser Frage beschäftigen . Sie müssen aber sehr gut darauf achten, ob
Sie als Teil des Deutschen Bundestages versuchen, auf
diese Verhandlungen in irgendeiner Art und Weise Einfluss zu nehmen.
Wenn diese Aktuelle Stunde einen Sinn haben soll,
dann vielleicht eher als pädagogischer Ansatz . Dann
wiederholen wir noch einmal, was Tarifautonomie
bedeutet . Sie bedeutet nicht nur das Schließen von arbeitsrechtlichen Koalitionen . Sie bedeutet nicht nur das
Zusammenfinden von Menschen, um ihre Positionen zu
unterstreichen . Vielmehr bedeutet sie ganz bewusst die
Gewaltentrennung . Sie bedeutet ganz bewusst, dass die
Legislative nicht den Eindruck erweckt, sie würde die
Rahmenbedingungen für diese Verhandlungen vorgeben .
Deshalb sollten wir uns an dieser Stelle heraushalten .
Das ist gelebte Tarifautonomie .
({3})
Ich hätte diesen Impetus, dieses Aufregen, dieses Leidenschaftliche der Linken, zum Teil auch die Wortwahl,
ja noch verstanden, wenn es in irgendeiner Weise um
privates Kapital gehen würde, um das Kapital von Menschen, bei denen wir nichts hinzuzufügen hätten . Wir
reden hier aber über Steuergelder . Wir reden hier über
Kommunen, die wirklich jeden Euro und jeden Cent umdrehen müssen .
({4})
Wir reden darüber, dass wir in den Haushaltsberatungen
uns gegenseitig jeden Euro abringen . Aber zu sagen, wir
könnten darüber frei verfügen, das ist meines Erachtens
tatsächlich eine Anmaßung, der Sie nicht erliegen sollten .
({5})
Natürlich hat der deutsche öffentliche Dienst eine
ganz besondere öffentliche Stellung . Diese Stellung hat
er nicht nur den Bund, sondern auch die Kommunen
betreffend . Das ist wesentlich mehr als nur die Vergütung . Das hat nämlich etwas damit zu tun, inwieweit
der Arbeitgeber auf Bundes- und auf kommunaler Seite
ein Arbeitgeber ist, bei dem man gerne arbeitet und als
Mensch Interessen einbringt, auf der anderen Seite auch
Wertschätzung für diese Arbeit erfährt . Dies drückt sich
natürlich auch in Geld aus . Dies drückt sich natürlich
auch in Leistungen aus . Dies drückt sich aber auch in der
Tatsache aus, dass man auf die Interessen von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern wirklich eingeht .
Deshalb lassen Sie mich sagen: Wir haben schon eine
ganze Menge gemacht . Schauen wir einmal auf die Bilanz . Wir haben bei den Bundesbesoldungs- und -versorgungsgesetzen eine inhaltsgleiche Anpassung vorgenommen . Wir haben die ehebezogenen Regelungen auf
die Lebenspartnerschaften übertragen . Wir haben für
eine flexible Gestaltung des Übergangs in den Ruhestand
gesorgt . Wir haben für die Soldaten das Einsatzversorgungs-Verbesserungsgesetz auf den Weg gebracht . Außerdem haben wir das Fachkräftegewinnungsgesetz auf
den Weg gebracht . Ich will einmal die Punkte ansprechen, die Sie vorhin so in den Raum geworfen haben, als
wären sie ungeregelt . Das ist nicht der Fall . Wir sind die
Frage der Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie,
Pflege und Beruf angegangen. Wir haben die Frage der
Tarifbeschäftigten des Bundes durch das Familienpflegezeitgesetz geregelt .
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Deutsche Bundestag hat die Rahmenbedingungen gesetzt, die
er setzen konnte. Es ist Ihre Pflicht, im Rahmen der Ausgestaltung der öffentlichen Haushalte insbesondere gemeinsam mit uns darüber zu entscheiden, wie viel Geld
wir zur Verfügung stellen können, damit die Menschen
auch ordentlich bezahlt werden . Sie lassen sich hier darüber aus, inwieweit diese Tarifautonomie draußen auf
der Straße gelebt wird . Das überlassen Sie bitte den Verhandlungspartnern, nämlich den Vertretern der Arbeitgeber auf der einen Seite und vor allem den Vertretern der
Gewerkschaften auf der anderen Seite . Deshalb gilt mein
Dank all denjenigen, die das ohne ungerechtfertigte und
ungebetene Ratschläge gut und gerne tun .
