Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Ich darf Sie bitten, von den
Plätzen erhoben zu bleiben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 31. März verstarb mit 89 Jahren Hans-Dietrich Genscher. Bereits
am 18. März erlag Guido Westerwelle seiner schweren
Krankheit; er wurde nur 54 Jahre alt.
Dass Hans-Dietrich Genscher 1998 das letzte Mal im
Deutschen Bundestag das Wort ergriff, als nach eintägiger, historischer Debatte die Einführung des Euro beschlossen wurde, war wohl mehr als ein Zufall. Er selbst
sah, dass sich hier ein Kreis schloss. In seiner von vielen
als politisches Vermächtnis verstandenen Rede erinnerte er daran, wie - Zitat - „nationalistische Verblendung
und verbrecherischer Vernichtungswille gegen andere
Völker“ die staatliche Einheit Deutschlands zerstört und
einen ganzen Kontinent verwüstet hatten. Als Luftwaffenhelfer und Frontsoldat im Kampf um Berlin hatte er
diese blindwütige Zerstörung mit erleiden müssen. Darauf erlebte er als Hallenser, der er in seinem Herzen immer geblieben ist, die Enge der Diktatur in der DDR prägende Erfahrungen für ein ganzes Leben.
1998 erinnerte Hans-Dietrich Genscher im Bundestag vor allem daran, dass die Deutschen ihre staatliche
Einheit nur als Demokraten und als - Zitat - „gute Europäer“ wiedererlangen konnten. Genscher wusste, dass
nationale Einheit und europäische Einigung zwei Seiten
der gleichen Medaille sind. „Europa ist unsere Zukunft.
Wir haben keine andere“ - das war sein Credo; es wachzuhalten - auch in Krisenzeiten -, hat er uns aufgegeben.
Hans-Dietrich Genscher verstand in der bipolaren
Welt wie kaum ein Zweiter, zwischen den Blöcken zu
vermitteln. Mit trockenem Humor und einer schon legendären Freude am Witz baute Genscher über alle politischen Spannungen und ideologischen Gräben hinweg
Nähe und Vertrauen auf. Seine Außenpolitik war fest in
den westlichen Bündnissen verwurzelt und zugleich der
neuen Ostpolitik verpflichtet. So gestaltete er maßgeblich
den KSZE-Prozess und trug zum veränderten Klima bei,
das den Kalten Krieg überwinden half.
Früher als viele andere hatte er den Reformwillen
Gorbatschows erkannt. Im entscheidenden historischen
Moment schrieb Hans-Dietrich Genscher Weltgeschichte: In den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen ebnete er diplomatisch den Weg zur deutschen Einheit. Unvergesslich bleibt seine Ansprache auf dem Balkon der Prager
Botschaft, deren erster Halbsatz weit über den Kreis der
Betroffenen hinaus eine fast explosionsartige Wirkung
erzeugte.
1992 gab er zur Überraschung auch seiner engsten
Mitarbeiter und Freunde die Leitung des Auswärtigen
Amtes ab, als dienstältester europäischer Außenminister,
hochgeachtet in Deutschland und in der ganzen Welt, zu
einem Zeitpunkt, als sich die Außenpolitik angesichts der
Herausforderungen einer gründlich veränderten Welt neu
orientieren musste.
In mehr als der Hälfte der damals 43 Jahre Bundesrepublik hatte er bis dahin Regierungsverantwortung
getragen, zunächst als Innen-, dann als Außenminister,
unter drei Bundeskanzlern in zwei verschiedenen Koalitionen, in nicht weniger als neun Kabinetten. Als er 1998
auch den Bundestag verließ, endeten 33 Jahre Abgeordnetentätigkeit, ein Leben im Dienst des Vaterlandes, wie
sich Genscher selbst gern ausdrückte, eine herausragende
politische Lebensleistung.
Genscher war es auch, der früh die politische Begabung eines jungen liberalen Nachwuchspolitikers erkannt hatte, der wiederum in ihm sein großes politisches
Vorbild fand: Guido Westerwelle.
Die Nachricht von seinem Tod hat viele Menschen gerade wegen der Willensstärke und Zuversicht tief getroffen, die Westerwelle ausstrahlte, als er sich im vergangenen Herbst mit einem Buch über seinen Kampf gegen die
schwere Erkrankung in der Öffentlichkeit zurückmeldete, um Betroffenen Mut zu machen und andere zu ermuntern, Knochenmark in einer Spenderkartei typisieren zu
lassen.
Unser Land verliert mit Guido Westerwelle einen Parlamentarier von großer öffentlicher Präsenz. Über viele
Jahre hat er als herausragender Redner die Debattenkultur in diesem Haus wesentlich bestimmt. Dem Deutschen
Bundestag gehörte Guido Westerwelle von 1996 bis 2013
an; von 2006 an stand er an der Spitze der FDP-Bundestagsfraktion. Westerwelle focht für seine liberalen Überzeugungen, streitlustig, schlagfertig und scharfzüngig,
dabei oft witzig, mitunter beinhart in der Argumentation;
er teilte aus und musste einstecken. Sein Verständnis vom
Liberalismus wusste er in griffige Formeln zu kleiden,
und selbstbewusst ging er, um seinen Themen öffentliche
Aufmerksamkeit zu verschaffen, auch ungewöhnliche
Wege.
Manche Übertreibungen haben ihn schnell eingeholt.
Es sagt viel über seinen Charakter, dass er diese im Nachhinein bisweilen selbstkritisch hinterfragte. Während er
als Politiker in der Öffentlichkeit polarisierte, bleibt er
allen, die ihn persönlich kannten, als warmherzig, bescheiden, humorvoll und kunstinteressiert in Erinnerung.
Das haben viele bewegende Nachrufe, auch von Kollegen in diesem Haus über alle Fraktionsgrenzen hinweg,
eindrücklich gezeigt.
Der FDP verhalf Guido Westerwelle 2009 zu einem
historisch beispiellosen Wahlergebnis und damit zu neuer
Regierungsverantwortung. Nicht zuletzt seinem Vorbild
Genscher folgend, suchte er die kräftezehrende, neue Herausforderung im Auswärtigen Amt. Der auf diese Weise
entwickelten Leidenschaft für die internationale Verständigung ging er auch nach seinem Ausscheiden aus der
aktiven Politik weiter nach. Die Westerwelle Foundation
ist das ambitionierte, bleibende Vermächtnis einer Persönlichkeit, die sich um unser Land verdient gemacht hat.
Der Deutsche Bundestag wird Hans-Dietrich Genscher
und Guido Westerwelle ein ehrendes Andenken bewahren. Ihren Angehörigen gehört unser Mitgefühl.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, am 31. März ist
der ungarische Literaturnobelpreisträger Imre Kertesz
gestorben - eine außergewöhnliche Persönlichkeit,
Überlebender des Holocaust, der als 15-Jähriger von
Budapest nach Buchenwald und dann nach Auschwitz
verschleppt wurde, dessen Hinwendung zum demokratischen Deutschland nach den schrecklichen persönlichen
Erfahrungen in der Zeit der nationalsozialistischen Terrorherrschaft ein bewundernswertes Zeichen menschlicher Größe gewesen ist.
2002 hat er seinen Lebensmittelpunkt nach Deutschland verlegt und bis 2012 in Berlin gewohnt. 2007 hat er
auf unsere Einladung am Gedenktag für die Opfer des
Nationalsozialismus hier im Deutschen Bundestag bewegende, bleibende Worte an uns gerichtet. Im selben Jahr,
2007, rief Imre Kertesz dazu auf, den - Zitat - „furchtbaren Fanatismen in der Welt“ zu begegnen, „mit Kraft, mit
Vertrauen in sich selbst und in ein Europa, das weiß, was
es will und welche Werte es vertritt“.
Die anhaltende Bedrohung durch den islamistischen
Fanatismus haben uns verheerende Anschläge in den vergangenen Wochen vor Augen geführt. Während bei den
Attacken auf den Brüsseler Flughafen und die U-Bahn
der Stadt erneut Europa, die Werte der westlichen Welt
und unser Verständnis von einem freien Leben im Fadenkreuz der Attentäter standen, richtete sich in Lahore, in
Pakistan, der Terror ausdrücklich gegen die christliche
Minderheit im Land. Willentlich wurden besonders viele
Frauen und Kinder getroffen.
Dass sich der verblendete Hass der Islamisten auch
und gerade gegen Muslime selbst richtet, zeigten einmal
mehr die Anschläge im Irak, unter anderem auf ein Fußballspiel, bei dem wahllos Dutzende Menschen in den
Tod gerissen wurden.
Wir fühlen mit den Angehörigen aller Opfer. Und wir
bleiben alle aufgefordert, diesem mörderischen Fanatismus entgegenzutreten - mit der Kraft des Rechtsstaates,
vor allem aber mit Vertrauen in uns selbst und in ein geeintes Europa, das weiß, was es will und welche Werte
es vertritt.
Ich danke Ihnen.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt eine interfraktionelle Vereinbarung, unsere Tagesordnung um die
in der Zusatzpunkteliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen
der CDU/CSU und SPD:
Mehr Transparenz bei Steueroasen und Briefkastenfirmen durch international abgestimmtes Vorgehen durchsetzen
({1})
ZP 2 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr und digitale
Infrastruktur ({2}) zu dem Antrag der
Abgeordneten Stephan Kühn ({3}), Tabea
Rößner, Matthias Gastel, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Fluglärm wirksam reduzieren
Drucksachen 18/4331, 18/5247
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Christian Kühn ({4}), Britta Haßelmann,
Sven-Christian Kindler, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Die neue Wohnungsgemeinnützigkeit - Fair,
gut und günstig wohnen
Drucksache 18/8081
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit ({5})
Innenausschuss
Finanzausschuss
ZP 4 Weitere Überweisung im vereinfachten Verfahren
({6})
Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter
Meiwald, Kordula Schulz-Asche, Annalena
Baerbock, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Gewässer vor Medikamentenrückständen
schützen
Präsident Dr. Norbert Lammert
Drucksache 18/8082
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit ({7})
Ausschuss für Gesundheit
ZP 5 Weitere abschließende Beratung ohne Aussprache
({8})
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr und digitale
Infrastruktur ({9})
zu dem Vorschlag für eine Verordnung des
Europäischen Parlaments und des Rates
zur Festlegung gemeinsamer Vorschriften
für die Zivilluftfahrt und zur Errichtung einer Agentur der Europäischen Union für
Flugsicherheit sowie zur Aufhebung der
Verordnung ({10}) Nr. 216/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates
KOM({11}) 613 endg.; Ratsdok. 14991/15
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes
Drucksachen 18/7422 Nr. A.22, 18/8103
ZP 6 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Haltung der Bundesregierung zu den gesundheitsgefährdenden Abgasbelastungen in vielen
deutschen Städten
ZP 7 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE
LINKE:
Aktuelle Tarifrunde im Bund und in den
Kommunen - Den öffentlichen Dienst gerecht
entlohnen
Dabei soll von der Frist für den Beginn der Beratung,
soweit erforderlich, abgewichen werden. Ich möchte Sie
fragen, ob Sie damit einverstanden sind. - Das ist offensichtlich der Fall. Dann können wir so verfahren.
Dann rufe ich nun Tagesordnungspunkt 3 sowie den
Zusatzpunkt 2 auf:
3. Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Fünfzehnten Gesetzes zur Änderung des Luftverkehrsgesetzes
Drucksache 18/6988
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr und digitale Infrastruktur
({12})
Drucksache 18/8102
ZP 2 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr und digitale
Infrastruktur ({13}) zu dem Antrag der
Abgeordneten Stephan Kühn ({14}), Tabea
Rößner, Matthias Gastel, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Fluglärm wirksam reduzieren
Drucksachen 18/4331, 18/5247
Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegen
ein Änderungsantrag und ein Entschließungsantrag der
Fraktion Die Linke vor. Nach einer interfraktionellen
Vereinbarung sind für die Aussprache 77 Minuten vorgesehen. - Auch das findet offenkundig allgemeine Zustimmung. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
zuständigen Bundesminister Dobrindt.
Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Wir haben es heute mit einer Änderung
des Luftverkehrsgesetzes zu tun, auf die in den vergangenen Monaten ganz viele sehnsüchtig gewartet haben,
weil dadurch Rechtssicherheit geschaffen wird; denn
zukünftig können an unseren medizinischen Einrichtungen - an Krankenhäusern in den Landkreisen bzw. in der
Fläche - die Landestellen für die Rettungshubschrauber
weiter betrieben werden. Es ist ein wichtiges Signal,
weil wir in den vergangenen Monaten mit Blick auf die
Krankenhauslandschaft in starkem Maße Diskussionen
darüber hatten - resultierend aus einer EU-Rechtsverordnung -, ob die medizinische Versorgung zukünftig
auch über den Hubschraubertransport sichergestellt werden kann. Das gelingt uns jetzt mit diesem Gesetz. Wir
schaffen die Rechtssicherheit, dass die Nutzung von Landestellen für Rettungshubschrauber gesichert ist, meine
Damen und Herren.
({0})
Wie Sie wissen, bestand lange Unsicherheit hinsichtlich des regelmäßigen Anflugs vieler Hubschrauberlandestellen von medizinischen Einrichtungen. Grundsätzlich
bedürfen Flugplätze - und damit auch Landestellen der
Luftrettung mit Hubschraubern - einer Genehmigung,
wofür eine ganze Reihe von Anforderungen zu erfüllen
sind. Stark bebaute, hindernisreiche Regionen stellen jedoch eine besondere Herausforderung beim Landen und
Starten von Rettungshubschraubern dar und machen die
Erteilung einer solchen Genehmigung gerade in innerstädtischen Bereichen oftmals schwierig.
Deshalb haben wir mit unserem Zukunftsplan dafür
gesorgt, dass die bisherigen Landestellen in sogenannte
Landestellen von öffentlichem Interesse umgewandelt
werden, dass weiterhin jede Landestelle bei einer unmittelbaren Notlage eines Patienten angeflogen werden
kann, wenn der Pilot dies als sicher einschätzt. Wir haben jetzt erstmal eine Liste aller zukünftigen und bestehenden Landestellen an Krankenhäusern erstellt, wo
grundsätzlich eine entsprechende Nutzung gegeben ist.
Mit dieser zukunftssicheren Rechtsgrundlage können die
Lande stellen langanhaltend genutzt werden und unterliegen keiner Genehmigungspflicht als klassischer Flugplatz mehr.
Präsident Dr. Norbert Lammert
Das heißt, die Botschaft an die Regionen, die Landkreise und die Städte, welche Krankenhäuser mit Landestellen betreiben, lautet: Alle Hubschrauberlandestellen
an den Krankenhäusern können weiterbetrieben werden.
Keine einzige muss geschlossen werden, meine Damen
und Herren.
({1})
Weiterhin haben wir in diesem Gesetz auch eine Regelung aufgenommen, die dazu beiträgt, dass die Zukunftsfähigkeit des Luftverkehrs insgesamt - gerade im
Hinblick auf den wachsenden Personenverkehr - gesichert wird. Wir alle wissen, dass es nach den Prognosen
ansteigende Passagierzahlen in den nächsten Jahren - sie
werden sich danach fast verdoppeln - geben wird. Das
heißt, es wird auch eine deutliche Steigerung der Flugbewegungen geben.
Angesichts einer solchen Prognose muss man darauf
achten, dass vor allem die Akzeptanz in der Öffentlichkeit für Flughäfen, für den Flugverkehr und auch für die
steigende Zahl von Starts und Landungen beim Luftverkehr bestehen bleibt. Um diese Akzeptanz langfristig zu
erhöhen, werden wir mit der in diesem Gesetz enthaltenen Neuregelung sicherstellen, dass zukünftig beim Bau
zusätzlicher Start- und Landebahnen oder beim Neubau
von Flughäfen die gesamte räumliche Entwicklung in die
Umweltverträglichkeitsprüfung einbezogen wird. Damit
erfassen wir auch jene Bereiche, in denen Beeinträchtigungen, vor allem natürlich durch Lärm beim An- und
Abflugverkehr, zukünftig nicht ausgeschlossen werden
können.
Das ist eine grundlegend andere Herangehensweise
als in der Vergangenheit. In der Vergangenheit haben wir
sehr klar definiert: Wo wird durch welche Flugbewegungen Lärm produziert werden? Genau das ist dann auch
geprüft und genehmigt worden. Jetzt ist unsere Herangehensweise davon geprägt, dass auch möglicher zukünftiger Lärm aufgrund von Veränderungen am Flugplatz
schon im Planfeststellungsverfahren mit berücksichtigt werden muss. Damit schaffen wir für die betroffenen Anwohner deutlich mehr Sicherheit vor zukünftig
entstehendem Lärm. Das heißt, auch die Prognosen zu
Lärmbelastungen spielen zukünftig eine Rolle, wenn es
um die Genehmigung geht. Damit werden Konflikte, die
wir heute oftmals erleben, von vornherein ausgeschlossen. Die Bevölkerung wird informiert. Dadurch wird die
Akzeptanz für Flughäfen und Flugbewegungen erhöht,
meine Damen und Herren.
({2})
Wir haben in diesem Gesetz zur Änderung des Luftverkehrsgesetzes auch Regelungen gefunden, die Ausfluss intensiver Debatten der in meinem Haus nach dem
Absturz der Germanwings-Maschine eingesetzten Taskforce sind. Wir haben mit dieser Taskforce sowohl die
Unternehmen als auch die Wissenschaft, die Verwaltung
und die Politik zusammengebracht, um Sicherheitsregelwerke, die wir im Bereich des Luftverkehrs haben,
weiterzuentwickeln. Diese Taskforce, in der alle gemeinsam - die Fluggesellschaften, das Ministerium, das
Luftfahrt-Bundesamt, die Berufsverbände, die Flugmediziner - viele Wochen lang unter dem Dach des Bundesverbands der Deutschen Luftverkehrswirtschaft eine
Debatte geführt haben, hat uns eine Weiterentwicklung
unserer Regeln empfohlen. Diese Empfehlung wollen
wir mit diesem Gesetz umsetzen.
Der Abschlussbericht hat sich intensiv mit der Frage
befasst: Können wir Verbesserungen bei den Kontrollmechanismen im Bereich des Luftverkehrs durchsetzen?
Wir haben uns in intensiven Beratungen mit den Kolleginnen und Kollegen aus dem Verkehrsausschuss - übrigens auch innerhalb der Koalition - mit dem Abschlussbericht beschäftigt. Ich möchte allen Kolleginnen und
Kollegen meinen ausdrücklichen Dank aussprechen, die
in einer nicht ganz einfachen Situation bereit waren, gemeinsame Lösungen zu finden, und jetzt auch bereit sind,
sie mit dem Gesetzeswerk konsequent umzusetzen.
Ein zentraler Punkt war, dass wir zukünftig Piloten
stichprobenartig auf den Konsum von Alkohol, Drogen
und Medikamenten kontrollieren werden. Meine Damen
und Herren, Experten weltweit gehen davon aus, dass
stichprobenartige Kontrollen des Konsums von Alkohol,
Drogen und Medikamenten im Flugverkehr einen positiven Effekt haben und die betriebliche Sicherheit in der
Luftfahrt erhöhen. Genau das ist unser Beweggrund. Es
geht nicht um Verdächtigungen gegenüber Pilotinnen
und Piloten, sondern schlichtweg darum, dass wir mit
einer Kontrollinstanz dafür sorgen, dass ein Stück mehr
Sicherheit entsteht; denn die Kontrollen führen natürlich
dazu, dass auch untereinander eine stärkere Beobachtung
des Verhaltens stattfindet. Verhaltensweisen können innerhalb der Luftfahrtunternehmen mit Vertrauenspersonen besprochen werden. Damit kann ein möglicher Schaden präventiv ausgeschlossen werden.
Meine Damen und Herren, wir wissen, dass die Luftfahrtunternehmen hier in der Verantwortung stehen,
diese Regelungen auch umzusetzen. Wir verpflichten
deswegen die Luftfahrtunternehmen, vor Dienstbeginn
stichprobenartig Kontrollen durchzuführen. Bisher fehlt
es im Luftverkehr an solchen ausdrücklichen und sanktionsbewehrten Verboten, wie wir sie im Bereich Straßenverkehr haben. Das ändern wir jetzt. Darüber hinaus
wird das Luftfahrt-Bundesamt ermächtigt, solche Kontrollen unangemeldet und bei allen in Deutschland tätigen Luftfahrzeugführern durchzuführen und Verstöße
mit Bußgeld zu ahnden. Ich bin überzeugt: Mit dieser
Kombination aus gemeinsamer unternehmerischer und
behördlicher Verantwortung leisten wir einen wichtigen
Beitrag zur weiteren Stärkung der Verkehrssicherheit in
der Zivilluftfahrt.
Zusätzlich richten wir eine flugmedizinische Datenbank über die Tauglichkeit von Piloten ein und stellen
damit eine lückenlose und nachvollziehbare Aufsicht
durch die anerkannten flugmedizinischen Sachverständigen und flugmedizinischen Zentren sicher. Zugleich
passen wir damit unsere luftrechtlichen Bestimmungen
in Bezug auf das fliegende Personal in der Zivilluftfahrt
an. Untersuchungsergebnisse zur Tauglichkeit werden unter Einhaltung des Datenschutzes - personenbezogen
gespeichert und dem ärztlichen Personal in den Luftfahrtbehörden uneingeschränkt übermittelt.
Die Änderungen im vorliegenden Gesetzentwurf sind
für uns in der Tat ein bedeutender Schritt. Eine entsprechende Diskussion gibt es nicht erst seit wenigen Monaten oder einem Jahr, sondern der Prozess dauert schon
viele Jahre an. Es geht um die Abwägung zwischen dem
Interesse von Behörden, Daten zu sammeln, und der berechtigten Forderung der Betroffenen nach Datenschutz.
Die Fachkolleginnen und -kollegen des Deutschen Bundestages haben sich in der Vergangenheit immer wieder
mit dieser Frage auseinandergesetzt. Die aktuelle Rechtslage war das Ergebnis einer intensiven Debatte. Das Ergebnis war eine Pseudonymisierung der Daten, sodass
den Behörden nur anonymisierte und keine personenbezogen Daten vorliegen.
Wir haben uns jetzt entschlossen, einen anderen Weg
zu gehen. Es wird eine flugmedizinische Datenbank eingerichtet, in der alle Tauglichkeitszeugnisse und medizinischen Untersuchungsbefunde gespeichert werden, und
zwar personenbezogen. Zugriff auf diese Datenbank haben ausschließlich die medizinischen Sachverständigen
des Luftfahrt-Bundesamtes und deren Mitarbeiter. Dabei
ist zu betonen, dass wir mit der Einführung der Datenbank die Flugmediziner in die Lage versetzen, festzustellen, ob ein sogenanntes Ärztehopping stattfindet. In der
Vergangenheit wurde vielfach kritisiert, dass Ärzte nicht
in die Lage versetzt werden, festzustellen, ob ein Patient
schon vielfache medizinische Untersuchungen an anderen Stellen vornehmen ließ, dies aber dem zuletzt untersuchenden Arzt nicht zur Kenntnis gebracht hat.
Das kann durch die neue Regelung ausgeschlossen
werden. Wir versetzen die Ärzte in die Lage, festzustellen, ob Ärztehopping stattfindet. Wir versetzen die Ärzte
in die Lage, festzustellen, ob ihr Patient Voruntersuchungen hatte. Wenn sich daraus ein Verdacht ergibt, dann
kann sich ein Arzt an das LBA wenden, das auf die Datenbank zugreifen und nachschauen kann. So kann man
klären, ob es sich möglicherweise um eine Gefährdungssituation handelt, bei der man einschreiten muss.
({3})
Ich weiß, dass die Diskussion und der Abwägungsprozess zwischen Datenschutz und einem Mehr an Transparenz den Kolleginnen und Kollegen viel abverlangt
hat. Ich weiß, dass es nicht ganz einfach ist, all die Argumente, die in der Vergangenheit gegolten haben, mit
neuen Argumenten anzureichern, um zu einer anderen
Entscheidung zu kommen. Aber ich weiß, dass dies der
richtige Weg ist.
Ich möchte mich ausdrücklich bei Ihnen allen für die
Diskussion und die Begleitung der Taskforce bedanken.
Die neuen Regelungen sind ein richtiger Schritt, um die
Sicherheit im Flugverkehr zu stärken und um das Vertrauen in die Luftfahrt aufrechtzuerhalten.
Herzlichen Dank.
({4})
Das Wort hat nun der Kollege Herbert Behrens für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
Luftverkehrsgesetz soll in vielen Punkten verändert werden, aber ich will mich auf zwei Punkte beschränken, um
etwas mehr Zeit zum Argumentieren zu haben.
Die Überwachung der Gesundheit ist der erste Punkt.
Es wurde eben noch einmal deutlich hervorgehoben, dass
wir uns mit der Flugtauglichkeit der Pilotinnen und Piloten befassen müssen, nachdem wir das schreckliche
Unglück der Germanwings-Maschine zu konstatieren
hatten. Es hat eine umfassende Aufarbeitung und Bearbeitung gegeben. Ich glaube, wir haben uns im Ausschuss in verantwortungsbewusster Weise mit dieser
Frage beschäftigt. Wir sind dabei zu unterschiedlichen
Ergebnissen gekommen, und ich will gern begründen,
warum das der Fall gewesen ist.
Wir stellen fest, dass der Wettbewerbsdruck in der
Luftverkehrswirtschaft enorm ist. Er hat sich langsam
bis in die Flugzeugkanzeln hineingefräst. Es gibt Geschäftsmodelle, bei denen Piloten nur noch dann bezahlt
werden, wenn sie auch tatsächlich fliegen. Das übt natürlich einen enormen Druck auf die Beschäftigten aus,
die aufpassen müssen, wie viele Erkrankungen und wie
viele Auszeiten sie sich nehmen können. „Pay per Flight“
heißt dieses Geschäftsmodell, das wir verurteilen.
({0})
Aus diesem Grund, aber auch aufgrund der Germanwings-Katastrophe, war es nötig, uns mit den Sicherheitsanforderungen und den Gesundheitsanforderungen an
die Piloten zu befassen. Wie kann sichergestellt werden,
dass nur körperlich und seelisch wirklich gesunde Piloten
in der Kanzel ihren Dienst tun? Der Verkehrsminister hat
es eben erwähnt: Er setzt auf lückenlose Kontrolle auch
der Gesundheitsdaten und auf zusätzliche unangekündigte Zufallskontrollen. Dann wissen die Piloten, dass sie
nicht ungestraft oder nicht ohne die Gefahr, erwischt zu
werden, diese Substanzen zu sich nehmen dürfen. Das
kennen wir aus dem Straßenverkehr. Das ist okay, denn
es geht um die Gesundheit der in der Luftverkehrswirtschaft tätigen Menschen.
Aber wir müssen wissen, was diese lückenlose Überwachung der Gesundheitsdaten auch nach sich zieht. Das
heißt, zu fragen ist: Gibt es Möglichkeiten, diese zu umgehen, wenn sich jemand nicht so wohl fühlt oder wenn wie ich es eben gesagt habe - ein bestimmtes Geschäftsmodell dahintersteckt, das jemanden sogar dazu zwingt,
nach Umgehungstatbeständen zu suchen?
Darum haben wir versucht, mit unseren Vorschlägen
in die Debatte einzugreifen und insbesondere dieses Argument aufzugreifen. Wir sind da nicht ganz allein. Auch
die Europäische Agentur für Flugsicherheit, EASA, hat
in ihrem Abschlussbericht zum Germanwings-Unglück
festgestellt, dass es durch verschiedene Programme möglich sein muss, auf die Piloten einzuwirken, sodass sie
wirklich nur dann ihren Dienst antreten, wenn sie körperlich und auch seelisch topfit sind.
Wir haben auch den Vorschlag gemacht: Lasst uns
doch Regelungen finden, durch die wir in der Lage sind,
ganz dicht an die Beschäftigten selbst über Tarifverträge
und Betriebsräte heranzukommen. Nicht nur wachsende
Bürokratie sorgt für mehr Sicherheit, sondern auch ganz
dicht an den Beschäftigten ansetzende Programme, die
es ihnen erleichtern, sich zu offenbaren, wenn es ihnen
nicht gutgeht. Das ist im Gesetzentwurf nicht enthalten,
darum werden wir diesen Gesetzentwurf auch ablehnen
müssen.
({1})
Ich will einen weiteren Punkt ansprechen, der heute
Morgen noch keine Rolle gespielt hat, nämlich die Verordnung über Bodenabfertigungsdienste auf Flugplätzen.
Dazu haben wir einen Entschließungsantrag vorgelegt.
Auch hier ist erkennbar, dass aufgrund der Liberalisierung des Marktes seitens der EU-Kommission und der
nachfolgenden Gesetzentwürfe der Bundesregierung der
Deregulierung Tür und Tor geöffnet sind. Diese reicht bis
zu den Bodenabfertigungsdiensten. Inzwischen ist es den
Flughafenbetreibern untersagt, ausschließlich und allein
für den Flughafen und die damit im Zusammenhang
stehenden Bodenabfertigungsdienste verantwortlich zu
sein. Darum sind sogenannte Drittabfertiger zugelassen,
die in einer Anlage zur Verordnung genannt werden.
Nun hat man in Düsseldorf diese Bodenabfertigungsdienste ausgeschrieben, obwohl für Düsseldorf festgelegt
wurde, dass nur zwei Drittabfertiger auf dem Vorfeld und
in den Diensten eingesetzt werden dürfen. In Düsseldorf
sucht man einen dritten Anbieter und hat diese Aufgabe
ausgeschrieben. Jetzt versucht man hier, mit einer entsprechenden Maßnahme dieses illegale Handeln auf dem
Düsseldorfer Flughafen zu legitimieren. Das dürfen wir
nicht zulassen.
({2})
Das ist nachträgliches Legalisieren einer nichtlegalen
Handlung. In Schönefeld haben wir übrigens das gleiche
Verfahren. Auch dort wird die Obergrenze, die in der Verordnung festgelegt ist, überschritten.
Es ist nicht in Ordnung, dass das Thema Sicherheit an
dieser Stelle nicht angemessen berücksichtigt wird. Haben wir denn mehr Sicherheit, wenn mehr Firmen für die
Bodenabfertigungsdienste auf den Flughäfen zuständig
sind? Ist es nicht vielmehr so, dass wir mit gut kontrollierten Unternehmen, die qualitativ hochwertige Arbeit
leisten und die tariflichen Standards einhalten, für ein
hohes Maß an Sicherheit auf den Flughäfen sorgen? Ich
meine, das ist der richtige Weg. Ein hohes Maß an Sicherheit gibt es nur mit guten Arbeitsbedingungen. Gute
Arbeit und Sicherheit gehören zusammen.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, als die EU-Kommission eine Ausweitung des Wettbewerbs und mehr
Konkurrenz in diesem Bereich forderte, waren wir uns
im Ausschuss einig. Wir haben die Gefahren gesehen und
einhellig gesagt: Nein, wir wollen den Wettbewerb begrenzen. Hier aber wird einfach so getan, als ob ein Mehr
an Bodenverkehrsdiensten nicht zu einer Liberalisierung
führt. Das ist nicht in Ordnung. Darum sage ich: Nehmen
Sie unseren Entschließungsantrag ernst. Greifen Sie die
darin genannten Vorschläge auf, damit es auf den Flughäfen, auch in den dem Flugfeld vorgelagerten Bereichen,
wirklich sicher ist; denn Sicherheit ist das höchste Gebot
in der Luftfahrt. Wie gesagt: Gute Arbeit und mehr Sicherheit sind zwei Seiten einer Medaille.
({4})
Arno Klare ist der nächste Redner für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist parlamentarische Primetime, und wir reden über Luftverkehr. Das
kommt nicht so oft vor, muss ich feststellen. Als Berichterstatter für diesen Bereich füge ich selbstbewusst hinzu:
Der deutschen Luftverkehrswirtschaft steht, um in der
metaphorischen Diktion zu bleiben, dieser prominente
Sendeplatz durchaus zu.
({0})
Wir reden heute über die 15. Novelle des Luftverkehrsgesetzes. Das hört sich ziemlich trocken an, aber
wir reden über das Basisgesetz der Luftverkehrswirtschaft in Deutschland. Aus diesem Luftverkehrsgesetz
sind alle anderen Gesetze, die mit Luftverkehr zu tun haben, entweder abgeleitet, oder sie beziehen sich darauf,
so zum Beispiel das Luftsicherheitsgesetz - ein Entwurf
der Novelle liegt vor; jetzt steht die Ressortabstimmung
an -, das Fluglärmgesetz, das 2017 evaluiert werden soll,
und natürlich auch die Verordnungen wie die Luftverkehrs-Ordnung und die Luftverkehrs-Zulassungs-Ordnung. Das alles sind sehr abstrakt klingende Begriffe,
aber all das ist aus diesem Basisgesetz abgeleitet. Insofern nehme ich mir in meiner noch knapp fünfminütigen
Redezeit das Recht, ein paar Worte über den allgemeinen
Zustand, über die allgemeine Lage der Luftverkehrswirtschaft in Deutschland zu sagen; denn es geht darum, dass
dieses Basisgesetz geändert wird, und wenn wir schon
einmal zur Primetime debattieren, dann muss man das
auch einmal tun.
Allgemein gilt: Die Luftverkehrswirtschaft in der
Bundesrepublik Deutschland hat eine sehr hohe ökonomische Bedeutung. Aber sie hat auch - auch dieser Aspekt gehört dazu - einen durchaus schweren Stand, und
zwar auf nationaler und internationaler Ebene. Auf nationaler Ebene geht es dabei um die Akzeptanz - das Thema
ist gerade schon vom Minister angesprochen worden -,
und auf internationaler Ebene geht es um die internationale Konkurrenz.
Ich fange mit der nationalen Akzeptanz an. Im letzten
Jahr wurde die NORAH-Studie veröffentlicht. Dies ist
weltweit die größte Studie zur Lärmwirkung. Sie wurde übrigens zum größten Teil von der Luftverkehrswirtschaft selbst finanziert; auch das muss man sagen. In dieser Studie ist den Bewohnern der Anrainerregionen des
Frankfurter Flughafens zum Beispiel die Frage gestellt
worden, inwieweit sie sich durch den Luftverkehrslärm
belästigt fühlen. Das Ergebnis aus dieser Befragung in
den Jahren 2011, 2012 und 2013 ist mit dem Ergebnis
einer Studie verglichen worden, die aus dem Jahr 2005
stammt.
Von 2005 bis zu der Befragung 2011, 2012, 2013
haben die Flugbewegungen am Frankfurter Flughafen
deutlich abgenommen - die Passagierzahlen sind gestiegen, aber die Flugbewegungen haben abgenommen -,
die Flugzeuge sind leiser geworden - das kann man an
den Messpunkten und den Protokollen der Messpunkte
eindeutig ablesen -, und - ein Weiteres kommt noch hinzu - die Nachtruhe ist eingeführt worden. Gleichwohl ist
die Zahl derjenigen Menschen, die geäußert haben, dass
sie von dem Fluglärm sehr belästigt werden, gegenüber
2005 um 11 Prozent gestiegen. Weniger Flüge, leisere
Flüge und Nachtruhe - trotzdem 11 Prozent mehr.
({1})
Das zeigt: Die Luftverkehrswirtschaft und der Luftverkehr haben in der Tat ein Akzeptanzproblem, das wir angehen müssen.
Hinzu kommt, dass der Luftverkehr in einer globalen
Konkurrenz steht und für die deutsche Luftverkehrswirtschaft kein Level Playing Field in dieser Welt besteht.
Anders als andere Verkehre ist Luftverkehr durchaus
verlagerbar. Istanbul ist von München, dem zweiten großen Hub nach Frankfurt, einen Steinwurf weit entfernt.
Dort können genau die Verkehre abgewickelt werden,
die in München abgewickelt werden. Von Frankfurt ist es
auch nicht wahnsinnig weit weg. Das heißt, die Wachstumsdynamik ist, wenn man den deutschen mit dem internationalen Luftverkehr vergleicht, bei uns durchaus
schwach. Dankenswerterweise haben wir als Grundlage
für das Luftverkehrskonzept, das jetzt zur Beratung und
Entwicklung ansteht, eine Expertise von, ich glaube,
700 Seiten vorliegen, in der das deutlich und in Zahlen
ausgedrückt wird. Ich bin durchaus dankbar dafür, dass
solch eine Riesenexpertise vorliegt; denn sie fasst - zumindest für mich - einmalig all das zusammen, was man
sich sonst mühsam zusammensuchen müsste.
Die Luftverkehrswirtschaft ist ein volkswirtschaftliches Essential in Deutschland, und sie ist hochgradig
innovativ mit großen Spin-off-Effekten für andere Bereiche. Ich möchte nur eines herausgreifen. Ich war in der
letzten Woche in Ottobrunn bei München auf dem Ludwig
Bölkow Campus von Airbus. Dort haben zwei ganz große
deutsche Firmen, nämlich Siemens und Airbus - nicht zu
ganz gleichen Teilen; Airbus steckt da mehr rein -, den
Grundstein für ein E-Aircraft System House gelegt, einer
Forschungseinrichtung, die elektrisches Fliegen möglich machen will. Einen solchen Flieger gibt es übrigens
schon. Das ist der E-Fan. Er ist relativ klein. Er würde
hier vorne in den Saal gut hineinpassen. Das gibt es also
schon. Das ist keine völlige Utopie. Die wollen das jetzt
in großem Stile organisieren und daran forschen. Das ist
ein 450-Millionen-Euro-Investment. Das sollte man vielleicht einmal würdigen, wenn man darüber redet, ob man
Flugverkehre und die Luftverkehrswirtschaft weiterhin
restriktiv und beschneidend angehen will. Da ist ein ganz
großes innovatives Potenzial enthalten.
Nicht weit davon entfernt ist das Bauhaus Luftfahrt über diesen Punkt habe ich hier schon einmal geredet -,
die SOLAR-JET entwickelt haben, ein Kerosin, das aus
schlichten Teilen besteht, nämlich einfach nur aus CO2,
aus Wasser und als Energiezufuhr Sonnenlicht. Daraus
wird völlig klimaneutral, völlig CO2- und THG-neutral
ein Kerosin hergestellt.
({2})
Das ist auch im industriellen Großmaßstab machbar.
Wenn beides zusammenkommt, elektrisches Fliegen plus
dieses Kerosin - es geht ja um ein Hybridflugzeug -, dann
fliegen wir klimaneutral. Das ist ein wirklich sehr großer innovativer Schritt. Wenn man dieses SOLAR-JET
herstellen kann, dann kann man das im Prinzip auch
auf andere Spritarten übertragen, zum Beispiel die, die
wir im Straßenverkehr verwenden. Das meine ich mit
Spin-off-Effekten.
({3})
Zusammenfassend muss man sagen: Wir sollten die
immense Bedeutung der Luftverkehrswirtschaft in unserer gesamten Volkswirtschaft ernst nehmen, und wir
sollten bedenken - ich habe jetzt nur ganz wenige Punkte
genannt -, wie hochgradig innovativ die Luftverkehrswirtschaft ist und wie viel Geld und Forschungskapazität
darin stecken.
Danke, dass Sie mir zugehört haben.
({4})
Oliver Krischer ist der nächste Redner für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist schon angesprochen worden: Dieser Gesetzentwurf
betrifft eine ganze Reihe von Aspekten. Ich erspare es
mir, hier darüber zu reden, dass Rechtssicherheit für
Hubschrauberlandeplätze an Krankenhäusern geschaffen
wird. Dass da Rechtssicherheit geschaffen wird, ist eigentlich selbstverständliches Regierungshandeln.
({0})
Das kann man nicht ernsthaft infrage stellen. Damit kann
man sich auch nicht brüsten. Das bedarf also eigentlich
keiner weiteren Erwähnung.
Wir finden es im Grundsatz richtig, dass auch Konsequenzen aus dem Germanwings-Absturz gezogen
werden, dass hier gehandelt wird; mein Kollege Stephan
Kühn wird gleich noch Näheres dazu sagen.
Ich möchte mich auf einen Aspekt konzentrieren, der,
glaube ich, zwischen uns kontrovers ist, was diesen Gesetzentwurf angeht - er war auch der ursprüngliche Anlass dafür, dass dieses Gesetz geändert wird -: auf das
Thema Fluglärm. Herr Klare, Sie haben von Akzeptanzproblemen gesprochen. Das klang so, als ob rund um die
Großflughäfen alles gut wäre. - Wo ist er denn? Ich sehe
ihn gar nicht.
({1})
- Er ist wieder gegangen, gut. - Er hat, wie gesagt, so
getan, als ob alles gut wäre.
({2})
- Aha. - Aber wenn man sich einmal die Situation rund
um die deutschen Großflughäfen ansieht, stellt man fest:
Es ist eine unglaubliche Belastung, die die Menschen
dort aushalten müssen, im Minutentakt, oft noch nachts.
Ich sage ganz offen: Wenn die Luftverkehrswirtschaft,
wie Herr Klare eben gesagt hat, so wichtig ist, so sehr
prosperiert und so stark ist, dann muss es doch eigentlich
eine Selbstverständlichkeit sein, dass die Bundesregierung alles unternimmt, um die Belastungen durch Fluglärm zu reduzieren.
({3})
Meine Damen und Herren, da kann man wirklich nur
mit dem Kopf schütteln. Sie legen hier einen Gesetzentwurf vor, der im Kern als einzige Änderung im Hinblick
auf den Fluglärm vorsieht, dass dann, wenn neue Landebahnen oder Flughäfen in Deutschland gebaut werden,
eine UVP-Pflicht besteht. Mir ist nicht bekannt, wo in
Deutschland im Moment ein großer Verkehrsflughafen
oder auch nur eine Landebahn geplant wird - es sei denn,
es gibt einen Geheimplan von Herrn Dobrindt, um sein
Mitscheitern beim BER ganz neu aufzulösen. Aber Sie
machen hier ein Gesetz für etwas, was in den nächsten
Jahren keine Rolle spielen wird.
({4})
Das ist doch absurd. Das hat nichts mit dem Schutz vor
Fluglärm zu tun. Das ist im Off.
Was wir tatsächlich bräuchten - da machen Sie überhaupt nichts; das packen Sie an dieser Stelle überhaupt
nicht an -, ist, dass dann, wenn an Flughäfen die Flugrouten geändert werden und Genehmigungsänderungen
anstehen, eine UVP-Pflicht besteht und Vorprüfungen
durchgeführt werden. Das haben Sie andeutungsweise
sogar in Ihrem Koalitionsvertrag stehen. Meine Damen
und Herren von der Großen Koalition, warum machen
Sie das nicht, wo Sie dieses Gesetz jetzt anpacken? Ich
habe dafür kein Verständnis.
({5})
Das ist, ehrlich gesagt, ein Witz. Das ist ein Hohn gegenüber den Millionen von Fluglärm betroffenen Menschen
in Deutschland.
Sie handeln überhaupt nur deshalb, weil die EU-Kommission Sie dazu zwingt. Sie würden das, was Sie jetzt
ändern, weil sich Deutschland einem Vertragsverletzungsverfahren gegenübersieht, sonst gar nicht ändern.
Das ist nicht angemessen. Das ist nicht die Lösung, die
wir brauchen. Wenn, wie es Herr Klare eben gesagt hat,
die Flughäfen, der Luftverkehr und der Flugverkehr,
den wir alle nutzen, mehr Akzeptanz finden sollen, dann
brauchen wir eine ganze Menge Änderungen.
({6})
Wir brauchen vor allen Dingen klare Abwägungskriterien. So wie es heute vonstattengeht, ist das absolut intransparent; denn in jeder Region und an jedem Standort
wird irgendwie ein bisschen vor sich hin gewurschtelt.
Nachher können die Betroffenen überhaupt nicht nachvollziehen, warum man sich für welche Route entschieden hat. Das klären Sie nicht.
({7})
Sie hätten jetzt die Gelegenheit, das hier einzubringen
und es in diesen Gesetzentwurf einzubauen. Das machen
Sie aber nicht. Warum schreiben Sie so etwas in den Koalitionsvertrag, wenn Sie dieses Thema dann, wenn es,
wie hier, konkret ansteht, überhaupt nicht anpacken?
Meine Damen und Herren, das ist organisiertes Nichthandeln. Das ist eine reine Shownummer.
({8})
Meine Damen und Herren, was wir endlich auch brauchen, sind klare Lärmgrenzwerte für den Luftverkehr.
Es kann doch nicht sein, dass es für jede Diesellok und
jedes Auto entsprechende Regelungen gibt, dass es aber
für den Luftverkehr - die NORAH-Studie hat uns wieder
vor Augen geführt, dass es hier gesundheitliche Folgen
gibt, dass Depressionen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen
und andere Zivilisationskrankheiten Folgen der Lärmbelastung sind - keine klaren Grenzwerte gibt. Auch da
könnten Sie handeln. Auch da tun Sie nichts.
({9})
Meine Damen und Herren, last, not least: Thema
Nachtflug. Von den Maschinen, die nachts starten, sind
die Menschen am allermeisten betroffen. Das darf, ehrlich gesagt, nicht sein. Hier müssen wir tatsächlich zu
einer Reduzierung der Belastungen kommen. Was den
Flughafen Köln/Bonn betrifft, hat die Landesregierung
Nordrhein-Westfalen bzw. die Region die Bundesregierung und den Verkehrsminister aufgefordert, wenigstens
für den Passagierflugbereich ein Nachtflugverbot durchzusetzen. Das könnten Sie jetzt hier auch machen. Sie
tun das aber nicht, obwohl die Menschen dort und die
zuständige Landesregierung das wollen.
Ich sage Ihnen: Wenn es um Fluglärmbetroffene geht,
dann sind Sie auf beiden Augen blind. Sie haben am Ende
nur die Interessen der Luftverkehrswirtschaft im Auge.
Das haben Ihnen die Sachverständigen in der Anhörung
am Ende auch ins Stammbuch geschrieben.
Meine Damen und Herren, bitte haben Sie Verständnis
dafür, dass wir einem solchen Gesetzentwurf, der im Bereich des Fluglärms nichts verbessert, nichts löst und im
Sinne der Betroffenen voranbringt, unsere Zustimmung
nicht erteilen können.
Ich danke Ihnen.
({10})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Peter
Wichtel das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der letzten Sitzungswoche des vergangenen Jahres haben wir hier im
Plenum des Deutschen Bundestages die erste Lesung des
geplanten Fünfzehnten Gesetzes zur Änderung des Luftverkehrsgesetzes durchgeführt. Damals haben wir uns
darauf verständigt, dass wir uns vor dem Hintergrund des
Germanwings-Unfalls Zeit nehmen und intensiv prüfen
wollten, ob das eingebrachte Änderungsgesetz an der
einen oder anderen Stelle noch verbessert werden kann.
Nach intensiven Beratungen und in enger Abstimmung mit unserem Koalitionspartner haben wir nun einen Änderungsantrag verfasst, der das vorliegende Änderungsgesetz an einigen Stellen angemessen unterstützt.
Durch die Eingaben, die wir gemacht haben, und mit der
heute vorgesehenen Verabschiedung dieses Gesetzentwurfs werden wir alle Akteure im Feld der Luftfahrt Passagiere, Beschäftigte und die Unternehmen der
Luftverkehrswirtschaft - mit einem klaren luftverkehrsrechtlichen Rahmen und einer nachhaltigen und verantwortungsbewussten Luftverkehrspolitik unterstützen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Bundesregierung hat die vorliegende Gesetzesänderung insbesondere auch deswegen in das Parlament eingebracht,
um auf mehrere Vorgaben der Europäischen Kommission
einzugehen und die bestehenden gesetzlichen Regelungen anzupassen. Die EU-Kommission ist nämlich zum
Beispiel der Auffassung, dass das geltende deutsche
Luftrecht hinter den Anforderungen der europäischen
Gesetzgebung zurückbleibt, weil in den Verfahren zur
Festlegung von Flugverfahren weder eine Umweltverträglichkeitsprüfung noch eine Prüfung der Auswirkungen auf Natura-2000-Gebiete durchgeführt wird.
Die EU-Kommission hat vor diesem Hintergrund bereits im Jahr 2013 sogar ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland eingeleitet.
Parallel dazu hat die höchstrichterliche Rechtsprechung
in Deutschland bestätigt, dass UVPs bereits im Zulassungsverfahren für Flughäfen umfassend durchgeführt
werden müssen. Die UVP müsse sich auf den gesamten
Einwirkungsbereich des Flughafens erstrecken. Dabei
sollen die abwägungserheblichen Auswirkungen geprüft
werden.
Die Bundesregierung hat diesen Einwänden mit dem
Gesetzentwurf nun Rechnung getragen. Auch wir sorgen
mit unserem Änderungsantrag noch einmal für Klarheit
und betonen beispielsweise im Hinblick auf die Änderung in § 8 des Luftverkehrsgesetzes, dass die Untersagung der Abwicklung von An- und Abflugverkehr über
bestimmten Gebieten durch die Planfeststellungsbehörde
keinesfalls die Befugnisse der Fluglotsen zu verkehrslenkenden Maßnahmen aus dringenden Sicherheitsgründen
nach § 31 Absatz 3 Luftverkehrs-Ordnung einschränkt.
Unmittelbar verkehrsregelnde Maßnahmen bleiben der
Planfeststellungsbehörde also auch weiterhin untersagt.
Bei einer weiteren unklaren Rechtssituation, die es
aufzulösen galt, ging es um die Landeplätze für Helikopter. Im Gegensatz zu meinem Vorredner halte ich das
deutsche Rettungswesen für wichtig.
({0})
In der Vergangenheit gab es keine entsprechende Regelung, und es wurde geduldet, dass Rettungsflüge stattfinden. Herr Krischer hat hier laut und deutlich in den
Raum gestellt, dass wir eine solche auch nicht brauchen
und dass das eine Selbstverständlichkeit ist. Bis dato war
es aber eben nicht selbstverständlich. Wir haben uns deshalb bewusst damit befasst, und es hat einige Zeit gedauert, bis wir zu den richtigen Maßnahmen und Schritten
gekommen sind.
Der Hintergrund ist: Nach den gesetzlichen Vorgaben
soll der Betrieb von Luftfahrzeugen grundsätzlich auf
Flugplätzen abgewickelt werden. Durch das Inkrafttreten
der EU-Verordnung 965/2012 ergibt sich nun die Möglichkeit, den Hubschrauberbetrieb der Luftrettung von
und zu sogenannten Örtlichkeiten von öffentlichem Interesse zuzulassen, worunter auch Krankenhäuser fallen.
Meine Damen und Herren, aber auch das war noch
nicht alles. Die Krankenhäuser waren der Meinung: Das
klappt dann überall. - Wir mussten in der Diskussion mit
dem Verband in der Anhörung feststellen, dass hier weitere Debatten und auch unsere Unterstützung notwendig waren. Dazu haben wir in unserem Antrag einiges
dargelegt. Wir haben zum Beispiel aufgenommen, dass
Dachlandeplätze nicht einfach von der neuen Regelung
ausgenommen und damit gestrichen werden, sondern jeweils eine Einzelfallprüfung stattfindet.
({1})
In diesem Zusammenhang darf ich auf Folgendes hinweisen: Es war nicht klar, dass Hubschrauberlandeplätze,
die nicht eingerichtet und auch nicht genehmigt sind, als
sogenannte Notlandeplätze auch mehrfach angeflogen
werden können. Deswegen haben wir gestern im Ausschuss bewusst und gezielt noch einmal angesprochen,
dass Landeplätze dort, wo Gefahr für Leib und Leben
besteht, regelmäßig und mehrfach angeflogen werden
dürfen.
({2})
Mit zwei ganz entscheidenden Änderungen in einem
anderen Bereich haben die Koalitionsfraktionen dafür
gesorgt, dass im Gesetz Klarstellungen hinsichtlich der
Kontrolle von Luftfahrzeugführern im Zusammenhang
mit Alkohol, Drogen und Medikamenten vorgenommen
werden. Die Dienstfähigkeit, die durch die betäubende,
bewusstseinsverändernde oder aufputschende Wirkung
von Medikamenten beeinträchtigt werden könnte, soll
kontrolliert werden. Verantwortlich hierfür sollen die
Luftfahrtunternehmen sein, die eine seitens des Luftfahrt-Bundesamtes anerkannte Niederlassung oder den
Hauptsitz in Deutschland haben. Zudem hat das LBA nun
selbst auch die Möglichkeit, stichprobenartig zu kontrollieren. Also können von ihm neben der bisher bestehenden rechtlichen Möglichkeit, technische und betriebliche
Zustände von Luftverkehrsfahrzeugen im Rahmen von
§ 29 des Luftverkehrsgesetzes zu überprüfen, nun auch
die stichprobenartigen Untersuchungen und Verdachtskontrollen mit Blick auf die Dienstfähigkeit durchgeführt
werden.
Ein weiterer Baustein war, das heute schon hohe Sicherheitsniveau durch die Einführung einer flugmedizinischen Datenbank weiter heraufzusetzen. Wir sind der
festen Überzeugung, dass wir nach langer Diskussion
den richtigen Weg gefunden haben. Ergänzend haben wir
die Behörde ermuntert, tätig zu werden und diese Datenbank zu beurteilen. Wir haben uns darauf verständigt,
dass die Tauglichkeitszeugnisse, so wie es der Minister
ausgeführt hat, als medizinische Befunde der Bewerber
personenbezogen gespeichert werden.
Den Zugriff auf diese Datenbank erhalten ausschließlich die dafür zuständigen medizinischen Mitarbeiter des
Luftfahrt-Bundesamtes. Die Pseudonymisierung wird
aufgehoben. Somit kann in Zukunft genau festgestellt
werden, wie die Entwicklung bei jedem Einzelnen verläuft und ob es Probleme gibt oder nicht. Ich denke, wenn
man sich das genau ansieht, dann erkennt man, dass wir
dem Thema Datenschutz besondere Aufmerksamkeit
geschenkt haben. Nun sollen als Muster für diese Neuregelungen die datenschutzrechtlichen Regelungen zur
Seediensttauglichkeit dienen, wo heute schon die Gesundheitsdaten der Seeleute personenbezogen in das Seediensttauglichkeitsverzeichnis übermittelt werden.
Meine Damen und Herren, diese notwendigen Regelungen sollen natürlich auch vor dem Hintergrund gesehen werden, dass die Fluggesellschaften weiterhin das
anbieten, was sie schon heute anbieten, nämlich Piloten, die Probleme haben, den ungehinderten Zugang zu
Ärzten im Rahmen von Beratungen und Prävention zu
ermöglichen. Wir fordern die Bundesregierung auf, die
Regelung, die es bei deutschen Luftverkehrsgesellschaften gibt, auf europäischer Ebene und auf der Ebene der
IATA ebenfalls einzuführen,
({3})
sodass es im Luftverkehr insgesamt zu mehr Sicherheit
kommen kann.
({4})
Nun wurde vorhin der Vorwurf geäußert, es sei nichts
zum Thema Bodenverkehrsdienste gesagt worden. In
der letzten Legislaturperiode, Herr Kollege Behrens und
Herr Krischer, gab es einen eindeutigen Beschluss des
Deutschen Bundestages, die deutsche Bundesregierung
aufzufordern, dass über die zwei Abfertiger hinaus, die
die Regelungen vorsehen, keine weiteren zugelassen
werden sollen. Die Bundesregierung hat auf Einwand
und Nachfrage der Koalition erklärt: Dieses Thema gehört nicht ins Gesetz. Deswegen ist es herausgenommen
worden. Diese Frage kann durch das Ministerium im
Wege einer Verordnung geklärt werden, wenn die bisherige Regelung nicht dem Willen der Mehrheit der Mitglieder des Deutschen Bundestages entspricht. Ich sehe
dort niemanden, der das machen will.
Wir werden also, wie von mir vorgetragen, dem heute vorliegenden Gesetzentwurf mit den vorgenommenen
Änderungen ausdrücklich zustimmen.
({5})
Ich sage noch einmal sehr deutlich, dass die Thematik
Lärm bzw. Fluglärm nicht Inhalt dieses Gesetzvorhabens
ist, weil wir diese Thematik überhaupt nicht auf der Tagesordnung hatten. Das wird in einer künftigen Novelle
des Luftverkehrsgesetzes berücksichtigt werden.
({6})
Sie tun ja so, als wenn es keine Lärmgrenzen gäbe.
Das ist bei uns in Deutschland geregelt, und diese Regelungen werden eingehalten.
Sie haben in den Raum gestellt, dass bei heutigen
Flugroutenänderungen mehr Bevölkerung von Lärm betroffen sei. Ich kenne in Deutschland keine einzige beratende Fluglärmkommission, die nicht dem Grundsatz
folgt, dass Änderungen nur vorgenommen werden, wenn
dadurch weniger Menschen belastet werden.
({7})
- Herr Krischer, Sie sind kein Verkehrspolitiker, sondern
in anderen Bereichen tätig. Deswegen liegen Sie an dieser Stelle schlichtweg falsch.
({8})
Herr Kollege.
Herr Präsident, ich habe gesehen, dass meine Redezeit
abgelaufen ist. Mein Minister sollte 15 Minuten lang reden, hat aber nur 10 Minuten lang geredet.
({0})
Deswegen dachte ich, dass ich wenigstens 2 Minuten von
dieser Zeit bekommen könnte. Ich komme jetzt aber zum
Schluss.
Herr Kollege Wichtel, wenn es so wäre, wie Sie vermuten, wäre die Situation nicht ganz so kompliziert, wie
sie ist. Sie sind aber offensichtlich im Finale. Das beruhigt mich schon einmal.
Den Anträgen der Linken können wir nicht zustimmen. Auch dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen,
über den wir schon im letzten Jahr diskutiert haben und
in dem wir außer Verboten und sonstigen Themen nichts
gefunden haben, können wir nicht zustimmen. Wir sind
der Auffassung, dass das, was derzeit mit Blick auf Fluglärm sowie Flugroutenfestlegungen und -veränderungen
gemacht wird, in einem sehr geordneten und guten Rahmen gemacht wird. Deswegen werden wir dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zustimmen und die Anträge ablehnen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Nun erhält die Kollegin Sabine Leidig für die Fraktion
Die Linke das Wort.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Herr Minister Dobrindt hat vorhin von der Zukunftsfähigkeit des Luftverkehrs gesprochen. Eigentlich wollte
die Bundesregierung in diesem Frühjahr ein Luftverkehrskonzept vorlegen. Das hat sie bisher aber nicht gemacht.
({0})
Stattdessen haben die Umwelt- und Verkehrsverbände
gemeinsam in einer großen Allianz ein solches Konzept vorgelegt, für das es auch höchste Zeit ist; denn
der Flugverkehr ist inzwischen ein wachsender Treiber
des Klimawandels, der allein in Deutschland jedes Jahr
10 Milliarden Euro Subventionen verschlingt, die wir
Bürgerinnen und Bürger aufbringen müssen.
Eine dreiviertel Million Bürgerinnen und Bürger sind
hierzulande von Fluglärm betroffen. Es geht also nicht
um eine Lappalie. Die Verbände haben sehr schön dargelegt, wie man Umweltkosten durch eine Klimaabgabe
vermeiden kann, wie man unnötige Flüge vermeidet und
die vorhandenen Flughafenkapazitäten besser ausnutzt,
wie man gesundheitsschädlichen Fluglärm vermindert
und die Nachtruhe schützt. Hätten Sie sich doch daran
einmal ein Beispiel genommen. Das wäre sehr gut gewesen.
({1})
Stattdessen haben Sie Vorschläge für einen Flickenteppich an Änderungen am Luftverkehrsgesetz vorgelegt, die zumindest mit Blick auf den Fluglärm ein Armutszeugnis sind. Worum geht es dabei?
Beim BER-Flughafen war das Planfeststellungsverfahren - vielleicht erinnern sich einige daran - mitsamt
Umweltverträglichkeitsprüfung und Einspruchsmöglichkeiten abgeschlossen, und danach sind die Flugrouten
festgelegt worden, die so überhaupt nicht geplant waren. Über das Erholungsgebiet Müggelsee beispielsweise sollten zentrale Flugrouten gehen. Es sind zahlreiche
Klagen dagegen vor Gericht verhandelt worden. Zudem
hat die EU-Kommission gefordert, einen solchen absurden Missstand zu beheben. Deshalb haben Sie die Änderungen vorgenommen und nicht aus freien Stücken.
In Ihrem Gesetzentwurf ist nun vorgesehen, dass bei
neuen Flughäfen oder bei einer erheblichen Erweiterung
der ganze Einwirkungsbereich in die Umweltverträglichkeitsprüfung einbezogen werden muss. So weit, so gut.
Aber es wird praktisch keine neuen Flughafenbauten
geben, und auch die Planungen für die dritte Landebahn
in München, das Terminal 3 in Frankfurt und auch für
einige Erweiterungen beim BER sind schon längst abgeschlossen. Ihre Regelungen werden also ins Leere laufen.
Was wirklich nottut - dafür streiten wir als Linke,
und dafür haben wir auch unseren Änderungsantrag eingebracht -, ist, dass die Flugrouten selber auf ihre Umweltverträglichkeit bzw. auf ihre Lärmbelastung geprüft
werden.
({2})
Entscheidend ist, über welche Wohngebiete die Flugzeuge tatsächlich fliegen, und zwar nicht irgendwann in der
Zukunft, sondern jetzt.
In meiner Heimatregion, dem Rhein-Main-Gebiet,
sind über 80 Bürgerinitiativen gegen Flughafenausbau,
für ein Nachtflugverbot und gegen Fluglärmbelastung
aktiv. Diese 80 Bürgerinitiativen haben Ihnen eine gemeinsame Stellungnahme geschickt und Wort für Wort
erklärt, welche Punkte und Unterpunkte in Ihren Paragrafen geändert werden müssten, damit das, was am Ende
herauskommt, eine sinnvolle Wirkung zum Schutz von
Menschen und Natur hat.
Das alles haben Sie ignoriert. Welche Interessen vertreten Sie eigentlich? Wir als Linke-Fraktion haben jedenfalls mit unserem Änderungsantrag die Interessen der
Bürgerinnen und Bürger vertreten.
({3})
Wir haben das Ziel, die tatsächliche Belastung unter
den wirklichen Flugrouten zu bewerten und auf dieser
Grundlage Alternativen zu prüfen. Wir wollen weg von
der Schallschutzfenstermentalität, dass die Menschen
im Haus bleiben sollen, damit sie nicht vom Lärm krank
werden. Wir wollen, dass es am Himmel leiser wird als
heute.
({4})
Dazu muss auch das Umweltbundesamt gestärkt werden. Dazu müssen die Bürgerinnen und Bürger gestärkt
werden. Wir brauchen eine bessere Bürgerbeteiligung,
damit der Lärm- und Gesundheitsschutz nicht immer
wieder den Gewinninteressen der Luftverkehrsindustrie
geopfert wird. Diesem Anliegen sollten alle Volksvertreter und Volksvertreterinnen zustimmen.
Danke.
({5})
Nächster Redner ist der Kollege Andreas Rimkus für
die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf und dem
Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen wird ein Thema ganz großgeschrieben: Sicherheit. Ich fliege gerne
und viel, meistens zwischen Wahlkreis und Hauptstadt.
Ich weiß aber auch, dass das Fliegen immer mit Ängsten
und Unsicherheiten verbunden ist. Buchstäblich den Boden unter den Füßen zu verlieren und der Schwerkraft zu
trotzen, flößt nicht jedem ein Gefühl von Freiheit ein, wie
Reinhard Mey in seinem Song „Über den Wolken“ singt.
Für die Politik heißt das, den Menschen auf der einen
Seite das Gefühl von Sicherheit zu vermitteln, sie aber
auf der anderen Seite auch vor tatsächlichen Gefahren
zu schützen. Um auch in Zukunft die Sicherheit zu gewährleisten, dürfen wir aber nicht nur auf Deutschland
blicken. Luftverkehr kennt nämlich keine geografischen
Grenzen. Er funktioniert im besten Falle global, mindestens aber europäisch. So wird mit der Regelung zum
EASA-Zeugnis für Flugplatzbetreiber ein europäischer
Rahmen zur Zertifizierung von Flugplätzen umgesetzt.
Das sollte aber nicht nur ein Schritt zur Harmonisierung
des europäischen Luftverkehrs sein, sondern es soll auch
mehr Vergleichbarkeit in Europa schaffen. Hier gilt, wie
wir bereits gestern im Ausschuss deutlich gemacht haben, wegen der bereits zertifizierten deutschen Flughäfen, dass Mehrfachzertifizierungen möglichst vermieden
werden sollten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch die Änderungen im Bereich der Anforderungen an Landestellen von
Rettungshubschraubern führen zu mehr Vergleichbarkeit
in der EU und zur Schaffung einheitlicher Standards.
Doch eines darf dabei nicht vergessen werden - Peter
Wichtel hat es schon gesagt -: Die Luftrettung muss in
jedem Fall in ihrer heutigen Form erhalten werden. Deshalb haben wir als Parlamentarier der Koalitionsfraktionen in unserem Änderungsantrag deutlich gemacht,
dass Dachlandeplätze auf Krankenhäusern, wenn sie die
entsprechenden Sicherheitsstandards erfüllen, selbstverständlich für die Luftrettung freigegeben werden müssen.
({0})
Eine gute Luftrettung zu erhalten und dafür zu sorgen,
dass Menschen, die Hilfe brauchen, diese auch bekommen, sollte unser erstes Interesse sein. Die Bundesrepublik hat im Vergleich zu ihren Nachbarländern ein sehr
sicheres und gut funktionierendes Luftrettungssystem,
das ein Garant für gute medizinische Versorgung ist.
Neben den technischen Anforderungen an Landestellen und Flugplätze brauchen wir natürlich Sicherheit in
den Abläufen. Dazu gehört auch das Personal am Boden
und in der Luft. Die Kolleginnen und Kollegen sind der
Ankerpunkt eines gut funktionierenden Luftverkehrs.
Dabei tragen sie vor allem in der Luft eine sehr große
Verantwortung, nämlich Verantwortung für die Unversehrtheit der Menschen an Bord. Dies verdient unser aller Anerkennung und Respekt. Im Lichte des Absturzes
der Germanwings-Maschine, der sich gerade jährte, wird
uns noch einmal besonders klar, welche Bedeutung diese
Verantwortung hat.
Die Rahmenbedingungen für gute Arbeitsplätze und
eine zuverlässige medizinische Betreuung der Belegschaft zu schaffen, ist dabei eine zentrale Aufgabe der
Politik. Wie wichtig dies beispielsweise im Bereich der
medizinischen Betreuung von Belegschaften ist, wurde
uns am 24. März letzten Jahres deutlich vor Augen geführt. Ich bin froh, dass wir nach der Germanwings-Katastrophe - als Düsseldorfer Abgeordneter hat mich diese besonders betroffen - nicht in blinden Aktionismus
verfallen sind. Kluge und versierte Köpfe haben sich in
einer Taskforce zusammengeschlossen, uns Orientierung
gegeben und Empfehlungen erarbeitet. Mit dem vorliegenden Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen tragen
wir dem Rechnung und haben, wie ich finde, maßgebliche und gute Verbesserungen im Fall der medizinischen
Versorgung von Pilotinnen und Piloten erreicht.
({1})
Durch eine flugmedizinische Datenbank lassen sich
nun Krankheitsverläufe besser nachvollziehen. Sie trägt
zur Früherkennung von Krankheiten bei, die die Flugtauglichkeit infrage stellen. Diese Früherkennung steigert nicht nur die Sicherheit im Luftverkehr, sondern
sorgt auch dafür, dass den Betroffenen früher geholfen
werden kann. Besonders wichtig war uns dabei, den notwendigen Durchblick zu gewährleisten und gleichermaßen hohe Datenschutzanforderungen zu formulieren. Die
Zufallskontrollen sollen nicht nur verhindern, dass nicht
flugtaugliches Personal im Cockpit sitzt, sondern natürlich auch helfen, frühzeitig zu erkennen, ob eine Pilotin
oder ein Pilot mit Suchtproblemen oder psychischen Problemen kämpft. So erschütternd das genannte Ereignis
war, bleibt es doch ein äußerst seltener Fall. Nicht ohne
Grund ist das Flugzeug einer der sichersten Verkehrsträger weltweit.
All die Menschen, die zum Erfolg des Flugverkehrs
beitragen und dafür sorgen, dass Menschen und Güter
sicher und zuverlässig befördert werden, verdienen gute
und sichere Arbeitsverhältnisse.
({2})
Dazu gehört auch, zu verhindern, dass Mitarbeiter einer
Sucht verfallen. Wir haben in unserem Änderungsantrag
deutlich gemacht, dass auch überbetriebliche Vereinbarungen zur Suchtprävention zu treffen sind. Ziel soll
sein, eine regelmäßige Aufklärung und Sensibilisierung
der Mitarbeiter über Gefahren und Risiken des Suchtmittelkonsums zu gewährleisten. Darüber hinaus wollen
wir das Thema nach Europa tragen. Europaweit sollen
Beratungsstellen - genauso wie in Deutschland - dafür
Sorge tragen, dass mitarbeitende Kolleginnen und Kollegen nicht alleine gelassen werden und sich vertrauensvoll
an eine solche Stelle wenden können, wenn sie psychische Probleme oder Suchtprobleme haben; denn nur eine
europäische Regelung wird dafür sorgen, dass wir die
notwendige Flächendeckung bei den Beratungsstellen
erzielen.
({3})
Neben diesen Sicherheitsfragen haben wir Änderungen bei der Erfassung von Fluglärm vorgenommen. Mit
der Novellierung wird bei der Planung von Flugrouten
noch stärker die Betroffenheit der Bevölkerung in den
Blick genommen.
({4})
Ich bin überzeugt, dass wir mit dieser Novelle deutliche
Verbesserungen der notwendigen europäischen Normierung erzielen und auch dem Sicherheitsanspruch von uns
Passagieren gerecht werden und dass wir so zumindest
politisch alles dafür getan haben, dass man über den
Wolken vielleicht doch grenzenlose und sichere Freiheit
verspürt.
Schönen Dank.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Stephan Kühn für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Experten, die
die Bundesregierung beraten, der Sachverständigenrat
für Umweltfragen der Bundesregierung, kamen 2014 in
ihrem Gutachten zu dem Ergebnis - Zitat -:
Die gesetzliche Regelung der Fluglärmproblematik
im Luftverkehrsrecht ist unterentwickelt.
Das wird sich mit der aktuellen Änderung des Luftverkehrsgesetzes nicht ändern.
({0})
Ob das Festschreiben der aktuellen Rechtsprechung
des Bundesverwaltungsgerichts reicht, die EU-Kommission zu überzeugen, das Vertragsverletzungsverfahren aufzuheben, darf bezweifelt werden. Die Pflicht zur
Durchführung der Umweltverträglichkeitsprüfung und
zur Prüfung der Auswirkungen auf Natura-2000-Gebiete
gehört in das Verfahren zur Festlegung von Flugrouten
und nicht nur in das Zulassungsverfahren für Flughäfen;
({1})
denn die Gesetzgebung, wie Sie sie heute vorschlagen,
wird nur einen begrenzten Anwendungsbereich haben.
Substanzielle Verbesserungen für die lärmgeplagten Anwohnerinnen und Anwohner an den Hotspots in Deutschland? Fehlanzeige.
({2})
Wo bleibt die im Koalitionsvertrag versprochene verbesserte Transparenz und Beteiligung der Kommunen
und der Öffentlichkeit bei der Festlegung von Flugrouten? Im Zusammenhang mit der Festlegung von Flugverfahren fehlen weiterhin jegliche Bewertungskriterien.
Nicht einmal das Wenige, das Sie im Koalitionsvertrag
aufgeschrieben haben, setzen Sie um.
Bei der Festlegung von Flugrouten sollte nach dem
Koalitionsvertrag eigentlich der Lärmschutz insbesondere in den Nachtstunden verbessert werden. Nichts ist
passiert. Die Ergebnisse der NORAH-Studie, der Lärmwirkungsstudie, zeigen den dringenden Handlungsbedarf. Bei allen Herz-Kreislauf-Erkrankungen erhöht sich
das Risiko, insbesondere durch nächtlichen Fluglärm.
Das sollte uns zum Denken und vor allen Dingen zum
Handeln bringen. Was eigentlich zu tun wäre, haben wir
in unserem Antrag „Fluglärm wirksam reduzieren“ aufgeschrieben, über den wir heute mit abstimmen werden.
({3})
Mit der Novelle des Luftverkehrsgesetzes werden wir
aber heute auch die notwendigen luftverkehrsrechtlichen
Konsequenzen aus dem tragischen Absturz der Germanwings-Maschine am 24. März 2015 in den französischen
Alpen ziehen. Zwei Kommissionen haben sich insbesondere mit Maßnahmen beschäftigt, die die Feststellung
und Überprüfung der Flugtauglichkeit von Piloten verbessern. Dazu gehört insbesondere der schon angesprochene Aufbau einer flugmedizinischen Datenbank, den
wir für geboten halten, wie der Fall Lubitz auch zeigt.
Allerdings: Die Unzulänglichkeiten bei den flugmedizinischen Tauglichkeitsprüfungen waren bereits vor dem
Absturz der Germanwings-Maschine bekannt. Die europäische Flugaufsichtsbehörde EASA hat zuletzt 2014
an der Arbeit des Luftfahrt-Bundesamtes als zuständiger
Aufsichtsbehörde im Zusammenhang mit den flugmedizinischen Tauglichkeitsuntersuchungen deutliche Kritik
geäußert: zu wenig Personal, fehlende fachliche Qualifikation der Sachverständigen beim Luftfahrt-Bundesamt,
fehlende elektronische Dokumentation der Tauglichkeitsuntersuchungen. Nichts ist passiert.
Ich hatte die Bundesregierung gefragt, wie viele
Tauglichkeitsuntersuchungen für Berufspiloten in den
Jahren 2012 bis 2014 durchgeführt und wie viele Berufspiloten zeitweise oder dauerhaft für fluguntauglich
erklärt wurden. Man hat mir daraufhin mitgeteilt, dass
für die Beantwortung meiner Anfrage von einer Bearbeitungszeit von mehreren Jahren auszugehen sei, weil
die Unterlagen nur in Papierform vorliegen würden. Es
kann doch nicht sein, dass die Bundesregierung bei einer so sicherheitsrelevanten Frage nicht weiß, wie viele
Flugtauglichkeitsuntersuchungen in den letzten Jahren in
Deutschland durchgeführt wurden.
({4})
Dass all diese Daten offensichtlich nur handschriftlich
vorliegen, ist in Zeiten der elektronischen Datenverarbeitung unfassbar. Wir brauchen die Datenbank, damit die
Vorgeschichte der Piloten vollständig dokumentiert und
vor allen Dingen einsehbar ist.
({5})
Bisher sind beim Luftfahrt-Bundesamt in der flugmedizinischen Abteilung gerade einmal zwei Personen mit
der Beurteilung der Tauglichkeit befasst. Die Untersuchungen selber machen die Flugmediziner, aber für die
Aus- und Weiterbildung sowie die Qualitätskontrolle der
Flugmedizin ist das Luftfahrt-Bundesamt zuständig. Der
Verband der Fliegerärzte fordert zu Recht mehr Fortbildung für Fliegerärzte. Erst in diesem Jahr soll das Personal der zuständigen Abteilung im Luftfahrt-Bundesamt
auf sechs Personen aufgestockt werden.
Wichtig sind aus unserer Sicht die Beratungs- und
Anlaufstellen für Airlinecrews, damit insbesondere psychische Probleme früh bemerkt werden können. Die Regierungsfraktionen wären klug beraten, die Einrichtung
dieser Angebote verbindlich zu regeln, so wie das der
Änderungsantrag der Fraktion Die Linke fordert.
({6})
Verkehrsminister Dobrindt muss jetzt in Brüssel aktiv
werden und sich dafür einsetzen, dass die Vorschläge der
nationalen Kommission zum einheitlichen europäischen
Standard werden. Die hohen Sicherheitsstandards, meine
Damen und Herren, müssen dem hohen Wettbewerbsdruck standhalten.
({7})
Herr Minister Dobrindt muss endlich dafür sorgen,
dass die lange bekannten Probleme beim Luftfahrt-Bundesamt gelöst werden. Da hat die Arbeit erst begonnen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({8})
Nächster Redner ist der Kollege Ulrich Lange für die
CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Kollege Kühn, wir sind uns sehr sicher und sind
sehr guten Mutes, dass das Vertragsverletzungsverfahren
der EU mit diesem Gesetz, in dem wir unsere Rechtsprechung zur Umweltverträglichkeit kodifizieren, erledigt
sein wird.
({0})
Liebe Kollegin Leidig, Ihnen muss ich zumindest mit
einem Satz antworten: Wenn Sie meinen, allein die Interessen der Bürgerinnen und Bürger der Regionen um
die Flughäfen zu vertreten, dann erlaube ich mir, darauf
hinzuweisen, dass wir das in den Reihen der Union durch
unsere mit Mehrheit direkt gewählten Abgeordneten tun.
({1})
- Man muss durchaus auch einmal sagen dürfen, dass
man über den Alleinvertretungsanspruch, wie Sie ihn
vorhin geltend gemacht haben, sehr wohl streiten kann.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, heute ist ein sehr
guter Tag für die Sicherheit im Luftverkehr. Lieber Kollege Krischer,
({2})
Sie gehen immer von Selbstverständlichkeiten aus. Sie
sollten also durchaus würdigen, was wir hier - die Regierung mit dem Bundesminister, das Parlament mit dem
Ausschuss -, auch mit Hilfe und Unterstützung einer
wirklich guten Taskforce, vorgelegt haben. Ich kann mich
an kaum einen Prozess, an ein Gesetzgebungsverfahren
erinnern, in dem wir so intensiv und, ich sage auch mal,
so sehr im Detail über einzelne Dinge diskutiert haben,
uns Gedanken gemacht haben und - das zeigt auch die
Anzahl der Änderungsanträge und Änderungen - immer
wieder nachgesteuert haben, weil wir als Parlament das
Gefühl hatten: Da könnte man noch ein bisschen mehr
machen und dabei den reibungslosen Ablauf all dieser
komplexen Systeme gewährleisten und trotzdem alles
unter der Priorität der Sicherheit halten. Dafür, liebe Kolleginnen und Kollegen, all den schon Angesprochenen
ein herzliches Dankeschön!
Eine der wichtigsten Botschaften betrifft sehr wohl
die Hubschrauberlandeplätze; denn die Aufregung vor
Ort, in den Wahlkreisen, bei den Krankenhäusern, die
Dachlandeplätze haben, die bisher angeflogen worden
sind, war natürlich sehr groß. Man konnte ein gewisses
Entsetzen im Gesicht sehen, warum es aufgrund einer
EU-Regelung nicht mehr möglich sein sollte, dass ein
Rettungshubschrauber dort landet, wo er seit Jahren und
Jahrzehnten landen konnte. Deshalb haben wir Sorge
dafür getragen, dass diese Rettungskette, das funktionierende Rettungswesen der Luftrettung, aufrechterhalten
bleibt, ja, gesichert bleibt, und zwar gesichert sowohl für
die Krankenhäuser und für die Patienten als auch für die
Piloten, damit nicht der, der das Medizinische am wenigsten beurteilen kann, entscheiden muss, ob er landen
darf oder nicht landen darf. Das ist ein ganz großer Teil
Stephan Kühn ({3})
dieses Gesetzes, das wir verabschieden, und das ist heute
ein ganz großer Schritt.
({4})
Gleiches gilt für die Dachlandeplätze; das war uns
als Parlament besonders wichtig, auch wenn die Anzahl
übersichtlicher ist. Zu den Krankenhäusern ist man seit
Jahren, Jahrzehnten mit dem Hubschrauber gekommen.
Auch da bleibt die Einzelfallgenehmigung möglich. Wir
denken, es ist dem LBA sehr wohl zumutbar, das zu
überprüfen, und wir werden - davon bin ich überzeugt Lösungen finden, die es ermöglichen, dass auch diese
Krankenhäuser weiter im Sinne der Patienten, im Sinne
der Menschen angeflogen werden können. Das zeigt, wie
wichtig uns Luftrettung und Luftsicherheit sind.
Wir haben aber auch etwas geregelt - darüber wurde
heute schon mehrfach gesprochen -, was eigentlich für
jeden, der Auto fährt, selbstverständlich ist - wir diskutieren beim Radfahren darüber, aber bisher nicht beim
Luftverkehr -: dass der, der alkoholisiert ist, der Drogen
genommen hat oder aus welchen Gründen auch immer
Medikamente nimmt oder nehmen muss, ein Luftfahrzeug nicht führen darf. Wir haben das, was in anderen
Ländern bereits gängige, bewährte und erfolgreiche Praxis ist, kodifiziert. Und auch da haben wir als Parlament
sehr genau hingeschaut, wie denn diese Kontrolle stattfinden soll. Es ist in unseren Augen absolut richtig, dass
dies auf der einen Seite über die Unternehmen erfolgt,
damit die Unternehmen in Tarifverträgen oder Betriebsvereinbarungen genau diese Dinge regeln können und
den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die von solchen
persönlichen Problemstellungen betroffen sind, geholfen werden kann. Auf der anderen Seite ist ein solches
System immer nur dann schlüssig, wenn es auch einer
Gesamtkontrolle unterliegt. Diese Gesamtkontrolle in
Form einer stichprobenartigen Kontrolle wird durch das
Luftfahrt-Bundesamt durchgeführt werden. Wir glauben,
dass genau dieses Zusammenspiel - die Unternehmen
auf der einen Seite, das Luftfahrt-Bundesamt auf der anderen Seite - ein schlüssiges Konzept ist und dass wir
mit dem heutigen Gesetz einen großen Fortschritt in der
Luftverkehrssicherheit erreichen werden.
({5})
Stichwort „flugmedizinische Datenbank“: Ja, richtig;
ja, wichtig. Wir alle wissen, dass wir absolute Sicherheit
nicht erreichen können, dass es diese im Leben nicht
gibt und dass wir leider immer wieder solchen traurigen
Ereignissen ausgesetzt sein können, wie wir es mit dem
schrecklichen Absturz erleben mussten. Aber wir handeln nicht reflexartig, sondern überlegt, und wir versuchen - das hat der Kollege Rimkus vorhin, glaube ich,
sehr beeindruckend gesagt -, mit dieser Regelung ein
Stück mehr Sicherheit in die Kette Luftverkehr zu bringen, ein Stück mehr Sicherheit, die wir auch den Menschen geben. Wenn sie in das Flugzeug steigen, wissen
sie: Wir haben, so gut wir denken und so gut wir es uns
vorstellen können, alles getan, um die Möglichkeiten der
flugmedizinischen Untersuchungen deutlich zu optimieren, um Ärztehopping oder einen Tauglichkeitstourismus
auszuschließen. Ich gebrauche diese Worte ungern, weil
sie sehr negativ sind und etwas unterstellen, was ich eigentlich niemandem unterstellen möchte; aber tragische
Ereignisse zeigen, dass so etwas doch vorkommt. Wir
haben uns, liebe Kolleginnen und Kollegen, bei dieser
flugmedizinischen Datenbank intensive Gedanken gemacht über den Piloten, den Arzt und die Ausgestaltung
des Vertrauensverhältnisses zwischen beiden, aber auch
über die Datensicherheit, und darüber, wie wir beides
bestmöglich schützen können und trotzdem das Ziel, das
wir erreichen wollen, erreichen. Ich denke, dass die Lösung, die wir in das Gesetz aufgenommen haben, genau
dem gerecht wird, angelehnt an das, was wir aus der Seeschifffahrt kennen.
({6})
All dies zusammen macht - da komme ich zur Überschrift meiner heutigen Rede - einen guten Tag für die
Luftverkehrssicherheit, ein gelungenes Gesamtwerk, in
dem viele Rädchen aus Außenministerium, aus Parlament, aus Sachverständigen vorbildlich ineinandergegriffen haben. Mit diesem Gesetz sind wir einen guten
Schritt vorangekommen und machen unseren Luftverkehr noch ein Stück vertrauenswürdiger.
Wir haben, glaube ich, die bestmögliche Balance gefunden. Wir freuen uns, dass wir nach diesen Beratungen
ein gutes Gesetz verabschieden. Heute ist - noch einmal - ein guter Tag für die Luftverkehrssicherheit.
Danke schön.
({7})
Nun erhält Ulli Nissen das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich verrate Ihnen sicherlich kein Geheimnis,
wenn ich offenlege, dass ich durchaus das eine oder andere Mal andere Vorstellungen beim Thema Luftverkehr
habe als beispielsweise meine Kolleginnen und Kollegen aus dem Wirtschafts- oder Verkehrsausschuss. Als
Umweltpolitikerin und Abgeordnete aus dem Wahlkreis
Frankfurt am Main liegt dies auch nahe.
Sie können sich sicherlich auch denken, dass bei mir
in Frankfurt die Themen „Flugrouten“, „Fluglärm“ und
„Nachtflugverbot“ Dauerthemen sind. Die Ohrstöpsel
„Zeit für Dich“ waren der große Renner bei der Kommunalwahl Anfang März.
({0})
Bei dem heute debattierten Luftverkehrsgesetz und
unserem Änderungsantrag geht es allerdings nur am
Rande um diese Themen. Ich würde mir wünschen, dass
es mehr um sie ginge. Es geht vielmehr darum, dass wir
damit auf ein Vertragsverletzungsverfahren der Europäischen Kommission reagieren. Das Vertragsverletzungsverfahren läuft gegen uns, weil bisher bei der Festlegung
von Flugverfahren weder eine Umweltverträglichkeitsprüfung noch eine Prüfung der Auswirkungen auf Natura-2000-Gebiete durchzuführen sind. Darauf reagieren
wir nun und stellen klar, dass dies schon umfassend bei
den Zulassungsverfahren für Flughäfen passiert.
Wenn wir das Luftverkehrsgesetz schon anfassen,
regeln wir jetzt auch Weiteres. Zwei Punkte sind mir
aus Umweltsicht besonders wichtig. Wir erhöhen das
Bußgeld bei Verstößen gegen das Nachtflugverbot das ist auch höchste Zeit -, damit folgen wir der Anregung des Bundesrats. Das Bußgeld wird künftig auf bis
zu 50 000 Euro angehoben. Bisher waren es maximal
10 000 Euro.
Natürlich könnten wir jetzt hier auch die Frage eines
generellen Nachtflugverbotes von 22 bis 6 Uhr diskutieren, aber darum geht es - ich sage: leider - heute nicht.
Meine Position dazu ist ja bekannt.
Zurück zum Text. Die Erhöhung des Bußgeldrahmens
ist wichtig und ein deutliches Signal; denn oftmals rechnete es sich ja noch, das Nachtflugverbot zu brechen und
das Bußgeld in Kauf zu nehmen. Das war oftmals immer
noch günstiger und wirtschaftlicher als eine Annullierung
des Fluges, unter anderem verbunden mit den Übernachtungskosten für die Passagiere sowie weiteren Kosten in
beträchtlicher Höhe. Ich hoffe sehr, dass dieses Bußgeld
auch das Ziel erreicht - wie es so schön heißt -, „die
Anreize zu regelungskonformem Verhalten“ zu stärken.
({1})
Ich habe selbst extra mal im lärmgeplagten Gebiet
im Frankfurter Süden übernachtet - Dank an Monika
Plottnik für die Gastfreundschaft - und festgestellt, dass
mit dem Ende des Nachtflugverbots um 5 Uhr die Nachtruhe brutal vorbei ist. Wenn es Nachtflugverbote gibt,
müssen diese auch eingehalten werden. Wir wissen, dass
Fluglärm krankmachen kann. Deshalb ist es für die Bevölkerung in Flughafennähe sehr wichtig, zumindest in
den Nachtzeiten mal Ruhe zu haben. Ich hoffe, dass das
erhöhte Bußgeld dazu beiträgt.
Jetzt komme ich zum zweiten wichtigen Punkt: Flugrouten und vor allem die Einzelfreigaben. Flugrouten
sind ein sehr emotionales Thema. Wir wissen, welche
Rolle die Flugrouten bei der Optimierung von Fluglärm
spielen können. Dazu gibt es gute Ausarbeitungen, unter
anderem vom Sachverständigenrat für Umweltfragen. Er
hat die Bedeutung in einem Sondergutachten „Fluglärm
reduzieren: Reformbedarf bei der Planung von Flughäfen
und Flugrouten“ deutlich gemacht. Wir stellen nun klar:
Schutzwürdige Gebiete sind und bleiben schutzwürdig.
Selbstverständlich geht die Sicherheit immer vor; das
heißt, wenn es aus Sicherheitsgründen dringend geboten
ist, dürfen diese Gebiete natürlich überflogen werden.
Aber oft geschehen Einzelfreigaben und Abweichungen
von den festgelegten Flugrouten eben nicht aus Sicherheitsgründen, sondern eher aus wirtschaftlichen Gründen,
weil damit weniger Kerosin verbraucht wird oder man
Verspätungen vielleicht aufholen kann. Das widerspricht
natürlich dem Sinn und Zweck von vorher als schutzwürdig festgelegten Gebieten. Deshalb ist es gut, dass wir in
der Begründung noch einmal feststellen: Sicherheit geht
immer vor. Aber: Wirtschaftlichkeit darf nicht auf Kosten des Schutzes der Bevölkerung vor Fluglärm gehen.
Hier komme ich wieder zum Thema Verlässlichkeit und
Akzeptanz: Genau wie beim Nachtflugverbot brauchen
die Menschen die Sicherheit, dass festgelegte Flugrouten
auch eingehalten werden; denn nur das schafft Akzeptanz
und berücksichtigt die Anliegen der Anwohner.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Und ich bedanke mich für die Einhaltung einer ohnehin knapp bemessenen Redezeit.
({0})
Das wird der Kollegin Kirsten Lühmann sicher auch gelingen, die nun als letzte Rednerin für die SPD-Fraktion
das Wort erhält.
({1})
Verehrter Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Stellen Sie sich folgende Situation vor: Eine Polizistin steht an einer Tankstelle und betankt ihren Streifenwagen. Neben ihr steht ein vollbesetzter Reisebus. Der
Busfahrer steigt aus. Die Polizistin stellt bei ihm eine
Alkoholfahne fest. - Uns allen ist klar, was passiert: Es
wird ein Bußgeld verhängt, und der Busfahrer darf natürlich nicht weiterfahren.
Wenn ihr Kollege, der auf einem Flughafen Streife
geht, einen Piloten feststellt, der gerade aus einem Flugzeug kommt und auch nach Alkohol riecht, ist es wesentlich komplizierter. Natürlich gibt es bereits einen Straftatbestand; aber der ist sehr schwer zu beweisen. Von
daher bedurfte es dringend einer Änderung.
Schon jetzt nehmen die Fluggesellschaften in
Deutschland ihre Verantwortung für Sicherheit sehr ernst
und führen anlassbezogene Kontrollen durch. Wenn dabei festgestellt wird, dass ein Pilot oder eine Pilotin unter
dem Einfluss von Alkohol oder Drogen steht, spricht bereits die Firma ein Flugverbot aus. Aber verdachtsunabhängige Stichprobenkontrollen sind weder vorgeschrieben noch erlaubt. Die Koalitionsfraktionen haben in
ihrem Änderungsantrag diese Lücke endlich geschlossen
und stichprobenartige Kontrollen vorgeschrieben.
({0})
Die deutschen Fluggesellschaften regeln die Durchführung dieser Kontrollen in Zusammenarbeit mit den
Gewerkschaften und Betriebsräten. Das ist gut und richtig so. Aber wir haben natürlich auch Piloten und Pilotinnen, die Deutschland anfliegen und nicht für eine
deutsche Fluggesellschaft arbeiten. Auch die müssen wir
kontrollieren. Dafür ist das Luftfahrt-Bundesamt zuständig, das diese Kontrollen durchführen kann.
Wir haben zusätzlich Regelungen eingeführt, wie sie
auch für Busfahrer gelten. Also: Wer zukünftig versucht,
unter dem Einfluss von Alkohol, Drogen oder problemaUlli Nissen
tischen Medikamenten ein Flugzeug zu steuern - das gilt
auch für den Fall, dass er es bereits gesteuert hat -, und
dabei erwischt wird, muss - jetzt endlich gilt das auch
im Flugverkehr - mit einem Bußgeld und Flugverbot
rechnen. Während der Nachweis von Alkohol oder auch
Drogen relativ einfach mit einem Schnelltest möglich
ist - einige von uns haben vielleicht schon einmal gepustet; bei einem Drogenschnelltest kann man allein durch
das Wischen über die Haut feststellen, ob die getestete
Person Drogen konsumiert hat oder nicht -, ist dies bei
Medikamenten deutlich schwieriger. Aber Medikamentenmissbrauch ist genauso gefährlich.
Eine Langzeitstudie aus den USA hat festgestellt, dass
Medikamentenmissbrauch bei Piloten und Pilotinnen in
den letzten Jahren stark zugenommen hat. Das gilt für verschiedene Substanzen. Ich möchte nur eine exemplarisch
anführen: Bei circa 20 Prozent der tödlich verunglückten
Piloten und Pilotinnen wurde festgestellt, dass sie in starkem Maße unter dem Einfluss von Beruhigungsmitteln,
sogar unter dem Einfluss von verschreibungspflichtigen
Schlafmitteln standen. Ich finde das erschreckend.
({1})
Aber nicht alle Medikamente sind problematisch. Und
bei den problematischen Medikamenten kommt es auf
die Dosis an. Daher wird das Luftfahrt-Bundesamt eine
Liste für alle Kontrollierenden erstellen, in der beide
Punkte aufgeführt sind.