Vielen Dank .
({6})
Das Wort hat der Kollege Bernd Rützel für die
SPD-Fraktion .
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Sehr geehrte Damen! Sehr geehrte Herren! Wenn wir heute über die Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst sprechen, dann ist das keine Zeitvergeudung, Herr Frieser. Ich finde es gut, dass wir darüber
sprechen; denn wir haben erst vor kurzem festgestellt,
dass im öffentlichen Dienst in den nächsten Jahren sehr
viele Menschen in den Ruhestand, in Pension und Rente,
gehen und dass sehr viele junge Kräfte nachfolgen müssen . Deshalb ist es wichtig, dass wir darüber sprechen .
Ich will heute etwas deutlicher werden, als ich es sonst
tue, weil in den Verhandlungen die öffentliche Hand der
Arbeitgeber ist .
Zwei Anmerkungen: Erstens . Wenn man ein Angebot
vorlegt, dann darf das nach meiner Meinung kein Angebot sein, das auf den ersten Blick gut aussieht, aber auf
den zweiten Blick dann nicht so gut ist . Ich meine gar
nicht den Inhalt, sondern die Art und Weise . Man muss
die Menschen, unsere Beschäftigten, ernst nehmen und
darf ihnen nichts vorgaukeln .
({0})
Zweitens . 2 Millionen Beschäftigte - 150 000 Arbeitnehmer des Bundes, 1,2 Millionen Arbeitnehmer der
Kommunen, 180 000 Beamte, 180 000 Versorgungsempfänger und im weiteren Sinne auch 235 000 Beschäftigte
in der Bundesverwaltung - warten auf ein deutliches Zeichen . Anders ausgedrückt: Die Busfahrerin, der Erzieher,
die Rettungssanitäterin oder die Plenarassistentin und der
Saaldiener, sie alle haben gute Arbeit geleistet, und zwar
unter nicht immer leichten Bedingungen . Sie haben sich
das verdient und müssen nun eine deutliche Lohnerhöhung bekommen .
({1})
Gerade aktuell unter dem Druck der vielen Flüchtlinge in Deutschland leisten die Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst Beachtliches . Das
muss auch berücksichtigt werden . Die Beschäftigten im
öffentlichen Dienst garantieren, dass das Staatswesen
funktioniert, dass die öffentliche Ordnung aufrechterhalten bleibt und dass wir uns auf die Arbeit der staatlichen
Organe verlassen können . Daher haben sie nun Anspruch
auf eine Beteiligung an der guten konjunkturellen Lage .
Neben einer guten und deutlichen Einigung in den
laufenden Verhandlungen liegt mir ein ganz anderer Aspekt am Herzen, der mir Sorgen macht . Es darf keine Tarifflucht im öffentlichen Dienst geben. Aber sie gibt es
bereits . Es gibt in Deutschland bereits einige Gemeinden,
die aus dem kommunalen Arbeitgeberverband ausgetreten sind und damit auch aus dem Flächentarifvertrag . Das
verurteile ich scharf; denn diese Gemeinden haben keinen Grund dazu . Diese Bundesregierung hat die Kommunen entlastet wie keine andere zuvor . Mein Freund Oswin
Veith hat das vorhin - wie andere Vorredner auch - deutlich dargelegt . Es ist ein völlig falsches Signal, wenn die
öffentliche Hand auf diese Weise faire und transparente
Arbeitsbedingungen für ihre Beschäftigten verhindert .
Zum einen ist dies ein großer Schaden für die betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer . Zum anderen
weist ein solcher Schritt in die völlig falsche Richtung .
Wir kämpfen gemeinsam mit der Bundesregierung die
ganze Zeit gegen die zunehmende Tarifflucht in der Privatwirtschaft . Dieses Ziel wird dadurch torpediert . Gerade im öffentlichen Dienst darf es keine Tarifflucht geben.
({2})
Ziel ist die Stärkung der Tarifbindung über alle Branchen hinweg . Der Flächentarifvertrag ist eine wesentliche Errungenschaft unserer funktionierenden Sozialpartnerschaft . Er ist ein wichtiges Instrument, um gerechte
Löhne und Gehälter für die Beschäftigten auszuhandeln,
und er schafft Frieden in den Betrieben .