Dabei sollten wir aber nicht aus den Augen verlieren,
dass Missbrauch von Medikamenten, Drogen oder Alkohol eine Krankheit darstellt und dass die Betroffenen
Hilfe brauchen. Sehr gut finde ich daher, dass alle deutschen Fluggesellschaften bereits Anlaufstellen für die
Betroffenen geschaffen haben, die nicht das Ziel haben,
die betroffenen Menschen möglichst schnell aus dem Arbeitsverhältnis hinauszudrängen, sondern im Gegenteil
dafür sorgen wollen, dass die Beschäftigten in die Lage
versetzt werden, ihren Beruf gefahrlos auszuüben. Und
das ist der richtige Weg.
({2})
Erlauben Sie mir zum Schluss den Hinweis, dass Berufe mit besonderer Verantwortung - wie zum Beispiel
Piloten, Ärzte, Polizisten, aber auch Politiker - besonders anfällig für Suchterkrankungen sind. Das sollten wir
nicht totschweigen. Wir dürfen aber auch die Betroffenen
nicht stigmatisieren und ausgrenzen. Es werden Hilfsangebote gebraucht, wie sie von den Fluglinien und vielen
anderen Arbeitgebern gemacht werden.
Ich möchte - da sind wir uns, denke ich, einig - nicht
nur in einer sicheren Gesellschaft leben, sondern auch in
einer menschlichen. Dieser Gesetzentwurf wird dazu einen Beitrag leisten.
Herzlichen Dank.
({3})
Ich schließe die Rednerliste und damit die Debatte zu
diesem Tagesordnungspunkt.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Än-
derung des Luftverkehrsgesetzes. Dazu liegen mir zahl-
reiche Erklärungen nach § 31 der Geschäftsordnung vor,
die wir wie immer dem Protokoll beifügen.1)
Der Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf der Druck-
sache 18/8102, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf der Drucksache 18/6988 in der Ausschussfassung an-
zunehmen.
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Die
Linke auf der Drucksache 18/8107 vor, über den wir
zuerst abstimmen. Wer stimmt für diesen Änderungsan-
trag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stim-
me? - Damit ist der Änderungsantrag mit der Mehrheit
der Koalition abgelehnt.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei-
chen. - Wer ist dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist
der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den gleichen
Mehrheitsverhältnissen angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Wer stimmt dagegen? - Wer möchte sich der Stimme
enthalten? - Damit ist der Gesetzentwurf mit den Stim-
men der Koalition gegen die Stimmen der Opposition
angenommen.
Wir stimmen nun noch über den Entschließungsantrag
der Fraktion Die Linke auf der Drucksache 18/8108 ab.
Wer möchte diesem Entschließungsantrag zustimmen? -
Wer möchte dagegenstimmen? - Wer möchte sich enthal-
ten? - Enthaltungen keine. Der Entschließungsantrag ist
mehrheitlich abgelehnt.
Wir kommen nun unter dem Zusatzpunkt 2 zur Be-
schlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr und
digitale Infrastruktur zu dem Antrag der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen mit dem Titel „Fluglärm wirksam
reduzieren“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf der Drucksache 18/5247, den
Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf der
Drucksache 18/4331 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit Mehr-
heit angenommen.
Damit ist dieser Tagesordnungspunkt abgeschlossen.
Wir kommen nun zu Tagesordnungspunkt 4 und Zu-
satzpunkt 3:
4. Beratung des Antrags der Abgeordneten Heidrun
Bluhm, Caren Lay, Herbert Behrens, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Bundesweiten Aktionsplan für eine gemein-
nützige Wohnungswirtschaft auflegen
1) Anlage 2
Drucksache 18/7415
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Finanzausschuss
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Christian Kühn ({1}), Britta Haßelmann,
Sven-Christian Kindler, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Die neue Wohnungsgemeinnützigkeit - Fair,
gut und günstig wohnen
Drucksache 18/8081
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit ({2})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll auch
diese Aussprache 77 Minuten dauern. - Dagegen meldet
sich niemand mit erkennbaren Einwänden. Also können
wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst der
Kollegin Heidrun Bluhm für die Fraktion Die Linke das
Wort.
({3})
Guten Morgen, sehr geehrter Herr Präsident! Guten
Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir wollen
uns heute mit dem Antrag, den wir vorgelegt haben, der
Wohnungsgemeinnützigkeit zuwenden. Ich denke, dass
wir mit diesem Antrag im gesamten Parlament offene
Türen einrennen; denn selbst der Kollege Ullrich von der
CDU/CSU-Fraktion hat in seiner Rede am 28. Januar angeregt - ich zitiere -, „über Fragen der Gemeinnützigkeit
im Wohnungsbau“ nachzudenken.
({0})
Die Sinnesäußerung des Kollegen Ullrich hat der Kollege Groß dann auch noch untersetzt, indem er zum Ausdruck brachte: „Ja, tun wir das, machen wir das …“
Wir haben das gemacht.
({1})
Das Ergebnis ist der Antrag, der Ihnen heute vorliegt.
Meine Damen und Herren, seit langem schon denkt
man bei uns in der Fraktion und in außerparlamentarischen Kreisen, insbesondere auch beim Mieterbund, darüber nach, wie aus einer jahrzehntelangen wohnungspolitischen Agonie der Bundesregierung aktiv sozial
gestaltende Wohnungspolitik gemacht werden könnte.
Auch die Grünen sind in das Thema eingestiegen und haben dazu - wie wir - ein wissenschaftliches Sachverständigengutachten in Auftrag gegeben, das nun vorliegt, und
ebenfalls heute einen entsprechenden Antrag vorgelegt.
All das sollten aus meiner Sicht optimale Voraussetzungen dafür sein, heute hier in dieser Frage den Durchstoß
zu machen und endlich dafür Sorge zu tragen, dass im Interesse von Millionen Mieterinnen und Mietern, die verzweifelt nach bezahlbarem Wohnraum suchen, eine neue,
sozial orientierte Wohnungspolitik auf den Weg gebracht
werden kann ({2})
wohlgemerkt: Wohnungspolitik im Interesse von Millionen Mieterinnen und Mietern, nicht Wohnungsmarktpolitik im Interesse von Millionären oder Immobilienspekulanten, die nach Subventionen schreien und nachher,
wenn sie mit Subventionen investiert haben, auch noch
die Mieterinnen und Mieter zur Kasse bitten. Das ist es
nämlich, was die Bundesregierung seit der Abschaffung
der Wohnungsgemeinnützigkeit 1990 eingeleitet und mit
der Föderalismusreform 2006 zementiert hat.
Die Abschaffung der Wohnungsgemeinnützigkeit war
die Abkehr von der Idee einer sozialen Marktwirtschaft
und damit die Hinwendung zum blanken Neoliberalismus auch in der Wohnungspolitik. Sie war eben nicht,
wie immer kolportiert wird, durch den Skandal um die
Neue Heimat gerechtfertigt. Der diente eigentlich nur als
Vorwand, um die Abschaffung des Wohnungsgemeinnützigkeitsgesetzes durchzusetzen, und zwar entgegen den
Empfehlungen zweier Untersuchungsausschüsse - einer
des Bundestages und einer des Landtags NRW -, gegen
die Abstimmung im Bundesrat, gegen den Widerstand
der gemeinnützigen Wohnungsunternehmen und gegen
die öffentliche Bestandsgarantie des damaligen Bauministers Schneider.
Der ehemalige Bauminister Ravens hat die Auswirkungen der beabsichtigten Abschaffung der Wohnungsgemeinnützigkeit schon 1987 geradezu beschwörend auf
den Punkt gebracht - ich zitiere ihn -:
Die Abschaffung der Wohnungsgemeinnützigkeit
wäre m. E. nicht nur wohnungspolitisch falsch,
sie wäre auch wirtschaftspolitisch eine schlichte
Dummheit. Über das Wohngeld würde der Staat
zu einem Vielfachen von dem an Subventionen gezwungen, was die Gemeinnützigkeit an Steuerausfällen kostet.
Er hat ja so Recht behalten. Und dennoch: Schon damals, genau wie heute, hat sich der Finanzminister gegen
den Bauminister durchgesetzt. Oder sollte man besser
sagen: Die kleine, aber starke Lobby der privaten Wohnungswirtschaft hat die Wohnungspolitik einkassiert und
bestimmt von da ab den politischen Kurs, gegen jeden
volkswirtschaftlichen und sozialpolitischen Sachverstand, mit desaströsen Folgen, die sich seither aufgebaut
haben und mit denen wir uns heute auseinanderzusetzen
haben.
Der Wegfall der Wohnungsgemeinnützigkeit hat
sprunghafte Mietsteigerungen und einen bis heute anhaltenden Mieterhöhungswettbewerb ausgelöst. Der soziale Wohnungsbau wurde drastisch zurückgefahren und
konnte den Verlust an sozial gebundenen Wohnungen
nicht mehr ausgleichen. Durch 25 Jahre uneingeschränkte Marktherrschaft hat sich damit eine krisenhafte SiPräsident Dr. Norbert Lammert
tuation auf dem Wohnungsmarkt aufgebaut, in der sich
7,1 Millionen Mieterhaushalte darum reißen, in den noch
bestehenden 1,4 Millionen verbliebenen Sozialwohnungen wohnen zu dürfen. Das sind alarmierende Missverhältnisse. Das hat die Pestel-Studie bereits im Jahre 2012
aufgezeigt, also schon lange, bevor unser Problem auf
dem Wohnungsmarkt durch die Flüchtlinge noch weiter
verschärft wurde.
Der Markt alleine wird es eben nicht richten. Deshalb
braucht er ein Korrektiv, einen Sektor in der Wohnungswirtschaft, der nicht nur naturgemäß renditegetrieben,
sondern vor allem dem Gemeinwohl verpflichtet ist.
({3})
Wie es sie in vielen anderen europäischen Ländern gibt ohne dass das von der Europäischen Kommission oder
vom Europäischen Gerichtshof als wettbewerbsfeindlich
oder beihilferechtlich bedenklich eingestuft wäre -, brauchen wir auch in Deutschland eine neue gemeinnützige
Wohnungswirtschaft. Der Wissenschaftliche Dienst des
Bundestags hat gerade, wie für den heutigen Tag bestellt, unter dem Titel „Gemeinnütziger Wohnungsbau in
EU-Mitgliedstaaten“ eine umfängliche Sachstandsanalyse vorgelegt. Ich empfehle Ihnen, diese zu lesen.
So wie wir das in dem hier vorliegenden Antrag beschrieben und ausführlich erläutert haben, soll die neue
gemeinnützige Wohnungswirtschaft Menschen mit geringen und unsicheren Einkommen und Personen, die
aus anderen Gründen als Marktteilnehmer diskriminiert
werden, mit bedarfsgerechten, bezahlbaren Wohnungen
versorgen. Die gemeinnützige Wohnungswirtschaft soll
sich dauerhaft gemeinnützigen Wirtschaftsgrundsätzen
verpflichten wie der Mietpreisbindung auf Grundlage
des Kostendeckungsprinzips, einer Beschränkung des
Geschäftskreises auf die Zielgruppe mittlerer und niedriger Einkommen sowie einer strikten Vermögens- und
Zweckbindung. Im Gegenzug soll sie dauerhaft - das ist
vor allem wichtig - Aufgaben im öffentlichen Interesse
übernehmen und dafür mit öffentlichen Privilegien ausgestattet werden.
Wir denken, dass eine Privilegierung der neuen gemeinnützigen Wohnungsunternehmen wie folgt aussehen könnte: eine Körperschaftsteuerbefreiung, eine
ganze oder teilweise Befreiung von der Gewerbesteuer,
ein reduzierter Umsatzsteuersatz bei der Herstellung und
Erhaltung von sozialen Wohnbauten, ein bevorzugter Zugang zu Städtebaufördermitteln und öffentlichen Grundstücken und gegebenenfalls eine Grunderwerbsteuerbefreiung. So wären Bund, Länder und Kommunen bei der
Förderung gleichermaßen heranzuziehen. Diese zunächst
zusätzlichen Aufwendungen der öffentlichen Hand und
die aus Steuerbefreiungen resultierenden Steuermindereinnahmen führen auf der anderen Seite zu erheblichen
Einsparungen beim Wohngeld, bei den Kosten der Unterkunft und anderen Transferleistungen, sodass sich
unter dem Strich betriebs- und volkswirtschaftlich eine
Win-win-Situation für alle Beteiligten ergeben würde.
Und nicht nur das: Menschen, die bisher auf eben diese
Zuwendungen angewiesen sind, müssen sich nicht mehr
als Verlierer, als Bittsteller oder als Almosenempfänger
vorkommen. Kommunen hätten wieder die Möglichkeit,
aktiv gestaltete Daseinsvorsorge zu betreiben.
Meine Damen und Herren, der Unterschied zur alten
Gemeinnützigkeit und zu bisherigen Marktanreizprogrammen besteht darin, dass öffentliche Mittel dauerhaft
im öffentlichen Interesse genutzt werden und im gemeinnützigen Zweckbetrieb verbleiben. Die Sozialbindung
der gemeinnützigen Wohnungen soll daher nicht wie bisher an befristete Förderungen oder zinsverbilligte Kredite gebunden werden - was heute ohnehin kein besonderer Anreiz ist -, sondern sie soll dauerhaft dinglich, also
auch durch Grundbucheintrag, gesichert werden, damit
nicht - wie bisher üblich - über kurz oder lang öffentliche Gelder am Ende in privaten Taschen landen.
Natürlich bedarf ein solcher gemeinnütziger Sektor in
der Wohnungswirtschaft - auch das ist eine Lehre aus
der Geschichte der gemeinnützigen Wohnungsunternehmen - einer starken, transparenten innerbetrieblichen
und öffentlichen Kontrolle.
Meine Damen und Herren, in den Eckpunkten zum
Haushalt 2017 werden weitere Haushaltsmittel für den
Wohnungsbau und die „Soziale Stadt“ in Höhe von
800 Millionen Euro im Jahr veranschlagt. Dieses Geld,
kombiniert mit dem Geld, das bereits heute im Haushalt 2016 für den sozialen Wohnungsbau steht, wäre eine
Anschubfinanzierung, die zwar noch nicht in der Höhe
wäre, wie wir sie gern hätten, aber eine Anschubfinanzierung, um die Gemeinnützigkeit tatsächlich herzustellen.
({4})
Frau Kollegin.
Meine Damen und Herren, mein letzter Satz. Die Haltung der demokratischen Parteien zur Wohnungsgemeinnützigkeit - das prophezeie ich Ihnen schon heute - wird
spätestens im Bundestagswahlkampf im nächsten Jahr
ein wesentliches Entscheidungskriterium für die Wählerinnen und Wähler dabei sein, wem sie ihre Stimme
schenken.
Danke schön.
({0})
Für die CDU/CSU-Fraktion erhält die Kollegin Sylvia
Jörrißen das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Wohnen ist einer der privatesten und intimsten Bereiche in
unserem Leben. Ich jedenfalls lasse nicht jeden in meine
Wohnung. In unseren eigenen vier Wänden haben wir
unseren Lebensmittelpunkt. Hier leben wir mit unseren
Familien, hier treffen wir unsere Freunde, hierhin kehren
wir nach einem Arbeitstag zurück. Die Wohnung bietet
uns Schutz und Geborgenheit. Sie ist Voraussetzung für
Beruf, Gesundheit und gesellschaftliche Teilhabe.
Frau Bluhm, ich bin froh, dass wir den Menschen in
Deutschland gute Voraussetzungen bieten. Wir haben einen im Großen und Ganzen gut funktionierenden Wohnungsmarkt, der auf Angebot und Nachfrage reagiert,
wie andere Märkte auch. Auch in Berlin können Sie
eine bezahlbare Wohnung finden. Nur: Wer unbedingt in
Mitte wohnen möchte, muss bereit sein, etwas mehr zu
bezahlen. Und wenn unter Ihrer Regierungsbeteiligung
mehr Geld oder mehr Steine für den sozialen Wohnungsbau gekommen wären, wäre die Situation zugegebenermaßen in Berlin noch etwas entspannter, Frau Bluhm.
({0})
Sie verbreiten mit Ihrem Antrag nur Angst. Ich möchte gern von der Panikmache in Ihrem Antrag Abstand
nehmen, und ich möchte erst recht von der vollständigen
Verstaatlichung des Wohnungsmarktes Abstand nehmen.
({1})
Als Baupolitikerin sehe ich die zentrale Herausforderung - auch ohne Ihre Nachhilfe -, insbesondere in den
Ballungsräumen zielgruppengerechten und bezahlbaren
Wohnraum zu schaffen: für Familien, für Alleinlebende,
für Senioren, für Studenten und für Asylberechtigte.
Wir kennen die maßgeblichen Faktoren, die unsere
Wohnungspolitik bestimmen. Die demografische Entwicklung in unserem Land erfordert, dass wir zukünftig
deutlich mehr kleinere, barrierearme und altersgerechte
Wohnungen bauen. Wir können auch den Klimawandel
nicht ignorieren. Er erfordert das Einhalten energetischer
Standards im Neubau und im Bestand bei gleichzeitiger Abwägung der Wirtschaftlichkeit. Wir befinden uns
in einer Zeit zunehmender Verstädterung, die die Wohnungslandschaft in Deutschland sehr heterogen macht.
Wir haben strukturschwache Regionen mit Wohnungsleerständen und Ballungszentren mit überhitzten Wohnungsmärkten.
Meine Damen und Herren, Sie sehen, die Herausforderungen sind nicht eindimensional und erfordern daher
differenzierte Lösungen. Das Realisieren der von Ihnen
vorgeschlagenen sozialistischen Wohnungswirtschaft
hilft den strukturschwachen Regionen nicht, attraktiver
zu werden. Es hilft auch den Städten nicht, ihre Probleme
zu lösen. Kurzum: Es hilft uns nicht.
Ich erkenne an, dass der soziale Wohnungsbau bei der
Bereitstellung von bezahlbarem Wohnraum eine wichtige Rolle spielt.
({2})
Aber die öffentliche Wohnraumförderung allein ist nicht
das Allheilmittel für unsere Probleme. Wir können unsere Ziele nur erreichen, wenn wir alle Akteure ins Boot
holen und in die Pflicht nehmen.
Wir reagieren bereits auf diese Situation:
Wir haben die Kompensationsmittel für den sozialen
Wohnungsbau verdoppelt. Von 2016 bis 2019 erhalten
die Länder insgesamt mehr als 4 Milliarden Euro. Diese
Mittel müssen jetzt aber auch von den Ländern zweckgebunden verwendet werden.
({3})
Wir haben die Wohngeldnovelle beschlossen. Seit
2016 ist das Wohngeld deutlich erhöht. 870 000 Haushalte profitieren davon. Über ein Drittel derer beziehen
wieder oder erstmals Wohngeld.
Seit dem letzten Jahr stellt der Bund durch die BImA
Grundstücke für Maßnahmen im Rahmen der Flüchtlingsunterbringung und für den sozialen Wohnungsbau
zur Verfügung.
({4})
Bei mir zu Hause in Hamm sind heute bereits
800 Flüchtlinge in einer ehemaligen, umgebauten Kaserne untergebracht. Eine Erweiterung findet gerade statt.
Sie sehen, wir haben schnell gehandelt.
({5})
Wir wollen, dass für Studierende und Auszubildende
mehr gebaut wird. Deshalb haben wir im Zukunftsinvestitionsprogramm 120 Millionen Euro Fördermittel für
innovative bauliche Konzepte bereitgestellt.
Meine Damen und Herren, lassen Sie uns jetzt einen
Blick nach vorne richten: Das beste Rezept bei Wohnungsnot ist noch immer der Bau neuer Wohnungen.
Hierzu brauchen wir ein baufreundliches Klima, nicht
nur für den öffentlich geförderten, sondern auch für den
genossenschaftlichen und privaten Wohnungsbau.
({6})
Wir wollen eine befristete und regionalisierte Sonderabschreibung einführen.
({7})
Diese wirkt schnell und zielgerichtet genau dort, wo
der Druck auf die Wohnungsmärkte am größten ist. Wir
brauchen sie dringend, um den privaten Mietwohnungsbau anzukurbeln. Die Bundesregierung hat bereits geliefert - ein großer Erfolg und ein wichtiger Impuls.
Viel zu kurz kommt mir immer die Betrachtung des
selbstgenutzten Wohneigentums. Deutschland liegt mit
seiner Eigentumsquote im europäischen Vergleich an
vorletzter Stelle.
({8})
Dabei hat gerade das selbstgenutzte Wohneigentum
mehrfache soziale Wirkungen:
({9})
Selbstgenutztes Wohneigentum stabilisiert Wohnquartiere, fördert Integration und ist Schutz vor Gentrifizierung.
Selbstgenutztes Wohneigentum ist vor allem für Bezieher unterer und mittlerer Einkommen eine ganz wichtige
Form der privaten Altersvorsorge.
({10})
Nicht zuletzt wird durch Umzugsketten beim Bau von
selbstgenutztem Wohneigentum immer auch eine Mietwohnung frei.
Für Haushalte mit kleinen und mittleren Einkommen
muss daher die Wohneigentumsförderung gestärkt werden. Ich möchte, dass die Wohnungsbauprämie auf den
Stand der heutigen Zeit gebracht wird.
({11})
Die letzte Anpassung der Einkommensgrenze erfolgte
vor 20 Jahren. Das hat dazu geführt, dass allein aufgrund
tariflicher Lohnerhöhungen viele Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer aus der Förderung herausgefallen
sind. Das kann nicht sein. Durch eine Anpassung würden
wir gerade die unteren Einkommensklassen fördern.
({12})
Lassen Sie mich zum Schluss noch zu einem wichtigen Punkt kommen, zu den Baukosten. Es ist klar, dass
nur gebaut wird, wenn eine Wirtschaftlichkeit gegeben
ist. Das gilt im Übrigen sogar für kommunale Wohnungsbaugesellschaften. Die Baukosten sind in den vergangenen Jahren stark gestiegen. Dadurch verteuern sich auch
die Mietpreise. Also müssen die Kostentreiber angegangen werden. Hier hat die Baukostensenkungskommission gute und realisierbare Punkte identifiziert, die jetzt zügig umgesetzt werden müssen. Über die Ergebnisse des
Bündnisses für bezahlbares Wohnen und Bauen haben
wir bereits in der letzten Sitzungswoche ausgiebig debattiert. Deshalb nenne ich jetzt nur wenige Stichpunkte:
Das Normungswesen muss überarbeitet werden; Kostenund Nutzenaspekte müssen besser abgewogen werden.
Ich denke vor allem auch an die Energieeinsparverordnung. Die EnEV 2016 treibt, laut Branchenberechnungen, die Baukosten um 8 Prozent in die Höhe, bei einem
Nutzen, der kaum noch messbar ist. Die CO2-Emissionen
sinken lediglich um 0,02 Prozent. Hier muss das Ende
der Fahnenstange erreicht sein.
Bleiben wir bei der EnEV und der für dieses Jahr angestrebten strukturellen Neukonzeption und Zusammenlegung mit dem Erneuerbare-Energien-Wärmegesetz.
Hierzu hat das Wirtschaftsministerium ein Gutachten
beauftragt. Die Sonderbauministerkonferenz, die gestern
tagte, hat erhebliche Zweifel an den Annahmen, die dem
Wirtschaftlichkeitsgutachten zugrunde liegen, und sie
hat auch Zweifel daran, dass die Ende 2015 formulierten
Forderungen hinsichtlich Wirtschaftlichkeit, Technologieoffenheit und Vereinfachung erfüllt sind.
({13})
Ich fordere daher unser Bauministerium auf, das Gutachten kritisch zu überprüfen und gegebenenfalls ein weiteres in Auftrag zu geben.
Sie sehen: Wir haben bereits vieles getan, und es gibt
immer noch vieles zu tun. Aber die Weichen sind gestellt,
und wir sind auf einem richtigen Weg.
Danke schön.
({14})
Für Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt die Kollegin
Britta Haßelmann.
Vielen Dank. - Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! Frau Jörrißen, wer angesichts der Problemlage
des Wohnungsmarktes in Deutschland sagt, dass wir auf
einem guten Weg sind, dass wir eigentlich schon alles
machen und dass das ganz gut so ist, der oder die negiert
doch vollkommen die Realität und die Faktenlage.
({0})
Schauen Sie sich die Situation in Groß- und Universitätsstädten an. Es mangelt an bezahlbarem Wohnraum
für Menschen mit kleinem Einkommen. Der Druck ist
immens hoch.
({1})
- Jetzt tun Sie doch bitte nicht so, als wäre die Frage mit
Ihrem kleinen Zwischenruf nach dem Motto „Wer regiert
da gerade?“ zu lösen. Wir hier im Deutschen Bundestag
haben eine Verantwortung für das Thema „bezahlbares
Wohnen“, und auch die Länder haben eine Verantwortung für dieses Thema.
({2})
- Ich verstehe gar nicht, warum Sie da so schreien. Ich
dachte, das wäre ein Thema, über das wir gemeinsam reden können und bei dem wir gemeinsam nach Lösungen
suchen können.
Wir müssen neben den Instrumenten, die heute bereits
bestehen, sagen: Wir als Deutscher Bundestag haben erkannt, dass es hier um eine neue soziale Frage geht. Das
Thema „bezahlbares Wohnen“ und die Tatsache, dass wir
verhindern sollten, dass Menschen einen Großteil ihres
Einkommens für Wohnen ausgeben müssen, müssen uns
doch alle beschäftigen. Wir müssen gemeinsam überlegen, was wir bei dem Thema tun können. EntschuldiSylvia Jörrißen
gung, aber da reichen die Instrumente, die Sie gerade
aufgezählt haben, nicht aus.
({3})
Natürlich investieren wir und fördern wir den sozialen
Wohnungsbau. Natürlich gibt es Programme zur Städtebauförderung. Wir haben gemeinsam an einem Strang
gezogen, um die Mittel dafür zu erhöhen. Es gibt den
Vorschlag für die Sonder-AfA; aber, sorry, Frau Jörrißen,
schauen Sie sich einmal an, für wen die Sonder-AfA ist.
({4})
Wir fördern damit doch nicht in einem Segment, in dem
es um bezahlbaren Wohnraum geht. Ich bitte Sie: Beschäftigen Sie sich einmal mit den Modalitäten und den
Voraussetzungen für die Sonder-AfA. Das hat nichts mit
dem Bereich bezahlbarer Sozialwohnungen zu tun. Das
ist eine Förderung in einem anderen Segment. Sie können sagen, dass es in manchen Bereichen gebraucht wird;
aber bitte negieren Sie nicht, dass damit das Thema „sozialer Wohnungsbau“ nicht gelöst wird. Das weiß jede
und jeder, der oder die in diesem Bereich aktiv ist.
({5})
2002 gab es noch 2,5 Millionen Sozialwohnungen.
Inzwischen sind es noch 1,5 Millionen. Jährlich fallen
60 000 Sozialwohnungen aus der Bindung. Dabei werden jährlich 100 000 zusätzlich gebraucht. Wir bauen ungefähr zwischen 9 000 und 12 000; das ist die Zahl, die
immer genannt wird. Da wollen Sie sagen, dass wir kein
Problem haben? Wir haben da ein riesiges Problem. Das
ballt sich in manchen Regionen enorm.
({6})
In dieser Situation würde ich Sie gerne dafür gewinnen, zu sagen: Da viele Menschen erkannt haben, dass
es eine neue soziale Frage ist, gibt es neben den Instrumenten, die wir haben, vielleicht die Chance, neue Ideen
einzubringen oder an alten Ideen wieder zu arbeiten.
Ein Thema ist der gemeinnützige Wohnungsbau. Warum können wir nicht einfach einmal darüber diskutieren? Wir können doch aus den Fehlern, die damals bei
der Neuen Heimat gemacht und im Untersuchungsausschuss aufgearbeitet worden sind, lernen. Wir können
im Rahmen eines Sofortprogramms sozialen Wohnraum
zur Verfügung stellen - durch Ankauf, durch Konversion, durch Umbau -, und wir können im Hinblick auf die
Förderung gerade von Genossenschaften, von Gemeinnützigen, von Initiativen, die sich in diesem Bereich zusammentun, für Bezieher mittlerer und kleiner Einkommen und für den sozialen Wohnungsbau wirklich etwas
schaffen, indem wir zum Beispiel private Vermieter mit
bis zu 20 Prozent der Neubaukosten fördern oder bei
der Wohnraumförderung 10 Prozent der Gesamtkosten
übernehmen. Hier könnten wir durch Steueranreize und
Gutschriften einen Impuls geben. Wir könnten in diesem
Bereich versuchen, durch den Neubau von bezahlbarem
Wohnraum und durch neue Initiativen und neue Ideen im
Hinblick auf die neue Wohnungsgemeinnützigkeit etwas
zu tun. Wir müssen kommunale Akteure, Wohnprojekte
und Bauvereine oder auch private Vermieter dafür gewinnen, sich stärker dafür zu interessieren und sich am
Markt zu beteiligen.
({7})
Ich glaube, das könnte wirklich eine Chance sein. Deshalb fordere ich Sie alle auf: Lassen Sie uns darüber
nachdenken und gemeinsam darüber diskutieren!
Wohnraumförderung muss nachhaltig sein. Eines der
Probleme bei all den Instrumenten, über die wir bisher
reden, ist die kurze Sozialbindung. Nach zehn Jahren fallen die sozial geförderten Wohnungen aus der Bindung,
({8})
und wir kommen in die Schwierigkeit, vor der wir in
vielen mittelgroßen und großen Städten stehen. Deshalb
ist der Anknüpfungspunkt, durch die Wohnungsgemeinnützigkeit langfristig und dauerhaft eine Förderung zur
Verfügung zu stellen, aber auch langfristig zu binden, ein
interessanter Impuls, eine interessante Idee. Ich würde
mich freuen, wenn Sie Interesse daran haben, diese Idee
als eine ernstzunehmende neue Idee aufzugreifen. Aus
den Fehlern der Vergangenheit kann man hier lernen.
Lassen Sie uns darüber diskutieren!
Viele wissen, dass bezahlbares Wohnen für die Menschen in ihrem Alltagsleben mittlerweile zu einem großen Thema geworden ist und dass dies eine neue soziale
Frage ist, der wir uns stellen müssen, und das nicht nur
mit den üblichen bisherigen Instrumenten. Das machen
die Zahlen zum fehlenden Wohnraum deutlich.
Danke.
({9})
Für die Bundesregierung hat jetzt Herr Parlamentarischer Staatssekretär Florian Pronold das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Eine ganze Menge Menschen in Deutschland
haben derzeit Sorge, wie sie heute oder in Zukunft bezahlbaren Wohnraum finden. Diese Sorge nehmen wir
alle in diesem Hohen Hause sehr ernst. Ich glaube daher,
es würde der Debatte sehr gut tun, wenn man nicht in
das übliche Spiel zwischen Opposition und Regierung
verfällt.
({0})
Man könnte vonseiten der Opposition anerkennen,
dass diese Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen im Hinblick auf bezahlbaren Wohnraum deutlich
mehr gemacht haben, als in den letzten Legislaturperioden getan wurde, und dass wir mehr gemacht haben,
als im Koalitionsvertrag steht, weil wir erkannt haben,
dass es in Studierendenstädten und Metropolregionen ein
Marktversagen gibt, das wir ohne Intervention nicht auflösen können.
Was so abstrakt klingt, heißt ganz konkret, dass wir
für die Rentnerin, die in eine kleinere Wohnung ziehen
will, bezahlbaren Wohnraum haben, dass wir für einen
ganz normalen Krankenpfleger, der heute eine Wohnung
in Berlin sucht, ein Angebot haben, das er sich leisten
kann, und dass wir für die Polizeibeamtin eine Wohnung
in der Stadt haben, sodass sie nicht jeden Tag 30, 40 Kilometer von ihrer Wohnung bis zur Arbeit fahren muss.
Das ist doch das, was wir gemeinsam wollen: bezahlbaren Wohnraum auch in angespannten Wohnungsmärkten
vorhalten.
Dafür haben wir eine ganze Fülle von Maßnahmen
durchgeführt, zum Beispiel in den Bereichen der sozialen Wohnraumförderung und der Städtebauförderung,
die Zurverfügungstellung von Bundesgrundstücken mit
einem Preisnachlass für den sozialen Wohnungsbau, die
Erhöhung des Wohngeldes usw.
({1})
Man könnte also auch einmal anerkennen, dass wir hier
eine ganze Menge auf den Weg gebracht haben,
({2})
obwohl für diese Dinge nach unserem Grundgesetz der
Bund fast keine Zuständigkeiten mehr hat, weil die große
Verantwortung bei den Ländern liegt.
({3})
Es ist aber in Ordnung, dass wir über weitere Instrumente diskutieren und uns Gedanken darüber machen,
was wir tun können, um unser gemeinsames Ziel zu
erreichen. So unterscheidet sich der Wohnungsmarkt in
Deutschland zum Beispiel von dem Wohnungsmarkt in
Österreich durch eine andere Tradition.
Herr Kollege Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Paus?
Sehr gerne.
Herr Staatssekretär, Sie haben sich jetzt genauso wie
Frau Jörrißen wieder selber gelobt.
Sie machen es ja leider nicht.
({0})
Sie haben gesagt, dass die BImA, die Bundesanstalt
für Immobilienaufgaben, jetzt Grundstücke für den sozialen Wohnungsbau abgibt, weil der Haushaltsausschuss
das beschlossen hat. Ich gehe davon aus, dass Ihnen wie
mir bekannt ist, dass es bisher nicht einen einzigen Vertrag gibt. Kein einziges Grundstück und keine einzige
Wohnung ist bisher von der BImA an welche Kommune,
welche Region und welches Land in der Bundesrepublik
auch immer für den sozialen Wohnungsbau zur Verfügung gestellt worden. Von daher ist das bisher schlicht
ein Beschluss des Haushaltsausschusses. Deswegen
möchte ich Sie fragen, wie Sie trotzdem sagen können,
schon unglaublich viel auf den Weg gebracht zu haben.
Daneben will ich Sie heute konkret fragen, was Sie
dafür tun wollen, dass die BImA tatsächlich Grundstücke für den sozialen Wohnungsbau abgibt und die Länder, Kommunen und Regionen endlich davon profitieren
können.
Um den ersten Teil Ihrer Frage zu beantworten: Wir
haben die Mittel für die soziale Wohnraumförderung, die
über die Länder ausgegeben werden, verdoppelt, und wir
haben jetzt in den Haushaltsverhandlungen zusätzliches
Geld für die soziale Wohnraumförderung zur Verfügung
gestellt.
Zweitens. Es ist eine Sonder-AfA für Wohnungen im
mittleren Segment in angespannten Wohnungsmärkten
auf dem Weg. Daneben haben wir für die Flüchtlingsunterbringung eine verbilligte und teilweise sogar kostenlose Überlassung von BImA-Grundstücken vereinbart. Die
ersten BImA-Programme sind von den Kommunen übrigens nicht angenommen worden, weil wir parallel dazu
für die Flüchtlingsunterbringung entsprechende Liegenschaften des Bundes - oft nach notwendigen Renovierungsarbeiten - umsonst zur Verfügung gestellt haben.
Ich weiß, dass es derzeit eine ganze Menge Verhandlungen zwischen den Kommunen und der BImA über das
vom Haushaltausschuss beschlossene Programm und die
von uns allen begrüßte Entscheidung gibt,
({0})
dass nun auch öffentliche Liegenschaften des Bundes
preisgünstig für den sozialen Wohnungsbau abgegeben
werden. Diese Verhandlungen laufen, und wir können
bald darüber berichten. Auch im Fachausschuss haben
wir mit der BImA bereits über diese Fragen gesprochen,
und unser Ministerium hält hier ständigen Kontakt. Ich
habe überhaupt keinen Zweifel daran, dass sich hier der
Wille des Gesetzgebers bzw. des Haushaltsgesetzgebers
durchsetzen wird.
({1})
Ich glaube, es geht jetzt darum, zu schauen, welche
Fehler in der Vergangenheit gemacht worden sind, Fehler, die übrigens von allen - auch von allen, die hier sitzen - gemacht wurden. Man ist nämlich von falschen
Prognosen ausgegangen. Karl Valentin hat einmal gesagt: Das Gefährliche an Prognosen ist, dass sie auf die
Zukunft gerichtet sind. - Da hatte er recht. In der Wohnungswirtschaft gilt das besonders. Nach dem Skandal
um die Neue Heimat wurden verschiedene Weichenstellungen vorgenommen, durch die sich unser Wohnungsmarkt anders entwickelt hat als zum Beispiel der Wohnungsmarkt in Österreich. Ein Unterschied zwischen
Wien und München ist, dass sich in Wien 70 Prozent
der Mitwohnungen in der Hand von Genossenschaften
oder in kommunaler Hand befinden; in München sind es
vielleicht 10 bis 15 Prozent. In München beträgt die Bestandsmiete für Wohnungen in der Hand von Genossenschaften oder kommunalen Wohnungsbaugesellschaften
ungefähr 6,50 Euro bis 7 Euro pro Quadratmeter, während die durchschnittliche Miete in München mittlerweile bei weit über 14 Euro liegt. Das heißt: Der heute
immer noch existierende ehemalige gemeinnützige Sektor, bestehend aus Genossenschaften und kommunalen
Wohnungsbaugesellschaften, ist weiterhin sehr wichtig,
weil sich die Polizeibeamtin oder der Krankenpfleger in
Städten wie München sonst überhaupt keine bezahlbare
Wohnung mehr leisten könnten.
({2})
Im Grunde ist es richtig, zu überlegen, wie wir den
gemeinnützigen Sektor wieder stärken. Ich bin der felsenfesten Überzeugung, dass wir neben den Maßnahmen, die ich beschrieben habe, auch darüber nachdenken müssen, den nicht profitorientierten Sektor auf dem
Wohnungsmarkt Stück für Stück auszuweiten. Deswegen
macht es Sinn, über die Frage einer neuen Gemeinnützigkeit nachzudenken. Dabei muss man aber ehrlicherweise
einige Dinge berücksichtigen:
Erstens braucht es Wohnungsbaugesellschaften, die
mit Blick auf diesen neuen Gemeinnützigkeitsbegriff tatsächlich bauen wollen.
Zweitens darf man die Fehler, die in der Vergangenheit
gemacht worden sind, nicht wiederholen, etwa bezüglich
der Instandhaltung oder der fehlenden Mieterbeteiligung.
Drittens wird eine Frage aufgeworfen, die uns sehr
bald beschäftigen wird; denn es kann sein, dass wir rechtlich weniger ein Problem mit Europa haben werden - das
sehe ich in dieser Frage überhaupt nicht; das schaffen
wir -, sondern als Bundesgesetzgeber. Solange nämlich
die Verantwortung für die soziale Wohnraumförderung
weiterhin alleine bei den Ländern liegt und der Bund keine Mitzuständigkeit hat, wird, wenn wir alle miteinander
zu dem Ergebnis kommen, den nicht profitorientierten,
gemeinnützigen Sektor auszuweiten, das schwierig umzusetzen sein. Deswegen kann ich an Sie nur appellieren:
Wir brauchen die Gesetzgebungskompetenz dafür. In
diesem Punkt sind sich fast alle Fachpolitiker in diesem
Raum einig. In den Ländern wird das aber noch nicht so
gesehen. Das Land Berlin hat sich aber bereits positiv
dazu geäußert.
Wir können ab 2019, auch wenn wir das als Bund
wollten, nicht einmal mehr die soziale Wohnraumförderung weiterführen, weil dies eine Übergangsregelung
ist. Deswegen ist die Voraussetzung, um bei dem Thema
Gemeinnützigkeit weiterzukommen, dass wir als Bund
wieder eine Mitverantwortung für die soziale Wohnraumförderung haben. Dafür sollten wir gemeinsam in
diesem Haus kämpfen.
Herzlichen Dank.
({3})
Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Volkmar
Vogel.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben in der letzten Sitzungswoche die Ergebnisse
des Bündnisses für bezahlbares Wohnen und Bauen debattiert. Ich denke, das war ein wichtiger Meilenstein in
der Umsetzung des Koalitionsvertrages zwischen CDU,
CSU und SPD.
({0})
Die Ergebnisse liegen auf dem Tisch. Wir sind sehr froh
darüber, dass die Ergebnisse durch die Behandlung im
Kabinett ressortübergreifend in der Verantwortung der
Bundesregierung liegen. Das macht die Bedeutung besonders deutlich.
Heute debattieren wir über je einen Antrag von den
Linken und von den Grünen zur gemeinnützigen Wohnungswirtschaft.
Herr Kollege Vogel, gestatten Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Haßelmann?
Vielleicht später, jetzt nicht. - Liebe Kolleginnen und
Kollegen, lassen Sie mich in der heutigen Debatte mit
den Gemeinsamkeiten beginnen. Ich glaube, wir alle sind
uns darin einig, dass Wohnen eine soziale Frage ist, wenn
nicht sogar die soziale Frage. Es ist wichtig, dass in unserem Land jeder die Möglichkeit hat, eine bezahlbare und
von der Qualität her ansprechende Wohnung zu haben.
Diese gemeinsame Anstrengung können die Kommunen
nicht alleine leisten; das ist eine gemeinschaftliche Aufgabe von Bund, Ländern und Kommunen. Ich denke, wir
sind uns auch darin einig, dass das in der Vergangenheit
in der Verantwortung der Länder, gelinde gesagt, differenziert wahrgenommen worden ist. Über die Ergebnisse
debattieren und streiten wir heute natürlich auch. Trotz
der erheblichen Kosten, an denen wir uns als Bund beteiligt haben, sind die Ergebnisse leider nicht entsprechend. Das liegt meiner Meinung nach - auch das ist Teil
unserer gemeinsamen Auffassung - an der mangelnden
Zweckbindung und Verwendung der Mittel.
Eines aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, gefällt
mir an dem Antrag der Linken und auch der Grünen
nicht. Sie sind, auf den Punkt gebracht, der Auffassung:
Gemeinnütziger Sektor ist gut, alles andere ist schlecht.
({0})
Das stimmt mitnichten. Ein Blick auf die Struktur zeigt,
dass zwei Drittel aller Vermieter sogenannte Kleinvermieter und private Haushalte sind. Ungefähr 12 Prozent
sind private Unternehmen, 10 Prozent sind kommunale
Unternehmen, 10 Prozent sind Genossenschaften. Sie
wollen doch nicht ernsthaft behaupten, dass 70 Prozent
der Vermieter, also alle Kleinvermieter, Miethaie sind,
gegen die wir etwas tun müssten.
({1})
Wenn es so wäre, dann wäre der soziale Frieden in unserem Land schon lange gestört.
({2})
Außerdem vermisse ich in Ihrem Antrag eine Anerkennung der Leistungen der gesamten Wohnungswirtschaft in der Vergangenheit. Auch wenn - das möchte ich
betonen - es denen, die Probleme haben, eine bezahlbare
Wohnung zu finden, nicht hilft,
({3})
können wir in unserem Land nicht von Wohnungsnot im
Allgemeinen sprechen, sondern nur von einem Mangel
an bezahlbarem Wohnraum in den Ballungsgebieten, in
den Universitätsstädten, in bestimmten Hotspots. Daran
müssen wir arbeiten. Dafür müssen wir gemeinsam etwas tun. Die Ergebnisse des Bündnisses für bezahlbares
Wohnen und Bauen bringen uns auf den richtigen Weg.
Diesen Weg werden wir weiter gehen. Unserer Auffassung nach ist es wichtig, dass die von mir geschilderten
Strukturen gestärkt werden. Das bedeutet Krisenfestigkeit und Stabilität auch bei geänderten Marktsituationen
und bei Problemen beispielsweise die Demografie betreffend.
({4})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sylvia
Jörrißen hat es bereits angedeutet: Wir müssen auch dafür sorgen, dass sich die Wohneigentumsquote erhöht.
({5})
Jeder, der in ein eigenes Haus zieht, jeder, der eine eigene Eigentumswohnung bezieht, macht Platz frei in einer Mietwohnung und trägt somit zur Entspannung des
Wohnungsmarktes bei. In diesem Bereich sind unsere
Anstrengungen noch nicht ausreichend; wir müssen sie
dahin gehend vorantreiben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben im Bündnis für bezahlbares Wohnen und Bauen eine intensive
Diskussion geführt. Ich kann vor dem Antrag der Linken
nur warnen und die Kollegen der Grünen dringend darum
bitten, nicht nur das negative Beispiel der Neuen Heimat
ins Feld zu führen. Ich glaube, das war noch beherrschbar. Das war noch abzufedern in einem ansonsten stabilen Wohnungsmarkt in der Bundesrepublik Deutschland.
Die Linken schlagen nun eine staatliche Wohnungswirtschaft vor.
({6})
Ich finde, da sollten wir aus der Vergangenheit gelernt
haben. Schauen wir uns einmal den Wohnungsmarkt der
ehemaligen DDR an. Dieser war geprägt von willkürlicher staatlicher Wohnungspolitik. Die Innenstädte waren
verfallen. Es fehlte bis zum Schluss an Wohnraum, vor
allen Dingen an vernünftigem Wohnraum. Letztlich - das
muss man sagen - war das auch ein Grund, warum die
DDR untergegangen ist. Der bauliche Zustand der Gebäude war so schlecht, dass die Leute vom dritten Stock
in den zweiten Stock gezogen sind, weil es durchs Dach
regnete. Dann sind sie ins Erdgeschoss gezogen. Als auch
das nicht mehr ging, sind sie auf die Straße gegangen und
haben zu Recht gesagt: Wir sind das Volk. - Deswegen
noch einmal die eindringliche Warnung und die Bitte an
die Kollegen von den Grünen, diesen Weg nicht mitzugehen, sondern den Weg weiterzugehen, den wir gemeinsam gehen wollen.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen Investitionen in den Neubau und in den Bestand. Deswegen
ist es richtig, steuerliche Anreize zu setzen. Wir wissen
auch, dass steuerliche Anreize nicht jedem helfen.
({8})
Wir müssen auch mehr tun - das möchte ich betonen; das
fehlt auch in Ihrem Antrag - für die kleinen Leute, die
jeden Tag zur Arbeit gehen
({9})
Volkmar Vogel ({10})
und wenig Spielraum haben, aber trotzdem etwas auf die
Seite legen wollen, um ihren Traum vom eigenen Haus
bzw. von der eigenen Wohnung zu verwirklichen. Es ist
wichtig und geboten, die Wohnungsbauprämie und die
Arbeitnehmersparzulage zu erhöhen, damit die Menschen das notwendige Eigenkapital ansparen können.
({11})
Es ist auch richtig, dass wir die Städtebauförderung
kontinuierlich weiter ausbauen. Wir haben die Mittel
dafür auf rund 800 Millionen Euro erhöht. Außerdem
haben wir die Kompensationsmittel für den sozialen
Wohnungsbau der Länder um das Doppelte erhöht. Man
muss natürlich die Frage stellen, ob diese Gelder auch
abfließen. In der Vergangenheit sind sie nicht abgeflossen. Unter anderem deshalb sind wir jetzt in bestimmten Gebieten in der Situation, dass es keinen bezahlbaren
Wohnraum gibt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, Sie sind,
zum Beispiel in Thüringen, selber in Regierungsverantwortung. Es geht doch nicht an, dass es zwei Jahre gedauert hat, bis die Wohnraumförderprogramme entsprechend
angepasst worden sind. Das ist erst in den letzten Wochen
geschehen. Ich halte es auch nicht für richtig, dass der
Fonds, der unter dem vorigen Minister angespart worden
ist, jetzt aufgelöst wird und die Mittel in den allgemeinen
Haushalt einfließen, sodass sie nicht mehr zweckgebunden für die Wohnraumförderung zur Verfügung stehen.
So viel zum Thema Zweckbindung. So viel Ehrlichkeit
muss sein. Hier müssen wir intervenieren. Das darf nicht
so weitergehen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn wir
auf der einen Seite finanzielle Unterstützung leisten, dann
kommt es auf der anderen Seite aber auch darauf an, dass
Bauen preiswert bleibt. Bauen muss preiswert bleiben,
und zwar zum einen durch Fördermittel und zum anderen
dadurch, dass die Standards und Vorschriften nicht weiter
verschärft werden. Man kann es auf den Punkt bringen:
Derjenige, der in der Lage ist, preiswert zu bauen, kann
auch preiswert vermieten, wenn die Marktbedingungen
dazu passen.
Ich stelle abschließend fest: Es ist richtig und wichtig, dass wir die bewährten und krisenfesten Strukturen
in Deutschland erhalten, unterstützen und mit entsprechenden Fördermitteln weiterentwickeln. Des Weiteren
müssen wir dafür sorgen, dass in Gebieten, in denen tatsächlich ein Mangel an bezahlbarem Wohnraum besteht,
Abhilfe geschaffen wird, um damit auch den sozialen
Frieden insgesamt in unserem Land zu erhalten.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({12})
Danke auch, Herr Kollege Vogel. - Nächste Rednerin
ist die Kollegin Caren Lay für die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich muss feststellen: Das Eigenlob, das sich die
Union für die Wohnungspolitik ausstellt, steht in krassem
Gegensatz zur realen Mietentwicklung in Deutschland
und zur Wahrnehmung der Menschen. Dafür habe ich
überhaupt kein Verständnis.
({0})
Ich frage mich, ob Sie es schon mitbekommen haben:
Wir haben in deutschen Großstädten in den letzten fünf
Jahren Mietsteigerungen von 30, 40 oder 50 Prozent.
Daran haben weder Ihr Bündnis für bezahlbares Wohnen noch das Mietpreisbremschen irgendetwas geändert,
nicht zuletzt dadurch, dass die gute Idee der Mietpreisbremse von Ihrer Fraktion so durchlöchert wurde, dass
sie am Ende zum Rohrkrepierer wurde. Wenn Sie nach
diesem Vorgang jetzt die Länder beschimpfen, sie würden sie nicht schnell oder gut genug umsetzen, dann kann
ich nur lachen.
({1})
Abgesehen davon gibt es auch einige unionsgeführte
Länder, die bis heute die Umsetzung der Mietpreisbremse verweigern. Sie sind wirklich nicht in der Position, mit
dem Finger auf andere zu zeigen.
({2})
Ich denke manchmal, man müsste Sie einfach einmal mitnehmen. Machen wir doch eine Exkursion, um
zu sehen, was auf dem deutschen Wohnungsmarkt los
ist. Dafür müssen wir nicht weit gehen. In Berlin, etwa
200 Meter vom Deutschen Bundestag entfernt, gibt es
in der Wilhelmstraße ein großes Mietwohnhaus mit
100 Wohnungen zu einem Mietpreis von 5 Euro pro Quadratmeter. Dieses Haus soll jetzt abgerissen werden. Dort
sollen Luxuseigentumswohnungen entstehen, von denen
die billigste eine halbe Million Euro kostet. Das ist doch
völliger Unsinn. Da greifen sich die Leute zu Recht an
den Kopf.
({3})
Das Problem ist, dass der Wohnungsmarkt in Deutschland zu einem Eldorado für Spekulanten und große private Anbieter geworden ist. Das wollen wir ändern.
({4})
Sie fordern immer: Bauen! Bauen! Bauen! Bauen alleine ist aber kein Programm. Es wird schon ganz schön
viel gebaut in Deutschland. Es wird für Reiche und für
Besserverdienende gebaut. Aber niemand baut für Studierende, Rentner, Erwerbslose und Familien mit kleinem
Einkommen. Genau darum geht es doch. Selbst kommunalen Unternehmen wird zunehmend vorgeworfen, dass
sie nicht mehr für die soziale Versorgung einstehen. Ich
kann nur sagen: Die Abschaffung der Wohngemeinnützigkeit war ein großer Fehler der Vergangenheit. Diesen
Volkmar Vogel ({5})
Fehler wollen wir korrigieren. Wir müssen endlich wieder eine zweite Säule auf dem Wohnungsmarkt schaffen.
({6})
Es geht im wahrsten Sinne des Wortes ums Prinzip.
Der Markt alleine richtet es hier offenbar nicht. Der
Markt alleine hat nicht dafür gesorgt, dass Wohnen bezahlbar bleibt. Der Markt alleine hat dafür gesorgt, dass
die Renditen privater Investoren zunehmend in die Höhe
steigen. Deshalb brauchen wir eine zweite Säule der Gemeinnützigkeit. Ich möchte Sie bitten, unseren Antrag
wirklich zu lesen. Nicht nur kommunale Wohnungsunternehmen und Genossenschaften, sondern auch private
Initiativen würden davon profitieren. Also hören Sie bitte
auf, einen Popanz aufzubauen und zu sagen, wir Linken
wollten wieder verstaatlichen und die DDR einführen.
Sie haben unseren Antrag nicht gelesen. Machen Sie bitte
Ihre Hausaufgaben!
({7})
Das Prinzip der Gemeinnützigkeit ist deutlich und
klar. Gemeinnützige Unternehmen verzichten auf hohe
Renditen. Sie verpflichten sich der Sozialbindung und
dem Allgemeinwohl. Dafür bekommen sie steuerliche
Anreize, steuerliche Privilegien im Gegenzug für soziale
Verpflichtungen. Was Sie mit Ihrem Gesetzentwurf, über
den wir in zwei Wochen beschließen sollen, planen, ist
das glatte Gegenteil. Herr Schäuble verfolgt das gegenteilige Modell: steuerliche Privilegien ohne soziale Verpflichtung. Das ist doch völliger Unsinn.
({8})
Sie wollen ein Gesetz beschließen, das faktisch Steuerausfälle in Milliardenhöhe für die Länder bedeutet. Die
Wohnungen, die mithilfe steuerlicher Anreize gebaut
werden sollen, gehören uns am Ende nicht. Die Sozialbindung entfällt nach zehn Jahren. Auch Mietobergrenzen soll es nicht geben. Das, was die Koalition, vor allem
die Union, plant, ist Geldverschwendung in Milliardenhöhe. Das ist keine neue Gemeinnützigkeit. Nur eine
neue Gemeinnützigkeit wird dafür sorgen, dass Wohnen
in Deutschland langfristig bezahlbar bleibt.
Stimmen Sie also dem guten Vorschlag der Linken zu,
und lassen Sie uns gemeinsam eine neue Gemeinnützigkeit einführen.
Vielen Dank.
({9})
Für die SPD spricht jetzt der Kollege Klaus Mindrup.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Gestatten Sie mir eingangs ein paar persönliche Vorbemerkungen. Seit 16 Jahren bin ich zuerst
Beirat, dann Aufsichtsrat der vor 16 Jahren gegründeten
Wohnungsbaugenossenschaft „Bremer Höhe“. Wir sind
eine Graswurzelgenossenschaft in Prenzlauer Berg und
sind dem Gemeinwohl verpflichtet. Wir haben einen
Kernbestand von ungefähr 450 Wohnungen in Prenzlauer Berg. Wir sind eine Dachgenossenschaft, unter
deren Dach weitere Projekte realisiert werden können.
Zuletzt ist das bekannte Georg-von-Rauch-Haus unter
unser Dach geschlüpft. Wir bieten bezahlbare Mieten, im
Schnitt 5,50 Euro pro Quadratmeter in Prenzlauer Berg.
Wir haben eine Förderung von Berlin bekommen. Dafür
haben wir Berlin Belegungsbindung gegeben. Eigentlich
könnten wir diese jetzt zurückgeben. Aber wir haben uns
freiwillig entschlossen, Berlin weiterhin einen Teil einzuräumen, weil wir etwas von dem zurückgeben wollen,
was wir vom Staat bekommen haben. Wir haben geringe
Nebenkosten und sind dem Klimaschutz verpflichtet, unter anderem durch Mieterstrommodelle.
Wir machen schon seit langer Zeit keine Wartelisten,
weil wir wissen, wie die Mietsituation in Berlin ist; das
haben wir schon sehr früh mitbekommen. Wir sind aber
keine Vermietungsgenossenschaft, die steuerbefreit ist;
das ist der letzte Rest aus der Gemeinnützigkeit. Wir haben darüber diskutiert. Aber die Überführung ist viel zu
kompliziert. Wenn wir hier voranschreiten wollen, müssen wir schauen, dass wir die Überführung in steuerbefreite Formen erheblich vereinfachen und die Genossenschaften keinen großen Risiken aussetzen.
({0})
Wir haben Glück gehabt. Wir hatten die Hilfe der Politik. Andere haben diese Hilfe nicht gehabt. Hier wurde schon häufiger über die Kopenhagener Straße 46 in
Prenzlauer Berg diskutiert. Ich war am letzten Samstag
wieder dort. Dazu ist zu sagen: Der Schutz von Bestandswohnungen ist, wenn man preiswerte Mietwohnungen haben will, ganz entscheidend. Die Mietstruktur
in Berlin ist dadurch gekennzeichnet, dass die Miete bei
Bestandswohnungen im Schnitt bei 5,80 Euro pro Quadratmeter liegt. Neubau kann man nicht unter 10 Euro
pro Quadratmeter realisieren. Das heißt, wenn man bezahlbaren Wohnraum kostengünstig erhalten will, muss
man sich um den Bestand kümmern. Wie gesagt, über die
Kopenhagener Straße wurde hier schon oft diskutiert. Ich
möchte allerdings auf einen Aspekt hinweisen, über den
noch nicht diskutiert wurde. Damals wurde eine energetische Sanierung vom neuen Eigentümer angekündigt, der
die Mieten um 10 bis 16 Euro pro Quadratmeter erhöhen
wollte. Heute stellt sich heraus, dass diese angekündigte
energetische Sanierung gar nicht realisiert wurde. Das
Haus wurde in Eigentumswohnungen umgewandelt, und
es wurde nicht das gemacht, was angekündigt wurde.
Alle Mieter bis auf zwei Parteien wurden verdrängt. Das
sind Modelle der Täuschung. Das ist grauer Baumarkt.
So etwas müssen wir stoppen.
({1})
Berlin wurde in der Vergangenheit heftig kritisiert,
auch hier im Haus. Seit 2011 haben wir die Privatisierung gestoppt mit der Berliner Immobilien Holding, die
die Linke damals noch privatisieren wollte; daran möchte
ich erinnern. Es war die SPD, die das gestoppt hat. SeitCaren Lay
dem sind wir vorangekommen. Wir haben im letzten Jahr
das Umwandlungsverbot eingeführt, und wir haben eine
Einigung mit den Initiatoren des Mietenvolksentscheids
in Berlin erzielt.
Wir haben ungefähr 300 000 Wohnungen in städtischer Hand. Zukünftig werden 55 Prozent dieser Wohnungen an Menschen mit Wohnberechtigungsschein
vermietet, 20 Prozent sind für besondere Sozialfälle vorgesehen. Das heißt, wir haben mit einem Schlag 165 000
neue Sozialwohnungen geschaffen. Das ist vorbildlich,
auch für andere Städte in Deutschland.
({2})
Wenn wir jetzt hier diskutieren, wie wir weiter vorankommen, dann muss eines klar sein: Die Sicherung und
Schaffung von bezahlbarem Wohnraum ist eine Gemeinschaftsaufgabe von Bund, Ländern und Gemeinden. Die
Menschen im Land interessiert es nicht, ob es die Bundespolitiker, die Landespolitiker oder die Kommunalpolitiker sind. Sie wollen Lösungen haben.
({3})
Insofern sollten wir das, was hier schon Staatssekretär
Pronold angedeutet hat, angehen, nämlich die Änderung
des Grundgesetzes. Wir sind den Menschen verpflichtet.
Die Schaffung sozialen Wohnraums ist auch Aufgabe des
Bundes; denn es geht hier nicht nur um vier Wände, es
geht um die Würde und das Leben von vielen Menschen
in unserem Land.
Danke schön.
({4})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Lisa Paus, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das war
durchaus ein Hoffnungsschimmer. Ich freue mich dann
auch auf die entsprechende Debatte und die Auseinandersetzung im Detail in den Ausschüssen. Die CDU
macht mir da allerdings noch erhebliche Sorgen.
({0})
Ich dachte, wir seien uns zumindest in der Analyse, dass
wir ein Problem haben, einig. Das haben verschiedene
Kollegen schon angesprochen. Trotzdem scheint das bei
Ihnen noch nicht wirklich angekommen zu sein. Ich mache einen letzten Versuch.
Selbst die Bundesbank, die für die Union eine relativ heilige Institution ist, hat inzwischen festgestellt,
dass wir es in den Ballungsgebieten in Deutschland mit
Immobilienblasen zu tun haben und man deswegen gegensteuern muss. Unser Antrag zur neuen Wohnungsgemeinnützigkeit ist auch dazu ein Beitrag.
({1})
Wir brauchen eine Trendwende am Wohnungsmarkt.
Das ist der entscheidende Punkt. Ich möchte mit Ihnen
zusammen darum ringen, wie wir das schaffen. Wir sagen: Ohne die Wiedereinführung der Wohnungsgemeinnützigkeit wird es in Deutschland nicht gehen;
({2})
denn wir haben explodierende Mieten, wir haben noch
stärker steigende Kaufpreise. Aktuell ist in Berlin zum
Beispiel eine Wohnung für 19 018 Euro pro Quadratmeter über den Tisch gegangen. Das ist zurzeit der Spitzenpreis.
({3})
Auch das wird nicht das letzte Wort sein. Garantiert werden wir in den nächsten Monaten von neuen Preisen hören. Das kann nicht sein.
({4})
Der Preis war natürlich nicht für eine Sozialwohnung,
aber er zeigt klar, dass die Immobilien- und Mietpreissituation in Deutschland in den Ballungsgebieten völlig
aus dem Ruder läuft und sich in die falsche Richtung entwickelt.
Wir müssen Maßnahmen ergreifen, damit Familien
mit Kindern, Studentinnen und Studenten, Rentnerinnen
und Rentner nicht die Erfahrung machen müssen, dass es
kaum eine Wohnung auf dem Markt gibt, die sie sich leisten können. Es muss auch klar sein, dass die Wohnungsknappheit nichts mit den Geflüchteten zu tun hat. Diese
Entwicklung auf den Wohnungsmärkten gibt es in den
Ballungsgebieten seit mehreren Jahren. Sie war schon
vorher da und ist zu einem großen Teil hausgemacht.
Auch ich möchte noch einmal in Erinnerung rufen:
Der Kardinalfehler der Wohnungspolitik in Deutschland
war die Abschaffung der Wohnungsgemeinnützigkeit
1990 im Zuge des Skandals um die Neue Heimat. Diese
Chance nutzte die schwarz-gelbe Bundesregierung, um
die steuerliche Förderung des sozialen Wohnungsbaus,
die ihr ein Dorn im Auge war, schlichtweg zu beseitigen,
anstatt das an sich richtige Instrument zu reformieren.
Wir sehen inzwischen die Konsequenzen. Seitdem
sind über 2 Millionen dieser günstigen Sozialwohnungen verloren gegangen, und zwar durch Privatisierung
und das Auslaufen der Sozialbindung. Etliche von diesen Wohnungen finden wir inzwischen in börsennotierten Wohnungsunternehmen, die Renditeinteressen haben
und die Spekulation weiter anheizen. Jedes Jahr fallen
weitere 60 000 Wohnungen aus der Sozialbindung heraus. Das heißt, wir brauchten, um aus der Krise herauszukommen, jedes Jahr mindestens 100 000 neue Wohnungen mit dauerhafter Bindung.
Wir sind davon überzeugt, dass wir den riesigen Boom
an sozialem Wohnungsbau, den wir jetzt brauchen, mit
den bisherigen Mitteln allein nicht hinbekommen, insKlaus Mindrup
besondere nicht durch eine Sonderabschreibung für den
Wohnungsbau, die die Große Koalition vor wenigen Wochen hier vorgestellt hat und die wir in diesem Monat
noch diskutieren werden. Sie wissen selber: Das ist im
Wesentlichen ein Geschenk für die Immobilienwirtschaft
und für die Einkommensmillionäre. Insbesondere wird
sie für Sozialwohnungen nichts, aber auch wirklich gar
nichts leisten.
({5})
Das Problem wird auch nicht allein durch die klassischen sozialen Wohnungsbauunternehmen gelöst. Die
können ihre Baukapazitäten aus dem Stand gar nicht in
der notwendigen Größenordnung vervielfachen und würden auch nicht die Vielfalt generieren, die wir brauchen.
Wir brauchen tatsächlich ein neues Instrument, mit dem
wir ganz neue Akteure für den sozialen Wohnungsbau
gewinnen können, und deswegen brauchen wir die Wohnungsgemeinnützigkeit.
({6})
Die Idee der Wohnungsgemeinnützigkeit ist, dass
der Bauträger sich verpflichtet, die Wohnung dauerhaft
sozial gebunden zu vermieten. Dafür erhält er wirklich
spürbare steuerliche Erleichterungen oder eine Investitionszulage als Steuergutschrift von - so unser Vorschlag bis zu 20 Prozent. Damit wird das Bauen von sozialem
Wohnraum auch für Wohnungsgenossenschaften, Vereine, Baugruppen, Wohnprojekte und private Vermieter
interessant. Also: klare soziale Bindung, aber es muss
sich auch rechnen. Wir machen einen entsprechenden
Vorschlag.
Die Wohnungsgemeinnützigkeit soll nach grünen Vorstellungen nicht nur für Neubauten, sondern auch für die
Umnutzung von schon vorhandenem Wohnraum genutzt
werden können, beispielsweise für umgebaute und dann
dauerhaft sozial vermietete Wohnräume. Sie ließe sich
auch auf einzelne Wohnungen in Gebäudekomplexen anwenden. So ist sie sehr geeignet, um gerade die soziale
Mischung in Wohngebieten zu fördern.
({7})
Deshalb bringen wir heute unseren Antrag ein; er beruht auf einem ausführlichen Gutachten zu dem Thema.
Es ist ein Antrag, der die Schlüsse aus den Fehlern der
Vergangenheit zieht, der die mittlerweile geltenden europäischen Regeln beachtet, der die Erfahrungen unseres
Nachbarlandes Holland mit einbezieht, wo mehr als ein
Drittel der Wohnungen in Wohnungsgemeinnützigkeit
errichtet worden sind - ein Konzept, das Transparenz in
die Konstruktion bringt, sodass sich die Fehler der Neuen
Heimat nicht wiederholen können.
Frau Kollegin Paus, Sie erinnern sich an die vereinbarte Redezeit.
({0})
Ja, ich komme zum Schluss, Herr Präsident.
Unser Vorschlag liegt vor. Ich hoffe, dass wir tatsächlich zu einer vernünftigen Debatte miteinander kommen.
Es ist an Ihnen, sich damit ernsthaft auseinanderzusetzen.
Die Familien, die Rentnerinnen und Rentner, die Studierenden werden es Ihnen danken, meine Damen und Herren.
({0})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Anja Weisgerber
für die CDU/CSU.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und
Kollegen! Die Schaffung von bezahlbarem Wohnraum
ist eine der größten Herausforderungen für uns Baupolitiker. Der Bedarf ist aktuell und in den nächsten Jahren
sehr hoch. Das Bauministerium prognostiziert, dass wir
pro Jahr mindestens 350 000 neue Wohnungen brauchen.
Selbstverständlich benennen auch wir das ganz klar. Wir
brauchen dafür aber genau die richtigen Rahmenbedingungen, die richtigen politischen Weichenstellungen. So
viel vorab: Die Vorschläge, die Sie in Ihren Anträgen gemacht haben, sind sicherlich nicht die richtigen Instrumente, meine Damen und Herren.
({0})
Was brauchen wir? Wir müssen Investitionen anreizen; denn der beste Mieterschutz - das ist und bleibt
richtig; das kann ich nicht oft genug sagen - ist: Bauen,
Bauen, Bauen.
({1})
Jede Wohnung, jede Mietwohnung, jede Eigentumswohnung oder jedes Eigenheim entlastet den Wohnungsmarkt, der im Übrigen durch Angebot und Nachfrage
bestimmt wird. Aber das Prinzip der sozialen Marktwirtschaft ist bei der Fraktion Die Linke vielleicht noch nicht
komplett angekommen. Teile Ihres Antrags lesen sich
nämlich eher wie eine Rückkehr zu sehr bürokratischen
Instrumenten mit teilweise - ich formuliere das einmal
vorsichtig - planwirtschaftlichen Ansätzen. Genau das
wollen wir nicht, meine Damen und Herren!
({2})
Der Antrag erweckt außerdem den Eindruck, dass wir
in Deutschland keine funktionierenden Wohnungsmärkte haben. Aber wie wir alle doch wissen, ist die Situation in Deutschland sehr unterschiedlich. Wir haben die
Metropolen; ich nenne jetzt einmal Beispiele: Berlin,
München, Hamburg. In Ballungsgebieten, in Hochschulstädten haben wir deutliche, sehr starke Engpässe an den
Wohnungsmärkten. Aber im ländlichen Raum, wo ich
zum Beispiel herkomme, haben wir in vielen Regionen
eine sehr gute und hochwertige Wohnraumversorgung.
Wir haben in manchen Gegenden, zum Beispiel in Nordbayern und in Sachsen, sogar eher die Situation, dass wir
gegen Abwanderung und gegen Wohnungsleerstände ankämpfen müssen. Das heißt also: Die Wohnungsmärkte
sind regional sehr unterschiedlich, und genau das muss
sich in unserer Politik niederschlagen.
({3})
Eines ist auch klar: Eine einseitige Konzentration der
Förderung auf Mietwohnungen greift sicher zu kurz. Wir
brauchen auch die Eigentumsförderung. Es gibt eben
nicht nur die eine Maßnahme, das eine Instrument. Vielmehr brauchen wir ein Bündel von Maßnahmen. Wir
brauchen klare Signale für mehr und bezahlbaren Wohnraum. Da ist und bleibt - das möchte ich noch einmal
wiederholen - unser wohnungspolitischer Dreiklang sicherlich die richtige Antwort und das geeignete Leitbild.
Erstens: richtige Investitionsanreize setzen. Der Staat
allein kann den notwendigen Bedarf an Wohnraum nicht
decken; das muss jedem hier im Raum klar sein. Der
Gesetzentwurf zur steuerlichen Förderung des Mietwohnungsbaus setzt hier genau die richtigen Anreize. In den
ersten drei Jahren können insgesamt bis zu 35 Prozent
der Kosten abgeschrieben werden. Das ist ein wichtiges
Signal an die Investoren, den notwendigen Wohnraum zu
schaffen.
({4})
Wir müssen aber noch an weiteren Stellschrauben
drehen. Die Baukostensenkungskommission im Rahmen
des Bündnisses für bezahlbares Wohnen und Bauen hat
ganz klar zum Ausdruck gebracht: Wir müssen die Baukosten senken, damit wieder investiert wird. Diese Investitionen benötigen wir ganz dringend. In der Diskussion
um Gesetzesänderungen, zum Beispiel auch in puncto
Energieeffizienz, ist es eben wichtig, dass wir Kosten
und Nutzen gegenüberstellen. Es wurde bereits gesagt:
Es gibt Expertenberechnungen zur EnEV, die seit 2016 in
Kraft ist, die sagen: Die Baukosten steigen um 7 Prozent.
Auf der anderen Seite haben wir eine Einsparung von nur
0,02 Prozent. Das stellt die Wirtschaftlichkeit infrage, die
wir immer eingefordert haben und nach wie vor ganz klar
einfordern.
({5})
Bei der Überarbeitung der EnEV ist es nicht nur wichtig - das sage ich auch als Klimapolitikerin -, die Klimaziele einzuhalten, sondern damit auch die Erreichung der
Klimaziele zu unterstützen. Genau deswegen brauchen
wir in diesem Zusammenhang eben auch einen effektiven Klimaschutz, effektive Instrumente und effektive
Maßnahmen. Wir müssen bei dieser Überarbeitung natürlich auch die Notwendigkeit von bezahlbarem Wohnraum im Blick behalten. Genau das muss der Maßstab
sein, und darauf werden wir alle achten.
({6})
Zum zweiten Punkt des wohnungspolitischen
Dreiklangs: den sozialen Wohnungsbau wiederbeleben.
Auch da haben wir einiges in die Tat umgesetzt. 2016
bis 2019 gibt es 2 Milliarden Euro mehr für die Wohnraumförderung. Damit wurden die Kompensationsmittel
verdoppelt. Die Eckpunkte des Haushaltes 2017 sehen
nochmals 500 Millionen Euro mehr für den Wohnungsbau vor.
({7})
Jetzt habe ich eine klare Hoffnung, die ich einfach einmal
so zum Ausdruck bringen möchte, ohne das jetzt gleich
wieder in einen Angriff umzumünzen. Ich habe die Hoffnung, dass die Mittel von den Bundesländern zweckgebunden für den sozialen Wohnungsbau eingesetzt werden. Ich kann an dieser Stelle positiv sagen: Bayern hat
mit dem Wohnungspakt Bayern die Mittel, die vom Bund
kommen, noch einmal deutlich - sehr deutlich - aufgestockt. Daran können sich andere Länder
({8})
- es wurde gerade gesagt: es gibt auch noch andere Länder - durchaus ein Beispiel nehmen, um das ganz positiv
zu formulieren.
({9})
Zum dritten und letzten Punkt des wohnungspolitischen Dreiklangs: die ausgewogene mietrechtliche und
sozialpolitische Flankierung der Wohnungspolitik. Auch
daran arbeiten wir. Die Wohngeldreform und die Mietpreisbremse wurden umgesetzt. Ich möchte an dieser
Stelle ganz klar sagen: Wir haben mit der Mietpreisbremse einen Schwerpunkt verfolgt. Die Mietpreisbremse sollte so ausgestaltet werden, dass die Deckelung der Miete
gewährleistet ist; aber das allein reicht eben nicht, um die
Mieter zu entlasten. Wir müssen auch weiterhin in den
Bau neuer Wohnungen investieren, um zu verhindern,
dass die Mietpreisbremse zu einer Investitionsbremse wird. Deswegen haben wir wichtige Änderungen im
Rahmen der Gesetzgebung zur Mietpreisbremse durchgesetzt, nämlich dass die Neubauten ausgenommen werden und dass in Gebieten, in denen die Mietpreisbremse
gilt, auch konkrete Maßnahmenpläne erstellt werden, um
den Engpässen entgegenzuwirken. Das waren konstruktive Verbesserungsvorschläge, so möchte ich es an dieser
Stelle einmal formulieren.
({10})
Dann möchte ich sagen: Zum zweiten Mietrechtspaket liegen uns ja jetzt neue Vorschläge von Justizminister Maas vor. Da hätten wir schon erwartet, dass die
auch dem Koalitionsvertrag entsprechen. Das ist nicht
der Fall. Der Vorschlag - wie auch schon die Eckpunkte - schießt über das Ziel hinaus. Die Absenkung der
Modernisierungsmieterhöhung auf 8 Prozent ist nur ein
Beispiel. Das verhindert notwendige Investitionen in den
Wohnungsbau und die energetische Sanierung.
({11})
Meine Damen und Herren, ich möchte an dieser Stelle
sagen: Es kann doch nicht sein, dass auf der einen Seite - das ist gut so - der Finanzminister den Wohnungsbau steuerlich fördert, die Bau- und Klimaministerin die
Mittel für den sozialen Wohnungsbau aufstockt und die
Energieeffizienzmaßnahmen voranbringt und dass auf
der anderen Seite ein Justizminister jetzt ein zweites
Mietrechtspaket vorschlägt, das Investitionen und energetische Sanierung ausbremst. Das tragen wir so nicht
mit, meine Damen und Herren.
({12})
Hier fordern wir eine klare Umsetzung des Koalitionsvertrages.
Zum Abschluss möchte ich noch zum Ausdruck bringen, dass meist nur der Mietwohnungsbau im Fokus steht.
Wir müssen aber auch daran arbeiten, dass mehr Menschen zu Wohnungseigentum kommen. Das ist wichtig
für die Altersvorsorge. Es ist natürlich auch so, dass jede
selbstgenutzte Wohnung eine Mietwohnung frei macht.
({13})
Deswegen brauchen wir neben den Maßnahmen zur Förderung des Mietwohnungsbaus auch die Eigentumsförderung. Deswegen werden wir nicht lockerlassen, was
die Anpassung der Wohnungsbauprämie an die Einkommensentwicklung angeht.
Vielen herzlichen Dank.
({14})
Die Kollegin Claudia Tausend spricht jetzt für die
SPD.
({0})
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Nirgendwo in Deutschland wächst die Bevölkerung schneller
als in meiner Heimatstadt München. Allein in den letzten vier Jahren ist die Einwohnerzahl Münchens um
100 000 Menschen gestiegen. Wir rechnen bis 2030 mit
weiteren 230 000 Menschen allein in der Kernstadt und
mit weiteren 200 000 Menschen im Umland.
Die Probleme, die viele Kommunen in Deutschland
bei der Schaffung von neuem bezahlbarem Wohnraum
haben, betreffen München also in ganz besonderer Weise. Wir haben zwei wichtige Aufgaben. Die eine ist die
Sicherung von bezahlbaren Mieten, die andere ist die
Schaffung von bezahlbarem Wohnraum. Für München
ist die Mietpreisbremse elementar. Kolleginnen und
Kollegen, 20 Jahre lang hat unser Altoberbürgermeister
Christian Ude für die Einführung dieses Instruments gekämpft. Wir freuen uns, dass uns die Durchsetzung jetzt
gelungen ist.
({0})
Freilich werden die Mieten dadurch nicht sinken,
aber wir können wenigstens die Dynamik des Mietanstiegs bremsen. In diesem Zusammenhang unterstützen
wir, sehr verehrte Kollegin Weisgerber, ausdrücklich
die Reform des Mietspiegels; ebenfalls eine langjährige
Forderung aller Mieterverbände und aller Großstadtoberbürgermeister, die mit dem Thema der bezahlbaren Mieten zu tun haben. Der Ausweitung des Berechnungszeitraums für die ortsübliche Vergleichsmiete von vier auf
acht Jahre wird weiter preisdämpfend wirken. Auch hiervon werden die Mieten natürlich nicht sinken, aber wir
könnten damit die Dynamik des Mietanstiegs bremsen.
In München ist es vor allem wichtig, für den Erhalt der
sozialen Mischung gerade auch in den Innenstadtquartieren zu sorgen, wo wir heute in den besseren Lagen - das
ist heute schon vom Kollegen Pronold gesagt worden 15 Euro zahlen. 15 Euro! Das ist eine Größenordnung, die
sich Durchschnittsverdiener, auch nicht einmal Gutverdiener, wirklich nicht mehr leisten können. Ich befürchte übrigens nicht, dass die Reform des Mietspiegels die
Aktivitäten im Wohnungsneubau erlahmen lassen wird.
Wir werden gleichzeitig die degressive Sonder-AfA, wie
von Ihnen ausgeführt, wieder einführen und damit den
Neubau von Mietwohnungen weiter anregen. Es wäre
allerdings noch besser, wenn wir dieses Instrument der
Steuererleichterung an einen Mietpreisdeckel koppeln
würden;
({1})
denn die Verteilungswirkung ist ohne einen Mietpreisdeckel nicht zu steuern und die Gefahr von Mitnahmeeffekten wirklich hoch.
Ich begrüße ausdrücklich - auch darauf ist hingewiesen worden - die Verdopplung der Kompensationsmittel
im sozialen Wohnungsbau. Wir unterstützen ausdrücklich eine weitere Verdopplung.
({2})
Das wäre für München ein wichtiger Impuls. Ich möchte
einfach die Zahlen in ein Verhältnis setzen. Wir geben
derzeit bundesweit 1 Milliarde Euro, München gibt und das seit vielen Jahren - im letzten Handlungszeitraum 2012 bis 2016 800 Millionen städtische Euro für
den geförderten Wohnungsbau aus. Das noch einmal zur
Verhältnismäßigkeit der kommunalen Leistung und zur
Unterstützung von Bundesseite.
({3})
Wir haben ein weiteres Sofortprogramm aufgelegt,
das dazu dienen soll, bereits in diesem Jahr 1 000 neue
Wohnungen zu bauen, vorzugsweise von unseren eigenen
städtischen Wohnungsbaugesellschaften. Diese Wohnungen sollen unteren Einkommensgruppen, aber natürlich
auch den Flüchtlingen zugutekommen. Wir versuchen
das in serieller bzw. modularer Bauweise. Auch das ist,
glaube ich, eine wichtige Anregung, die wir vonseiten
des Bundes hier mitbringen.
({4})
Ich muss langsam zum Schluss kommen und will nur
noch auf ein Thema hinweisen, das vor allem für Großstädte sehr wichtig ist. Es geht um den Versuch, eine neue
Gebietskategorie - das „urbane Gebiet“ - in der Baunutzungsverordnung zu etablieren. Das „urbane Gebiet“
würde die Kommunen, was die Baulandausweisung anbelangt, drastisch unterstützen.
Ein letzter Gedanke: Wir - Bund, Länder und Gemeinden - müssen viel tun. Es gibt aber auch noch die
Privatwirtschaft. Damit komme ich zum Werkswohnungsbau. Es gab in den letzten Jahren die traurige Entwicklung, dass sich fast alle Großunternehmen von ihren
Wohnungsbeständen getrennt haben. Nicht alle dieser
Wohnungsbestände wurden an sozial orientierte große
Unternehmen verkauft. Insofern ist auch hier sehr viel
bezahlbarer Wohnraum verloren gegangen. Ich meine,
dass man hier auch die Unternehmen wieder in die Pflicht
nehmen muss. Allein werden wir es wahrscheinlich nicht
schaffen, auch für die Fachkräfte bzw. Auszubildenden
ausreichend Wohnungen zur Verfügung zu stellen. Wir
müssen also alle zusammenhalten und kräftig anpacken.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({5})
Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Christian
Haase.
Verehrter Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Plattenbauprogramm der DDR - daran hat mich der vorliegende Antrag der Linken erinnert.
({0})
Damals, 1973, wurde von oben herab ein Wohnungsbauprogramm mit dem einzigen Ziel verordnet, 3 Millionen
neue Wohnungen zu bauen - unabhängig vom Bedarf,
von der Effizienz und den Wünschen der Bürgerinnen
und Bürger, die nachher in diesen Wohnungen wohnen
mussten. In der Bundesrepublik machen wir heute zum
Glück eine andere Politik. Es gibt keine Bevormundung,
sondern Vielfalt - Vielfalt, was Miete und Wohneigentum anbelangt, und Vielfalt auf der Investorenseite. Dort,
wo sie gewachsen und sinnvoll ist, haben wir schon heute
eine gemeinnützige Wohnungswirtschaft, die meist gut
funktioniert. Als ehemaliges Aufsichtsratsmitglied eines
solchen Unternehmens weiß ich, worüber ich spreche.
Die Linken fordern dagegen einen gigantischen staatlichen Wohnungsbausektor - egal wo und egal wie teuer. Sie trauen sich erst gar nicht, eine Summe für die
angedachte Gemeinschaftsaufgabe zu nennen. Es wird
aber wohl ein zweistelliger Milliardenbetrag sein. Dazu
kommt, dass als Ersatz für die bisherigen Kompensationsmittel 5 Milliarden Euro an die Länder fließen. Das
wäre fünfmal mehr als bisher. Weiterhin gehen 2 Milliarden Euro als Ersatz für die Städtebaumittel an die Länder.
Mit weiteren 5 Milliarden Euro soll der Energie- und Klimafonds reich beschenkt werden. Das sind dann zusammen noch einmal 12 Milliarden Euro - und das pro Jahr.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken,
Ihre Luftschlösser nehmen damit gigantische Ausmaße
an. Die Finanzierung bleibt komplett im Nebel. Frau
Bluhm, das ist keine Win-win-Situation, sondern eine
Wind-Wind-Situation. Eine verantwortungsvolle Politik
sieht sicherlich ganz anders aus.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, auch inhaltlich gibt es drei entscheidende Argumente gegen eine
rein staatliche oder gemeinnützige Wohnungswirtschaft:
Erstens. Die Politik hätte durch die gewaltigen staatlichen Subventionen und Fördergelder einen enormen
Einfluss auf diese gemeinnützigen Unternehmen. Ein guter Politiker ist aber noch lange kein guter Manager von
Wohnungsbauunternehmen.
({1})
Wohin das führt, haben wir oft genug erlebt. Der riesige
Wohnungsbaukonzern Neue Heimat, der ja auch in Ihrer Antragsbegründung Erwähnung findet, sollte uns da
ein mahnendes Beispiel sein. Dieses Gewerkschaftsunternehmen betrieb unter dem Deckmantel der Gemeinnützigkeit jahrzehntelange Misswirtschaft. Die Linken
fordern nun die Auferstehung dieses Geschäftsmodells.
Zweitens. Es käme zu einer staatlich geförderten
Gettoisierung durch Großsiedlungen dort, wo Durchmischung gefragt wäre. Das können wir doch nicht
ernsthaft wollen. Die Negativbeispiele Duisburg-Marxloh oder Berlin-Neukölln geistern seit langem durch die
Presse.
Kollege Haase, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Bluhm?
Nein, ich bin gerade im Schwung. - Man könnte
hier noch viele andere Stadtteile aus ganz Deutschland
nennen. In diesen Vierteln haben wir gewaltige Probleme: religiöse Radikalisierung, Bandenkriminalität und
rechtsfreie Räume. Das sind die Sorgen der Menschen in
unserem Land. Liebe Freunde, wir müssen etwas gegen
diese Gettos tun und dürfen sie nicht auch noch staatlich
fördern.
({0})
Drittens. Es wäre ein weiteres Ergebnis dieses Antrages, dass die Kommunen faktisch gezwungen wären,
solche Unternehmen zu gründen. Ansonsten würden
sie keine Unterstützung mehr erhalten, wenn sie die
Wohnungsnot vor Ort bekämpfen wollen. Diese Bevormundung ist keine Unionspolitik. Wir wollen, dass die
Kommunen selber entscheiden können, wie sie dem
Wohnungsmangel begegnen. Denn darüber sind wir uns
ja offensichtlich einig: Natürlich herrscht in vielen Großstädten ein Mangel an Wohnraum. Natürlich müssen wir
Politiker hier Lösungen finden. Aber genau das tun wir
auch. Die Kolleginnen und Kollegen der Regierungskoalition haben die Punkte benannt. Ich will auch daran erinnern, dass wir in den 90er-Jahren jedes Jahr 600 000 neue
Wohnungen gebaut haben - ohne ein solches Programm
wie in Ihrem Antrag.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, jetzt müssen wir
diese Politik in der Praxis wirken lassen. Denn ein kurzfristig und unangemessen aufgeheizter Wohnungsbaumarkt treibt zunächst einmal die Baupreise nach oben.
Damit würde wieder viel Geld verbrannt. Was wir brauClaudia Tausend
chen, sind Kontinuität und Verlässlichkeit, damit die
Wohnungswirtschaft Kapazitäten aufbaut. Denn gerade
in der Baupolitik sind langfristiges Denken und Fingerspitzengefühl gefragt. Konsequenzen der Baupolitik sehen wir oft erst nach vielen Jahren. Dann können manche
demografische Trends schon wieder vorbei sein.
Drei kurze Beispiele. Die Erstsemesterzahlen gehen
nach neuesten Studien viel stärker zurück, als es die Kultusministerkonferenz erwartet. Wie lange hält also der
Bedarf an mehr Studentenwohnungen an? Oder wie viele Wohnungen für Flüchtlinge brauchen wir tatsächlich?
Wird die Urbanisierung anhalten? Diese Fragen zeigen,
dass wir in jedem Fall durchdachte und flexible Konzepte
brauchen. Alles andere ist nicht nachhaltig. Jetzt einen
milliardenschweren öffentlichen Wohnungssektor zu fordern, ist unter diesen Gesichtspunkten völlig unverantwortlich.
Gerade als Vertreter kommunalpolitischer Interessen
kann ich wirklich nur davor warnen, den Kommunen
diese gewaltige Aufgabe aufzubürden, deren Umsetzung per Definition - so schreiben Sie es ausdrücklich
in Ihrem Antrag - unrentabel wäre. Bei den Kommunen
würde sie aber dennoch Personal und Geld binden. Dabei
sind schon jetzt viele kommunale Haushalte auf Kante
genäht. Für andere wichtige Investitionen stünde dann
automatisch weniger Geld zur Verfügung. Wir sprechen
in Deutschland von einem kommunalen Investitionsstau
von 130 Milliarden Euro. Während wir mit dem Kommunalinvestitionsförderungsgesetz dagegenhalten, wollen
Sie neue Investitionspflichten festzurren.
Sollten wir nicht den Kommunen vor Ort die Entscheidung überlassen, wo sie ihre Ressourcen einsetzen?
Der vorliegende Antrag zwingt die Kommunen, alles auf
eine Karte zu setzen. Wir wollen den Kommunen die
Wahl lassen.
({1})
Denn kommunale Wohnungsunternehmen sind bereits
ein wichtiger Teil der deutschen Wohnungswirtschaft.
Sie bieten bezahlbare Mieten und tragen so zu einer
ausgewogenen Stadtentwicklung bei. Laut Städte- und
Gemeindebund sind es über 700 Unternehmen, die circa
2,5 Millionen Wohnungen in Deutschland besitzen. Diese Möglichkeit wird also schon intensiv genutzt, überall
dort, wo es sinnvoll ist.
Auch genossenschaftliche Modelle leisten einen
wichtigen Beitrag, wenn es um bezahlbaren Wohnraum
geht. Es lassen sich viele positive Beispiele nennen, etwa
der Schalker Bauverein aus Gelsenkirchen. Hier müssen
wir schauen, wie wir die Wohnungsbaugenossenschaften
besser unterstützen können. Herr Mindrup hat eben an
seinem Beispiel deutlich gemacht, dass das unter den gegebenen Rahmenbedingungen gut funktioniert.
({2})
Diesen gut funktionierenden Unternehmen wollen
die Linken nun mit ihrem Antrag auch noch die Arbeit
erschweren. Die Liste der zusätzlichen Pflichten und
Regeln für gemeinnützige Unternehmen ist lang, der
Kontrollmechanismus ist aufgebläht. Ein wenig mehr
Vertrauen auch in die kommunale Familie wäre da besser. Aber wenn man planlos Milliarden in ein System
pumpt, ist eine entsprechende Überprüfung natürlich nötig. Die beschriebene „Vier-Ebenen-Kontrolle“ wird es
allerdings zum Nulltarif nicht geben. Also wieder einmal
mehr Bürokratie! Noch viel schlimmer wäre allerdings
die Gängelung der betroffenen Unternehmen. So beheben wir die Wohnungsnot in Deutschland nicht.
({3})
Ein letzter Aspekt ist: Viele Kommunen haben gar
keine Wohnungsnot. Ganz im Gegenteil: Viele Kommunen in ländlichen Räumen leiden unter einem Bevölkerungsrückgang. Dieses Ungleichgewicht müssen wir viel
stärker in den Blick nehmen. Wenn wir die Attraktivität
kleinerer Städte erhöhen, unterstützen wir nicht nur die
Menschen, die dort leben, sondern verringern auch den
Zuzug in die Ballungsräume.
({4})
In diesem Zusammenhang ist auch die Wohnsitzauflage für Flüchtlinge zu nennen. Ich leite derzeit eine Arbeitsgruppe der Kommunalpolitischen Vereinigung zum
Thema Integration. Alle Bürgermeister bestätigen mir,
wie wichtig die Wohnsitzauflage für eine Planungssicherheit bei der Integration ist. Viele Flüchtlinge zieht es in
die Großstädte, wo schon Landsleute oder Verwandte leben. Das erschwert die Durchführung einer planmäßigen
Integration massiv und verstärkt die Wohnungsknappheit. Mit einer Wohnsitzauflage beugen wir deshalb auf
einen Streich zwei Problemen vor.
Natürlich müssen wir Flüchtlingen, die auf dem Land
bleiben, eine Perspektive bieten - eine ideale Gelegenheit, die Strukturförderung im ländlichen Raum voranzutreiben.
Die heutige Debatte hat zweierlei klargemacht: Erstens, in der Baupolitik ist Fingerspitzengefühl gefragt.
Zweitens, die deutsche Wohnungswirtschaft ist vielfältig. Das sollten wir beibehalten und mit Augenmaß weiter fördern. Wahlfreiheit statt Bevormundung - das ist
und bleibt unsere Politik.
({5})
Der Kollege Detlev Pilger spricht jetzt für die SPD.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst möchte ich feststellen, dass die Kolleginnen und
Kollegen der Linken den Finger in eine bestehende Wunde legen: Es fehlt an bezahlbarem Wohnraum. Nur: Ob
die Instrumente, die sie benutzen wollen, passen, darüber
müssen wir uns unterhalten.
({0})
In der Tat besteht eine zugespitzte Wohnungsnot, vor
allen Dingen in Großstädten und Ballungsräumen. Man
kann nahezu von einem Teufelskreis sprechen: Der vorhandene Wohnraum wird immer begehrter und damit in
den Ballungszentren immer teurer. Das ist so. Das ist
sehr bedauerlich; denn solides Wohnen ist kein Luxus,
sondern ein elementares Gut, auf das jeder ein Recht haben sollte.
({1})
Bundesweit gibt es gegenwärtig - es wurde betont circa 1,5 Millionen Sozialwohnungen. Das reicht aber
bei weitem nicht aus. Experten schätzen den tatsächlichen Bedarf auf circa 4 Millionen Sozialwohnungen.
Aufgrund des hohen Bedarfs stellt sich die Frage: Wer
sind denn die Menschen, die diese Wohnungen so dringend brauchen?
Zunächst einmal gibt es die Gruppe der Armen. In unserem reichen Land sind 15 bis 20 Prozent der Menschen
arm oder von Armut bedroht. Sie finden auf keinem anderen Wohnungsmarkt als auf dem sozialen Wohnungsmarkt eine Wohnung. Aber - Staatssekretär Pronold hat
es betont - mittlerweile sind auch ganze Berufsgruppen
betroffen, normale Berufsgruppen wie Polizeibeamte,
Krankenschwestern und Krankenpfleger.
Sprechen Sie doch einmal mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Fahrdienstes, die uns so nett
chauffieren. Fragen Sie die einmal, wo sie wohnen. Sie
wohnen nicht mehr im Zentrum von Berlin, sondern weit
außerhalb. Damit sind höhere Anfahrtskosten verbunden.
Das geht effektiv zulasten der Lebensqualität, weil für
die Anfahrt Zeit verloren geht, die für anderes genutzt
werden könnte. Wir müssen in Bezug auf die Stadtzentren also dringend umdenken.
Wir dürfen auch die Menschen nicht vergessen, die
überhaupt keine Chance auf dem Wohnungsmarkt haben - wir sprechen hier immer über Resozialisierung -,
nämlich die Obdachlosen. Versuchen Sie einmal, für einen Obdachlosen eine Wohnung zu finden. Das geht mit
Beziehungen kaum und ohne Beziehungen gar nicht.
Ich hatte einen jungen Mann als Schüler, der in die
Abwärtsspirale geraten ist. Das geht sehr viel schneller wir alle kennen entsprechende Beispiele -, als wir uns
das vorstellen. Er hatte seine Haftstrafe verbüßt, er hatte
ein Suchtprogramm absolviert, und er wollte wieder in
die Gesellschaft integriert werden. Er kam zu mir und
bat mich händeringend: Besorg mir eine Wohnung! Ich
habe das mit allen Mitteln versucht, auch mithilfe der
Behörden. Die haben mir gesagt: Herr Pilger, man kann
nichts anderes tun, als in der Zeitung, in dem Fall in der
Rhein-Zeitung, Inserate herauszusuchen. Man kann sich
vorstellen, welche Chancen der junge Mann auf dem
Wohnungsmarkt hatte, nämlich keine. Am Rande darf erwähnt werden, dass die Zahl der Wohnungslosen in den
letzten zwei Jahren auf 350 000 Menschen angestiegen
ist. Das entspricht einer Erhöhung um 20 Prozent.
Ich sage noch einmal: Sie beschreiben die Situation
richtig. Die Situation ist dramatisch. Aber wir müssen
uns überlegen: Was ist der richtige Weg? Die Länder
sind für den Wohnungsmarkt zuständig, das ist so. Mit
vielem, was im Zuge der Föderalismusreform vereinbart
wurde, bin ich nicht einverstanden, insbesondere was das
Bildungswesen betrifft. Aber es ist nun einmal so: Wir
sind zunächst nicht zuständig. Man hat das auch nicht
unbedarft geregelt, sondern man war der Meinung: Die
Länder wissen über die Bedarfe am besten Bescheid, und
darum sollen die Länder die zugewiesenen Mittel entsprechend verwenden. Über diese Regelung kann man
durchaus noch einmal nachdenken.
Wir haben 1,3 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt.
Das sollte die Opposition, insbesondere die Grünen,
anerkennen. Ich weiß, das fällt immer schwer. Aber es
muss betont werden: Das ist eine enorme Leistung. Es
ist nicht so einfach, die Mittel zur Verfügung zu stellen.
Bitte honorieren Sie das Bemühen insbesondere unserer
Umwelt- und damit Bauministerin.
({2})
In den vergangenen Jahren wurden 250 000 Wohnungen fertiggestellt. Das sind immerhin zwei Drittel mehr
als im Jahr 2010. Aber wir sind uns sicherlich einig: Diese Zahl muss noch deutlich erhöht werden.
Herr Staatssekretär Pronold hat gesagt, das EU-Beihilferecht wäre kein Problem. Liebe Kolleginnen und
Kollegen von den Linken, aber trotzdem muss überprüft
werden, ob eine Bezuschussung, ob die Unterstützung
einer Unternehmensgruppe mit dem EU-Beihilferecht
kompatibel ist.
({3})
Sie sehen, es gibt einiges zu tun und einiges, worüber
nachgedacht werden kann und muss. Die Koalition tut
das, und wir, die Sozialdemokraten, die älteste Partei
in diesem Hause, haben uns schon immer um die Wohnungsnot der Menschen gesorgt. Es ist ein ureigenes
Ziel, das die Sozialdemokratie hat, Menschen mit bezahlbarem und gutem Wohnraum zu versorgen.
({4})
Ich komme zum Schluss: Wir haben mit den Wohnungsbaugenossenschaften und den kommunalen Wohnbauanbietern eine gute Struktur. Diese muss ausgebaut
und gestärkt werden. Ich bin selbst seit 20 Jahren Mitglied einer großen Wohnungsbaugenossenschaft, davon
war ich 15 Jahre lang Aufsichtsratsvorsitzender. Ich
weiß, welche soziale Leistung die kommunalen Anbieter
und die Genossenschaften erbringen. Liebe Kolleginnen
und Kollegen, ein herzlicher Appell an die Opposition:
Lassen Sie uns die vorhandenen Strukturen stärken.
Dann werden wir sehen, dass wir den Wohnungsmarkt
weiter beleben.
Vielen Dank.
({5})
Abschließender Redner in dieser Aussprache ist der
Kollege Michael Groß für die SPD.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist sozusagen
ein Spannungsbogen entstanden. Frau Bluhm, Sie haben
mich zu Beginn angesprochen und gesagt, Herr Ullrich
von der CSU - ich glaube, er ist heute nicht da - und ich
hätten in der letzten Rede zum Thema Wohnungsmangel
in Deutschland - ich meine, das war zum Thema Obdachlosigkeit - gesagt: Lassen Sie uns das mit der Gemeinnützigkeit machen. Ich hoffe, Sie haben an der Rede
des Staatssekretärs, die ich in Gänze unterstützen kann,
erkannt, dass wir Parlamentarier von der SPD gearbeitet
haben und gemeinsam mit dem BMUB deutlich machen,
dass wir einen Prüfauftrag sehen, um alle Instrumente in
Deutschland zu nutzen, um das bezahlbare Wohnen und
Mieten in Deutschland zu ermöglichen.
({0})
Ich möchte Herrn Pronold noch einmal dafür danken,
dass er in dieser Art und Weise darauf eingegangen ist.
Die Kollegin Haßelmann - sie musste leider weg; das
ist aber keine Kritik - hat zu Beginn eine sehr gute Rede
gehalten. Sie hat nämlich gesagt: Wir müssen gemeinsam
darum ringen, dass die Menschen im Bereich des Wohnens und des Wohnumfelds eine Daseinsvorsorge erleben, die ein gutes und ein selbstständiges Leben ermöglicht. Das ist eine Aufgabe, der wir uns in den nächsten
Wochen stellen müssen.
Es sind große Spannungsbögen und Unterschiede
deutlich geworden. Die einen werfen den anderen vor,
es solle zurück zu einer Planwirtschaft oder zu einer sozialistischen Wohnungsbaupolitik gehen. Die anderen argumentieren, wir hätten jahrelang nichts getan. Ich glaube, beide Seiten liegen in ihrer Beschreibung insgesamt
falsch.
Wir haben in der Koalition 2013 wohlweislich zum
Beispiel die Mietpreisbremse beschlossen. Unser damaliger Kanzlerkandidat Peer Steinbrück hat im Wahlkampf gesagt, dies sei ein Riesenthema für die Menschen
in Deutschland. Wir haben dies gemeinsam beschlossen,
und wir haben jetzt ein zweites Mietrechtspaket vor uns.
Die Mietpreisbremse und die Begrenzung der Modernisierungsumlage bedeuten auch, dass die Renditen und
die Gewinne derjenigen, die spekulativ unterwegs sind,
gebremst werden sollen. Das ist ein wichtiger Schritt.
Deswegen unterstütze ich Heiko Maas im zweiten Reformpaket zur Mietrechtsreform. Er schlägt nämlich vor:
Eine 8-prozentige Modernisierungsumlage soll die Grenze sein, damit wir niemanden aus seiner Wohnung vertreiben, der eine Modernisierung erleben muss.
({1})
Es wurde heute schon mehrfach angesprochen: Die
soziale Wohnraumförderung ist verdoppelt worden. Es
sollen noch einmal 500 Millionen Euro bereitgestellt
werden, um soziale Brennpunkte wie auch immer zu entwickeln und um Wohnungen zu bauen. Ich glaube, das
ist ein Erfolgsmodell, obwohl ständig kritisiert wird, dass
die Länder diese Mittel in der Vergangenheit nicht dafür eingesetzt haben, sozialen Wohnraum zu schaffen. In
NRW gibt es zum Beispiel eine Wohnungsbauoffensive,
durch die im letzten Jahr die Anzahl der Wohnungen in
der sozialen Wohnraumförderung um 37 Prozent zugenommen hat. Im Bereich des studentischen Wohnens,
im Heimbereich, ist eine Zunahme der abgerufenen Fördermittel von über 300 Prozent feststellbar. Ich glaube
also, es ist unbedingt notwendig, dass der Bund weiterhin
diese Mittel zur Verfügung stellt, auch um Planungssicherheit für die Länder, für die Akteure und Wohnungsunternehmen und letztendlich auch für die Menschen
sicherzustellen.
In den letzten Monaten haben wir in vielen Bereichen,
die nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Gemeinnützigkeit eine wichtige Rolle spielen, viel getan, um das
Thema „bezahlbares Wohnen“ auf einen guten Weg zu
bringen. Es ist aber immer noch nicht genug geschehen.
Der Kollege Pilger - ich unterstütze deine Analyse völlig - hat beschrieben, wo wir noch Lücken haben, was
wir noch tun müssen. Ich glaube, dass vieles schon getan
worden ist. Das ist ein bunter Strauß an Maßnahmen, die
in der Summe letztlich eine Antwort auf das Problem sein
können. Ich glaube aber auch, dass wir die Maßnahmen
mit Blick auf die Gemeinnützigkeit noch einmal überprüfen müssen, dass wir Prüfaufträge vergeben müssen und
dass wir dafür sorgen müssen, dass der Bund gemeinsam
mit den Ländern Verantwortung übernimmt. Letztendlich
brauchen wir eine Gemeinschaftsaufgabe des Bundes,
der Länder und der Kommunen. Für uns Sozialdemokraten ist klar: Der Mensch steht im Mittelpunkt. - Jetzt ist
meine Zeit abgelaufen.
Glück auf! Danke schön.
({2})
Herr Kollege Groß, nicht Ihre Zeit ist abgelaufen, allenfalls die Redezeit.
({0})
Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/7415 und 18/8081 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Ich sehe hier nur Einverständnis.
({1})
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung
der beruflichen Weiterbildung und des Versicherungsschutzes in der Arbeitslosenversicherung
({2})
Drucksache 18/8042
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({3})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 60 Minuten vorgesehen. - Widerspruch
dagegen erhebt sich keiner. Dann ist das so beschlossen.
Deshalb eröffne ich die Aussprache und erteile zu Beginn dieser Debatte das Wort für die Bundesregierung der
Parlamentarischen Staatssekretärin Anette Kramme.
({4})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Jemand Kluges hat einmal gesagt: Lernen ist
wie das Rudern gegen den Strom. Sobald man aufhört,
treibt man zurück. - Dieser Satz, der natürlich immer
schon richtig war, hat durch die rasante technologische
Entwicklung, die wir aktuell erleben, eine neue Relevanz erfahren. Tatsächlich ist die Digitalisierung - um
im Bild des Ruderers zu bleiben - ein gewaltiger Strom.
Wir brauchen eine hohe Schlagzahl, um mit den schnellen Veränderungen in der Arbeits- und Lebenswelt mitzuhalten; denn nicht nur unsere Art des Einkaufens und
unseres Kommunizierens ändert sich, sondern auch, wie
wir arbeiten.
Weiterbildung und Qualifizierung werden deshalb für
jede und für jeden von uns immer wichtiger. Weiterbildung und Qualifizierung sind dabei logischerweise die
beste Versicherung gegen Arbeitslosigkeit. Das ist der
Grundgedanke, der Kern unseres Gesetzentwurfs. Dabei
haben wir insbesondere zwei Gruppen im Blick: geringqualifizierte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und
Menschen, die schon lange vergeblich Arbeit suchen.
Für sie verbessern und erweitern wir die Fördermöglichkeiten. Sie bekommen eine bessere Chance auf einen
Berufsabschluss und damit auf eine gute und dauerhafte
Beschäftigung.
({0})
Qualifizierung lohnt sich aber nicht nur für den Einzelnen. Qualifizierung ist auch eine Zukunftsinvestition
für das Land. Unsere Wirtschaft wird mehr Fachkräfte
brauchen, als künftig zur Verfügung stehen, und die Wirtschaft braucht Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, die
mit ihrer Qualifizierung auf der Höhe der Zeit sind. Dabei können wir auf niemanden verzichten.
Was machen wir nunmehr mit diesem Gesetzentwurf?
Das Gesetz, dessen Entwurf wir heute beraten, wird die
Weichen so stellen, dass Lernen und Qualifizierung ganz
selbstverständlich etwas Lebenslanges sind. Das gilt für
die Menschen, die hier leben, das gilt aber genauso für
die, die bei uns Schutz suchen und einen Neustart in
Deutschland wagen wollen. Auch Flüchtlingen soll die
Tür offen stehen, sich zu qualifizieren und damit auf dem
deutschen Arbeitsmarkt langfristig Fuß zu fassen.
({1})
Was schlagen wir in diesem Entwurf konkret vor?
Erstens. Wir sagen denen, die Schwierigkeiten bei
Grundkompetenzen wie Lesen, Schreiben, Mathematik
oder IT haben, dass das kein Hindernis mehr sein soll.
Bei Bedarf können sie das vor oder begleitend zu einer
Weiterbildung nachholen.
({2})
Deutschland hat hier auch international Aufholungsbedarf.
Zweitens. Wir wollen Bildungserfolge belohnen. Mit
Erfolgsprämien wollen wir Anreize setzen, eine mehrjährige Weiterqualifizierung auch bis zum Berufsabschluss
durchzuhalten und abzuschließen.
({3})
Heute bricht nahezu jeder Vierte vorzeitig seine berufsabschlussbezogene Weiterbildung ab. Das führt nicht nur
zu Frustrationen bei den Leuten selbst, sondern es kostet
natürlich auch eine Menge Geld. Darum bin ich mir sicher: Erfolgsprämien lohnen sich für alle.
({4})
Drittens. Wir wollen Weiterbildung gerade in kleinen
und mittleren Unternehmen erleichtern. Deshalb sollen
in Betrieben mit weniger als 250 Beschäftigten auch
Weiterbildungen gefördert werden, die außerhalb der
Arbeitszeit liegen. Das ist ein echtes Anliegen des Mittelstands.
Viertens. Für Menschen, die nur sehr schwer in Arbeit zu vermitteln sind, verlängern wir die Möglichkeit,
sich im Arbeitsalltag im Betrieb zu erproben. Konkret
geht es hier um Maßnahmen zur Aktivierung und beruflichen Eingliederung, die bei oder von einem Arbeitgeber durchgeführt werden. Ihre Dauer soll in Zukunft
zwölf statt bislang sechs Wochen betragen können. Das
ist besonders für langzeitarbeitslose Menschen eine gute
Chance, um in die berufliche Praxis wieder reinzukommen. Aber es ist zugleich auch eine gute Möglichkeit für
Flüchtlinge, in unsere Arbeitswelt hineinzufinden. Damit
verbindet sich nicht zuletzt die Chance, schneller und
besser Deutsch zu lernen und sich zu integrieren. Als
Kollegin oder Kollege gehört man schließlich zum Team.
Fünftens. Wir verbessern den Schutz für berufliche
Auszeiten bei Weiterbildung oder Kindererziehung nach
dem dritten Lebensjahr. Wir schaffen die Möglichkeit zur
freiwilligen Weiterversicherung, um Lücken im Versicherungsschutz zu vermeiden. Damit tragen wir auch der
Entwicklung Rechnung, dass die Lebensläufe schlichtweg vielfältiger werden.
Wir wollen Weiterbildung möglichst attraktiv gestalten - für Arbeitgeber und für Beschäftigte. Denn wir sitzen im gleichen Boot. Wenn sich alle gemeinsam in die
Riemen legen, kommen wir insgesamt schneller voran.
Das wollen wir mit diesem Gesetzesentwurf erreichen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Vizepräsident Johannes Singhammer
Für die Fraktion Die Linke spricht jetzt die Kollegin
Sabine Zimmermann.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Nichts schützt so sehr vor Erwerbslosigkeit
wie eine gute, solide Ausbildung. Zu diesem Ergebnis
kommen viele Studien. Heute werden es viele von Ihnen sagen. Ich glaube, jeder hier in diesem Hause weiß
das. Über diese Einsicht sollte es auch hier in diesem
Hause keine Meinungsunterschiede geben. Das Risiko,
erwerbslos zu sein, hängt also eng mit der Qualifikation
zusammen. Je niedriger sie ist, desto schlechter sind die
Chancen auf dem Arbeitsmarkt.
Nun dürfen wir verblüfft feststellen, dass dies auch
in der Begründung des vorliegenden Gesetzesentwurfes
ausgeführt wird: Qualifikation sei der beste Schutz vor
Erwerbslosigkeit, und dies unterstreiche den Stellenwert
von Aus- und Weiterbildung.
({0})
- Ja, Kollege Zimmer. - Das ist sehr, sehr schön, und
das würden wir Linke auch sofort unterschreiben. Aber
bei Ihnen - das muss ich Ihnen sagen - ist es einfach nur
leeres Geschwätz.
({1})
Weder in Ihrer bisherigen Arbeitsmarktpolitik hat sich
diese Erkenntnis wiedergefunden noch prägt sie dieses
Gesetz. Da können Sie sich empören, wie Sie möchten.
Das ist alles überflüssig; denn das Einzige, was Sie mit
diesem Gesetz tun, ist, Aktivitäten vorzutäuschen.
({2})
Ich sage Ihnen auch, warum. Das ist ein weiteres Mal
eine reine Ankündigungspolitik ohne jede Substanz, eigentlich so, wie wir es schon immer von dieser Bundesregierung zum Thema Arbeitsmarktpolitik gewohnt sind.
({3})
Aktuell verfügen 46 Prozent aller Erwerbslosen über
keine abgeschlossene Berufsausbildung. Im Bereich des
SGB II sind es sogar 57 Prozent. Allein im SGB II hatten
wir im Jahr 2015 1,1 Millionen erwerbslose Menschen
ohne Berufsausbildung. Dem stehen nach den aktuellsten
Zahlen im Hartz-IV-Bereich 27 835 geförderte Teilnehmerinnen und Teilnehmer an Maßnahmen zur Erlangung
eines Berufsabschlusses gegenüber. So unterstreicht die
Bundesregierung den Stellenwert von Aus- und Weiterbildung in der Arbeitsmarktpolitik. Die Linke sagt: Sie
täuschen die Bürgerinnen und Bürger mit schönen Worten, und es folgen keine Taten.
({4})
Warum machen Sie den Menschen, den über 1 Million
Menschen, kein Angebot, Herr Zimmer?
({5})
Ich sage es Ihnen. Sie haben die Erwerbslosen aufs Abstellgleis geschoben. Das ist Ihre Arbeitsmarktpolitik
der letzten Jahre. Da wird die Linke nie mitmachen. Das
muss an dieser Stelle gesagt werden.
({6})
Und nicht nur das. Sie verweigern auch eine effektive Unterstützung. Ihre Alternative - die nenne ich Ihnen
jetzt auch - ist, die Menschen zu drangsalieren,
({7})
zu sanktionieren und ihnen in vielen Fällen sogar das
Existenzminimum zu verweigern. Das ist unmenschlich,
und das muss hier deutlich gesagt werden, meine Damen
und Herren.
({8})
Dass Sie sich auch noch trauen, hier von einer Verbesserung des Schutzes in der Arbeitslosenversicherung
zu schwafeln, grenzt schon etwas an Volksverdummung.
Von den Punkten, die Sie, Frau Kramme, genannt haben,
sind viele freiwillig. Das, was sich jemand im Niedriglohnbereich freiwillig leisten kann, darf er dann noch von
seinem Lohn bezahlen. Das ist für mich keine wirkliche
Verbesserung der Arbeitslosenversicherung.
({9})
Weil Sie anscheinend auch jeden Bezug zur Lebensrealität vieler Erwerbsloser verloren haben, schildere ich
Ihnen einmal die Situation dieser Menschen. Sie berichten mir nämlich oft von ihren frustrierenden Erfahrungen. Viele möchten sich weiterbilden und qualifizieren.
Sie haben sich genaue Gedanken darüber gemacht, was
für einen neuen Job sie suchen und was dabei helfen
könnte. Aber es kommt die Ernüchterung, wenn sie zum
Amt kommen, zum Jobcenter oder zum Arbeitsamt, wo
man ihnen dann sagt: Weiterbildung? Für Sie nicht.
Ursache ist die extreme Unterfinanzierung der Arbeitsmarktpolitik, der Kahlschlag, der im Jahre 2010 von
Ihnen so richtig eingeleitet wurde. Wenn Arbeitsmarktpolitik keine Chancenverhinderungspolitik sein soll, wie
es momentan aufgrund Ihrer Politik der Fall ist, muss sie
ausfinanziert sein. Nehmen Sie endlich Geld in die Hand,
um Weiterbildung zu finanzieren, statt einfach nur herumzuschwafeln!
({10})
Investieren Sie in die Menschen, anstatt sie zu demoralisieren! Unterstützen Sie die Stärken und die vorhandenen Potenziale, statt sie den Erwerbslosen abzusprechen!
Unterstützen Sie die gute Beschäftigung! Stoppen Sie
endlich die verdeckte Förderung der Wirtschaft im Zusammenhang mit Dumpinglöhnen und der Aufstockung
durch Hartz IV! Das darf es nicht mehr geben.
({11})
Für die Förderung muss deutlich mehr Geld zur Verfügung gestellt werden; aber das muss man natürlich auch
wollen. Die Linke fordert dies seit vielen Jahren. Wenn
Sie nicht bereit sind, für eine ordentliche Finanzierung
in der Weiterbildung zu sorgen, dann wird sich hier auch
nichts ändern. Notwendig ist ein Rechtsanspruch auf berufliche Weiterbildung. Sie würden staunen, wie viele Erwerbslose davon Gebrauch machen würden. Die Linke
sagt deutlich: Es geht nicht nur um Weiterbildungsangebote, sondern hier muss auch an anderen Stellschrauben
gedreht werden. Zum Beispiel muss dafür gesorgt werden, dass Alleinerziehende, die eine Weiterbildung machen wollen, mit einem Kitaplatz versorgt sind. Das ist
auch sehr wichtig.
Jetzt wollen Sie eine Weiterbildungsprämie für das
Bestehen der Zwischenprüfung und der Abschlussprüfung einführen.
({12})
Das ist ein richtiger Schritt; das spreche ich Ihnen auch
gar nicht ab.
({13})
Aber das Entscheidende ist doch - da müssen Sie mir
auch zuhören -, dass die Berufsqualifizierung durch einen Bildungszuschuss begleitet wird, wodurch geringere
Einkommen gerade während dieser Zeit ausgeglichen
werden. Und da geht es nicht um große Beträge. Für viele Menschen entscheidet sich das an wenigen Euro, ob
genug Geld vorhanden ist, um den Alltag bewältigen zu
können, wenn sie eine Weiterbildung machen.
Es gibt auch noch andere Faktoren, die hier wichtig
sind. In Ihrem Gesetzentwurf findet sich dazu aber leider nichts. Fehlanzeige! Der Handlungsbedarf ist riesig,
doch die Bundesregierung bewegt sich hier bestenfalls
um einige Millimeter. Dazu gehört auch, dass Sie in Ihre
Überlegungen zum Beispiel überhaupt nicht mit einbeziehen, dass Weiterbildungsinitiativen mit einem öffentlich geförderten Beschäftigungssektor flankiert werden
müssen; denn nach wie vor gibt es doch bei uns Regionen, in denen es zu wenige Arbeitsplätze gibt, aber wichtige gesellschaftliche Aufgaben vorhanden sind.
Meine Damen und Herren, mittlerweile werden über
zwei Drittel der Erwerbslosen nicht mehr durch die
Erwerbslosenversicherung betreut, sondern im HartzIV-System. Fast ein Viertel der Beschäftigten, die erwerbslos werden, fallen direkt in Hartz IV. Diese Zahlen
machen doch ganz deutlich, dass die Arbeitslosenversicherung in dieser Form zum Auslaufmodell geworden
ist. Nun aufgrund von minimalen Detailregelungen von
einer Stärkung durch den vorliegenden Gesetzentwurf zu
sprechen, ist aus unserer Sicht wirklich eine Frechheit.
Soll die Arbeitslosenversicherung wieder vom Sonderfall zum Regelfall werden, muss unter anderem die
Rahmenfrist wieder von zwei auf drei Jahre erweitert
werden
({14})
und der Anspruch auf Arbeitslosengeld bereits nach vier
Monaten Beitragszeit entstehen. Außerdem müssten ältere Erwerbslose einen Anspruch darauf haben, länger
Arbeitslosengeld zu erhalten.
Ich komme zum Schluss: Nichts von alledem findet
sich in Ihrem Gesetzentwurf. Aber das sind eigentlich
elementare Punkte sozialer Gerechtigkeit und des sozialen Friedens. Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Das sind, wie
ich glaube, Worte, die Sie hier in diesem Hause schon
lange vergessen haben.
Danke schön.
({15})
Der Kollege Karl Schiewerling spricht jetzt für die
CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten den vorliegenden
Gesetzentwurf in der ersten Lesung auf dem Hintergrund
einer sich in Deutschland verändernden Arbeitswelt.
({0})
Dadurch müssen wir eine höhere Flexibilität an den Tag
legen und uns stärker auch auf die Bereiche der beruflichen Bildung und der beruflichen Integration konzentrieren.
Es ist mein Schicksal, dass ich immer nach den Linken reden darf
({1})
und jedes Mal das große Glück habe, ihnen sagen zu
müssen und zu dürfen - lassen Sie mich das, Frau Kollegin Zimmermann, auch jetzt zunächst am Anfang sagen -, dass ihre Realitäten mit unseren Realitäten nicht
übereinstimmen.
({2})
Unsere Realität lautet: Wir haben eine hohe Beschäftigung, wir haben eine niedrige Arbeitslosigkeit.
({3})
Ich darf Sie darauf hinweisen, dass über 1 Million Menschen in den letzten Jahren zusätzlich in eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung gekommen sind
({4})
Sabine Zimmermann ({5})
und dass wir diesen Schritt gegangen sind, ohne dass es
nötig war, dass die Bundesagentur für Arbeit oder wer
auch immer Geld in die Hand nehmen musste, weil sie
ganz einfach alleine ihren Weg in den Arbeitsmarkt gefunden haben. Die Gleichung „Weniger Mittel gleich
weniger Beschäftigung“ ist falsch; das ist eine linke Argumentation. Mit der Realität hat sie allerdings nichts zu
tun.
({6})
Ich will Sie auf einen zweiten Punkt hinweisen: Natürlich haben wir die Mittel im Bereich der Arbeitsmarktpolitik,
({7})
die wir aufgrund der Finanzkrise und der gestiegenen Arbeitslosigkeit nach dem Crash im Jahr 2007 erhöht hatten, seit 2010 wieder reduziert. Dies war möglich, weil
wir einen Aufwuchs an Beschäftigung hatten und Menschen wieder in Arbeit gekommen sind.
Mit dem Gesetzentwurf, den wir jetzt vorlegen, wollen wir gezielt dafür sorgen, dass das, was uns die Bertelsmann-Stiftung heute in einer Stellungnahme bestätigt
hat, nämlich dass Deutschland im internationalen Vergleich hinsichtlich Aufstiegsmobilität recht gut dasteht,
({8})
dass Menschen, die zunächst eine befristete Beschäftigung haben, in Deutschland eine gute Perspektive haben,
in ein unbefristetes Beschäftigungsverhältnis zu kommen,
und dass das, was wir an Flexibilität am Arbeitsmarkt
haben, jetzt durch entsprechende Hilfen im Bereich der
beruflichen Qualifizierung unterlegt werden muss. Deswegen, meine Damen und Herren, müssen wir uns den
neuen Anforderungen des Arbeitsmarktes stellen. Hier
geht es nicht um Überlegungen aus der Steinzeit. Hier
geht es darum, dass die neuen Entwicklungen - Stichworte sind hier etwa Digitalisierung, Flexibilisierung,
Arbeit 4.0 - bei den Beschäftigten und bei den Betrieben
neue Arbeitssituationen erfordern. Diesen Herausforderungen stellt sich der vorliegende Gesetzentwurf.
Ich halte es für einen guten und für einen wichtigen
Schritt, wenn wir zum Beispiel kleinen und mittleren Betrieben einen Weg eröffnen, dass sie dann, wenn sie ihr
Personal außerhalb der Beschäftigungszeit qualifizieren
und schulen, dafür auch Unterstützung durch die Agentur
für Arbeit bekommen können. Das ist ein wichtiger Hinweis. Wir helfen auch kleinen und mittleren Betrieben im
Bereich der beruflichen Qualifizierung. Das ist wichtig
für den Schutz und zum Erhalt von Arbeitsplätzen, ein
nicht zu unterschätzender Aspekt vor dem Hintergrund
der internationalen Entwicklung, die wir im Augenblick
erleben.
Meine Damen und Herren, wir wollen mit diesem
Gesetzentwurf natürlich auch etwas für Menschen ohne
Berufsabschluss tun. Frau Kollegin Zimmermann hat darauf hingewiesen, wie viele Menschen das sind. Darauf
reagieren wir im Augenblick,
({9})
indem wir dabei helfen, dass auch Kulturtechniken wie
Rechnen, Schreiben und Lesen vermittelt werden. Wir
wollen genau in diesem Bereich einen Ansatz finden. Ich
kann beim besten Willen - so viel dazu zu sagen, sei mir
gestattet - nicht erkennen, was daran ernsthaft zu kritisieren ist.
({10})
Ein weiterer Punkt, den wir mit dem Gesetz umsetzen, ist die Weiterbildungsprämie für Menschen, die sich
schwertun, sich zu motivieren, die Ausbildung, die sie
begonnen haben, tatsächlich zu beenden. Auch das ist ein
Teil der Wahrheit. Nicht alle, die jetzt langzeitarbeitslos
sind und ein Angebot der Agentur für Arbeit oder des
Jobcenters erhalten, nehmen dies, aus welchen Gründen
auch immer, an. Wir haben hier unterschiedliche Lebenswirklichkeiten und Lebensrealitäten. Wir machen keine
Gleichmarschpolitik, sondern wir müssen sehen, wie wir
den jeweiligen Bedarfslagen der Menschen entgegenkommen können.
Einen Punkt, der ebenfalls im Gesetzentwurf steht,
halte ich dabei auch für wichtig: Wir haben den Blick
auch auf diejenigen gerichtet, die kurzfristig beschäftigt sind, weil ihre berufliche Tätigkeit eine kurzfristige
Beschäftigung impliziert. In der Situation befinden sich
zum Beispiel die Künstlerinnen und Künstler. Wir alle
schauen abends gespannt auf den jeweiligen Kommissar
des Tatorts oder auf einen anderen Star, der gerade die
Täter ermittelt. Aber all diejenigen, die im Hintergrund
im künstlerischen Bereich tätig sind und nur ein kurzfristiges Arrangement haben, sehen wir nicht. Diese zahlen
zwar für die sechs Wochen, die sie dort tätig sind, in die
Arbeitslosenversicherung ein, haben aber aufgrund der
Gestaltung kaum eine Möglichkeit, daraus Geld zu bekommen, wenn sie tatsächlich einmal kein Arrangement
haben. Hierfür haben wir im Gesetz eine Regelung, die
wir bis Mitte 2018 verlängern werden.
({11})
Unser erklärtes Ziel ist es darüber hinaus, in diesem Bereich zu dauerhaften Regelungen zu kommen. Ich persönlich halte das für einen wichtigen Punkt zur Förderung und Unterstützung gerade der Menschen, die im
Kulturbereich tätig sind.
Der heute vorliegende Gesetzentwurf dient dem
Zweck, die berufliche Qualifizierung und Weiterbildung
zu stärken, dient dazu, die Arbeits- und Beschäftigungssituation zu verbessern und zu verstetigen, und dient
letztendlich dazu, denjenigen, die der Hilfe dringend bedürfen, die entsprechende Unterstützung zu geben. Insofern ist das eine gute Entwicklung, die wir hier für die
Menschen einleiten.
Herzlichen Dank.
({12})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Brigitte Pothmer,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Koalitionsfraktionen!
Liebe Bundesregierung! Sie haben recht
({0})
- mehr Beifall! -: Der deutsche Arbeitsmarkt ist ein
Fachkräftemarkt. Das ist auch der Grund, warum, Herr
Schiewerling, die Geringqualifizierten und die Langzeitarbeitslosen nicht von der guten Arbeitsmarktsituation
profitieren.
Sie haben recht, wenn Sie sagen - das beschreiben
Sie selbst -, dass besonders diejenigen, die eine Weiterbildung nötig hätten, in den entsprechenden Angeboten
nicht zu finden sind bzw. vollkommen unterrepräsentiert
sind. Das muss sich ändern.
({1})
Richtig ist auch, dass die Arbeitslosenversicherung
den immer bunter werdenden Erwerbsverläufen Rechnung tragen muss. Flexibel arbeitende Menschen brauchen nicht weniger, sondern mehr Schutz.
({2})
Mit dieser Erkenntnis laufen Sie bei uns und insbesondere bei mir wirklich offene Türen ein. Sie sehen also, in
Bezug auf die Problembeschreibung passt kein Blatt Papier zwischen uns. Was die Lösungsansätze angeht, steht
allerdings ein ganzer Bücherschrank zwischen uns.
({3})
Frei nach Erich Kästner: „Wo bleibt denn das Positive,
Frau Pothmer?“, möchte ich zunächst zwei Punkte hervorheben, die ich ausdrücklich unterstütze. Dies ist der
Vorrang der Weiterbildung vor Vermittlung,
({4})
zumindest bei Arbeitslosen ohne eine Berufsausbildung.
Das haben wir immer gefordert. Ich freue mich, dass Sie
sich dieser Forderung inzwischen angeschlossen haben.
({5})
Gut finde ich auch - das hat Herr Schiewerling erwähnt -, dass es nach dem vorliegenden Gesetzentwurf
die Möglichkeit gibt, auch Grundkompetenzen wie Lesen und Schreiben zu unterstützen und zu fördern.
({6})
Wenn wir diese Grundkompetenzen nicht fördern, dann
ist alles andere, was dem folgt, natürlich wirkungslos.
Meine Damen und Herren, richtig schlecht finde ich
aber, dass Sie die Weiterbildung jetzt auch für Vergabeverfahren öffnen wollen. Das ist nichts anderes als ein
Billigmacher.
({7})
Das schreiben Sie in Ihrem Gesetzentwurf ja auch, wenn
Sie in diesem Zusammenhang ausdrücklich von deutlich
kostenmindernder Wirkung sprechen. Dieser Billigmacher wird uns noch teuer zu stehen kommen.
({8})
Wir wissen doch, dass genau solche Ausschreibungen
zu einem Preisdruck führen, der erheblich zulasten der
Qualität geht. Das kennen wir bereits von allen anderen
arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen.
({9})
Ich kann nicht verstehen, dass Sie diesen Fehler in diesem Rahmen wiederholen wollen.
({10})
Ganz grundsätzlich gibt es in Ihrem Gesetzentwurf ein
riesiges Gap zwischen der Problemlage, die Sie selbst,
wie ich finde, richtig beschreiben und analysieren, und
der Dimension der Lösung, die Sie für diese Probleme
anbieten. Dabei liegen die Fakten auf dem Tisch.
Erstens. Sie sprechen selbst von der Tatsache, dass
die Digitalisierung die Halbwertszeit von Wissen noch
einmal rapide absenken wird. Regelmäßige Weiterbildung und regelmäßige Qualifizierung werden deswegen
in Zukunft genauso wichtig sein wie die Erstausbildung.
Aber dazu bietet Ihr Gesetzentwurf überhaupt gar keine
Antworten.
({11})
Zweitens. Geringe Qualifikation, prekäre Beschäftigung und Langzeitarbeitslosigkeit gehen bekanntermaßen Hand in Hand. Trotzdem bleiben gerade bei der
Weiterbildung diejenigen außen vor, die es am nötigsten
hätten. Das betrifft sowohl die Gruppe der Beschäftigten
als auch die Gruppe der Arbeitslosen und insbesondere
die SGB-II-Bezieher. Frau Kramme, dabei geht es auch
nicht einfach nur ums Durchhalten. Das hat nämlich
Gründe, meine Damen und Herren, die die Betroffenen
selbst gar nicht zu verantworten haben.
Fast die Hälfte aller betroffenen Arbeitslosen sagt, sie
könnten sich eine Fortbildung schlicht und ergreifend
nicht leisten, weil sie über einen so langen Zeitraum hinweg mit ihren Familien nicht vom Arbeitslosengeld oder
von Hartz IV leben können.
({12})
Das werden Sie mit Ihrer Weiterbildungsprämie, die zur
Halbzeit der Ausbildung und bei Abschluss bezahlt wird,
auch nicht in den Griff bekommen. Es ist doch eine absurde Situation, dass diejenigen, die einem 1-Euro-Job
nachgehen, monatlich mehr Geld in der Tasche haben als
diejenigen, die sich einer Fort- und Weiterbildung unterziehen, sich also einer anstrengenden Aufgabe widmen.
Ich frage Sie wirklich: Was setzen Sie hier eigentlich für
Anreize?
({13})
Wenn Sie da weiterkommen wollen, dann brauchen
wir eine monatliche Prämie; denn die Miete ist monatlich
fällig, die Kosten fallen monatlich an. Ich glaube, nur so
können Sie an dieser Stelle weiterkommen.
({14})
Weiterbildung muss sich lohnen, und zwar von Anfang
an. Sie muss so ausgestaltet sein, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer eben nicht gezwungen werden, den
erstbesten Hilfsarbeiterjob anzunehmen. Wir wissen
doch, dass das nicht nachhaltig ist und die Betroffenen
in kürzester Zeit wieder vor der Tür der Jobcenter stehen
werden.
Ein anderes Beispiel, das ich Ihnen nennen möchte, betrifft die Frauen. Ein Drittel aller Frauen sagt, sie
könnten wegen der Kinder oder der Pflege von Alten an
keiner Weiterbildung teilnehmen. Ich frage Sie: Womit
wird denn jetzt auf die individuellen Bedürfnisse dieser
Frauen Rücksicht genommen?
Ich prognostiziere Ihnen: Mit diesem Gesetzentwurf
werden Sie eben nicht erreichen, dass diese Kerngruppe,
die wir unterstützen müssen, in die Fort- und Weiterbildung kommt, sondern dieser Personenkreis wird weiterhin durchs Raster fallen.
Ein richtiges Armutszeugnis - und das haben Sie auch
noch positiv hervorgehoben, Herr Schiewerling - ist die
weitere Verlängerung der erwiesenermaßen vollkommen
wirkungslosen Sonderregelung für kurzfristig Beschäftigte. 0,7 Prozent der Gruppe derjenigen, die Sie selbst
als betroffen definiert haben, erreichen Sie mit dieser
Maßnahme, und dann heben Sie das auch noch positiv
hervor. Herr Schiewerling, ich kann jetzt nicht schon
wieder mit der lachenden Koralle kommen. Aber dringend notwendig wäre es.
({15})
Ich finde, es ist ein Grund zum Fremdschämen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD-Fraktion,
wenn dieses Politikversagen von Herrn Kapschack und
Herrn Blienert in einer Pressemitteilung noch als sozial- und kulturpolitischer Fortschritt gefeiert wird. Herr
Kapschack, das ist kein sozial- und kulturpolitischer
Fortschritt, sondern es ist eine Beerdigung dritter Klasse
Ihrer eigenen Koalitionsvereinbarung.
({16})
Diese Regelung ist und bleibt Murks. Das hat Ihnen der
Bundesrat ja auch in Ihrer Stellungnahme noch einmal
attestiert.
({17})
Die Arbeitslosenversicherung muss genauso flexibel
sein, wie die Menschen heute längst arbeiten. Sie muss
diejenigen absichern, die abhängig beschäftigt sind, die
selbstständig sind, die unbefristet, auf Zeit, in Projekten
oder auf mehreren Stellen gleichzeitig arbeiten. Das leistet dieser Gesetzentwurf nicht.
Die Arbeitsministerin hat den von ihr entwickelten
Dialogprozess „Arbeiten 4.0“ angeschoben, und sie will
Zukunftsszenarien entwickeln. Meine Damen und Herren, die Zukunft hat längst begonnen. Mit diesem Gesetzentwurf werden Sie nicht einmal dem gerecht, was
wir jetzt an Realitäten vorfinden. Zukunftstauglich ist der
jedenfalls nicht.
({18})
Meine Damen und Herren, früher hieß es ja immer:
„Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr“.
Das ist weder richtig, noch ist es zeitgemäß. Deswegen
sage ich Ihnen: Wir brauchen einen anderen Gesetzentwurf. Wir brauchen einen Gesetzentwurf, der die Zukunftsfragen wirklich beantwortet. Ich hoffe, dass wir
da im Beratungsprozess noch ein wenig was verbessern
können. Ich hoffe, da gibt es noch Bewegung.
Ich danke Ihnen.
({19})
Der Kollege Michael Gerdes spricht als Nächster für
die SPD.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Frau Pothmer, ja, wir haben
Antworten. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung
bringt neuen Schwung in die aktive Arbeitsmarktpolitik:
bestehende Instrumente werden erweitert, gute Ansätze
in der Weiterbildungsförderung werden ausgebaut. Damit reagieren wir auf die Erkenntnis, dass einer durchaus
großen Gruppe von Arbeitnehmern Grundkompetenzen
oder ein Berufsabschluss fehlen. Der Zusammenhang
liegt auf der Hand: Je geringer die Qualifikation, desto
schlechter stehen die Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Es
gilt auch der Umkehrschluss: Wer erwerbstätig ist und
damit regelmäßig gefordert ist, hat durchschnittlich mehr
Kompetenzen als Menschen in Langzeitarbeitslosigkeit.
Das ist nachvollziehbar. Wissen, das nicht angewendet
wird, verblasst.
Je nach Beruf kann Wissen aber auch schnell veraltet
oder überholt sein. Man denke an technische Berufe, die
dem steten Fortschritt ausgesetzt sind. Die Ausbildung
eines Elektroinstallateurs im Jahre 2000 unterscheidet
sich massiv vom heutigen Berufsalltag. Neue Technologien bestimmen heute das Tun. Der Laptop ersetzt weitgehend den Schraubendreher.
Arbeitsförderung mit Zukunft heißt also für uns: Beschäftigungsfähigkeit sichern. Das geht nicht ohne Bildung. Das geht nicht ohne stetige Auffrischung und Erweiterung des eigenen Könnens. Die Verantwortung für
berufliche Weiterbildung ruht auf mehreren Schultern.
Staat, Arbeitgeber und Arbeitnehmer müssen ihren Beitrag leisten.
({0})
Ja, auch die Arbeitnehmer sind gefordert, eigenverantwortlich zu handeln.
Unser Beitrag, also der des Gesetzgebers, besteht darin, den Rahmen der Arbeitsförderung an den Wandel
der Arbeitswelt anzupassen. Die größte Herausforderung
sehe ich in der Passgenauigkeit von Bildungsangeboten.
Weiterbildung muss auf die Bedürfnisse bzw. Kompetenzen der Arbeitnehmer zugeschnitten sein. Und Weiterbildung muss zu den Anforderungen des Arbeitsmarktes
passen.
({1})
Es macht keinen Sinn, Menschen zum Gabelstaplerkurs
zu schicken, wenn diese Qualifikation auf dem Arbeitsmarkt aktuell keine Rolle spielt. Es gilt, den Arbeitsmarkt
vorausschauend zu beobachten und dann bedarfsgerecht
zu qualifizieren. Nur so haben die Menschen eine Chance, in Arbeit zu kommen und in Arbeit zu bleiben.
Der Gesetzentwurf nimmt die Perspektive der Geringqualifizierten ein. Das ist genau der richtige Ansatz; denn
genau für diese Personengruppe müssen wir die Chancen
auf dem Arbeitsmarkt verbessern.
({2})
Unsere Botschaft: Wir schreiben niemanden ab, erst recht
nicht dann, wenn es um grundlegendes Handwerkszeug
wie Lesen, Schreiben oder Rechnen geht. Wir unterstützen aber auch kleine und mittlere Unternehmen, die ihren Mitarbeitern Weiterbildungslehrgänge anbieten. Die
Förderung wird ausgeweitet und kann deshalb bald auch
außerhalb der Arbeitszeit stattfinden. Das ist gerade für
kleine und mittlere Unternehmen wertvoll. Mit dieser Art
der Förderung bauen wir vor und können Fachkräftemangel an der einen oder anderen Stelle vermeiden.
Wir wollen möglichst viele zum Nachholen eines
Schul- oder Berufsabschlusses motivieren. Dabei darf
das Alter der Arbeitnehmer aus meiner Sicht nur eine untergeordnete Rolle spielen. Grundkompetenzen helfen in
jeder Lebensphase.
({3})
An dieser Stelle müssen wir auch sensibilisieren und
mehr Arbeitnehmer davon überzeugen, dass Weiterbildung Perspektiven schafft. Bildung ist Kapital!
Neu ist, dass wir Bildungserfolge bei abschlussbezogener Weiterbildung honorieren. Eine Geldprämie kann
durchaus ein Anreiz beim Lernen sein. Weiterbildung
muss sich inhaltlich, aber auch monetär lohnen.
({4})
Mindestens genauso wichtig wie die finanziellen Anreize sind mir aber auch die begleitenden Hilfen, und
damit meine ich die soziale Ansprache von Geringqualifizierten oder Langzeitarbeitslosen. Lernen fällt den wenigsten leicht. Lernen kostet Kraft und funktioniert nur
mit Engagement. Oftmals müssen Lern- und Arbeitstechniken von Grund auf neu vermittelt werden. Das kostet
Kraft, das bringt aber auch Ängste mit sich, die abgebaut
werden müssen. Und manchmal fehlt es an Durchhaltevermögen, manchmal schrecken auch Formalitäten und
Strukturen ab. Hier brauchen wir Lotsen, die mit Rat und
Tat zur Seite stehen und Fortbildungswillige durch den
Lernprozess begleiten: Warum soll ich mich überhaupt
weiterbilden? Welche Ziele hat die Weiterbildung? Wer
fördert was? Wie komme ich erfolgreich durch meine
Fortbildung?
Wir brauchen mehr Weiterbildungsberatung. Die berufliche Weiterbildung ist für Nichtexperten ein Dschungel: intransparente Förderwege, unübersichtliche Angebote. Die Bundesagentur für Arbeit hat an verschiedenen
Standorten Pilotprojekte zur Weiterbildungsberatung
durchgeführt. Die bisher gesammelten Erfahrungen machen Mut. Individuelle Beratung kann den Weg in den
Arbeitsmarkt ebnen und beugt Arbeitslosigkeit vor.
({5})
Meine Damen und Herren, mit diesem Gesetzentwurf
gehen wir konsequent den eingeschlagenen Weg der Förderung von Beschäftigten weiter. Es ist ja nicht so, dass
wir unsere Hausaufgaben bisher nicht gemacht hätten,
Frau Zimmermann. Ich erinnere daran, dass wir erst vor
einigen Wochen mit dem Meister-BAföG eine erhebliche Verbesserung geschaffen haben. Mit der assistierten
Ausbildung helfen wir sowohl den Azubis ins Berufsleben als auch den Ausbildungsbetrieben. Ich glaube, dabei
wird es nicht bleiben. Angesichts der künftigen Herausforderungen - Stichwort „Arbeit 4.0“ - haben wir noch
viel Arbeit vor uns. Wir müssen die berufliche Bildung
mehr und mehr ausbauen.
Herzlichen Dank und Glück auf!
({6})
Nächster Redner ist der Kollege Albert Weiler für die
CDU/CSU.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Werte Kolleginnen und Kollegen! Mit dem
vorgelegten Gesetzentwurf zur Stärkung der beruflichen
Weiterbildung und des Versicherungsschutzes in der Arbeitslosenversicherung setzen wir nun als Koalition aus
Union und SPD ein gemeinsames Vorhaben aus unserem
Koalitionsvertrag um.
Unser Arbeitsmarkt ist aufnahmefähig wie selten zuvor. Die Nachfrage nach Fachkräften ist aufgrund des
wirtschaftlichen, technischen und qualifikationsspezifischen Strukturwandels enorm hoch und stetig wachsend.
Das sollte eigentlich Chancen bei der Bekämpfung der
Langzeitarbeitslosigkeit eröffnen. Leider müssen wir
aber zusehends feststellen, dass Personen, die seit vielen
Jahren arbeitslos sind, bisher selten Zugang zum ersten
Arbeitsmarkt finden.
Deswegen haben wir uns vorgenommen, erstens geringqualifizierte Langzeitarbeitslose verstärkt in existenzsichernde Arbeit zu vermitteln, zweitens sie passgenau zu qualifizieren und zu begleiten sowie drittens sie
bei Bedarf auch nachhaltig zu betreuen und dafür die
notwendigen Rahmenbedingungen zu schaffen.
Der Gesetzentwurf listet eine ganze Reihe von meines Erachtens geeigneten Maßnahmen auf. Der Zugang
zur beruflichen Weiterbildung für geringqualifizierte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Langzeitarbeitslose
und Ältere wird verbessert, und damit wird die berufliche Qualifikation enorm erhöht. Ich halte es persönlich
für sehr wichtig, dass wir vor allem die meist jungen
Erwerbstätigen ohne Berufsabschluss in den Fokus nehmen. Zwar ist in der Gruppe der 25- bis 34-Jährigen der
Anteil der Personen ohne abgeschlossene Berufsausbildung in den letzten Jahren von 17,8 auf 13,9 Prozent gesunken; das ist aber leider immer noch zu viel. Vor dem
Hintergrund unseres enormen Fachkräftemangels brauchen wir einfach alle Menschen in unserem Land und
müssen helfen, sie erfolgreich zu einem Berufsabschluss
zu führen.
Mit dem geplanten Gesetz wollen wir alles dafür tun,
die Menschen erstens in Arbeit zu bringen, zweitens in
Arbeit zu halten und drittens - sehr wichtig - schon vor
eventuell drohender Arbeitslosigkeit in ihren Betrieben
zu schulen, umzuschulen und weiterzubilden. Wie werden wir das erreichen?
Wir werden beispielsweise bei einer betrieblichen
Umschulung umschulungsbegleitende Hilfen erbringen,
um einen erfolgreichen Ausbildungsabschluss zu unterstützen. Frau Pothmer, wenn Sie jetzt aufhören, mit Ihrem Handy zu hantieren, und zuhören, dann erhalten Sie
noch mehr Lösungen.
({0})
Wir werden die Weiterbildungsförderung für Beschäftigte in kleinen und mittleren Unternehmen weiter flexibilisieren, die für jüngere Arbeitnehmerinnen und Arbeiternehmer unter 45 Jahren bis Ende des Jahres 2020
befristet ist.
Wir werden die Förderung von Qualifizierung während des Bezugs von Transferkurzarbeitergeld einführen.
Um die Eingliederung von Langzeitarbeitslosen und
Arbeitslosen mit schwerwiegenden Vermittlungshemmnissen zu verbessern, werden wir die mögliche Dauer
von Maßnahmen verlängern. Die Hilfen zur Aktivierung
und zur beruflichen Eingliederung von Langzeitarbeitslosen, die bei oder von einem Arbeitgeber durchgeführt
werden, sollen von sechs auf zwölf Wochen ausgedehnt
werden.
Es ist zwar Aufgabe der Länder, jungen Menschen
Grundkompetenzen zu vermitteln, aber trotzdem ist es
zielführend, dass wir Förderleistungen zum Erwerb notwendiger Grundkompetenzen in den Bereichen Lesen,
Schreiben, Mathematik und Informations- und Kommunikationstechnologien anbieten.
Ich muss ehrlicherweise gestehen, dass ich mit der sogenannten Weiterbildungsprämie zur Motivation meine
Probleme habe. Verkürzt kann man sagen, dass Leute, die
nicht motiviert sind, Geld bekommen sollen. Also: Unmotivierte bekommen Geld, Motivierte kein Geld. Schon
Maslow hat gesagt, dass Geld kein Motivationsfaktor ist.
Das sehe ich genauso. Deshalb sollte man an der Stelle
noch einmal darüber nachdenken. Aber wir sind auch erst
in der ersten Lesung.
Das, meine Damen und Herren, ist der Unterschied,
und das hat auch die Anhörung am Montag noch einmal
klargemacht: Grüne und Linke wollen Arbeitslosigkeit
vor allem teuer verwalten und stellen Anträge, ohne Kosten und Nutzen, geschweige denn den Bedarf richtig zu
ermitteln.
({1})
Die Luft wird dünn. Frau Zimmermann, wenn auch Sie
einmal kurz aufpassen könnten: Sie haben keine Argumente genannt. Sie haben uns Dinge unterstellt und nur
gesagt, dass wir es nicht ernst meinten. Das ist Ihr Argument. Aber dem kann ich entgegentreten. Wir meinen es
ernst, und wir werden es tun.
Die BA hat deutlich herausgearbeitet, dass eine gleichzeitige Erweiterung der Rahmenfrist und Reduzierung
der Anwartschaftszeit hohe Zusatzkosten verursachen
würde. Bei einer Rahmenfristverlängerung auf drei Jahre
bei gleichzeitiger Reduzierung der Anwartschaftszeit auf
vier Monate, wie von der Opposition vorgeschlagen,
({2})
würde die Arbeitslosenversicherung mit schätzungsweise
1,3 Milliarden Euro belastet werden - und das jährlich.
1,3 Milliarden Euro! Mit der Verlängerung der Rahmenfristen bekämpft man aber nur die Symptome; die Ursache von Arbeitslosigkeit bleibt dabei unberücksichtigt.
Wir, Union und SPD, stärken mit unserem Gesetz das
Ziel einer breiteren und stärkeren Partizipation von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern an Fort- und Weiterbildung. Wir erhöhen zudem die Durchlässigkeit für
einen beruflichen Aufstieg. Wir verbessern damit die
Teilhabe am Arbeitsleben und in der Gesellschaft. Mit
der Möglichkeit der freiwilligen Weiterversicherung in
der Elternzeit oder bei beruflicher Weiterbildung leisten
wir zudem einen wichtigen Beitrag zur Vereinbarkeit
von Familie und Beruf. Mit der weitreichenden Versicherungspflicht für Pflegepersonen verbessern wir den
Versicherungsschutz in der Arbeitslosenversicherung für
Übergangsprozesse am Arbeitsmarkt erheblich.
Meine Damen und Herren, ich freue mich auf die
kommenden Beratungen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Vielen Dank. - Als Nächste hat Katja Mast von der
SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Die IG Metall hat einen ihrer Aktionstage mit „Bildung.
Macht. Zukunft“ überschrieben. Ich finde, besser hätte
man das, was wir heute diskutieren, nicht auf den Punkt
bringen können; denn es geht bei diesem Gesetzentwurf,
den wir heute in erster Lesung beraten, um ein Chancenund Ermöglichungsgesetz, damit mehr Menschen in der
Bundesrepublik Deutschland an Weiterbildung und Ausbildung teilhaben können.
({0})
Warum sind Bildung und Weiterbildung, die damit lebensphasenorientierter möglich sind, so wichtig für uns?
Das Wichtigste, was wir in der Bundesrepublik Deutschland haben, sind die Menschen, die hier leben, und ihre
Gestaltungskraft. Wir alle wissen, dass wir diese Gestaltungskraft mit Bildung und Weiterbildung fördern müssen. Wir alle wissen, dass in Zeiten von Digitalisierung,
demografischem Wandel und großen Herausforderungen
wie der Fachkräftesicherung und der Globalisierung die
Halbwertszeit des Wissens, das wir mit einer Berufsausbildung oder mit einem Studium einmal erworben haben,
immer kleiner wird. Das heißt, das Wissen veraltet immer
schneller. Deshalb ist dies eine Antwort der Bundesregierung auf die Frage, wie wir in der Arbeitsmarktpolitik
Aus- und Weiterbildung künftig besser fördern.
({1})
Ich will schon sagen, dass das für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ein wichtiger, ein wesentlicher Schritt in die richtige Richtung ist. Aber bei
dem, was am Ende herauskommen soll, da denken wir
viel weiter. Wir sind der festen Überzeugung, dass wir
nicht nur eine Bundesagentur für Arbeit brauchen, sondern dass wir eine Bundesagentur für Arbeit und Qualifizierung brauchen.
({2})
Wir sind der festen Überzeugung, dass wir aus der Arbeitslosenversicherung eine Arbeitsversicherung machen
müssen, eine Versicherung, die noch stärker als heute
vorsorgend agiert und die darauf setzt, dass über die ganze Erwerbsbiografie die Erwerbsfähigkeit erhalten und
ausgebaut wird. Darauf ist die wichtigste Antwort: Bildung und Weiterbildung über das ganze Leben.
({3})
Ich will schon noch sagen, Frau Pothmer: Wenn man
hier meinen Kollegen Kapschack zitiert, sollte man die
ganze Pressemitteilung gelesen haben. In der Pressemitteilung steht sehr deutlich, dass wir dringend eine Nachfolgeregelung bei den Rahmenfristen brauchen
({4})
und dass gerade die SPD bereit wäre, wenn denn die
Union mitmachte, die Rahmenfrist von 24 Monaten auf
36 Monate zu verlängern.
({5})
Das haben wir bis jetzt leider nicht zusammen hinbekommen. Aber wir bleiben dran.
Lassen Sie mich noch einmal zum Arbeitslosenversicherungsschutz- und Weiterbildungsstärkungsgesetz
kommen, ein ziemlich komplizierter Begriff, abgekürzt
AWStG - das geht ein bisschen schneller über die Lippen -, aber im Kern wird da schon das Richtige gesagt.
Wir verfolgen mit diesem Gesetz eine Doppelstrategie,
nämlich die einen so qualifiziert wie möglich in Arbeit
zu halten - das ist der Gedanke der Arbeitsversicherung,
über den ich schon gesprochen habe - und gleichzeitig
die Chancen derjenigen zu verbessern, die gar nicht in
Arbeit und Ausbildung sind. So qualifiziert wie möglich
zu arbeiten, wird durch viele Regelungen in dem Gesetz
unterstützt; aber lassen Sie mich zwei Punkte besonders
betonen.
Künftig wird es so sein, dass auch Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter in kleinen und mittelständischen Unternehmen, die jünger als 45 Jahre sind, ihre Weiterbildung
von der Bundesagentur für Arbeit mitfinanziert bekommen, auch wenn diese Qualifizierung außerhalb der Arbeitszeit stattfindet. Bisher ist dies nur in der Arbeitszeit
möglich. Jedem, der an einen kleinen Betrieb denkt, ist
klar: Das ist eine wichtige Regelung.
Umschulungsbegleitende Hilfen können gefördert
werden, und diejenigen, die nicht in Ausbildung und
Arbeit sind, können künftig Weiterbildungsprämien bekommen. Das ist wahnsinnig wichtig, weil 1 000 oder
1 500 Euro richtig viel Geld für diese Leute sind und wir
damit einen Anreiz setzen, eine begonnene Ausbildung
abzuschließen. Wir reden da ja insbesondere über Menschen, die eine zweite oder dritte Chance bekommen und
schon am Arbeitsmarkt tätig waren. Diese fangen normalerweise gar keine Ausbildung mehr an, wenn es nicht einen zusätzlichen finanziellen Anreiz gibt. Wir alle haben
einen Mehrwert davon.
Wir können Grundkompetenzen fördern. Alle wissen
doch: Damit ich eine Ausbildung erfolgreich abschließen
kann, Albert Weiler
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.
- muss ich lesen, rechnen und schreiben können. Insofern ist es wichtig, dass das jetzt endlich auch in der
Arbeitsmarktpolitik verankert wird.
Ich freue mich auf die Debatte im Ausschuss zu diesem Gesetz. Ich bin stolz, dass meine Bundesregierung
dieses Gesetz vorlegt.
({0})
Als nächste Rednerin hat Jana Schimke von der CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Verehrte Gäste auf den Besuchertribünen! Unser Arbeitsmarkt
befindet sich schon seit einigen Jahren in einer guten Verfassung; das konnten wir in der heutigen Debatte schon
mehrfach hören. Die Zahl der Arbeitslosen stabilisiert
sich auf einem vergleichsweise niedrigen Niveau, und
im europäischen Vergleich zählen die Arbeitslosenquote
und auch die Jugendarbeitslosigkeit hierzulande zu den
geringsten.
Dennoch widmet sich der heute diskutierte Gesetzentwurf Fragen der Weiterbildung und der Qualifizierung
sowie dem verbesserten Schutz in der Arbeitslosenversicherung. Warum machen wir das? Wir machen das, weil
es trotz der guten Arbeitsmarktlage immer noch Menschen in unserem Lande gibt, denen der Zugang zum Arbeitsmarkt schwerfällt. Die Gründe dafür sind vielfältig.
Doch fest steht eines: Bildung ist der Schlüssel zum Weg
in den Arbeitsmarkt. Sie ist Voraussetzung für eine kontinuierliche Erwerbsbiografie und damit auch für soziale
Stabilität und Wohlstand.
({0})
Meine Damen und Herren, die Statistiken zeigen: Wer
einen Berufsabschluss hat, ist seltener arbeitslos und findet auch schneller wieder eine Anschlussbeschäftigung.
Und weil die Rente immer auch Ausdruck von geleisteter
Arbeit und gezahlten Beiträgen ist, nimmt Bildung eben
auch einen entscheidenden Einfluss auf die Absicherung
im Alter - ein wichtiger Fakt gerade auch mit Blick auf
die aktuelle Rentendiskussion. Hinzu kommt der wachsende Bedarf der Wirtschaft nach Fachkräften. Auch deshalb müssen wir alles daransetzen, die Hemmnisse bei
der Arbeitsplatzvermittlung abzubauen.
Vielerorts werden die Unternehmen sogar selbst tätig. Wenn ein junger Bewerber beispielsweise nicht die
Voraussetzungen zur Aufnahme einer Ausbildung mitbringt, wird dies durch eigene Qualifizierungsangebote der Unternehmen ausgeglichen. Nicht selten stellen
Mittelständler sogar eigene Lehrer ein, die das, was die
Bewerber in der Schulzeit versäumt haben, ausgleichen
sollen. Im Unternehmen werden also schon heute mitunter Personalstellen geschaffen, die mit dem eigentlichen
Kerngeschäft nichts zu tun haben. Viele Unternehmen
berichten, dass es Bewerbern immer öfter auch an den
grundlegendsten Eigenschaften fehlt, die ein vertrauensvolles Arbeitsverhältnis begründen und damit letztendlich auch den Weg aus der Arbeitslosigkeit aufzeigen:
Motivation, Pünktlichkeit, Verlässlichkeit.
Um hier keinen falschen Eindruck zu erwecken,
meine Damen und Herren: Dieses Engagement ist bemerkenswert, aber es zeigt auch, wo, wann und wie wir
ansetzen müssen, um einem Abrutschen in den dauerhaften Leistungsbezug und in die Langzeitarbeitslosigkeit
vorzubeugen, nämlich frühzeitig. Das ist eine Aufgabe
an Schulen und damit auch eine Aufgabe der Bundesländer. Es ist aber auch eine Aufgabe an der Schnittstelle
zwischen Schule und Beruf und damit auch eine Aufgabe
der Arbeitsagenturen. Deshalb begrüße ich die derzeitige
Einrichtung der sogenannten Jugendberufsagenturen in
den Jobcentern vor Ort.
({1})
Meine Damen und Herren, der vorliegende Gesetzentwurf unterstützt Menschen, die bereits im erwerbsfähigen Alter sind. Er zielt darauf ab, zum Beispiel mit
der Förderung von Grundkompetenzen einmal mehr den
Weg aus der Arbeitslosigkeit zu unterstützen. Er zielt
aber auch darauf ab, den Weg in Arbeitslosigkeit zu verhindern, indem Betriebe und Beschäftigte bei Maßnahmen zur Weiterbildung unterstützt werden. Dem Prinzip
„Aufstieg durch Bildung“ wird mit dem vorliegenden
Maßnahmenkatalog Rechnung getragen.
Ich möchte aber zum Abschluss noch eine kritische
Anmerkung machen. Es gilt auch, das Prinzip „Fordern
und Fördern“ in einem ausgewogenen Maße zu betrachten. Da möchte ich gerne auf die Ausführungen meines
Kollegen Albert Weiler Bezug nehmen. Unsere Solidargemeinschaft unternimmt viel, um den Menschen zu helfen, den Weg aus dem Leistungsbezug zu finden und ein
selbstständiges Erwerbsleben zu führen. Doch es muss
auch klar sein, dass das Ziel, einen Berufsabschluss zu
erzielen und ein selbstbestimmtes und eigenverantwortliches Leben zu führen, nichts ist, worum man gebeten
werden muss. Es ist eine Selbstverständlichkeit. In Gesprächen mit den Kollegen der Jobcenter vor Ort wird
immer wieder deutlich, dass zu viel des Guten gerade
auch im Bereich der Arbeitsmarktpolitik kontraproduktiv
sein kann.
Gestern wie heute gilt: Wer sich anstrengt, wird am
Ende dafür belohnt: durch den Stolz auf das, was man
selbst imstande zu leisten war, und im besten Fall auch
durch eine Arbeitsstelle. Ich möchte deshalb dafür werben, die Einführung einer sogenannten Weiterbildungsprämie, die uns bis 2019 jährlich immerhin 82 Millionen
Euro kosten wird, zu überdenken. Ich bin der Auffassung,
es wäre falsch, die einen mit Prämien für etwas zu belohnen, was andere von selbst und ohne Prämie zu leisten in
der Lage sind.
Vielen Dank.
({2})
Vielen Dank. - Als nächster Redner spricht Stephan
Stracke, ebenfalls von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Arbeitsmarktentwicklung ist in der Tat erfreulich; die Vorrednerin hat darauf hingewiesen. Der
Arbeitsmarkt in Deutschland ist nach wie vor in hervorragender Verfassung.
({0})
Das gilt in besonderem Maße für Bayern; denn das
Jahr 2015 war ein Jahr der Rekorde. 3,6 Prozent ist die
niedrigste Jahresquote seit Beginn der entsprechenden
Erfassungen im Jahr 1994.
Die gute Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt kommt
auch bestimmten Zielgruppen zugute: Ältere, aber auch
diejenigen, die gehandicapt sind, und Langzeitarbeitslose
profitieren von dieser Entwicklung. Uns ist es in Bayern
in den letzten zehn Jahren gelungen, die Zahl der Arbeitslosen um knapp 50 Prozent zu reduzieren. Das zeigt, dass
Bayern ein Job- und Wachstumsmotor ist. Der BA-Chef
geht davon aus, dass sich der Arbeitsmarkt weiter gut
entwickeln wird, obwohl sich bereits heute zeigt, dass
sich immer mehr Flüchtlinge arbeitslos melden werden.
In diesem erfreulichen Umfeld setzen wir an für Menschen, die es auf dem Arbeitsmarkt schwerer haben als
andere. Im Koalitionsvertrag haben wir dazu vereinbart,
die Arbeitsförderung weiter zu verbessern. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf setzen wir diese Vereinbarung
für eine präventive und aktive Gestaltung der Arbeitsmarktpolitik um. Ausdrückliches Ziel ist ein verbesserter
Zugang von gering qualifizierten Arbeitnehmern sowie
Langzeitarbeitslosen zu einer abschlussbezogenen Weiterbildung.
Aus aktuellem Anlass ein Wort im Hinblick auf die
gestrige Einigung der Spitzen der Regierungskoalition
auf Eckpunkte für ein Integrationsgesetz. Gegenstand der
Einigung sind unter anderem weitere Verbesserungen für
die Ausbildungsförderung von Flüchtlingen. Damit werden die bestehenden Instrumente passgenau für Flüchtlinge mit guter Bleibeperspektive weiterentwickelt. Die
Eckpunkte sind an dieser Stelle tatsächlich sehr konkret.
Das beweist: Wir spielen nicht Flüchtlinge gegen
einheimische langzeitarbeitslose Menschen aus - oder
umgekehrt. Wir müssen jetzt endlich mit der Neiddiskussion Schluss machen, die von einigen geführt wird.
Dabei handelt es sich um eine Debatte, die zum Ziel hat,
Gruppen gegeneinander auszuspielen. Wir haben nicht
nur 1 Million Flüchtlinge, sondern auch knapp 1 Million
Arbeitslose im SGB-II-Bezug. Alle brauchen gleichermaßen unsere Unterstützung. Keiner wird aus dem Blick
geraten, keiner geht verloren. Das ist das Markenzeichen
unserer Politik.
({1})
Genau deshalb ist es richtig, verstärkt auch in die berufliche Weiterbildung zu investieren. Sie stellt eine der
Säulen der Fachkräftesicherung dar. Deswegen stärken
wir auch die Instrumente der Weiterbildung. Dabei nehmen wir insbesondere folgende Gruppen in den Blick:
Die Arbeitnehmer, die noch nicht über einen Berufsabschluss verfügen, sollen die notwendigen Grundkompetenzen wie Lesen, Rechnen und Schreiben erhalten. Weiterhin geht es um die jüngeren Arbeitnehmer in kleinen
und mittleren Unternehmen. Wir bezuschussen deren
berufliche Weiterbildung, die außerhalb der Arbeitszeit
stattfindet. Außerdem fördern wir auch ältere Arbeitnehmer, die beispielsweise in Transfergesellschaften tätig
sind, damit sie die notwendige Qualifizierung erhalten.
Dabei muss sich auch der Arbeitgeber mit mindestens
50 Prozent an den Lehrgangskosten beteiligen.
Auch Langzeitarbeitslose und Arbeitslose mit schwerwiegenden Vermittlungshemmnissen lassen wir nicht aus
dem Blick. Für sie verlängern wir die Maßnahmen zur
Aktivierung und beruflichen Eingliederung von sechs
auf zwölf Wochen. Schließlich stellt die Vermittlung in
Ausbildung eine ganz wichtige Weichenstellung dar. Bei
Langzeitarbeitslosen kommt es insbesondere darauf an,
dass sie geeignet sind und das notwendige Durchhaltevermögen aufweisen. Wir wissen, dass nur 10 bis 20 Prozent der Langzeitarbeitslosen tatsächlich die notwendigen Voraussetzungen erfüllen. Frau Staatssekretärin hatte
zu Beginn dieser Debatte darauf hingewiesen, dass jeder
Vierte seine Ausbildung abbricht. Es gibt also in diesem
Bereich eine besorgniserregende Entwicklung.
Die Koalition hat sich darauf geeinigt, einer solchen
Entwicklung mit einer Weiterbildungsprämie entsprechend zu begegnen. Ich will nicht verhehlen, dass ich
dieses Instrument insgesamt eher kritisch beurteile, weil
es auch eine Frage der Fairness ist; denn andere Auszubildende erhalten eine solche Prämie nicht. Sie müssen
ihre Prüfungen bestehen, ohne eine Prämie zu bekommen. Wir haben uns aber darauf geeinigt, dass wir dieses Instrument befristen und auch evaluieren. Nach Abschluss der Evaluation sollten wir uns genau anschauen,
ob sich das Instrument tatsächlich bewährt hat.
Der zweite wichtige Teil des Gesetzentwurfes betrifft
die Verbesserung des Versicherungsschutzes in der Arbeitslosenversicherung. Das klingt meist profan oder
technisch; für die Betroffenen aber ist das von zentraler
Bedeutung, um ihren Arbeitslosenversicherungsschutz
zu erhalten. Das wird beim Thema der verkürzten Anwartschaftszeit für überwiegend kurzzeitig befristet Beschäftigte besonders deutlich. An dieser Stelle geht es
vor allem um die soziale Absicherung von Künstlern und
Kulturschaffenden.
({2})
In diesem Bereich hätte ich mir sicherlich mehr vorstellen können. Die Alternative für die Koalition wäre
eine generelle Verlängerung der Rahmenfrist gewesen.
Auch von den Kulturschaffenden wird das nicht gewünscht. Es würde auch zu weitreichenden Konsequenzen führen und würde, insbesondere was die finanziellen Aspekte anbelangt, mit großen Mehrkosten für die
Bundesagentur für Arbeit verbunden sein. Natürlich ist
es auch in der Sache falsch. Wir brauchen in diesem Bereich keine Lockerungen, um die Arbeitslosigkeit zu verwalten, sondern wir benötigen flächendeckende Lösungen zum Abbau vor allem der Langzeitarbeitslosigkeit.
Deswegen wäre dieser Vorschlag auch ein Fremdkörper
gewesen. Aus diesem Grunde ist es gut, dass dieser Punkt
bereits bei der Befassung durch das Kabinett gestrichen
wurde und die Bundesregierung entsprechende Avancen
des Bundesrates in dieser Hinsicht abwehrt.
Es gibt sicherlich noch viele Gesprächspunkte. Die
Bundesländer haben noch Änderungswünsche. Einen
davon habe ich gerade angesprochen. Die Opposition
glänzt, was eigenständige Vorlagen zum Gesetzentwurf
betrifft, nicht gerade mit eigenen Vorschlägen für die genannten Bereiche.
Wir werden jetzt eine Sachverständigenanhörung beschließen. Ich freue mich auf die intensiven Debatten
zu diesem Gesetzentwurf. Ich meine, dass er insgesamt
ausgewogen und gut ist. In diesem Sinne wollen wir die
entsprechenden Anhörungen auch durchführen.
Ein herzliches Dankeschön.
({3})
Vielen Dank. - Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 18/8042 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 24 a bis 24 d sowie
Zusatzpunkt 4 auf:
24. a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten
Gesetzes zur Änderung des Buchpreisbindungsgesetzes
Drucksache 18/8043
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({0})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Kultur und Medien
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten
Gesetzes über die weitere Bereinigung
von Bundesrecht
Drucksache 18/7989
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz ({1})
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Sabine Leidig, Ralph Lenkert, Caren Lay,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Drohende Streckenstilllegungen verhindern - Regionalisierungsmittel erhöhen
Drucksache 18/8074
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur ({2})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reak-
torsicherheit
Haushaltsausschuss
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Sabine Leidig, Herbert Behrens, Caren Lay,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Bundesverkehrswegeplan 2030 zurückziehen - Klimaschutz- und sozialökologische Nachhaltigkeitsziele umsetzen
Drucksache 18/8075
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur ({3})
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Peter Meiwald, Kordula Schulz-Asche,
Annalena Baerbock, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Gewässer vor Medikamentenrückständen schützen
Drucksache 18/8082
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit ({4})
Ausschuss für Gesundheit
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach-
ten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Damit sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 25 a und 25 b sowie
Zusatzpunkt 5 auf. Es handelt sich um die Beschlussfas-
sung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgese-
hen ist.
Ich weise darauf hin, dass eine Erklärung zur Abstim-
mung gemäß § 31 der Geschäftsordnung des Abgeordne-
ten Dr. Reinhard Brandl zum Tagesordnungspunkt 25 a
vorliegt.1)
Ich komme zunächst zum Tagesordnungspunkt 25 a:
Zweite und dritte Beratung des von den Frakti-
onen CDU/CSU, SPD und BÜNDNIS 90/DIE
1) Anlage 3
GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes
Drucksache 18/7873
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({5})
Drucksache 18/8104
Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/8104, den Gesetzentwurf
der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 18/7873 anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? Enthält sich jemand? - Damit ist der Gesetzentwurf in
zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalition und den
Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen worden.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Enthält sich jemand? - Damit ist der
Gesetzentwurf mit den Stimmen der Koalition und von
Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion
Die Linke angenommen worden.
Ich komme zum Tagesordnungspunkt 25 b:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
humanitäre Hilfe ({6}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Kordula Schulz-Asche, Tom
Koenigs, Peter Meiwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abgeordneten Stefan Liebich,
Wolfgang Gehrcke, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Der Völkermord in Ruanda und die deutsche
Politik 1990 bis 1994 - Unabhängige historische Aufarbeitung
Drucksachen 18/4811, 18/7905
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/7905, den Antrag der Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke auf
Drucksache 18/4811 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Gibt
es eine Enthaltung? - Das ist nicht der Fall. Damit ist
diese Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen
worden.
Ich komme zum Zusatzpunkt 5:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr und digitale
Infrastruktur ({7})
zu dem Vorschlag für eine Verordnung des
Europäischen Parlaments und des Rates
zur Festlegung gemeinsamer Vorschriften
für die Zivilluftfahrt und zur Errichtung einer Agentur der Europäischen Union für
Flugsicherheit sowie zur Aufhebung der
Verordnung ({8}) Nr. 216/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates
KOM({9}) 613 endg.; Ratsdok. 14991/15
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes
Drucksachen 18/7422 Nr. A.22, 18/8103
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/8103, in Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung gemäß Artikel 23 Absatz 3
des Grundgesetzes anzunehmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Damit ist diese Beschlussempfehlung mit
den Stimmen der Koalition bei Enthaltung der Opposition angenommen worden.
Ich rufe den Zusatzpunkt 6 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Haltung der Bundesregierung zu den gesundheitsgefährdenden Abgasbelastungen in vielen
deutschen Städten
Ich eröffne die Aussprache zu dieser Aktuellen Stunde
und erteile Herrn Peter Meiwald von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen als erstem Redner das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Seit Jahren werden von Deutschland die geltenden EU-Luftqualitätsgrenzwerte für Feinstäube und
Stickoxide nicht eingehalten. Angesichts der Gefahren für
die Gesundheit durch Feinstäube können wir mit unserer
Luft - ich glaube, das ist unumstritten - nicht zufrieden
sein. Das UBA rechnet allein mit 47 000 Feinstaubtoten
pro Jahr in Deutschland; eine Zahl, die wir uns angesichts
der Gedanken, die wir uns um die vielen Verkehrstoten
machen, zu Gemüte führen sollten.
Auch Stickoxide sind mittlerweile ein riesiges Problem. Die EU-Grenzwerte für NO2 werden in Deutschland an mehr als der Hälfte der verkehrsnahen Messstationen überschritten. Dies hat zu mittlerweile zwei
Vertragsverletzungsverfahren der EU gegen Deutschland
geführt. Hinzu kommen zahlreiche Gerichtsurteile und
Vollstreckungsverfahren gegen Kommunen und Bundesländer. Betroffen sind Kommunen im gesamten Bundesgebiet, von Aachen über München bis Wiesbaden, aber
auch die Länder Bayern, Baden-Württemberg, Hamburg
oder Hessen. Es besteht ein bundesweites Problem, dessen Behebung einer konzertierten Aktion bedarf.
Mit der Aufdeckung des Dieselskandals - nicht
etwa durch die deutschen Behörden, sondern durch die
US-Umweltbehörde - ist klar geworden, dass die Kommunen bei aller Anstrengung nicht mit einer Verbesserung der Belastungssituation rechnen können; denn die
Automobilindustrie, zumindest Teile von ihr, hatte mit
Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
der Manipulation der Abgaswerte dafür gesorgt, dass die
Autos die Schadstoffgrenzwerte zwar theoretisch einhalten, aber praktisch die Stickoxidemissionen in den Städten nicht abnehmen.
({0})
Die Luftreinhaltepläne der Kommunen konnten also
auch nur theoretisch zu Ergebnissen führen. Das hilft uns
beim Atmen nicht; denn wer will schon nur theoretisch
gute Luft atmen? Die Zeche zahlen die Bürgerinnen und
Bürger, die an den Hauptverkehrsstraßen mit hohen Luftbelastungen wohnen. Von Teilen der Automobilindustrie
wird das offensichtlich billigend in Kauf genommen. Das
grenzt schon an Körperverletzung.
„Volle Transparenz“ hatte die Bundeskanzlerin dazu
am 22. September 2015 versprochen. Was macht unser
Verkehrsminister? Er steckt den Kopf in den Sand oder
man könnte auch sagen: ins Auspuffrohr der Automobilindustrie. Minister Dobrindt verweigert die Aufklärung
des Skandals; von zügiger Aufklärung will ich nach mehr
als einem halben Jahr gar nicht mehr reden. Er verweigert
die Arbeit und keilt nun auch noch gegen die Einführung
der blauen Plakette. Herr Minister - schade, dass er nicht
da ist -, Ihre Verkehrspolitik ist unausgegoren, verkorkst,
umwelt- und am Ende auch mobilitätsfeindlich.
({1})
Das zeigt - nur am Rande bemerkt - auch der unlängst
vorgelegte Entwurf des Bundesverkehrswegeplans, in
dem keine Ambitionen deutlich werden, etwas zu verbessern.
Sogar die Ergebnisse einer kompletten Sonder-Umweltministerkonferenz sind ignoriert worden.
({2})
Da kann ich unsere Umweltministerin - schön, dass Sie
da sind, Frau Hendricks - nur auffordern, das Heft des
Handelns selber in die Hand zu nehmen und es nicht diesem Verkehrsminister zu überlassen.
({3})
Legen Sie ein Aktionsprogramm „Saubere Luft für
Deutschland“ auf, und weisen Sie Ihren arbeitsverweigernden Kabinettskollegen in die Schranken.
Ab 2025 sollten nur noch Autos mit Strom- oder Wasserstoffantrieb neu zugelassen werden. Sorgen Sie endlich auch für niedrigere Emissionen durch Dieselloks,
Baumaschinen, Lkw- oder Schiffsverkehr. Wir brauchen
eine Novellierung der Bundesimmissionsschutzverordnung, sodass Kommunen Durchfahrverbote in Umweltzonen erlassen können, um die Belastung der Luft mit
Stickoxiden zu senken. Legen Sie ein Nachrüstungsprogramm zur Abgasreduzierung bei Taxis, Transportern
und Bussen auf. Machen Sie mit der Ausweitung des
E-Carsharing ernst; da gibt es viele Möglichkeiten. Fördern Sie Elektromobilität und Lastenfahrräder im innerstädtischen Logistikverkehr. Legen Sie ein zeitlich befristetes Marktanreizprogramm für Elektronahverkehrsbusse
und Elektroautos auf. Zur Finanzierung könnte man zum
Beispiel an der Beendigung der Steuerprivilegierung für
Diesel ansetzen. Damit wäre einiges Geld vorhanden, das
wir für diese Maßnahmen nutzen können.
Ein zentraler Punkt für uns ist, dass wir jetzt nicht nur
auf die Autohersteller blicken und sagen: Es gibt einige wenige schwarze Schafe. - Vielmehr müssen wir das
System insgesamt in den Blick nehmen. Wir müssen
überlegen: Wie können wir die Stickoxid- und Feinstaubbelastung aufgrund der Mobilität gerade in unseren Städten in den Griff bekommen? Auf den Verkehrsminister
zu warten und auf ihn zu vertrauen, ist offensichtlich
hoffnungslos. Deswegen setzen wir unser Vertrauen im
Moment eher in Sie, Frau Hendricks, und in dieses Parlament.
Wir zeigen der Regierung deutlich die Schranken auf
und sagen: Wir haben eine Verantwortung für die Gesundheit der Menschen in unserem Land. Wir haben eine
große Verantwortung für die Luft.
Vielen Dank.
({4})
Vielen Dank. - Als nächste Rednerin hat Marie-Luise
Dött von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Vorschläge zur Weiterentwicklung der Fünfunddreißigsten Verordnung zur Durchführung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes haben in den letzten Tagen für
erhebliche Diskussionen gesorgt. Deshalb ist es erforderlich, sich noch einmal mit den Hintergründen zu befassen. Ziel ist die Verbesserung der Luftqualität vor allem
in den Ballungsräumen und Großstädten.
Wir haben in den vergangenen Jahren insbesondere
die Feinstaubbelastung in den Städten im Fokus gehabt.
Genau darauf zielte die grüne Plakette. An vielen Orten
ist die Feinstaubbelastung durch den Straßenverkehr
nach Einführung der Umweltzonen zurückgegangen. Es
gibt aber ein weiteres Problem. Wir haben in den Städten
auch erhebliche Stickoxidbelastungen, und zwar vor allem an stark befahrenen Straßen.
2015 waren die Stickoxidwerte an 60 Prozent der Luftmessstellen an den durch Verkehrsemissionen belasteten
Straßen in den Ballungsräumen zu hoch. Stickstoffdioxid
ist gesundheitsschädlich, weil es die Atemwege reizt und
zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen führen kann. Dieser
Aspekt wird von den bisherigen Feinstaubplaketten nicht
hinreichend berücksichtigt. Es besteht also Handlungsbedarf, und den sieht auch die Europäische Kommission.
Gegen Deutschland läuft ein Vertragsverletzungsverfahren. Deshalb ist es richtig, das Problem anzugehen,
und deshalb war es auch richtig, das Thema auf der Sondersitzung der Umweltministerkonferenz auf die Tagesordnung zu setzen. Worüber ich mich allerdings wundere,
meine Damen und Herren, ist die Tatsache, wie schnell
man sich auf ein Instrument, nämlich auf die EinfühPeter Meiwald
rung der blauen Plakette einigen konnte, wie schnell das
Gremium sicher war, dass man mit der Weiterentwicklung der 35. BImSchV das richtige Instrument gefunden
hat. Ich bin der Auffassung, dass die Fünfunddreißigste
Verordnung zur Durchführung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes zwar ein mögliches Instrument ist, aber
die Einführung der grünen Plakette hat auch gezeigt, dass
die am Ende daraus resultierenden Fahrverbote für bestimmte Fahrzeuge zu erheblichen Belastungen für die
Bürger und die Wirtschaft führen. Genau an dieser Stelle
hätte ich mir gewünscht, dass man mit diesem Instrument
vorsichtiger umgeht, statt die Bürger mit der Ankündigung der Einführung einer blauen Plakette, also der Androhung neuer Fahrverbotszonen, zu überraschen.
({0})
Viele Besitzer von Dieselfahrzeugen, von denen sich
so mancher für den Diesel entschieden hat, weil er klimaverträglicher ist als ein Benziner, erfahren über die
Presse am Wochenende, dass ihr Auto künftig nur noch
eingeschränkt nutzbar ist.
({1})
Wie viele Handwerksmeister und Mittelständler haben
am Wochenende überlegt, wie sie mit ihrem Fuhrpark
künftig in die Innenstädte zu ihren Kunden kommen sollen? Und wie viele Bürgerinnen und Bürger haben überlegt, wie sie mit ihrem Euro-5-Diesel künftig die Kinder
transportieren, den Einkauf bewältigen oder nur zu ihrer
Wohnung in der Innenstadt gelangen sollen? Mit solchen
politischen Überraschungseffekten bekommen wir für
die erforderlichen Reduzierungen der Schadstoffbelastungen keine Unterstützung.
({2})
Ich sage das nicht nur der Bundesumweltministerin,
sondern auch den Länderumweltministern, von denen die
Initiative auf der Sondersitzung der Umweltministerkonferenz des Bundes und der Länder in der vergangenen
Woche ausging. Es ist ja richtig, dass die Bundesumweltministerin den Auftrag aus der Umweltministerkonferenz
zumindest wohlwollend prüfen muss. Und dass sich das
BMUB der Problematik bewusst ist, kann man an den
Ausführungen des Umweltministeriums zu den Kernfragen ablesen: Da informiert das Ministerium auf seiner
Website darüber, dass der Zeitpunkt der Einführung der
Plakette noch nicht feststeht, dass das Bundesumweltministerium mit den Ländern und den anderen Ressorts die
Ausgestaltung genau prüfen wird, dass nur Dieselfahrzeuge mit hohem Stickoxidausstoß betroffen sein werden
und dass es Ausnahmeregelungen geben soll, um soziale
Härten zu vermeiden. Da lese ich also ein deutliches Problembewusstsein heraus.
Meine Damen und Herren, wichtiger als über neue
Fahrverbotszonen für die Bürger nachzudenken, ist es,
sich anzuschauen, worüber auf der Sondersitzung der
Umweltministerkonferenz noch diskutiert wurde. Da
ging es nämlich um die Manipulationsvorwürfe bei Diesel-Pkws, die illegalen Abschalteeinrichtungen in Fahrzeugen, um die Überwachung der Immissionen und um
neue europäische Abgaskontrollen. Hier liegen für mich
die Handlungsschwerpunkte der Politik. Hier muss es
schnell vorangehen - mit härteren Kontrollen und mit
mehr Ehrlichkeit
({3})
statt mit neuen Fahrverboten. Der erste Adressat, wenn es
um Fortschritte bei der Luftreinhaltung und beim Klimaschutz geht, sind die Hersteller, nicht der Bürger und der
Handwerker, die sich auf hohe Immissionsstandards bei
ihren Euro-5-Dieseln verlassen haben.
Vielen Dank.
({4})
Vielen Dank. - Als nächster Redner spricht Ralph
Lenkert von der Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geehrte Kolleginnen
und Kollegen! Abgastests unter realen Bedingungen des
Verkehrs wurden jahrelang verhindert. Die Bundesregierung hat durch Mittelkürzungen die Möglichkeiten
des Kraftfahrt-Bundesamtes zu eigenen Fahrzeug- und
Abgastests eingeschränkt und sich auf die Angaben der
Automobilhersteller verlassen und letztendlich sogar die
Testverfahren nach deren Wünschen verändert.
Drei Jahre lang arbeitete ich in der Entwicklungsabteilung eines Zulieferers für die Automobilindustrie und
weitere zweieinhalb Jahre als Qualitätsmanager in einem
Zulieferwerk. Die Autohersteller kennen ganz genau die
Belastungen ihrer Fahrzeuge. Sie wissen, wie Pkws in
Städten und auf dem Land in Europa oder den USA üblicherweise genutzt werden und wie sie sich verhalten.
Wenn Bundesregierung, EU-Kommission und Hersteller das gewollt hätten, gäbe es seit Jahren Abgastests im
realen Fahrbetrieb. Jetzt gibt es den Abgasskandal, und
es wird klar, warum trotz Umweltzonen, trotz Euro-4und Euro-5-Normen zu hohe Stickoxid- und zu hohe
Feinstaubbelastungen in unseren Innenstädten auftreten.
Die Bürgerinnen und Bürger haben das Grundrecht
auf körperliche Unversehrtheit und ein Anrecht auf
Mobilität. Die Bundesregierung steht nun vor einem
selbstverschuldeten Dilemma. Ignoriert sie die Gesundheitsgefahren für die Bevölkerung, oder schränkt sie die
Mobilität von über 13 Millionen Nutzerinnen und Nutzern von Diesel-Pkws ein?
Die aktuelle Debatte zur blauen Umweltplakette und
zur Euro-6-Norm sehen wir kritisch. Diesel-Pkws, die
die Euro-6-Norm im Teststand erfüllen, erfüllen im Realbetrieb nicht einmal die Euro-5-Norm. Wieso sollen
die Fahrerinnen und Fahrer von Benzin- und Gasfahrzeugen eigentlich mitbestraft werden, und wieso sollen
die 13 Millionen Fahrerinnen und Fahrer älterer Dieselfahrzeuge mit der Aussperrung aus Umweltzonen für den
Betrug durch die Autolobby bestraft werden? Die Linke
lehnt es ab, die Betrugsopfer mit Mobilitätseinschränkungen zu bestrafen.
({0})
Wir fordern eine Kompensation durch die Verursacher.
Mobilität ermöglichen jedoch nicht nur Pkws. Die
Linke setzt sich seit Jahren für einen besseren öffentlichen Personenverkehr ein. Der derzeitige Vorschlag der
Bundesregierung zu den Regionalisierungsmitteln im
Bahnverkehr bedeutet eine Kürzung dieser Mittel für
die Ostländer. Für meine Heimat Thüringen bedeutet
das, dass bis 2030 über 500 Millionen Euro weniger für
den Schienenverkehr, für Regionalbahn- und Regionalexpresszüge, zur Verfügung stehen. Das bedeutet: Die
Menschen müssen zwangsläufig zusätzlich ein Auto nutzen.
Deshalb bringt die Linksfraktion heute einen Antrag
zur Erhöhung der Regionalisierungsmittel auf 8,5 Milliarden Euro ein.
({1})
Mit dieser Summe kann es in Ballungszentren mehr
Schienenverkehr geben und das Angebot in der Fläche,
insbesondere in Ostdeutschland, erhalten bleiben. Pendler könnten weiterhin öfter Züge als Pkws nutzen, was
die Stickoxid- und Feinstaubbelastung reduziert. Die
Bundesregierung könnte somit eine Teilwiedergutmachung für ihr Versagen bei der Kontrolle der Autoindustrie leisten.
Außerdem muss das Kraftfahrt-Bundesamt wieder in
die Lage versetzt werden, realitätsnahe Abgastests selbst
durchzuführen; denn bevor eine Plakette für eine Euro-6Norm verbindlich eingeführt wird, braucht es reale Abgasmessungen.
Die Automobilhersteller müssen Verantwortung für
ihre falschen Angaben übernehmen und die Folgen ihres
Handelns kompensieren. Klar ist: Eine eventuelle Nachrüstung der Dieselflotte dauert Jahre und ist vielleicht
gar nicht möglich. So lange will die Linke nicht warten.
Deshalb müssen Automobilhersteller über andere Maßnahmen an der Einhaltung der Grenzwerte für Feinstaub
und Stickoxide in unseren Städten mitwirken. Eine Variante wäre, dass die Autohersteller zur Kompensation die
Elektrifizierung von Bahnstrecken übernehmen. In Jena
könnte beispielsweise durch die Elektrifizierung der Mitte-Deutschland-Verbindung sowohl die Feinstaub- als
auch die Stickoxidbelastung deutlich reduziert werden.