Vielen Dank .
({3})
Der Kollege Mark Helfrich hat für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort .
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Ich hätte es mir nicht
träumen lassen, dass ich einmal hier an diesem Ort das
Grundgesetz hochhalte, um die Tarifautonomie gegen die
Einmischung von Linkenpolitikern dieses Landes zu verteidigen . Ich werde gleich dezidiert den Kolleginnen und
Kollegen der Linken die Tarifautonomie gemäß Artikel 9
Absatz 3 - es lohnt sich, ihn zu lesen, Frau Kollegin - erläutern . Ich möchte feststellen, dass wir uns mit der initiierten Aktuellen Stunde in laufende Tarifverhandlungen
im öffentlichen Dienst einmischen .
({0})
Aber mich wundert bei den Linken mittlerweile nichts
mehr, nicht einmal der Widerspruch, dass sie beim Thema Tarifeinheit jegliche staatliche Regelung zur Tarifautonomie verdammen, während sie sich heute in aktuelle
Tarifverhandlungen einmischen wollen .
Wir haben in Deutschland ein grundgesetzlich geschütztes Recht für Tarifpartner, durch freie Vereinbarungen Tarifverträge auszuhandeln, ohne dass eine staatliche Stelle mitwirkt . Das nennt man Tarifautonomie . Die
Quelle im Grundgesetz ist genannt . Das, was derzeit im
öffentlichen Dienst passiert, ist gelebte Tarifautonomie .
Der Begriff „Autonomie“ als solcher macht schon deutlich, dass die Beteiligten, nämlich die Gewerkschaften
auf der einen Seite und die Arbeitgeberverbände auf der
anderen Seite, ihre Angelegenheiten selbst betreiben und
in Verhandlungen zu einem für beide Seiten vertretbaren
Tarifabschluss kommen . Dass dem einen oder anderen
aus Ihrer Fraktion der Rollenwechsel vielleicht manchmal schwerfällt und keine klare Unterscheidung zwischen Gewerkschaft und Fraktion erfolgt, mag ich Ihnen
persönlich nachsehen .
({1})
Sie haben grundsätzlich das Thema nicht verstanden .
Ich will hier festhalten, dass die Tarifparteien keine Ratschläge aus der Politik bzw . aus dem Parlament benötigen . Wenn Sie es mir nicht glauben, dann lesen Sie es bei
der Gewerkschaft Verdi nach:
Ein Tarifvertrag ist ein schriftlicher Vertrag zwischen einem Arbeitgeber oder Arbeitgeberverband
und einer Gewerkschaft . Einmischung ist nicht erlaubt,
- jetzt bitte gut zuhören das gilt auch für den Staat .
Die Politik ist also gut beraten, sich nicht einzumischen . Die CDU/CSU wird das auch nicht tun und wird
sich dementsprechend in dieser Debatte verhalten .
Wenn es der Linken tatsächlich um tarifbeschäftigte
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ginge, dann hätten
Sie zum Beispiel in Brandenburg fünf Jahre Zeit gehabt,
entsprechend zu handeln . Dort ist die Linke Regierungspartei . Sie hätten durchaus die Möglichkeit, in Ihrer Arbeitgeberfunktion Einfluss zu nehmen. Mir ist nicht in
Erinnerung, dass Sie von der Linken in den Tarifrunden
2011, 2013 oder 2015 über die von der Tarifgemeinschaft
der deutschen Länder ausgehandelten Entgelterhöhungen hinaus mit gutem Beispiel vorausgegangen wären .
Nein, Brandenburg hat natürlich eins zu eins alle drei Tarifrunden übernommen . Es gibt dort keine höheren Vergütungen . Es bleibt vielleicht noch die Hoffnung, dass
sich demnächst in Thüringen, wo Sie als Arbeitgeber
noch mehr Einfluss haben, etwas ändern wird.
Ich habe recherchieren lassen, ob es sich vielleicht auf
kommunaler Ebene bei der Linken anders verhält, ob es
Oberbürgermeister oder Landräte gibt, die sich bei den
kommunalen Arbeitgeberverbänden für entsprechend
höhere Abschlüsse und freiwillige höhere Leistungen
bzw . für eine Eins-zu-eins-Übernahme der Forderungen
der Gewerkschaften einsetzen würden . Es ist ehrlicherweise nirgendwo überliefert, dass es derartige Forderungen seitens Ihrer Kommunalpolitiker gibt .