Eine weitere Möglichkeit wäre, die Autohersteller zum
Unterhalt, zum Bau und zur Pflege von Grünanlagen
in Städten zu verpflichten. Dies würde den betroffenen
Menschen vor Ort zugutekommen. Diese und weitere
Kompensationsauflagen müssen gelten, bis alle Fahrzeuge die Norm, und zwar im Realbetrieb, einhalten.
Liebe Koalitionäre, entwickeln wir gemeinsam unkonventionelle Lösungen, um Gesundheitsschutz und
Mobilität zu sichern und die Produktverantwortung auch
für Automobilfirmen endlich durchzusetzen.
({2})
Vielen Dank. - Die Bundesministerin Dr. Hendricks
hat jetzt das Wort für die Bundesregierung.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
rund 60 Gebieten in Deutschland - das entspricht übrigens auch etwa 60 Prozent der innerstädtischen Messstellen - wurde zwischen 2010 und 2013 der zugelassene
Jahresmittelgrenzwert an Stickstoffdioxid deutlich überschritten. Als Hauptursache für die schlechte Luftqualität
in diesen Gebieten gelten die Abgase aus Dieselfahrzeugen. In der vergangenen Woche hat sich die Umweltministerkonferenz auf einer Sondersitzung - Frau Kollegin
Dött hat es bereits erwähnt - mit diesem Thema befasst.
Dort wurde zum einen über die Abgasmanipulationsvorwürfe gesprochen, aber auch darüber, wie die schädlichen Emissionen im Straßenverkehr verringert werden
können. Die Umweltminister aus allen 16 Bundesländern
waren sich völlig einig, dass die Situation in diesen Gebieten verbessert werden muss, und zwar nicht nur aus
zwingenden rechtlichen Gründen, sondern auch - das
bitte ich alle Autofreunde unter uns zur Kenntnis zu nehmen -, weil Stickstoffdioxid eine sehr ernstzunehmende
Gefahr für die Gesundheit der dort lebenden Menschen
darstellt.
({0})
In der Tat, Frau Dött, die Umweltminister haben auch
andere Alternativen erwogen. Denn im Vertragsverletzungsverfahren, das die EU im vergangenen Sommer
gegen uns eröffnet hat, sind mehrere Möglichkeiten aufgezeigt. Aber, Kollege Meiwald, auch das grün regierte
Baden-Württemberg hat sich zum Beispiel gegen eine
Abschaffung der Dieselsteuerprivilegien ausgesprochen.
Das hat dort kein Einvernehmen, aber auch keine Mehrheit gefunden.
({1})
Verständigt hat man sich aber darauf, mir sozusagen zu
empfehlen, die blaue Plakette jetzt einzuführen. Das will
ich in dem Zusammenhang sagen.
Weil das so ist, weil die Gesundheit tatsächlich beeinträchtigt wird, hilft es nicht, sich einerseits gegen alle
denkbaren möglichen Einschnitte auszusprechen, um
sich bei den Autofahrern zu profilieren, und sich dann an
anderer Stelle über Gesundheitsgefahren durch schlechte
Luftqualität zu beschweren. Ich danke Ihnen sehr dafür,
Frau Dött, dass Sie meine abgewogenen Äußerungen auf
der Homepage meines Hauses gelesen haben.
({2})
Es hat ja am Wochenende Skandalisierungen gegeben, an
denen mehrere beteiligt waren, um es einmal vorsichtig
auszudrücken.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, im vergangenen
Jahr wurde der Grenzwert an mehr als der Hälfte der
verkehrsnahen Messstellen in Innenstädten immer noch
überschritten. Das muss jeden alarmieren, der sich mit
den gesundheitlichen Auswirkungen befasst hat. Die
EU-Kommission hat ja, wie ich eben schon sagte, ein
Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland eingeleitet. Das muss uns mindestens genauso alarmieren,
abgesehen davon, dass wir selbstverständlich verpflichtet
sind, diese Verträge zu erfüllen.
Trotz strengerer Abgasnormen haben auch neue Diesel-Pkw immer noch deutlich höhere reale Emissionen
als Benzin-Pkw. Übrigens haben wir im Mai des vergangenen Jahres, Herr Kollege Lenkert, mit dafür gesorgt,
dass die Richtlinie zum Messverfahren zu den Real Driving Emissions auf der europäischen Ebene endlich auf
den Weg gebracht wird. Der technische Ausschuss hat
sich dann erst nach den VW-Ereignissen, um es einmal
so zu sagen, im zweiten Schritt mit der Emissionsbegrenzung befasst, aber die Richtlinie ist voriges Jahr im Mai
auf den Weg gebracht worden. In Verbindung mit dem
steigenden Anteil an Diesel-Pkw führen die hohen Realemissionen dazu, dass die Belastungen in den Innenstädten nach wie vor deutlich zu hoch sind. Das müssen
wir ganz offenbar ändern. Welche Maßnahmen wir dazu
ergreifen, wird sich zeigen; aber wir müssen es auf jeden
Fall ändern.
Der Gesundheitsschutz sollte übrigens auch bei den
Automobilherstellern oberste Maxime sein. Sie müssen
die Dieselfahrzeuge so schnell wie möglich wirklich sauber auf die Straße bringen.
({3})
Nur auf diese Weise kann auch das Vertrauen der Kunden
in die Dieseltechnologie schrittweise zurückgewonnen
werden. Daran liegt mir sehr, dass das Vertrauen zurückgewonnen wird.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die neuen Regelungen auf EU-Ebene und die zukünftigen Messungen auf
der Straße haben wir ja maßgeblich von Deutschland
aus forciert. Wir setzen uns außerdem dafür ein, dass die
verbesserten Fahrzeuge erheblich früher auf den Markt
kommen als bisher vorgesehen. Wir wissen aber auch,
dass es ohne weitere Maßnahmen immer wieder zu örtlichen Überschreitungen des Grenzwertes kommen wird.
Die Umweltministerkonferenz hat daher eingefordert,
dass die Manipulationsvorwürfe umfassend aufgeklärt
werden und sichergestellt wird, dass Manipulationen in
Zukunft nicht mehr auftreten können, dass alle betroffenen Fahrzeuge ohne Kosten und Nachteile für die Autobesitzer vorschriftenkonform nachgebessert werden,
dass die EU-Abgasvorschriften wasserdicht ausgestaltet
werden
({4})
und die Nichteinhaltung der Vorschriften entsprechend
sanktioniert wird.
({5})
All diesen Vorschlägen kann ich mich sehr wohl anschließen.
In diesem Zusammenhang - Herr Lenkert, Sie haben
dem Kollegen Dobrindt Untätigkeit vorgeworfen; waren
Sie es, oder war es Herr Meiwald? ({6})
- Sie waren es, Herr Meiwald; ich bitte um Entschuldigung -:
({7})
Am Wochenende hat mich der Kollege Dobrindt ja nicht
so lieb behandelt. Aber ich stehe nicht an, zu sagen: Er ist
tatenlos geblieben. In relativ überschaubarer Zeit wird er
die Ergebnisse seiner Arbeit vorlegen können.
({8})
- Nein, ich verstehe das sehr wohl.
Der Herr Staatssekretär hat auf der Sondersitzung der
Umweltministerkonferenz berichtet. Er hat einen sehr
ausführlichen mündlichen Bericht abgegeben, der bisher
nicht schriftlich vorliegt. Ich finde, er hat zu Recht darauf hingewiesen, dass eine NGO wie zum Beispiel die
Deutsche Umwelthilfe durchaus Gutachten und Messergebnisse veröffentlichen kann - was auch immer -, dass
aber, wenn der Staat das tut, diese wirklich wasserdicht
sein und auch der Überprüfung durch Verwaltungsgerichte standhalten müssen.
({9})
Deswegen habe ich Verständnis dafür, dass die Sorgfalt
in diesem Zusammenhang vorgeht. - Jetzt habe ich beim
Kollegen Dobrindt aber einen gut, oder? Das müsste eigentlich so sein.
({10})
Auch durch Elektromobilität kann die Qualität unserer Luft spürbar verbessert werden. Abgesehen davon
ist natürlich auch ein gut ausgebauter ÖPNV dabei sehr
hilfreich. Die Umweltminister haben die Bundesregierung außerdem gebeten, die Kennzeichnungsverordnung
so fortzuschreiben, dass neben Benzin- und Elektrofahrzeugen mittelfristig und stufenweise nur noch Dieselfahrzeugen mit niedrigen Emissionen die Einfahrt in
belastete Gebiete erlaubt wird. Dieses Anliegen wird von
mir durchaus unterstützt. Denn irgendeine der denkbaren
Maßnahmen werden wir wohl ergreifen müssen. Das ist
immer nur ein Hilfskonstrukt. Besser wäre es natürlich,
wir hätten gleich saubere Autos; das ist ja klar.
Darüber, wie die Kennzeichnung von Fahrzeugen mit
geringerem Schadstoffausstoß am Ende aussehen könnte,
ist natürlich noch zu diskutieren. Es gibt also wirklich
keinen Anlass zur Panik. Leider hat es hierzu eine völlig unnötige und völlig übertriebene Darstellung in einigen Medien gegeben, insbesondere was die Zahl der
potenziell betroffenen Fahrzeuge angeht. Die betroffenen
Gebiete werden sicher nicht die Größe der heutigen Umweltzonen haben. Eine neue Umweltplakette ist nämlich
nur für kleinräumige, besonders stark befahrene Gebiete
gedacht. An diesen Straßen leben meistens Menschen,
die sich die teuren Wohnlagen nicht leisten können. Auch
das bitte ich unter sozialen Gesichtspunkten mit ins Auge
zu fassen.
({11})
Das Ob und das Wann werden dann später vor Ort
entschieden, genauso wie die Übergangsphasen mit Ausnahmeregelungen für Anwohner und Gewerbetreibende.
Denn natürlich wollen die Umweltminister der Länder ich selbstverständlich auch - soziale und wirtschaftliche
Härten vermeiden. Ich persönlich habe übrigens genug
Vertrauen in die Kommunen, dass sie hier mit Augenmaß
vorgehen werden. Es geht ja darum, den Kommunen eine
Rechtsgrundlage an die Hand zu geben, mit der sie ein
solches Verfahren sicher einleiten können. Die Kommunen, die für sich keine andere Möglichkeit sehen, als das
Problem über Fahrbeschränkungen in besonders belasteten Gebieten zu lösen, benötigen eine solche Rechtsgrundlage. Wir müssen sie ihnen zur Verfügung stellen.
Andernfalls würden wir auch gar keine Chance haben,
das EU-Vertragsverletzungsverfahren abzuwenden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich werde mich innerhalb der Bundesregierung für eine vernünftige und
sachgerechte Regelung einsetzen, die der einstimmigen
Aufforderung seitens der Länder folgt und neben allen
anderen Interessen auch die Gesundheit der Bürgerinnen
und Bürger mit im Blick behält.
Liebe Mitglieder der Fraktion der Grünen, da Sie
mich - so das Thema der Aktuellen Stunde - nach der
Haltung der Bundesregierung gefragt haben: Selbstverständlich ist der Gesundheitsschutz der Bevölkerung ein
Anliegen der gesamten Bundesregierung. Ich bin mir sicher, dass alle Mitglieder dieses Hohen Hauses das ebenso uneingeschränkt unterstützen.
Herzlichen Dank.
({12})
Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Carsten Müller
von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eine
moderne, umweltbewusste Mobilitätspolitik kann nicht
alleine auf Verbote und Einschränkungen setzen. Hier
brauchen wir deutlich mehr, und die Unionsfraktion
macht dafür gute Vorschläge.
({0})
Es ist hilfreich, im Rahmen dieser Aktuellen Stunde
auch noch einmal einen Blick darauf zu werfen, wo wir
herkommen und wo wir heute stehen.
Der Ausstoß an schädlichen Stickoxiden ist in den
vergangenen Jahren erheblich reduziert worden. Wir haben hier enorme Fortschritte erreicht. Die Stickstoffoxidemissionen sind von 1990 bis 2013 um 56 Prozent zurückgeführt worden. Das entspricht einem Volumen von
1,6 Millionen Tonnen.
({1})
Den maßgeblichen Anteil an dieser drastischen Reduzierung hat der Verkehrsbereich mit einem Minus von fast
1 Million Tonnen geliefert - und das im Übrigen trotz
nicht unerheblich gestiegener Verkehrsleistungen.
Trotzdem ist eines klar: Die Stickstoffoxidemissionen
müssen weiterhin abgesenkt werden. Dafür ist nach unserer und nach meiner Auffassung das Aussperren von
Diesel-Pkws aus den Innenstädten allerdings nicht hilfreich. Ich halte einen solchen Bann für unsozial. Das ist
heute interessanterweise auch einmal in einem Beitrag
der Linksfraktion angeklungen. Er schränkt die Mobilität
ein und verursacht einen nicht unerheblichen finanziellen Schaden für Handwerksfirmen, Mittelständler - meine Kollegin Marie-Luise Dött hat darauf richtigerweise
schon hingewiesen - und sozial schwächer gestellte Privathaushalte.
({2})
Mich stört an der Zielrichtung des am Wochenende
zur Diskussion gestellten Vorschlages vor allen Dingen
eines, nämlich die Unklarheit, die damit bewirkt worden
ist. Es ist eben leider nicht ganz konkret gesagt worden,
was eigentlich intendiert ist und wie es erreicht werden
soll.
Bei aller grundsätzlichen Zustimmung will ich insofern auch etwas Kritik an Ihnen, Frau Bundesumweltministerin, üben. Ich finde, die Ausführungen auf der Internetseite Ihres Hauses sind hier nicht hilfreich. Auf die
Frage, für welche Fahrzeuge es in Zukunft Beschränkungen geben soll, wird dort wortwörtlich ausgeführt - ich
zitiere -:
Das steht noch nicht endgültig fest. Das Bundesumweltministerium wird das mit den Ländern und den
anderen Ressorts genau prüfen. Betroffen sein werden Dieselfahrzeuge mit hohem Stickoxidausstoß.
Es wird Ausnahmeregelungen geben, um soziale
Härten zu vermeiden.
({3})
Das ist zwar in der Sache richtig, aber eines ist doch
vollkommen klar: Wenn man eine solch unklare Position
schriftlich niederlegt, dann führt das genau zu den Reaktionen, die wir am vergangenen Wochenende in der Öffentlichkeit erlebt haben.
({4})
Das war vorhersehbar, und deswegen halte ich das für
verkehrt. Das ist der sachlichen Diskussion im Übrigen
auch sehr abträglich.
({5})
Meine Damen und Herren, wir dürfen eines nicht vollkommen aus dem Blick verlieren: Wir reden hier über
die Mobilität von rund 13 Millionen Fahrern eines Dieselfahrzeugs, und es ist durchaus nicht auszuschließen,
dass auch 3 Millionen Fahrer etwas älterer Fahrzeuge mit
einem Ottomotor ebenfalls betroffen sein werden. Deswegen ist diese öffentliche Diskussion, wie gesagt, nicht
vollkommen überraschend.
({6})
Ich fand im Übrigen die Einlassung der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen ganz interessant. Die Kollegin
Haßelmann - ich kann sie gerade nicht sehen - hat am
12. April 2016 eine interessante Pressemitteilung dazu
verbreitet. Das Bemerkenswerte an dieser Pressemitteilung ist Folgendes: Abweichend von allen bisherigen
Redebeiträgen taucht ein Begriff in dieser Pressemitteilung überhaupt nicht auf, nämlich der Begriff „Gesundheitsschutz“. Diesen lesen Sie in dieser Pressemitteilung
nicht. Es geht vielmehr um ein weiteres Skandalisieren
der Vorgänge bei VW. Dafür verwenden Sie im Grunde
genommen die gesamte Pressemitteilung.
({7})
Ich halte das auch insofern für nicht geboten, weil eines vollkommen unbestritten ist: Die Aufklärungsarbeit,
die die Bundesregierung leistet, ist besonders zu loben.
({8})
Sie aber verunsichern mit einer solchen Stellungnahme
vor allen Dingen die 620 000 Beschäftigten bei Volkswagen und die vielen Hunderttausend Beschäftigten bei den
Zulieferunternehmen. Ich glaube, man kann heute sagen,
dass Volkswagen die Lektion gelernt hat.
({9}))
Insofern braucht es einer solchen Diffamierung nicht.
Meine Damen und Herren, wir sagen: Finger weg von
dieser nicht ausgegorenen Idee einer Plakette.
({10})
Wir sagen auch, dass es andere Bereiche gibt, denen wir
uns eher zuwenden sollten. Die Kollegin Nissen, die
mich so ambitioniert anschaut, und ich haben das Thema
von in Bezug auf Emissionen vollkommen unregulierten
Nebenaggregaten bei Kühlfahrzeugen diskutiert; darüber
sind wir uns im Übrigen einig. Ein solches Aggregat hat
den fast zweihundertfachen Stickoxidausstoß, den ein
moderner Diesel-Pkw hat. Ich glaube, es lohnt sich, auch
dort einmal anzusetzen.
({11})
Das sind unsere Vorschläge.
In aller Kürze zusammengefasst:
Erstens. Eine moderne und umweltbewusste Mobilitätspolitik darf sich eben nicht nur auf Verbote und Einschränkungen beziehen. Wir wollen die Bürgerinnen und
Bürger nicht verunsichern.
Zweitens. Wir müssen einen klugen und diskriminierungsfreien Ansatz wählen.
Drittens. Eins ist vollkommen klar: Transparenz bei
Prüfwerten nachhalten, ambitionierte, aber erreichbare
Emissionsvorgaben, intelligente Verkehrssteuerung, ein
attraktiver öffentlicher Personennahverkehr sowie das
Fordern und Fördern von emissionsarmen Fahrzeugen
sind der richtige Weg. Den wollen wir als Unionsfraktion
beschreiten.
Vielen Dank.
({12})
Vielen Dank. - Als nächster Redner hat der Kollege
Lutze von der Fraktion Die Linke das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir sind uns sicherlich darin einig, dass Feinstaub und
Stickoxide für die Gesundheit von uns Menschen alles
andere als förderlich sind, im Gegenteil. Aber manchmal zeigt allein schon die Verwendung eines Begriffs
wie Feinstaub, dass das Problem und die Brisanz eher
verharmlosend wahrgenommen werden. In der gesellschaftlichen Wahrnehmung gelten nämlich die Gefahren
von Feinstaub oftmals als klein, weil darin eben das Wort
„fein“ steckt. Dabei sind Feinstaub und vor allen Dingen
zunehmend auch die Stickoxide für die Menschen lebensgefährlich. Daher ist alles zu unternehmen, dass die
Konzentrationen, gerade in den Innenstädten, wo viele
Menschen leben, deutlich gesenkt werden.
({0})
Carsten Müller ({1})
Wenn man sich heute zum Beispiel eine Schachtel Zigaretten kauft, dann weiß man in der Regel, was man seinem Körper mit dem Rauchen antut. Man muss nur auf
die Schachtel gucken. Wenn man aber, ohne zu rauchen,
durch eine Innenstadt läuft, kann man nur erahnen, was
danach in der eigenen Lunge passiert. Das ist für meine Begriffe ein unmöglicher Zustand, weil beide Sachen
fast gleich gefährlich sind.
Doch was passiert in der verkehrspolitischen Realität?
Während die Autos, glaubt man der Automobilindustrie,
immer sauberer werden, nimmt die Stickoxidkonzentration in vielen Städten eher zu. Vielerorts werden die
gesetzlichen Grenzwerte dauerhaft und deutlich überschritten, teilweise sogar um ein Vielfaches. Um dieses
Problem zu lösen, helfen uns keine neuen Plaketten, Umweltzonen oder halbherzige Fahrverbote. Wir brauchen
vielmehr ein Umdenken in der Verkehrspolitik.
({2})
Drei Punkte: Erstens. Mobilität kann für meine Begriffe nicht bedeuten, dass ich mit meinem Auto jederzeit überall hinfahren kann. Aber nicht Fahrverbote sind
letztendlich zielführend, sondern ein attraktives Angebot
im ÖPNV. Solange Busse und Bahnen von vielen Menschen als zu teuer wahrgenommen werden, bleiben diese
leider Gottes nun einmal hinter ihrem eigenen Lenkrad
sitzen. Um den ÖPNV flexibel und flächendeckend zu
gestalten, muss der Bund endlich mehr Geld in die Hand
nehmen. Die Umweltminister der Länder haben auf ihrer
Konferenz zum Thema „Automobile Abgasemission minimieren“ deutlich gemacht, dass hier der Bund gefragt
ist.
({3})
Aber auch eine Politik der kurzen Wege ist wichtig.
Eine Politik, die kurze Wege und regionale Wirtschaftskreisläufe fördert, kann helfen, Verkehr zu vermeiden
und damit die Umweltbilanz zu verbessern. All das passiert leider Gottes in der Großen Koalition derzeit nicht.
Zweitens. Wir brauchen eine echte Förderung der sogenannten E-Mobilität im Pkw-Bereich. Da helfen uns
keine Kaufprämien für vollkommen überteuerte E-Autos. Da müssen schärfere Gesetze und klarere Regeln her.
Ein kleines Beispiel für ein kleines Segment: Was
spricht denn dagegen, dass man ab 2017 keine Taxis neu
zulässt, die noch einen Dieselmotor haben, oder ab 2019
überhaupt keine Taxis mehr neu zulässt, die noch einen
Verbrennungsmotor haben?
Ich gebe Ihnen Brief und Siegel: Der Marktführer im
Taxiautomobilebereich, Mercedes Benz, braucht keine
14 Tage, um ein marktfähiges Auto auf die Straße zu stellen. Wenn wir das aber nicht machen, werden wir noch
zehn Jahre darauf warten, bis diese Firma tatsächlich
Elektroautomobile herstellt, die konkurrenzfähig sind
und als Taxi genutzt werden können.
Drittens. Die Dieselsubventionen. Dass Dieselabgase
deutlich gefährlicher sind als die von anderen Verbrennungsmotoren, hat sich herausgestellt und ist unstrittig.
Trotzdem ist die Energiesteuer - früher Mineralölsteuer - für Dieselfahrzeuge circa 17 Cent pro Liter niedriger
als für Benzin.
Warum nutzen wir nicht die Chance der derzeitig
niedrigen Kraftstoffpreise und gleichen die Steuersätze
an? Um eines ganz deutlich zu sagen: Damit es zu keiner
zusätzlichen Belastung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer kommt, die täglich auf ihr Auto angewiesen
sind und noch einen Diesel haben, kann man problemlos
in einem zweiten Schritt den Kfz-Steuersatz für Dieselfahrzeuge auf den für Benzinautos senken.
({4})
- Dieser Vorschlag ist auch bei der Linken nicht ganz
unumstritten.
Ich glaube, dass solch ein Schritt dazu führen würde,
dass viele Menschen, die sich ein neues Auto kaufen,
ernsthaft darüber nachdenken, ob es tatsächlich ein Diesel sein muss oder ob man nicht auch auf eine andere
Antriebsart setzen kann.
Mein Fazit ist: Ich denke schon, dass wir im Bundestag das Problem erkannt haben. Da muss man schon blind
sein, sollte man behaupten, dass das nicht der Fall ist.
Zudem besteht Einigkeit darüber, dass gehandelt werden
muss. Damit sich aber die Luft in unseren Innenstädten
tatsächlich deutlich verbessert, ist Handeln gefragt. Die
Oppositionsparteien haben Vorschläge hierzu gemacht.
Jetzt muss auch die Regierung handeln.
Ein herzliches Glückauf! Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank. - Als nächste Rednerin spricht die Kollegin Ulli Nissen von der SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Wir besprechen in der heutigen Aktuellen
Stunde das wichtige Thema der gesundheitsgefährdenden
Abgasbelastung in vielen deutschen Städten. Ich bin der
Ministerin Barbara Hendricks und der Umweltministerkonferenz dankbar, dass sie sich auf ihrer Sonderkonferenz dem Thema „Automobile Abgasemission minimieren, Luftreinhaltepolitik konsequent weiterentwickeln,
Verantwortung für den Gesundheitsschutz ernst nehmen“
gewidmet haben. Das Thema Gesundheitsschutz hat für
mich eine ganz hohe Priorität.
Wir sprechen hier nicht zum ersten Mal über das Problem der Luftverschmutzung in unseren Städten. Das
Thema ist seit „Dieselgate“ immer mehr in den Fokus
gerückt. Die Abgasmanipulationen hatten zur Folge, dass
die Grenzwerte zwar im Test, aber nicht in der Realität
eingehalten werden. Das bedeutet, dass die Schadstoffbelastung natürlich höher ist.
An zwei Drittel aller verkehrsnahen Messstationen
wurde 2015 der EU-Grenzwert von Stickstoffdioxid von
40 Mikrogramm pro Kubikmeter überschritten. Bundesweit liegt Stuttgart bei NOX mit 87 Mikrogramm an der
Spitze. Aber auch in der Friedberger Landstraße, mitten
in meinem Frankfurter Landkreis, lagen die Werte mit
53 Mikrogramm deutlich über den Grenzwerten.
({0})
In vielen Städten gab es Feinstaubalarm, in diesem Jahr
sogar schon mehrfach in Stuttgart. Wegen der Überschreitung der Grenzwerte läuft auch ein Vertragsverletzungsverfahren der EU gegen Deutschland.
Grenzwerte gibt es nicht aus Spaß, sondern aus einem
wichtigen Grund. Grenzwerte gibt es, weil deren Überschreitung eine extreme Belastung für die Gesundheit ist.
Traurige Wahrheit ist auch, dass es mehr Tote durch Verkehrsabgase als durch Verkehrsunfälle gibt. Die EU geht
davon aus, dass jedes Jahr mehr als 10 000 Menschen in
Deutschland vorzeitig an den Folgen von NOX-Konzentrationen in der Atemluft sterben. Mehr als 10 000 Menschen werden also schmerzlich vermisst von ihren Angehörigen und Freunden. Auch denen gegenüber haben wir
eine Verantwortung, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({1})
Wir wissen, dass nicht nur die Dieselfahrzeuge für die
Emissionen verantwortlich sind, aber diese verursachen
die meisten NOX-Emissionen. Will man die Emissionen
senken, muss man auch an die Hauptverursacher gehen.
Das heißt, wir brauchen schnellstmöglich saubere Fahrzeuge.
Was können wir tun? Die Sonder-Umweltministerkonferenz hat eine Reihe von Vorschlägen formuliert. Sie hat
unter anderem vorgeschlagen, dass Manipulationen aufgeklärt werden sollen, dass Vorschriften auf EU-Ebene
wasserdicht verfasst und dann auch eingehalten werden
sollen, dass Sanktionen ausgesprochen werden sollen,
wenn das nicht passiert. Außerdem sollen die Hersteller
in die Pflicht genommen werden. Sie müssen die Kosten
für die Kontrollen übernehmen.
Ich glaube, hierüber müssen wir nicht diskutieren. Das
unterstützen sicherlich alle. Klar ist: Wir müssen handeln.
Die Fahrzeuge und die Städte müssen sauberer werden.
Zunächst sehe ich ganz klar die Automobilindustrie,
also die Hersteller, in der Pflicht. Dies sehe ich aber nicht
als Belastung, sondern als Herausforderung und als große Chance, die unsere großartige deutsche Automobilindustrie sicherlich hervorragend bewältigen wird. Denn
eine emissionsarme oder sogar emissionsfreie Mobilität
ist die Zukunft. Das sollten wir alle inzwischen begriffen
haben und es als große Chance sehen, welche internationale Vorreiterrolle wir hier einnehmen können.
Wir brauchen emissionsarme Technologien. Das können alternative Kraftstoffe oder Antriebe wie bei der
E-Mobilität sein. Ich versuche meinen Teil zur Luftreinheit beizutragen. Ich bin auch im Winter, gut warm angezogen, meist mit meinen Elektrofahrzeugen - dem Roller
oder dem Twizy - unterwegs.
Wir müssen sicherlich weitere Schadstoffquellen identifizieren und auch dort ansetzen. Baumaschinen, Busse
und andere Nutzfahrzeuge sollten wir ebenfalls betrachten. Ich hatte Kontakt zu einem Hersteller - Herr Müller,
ich glaube, Sie hatten auch Kontakt zu ihm -, der emissionsfreie Kühlanlagen für Kühltransporte entwickelt.
Auch Busse fahren teilweise schon mit emissionsfreien
Klimaanlagen. Das sind zwar alles nur kleine Schritte,
aber daran müssen wir arbeiten. Solche Technologien
müssen wir unterstützen, damit sie weiterentwickelt werden können.
({2})
Wir brauchen aber auch neue, kluge Verkehrskonzepte mit weniger Autos in den Städten. Das geht aber nur
mit einem besseren ÖPNV. Wollen wir weiter jahrzehntelang Autoschlangen, die morgens in die Ballungsräume
hi neinkriechen und abends wieder hinaus? Wollen wir
Innenstädte, in denen in Stoßzeiten jeder Fahrradfahrer
schneller ist als die Autofahrer, die im Stau stehen? Ist das
eine moderne, innovative, nachhaltige und umweltfreundliche Verkehrspolitik? Sind das die Städte der Zukunft?
Nein, wir brauchen insgesamt weniger Autos in den
Städten. Wir brauchen nicht nur weniger Dieselfahrzeuge, sondern allgemein einen besseren, verlässlicheren
ÖPNV. Wenn der ÖPNV gut funktioniert, lassen viele Menschen gerne ihre Autos stehen. Hier müssen wir
mehr Geld in die Hand nehmen. Hier sollten die Kommunen auch die nötige Unterstützung bekommen, um das zu
leisten. Denn wir müssen etwas tun. Es gibt viele Stellen,
an denen wir ansetzen können, damit Mobilität moderner, innovativer und vor allem auch umweltfreundlicher
wird. Das ist unser aller Aufgabe.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Vielen Dank. - Als nächster Redner hat der Kollege
Oliver Krischer von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich glaube, man muss noch einmal klar sagen, worüber
wir gerade reden: Es geht um 10 000 Menschen jährlich
in Deutschland, die vorzeitig sterben, weil wir zu hohe
Emissionen im Verkehrssektor haben. Ich finde, jede Bundesregierung und jeder Minister dieser Bundesregierung
müsste alles Notwendige tun, damit diese Zahl zurückgeht. Das ist die Herausforderung, vor der wir stehen. Darum müssen wir uns kümmern, aber dazu kann ich bisher
vonseiten dieser Bundesregierung nur sehr, sehr wenig
feststellen. Das muss einmal klar gesagt werden.
({0})
Herr Müller, Sie haben eben gesagt, die Stickoxidemissionen in Deutschland seien seit 1990 gesunken. Ja,
sie sind gesunken, aber nur auf dem Papier. In der Realität sind sie gestiegen, weil die Fahrzeuge diese Werte nur
auf dem Rollenprüfstand einhalten. Aber wenn sie draußen auf den Straßen in den Innenstädten fahren, steigen
die Emissionen. Genau das ist das Problem. Dass Sie das
immer noch nicht kapiert haben und weiter das Märchen
vom sauberen Diesel erzählen, zeigt, dass immer noch
nicht bei Ihnen angekommen ist, wo das Problem liegt.
({1})
Ich sage an der Stelle: Das Problem, dass wir in den
deutschen Städten diese hohe Stickoxidbelastung haben, verantwortet Alexander Dobrindt. Denn er hätte als
Verkehrsminister in der Vergangenheit jede Möglichkeit
gehabt, auf die Hinweise einzugehen, sie zu überprüfen
und Veränderungen vorzunehmen. Das hat er aber nicht
getan, meine Damen und Herren. Damit trägt er die politische Verantwortung dafür, was dort passiert.
({2})
Frau Hendricks, ich hatte, ehrlich gesagt, vor, Sie zu
loben.
({3})
Ich finde es gut, dass Sie die 16 Umweltministerinnen
und Umweltminister der Länder - übrigens parteiübergreifend; darunter sind auch zwei von der CDU, und es
gibt sogar eine CSU-Umweltministerin; ich dachte, in
Bayern haben die so etwas gar nicht ({4})
unterstützt haben, weil nämlich in dem zuständigen Ressort der Bundesregierung nicht gehandelt wird. Das war
in Ordnung. Jetzt sagen Sie: Herr Dobrindt macht schon
seine Arbeit. - Meine Damen und Herren, wir müssten
nicht über eine blaue Plakette reden, würde Herr Dobrindt
seine Arbeit machen. Das ist die Wahrheit.
({5})
Dass Sie sich jetzt vor ihn stellen, lässt mich daran zweifeln, dass Sie tatsächlich ernsthaft handeln wollen. Ich
frage mich, ob das wieder nur eine Shownummer ist:
Man hat zwar etwas gefordert, aber am Ende setzt sich
der Kabinettskollege in der Verkehrspolitik durch. Das
darf nicht sein. Es muss an dieser Stelle endlich vorangehen.
({6})
Ich finde es gut, dass die Umweltminister 32 Punkte beschlossen haben. Einer davon ist die blaue Plakette. Angesichts der Pöbeleien von Herrn Dobrindt, der
meint, das sei mobilitätsfeindlich und es gehe hier um
eine soziale Frage, bekommt man ein Déjà-vu. Die gleichen Debatten haben wir geführt beim Katalysator, beim
Rußfilter und bei der grünen Plakette. Am Ende wurde
alles eingeführt, weil es notwendig war. Das hat Erfolge
bei der Bekämpfung des Feinstaubs gebracht. Deshalb
werden wir nun auch an dieser Stelle Druck machen. Es
geht doch nicht darum, die Autos aus den Städten zu verbannen, sondern darum - das sagt auch die CSU-Ministerin aus Bayern, Herr Kollege Straubinger -, dass die
Kommunen endlich ein Instrument in die Hand bekommen, mit dem sie handeln können, wenn die Grenzwerte
überschritten werden; das ist der entscheidende Punkt.
Das macht Sinn. Wenn Herr Dobrindt seinen Job machen
würde, erledigte sich das Problem von alleine. Dann
brauchen wir gar keine blaue Plakette.
({7})
Wie wenig Herr Dobrindt seinen Job macht, möchte
ich anhand eines aktuellen Beispiels aufzeigen. Die Automobilunternehmen in Deutschland sagen ganz offen:
Unter 10 Grad Außentemperatur wird die Abgasreinigungseinrichtung in Dieselfahrzeugen ganz oder teilweise abgeregelt. Wir haben in Deutschland eine Durchschnittstemperatur von 10 Grad. Das heißt, sechs Monate
im Jahr funktionieren die Abgasreinigungseinrichtungen
nicht. Wir haben den Wissenschaftlichen Dienst des
Bundestages beauftragt, das rechtlich zu bewerten. Der
Dienst sagt glasklar: Das ist mit EU-Recht nicht vereinbar; das ist illegal. - Nun habe ich Herrn Dobrindt und
sein Ministerium gefragt, was die Bundesregierung tut
und welche Aktivitäten entfaltet werden. Die Antwort,
die mir gestern gegeben wurde, lautete, man habe sich
damit noch nicht befasst und müsse sich das nun erst einmal anschauen. Frau Hendricks, wenn Sie sich ein solches Verhalten zu eigen machen, dann verlieren Sie jede
Glaubwürdigkeit bei diesem Thema.
({8})
Der Kollege Dobrindt will nicht aufklären, sondern die
Probleme aussitzen. Da erwarte ich von Ihnen, dass Sie
Ihre Rolle als Umweltministerin ernst nehmen und nicht
nur in der Öffentlichkeit sagen, dass wir etwas tun müssen, sondern sich endlich auch mit Ihren Umweltministerkollegen in den Ländern gegen den Herrn Bundesverkehrsminister durchsetzen. Das ist die Herausforderung.
({9})
Ich komme zu meiner Schlussbemerkung. Wir brauchen neben Aufklärung und Transparenz endlich nachhaltige Mobilität. Wir brauchen eine Verkehrspolitik,
die Umweltprobleme und Klimaschutz berücksichtigt.
Wir brauchen mehr Elektromobilität. Wir brauchen neue
Technologien und den ÖPNV. Heute Morgen haben wir
über den Flugverkehr diskutiert. Aber egal worüber wir
diskutieren, das Verkehrsministerium reagiert nicht entsprechend. Es geht ausschließlich in die falsche Richtung. Das ist eine falsche Politik. Ich habe inzwischen
die Hoffnung aufgegeben, dass der Mut noch einmal Einzug in dieses Verkehrsministerium hält. Frau Hendricks,
ich würde mich freuen, wenn Sie sich durchsetzten. Aber
nach Ihrem heutigen Redebeitrag bin ich noch skeptischer geworden.
Danke schön.
({10})
Vielen Dank. - Als nächster Redner hat der Kollege
Karsten Möring von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich
mir die Rede von Herrn Krischer vor Augen führe, dann
stelle ich fest: Er arbeitet sich wieder einmal an seinem
Lieblingsfeind, dem Bundesverkehrsminister, ab. Aber
wir sprechen nun über ein umweltpolitisches Problem.
({0})
- Das dürfen Sie. Wenn das für Ihre seelische Hygiene
notwendig ist, dann bitte schön. Er wird das aushalten
können.
({1})
- Wenn Sie zwei zur Auswahl haben, dann haben Sie es
ja gut. Wenn es nicht mehr sind, dann sind wir auch zufrieden, Herr Hofreiter.
Es geht um die umweltpolitischen Fragen im Zusammenhang mit den Abgasproblemen im Verkehr. Ich
möchte eines vorausschicken: Ich hätte mir nicht vorstellen können, dass ich einmal - und sei es nur partiell - mit
der Fraktion Die Linke bzw. einem Teil der Fraktion Die
Linke - in diesem Fall muss ich Herrn Lenkert nennen übereinstimme.
({2})
Denn es geht tatsächlich darum, die Schadstoffwerte zu
senken. Es geht aber nicht darum, die Autofahrer, die im
Vertrauen auf die Rahmenbedingungen, die wir als öffentliche Hand bei der Besteuerung von Diesel gesetzlich
gesetzt haben - wir haben diese Rahmenbedingungen
nicht ohne Grund gesetzt -, bestimmte Autos gekauft,
ihre Mobilität entsprechend ausgerichtet und darauf ihr
Pendlerverhalten abgestimmt haben, zum Beispiel durch
eine Steuererhöhung zu bestrafen, Herr Lutze. Was machen Sie denn, wenn die Preise wieder einmal steigen?
Das ist doch keine Lösung.
Warum haben wir denn Diesel auf diese Weise begünstigt? Doch deswegen, weil er andere Vorteile bietet.
Wir schauen jetzt auf die Nachteile, was NOX angeht,
haben aber aus dem Blick verloren, dass die geringeren
Verbrauche, die CO2-Emissionen, bei Diesel eben auf
der Vorteilsseite stehen. Nun hindert uns niemand daran,
täglich klüger zu werden. Aber wenn wir das über Jahre
hinweg so praktiziert haben, dann können wir das nicht
von einem Tag auf den anderen ändern. Wir können auch
keinem Pendler sagen: Du bekommst keine blaue Plakette und darfst deshalb genau in den Bereich der Stadt nicht
fahren, in dem dein Arbeitsplatz liegt, aber die 50 Kilometer bis zur Stadt darfst du fahren; dann musst du umsteigen.
Erhöhung der Regionalisierungsmittel hin oder her,
ÖPNV-Verbesserungen hin oder her, beides finde ich
richtig, für beides trete auch ich ein, nur: Das löst unser Problem nicht. Was löst unser Problem? Wir müssen
uns auf eine ganze Reihe von Maßnahmen verständigen.
Die Umweltministerkonferenz - Herr Krischer, Sie haben es eben gesagt - hat 32 Maßnahmen genannt. Eine
davon ist die blaue Plakette. Ich meine, das ist nicht die
erste Wahl. Es geht sicher darum, technische Fortschritte
in der Automobilerzeugung, in der Filtertechnik und all
diesen Dingen zu machen, um das Problem in den Griff
zu bekommen. Es gibt aber darüber hinaus Dinge, die die
Kommunen machen können.
Ich will einen kurzen Ausflug in meine Heimatstadt
Köln machen. Auch wir haben das Problem mit der Umweltzone. Wir haben das Problem mit dem Feinstaub
gehabt, wir haben das Problem mit Stickoxid, und wir
haben Hotspots wie manche andere Städte auch. An einem dieser Hotspots wird eine intelligente Lösung ausprobiert, nämlich eine umweltsensitive Ampelanlage, die
den Verkehrsstrom in Abhängigkeit von der Schadstoffsituation steuert; denn ein entscheidender Punkt beim Verkehr in der Stadt ist doch, dass die wesentlich höheren
Emissionen bei stehenden Fahrzeugen im Leerlauf reduziert werden müssen.
Das heißt also: Ein wesentlicher Punkt ist, dass wir den
Verkehr verflüssigen. Das machen wir mit vielen kleinen
Maßnahmen. Eine Abbiegespur, die einen Rückstau entschärft, bringt schon eine ganze Menge, daneben brauchen wir eine konstruktive und kreative Straßenplanung
und Ampelplanung in der Kommune.
Ich nenne noch ein Zweites. Liebe Kolleginnen und
Kollegen von den Grünen, ich weiß nicht, warum Sie
nicht darauf gekommen sind: mehr Grün in die Stadt,
nicht mehr Grüne in die Stadt.
({3})
- Okay, in Grenzen. In Köln haben wir beides. Wir arbeiten dort auch mit den Grünen seit einiger Zeit sehr gut
zusammen.
Mehr Grün in die Stadt heißt zum Beispiel: Eine ausgewachsene Buche hat 15 000 Quadratmeter Blattoberfläche und filtert so viele Schadstoffe aus der Luft, wie
ein Pkw mit 20 000 Kilometer Fahrleistung in einem Jahr
erzeugt. Köln hat 76 000 Straßenbäume; wir haben kein
Feinstaubproblem, nicht nur wegen der Straßenbäume,
aber auch deswegen.
({4})
- Konrad Adenauer hat das schon vor hundert Jahren in
die Wege geleitet und richtig gesagt: Grün in der Stadt
erhöht den Lebenswert.
Wo man keine Straßenbäume pflanzen kann, kann
man Dachbegrünung und Fassadenbegrünung in Angriff
nehmen. Mehr Grün in die Stadt - das ist ein wesentlicher Punkt. Das geht schneller als alle anderen möglichen Maßnahmen.
({5})
- Natürlich, aber alle Maßnahmen außer einem Fahrverbot brauchen eine gewisse Zeit, auch technische Entwicklungen.
Wenn sich ein Problem über eine bestimmte Zeit aufbaut, brauchen wir in der Regel genauso viel Zeit, um es
wieder abzubauen. An dieses Problem gehen wir heran,
und zwar mit Kreativität. Die erwarten wir von den Fahrzeugherstellern, und die erwarten wir von den Planern
auf der kommunalen Ebene. Das ist der Schlüssel zur Lösung. Wenn wir über andere Quellen reden wie Baumaschinen und mobile Geräte - da hat die EU-Kommission
jetzt gerade etwas auf den Weg gebracht -, dann können
wir auch außerhalb des Verkehrs die Quellen erfassen,
die einen wesentlichen Beitrag leisten.
Mein Appell heißt: Mehr Kreativität. Dann kommen
wir ein ganzes Stück voran in dieser Frage.
({6})
Vielen Dank. - Bevor als nächster Redner Arno Klare
von der SPD-Fraktion das Wort ergreift, möchte ich aus
gegebenem Anlass die Redner bitten, die Redezeit wirklich einzuhalten.
({0})
- Arno Klare, das wird Ihnen gelingen; genau. - Bitte.
({1})
Frau Präsidentin, ich werde mich an die Redezeit halten, die jetzt gerade zu laufen angefangen hat.
Wir müssen uns einmal die Fakten anschauen. Es
gibt 514 Messstationen in der Bundesrepublik Deutschland. Sie stehen natürlich an verkehrlichen und Emissions-Hotspots; so ist die Verteilung. An 73 Prozent dieser
Messstationen wurde im letzten Jahr - das kann man
beim Umweltbundesamt nachlesen; die Statistik kann
man sich über die Exceltabelle und Auswertungsfilter anzeigen lassen - der Grenzwert unterschritten. In 27 Prozent wurde der Grenzwert von 40 Mikrogramm NOX im
Jahresdurchschnitt überschritten.
67 Prozent - ein bisschen viele Zahlen, ich weiß; aber
ab und zu muss es mal sein - der NOX-Belastung resultieren aus dem Verkehr. Wenn das so ist, dann muss man
sich klarmachen: 33 Prozent kommen nicht aus dem Verkehr, sondern aus anderen Quellen. Auch die muss man
betrachten. Also: Es ist nicht nur der Minister für Verkehr
zuständig - er ist schon für einen großen Teil zuständig -,
es sind auch noch andere zuständig.
({0})
71 Prozent von diesen 67 Prozent resultieren aus dem
Pkw-Verkehr und nur ein kleinerer Teil, 22 Prozent, aus
den Nutzfahrzeugen. Die Busse im öffentlichen Verkehr
({1})
sind relativ vernachlässigbar; ihr Anteil liegt nämlich bei
nur 5 Prozent. Gleichwohl gibt es relativ viele, die sich
darüber Gedanken machen. Die gerade schon erwähnte
Stadt Köln zum Beispiel - da bin ich vor einiger Zeit
gewesen - hat Elektrobusse eingeführt, um genau auf
den hauptbelasteten Strecken Entlastung zu schaffen zusätzlich zu den vielen Buchen und anderen Bäumen,
die da stehen.
({2})
- Hamburg hat Wasserstoffbusse. - In Hannover - da bin
ich jetzt auch gewesen; Barbara Hendricks war ebenfalls
da - sind auch Elektrobusse eingeführt worden. Das ist
ein Weg, den man gehen muss.
Kirsten Lühmann, die den Zwischenruf gemacht hat,
hat mir gerade ein Buch geschenkt, das von Wasserstoff
handelt, von der Wasserstofftechnologie der Zukunft. Auf
einer Seite ist ein wunderschönes Bild: ein Ortsschild,
das besagt: Man muss von „Kurzfristig“ nach „Nachhaltig“ kommen. - Das ist der Punkt. Deshalb habe ich gerade davon geredet, dass die Einführung von Elektrobussen
ein Schritt ist, der gegangen werden muss; viele andere
Schritte sind auch schon genannt worden.
Ich bin nicht so weit, obwohl ich mich ein bisschen
mit Quantenphysik auskenne, dass ich weiß, dass Messverfahren Zustände verändern können. Ich glaube nicht,
dass wir durch Messen oder durch RDE und all das die
NOX-Belastung reduzieren werden.
({3})
Wer das glaubt, liegt wahrscheinlich völlig falsch. Wir
müssen sie real reduzieren. Reale Reduktion tritt nur ein,
wenn man ein ganzes Bündel von Maßnahmen ergreift,
das am Ende auch Wirkung erzeugt; vieles von dem ist
gerade schon genannt worden.
Die Ministerin hat dankenswerterweise darauf hingewiesen, dass auch der öffentliche Verkehr gefördert
werden muss. Wir tun das; denn wir haben die Regionalisierungsmittel von 7,3 Milliarden Euro auf 8 Milliarden
Euro hochgefahren. Wir haben die Dynamisierungsquote
auf 1,8 Prozent hochgefahren. All das ist Realität. Die
Forderung, auf 8,5 Milliarden Euro zu gehen, ist nicht
ganz unvernünftig. Wir haben die Mittel jedenfalls hochgefahren. Wir haben auch die Mittel zur Verbesserung
der H2-Infrastruktur hochgefahren; das ist für die Zukunft wichtig. Wir werden in dieser Legislaturperiode
die Gewährung des Steuervorteils für Gasfahrzeuge verlängern, über das Datum in 2018 hinaus. Auch das ist ein
wichtiger Beitrag. Wir werden so etwas wie Incentives,
Anreize, für den Einstieg in die E-Mobilität setzen.
({4})
Das ist nicht nur etwas für reiche Leute. Wir müssen diesen Markt öffnen. Die Niederlande machen es vor. Die
Niederlande, ein Nachbarland von Nordrhein-Westfalen - deshalb kenne ich mich da ganz gut aus -, haben
mehr E-Fahrzeuge auf den Straßen als wir in Deutschland, und die Niederlande sind nur ungefähr so groß wie
Nordrhein-Westfalen.
Wir brauchen natürlich auch integrierte regionale
Mobilitätskonzepte, die die Umsteigemöglichkeiten zwischen den einzelnen Mobilitätsformen verbessern, damit
es für die Bürger leichter wird. Deswegen werden wir
in dieser Legislaturperiode in allernächster Zukunft auch
ein Carsharing-Gesetz vorlegen, das sicherstellt, dass das
rechtssicher in die Mobilitätskonzepte der Kommunen
integrierbar ist.
({5})
- Ich kann Ihnen in einem Privatissimum gern einmal die
juristischen Probleme erklären, die es dabei gibt.
Ich bin durchaus der Meinung, dass wir dort auf dem
richtigen Weg sind.
Das Thema „intelligente Verkehrssteuerung“ ist gerade schon angeklungen. Auch da müssen wir einen weiteren Schritt nach vorn tun. Sie wird ebenfalls aus Mitteln
der Bundesregierung gefördert und auch bei den Forschungsinstituten vorangetrieben. Ich bin relativ sicher:
Wenn wir alle diese Maßnahmen zusammennehmen,
werden wir sozusagen die Kurzfristigkeit verlassen und
auf Nachhaltigkeit zusteuern können.
Danke.
({6})
Das war auf den Punkt genau in der Zeit.
Ich bedanke mich bei dem Kollegen, dass er das wirklich auf den Punkt genau hingekriegt hat
({0})
- und inhaltlich dann noch viele Aussagen getroffen hat,
kein Widerspruch. Ganz herzlichen Dank.
Der Kollege Artur Auernhammer von der CDU/
CSU-Fraktion hat das Wort.
({1})
Verehrte Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Die Aufregung um
diese blaue Plakette war am Wochenende so groß, dass
sich gleich die Sitzbezüge des Plenarsaals so tief in blau
gefärbt haben, dass man regelrecht geblendet ist von diesem Blau.
({0})
Ich weiß nicht, ob das die Aufregung eigentlich wert war.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die aktuelle
Idee, noch 2016 eine blaue Plakette einzuführen, ist nicht
ganz ausgegoren und für mich eine sehr kurzfristige Lösung.
({1})
- Ich sage es Ihnen noch, Frau Nissen, was Bayern für
eine Meinung hat. Ist vielleicht interessant für Sie.
({2})
Eine blaue Plakette kann bestenfalls nur Symptome
bekämpfen, nützt aber der Natur nicht. Ich glaube, Peter
Meiwald war es, der die Feinstaubdiskussion hier angezettelt hat. Gerade die Diskussion um Feinstaub und die
daraus entstandene Gesetzgebung, die wir hier beschlossen haben, hat dazu geführt, dass im Jahre 2015 - wir sind
ja alle Freunde regenerativer Energieformen und dergleichen - die Zahl der neu angeschlossenen Biomasseheizungen um 30 Prozent zurückgegangen ist. Gleichzeitig
ist die Zahl neuer Ölheizungen um 30 Prozent gestiegen.
({3})
Jetzt stellt sich die Frage: Ist das im Sinne von Klimaschutz? Ist das in unserem Sinne? Insofern bitte ich, hier
mit dem nötigen Sachverstand, mit der nötigen Ruhe an
diese Diskussion heranzugehen.
({4})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Kollege
Möring hat bereits den Themenkomplex „Mehr Grün
in die Stadt“ richtigerweise angesprochen. Wir hatten ja
gestern Abend auf Einladung der Frau Ministerin die Gelegenheit, zu sehen, welche guten Projekte auch hier in
Berlin beim Thema „Grün in der Stadt“ realisiert werden.
Mehr Grün hilft dem Naturschutz in der Stadt - ich betone: grüne Pflanzen und nicht grüne Politiker.
({5})
- Ja, wir denken schon etwas weiter, was die Farbe Grün
anbelangt.
({6})
- Herr Kollege, das diskutieren wir später aus.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, was wir in
erster Linie brauchen, sind innovative Technologien, die
auch marktfähig sind. Wir haben sehr viele gute Ansätze
im städtischen Verkehr, sei es beim öffentlichen Personennahverkehr - hier gibt es verschiedene Antriebsformen und dergleichen - oder natürlich beim Thema
Elektromobilität. Elektromobilität ist eine Mobilität der
Zukunft. Nur aktuell sieht das noch anders aus: Wenn
ich mir ein Elektroauto kaufe und bei mir in der Region im Wahlkreis unterwegs bin, komme ich vielleicht zu
meinem Termin hin, aber nicht mehr nach Hause. Wir
brauchen hier endlich ein vernünftiges Netz an Ladestationen, und wir brauchen hier noch eine wesentlich bessere
Technologie, die die Reichweite dieser Pkws wesentlich
erweitert. Hier muss noch sehr viel Innovation hineingesteckt werden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn wir
jetzt durch die Einführung einer blauen Plakette dazu
kommen, dass, wie es uns mancher Automobilklub vorgerechnet hat, bis zu 13 Millionen Pkws in Deutschland
nicht mehr in die Regionen dieser blauen Plakette hineinfahren können, dann müssen wir uns auch überlegen:
Wer kann sich das in Zukunft leisten? Das sind in erster
Linie die Besserverdiener, die sich neben dem Zweitauto noch ein drittes Auto, ein Elektroauto, leisten können.
Deshalb: Langfristig bessere Voraussetzungen für die
E-Mobilität schaffen, und langfristig wirtschaftlichere
Voraussetzungen schaffen! Das kann nicht durch eine
Einmalzahlung von ein paar Tausend Euro geschehen.
Das muss durch die Rahmenbedingungen geschehen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, innerhalb
der Städte finden Sie auch sehr viele andere Verbrennungsmotoren, zum Beispiel in Baumaschinen. Wenn
Sie sehen wollen, wie innovativ und fortschrittlich unsere deutsche Baumaschinenwirtschaft ist, gehen Sie nach
München und besuchen dort die bauma. Dort werden
sehr viele emissionsarme Projekte vorgestellt. Das ist,
glaube ich, beispielgebend.
Deshalb hat auch unsere bayerische Umweltministerin - Frau Nissen, ich bin bei der bayerischen Umweltministerin; ich bitte um Gehör ({7})
gesagt, dass die blaue Plakette kurzfristig keine Lösung
sein kann. Es muss mittel- und langfristig gedacht werden. Deshalb finde ich es vor allem wichtig, dass wir Umweltministerium und Verkehrsministerium - miteinander diskutieren. Dann, glaube ich, finden wir auch
eine vernünftige Lösung.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({8})
Vielen Dank. - Als nächster Redner spricht Detlev
Pilger von der SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es wurde vielfach beschrieben: Wir stehen vor einer
Herausforderung in unserem Land, die uns alle betrifft.
Die Abgaswerte in der Luft sind derart hoch, dass unsere
Gesundheit und - das muss man auch betonen - die Gesundheit unserer Kinder - weil sie eben noch klein sind,
trifft es sie besonders - gefährdet sind. Darum kann man
nicht herumreden. Das, was wir heute tun, muss schlicht
und ergreifend funktionieren. Man kann nicht warten, es
muss gehandelt werden. Und das tut unsere Bundesumweltministerin Barbara Hendricks.
({0})
Für mich persönlich gibt es neben den zunächst kurzfristigen Maßnahmen, die ergriffen werden müssen, damit die Abgaswerte gesenkt werden, noch die mittelfristige Lösung; die halte ich für fast noch wichtiger. Woher
kommen denn die hohen Stickstoffdioxidwerte? Natürlich von den Kraftwerken und den Feuerungsanlagen,
aber auch zu einem großen Anteil aus dem Verkehr. Der
Verkehr hat uns in den letzten Monaten erhebliche Kopfschmerzen bereitet. Das wurde durch einen verheerenden
Abgasskandal und natürlich auch durch das Mahnverfahren der EU ausgelöst. Die Abgasrichtwerte, die Messverfahren, die Machenschaften der Automobilindustrie
stehen plötzlich und endlich im Fokus.
„Dieselgate“ hat uns einige schwerwiegende Probleme in Bezug auf unsere Autoindustrie vor Augen geführt. So ist an jedem Negativen auch immer etwas Gutes, nämlich in diesem Fall, dass „Dieselgate“ uns das
Problem der Abgaswerte vor Augen geführt hat und die
Elektromobilität hierdurch einen neuen Auftrieb erfahren
hat. Endlich kommt Bewegung in das Thema Elektromobilität. Denn wir dürfen uns nichts vormachen: Die
Technik der Verbrennungsmotoren gehört eigentlich zum
Gestern und zur Vergangenheit.
({1})
- Vielen Dank, Herr Krischer. Ich komme nachher auf
Sie zurück.
Wir müssen eine Transformation schaffen; denn wenn
wir über CO2-Emissionen reden, können wir die Emissionen des Verkehrs nicht kleinreden, nur weil wir das
Land der Autobauer sind. Wir müssen neue Autos bauen,
und zwar solche, die ausschließlich mit Strom betrieben
werden und ihren Strom wiederum ausschließlich aus regenerativen Quellen beziehen. Das ist unser Ziel, und das
wollen wir erreichen.
({2})
Wir müssen uns fragen, wie wir diese Transformation
schaffen können. Wir haben - die Umweltministerin hat
es zu Beginn der Regierungszeit betont - vor, bis 2020
1 Million solcher Fahrzeuge auf die Straßen zu bekommen. Das ist ein sehr ambitioniertes Ziel; das wissen
wir alle. Wir haben gegenwärtig lediglich 25 000 Fahrzeuge auf den Straßen. Da sehen wir, was wir in dieser
relativ kurzen Zeit noch vor uns haben. Aber wir haben
heute die historische Chance, das anzugehen. Wir brauchen Maßnahmen, um die Elektromobilität auszuweiten.
Dazu gehört für mich eine sozialverträglich ausgestaltete Kaufprämie. Wir müssen Anreize für die Bevölkerung schaffen, damit sie sagt: Ja, wir kaufen ein solches
Auto. - Liebe Kolleginnen und Kollegen, dies haben wir
schon einmal erfolgreich praktiziert - in einem anderen
Zusammenhang -, nämlich mit der Abwrackprämie.
({3})
- Doch, Herr Krischer, es ist ein gutes Beispiel.
({4})
Damals handelte es sich um eine Talsohle der Wirtschaft,
und wir konnten dadurch die Wirtschaft stabilisieren und
unsere Arbeitsplätze sichern. Das ist ein gutes Beispiel!
({5})
Die Kaufprämie schafft, finde ich, vernünftige Anreize. Das müssen wir hinkriegen. Ansonsten wird sich der
Markt nicht in diesem Bereich stabilisieren.
Wir brauchen unbedingt eine vernünftige Ladeinfrastruktur. Wer von uns würde sich denn ein Auto kaufen,
wenn er nicht die Gewissheit hätte, dass er sein Auto
nach einer überschaubaren Kilometerzahl wieder aufladen könnte? Das würde natürlich niemand machen.
Dazu, liebe Kolleginnen und Kollegen, wird die Industrie allein nicht in der Lage sein. Was die Infrastruktur
anbelangt, müssen wir helfen. Wir müssen über entsprechende Finanzierungsmodelle nachdenken.
Ich darf an dieser Stelle noch kurz einwerfen: Das gilt
nicht nur für die Infrastruktur von Automobilen, sondern
auch für die von E-Bikes. Die Marktanteile von E-Bikes
und elektrobetriebenen Rollern wachsen zunehmend.
({6})
Wir dürfen auch die Automobilindustrie nicht aus der
Pflicht entlassen. Da wird ein Tesla - ein tolles Auto, ein
Superauto; ich durfte es fahren - produziert. Es befindet
sich aber in einem Preissegment von 80 000 Euro. Damit
kann der Markt nicht erschlossen werden.
VW, BMW und Tesla bringen jetzt ein Mittelklassemodell in der Preisklasse zwischen 31 000 und 35 000 Euro
auf den Markt. Das ist ein Einstieg, aber auch dieser Wagen ist noch nicht für jeden Geldbeutel erschwinglich.
Die Autos müssen preiswerter werden. In diesem Fall ist
die Automobilindustrie gefordert.
An dieser Stelle darf ich auch einmal betonen: Ich
kann die Meinung der Industrie zu diesem Punkt nicht
nachvollziehen. Denn wenn wir die Bemühungen unserer Industrie um Elektromobilität nicht steigern könnten,
bekämen wir international ein Problem. Wir würden abgehängt werden, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({7})
China, Frankreich und die USA sind uns weit voraus.
Frau Präsidentin, ich komme zum letzten Punkt. Ich
möchte noch eine Lanze für die Kommunen brechen. Die
sind durchaus bereit. Ich habe mit Vertretern verschiedener Kommunen gesprochen. Eine Kollegin sagte, dass
in Hamburg in vorbildlicher Weise Wasserstoffbusse auf
die Straße gebracht werden. Das ist sehr zu loben. Es gibt
aber - Entschuldigung! - viele unterfinanzierte Städte,
die nicht in der Lage dazu sind, es aber gerne machen
würden. Ein solcher Bus ist in der Anschaffung doppelt
so teuer wie ein normaler. Und es müssen immer noch
ein paar herkömmliche Busse vorgehalten werden, damit
die anderen aufgeladen werden können. Da brauchen die
Kommunen Unterstützung. - Auch das hätte Vorbildcharakter für die Bevölkerung.
Wir brauchen eine klare Haltung - so wie die Ministerin sie lebt. Sie lässt sich auch nicht vom Verkehrsminister einschüchtern. Weiter so, damit die Elektromobilität
Fahrt aufnimmt und die Städte und Gemeinden lebenswerter werden.
Vielen Dank.
({8})
Als letzter Redner hat Oliver Wittke von der CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Diese Aktuelle Stunde ist der untaugliche Versuch von
Bündnis 90/Die Grünen, ihren altbekannten Feldzug gegen das Automobil im Allgemeinen und gegen die Dieseltechnologie im Speziellen fortzusetzen.
({0})
Darum frage ich Sie, Herr Kollege Meiwald: Wie kommen Sie eigentlich dazu, von einem Dieselskandal zu
sprechen? Es ist ein VW-Skandal, ja!
({1})
Wenn Sie aber von Dieselskandal reden, dann wollen
Sie doch den Eindruck erwecken, als sei hier eine ganze
Technologie an den Pranger zu stellen. Am liebsten wollen Sie die ganze Branche an den Pranger stellen.
({2})
Wir lassen Ihnen das nicht durchgehen, weil es irreführend ist. Das, was Sie machen, ist nicht ehrlich!
({3})
Im Übrigen, Herr Kollege Meiwald, wenn Sie von
Steuerprivilegierung bei Diesel sprechen, warum reden
Sie dann nicht von einer Steuerdiskriminierung von Dieselfahrzeugen? Sie wissen, dass die Dieselfahrzeuge höDetlev Pilger
her als Fahrzeuge mit normalen Verbrennungsmotoren
besteuert werden. Darum wäre es nur fair,
({4})
wenn Sie mit ausgewogeneren Ausführungen vor das
Hohe Haus treten bzw. versuchen würden, abzuwägen
und das gesamte Spektrum darzustellen.
({5})
Genau das machen Sie aber nicht.
Es gibt Gott sei Dank auch einige Grüne, die etwas
differenzierter argumentieren. Ich will aus der Stuttgarter Zeitung vom 8. April dieses Jahres zitieren:
Die baden-württembergische Landesregierung hat
bei der Umweltministerkonferenz in Berlin dagegen
gekämpft, die Marktchancen für Fahrzeuge mit Dieselantrieb durch ein Drehen an der Steuerschraube
zu verschlechtern. … Deshalb müssten im Gegensatz zu dem Steuervorstoß die Dieseltechnologie
gestärkt und die Kontrollen zur Überwachung der
Abgaswerte verbessert werden.
({6})
Und ein Spitzenbeamter aus dem Hause von Winni
Hermann - einer seiner Abteilungsleiter - hat weiter erklärt: „Wir brauchen den Diesel, schon um unsere Klimaschutzziele im Sektor Verkehr zu erreichen.“ Recht hat
der Mann. Recht hat das baden-württembergische Verkehrsministerium.
({7})
Damit wir nicht nur über Baden-Württemberg reden,
will ich Ihnen auch sagen, wie sich die hessische Umweltministerin aktuell eingelassen hat. Ich zitiere aus der
Frankfurter Rundschau vom 13. April 2016;
da heißt es:
Aus Gründen der Verhältnismäßigkeit müsse abgewartet werden, bis ihr Anteil
- der Anteil der Euro-6-Diesel wächst, heißt es aus dem Hause Hinz. „Ansonsten käme die Einführung einem Dieselfahrverbot
gleich.“
Ja, natürlich ist es ein Dieselfahrverbot, wenn Sie die
sofortige Einführung der blauen Plakette fordern, weil
13 Millionen Fahrzeuge dann eben nicht mehr in Innenstadtbereiche fahren dürfen.
({8})
Um es klar und deutlich zu sagen, Herr Kollege
Krischer: Auch da sind Sie auf einem Holzweg. Natürlich haben die Automobile in den vergangenen Jahren
massiv dazu beigetragen, dass weniger Schadstoffe ausgestoßen worden sind.
({9})
Ich will Ihnen die Zahlen vor Augen führen: Die Emission von Partikeln wurde in den vergangenen 22 Jahren um
97 Prozent vermindert.
({10})
Mit modernen Dieselsystemen lässt sich der Kraftstoffverbrauch um über 20 Prozent gegenüber Ottomotoren
reduzieren.
({11})
Die durchschnittlichen CO2-Emissionen von Pkw sind
seit 1995 um 30 Prozent gesunken.
({12})
Seit der Einführung der Euro-3-Norm wurden die
NOX-Emissionen von Diesel-Pkw um 84 Prozent reduziert.
({13})
Der Dieselmotor liegt hier seit Einführung der Euro-6Norm, also jetzt aktuell, mit dem Ottomotor annähernd
gleichauf,
({14})
und das bei 25 Prozent weniger Verbrauch und 15 Prozent weniger CO2-Ausstoß. Eine Studie des Umweltbundesamtes prognostiziert eine Verringerung des NOX-Ausstoßes bis 2030 gegenüber 1990 um 90 Prozent. Die
umfassende Nutzung von modernen Dieselpartikelfiltern
wird dafür sorgen, dass selbst kleinste Partikel, also weniger als 2,5 Mikrometer große Partikel, künftig ausgefiltert werden. Das heißt, die Luft kommt sauberer aus dem
Fahrzeug heraus, als sie angesogen wurde.
({15})
- Ja, aber natürlich ist das der Fall. Das können Sie nicht
wegdiskutieren.
({16})
Es gibt allerdings einen anderen Bereich, in dem ich
Handlungsbedarf sehe. Eine Studie der Bundesanstalt für
Straßenwesen hat nachgewiesen, dass eine Vielzahl von
Katalysatoren, die nachgerüstet werden - Ersatzkatalysatoren -, nicht funktionstüchtig ist. Experten gehen davon aus, dass über 1 Million Ersatzkatalysatoren, die im
Nachhinein eingebaut worden sind, ihre Arbeit nicht verrichten. Wenn es uns gelänge, da nur das geltende Recht
anzuwenden,
({17})
also nicht eine neue Regelung einzuführen, sondern nur
dafür zu sorgen, dass diese Katalysatoren, die nachgerüstet worden sind - die Billigkatalysatoren, die im Internet
für unter 100 Euro zu bestellen sind -, aus dem Verkehr
gezogen werden, wenn es beispielsweise Abgaskontrollen gäbe, die nachwiesen, dass diese Katalysatoren nicht
funktionieren,
({18})
dann würden wir einen wesentlichen Beitrag zur Entlastung unserer Innenstädte von Emissionen leisten, dann
könnten wir uns jede Debatte um eine blaue Plakette sparen.
({19})
Frau Präsidentin, wenn ich darf, sage ich noch drei
Sätze. - Herr Krischer, Sie haben sich verwundert darüber gezeigt, dass es in Bayern ein Umweltministerium
gibt. Ich habe gerade einmal nachgegoogelt: Das bayerische Umweltministerium wurde 1970 geschaffen, zehn
Jahre vor Gründung der Partei Die Grünen. Vielleicht
liegt es daran, dass Sie in Bayern nichts zu melden haben.
({20})
Vielen Dank.
({21})
Ich beende die Aktuelle Stunde.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einstufung der Demokratischen Volksrepublik
Algerien, des Königreichs Marokko und der
Tunesischen Republik als sichere Herkunftsstaaten
Drucksache 18/8039
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. Gibt es dazu
Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so
beschlossen.
Ich möchte die Kolleginnen und Kollegen bitten, ihre
Plätze einzunehmen und die Diskussionen draußen im
Foyer fortzusetzen, aber nicht hier im Plenarsaal.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner in dieser Debatte hat der Bundesminister Dr. Thomas de Maizière für die Bundesregierung das Wort.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Ich bringe heute für die Bundesregierung den Gesetzentwurf ein, der die Staaten Tunesien, Marokko und Algerien als sichere Herkunftsstaaten bestimmen soll. Dieser Gesetzentwurf orientiert sich
an drei Grundsätzen:
Erstens. Jeder Mann und jede Frau bekommen in
Deutschland ein faires Asylverfahren. „Faires Asylverfahren“ heißt, dass jeder Antragsteller seine Situation in
einer persönlichen Anhörung vortragen kann, und das
heißt, dass diese Angaben sorgfältig geprüft werden.
Auch Antragsteller aus sicheren Herkunftsstaaten erhalten, wie alle anderen, ein Asylrecht, wenn sie einen Asylgrund geltend machen können. Daran soll und wird auch
der vorliegende Gesetzentwurf nichts ändern. Dennoch:
Die Einstufung als sicheres Herkunftsland wird Veränderungen für Antragsteller aus diesen Ländern bringen. Wir
führen eine gesetzliche Vermutung ein, dass Asylanträge
aus diesen Ländern unbegründet sind. Der Asylantrag
wird abgelehnt, wenn der Antragsteller nicht nachweisen
kann, dass er über einen Asylgrund verfügt.
Im letzten Jahr wurden etwa 26 000 Asylbewerber aus
den drei Staaten in Deutschland registriert. Die Anerkennungsquote für Tunesien lag bei 0,0 Prozent, für Algerien lag sie bei unter 1 Prozent, für Marokko bei etwa
2,3 Prozent; im ersten Quartal 2016 lag die Quote sogar
nur bei 1,2 Prozent. Wir zeichnen also per Gesetz eine
Entwicklung nach, die längst Alltag ist. Asylanträge aus
Tunesien, Marokko und Algerien haben in der Regel keine Aussicht auf Erfolg. Menschen aus diesen Ländern
kommen ja auch überwiegend aus asylfremden Gründen nach Deutschland: Sie wollen Arbeit, und sie wollen
ein besseres Leben. Leider kommen manche aus diesen
Staaten nach Deutschland, um hier Straftaten zu begehen. Das Asylrecht ist aber nicht das richtige Instrument,
um die vielen wirtschaftlichen und sozialen Probleme
in den Herkunftsländern aufzufangen. Asylrecht ist kein
Einwanderungsrecht.
({0})
Der zweite Grundsatz. Jeder hat ein Interesse an einem schnellen Asylverfahren, zumindest sollte jeder
Interesse an einem schnellen Asylverfahren haben. Was
meine ich damit? Wir wollen nicht, dass bereits die Dauer des Asylverfahrens einen Anreiz darstellt, hier einen
aussichtslosen Asylantrag zu stellen, weil man in dieser
Zeit untergebracht und versorgt wird, vielleicht besser als
im Herkunftsland. Das geht zulasten der Kommunen, das
geht zulasten der öffentlichen Haushalte, und das geht
letztlich auch zulasten der schutzbedürftigen Asylantragsteller, weil für sie weniger Kapazitäten zur Verfügung
stehen.
Die Einstufung der Maghreb-Staaten als sichere Herkunftsstaaten erlaubt es den Behörden und Gerichten,
schneller über Anträge aus diesen Ländern zu entscheiden.
({1})
Die Anträge können in den besonderen Aufnahmeeinrichtungen zügig zum Abschluss gebracht werden. Die
dem Ausländer zu setzende Ausreisefrist verkürzt sich
auf eine Woche; das könnten Sie sonst nicht machen,
Frau Kollegin Amtsberg. Auch eine Klage ist innerhalb
einer Woche zu erheben und hat keine aufschiebende
Wirkung; das ist in den anderen Fällen anders. Das zuständige Verwaltungsgericht soll grundsätzlich innerhalb
einer Woche über den Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz entscheiden, auch das ist in anderen Fällen anders.
All das senkt den Anreiz, hier einen chancenlosen Asylantrag zu stellen. Und das ist auch Absicht des Gesetzes.
Der dritte Grundsatz. Schnellere Asylverfahren sind
wichtig, aber genauso wichtig ist, dass abgelehnte Asylbewerber, wenn kein sonstiger Duldungsgrund vorliegt,
Deutschland schnell wieder verlassen und in ihre Länder zurückkehren, freiwillig oder durch Abschiebung.
Bislang verzögerten sich Abschiebungen nach Tunesien,
Marokko oder Algerien auch, weil die Zusammenarbeit
mit diesen Ländern bei der Identifizierung ihrer Staatsbürger und bei der Ausstellung von Reisedokumenten
schwerfällig war.
Ich bin vor einigen Wochen in Tunesien, Marokko
und Algerien gewesen und habe dort Vereinbarungen
treffen können, die die Rückführung aus Deutschland
in diese Länder erleichtern. Warum haben diese Länder
das gemacht? Diese Länder und diese Regierungen wollen nicht, dass ihr guter Ruf und der gute Name derjenigen Bürgerinnen und Bürger, die zu Zehntausenden in
Deutschland rechtstreu, als Steuerzahler, als Beitragszahler, als gute Nachbarn, leben, in Mitleidenschaft gezogen
werden durch eine kleine Zahl von Straftätern, die den
Namen dieser Länder beschmutzen. Das wollen diese
Länder nicht. Deswegen sagen sie - gerne, ungerne -:
Wir nehmen die Menschen zurück, wenn ihr Asylantrag
abgelehnt wird. - Und das ist richtig so.
({2})
Die Bundesregierung hat sich die Einstufung von Algerien, Marokko und Tunesien als sichere Herkunftsstaaten dennoch nicht leichtgemacht. Wir haben uns anhand
der Rechtslage, der Rechtsanwendungen und der allgemeinen politischen Verhältnisse ein Gesamturteil über
die Verhältnisse in den jeweiligen Staaten gebildet. In
der Begründung dieses Gesetzentwurfs werden die Erwägungen für jedes der drei Länder ausführlich dargelegt. Ich weiß natürlich aus den Besprechungen mit den
Ministerpräsidenten der Länder, dass diese - und insbesondere einer - sehr viel Wert darauf legen, dass ihnen
in der Begründung überzeugend dargelegt wird, wie die
gesamtpolitische Einschätzung dieser Länder ist.
Auch wenn Algerien, Marokko und Tunesien als sichere Herkunftsstaaten eingestuft werden, so verschließen wir dennoch nicht die Augen vor bestehenden Defiziten, die es auch in diesen Staaten im Hinblick auf die
Menschenrechte gibt. Aber alles in allem kann man mit
guten Gründen sagen, dass diese drei Staaten - wie viele
andere in der Welt auch - sichere Herkunftsstaaten sind.
Sie selbst wollen es auch: Sie wollen als sichere Herkunftsstaaten bestimmt werden.
Aus all diesen Gründen bringe ich diesen Gesetzentwurf ein und bitte um zügige Beratung und später dann
auch um Zustimmung im Bundesrat.
Auf eine konstruktive Beratung in diesem Haus!
({3})
Vielen Dank. - Als nächste Rednerin spricht Ulla
Jelpke von der Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Minister, Sie haben eben wieder deutlich gemacht, wie
Sie Menschenrechtsverletzungen in den Maghreb-Staaten Algerien, Marokko und Tunesien bagatellisieren. Sie
haben vor allen Dingen sehr deutlich gemacht, dass Menschenrechtsverletzungen für die Bundesregierung bei der
Einstufung von Ländern als sichere Herkunftsstaaten
überhaupt keine Rolle mehr spielen. Was nicht passt,
wird passend gemacht. Ich finde, das ist eine Ungeheuerlichkeit, wenn man weiß, welche Menschenrechtsverletzungen in diesen Ländern passieren.
({0})
Meine Damen und Herren, wir haben es eben gehört:
Die Bundesregierung will die Maghreb-Staaten Algerien,
Marokko, Tunesien als sichere Herkunftsstaaten bezeichnen und als solche einstufen. Der Anteil von Flüchtlingen
aus diesen Staaten ist im letzten Monat, im März, äußerst
gering gewesen. Aus Algerien kamen zum Beispiel gerade einmal 212 Personen. Aus Marokko kamen 225 Personen, aus Tunesien kamen nur 43.
Die Flüchtlinge aus diesen Ländern, die Schutz suchen, dürfen hier nicht einem Schnellverfahren unterzogen werden. Schnellverfahren bedeutet, in Sonderlager
verbracht zu werden. Innerhalb von zwei Wochen muss
dann über den Asylantrag entschieden werden, wobei
eine verschärfte Residenzpflicht gilt. Das ist äußerst fragwürdig. Die Flüchtlinge haben so auch keinen richtigen
Rechtsschutz. Deswegen fordert die Linke nach wie vor:
Alle Menschen haben ein Recht auf ein faires Asylverfahren.
({1})
Der Minister hat eben etwas von einer Schutzquote erzählt. Ich will dies richtigstellen: Die bereinigte Schutzquote für Algerien lag im Jahr 2015 bei 5 Prozent. Für
Marokko lag sie sogar bei 8 Prozent. Diese Zahlen belegen: Flüchtlinge haben hier Schutz verdient.
Anfang März konnte ich mir selbst ein Bild von Marokko machen. Es gibt dort drei große Tabuthemen: erstens die Staatsreligion, der Islam, zweitens die Monarchie, drittens die Besatzung der Westsahara. Schon im
Pressekodex steht, dass man diese Themen nicht diskutieren oder kritisieren darf. Wer das dennoch tut, bringt
sich und seine Familie in Gefahr. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International beschreibt die Folgen.
Ich zitiere:
Schläge, schmerzhafte Positionen, Sauerstoffentzug, simuliertes Ertränken, psychische und sexuelle
Gewalt: Dies sind nur einige der vielen Foltermethoden, die marokkanische Sicherheitskräfte einsetzen, um „Geständnisse“ zu erzwingen oder um
Aktivistinnen und Aktivisten und Andersdenkende
zum Schweigen zu bringen.
Seit über 40 Jahren hält Marokko die Westsahara völkerrechtswidrig besetzt. Als der UN-Generalsekretär im
letzten Monat offen von Besatzung sprach, ließ der König
sogleich 80 UN-Mitarbeiter des Landes verweisen. - So
viel zu Meinungsfreiheit und Demokratie in Marokko.
Mit der Einstufung als sicheres Herkunftsland ermutigt die Bundesregierung Marokko geradezu, das Völkerrecht und die Menschenrechte weiter mit Füßen zu treten.
Schlimmer noch: Für die Rücknahme abgelehnter Asylbewerber hat die Bundesregierung zugesagt, Marokko
den Rücken in Sachen Westsahara und bei vielen anderen
Dingen zu stärken. Nach dem Deal mit der Türkei muss
man hier ganz klar von einem weiteren schmutzigen Deal
sprechen.
({2})
Statt Fluchtursachen werden wieder einmal Flüchtlinge
bekämpft. Dafür steht die Linke ganz sicher nicht zur
Verfügung.
Vergessen wir nicht: In allen drei Maghreb-Staaten
werden Homosexuelle verfolgt, und die Frauenrechte existieren dort gerade einmal auf dem Papier. Wer
Flüchtlinge dorthin zurückschickt, nimmt ihre Verfolgung, Inhaftierung und Folterung billigend in Kauf.
Vor der Einstufung eines Landes als sicher muss umfassend anhand unabhängiger - ich betone: unabhängiger - Quellen geprüft werden, ob die Menschenrechte
und die rechtsstaatlichen Prinzipien dort eingehalten
werden. Das hat das Bundesverfassungsgericht 1996
ganz klar vorgeschrieben. Doch diese höchstrichterlichen
Vorgaben werden von der Bundesregierung überhaupt
nicht eingehalten; sie werden sogar eiskalt ignoriert.
Auch hier muss man sagen: Es ist ein Skandal, wie mit
den Einschätzungen und vor allen Dingen mit der Kritik
der unabhängigen Menschenrechtsorganisationen umgegangen wird.
({3})
Zum Schluss will ich noch ganz kurz darauf eingehen,
dass auch dieses Vorhaben - das gilt derzeit für viele Vorhaben im asylrechtlichen Bereich, mit denen Verschärfungen und immer neue Regeln eingebracht werden - im
Schweinsgalopp durch das Parlament gejagt wird. Erst
gestern stand dieses Vorhaben auf der Tagesordnung des
Innenausschusses. Es musste wieder heruntergenommen
werden, heute Abend haben wir aber eine Sondersitzung.
Am übernächsten Montag findet die Anhörung statt, und
der Gesetzentwurf wird schon in der nächsten Sitzungswoche verabschiedet. Ich meine, so kann man ein parlamentarisches Verfahren wirklich nicht durchführen. Damit werden die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts
auf keinen Fall eingehalten.
Deshalb sagen wir ganz klar Nein zu einem Schnellverfahren und auch Nein zu diesem Gesetzentwurf, mit
dem die Maghreb-Staaten als sicher eingestuft werden
sollen.
Ich danke Ihnen.
({4})
Vielen Dank. - Als nächster Redner spricht Sebastian
Hartmann für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir wollen ein effektives und ein effizientes Asylsystem ({0})
effektiv, weil es den Berechtigten gerecht und rechtssicher Asyl zuweist und zuerkennt; effizient, weil es
schnell, aber sorgfältig funktioniert. Auch die mögliche
Einstufung Algeriens, Marokkos und Tunesiens als sichere Herkunftsstaaten stellt eines sicher: dass die Menschen, die Anspruch auf Schutz vor Verfolgung - auf
welche Art auch immer - und Folter haben, diesen in
Deutschland schnell und rechtssicher erhalten werden.
Wir müssen bei unseren Asylsystemen aber unterscheiden zwischen denjenigen, die schutzberechtigt sind, und
denjenigen, die eben nicht schutzberechtigt sind, um die
Verfahren für diejenigen offenzuhalten, die zu Recht auf
ihren Schutz vertrauen.
Mit diesem Gesetzentwurf wollen wir vor allen Dingen eines sicherstellen: dass der Weg des Asyls denjenigen offensteht, die in Deutschland asylberechtigt sind.
Derjenige, der in unserem Land nicht asylberechtigt ist,
muss ein anderes Einwanderungsverfahren durchlaufen,
ein Verfahren, das eben nicht auf dem Asylrecht basiert,
und er muss damit leben, dass er nach diesem Verfahren,
wenn er nicht aus humanitären Gründen verfolgt ist, das
Land wieder verlassen muss. Das ist kein Widerspruch
zum Asylrecht. Wir müssen das in dieser Debatte sehr
deutlich ausführen.
Ich weiß, dass das Konzept der sicheren Herkunftsstaaten durchaus nicht unumstritten ist. Die Debatte, die
wir heute fortführen, wurde am 5. November 2015 mit
dem Beschluss der Parteivorsitzenden begonnen. Damals
haben wir klar gesagt: Wir wollen über die sicheren Herkunftsstaaten Tunesien, Algerien und Marokko sprechen.
Das heißt, wir fangen heute nicht bei null an, auch wenn
das suggeriert wird.
({1})
Das Prinzip der sicheren Herkunftsstaaten ist ein anerkanntes Prinzip auf Basis des europäischen Rechts, und
es werden zu Recht hohe Anforderungen mit dem Prinzip
der sicheren Herkunftsstaaten verbunden. Die Schutzquote ist nur ein Indiz, kann allein aber nicht ausreichen.
Man muss sich mit den tatsächlichen Verhältnissen in
den Staaten auseinandersetzen. Zu diesem Zweck wird
es die Anhörung geben, so wir sie denn beschließen.
Ich finde aber, dass man bei den sicheren Herkunftsstaaten einen Punkt noch einmal sehr deutlich herausstellen muss: Mit der Systematik der sicheren Herkunftsstaaten wird für jeden Einzelnen und jede Einzelne eine
Regelvermutung begründet, er sei nicht verfolgt; aber
man kann diese Regelvermutung auch widerlegen. Dafür gibt es rechtsstaatliche Verfahren, die wir individuell
garantieren, auch wenn die Verfahren entsprechend verkürzt und beschleunigt werden. Diese Vermutung ist trotz
des Begriffs der sicheren Herkunftsstaaten nach wie vor
widerlegbar. Darauf werden wir achten. Jeder Antragsteller hat die Möglichkeit, seine Verfolgung nachzuweisen,
auch wenn er aus einem dieser Staaten kommt.
Ich möchte auch nicht, dass diese Diskussion dazu
missbraucht wird, zu suggerieren, dass Deutschland seinen internationalen Verpflichtungen nicht nachkommt.
Wir bleiben ein weltoffenes Land, das wie kein anderes
Land seiner internationalen Verpflichtung nachkommt
und darüber hinaus einer Vielzahl von Menschen, die
durch Flucht und Asyl in unser Land gekommen sind,
eine Perspektive eröffnet hat. Das sollten wir hier nicht
kleinreden.
({2})
Ein weiterer Gedanke. Warum sollten wir, wenn wir
auf der einen Seite syrischen Flüchtlingen binnen einer
Woche in sehr schnellen Verfahren klarmachen wollen,
dass sie hier eine Perspektive haben, dass es eine Vermutung zu ihren Gunsten gibt, dies nicht zum Prinzip erheben und mittels des Instruments der sicheren Herkunftsstaaten ebenso anwenden, wenn wir auf der anderen Seite
ähnliche Indizienlagen, nur eben umgekehrt, haben? Wir
wollen ja schnelle Verfahren, sodass diejenigen, die Asylund Fluchtgründe vortragen, auch schnell eine Entscheidung bekommen und damit ein wenig mehr Sicherheit in
einem von Flucht, Vertreibung und Verfolgung geprägten
Leben haben. Das ist nicht unmenschlich.
({3})
Es gibt eine Erwartung der Bevölkerung, aller hier in
unserem Land lebenden Menschen, dass diejenigen, die
einen Anspruch auf Asyl haben, schnell Asyl bekommen.
Es gibt eine Erwartung der hierher Geflüchteten, dass die
Entscheidung über Asyl schnell und effizient getroffen
wird. Deshalb müssen wir die Verfahren für diejenigen
offenhalten, die tatsächlich des Asyls bedürfen. Dann da bin ich mir sicher - bleibt die hohe Akzeptanz, die in
unserem Land für dieses erprobte System existiert, auch
erhalten. Dafür können wir eintreten.
Die SPD steht für den Flüchtlingsschutz und ein Integrationskonzept. Wir wollen diese Aufgaben als Bund,
Länder und Kommunen gemeinsam erreichen. Wir haben
im Oktober des vergangenen Jahres Beschlüsse gefasst,
um dafür zu sorgen, dass der Bund seine Aufgaben noch
besser als in der Vergangenheit erfüllen kann. Wir haben
zugesagt, dass wir Asylanträge schnell und rechtssicher
bearbeiten und dass wir die Integrationsarbeit auf kommunaler Ebene erleichtern, indem wir Finanzmittel zur
Verfügung stellen und entsprechende Möglichkeiten
einräumen und indem wir dieses Recht auch anwendbar
machen. Dazu gehört auch, dass Menschen, die keine
Perspektive im Asylsystem haben, in den entsprechenden Zentren verbleiben, wo wir durch schnelle Verfahren
sicherstellen, dass wir gar nicht erst die knappen Plätze in
den Kommunen blockieren und Integrationsmöglichkeiten nicht an die Falschen gegeben werden, die ohnehin
keine Chance in diesem System haben.
Gute Integration heißt Sicherheit für die einen, die einen Anspruch haben, aber auch klare Ansagen an diejenigen, die keinen Anspruch auf Asyl haben. Wir haben uns
nicht nur einfach dazu bekannt, sondern gestern auf dem
Koalitionsgipfel auch entsprechende Entscheidungen
getroffen. Das heißt: Wir reden nicht nur, sondern wir
handeln auch. Wir können nicht für die einen schnelle
Verfahren fordern und für die anderen eben nicht. Das ist
die Zusage, die im Raum steht. Gestern hat der Koalitionsgipfel sehr deutlich gezeigt: Wir sind handlungsfähig.
Wir treffen entsprechende Entscheidungen und bleiben
unserem Wort treu. Dafür sage ich Danke.
({4})
Wenn wir weiter über das Prinzip der sicheren Herkunftsstaaten sprechen, sollte die Formulierung vielleicht lieber „mutmaßlich sichere Herkunftsstaaten“ lauten; denn es ist eine widerlegbare Vermutung.
Wir haben in diesen Tagen in Nordrhein-Westfalen
den Aufenthaltsstatus von vielen Menschen aus Nordafrika überprüft.
({5})
Dabei wurde vor allen Dingen eines deutlich: Obwohl
Menschen durch das BAMF mehrfach angeschrieben
worden sind, wurde nicht die Chance ergriffen, ein entsprechendes Asylverfahren anzustreben. Als das dann in
einer gezielten Aktion am Dienstag noch einmal ermöglicht worden ist - Ralf Jäger hat als nordrhein-westfälischer Innenminister sehr deutlich gemacht, wie handlungsfähig ein Staat ist -, wurden erstmalig überhaupt
Asylverfahren angestrebt und Anträge gestellt; von einigen wurde darauf verzichtet. Dies wird die Schutzquote
nicht schmälern. Das ist für uns als SPD das Kriterium.
Wir wollen nicht auf eine relative Zahl, die zwischen
dem einen Extrem und dem anderen Extrem pendelt,
schauen. Vielmehr gibt eine tatsächliche Zahl von Fällen
und absolute Zahlen, die in Statistiken und Antworten
der Bundesregierung nachgewiesen sind.
Wenn sich diese Verhältnisse verändern, dann ist das
für uns der Ausgangspunkt, das zu überprüfen. Wir haben im Oktober letzten Jahres deutlich gemacht, dass wir
regelmäßig auch die Staaten in den Blick nehmen, die zu
sicheren Herkunftsstaaten erklärt worden sind. Wir verschließen eben nicht die Augen, sondern werden eine Anhörung und ein entsprechendes Verfahren durchführen.
Wir werden die Entscheidung auch in den Folgejahren
überprüfen müssen; das ist klar zugesagt. Dazu haben
wir gesetzliche Vereinbarungen getroffen; wir werden
diese einhalten. Umgekehrt kann aus der klaren Aussage
Deutschlands: „Wir haben euch und die Menschenrechtslage im Interesse der Menschen, die in den sicheren Herkunftsstaaten leben, klar im Blick“, auch eine Verantwortung für die Staaten entstehen; denn auch die Vermutung
hinsichtlich der sicheren Herkunftsstaaten ist widerrufbar. Damit ist diese Debatte nicht abgeschlossen, sondern
beginnt erst richtig.
Meine Damen und Herren, neben der Entscheidung
über die entsprechenden Verfahrensschritte, die Zuweisung von Asyl und die Anerkennung von Flucht gibt es
auch eine Folge daraus, dass eine Schutzquote nur ein
Indiz ist. Das Bundesverfassungsgericht hat die entsprechenden gesetzlichen Grundlagen und ihre Begründung
noch einmal ausdrücklich bestätigt.
Herr Kollege, lassen Sie eine Zwischenfrage oder -bemerkung von Frau Jelpke zu?
Ja, bitte.
Bitte.
Danke, Herr Kollege. - Ich habe zwei Nachfragen.
Erstens. Sie wissen ganz genau, dass beispielsweise in
Marokko nur verurteilt werden kann, wer auch geständig
ist. Warum sagen Sie nichts zu den Foltervorwürfen, die
von Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International erhoben werden?
Zweiter Punkt. Es gibt vonseiten Marokkos eine völkerrechtswidrige Besetzung der Westsahara. Es gibt ein
klares Votum der UN, dort ein Referendum durchzuführen, was Marokko verweigert. Es gibt dort riesige Lager
mit Flüchtlingen, die nicht nach Europa kommen wollen,
dort aber in schlimmster Armut leben. Warum sagen Sie
zu all diesen Punkten nichts? Genau das sind doch die
Kriterien, die zugrunde gelegt werden, wenn es darum
geht, ob man ein Land als sicher einstuft oder nicht.
({0})
Liebe Frau Kollegin Jelpke, vielen Dank für diese Nachfrage. - Ich wollte gerade auf die Kriterien des
Bundesverfassungsgerichts eingehen. Ich lade Sie auch
herzlich ein, heute Abend im Innenausschuss gemeinsam
für die Anhörung zu stimmen und den Weg für diese Diskussion freizumachen.
Das Bundesverfassungsgericht hat uns im Zusammenhang mit der Überprüfung des damals beschlossenen
Gesetzes, als wir das Grundgesetz entsprechend geändert
haben, einige Punkte auf den Weg gegeben und klar bestätigt, dass man eben nicht nur über das Indiz der hier
schon thematisierten Schutzquote sprechen darf, sondern
sich auch mit den tatsächlichen Verhältnissen in den jeweiligen Staaten auseinandersetzen muss. Das ist eine
klare Aufgabe an uns als Gesetzgeber. Dazu gehört, dass
man von einem demokratischen System, einem Mehrparteiensystem, einer unabhängigen Justiz und einem effektiven Schutz vor Verfolgung ausgeht. Wir müssen uns ein
Urteil darüber bilden und unseren Entscheidungsspielraum als Gesetzgeber ausfüllen. Dazu dient dieses Verfahren. Heute beginnen wir mit der Beratung in diesem
Hohen Haus, die mit einer Anhörung fortgesetzt wird.
({0})
Zu guter Letzt gibt es hierzu schon eine sehr umfangreiche Stellungnahme des Bundesrates. Auch er hat einige
Hinweise gegeben, wo er weiteren Prüf- und Diskussionsbedarf sieht.
Mit Ihrer Frage belegen Sie, dass wir in diese Diskussion einsteigen müssen, weil wir erst danach die Einstufung der drei genannten Staaten - Algerien, Tunesien und
Marokko - als sichere Herkunftsstaaten beschließen können. Das ist eine Frage, die in diesem Verfahren zu klären ist. Sie haben Punkte eingebracht, und der Bundesrat
hat Punkte eingebracht. Ich habe mich dieser Diskussion
in keiner Weise verweigert, sondern gesagt: Wir werden
das im Rahmen einer ordentlichen Anhörung tun, damit
die Minimalanforderungen an die Einstufung als sicherer
Herkunftsstaat auf jeden Fall erfüllt werden. Das ist im
Einklang mit europäischem Recht. - Vielen Dank.
({1})
Zur Einstufung als sicherer Herkunftsstaat gehört
aber Folgendes: Die Diskussion, die mit den sicheren
Herkunftsstaaten begonnen hat, hat Auswirkungen. Sie
haben selber als Beispiel genannt, dass die Schutzzahlen
zurückgehen. Es gibt in diesem Fall gar nicht so viele
Beantragungen. Es gibt aber einen Unterschied: Im Vergleich zu der großen Zahl von Menschen, die hierhergekommen sind, fällt die Zahl derjenigen, die tatsächlich
Asyl beantragen, relativ weit ab. Das heißt, es gibt einen
deutlichen Unterschied im Hinblick auf die Menschen,
die aus den drei vorgenannten Staaten kommen und tatsächlich Asyl beantragen. Das muss man aufklären. Wir
brauchen schnelle Verfahren, damit das nicht als Umgehungstatbestand genutzt werden kann. Wir wollen nur
denjenigen Menschen Asyl geben, die tatsächlich des
Asyls bedürfen.
Zweiter Punkt - ihn hat Innenminister Ralf Jäger in
der letzten Debatte hier angesprochen -: Zum Konzept
der sicheren Herkunftsstaaten gehört auch, dass in diesen
Ländern eine entsprechende Debatte stattfindet. Es ist
darüber zu informieren, welche Chancen man in einem
Asylverfahren überhaupt hat, damit man das Asylrecht
vor Ort nicht als Möglichkeit zur Einwanderung aus welchen Gründen auch immer missversteht. Ich würde jetzt
nicht so weit gehen, das pauschal zuzuordnen; aber das
Asylrecht ist nur für einen bestimmten Kreis vorgesehen.
Dass sich die Debatte, die wir hier begonnen haben, in
diesen Staaten schon im November ausgewirkt hat, zeigt
sich daran, dass die Fallzahlen zurückgehen. Das ist erst
recht ein Beleg dafür, dass das Instrument der sicheren
Herkunftsstaaten wirkt, wenn man es vernünftig einsetzt.
Zu guter Letzt gehört zum Konzept der sicheren Herkunftsstaaten, dass die Asylbewerber in ihre Heimatländer zurückgeführt werden, wenn eine negative Entscheidung im Asylverfahren getroffen worden ist und sie aus
einem sicheren Herkunftsstaat kommen. Dafür braucht
man Rücknahmeabkommen. Ich glaube, dass die Bundesregierung hier einen weiteren Schritt gegangen ist, indem es zu entsprechenden Vereinbarungen mit Marokko,
Algerien und Tunesien gekommen ist. Eine klare, schnelle und rechtssichere Entscheidung würde nämlich nichts
bringen, wenn diejenigen, die nicht bleiben dürfen, hier
im Land verbleiben und wichtige Plätze blockieren würden, die wir für die Menschen brauchen, die tatsächlich
integriert werden müssen.
Meine Damen und Herren, ich sehe einer schwierigen
Beratung entgegen. Für diese Diskussion müssen wir uns
die entsprechende Zeit nehmen. Heute Abend soll die
Anhörung beschlossen werden. Ich sage zu, dass für die
SPD beides zusammengehört: der Schutz der Flüchtlinge
und die die Integration der Menschen, die hier bleiben
können, aber ebenso schnelle und rechtssichere Verfahren. Das ist kein Widerspruch. Deutschland ist und bleibt
ein weltoffenes Land, das wie kein anderes Land in Europa seine internationale Verantwortung wahrnimmt. Das
lassen wir uns nicht kleinreden.
Danke.
({2})
Vielen Dank, Kollege Hartmann. - Wir haben übrigens gerade festgestellt, dass das Hohe Haus heute
strahlt. Das liegt nicht nur an Ihnen, sondern auch - falls
Sie es noch nicht gesehen haben - an den neuen Stuhlbezügen. Vielen Dank der Verwaltung. Es ist heute wirklich
ein strahlendes Hohes Haus.
Das Strahlen geht jetzt mit der nächsten Rednerin weiter: Luise Amtsberg vom Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber
Kollege Hartmann, schön, dass Sie sich in der Koalition
die Zeit genommen haben, über diese Frage zu beraten.
Das Parlament ist allerdings mehr als diese Koalition. Insofern sind wir mit dem parlamentarischen Beteiligungsverfahren natürlich nicht zufrieden. Es ist zu kurz.
({0})
Tun Sie bitte nicht so, als ob Sie in Bezug auf diese Frage
noch nicht festgelegt wären und als ob die Anhörung in
der nächsten Woche für Sie noch etwas bringt. Das ist ja
sehr deutlich herausgekommen.
({1})
Das sieht man auch an dem Statement, dass die Fallzahlen zurückgehen. Das sagt nämlich nichts darüber aus,
ob sich die menschenrechtliche Lage in den Ländern in
der Zwischenzeit verändert hat. Genau hier liegt unser
Problem.
Die grüne Bundestagsfraktion hat sich in der Vergangenheit immer wieder auch grundsätzlich gegen das
Konzept der sicheren Herkunftsstaaten ausgesprochen.
Unsere grundlegende Sorge davor, dass mit diesem Verfahren das Ergebnis einer individuellen Prüfung eines
Schutzgesuches vorweggenommen und nicht unvoreingenommen über einen Asylantrag entschieden wird, war
groß, und ich sage Ihnen: Mit den beiden Asylpaketen ist
diese Sorge noch größer geworden; denn diese richten
sich ja explizit an die Menschen aus vermeintlich sicheren Herkunftsländern.
Abseits dieser grundlegenden Erwägungen, über die
wir uns in der Vergangenheit schon ausgetauscht haben,
möchte ich noch eine Sache ansprechen: In seinem Urteil
hat das Bundesverfassungsgericht die rechtlichen Voraussetzungen für die Einstufung als sichere Herkunftsstaaten glasklar festgelegt. Ich weiß nicht, welche Systematik das Innenministerium bei der Formulierung eines
Gesetzentwurfes anwendet; aber als Vertreterin eines
Rechtsstaates, als die ich mich begreife, würde ich mir
diese Vorgaben erst einmal ansehen und sie Schritt für
Schritt durchgehen. Vielleicht sollten wir das an dieser
Stelle einfach einmal tun.
Es heißt: Es muss Sicherheit vor politischer Verfolgung landesweit und für alle Personen- und Bevölkerungsgruppen bestehen. Hier drängt sich natürlich sofort
Marokko mit dem Status der Westsahara auf, einem Gebiet, das sich praktisch seit Jahrzehnten in einem dauerhaften Ausnahmezustand befindet, in dem friedliche Proteste brutal niedergeschlagen werden und die Saharauis
willkürlichen Verhaftungen und Folter ausgesetzt sind.
Die Rechte von Frauen, besonders im Familienrecht, sind
in allen drei Ländern massiv zu beklagen. In Algerien
bleibt zum Beispiel die Vergewaltigung von Minderjährigen straffrei, wenn das Opfer danach - sicher nicht unter freiem Willen - geehelicht wird. Die Stigmatisierung
und Diskriminierung von Behinderten, Aidskranken und
LGBTI-Gruppen muss man hier ebenfalls anführen.
Weiter sagt das Bundesverfassungsgericht: Eine Einstufung ist nicht zulässig, wenn regional oder im Hinblick
auf bestimmte Gruppen eine Verfolgung - Achtung nicht ausgeschlossen werden kann. Im Umkehrschluss
bedeutet das, dass Sie alle, die Sie hier sitzen und dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, ausschließen können,
dass es in diesen drei Ländern Menschen gibt, die aus
welchen Gründen auch immer durch die Staatsgewalt
verfolgt und diskriminiert werden. Können Sie das ausschließen? Ich nicht und meine Fraktion auch nicht.
({2})
Es gilt auch als Verfolgung, wenn gesetzliche, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen diskriminierend sind.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie finden also nicht,
dass es falsch ist, dass in allen drei Ländern politisch
nicht opportune Menschen inhaftiert werden? Sie finden
nicht, dass die Berichte über Willkür, Misshandlungen,
über unter Folter abgerungene Geständnisse gegen eine
Einstufung als sicherer Herkunftsstaat sprechen?
Das Bundesverfassungsgericht nennt als weiteren
Grund gegen die Einstufung Handlungen gegen Menschen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung. Was anderes als eine Handlung gegen die sexuelle Selbstbestimmung eines Menschen ist es, wenn Homosexualität
unter Strafe steht? Wie zynisch sind Sie eigentlich, dass
Sie dem Bundesrat erwidern, dass nur offen praktizierte Homosexualität tatsächlich geahndet wird? Frei nach
dem Motto: Du darfst homosexuell sein, aber bitte nicht
so leben. - Ist es das, was Sie unter einem freien Leben
ohne Verfolgung verstehen, meine Damen und Herren?
Wir nicht.
({3})
Das Bundesverfassungsgericht nennt auch Handlungen gegen Kinder als Ausschlussgrund. Haben Sie sich
einmal die Berichte über die Situation von saharauischen
Kindern in der Westsahara angesehen? Ich fand sie ziemlich bedrückend. Der Bericht der Organisation Roster,
mit der auch der UN-Menschenrechtsrat befasst war,
spricht von Inhaftierungen von Kindern, von Schlägen,
massiver psychologischer Gewalt und Verschleppungen.
Aber auch das spielt in diesem Gesetzentwurf keine Rolle.
Zu guter Letzt nenne ich als eines von vielen Beispielen die unverhältnismäßige Strafverfolgung oder Bestrafung durch den Staat, die vom Bundesverfassungsgericht
ebenfalls genannt wird. Die Versammlungsfreiheit ist in
all diesen Ländern massiv eingeschränkt, und die Meinungs- und Pressefreiheit ist absolut nicht gegeben, was
die vielen Inhaftierungen von Journalisten und Medienschaffenden beweisen. Die demokratische Verfasstheit
eines Staates - das sollten wir am besten wissen - ist wesentlich für die Beurteilung eines Staates als sicher. Das,
was einen Rechtsstaat im Wesenskern ausmacht, ist hier
nicht gegeben.
({4})
Herr Bundesinnenminister, Sie sagen, Sie verschließen nicht die Augen vor den massiven Menschenrechtsverletzungen in diesen Ländern. Was Sie mit diesem
Gesetzentwurf tun, ist außenpolitisch gefährlich; denn
Sie erteilen diesen Regierungen einen Blankoscheck für
Menschenrechtsverletzungen. Das ist unbedingt abzulehnen.
({5})
Einfach darauf zu warten, dass sich die Menschenrechtslage verbessert, wird es nicht bringen. Wir geben einen
Blankoscheck und sagen, dass Menschenrechtsverletzungen in einem Land in Ordnung sind, wenn uns dies
innenpolitisch zugutekommt. Sie missachten die Vorgabe, dass Sie eine Einstufung nur nach gründlicher Prüfung und dem Hinzuziehen menschenrechtlicher Quellen
vornehmen dürfen. Nennen Sie mir eine einzige Menschenrechtsorganisation, die keine Bedenken gegenüber
Ihrem Gesetzentwurf hat, und wir kommen wieder ins
Gespräch.
Dieser Gesetzentwurf ist komplett innenpolitisch motiviert. Auch wenn die Rechtslage in dieser Frage kaum
eine Rolle zu spielen scheint, noch einmal zur Klarstellung: Eine Priorisierung der Asylverfahren kann schon
jetzt vorgenommen werden. Das wird auch gemacht.
Insofern gibt es ausreichend Spielraum. Was aber asylrechtlich nicht zulässig ist, ist, eine Einstufung von Staaten an die Zuwanderungszahlen zu koppeln. Das passiert
hier immer wieder. Das widerspricht dem Grundsatz eines Individualrechts, und das ist unser Asylrecht.
Als Fazit: Dieser Gesetzentwurf ist nicht nur fachpolitisch, sondern auch menschenrechtlich eine Beleidigung,
des Rechtsstaates unwürdig und dieses Hauses erst recht.
Deshalb lehnen wir ihn entschieden ab.
({6})
Vielen Dank, Luise Amtsberg. - Der nächste Redner
in der Debatte: Stephan Mayer für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Es ist gut, dass wir in
diesem Hohen Haus endlich den Gesetzentwurf zur Einstufung der drei Maghreb-Länder Marokko, Algerien
und Tunesien als sichere Herkunftsstaaten beraten. Ich
möchte nicht verhehlen, dass er, wenn es nach der Unionsfraktion gegangen wäre, hier frühzeitiger hätte behandelt werden können.
({0})
Ich gestehe zu, dass man hier unterschiedlicher Meinung sein kann. Aber, liebe Frau Kollegin Amtsberg,
ich möchte mich schon in aller Deutlichkeit gegen Ihren
wirklich haltlosen Vorwurf gegenüber dem BundesinLuise Amtsberg
nenminister verwahren, mit diesem Gesetzentwurf würde ein Blankoscheck für Menschenrechtsverletzungen
ausgestellt. Das ist haltlos, das ist unzutreffend, und das
gehört sich einfach nicht.
({1})
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, es
hat sich in der Vergangenheit herausgestellt, dass die Einstufung bestimmter Länder als sichere Herkunftsstaaten
tatsächlich etwas bewirkt. Damit setzen wir ein klares
Signal, dass Politik handlungsfähig ist. Noch im ersten
Halbjahr 2015 kamen 47 Prozent der Bewerber aus den
sechs Ländern des westlichen Balkans. Heute spielen die
Bewerber aus den sechs Westbalkanländern de facto keine Rolle mehr. Im März kamen gerade einmal 1 200 Bewerber aus diesen Ländern, im Januar waren es 1 400. Es
ist ein deutlicher Rückgang zu verzeichnen. Es zeigt sich
also sehr wohl, dass die Einstufung eines Landes als sicheres Herkunftsland eine klare Signalwirkung entfacht.
Davon geht aber auch eine deutliche Verfahrensbeschleunigung aus.
Eines aber bleibt gewahrt - um dies klar zu sagen,
Frau Kollegin Jelpke -: Es wird auch für die Bewerber
aus sicheren Herkunftsstaaten ein individuelles und faires Verfahren gewährleistet. Nur wird das Verfahren beschleunigt. Ich wehre mich in aller Deutlichkeit gegen
den Vorwurf, dass ein schnelles Verfahren ein rechtsunsicheres Verfahren sei. Das Gegenteil ist der Fall. Ein
schnelles Verfahren kann sehr wohl auch vollkommen
rechtssicher sein.
({2})
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder
-bemerkung von Frau Brantner, Bündnis 90/Die Grünen?
Selbstverständlich. Sehr gerne.
Gut.
Herr Mayer, ich möchte kurz auf Ihren Vergleich mit
dem Balkan eingehen. Die Zahl der Antragsteller ist
momentan schon sehr gering. Von Tunesiern sind seit
Beginn dieses Jahres 132 Anträge gestellt worden, also
132 Anträge in mehr als drei Monaten bundesweit. Auf
wie viel wollen Sie die Zahl denn noch reduzieren? Wo
sind die großen Zahlen, vor denen Sie solche Angst haben und aufgrund derer Sie meinen, wir bräuchten diese
Gesetzesänderung?
({0})
Sehr geehrte Frau Kollegin Brantner, ich bin Ihnen
sehr dankbar für diese Frage, weil sie mir die Gelegenheit bietet, deutlich zu machen, dass es natürlich nicht
darum geht, Angst zu haben, sondern eher darum, klare
Signale zu entfachen.
Im Jahr 2015 hatten wir 4 910 Antragsteller aus den
Ländern Tunesien, Marokko und Algerien. Es kamen
aber knapp 26 000 Bewerber aus diesen drei Ländern.
Es sind also noch Tausende von Marokkanern, Algeriern
und Tunesiern in unserem Land, die bislang noch keinen
Antrag gestellt haben. Es ist aber davon auszugehen, dass
sie in den nächsten Wochen und Monaten einen Antrag
stellen werden. Man darf also nicht verkürzt nur die aktuellen Zuzugszahlen in den Blick nehmen, wie Sie es getan haben. Vielmehr muss man sehr wohl auch ins Kalkül
ziehen, dass im letzten Jahr insgesamt 2 000 Tunesier,
14 000 Algerier und etwas mehr als 10 000 Marokkaner
zu uns kamen, die in den nächsten Wochen und Monaten
mit großer Wahrscheinlichkeit Anträge stellen werden.
Deshalb macht es sehr wohl Sinn und ist in der Sache geboten, dass wir diese drei Länder als sichere Herkunftsstaaten einstufen.
({0})
Die Einstufung als sicheres Herkunftsland bewirkt,
dass die Verfahren innerhalb von einem Monat durchgeführt werden können. Die abgelehnten Bewerber - die
Anerkennungsquoten sind verschwindend gering - müssen innerhalb einer Woche unser Land verlassen. Sie
haben eine Klagefrist von einer Woche. Diese Klage hat
nicht einmal aufschiebende Wirkung. Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung muss auch innerhalb einer Woche gestellt werden. Zudem unterliegen sie
einem absoluten Beschäftigungsverbot. Die Einstufung
eines Landes als sicheres Herkunftsland hat also ganz
konkrete Vorteile zur Folge.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, es
gilt, den Blick auch einmal auf die verschwindend geringen Schutzquoten zu richten. Wir hatten im gesamten letzten Jahr eine Anerkennungsquote bei Tunesiern
von 0,00 Prozent. Bei den Algeriern lag diese Quote bei
0,97 Prozent und bei den Marokkanern bei 2,26 Prozent.
({1})
Auch in diesem Jahr haben sich die Schutzquoten nicht
nach oben verändert, sondern sogar nach unten. Bei den
Tunesiern lag sie in den ersten beiden Monaten wieder
bei 0,00 Prozent. Bei den Marokkanern waren es 1,6 Prozent und bei den Algeriern 1,2 Prozent. Es gibt also keine
sachlichen Gründe, die dafür sprechen, diesem Gesetzentwurf nicht zuzustimmen.
Ich möchte in aller Deutlichkeit betonen, dass aus
den drei Ländern, um die es heute geht, bedauerlicherweise überproportional viele Personen stammen, die in
der Silvesternacht in Nordrhein-Westfalen straffällig geworden sind. Von den mittlerweile 153 festgestellten Tatverdächtigen waren 149 Ausländer. Zwei Drittel dieser
ausländischen Straftäter waren Algerier und Marokkaner.
Insbesondere mit Blick auf die überproportional hohe
Stephan Mayer ({2})
Straffälligkeit der Menschen aus diesen drei Ländern gibt
es sehr gute Gründe, die Verfahren zu beschleunigen.
Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich betonen, dass
ich Ihnen, sehr geehrter Herr Bundesinnenminister, sehr
dankbar bin, dass Sie Ende Februar bzw. Anfang März
in diese drei Länder gereist sind und in intensiven Gesprächen mit den drei Regierungen dafür gesorgt haben,
dass zugesichert wurde, dass diese drei Länder ihrer
völkerrechtlichen Verpflichtung nachkommen, eigene
Staatsangehörige zurückzunehmen. Das ist an sich eine
Selbstverständlichkeit, der bislang aber leider nur sehr
unzureichend nachgekommen wurde.
Die Innenminister der drei Länder haben Ihnen auch
zugestanden, dass sie in sehr kurzer Zeit bereit sind, zur
Identitätsfeststellung der eigenen Staatsangehörigen beizutragen, Marokko zum Beispiel ganz konkret innerhalb
von 45 Tagen. Alle drei Länder haben sich bereit erklärt,
Rückführungen entweder im Rahmen von Charterflügen
oder von Linienflügen zu akzeptieren. Alle drei Länder
haben sich auch bereit erklärt, Passersatzpapiere auszureichen, um eine schnelle Rückführung der eigenen
Staatsangehörigen zu ermöglichen. Ich danke Ihnen namens unserer Fraktion ausdrücklich für Ihren erfolgreichen Einsatz in diesen drei Ländern.
({3})
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen,
wir werden dieses parlamentarische Verfahren sauber,
ordentlich und seriös betreiben. Aber ich bin mit Blick
auf die Zahl der in den nächsten Wochen und Monaten
anstehenden Anträge der Überzeugung: Wir sollten uns
nicht zu viel Zeit lassen. Deshalb ist es richtig, dass wir
heute in einer Sondersitzung des Innenausschusses zusammenkommen und, so hoffe ich, die Durchführung
der Sachverständigenanhörung in der nächsten Sitzungswoche, Ende April, beschließen. Aus meiner Sicht steht
auch einer schnellen Behandlung und Beschlussfassung
in der zweiten und dritten Lesung in diesem Hause nichts
entgegen. Um es klar zu sagen: Hier sind Seriosität und
ein ordnungsgemäßes Verfahren, aber auch Schnelligkeit
geboten.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({4})
Vielen Dank, Kollege Stephan Mayer. - Die letzte
Rednerin in dieser Debatte ist Nina Warken für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Die bisherige Debatte kommt mir fast wie ein Déjà-vu vor. Sie erinnert
mich stark an unsere Diskussion um die Einstufung der
Westbalkanstaaten. Die Opposition stellt sich erneut, wie
schon bei den Balkanstaaten, gegen eine Maßnahme, um
Asylmissbrauch und unkontrollierte Zuwanderung einzudämmen. Erneut haben wir eine ganze Reihe realitätsferner Kritikpunkte gehört,
({0})
und erneut liegt ein Gesetzentwurf der Bundesregierung
vor, den wir ohne die Blockade schon längst beschlossen
hätten.
Nach allem, was wir auch heute gehört haben, lässt
sich feststellen: Die Einstufung von Marokko, Algerien
und Tunesien als sichere Herkunftsländer ist dringend
notwendig und rechtlich zulässig. Die Kritik daran ist unzutreffend und nicht haltbar. Das alles zeigt sich an den
folgenden drei Tatsachen:
Erstens. Schon bei den Balkanländern wurde von der
Opposition behauptet, die Einstufung als sichere Herkunftsstaaten würde nichts bringen. Das gleiche Argument haben wir in der heutigen Debatte gehört. Tatsache
ist jedoch, dass die Zahl der Asylbewerber vom Balkan
auch in der Folge der Einstufung stark zurückgegangen
ist. Zum Vergleich: 23 000 waren es im Juli 2015 und
noch knapp 5 000 im Oktober, nachdem alle Balkanländer als sicher eingestuft waren. Inzwischen sind es sogar
nur noch 1 200. Der Grund für den Rückgang ist: Die
Menschen vom Balkan haben sehr schnell gemerkt, dass
es nichts bringt, unbegründete Asylanträge zu stellen;
sie können nicht in unserem Land bleiben. Damit steht
fest: Die Einstufung als sicheres Herkunftsland wirkt und
hilft, den unkontrollierten Zustrom einzudämmen. Diese
Signalwirkung brauchen wir nun auch dringend im Hinblick auf Algerien, Marokko und Tunesien.
({1})
Frau Kollegin, erlauben Sie eine Bemerkung oder
Zwischenfrage von Frau Bulling-Schröter?
Ja.
Gut.
Herzlichen Dank. - Frau Kollegin, ich möchte Sie
etwas zu Marokko fragen. Laut internen Berichten der
Bundesregierung ist Marokko eines der Länder, die bereits jetzt am meisten vom Klimawandel betroffen sind.
Meine Frage ist: Inwieweit gehen solche Einschätzungen
in die Einstufung als sicheres Herkunftsland ein? Das
Thema Klimaflüchtlinge wurde bekanntlich auch im Koalitionsvertrag angesprochen. Es ist erwiesen, dass bereits Menschen aus Gründen des Klimawandels flüchten.
Im Asylverfahren wird geprüft, ob jemand individuell
verfolgt oder bedroht wird. Man kann selbst dann, wenn
ein Herkunftsland als sicher eingestuft ist, den persönlichen Grund für einen Asylantrag vortragen. Man kann
Stephan Mayer ({0})
dabei jedweden Grund vorbringen. Wenn man aufgrund
klimatischer Verhältnisse flieht, kann man das ins Asylverfahren einbringen. Ob das zum Erfolg des Asylverfahrens führt, ist eine andere Frage. Darüber, welche
Gründe im Verfahren angeführt werden, entscheidet jeder selbst. Das hat nichts damit zu tun, ob ein Land als
sicher eingestuft wird oder nicht. Jeder kann weiterhin
seine Fluchtgründe darlegen. Das ist schließlich Sinn des
Asylverfahrens und wird weiterhin aus rechtsstaatlichen
Gründen möglich sein. Dass ein individueller Schutz aus
Klimagründen zu gewähren ist, bezweifle ich. Aber solche Gründe können weiterhin vorgetragen werden. Ich
hoffe, dass ich damit Ihre Frage beantwortet habe.
({1})
Es lohnt sich nicht, sich auf den Weg zu machen. Diese Signalwirkung hatten wir schon bei den Balkanstaaten. Eine ähnliche Signalwirkung brauchen wir auch bei
den Maghreb-Staaten. Das Argument, dass im Moment
wegen des zu geringen Zustroms aus den Maghreb-Staaten kein Handlungsdruck besteht, zählt nicht. Die Zahl
der Flüchtlinge vom Westbalkan ist im letzten Jahr zuerst
schleichend gestiegen. Im Mai waren es 10 000, im Juni
14 000 und im Juli 23 000. Am Jahresende waren es insgesamt 150 000 Menschen, die vom Westbalkan zu uns
kamen. Auch bei den Maghreb-Staaten ist ein ähnlicher
Trend erkennbar.
Zweitens behauptet die Opposition, dass die Lage in
den Maghreb-Staaten die Einstufung als sichere Herkunftsländer nicht zulässt; das haben wir mehrfach gehört. Im Gesetzentwurf wurde die Lage in allen drei
Ländern in aller Ausführlichkeit bewertet. Auch die
Schutzquoten sprechen eine deutliche Sprache. In Marokko, Algerien und Tunesien drohen weder eine systematische Verfolgung noch ein Bürgerkrieg. Im Januar
und Februar wurden aus allen drei Ländern zusammen
lediglich sechs Personen als schutzbedürftig anerkannt.
Mehr als 4 000 sind jedoch seit Jahresanfang gekommen.
Wir werden die aufgeworfenen Fragen und Ihre Bedenken, liebe Kollegen, in der Anhörung in der nächsten Sitzungswoche ausführlich erörtern. Ich bin aber überzeugt,
dass bei dem Gesetzentwurf diesbezüglich alles bedacht
wurde.
Drittens fordert die Opposition, Deutschland solle sich
lieber um die Integration kümmern, als gegen Asylmissbrauch und unkontrollierte Zuwanderung vorzugehen. In
diesem Sinne äußerte sich zum Beispiel der thüringische
Ministerpräsident zum vorliegenden Gesetzentwurf im
Bundesrat.
({2})
Diese Kritik übersieht vollkommen, wie viel bereits in
Deutschland getan wird, um die Integration zu verbessern. Integration setzt allerdings voraus, dass man sich
an die Spielregeln in unserem Land hält. Wir haben - das
wird in diesem Zusammenhang oft verschwiegen - gerade mit Asylbewerbern aus dem Maghreb ein massives
Kriminalitätsproblem, zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen, wo der Großteil der Asylanträge aus diesen Ländern bearbeitet wird. Hier ist laut dem nordrhein-westfälischen Innenministerium im letzten Jahr rund jeder
dritte Marokkaner oder Algerier, der in einer Landeserstaufnahmeeinrichtung untergebracht war, kriminell geworden. Es ist kein Zufall, dass zwei Drittel der Tatverdächtigen im Zusammenhang mit den Übergriffen in der
Silvesternacht in Köln ausgerechnet aus diesen beiden
Ländern kommen. Das sind Tatsachen, auf die wir entschlossen reagieren müssen und vor denen wir die Augen
nicht verschließen dürfen.
({3})
Es ist deshalb richtig, dass der Bundesinnenminister
vor kurzem mit den Maghreb-Staaten deutliche Vereinfachungen und Verbesserungen bei der Rückführung
vereinbart hat. Das stärkt die Akzeptanz unseres Asylsystems und entlastet Kommunen wie Behörden. Diese Vereinbarung muss nun aber auch mit Leben erfüllt
werden. Rund 2 000 Marokkaner, Algerier und Tunesier
halten sich noch immer in Deutschland auf, obwohl sie
längst ausreisepflichtig sind und keine Duldung haben.
Hier sind der politische Wille und entschlossenes Handeln der Länder gefragt, wenn es darum geht, diese Personen zügig abzuschieben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen, warum
die Einstufung von Marokko, Algerien und Tunesien als
sichere Herkunftsländer dringend notwendig ist. Ersparen wir den Menschen eine gefährliche Reise und die anschließende Abschiebung, indem wir den Gesetzentwurf
zügig beschließen.
Vielen Dank.
({4})
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Damit schließe ich die
Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 18/8039 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich sehe
und höre keine anderen Vorschläge dazu. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Renate
Künast, Uwe Kekeritz, Nicole Maisch, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kleidung fair produzieren - EU-Richtlinie für
Transparenz- und Sorgfaltspflichten in der
Textilproduktion schaffen
Drucksache 18/7881
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor-
sicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Energie ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Niema Movassat, Caren Lay, Wolfgang
Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Unternehmen in die Verantwortung nehmen Menschenrechtsschutz gesetzlich regeln
Drucksachen 18/5203, 18/6181
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre und
sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich bitte, die spannenden Gespräche vielleicht woanders zu führen und der Debatte zu folgen und den Rednerinnen und Rednern zuzuhören.
Ich gebe das Wort Renate Künast vom Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In zehn
Tagen, am 24. April, ist der dritte Jahrestag des Unglücks
von Rana Plaza. Das war ein Gebäude in der Hauptstadt
von Bangladesch, das gar nicht für die Textilfertigung
vorgesehen war. Es gab darin eine Bank und Geschäfte,
und im obersten Stockwerk hat jemand Nähmaschinen
aufgestellt und Notstromaggregate installiert, weil in der
Hauptstadt Dhaka so oft der Strom ausfällt. Wenn das
der Fall ist, gehen mehrmals am Tag mit einer großen
Erschütterung die Aggregate an. Vor drei Jahren, am
24. April, hat sich gezeigt, dass die Statik des Gebäudes
diese Erschütterungen nicht aushielt, weil es dafür nicht
geplant war.
Es sind mehr als 1 100 Menschen von den Trümmern
zermalmt und unter ihnen begraben worden, mehr als
2 400 Menschen sind verletzt worden, viele darunter
schwer. Dieses Bild hat uns vor drei Jahren aufgerüttelt
und den Fokus auf die internationale Textilproduktion
gerichtet. Bei der Textilproduktion findet eine Art globaler Wanderzirkus statt. Die Unternehmen gehen überall
dorthin, wo wenige Einschränkungen für sie herrschen,
wo es nur geringe Umweltstandards gibt, der Schutz der
Menschenrechte wenig ausgeprägt ist, die Arbeitsbedingungen schlecht sind und kaum Sicherheitsstandards
eingehalten werden, kurz: Sie gehen dorthin, wo sie
möglichst billig produzieren können. Der globale Wanderzirkus geht auch heute immer weiter.
Die Bedingungen in der gesamten Produktionskette,
angefangen von der Baumwollproduktion bis hin zum
Endprodukt, sind von Unsicherheit und Nichtbeachtung
der Menschenwürde geprägt. Das schließt auch Sklavenund Kinderarbeit ein. Deshalb stehen die internationalen
Textilunternehmen und der Handel zu Recht in der Kritik. Makaber ist, dass wir mit all diesen Ländern Investitionsschutzabkommen abschließen, um das Geld, das
dort investiert wird, abzusichern, aber nicht dafür Sorge
tragen, dass die international anerkannten Arbeitnehmerund Menschenrechte hundertprozentig gewahrt werden.
({0})
Wie andere aus meiner Fraktion habe auch ich mir
schon manche Produktionsstätten angesehen, in China,
in Bangladesch und in Myanmar. Ich habe mit Gewerkschaftsvertreterinnen und -vertretern geredet, mit Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, NGOs, Unternehmerinnen und Unternehmern und auch mit Bestellern aus
Europa. Ich sage: Die Situation ist immer noch horrorhaft, selbst da, wo man sich auf den Weg gemacht hat,
um etwas zu ändern, was ich durchaus anerkennen will.
Ich will Ihnen ein Bild von meiner letzten Reise im
Februar nach Myanmar nennen. Ich war in einer Fabrik
für Brautkleider, und zwar Brautkleider, die auch nach
Europa und in die USA exportiert werden und in denen
die Frauen wie Prinzessinnen aussehen. Aber schauen
Sie sich die Arbeiterinnen dort an: Es sind junge Mädchen, die alle im Kindesalter sind. Es ist Kinderarbeit.
Auch diese Kinder arbeiten zehn Stunden am Tag. Das
ist nicht in Ordnung.
({1})
Ich glaube, wir alle müssen uns anstrengen und uns
bemühen, dass die Kleidung, die wir tragen, fair produziert ist. Wer, wenn nicht die Europäische Union, soll eigentlich dafür Sorge tragen, dass die Arbeitnehmer- und
Menschenrechte tatsächlich umgesetzt werden? Deshalb
haben wir einen Antrag vorgelegt, der auf dem europäischen Binnenmarkt Transparenz- und Sorgfaltspflichten
vorsieht, damit jeder Kunde, jede Gewerkschaft, die das
überprüfen will, und auch jeder Unternehmer erkennen
kann, woher welcher Rohstoff auf welcher Produktionsstufe kommt und zu welchen Bedingungen und unter
welchen Kontrollen das Produkt produziert worden ist.
Ich sage Ihnen: Das zu wissen, ist das gute Recht der
Verbraucherinnen und Verbraucher, weil die Kunden Teil
des Wirtschaftslebens sind. Nicht nur die Unternehmer,
sondern auch die Endverbraucher haben das Recht, zu
wissen, woher die Produkte bzw. die Rohstoffe kommen.
({2})
Diese Art von Transparenz ist Voraussetzung für eine
Veränderung. Nur wenn wir eine solche Transparenzpflicht haben - natürlich wird es einige Jahre dauern,
diese zu implementieren und die Systeme zu etablieren;
aber wir leben im digitalen Zeitalter, und das wird wohl
machbar sein -, können wir kontrollieren und nachvollziehen, wer zu welchem Standard arbeitet. Wir haben
diesen Vorschlag gemacht, um uns jetzt endlich auf den
Weg zu machen.
Wenn Sie genau hinschauen, wissen Sie: Acht von
zehn Verbraucherinnen und Verbrauchern sagen: Wir
wollen faire Arbeitsbedingungen. Aber sie fragen auch:
Wie erkennen wir sie denn am Endprodukt, wenn da gerade einmal „Made in Bangladesch“ oder so steht, wenn
nicht einmal etwas dazu ausgesagt wird, wo die anderen
Produktionsstufen sind, wenn man mehr nicht erkennen
kann?
Vizepräsidentin Claudia Roth
Ich bin der festen Überzeugung, dass zur Durchsetzung der Interessen und der Rechte der Verbraucher auch
gehört, dass die Verbraucher keinen Suchauftrag bekommen, dass sie nicht mit Lexikon und Lupe und Handy tagelang durch die Läden laufen und suchen müssen, bevor
sie das T-Shirt kaufen. Sie haben das Recht, zu wissen,
was drin ist. Es muss einfach erkennbar sein.
({3})
Wer jetzt sagt: „Das ist wahnsinnig kompliziert“, dem
sage ich: Wir haben nicht hineingeschrieben: Es soll zum
1. Januar 2017 in Kraft treten. - Erst einmal müssen wir
es in der EU durchsetzen, meine Damen und Herren. Ich
habe das alles persönlich vor Jahren schon einmal beim
Thema Lebensmittel durchdekliniert. Im Lebensmittelbereich hat man den Druck der Kundinnen und Kunden
gehabt. Immer einmal wieder wurde enttarnt, wo die
Stoffe herkommen und warum im Futter plötzlich Antibabypillenrückstände und sonst etwas waren. Da hat man
gemerkt, dass man mehr Transparenz für die Kunden
schaffen muss, um sich selber im Unternehmen finanziell abzusichern. Was im Lebensmittelbereich möglich ist,
auch digital, nämlich eine Rückverfolgbarkeit in der ganzen Kette, muss für den Textilbereich genauso möglich
sein, meine Damen und Herren.
({4})
Ich will einen Satz zu Minister Müller sagen, der immerhin - das kommt bestimmt nachher - ein deutsches
Textilbündnis eingeführt hat. Gut so! Gute Geschichte!
Aber ich sage Ihnen: 2014 wurde es eingerichtet. Bis
2016 wird es nicht einmal einen gemeinsamen Arbeitsplan geben, geschweige denn Veränderungen. Greenpeace ist da weiter. Greenpeace hat mit über 30 globalen
Marken längst vereinbart, dass bis 2020 giftige Chemikalien aus den Produkten raus sein müssen.
({5})
Falls gleich einer sagen möchte, dass das alles zu schwierig ist: Es geht also.
Wir haben eine europäische Verordnung zu Transparenz- und Offenlegungspflichten bei Konfliktrohstoffen
in Arbeit; sie wird verhandelt. Was für Konfliktrohstoffe
gilt, muss hinsichtlich der Menschen- und Umweltrechte
auch für unsere Kleidung gelten.
({6})
Bei den Chemikalien muss gelten: Was hier gefährlich
und gesundheitsgefährdend ist, ist auch in Myanmar gesundheitsgefährdend.
Deshalb sage ich: Lassen Sie uns ein System aufbauen, bei dem am Ende der Kunde erkennt, was Sache ist,
bei dem die Unternehmen wissen, was sie zu tun haben,
und die Herstellerländer wissen, was in der Europäischen Union gefragt ist! Lassen Sie uns, Herr Müller,
unsere Entwicklungshilfe danach ausrichten! Unser Ziel
muss sein, nicht nur ein paar Pioniere zu haben, die statt
„Fast Fashion“ „Fair Fashion“ produzieren, sondern als
Europäer ein Zeichen zu setzen, dass wir die Menschenrechte umsetzen wollen. Ich bitte Sie um Zustimmung
dazu, weil wir dann die Transparenz- und Sorgfaltsregeln
definieren können, sie umsetzen können, weil dann die
Kunden sich danach verhalten können. Wer, wenn nicht
wir, soll denn eine solche Menschenrechtsinitiative ergreifen?
({7})
Vielen Dank, Renate Künast. - Nächste Rednerin:
Mechthild Heil für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, insbesondere von den Grünen! Ich
danke Ihnen ausdrücklich für den Antrag „Kleidung fair
produzieren“, den Sie hier eingebracht haben. Ich glaube
nämlich: Es gibt niemanden in diesem Raum, der nicht
die Arbeitsbedingungen in Textilfabriken in Bangla desch
und in anderen produzierenden Ländern verbessern
möchte. Auch in der Bevölkerung wächst die Zahl derer,
die gern wissen wollen, ob der Kaffee, den sie trinken,
und die Bluse, die sie tragen, fair produziert wurden. Viele Menschen in Deutschland sind sensibilisiert, und das
finde ich richtig gut,
({0})
zeigt es doch - bei aller Abschottungsrhetorik der letzten Monate und bei allem lautstarken Protest und Ablehnungsgeschrei, zum Beispiel bezogen auf TTIP oder
andere Handelsabkommen -: Es gibt in Deutschland die
Leute, die über den Tellerrand hinaussehen, denen es
wichtig ist, unter welchen Bedingungen Waren im Ausland produziert werden, die wir anschließend kaufen. Es
gibt immer mehr Menschen, die verstehen, dass wir solche Herausforderungen nur gemeinsam lösen können gemeinsam in Europa und in einem gemeinsamen Markt
zum Beispiel mit den USA.
Wir allein in Deutschland haben nicht die Marktmacht, die Arbeitsbedingungen zum Beispiel in Bangladesch zu ändern.
({1})
Auch deswegen ist TTIP wichtig. Ich teile das Ziel, die
Transparenz für die Verbraucher in Bezug auf die Lieferketten zu verbessern und die Unternehmen bei der
Einhaltung ihrer Sorgfaltspflichten stärker in die Verantwortung zu nehmen. Herzlichen Glückwunsch an die
Grünen! Frau Künast, Sie haben es wirklich geschafft,
dieses Thema in dieser Woche wieder prominent in den
Medien zu platzieren.
({2})
Vielen Dank für die Initiative. Das tut dem Thema gut.
({3})
Aber auch, wenn wir die übergeordneten Ziele, die Sie
formuliert haben, sehr wohl teilen,
({4})
so halten wir doch Ihre Lösungsansätze weder für notwendig noch für zielführend.
({5})
Die Wirklichkeit ist viel mühsamer und viel komplizierter, als Sie das hier eben dargestellt haben. Denn nicht
ein weiteres Gesetz in Europa ist notwendig. Wichtig ist,
alle relevanten Akteure entlang der Lieferketten einzubinden. Dazu gehören natürlich die Unternehmen, dazu
gehören die Länder, also die Regierungen, dazu gehören
die Gewerkschaften, und dazu gehören natürlich auch
Standardorganisationen, wie zum Beispiel die ILO, die
Arbeitsstandards festlegen. Alle müssen gemeinsam an
einen Tisch und in den Verbesserungsprozess eingebunden werden.
Deshalb ist unser Ansatz ein anderer. Er entspricht
übrigens auch den UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und
Menschenrechte. Wir treiben den Verbesserungsprozess
auf nationaler und auf internationaler Ebene voran, mit
freiwilligen und mit verbindlichen Regelungen. Ich glaube, diese Mischung ist uns wirklich gut gelungen.
Sie selber haben das Textilbündnis angesprochen. Ihre
Kritik am Textilbündnis verstehe ich allerdings nicht. Sie
sagen, das Textilbündnis sei ausschließlich national und
freiwillig,
({6})
deswegen bringe es nichts.
({7})
Was ist das wieder für ein Weltbild? Von den Linken bin
ich es gewöhnt, aber nicht von den Grünen. Also: Alles,
was freiwillig geschieht, ist schlecht, alles, was auf staatlichem Zwang beruht, ist gut. Das widerspricht nicht nur
jeder menschlichen Erfahrung, sondern das ist auch sachlich vollkommen falsch.
({8})
Ja, die Mitgliedschaft im Textilbündnis ist freiwillig.
Aber: 55 Prozent des deutschen Textileinzelhandels sind
in diesem Bündnis organisiert, und wenn man sich die
Entwicklung ansieht, dass stellt man fest, dass das, was
im Oktober 2014 mit 34 Teilnehmern angefangen hat,
jetzt auf immerhin 180 Mitglieder angewachsen ist.
({9})
Dazu zählen im Übrigen auch große Konzerne wie Edeka, Aldi, Adidas, Boss, H&M, KiK oder Otto, die natürlich alle international aufgestellt sind.
({10})
Es ist also nicht so, dass es sich hierbei um ein rein nationales Bündnis handelt. Eine internationale Ausrichtung
war von Anfang an unser Ziel. Dazu kommt - ich glaube,
das ist auch sehr entscheidend -: Die Teilnehmer haben
sich auf eine hohe Verbindlichkeit geeinigt.
({11})
Dafür unterziehen sie sich einem Audit durch unabhängige Dritte. Dieser Prozess läuft im Moment. Im nächsten
Monat wird er beendet, und das Ergebnis wird natürlich
auch veröffentlicht, damit jeder sehen kann, wie gut die
Unternehmen eigentlich sind.
({12})
Das Bündnis leistet also viel mehr, als Sie unterstellen. Das ist ein Riesenerfolg. Das ist richtig gut, und wir
sind noch lange nicht am Ende dieser Entwicklung. Dafür an dieser Stelle ein ganz herzliches Dankeschön an
unseren Entwicklungsminister Gerd Müller und auch an
sein Haus. Da er nicht da ist, kann es der Staatssekretär sicherlich ausrichten. Vielen Dank von uns an Sie für
Ihre Arbeit!
({13})
Frau Heil, erlauben Sie eine Zwischenbemerkung
oder -frage des Kollegen Kekeritz?
Nein, er hat hier gleich die Gelegenheit. Er kann noch
sprechen.
Kann er nicht.
({0})
Sie hatten ja eine Vorreiterin. Frau Künast hat gesprochen. Nein.
Sie sehen: Deutschland geht in vielen Fragen voran.
Unser Ziel ist klar: Wir wollen die sozialen und ökologischen Standards bei der Herstellung von Textilien erhöhen. Dazu brauchen wir Partner. Allein werden wir das
nicht schaffen. Die bis zu 140 Produktionsstufen, die C&A hat das im Moment veröffentlicht - für die Herstellung eines Hemdes nötig sein können, bekommt man
nicht einfach mit einem deutschen oder europäischen
Gesetz in den Griff. Wir brauchen die Partnerschaft, das
Know-how, die Einsicht der Unternehmen. Kleidung
wird in Dutzenden von Ländern produziert, in Tausenden
von Betrieben mit ganz unterschiedlichen Problemstellungen: vom Mindestlohn bis hin zur Kinderarbeit, von
gentechnisch veränderten Baumwollpflanzen bis hin zu
gesundheitsgefährdenden Arbeitsbedingungen, vom vernachlässigten Brandschutz bis hin zum fehlenden Tierschutz. Wenn wir darauf Einfluss nehmen wollen, brauchen wir Verbündete, um unsere Marktmacht zu stärken,
und wir brauchen die Bereitschaft der Länder, uns auf
diesem Weg zu begleiten.
Deswegen, liebe Grüne, liebe Kollegen von den Linken, bei den Zielen sind wir uns einig, aber die von Ihnen
vorgeschlagenen Wege sind einfach falsch. Deshalb lehnen wir Ihren Antrag ab.
Vielen Dank.
({0})
Vielen Dank, Kollegin Heil. - Nächster Redner in der
Debatte: Niema Movassat für die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit großem Tamtam bewirbt Entwicklungsminister Müller immer sein Textilbündnis. Er will damit die schlechten Arbeitsbedingungen von Näherinnen weltweit bekämpfen.
Was die Textilkonzerne davon halten, lässt sich einem
Rundbrief des Modeverbandes German Fashion entnehmen. Dieser Lobbyverband der deutschen Modeindustrie
schrieb letztes Jahr an seine Mitglieder - ich zitiere -:
Man habe „alle problematischen Punkte aus dem Aktionsplan herausverhandeln“ können, es gebe nun „keine Verbindlichkeit mehr“ beim Textilbündnis. German
Fash ion ruft seine Mitglieder zum Beitritt beim Textilbündnis auf, weil man damit werben könne und weil man
sich damit „unter einen Schutzschirm der Bundesregierung“ begibt. Der Textillobby geht es also nicht um eine
Verbesserung der Situation der Näherinnen, sondern vor
allem um einen Schutzschirm vor schlechter Presse.
({0})
Das Textilbündnis dient vor allem der Imagepflege, sowohl der Textilkonzerne als auch der Bundesregierung.
Schon deshalb ist es der falsche Weg.
Zu Ihren Bündnispartnern, Herr Fuchtel, gehört auch
KiK, ein Unternehmen, das sich bis heute weigert, angemessene Entschädigungszahlungen an die Opfer der
Brandkatastrophe von Ali Enterprises in Pakistan zu zahlen. Damals starben 289 Menschen. Wir hatten hier im
Bundestag im November ein Gespräch mit Frau Parveen.
Sie ist Witwe, ihr Mann starb durch den Brand in der Fabrik in Pakistan. Sie beklagte, dass es KiK vollkommen
egal ist, was mit den Überlebenden und den Angehörigen
der Opfer geschieht. KiK habe seine Versprechen nicht
gehalten. Das ist ein Skandal. Und Sie wollen solche
Partner?
({1})
Letzten Monat ist mit Primark ein weiteres schwarzes
Schaf der Branche dem Bündnis beigetreten. Für das Unternehmen MDC Sportswear brachte dies das Fass zum
Überlaufen. In einem Brief an Minister Müller erklärte
die Firma - ich zitiere -:
Der Beitritt von Primark, einem Unternehmen, welches mit seiner Wegwerfmode das Gegenteil dessen
macht, wofür wir stehen, macht es uns unmöglich,
noch länger dem Bündnis anzugehören.
Das Textilbündnis besteht seit Oktober 2014. - Ich zitiere
weiter -:
Seitdem hat sich gar nichts getan.
Herr Kollege, erlauben Sie eine Bemerkung oder Zwischenfrage von Frau Pfeiffer von der CDU/CSU?
Ja, gerne.
Vielen Dank, Frau Vorsitzende. - Lieber Kollege
Movassat, sind Sie nicht mit mir einer Meinung, dass es
besser ist, die KiKs und Primarks dieser Welt in diesem
Bündnis zu haben, als wenn sie außen vor bleiben? Von
MDC wissen wir, dass sie hervorragend produzieren und
dass alles in Ordnung ist, bei KiK und Primark wissen
wir es nicht. Sie unterwerfen sich mit dem Bündnis der
allgemeinen Verbindlichkeit, die sie sich selber geben,
und da sind sie auch zu packen. Ich finde es auch nicht
gut, dass sie ihren Verpflichtungen bis heute nicht nachgekommen sind. Das müssen wir einmal sehen. Aber ich
habe sie doch lieber im Bündnis, um zu fragen: Warum
bist du die Verpflichtung noch nicht eingegangen? Dann
kann man sie eher zur Verantwortung ziehen, damit sie
ihrer Verpflichtung nachkommen, als wenn sie außen vor
sind und ich noch nicht einmal ein Argument habe, sie
daran zu erinnern.
({0})
Das erste Problem ist, Frau Kollegin Pfeiffer, dass es
um die Glaubwürdigkeit von Partnern geht, die man sich
nimmt. Wenn Partner nicht einmal in Fällen, in denen sie
Entschädigung zahlen sollten, reagieren, dann verspricht
das nichts Gutes für die Zukunft, wenn sie in einem Textilbündnis mitmachen.
Das zweite Problem ist, dass das Textilbündnis, das
Herr Müller initiiert hat, am Ende keine allgemeinen Verpflichtungen vorsieht. Es wird Vorschläge machen, und
die Unternehmen können sich dann individuelle Maßnahmenkataloge geben. Das ist natürlich ganz toll: individuelle Maßnahmenkataloge. Die werden mit Sicherheit nichts hineinschreiben, was sie irgendwie schädigen
könnte. Insofern funktioniert dies so nicht.
Wenn man die Unternehmen wie Primark und KiK in
die Pflicht nehmen möchte, dann muss man bereit sein,
allgemeine Verpflichtungen aufzuschreiben. Wie ich am
Anfang mit dem Zitat von German Fashion ausführte,
gibt es keine allgemeinen Verpflichtungen. Das hat die
Modeindustrie herausverhandelt. Deshalb sind die überhaupt noch an Bord. Dadurch wird aufgezeigt, dass dieses Bündnis so nicht funktionieren kann.
({0})
Um noch einmal auf MDC Sportswear zurückzukommen: Wenn man sich diese Kritik am Textilbündnis vor
Augen führt, sieht man, dass sie vernichtend ist.
Herr Müller sagt, dass bis 2017 mindestens 75 Prozent
der Unternehmen des deutschen Einzelhandelsmarktes
Mitglied des Bündnisses sein werden. Das klingt toll,
aber da gilt eben: Masse vor Klasse. Denn es wird keine
allgemeinen Verpflichtungen geben, sondern jedes Unternehmen wird das machen, was es will. Es bringt nichts,
wenn man Mitglied eines Bündnisses ist, am Ende aber
nichts verpflichtend umsetzen muss. Das ist eine Farce.
({1})
Wenn Herr Müller den Näherinnen wirklich helfen
will, dann müsste er ein Gesetz für die Auslandstätigkeit
deutscher Unternehmen vorlegen; denn die Einhaltung
von Menschenrechten darf nicht auf Freiwilligkeit beruhen. Dabei geht es nicht nur um die Textilindustrie. Es
geht auch um Kinderarbeit in indischen Steinbrüchen zur
Herstellung von Grabsteinen auf unseren Friedhöfen, um
sklavenähnliche Arbeitsbedingungen in Kongos Minen
zur Rohstoffgewinnung für unsere Handys oder eben
auch um die Ausbeutung von Näherinnen. Die Probleme
sind dieselben.
Hier soll der Nationale Aktionsplan „Wirtschaft
und Menschenrechte“ Abhilfe schaffen. Die Bundesregierung wird ihn Ende dieses Jahres vorlegen. Damit
kommt sie einer Forderung der Vereinten Nationen und
der EU-Kommission aus dem Jahre 2011 nach. Damals
hatten die UN gefordert, dass Unternehmen Menschenrechtsverletzungen in der gesamten Produktionskette
ausschließen müssen. Die Bundesregierung hat aber erst
2014 begonnen, sich damit zu befassen. Zu Beginn des
Bundestagswahljahres 2017 will sie den Prozess mit unverbindlichen Empfehlungen abschließen.
Klar ist: Vor der Bundestagswahl wird es nichts Konkretes mehr geben, und nach der Wahl wird es eine neue
Regierung geben. Die wird wahrscheinlich erst einmal
die Vorschläge prüfen wollen. Das heißt auf gut Deutsch:
Bis 2018 wird nichts oder fast nichts passieren. Damit
wird Deutschland sieben Jahre, nachdem UN und EU nationale Aktionspläne gefordert haben, immer noch nicht
gehandelt haben. Das ist eine schlechte Nachricht für all
die, die weltweit unter erbärmlichen Arbeitsbedingungen
schuften, auch damit deutsche Konzerne saftige Gewinne
erwirtschaften.
Mit unserem Antrag haben wir konkrete Vorschläge
für Verbesserungen gemacht. Wir schlagen vor, dass die
Bundesregierung einen Gesetzentwurf vorlegt, der erstens menschenrechtliche Mindeststandards entlang der
gesamten Wertschöpfungskette verbindlich macht, zweitens die zivilrechtliche Haftung bei Menschenrechtsverstößen ausbaut und drittens ein Unternehmensstrafrecht
beinhaltet, wie es fast alle EU-Länder mittlerweile eingeführt haben.
({2})
Wenn die Bundesregierung die Einhaltung der Menschenrechte bei Arbeiterinnen in Bangladesch und ähnlichen Staaten tatsächlich verbessern will, dann sollte sie
aufhören, weitere Jahre mit Scheindebatten zu verbringen, und endlich konkret zur Tat schreiten.
Danke schön.
({3})
Vielen Dank, Kollege Movassat. - Die nächste Rednerin: Elvira Drobinski-Weiß für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Zuhörerinnen und Zuhörer auf den Tribünen! Im Zuge der Globalisierung ist Wirtschaft, was
Produktions-, Liefer- und Dienstleistungsketten angeht,
weltweit sehr weit verzweigt. Insbesondere lohnkostenintensive Arbeiten werden oft in den Entwicklungsund Schwellenländern Asiens oder Afrikas erledigt. Das
könnte man positiv sehen; denn eine starke lokale Wirtschaft in den Entwicklungsländern bietet diesen Chancen
auf wirtschaftliche Entwicklung und Wissenstransfer.
Multilaterale Unternehmen können also einen erheblichen Beitrag zu einer nachhaltigen Entwicklung leisten.
Mit „nachhaltig“ meine ich, dass diese ihre Ziele auch
nach sozialen, menschenrechtlichen und ökonomischen
Kriterien ausrichten. Einige deutsche Unternehmen nehmen diese gesellschaftliche Verantwortung bereits wahr
und engagieren sich. Sie integrieren Nachhaltigkeitsstrategien in ihr Kerngeschäft. Dieses Engagement jedoch jetzt kommt eine Einschränkung - ist nur freiwillig.
Bisher muss kein Unternehmen über Arbeits- und Umweltbedingungen Rechenschaft ablegen.
Die vorher schon genannten Unglücksfälle haben
gezeigt: Ein nachhaltiges Engagement der international
agierenden Unternehmen ist nicht Standard. Die verantwortungsvollen Unternehmen stehen im Wettbewerb mit
denen, die nach wie vor Diskriminierung, Lohndumping
und Umweltverschmutzung verantworten oder akzepNiema Movassat
tieren. Leider fehlt derzeit jegliche Transparenz. Noch
schlimmer finde ich: Die Nichtanwendung menschenrechtlicher Sorgfalt und die Zerstörung der Umwelt bleiben für diese Unternehmen folgenlos. Das wollen wir
und das wollen viele Konsumenten so nicht länger hinnehmen.
({0})
Wir wollen, dass Kinder weltweit zur Schule gehen und
nicht in Steinbrüchen oder Textilfabriken arbeiten. Wir
wollen, dass Arbeiter so entlohnt werden, dass sie und
ihre Familien davon leben können. Wir wollen, dass aus
der Verletzung von Menschenrechten kein Vorteil gezogen werden kann.
({1})
Das Textilbündnis, verehrte Kolleginnen und Kollegen, stellt eine Handlungsmöglichkeit für gelebte Verantwortung dar. Ziel des Bündnisses ist es, konkrete Verbesserungen der sozialen und ökologischen Standards
entlang der gesamten textilen Wertschöpfungskette zu
erreichen. Mit dem Bündnis sollen unter anderem international anerkannte Leitlinien und Standards wie die
UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte,
die OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen
oder die ILO-Kernarbeitsnormen - darauf wird der Kollege Barthel nachher noch eingehen - flächendeckend in
der Bekleidungs- und Textilindustrie umgesetzt werden.
Das ist ein erster Schritt in die richtige Richtung. Für Verbraucherinnen und Verbraucher können derzeit unabhängige und transparente Textilsiegel als Orientierung dienen, anhand derer sie erkennen können, ob ein Produkt
diesen Erwartungen entspricht.
Sehr geehrte Damen und Herren, die vorliegenden
Anträge enthalten vorwiegend Vorschläge, wie man den
Bereich der Textilproduktion verbessern kann. Das reicht
nicht. Nichtregierungsorganisationen decken immer wieder Verletzungen von Arbeitsrechten und Umweltzerstörungen auf; keine Branche kann sich von diesen Vorwürfen komplett freisprechen. Deshalb begrüße ich, dass
auf europäischer Ebene im Oktober 2014 die sogenannte
CSR-Richtlinie verabschiedet wurde. Kapitalmarkt orien tierte Unternehmen mit mehr als 500 Mitarbeitern,
Kreditinstitute, Finanzdienstleistungsinstitute und Versicherungsunternehmen müssen zukünftig eine erweiterte
Berichterstattung vorlegen. Das heißt, sie sollen künftig
stärker über nichtfinanzielle Aspekte und von ihnen verfolgte Konzepte berichten. Bundesjustizminister Heiko
Maas und sein Ministerium bereiten gerade die Umsetzung in nationales Recht vor.
Die Pflichten zur Berichterstattung über nichtfinanzielle Aspekte müssen noch in diesem Jahr im Handelsgesetzbuch verankert werden. Im Bereich Umwelt müssen
dann beispielsweise Angaben zu Treibhausgasemissionen, zum Wasserverbrauch, zur Luftverschmutzung oder
zum Einsatz erneuerbarer Energien gemacht werden. Im
Bereich der Arbeitnehmerbelange müssen Angaben zu
den Arbeitsbedingungen, zur Achtung der Arbeitnehmerrechte, zum Gesundheitsschutz oder zur Sicherheit am
Arbeitsplatz gemacht werden. Es gäbe hier noch weitere
Punkte aufzuzählen. Doch für mich ist hier wesentlich:
Ein Unternehmen, das kein Konzept hinsichtlich sozialer
und ökologischer Standards hat, muss erklären, warum
es sie nicht hat.
Konsumenten und Investoren erhalten durch die
Pflichten zur Berichterstattung über nichtfinanzielle Aspekte endlich bessere Informationen über die Geschäftstätigkeit von Unternehmen, anhand derer sie entscheiden
können, ob sie in die Unternehmen investieren, Lieferbeziehungen mit ihnen eingehen oder deren Produkte
kaufen. Ich unterstütze diesen Ansatz. Er ist - anders als
der Antrag der Grünen - branchenübergreifend und nicht
auf die Textilbranche beschränkt. Und er ist - anders als
der Antrag der Linken - auf europäische Vorgaben ausgerichtet und beschränkt sich nicht auf das nationale Recht.
Soziale und ökologische Verantwortung soll ein Wettbewerbsvorteil und darf nicht länger ein Wettbewerbsnachteil sein.
Vielen Dank.
({2})
Danke, Frau Kollegin Drobinski-Weiß. - Jetzt hat der
Parlamentarische Staatssekretär Hans-Joachim Fuchtel
für die Bundesregierung das Wort.
({0})
Hans-Joachim Fuchtel, Parl. Staatssekretär beim
Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung:
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal möchte ich festhalten, dass der
Einsturz des Rana Plaza wohl für uns alle ein Grund war,
zu überlegen, wieweit wir unser Leben auf Kosten anderer gestalten, und Anlass zum Handeln gegeben hat. Wir
sind uns auch einig, dass die Transparenz erhöht werden
muss. Wir sind uns auch einig, dass Unternehmen ihre
Sorgfaltspflicht in entsprechender Weise wahrzunehmen
haben. Aber wir sind uns, wie ich der Debatte entnehme, nicht einig, auf welche Weise das geschehen soll. Ich
entnehme der Debatte auch, dass manche einfach nicht
bereit sind, zur Kenntnis zu nehmen, was alles jetzt auf
den Weg gebracht wird.
({1})
Ich halte Frau Künast zugute, dass sie von vornherein
sagt, dass die Umsetzung ihres Vorschlags Jahre in Anspruch nehmen wird. Aber gerade das wollen wir nicht.
Wir wollen, dass jetzt geholfen wird, dass jetzt mit den
Maßnahmen begonnen wird. Das hilft den Näherinnen in
Bangladesch und anderswo.
({2})
- Ja, es hat 2014 angefangen.
Sie sagen, man kann als Verbraucher überhaupt nichts
tun. Ich habe in meiner langen Zeit als Abgeordneter hier
noch nie mein Handy gebraucht, um etwas zu demonsElvira Drobinski-Weiß
trieren. Zwischenzeitlich gibt es die App „Siegelklarheit“, die Sie herunterladen können. Sie können damit
beim Einkauf das Siegel an einem Hemd oder an einer
Bluse einscannen. Die App zeigt dann eine rote, eine
gelbe oder eine grüne Ampel. Die App sagt Ihnen zum
Beispiel auch, warum eine rote Ampel zu sehen ist. Das
ist doch ein Fortschritt.
({3})
Die Menschen können anfangen, selber mitzuwirken.
Wir brauchen in der gesamten zukünftigen Debatte
auch den Konsumenten an unserer Seite.
({4})
Wenn 87 Prozent der Verbraucher sagen, es sei ihnen
wichtig, zu wissen, wie die Kleidung, die sie tragen, hergestellt worden ist, dann müssen wir ihnen die Möglichkeit geben, sich noch im Shop zu informieren, um dann
entsprechend einkaufen zu können.
({5})
Das ist ein ganz praktischer Fortschritt in dieser Angelegenheit.
({6})
Die Debatte hat uns auch veranlasst, in neuen Kategorien zu denken, zum Beispiel in der Kategorie „Lieferketten“; denn durch die Daten von Lieferketten haben wir
ganz andere Möglichkeiten, Probleme zu analysieren,
Probleme stückweise anzugehen. Diese neue Politik der
Lieferketten haben wir nach Europa getragen, sogar bis
zum G-7-Gipfel. Das hat zu Beschlüssen geführt, deren
Umsetzung jetzt ansteht. Eine Umsetzung erfolgt auch
im Textilbündnis. Das ist keine kleine Veranstaltung nur
zur Schau und auf Wahlen bezogen, wie hier behauptet
wurde; das ist angesichts der Problematik ein bisschen
zu billig, Herr Movassat. Vielmehr wollen wir dafür sorgen, dass alle an einem Strang ziehen. Wir wollen, dass
man kritisch diskutiert und Stück für Stück die Qualität
verbessert. Das ist das Ziel der ganzen Übung. Das ist
meiner Meinung nach für die Zukunft sehr wichtig.
({7})
Wir sind bei weitem nicht nur national unterwegs. Wir
haben das Anliegen an die EU-Kommission herangetragen. Es gibt jetzt die Garment-Initiative, die wir absolut
unterstützen. Wir arbeiten mit allen Ländern zusammen,
die in Europa bereits etwas tun. Wir sind auch vor Ort aktiv. Zwischenzeitlich gehören unserem Bündnis Firmen
an, die allein in Bangladesch insgesamt ein Umsatzvolumen von circa 1,5 Milliarden Dollar erreichen. Wer da
noch behauptet, dass sich nichts bewegt, der ist in einer
anderen Welt zu Hause.
({8})
- Das bewegt sich sehr wohl mit uns, und zwar zentral
mit uns. So etwas gab es vorher noch nicht.
({9})
Ich kann nur dazu aufrufen, dass wir diesen konkreten Weg weitergehen. Wir sind sehr daran interessiert
und sehen mit großer Zuversicht, dass sich immer mehr
Firmen dem Bündnis anschließen. Vorhin wurde davon
gesprochen, dass dem Bündnis bereits so viele Firmen
beigetreten sind, dass ein Marktanteil von 55 Prozent abdeckt ist. Man kann davon ausgehen, dass der Anteil in
der Zwischenzeit bei fast 60 Prozent liegt. Das Ziel ist
ein Marktanteil von 75 Prozent. Ich möchte sehen, ob Sie
dann noch solche Reden halten.
({10})
Ich bitte um weitere Debatten an dieser Stelle, damit
wir über die positive Entwicklung, die mit Hilfe des BMZ
erfolgt, berichten können. Ich kann Sie nur einladen:
Helfen Sie mit, Verbraucher zu aktivieren, damit wir bei
der Erreichung der Ziele noch schneller vorankommen.
Vielen Dank.
({11})
Herr Fuchtel, bevor Sie das Pult verlassen: Erlauben
Sie noch eine Frage von Herrn Movassat?
Hans-Joachim Fuchtel, Parl. Staatssekretär beim
Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung:
Ich habe ja schon gesagt: Jede Chance, ein bisschen
länger über dieses Thema zu reden, ist gut.
({0})
Es freut mich natürlich, Herr Staatssekretär, dass ich
Ihnen mehr Redezeit verschaffen kann. Mich würde interessieren: Wird es im Rahmen des Textilbündnisses am
Ende allgemeine Regeln für alle Teilnehmer, für alle Unternehmen geben? Oder wird es nur einen Katalog mit
individuellen Maßnahmen geben? Ehrlich gesagt, das ist
eine Frage, die mir noch keiner aus der Bundesregierung
ganz konkret beantworten konnte.
Hans-Joachim Fuchtel, Parl. Staatssekretär beim
Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung:
Die Entwicklung wird natürlich dahin gehen, dass
man zum Schluss eine plakative Möglichkeit hat, um zu
sehen, ob ein Produkt nachhaltig hergestellt wurde oder
Parl. Staatssekretär Hans-Joachim Fuchtel
nicht, aber das kann nicht von heute auf morgen geschehen.
({0})
Es wurde von Frau Künast ja gesagt, dass es Jahre dauern wird, bis Ihre Gesetzgebung überhaupt umgesetzt ist.
Ich wage allerdings die Behauptung, dass die Praxis hier
schneller sein wird als die Umsetzung dessen, was Frau
Künast hier sagt.
({1})
Sie ziehen völlig falsche Schlüsse. Ich kann nur sagen:
Da muss ein Schritt nach dem anderen gemacht werden,
damit das zu einem Ganzen werden kann. Seinerzeit
hatten wir sehr viele Siegel und alles Mögliche auf dem
Markt. Es geht darum, dass man Konsens herstellt und
das entsprechend auf den Weg bringt.
({2})
Sie können hier aber nicht verlangen, dass das Ei bereits
gelegt ist, bevor überhaupt daran gedacht wurde, dass es
entstehen soll.
Insoweit, meine Damen und Herren: Stück für Stück
wird sich die Sache bewegen. Wir haben aber nicht weggeschaut, als die Kameras nicht mehr da waren, sondern
Minister Müller hat weiter für die Sache gekämpft. Er hat
Zwischenerfolge, die wir heute darstellen konnten.
({3})
Vielen herzlichen Dank, Herr Fuchtel. - Nächster
Redner in der lebendigen Debatte: Klaus Barthel für die
SPD.
({0})
Es ist ja schön, dass es eine lebendige Debatte gibt und
dass wir uns offensichtlich in den Zielen sehr einig sind.
Es ist auch gut, dass das Thema Rana Plaza hier nicht in
Vergessenheit gerät und dass wir uns, wie das auch Frau
Künast getan hat, heute nach drei Jahren noch einmal daran erinnern. Ich will noch einmal daran erinnern, dass
solche gefährlichen Arbeitsbedingungen und die Gefährdung von Gesundheit und Leben von Menschen, krankmachende Arbeit und die Zerstörung der natürlichen
Lebensgrundlagen zentrale Ursachen von Flucht und
Vertreibung sind und dass man diesen Zusammenhang
immer wieder herstellen muss.
({0})
Ich glaube auch, dass es Sinn macht, sich 14 Tage vor
dem 1. Mai weltweit für gute Arbeit einzusetzen.
In der Tat gibt es Fortschritte zu verzeichnen, und
die sollten wir nicht leugnen. Das macht keinen Sinn.
Zum Beispiel hat es im Jahr 2000 weltweit nicht einmal
zehn Rahmenabkommen zwischen Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften gegeben, die international Arbeitsbedingungen regeln. Mittlerweile gibt es 85 davon.
Deren Erfolg hängt zum Beispiel davon ab, dass sie in
den Partnerländern wirksam kontrolliert und umgesetzt
werden. Die Erfahrung zeigt: Dort, wo es starke Gewerkschaften und betriebliche Vertretungen mit gesetzlichen
Rechten gibt, funktioniert das auch einigermaßen. Dort
funktioniert es jedenfalls besser. Deswegen ist es so, dass
die Sozialdemokratie zum Beispiel bei allen internationalen Abkommen so penetrant für die Einhaltung von
ILO-Kernarbeitsnormen kämpft,
({1})
die Streikrecht, Tarifautonomie, Verbot von Kinderarbeit, Koalitionsfreiheit usw. umfassen.
Es ist andererseits natürlich auch richtig - das ist angesprochen worden -, dass der jetzige Stand, den wir
erreicht haben, unbefriedigend ist. Es könnte viel mehr
solcher Rahmenabkommen geben. Wir haben schon seit
15 Jahren die Bemühungen auf europäischer Ebene um
entsprechende Regelungen beim Import von Produkten,
bei Partnerschaftsabkommen usw. Die Umsetzung der
internationalen Vereinbarungen hinkt jedoch hinterher.
Stichworte sind SDGs und CSR und Nationaler Aktionsplan.
Wenn ich beim Nationalen Aktionsplan bin, dann
muss ich mich etwas über die Linken wundern; denn sie
scheinen das, worauf sich dieser bezieht, überhaupt nicht
zu kennen. Herr Movassat, Sie haben übrigens zu allem
Möglichen geredet, aber nicht zu Ihrem Antrag. Sie haben einen Rundumschlag gemacht. Was Sie hier beantragen, ist ziemlich erbärmlich. Da heißt es zum Beispiel:
Die Bundesregierung wird aufgefordert, „den Prozess
bei den Vereinten Nationen zur Entwicklung verbindlicher internationaler Standards im Bereich der Wirtschaft
und Menschenrechte zu unterstützen“. Meine Damen
und Herren, so etwas gibt es seit 2011, und es geht jetzt
darum, das national umzusetzen. Das erwähnen Sie nicht
einmal.
({2})
In Ihrem Antrag blenden Sie die internationale Dimension völlig aus, weil Sie sich nicht trauen, die internationale Komponente in Ihren Reihen anzusprechen.
({3})
Sie müssen das einfach einmal nachlesen. Es gibt eine
Differenz zwischen Ihrem Antrag und Ihren Reden.
({4})
Parl. Staatssekretär Hans-Joachim Fuchtel
Bei der Formulierung Ihres Antrags hatten Sie die nationale Brille auf; bei den Reden, die Sie hier halten, ist das
etwas anderes.
({5})
Es gibt in der Tat viel zu tun. Diese Koalition geht
das Thema an. Das machen wir. Auch das Textilbündnis
reicht nicht aus; aber es geht immerhin voran. Wir sind
gespannt, was die Arbeitsgruppen im Sommer auf den
Weg bringen.
Diejenigen, die für verbindliche und umfassende Regelungen kämpfen, haben recht: Die Zeit der Freiwilligkeit läuft irgendwann einmal ab. Die Verantwortung
tragen diejenigen, die jahrelang blockiert haben. Herr
Fuchtel, ich glaube, wir müssen irgendwann zu einem
Punkt kommen, an dem wir sagen - den Vergleich mit
der Ampel finde ich sehr gut -: Wir haben in der Straßenverkehrsordnung keine freiwillige Entscheidung, ob
man bei Rot halten oder weiterfahren will, sondern wir
haben einen verbindlichen Halt, und wer nicht hält, wird
bestraft.
({6})
Ich glaube, an diesem Punkt sind wir langsam angekommen.
Deswegen kämpfen wir - gemäß Beschlüssen unserer
Fraktion und unserer Partei - für Transparenz im Welthandel, für verbindliche Standards und Regeln, für eine
verbindliche Umsetzung, für verbindliche Kontrollen
und für Sanktionen. Wir kommen damit auch vorwärts,
zum Beispiel bei den Konfliktmineralien. Die Bundesregierung hat unsere Position mittlerweile übernommen
und setzt sich in Europa für verbindliche Regelungen für
den Import von Konfliktmineralien ein.
Herr Kollege Barthel, ich will Sie in Ihrem Redeschwall nicht unterbrechen,
({0})
aber der Kollege Movassat meldet sich schon seit geraumer Zeit. Darf er etwas sagen oder fragen?
Er darf, natürlich.
Herr Kollege Barthel, erstens glaube ich nicht, dass es
nationalistisch ist, wenn man fordert, dass der Bundestag
Gesetze verabschiedet. Diese Kritik finde ich ziemlich
absurd.
({0})
Zweitens. Natürlich ist es besser, wenn man bei solchen Themen international agiert. Da stimmt Ihnen die
Linke völlig zu. Deshalb habe ich in meiner Rede ausgeführt - vielleicht lesen Sie das später noch einmal nach -,
dass die UN 2011 die UN-Leitprinzipien verabschiedet
hat. Deutschland hat aber erst 2014 begonnen, sich mit
der Umsetzung zu beschäftigen. Meine Kritik ist, dass
die Bundesregierung viel zu spät begonnen hat, die internationalen Anforderungen umzusetzen. Das habe ich
hier gesagt. Ich finde es total gut, wenn dieser Prozess
zügig vorankommt. Meine Sorge ist allerdings, dass die
konkrete Umsetzung auf die Zeit nach der Bundestagswahl verschoben wird, sich die Umsetzung also noch
länger hinzieht. Ich finde, wir müssen hier schneller handeln; denn es geht um Hunderttausende, um Millionen
Menschen, die unter schrecklichen Arbeitsbedingungen
leiden. Hier ist auch Deutschland gefragt, seinen Beitrag
zu leisten, auch durch die Umsetzung internationaler Regelungen.
({1})
Herr Movassat, das ist genau der Punkt. Das, was
Sie hier beschreiben, ist ja richtig. Ich habe gerade bestätigt, dass wir dabei sind, uns dafür einzusetzen, dass
dieser Nationale Aktionsplan möglichst bald umgesetzt
wird. Dass wir diesbezüglich Druck machen, ist allgemein bekannt. Das, was Sie hier sagen, ist richtig; aber
in Ihrem Antrag steht genau das nicht drin. In Ihrem Antrag nehmen Sie darauf nicht Bezug. Ich habe ja nicht
gesagt, dass wir nicht auch national handeln sollen, dass
wir Klagerechte nicht schaffen sollen usw. Wir sind für
Anlaufstellen. Wir brauchen überall Anlaufstellen, bei
denen man sich beschweren kann. Da sind wir uns völlig
einig. Mich stört nur, dass Sie in Ihrem Antrag überhaupt
nicht darauf abheben, sondern so tun, als gäbe es die internationale Dimension gar nicht, als ginge es nur darum,
deutsche Unternehmen in Deutschland zu verpflichten.
({0})
Das führt uns aber überhaupt nicht weiter, weil das im
globalen Wettbewerb nicht funktionieren kann. Das ist
das Problem, das wir mit Ihrem Antrag haben. In Ihren
Reden sagen Sie oft etwas anderes als das, was in diesem
Antrag steht. Das müssen wir hier einfach einmal konstatieren.
({1})
Ich war gerade dabei, auszuführen, dass die SPD-Bundestagsfraktion und die Partei nicht nur Beschlüsse fassen, sondern wir diese Beschlüsse hier auch sukzessive
umsetzen. Das Europäische Parlament hat all unsere
Positionen, was die Anforderungen an Freihandelsabkommen betrifft, übernommen, einschließlich der
ILO-Kernarbeitsnormen usw. usf. Natürlich müssen die
Hausarbeiten gemacht werden.
({2})
- Der Kernarbeitsnormen. Entschuldigung, wenn ich
mich versprochen habe.
Das heißt, wir wollen, dass in internationalen Verträgen nicht in erster Linie Kapital und Investitionen geschützt werden, sondern dass es eben auch einklagbare
Rechte, umsetzbare und durchsetzbare Rechte für die
Menschen und zugunsten der Umwelt gibt usw. Wir
brauchen eine neue Qualität von internationalen Abkommen. Dass Sie genau diese Dimension nicht ansprechen,
bringt uns dazu, dass wir Ihren Antrag ablehnen, auch mit
dem Hinweis - Kollege Rebmann hat es schon ein paar
Mal dazwischengerufen -, dass die Koalition hier schon
vor zwei Jahren ihren globalen Ansatz für gute Arbeit
weltweit offengelegt hat und wir weiter daran arbeiten.
Diesen müssen wir an der einen oder anderen Stelle sicher noch präzisieren und umsetzen, aber wir dürfen das
Thema nicht auf Teilaspekte verengen, sondern müssen
es umfassend verstehen. Darum geht es in dieser Debatte.
({3})
Vielen herzlichen Dank, Kollege Barthel. - Wir sind
sehr weit hinter dem Zeitplan. Deswegen würde ich bitten, jetzt keine Zwischenfragen mehr zu stellen; denn es
gibt im weiteren Verlauf der Gesetzesberatungen noch
viel zu reden.
({0})
- Oh, Herr Rebmann. - Letzter Redner in der Debatte:
Jan Metzler für die CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist sehr
schade, dass keine Zwischenfragen mehr gestellt werden
dürfen.
({0})
Ich versuche, mich jetzt kurzzufassen. Aber ich möchte
zum Abschluss der Debatte - ich habe ja das Privileg,
der letzte Redner in dieser Debatte zu sein - eines noch
einmal unterstreichen: Es ist deutlich geworden, dass wir
in der gemeinsamen Zielsetzung Einigkeit haben, nur auf
der Strecke dahin wollen wir einen unterschiedlichen
Weg nehmen. Ich bin Frau Künast an dieser Stelle sehr
dankbar, dass sie den Aspekt Rana Plaza, die schlimme
Tragödie, zu Beginn dieser Debatte in den Mittelpunkt
gestellt hat. Ich glaube - auch das ist deutlich geworden -, dass keiner der hier im Haus anwesenden Kolleginnen und Kollegen letztlich nicht betroffen ist, wenn
es um die Arbeitsbedingungen geht, die sehr schrecklich
sind, ob das jetzt in Bangladesch oder anderen Ländern
ist, und sie auch so benennt.
Aber wir sind uns uneins darüber, ob wir auf Regulierung oder Freiwilligkeit, auf Bevormundung oder
Eigenverantwortung setzen. Ich bin überzeugt, dass der
Mittelweg die intelligenteste Lösung ist. In diesem Zusammenhang ist bei aller Kritik auch die internationale
Dimension einzubeziehen. Ich bin dem Kollegen Barthel
sehr dankbar, dass er sie gerade zentral genannt hat. Ich
glaube, dass freiwillige Initiativen den gewünschten Effekt erzielen können. Das sehen wir eindeutig am Textilbündnis. Das mag man jetzt alles belächeln oder kleinreden, aber mittlerweile hat es so viele Teilnehmer, dass
fast 75 Prozent des Marktes abgedeckt sind. Das ist eine
Hausnummer, die man hier nicht kleinreden sollte.
Im Endeffekt sollte man nach dem Motto vorgehen,
dass das Bessere der Feind des Guten ist. Darin sind wir
uns auch alle einig. Wir sind auf dem Weg, und wir verbessern uns kontinuierlich. Es ist nicht so, dass an dieser
Stelle nichts getan wird. Das Textilbündnis ist eindeutig
ein richtiger und wegweisender Ansatz, um diese Probleme zu lösen. Ich muss sagen: An dieser Stelle möchte
ich einen Dank an das BMZ und den anwesenden Parlamentarischen Staatssekretär Fuchtel loswerden. Denn es
ist alles andere als eine Pseudoveranstaltung. Es ist ein
nachhaltiges Konzept, das auf Selbstverpflichtung der
Teilnehmer und auf Monitoring durch externe Partner
setzt. Mitnehmen, überzeugen und handeln, das nenne
ich Change Management par excellence.
Der Tatsache, dass gewisse Richtlinien Sinn machen,
stimme ich zu. Ein gutes Beispiel sind die Berichtspflichten, die sozialverantwortliches Handeln für Konzerne in
den Mittelpunkt stellen. Frau Kollegin Drobinski-Weiß
hat darauf hingewiesen, dass es ab 2017 eine Verpflichtung für börsennotierte Unternehmen gibt, eine Erklärung zu Umwelt-, Arbeitnehmer- und Sozialbelangen, zu
Menschenrechten und Korruption als Teil der jährlichen
Wirtschaftsprüfung abzugeben. Somit gibt es auch nach
außen hin Transparenz, und eigenes Handeln wird dokumentiert. Für viele deutsche Unternehmen ist das nicht
wirklich neu. Viele wissen genau, dass diese Informationen die ganze Zeit über ihr eigenes Handeln bestimmen.
Sie weisen sie freiwillig in ihren Geschäftsberichten oder
in zusätzlichen Nachhaltigkeitsberichten aus, um in diesem Zusammenhang letztlich auch die gute unternehmerische Leistung nach außen zu dokumentieren.
Zur Wahrheit gehört, dass sich die Bilanz der deutschen Wirtschaft in Sachen Unternehmensverantwortung sehen lassen kann. Allein im sozialen Bereich engagiert sich die deutsche Wirtschaft jährlich im Umfang
von 11,2 Milliarden Euro. Natürlich ist vieles in diesem
Zusammenhang nicht völlig selbstlos. Aber ich möchte
sagen: Der Optimalfall ist, durch entsprechendes Engagement nach außen hin deutlich zu machen, dass man
nachhaltig handelt. Warum soll einem das nicht auch eine
stärkere Marktposition ermöglichen?
Ich glaube, dass wir mit vielen Dingen bereits auf dem
Weg zu mehr Transparenz sind und viele Informationen
für den Verbraucher in umfassendem Maße zur Verfügung stehen. Dass das Ganze auch auf sehr innovative
Weise geschieht, hat Staatssekretär Fuchtel mit der App
unter Beweis gestellt.
Wir sollten die Verbraucher nicht unterschätzen, was
ihre Mündigkeit angeht. Wir sollten auch unsere Unternehmerinnen und Unternehmer nicht unterschätzen.
Ich bin überzeugt, dass Initiativen wie das TextilbündKlaus Barthel
nis von politischer Seite und von NGO-Seite sehr wohl
Unterstützung finden, dass sie beraten, den Dialog vorantreiben und für mehr Transparenz in der Öffentlichkeit sorgen. Im besten Fall kann man über gemeinsame
Plattformen auch die Marktmacht unserer kleinen und
mittelständischen Unternehmen gegenüber Zulieferern
im Ausland bündeln.
Die deutsche Wirtschaft steht für hohe ökologische
und soziale Standards. Gerade deutsche Unternehmen
genießen weltweit einen hervorragenden Ruf; das sollte
man in diesem Zusammenhang nicht vergessen und auch
nicht kleinreden. Ich glaube, dass deutsche Unternehmen
Botschafter für hohe Standards sind und dass die Regeln,
die wir jetzt im Rahmen des Textilbündnisses vorgeben,
letztlich auch eine Art Richtschnur für die Zukunft sind.
Dabei sollten wir eines nicht vergessen: dass wir mit den
Anträgen, die heute eingebracht wurden, natürlich auch
Alternativen haben. In diesem Zusammenhang ist es der
richtige Weg, so vorzugehen.
Wir sollten kein bürokratisches Monstrum aufbauen,
das im Zweifelsfall in den betreffenden Ländern gar keine gesetzliche Grundlage hat und nichts anderes macht,
als Verwaltungsaufwand zu erzeugen. Ich glaube, dass
Wirtschaft neben der Kontrolle, die Sie fordern, von unserer Seite auch eines genießt: Vertrauen. Das ist im Rahmen einer Kooperation zukunftsweisend.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Vielen Dank, Herr Kollege Metzler. - Damit schließe
ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/7881 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit ein-
verstanden. - Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 7 b. Wir kommen zur Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Ener-
gie zum Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel
„Unternehmen in die Verantwortung nehmen - Men-
schenrechtsschutz gesetzlich regeln“. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 18/6181, den Antrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 18/5203 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist angenom-
men. Zugestimmt haben CDU/CSU und SPD, dagegen-
gestimmt haben die Linken, und enthalten hat sich Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkt 8 a und 8 b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bekämpfung von Korruption im Gesundheitswesen
Drucksache 18/6446
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz ({0})
Drucksache 18/8106
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Kathrin Vogler, Sabine Zimmermann
({2}), Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Korruption im Gesundheitswesen effektiv bekämpfen
Drucksachen 18/5452, 18/8106
Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung, über den
wir später namentlich abstimmen werden, liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Auch da höre
und sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Wenn sich alle gesetzt und gesammelt haben, gebe ich
für die Bundesregierung dem Parlamentarischen Staatssekretär Christian Lange das Wort.
({3})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Ich freue mich, dass wir heute über den
Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung von Korruption
im Gesundheitswesen abschließend beraten können. Es
ist nämlich an der Zeit, die Strafbarkeitslücke zu schließen, die mit der Entscheidung des Bundesgerichtshofs im
Jahre 2012 aufgezeigt worden ist.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf sollen die beruflichen Entscheidungen von Heilberufsangehörigen unter
den besonderen Schutz des Strafrechts gestellt werden.
Diese heilberuflichen Entscheidungen sollen sich am
Patientenwohl orientieren und nicht von eigenen finanziellen Interessen der Heilberufsangehörigen gesteuert
werden.
Die Bundesregierung war bestrebt, mit ihrem Gesetzentwurf den Besonderheiten des Gesundheitswesens angemessen Rechnung zu tragen und das strafwürdige Verhalten klar zu umgrenzen. Ich glaube, das ist uns ganz
ordentlich gelungen.
Der Ausschuss hat noch einige Punkte aufgegriffen,
gegenüber denen in der Sachverständigenanhörung Bedenken geäußert wurden. Er schlägt vor, die beiden neuen Straftatbestände auf die Tatvarianten der unlauteren
Bevorzugung zu begrenzen und die Bezugnahme auf die
berufsrechtlichen Pflichten zur Wahrung der heilberuflichen Unabhängigkeit zu streichen. Wir hatten ursprünglich die zweite Variante für erforderlich gehalten, um
auch Fälle außerhalb von Wettbewerbslagen erfassen zu
können, in denen es keine Bevorzugung geben kann. Wir
können uns aber der Einschätzung des Ausschusses anschließen, dass im Gesundheitswesen in den allermeisten
Fällen von einer Wettbewerbslage ausgegangen werden
kann.
Die Süddeutsche Zeitung, meine Damen und Herren, berichtete in ihrer Ausgabe vom 8. April 2016, dass
künftig angeblich kein Arzt strafrechtlich belangt werden
könne, wenn er einen Patienten aus wirtschaftlichem
Eigeninteresse falsch behandeln würde. Es war zu lesen, dass Fälle denkbar seien, in denen Ärzte bewusst
ein schlechteres Medikament verschrieben, weil sie im
Gegenzug Geld vom Pharmaunternehmen erhielten. Ein
solches Vorgehen könne zu massiven Nachteilen und im
schlimmsten Fall zu gesundheitlichen Schäden der Patienten führen und müsse daher - das ist in der Tat richtig auch geahndet werden können.
Meine Kolleginnen und Kollegen, hier haben wir eine
Situation beschrieben bekommen, in der eine medikamentöse Behandlung indiziert ist und es offensichtlich
mehrere für eine Behandlung in Betracht kommende
Medikamente gibt. Es liegt daher ein Handeln innerhalb
des Wettbewerbs vor. Das heißt, der Arzt entscheidet
sich zwischen mehreren in Betracht kommenden Medikamenten und damit zwischen verschiedenen im Wettbewerb befindlichen Produkten. Wenn er sich bestechen
lässt, damit er ein bestimmtes Medikament bevorzugt,
ist das geradezu der typische Anwendungsfall der Tatbestandsvariante der unlauteren Bevorzugung, die auch
nach den Änderungen der Koalitionsfraktionen unverändert fortbesteht, das heißt, strafbar bleibt.
({0})
Möglicherweise beruht das wiedergegebene Beispiel
aber auch auf dem Missverständnis, dass es hier um einen
Fall einer überhaupt nicht indizierten Behandlung geht.
Von einer nicht indizierten Verordnung bzw. Behandlung
könnte aber nur dann ausgegangen werden, wenn der
Patient überhaupt nicht medikamentös hätte behandelt
werden dürfen und der Arzt ohne entsprechende Indikation alleine deshalb ein Medikament verordnete, weil
er dadurch einen Vorteil durch das Pharmaunternehmen
erhält. Selbst in solchen Fällen ist aber in aller Regel ein
Handeln im Wettbewerb und damit eine Strafbarkeit gegeben. Im Übrigen kommt immer auch noch eine Strafbarkeit wegen Körperverletzung zum Nachteil des Patienten und gegebenenfalls wegen Betrugs zum Nachteil
der Krankenkasse in Betracht.
Auf der Basis der Begründung der Ausschussempfehlung gehen wir also davon aus, dass die erste Tatbestandvariante ausreichend ist, um einen umfassenden Schutz
zu gewährleisten und alle wesentlichen Fallkonstellationen strafrechtlich zu erfassen: Dies erfasst auch den
Bereich der personalisierten oder individualisierten Medizin und eine gezielte Therapie.
Schließlich begrüßen wir ausdrücklich, dass der Ausschuss empfiehlt, das Strafantragserfordernis aufzuheben
und die neuen Tatbestände als Offizialdelikte auszugestalten.
Wir meinen, das ist ein sehr guter Beitrag zum Patientenschutz in Deutschland, und deshalb hoffe ich auf
möglichst breite Unterstützung bei Ihnen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Vielen Dank, Christian Lange. - Nächste Rednerin:
Kathrin Vogler für die Linke.
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ein Gesetz zur Bekämpfung von Korruption im Gesundheitswesen ist in der Tat längst überfällig. Bisher wird hier mit
zweierlei Maß gemessen. Es ist unerträglich, dass sich
ein angestellter Arzt in einer Klinik strafbar macht, wenn
er sich von einer Pharmafirma bestechen lässt, eine niedergelassene Ärztin aber nicht. Bislang ist es nicht strafbar, wenn ein Pharmaunternehmen einem Hausarzt Prämien für die gezielte Verschreibung von Medikamenten
zahlt oder wenn sich eine Ohrenärztin für die Überweisung von Patienten vom Hörgeräteakustiker schmieren
lässt. Das muss dringend geändert werden.
({0})
Im Gesundheitswesen geht es ja um sehr viel Geld.
Wir haben die Verantwortung, dass diese Milliarden
nicht durch Korruption verschwendet werden. Aber es
geht um noch etwas Wichtigeres: Korruption gefährdet
die Unabhängigkeit der Heilberufe und damit das Vertrauen der Patientinnen und Patienten in die Therapieentscheidung ihres Arztes oder ihrer Ärztin. Deswegen
kämpft die Linke seit Jahren für eine Schließung dieser
Lücke im Strafrecht.
({1})
In der letzten Wahlperiode scheiterte das am Widerstand
aus Union und FDP. Heute sind sich alle Parteien zumindest darin einig, dass Korruption im Gesundheitswesen
strafbar sein soll.
({2})
Der Gesetzentwurf der Koalition allerdings leidet
unter einem Geburtsfehler. Sie haben die Regelung ins
Wirtschaftsstrafrecht gelegt statt etwa bei den Amtsdelikten. Damit haben Sie sich in eine Falle begeben, aus
der Sie nicht mehr herauskommen. Im Ergebnis wird nun
vor allem der Wettbewerb geschützt, also konkurrierende Anbieter auf dem Gesundheitsmarkt, und weniger die
Patientinnen und Patienten, Herr Lange.