({2})
- Ja, in der Tat, da sprechen Sie einen gewichtigen Punkt
an . Wir haben bei den Verhandlungen, die anstehen, nicht
nur Verhandlungen, die die Beschäftigten des Bundes
betreffen, sondern auch die Beschäftigten der Kommunen . Dementsprechend müssen wir auch an dieser Stelle
Rücksicht nehmen .
Wir sind uns alle einig, dass der Staat, die Verwaltung,
die Beschäftigten im öffentlichen Dienst gerade in diesen
schwierigen Monaten der Flüchtlingskrise sehr viel geleistet haben und dass wir darauf angewiesen sind, dass
die Menschen gute Arbeit leisten und diese Arbeit gut
entlohnt wird .
({3})
Ich stimme dem Bundesinnenminister daher zu, dass
das Anliegen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im
öffentlichen Dienst nach angemessener Lohnerhöhung
natürlich berechtigt ist . Am Ende des Tages müssen die
Forderungen auch umsetzbar sein . Leider ist es nicht so,
dass der Staat eine Kuh ist, die im Himmel frisst und auf
Erden gemolken werden kann . Ich habe es bereits gesagt:
Die Finanzlage der Kommunen ist in vielen Bereichen
prekär . Das müssen wir bedenken .
Lassen Sie also die Tarifparteien in Ruhe verhandeln
und uns das Ergebnis der Tarifverhandlungen abwarten .
Ich bin mir sicher, dass auch in dieser Tarifrunde eine für
alle Beteiligten vertretbare Einigung erzielt wird .
({4})
Abschließend noch ein Hinweis dazu, wo wir tatsächlich etwas tun können, liebe Kolleginnen und Kollegen
der Linken: Die Aufgabe des Deutschen Bundestages
wird darin bestehen, für die knapp 300 000 Beamtinnen
und Beamten des Bundes einschließlich der Soldaten und
Richter eine möglichst inhaltsgleiche Übertragung des
Tarifabschlusses zu gewährleisten . Das haben wir in den
letzten Jahren geschafft . Das sollten wir zu gegebener
Zeit entschlossen anpacken .
Herzlichen Dank für Ihr Zuhören .
({5})
Das Wort hat der Kollege Albert Weiler für die CDU/
CSU-Fraktion .
({0})
Sehr geehrte Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren auf der Tribüne!
Die Linke will sich abermals in die Aufgaben und Zuständigkeiten der Tarifparteien einmischen . Das haben
wir oft genug gehört . Jetzt stellt sich aber die Frage: Warum? Ich sage Ihnen, warum: weil sie Geld daran verdient .
({0})
Jetzt schauen wir einmal auf die offiziellen Seiten des
Deutschen Bundestages . Die Linke klagt immer wieder
über Mandatslobbyismus . Hier sage ich: Wasser predigen und Wein trinken .
Die Linke leistet sich Abgeordnete, die sich neben
ihrer eigentlichen Aufgabe in einem Nebenjob von Gewerkschaften zusätzlich ordentlich bezahlen lassen,
({1})
zum Beispiel die Sozialpolitikerin Frau Zimmermann
oder auch Sie, Frau Krellmann, und die bis zu 42 000 Euro
im Jahr verdienen . Das verdienen die meisten Menschen
in Deutschland nicht . Sie vermischen Ihren hochbezahlten Nebenjob mit dem Bundestagsmandat und nutzen
Ihre Position, um öffentlich auf Staatskosten Lobbyismus zu betreiben .
({2})
Wenn Sie glauben, dass der Wähler das nicht erkennt,
dann befinden Sie sich auf dem sogenannten Holzweg.
({3})
Tarifverhandlungen werden am Verhandlungstisch der
Tarifpartner geführt und nicht im Deutschen Bundestag .
Die Arbeitgeber wollen eine zügige und konsensorientierte Tarifrunde . Streiks im öffentlichen Dienst gehen
nur zulasten der kleinen Leute . Deshalb fordert zum
Beispiel der Verband kommunaler Arbeitgeber zur konstruktiven Kompromisssuche auf . Das wünsche ich mir
auch von Ihnen, besonders als Abgeordnete, aber auch
als Gewerkschaftsvertreter .