Im ursprünglichen Entwurf war noch ein Absatz enthalten, mit dem die Verletzung der berufsrechtlichen
Pflicht zur Unabhängigkeit aufgrund von Bestechung
ebenfalls unter Strafe gestellt werden sollte. Damit wären
dann zumindest auch die Fälle erfasst worden, in denen
überhaupt kein Wettbewerb existiert, weil es etwa für ein
Produkt keine Konkurrenz gibt. Allerdings gab es kritiParl. Staatssekretär Christian Lange
sche Stimmen, die darauf hinwiesen, dass das Berufsrecht ja von den Heilberuflern selbst festgelegt wird, und
zwar auf Länderebene. Damit könnten die Ärzte selbst
festlegen, welches Verhalten von Strafe bedroht ist, und
zwar in Mannheim anders als in Ludwigshafen.
Um diese Bedenken auszuräumen, hat die Koalition
den Absatz zu den Berufspflichten einfach gestrichen
und damit aus unserer Sicht dem Gesetz seinen wesentlichen Sinn genommen, nämlich den Schutz des Vertrauens. Dies ist auch den Gesundheitspolitikern und -politikerinnen von der SPD aufgefallen. Was konnte man dazu
in den letzten Tagen nicht alles für starke Sprüche lesen!
Herr Lauterbach zum Beispiel
({3})
- wo ist er überhaupt? - hat bezweifelt, dass es sich
überhaupt noch lohne, diesen Gesetzentwurf zu verabschieden. Sie wollten nachverhandeln. Auf das Ergebnis
haben wir dann ganz gespannt gewartet. Als die neue
Version am Dienstagabend kam, habe ich sie wirklich
Wort für Wort durchgelesen - und ich war erstaunt: Bis
auf einen einzigen Satz in der Begründung hat sich gar
nichts getan.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, damit
können Sie nicht wirklich zufrieden sein. Das ist wirklich
enttäuschend. Wenn Sie dem jetzt zustimmen, dann müssen Sie sich den Vorwurf gefallen lassen, dass der ganze
Protest von Ihnen wohl nur Theaterdonner gewesen ist.
({5})
Wir aber nehmen Ihre Kritik ernst, und wir nehmen sie
auf. Deswegen werden wir gegen diesen Gesetzentwurf
stimmen. Dabei hat die Linke ja auch konkrete Vorschläge gemacht, wie es anders hätte gehen können. Wir wollten, ähnlich wie bei den Beamten, jegliche Form von Vorteilsnahme und -gewährung unter Strafe stellen. Damit
wäre ein viel größerer Teil von Korruption abgedeckt.
Des Weiteren bleibt noch eine ganze Liste von Aufgaben ungelöst.
Erstens. Weil sich Korruption meistens im Geheimen
abspielt, sind die Staatsanwälte darauf angewiesen, dass
Insider ihnen Informationen und Hinweise auf mögliche
Straftaten geben. Darum werden wir weiter für einen
umfassenden Schutz für Hinweisgeber streiten und diese
Forderung hier auf die Tagesordnung setzen.
({6})
Zweitens. Auch die Grünen haben in ihrem Entschließungsantrag sinnvolle Punkte aufgezeigt, zum Beispiel
die Veröffentlichungspflicht von allen Zahlungen an die
Ärztinnen und Ärzte durch die Industrie. In den USA geht
das; das kann auch bei uns gehen. Das unterstützen wir.
Drittens. Auch die sogenannten Anwendungsbeobachtungen müssen wir auf die Tagesordnung setzen. Hierbei
bezahlen Pharmafirmen Ärzte für angebliche Medikamentenstudien, die sehr oft keinen wissenschaftlichen
Nutzen haben. Diese Zahlungen sind also Provisionen
für die Verschreibung bestimmter Mittel: zulasten der
Patienten und auf Kosten der Versicherten. Hier fließen
jährlich bis zu 100 Millionen Euro von der Industrie in
die Ärzteschaft. Erschreckend, dass die Bundesregierung
in zwei Jahren Dialog mit der Pharmaindustrie dieses
Thema noch nicht einmal auf die Tagesordnung gesetzt
hat, nichts dazu sagt und in ihrer Antwort auf unsere
Kleine Anfrage keinerlei Handlungsbedarf signalisiert.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, hier werden wir Sie
weiter treiben. Versprochen.
({7})
Vielen Dank, Frau Vogler. - Der nächste Redner in der
Debatte: Dr. Jan-Marco Luczak für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! „Zu Risiken und Nebenwirkungen lesen
Sie die Packungsbeilage und fragen Sie Ihren Arzt oder
Apotheker“. Diesen Satz kennt jeder. Das ist eine gesetzliche Verpflichtung nach dem Heilmittelwerbegesetz. Jeder Werbung für Arzneimittel muss dieser Satz angefügt
werden. Dieser Satz macht deutlich, welches Vertrauen
der Gesetzgeber, aber vor allen Dingen welches Vertrauen Patienten Ärzten und Apothekern, aber auch anderen
Gesundheitsberufen entgegenbringen.
Dieses Vertrauen, meine Damen und Herren, ist auch
gerechtfertigt; denn wir haben nicht nur ein gutes Gesundheitssystem und hohe medizinische Standards, sondern wir haben vor allen Dingen Menschen, die gut ausgebildet sind, die integer sind und die sich oftmals mit
größter persönlicher Hingabe und Aufopferungsbereitschaft ihrem Beruf zum Wohle von Kranken und Pflegebedürftigen widmen.
({0})
Ich denke da an Ärzte, ich denke an Apotheker, aber ich
denke vor allen Dingen auch an die Krankenschwester
oder den Pfleger im Krankenhaus. Diesen Menschen
sage ich: Danke für ihren persönlichen Einsatz! Umso
schwerer wiegt es dann, wenn Einzelne dieses Vertrauen der Patienten enttäuschen, wenn Einzelne sich bereichern, wenn sie sich Vorteile verschaffen, wenn sie sich
also bestechen lassen und korrupt sind.
Meine Damen und Herren, Korruption ist ja bei weitem nicht nur ein volkswirtschaftliches Problem. Dass
sich medizinische Leistungen verteuern, weil nicht mehr
Qualität, nicht mehr Leistung, nicht mehr der Preis entscheidend sind, sondern die Höhe des korruptiven Anreizes, ist das eine. Das andere ist der damit einhergehende
Vertrauensverlust von Patienten in die Integrität der heilberuflichen Entscheidungen. Wegen dieser gravierenden
Folgen der Korruption sage ich: Es braucht eine klare
Ansage des Gesetzgebers, dass wir ein solches Verhalten nicht tolerieren, dass wir Korruption ächten und unter Strafe stellen. Patienten müssen sich darauf verlassen
können, dass die Verordnung eines Medikamentes oder
die Empfehlung eines Krankenhauses allein aus medizinischen Gründen erfolgt und nicht, weil ein Arzt in irgendeiner Weise einen Vorteil davon hat.
({1})
Meine Damen und Herren, der Staatssekretär Lange
hat es ausgeführt: Bislang gab es in diesem Bereich
Strafbarkeitslücken. Mit dem Gesetzentwurf, den wir Ihnen heute zur Abstimmung vorlegen, schließen wir diese Strafbarkeitslücken. Insofern ist heute ein guter Tag
für Patienten, weil wir endlich ein gutes, ein wirksames
Heilmittel gegen das Geschwür der Korruption bekommen. Korruption auf Rezept, das wird es zukünftig nicht
mehr straflos geben, und das ist auch gut so, meine Damen und Herren.
({2})
Für uns war in den Verhandlungen vor allen Dingen
wichtig, dass wir klar abgrenzen zwischen verbotener
Korruption und der erlaubten, ja gewünschten Kooperation im Gesundheitswesen. Denn Kooperationen im Gesundheitswesen sind oftmals sehr wichtig für den medizinischen Fortschritt, für Innovationen, für ein effektives
Gesundheitswesen. Das dient letztlich dem Wohle des
Patienten.
({3})
Deswegen kann es auch nicht automatisch strafbar sein,
wenn eine Zusammenarbeit in irgendeiner Form vergütet wird. Wir wollen nichts unter Strafe stellen, was dem
medizinischen Fortschritt dient. Deswegen haben wir
das in der Gesetzesbegründung ausdrücklich klargestellt
und verschiedene Kooperationsformen genannt, die wir
selbstverständlich nicht inkriminieren wollen.
({4})
Klar, meine Damen und Herren, ist aber auch: Solche Kooperationsmodelle sind kein Freifahrtschein. Die
Grenze der zulässigen Zusammenarbeit ist jedenfalls
dann erreicht, wenn eine Unrechtsvereinbarung vorliegt
oder unangemessene Vorteile für eine konkrete Gegenleistung gezahlt werden. Hier gilt: klares Ja zur Kooperation, aber ein genauso klares Nein zur Korruption.
({5})
Wir haben in den parlamentarischen Beratungen den
Kabinettsentwurf in einem wichtigen Punkt geändert; darauf hat Staatssekretär Lange vorhin schon hingewiesen.
Wir haben die zweite Tatbestandsalternative in § 299 a
Absatz 1 Nummer 2 gestrichen.
Worum ging es bei dieser Tatbestandsalternative? Mit
dieser Tatbestandsalternative sollten Fallkonstellationen
außerhalb des Wettbewerbs strafrechtlich erfasst werden.
Diese Alternative war aber von Anfang an als Auffangtatbestand konstruiert. Im Referentenentwurf hieß es noch,
es solle bestraft werden, „wer … in sonstiger Weise seine
Berufsausübungspflichten verletzt.“ Das war nicht nur
erkennbar zu unbestimmt, sondern das ging auch am
Schutzzweck des Gesetzes vorbei. Denn damit hätte man
unter Umständen die Situation erfasst, dass ein Arzt sich
etwa ein zu großes Praxisschild an die Tür hängt. Da das
nicht ohne Weiteres möglich ist bzw. verboten ist, wäre
auch das ein Verstoß gegen die Berufsausübungspflichten gewesen.
({6})
Das hat natürlich mit dem Vertrauen in die Integrität von
heilberuflichen Entscheidungen rein gar nichts zu tun. Da
gibt es kein korruptionsspezifisches Unrecht. Deswegen
haben wir gesagt: Das müssen wir ändern.
({7})
Das ist dann auch geändert worden. Im Kabinettsentwurf hat man den Schutzzweck klarer und präziser herausgearbeitet. Nur solche Pflichtverstöße sollten einen
Korruptionsvorwurf rechtfertigen, durch die die Wahrung der heilberuflichen Unabhängigkeit infrage gestellt
wird.
Wir haben dann aber im Rechtsausschuss eine Anhörung durchgeführt, in der erhebliche Zweifel deutlich
wurden, ob der Verweis auf das Berufsrecht hinreichend
präzise und konkret genug den Pflichtenkanon umschreibt, den Angehörige von Gesundheitsberufen einzuhalten haben. Damit waren wir bei der Frage, ob dem
verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebot Rechnung
getragen wurde.
Diese Zweifel, meine Damen und Herren, sind nicht
von der Hand zu weisen. Für die konkrete Ausgestaltung
des Berufsrechts sind die Länder zuständig. Das ist in
unserem föderalen System nun einmal so geregelt; da
können wir als Bundesgesetzgeber ihnen nicht hineinregieren. Deswegen ist das Recht der Heilberufe ja auch
außerordentlich uneinheitlich und zersplittert. Selbst
da, wo das Berufsrecht möglicherweise einheitlich bzw.
identisch formuliert ist, gibt es Unterschiede, weil die
Auslegung zum Teil sehr unterschiedlich ist. Denn dafür
sind die jeweiligen Kammern zuständig. Die Folge wäre
gewesen, dass wir in dem Bereich einen Flickenteppich
unterschiedlicher Strafbarkeiten je nach Bundesland bekommen hätten. Dabei hätte das Verhalten eines Arztes
beispielsweise in Hessen erlaubt sein können, während
es um die Ecke in Niedersachsen hingegen verboten und
als Korruption strafbar wäre. Das haben wir als Union
aus Gründen der Rechtssicherheit für problematisch gehalten und gesagt: Da müssen wir rangehen.
({8})
Denn das verfassungsrechtliche Bestimmtheitsgebot ist
keine Petitesse. Strafrecht ist immer Ultima Ratio und
hat für den Betroffenen immer einschneidende wirtschaftliche und persönliche Konsequenzen.
Wir haben uns also gefragt, was passiert, wenn wir die
berufsrechtliche Tatbestandsalternative streichen. Wissen Sie, zu welchem Ergebnis wir gekommen sind? Es
würde nichts passieren. Es entstehen keine Strafbarkeitslücken. Der Schutzzweck des Gesetzes ändert sich nicht,
sondern der Schutz des Vertrauens der Patienten ist nach
wie vor vollumfänglich gewährleistet. - Das sage ich
deswegen so deutlich, weil es von Kollegen aus der SPD
andere Verlautbarungen gegeben hat. Diese kann ich nur
zurückweisen. Man kann nur sagen: Bei Gesetzen ist es
ähnlich wie bei Medikamenten: Man muss manchmal die
Packungsbeilage bzw. das Kleingedruckte lesen; dann
versteht man auch, worum es geht.
({9})
Es ist ja tatsächlich so - das wurde schon gesagt -,
dass fast ausnahmslos alle Fälle von der ersten Tatbestandsalternative umfasst werden. Denn es gibt kaum
einen Markt, der so umkämpft ist und so im Wettbewerb
steht wie der Gesundheitsmarkt. Deswegen haben wir
ausdrücklich klargestellt, dass Wettbewerb in diesem
Zusammenhang weit zu verstehen ist. Deswegen gibt es
quasi auch keine Monopolsituation. Es gibt quasi solche
Monopolsituationen nicht, weil es immer eine Therapiealternative gibt und immer andere Medikamente gibt, die
man im konkreten Fall auch einsetzen kann. Deswegen
besteht immer zumindest potenziell eine Wettbewerbssituation. Damit sind wir klar im Anwendungsbereich der
ersten Tatbestandsalternative.
Deswegen noch einmal zur Abwägung: Auf der einen
Seite gibt es verfassungsrechtliche Zweifel; auf der anderen Seite bestehen keine Strafbarkeitslücken. Das war für
uns eine ganz klare Maßgabe. Deswegen haben wir das
gestrichen, meine Damen und Herren.
({10})
Deswegen - das darf ich zum Schluss sagen
Deswegen ist jetzt definitiv Tatbestand: Ihre Redezeit
ist abgelaufen.
- haben wir unter dem Strich einen guten und ausgewogenen Entwurf eines Gesetzes vorgelegt, das Korruption
klar unter Strafe stellt, Kooperation aber nicht behindert.
Dieses Gesetz schützt das Vertrauen der Patienten, trägt
bestehenden verfassungsrechtlichen Zweifeln Rechnung,
ohne Strafbarkeitslücken zu schaffen. Deswegen bitte ich
Sie: Stimmen Sie dem Gesetz zu, damit Patienten auch
weiterhin uneingeschränkt voller Vertrauen zu Risiken
und Nebenwirkungen ihren Arzt oder Apotheker fragen
können!
Vielen Dank.
({0})
Vielen Dank, Herr Kollege. Die Redezeit war recht
ausgeweitet, wenn ich das einmal so sagen darf. Ich bitte
die anderen, sich daran zu halten.
({0})
Die nächste Rednerin ist Renate Künast.
({1})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Kollege Luczak, Ihre Rede und Ihre Erklärungen haben
mich an Bismarck erinnert
({0})
- ich habe nicht gesagt, dass er mich an Bismarck erinnert,
({1})
sondern, dass seine Rede mich an Bismarck erinnert hat.
({2})
Von Bismarck stammt der Satz: Bei zwei Sachen soll man
nicht dabei sein wollen, beim Gesetzemachen und beim
Wurstmachen. - Sie verstehen! Er hielt offensichtlich
beides für unappetitlich. So wie Sie es nun dargelegt und
erklärt haben, hat man ein bisschen das Gefühl, dass es
sich um einen unappetitlichen Vorgang handelt. Schön,
dass Sie sich nach vier Jahren überhaupt bewegt haben
und nicht nur sagen, alle, die Korruption im Gesundheitswesen bestrafen und sanktionieren wollen - genauso wie
in anderen Bereichen -, seien misstrauisch gegenüber
allen Ärzten. Da haben Sie sich immerhin bewegt, mehr
aber auch nicht, Herr Luczak.
({3})
Es ist zehn Jahre her, dass Oliver Pragal aus Hamburg in seiner Dissertation darauf hingewiesen hat, Bestechung von niedergelassenen Ärzten im Vertragsarztsystem - früher Kassenarztsystem - sei eigentlich ein
Fall von Bestechlichkeit im geschäftlichen Verkehr nach
§ 299 StGB und deshalb strafbar. Dann begann ein großer Streit in Wissenschaft und Politik. Es gab Revision
beim BGH. Zwei Senate haben gesagt, dass das möglich
ist und dass es sich bei Ärzten um Amtsträger im staatlichen System der Gesundheitsversorgung oder um Beauftragte eines geschäftlichen Betriebs handeln könnte, und
haben eine Vorlage für den Großen Senat für Strafsachen
gemacht. Dieser ist dann allerdings leider zu dem Ergebnis gekommen,
({4})
dass es sich bei ihnen nicht um Amtsträger oder Beauftragte im Sinne des StGB handele. Diese Entscheidung
stammt von Anfang 2012. Seitdem, meine Damen und
Herren, bemühen wir uns, dieses große, tiefe schwarze
Loch zu stopfen, weil Bestechung in diesem Bereich
nicht strafbar ist.
Am Ende der Begründung hat der Große Senat gesagt,
dass jedwede vergangene Korruption straffrei sei, dass
nun aber der Gesetzgeber gefordert sei. Vier Jahre haben
wir nun daran gearbeitet. Mit der FDP war hier gar nichts
möglich. Aber ich habe das Gefühl, dass sich irgendein
FDPler in Ihre Reihen geschlichen hat.
({5})
- Ich will mich nicht festlegen, wie viele es sind. - Denn
der Referentenentwurf aus dem vergangenen Jahr war
bedeutend besser als das, was wir heute zur Abstimmung
vorliegen haben, meine Damen und Herren von der Koalition.
({6})
Er war besser auch und gerade wegen des Themas, das
Sie und auch die Kollegin von der Linken hier angesprochen haben, nämlich wegen des Verweises auf die Pflicht,
die eigenen berufsständischen Regeln, das Kammerrecht
und den Eid des Hippokrates einzuhalten. Das war doch
eigentlich der Kern des Gesetzes.
Mit Verlaub, Herr Luczak, mit etwas Bemühen hätte
man zum Beispiel Praxisschilder und andere Dinge von
der Regelung ausnehmen können.
({7})
- Er hat ja die Sorge gehabt, dass dann die Größe von
Schildern und der damit verbundene Werbeeffekt ein
Thema gewesen wäre.
({8})
Abgesehen von der Tatsache, dass das Quatsch ist, hätte
ich dem BMJV zugetraut, eine Formulierung zu finden,
die Schilder vor der Tür ausschließt. Wir hätten jedenfalls gerne gehabt, dass es einen umfassenden Schutz
vor unsinnigen Behandlungen gibt, die am Ende nur den
Zweck haben, das Portemonnaie der betreffenden Ärztin
oder des betreffenden Arztes zu füllen. An dieser Stelle
sind Sie, selbst wenn es kritische Anmerkungen in der
Anhörung dazu gab, trotzdem dem Lobbydruck erlegen.
Sie haben sich nämlich noch nicht einmal um neue Formulierungen bemüht.
({9})
- Manchmal muss man ja was besser wissen. Es können
ja nicht nur Sie alles besser wissen. Manchmal wissen
auch Frauen etwas besser. Das ist halt so.
({10})
Ich glaube, es sollte eigentlich Kern des Gesetzes sein,
dass wir für Begrenzungen sorgen; ich nenne zum Beispiel als Stichwort „überflüssige Medikamentenabgabe“.
Mich irritiert bei Ihrer Argumentation - Herr Luczak
hat das auch gerade gesagt -, dass Sie sagen, es gehe Ihnen um das Vertrauen in die Ärzteschaft.
({11})
Das gehen Sie aber nicht so richtig an, wenn Sie das
Kammerrecht nicht einbeziehen. Davor drücken Sie sich
bei der CDU/CSU. Aber ich verstehe eines nicht: Als wir
über die Integrität des Sports diskutiert haben, haben die
SPD- und die CDU/CSU-Fraktion mit Verve gesagt: Ja,
das Strafrecht ist das richtige Mittel, um die Integrität des
Sports zu schützen. - Wenn es aber um das Vertrauensverhältnis des Patienten zum Arzt in einem sehr breiten
Schutzbereich geht, drücken Sie sich vor der eigenen
Verantwortung.
({12})
Meine Damen und Herren, für Sie war es ein gefundenes Fressen, hier Verweise zu streichen. So wie die Norm
jetzt ist, hätten wir eigentlich einfach einen Absatz an den
§ 299 mit einem rein wettbewerbsrechtlichen Hinweis
anfügen können. Das hätte auch ausgereicht.
Ich verstehe auch nicht, wieso die Apothekerinnen
und Apotheker jetzt draußen sind; denn mit den Rabattverträgen, die die Krankenkassen abschließen, haben die
Apotheker ja auch die Möglichkeit, am Ende den einen
oder anderen zu bevorzugen. Schon gar nicht verstehe
ich, wenn die Apothekerinnen und Apotheker draußen
sind, warum eigentlich die anderen Heilberufe wie Hebammen, Physiotherapeuten oder Gehilfen immer noch
drin sind. Bei diesen kann ich mir weniger Korruption
vorstellen als bei den Apothekerinnen und Apothekern.
({13})
Ich glaube, dass Sie sich hiermit keinen Gefallen getan haben, sondern dass das Ergebnis - teilweise unter
Berufung auf die Anhörung zustande gekommen - doch
sehr dürftig ist. Gut, dass Sie ein Offizialdelikt daraus
gemacht haben.
({14})
Es wäre ja noch schöner, wenn Sie auch das unterlassen
hätten, nachdem Sie Regelungen zu den Whistleblowern
und die Herstellung einer umfassenden Transparenz
durch entsprechende Veröffentlichungsvorschriften vergessen haben.
Mein Fazit ist: Gut, dass es nach viel Druck endlich einen Gesetzentwurf gibt, über den wir abstimmen können,
sehr schlecht aber, dass Sie ihn entkernt haben. Deshalb
werden wir uns enthalten.
({15})
Vielen Dank, Renate Künast. - Nächster Redner: Dirk
Wiese für die SPD.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Tage, in denen das Strafrecht kein geeignetes Mittel gegen Korruption und Bestechlichkeit im
Gesundheitswesen bot, sind gezählt. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf geben wir den Strafverfolgungsbehörden ein wichtiges Mittel in die Hand, um Kriminellen
im Gesundheitsbereich das Handwerk zu legen.
Was mich dabei besonders freut, ist, dass wir Sozialdemokraten in den parlamentarischen Verhandlungen erreichen konnten, dass die Staatsanwaltschaft künftig bereits
bei Vorliegen eines Anfangsverdachts ermitteln muss und
nicht, wie ursprünglich vorgesehen, nur bei Vorliegen eines Strafantrags; denn damit schützen wir Patientinnen
und Patienten vor falschen Behandlungen; wir schützen
aber auch ehrliche Ärzte und ehrliche Leistungserbringer im Gesundheitswesen vor den Machenschaften Einzelner. Denn diese schwarzen Schafe drohten die ganze
Branche in Verruf zu bringen, obwohl der Großteil der
Ärzte wichtige und absolut korrekte Arbeit leistet.
Die Ausgestaltung als Offizialdelikt ist übrigens auch
deshalb besonders wichtig, weil Patienten selbst bei einem klaren Verdacht oftmals eine Hemmschwelle haben,
ihren eigenen Arzt anzuzeigen. Gerade dann, wenn es zu
wenige Ärzte in ihrer Region gibt, wie das heutzutage
leider in vielen ländlichen Gegenden der Fall ist, kann
das häufig vorkommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte auch
noch einmal in Erinnerung rufen, dass es sich bei dem
vorliegenden Gesetzentwurf um ein Kernanliegen der
SPD handelt. Bereits während der letzten Legislaturperiode stritt die SPD für eine gesetzliche Regelung, die
leider mit der damaligen schwarz-gelben Bundesregierung nicht zu machen war. Erst auf Drängen der SPD
wurde die Bekämpfung der Korruption im Gesundheitswesen überhaupt in den Koalitionsvertrag aufgenommen. Denn für uns Sozialdemokraten war immer klar:
Patienten müssen sich darauf verlassen können, dass ihr
behandelnder Arzt ihnen stets die bestverträgliche und
effektivste Arznei verordnet und nicht das Mittel mit der
höchsten Prämienzahlung.
({0})
Kurzum: Das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und
Patient darf nicht dadurch gefährdet werden, dass über
ihm das Damoklesschwert des Korruptionsverdachts
schwebt. Patienten müssen ihren Ärzten vertrauen können. Punkt! Das ist übrigens auch der Grund, warum
wir die von einigen Seiten geforderte Möglichkeit der
Telekommunikationsüberwachung bei der Strafverfolgung nicht aufgenommen haben. Das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient ist viel zu wichtig, um es
selbst durch gerechtfertigte Ermittlungsmaßnahmen zu
gefährden. Hätten wir solche Ermittlungsmaßnahmen
erlaubt, könnte sich zukünftig kein Patient mehr sicher
sein, dass das, was er seinem Arzt etwa im persönlichen
Telefongespräch anvertraut, auch zwischen ihm und seinem Arzt bleibt.
Zum Abschluss, liebe Kolleginnen und Kollegen:
Mit 10 Milliarden Euro ist der geschätzte Schaden, der
durch Korruption im Gesundheitswesen entsteht, enorm.
Ich bin überzeugt davon, dass wir mit dem heute hier zu
verabschiedenden Gesetz diesen Schaden erheblich begrenzen werden. Aber vor allem - und das ist noch viel
wichtiger - werden wir mit diesem Gesetz sicherstellen,
dass die optimale Versorgung der Patienten nicht mehr so
schnell Gefahr läuft, hinter den monetären Interessen des
behandelnden Arztes zurückzustehen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Vielen Dank, Kollege Wiese. - Ich bitte die Kollegen und Kolleginnen im Saal, den drei Rednerinnen und
Rednern, die in dieser Debatte noch das Wort ergreifen
wollen, zuzuhören, ihnen sozusagen Ruhe zu schenken,
weil es wirklich nervig ist, wenn vorne versucht wird,
Argumente auszutauschen, sich die anderen aber über alles Mögliche unterhalten, nur nicht über das, worum es
gerade geht.
Ich bitte also, dem nächsten Kollegen, Alexander
Hoffmann von der CDU/CSU-Fraktion, gebührend zu
lauschen.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Korruption ist in einem Rechtsstaat unter vielen
Gesichtspunkten ein Problem. Sie führt zur Benachteiligung Einzelner. Sie erzeugt materielle und auch immaterielle Schäden. Sie zerstört das Vertrauen in bestehende
Strukturen, und das ist wohl das Schlimmste.
Kriminologisch ist auffällig, dass sich Korruption in
Bereichen breitmacht, in denen viel Geld im Spiel ist,
und in Bereichen, in denen Entscheidungen mit erheblicher Tragweite getroffen werden. Das überrascht nicht. Je
gewichtiger eine Entscheidung ist, umso eher beschreiten
Menschen einen rechtswidrigen Weg zum Erreichen des
Ziels, und Geld ist schon immer eine Triebfeder für kriminelle Energie gewesen.
Unter Zugrundelegung dieser Erkenntnis ist es dann
keine Überraschung, dass auch die Gesundheitsbranche
ein Bereich ist, in dem Korruption vorkommt. Die Branche hat einen Umsatz von jährlich circa 300 Milliarden
Euro. Gerade Entscheidungen im Gesundheitsbereich
sind manchmal an Tragweite nicht zu überbieten.
Sensibel müssen wir in diesem Bereich mitunter auch
deswegen sein, weil uns der Große Senat des BGH Herr Lange hat es vorhin schon anklingen lassen - am
29. März 2012 im Bereich der Korruptionsbekämpfung
eine Gesetzeslücke aufgezeigt hat. Er hat entschieden,
dass niedergelassene Vertragsärzte keine Amtsträger und
auch keine Beauftragten der Krankenkassen sind; denn
durch die Zwischenschaltung der Kassenärztlichen Vereinigung besteht keine Rechtsbeziehung zwischen Arzt
und Krankenkasse. Damit scheidet eine Strafbarkeit
nach § 299 StGB - Bestechlichkeit und Bestechung im
geschäftlichen Verkehr - aus. Man wird eine ähnliche
rechtliche Beurteilung bei niedergelassenen Angehörigen
anderer Heilberufe vornehmen müssen.
Deshalb freue ich mich, dass Bayern mit Antrag vom
15. Januar 2015 einen entsprechenden Vorschlag im Bundesrat eingebracht hat und dass wir heute diese Lücke
schließen können.
Der vorliegende Entwurf formuliert zwei neue Tatbestände, einmal die Bestechlichkeit im Gesundheitswesen - § 299 a StGB - und zum anderen die Bestechung
im Gesundheitswesen - § 299 b StGB. Das Ganze wird
garniert - so will ich einmal sagen - mit einer Ergänzung
von § 300 StGB, der Formulierung der besonders schweren Fälle der Bestechung und Bestechlichkeit. Hier sind
vor allem die Fälle der Gewerbsmäßigkeit und die Fälle
der fortgesetzten Begehung gemeint.
Dabei hat der Entwurf vier Zielrichtungen. Er möchte
die Integrität heilberuflicher Entscheidungen schützen.
Er möchte den fairen Wettbewerb im Gesundheitswesen
sichern. Er möchte das Vertrauen der Patientinnen und
Patienten in die Integrität heilberuflicher Entscheidungen erhalten. Er erzeugt mittelbaren Schutz der Vermögensinteressen der Wettbewerber im Gesundheitswesen,
der Patienten und der gesetzlichen Kassen. Dabei ist die
Regelung - es ist vorhin schon angeklungen - als Offizialdelikt ausgestaltet. Die Taten sind von Amts wegen zu
verfolgen. Ich glaube, auch das ist als Signal ganz wichtig.
Zugleich müssen Angehörige von Heilberufen jetzt
keine Angst haben, dass bewährte Kooperationen nun
plötzlich unter Strafe gestellt sind. Kooperationen sind
gesundheitspolitisch oftmals gewünscht. Sie steigern die
Qualität, und an mancher Stelle können sie auch wirtschaftlich sinnvoll sein. Deswegen ist nach dem Gesetzentwurf die Grenze da erreicht, wo es zu einer unlauteren
Bevorzugung im Wettbewerb kommt.
Am Ende möchte ich mit zwei Behauptungen aufräumen. Die eine Behauptung, die auch im Vorfeld immer
wieder formuliert worden ist, lautet: Dieser Entwurf hat
den Patientenschutz hinten runterfallen lassen. - Meine
Damen, meine Herren, wer das behauptet, dem ist entweder die Systematik in unserem Strafrecht nicht bekannt,
oder er verschweigt sie. Wir haben dieselbe Konstellation gewählt, wie wir sie auch bei der Korruptionsbekämpfung im geschäftlichen Verkehr haben.
Die Korruptionsbekämpfung im geschäftlichen Verkehr steht auf zwei Säulen. Wir haben den § 299 StGB,
der die Integrität des geschäftlichen Verkehrs schützen
soll. Mittelbar werden durch diese Regelung auch die
Bürgerinnen und Bürger geschützt, die am geschäftlichen Verkehr teilnehmen. Diese werden wiederum unmittelbar geschützt durch die Bestimmungen zu Vermögensdelikten wie Betrug oder Untreue.
Genau dieselbe Konstellation haben wir nun auch
gewählt. Wir schützen in den neuen §§ 299 a und
299 b StGB vor allem die Integrität des Gesundheitswesens in Deutschland und haben durch diese Normen
dann auch einen mittelbaren Schutz der Patientinnen und
Patienten. Der unmittelbare Schutz der Patientinnen und
Patienten erfolgt vor allem durch die Bestimmungen zu
Körperverletzungs- und Vermögensdelikten.
Noch eine zweite Behauptung, mit der ich aufräumen
möchte - Frau Künast, sie war von Ihnen -: Dieser Entwurf trifft eben keine Unterscheidung zwischen einem
Unternehmer und einer Hebamme.
Meine Damen, meine Herren, ich glaube, Sie können
diesem Entwurf getrost zustimmen. Dafür möchte ich
werben.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Vielen Dank. - Als Nächster erhält jetzt der Kollege
Dr. Edgar Franke, SPD-Fraktion, das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Seit über sechs Jahren versucht die SPD, ein Antikorruptionsgesetz im Gesundheitswesen auf den Weg zu
bringen. Ziel neben einer Wettbewerbsregelung war es
vor allen Dingen, den Patientenschutz umfassend zu gewährleisten. Natürlich wissen wir, Herr Dr. Luczak - das
ist ganz wichtig; das sagen alle Gesundheitspolitiker -,
dass wir bei Verordnungs- und Therapieentscheidungen
sicher sein müssen, dass nicht monetäre, sondern allein
medizinische Entscheidungen maßgebend sind für das,
was verordnet wird. Ich glaube, das ist wichtig, und das
wird auch durch das Gesetz gewährleistet, meine sehr
verehrten Damen und Herren.
({0})
Ich darf daran erinnern: Die Gesundheitspolitiker der
SPD haben 2010 einen Antrag mit dem Titel „Korruption
im Gesundheitswesen wirksam bekämpfen“ vorgelegt;
die Älteren erinnern sich, Herr Stritzl.
({1})
Damals haben alle anderen Fraktionen gegen diesen Antrag gestimmt. Teilweise wurde sogar argumentiert, die
Forderungen seien überflüssig.
Ich darf auch daran erinnern, dass der Große Senat
für Strafsachen des BGH in Karlsruhe unter Bezugnahme auf unseren Antrag gesagt hat, dass wir tätig werden
müssten. Auch Frau Künast hat zu Recht gesagt, dass
der damalige FDP-Minister kein Gesetz auf den Weg
gebracht, sondern lediglich eine Regelung im SGB V
angestrebt hat. Wenn man das im SGB V geregelt hätte,
hätte man sozusagen eine Dreiklassengesellschaft von
Ärzten gehabt: die Krankenhausärzte, die weiter nach
§ 299 StGB strafbar gewesen wären, die Kassenärzte, für
die das SGB V gegolten hätte, und die Privatärzte, die
nicht strafbar gewesen wären. Das hätte absolut keinen
Sinn gemacht, meine sehr verehrten Damen und Herren.
Deswegen ist eine strafrechtliche Regelung wichtig und
richtig.
({2})
Nachdem von der Großen Koalition - Dirk Wiese hat
es gesagt - auf Wunsch der SPD das Thema Korruption
in den Koalitionsvertrag aufgenommen wurde, liegt uns
jetzt ein Gesetzentwurf vor. Ich muss sagen: Ich glaube, es ist kein zahnloser Tiger, was uns vorliegt; denn
der Wettbewerbsbegriff ist weit gefasst. Allerdings sage
ich auch kritisch, dass es Fallkonstellationen in Monopolsituationen oder bei im ersten Jahr patentgeschützten Medikamenten geben kann, die nicht geregelt sind;
das müssen wir sehen. Wir müssen auch sehen, dass der
Wettbewerbsbegriff streitig ist. All das, meine sehr verehrten Damen und Herren, gilt es zu berücksichtigen.
({3})
Nicht ganz unproblematisch in diesem Gesetzentwurf - auch das will ich kritisch anmerken - ist, dass die
Abgabe von Arznei-, Heil- und Hilfsmitteln bzw. Medizinprodukten aus dem Tatbestand genommen wurde. Ich
glaube, das darf man so sagen. Das bedeutet, dass der
Bezug von Arzneimitteln zum Beispiel nur dann strafbar
sein soll, wenn die Produkte zur unmittelbaren Anwendung bestimmt sind. Da dieser Fall aber nicht eintreten
wird, wird diese Regelung in der Praxis weitgehend leerlaufen. Auch das muss man kritisch anmerken.
Aber ich möchte ausdrücklich betonen, meine sehr
verehrten Damen und Herren, dass auch der Patientenschutz in dem vorliegenden Gesetzentwurf enthalten
ist. Durch den unbestimmten Begriff der Lauterkeit in
§ 299 a ist die heilberufliche Integrität geschützt, also
auch der Patient; das muss man auch sagen.
({4})
Denn der unbestimmte Rechtsbegriff der Lauterkeit wird
durch die Berufsordnung konkretisiert. Das sollte man
erwähnen, weil das in der Diskussion, meine sehr verehrten Damen und Herren, immer wieder übersehen und
vergessen wird.
Als SPD-Politiker sage ich: Ganz persönlich hätte ich
mir gewünscht, dass im Strafgesetzbuch der Patientenschutz präziser gefasst worden wäre und dass er insgesamt einen höheren Stellenwert bekommen hätte; das
will ich nicht verhehlen. Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren, Gesetzgebung ist immer ein Prozess,
in dem man vielleicht auch noch nachsteuern muss. Herr
Stritzl, wir werden beobachten, wie der Wettbewerbsbegriff weiter ausgelegt wird. In diesem Prozess werden
Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten immer an
der Seite der Patienten stehen.
({5})
Das Gesetz ist bei aller Kritik ein Paradigmenwechsel, weil zum ersten Mal ein Spezialtatbestand gegen
Korruption im Gesundheitswesen geschaffen worden ist.
Das ist ein Erfolg für alle Patientinnen und Patienten in
Deutschland. Darauf kann die SPD stolz sein.
Ich danke Ihnen.
({6})
Vielen Dank. - Liebe Kolleginnen und Kollegen,
ich darf Sie noch einmal um Ihre Aufmerksamkeit bitten; denn jetzt hat als letzter Redner der Kollege Rudolf
Henke das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Lieber Edgar Franke, irgendwie müsst ihr euch schon entscheiden. Entweder stellt
man es so dar, wie es eben geschehen ist, nämlich dass
die Regelung, die wir mit dem Koalitionspartner FDP
in der letzten Legislatur getroffen haben, nicht geeignet
ist, oder man wirft uns vor, wir hätten gar keine Regelung geschaffen. Ich bin ausgesprochen dankbar für den
Hinweis, dass wir hier im Deutschen Bundestag in der
letzten Legislaturperiode eine gesetzliche Regelung verabschiedet hatten. Man kann mit Fug und Recht sagen,
dass diese dann nur im Sozialgesetzbuch einschlägig gewesen wäre. Man kann auch sagen, das war untauglich.
Aber was man sicher nicht behaupten kann, ist, dass wir
bisher nicht gehandelt hätten. Das finde ich wichtig festzustellen.
({0})
In den Zeiten der vergangenen Koalition haben wir
mit dem GKV-Versorgungsstrukturgesetz die Regelungen, die in der Musterberufsordnung der Ärztinnen und
Ärzte stehen - und das bis heute unverändert -, in das Sozialgesetzbuch übernommen. Wir haben die Kassenärztlichen Vereinigungen mit Recht und aus guten Gründen
dazu verpflichtet, die Ärzte zu sanktionieren, die gegen
ein Zuwendungsverbot nach dem Sozialgesetzbuch verstoßen. Wie immer dem auch sei, ich glaube, dass es heute ein guter Tag für die Patienten ist und dass wir für die
Patienten eine Entscheidung treffen, die ihnen Sicherheit
gibt.
({1})
Deswegen, verehrte Frau Künast, kann ich mich nicht
ganz damit abfinden, wenn Sie Kritik üben - keiner hat
etwas dagegen, wenn Sie das machen; das ist auch Aufgabe der Opposition - und gleichzeitig sagen, der Schutz
der Patienten vor unsinnigen Behandlungen sei nicht gewährleistet. Ich finde, dass wir alle sagen müssen, dass
das nicht stimmt.
({2})
Es stimmt übrigens nicht nur wegen dieses Gesetzentwurfes nicht. Es stimmt auch deswegen nicht, weil wir
eine Körperverletzung aufgrund einer Behandlung mit
einer Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren ahnden können.
({3})
Es stimmt nicht, weil eine gefährlichen Körperverletzung - eine gefährliche Körperverletzung ist zum Beispiel die Beibringung von gesundheitsschädlichen Stoffen - zu einer Freiheitsstrafe von bis zu zehn Jahren
führt. Eine Körperverletzung mit Todesfolge wird nicht
unter drei Jahren bestraft.
({4})
Natürlich haben wir auch die Vermögensdelikte. Wir
haben Betrug, Untreue. Wir haben die Verstöße gegen
das Heilmittelwerbeverbot. Wir haben die Verstöße gegen das Medizinproduktegesetz. Wir haben die Verstöße
gegen das Arzneimittelgesetz. Das alles sind Sachverhalte, in denen das Strafrecht greift. Deswegen verwahre ich
mich einfach gegen den Vorwurf, hier würden Lücken
gerissen. Das ist nicht der Fall.
({5})
Wir haben, liebe Kolleginnen und Kollegen, mit diesem Gesetzentwurf eine zentrale Lücke geschlossen.
Diese wurde in dem Beschluss des Bundesgerichtshofs
benannt, der, wie ich finde, zu Recht gesagt hat: Die
freiberuflich niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte in
selbstständiger Praxis sind keine Amtsträger und sie sind
keine Art Angestellten der Krankenkassen. - Ich glaube,
dass das auch dem Wunsch der Patientinnen und Patienten entspricht. Wenn Sie die Patientinnen und Patienten
und die Versicherten fragen: „Wollt ihr, dass eure Ärzte
Angestellte der Krankenkassen oder Amtsträger sind?“,
dann sagen die: Nein, das wollen wir nicht. Wir wollen,
dass sie Auftragnehmer von uns Patientinnen und Patienten und Versicherten sind.
({6})
Deshalb haben die Ärztinnen und Ärzte ein großes Interesse daran, dass eine klare Scheidelinie besteht zwischen denen, die sich an die Berufsordnung halten und
sich nicht schmieren lassen, und denen, die angeklagt
werden können, weil sie sich haben schmieren lassen,
und die damit Schimpf und Schande über den gesamten
Berufsstand zu bringen drohen.
({7})
Deswegen ist diese Entscheidung, die wir heute hier
treffen, richtig. Sie hilft den Patientinnen und Patienten.
Sie hilft auch den Ärztinnen und Ärzten, die ihre Arbeit
gut machen. Sie hilft ebenfalls den Angehörigen anderer
Berufe im Gesundheitswesen, die von diesem Gesetz erfasst werden.
Nun gibt es auch eine ärztliche Kritik, die lautet, das
Gesetz schieße über das Ziel hinaus. Ich finde, das kann
man dem Gesetz nicht vorwerfen. Von den Kooperationen ist ja schon die Rede gewesen. Wer sich die Begründung des Gesetzentwurfes genau anschaut, der stellt
fest, dass wir dort ein gutes Maß gefunden haben und die
Kooperationen, die beispielsweise das Sozialgesetzbuch
vorsieht, ausdrücklich von einer Strafbarkeit ausnehmen,
auch wenn dort natürlich für die Leistung Geld gezahlt
wird.
Bei den Anwendungsbeobachtungen kommt es auf
den Vertrag an. Wenn der Vertrag ordnungsgemäß ist
und die ärztliche Leistung im Rahmen der Anwendungsbeobachtung bezahlt wird, dann ist das in Ordnung und
nicht strafwürdig. Wenn aber die Anwendungsbeobachtung zur Grundlage einer Unrechtsvereinbarung gemacht
wird, dann ist das natürlich strafwürdig.
Wer glaubt, dass jetzt jeder Bleistift, jeder Kugelschreiber und jede Praline, die irgendjemand in der
Praxis hinterlässt, zur Strafbarkeit führt, irrt. Auch das
ist nicht der Fall. Vielmehr ist das abhängig von der sozialen Adäquanz. Dies wurde aus anderen Tatbeständen
übernommen, die als Korruption gewertet werden und
zur Strafe führen. Insofern haben wir hier auch kein
Sonderstrafrecht, das speziell eine Berufsgruppe treffen
würde.
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, deswegen - das ist
meine letzte Bemerkung - bitte ich darum, dass wir gemeinsam dafür sorgen, dass die Menschen, die auf die
Verantwortung der Bundespolitik gucken, nicht das Gefühl haben, dass wir hier ein Gesetz machen, über das
wir uns selber zerstreiten und das wir kaputtquatschen.
Sorgen wir vielmehr dafür, dass die Menschen davon
überzeugt sind, dass wir ein gutes Gesetz gemacht haben. Und dazu gehört auch die Art, wie wir über dieses
Gesetz reden.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit und bitte
um Zustimmung.
({9})
Vielen Dank. - Damit ist die Aussprache beendet.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Bekämp-
fung von Korruption im Gesundheitswesen.1) Der Aus-
schuss für Recht und Verbraucherschutz empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 18/8106, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 18/6446 in der Ausschussfassung an-
zunehmen. - Ich darf Sie bitten, auf Ihren Plätzen zu
bleiben; denn wir haben noch eine Abstimmung durch-
zuführen, bevor wir zur namentlichen Abstimmung kom-
men. - Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-
zeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? -
Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stim-
1) Anlage 4
men der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wir stimmen über den Gesetz-
entwurf auf Verlangen der Fraktion Die Linke namentlich
ab. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die
vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Sind die Plätze an
den Urnen besetzt? - Dann eröffne ich die Abstimmung.
Ist noch ein Mitglied des Hauses hier, das seine
Stimmkarte noch nicht abgegeben hat? - Wie ich sehe,
haben alle abgestimmt. Dann schließe ich die Abstim-
mung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer,
mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Ab-
stimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.1)
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
auf Drucksache 18/8109. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen abgelehnt.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 8 b. Wir setzen die Abstimmungen zu der Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz auf Drucksache 18/8106 fort. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/5452
mit dem Titel „Korruption im Gesundheitswesen effektiv bekämpfen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Harald
Petzold ({0}), Sigrid Hupach, Nicole
Gohlke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Filmförderung - Impulse für mehr Innovation statt Kommerz, für soziale und Gendergerechtigkeit und kulturelle Vielfalt
Drucksache 18/8073
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Das Wort zur Eröffnung hat der Kollege Harald
Petzold, Fraktion Die Linke.
({1})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Liebe Besucherinnen und Besucher auf
den Tribünen! Viele von Ihnen haben möglicherweise
1) Ergebnis Seite 16165 D
den Film Fack ju Göhte 2 im Kino gesehen - ein Riesenkinoerfolg mit einem der besten Filmstarts dieser
Republik, über den sich sehr viele gefreut haben. Wenn
man allerdings die Kriterien des Urteils des Bundesverfassungsgerichts über die Rechtmäßigkeit der Filmförderung anlegt, in dem es sinngemäß heißt, dass die
künstlerisch-kulturelle Qualität eines Films eine Voraussetzung für seinen Erfolg ist und deshalb Qualität und
Erfolg eine Einheit bilden sollten, dann müssten Sie auch
alle den Film Kopfüber gesehen haben. Ich vermute mal,
da ist die Zahl derjenigen, die ihn gesehen haben, schon
übersichtlicher. Es ist ein Film über einen Jungen mit
ADS-Syndrom, ein Kinder- und Jugendfilm, gedreht von
einem Brandenburger Nachwuchsregisseur.
Der wesentliche Unterschied zwischen diesen beiden
Filmen: Fack ju Göhte 2, der ja schon einen Vorgänger
hatte und bei dem man den Erfolg nach dem Vorgängerfilm schon erwarten konnte, ist millionenschwer gefördert worden, der Film Kopfüber so gut wie gar nicht. Die
Macher von Fack ju Göhte 2 konnten sich aussuchen, wo
sie drehen, während man mit dem Film Kopfüber nach
Thüringen ausweichen musste. Er hatte von dort eine
schmale Landesförderung erhalten und musste von seinem ursprünglichen Drehort abwandern, um den Regionaleffekt zu erzielen; so nennt man das in der Filmförderung. Allein diese beiden Fakten zeigen, dass irgendetwas
im System der deutschen Filmförderung nicht stimmt.
Meine Fraktion hat deswegen im September des vergangenen Jahres gemeinsam mit den Landtagsfraktionen
der Linken aus den Länderparlamenten eine Anhörung
in Potsdam durchgeführt, um sich von Sachverständigen
aus der Filmbranche die aktuellen Probleme schildern zu
lassen. Die aus unserer Sicht wichtigsten Ergebnisse dieser Anhörung haben wir Ihnen heute in dem vorliegenden
Antrag zusammengefasst.
Nun wird die Bundesregierung demnächst ihren eigenen Gesetzentwurf einbringen. Der bisher bekanntgewordene Entwurf lässt erkennen, dass es schon schlechtere
Gesetzentwürfe der Bundesregierung gegeben hat als
den von Frau Staatsministerin Grütters. Das heißt aber
nicht, dass der Entwurf gut ist. Meine Fraktion hat sich
deswegen dafür entschieden, ihren Antrag heute schon
vorzulegen und nicht erst bei der ersten Lesung des Gesetzentwurfs dazuzulegen; denn wir haben die Hoffnung,
dass er in der Phase der Erarbeitung der Stellungnahmen
der Bundesländer zum Gesetzentwurf vielleicht noch
Gehör findet und damit zu einer Änderung des Entwurfs
der Bundesregierung beiträgt, noch bevor er ins Parlament kommt.
({0})
Für die Linke steht fest: Film ist in erster Linie Kultur,
und Kinos sind Stätten der Kultur. Natürlich ist der Film
auch Wirtschaftsgut - das ist keine Frage -, und damit ist
er auch Gegenstand von Standortpolitik. Aber für die Legitimation staatlicher Filmförderung muss die kulturelle
Begründung immer im Vordergrund stehen. Es darf ihr
nicht in erster Linie um den gewinnträchtigen Blockbuster gehen. Es muss um künstlerische Vielfalt, um gesellVizepräsidentin Ulla Schmidt
schaftliche Relevanz, um Ästhetik und um kommunikativen Gehalt gehen.
({1})
Voraussetzung für die Einhaltung dieser künstlerischen Kriterien und kulturellen Begründungen sind die
entsprechenden Rahmenbedingungen für diejenigen, die
letzten Endes am Entstehen eines Films beteiligt sind.
Das sind viele verschiedene Menschen mit vielen verschiedenen Fähigkeiten und Berufen. Sie alle haben ein
Recht auf eine faire Vergütung, und die gibt es im Filmwesen inzwischen leider nicht mehr. Aber auch die Filmbranche muss soziale Mindeststandards einhalten.
({2})
Die Linke fordert deshalb, dass in Zukunft nur noch solche Filmprojekte gefördert werden, bei denen die Tariflöhne bzw. der Mindestlohn in die Kalkulation einbezogen werden. Wer Tariflöhne und den Mindestlohn zwar
kalkuliert, aber dann nicht ausbezahlt, der soll mindestens für drei Jahre von der Förderung ausgeschlossen
werden.
({3})
Darüber hinaus fällt es auf, dass bei der Vergabe der
Fördermittel Frauen auf eine Art und Weise benachteiligt
werden, die nicht mehr hingenommen werden kann.
({4})
Die Linke spricht sich deswegen nachdrücklich für eine
besondere Förderung solcher Filme aus, bei deren Produktion Frauen an verantwortlicher Stelle beteiligt sind.
Wir wollen im neuen Gesetz eine Zielvorgabe verankert
wissen, die besagt, dass die Hälfte der Fördermittel an
Projekte gehen soll, bei denen Frauen in der Produktion,
bei der Regie oder am Drehbuch mitwirken.
({5})
Ich habe einleitend von der notwendigen künstlerischen Vielfalt gesprochen. Deswegen sind wir dafür,
dass die Referenzmittel für Kinder- und Jugendfilme, für
Animations- und Dokumentarfilme verdreifacht werden.
Wir wollen auch den Anteil des Kurzfilms verdoppeln.
Wir sagen: Die Tatsache, dass sich Fördermittel zunehmend in den Händen der großen Produzenten konzentrieren, schadet der Genrevielfalt. Das muss dringend
gestoppt werden. Frau Grütters hat im Vorfeld ihres Gesetzentwurfs angekündigt, dass sie die Gremien, die über
die Vergabe der Mittel entscheiden, verkleinern will. Das
würde ich auch unterstützen. Aber es geht natürlich nicht
nur um die Verkleinerung der Gremien,
({6})
sondern es geht auch um ihre Zusammensetzung, damit
nicht die Großen der Branche künftig weiter das Sagen
haben und die Kreativen weiter außen vor bleiben.
({7})
Deswegen sagen wir: In keinem Gremium darf es ein
Dauerabonnement auf eine Beteiligung und auf einen
Verbleib geben. Die Zusammensetzung muss sich im
Turnus ändern, sodass die bestehenden Verkrustungen
aufgebrochen werden können.
({8})
Ich glaube, es ist nicht zu viel verlangt, wenn man eine
derartige Forderung aufstellt.
Meine Damen und Herren, zusammenfassend will ich
für unsere Fraktion sagen: Das Filmfördersystem muss
natürlich insgesamt auf den Prüfstand gestellt werden, es
muss evaluiert und einer gründlichen Prüfung unterzogen werden; denn der Kern des Fördersystems stammt
noch aus den 60er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts.
Er hat in der Zwischenzeit mächtig Staub angesetzt. Es
ist ein starres System, es ist sehr komplex und ein verwirrendes Geflecht aus Bundes- und Länderzuständigkeiten.
Deswegen möchte meine Fraktion, dass diese Evaluierung bald in Angriff genommen wird, sofort nach Verabschiedung der FFG-Novelle.
Abschließend: Mit unserem heutigen Fördersystem
hätten Filme von Rainer Werner Fassbinder keine Chance gehabt. Das muss sich ändern, findet meine Fraktion. Wir wollen darüber hinaus, dass es in Zukunft mehr
Doris Dörries und Margarethe von Trottas gibt.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Vielen Dank. - Bevor ich jetzt dem Kollegen Marco
Wanderwitz das Wort erteile, möchte ich Ihnen das von
den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über das Gesetz
zur Bekämpfung von Korruption im Gesundheitswesen
bekanntgeben: abgegebene Stimmen 576. Mit Ja haben
gestimmt 464, mit Nein haben gestimmt 58, Enthaltungen 54. Damit ist der Gesetzentwurf angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 576;
davon
ja: 464
nein: 58
enthalten: 54
Ja
CDU/CSU
Stephan Albani
Katrin Albsteiger
Günter Baumann
Maik Beermann
Manfred Behrens ({0})
Veronika Bellmann
Sybille Benning
Dr. André Berghegger
Dr. Christoph Bergner
Ute Bertram
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Harald Petzold ({1})
Klaus Brähmig
Michael Brand
Helmut Brandt
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexandra Dinges-Dierig
Michael Donth
Thomas Dörflinger
Hansjörg Durz
Iris Eberl
Jutta Eckenbach
Hermann Färber
Uwe Feiler
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Dirk Fischer ({2})
Axel E. Fischer
({3})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Dr. Astrid Freudenstein
Dr. Hans-Peter Friedrich
({4})
Michael Frieser
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Cemile Giousouf
Josef Göppel
Ursula Groden-Kranich
Hermann Gröhe
Klaus-Dieter Gröhler
Michael Grosse-Brömer
Astrid Grotelüschen
Markus Grübel
Manfred Grund
Oliver Grundmann
Dr. Herlind Gundelach
Olav Gutting
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Gerda Hasselfeldt
Mark Hauptmann
Dr. Stefan Heck
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Frank Heinrich ({5})
Mark Helfrich
Uda Heller
Jörg Hellmuth
Michael Hennrich
Ansgar Heveling
Dr. Heribert Hirte
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Thorsten Hoffmann
({6})
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Dr. Hendrik Hoppenstedt
Margaret Horb
Bettina Hornhues
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Erich Irlstorfer
Sylvia Jörrißen
Xaver Jung
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Steffen Kanitz
Alois Karl
Anja Karliczek
Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Markus Koob
Carsten Körber
Hartmut Koschyk
Kordula Kovac
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Roy Kühne
Uwe Lagosky
Dr. Karl A. Lamers
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Barbara Lanzinger
Paul Lehrieder
Dr. Katja Leikert
Dr. Philipp Lengsfeld
Dr. Andreas Lenz
Antje Lezius
Matthias Lietz
Andrea Lindholz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Wilfried Lorenz
Dr. Claudia Lücking-Michel
Daniela Ludwig
Karin Maag
Yvonne Magwas
Thomas Mahlberg
Gisela Manderla
Matern von Marschall
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({7})
Reiner Meier
Dr. Angela Merkel
Maria Michalk
Dr. h.c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Volker Mosblech
Elisabeth Motschmann
Dr. Gerd Müller
Carsten Müller ({8})
Stefan Müller ({9})
Dr. Philipp Murmann
Dr. Andreas Nick
Michaela Noll
Helmut Nowak
Dr. Georg Nüßlein
Julia Obermeier
Wilfried Oellers
Florian Oßner
Dr. Tim Ostermann
Henning Otte
Ingrid Pahlmann
Sylvia Pantel
Martin Patzelt
Dr. Martin Pätzold
Ulrich Petzold
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Kerstin Radomski
Alexander Radwan
Alois Rainer
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht
Anita Schäfer ({10})
Andreas Scheuer
Jana Schimke
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Heiko Schmelzle
Gabriele Schmidt ({11})
Patrick Schnieder
Dr. Ole Schröder
Dr. Kristina Schröder
({12})
Bernhard Schulte-Drüggelte
Dr. Klaus-Peter Schulze
Uwe Schummer
Armin Schuster
({13})
Christina Schwarzer
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Tino Sorge
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Dr. Wolfgang Stefinger
Albert Stegemann
Peter Stein
Sebastian Steineke
Johannes Steiniger
Christian Frhr. von Stetten
Dieter Stier
Rita Stockhofe
Gero Storjohann
Max Straubinger
Thomas Stritzl
Thomas Strobl ({14})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Sabine Sütterlin-Waack
Antje Tillmann
Astrid Timmermann-Fechter
Dr. Hans-Peter Uhl
Dr. Volker Ullrich
Arnold Vaatz
Oswin Veith
Thomas Viesehon
Michael Vietz
Volkmar Vogel ({15})
Sven Volmering
Christel Voßbeck-Kayser
Kees de Vries
Dr. Johann Wadephul
Nina Warken
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({16})
Peter Weiß ({17})
Sabine Weiss ({18})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Marian Wendt
Waldemar Westermayer
Kai Whittaker
Annette Widmann-Mauz
Heinz Wiese ({19})
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dagmar G. Wöhrl
Barbara Woltmann
Tobias Zech
Heinrich Zertik
Dr. Matthias Zimmer
SPD
Niels Annen
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heike Baehrens
Ulrike Bahr
Heinz-Joachim Barchmann
Dr. Katarina Barley
Doris Barnett
Dr. Matthias Bartke
Sören Bartol
Bärbel Bas
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding ({20})
Willi Brase
Dr. Karl-Heinz Brunner
Marco Bülow
Martin Burkert
Dr. Lars Castellucci
Petra Crone
Bernhard Daldrup
Dr. Daniela De Ridder
Dr. Karamba Diaby
Sabine Dittmar
Martin Dörmann
Siegmund Ehrmann
Michaela Engelmeier
Dr. h.c. Gernot Erler
Saskia Esken
Karin Evers-Meyer
Dr. Johannes Fechner
Dr. Fritz Felgentreu
Elke Ferner
Dr. Ute Finckh-Krämer
Christian Flisek
Gabriele Fograscher
Ulrich Freese
Dagmar Freitag
Martin Gerster
Iris Gleicke
Angelika Glöckner
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Uli Grötsch
Wolfgang Gunkel
Bettina Hagedorn
Rita Hagl-Kehl
Metin Hakverdi
Ulrich Hampel
Michael Hartmann
({21})
Dirk Heidenblut
Hubertus Heil ({22})
Gabriela Heinrich
Marcus Held
Wolfgang Hellmich
Heidtrud Henn
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz ({23})
Thomas Hitschler
Dr. Eva Högl
Matthias Ilgen
Christina Jantz-Herrmann
Frank Junge
Thomas Jurk
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Ralf Kapschack
Gabriele Katzmarek
Ulrich Kelber
Marina Kermer
Cansel Kiziltepe
Lars Klingbeil
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe
Birgit Kömpel
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Helga Kühn-Mengel
Christine Lambrecht
Christian Lange ({24})
Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Dr. Birgit Malecha-Nissen
Caren Marks
Hilde Mattheis
Dr. Matthias Miersch
Susanne Mittag
Bettina Müller
Detlef Müller ({25})
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Thomas Oppermann
Mahmut Özdemir ({26})
Aydan Özoğuz
Markus Paschke
Jeannine Pflugradt
Sabine Poschmann
Joachim Poß
Florian Post
Achim Post ({27})
Dr. Wilhelm Priesmeier
Dr. Sascha Raabe
Dr. Simone Raatz
Martin Rabanus
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
Petra Rode-Bosse
Dennis Rohde
Dr. Martin Rosemann
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth ({28})
Susann Rüthrich
Bernd Rützel
Johann Saathoff
Annette Sawade
Dr. Hans-Joachim
Schabedoth
Axel Schäfer ({29})
Dr. Nina Scheer
Marianne Schieder
Udo Schiefner
Dr. Dorothee Schlegel
Ulla Schmidt ({30})
Matthias Schmidt ({31})
Dagmar Schmidt ({32})
Elfi Scho-Antwerpes
Ursula Schulte
Swen Schulz ({33})
Ewald Schurer
Stefan Schwartze
Andreas Schwarz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Rainer Spiering
Norbert Spinrath
Svenja Stadler
Martina Stamm-Fibich
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Michael Thews
Dr. Karin Thissen
Franz Thönnes
Carsten Träger
Ute Vogt
Gabi Weber
Bernd Westphal
Waltraud Wolff
({34})
Gülistan Yüksel
Dagmar Ziegler
Stefan Zierke
Dr. Jens Zimmermann
Manfred Zöllmer
Nein
DIE LINKE
Dr. Dietmar Bartsch
Karin Binder
Matthias W. Birkwald
Eva Bulling-Schröter
Roland Claus
Sevim Dağdelen
Dr. Diether Dehm
Klaus Ernst
Nicole Gohlke
Dr. André Hahn
Heike Hänsel
Dr. Rosemarie Hein
Inge Höger
Andrej Hunko
Sigrid Hupach
Susanna Karawanskij
Kerstin Kassner
Katja Kipping
Jan Korte
Jutta Krellmann
Katrin Kunert
Sabine Leidig
Michael Leutert
Stefan Liebich
Dr. Gesine Lötzsch
Birgit Menz
Cornelia Möhring
Norbert Müller ({35})
Thomas Nord
Petra Pau
Harald Petzold ({36})
Martina Renner
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Dr. Kirsten Tackmann
Azize Tank
Frank Tempel
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Dr. Sahra Wagenknecht
Harald Weinberg
Katrin Werner
Birgit Wöllert
Jörn Wunderlich
Hubertus Zdebel
Pia Zimmermann
({37})
Enthalten
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Annalena Baerbock
Volker Beck ({38})
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Katharina Dröge
Harald Ebner
Dr. Thomas Gambke
Matthias Gastel
Kai Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Anja Hajduk
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Dieter Janecek
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Stephan Kühn ({39})
Monika Lazar
Steffi Lemke
Dr. Tobias Lindner
Irene Mihalic
Özcan Mutlu
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Cem Özdemir
Brigitte Pothmer
Claudia Roth ({40})
Corinna Rüffer
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Ulle Schauws
Dr. Gerhard Schick
Dr. Frithjof Schmidt
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Dr. Julia Verlinden
Beate Walter-Rosenheimer
Dr. Valerie Wilms
Jetzt hat der Kollege Marco Wanderwitz das Wort.
({41})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Antrag der Linken sieht einen riesigen „Problemberg“ in der Filmförderung. So wird es dort benannt. Ich
sehe ihn nicht.
({0})
Ich sehe ihn vor allem deshalb nicht, weil das, was wir
im Jahr 2015 in den Kinos vom deutschen Film gesehen
haben, irgendwie gar nicht dafür spricht, dass wir einen
riesigen Problemberg haben.
Ich will zu Beginn einige Zahlen nennen: Mit
27,5 Prozent hatten wir 2015 den höchsten Marktanteil
des deutschen Films seit Erfassung der Besucherzahlen.
Es gab 37,1 Millionen Besucher von deutschen Filmen.
Knapp 1,2 Milliarden Euro Umsatz gab es für die Kinos,
und - und das freut mich besonders - das Leinwandsterben scheint gestoppt. Wir hatten im Jahr 2015 ein Plus
von 55 Kinosälen. Ich finde nicht, dass so ein riesiger
Problemberg aussieht.
({1})
Ich finde vielmehr, dass die Verfassung, in der sich der
deutsche Film befindet, eine gute Basis ist, auf die wir
mit der turnusgemäßen Novelle des Filmförderungsgesetzes, die jetzt ansteht, draufsatteln können. Insbesondere die Umwälzungen im Bereich der Digitalisierung und
des Internets fordern auch den Film und das Kino seit
vielen Jahren heraus. Deshalb geht der Regierungsentwurf diese Aufgabe an.
Ich für meine Fraktion sehe die Hauptaufgabe in Bezug auf die Novelle darin, zunächst einmal das hohe Abgabenniveau zu sichern. Wir brauchen weiterhin 50 Millionen Euro plus X für diesen Teil der Filmförderung.
Es gibt ja nicht nur die Förderung, die sich durch das
Filmfördergesetz ergibt. Wir müssen es schaffen, dass
wir diese 50 Millionen Euro plus X mindestens für die
fünf Jahre gewährleisten können, für die wir das neue
Filmfördergesetz planen.
Ich finde es sehr gut, dass sowohl die Videowirtschaft als auch der private Rundfunk als große Einzahler gruppen an dieser Stelle weiteres Entgegenkommen
signalisiert haben. Liebe Frau Staatsministerin Monika
Grütters, ich finde es auch sehr gut, dass es zusammen
mit dem BKM gelungen ist, zu einer Vereinbarung mit
dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu kommen, die
ihren Zweck erfüllt, nämlich die Erhöhung des Abgabesatzes auf 3 Prozent und zusätzliche Leistungen auf freiwilliger Basis.
Wichtig ist, dass wir die werbefinanzierten Videoon- Demand-Anbieter als neue Einzahlergruppe einbeziehen. Ich bin zuversichtlich, dass wir dies gerichtsfest
hinbekommen. Wir müssen natürlich auch an der Abgabepflicht der ausländischen Video-on-Demand-Anbieter
festhalten. Das haben wir bereits vor drei Jahren in der
kleinen Novelle des Filmfördergesetzes angelegt. Ich
bin zumindest ziemlich traurig, dass dies seit nunmehr
drei Jahren bei der EU-Kommission liegt und dass wir es
immer noch nicht geschafft haben, an dieser Stelle eine
Modifizierung hinzubekommen, oder, anders formuliert,
dass die Kommission es nicht geschafft hat, unser deutsches Gesetz an dieser Stelle zu notifizieren. Wir brauchen diese Einnahmen; denn diese Anbieter profitieren
von dem Content Film, und deshalb müssen auch sie zukünftig zu den Einzahlern gehören.
({2})
Ich für meinen Teil tue mich schwer damit, zwischen
dem Kulturgut Film und dem Wirtschaftsgut Film zu unterscheiden, wie Sie das nach meiner Wahrnehmung tun.
Ich will eines nicht stärker betonen als das andere. Für
mich ist der Film mindestens genauso sehr Kulturgut,
wie er Wirtschaftsgut ist, und mindestens genauso sehr
Wirtschaftsgut, wie er Kulturgut ist.
({3})
- Vielleicht haben wir uns an der Stelle ja nur missverstanden. - Im Übrigen gibt es viele künstlerisch wertvolle Filme, die sich an der Kinokasse ziemlich gut behauptet haben. Erinnern wir uns beispielsweise an Filme wie
„Das weiße Band“, „Victoria“ oder „Oh Boy“. Das sind
Filme, denen wohl niemand die künstlerische Klasse absprechen will, die es gleichwohl geschafft haben, Kassenschlager zu werden.
Ich finde, dass natürlich auch Blockbuster gefördert
werden sollen und dürfen.
({4})
Wenn Blockbuster gewinnträchtig sind, profitieren alle:
Produzenten, Verleiher, vor allen Dingen die Kinos - wir
sind uns völlig einig, dass die Kinos wichtige Stätten der
Kultur sind -, die Kreativen und die Videobranche. Es
geht um viele Arbeitsplätze, und die großen Filme bringen natürlich eine ganze Menge ein.
Nun ist sowohl beim Thema „künstlerische Qualität
des Films in der Breite“ als auch beim Thema Marktanteil noch nicht alles eitel Sonnenschein. Wir haben uns
30 Prozent Marktanteil vorgenommen. Da sind wir jetzt
relativ nah dran. Diese 30 Prozent wollen wir erreichen,
und deswegen wollen wir noch das eine oder andere ändern.
({5})
Ich komme zu den Hebeln, die unsere Staatsministerin
mit dem Entwurf aufgezeigt hat:
Die Verstärkung und Zweistufigkeit der Drehbuchförderung zielt, glaube ich, in die richtige Richtung. Genauso richtig ist es, glaube ich, die Mindestfördersummen zu
erhöhen; denn wir haben derzeit eine Vielzahl von - so
will ich es einmal sagen - Miniförderungen, die mit der
Gießkanne ausgeschüttet werden. Natürlich sagt jeder,
der in den Genuss einer solchen Miniförderung kommt:
Das ist eine schöne Sache; das ist ein Baustein, damit ich
diesen Beitrag machen kann. Auf der anderen Seite führt
diese Art der Förderung aber dazu - darüber wird immer
wieder diskutiert -, dass wir viele Filme haben, die nur
ein sehr kleines Publikum erreichen, und in der Summe entspricht diese Gießkannenförderung einer ganzen
Menge Geld. Wenn wir diesbezüglich zu einer gewissen
Konzentration kommen, ist für andere Projekte schlicht
ein bisschen mehr Geld da.
Ich finde auch die Vorschläge der Staatsministerin zur
Rückzahlquote der Förderung und zur Verkleinerung der
Fördergremien richtig. Wenn wir über Gremien sprechen,
sind wir auch beim Thema - so sage ich es einmal - Männerüberlast. Auch dazu gibt es ja Vorschläge der BKM.
Völlig klar ist: Wir müssen an der Stelle mehr tun, etwas
tun. Wir müssen bei den Jurys etwas tun, und wir müssen
bei den Gremien, beispielsweise bei der Filmförderungsanstalt, etwas tun. Wovon ich überhaupt nicht überzeugt
bin, ist der Vorschlag, dass die in Bälde, so hoffe ich,
entsprechend angepassten Jurys bei ihren Förderentscheidungen, bei ihren Vergabeentscheidungen Quotierungen vornehmen, beispielsweise abhängig davon, ob
ein Regisseur oder eine Regisseurin diesen Film gemacht
hat, ob ein Produzent oder eine Produzentin diesen Film
gemacht hat. Ich glaube, wir müssen sicherstellen, dass
Frauen in den Jurys mitentscheiden. Ich kann mir aber
schwer vorstellen, dass wir die Vergabeentscheidung im
Regelfall daran festmachen, ob Männer und/oder Frauen
in dieser oder jener Position am Film beteiligt sind.
({6})
Darüber sollten wir noch einmal reden. Bezogen auf den
zuerst genannten Teil, auf die Jurys und Gremien, kann
ich für meine Fraktion sagen: Wir sind absolut willens,
da etwas zu tun.
Bezüglich einiger anderer Punkte, die in Ihrem Antrag
genannt sind, haben wir ja bereits eigene Anträge vorgelegt bzw. sind darauf im Rahmen der letzten Novelle zum
Gesetz eingegangen. Das gilt beispielsweise für das Thema Kinderfilm und das Thema Barrierefreiheit. In diesen
Bereichen haben wir schon eine ganze Menge getan.
({7})
Stichwort: getan haben. Begonnen unter Kulturstaatsminister Bernd Neumann, fortgeführt unter Monika
Grütters haben wir als Deutscher Bundestag, als Haushaltsgesetzgeber, beispielsweise das Förderprogramm
zur Kinodigitalisierung angelegt. Ich glaube, das war ein
ganz wichtiger Baustein. Dabei ging es um die Frage dieses Thema sprechen Sie in Ihrem Antrag auch an -:
Wie sorgen wir dafür, dass Kinos in der Fläche erhalten
bleiben? Ich glaube, uns allen ist klar: Wenn es dieses
Förderprogramm zur Kinodigitalisierung nicht gegeben
hätte, dann wären die Zahlen, die ich vorhin genannt
habe, nicht so, wie sie sind, dann würde es eine ganze
Menge Kinos im ländlichen Bereich nicht mehr geben.
Ich finde es deswegen auch völlig richtig, als Auflage für die Verleihförderung festzulegen, dass Kinos im
ländlichen Raum angemessen mit Kopien - natürlich
nur von geförderten Filmen - versorgt werden müssen.
Die Frage, wie wir es schaffen, Kinos darüber hinaus in
der Fläche zu halten, kann man nicht damit beantworten,
dass man anordnet: In diesem oder jenem Bereich muss
es eines geben.
({8})
Wie soll das praktisch funktionieren? Es gibt beispielsweise kommunale Kinos, die das ein Stück weit auffangen.
({9})
- Ja, es ist gut, dass es sie gibt. - Das ist kommunale
Selbstverwaltung im besten Sinne. Aber es ist nicht Aufgabe des Bundesgesetzgebers, dafür Regelungen zu treffen.
({10})
Um noch ein paar Stichpunkte zu nennen: Ich finde,
wir sollten uns noch einmal sehr genau das anschauen,
was die Produzenten unter dem Stichwort „Produzentenkorridor“ vorgeschlagen haben. Ich glaube, man kann
und sollte darüber sprechen. Wir werden natürlich auch
an der Baustelle „soziale Lage der Filmschaffenden“
dranbleiben müssen, nur glaube ich, dass das Filmförderungsgesetz dafür nicht das richtige Mittel ist.
Filmpolitik erschöpft sich nicht nur in der Novelle des
Filmförderungsgesetzes, sondern umfasst beispielsweise auch ein Instrument, das durch unsere Entscheidung
als Haushaltsgesetzgeber jetzt wesentlich größer geworden ist, nämlich die kulturelle Filmförderung; die Mittel dafür sind um 15 Millionen Euro erhöht worden und
wurden damit mehr als verdoppelt. Das ist das große Instrument, durch das insbesondere die kulturell besonders
wertvollen Filme gefördert werden. Wir haben daneben
die Förderung des BMWi in Form des German Motion
Picture Fund als kleine Schwester oder kleinen Bruder
des DFFF.
2016 sind die Filmpolitik und die Förderinstrumente
mächtig im Fluss. Ich freue mich, dass wir dies mitgestalten können. Ich freue mich auf die Diskussionen rund
um die Novelle. Dafür hätten wir jetzt nicht unbedingt
diese Debatte heute gebraucht, aber es schadet auch
nicht, wenn wir sie führen.
({11})
Vielen Dank. - Als Nächstes hat Tabea Rößner, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Behauptung: Der deutsche Film ist tot. Tot. Totgefördert. Totgeskriptet. Totgequatscht. Totproduziert.
Totunterrichtet. Totgelehrt. Totkritisiert. Totgeschrieben. Totbetreut. Hat sich totgefeiert. Hat sich
totgelacht. Ist total unerotisch. Totgegrübelt. - War
es je anders?
Das ist ein Zitat aus dem neuen Dokumentarfilm Verfluchte Liebe deutscher Film. Dominik Graf sucht darin nach einem deutschen Kino, das er lieben kann. Ich
meine, wenn wir hier über die Reform der Filmförderung
reden, sollten wir genau das tun.
({0})
Als leidenschaftliche Kinogängerin wünsche ich mir
nicht nur Filme, die mich gut unterhalten, sondern ich
wünsche mir auch Filme, die mich anregen, die andere
Sichtweisen zeigen, die gegen den Strich bürsten, ja,
auch welche, die provozieren. Dazu brauchen die Filmschaffenden kreative Freiheiten. Gerade in Zeiten wie
diesen ist es umso wichtiger, dass wir diese Freiheiten
ermöglichen, den Künstlerinnen und Künstlern den Rücken stärken und für die uneingeschränkte Kunstfreiheit
eintreten.
({1})
Einige Probleme bei der Filmförderung werden in
dem Antrag der Linken ganz richtig beschrieben. Die
Förderstrukturen sind ineffizient und ungerecht, Frauen
bekommen nur selten den Zuschlag, und viele Beschäftigungsverhältnisse sind prekär. In Ihren Schlussfolgerungen aber tun sich dann Widersprüche auf. Sie fordern
mehr Referenz- und weniger Projektförderung. Von der
automatischen Referenzförderung profitieren aber vor allem diejenigen, die erfolgreiche Kinofilme gemacht und
den Fuß schon in der Tür haben. Das Problem ist aber,
dass zum Beispiel gerade Frauen gar nicht bis zur Tür
kommen; sie werden vorher gestoppt. Mir ist die Vergabe
von Fördermitteln ohne Gremien ja auch sympathisch.
Die Wahrheit ist allerdings, dass automatische Förderung
auch nicht gerechter ist. Das kann man ja beim DFFF
sehr deutlich sehen.
Ein Aspekt ist doch auch, dass Gremien viele sehr einfallslose Entscheidungen treffen. Da werden Filme gefördert, die eh schon die meisten Zuschauer haben. Der
Teufel scheißt immer auf den größten Haufen. Schönes
Beispiel: Fack ju Göhte 2 erhält jetzt noch eine VertriebsMarco Wanderwitz
förderung, obwohl genau dieser Film diese überhaupt
nicht nötig hätte.
({2})
Wir brauchen aber Vielfalt im Film, und dafür brauchen
wir auch den kleinen und den feinen Film.
Sie fordern Gerechtigkeit bei der Förderung. Das fordern auch wir. Weshalb fordern Sie dann aber nicht mehr
Transparenz in diesem Förderdschungel? Denn Transparenz wäre doch die Voraussetzung für eine gerechtere
Steuerung innerhalb des Systems. Ich habe dafür einen
ganz einfachen Vorschlag: eine umfassende Berichtspflicht für die Filmförderungsanstalt. Ich sage Ihnen
auch, warum.
Neulich hat meine Fraktion einen Brief von Staatsministerin Grütters bekommen. Wir hatten sie nach Zahlen
zur Effizienz, zur Gerechtigkeit und zur Nachhaltigkeit
der Filmförderung gefragt. Den besten Beweis für die
Ineffizienz und die Ahnungslosigkeit lieferte uns dieser
Brief. Statt einer Antwort mit Zahlen habe ich eine Antwort bekommen, in der steht, wie lange das Zusammentragen der Zahlen dauern würde. Mehr als zwei Jahre
bräuchte die FFA, um beispielsweise eine Aufstellung
von Rückflüssen nach Besucherzahlen vorzulegen. So
wenig kennt die FFA offenbar ihre eigenen Zahlen.
In Frankreich gibt es ein zentrales Filmregister. Dort
werden bei öffentlich geförderten Produktionen alle Verträge hinterlegt: mit Informationen zum Gesamtbudget,
zu Beteiligungen von Sendern und Koproduzenten und
zu den Arbeitsbedingungen. Und in Deutschland? Da behält die FFA so wichtige Daten, an denen die gesamte
deutsche Filmbranche hängt, für sich oder - noch schlimmer - erhebt sie gar nicht erst. Hier sehen wir dringenden
Änderungsbedarf.
({3})
Wir sind davon überzeugt: Wenn es bei der Förderung
etwas gerechter zuginge, bräuchte sich die Branche auch
nicht mehr zu verstecken, und wir alle müssten nicht
mehr fluchen über unsere Liebe zum deutschen Film.
Vielen Dank.
({4})
Vielen Dank. - Als Nächstes hat der Kollege Burkhard
Blienert, SPD-Fraktion, das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Zunächst ein Glückwunsch
an den deutschen Film, nämlich an Maren Ade! Toni
Erdmann, ihr Film, ist in Cannes dabei. Wir haben seit
Jahren wieder einen deutschen Film bei den Filmfestspielen. Wenn auch allseits beklagt: So schlecht kann der
deutsche Film anscheinend doch nicht sein.
({0})
Neben diesem Film, der von der FFA und vom
Deutschen Filmförderfonds gefördert wurde und eine
BKM-Filmförderung erhielt, sind noch drei weitere mit
anderen Länderförderungen geförderte Filme dabei. Ich
freue mich darauf, dass wir, wie ich glaube, in Cannes
gut abschneiden werden. Das alles ist ein Zeichen dafür,
dass es dem deutschen Film nicht schlecht geht, dass wir
auch Gutes und kulturell Wertvolles produzieren und erfolgreich sein können. Was wollen wir denn mehr, wenn
wir beides tatsächlich schaffen? Denn das gehört zusammen.
Vor drei Wochen hat das Kabinett den Entwurf des
neuen Filmförderungsgesetzes beschlossen. Wir werden
genug Gelegenheiten haben, darüber zu diskutieren. Es
ist gelungen, mit diesem Gesetzentwurf auf die großen
Herausforderungen für die Filmförderung zu reagieren,
ohne dabei den Konsens der vielstimmigen Filmbranche
außer Acht zu lassen. Darüber, ob die Antworten insgesamt hinreichend sind, werden wir im Rahmen der Anhörung und im Ausschuss diskutieren.
Die größte Herausforderung bestand darin, mit der
Klage gegen das FFG fertig zu werden und die brüchig
gewordene Solidarität innerhalb der Branche wiederherzustellen. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat
uns den dafür notwendigen Rückenwind gegeben. Wenn
ich an die umfassenden Evaluierungen, Anhörungen und
Diskussionen mit den betroffenen Akteuren denke, die
der Erarbeitung des Gesetzentwurfes vorangegangen
sind, und nun das Ergebnis sehe, dann, meine ich, ist dieser Rückenwind gut genutzt worden.
({1})
Auch die zweite Herausforderung haben wir gemeistert. Dabei ging es um die prognostizierte Einnahmelücke, die sich gezeigt hätte, wenn wir nichts getan hätten. Ursächlich für diese Lücke sind, wie wir wissen, die
Verschiebungen der Abgabeleistungen unter den Abgabepflichtigen, nämlich den Kinos, der Videowirtschaft
und den Fernsehsendern. Ursächlich sind aber auch die
inzwischen nicht mehr ganz so neuen Marktteilnehmer
aus der digitalen Wirtschaft, allen voran die Videoabrufdienste mit ihren unterschiedlichsten Geschäftsmodellen.
Noch nicht alle dieser Anbieter sind in die Abgabepflicht
einbezogen. Als Marktteilnehmer, die mit dem deutschen
Kinofilm Umsätze machen, müssen aber auch sie zu dessen Förderung beitragen.
Dem Gesetzentwurf gelingt es, der absehbaren
Schrumpfung des FFA-Haushaltes gegenzusteuern zum einen durch die Anpassung der Abgabesätze der
Abgabepflichtigen und zum anderen durch die Einbeziehung weiterer Anbieter. Damit schaffen wir es, die Finanzierung der Filmförderanstalt für die nächsten Jahre
zu sichern.
Mit der Reduzierung der Gremien, ihrer Verschlankung und der paritätischen Besetzung macht der Gesetzentwurf einen weiteren großen Schritt nach vorne. Die
vorgesehene Neuausrichtung der Förderung mit dem
Ziel, die Qualität und die Vielfalt des Filmschaffens in
Deutschland nachhaltig fortzuentwickeln, halte ich für
einen wichtigen Schritt.
Ob das alles in der konkreten Ausgestaltung den gesteckten Zielen auch gerecht wird, müssen wir uns in den
kommenden Beratungen noch genauer anschauen.
Wie gesagt: Vor drei Wochen wurde der Entwurf der
FFG-Novelle verabschiedet. Vorgestern hat die Fraktion
der Linken den Antrag zur Filmförderung beschlossen,
den wir heute beraten. Leider nehmen Sie mit diesem Antrag wirklich - Sie haben es zugegeben - keinen Bezug
auf den Entwurf der FFG-Novelle, sondern Sie arbeiten
sich an einem Stand der Debatte ab, den wir eigentlich
schon längst hinter uns gelassen haben. Damit werden
weite Teile Ihrer Vorlage obsolet; denn mit dem Gesetzentwurf haben sich, wenn er dann auch in Kraft getreten
ist, viele Ihrer Forderungen erledigt.
({2})
Sie fordern zum Beispiel, die Fördergremien zu verkleinern. Genau das ist ein Schwerpunkt des Gesetzentwurfes, durch den eine radikale Reduzierung und Neugestaltung der Gremienstrukturen vorgenommen wird.
Daneben fordern Sie die weitere Flexibilisierung der
Sperrfristen, zum Beispiel für Filme, die im Kino keinen
Erfolg versprechen. Genau das will auch der Entwurf mit
der Möglichkeit der Nichtanwendung der Sperrfristenregelungen einführen.
Sie wollen das Kino als kulturellen Ort erhalten - besonders in der Fläche. Das ist ein guter Vorsatz. Auch
meine Fraktion hat sich immer für eine möglichst flächendeckende Kinolandschaft eingesetzt, und wir können es nur begrüßen, wenn das durch den Gesetzentwurf
mit zahlreichen Maßnahmen unterstützt wird.
Zu nennen ist hier zuallererst die Anhebung der Umsatzschwelle, ab der die Kinos die Filmabgabe zu leisten haben. Das ist ein wichtiger Beitrag, um gerade die
Existenz der kleineren Kinos in Städten mit weniger als
20 000 Einwohnern zu sichern. Auch die neue Regelung,
wonach die Verleiher eine angemessene Anzahl an Filmkopien in Orten mit bis zu 20 000 Einwohnern einsetzen
müssen, sorgt dafür, dass auch die Kinos auf dem Lande
das aktuelle Filmangebot zeigen können und damit für
die Zuschauer attraktiv bleiben. Es lohnt sich also, doch
einmal ins Detail zu gehen und nicht nur pauschal etwas
zu verurteilen. So macht das keinen Sinn.
Vieles von dem, was Sie mit Ihrem Antrag fordern ich könnte weitere Punkte nennen -, ist mit dem Gesetzentwurf bereits gegenstandslos geworden oder zumindest
überholt.
({3})
Anders sieht es bei der Forderung aus, die soziale Lage
der Filmschaffenden zu verbessern. Auch mich treibt es
um, dass faire Arbeitsbedingungen und eine faire Bezahlung bei der Filmproduktion immer noch nicht die Regel
sind und dass die bisherigen Versuche, das FFG entsprechend zu ändern, bisher nicht gefruchtet haben. Im Zuge
der kommenden Beratungen werden wir auch das bearbeiten und genau prüfen.
Erfreulich für die Filmschaffenden ist aber, dass der
Gesetzentwurf eine Verbesserung für die Urheber vorsieht. Danach greift die Pflicht zur Darlehenstilgung der
Produzenten erst dann, wenn die Erlösbeteiligungen der
Urheber bedient worden sind. Das sind komplexe Zusammenhänge, aber das macht auch Sinn.
In Ihrem Antrag finden sich Widersprüche. Auf der
einen Seite möchten Sie die Produzenten durch einen
Erlöskorridor stärken, auf der anderen Seite durch Abgaben belasten. Wenn es nach Ihnen geht, dann sollen sie
nämlich für die Videoabrufdienste, deren Abgabepflicht
von Brüssel noch nicht genehmigt wurde, finanziell einspringen.
Viele der Forderungen in diesem Antrag haben sich
durch den Entwurf der FFG-Novelle, den wir diskutieren
werden, erledigt bzw. befinden sich zumindest nicht auf
der Höhe der Debatte. Daneben gibt es Widersprüchliches oder Vorschläge in Ihrem Antrag, die aus unserer
Sicht übers Ziel hinausschießen.
Meine Fraktion wird dieser Vorlage von Ihnen nicht
zustimmen können, aber wir werden in den nächsten Monaten Zeit genug haben, im Rahmen der FFG-Novelle
ausgiebig über geeignete Maßnahmen zur Förderung des
deutschen Films zu diskutieren.
Vielen Dank.
({4})
Vielen Dank. - Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt
die Kollegin Dr. Astrid Freudenstein das Wort.
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Verehrte Kolleginnen! Verehrte Kollegen! Meine Damen und Herren auf
der Tribüne! Ich habe ja schon zu vielen Anträgen der
Linken gesprochen. Aber der jetzige Antrag gehört schon
zu den tollsten. Kaum ein anderer vorher offenbarte so
abseitige Ideen. Kaum ein anderer vorher war so realitätsfern. Kaum ein anderer vorher war so nah an der
Planwirtschaft wie der jetzt vorliegende.
({0})
Ich greife mir einmal ein paar Highlights heraus, die
Sie noch gar nicht erwähnt haben. Zunächst komme ich
jedoch zu einem Punkt, den auch die Kollegen schon
angesprochen haben. Sie beklagen die soziale Lage der
Filmschaffenden und verlangen, dass Produktionsfirmen,
die keine Tarif- oder Mindestlöhne zahlen, für drei Jahre
von der Filmförderung ausgeschlossen werden.
Es ist richtig, dass es im Bereich der sozialen Absicherung von Filmschaffenden noch offene Baustellen
gibt; das wurde bereits erwähnt. Wir haben aber auch
schon einiges getan, zum Beispiel mit dem Gesetz zur
Stabilisierung der Künstlersozialversicherung. Aber dass
die Beschäftigten in der Filmbranche den Mindestlohn
bekommen, ist sicher nicht Sache des Filmförderungsgesetzes. Die Einhaltung des Mindestlohns kontrolliert
bei uns der Zoll. Die Arbeitgeber sind verpflichtet, die
Zahlungen entsprechend zu dokumentieren. Wer sich daran nicht hält, dem drohen horrende Strafzahlungen. Das
ist geregelt. Das ist unterliegt sicher nicht dem Filmförderungsgesetz.
Abenteuerlich ist leider auch Ihre Idee, alle 25 Kilometer ein Kino zu platzieren. Wie soll das denn funktionieren? Schon jetzt kämpfen kleinere Kinos auch in den
Städten ums Überleben. Denen wollen Sie jetzt noch ein
bisschen Konkurrenz verpassen, indem Sie alle 25 Kilometer ein neues Kino hinstellen. Die Betreiber haben
dann bei jeder Vorstellung komplett freie Platzwahl, weil
sie ganz allein sein werden.
({1})
Das ist Ihnen vermutlich egal. Das ist im Übrigen reine
Planwirtschaft. Solange der Staat das zahlt, geht das. Irgendwann ist er jedoch pleite. Aber das hatten wir alles
schon, und das brauchen wir tatsächlich nicht mehr, Herr
Kollege.
({2})
Sie haben sich natürlich auch Gedanken darüber gemacht, wie Sie die Kinos, die Sie alle 25 Kilometer bauen wollen, füllen. Dafür müssen die Kleinen ran. Alle 4bis 16-Jährigen sollen zweimal im Jahr ins Kino gehen,
schulisch oder außerschulisch organisiert. Nun gibt es
leider überhaupt keinen Grund, die Kinder nur zum Kinobesuch zu verpflichten. Mit der gleichen Berechtigung
müsste man sie zweimal im Jahr zum Tanz schicken, ins
Theater, in eine Skulpturenausstellung, in eine Fotoausstellung, in eine Gemäldeausstellung, zu einer Lesung
und zu einem Bibliotheksbesuch.
({3})
Dann sind die Kleinen in der Tat gut unterwegs. Aber ich
kann Ihnen sagen: Auch Kinder und Jugendliche dürfen
in unserem Land anschauen, lesen und anhören, was sie
wollen und so oft sie wollen. Das ist Teil der Freiheit des
Einzelnen in unserem Land.
({4})
Fast die Krone Ihres Antrags ist das Thema Gendergerechtigkeit. Das nannte man früher die Gleichberechtigung von Mann und Frau, die Sie jetzt neu erfinden.
Sie wollen Filme, bei denen Frauen für Regie, Drehbuch
oder Produktion verantwortlich sind, mit doppelten Referenzmitteln ausstatten. Wie kommen Sie denn auf so
etwas? Genauso gut könnten Sie Architektinnen das doppelte Honorar ausbezahlen oder für das Klopapier, das
von einer Firma geliefert wird, deren Chefin eine Frau
ist, das Doppelte hinlegen. Das ist, kurz und gut gesagt,
ein absoluter Verstoß gegen jedes Antidiskriminierungsgesetz.
({5})
Das geht überhaupt nicht. Ich weiß überhaupt nicht, wie
Sie auf so etwas kommen.
({6})
Sie wollen die Mitarbeiter der Filmfördereinrichtungen zu Change-Seminaren schicken. Vermutlich wissen
viele noch nicht einmal, was das ist.
({7})
In Change-Seminaren muss man seine Rollenbilder und
seine Stereotypen hinterfragen, sozusagen eine kleine
geistige Umerziehungsmaßnahme. - Danke, auch das
brauchen wir nicht.
({8})
Fast das Allerbeste ist: Sie verlangen spezielle Einreichtermine nur für Frauen. Aus irgendeinem Grund
unterstellen Sie Frauen, dass sie nicht in der Lage sind,
ihre Drehbücher rechtzeitig abzugeben. Mein Gott, was
haben Sie für ein Frauenbild!