Wir stimmen dem deutschen Beamtenbund zu, wenn
er sagt, dass die Flüchtlingssituation allen gezeigt hat,
wie wichtig ein motivierter, funktionsfähiger und personell angemessen ausgestatteter öffentlicher Dienst ist .
Ich stimme auch der Polizeigewerkschaft zu, wenn diese
sagt, dass die Polizistinnen und Polizisten bei der Bewältigung des Flüchtlingsstroms Übermenschliches geleistet
haben . Aber was ich nicht will, meine Damen und Herren, ist, dass es heißt: Wir erkaufen uns die Menschlichkeit . - Das würde keinem gerecht werden, weder den
Ehrenamtlichen noch den Hauptamtlichen .
Als ehemaliger Gewerkschafter stehe ich ganz klar
für eine angemessene Tarifanpassung . Aber noch einmal:
Die Diskussion gehört nicht in den Deutschen Bundestag, sondern an den Tisch der Tarifpartner .
({4})
Als ehrenamtlicher Bürgermeister meiner Heimatgemeinde trage ich eine enorme Verantwortung für die Entwicklung meiner Gemeinde und für ein gutes Bildungsund Freizeitangebot . Der Schuldenstand der Kommunen
ist auf einem neuen Rekordniveau . Die Höhe der Verschuldung beträgt nunmehr 145 Milliarden Euro . Der
Investitionsstau liegt bei weit über 100 Milliarden Euro .
Eine Erhöhung der Tabellenentgelte um 6 Prozent und
die anderen Forderungen bedeuten Mehrkosten in Höhe
von etwa 6 Milliarden Euro, und das können wir uns
nicht leisten . Das verhindert Investitionen, auch in den
Kindergärten und Schulen, die dringend notwendig sind .
Die Länder sind nicht bereit, das zu kompensieren .
Bestes Beispiel - da sind wir wieder bei den Linken - ist
die von Bodo Ramelow, also von den Linken, geführte
Thüringer Landesregierung . Hier werden nicht einmal
die Gelder, die der Bund für die Kommunen zur Beseitigung der Flüchtlingskrise bereitgestellt hat, eins zu eins
weitergegeben .
({5})
Jetzt bitte ich die linken Gewerkschaftsvertreter, die
selbst noch aktive und bezahlte Gewerkschafter sind:
Nehmen Sie bitte Einfluss auf die Gewerkschaft, dass
ein moderates Tarifergebnis erzielt wird, das beide Seiten, sowohl die Arbeitgeber als auch die Arbeitnehmer,
überleben lässt .
({6})
Zum Abschluss möchte ich noch einmal betonen: Ich
bin für eine angemessene Anpassung der Löhne und
Gehälter für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des
öffentlichen Dienstes . Aber eine Forderung von 6 Prozent bei einer Inflationsrate von unter 1 Prozent ist weit
von dem entfernt, was man Augenmaß nennt . Wenn die
Kommunen pleitegehen, meine Damen und Herren, ist
keinem geholfen, auch nicht den Mitarbeitern .
An dieser Stelle möchte ich mich noch einmal ganz
herzlich bei den vielen Helferinnen und Helfern, ob
ehrenamtlich oder hauptamtlich, bedanken, die in der
schwierigen Zeit der Bewältigung der Flüchtlingskrise, bei der momentan Gott sei Dank Licht am Ende des
Tunnels zu erkennen ist, tatkräftig mitgearbeitet haben .
Ohne sie hätten weder die Länder noch der Bund dies
alles stemmen können . Sie sollen eine angemessene Tariferhöhung bekommen . Aber bitte, liebe Kolleginnen
und Kollegen der Linksfraktion, sehen Sie das nicht als
Bezahlung in der Flüchtlingsarbeit . Menschlichkeit kann
man sich nicht erkaufen .
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit . Ich wünsche
Ihnen allen ein schönes Wochenende .
({7})
Die Aktuelle Stunde ist beendet .
Wir sind damit am Schluss der heutigen Tagesordnung .
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 27 . April 2016, 13 Uhr, ein .
Die Sitzung ist geschlossen . Ich wünsche Ihnen bis
dahin alles Gute .