({9})
Zum Schluss komme ich zu Ihrem Vorschlag, es müssten Filme über bisher vernachlässigte gesellschaftliche
Minderheitengruppen besser unterstützt werden. Das
läuft ganz getreu nach dem Motto: Gedreht wird, was das
Publikum sehen soll, nicht das, was das Publikum sehen
will. - Wissen Sie, auch hier ist es so: Die Kunst ist frei.
Niemand muss sich von der Politik vorschreiben lassen,
welchen Filmstoff er sich vornimmt, damit er Fördergelder bekommt.
({10})
Der Schwarz-Weiß-Kurzfilm eines Transgender-Regisseurs ist tatsächlich nicht mehr wert als die Komödie
eines männlichen Drehbuchschreibers, der daheim mit
Frau und Kindern lebt. Das ist die Freiheit, die wir in
unserem Land genießen und die wir mit Sicherheit gegen
all Ihre Bevormundungsfantasien verteidigen werden.
({11})
Für Sie zum Trost, liebe Kolleginnen und Kollegen
der Linken: Der Schuh des Manitu ist einer der meistgesehenen deutschen Filme. Fast 12 Millionen Bundesbürger wollten das schwule Indianer-Cowboy-Pärchen
sehen. Das ist in der Tat eine bisher vernachlässigte gesellschaftliche Minderheitengruppe. So schlecht ist das
Publikum also gar nicht, wie Sie sehen.
Ich finde, Ihr Antrag gehört eindeutig ins Genre der
Unterhaltung. Man könnte glatt sagen, er ist eine echte
Gag-Kanone, die aber leider nicht förderfähig ist.
Herzlichen Dank.
({12})
Letzte Rednerin in der Aussprache ist die Abgeordnete
Hiltrud Lotze, SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der letzte Kinofilm, den ich gesehen habe, war der Film Mustang, eine
türkisch-französisch-deutsche Kooperation, die mit Mitteln der Filmförderungsanstalt, also der FFA, gefördert
wurde. Dieser Film handelt von fünf jungen Schwestern
in der Türkei, die nach und nach von ihrer Familie in ihrer Freiheit eingeschränkt werden, bis hin zur Zwangsverheiratung.
Der Film hat unterschiedliche Kritiken bekommen.
Bei der Vorstellung, die ich im Rahmen der Berlinale
gesehen habe, hat er die Zuschauerinnen und Zuschauer
sehr berührt. Ich glaube, man kann sagen, er hat sie auch
aufgewühlt. Dieser Film hat eine Botschaft transportiert.
Regie geführt hat bei diesem Film eine Frau. Die Frage, ob ein männlicher Regisseur die Geschichte genauso
oder anders erzählt hätte, ob er ebenfalls diese Emotionen ausgelöst hätte, ist müßig. Interessant ist aber, was
Dieter Kosslick, der Direktor der Berlinale, gestern im
Kulturausschuss gesagt hat. Er hat gesagt: Die künstlerischen Gesichtspunkte stehen bei einem Film immer im
Vordergrund. Die erfolgreichsten Hollywood-Produktionen zurzeit sind von Frauen gemacht worden. Frauen hatten bei der Berlinale die Hauptslots, wie man neudeutsch
sagt, also die besten Vorführzeiten.
Meine Damen und Herren, das Kino ist ein Kulturort.
Filme sind Kulturgüter. Es ist bereits gesagt worden, dass
Kino und Filme natürlich auch Wirtschaftsgüter sind.
Deswegen brauchen wir ein starkes, aber natürlich auch
ein modernes Filmförderungsgesetz, um unsere wertvolle Filmlandschaft zu erhalten und zu fördern. Wie erfolgreich diese ist, hat mein Kollege Burkhard Blienert gerade gesagt. Film ist letztendlich auch Bildung.
Frau Staatsministerin Grütters hat mit ihrem Gesetzentwurf zur Förderung des deutschen Films einen guten
Vorschlag gemacht.
({0})
Auch das hat der Kollege Blienert schon ausgeführt. Ich
möchte besonders auf den Teilaspekt der Gendergerechtigkeit eingehen.
Im Gesetzentwurf aus dem Hause der BKM werden
erste Schritte eingeleitet, um die Situation der Produzentinnen, Drehbuchautorinnen und Regisseurinnen zu verbessern.
({1})
So soll der Frauenanteil in den Gremien der Filmförderanstalt erhöht werden.
({2})
Für den Verwaltungsrat und das Präsidium der Filmförderanstalt soll ab Inkrafttreten des Gesetzes eine
Frauenquote von 30 Prozent gelten, ab 2018 dann eine
paritätische Besetzung. Auch für die einzelnen Förderkommissionen der FFA soll ab Inkrafttreten eine paritätische Besetzung gelten.
({3})
Ich möchte erwähnen, dass man im Königreich
Schweden sehr gute Erfahrungen mit einer paritätischen Besetzung gemacht hat. Ich glaube, Frau Kollegin
Freudenstein, Schweden ist von der Planwirtschaft relativ weit entfernt.
({4})
Entscheidend ist aber, dass der Gesetzentwurf die
Filmförderungsanstalt im Ganzen dazu verpflichtet - ich
zitiere -, „bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben auf die
Belange der Geschlechtergerechtigkeit“ hinzuwirken.
Das wird der FFA nun ins Stammbuch geschrieben. Für
uns als SPD-Fraktion ist es Verpflichtung und Auftrag,
darauf zu achten, ob das auch umgesetzt wird.
Wenn sich dann allerdings nichts ändert und nicht
mehr Filmprojekte von Regisseurinnen, Drehbuchautorinnen oder Produzentinnen gefördert werden, dann
müssen wir über weitere Maßnahmen nachdenken und
sie ergreifen.
({5})
Es ist Fakt, dass es ein Ungleichverhältnis zwischen
Frauen und Männern gibt.
({6})
Das zeigt die derzeitige Förderkulisse. Unser Ansatz ist
aber, Schritt für Schritt vorzugehen, und die jetzt zu beschließende gendergerechte Gremienbesetzung ist ein
erster guter Schritt.
({7})
Was Sie in Ihrem Antrag fordern, nämlich die Hälfte der
Fördergelder an Projekte zu vergeben, an denen Frauen
maßgeblich mitwirken, können wir in den Blick nehmen,
wenn die jetzt ergriffenen Maßnahmen nicht zum Ziel
führen.
({8})
Noch eine Anmerkung zum Schluss: Eine staatlich
verordnete Quote steht im Widerspruch zur künstlerischen Freiheit; das ist richtig. Aber eine Realität, die
Frauen aufgrund ihres Geschlechts strukturell benachteiligt, schränkt die künstlerische Freiheit ebenso ein. Und
die Freiheit gilt nun einmal für Männer und Frauen.
Vielen Dank.
({9})
Die Rednerin hat sich die Freiheit genommen, etwas
länger zu sprechen. Aber das haben wir jetzt so hingenommen.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/8073 an den Ausschuss für Kultur und
Medien vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der Militärmission der
Europäischen Union als Beitrag zur Ausbildung der malischen Streitkräfte ({0})
auf Grundlage des Ersuchens der Regierung
von Mali an die EU sowie der Beschlüsse
des Rates der EU 2013/87/GASP vom 18. Februar 2013, zuletzt geändert mit dem Beschluss des Rates der EU 2016/446/GASP vom
23. März 2016 in Verbindung mit den Resolutionen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen 2071 ({1}) vom 12. Oktober 2012 und
folgender Resolutionen, zuletzt 2227 ({2})
vom 29. Juni 2015
Drucksache 18/8090
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({3})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Dann haben wir so beschlossen.
Als erster Rednerin erteile ich für die Bundesregierung das Wort Frau Bundesministerin Dr. Ursula von der
Leyen.
({4})
Vielen Dank, Herr Präsident. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Ich war vergangene Woche mit einigen
Bundestagsabgeordneten in Mali. Wir waren in Bamako,
Gao und Koulikoro. Ich habe in Gao, wie geplant, zwei
lokale Gouverneure getroffen, und sie hatten unerwartet
eine weitere Person mitgebracht. Das war der gewählte Bürgermeister aus Gao, dem es ein Anliegen war, die
deutsche Delegation zu begrüßen und im Namen der
Menschen seiner Stadt willkommen zu heißen.
Ich finde, das ist ein sehr schönes Zeichen dafür, wie
viel Vertrauen die Menschen in Gao in Deutschland und
in die Bundeswehr haben. Es war aber auch eine Geste,
die zeigte, wie groß die Hoffnungen und Erwartungen in
uns sind. Es sind Hoffnungen und Erwartungen in einer
schwierigen Zeit.
Seit einem Jahr gibt es das Friedensabkommen zwischen der Regierung und den Rebellengruppen, die bereit gewesen sind, die Waffen niederzulegen. Man kann
sagen, dass der Waffenstillstand hält. Der Fokus liegt
jetzt auf der Bekämpfung des Terrors, den diejenigen
ausüben, die unter keinen Umständen wollen, dass das
Friedensabkommen Erfolg hat, und es mit aller Macht
und Brutalität stören.
Der Friedensprozess geht voran. Der politische Prozess ist eingeleitet. Aber das Ganze geht zäh und langsam. Es geht um die sehr mühsame Dezentralisierung der
staatlichen Verwaltung. Es geht um die sogenannte Kantonierung, also darum, die ehemaligen Rebellen wieder
in die Gesellschaft zu integrieren. Es geht um den Schutz
der Bevölkerung, um die Begleitung des Friedensprozesses und die Bekämpfung des Terrors.
Wir unterstützen Mali gemeinsam mit der internationalen Gemeinschaft. Wir investieren viel, auch an Zeit,
und wir geben Hilfe. All das ist richtig. Aber das Ganze wird nur dann ein Erfolg werden, wenn dieser Erfolg
auch aus der Regierung und aus den Rebellengruppen
heraus gewollt wird. Das, meine Damen und Herren, ist
maßgeblich, und das haben wir bei den Gesprächen in
Mali sehr deutlich gemacht.
Wir sind mit der Bundeswehr an EUTM, um die es
heute Abend geht, und an der Mission MINUSMA der
Vereinten Nationen beteiligt. Die unterschiedlichen Elemente zeigen, wie gut inzwischen die vernetzte Sicherheit in Mali aufgebaut ist. Es gibt die zivile Aufbaumission EUCAP Sahel, und es gibt viele humanitäre Projekte
sowie bilaterale Maßnahmen zur wirtschaftlichen Unterstützung Malis und die Operation Barkhane, die unter
französischer Führung den Terror bekämpft.
Wenn wir heute über die Ausbildungsmission EUTM
Mali sprechen, dann stellen wir fest, dass Deutschland
der größte Truppensteller unter den 25 beteiligten Nationen ist. Die Mission dauert seit drei Jahren an und hat gut
Strecke gemacht. Inzwischen sind 8 000 Soldatinnen und
Soldaten ausgebildet worden. Das sind immerhin zwei
Drittel der malischen Landstreitkräfte.
Wir möchten nun das Mandat - das ist die Begründung für ein neues Mandat, das gerade in Europa so geHiltrud Lotze
fasst wurde - auf eine andere Stufe heben; denn wir wollen nicht nur zentral in Koulikoro Ausbildung betreiben,
sondern auch in die Weite des Landes, in die Garnisonsstädte gehen. Wir wollen uns darauf konzentrieren, die
Ausbilder der malischen Streitkräfte auszubilden, und so
dazu beitragen, dass Mali selbsttragende Strukturen zur
Qualifizierung seiner Soldatinnen und Soldaten aufbauen
kann. Wir bilden dafür mobile Teams aus Ausbildern und
Beratern. Sanität und Schutz, das ist ganz wichtig. Diese
Teams werden acht bis zwölf Wochen in den verschiedenen Garnisonsstädten und verschiedenen Regionen tätig
sein, abhängig von der jeweiligen Sicherheitslage. Wir
werden im Süden anfangen. Es ist geplant, das in den
Norden, bis zum nördlichen Nigerbogen, also auch in die
Städte Gao und Timbuktu, auszuweiten. Aber entscheidend ist, dass die Sicherheitslage das zulässt.
Ein Punkt ist mir besonders wichtig. Das allerbeste
Training nützt nichts, wenn die Ausrüstung nicht stimmt.
Wir haben erlebt, dass malische Soldaten an Holzgewehren ausgebildet werden. Wir dürfen nicht vergessen, dass
es sich hier um eine europäische Trainingsmission handelt. Der Rat der Staats- und Regierungschefs hat einen
sogenannten Ertüchtigungstitel auf den Weg gebracht,
der genau dazu da ist, die Mittel für die benötigte Ausrüstung zur Verfügung zu stellen. Aber seit Monaten ist die
Kommission nicht in der Lage, Vorschläge zu machen,
aus denen hervorgeht, wie dieser Titel mit Geld unterlegt
wird. Wenn die EU es mit der Ausbildung ernst meint,
dann muss sie sich ernsthaft überlegen, wie sie die Aufgabe, die malischen Streitkräfte auszurüsten, bewältigen
will.
({0})
Wie wir gesehen haben, hat die Ausbildung im Vergleich zu dem, was wir vor einem Jahr bzw. vor zwei
Jahren sahen, deutliche Fortschritte gemacht. Man merkt,
dass die Module viel dynamischer geworden sind und
dass nun die Erfahrungen aus den Gefechten im Norden
in die Ausbildung einfließen. Das Ganze stand im letzten
Jahr unter Führung eines deutschen Brigadegenerals. Wir
werden nun im Juli die Führung turnusgemäß an die Belgier übergeben. Das ist der Grund, warum wir die Obergrenze von 350 auf 300 senken können. Wir brauchen
das Führungselement nicht mehr. Aber der Kern, die
200 Ausbilder, die dort im Augenblick tätig sind, und die
entsprechenden Strukturen bleiben unverändert.
Unsere Soldatinnen und Soldaten sorgen bei der Ausbildungsmission in Mali auch dafür, dass Mali als ein zentrales Land in der Sahelregion stabil bleibt. Auch wenn
die Fortschritte zäh sind, muss man sich immer wieder
vor Augen halten, dass es einen Unterschied macht, ob
Mali - das wäre durchaus denkbar gewesen - einem ähnlichen Zerfallsprozess wie Libyen anheimgefallen wäre
oder ob es gelingt, dieses Land langsam, aber sicher zu
stabilisieren.
In diesem Sinne bitte ich um wohlwollende Beratungen.
Vielen Dank.
({1})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Niema Movassat, Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zum vierten Mal wollen Sie von der Bundesregierung sich vom
Bundestag ein Mandat für die deutsche Beteiligung an
einer europäischen Trainingsmission für das malische
Militär erteilen lassen. Erst im Januar wurde das Bundeswehrkontingent für den UN-Einsatz MINUSMA in Mali
massiv aufgestockt. Nun geht es heute ausnahmsweise
nicht um die Entsendung von mehr Soldaten. Aber mit
dem neuen Mandat bekommt die Trainingsmission einen
ganz neuen Charakter; denn bisher agierten die Bundeswehrausbilder im halbwegs friedlichen Süden Malis.
Deshalb beschrieb die Bundesregierung den bisherigen
Einsatz als sicher. Mit dem neuen Mandat aber wollen
Sie deutsche Soldaten auch in den gefährlichen Norden
Malis schicken. Das ist eine massive Ausweitung des
Einsatzgebietes. Das Ganze erinnert mich an eine Salamitaktik. Erst schickt man wenig Soldaten und diese in
weitgehend sichere Gebiete, dann schickt man mehr Soldaten und weitet das Einsatzgebiet auch auf gefährlichere
Regionen aus.
({0})
So wollen Sie die deutsche Bevölkerung offenbar
Schritt für Schritt daran gewöhnen, dass die Bundeswehr
immer mehr Teil des bewaffneten Konflikts in der Sahelregion wird. Sie machen Deutschland mehr und mehr
zur Konfliktpartei in der Region, und das lehnt die Linke
strikt ab.
({1})
Vor drei Jahren versprach uns die Bundesregierung,
dass sich die Terrorgefahr in Mali und der Sahelregion
durch diese Militärmission und die Bundeswehrbeteiligung beseitigen ließe. Das war der Kern der Begründung.
Aber was damals für Afghanistan galt, gilt auch für den
Bundeswehreinsatz jetzt in Mali: Terror kann man nicht
mit Krieg besiegen.
Was Sie machen, ist blauäugig, und es ist brandgefährlich. Sie versuchen, Feuer mit Öl zu löschen. Die Folge: Der Brand wird größer, der Terror nimmt zu. So gab
es Anschläge gegen die Hauptquartiere von EUTM und
MINUSMA in Malis Hauptstadt Bamako; zudem gab es
in der Region drei fürchterliche Terrorangriffe auf Hotelanlagen in Bamako, in Ouagadougou in Burkina Faso
und bei Abidjan in der Elfenbeinküste.
({2})
Die Realität ist doch: Je mehr Soldaten ins Ausland
entsendet werden, desto mehr verschlechtert sich die Sicherheitslage in Afrika und hier in Europa.
({3})
Deshalb wäre es richtig und wichtig, wenn Sie endlich
anfangen würden, die sozialen Ursachen des Terrors zu
bekämpfen, statt ständig Soldaten in alle Welt zu schicken.
Durch das neue Mandat wird sich übrigens auch der
Personenkreis der ausgebildeten Soldaten verändern.
Künftig wollen Sie eben nicht nur das malische Militär
ausbilden, sondern auch Soldaten aus fünf anderen Ländern der Sahelregion. Darunter werden auch Soldaten aus
dem Tschad sein. Im Tschad herrscht eine Militärdiktatur.
Sie wollen also eine Militärdiktatur dabei unterstützen,
besser ausgebildete Soldaten zu haben. Das ist wirklich
beschämend.
({4})
Die große Frage bei solchen Einsätzen ist auch immer:
Nutzen sie der Bevölkerung? Die Antwort ist hier: Nein;
denn Malis größtes Problem ist die desaströse wirtschaftliche Lage nach Jahrzehnten des Kaputtsparens unter
neoliberalen Strukturanpassungsmaßnahmen. Die Armut
im Land nimmt immer weiter zu. Zwei Drittel der Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze und das,
obwohl es viele Rohstoffe gibt und das Land eigentlich
die Ressourcen hätte, allen Bürgern ein Leben in Würde
zu ermöglichen.
Aber die malischen Politiker und ihre europäischen
Partner haben sich vor allem immer um ihre eigenen
Interessen gekümmert und nicht um die Interessen der
Bevölkerung Malis. Auch die jetzige malische Regierung
ist nicht gewillt, dem Wunsch der Bevölkerung nach sozialer Sicherheit und Frieden entgegenzukommen. So
rief ein Gewerkschaftsverband jetzt zum Streik auf, weil
die Regierung sich absolut nicht kompromissbereit zeigt.
Die Regierung verweigerte auch die Teilnahme an einem
Friedensforum in Kidal.
Die internationale Gemeinschaft versagt auch bei der
Lösung der Flüchtlingsfrage. Nach wie vor leben in den
Nachbarländern Malis 130 000 Flüchtlinge.
({5})
Das Welternährungsprogramm musste die Essensrationen aufgrund der geringen Zusagen der Geberländer
kürzen. Während genug Geld dafür da ist, Soldaten nach
Mali zu schicken, gibt es nicht genug Geld, die Flüchtlinge vor dem Verhungern zu retten. Das ist eine Schande.
({6})
Frau von der Leyen, wie im Afghanistankrieg, aus
dem die Bundesregierung wirklich nichts gelernt hat,
verstricken Sie Deutschland nun auch hier Stück für
Stück in einen undurchschaubaren Konflikt. Sie schaffen
neue Fluchtgründe, statt sie zu beseitigen. Sie gefährden
die Sicherheit Deutschlands und seiner Bürger, statt sie
zu schützen. Sie geben Geld für das Militär aus, statt der
Bevölkerung und den Flüchtlingen vor Ort ausreichend
zu helfen. Ihnen geht es um die Stärkung der globalen
Einsatzfähigkeit der Bundeswehr. Dazu und zu diesem
Mandat wird die Linke Nein sagen.
({7})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort Staatsminister Michael Roth für die Bundesregierung.
({0})
Vielen Dank. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Nach den Bemerkungen des Abgeordneten
Movassat ist es wichtig, noch einmal daran zu erinnern,
wie sich die Ereignisse vor vier Jahren in Mali abspielten.
Islamistische Gruppen aus dem Norden Malis waren auf
dem Vormarsch nach Süden in Richtung der Hauptstadt
Bamako. Die malische Armee konnte den Rebellen damals nicht viel entgegensetzen. Es ist nur dem entschlossenen Eingreifen von Frankreich zu verdanken, dass die
Terroristen aufgehalten werden konnten. Niemand von
uns will sich ausmalen, was sonst passiert wäre.
({0})
Was mich an Ihren Bemerkungen am meisten stört, ist,
dass Sie zu überhaupt keiner Differenzierung fähig und
bereit sind.
({1})
Das Bild, das Sie zeichnen, ist nur schwarz und weiß. Ich
kenne in der Bundesregierung, in der CDU/CSU-Fraktion, in der SPD-Fraktion und auch in der Grünenfraktion
niemanden, der sich nicht der Mühsal unterzieht, auch
die Grauschattierungen zu erwähnen, was zwingend ist,
um ein verantwortbares Urteil zu fällen.
Wir können heute sagen: Es hat sich vieles verbessert,
auch wenn der Weg zu dauerhafter Stabilität immer noch
sehr lang und beschwerlich ist. Vor allem die politische
Entwicklung der vergangenen Monate gibt durchaus Anlass zu vorsichtiger Zuversicht.
Die malische Regierung und die separatistischen Rebellen haben im Frühsommer 2015 ein Friedensabkommen unterzeichnet. Der Waffenstillstand vom vergangenen Herbst hält - immer noch -, und jetzt geht es darum,
die Vereinbarungen des Friedensabkommens Schritt für
Schritt umzusetzen. Dabei sehen wir durchaus erste Fortschritte, beispielsweise bei der Übertragung von Kompetenzen des Zentralstaats auf die Kommunen. Die Gründung von zwei neuen Regionen ist ein weiterer wichtiger
Schritt, um die regionale Selbstverwaltung in Mali zu
stärken. Gleichwohl müssen wir feststellen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Die Umsetzung der politischen
Reformen verläuft deutlich schleppender als gewünscht
und erwartet.
Immer wieder wird der Versöhnungsprozess von
Anschlägen islamistischer Terrorgruppen überschattet.
Dadurch kommt das Land einfach nicht zur Ruhe. Es
wurde bereits erwähnt: Am 21. März wurde das Hauptquartier der EU-Ausbildungsmission EUTM Mali in der
Hauptstadt Bamako selbst zum Ziel eines Anschlags. Der
Anschlag konnte zwar erfolgreich abgewehrt werden glücklicherweise kam dabei niemand von den europäiNiema Movassat
schen Soldatinnen und Soldaten zu Schaden -, aber der
Anschlag zeigt gleichwohl, wie angespannt und wie gefährlich die Sicherheitslage in Mali immer noch ist. Erst
gestern wurden drei französische Soldaten im Norden
des Landes bei der Detonation einer Mine getötet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Deutschland engagiert sich derzeit in drei internationalen Einsätzen in dem
westafrikanischen Land: bei der UN-Friedensmission
MINUSMA, bei der zivilen GSVP-Mission EUCAP Sahel Mali und bei der Ausbildungsmission EUTM Mali.
Unser militärisches Engagement ist selbstverständlich
in einen umfassenden Gesamtansatz eingebettet. Dabei
geht es um politische, humanitäre und entwicklungspolitische Aktivitäten, die ineinandergreifen müssen.
Mali, das ist ein Land, das für viele erst mit der Krise 2012/2013 auf die politische Bühne getreten zu sein
scheint. Es ist heute ein ganz wichtiger Schwerpunkt
unseres sicherheits- und entwicklungspolitischen Engagements. Warum ist das so? Die Frage wird uns immer
wieder auch von kritischen Bürgerinnen und Bürgern
gestellt. Die simple Antwort gibt uns ein Blick auf die
Landkarte: Seit dem faktischen Zusammenbruch Libyens trennt uns quasi nur noch eine Seegrenze von Mali.
Schon heute ist Mali für viele Flüchtlinge Transitland auf
ihrem Weg nach Europa. Deutschland und die Europäische Union haben daher ein erhebliches Interesse daran,
die Bleibeperspektive vor Ort nachhaltig zu verbessern.
Immer mehr Menschen aus der Sahelregion suchen
eine bessere Zukunft in Europa. Das liegt vor allem
auch daran, dass ihre Lebensträume, ihre Hoffnungen
von skrupellosen Terroristen gewaltsam zerstört werden.
Terrorismus erstickt die Hoffnung, und der Terrorismus
bremst die Entwicklung eines ganzen Landes. Durch
den Zusammenbruch der staatlichen Ordnung in Libyen
und in Mali ist ein politisches Vakuum entstanden, das
islamistische Terroristen für sich schamlos und brutal
genutzt haben. Mit Waffen aus libyschen Arsenalen haben sie 2011 die malische Armee überrannt. Weit mehr
als 100 000 Menschen wurden damals aus ihrer Heimat
vertrieben. Und noch immer sind islamistische Gruppen in weiten Gebieten Nordmalis aktiv. Auch das, Herr
Movassat, leugnet doch niemand.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in all unseren Debatten, gleich wann und wo wir sie führen, insbesondere über unser umfassendes politisches Engagement
in Afrika, erlebe ich immer wieder die gleiche Gegenüberstellung: Soldaten oder Entwicklungshelfer. Dieser
Gegensatz ist völlig falsch; denn Entwicklungshilfe ist
zwingend auf Sicherheit, Stabilität und eben auch gefestigte staatliche Strukturen angewiesen. Unser Interesse
ist es, dass die malischen Sicherheitskräfte die Terrorgruppen erfolgreich zurückdrängen und die Kontrolle
über das gesamte Staatsgebiet behaupten können. Das
Ziel der EU-Ausbildungsmission ist es, die malischen
Streitkräfte durch Ausbildung und Beratung mittelfristig
in die Lage zu versetzen, wieder selbst und eigenverantwortlich für Stabilität und Sicherheit im Land zu sorgen.
Es geht hier sozusagen um Hilfe zur Selbsthilfe. Seit
Anfang 2013 wurden schon fast 8 000 Soldatinnen und
Soldaten militärisch ausgebildet.
Frau Bundesministerin von der Leyen hat eben eindrücklich die fünf Punkte beschrieben, die wir im Mandat entsprechend anpassen wollen. Einen kritischen
Punkt, den sie hier vorgetragen hat, möchte ich in aller
Kürze noch einmal ausführen, damit hier kein Missverständnis entsteht. Ja, es ist richtig: Wir wollen das Einsatzgebiet ausweiten. Künftig soll es bis zum Nigerbogen
reichen, einschließlich der Städte Gao und Timbuktu;
aber natürlich - das muss doch auch gesagt werden, Herr
Movassat - geschieht dies immer unter der Maßgabe,
dass die Sicherheitslage dies zulässt. Wir werden erst
dann in den Norden gehen, wenn die Sicherheit gewährleistet ist. Das sind wir unseren Soldatinnen und Soldaten
schuldig, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({2})
Insgesamt ist das natürlich auch Teamarbeit. 23 Mitgliedstaaten der Europäischen Union beteiligen sich an
EUTM Mali. Das ist also gelebte europäische Solidarität
unter denkbar schwierigen Bedingungen. Eines dürfen
wir nicht vergessen: Wir leisten damit auch einen Beitrag zur konkreten Unterstützung Frankreichs. Nach den
furchtbaren Terroranschlägen vom 13. November 2015
hatte Frankreich konkrete Wünsche gegenüber der Europäischen Union und insbesondere auch Deutschland
formuliert. Es wurde um militärischen Beistand gebeten.
Deshalb hat Deutschland als einer der größten Truppensteller durch die Übernahme der Missionsführung von
EUTM Mali im vergangenen Jahr auch besondere Verantwortung übernommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht doch nun
wirklich nicht nur um Militär, nicht nur um Soldatinnen
und Soldaten. Vielleicht stehen wir auch in der Pflicht,
das den Bürgerinnen und Bürgern immer wieder und
noch besser zu erklären. Denn unser Ansatz ist doch
ein umfassender: Es geht um gesellschaftliche, es geht
um wirtschaftliche Stabilisierung der Sahelregion. Dazu
brauchen wir das militärische Engagement. Aber wir
brauchen auch humanitäre, politische, entwicklungspolitische Aktivitäten.
Lassen Sie mich nur einige wenige Aspekte herausgreifen, wo wir uns als Bundesregierung, als Bundesrepublik Deutschland besonders engagieren: Zivile
Krisenprävention, Konfliktnachsorge und Entwicklungszusammenarbeit stehen für uns im Vordergrund. Auch
hier ist Deutschland im Rahmen der zivilen GSVP-Mission EUCAP Sahel Mali engagiert. Wir beraten, wir bilden
aus, wir statten malische Polizeieinheiten aus, und wir
sind eben auch bilateral engagiert. Wir unterstützen das
malische Ministerium für Versöhnung in seiner zentralen
Rolle bei der Umsetzung des Friedensvertrages. Wir fördern Trainingskurse für westafrikanische Polizeikräfte
als Vorbereitung auf den Einsatz in Friedensmissionen.
Wir unterstützen das Grenzmanagement der Afrikanischen Union in Mali. Geplant ist noch mehr Engagement
bei der Reform des Sicherheitssektors und der Förderung
des Rechtsstaats mit mehr als 2 Millionen Euro. Wir stabilisieren mit konkreten Maßnahmen den Norden Malis.
Wir unterstützen humanitäre Hilfsprogramme.
Deutschland hat bisher mehr als 5 Millionen Euro investiert, damit Flüchtlinge im Norden des Landes in ihre
Heimatstädte zurückkehren können. Daneben investiert
Deutschland zwischen 2015 und 2017 mehr als 73 Millionen Euro für die Entwicklungszusammenarbeit in Mali.
Projekte sollen im Rahmen der Dezentralisierung die
lokalen Behörden stärken, im Bereich der Landwirtschaft
die Ernährungssicherheit stärken und die Versorgung mit
Trinkwasser und mit Sanitäranlagen sicherstellen. Ich
kann Ihnen versichern, liebe Kolleginnen und Kollegen,
dass unabhängig von diesem Mandat Mali auch mittelfristig weiter ein Schwerpunkt unseres Engagements auf
dem afrikanischen Kontinent bleiben wird; denn wir haben ein ganz erhebliches sicherheitspolitisches Interesse
dort. Terrorismus, organisierte Kriminalität und Menschenschmuggel sind Geißeln, die Menschen in Flucht,
Hoffnungslosigkeit und Tod treiben. Das dürfen wir nicht
zulassen. Deshalb bitte ich Sie um Unterstützung für dieses Mandat.
Vielen herzlichen Dank.
({3})
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Agnieszka Brugger, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Niemand macht sich Illusionen über die Sicherheitslage in
Mali. Der Generalsekretär der Vereinten Nationen Ban
Ki-moon stellt in seinem jüngsten Bericht an den Sicherheitsrat fest, dass in Mali durch die Gewalt der Extremisten, Terroristen und Kriminellen die Gefahr für die Menschen nach wie vor sehr hoch ist. Erst vorgestern Nacht
wurden drei französische Soldaten der Friedensmission
der Vereinten Nationen auf grausame Weise durch eine
hinterhältig gelegte Landmine getötet. Diese Gräueltat
macht auch uns im Bundestag betroffen. Unser Beileid
und Mitgefühl gelten ihren Familien und Freunden.
Meine Damen und Herren, in den vergangenen Jahren haben wir Grüne trotz des gefährlichen Umfeldes
die EUTM, die europäische Ausbildungsmission für die
malischen Sicherheitskräfte, mit großer Mehrheit unterstützt. Denn sie hat einen Beitrag dazu geleistet, dass die
demokratische Kontrolle über die Armee gestärkt wird
und dass diese in die Lage versetzt wird, in Zukunft die
eigene Bevölkerung besser zu schützen. Mittlerweile
sind zwei Drittel der malischen Soldatinnen und Soldaten ausgebildet worden. Ein solches Engagement braucht
aber auch langen Atem und viel Geduld.
Mit den Änderungen im neuen Mandat soll diese Unterstützung nun nicht mehr in den gesicherten Lagern der
Mission stattfinden, sondern es soll die Möglichkeit geschaffen werden, dass, abhängig von der Sicherheitslage,
die Soldatinnen und Soldaten herausgehen, um bereits
ausgebildete Verbände in Heimatkasernen zu betreuen.
Diese Anpassung finde ich grundsätzlich nachvollziehbar, wenn es darum geht, die Nachhaltigkeit des Ausbildungserfolges sicherzustellen. Denn der Erwerb der militärischen Grundfertigkeiten alleine macht noch keinen
guten Soldaten, sondern dafür sind so wichtige Inhalte
wie die Achtung der Menschenrechte, der Umgang mit
den Gefangenen oder die Einhaltung des Völkerrechtes
viel entscheidender.
({0})
Gleichzeitig ist auch klar, dass durch die Ausweitung
des Operationsgebiets bis nach Timbuktu und Gao die
europäische Ausbildungsmission riskanter wird. Wir Abgeordnete werden vor diesem Hintergrund sehr genau
darauf achten, dass die Soldatinnen und Soldaten den
bestmöglichen Schutz bekommen und, auch wenn sie die
Lager verlassen, eine gesicherte Rettungskette vollumfänglich gewährleistet ist. Wir Grüne werden bei den
Beratungen diese und andere Veränderungen im Mandat
kritisch und sorgfältig prüfen.
Meine Damen und Herren, so schwierig und gefährlich die Lage in Mali ist, sie ist nicht nur düster. Damit
meine ich nicht nur, dass die Soldatinnen und Soldaten
bei der Ausbildung der malischen Sicherheitskräfte viel
geleistet und viel erreicht haben. Vielmehr gibt es weitere Entwicklungen, die Anlass zu einer vorsichtigen
Hoffnung geben. Trotz aller Rückschläge und Schwierigkeiten konnte im letzten Jahr ein umfassendes, breit
getragenes Friedensabkommen geschlossen werden.
Ohne die starke Rolle der Vereinten Nationen und ihrer
Friedensmission wäre das kaum möglich gewesen. Die
Umsetzung dieser Vereinbarung wird ganz entscheidend
dafür sein, ob sich in Zukunft die Weichen in Mali für
mehr Stabilität, Sicherheit und Frieden stellen lassen.
Ein großer Erfolg ist auch, trotz einiger Verzögerungen,
dass eine Kommission für Abrüstung, Demobilisierung
und Wiedereingliederung gegründet wurde und ehemalige Rebellen wieder in die Gesellschaft und auch in die
Sicherheitskräfte integriert werden sollen. Gleichzeitig
müssen aber natürlich auch die sozialen und wirtschaftlichen Verteilungsfragen zwischen dem Norden und dem
Süden in einem gerechten Ausgleich geklärt werden.
Die humanitäre Lage ist teilweise immer noch dramatisch. 2,5 Millionen Menschen sind vom Hunger betroffen, und es gibt immer noch 90 000 Binnenvertriebene.
Meine Damen und Herren, ich bin in den letzten Jahren häufiger nach Mali gereist. Besonders berührt und
bewegt hat mich dabei die Selbstverständlichkeit, mit der
die Menschen im Süden - in einem der ärmsten Länder
der Welt - die Flüchtlinge aus dem Norden aufgenommen und unterstützt haben. Sie haben das Wenige, was
sie hatten, mit ihnen großzügig geteilt. Trotz aller Armut
gibt es eine starke, solidarische und friedfertige Zivilgesellschaft. Darin liegt eine große, vielleicht sogar die
größte Chance für die malische Zukunft.
Mein Dank gilt allen Menschen, die sich in Uniform
oder ohne trotz der Gefahren auch für Leib und Leben
dafür einsetzen, dass der Großteil der Malierinnen und
Malier auf diesem guten Weg unterstützt wird.
Meine Damen und Herren, Ausbildung allein kann nur
einer von vielen Bausteinen sein. Entscheidend ist aber
eine engagierte Bearbeitung der Konfliktursachen, ein
stimmiges Gesamtkonzept, das die Bereiche Sicherheit,
Entwicklung und Staatsaufbau, aber vor allem auch den
Versöhnungsprozess zusammenbringt. Hierfür kann und
sollte auch die deutsche Bundesregierung mehr tun.
Die Europäische Ausbildungsmission hat dazu beigetragen, dass der Hoffnungsschimmer im Norden nicht
nur von kurzer Dauer war. Die erfolgreiche Entwicklung
in Mali selbst ist und bleibt aber kein Selbstläufer. Es gibt
Risiken. Es gab Rückschläge, und es wird sie auch in Zukunft geben. Wir müssen auch deshalb die Mandate jedes
Mal aufs Neue sorgfältig und kritisch prüfen und beraten.
Meine Damen und Herren, es ist klar: Es gibt nie eine
Erfolgsgarantie, und der Weg wird sicherlich schwierig
sein. Es ist aber ebenso gewiss, dass die Wahrscheinlichkeit sehr hoch ist, dass ohne die internationale Unterstützung die Menschen in Mali kaum auf Sicherheit und
Frieden hoffen können.
({1})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Jürgen Hardt, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! An
diesem fortgeschrittenen Punkt der Debatte möchte ich
sagen, dass ich das Niveau hier insgesamt sehr gut finde.
Ich halte es für gut, dass wir uns nicht in einer Schönmalerei der Situation ergehen, sondern uns dem Thema
differenziert widmen. Die beiden Reden der Regierungsvertreter und auch die Rede von Frau Brugger waren von
diesem Charakter und Geist getragen. Von daher glaube
ich, dass wir da auf einem guten Weg sind.
Wenn ich sehe, was wir insgesamt in Mali machen EUTM, also die Ausbildungsmission, ist nur ein Teil unseres Gesamtauftritts; vor wenigen Wochen haben wir ja
über MINUSMA gesprochen -, so glaube ich schon, dass
diese Mission eine der herausforderndsten, anspruchsvollsten und leider auch gefährlichsten ist, in die wir
unsere Soldaten und Polizisten schicken. Die Situation
in Mali ist aber politisch ein Stück weit stabilisiert. Das
hat ganz wesentlich mit dem Engagement der Völkergemeinschaft und auch der afrikanischen Partnerländer zu
tun.
Natürlich stellt das, was wir an dschihadistischem Terrorismus oder an Terrorismus erleben, der nur seine eigenen wirtschaftlichen Ziele verfolgt und möglicherweise
die Religion nur missbraucht, um Menschen dazu zu
bringen, sich ihm anzuschließen, eine wachsende Bedrohung in der Region dar. Wenn Sie die Zahl der Anschläge
bzw. Attentate im Jahr 2015 mit den Zahlen in den Jahren zuvor vergleichen, werden Sie leider sehen, dass es
einen Anstieg gab. Es ist auch so, dass es Anschläge bzw.
Attentate im Süden - südlich der geografischen Taille
des Landes - gibt. Wir haben eigentlich immer gesagt,
dass südlich von dieser Linie die Situation relativ sicher
ist und dass die Kämpfe nördlich davon stattfinden. Das
trifft leider so nicht mehr vollständig zu.
Die Bundeswehr wird zukünftig stärker in der Fläche
ausbilden. Es wird nicht zu vermeiden sein, dass Bundeswehrsoldaten mit ihren malischen Kameraden aus
den Camps bzw. aus den befestigten, geschützten Compounds hinausfahren. Denn man wird Patrouille kaum
auf dem Kasernenhof trainieren können. Man wird also
auch Dinge tun müssen, bei denen man sich ganz konkret
einer gewissen Gefährdung aussetzt. Ich wünsche unseren Soldatinnen und Soldaten alles Soldatenglück, damit
sie alle heil wieder nach Hause kommen.
Dieses Risiko müssen wir ihnen zumuten. Wir müssen
dieses Risiko eingehen, weil Mali natürlich eine Schlüsselfunktion in der Region innehat.
Wenn man auf die Karte blickt, so kommt man zu dem
Schluss, dass das Bestreben der Terroristen, die aus dem
Norden Afrikas, aus dem Maghreb, herunterkommen, offensichtlich darin besteht, nicht nur Mali zu destabilisieren, sondern von Mali aus auf andere Staaten der Region
zu wirken, die in einer besseren Verfassung sind als Mali
selbst, zum Beispiel Senegal, ein Land, das nicht nur
ein Hoffnungsschimmer, sondern ein leuchtender Hoffnungspunkt in Afrika ist, und Burkina Faso, wo es eine
starke, dynamische, positive Entwicklung gibt. Das sind
Länder, die von Terror bedroht wären - teilweise auch
schon von Terror bedroht sind -, wenn es uns nicht gelänge, diese Terroristen in Afrika auf ihrem Weg in Richtung Süden und Südwesten zu stoppen. Da ist Mali, die
malischen Streitkräfte und die malische Regierung, mit
der Unterstützung der Weltgemeinschaft in besonderer
Weise gefordert.
Mit Blick auf die Ausbildungs- und Trainingsmission
sollten wir im Rahmen der Ausschussberatungen auch
genau schauen, wie wir da vielleicht noch nachsteuern und feinsteuern können. Wenn man mit Menschen
spricht, die sie vor Ort durchführen, hört man, es gebe
Beispiele dafür, dass die Polizei- und Militärkräfte vor
Ort sehr wirksam agieren, aber leider auch Beispiele
dafür, dass es an der entsprechenden Führung von oben
hapert. Wir sind bei der Ausbildung der Soldaten, die
die Sicherheit vor Ort gewährleisten, sehr gut. Wir sollten auch dafür sorgen, dass sie ordentlich geführt werden, dass sie schnell und effektiv zum Einsatz kommen.
Es gibt Beispiele dafür, dass die malischen Kräfte nach
terroristischen Anschlägen sehr schnell und umfassend
reagiert haben und auch Geiseln befreien und die Terroristen ausschalten konnten. Aber es gibt eben auch Beispiele dafür, dass über lange Zeit nichts geschehen ist,
bis dann tatsächlich europäische Kräfte die Situation bereinigt haben. Von daher sollten wir einen Blick auf die
Frage richten, ob wir perspektivisch auch dafür sorgen
müssen, dass die Ausbildungsmission, was die Führung
der Streitkräfte vor Ort angeht, ein Stück weit intensiviert
und verbessert wird.
Ich wünsche allen Soldatinnen und Soldaten und auch
allen Polizisten und zivilen Kräften, die in diesem Land
tätig sind, alles erdenklich Gute. Ich glaube, dass wir in
den Ausschussberatungen zu einem guten Ergebnis kommen und dieses Mandat sinnvollerweise verlängern werden.
Herzlichen Dank.
({0})
Als letztem Redner in dieser Aussprache erteile ich
dem Abgeordneten Florian Hahn, CDU/CSU-Fraktion,
das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auch ich hatte letzte Woche die Gelegenheit, an der Reise nach Mali mit Frau Bundesministerin von der Leyen
teilzunehmen. Die Reise war einmal mehr ein Beispiel
dafür, wie wichtig es ist, dass wir Abgeordnete an solchen Reisen teilnehmen, um ein Stück weit ein besseres
Gefühl für bzw. eine bessere Sichtweise auf die Länder
zu bekommen, die im unmittelbaren Zusammenhang mit
Entscheidungen hier im Hohen Hause stehen.
Allein die Tatsache, dass wir für die Strecke vom
Eintreten in den malischen Luftraum im Norden, an der
Grenze zu Algerien, bis nach Bamako zwei Stunden
gebraucht haben, zeigt, wie riesig dieses Land ist, gibt
einem ein Gefühl für die Größe dieses Landes. Als wir
dann kurz vor der Landung aus dem Fenster des Flugzeugs auf die riesengroße Stadt Bamako mit 3 bis 4 Millionen Menschen heruntergeschaut haben, haben wir gesehen, dass dort unglaublich viel passiert, dass unglaublich
viele Rohbaumaßnahmen angegangen werden, dass die
Menschen anfangen, Grundstücke einzuzäunen und abzugrenzen und sich langfristig Wohnraum zu sichern.
Das Straßenbild in Bamako ist von unglaublich vielen Menschen, von extrem jungen Menschen geprägt,
vor allem von Männern. Das durchschnittliche Alter der
Malier ist 16 Jahre. Das Bevölkerungswachstum beträgt
3,6 Prozent pro Jahr. Wir haben jetzt etwa 16 Millionen
Malier, im Jahr 2050 - so ist die Prognose - werden es
über 60 Millionen sein. Es ist kaum vorstellbar, dass dieses Land selbst unter friedlichen oder wirtschaftlich positiven Entwicklungsbedingungen, gerade wenn wir den
Blick auf die sonstigen Rahmenbedingungen wie Klima
usw. richten, in der Lage sein wird, der Herausforderung
einer so großen Bevölkerung tatsächlich Herr zu werden.
Umso wichtiger ist es - das ist meine ganz persönliche
Erkenntnis auch aus dieser Reise -, dass wir diesem Land
helfen. Es liegt in unserem Interesse, die Lage in Mali
und in der Sahelregion insgesamt zu stabilisieren. Denn
Verfall von Autorität, von staatlicher Kontrolle bedeutet
eben Chaos, bedeutet, dass Kriminelle und Terroristen
diese Situation ausnutzen. Das hat vor allem dramatische
Folgen für die Zivilbevölkerung.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wer Fluchtursachen tatsächlich bekämpfen möchte, muss gerade
auch in Mali Engagement zeigen. Von zentraler Bedeutung ist, dass wir die Sicherheitslage verbessern. Dafür
sind Fortschritte beim Friedens- und Versöhnungsprozess
notwendig, die Ertüchtigung der Armee und der Sicherheitskräfte Malis und übergangsweise die Gewährleistung einer Basissicherheit auch im Norden beispielsweise durch MINUSMA.
Frieden und Stabilität sind wichtig, damit alle Bevölkerungsgruppen an wirtschaftlicher, an sozialer Entwicklung und am politischen Prozess in Mali teilhaben können. Deutschland tut hier insgesamt viel - wir haben es
schon gehört -: humanitäre Hilfe, Entwicklungszusammenarbeit, Ausbildung von Polizei, aber eben auch von
Sicherheitskräften, Ausbildung der Armee, beispielsweise durch die europäische Mission EUTM Mali.
Ausbildung und Beratung der malischen Streitkräfte
sind wichtig, damit Mali in Zukunft selbst in der Lage ist,
die Stabilität des Landes zu gewährleisten. Hier sind wir
bereits seit drei Jahren aktiv, und zwar sehr erfolgreich.
Wir sollten unser Engagement auf jeden Fall fortsetzen
und sogar verstärken.
Bei unserem Besuch in Gao, in Bamako, aber auch in
Koulikoro hatten wir mehrmals die Gelegenheit, ausführlich mit unseren Soldatinnen und Soldaten zu sprechen.
Ich muss sagen: Ich war extrem beeindruckt, nicht nur,
mit welcher professionellen Einstellung die deutschen
Soldatinnen und Soldaten dort agieren, sondern auch
deswegen, weil man gesehen hat, dass sie von ihrem Auftrag wirklich überzeugt sind, dass sie positives Feedback
von den Maliern bekommen. Sie merken, dass das ein
wichtiger Einsatz ist, ein Einsatz, der auch etwas bringt.
Bemerkenswert ist auch die Zusammenarbeit mit den
internationalen Partnern. Wir haben es vorhin schon gehört: 24 Partnernationen arbeiten zusammen und haben
500 Soldaten nach Koulikoro entsandt, die dort gemeinsam Malier ausbilden.
Abschließend möchte auch ich betonen - da dürfen
wir uns nichts vormachen -: Die Einsätze und auch dieser Einsatz sind gefährlich für unsere Soldatinnen und
Soldaten. Es ist ein Risiko; das dürfen wir nicht unter
den Teppich kehren. Deswegen ist es nicht nur wichtig,
dass unsere Soldatinnen und Soldaten im Einsatz vor Ort
besonnen agieren, sondern auch, dass sie bestmöglich
ausgebildet und ausgerüstet sind. Dafür wollen wir weiterhin Sorge tragen.
Ich bin für eine Verlängerung des Mandates. Ich wünsche unseren Soldatinnen und Soldaten im Einsatz viel
Erfolg, vor allem Gesundheit und Gottes Segen.
Herzlichen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/8090 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Tom
Koenigs, Kordula Schulz-Asche, Claudia Roth
({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Zivilgesellschaftliches Engagement braucht
Raum - Anti-NGO-Gesetze stoppen, Menschenrechtsverteidiger stärken
Drucksache 18/7908
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Interfraktionell sind für die Aussprache 25 Minuten
vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so
beschlossen.
Als erster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Kordula Schulz-Asche, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ban Kimoon, der Generalsekretär der Vereinten Nationen, hat es
aus meiner Sicht auf den Punkt gebracht. Er hat gesagt:
Demokratie ist das Produkt einer aktiven und lautstarken
Zivilgesellschaft. - Gerade als Mitglied des Unterausschusses „Bürgerschaftliches Engagement“ hier im Hause liegt mir sehr viel daran, in einem Land zu leben mit
einer Zivilgesellschaft, die hilft und unterstützt, ja, die
aber auch hinterfragt, polarisiert, Missstände anprangert
und Alternativen aufzeigt.
({0})
Deshalb stemmen wir uns auch gegen die weltweit zunehmende Behinderung der Zivilgesellschaft bei ihrer
Arbeit. Eingeschränkt wird der öffentliche Raum, der
sogenannte Open Space, in dem zivilgesellschaftliche
Organisationen arbeiten. Zu dieser Einschränkung gehört
die Registrierung bis hin zur detaillierten Berichterstattung. Ihre Finanzierung durch ausländische Geldgeber
wird beschränkt; das hat auch schon deutsche Stiftungen
getroffen.
Gesetze und Vorschriften werden oft unter Berufung
auf öffentliche Sicherheit und Ordnung missbraucht, um
die Zivilgesellschaft an ihrer demokratischen Wächterfunktion zu hindern, zum Beispiel im Kampf gegen Korruption. Anti-NGO-Gesetze werden derzeit weltweit in
mehr als 60 Ländern erlassen. Dieses Thema darf nicht
ein Thema von Expertinnen und Experten sein, sondern
es muss ein Thema für uns alle werden.
({1})
Wir wollen mit unserem Antrag darauf hinweisen:
Es ist ein menschenrechtliches Problem, und es ist ein
Problem, das häufig erst sehr spät erkannt wird. Warum?
Weil der Raum für die Zivilgesellschaft oft schleichend
eingeschränkt wird, zumindest zu Beginn, weil es innerhalb eines Staates an verschiedenen Stellen auftaucht,
beispielsweise in Parlamenten durch Anti-NGO-Gesetze
oder in Ämtern und Behörden durch die Änderung der
Verwaltungspraxis, und weil es in ganz verschiedenen
Staatsformen auftaucht, nicht nur in autokratischen Regimen, sondern auch in demokratischen, und das in allen
Regionen der Welt, im Süden wie im Norden, in so unterschiedlichen Ländern wie Ägypten, Bolivien, China,
Israel, Indien und Russland.
Auch bei uns, meine Damen und Herren, muss sich
die Zivilgesellschaft immer wieder neu behaupten. So
kämpft Attac derzeit vor Gericht gegen den Entzug des
Status der Gemeinnützigkeit wegen des Vorwurfs, man
mische sich zu sehr in die Tagespolitik ein.
Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Natürlich gibt
es gerade aus menschenrechtlicher Sicht große Unterschiede im Umgang mit Engagierten, aber wir sollten im
Interesse der Menschenrechte und der Demokratisierung
überall genau hinsehen.
({2})
Es geht weltweit um die vielen kleinen, aber eben auch
um die sehr großen und starken Versuche des Verkomplizierens, Diffamierens, Behinderns und Kriminalisierens
von zivilgesellschaftlichem Engagement. Diese Prozesse
zu entlarven und sich zu solidarisieren, ist Aufgabe aller
Demokraten weltweit, und das wollen wir mit unserem
Antrag unterstützen.
({3})
CIVICUS, eine Organisation für Bürgerbeteiligung
im globalen Maßstab, hat allein für das Jahr 2014 fast
100 signifikante Einschränkungen der Zivilgesellschaft
dokumentiert. In unserem Antrag „Zivilgesellschaftliches Engagement braucht Raum“, den wir hier vorgelegt
haben, machen wir konkrete Vorschläge, wie diese Einschränkungen bekämpft werden können.
Auch wenn ich weiß, dass es in dieser Wahlperiode
manchmal sehr schwer ist, fraktionsübergreifende Anträge zustande zu bekommen, finde ich, dass dies ein Thema
ist, das dies wert ist, und ich würde mich freuen, wenn
Sie unserem Antrag zustimmen.
Danke schön.
({4})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Dr. Bernd Fabritius, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Mit dem Antrag, den wir heute debattieren,
Vizepräsident Peter Hintze
greifen die Grünen ein nicht ganz neues Thema auf. Die
Beschränkung der Zivilgesellschaft in immer mehr Staaten fordert von der Weltgemeinschaft, von Europa und
von Deutschland engagierte Maßnahmen, um diesem bedauerlichen Trend entgegenzuwirken, wo immer es geht.
Die Bundesregierung berücksichtigt dies in ihrer
täglichen Arbeit. Ich bin Ihnen, liebe Kolleginnen und
Kollegen von den Grünen, dennoch dankbar für die Einbringung des Antrags; denn es lohnt sich vielleicht, in
diesem Hohen Haus erneut über solche Entwicklungen
zu sprechen. Es lohnt sich ebenso, über Grenzen des eigenen Handlungsspielraums nachzudenken, denen man
bei diesem Thema bedauerlicherweise begegnet.
Der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama rief
1992 nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und
des Kommunismus sein berühmt gewordenes „Ende der
Geschichte“ aus, womit er die Hoffnung auf den weltweiten Siegeszug der Demokratie weiter nährte. Nur
24 Jahre danach müssen wir jedoch feststellen, dass
eine „decade of decline“ hinter uns liegt, wie der jüngste
Bericht von Freedom House die zurückliegenden Jahre
treffend bezeichnet. Einfach ausgedrückt sind damit sowohl der teilweise Rückzug der Demokratie als auch ihre
abnehmende Qualität gemeint, die in einer ganzen Reihe
von Ländern zu beobachten sind und die uns in den internationalen Fachgremien tagaus, tagein beschäftigen. Wir
alle kennen die prominenten Beispiele: Es sind die üblichen Verdächtigen. Der Antrag listet einige von ihnen
auf. Sie, Frau Kollegin Schulz-Asche, haben zu Recht
weitere genannt.
Die „decade of decline“ bzw. der „shrinking space“
für zivilgesellschaftliches Handeln, um den Begriff des
UN-Sonderberichterstatters Maina Kiai zu verwenden,
hat vor vielen weiteren Ländern - unter ihnen durchaus auch Demokratien - nicht Halt gemacht. Da wurden
Wahlen manipuliert, Wähler eingeschüchtert, Medien
drangsaliert, die staatliche Propaganda ausgeweitet, Bürgerrechte missachtet sowie NGOs stigmatisiert und mit
speziellen, darauf zugeschnittenen Gesetzen gebrandmarkt. Machthaber versuchen, ihre Amtszeit auf teils
fragwürdige, teils eindeutig illegale Weise bis in die
Ewigkeit zu verlängern. Menschenrechtsverteidiger werden inhaftiert oder verschwinden einfach spurlos.
Solche Repressionen und Vorgehensweisen gab es
leider schon immer. Was uns besonders besorgt, ist die
Tatsache, dass sie nach einer Phase der relativen Demokratieausbreitung in den 90er-Jahren seit einiger Zeit
wieder spürbar zunehmen. Sicher ist es kein Zufall, dass
dieser Anstieg genau in dem Jahrzehnt stattfand, in dem
das Internet der breiten Masse der Menschheit zugänglich wurde. Das Internet bot dieser eine ganz neue Form
der Kommunikation und der Beteiligung sowie der Information. Die Menschen konnten plötzlich direkt und
unmittelbar feststellen, welche Möglichkeiten es in anderen Ländern gibt: Man kann seine Regierung friedlich
abwählen, frei seine Meinung sagen, seine Religion ausüben, man hat individuelle Rechte, auch gegenüber dem
eigenen Staat, und kann diese einklagen und vieles mehr.
Dies führt zu einem neuen Selbstbewusstsein der
Menschen. Sie fordern ihre Rechte ein und damit ihre
alten Eliten heraus. Sie gehen auf die Straße und wollen gehört werden. Bei den Machthabern führt dies zu
den bereits genannten Gegenreaktionen. Rund um den
Globus sehen viele von ihnen ihre Macht und damit sich
selbst in Gefahr. Sie können mit der informationellen
Freiheit, die so viele aus ihrer Sicht unerwünschte Gedanken und Ideen ins Land spülen, nicht umgehen. Sie
reagieren deshalb über, manchmal im Affekt, oft wohlüberlegt. Es geht ihnen schlicht und ergreifend um sich
selbst, um eigene Interessen. Im Extremfall führt dies
zu schweren Konflikten oder Kriegen mit vielen Toten,
wie in der Ukraine oder beim sogenannten Arabischen
Frühling, übrigens auch in Syrien. Auch wenn diese Fälle
selbstverständlich unterschiedlich gelagert sind: Alle drei
begannen mit dem friedlichen Aufbegehren der Bürger
für mehr Demokratie und Freiheit.
Was aber bedeutet das für uns? Auch wenn wir zu
Recht stolz darauf sein können, dass Deutschland im
Freedom-House-Index einen der vordersten Plätze belegt, kann und darf uns der Raumverlust für die Zivilgesellschaft in vielen Teilen der restlichen Welt gewiss
nicht gleichgültig sein. Das gilt zuerst aus rein menschlichen, humanitären Gründen, aber auch aus ganz praktischen Erwägungen, wie wir angesichts der weltweiten
Flüchtlingsströme erleben müssen: Neben Kriegen und
Armut sind gerade staatliche Repressionen eine gewichtige Fluchtursache.
Was sollen und können wir also tun? Die Bundesregierung setzt sich in allen Foren und Gremien, deren Mitglied sie ist, für Menschenrechte und deren Verteidiger
ein. Sie thematisiert die Einschränkung des zivilgesellschaftlichen Raumes, wo immer es nötig ist. Selbstverständlich tritt die Bundesregierung nachdrücklich für die
Umsetzung der EU-Leitlinien für Menschenrechtsverteidiger ein, wie auch für die entsprechenden Leitlinien
der OSZE. Darüber hinaus unterstützt sie die Arbeit des
UN-Sonderberichterstatters für Menschenrechtsverteidiger. Der Schutz und die Unterstützung von Menschenrechtsverteidigern sind ein Schwerpunkt der Projektförderung von Auswärtigem Amt und BMZ. Mit regelmäßig
veranstalteten Regionalkonferenzen für Menschenrechtsverteidiger fördern die deutschen Auslandsvertretungen
gezielt die internationale Vernetzung der Zivilgesellschaft und den intergesellschaftlichen Dialog. Die Möglichkeiten zum Schutz von Menschenrechtsverteidigern
sind also vielfältig. Die Bundesregierung nutzt diese alle
sehr engagiert und nachhaltig. Das heißt natürlich nicht,
dass alles in bester Ordnung ist und wir uns gemütlich
zurücklehnen können. Machthaber lassen sich immer
neue Repressalien einfallen, mit denen unliebsame Akteure in ihrer Zivilgesellschaft drangsaliert werden. Dem
gilt es entgegenzuwirken.
Eines ist Ihnen sicher aufgefallen: Alle Maßnahmen,
die die Bundesregierung bereits ergreift und die ich in Erinnerung gerufen habe, stehen so oder so ähnlich erneut
im heute vorliegenden Antrag der Grünen. Auch stand
vieles von dem, was die Grünen heute fordern, bereits in
einem Antrag, den der Bundestag mit Zustimmung der
Koalitionsfraktionen im vergangenen Dezember verabschiedet hat. Dem haben damals sogar die Grünen zugestimmt; bis heute haben sie dies vermutlich vergessen.
Lassen Sie mich einen weiteren Punkt ansprechen,
der die Grenzen eines solchen Antrages aufzeigt. Wenn
es um antidemokratische Tendenzen und die Einschränkung des zivilgesellschaftlichen Raums in anderen Ländern geht, müssen wir realistischerweise einsehen, dass
unser Einfluss an Grenzen stößt. Es handelt sich bei den
betroffenen Ländern immer noch um unabhängige souveräne Staaten. Ich habe in dieser Debatte bisweilen das
Gefühl, dass der eine oder andere das im Eifer des Gefechts ein bisschen übersieht. Bereits der Titel des Antrages „Anti-NGO-Gesetze stoppen“ suggeriert nämlich,
die Bundesregierung oder der Bundestag könne einfach
so daherkommen und in die Gesetzgebung anderer Länder eingreifen, diese steuern oder gar stoppen. Deshalb
kann dieser Antrag maximal dafür herhalten, das Thema
nochmals als Debatte in den Bundestag einzubringen das hat er erfüllt -, für viel mehr aber nicht.
Der weltweite Einsatz sowohl der Bundesregierung
als auch der anderen einschlägigen Gremien zeigt Erfolge. Lassen Sie mich daher zum Abschluss den Blick auf
positive Beispiele der letzten Zeit richten. In Myanmar,
das jahrzehntelang zu den repressivsten Ländern überhaupt gehörte, konnte die oppositionelle NLD um Aung
San Suu Kyi einen beeindruckenden Wahlsieg erreichen.
Auch wenn aus menschenrechtlicher Sicht längst nicht
alle Probleme gelöst sind - ich denke dabei vor allem an
die Minderheitenpolitik -, ist ein friedlicher Wandel, der
Mut macht, dort in vollem Gange. Die Bürger des von
Repressionen und Misswirtschaft heimgesuchten Venezuela stimmten trotz Drohungen und Einschüchterungen
für die Opposition und verhalfen dieser zu einer Zweidrittelmehrheit im Parlament, mit der sich Präsident Maduro
nun auseinandersetzen muss. In Nigeria ist es das erste
Mal überhaupt gelungen, durch Wahlen einen friedlichen
Regierungswechsel herbeizuführen. - Vielleicht können
wir aus diesen Beispielen etwas lernen. Ich wünsche mir,
dass es diesen und anderen Ländern gelingt, den positiven Trend zu verstetigen. Dabei sollten wir Hilfe leisten,
soweit es in unserer Macht steht.
Danke.
({0})
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Annette Groth, Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Zuhörerinnen und Zuhörer auf der Tribüne! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben es schon gehört: In vielen, vielen Ländern,
mindestens über 60, sind die Rechte von NGOs und
Menschenrechtsverteidigerinnen und Menschenrechtsverteidigern - auch das steht in der Überschrift: Menschenrechtsverteidiger stärken - massiv beschnitten. Die
über missliebige NGOs verhängten Maßnahmen reichen
von einem Verbot dieser Organisationen über Gefängnisstrafen bis hin zum Entzug der Staatsangehörigkeit, zum
Beispiel in Bahrain.
Man muss aber auch sagen, dass insbesondere aus
dem Westen finanzierte NGOs in einigen Ländern keine
gute Rolle gespielt haben. Am 13. Dezember 2013 erklärte die zuständige Abteilungsleiterin des US-Außenministeriums, Victoria Nuland, die US-Regierung habe
seit 1991 rund 5 Milliarden Dollar für eine wohlhabende
und demokratische Ukraine investiert. Dies ist eines von
vielen Beispielen für den Missbrauch von sogenannter
Demokratieförderung, die manchmal auch auf einen Regierungswechsel abzielt. Wir alle wissen, wie es heute in
der Ukraine, im Irak oder in anderen Ländern aussieht.
({0})
- Das kommt noch; Russland kommt auch. - Es ist höchst
bedauerlich, dass unter der Instrumentalisierung einiger
NGOs für politische Zwecke viele Menschenrechtsverteidiger und -verteidigerinnen leiden.
({1})
Ein Beispiel für die Verfolgung von NGOs ist Ägypten. Dort werden seit vielen Jahren Aktivisten und Aktivistinnen und NGOs, die sich für Menschenrechte einsetzen, massiv bedroht und häufig gewaltsam an ihrer
Arbeit gehindert. Viele von Ihnen werden sich erinnern,
dass 2013 43 Mitglieder ausländischer NGOs verurteilt
wurden. Das El-Nadeem-Zentrum für die Rehabilitierung von Folteropfern, das ich 2012 selbst besucht habe,
ist derzeit von Schließung bedroht. Die Mitarbeiter und
Mitarbeiterinnen dieser international hoch geschätzten
einzigen Anlaufstelle für Folteropfer leisten dort seit
1993 eine hervorragende Arbeit.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie im Antrag der
Grünen richtig erwähnt wird, wächst auch in Israel seit
Jahren der Druck auf die Friedensbewegung und auf
NGOs, die gegen Menschenrechtsverletzungen kämpfen. Die Organisation Breaking the Silence, selbst von
Armeeangehörigen gegründet, macht von Soldaten und
Soldatinnen begangene Verbrechen bekannt. Diese international hoch angesehene NGO wird jetzt von der israelischen Regierung als Verräter bezeichnet und ist vom
Verbot bedroht. Es läuft zurzeit eine internationale Kampagne, um diese Menschen zu schützen.
({3})
Seit Monaten läuft eine von Justizministerin Shaked initiierte Kampagne gegen ausländische NGOs. Das Kabinett hat im letzten Dezember ein Gesetz beschlossen, das
aus dem Ausland finanzierte NGOs verpflichtet, immer
ihre Geldgeber anzugeben. Mehrere israelische Medien
sprachen damals von einem Gesetz à la Putin. Natürlich
müssen auch Russland und China kritisiert werden, weil
auch dort der Umgang mit NGOs und Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidigern nicht doll ist.
({4})
Die Aussage des Antrags, dass die Behinderung und
Einschränkung von NGOs keineswegs nur Praxis von autoritären oder diktatorischen Regimes, sondern auch von
demokratischen Staaten ist, trifft zu. Anzumerken seien
hier zum Beispiel die restriktiven Mediengesetze und die
massive Einschüchterung von NGOs in der Türkei, in Ungarn und Polen. Leider fehlt in dem Antrag eine Erwähnung des 2009 in Deutschland eingeführten § 51 Absatz 3
Abgabenordnung, der dazu dient, missliebigen NGOs die
Gemeinnützigkeit zu verweigern. Ein Beispiel hierfür ist
die Vereinigung der Verfolgten des Nazire gimes, bei der
zurzeit auch die Gefahr besteht, dass ihr die Gemeinnützigkeit aberkannt wird. Das wäre schrecklich.
Frau Kollegin, es ist so, dass Ihre Redezeit weit überschritten ist.
Ich entschuldige mich.
Danke schön.
({0})
Als letztem Redner in der Aussprache erteile ich das
Wort dem Abgeordneten Frank Schwabe, SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Es ist in der Tat das Verdienst
der Grünen, dieses Thema erneut und so explizit auf die
Tagesordnung gesetzt zu haben, wohl wissend, dass wir
uns mit Grundfragen von Menschenrechtsverteidigern
schon Ende des letzten Jahres beschäftigt haben und dies
ein Schwerpunktthema ist, auch im Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe.
Dass sich NGOs, also Nichtregierungsorganisationen,
und die Zivilgesellschaft in einer Demokratie entfalten
können, ist grundlegend für die Demokratie wie die Luft
zum Atmen. Frau Kollegin Schulz-Asche hat CIVICUS
schon zitiert und erwähnt, dass festgestellt wurde, dass
es allein zwischen dem Sommer 2014 und dem Sommer 2015 weltweit 96 Eingriffe in die Rechte solcher
Nichtregierungsorganisationen gegeben hat.
Ich will kurz aus dem Antrag, der Ende letzten Jahres verabschiedet worden ist - der Kollege Fabritius hat
das schon erwähnt -, zitieren, damit klar wird: Es ist ein
Konsens im Deutschen Bundestag, sich um solche Fragen zu kümmern, wie auch immer wir mit dem grünen
Antrag umgehen. - Ich zitiere aus dem Antrag:
In immer mehr Staaten werden zivilgesellschaftliche Spielräume systematisch eingeschränkt und
damit auch die Handlungsmöglichkeiten von Menschenrechtsverteidigern. Der Deutsche Bundestag
sieht mit wachsender Sorge, dass sich diese Entwicklung in den vergangenen Jahren verstärkt hat.
Das haben wir hier fraktionsübergreifend beschlossen.
Deshalb ist es so wichtig, dass wir uns weltweit, aber
natürlich auch im eigenen Land, jedem Versuch entgegenstellen, die Zivilgesellschaft zu drangsalieren und
Menschenrechtsorganisationen, Journalisten und auch
Satirikern über den Mund zu fahren und sie mundtot zu
machen. Rede-, Presse- und Meinungsfreiheit sind die
Selbstversicherung für jede Demokratie.
({0})
Nach dem aktuellen Index von Freedom House - auch
das ist gerade schon erwähnt worden - ist es in den letzten zehn Jahren in sage und schreibe 105 Ländern, also
der Mehrheit der Länder auf der Welt, zu Rückschritten
bei den bürgerlichen und politischen Rechten gekommen. Nun kann sich hier in der Tat jeder seine Rosinen
herauspicken. Ich versuche - vielleicht gelingt es mir
nicht immer -, das nicht zu tun. Das kann man auch
lassen; denn wenn man sich diese 105 Länder einmal
anguckt, dann sieht man Länder mit Regierungen jeder
politischen Richtung. Manche Länder haben rechte Regierungen, andere linke. Egal welche religiöse Ausrichtung in einem Land vorherrscht: In allen Teilen der Welt
hat es eine solche Gesetzgebung gegeben. Es tut mir ganz
schrecklich leid, aber es ist nun einmal so: Als eine Art
negativer Vorreiter ist Russland anzusehen, das mit der
Klassifizierung von NGOs als ausländische Agenten leider einen negativen Trend für andere Länder gesetzt hat.
Ohne die einzelnen Länder miteinander vergleichen zu
wollen, könnte man diese Liste lange fortsetzen.
Behinderungen gibt es in ganz unterschiedlicher Ausprägung: Es gibt schikanöse Finanzkontrollen - NGOs
werden plötzlich daraufhin überprüft, ob sie ihre Finanzgeschäfte ordentlich abwickeln -, es gibt Einschüchterungen und Diffamierungen, und es gibt Überwachungen bis hin zu Kriminalisierungen, sodass Menschen am
Ende im Gefängnis landen. Solche besonderen Gesetze
gibt es zum Beispiel in China, in Indien, der größten Demokratie der Welt, in Ägypten und in Ecuador. Vor kurzem durfte eine Delegation des Deutschen Bundestages
abermals nicht in Ecuador einreisen, weil sie sich dort
mit kritischen Aktivisten, unter anderem den Yasunidos,
treffen wollte. Solche Gesetze gibt es aber auch in Israel,
wo B’Tselem, Breaking the Silence und Al-Haq aktuell
Probleme haben. In den palästinensischen Gebieten ist
es nicht besser - ganz im Gegenteil -, und leider kommt
das auch in Ländern der Europäischen Union vor. In Ungarn hat Ministerpräsident Orban von „gekauften politischen Aktivisten“ geredet, und im Jahr 2014 hat es dort
bei 49 Nichtregierungsorganisationen Finanzprüfungen
gegeben.
Was passiert hier eigentlich weltweit? Der Kollege
Fabritius hat ja auch die positiven Entwicklungen genannt. In der Tat hat sich die Zahl der Demokratien seit
1970 stark entwickelt. Man kann sagen, dass sie wie Pilze aus dem Boden geschossen sind. 1970 gab es 35 Demokratien, heute sind es 110. Myanmar ist ein aktuelles,
von Ihnen benanntes positives Beispiel.
Es gibt eine spannende Studie des German Institute
of Global and Area Studies, GIGA, auf die, glaube ich,
schon hingewiesen worden ist, in der analysiert wird, was
der Hintergrund dafür sein könnte, dass es in den letzten
zehn Jahren in so vielen Ländern der Welt solche restrikAnnette Groth
tiven Gesetzgebungen gegeben hat. Das hat wohl etwas
mit der Angst vor Veränderungen zu tun, die es gegeben
hat oder die es vielleicht geben könnte, zum Beispiel die
Angst vor einem Regimewechsel, nicht nur rund um den
Arabischen Frühling. Das hat auch mit einer gewandelten Protestkultur zu tun, die soziale Netzwerke nutzt, wo
viele Regierungen nicht wissen, wie sie damit umgehen
sollen. Es gibt eine Debatte über Terrorabwehr, in deren
Rahmen leider auch gestandene Demokratien problematische Gesetze auf den Weg gebracht haben. Aktuell gibt
es populistische Abwehrreaktionen im Zusammenhang
mit der Flüchtlingsdebatte, und - ich glaube, das gehört
auch dazu - wir haben eine wachsende soziale Spaltung
in vielen Gesellschaften der Welt, die dazu führt, dass
Menschen weniger an der gesellschaftlichen Entwicklung teilhaben, wodurch der Raum für gesellschaftliches
Engagement geringer wird.
Im Antrag der Grünen finden sich viele richtige und
vernünftige Forderungen. Eine ganze Reihe der Forderungen - man könnte sie einzeln aufzählen - sind im letzten Jahr schon umgesetzt worden. Wenn man die Anträge
übereinanderlegen würde, würde man viele Gemeinsamkeiten finden.
Zwei Dinge, die wir alle uns zu Herzen nehmen müssen, will ich noch ansprechen:
Erstens. Es kann keinen Kontakt mit einem Land geben, in dem es zu solchen Entwicklungen gekommen ist,
ohne dass dies thematisiert wird. Wir werden die Gesetzgebung dort nicht verändern können; aber wir können
den Finger in die Wunde legen und die Dinge offen ansprechen.
Zweitens. Wir müssen uns noch mehr darüber im Klaren sein, dass wir bei allen Kooperationen, die wir gerade in der Entwicklungszusammenarbeit eingehen, den
Schwerpunkt darauf legen müssen, die demokratischen,
rechtsstaatlichen und menschenrechtlichen Werte in den
Mittelpunkt einer solchen Zusammenarbeit zu stellen.
Ich glaube, da müssen wir uns immer wieder überprüfen.
Ich habe noch 30 Sekunden für den ultimativen Werbeblock. Ich kann es nur immer wieder sagen: Wir haben
ein tolles Programm. Dabei geht es nicht um die Gesetzgebung gegenüber Nichtregierungsorganisationen, aber
um den Schutz von Menschenrechtsverteidigern. Das
hängt eng miteinander zusammen. Wir haben ein Programm, das weltweit Beachtung findet, allerdings nicht
genug bei allen Kolleginnen und Kollegen hier im Deutschen Bundestag, nämlich das Programm „Parlamentarier schützen Parlamentarier“ oder auch: Parlamentarier
schützen Menschenrechtsverteidiger. Ich habe nachgesehen: Aktuell machen 50 Kolleginnen und Kollegen bei
diesem Programm mit. Sie haben Patenschaften für Menschen, die in vielen Ländern der Welt bedroht sind,
übernommen. Ich will ausdrücklich dazu auffordern,
mitzumachen. Angesichts der 630 Abgeordneten hier im
Deutschen Bundestag ist da noch Spielraum.
({1})
Ich will ausdrücklich die loben, die das machen, und die
anderen bitten - ein paar sind ja auch unter uns -, sich
das zu Herzen zu nehmen. Guckt euch das an! Wenn jemand keine Fantasie hat, wen man da aufnehmen könnte:
Wir haben immer gute Ideen.
Vielen Dank. Glück auf!
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/7908 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der durch die Europäische Union geführten Operation EU NAVFOR
Atalanta zur Bekämpfung der Piraterie vor
der Küste Somalias auf Grundlage des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen ({0}) von 1982 und der Resolutionen 1814
({1}) vom 15. Mai 2008 und weiterer Resolutionen, zuletzt 2246 ({2}) vom 10. November 2015 und nachfolgender Resolutionen des
Sicherheitsrates der VN in Verbindung mit
der Gemeinsamen Aktion 2008/851/GASP
des Rates der Europäischen Union ({3}) vom
10. November 2008, dem Beschluss 2009/907/
GASP des Rates der EU vom 8. Dezember
2009 und weiterer Beschlüsse, zuletzt dem
Beschluss 2014/827/GASP vom 21. November
Drucksache 18/8091
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({4})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat für die
Bundesregierung der Parlamentarische Staatssekretär
Dr. Ralf Brauksiepe.
({5})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
gibt aus guten Gründen in unserem Land klare Regelungen für den Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte in
anderen Ländern. Wir sind immer im Einsatz mit einer
internationalen Koalition und aufgrund von Beschlüssen
unseres Parlaments. Gleichwohl bewahren uns solche
Regelungen nicht grundsätzlich vor Enttäuschungen.
Aber wenn wir über die Fortsetzung der EU-geführten
Operation Atalanta am Horn von Afrika reden, wird man
sagen können und auch sagen müssen: Dies ist wirklich
eine Erfolgsgeschichte. Dies ist ein erfolgreicher Einsatz,
liebe Kolleginnen und Kollegen.
({0})
Allein im Jahr 2010 wurden vor der Küste Somalias
noch 367 Vorfälle von durchgeführten oder versuchten Überfällen gezählt. Seit dem Jahr 2012 hat es keine
Schiffsentführung mehr geben. Auch die Zahl der versuchten Raubüberfälle auf Handelsschiffe - letztmalig
vier im Jahr 2014 - ist auf null gesunken. Weniger als
null geht nicht. Erfolgreicher als eine Reduzierung auf
null kann ein Mandat nicht sein, wie wir es hier erreicht
haben, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({1})
Seit Beginn der Operation konnten insgesamt 478 Schiffe des Welternährungsprogramms und 422 Schiffe der
Mission der Afrikanischen Union in Somalia, AMISOM,
sicher ihren Bestimmungsort erreichen.
Die Operation Atalanta ist zweifelsohne ein entscheidender Faktor für die Eindämmung der Piraterie am Horn
von Afrika, wenn auch nicht der alleinige Grund für den
Erfolg. Auch Maßnahmen der zivilen Schifffahrt und die
Kooperation aller Akteure haben dazu beigetragen. Auf
der anderen Seite haben wir es in Somalia selbst weiterhin mit fragilen staatlichen Strukturen zu tun. Eine
nachhaltige und umfassende militärische Stabilisierung
des Landes durch die Regierung und mit Hilfe internationaler Partner ist weiterhin eine zentrale Herausforderung.
Weiterhin sind rund 20 Prozent der Gesamtbevölkerung
in Somalia auf der Flucht.
Der heute zu beratende Mandatsentwurf muss im
Kontext des deutschen und europäischen Gesamtengagements in Somalia gesehen werden. Die Ursachen der Piraterie liegen in erster Linie im weitreichenden Zerfall
von Staat und Gesellschaft in Somalia. Dieser ist vor allen Dingen auf die Abwesenheit funktionierender Sicherheitsstrukturen in weiten Teilen des Landes zurückzuführen. Auf der anderen Seite dürfen die Erfolgszahlen der
Operation Atalanta nicht darüber hinwegtäuschen, dass
die für die Piraterie verantwortlichen kriminellen Netzwerke an Land weiterhin intakt und in der Lage sind, die
Sicherheit der Schifffahrtswege am Horn von Afrika zu
bedrohen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, niemand wird als
Pirat geboren, niemand ist zur Piraterie veranlagt. Wenn
Menschen zu solchen kriminellen Akten greifen, hat das
etwas mit den Schwierigkeiten im Land zu tun, mit dem
Mangel an Perspektiven für legale Beschäftigung und
für legalen Wohlstandserwerb. Das ist und bleibt eine
ganz zentrale Herausforderung in dieser Region, insbesondere in Somalia. Deswegen kann aus unserer Sicht
der Wiederaufbau des Landes nur durch den Einsatz
verschiedener Instrumente der Außen-, Sicherheits- und
Entwicklungspolitik gelingen. Dies ist ein bewährter Ansatz der Bundesregierung. Das Auswärtige Amt und das
Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung stehen gemeinsam mit dem Bundesministerium der Verteidigung für diesen Ansatz.
Im sogenannten Strategischen Rahmen für das Horn
von Afrika der EU werden zahlreiche Aktivitäten ziviler
und militärischer Art ganzheitlich erfasst. Hierzu zählen
neben der Operation Atalanta auch die Mission EUCAP
NESTOR und die europäische Ausbildungsmission
EUTM Somalia.
Wir stimmen mit Blick auf Atalanta mit unseren Partnern in der EU in der Bewertung überein, dass die anhaltend niedrige Bedrohung durch die Piraterie einen
Einstieg in den Ausstieg und eine schrittweise Reduzierung der eingesetzten Kräfte ermöglicht. Gleichzeitig ist
die Operation fähig und muss fähig sein, bei einer sich
verschlechternden Sicherheitslage auch schnell wieder
aufzuwachsen.
Vor dem Hintergrund der strategischen Überprüfung,
aber auch im Hinblick auf das deutsche maritime Engagement in anderen Missionen und Operationen soll
deshalb die Beteiligung an der Operation Atalanta bis
zum 31. Mai 2017 mit einer reduzierten personellen
Obergrenze von 600 Soldatinnen und Soldaten fortgesetzt werden. Das bedeutet, dass wir zum dritten Mal
in Folge die Obergrenze des einzusetzenden Personals
absenken. Das heißt, wir haben nicht nur Erfolge bei
der Bekämpfung der Piraterie erreicht, sondern reagieren auch darauf. Wir bleiben nicht starr hinsichtlich der
Obergrenze, sondern reduzieren auch, wo es militärisch
und politisch verantwortbar ist. Gleichwohl sind wir in
der Lage, angemessen auf Lageveränderungen zu reagieren. Damit können wir der EU einen verlässlichen deutschen Beitrag anzeigen.
Das Mandat beinhaltet wie bisher im Kern die Schutzleistungen für Schiffe im Auftrag der Mission AMISOM
und des Welternährungsprogramms sowie die Überwachung der Seegebiete vor und an der Küste Somalias zur
Abwehr und zur Abschreckung seeräuberischer Handlungen. Das Mandat sieht aber ausdrücklich auch die
Unterstützung für andere EU-Instrumente am Horn von
Afrika im Rahmen freier Kapazitäten vor. Damit kommt
die Einbindung der Operation Atalanta in den umfassenden Ansatz der EU am Horn von Afrika zum Ausdruck.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die durch uns zum
Einsatz gebrachten Fähigkeiten leisten einen wichtigen
Beitrag für die Zukunft der Menschen in Somalia und zur
Stabilisierung des Landes. Wir sind diesen Weg in den
letzten Jahren erfolgreich gegangen. Wir tun gut daran,
auf Erfolge, die erzielt worden sind, mit der Reduzierung
der Personalobergrenze zu reagieren. Wir tun aber auch
gut daran, diesen erfolgreichen Weg fortzusetzen. Das
haben die Soldatinnen und Soldaten verdient. Deshalb
bitte ich um die Unterstützung des Hauses.
Herzlichen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({2})
Als nächstem Redner erteile ich dem Abgeordneten
Dr. Alexander Neu, Fraktion Die Linke, das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Die EU-Militärmission Atalanta begann
2008; sie läuft also nunmehr seit acht Jahren. Diese Mission ist ein weiteres Beispiel für nicht enden wollende
Militäroperationen. Ja, die Bundesregierung bemüht
sich, eine Transitionsstrategie in der EU durchzubringen, eine Exitperspektive für Atalanta aufzuzeigen. Das
läuft wahrscheinlich so wie in Afghanistan: Einstieg in
den Ausstieg, dann doch kein Ausstieg. Dann wird das
Personal wieder erhöht. - Ich würde sagen, dass sich hier
alter Wein in neuen Schläuchen andeutet. Es gibt nur ein
neues Etikett für das Weiter-so.
Jährlich hören wir dieselben Argumente für die Notwendigkeit der Verlängerung der Operation Atalanta.
Jährlich hören wir Hinweise auf die Wichtigkeit der deutschen Beteiligung an Atalanta. Und jährlich zahlen wir
alle, auch Sie auf der Besuchertribüne, 50 Millionen bis
60 Millionen für Atalanta. Mit Erfolg? Vordergründig ja,
({0})
mittel- und langfristig nein. Ja, die Zahl der Piratenüberfälle ist in den letzten Jahren auf null gesunken, und nein;
denn wenn Atalanta heute beendet würde, würde die Piraterie morgen wieder losgehen, weil die wirklichen Ursachen, das soziale Elend, nicht bekämpft werden.
({1})
Warum wird das soziale Elend nicht bekämpft? Warum geht man das nicht an? Warum baut man nicht
einen ehrlichen Staat jenseits von Polizei und militärischen Maßnahmen auf? Warum findet keine ernsthafte
ökonomische Entwicklung Somalias jenseits neoliberaler Konzepte statt? Warum läuft der New Deal Compact
für Somalia so schleppend? Warum gibt es nicht mehr
Engagement Deutschlands und der EU jenseits des militärischen Engagements? Aber wenn Sie schon der Auffassung sind, dass das Militär so wichtig ist, und fast ausschließlich darauf gesetzt wird, warum bekämpfen Sie
dann nicht die illegalen Fischfangflotten im somalischen
Hoheitsgebiet? Warum lassen Sie diesen Flotten, die das
Meer dort leerfischen, freien Lauf?
({2})
Zur Klarstellung: Atalanta bekämpft Piraterie. Was ist
die Ursache der Piraterie? Die Ursache ist, dass internationale Fischfangflotten im somalischen Meer die Fischbestände leergefischt haben und somit die Fischer keine
Lebensgrundlage mehr haben. Die logische Konsequenz
wäre, die Ursache, das heißt die illegale Fischerei dort,
zu bekämpfen.
({3})
Aber Fehlanzeige. Atalanta bekämpft mitnichten die illegale Fischerei, sondern nur die zu Piraten mutierten
Fischer. Nicht die aktive Bekämpfung der illegalen Fischerei ist Bestandteil des Mandates und des Operationsplans, sondern nur das Sammeln und die Weitergabe von
Daten über Fischereiaktivitäten im Operationsgebiet. Die
Daten werden an die EU-Kommission und an die Vereinten Nationen weitergeleitet. Ich glaube, die internationalen Fischfangflotten sind massiv beeindruckt von so viel
Gegengewalt. Wahnsinn!
Aber warum ist der Unwille so groß, die illegale Fischerei im somalischen Meer zu stoppen? Drückt die EU
etwa alle Augen zu, wenn es um die Profitmaximierung
auch europäischer Fischfangflotten geht? Die Vermutung
der Kumpanei liegt nahe. Ein Bericht der US-Stiftung
One Earth Future von 2015 mit dem Titel „Somalia: Illegale ausländische Fischerei bedroht die Bestände und
kann Piraterie neu entfachen“ stellt fest - ich zitiere aus
einer übersetzten Fassung -:
Ausländische Fischereiboote verursachen einen
Fischbestandsabbau, Einkommensverlust für Somalis und Gewalt gegen die einheimischen Fischer.
Dieses Risiko verursacht lokale Unterstützung für
eine Rückkehr der Piraterie. Die Situation ist zu
dem, was es war, zurückgekehrt, mit einer großen
Anzahl von ausländischen Schiffen, die in somalischen Gewässern wieder raubfischen, und die Gefahr ist real, dass der Zyklus der Piraterie wieder
auflebt.
Sehr geehrte Damen und Herren, halten wir fest: Erstens kommt es wieder zu einer Zunahme der Raubfischerei mit faktischer Duldung von Atalanta und somit der
Europäer. Zweitens steigt die Gefahr erneuter Piraterie,
weil die Raubfischerei der Bevölkerung die Lebensgrundlage nimmt, und drittens führt das vermutlich zur
Flucht derjenigen, die dort keine Lebensgrundlage mehr
haben, in die EU bzw. nach Deutschland.
Fazit: Atalanta bekämpft bestenfalls die Symptome
der Piraterie, aber nicht die Ursachen. Sie ist schlimmstenfalls eine Kumpanei mit den Raubfischern aus den
EU-Staaten.
Resultat: Nach acht Jahren EU-Mission gibt es keine
Veränderung zum Besseren für die Menschen in Somalia. Nach acht Jahren deutscher Beteiligung sind rund
500 Millionen Euro der Steuerzahler verschwendet worden, die sicherlich besser für den sozialen Wohnungsbau
oder die Vermeidung von Altersarmut investiert worden
wären. Sie werden für eine Mission verschwendet, die
keinen Erfolg zeitigt.
Das zeigt einmal mehr, warum militärische Maßnahmen - besonders in Somalia - kontraproduktiv sind. Sie
können das erforderliche konkrete politische Handeln
nicht ersetzen. Militäreinsätze werden auf diese Weise zu
einem Selbstzweck degradiert.
Danke.
({4})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Josip Juratovic von der SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und
Herren! Kaum ein Land steht aus der europäischen Perspektive so sehr für das staatliche Scheitern wie Somalia.
Seit 25 Jahren beherrschen Bürgerkrieg und Konflikte
das Land am Horn von Afrika. Seitdem gibt es keine
funktionierende Regierung mehr, die das Land kontrollieren könnte. Für die Menschen in Somalia fehlt es an
lebensnotwendiger Infrastruktur. Kinder brauchen Schulen. Es gibt nicht genug Krankenhäuser und zu wenige
Straßen. Doch der somalische Staat ist nach fast zweieinhalb Jahrzehnten Bürgerkrieg kaum handlungsfähig.
Vertreter der somalischen Verwaltung sagen offen, dass
sie nicht in der Lage sind, flächendeckend Steuern zu erheben, geschweige denn für Sicherheit zu sorgen.
Entsprechend schlecht steht es auch um die somalische Politik. Das Mandat der aktuellen Regierung
endet im August. Voraussichtlich wird auch die Nachfolgeregierung wiederholt eine international eingesetzte Übergangsregierung sein. Echte freie Wahlen sind
nicht in Sicht. Währenddessen regieren im somalischen
Alltag Korruption und Kriminalität. Bei all dem ist die
Sicherheitslage frappierend. Journalisten werden verfolgt. Terror findet statt und findet nicht ausreichend
Gegenwehr. Die europäisch-amerikanisch finanzierten
AMISOM-Truppen der Afrikanischen Union, die gegen
die islamistische al-Schabab-Miliz kämpfen, werden von
der somalischen Bevölkerung eher als Besatzer wahrgenommen. Gleichzeitig greift al-Schabab immer wieder
AMISOM-Truppen an und verursacht hohe Verluste. Die
Folge ist klar: Hundertausende fliehen.
Zur ganzen Wahrheit gehört zum Glück aber auch ein
Hoffnungsschimmer mit positiver Perspektive. Es war in
Somalia früher noch schlimmer und geht nun langsam
aufwärts. Immer mehr Somalier kehren zurück. Sie versuchen ihr Glück in funktionierenden Wirtschaftsbereichen - sei es Telekommunikation oder Gastronomie und bauen ihr Land wieder auf. Ich habe einen Artikel
über Ahmed Jama, einen dieser Rückkehrer, gelesen.
Dieser Artikel macht Hoffnung:
Es gibt wieder Straßenbeleuchtung, es gibt überhaupt Straßen, eine Müllabfuhr, Strom, Internet. Es
gibt Geschäftsstraßen, Telekommunikationskonzerne, eine Bank, und bald soll das erste Mal ein
somalisches Fußballspiel live im Fernsehen gezeigt
werden.
Auch die internationalen Akteure tragen dazu bei,
dass es vorwärtsgeht. Die Internationale Organisation
für Migration finanziert und leitet das Aussteigerprogramm für al-Schabab-Mitglieder. Oft genug machen
junge Männer aus reiner wirtschaftlicher Verzweiflung
bei Terroristen mit. Sie kann man wieder für den friedlichen Weg gewinnen. Im nördlichen Teil Somalias, wo
al-Schabab nicht herrscht, ist die Situation besser als im
Süden. Hier kann man sich recht sicher bewegen, und das
kulturelle und soziale Leben entwickelt sich.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zwar gibt es
Pflänzchen der Hoffnung, aber sie sind sehr zart und
zerbrechlich. Deswegen ist es noch immer notwendig,
im Zusammenhang mit Somalia über ausländische Unterstützung - auch in Form militärischer Einsätze - zu
sprechen. Deutschland - gemeinsam mit der Europäischen Union - bemüht sich, im Rahmen der Mission
EUTM Somalia das somalische Militär durch Training
schlagkräftiger zu machen. Ebenso engagieren wir uns
in der zivilen Mission EUCAP NESTOR beim Aufbau
regionalen Wissens im Bereich der Sicherheit und des
Managements der Küstenregion. Leider gibt es dabei
Ernüchterung; denn der innere Zusammenhalt der nationalen Armee ist schwach, die Kooperation mit den Nachbarländern ebenso.
Dennoch ist für mich klar: Deutschland - in Gestalt
der Bundeswehr - soll sich am langen Weg der Ausbildung und des Aufbaus beteiligen. Ausbildungsmissionen
für Militär, Polizei und Behörden im Land sind wichtige
und notwendige Unterstützung für Somalia. Aber genauso gilt: Solange Somalia nicht selbst für Sicherheit sorgen kann, solange die Gefahr der Piraterie nicht vorüber
ist, darf die Bundeswehr zur Sicherheit der Seewege vor
Somalias Küste beitragen. Im Rahmen der EU-Mission
Atalanta schützen europäische Soldatinnen und Soldaten
die Sicherheitsinteressen Somalias und die Sicherheitsinteressen Europas.
An dieser Stelle möchte ich allen ein Kompliment
aussprechen, die auf hoher See gegen Piraterie vorgehen. Seit 2015 gab es keine Piratenangriffe mehr. Für
alle noch einmal zur Erinnerung: 2011 waren es noch
237 Angriffe. Unser Dank gilt daher den Soldatinnen und
Soldaten für ihren erfolgreichen Einsatz.
({0})
Gleichzeitig sende ich meine besten Wünsche für die
kommende Mandatszeit an die Missionsleitung; denn
seit März steht die Mission Atalanta unter deutscher Führung.
Wenn wir über Somalia reden, müssen wir vorausschauend und umfassend denken und handeln. Es geht
gleichzeitig um langfristigen zivilen und militärischen
Aufbau und mittelfristig um die Herstellung und Wahrung der Sicherheit. Ohne Sicherheit ist Aufbau nicht
möglich. Wir engagieren uns einerseits in der Mission
EUTM Somalia und EUCAP NESTOR für den Aufbau,
und solange es notwendig ist, engagieren wir uns in der
Mission Atalanta auch direkt für die Sicherheit. Eben
weil die Mission erfolgreich handelt, können wir die maximale Truppenstärke für die nächsten zwölf Monate von
990 auf 600 Personen reduzieren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zum Wohle der
Menschen Somalias und im Sinne der Sicherheit der internationalen Schifffahrt vor den Küsten Somalias werde
ich der Verlängerung der Mission Atalanta zustimmen.
Ich werbe dabei auch um Ihre Unterstützung.
Danke schön für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Doris Wagner, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Was hat unser Engagement am Horn von
Afrika eigentlich gebracht? Dieser Frage ist die EU in
den letzten Monaten wirklich sehr intensiv nachgegangen. Man muss sagen, dass die Bilanz eher ernüchternd
ist. Erstens hat sie festgestellt: Die Piraterie vor der Küste
von Somalia ist eben noch nicht endgültig bezwungen.
Zweitens sagt sie: Somalia braucht dringend viel mehr
internationale Unterstützung, um selbst für Sicherheit auf
See zu sorgen.
Das ist doch ein wirklich klarer Auftrag, noch intensiver hinzusehen und wirksamer zu helfen. Doch was tut
die Bundesregierung? Mit diesem Atalanta-Mandat sendet sie ein Signal des Rückzugs. Die Obergrenze für das
eingesetzte Personal wird um mehr als ein Drittel reduziert, und auf EU-Ebene hat sich die Bundesregierung erfolgreich dafür eingesetzt, die Mission in absehbarer Zeit
ganz zu beenden. Das politische Kalkül hinter diesem
Rückzug ist doch offensichtlich; denn was interessiert
die deutsche Öffentlichkeit schon das Horn von Afrika?
({0})
Viel beliebter macht sich die Bundesregierung natürlich damit, wenn sie die deutsche Marine zur Flüchtlingsabwehr ins Mittelmeer schickt. Das mag innenpolitisch
tatsächlich Punkte bringen;
({1})
aber außenpolitisch werden Sie damit Ihrer internationalen Verantwortung nicht gerecht.
({2})
Wir alle wissen: Atalanta bekämpft lediglich die
Symptome des Problems, die Ursachen der Piraterie bekämpft sie nicht. Der somalische Staat steht nach wie vor
auf wackligen Beinen. Staatliche Strukturen existieren
oft nur auf dem Papier. Regierung, Verwaltung und Justiz haben einen großen Mangel an Personal, an Geld und
an technischer Ausstattung. Polizei und Armee sind immer noch nicht in der Lage, terroristische Anschläge oder
gewaltsame Konflikte zu verhindern. Fast 5 Millionen
Menschen sind auf humanitäre Versorgung von außen
angewiesen.
Also: Es handelt sich um einen schwachen Rechtsstaat, gepaart mit großer Armut und wirtschaftlicher
Perspektivlosigkeit. Da braucht man wirklich keine Kristallkugel, um vorherzusagen, dass die Piraterie wieder
auflebt, sobald das letzte EU-Marineschiff am Horizont
verschwunden ist. Dafür haben wir dann die Soldatinnen
und Soldaten der Bundeswehr jahrelang ans Horn von
Afrika geschickt? Meine Damen und Herren, eine sinnvolle Außen- und Sicherheitspolitik sieht in meinen Augen anders aus.
({3})
Bevor wir unsere Schiffe abziehen, müssen wir es
doch schaffen, in Somalia eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung in Gang zu bringen. Nur dann entziehen
wir der Piraterie wirklich den Boden, nur dann gibt es
auch eine stabile somalische Regierung. Den wichtigsten
Ansatzpunkt für eine solche wirtschaftliche Entwicklung
bietet doch das Meer. Deshalb müssen wir unser Engagement vor der Küste Somalias doch eher verstärken.
Die Gelegenheit dazu bietet sich bereits seit vier Jahren mit der zivilen Mission EUCAP NESTOR. Die Aufgabe von EUCAP NESTOR ist es, Somalia beim Aufbau einer wirksamen Küstenwache zu unterstützen. Eine
funktionierende Küstenwache ist für Somalia von enormer Bedeutung, um vor allem gegen illegale Fischerei
vorzugehen - da teile ich Ihre Problemeinschätzung -,
denn drei Viertel aller Fische, die vor der somalischen
Küste gefangen werden, landen in Netzen ausländischer
Fischer ohne Lizenz. Die Fischbestände vor der Küste
sind durch Überfischung gefährdet. Das alles muss beendet werden, wenn Somalia eine wirtschaftliche Zukunft
haben soll.
Somalia braucht also dringend eine wirksame Küstenwache. Doch leider konnte EUCAP NESTOR dabei
bislang keine große Hilfe sein; denn die Mission leidet
unter einem eklatanten Mangel an Personal und Material, und daran trägt die Bundesregierung eine Mitschuld.
Berlin hat in den vergangenen vier Jahren gerade einmal
elf Fachleute in diese Mission entsandt. 137 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter soll EUCAP NESTOR eigentlich
umfassen, aber lediglich 56 waren Ende 2015 tatsächlich
vor Ort. Die Finanzmittel für EUCAP NESTOR sind gerade auch mit Zustimmung der Bundesregierung um beinahe 30 Prozent zurückgefahren worden. Selbst für die
Boote, die die somalische Küstenwache wirklich dringend benötigen würde, gibt die Bundesregierung aktuell kein Geld - obwohl im Haushalt 100 Millionen Euro
für die Ertüchtigung von Partnerstaaten vorgesehen sind.
Gestopft wurden die Löcher bisher oft durch die Mission
Atalanta. Sie hat immer wieder Material und Übungsmöglichkeiten zur Verfügung gestellt. Aber selbst dieser
Notnagel entfällt nun weitestgehend durch die Verkleinerung von Atalanta.
({4})
Ich habe den Eindruck: Ihre Somalia-Politik besteht
vor allem aus unerfüllten Versprechen. Auch mit Blick
auf die Ausbreitung des islamistischen Terrors im nördlichen Afrika ist das in meinen Augen ein Riesenfehler.
Ein gescheiterter Staat wie Somalia lässt sich nicht in
wenigen Jahren wiederaufbauen. Deshalb appelliere ich
an die Bundesregierung: Lassen Sie Somalia bitte jetzt
nicht im Stich, und machen Sie endlich Ernst mit Ihrer
Unterstützung für die somalische Küstenwache!
({5})
Die Auslandseinsätze der Bundeswehr haben ihr Ziel
bislang zu oft nicht erreicht - weil wir zu wenig Geduld
hatten und weil wir zu wenig in den zivilen Aufbau investiert haben. Es ist an der Zeit, endlich etwas aus diesen Fehlern zu lernen. Nur dann wird der Einsatz unserer
Soldatinnen und Soldaten am Horn von Afrika zum Erfolg führen.
Herzlichen Dank. - Das war eine Punktlandung.
({6})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Thorsten Frei, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
der letzten Sitzungswoche haben wir die Mandatsverlängerung zu EUTM Somalia beschlossen, und wir haben
auch in der Debatte umfangreich über die politischen und
die tatsächlichen Verhältnisse in Somalia und am Horn
von Afrika gesprochen. Ich glaube, die Quintessenz war
eine ganz ähnliche wie auch in der heutigen Sitzung,
nämlich dass die Bilanz auch nach Jahren internationalen Engagements in Somalia durchaus durchwachsen ist.
Al-Schabab ist immer noch stark. Natürlich führt die Perspektivlosigkeit im Land auch dazu, dass Terror genährt
wird und Wiederaufbau begrenzt wird.
Aber es ist auch so: Wenn es das internationale Engagement insbesondere der Afrikanischen Union in Somalia nicht gegeben hätte und nicht geben würde, dann
wäre wahrscheinlich auch der Bürgerkrieg nicht beendet,
würde der Wiederaufbau nicht beginnen und hätte Somalia keine Regierung.
Ich glaube, vor diesem Hintergrund - darauf sind einige Vorredner bereits eingegangen - darf man Atalanta
nicht isoliert betrachten, sondern man muss das in einen
größeren Zusammenhang rücken: gemeinsam mit der
EU-Trainingsmission Somalia und auch mit EUCAP
NESTOR, einer zivilen Mission. Alles miteinander ist
notwendige Voraussetzung dafür, dass ein Wiederaufbau
Somalias gelingt.
({0})
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, es ist so,
dass die Verhältnisse in Somalia sehr schwierig sind.
Aber das Ziel von Atalanta, nämlich Piraterie zu bekämpfen und es zu ermöglichen, dass beispielsweise
humanitäre Hilfe nach Somalia kommt, dass die Schiffe
des World Food Programme auch tatsächlich die Küsten
Somalias erreichen, ist geschafft worden. Die Bilanz ist
eindeutig - Herr Staatssekretär, Sie haben es benannt -:
In den Jahren 2009 bis 2011 gab es in jedem Jahr über
150 Überfälle auf Schiffe und Geiselnahmen und seit
Mai 2012 keinen einzigen mehr.
Aber es ist auch das richtig, Frau Wagner, was Sie gesagt haben: dass die kriminellen Strukturen an Land dadurch nicht beseitigt sind. Deswegen ist es zwar richtig,
das Kräftedispositiv zu reduzieren; aber es ist auch richtig, nicht Knall auf Fall aus dieser Mission auszusteigen,
weil dann das Problem, das wir bis 2012 gehabt haben,
sofort wieder da wäre. Ich glaube, es ist der richtige Weg,
den wir hier einschlagen.
({1})
Aber lassen Sie mich an dieser Stelle eines sagen: Das
Ganze ist Teil eines Maßnahmenbündels - das ist das
Entscheidende -, und es ist nicht der teuerste Teil dieses
Maßnahmenbündels, sondern es sind umfangreiche zivile Maßnahmen, die wir ergreifen, beispielsweise wenn es
darum geht, mit Stabilisierungsmaßnahmen eine bundesstaatliche, eine föderale Ordnung in Somalia durchzusetzen, wenn es darum geht, wirtschaftliche Betätigung zu
ermöglichen, wenn es darum geht, humanitäre Hilfe zu
leisten und darüber hinaus eben auch langfristige strukturelle Entwicklungszusammenarbeit voranzutreiben. Das
ist genau das, was das Land braucht, nämlich wirtschaftliche Perspektiven für die Menschen, die dort leben.
Herr Neu, wenn Sie das vermeintliche Missverhältnis von militärischen Einsätzen und humanitärer Hilfe ansprechen, dann muss ich sagen: Ich glaube nicht,
dass das zutreffend ist. Schauen Sie sich beispielsweise
das in Kenia liegende größte Flüchtlingslager der Welt,
Dadaab, an, wo 350 000 Menschen, hauptsächlich Somalier, leben. Die Bundesregierung hat die bilateralen
Mittel dafür von 6 auf 11 Millionen Euro nahezu verdoppelt. Die Mittel für das World Food Programme sind Anfang des Jahres deutlich aufgestockt worden, damit man
verhindern kann, dass die Essensrationen um 30 Prozent
gekürzt werden müssen, weil das Geld für das World
Food Programme wieder gefehlt hat. Ich glaube, dass
es grundsätzlich der richtige Ansatz ist, der dort verfolgt
wird. Das ist eine humanitäre Verpflichtung, die wir haben. Es ist aber letztlich auch ein Gebot der Vernunft,
dass wir uns gemeinsam im europäischen Kontext hier
engagieren.
Als fünfter Redner ist es vielleicht möglich, den einen oder anderen Exkurs zu wagen. Es ist, glaube ich,
ganz entscheidend, dass wir alle Maßnahmen darauf ausrichten, Somalia zu stabilisieren, das Land in eine gute
Ordnung zu bringen, wirtschaftliche Perspektiven zu
eröffnen, damit die Menschen vor Ort eine Chance haben, damit internationaler Terrorismus bekämpft und ihm
der Nährboden entzogen werden kann, aber auch, damit
Fluchtursachen unmittelbar vor Ort bekämpft werden
können. In diesem Zusammenhang warne ich davor, den
Blick derzeit nur auf den Nahen und Mittleren Osten und
die dortigen Kriegs- und Bürgerkriegsgebiete zu richten.
Wenn man sich nur drei Zahlen vergegenwärtigt, erkennt
man, dass Afrika für uns eine sehr viel größere Herausforderung sein wird: Eine afrikanische Frau bekommt
im Durchschnitt sieben Kinder, im Jahr 2035 werden in
Afrika mehr junge Menschen in den Arbeitsmarkt drängen als in der gesamten restlichen Welt, und im Jahr 2050
wird sich die Bevölkerung in Afrika auf etwa 2,5 MilliDoris Wagner
arden Menschen mehr als verdoppelt haben. Das sind die
Herausforderungen, denen wir uns gegenübersehen.
Schon heute ist der afrikanische Kontinent nicht in der
Lage, die Menschen zu ernähren, geschweige denn, ihnen echte Perspektiven zu bieten. Deshalb geht es darum,
mehr dafür zu tun, die Grundlagen für eine gute staatliche
Ordnung, für ein Mindestmaß an Achtung der Menschenrechte, der Rechtsstaatlichkeit zu setzen. Ich glaube, der
entscheidende Pfad ist, vor allen Dingen auf diejenigen
zu setzen, die vor Ort sind, auf die Afrikanische Union.
Deshalb müssen wir den Prozess zwischen Europäischer
und Afrikanischer Union wie beim letzten Gipfel in Malta fortsetzen. Deshalb müssen wir dafür sorgen und einen
Beitrag leisten, dass es ein nachhaltiges, ein inklusives
Wachstum gibt, so wie in der Zukunftsstrategie Agenda
2063 der Afrikanischen Union dargelegt. Da werden wir
Schritt für Schritt vorwärtskommen müssen. Nur so werden die Probleme letztlich auch an der Wurzel gepackt
und bewältigt werden können. Ein Bestandteil davon ist
auch Atalanta.
Deshalb werbe ich dafür, dass wir in den Ausschussberatungen die notwendigen Voraussetzungen dafür
schaffen, in der nächsten Sitzungswoche dieses Mandat
zu verlängern.
Herzlichen Dank.
({2})
Das Präsidium ist nicht eingeschritten, weil wir dachten, der Redner kommt zum Schluss. Das machte er mit
jedem Satz, aber es ging immer weiter. Aber gut. Ich bitte
die anderen Redner, sich etwas zurückzuhalten. - Dirk
Vöpel von der SPD-Fraktion ist der nächste Redner.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! In Zeiten wie diesen sollten wir jede Gelegenheit nutzen, um auch wieder einmal über europäische
Erfolgsgeschichten zu reden. Der aktuelle Tagesordnungspunkt kommt da wie gerufen; denn die multinationale Marineoperation der Europäischen Union am Horn
von Afrika ist genau das: eine Erfolgsgeschichte und
ein, wenn nicht das Vorzeigeprojekt der Gemeinsamen
Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Es ist erst wenige Jahre her, dass rund um die Küste des bürgerkriegsgeschundenen Somalias, an einer der Hauptschlagadern
des Welthandels, das historisch längst überwunden geglaubte Piratenunwesen wieder mit aller Macht aufflammte. Dachte man bei dem Wort „Piraten“ bis dahin
doch eher unwillkürlich an Johnny Depp, an inszenierte
Hollywood-Karibik, so änderte sich das an der Ostküste
Afrikas ab 2005 schnell und drastisch.
Schon der flüchtige Blick auf eine Karte, in der alle
registrierten Angriffe somalischer Piraten zwischen 2005
und 2010 nach Ort und Zeit erfasst sind, macht klar: Was
als küstennahes Phänomen mit Schwerpunkt im Golf
von Aden begann, entwickelte sich rasant zu einer Bedrohung des gesamten Schiffsverkehrs in weiten Teilen
des Indischen Ozeans. Von Jahr zu Jahr wagten sich die
Piraten weiter aufs offene Meer hinaus. Heute, knapp
fünf Jahre später, stellt sich die Situation völlig anders
dar. Und das ist zu einem großen Teil auch Verdienst der
Operation Atalanta, der historisch ersten europäischen
Marinemission.
Meine Vorredner und Herr Staatssekretär Brauksiepe
haben bereits auf die Entwicklung der Zahlen hingewiesen. Ich erspare Ihnen und mir die Wiederholung.
Mit der Sicherung der Seewege von und nach Somalia
schafft die Operation Atalanta somit überhaupt erst eine
der zentralen Voraussetzungen für den Einsatz der nachhaltigeren Instrumente des umfassenden Ansatzes der
EU zur Stabilisierung der politischen, wirtschaftlichen
und sozialen Verhältnisse in Somalia.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, seit der erstmaligen
Mandatierung der Operation im Dezember 2008 hat die
Deutsche Marine regelmäßig beträchtliche Kräfte und
Fähigkeiten für diese europäische Seemission abgestellt.
Mit dem Eintreffen der Fregatte „Bayern“ im Operationsgebiet Ende März hat Deutschland jetzt zum dritten
Mal das Kommando der Task Force übernommen. In den
kommenden Monaten wird Flottillenadmiral Jan Kaack
von seinem Flaggschiff „Bayern“ aus den europäischen
Einsatzverband führen. Herr Admiral Kaack, Ihnen, Ihrem Stab und allen Angehörigen der Mission wünsche
ich ein gutes Gelingen.
({0})
Kehren Sie beizeiten alle wohlbehalten nach Wilhelmshaven zurück!
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Atalanta hat wesentlich dazu beigetragen, die Piraterie in den Gewässern am
Horn von Afrika einzudämmen und zurückzudrängen.
Die Symptome können auf See nicht bekämpft werden,
die tieferen Ursachen lassen sich nur an Land beseitigen.
Das erfordert mehr Ressourcen, aber es benötigt auch
mehr Zeit. Diese Zeit verschafft uns auch die Operation
Atalanta.
Admiral Kaack hat in einem Interview anlässlich der
Kommandoübernahme ein, wie ich finde, sehr treffendes
und anschauliches Lagebild formuliert, das ich zum Abschluss gern zitieren möchte. Er sagte:
Was die Piraterie in diesem Seegebiet angeht, vergleiche ich unseren Auftrag gern mit einem Druckverband, den man bei einer stark blutenden Wunde
anlegt. Übt man genug Druck aus, stoppt die Blutung, lockert man zu früh, geht es wieder los.
Dem, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist aus meiner
Sicht nichts hinzuzufügen.
Vielen Dank.
({1})
Als letztem Redner der Aussprache erteile ich das
Wort dem Abgeordneten Dr. Reinhard Brandl, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich,
dass ich heute zu dem Einsatz Atalanta sprechen darf.
Ich darf meine kurzfristig erkrankte Kollegin Julia
Obermeier vertreten, der ich von dieser Stelle gute Besserung wünschen möchte.
({0})
Ich freue mich deswegen, weil ich mich noch gut an
die Zeit vor fünf Jahren erinnern kann, als wir im Verteidigungsausschuss fast wöchentlich Berichte von entführten Handelsschiffen, von entführten Schiffen des
Welternährungsprogramms bekamen, teilweise mit
schauerlichen Darstellungen, mit welcher Brutalität die
Piraten gegen die Besatzung vorgegangen sind. Horrende
Lösegeldzahlungen sind damals geflossen. In Deutschland ist vor allem der Fall der „Hansa Stavanger“ aus
dem Jahr 2009 bekannt. 24 Seeleute befanden sich vier
Monate lang in Geiselhaft. Es wurden 2,5 Millionen Euro
Lösegeld gezahlt.
Das ist jetzt vorbei. Seit 2012 ist kein Schiff mehr erfolgreich entführt worden. Seit 2014 hat es keinen Piratenangriff mehr gegeben. Dass das so ist, dass der Golf
von Aden heute nicht mehr zu den gefährlichsten Gewässern der Welt gehört, ist ein Verdienst der EU-Mission
Atalanta.
Meine Damen und Herren, ich habe nicht gedacht,
dass ich dem Kollegen Neu von den Linken auch einmal zustimmen würde. In einem Punkt aber hat er Recht.
Wenn Atalanta heute gestoppt würde, dann wäre die Piraterie sofort wieder am Laufen. Deswegen ist es wichtig und richtig, dass die Erfolgsgeschichte von Atalanta
fortgesetzt wird.
({1})
Atalanta bringt Sicherheit in den Golf von Aden, sichert
Schiffe des Welternährungsprogramms und sichert Handelsschiffe. Etwa 20 000 Handelsschiffe durchqueren jedes Jahr dieses Seegebiet.
Unsere deutschen Soldatinnen und Soldaten werden
bei diesem Einsatz gebraucht. Gestatten Sie mir - ich bin
Mitglied im Freundeskreis der Fregatte „Bayern“; dieses
Schiff hat im Moment die Führungsrolle inne -, dass ich
den Soldatinnen und Soldaten auf der Fregatte von dieser
Stelle aus einen herzlichen Dank und Anerkennung für
die Erfüllung eines anstrengenden und anspruchsvollen
Auftrags dort unten sende.
({2})
Es sind aber nicht nur die Soldaten auf der Fregatte
„Bayern“, die im Moment gefordert sind. Wir erleben
momentan, dass die Marine an allen Ecken und Enden
gefordert ist. Ich habe gerade einmal nachgezählt: Allein
in den letzten elf Monaten sind drei neue Aufgaben für
die Marine hinzugekommen. Dabei handelt es sich zum
einen um EUNAVFOR MED, zum anderen um den maritimen Anteil bei der Anti-IS-Mission. Drittens geht es um
den NATO-Einsatz in der Ägäis.
Deswegen ist es nicht nur militärisch richtig, sondern
schafft auch Entlastung für die Marine, wenn wir im
Rahmen der Befassung mit diesem Thema heute und in
den kommenden Wochen die Mandatsobergrenze für die
EU-Mission Atalanta weiter reduzieren können. Aber wir
können den Einsatz nicht ganz einstellen. Deutschland
hat auf EU-Ebene jetzt zwar angeregt, eine Strategie zu
erarbeiten, wie Atalanta beendet werden kann, im Moment aber müssen wir sagen, dass wir noch auf diesen
Einsatz angewiesen sind.
Der Einsatz ist - das behauptet auch niemand - auch
keine Lösung für das Problem in Somalia. Somalia
braucht einen vernetzten Ansatz. Auf der einen Seite
muss es in diesem Land stabile rechtsstaatliche Strukturen und funktionierende Sicherheitskräfte sowohl auf
See als auch auf dem Land geben. Wir unterstützen Somalia auf diesem Weg durch die Mission EUTM Somalia. EUCAP NESTOR ist ja von den Kollegen schon angesprochen worden.
Auf der anderen Seite brauchen die Menschen in Somalia humanitäre Hilfe, denn vielfach treibt sie die Armut
in die Kriminalität. Deswegen unterstützt Deutschland
Somalia jährlich mit 95 Millionen Euro Entwicklungshilfe. Wir wollen diesen Anteil in Zukunft weiter steigern. Damit dieses Geld aber wirkt, braucht es ein sicheres Umfeld, in dem es auch investiert bzw. ausgegeben
werden kann. Da schließt sich der Kreis. Deswegen ist
es wichtig, dass die EU-Mission Atalanta noch weiter
fortgeführt wird. Sie ist nicht die Lösung, aber sie ist ein
Stabilitätsfaktor in einem unruhigen Gebiet wie Somalia.
Deshalb, meine Damen und Herren, werden meine
Fraktion und ich diesem Einsatz zustimmen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/8091 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Halina
Wawzyniak, Frank Tempel, Ulla Jelpke, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Netzneutralität im Rahmen der Vorgaben der
EU-Verordnung gesetzlich absichern
Drucksache 18/6876
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({0})
Ausschuss Digitale Agenda ({1})
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
Federführung strittig
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre hierzu
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die
Abgeordnete Halina Wawzyniak, Fraktion Die Linke,
das Wort.
({2})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Es steht nicht gut um die Netzneutralität in Europa - dies ist die weit verbreitete Meinung, nachdem
im Oktober letzten Jahres das Europäische Parlament
den Kompromiss zur Telekommunikationsbinnenmarktverordnung billigte. Sie erlaubt Telekommunikationsunternehmen, bestimmte Angebote vom Prinzip der Netzneutralität auszunehmen und sie als priorisierte Dienste
auf Überholspuren auszulagern. Die Verordnung enthält
neben Unbestimmtheiten und Auslassungen allerdings
auch Bestimmungen, die ein solches Szenario, nämlich
das eines Zweiklasseninternets, ausschließen könnten.
Dementsprechend beginnt jetzt der Kampf um die Deutungshoheit hinsichtlich der Verordnung.
Einen regelrechten Salto mit halber Schraube legte
die Telekom kürzlich hin, die ihre Spotify-Flatrate mit
Verweis auf die Netzneutralität einschränkte. Damit Sie
mich jetzt richtig verstehen: Das heißt nicht, dass die Telekom dieses Zero-Rating-Angebot plötzlich abschafft.
Nein, die Kunden dürfen weiter dafür bezahlen, dass die
Nutzung des Musikstreamingdienstes nicht auf das Datenvolumen angerechnet wird. Sollte das Datenvolumen
aber trotzdem wegen anderer Nutzungen aufgebraucht
sein, wird nun auch die Spotify-Nutzung gedrosselt. Die
Telekom schlägt zwei Fliegen mit einer Klappe: Sie kann
noch mehr Geld von ihren Kunden kassieren, weil sie
noch mehr Datenvolumen brauchen, und sie kann gleichzeitig bei ihren Kunden Stimmung gegen die Netzneutralität machen. Ich für meinen Teil kann da nur sagen, dass
mir bei dieser einseitigen Auslegung der Netzneutralität
die Spucke wegbleibt.
({0})
Wir müssen also dringend über die Umsetzung der
EU-Verordnung reden, damit solche einseitigen Auslegungen nicht mehr stattfinden können. Die Linke hat jetzt
einen Vorschlag vorgelegt, wie man trotz der EU-Verordnung ein Zweiklasseninternet verhindern kann. Bisher ist
geplant, dass die Bundesnetzagentur gemeinsam mit den
anderen Regulierungsbehörden Richtlinien zur Umsetzung der Verordnung aufstellt. Das reicht uns nicht aus.
Die Einhaltung der Netzneutralität ist die wesentliche
Grundlage des Internets,
({1})
und die Festigung dieser Grundlage kann nicht ausgelagert werden. Das muss der Gesetzgeber selbst machen.
Dies entspricht aus unserer Sicht der sogenannten Wesentlichkeitstheorie, nach der der Gesetzgeber die wesentlichen Sachen selbst regeln soll.
({2})
Wir wollen, dass zweiseitige Märkte und Zero-Rating-Angebote untersagt werden. Zweiseitige Märkte
bedeuten, dass Zugangsanbieter wie zum Beispiel die
Telekom nicht nur Geld für den Internetanschluss nehmen, sondern auch zusätzlich Geld für die Nutzung: Wer
schneller durchgeleitet werden will, muss mehr zahlen.
Dabei handelt es sich um eine Priorisierung, die nur auf
kommerziellen Erwägungen beruht. Das ist ausschließlich eine Einnahmequelle für die Internetanbieter. Verkehrsmanagement aus kommerziellen Gründen ist nun
aber nach Artikel 3 Absatz 3 der Verordnung nicht erlaubt.
({3})
Gleiches gilt für Zero-Rating-Angebote wie die schon
erwähnte Spotify-Flatrate. Auch sie beruht auf einem
kommerziellen Verkehrsmanagement, und auch das wäre
nach der EU-Verordnung nicht erlaubt. Wenn wir also
die EU-Verordnung entsprechend ihrer eigentlichen Regelungen auslegen würden und der deutsche Gesetzgeber
es auch entsprechend unseres Antrages so regeln würde, dann gäbe es keine zweiseitigen Märkte und keine
Zero-Rating-Angebote.
({4})
Sie sehen: Es steht nur dann schlecht um die Netzneutralität, wenn wir nicht selbst aktiv werden. Es gibt die
Möglichkeit, das neutrale Netz zu sichern. Wir müssen
es gemeinsam nur wollen. Denn ein neutrales Netz ist ein
Internet für alle, und ein Internet für alle bedeutet letztendlich Demokratie für alle.
({5})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist der Kollege
Andreas Lämmel, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Zunächst: Der Antrag der Linken ist keine neue
Erfindung, sondern die grüne Fraktion hat schon etwas
eher einen ähnlichen Antrag auf den Weg gebracht.
({0})
Insofern sind die Inhalte durchaus ähnlich, meine Damen
und Herren.
Vizepräsident Peter Hintze
Man muss erst einmal deutlich sagen - auch als Gegenargumentation zu Ihrem Antrag -, dass wir es für eine
große Leistung halten, dass die Europäische Kommission
und das Europäische Parlament nun endlich eine europaweite Verordnung zur Netzneutralität, also die Verordnung zum TK-Binnenmarkt, auf den Weg gebracht
haben; denn wir haben auf diesem Gebiet erstmals eine
einheitliche europäische Regelung, und genau das ist ja
das Ziel unser aller Bemühungen. Deswegen kann ich
nur sagen: Wenn wir als nationaler Gesetzgeber anfangen, die Verordnung, die sowieso gilt, wieder in Gesetze
umzusetzen, dann machen wir eine Rolle rückwärts und
fangen wieder an, den Markt zu segmentieren.
({1})
So sind wir froh, dass wir endlich eine Regelung auf europäischer Ebene geschaffen haben.
({2})
Es ist also schon vom Grundansatz her eigentlich widersinnig, was Sie in Ihrem Antrag fordern. Außerdem haben wir im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und
SPD das Thema Netzneutralität schon verankert. In der
Verordnung zum TK-Binnenmarkt wurde das Thema aus
unserer Sicht gut umgesetzt.
Wer sich über die Jahre hinweg an der Diskussion beteiligt hat, weiß, dass das Thema Netzneutralität ein sehr
dynamisches Thema ist. Wir wissen: Wenn der sich am
Horizont abzeichnende neue 5G-Standard im Bereich der
mobilen Telekommunikation Einzug hält, dann wird das
Thema Netzneutralität nicht mehr die Rolle spielen wie
beim 4G-Standard, den wir derzeit noch haben. Deswegen ist klar: Die Netzneutralität ist derzeit noch notwendig, aber in Zukunft wird genügend Bandbreite zur Verfügung stehen, sodass es überhaupt nicht nötig sein wird,
das Thema Netzneutralität in einem solchen Rahmen zu
diskutieren.
({3})
- Ich lade Sie ein. Wir können gerne das 5G Lab in Dresden besuchen, um einen Eindruck davon zu gewinnen,
was der neue Standard bringen wird, und um zu erfahren,
wie die Bandbreiten dann abgebildet werden können.
In der Gesamtkonstellation ist es richtig, dass die Bundesnetzagentur für Deutschland die Aufgabe übernimmt,
die Umsetzung der europäischen Regelungen zu überwachen. Wir wollen doch, dass die entsprechende Verordnung in allen europäischen Ländern so umgesetzt wird,
wie sie gedacht ist.
Die Aufgabe der Spezialdienste ist in der Verordnung
ganz klar geregelt. Deswegen kann ich die Diskussion
darüber nicht nachvollziehen; denn Spezialdienste dürfen
nur angeboten werden, wenn das entsprechende Angebot
notwendig ist. Spezialdienste dürfen kein Ersatz für offenes Internet sein; das ist ja genau das, was wir alle hier in
diesem Hohen Hause gemeinsam fordern. Spezialdienste
dürfen nur bei ausreichenden Netzkapazitäten erbracht
werden; auch das ist ein sehr wichtiger Punkt. Dort, wo
Bandbreiten nicht ausreichend zur Verfügung stehen,
werden auch keine Spezialdienste angeboten werden
können. Auch noch wichtig ist: Spezialdienste dürfen die
gesamte Qualität des Internets nicht beeinträchtigen.
({4})
Hier sind von europäischer Ebene aus entsprechende Sicherungen eingebaut worden, so dass man sagen kann:
Das Internet für alle - und das ist das, was wir alle wollen - ist damit abgesichert.
({5})
Auf der anderen Seite brauchen wir diese Spezialdienste; das wissen Sie selbst sehr genau.
({6})
Zu den Spezialdiensten gehören zum Beispiel lebensrettende Dienste, das können telemedizinische Dienste
sein. Das sind auch Dienste, die möglicherweise für die
gesamte Steuerung des Straßenverkehrs notwendig sind.
({7})
Insofern stehen wir zu den Spezialdiensten. Spezialdienste werden natürlich auch nicht zum gleichen Preis
angeboten - das ist ganz klar -, aber die Voraussetzungen
für die Nutzung sind klar definiert.
({8})
Es ist jetzt ganz klar die Aufgabe der Bundesnetzagentur, die Umsetzung der Regelungen in Deutschland
zu überwachen. Ich kann nur sagen: Wir sind bei diesem
Thema auf einem guten Weg. Ich hoffe, dass der dynamische Prozess hin zum nächsten Standard auch auf europäischer Ebene weiter verfolgt wird.
Wir werden Ihren Antrag ablehnen müssen.
({9})
Vielen Dank. - Jetzt hat der Kollege Dr. Konstantin
von Notz, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Man kann es gar nicht
oft genug sagen, und an dieser Stelle wurde es auch
schon gesagt: Die Netzneutralität ist eine, vielleicht sogar die Schlüsselfrage der digitalen Welt, über die wir aus
gutem Grund seit vielen Jahren im Hohen Haus diskutieren. Deswegen bin ich erst einmal grundsätzlich für den
Antrag der Linken dankbar.
Vielleicht sollte man es den Zuschauerinnen und Zuschauern auf der Tribüne noch einmal sagen, weil NetzAndreas G. Lämmel
neutralität ein etwas sperriger Begriff ist: Im Kern geht
es um die Frage, ob wir alle gleichberechtigt ins Internet
kommen oder ob es vom Portemonnaie abhängt, ob und
wie man ins Internet kommt.
({0})
- Das ist genau der Punkt. Herr Lämmel, immer wieder
wurde deswegen von Ihnen versprochen, die Netzneutralität gesetzlich abzusichern. Der bisherige Laisserfaire- Ansatz von Schwarz-Gelb war längst gescheitert.
International hatte man das erkannt. Aus diesem Grund
hat Präsident Obama sich persönlich für eine effektive
gesetzliche Regelung eingesetzt. Und obwohl wir Sie
in den letzten Jahren immer wieder mit etlichen Initiativen aufgefordert haben, die Netzneutralität effektiv
abzusichern, obwohl die SPD noch vor kurzem, als sie
in der Opposition war, entsprechende Anträge vorgelegt
hat, die Netzneutralität gesetzlich abzusichern, und obwohl in Ihrem gemeinsamen Koalitionsvertrag drinsteht:
„Netzneutralität sichern wir“, haben Sie eben genau das
leider nicht getan, und das ist angesichts der Bedeutung
der Netzneutralität für Demokratie und Innovation einfach viel zu wenig, meine Damen und Herren.
({1})
Sie haben keine nationale Regelung vorgelegt und
haben zugesehen, wie ein schlechter Kompromiss auf
EU-Ebene verhandelt wurde. Er ermöglicht die Einführung von „Diensteklassen“ und Special Services und
schließt auch hochumstrittene Praktiken wie das Zero
Rating oder Surf-only-Verträge eben nicht aus.
({2})
Die SPD-Berichterstatterin sagte, der Kompromiss
öffne dem Ausverkauf der Netzneutralität Tür und Tor,
und recht hat die Frau. Sie haben grundlegende Prinzipien des Internets und wichtige Verbraucherrechte für die
ohnehin schon megamächtigen TK-Anbieter aufgegeben
und so einen entscheidenden Beitrag geleistet, damit der
Abstand zwischen den marktmächtigen Anbietern und
europäischen Start-ups noch größer wird. Das schädigt
Start-up-Unternehmen in Europa. Erstere, die mächtigen
Anbieter, werden sich über Lizenzmodelle und Zero-Rating-Verträge freikaufen. Alle anderen, unzählige kleine
deutsche und europäische Unternehmen, trifft diese Fehlentscheidung von Ihnen unglaublich hart.
Was man in netzpolitischen Kongressen, Agenden
und Gipfeln mühsam versucht, vorn hochzupuzzeln, das
reißen Sie hinten wieder ein. Marktkonzentration leistet
man Vorschub. Das ist ein Themenfeld, um das sich jetzt
neuerdings auch das BMWi kümmern will - endlich,
muss man sagen. So wird das aber leider nichts, meine
Damen und Herren.
Wir haben immer gewarnt, nicht abzuwarten, bis das
Kind im Brunnen liegt. Nun liegt es da, und nun veranstaltet man Workshops, um auf nationaler Ebene noch
irgendwie sicherzustellen, dass man den EU-Vorgaben
gerecht wird und dass die Auswirkungen auf die Innovationsfähigkeit des Netzes und die Verbraucher irgendwie
überschaubar bleiben. Die nationalen Behörden sollen
bis zum August in einem Soft-Law-Verfahren konkrete
Vorschläge hierzu erarbeiten, die dann über den Zusammenschluss der EU-Regulierungsbehörden an die Kommission weitergeleitet werden. Ob die Kommission dann
diese Vorschläge aufnimmt, ist eine spannende, aber völlig offene Frage.
Herr Lämmel, deutlich wird durch dieses ganze Vorgehen, dass nichts gut ist. Es zeigt: Eine überfällige nationale Regelung über Jahre zu verweigern, zuzusehen,
wie ein schlechter Kompromiss auf EU-Ebene verhandelt wird, der Missbrauch Tür und Tor öffnet, um dann
zu hoffen, dass die Verbesserungen angenommen werden, all dies ist nicht nur mühsam, es wäre auch gänzlich
überflüssig gewesen, wenn man die seit Jahren vorliegenden Vorschläge einer effektiven gesetzlichen Regelung auf nationaler Ebene aufgegriffen hätte.
({3})
Bedanken möchte ich mich an dieser Stelle explizit
bei allen NGOs und Vertretern der Zivilgesellschaft, die
jetzt darum kämpfen, dass das Kind aus dem Brunnen herauskommt. Sie alle arbeiten hart, wo Sie leider versagt
haben. Ich sage Ihnen: Wenn es hier nicht gelingt, die
Netzneutralität abzusichern und angesichts des schlechten Beschlusses, den es jetzt gibt, zurückzuerkämpfen,
dann wird das eine weitere Kerbe im netzpolitischen Versagen dieser Bundesregierung sein.
Ganz herzlichen Dank.
({4})
Vielen Dank. - Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der
Kollege Klaus Barthel.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und
Herren! Das war ja wieder einmal starker Tobak. Man
wird sehen, dass man das nicht so rauchen darf, wie Sie
das hier verkündet haben.
({0})
In zweieinhalb Wochen, am 30. April 2016, tritt die
genannte EU-Verordnung zur Netzneutralität in Kraft.
Ich will die Kernpunkte dieser Verordnung kurz zitieren,
weil das hier etwas schräg dargestellt wurde.
Erstens. Der freie Zugang zu Inhalten im Internet wird
grundsätzlich nicht blockiert oder gedrosselt. Ein bevorzugter Zugang gegen Bezahlung wird verboten.
({1})
Zweitens. Die Zugangsanbieter behandeln den gesamten Datenverkehr gleich. Sie dürfen nur eingreifen, soweit dies zur Aufrechterhaltung eines effizienten Datenverkehrs erforderlich ist oder im öffentlichen Interesse
liegt, zum Beispiel bei der Netzsicherheit.
Drittens. Die Zugangsanbieter dürfen spezielle Dienste höherer Qualität wie zum Beispiel Internetfernsehen
oder neue Anwendungen anbieten, solange dadurch die
Qualität des offenen Internets nicht beeinträchtigt wird.
Viertens. Sie unterliegen gegenüber ihren Nutzern besonderen Informationspflichten über die Gewährleistung
des offenen Internets.
Fünftens. Die Mitgliedstaaten überwachen - das macht
in Deutschland die Bundesnetzagentur - die Einhaltung
dieser Bestimmungen und berichten der Kommission.
Im Übrigen erlassen die Mitgliedstaaten wirksame
Sanktionen. Die Bundesregierung wird eine Erweiterung
des TKG mit entsprechenden Sanktionen jetzt vorbereiten und in den Bundestag einbringen.
Das heißt, in Wirklichkeit sind der Antrag der Linksfraktion und das, was Herr von Notz hier vorgetragen hat,
in der Sache erledigt.
({2})
Es gibt auch keinen Streit über die Zielsetzung Netzneutralität.
({3})
Herr Lämmel hat mit Recht darauf hingewiesen, dass das
im Koalitionsvertrag steht.
({4})
Die EU-Verordnung setzt das in unseren Augen weitestgehend um.
({5})
Das ist weltweit eine der am weitesten gehenden Regelungen.
({6})
Was auch richtig und wichtig ist: Es macht überhaupt
keinen Sinn, durch nationale Sonderregelungen daran
herumzubasteln.
({7})
Das würde nur zu neuer Rechtsunsicherheit und zu einer
Zersplitterung der Märkte führen, und wir wissen, dass
der Telekommunikationsmarkt kein nationaler Markt ist,
sondern ein globaler Markt, auf jeden Fall ein europäischer.
({8})
Wir wollen uns gar nicht hierhinstellen und sagen,
dass missbräuchliche Geschäfte damit von vornherein
ausgeschlossen sind. Es ist jetzt Aufgabe der Regulierungsbehörden, die Angebote - Sie haben ein Angebot
der Telekom angesprochen - zu überprüfen. Es ist ihre
Aufgabe, das zu überwachen und im Zweifelsfall, wenn
man sagt, dass das Missbrauch ist, Maßnahmen dagegen
einzuleiten.
Herr Kollege Barthel, darf ich Sie unterbrechen? - Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Wawzyniak?
Wenn es zur Erhellung beiträgt, gern.
Bitte schön.
Sie haben gerade gesagt, dass es um eine nationale
Sonderregelung geht. Mit diesem Antrag schlagen wir
vor, zu sagen, dass die Verordnung der EU gewisse, nicht
ganz genaue Formulierungen enthält. Deswegen soll sich
nach dem bisherigen Vorschlag ja auch die Bundesnetzagentur mit den anderen Regulierungsbehörden zusammensetzen. Die sollen also im weitesten Sinne eine Auslegung der Verordnung vornehmen.
Wir sagen: Die Netzneutralität ist so wichtig, ein so
integraler Bestandteil eines freien Internets, dass nach
der Wesentlichkeitstheorie, nach der der Gesetzgeber die
wesentlichen Grundsatzentscheidungen zu treffen hat,
der Gesetzgeber an dieser Stelle die Rolle der Bundesnetzagentur zu übernehmen hat. Was ist dabei das Problem?
Der Gesetzgeber ist nach unserem derzeitigen Rechtssystem in diesem Fall die Europäische Union - das haben
wir dargestellt -, und die hat diese Richtlinie erlassen.
Jetzt ist es Aufgabe von Behörden, wie es in anderen
Fällen die Aufgabe von Gerichten ist, die entsprechenden Bestimmungen umzusetzen und durchzusetzen. Wie
gesagt, bezüglich der Sanktionen wird es eine Erweiterung des TKG geben, und die Bundesnetzagentur wird
das überwachen und auslegen.
Folgendes muss hier einmal dargestellt werden: Am
12. Februar fand ein öffentlicher Workshop der BNetzA
statt, bei dem alle Beteiligten angehört wurden. Dann
wurden weitere Stellungnahmen angefordert. Sie wurden
jetzt am 24. März veröffentlicht. Das alles ist transparent
und nachvollziehbar.
Daran hätten übrigens auch alle, die sich hier verkämpfen, teilnehmen und sich dort einbringen können.
Es ist immer sehr wohlfeil, sich hier in den Bundestag zu
stellen und groß von Demokratie, Netzneutralität und ein
paar anderen Schlagworten zu reden; aber dann, wenn
es darum geht, sich wirklich um das Kleingedruckte und
um die Umsetzung - das fordern Sie ja - zu kümmern,
ist man im Zweifelsfall nicht da. Da muss man Rede
und Antwort stehen und genau über die Auslegung dieser europäischen Richtlinie streiten und diskutieren. Der
Bundesnetzagentur wird das Ergebnis für den nächsten
Schritt auf den Weg gegeben. Wir haben am vergangenen Montag im Beirat darüber diskutiert und anberaten,
dass Anfang Juni der nächste Schritt für den Entwurf ist,
den die Bundesnetzagentur an die europäische Regulierergemeinschaft schickt. Dieser wird dann auch wieder
öffentlich zur Kommentierung gestellt. Ende August soll
dann die BEREC, also die Arbeitsgemeinschaft der europäischen Regulierer, praktisch eine Auslegung erarbeiten
und beschließen.
({0})
Dabei ging es im Wesentlichen um drei Themen, nämlich um genau die Themen, über die hier diskutiert wird.
Es ging also um die Fragen: Was ist das Verhältnis von
Netzneutralität und Vertragsfreiheit? Wie ist es mit dem
Verkehrsmanagement? Wie ist das mit den Spezialdiensten? Man muss sich dann die Mühe machen, das einzeln
durchzudiskutieren. Jede und jeder kann mitmachen,
auch alle Bürgerinnen und Bürger und Verbände, die sich
einmischen wollen. Am 4. Juli wird sich der Beirat bei
der Bundesnetzagentur noch einmal damit befassen. Wie
gesagt, es wird dann diese Leitlinien geben.
Das ist aber nicht das Ende der Geschichte, sondern
es geht dann weiter. Die Regulierer, die nationalen Regulierer und dann wieder die BEREC, werden der Kommission jährlich berichten, wie es um die Netzneutralität
steht, ob die Vorgaben eingehalten werden oder nicht und
was man im Zweifelsfall korrigieren muss. Das heißt, es
geschieht nicht das, was Sie hier jetzt befürchten. Es wird
kontrolliert und jährlich berichtet, und es gibt einen Review.
Das heißt also, Ihr Antrag ist in großen Teilen sowieso erfüllt, in Teilen überholt und in Teilen, nämlich da,
wo es um eine Gesetzgebung geht oder zum Beispiel um
so etwas Seltsames wie eine 5-Prozent-Höchstquote für
Spezialdienste, abzulehnen; denn das bringt uns überhaupt nicht weiter.
Eines muss man schon noch sagen. Herr von Notz,
wenn Sie sagen, die Schlüsselfrage sei jetzt die Netzneutralität, muss ich sagen: Ich glaube, das ist es gerade
nicht. Vielmehr geht es um die Verwaltung eines Mangels, nämlich um die Verwaltung von zu wenig Netzkapazität. Netzneutralität und die Gleichbehandlung von
Diensten stellen sich bei einem Anschluss mit 124 kB/s
und einem Anschluss mit Glasfaser und 50 MBit/s oder
100 MBit/s - das streben wir an - ganz anders dar. Deswegen sind die Kapazitäten die Schlüsselfrage. Es geht
darum, das, was die Verbraucherinnen und Verbraucher
in Anspruch nehmen können, zu erhöhen. Bei einer tausendfachen Kapazität, von der wir bei Glasfaser reden,
stellt sich die Frage der Neutralität doch ganz anders als
jetzt, wo wir hier nur den Mangel verwalten.
({1})
Ich glaube, deswegen sollten wir das noch einmal
geraderücken und hier nicht immer in großen Wolken
reden. Wir sollten schauen, wie wir diese Verordnung
jetzt sinnvoll umsetzen und wie wir zu einem möglichst
schnellen Ausbau der Infrastruktur kommen.
({2})
Vielen Dank. - Für heute hat jetzt abschließend
zu diesem Tagesordnungspunkt der Kollege Thomas
Jarzombek, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist
nicht das erste Mal, dass wir heute im Deutschen Bundestag über Netzneutralität reden.
({0})
Ich glaube, wir alle sind uns einig, dass die Netzneutralität ein hohes Gut ist. Denn sie ist der Innovationsmotor
des Internets. Man bekommt eben nicht nur ein paar Applikationen, die der eigene Provider entwickelt hat und
von denen er glaubt, dass sie das Beste für den Kunden
sind, sondern jeder, der im Internet ist, kann Anwendungen, Innovationen entwickeln, die allen über alle Kanäle
zur Verfügung stehen. Das ist ein absolut wesentliches
Prinzip.
({1})
Daran darf man nicht rütteln.
Der entscheidende Punkt ist, dass wir aber auch über
Jahre eine Diskussion führen - die Kollegin Wawzyniak
hat sie vorhin ein bisschen in dieses Licht gerückt - nach
dem Motto: Gleiches Netz für alle. Das hat so etwas
Wundervolles, so einen Sound von einer politischen Auseinandersetzung, die es früher einmal gegeben hat, als
noch die Mauer vor dem Reichstag gestanden hat.
({2})
Ich dachte eigentlich, dass diese Art des Schwarz-WeißDenkens heute nicht mehr Stand der Dinge ist.
({3})
Insofern stehen wir bei diesem Thema doch, ehrlich gesagt, alle zusammen.
Das Europäische Parlament, lieber Konstantin von
Notz, ist im Übrigen nicht die Bundesregierung. Ich habe
vorhin die ganze Zeit eine beißende Kritik an der Bundesregierung gehört.
({4})
Aber damit es alle wissen: Es geht hier um die Beschlüsse des gleichen Europäischen Parlaments, das heute die
Datenschutz-Grundverordnung freigegeben hat. Das
muss man in einem gemeinsamen Kontext sehen.
({5})
Was ist der Kern dessen? Der Kern dessen ist: Netzneutralität muss gewahrt bleiben. Aber - da haben wir
in der Enquete-Kommission damals einen Konsens erreicht - es muss auch Diensteklassen geben können.
({6})
Ich glaube - das ist meine Position und auch die meiner Fraktion -, das entscheidende Prinzip muss lauten:
Wir müssen das Beste an Innovation ermöglichen. Das
Beste an Innovation hat man nicht bei einem Internet
der Dienste. Das Beste an Innovation hat man aber auch
nicht, wenn man anfängt, Dienste zu verbieten, die es
heute schon gibt, beispielsweise T-Entertain als Fernsehdienst. Das ist ein klarer Spezialdienst - qualitätsgesichert -, kein Internet-Zusatzdienst.
({7})
- Melde dich und frage; sonst kann dich vor den Fernsehgeräten keiner hören.
({8})
- Bitte.
({9})
- Entschuldigung, Frau Präsidentin.
Ich wollte mein Amt noch nicht abgeben. - Aber bitte
schön, Herr Kollege von Notz.
Herr Kollege Jarzombek, vielen Dank für das Zulassen
der Zwischenfrage. - Wir haben ja gerade erst - es klang
eben auch an - über die Mangelverwaltung usw. diskutiert. Wie ist es denn in Sachen Internet? Ist überall genug
Breitband da, oder haben wir mit dem Vectoring, das jetzt
kommt und das, glaube ich, auch ein Plan der Bundesregierung ist, nicht genau das Problem, dass eben nicht
genug Kapazitäten da sind und es deswegen ein knappes
Gut ist? Wenn man die Netzneutralität festschreiben würde, dann würde man die Anbieter dazu zwingen, ausreichende Kapazitäten zu schaffen, damit sich alle Bürger
Videos im Netz ansehen können und nicht nur die, die
bereit sind, dafür 50 Euro im Monat zu zahlen.
({0})
Lieber Kollege von Notz, ich glaube, das ist ein besseres Format. Denn der Redner hört die Zwischenrufe
zwar, aber das Publikum an den Fernsehern oder im Internet nicht. Jetzt können wir darüber diskutieren.
Zum Breitbandausbau in Deutschland. Diese Bundesregierung ist die erste seit Menschengedenken,
({0})
die überhaupt ein Breitbandförderprogramm ins Leben
gerufen hat.
({1})
Es geht dabei um 2,7 Milliarden Euro. Im Dezember
letzten Jahres und im Januar dieses Jahres sind sehr viele Förderbescheide herausgegangen, um genau die Gemeinden, in denen es heute noch kein Breitband gibt die meisten befinden sich im ländlichen Raum -, zu
versorgen. Diese Bundesregierung hat es im letzten Jahr
gemeinsam mit den Landesregierungen geschafft, einen
großen Block von Fernsehfrequenzen für schnelles Internet zur Verfügung zu stellen, sodass das mobile Internet
ab dem nächsten Jahr doppelt so schnell wird, weil es
doppelt so viel an Kapazität gibt.
({2})
Das sind, glaube ich, zwei große Erfolge.
({3})
In Deutschland haben - jetzt komme ich zum Vectoring - 72 Prozent der Haushalte Kabelanschluss. Viele
davon sind heute schon mit Bandbreiten von mehr als
100 MBit/s ertüchtigt. Wir werden noch in diesem Jahr
die ersten dieser Anschlüsse auf 1 000 MBit/s, also im
Gigabyte-Bereich, sehen. Wir werden perspektivisch in
einem sehr überschaubaren Zeitraum - in den nächsten zwei, drei Jahren - wahrscheinlich sehr viele dieser
72 Prozent der Haushalte mit Gigabyte sehen.
Eine Rolle spielt in diesem Zusammenhang auch die
Entscheidung der unabhängigen Beschlusskammer der
Bundesnetzagentur, die ich an einigen Stellen deutlich
kritisiere. Aber das ist eben so, wenn man unabhängige
Gremien schafft.
Ich glaube, dass die Vectoring-Technik insgesamt gut
ist, weil sie dafür sorgt, dass sich die Geschwindigkeiten
bei DSL-Anschlüssen ebenfalls deutlich steigern lassen,
und zwar auf 100 MBit/s, mit Super-Vectoring in den
nächsten zwei Jahren sogar auf 200 MBit/s. Das sind
Kapazitäten, die ganz okay sind. Damit kann man auch
eine Familie mit zwei Kindern im Teenageralter, die sich
4-K-Videos ansehen wollen, ziemlich gut versorgen. Das
ist ja auch nicht das Ende der Fahnenstange, sondern das
ist eine Entwicklung, sodass ich nicht glaube, dass wir
Brandbreitenengpässe haben werden. Es wird ja immer
darüber philosophiert, wann diese kommen könnten.
Zu den Innovationen. Die Bundeskanzlerin hat sehr zu
Recht einmal gesagt: Der tatsächliche Anwendungsfall
für Spezialdienste kommt erst noch. - Ich habe mit dem
Fernsehdienst zwar schon einen genannt. Aber stellen
wir uns doch einmal das Connected Car vor.
({4})
Da braucht man natürlich Dienste mit einer kurzen Latenzzeit. Wenn man, um Abstände zu reduzieren, einen
Konvoi von selbstfahrenden Autos steuern will, dann
muss das zwanzigste Auto in Echtzeit das Bremssignal
vom ersten Auto bekommen; sonst müssten die Autos mit
einem viel größeren Abstand fahren. Dafür braucht man
ein absolut verzögerungsfreies Netz. Dass das Priorität
gegenüber einem Bus mit Bundestagsabgeordneten - ({5})
- Unsere gesamte Landesgruppe fährt am Wochenende
nach Hamm in Westfalen zu einer Klausurtagung. Dahin
kommen wir nicht mit dem Fahrrad. - Wenn also ein ganzer Bus mit Bundestagsabgeordneten, die alle Informationen wie die Presseschau aus dem Internet herunterladen
möchten,
({6})
unterwegs ist, dann erschließt es sich doch dem logischen
Menschenverstand, dass die Steuerung von Connected
Cars Vorrang haben muss, um diese Innovation zu ermöglichen.
({7})
Auf europäischer Ebene ist nun eine Verordnung erarbeitet worden. Jetzt können wir doch nicht allen Ernstes
anfangen, in nationalstaatliche Regelungen zu verfallen.
({8})
Wer in Nordrhein-Westfalen im Internet surft, schaut
natürlich immer mit Begeisterung nach Frankfurt; denn
da ist der größte Internetknoten der Welt, der DE-CIX.
Aber nicht sehr viel kleiner als dieser Knoten ist der im
Amsterdam. Wenn in Düsseldorf, in Aachen oder im
Münsterland gesurft wird, dann kann es schon einmal
passieren, dass das über den Knoten in Amsterdam geschieht. Wenn in Belgien oder in Holland andere Regelungen als in Nordrhein-Westfalen gelten, dann ist das
doch nicht Ausdruck einer sinnvollen Regulierung. Wir
können doch nicht allen Ernstes einen Vorschlag zur
Regulierung der Netzneutralität machen, der dazu führt,
dass ein Connected Car beim Übertritt über die Grenze
nach Belgien auf einmal bestimmte Funktionen nutzen
kann oder andere nicht mehr nutzen kann.
({9})
Ganz im Ernst, meine lieben Kollegen: Der Zeitpunkt
für die heutige Debatte ist bemerkenswert; denn die angesprochene europäische Verordnung tritt Ende dieses
Monats in Kraft. Sämtliche nationale Regulierer führen
im Sommer eine aufwändige Konsultation durch: Sechs
Wochen lang sollen Leitlinien diskutiert werden, die
Ende August tatsächlich in Kraft treten. Wenn wir heute ein Gesetz verabschieden, obwohl wir genau wissen,
dass im August dieses Jahres europäische Regelungen
kommen, die wir alle noch gar nicht kennen können,
({10})
würde das bedeuten, dass die Konsultation im Sommer
zu einer Farce wird.
Insofern glaube ich, wir sollten erst einmal diesen Prozess vernünftig zu Ende bringen.
({11})
Danach können wir einmal schauen, wo wir stehen. Dann
kann man immer noch überlegen, welche Handlungsspielräume bestehen. Es kann aber ganz sicher nicht so
laufen, dass jetzt jedes europäische Land eigene Gesetze
verabschiedet, wodurch wieder ein europäischer Flickenteppich erzeugt wird.
Vielen Dank.
({12})
Vielen Dank. - Liebe Kolleginnen und Kollegen, interfraktionell ist vereinbart worden, dass die Vorlage auf
Drucksache 18/6876 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen wird. Nicht einig sind
wir uns aber in der Frage, welcher Ausschuss die Federführung übernimmt. Die Fraktionen der CDU/CSU und
der SPD wünschen Federführung beim Ausschuss für
Wirtschaft und Energie. Die Fraktion Die Linke wünscht
Federführung beim Ausschuss Digitale Agenda.
Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
Fraktion Die Linke abstimmen, dass die Federführung
beim Ausschuss Digitale Agenda liegen soll. Wer stimmt
für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag
ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen der Opposition abgelehnt.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU und der SPD abstimmen,
dass die Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft
und Energie liegen soll. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Novellierung von Finanzmarktvorschriften auf Grund europäischer
Rechtsakte ({0})
Drucksachen 18/7482, 18/7826
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({1})
Drucksache 18/8099
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Matthias Hauer, CDU/CSU-Fraktion.
({2})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir beraten heute abschließend den Entwurf
eines Ersten Finanzmarktnovellierungsgesetzes. Dabei
geht es um drei große Themenbereiche: erstens um die
Bekämpfung von Marktmissbrauch, zweitens um die
Anforderungen an Zentralverwahrer und drittens um
bessere Informationen für Kleinanleger. Die Europäische
Union hat drei Verordnungen und eine Richtlinie zu diesen Themenbereichen erlassen. Diese werden wir heute
im deutschen Recht verankern. Wir gehen damit einen
weiteren wichtigen Schritt in Richtung besserer Finanzmarktregulierung. Wir erhöhen die Transparenz und die
Integrität der Finanzmärkte und stärken gleichzeitig den
Anlegerschutz.
Nach dem Auftakt heute wird demnächst das Zweite
Finanzmarktnovellierungsgesetz folgen. Wir werden darin das deutsche Recht an die Finanzmarktverordnung
MiFIR anpassen und die Finanzmarktrichtlinie MiFID II
in deutsches Recht umsetzen. Was erwartet uns mit
MiFID II und MiFIR?
Unabhängigen Anlageberatern wird es EU-weit verboten, Zuwendungen anzunehmen. Die EU vollzieht
damit das nach, was bei uns in Deutschland bereits seit
August 2014 vorgeschrieben ist. Aber auch in Deutschland wird die Regelung verschärft: Künftig dürfen auch
nichtmonetäre Vorteile grundsätzlich nicht mehr angenommen werden.
Wir werden die Aufsichtsbehörden weiter stärken. Sie
erhalten die Befugnis, bei Finanzprodukten einzuschreiten. Die Aufsichtsbehörden können Vermarktung, Vertrieb und Verkauf von Finanzinstrumenten beschränken
oder gar untersagen.
Wesentliches wird sich bei der Beratung und der
Kommunikation zwischen Kunden und Wertpapierdienstleistungsunternehmen wie Banken ändern. Ein
neues europäisches Beratungsprotokoll wird eingeführt.
Zudem müssen telefonische Beratungsgespräche künftig
aufgezeichnet werden, um Anleger besser zu schützen
und Marktmissbrauch besser zu verfolgen.
Auch im Bereich des Hochfrequenzhandels vollzieht
Europa weitgehend das nach, was hier bereits gilt, wobei Deutschland schon seit 2013 eine Vorreiterrolle einnimmt.
Dies alles wird erst Bestandteil des Zweiten Finanzmarktnovellierungsgesetzes sein. Die Verzögerungen auf
europäischer Ebene nehmen uns die Möglichkeit, schon
heute Klarheit über diese Details zu schaffen, was wir
gerne getan hätten.
Ein großer Dank gilt unserem Bundesfinanzminister
Wolfgang Schäuble und dem Bundesfinanzministerium.
Aufgrund der Verzögerung auf europäischer Ebene waren
wir gezwungen, die Finanzmarktnovellierung kurzfristig
in zwei Teile aufzuspalten, um die fristgerechte Umsetzung der heute zu beratenden europäischen Rechtsakte
zu gewährleisten. Das hat das Bundesfinanzministerium
hervorragend geleistet. Vielen Dank dafür!
Es ist sehr bedauerlich, dass die Umsetzung des zweiten Teils nun verzögert wird; denn gerade MiFID II und
MiFIR enthalten wichtige Maßnahmen zum Anlegerschutz und zur Transparenz der Finanzmärkte. Dass wir
auf den Finanzmärkten mehr Transparenz brauchen, haben die letzten Tage noch einmal deutlich gezeigt. Wie
Panama und andere Steueroasen an Steuerhinterziehung
und Geldwäsche mitwirken, ist zutiefst schäbig. Dagegen gilt es weiterhin konsequent vorzugehen.
({0})
Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble engagiert
sich seit Jahren für mehr Transparenz. Die Panama-Enthüllungen zeigen deutlich, dass er mit seiner Politik auf
dem richtigen Kurs ist, Steuerhinterziehung gerade auch
durch eine intensivere internationale Zusammenarbeit
auszutrocknen.
({1})
Deutschland hat in diesem Bereich seit Jahren eine
Vorreiterrolle übernommen: sowohl innerhalb der G 7
und der G 20, aber auch innerhalb der OECD. Dadurch
sind wir auf internationaler Ebene deutlich vorangekommen. Fast 100 Staaten bekennen sich mittlerweile zum
automatischen Informationsaustausch über Finanzkonten. Ab September 2017 werden Finanzinstitute auf internationaler Ebene nun Informationen austauschen, damit besser gegen Steuerhinterziehung und andere illegale
Tätigkeiten vorgegangen werden kann. Der Anstoß dazu
erfolgte hier in Berlin auf der Steuerkonferenz im Oktober 2014. Es muss das Ziel sein, dass sich alle Staaten am
Informationsaustausch beteiligen. Das ist ein mühseliger
Prozess, aber jeder zusätzliche Staat, der sich beteiligt, ist
ein Schritt in die richtige Richtung.
Auch bei der sogenannten BEPS-Initiative der OECD
geht Deutschland mit dieser Bundesregierung voran. Damit wird das grenzüberschreitende Verschieben von Gewinnen durch multinationale Konzerne bekämpft. Es ist
gut, dass sich Deutschland und das Vereinigte Königreich
seit 2012 verstärkt für die BEPS-Initiative einsetzen und
den Prozess seitdem deutlich vorangebracht haben.
Nicht zuletzt durch das große Engagement unseres
Bundesfinanzministers haben wir in den vergangenen
drei Jahren mehr erreicht als in Jahrzehnten zuvor. Und
auch der aktuelle Fall zeigt, dass es richtig war und ist,
konsequent die grenzüberschreitende Zusammenarbeit
zu verbessern. Diesen Weg werden wir als Union weiter
fortsetzen.
({2})
Der Deutsche Bundestag hat in den vergangenen Jahren viel dafür getan, um die Märkte zu stabilisieren und
ihre Anfälligkeit für neue Finanzkrisen zu reduzieren.
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
Insgesamt haben wir seit der Finanzkrise 40 Maßnahmen
umgesetzt, die zur stärkeren Regulierung der Finanzmärkte und zum Schutz der Anleger beitragen. Auch der
heutige Gesetzentwurf dient in erster Linie dazu, Anleger
besser zu schützen. Was sind die wesentlichen Punkte?
Erstens. Mit den Regelungen zum Marktmissbrauch
gehen wir auf europäischer Ebene konsequent vor gegen
Insidergeschäfte, gegen die unrechtmäßige Offenlegung
von Insiderinformationen und gegen Marktmanipulation.
Bislang war das Thema Marktmissbrauch in den einzelnen EU-Staaten sehr unterschiedlich geregelt. Nicht einmal schwere Verstöße waren überall strafrechtlich sanktioniert. Auch die Sanktionen waren von Staat zu Staat
sehr unterschiedlich. Diese Lücken konnten Täter durch
die unterschiedlichen Regelungen auf europäischer Ebene bislang ausnutzen. Dadurch konnte Marktmissbrauch
in der Vergangenheit leider nur unzureichend bekämpft
werden. Gerade auch, weil Täter über Staatsgrenzen hinweg agieren, ist die EU-weite Harmonisierung mehr als
sinnvoll.
Zweitens. Mit den Regelungen zu den Zentralverwahrern werden auch die Anforderungen an sie EU-weit harmonisiert. Zentralverwahrer sind es, die neu emittierte
Wertpapiere registrieren. Sie führen zentrale Wertpapierkonten. Sie erfassen, wem welche Wertpapiere gehören.
In der EU verwahren sie Wertpapiere im Gesamtvolumen
von rund 39 Billionen Euro und wickeln Wertpapiergeschäfte im Volumen von etwa 500 Billionen Euro ab.
Schon bei diesen Größenordnungen liegt auf der Hand,
wie wichtig es ist, dass die Verwahrer Wertpapiergeschäfte ordnungsgemäß und pünktlich durchführen.
Drittens. Mit der sogenannten PRIIPs-Verordnung
erhalten Anleger künftig ein EU-weit einheitliches Informationsblatt für verpackte Anlageprodukte. Als verpackt gelten alle Anlageprodukte, bei denen das Geld der
Kunden nicht direkt, sondern nur indirekt am Kapitalmarkt investiert wird. Das ist zum Beispiel der Fall bei
offenen oder geschlossenen Investmentfonds, aber auch
bei fondsgebundenen Lebensversicherungen. Diese Informationsblätter, auch Beipackzettel genannt, sind den
Anlegern vor Vertragsabschluss vorzulegen. Sie können
damit Chancen, Risiken, aber auch Kosten besser überblicken, aber dadurch auch die Produkte besser miteinander vergleichen.
Für uns in Deutschland ist die Idee dieser Informationsblätter alles andere als neu. Wir sind auch bei diesem
Thema bereits in den vergangenen Jahren vorangegangen. Wir haben Beipackzettel vorgeschrieben für die
Anlageberatung bei Finanzinstrumenten, bei Verträgen
zur Altersvorsorge oder über Versicherungen, für Investmentvermögen und für viele Produkte des Grauen
Kapitalmarkts. In den nächsten Wochen werden wir uns
auch noch einmal intensiv mit den Produktinformationsblättern für einfache Finanzprodukte, also für Aktien
und einfache Anleihen, befassen. Wir werden sehr genau
evaluieren, ob in diesem Bereich Optimierungsbedarf
besteht.
Ich komme zum Schluss. Selten standen die europäische Idee und der europäische Zusammenhalt mehr unter
Beschuss als in den letzten Monaten. Viele Menschen
zweifeln an der Handlungsfähigkeit der Europäischen
Union. Auch im Bereich der Finanzmarktregulierung
zeigt sich, dass wir gemeinsame europäische Lösungen
brauchen, um Verbesserungen herbeiführen zu können.
In einer immer komplexer werdenden und völlig vernetzten Welt sind nationale Maßnahmen selten die Lösung
für internationale Probleme - weder im Bereich der Finanzmarktregulierung noch in anderen Politikbereichen.
Vielen Dank.
({3})
Vielen Dank. - Dann hat jetzt die Kollegin Susanna
Karawanskij für die Fraktion Die Linke das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Gäste! Die Finanzmärkte haben ja nun
wirklich einen katastrophal schlechten Ruf, insbesondere wenn wir an die jüngst bekanntgewordenen Skandale
denken - ich will sie noch einmal aufzählen - wie Lehman, Prokon oder German Pellets. Jetzt sollen mit dem
vorgelegten Gesetzentwurf die Finanzmärkte stabiler
und transparenter gemacht werden.
Dabei ist jetzt schon fast das zweite Gesetz in der Pipeline. Aber wenn Sie, meine Damen und Herren von der
Bundesregierung oder von der Koalition, wirklich etwas
für den Anlegerschutz tun wollen bzw. ihn verbessern
wollen, dann sollten Sie das nicht halbherzig tun. Mit
diesem Gesetzentwurf haben Sie jedenfalls eine große
Chance vertan.
Der Finanzaufsicht sollen in Zukunft mehr Eingriffsrechte an die Hand gegeben werden, um Marktmissbrauch vorzubeugen. Doch die Regelungen, die Sie hier
vorschlagen, erschöpfen sich in der Aufklärung, Verhinderung und Sanktionierung. Sie stärken die Finanzaufsicht leider nur oberflächlich in der Funktion als Überwacherin des Wertpapiermarktes. Aber das breite Spektrum
unrechtmäßiger Handlungen gegenüber Kleinanlegerinnen oder Kleinanlegern, in dem tatsächlich Marktmissbrauch stattfindet, bleibt davon leider unberührt. Die
Aufsicht, also die BaFin, oder die Staatsanwaltschaft hat
in der Vergangenheit häufig erst dann eingegriffen, wenn
es schon zu spät war. Die Kontrollmacht der Aufsicht
wird durch die Vorschläge im vorgelegten Gesetzentwurf
viel zu sehr auf die Phase der Ausgabe bzw. der Emission
und des Vertriebs der Finanzinstrumente konzentriert.
Die Anlageskandale haben aber gezeigt, dass die
Kleinanlegerinnen und Kleinanleger auf sich selbst gestellt waren und sind. Ihnen fehlen einfach Informationen
und Möglichkeiten, ihre Rechte durchzusetzen. Insbesondere die ausgebenden Institutionen, also diejenigen,
die die schrottigen Finanzinstrumente auf den Markt gebracht haben, haben leider nichts zu befürchten. Sie warten nämlich ganz ungestört ab und übermitteln falsche
oder irreführende Angaben. Die Kleinanleger werden
hingehalten und getäuscht, bis ihre Ansprüche verjährt
sind. Zum Teil gehen solche Institutionen sogar den Weg,
ihre Anlagepleite gar nicht mehr der Haftpflichtversicherung zu melden. Sie gehen bewusst in die Insolvenz und
sitzen die Pleite aus. Die Kleinanleger haben dann das
Nachsehen.
Das geht unseres Erachtens nicht so weiter. Nach den
bestehenden Regelungen werden die meisten Anleger
durch Produkte geschädigt, die bereits auf dem Markt
sind. Wir sind der Meinung, dass der Aufsicht hier stärkere rechtliche Grundlagen an die Hand gegeben werden müssen, damit Verbraucher zu ihrem Recht kommen
können, wenn sie von einer Anlagepleite betroffen sind.
({0})
Wir fordern kollektiven Verbraucherschutz durch die
Aufsicht, um sozusagen die Aufsicht verbraucherfreundlicher zu fassen. Das heißt, die Finanzaufsicht soll für die
geschädigten Anleger eintreten, damit sie ihre Ansprüche
durchsetzen können. Sie soll keine Klagen führen, aber
sozusagen für Gruppen eintreten und einen Zaun ziehen
können, damit die Betrüger nicht entwischen und Anleger ihre Schäden und Regressansprüche geltend machen
können.
({1})
Wenn Sie Verbraucherschutz tatsächlich ernst nehmen,
dann müssen Sie die Aufsicht mit dem Mandat ausstatten, kollektiv die Rechtsverfolgung zu sichern. Für den
Gesetzgeber bedeutete das nur eine kleine Änderung im
Gesetzentwurf, aber es wäre ein wirklich großer Schritt
für den finanziellen Verbraucherschutz.
Sie haben vorhin die Informationsblätter, die sogenannten Beipackzettel, angesprochen. Hier hätten Sie
tatsächlich die Chance ergreifen können, sowohl Struktur, Inhalt und Form als auch den Umfang vorzugeben,
um die Produkte für Kleinanleger, die beispielsweise etwas für ihre Altersvorsorge tun möchten, in dem ganzen
Dschungel tatsächlich vergleichbar zu machen. Das ist
nämlich bislang nicht der Fall.
Schlussendlich: Wenn Sie wirklich Kleinanlegerschutz betreiben wollen, dann brauchen wir ganz klar
eine Verfahrensumkehr, und zwar in dem Sinne: erst prüfen, dann zulassen.
({2})
Erst dadurch werden Sie sicherstellen, dass schrottige
Finanzmarktinstrumente, die mit unüberschaubaren Risiken Anlegerinnen und Anleger schädigen, gar nicht erst
auf den Markt gelangen, sodass Verbraucher zukünftig
tatsächlich davor geschützt sind. Das wäre wahrhaftiger
Verbraucherschutz. Das würde dafür sorgen, dass der ungleiche Kampf zwischen Anlegern und der Finanzmarktlobby auf Augenhöhe stattfinden kann. Solange Sie das
nicht tun, bleiben Ihre Gesetzesvorhaben leider halbherzig.
Danke.
({3})
Vielen Dank. - Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der
Kollege Christian Petry.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Frau Karawanskij, der kollektive Verbraucherschutz ist im Rahmen des Kleinanlegerschutzgesetzes
bei der BaFin verankert worden; das haben wir bereits
gemacht. Den stärken wir natürlich noch und werden das
fortführen; denn das ist eine wichtige Aufgabe. Sie haben
zu Recht gesagt, dass der Verbraucher auf Augenhöhe
mit demjenigen stehen muss, der Papiere ausgibt oder
Vermittler ist. Dafür muss es letztendlich auch entsprechende Schutzinstrumentarien geben.
Der vorliegende Gesetzentwurf ist ein umfangreiches
Werk. Herr Dr. Meister hat uns wieder einmal etwas
vorgelegt, was teilweise sehr schwer zu lesen ist. Das
liegt nicht an Herrn Dr. Meister, sondern tatsächlich an
der Materie. Marktmissbrauchsrichtlinie, Marktmissbrauchsverordnung, Verordnung über Zentralverwahrer
sowie die Verordnung über Basisinformationsblätter für
verpackte Anlageprodukte für Kleinanleger und Versicherungsanlageprodukte werden in deutsches Recht
überführt. Auch in der Begründung des Gesetzentwurfs
lassen sich schwierige Formulierungen finden, die das
Verständnis erschweren. Das Ganze ist sehr kompliziert;
da muss man erst einmal durchsteigen. Aber das Ziel ist
klar: Wir wollen Verbraucherschutz, wir wollen Transparenz, und wir wollen stabile Märkte. Aber wir wollen
auch den Marktzugang, den Handel und den Markt als
solchen nicht überregulieren; er soll auch stattfinden. So
muss es möglich sein, in kleineren Einheiten, zum Beispiel in kleinen Sparkassen, eine umfängliche und gute
Beratung zu bekommen. Auch dort müssen alle Produkte
angeboten werden können. Wir dürfen das Ganze nicht
so überfrachten, dass in kleineren Einheiten nicht mehr
alles angeboten werden kann.
Durch die europäischen Vorgaben werden bestehende Sanktionsmaßnahmen technologischen Entwicklungen wie dem Hochfrequenzhandel angepasst. Überwachungs- und Eingriffsbefugnisse der BaFin werden
gestärkt, Basisinformationsblätter verpflichtend eingeführt. Zudem werden, wie Kollege Hauer schon gesagt
hat, die Strafvorschriften bei ordnungswidrigem, also bei
vorsätzlichem oder leichtfertigem Verhalten verschärft.
Wir haben hier darüber debattiert, ob es vielleicht möglich ist, leichtere Verstöße mit geringfügigeren Sanktionen zu ahnden bzw. sogar ganz herauszunehmen. Wir
haben uns dafür nicht entschieden. Es bleibt dabei, dass
alles, was in diesem Bereich vorfällt, strafrechtlich verfolgt werden kann. Wer in schwerwiegenden Fällen vorsätzlich handelt und Marktergebnisse manipuliert, kann
fortan mit einer Geldstrafe oder einer Freiheitsstrafe von
bis zu fünf Jahren bestraft werden.
Als „besonders strafwürdig“ werden schwerer Betrug,
die organisierte, also die gewerbsmäßige oder bandenmäßige Begehung eines Betrugs sowie die Weitergabe
von Insiderinformationen angesehen. Bei leichtfertigem
Handeln ist neben der Geld- eine Freiheitsstrafe von bis
zu einem Jahr möglich.
Gerne wäre ich an dieser Stelle auf die Kritik von
Herrn Schick eingegangen. Ich gehe davon aus, dass er
seine Rede zu Protokoll gegeben hat, weil er in einem
Untersuchungsausschuss sitzt. Aber er wollte wohl etwas
zu Whistleblowern und den Beiträgen, die diese leisten,
sagen. Ich nehme das jetzt trotzdem einmal auf. Wir sind
sehr froh, dass diese Personen einen bedeutenden Beitrag
zur Aufdeckung verschiedener Sachverhalte leisten. Sie
müssen auch geschützt werden. Durch das Gesetz wird
ein nationales Whistleblower-System bei der BaFin als
Meldeplattform eingeführt. Zeitgleich regeln Änderungen im Börsengesetz die Einführung unternehmensspezifischer Hinweisgebersysteme. Die Kritik der Opposition an diesen Regelungen ist allerdings ein bisschen zu
weit gegangen; denn ein effektiver Schutz ist gegeben.
Die mit dem Gesetz zu beschließenden Regelungen stellen eindeutig klar, das Whistleblower, die Informationen
beispielsweise an die BaFin weitergeben, geschützt sind.
Eine weitere wichtige Regelung betrifft die Finanzvermittler. Auf dem Zweitmarkt werden sie nun auf der
Grundlage des Kreditwesengesetzes auch durch die BaFin beaufsichtigt. Wie Sie wissen, hätten wir das gerne
genauso für den Erstmarkt geregelt. Das wäre nichts
Neues gewesen; denn das haben wir so schon beim
Kleinanlegerschutz geregelt. Hier konnten wir uns noch
nicht durchsetzen. Wir werden aber dranbleiben. Es werden ja auch noch andere Diskussionen kommen. Möglicherweise werden wir es schaffen - das ist der sachliche
Grund -, dass die entsprechenden Anlagevermittlungen
dort kontrolliert werden, wo wir die höchste Kompetenz
der Kontrolle und der Aufsicht vermuten, nämlich bei der
BaFin.
Mit Blick auf das vorliegende Gesetz bleibt festzuhalten, dass wir innerhalb der EU verbindliche, einheitliche
Maßnahmen umsetzen, die helfen, Marktmissbrauch
künftig zu vermeiden. Damit stärken wir den Anlegerschutz nachhaltig und fördern die Integrität der Märkte.
MiFID II und MiFIR werden erst noch kommen. Wir
hätten das gerne zusammen gemacht. Leider müssen wir
da noch etwas warten. Aber das wird der nächste Schritt
sein. 40 Regelungen haben wir bereits gemacht. 41 werden es nun sein. Es werden noch mehr für mehr Transparenz kommen.
Zum Schluss. Das angekündigte Abstimmungsverhalten der Opposition, nämlich die Enthaltung, begreifen wir als die höchste Form des Lobs. Dafür herzlichen
Dank!
In diesem Sinne: Glück auf!
({0})
Vielen Dank. - Da der Kollege Dr. Gerhard Schick
seine Rede zu Protokoll gegeben hat1), hat jetzt Sarah
Ryglewski, SPD-Fraktion, das Wort.
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Es ist in der Tat eine
etwas ungewöhnliche Situation. Der Kollege Petry und
ich hatten schon überlegt, ob wir quasi im Wechsel unse-
re Rede vortragen, um bestimmte Punkte nachdrücklich
zu unterstreichen, aber wir haben dann doch darauf ver-
zichtet. Ich weiß auch nicht, ob das in der Geschäftsord-
nung so vorgesehen ist.
Sehr geehrte Damen und Herren! Ostern ist zwar ge-
rade vorbei, aber ich möchte trotzdem einen Vergleich
bemühen, der uns ein bisschen an Ostern erinnert. Wir
alle kennen die schönen Überraschungseier. Wir wissen
auch: Das Ei sieht auf den ersten Blick gut aus, schmeckt
lecker, aber wenn man das Ei ausgepackt hat, ist die Ent-
täuschung oft groß. Statt des schönen kleinen Sammel-
figürchens, das man sich erhofft hat, ist oft nur so ein
kleinteiliger Kram drin, den man mühselig zusammen-
bauen muss und der beim Spielen keinen Spaß macht.
Genauso ist es leider oft auch, wenn man sich auf
die Suche nach dem richtigen Finanzprodukt macht. Im
Gegensatz zur Kinderüberraschung handelt es sich bei
einer Anlage aber nicht um ein Spiel, sondern für viele
Menschen, gerade für Kleinanleger - das habe ich auch
in meiner letzten Rede deutlich gemacht -, geht es hier
um existenzielle Sachen. Auch wenn ich natürlich da-
von ausgehe, dass es nicht so wie bei dem berühmten
siebten Ei ist, dass also nur bei jeder siebten Anlagebera-
tung ein passendes Produkt vermittelt wird, gibt es beim
Anlegerschutz auf jeden Fall deutlichen Nachholbedarf.
Deswegen ist es gut, dass wir hier heute dieses Gesetz
verabschieden.
Ich möchte gerne auch noch einmal, weil das vor-
hin von Frau Karawanskij kritisiert wurde, auf die Pro-
duktinformationsblätter eingehen. Es ist so, dass wir
in Deutschland schon verschiedene gute Regelungen
getroffen haben. Es ist aber zugleich so - das hat Herr
Hauer schon deutlich gemacht -, dass wir auch eine Re-
gulierung auf europäischer Ebene brauchen, weil der
Markt international ist. Wir brauchen hier also EU-weit
Einheitlichkeit.
Ein weiterer Punkt, der noch wichtig ist, ist folgen-
der: Wenn man sich die Produktinformationsblätter in
der Praxis anschaut - ich habe mir neulich den Spaß
gemacht -, dann stellt man fest, dass es sich bei die-
sen tatsächlich wie mit den Beipackzetteln verhält, die
Herr Hauer beschrieben hat. Auch das kennen wir alle.
Wir schauen uns die Beipackzettel an und verstehen die
Hälfte davon nicht. In der PRIIPs-Verordnung ist ganz
deutlich geregelt, dass es eine klare und verständliche
Sprache für Verbraucherinnen und Verbraucher geben
1) Anlage 5
soll. Das ist ein Punkt, von dem ich glaube, dass er eine
echte Verbesserung darstellt. Ich will an der Stelle aber
auch Wasser in den Wein gießen. Wir müssen da am Ball
bleiben. Wir müssen schauen, dass das auch umgesetzt
wird und dass sich die verständliche Sprache nicht am
Anlageberater orientiert, sondern am Endverbraucher,
dem Kleinanleger.
Zum Thema Finanzaufsicht wurde schon von dem
Kollegen Petry etwas gesagt. Aber weil das ein Punkt
ist, der uns besonders wichtig ist, möchte ich ihn kurz
wiederholen. Ich verstehe nicht, warum wir dabei bleiben, dass diese bei den Gewerbeämtern angesiedelt ist.
Ich habe großes Zutrauen zu den meisten Leuten, die
in einem Gewerbeamt arbeiten, aber wir haben die BaFin extra mit dieser Kompetenz ausgestattet. Ich würde
mir wünschen, dass wir in einem komplexer werdenden
Markt dazu übergehen, die Aufsicht bei der Institution zu
verankern, wo die Kompetenz ist. Der Kollege Petry hat
es ja schon gesagt: Wir bleiben da am Ball.
Eine Sache möchte ich gerne noch sagen: Bei der Umsetzung darf man nicht nur die Anlegerseite betrachten,
sondern wir müssen auch die Seite betrachten, die die
Produkte anbietet. Deswegen war unser Vorschlag, es gerade bei den unverpackten Produkten kleineren Banken
leichter zu machen. Da soll der Emittent die Produkte erstellen dürfen; die Daten sind ohnehin vorhanden.
Ich weiß, ich muss zum Schluss kommen; deswegen
mache ich es ganz kurz: Ich glaube, wir haben hier ein
gutes Gesetz vorliegen. Ich hoffe, dass wir mit diesem
Gesetz dazu kommen, dass der Spruch „Lass dich überraschen!“ zwar weiterhin ein toller Werbeslogan für Kinderprodukte, aber eben nicht für Finanzprodukte ist. Ich
hoffe, dass wir da zu einem Fortschritt kommen.
Vielen Dank.
({0})
Vielen Dank. - Damit ist die Aussprache beendet.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Novellierung von Finanzmarktvorschriften auf Grund europäischer Rechtsakte. Der Finanzausschuss empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/8099,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksachen 18/7482 und 18/7826 in der Ausschussfassung
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der Opposition angenommen.
Jetzt bitte ich Sie noch um ein bisschen Bewegung:
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben.
- Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis in
dritter Lesung angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Kordula
Schulz-Asche, Uwe Kekeritz, Ulle Schauws,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Die AIDS-Epidemie in Deutschland und weltweit bis 2030 beenden
Drucksache 18/6775
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. - Ich bitte
Sie, die Plätze einzunehmen.
Ich eröffne die Aussprache, und das Wort hat die Kollegin Kordula Schulz-Asche, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eine
Welt ohne Aids, ist das möglich?
({0})
Die Vereinten Nationen haben mit der Verabschiedung
der globalen Nachhaltigkeitsziele der Weltgemeinschaft
eine höchst erstrebenswerte, aber auch höchst ambitionierte Vorgabe gemacht: Bis zum Jahr 2030 soll die Aidsepidemie weltweit beendet werden. Ich bin überzeugt:
Mit politischem Willen, einer schlüssigen Strategie und
einer verlässlichen Finanzierung kann uns das gelingen.
Immer noch ist die Erkrankung an HIV eine der größten Herausforderungen für die globale Gesundheit - und
dies, obwohl sie vermeidbar und behandelbar wäre. Trotz
der internationalen Anstrengungen infizierten sich im
Jahr 2014 weltweit rund 2 Millionen Menschen neu, und
es starben über 1 Million Menschen. Das, meine Damen
und Herren, muss ein Ende haben.
({1})
Die Bundesregierung hat es nun endlich geschafft,
eine neue nationale Strategie zur Eindämmung von HIV,
Hepatitis B und C sowie anderen sexuell übertragbaren Infektionen vorzulegen. Zur Erinnerung: Die letzte
stammte aus dem Jahr 2005. Die Vorgaben der internationalen Gemeinschaft haben also die Maßstäbe neu gesetzt.
Die Zusammenarbeit von Gesundheits- und Entwicklungsministerium ist deshalb ein richtiger Weg. Auch den
Strategien und den Prioritäten, die Sie in dieser Strategie
vorlegen, können wir weitgehend zustimmen. Aber bisher ist alles nur Prosa und nicht mehr; denn ohne konkrete Finanzierung, ohne festen Zeitplan und ohne eine
kritische Erfolgskontrolle werden wir eine Welt ohne
Aids nicht erreichen, und hier erwarten wir von der Bundesregierung konkrete Zusagen.
({2})
Aus grüner Sicht - in unserem Antrag ist es ausführlich beschrieben - gibt es folgende zentrale Handlungsfelder:
Ganz oben auf der Agenda steht für uns der Abbau von
Vorurteilen, Diskriminierung und Stigmatisierung, nicht
nur in anderen Ländern, auch in Deutschland; auch hier
gibt es noch Handlungsbedarf.
({3})
Wir müssen uns noch stärker als bisher auf Aufklärung und Prävention konzentrieren, und zwar gemeinsam
mit den besonders betroffenen Gruppen, zum Beispiel
Männern, die Sex mit Männern haben, oder bestimmten
Migrantengruppen. Wir müssen auf zielgruppen- und altersspezifische Kampagnen und Angebote setzen. Gerade bei Konzepten zur HIV-Prävention in der Suchthilfe
hat Deutschland im Gegensatz zu vielen anderen europäischen Ländern noch einen erheblichen Aufholbedarf.
Auch bei den Pflegeangeboten für ältere Menschen mit
HIV gibt es einen enorm wachsenden Handlungsbedarf.
Frühzeitiges Wissen über die eigene Infektion und eine
gute Behandlung sind zentral im Kampf gegen Aids - in
der Welt, aber auch hier in Deutschland. Nur wer den eigenen Infektionsstatus kennt, kann richtig handeln und
kann richtig behandelt werden.
Weltweit muss mehr in die Gesundheitssysteme investiert werden, in sexuelle und reproduktive Gesundheit
und auch in Bildung und Aufklärung. Mehr als zwei Drittel der betroffenen Menschen leben in Afrika südlich der
Sahara, und mehr als die Hälfte davon sind Frauen. Es
besteht ein sehr enger Zusammenhang zwischen Armut
und Infektionsrisiko.
Meine Damen und Herren, die Lage ist nach wie vor
ernst, und sie geht uns alle an. Als sich Aids als Seuche
entpuppte, kannte noch niemand den Erreger. Heute gehört HIV zu den besterforschten Viren, die es überhaupt
gibt. Und trotzdem gibt es bisher weder eine schützende
Impfung noch Heilung. Deswegen haben wir alle gemeinsam bis 2030 noch sehr viel zu tun.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Vielen Dank. - Jetzt hat die Kollegin Emmi Zeulner
für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Kollegen von den Grünen, Sie haben in
Ihrem Antrag wichtige Aspekte angesprochen und den
Finger in die Wunde gelegt. Es ist tatsächlich so, dass
sich 16 Ihrer 22 Forderungen in der Strategie der Bundesregierung wiederfinden. Natürlich wünscht man sich
immer ein Mehr an Geld, aber auch Sie wissen, dass
Deutschland zum Beispiel der viertgrößte Beitragszahler
im Globalen Fonds zur Bekämpfung von Aids, Tuberkulose und Malaria ist.
Man fragt sich als Gesundheitspolitiker, wenn man
zu diesem Thema spricht: Was mag die Diagnose HIV
für einen Menschen bedeuten, für die Partnerschaft, für
die Familie, für die Freunde, für das Arbeitsumfeld? Wir
können die Antwort nicht geben, und die Ängste, die dahinterstehen, können wir auch nur erahnen. Zu der Angst
um die eigene Gesundheit kommt sicherlich die Sorge
vor Diskriminierung und Stigmatisierung. Auch wenn
viele diesen Gedanken gerne weit von sich schieben, so
müssen wir uns natürlich bewusst sein: Eine hundertprozentige Sicherheit vor dem Virus gibt es bis jetzt noch
nicht.
Das HI-Virus ist keine schmutzige Krankheit, die
nur bestimmte Personenkreise angeht. Er kann jeden
von uns treffen. Ende 2014 lebten in Deutschland etwa
84 000 Menschen mit HIV, und es gab leider 3 200 Neuinfektionen. Deshalb stehen wir als Politiker in der Verantwortung, der Krankheit und ihren Begleiterscheinungen wirksam entgegenzutreten. Obwohl seit Ende der
80er-Jahre große Anstrengungen unternommen wurden,
um über HIV und Aids aufzuklären, so ist diese Krankheit dennoch weiterhin mit Vorurteilen behaftet. Leider
werden Infektionen mit sexuell übertragbaren Krankheiten von vielen immer noch als selbstverschuldet angesehen. Es ist erschreckend, wenn Umfragen der Deutschen
AIDS-Hilfe zeigen, dass jeder zehnte Betroffene schon
einmal davor zurückscheute, eine Arztpraxis aufzusuchen, als dies nötig gewesen wäre, dass jedem Fünften
schon einmal eine medizinische Behandlung verwehrt
wurde und dass jeder Vierte, der offen mit seiner HIV-Infektion umgeht, vom Arbeitgeber diskriminiert wurde.
Solche Diskriminierungen sind nicht nur unangebracht,
sondern sie entbehren auch jeder rationalen Grundlage.
Menschen mit einer HIV-Infektion können heute ein
normales Leben führen. Aufgrund der enormen Fortschritte in der medikamentösen Therapie müssen sie, anders als noch vor Jahrzehnten, nicht länger fürchten, jung
an einer Begleitbagatellerkrankung zu sterben. Obwohl
wir in einer aufgeklärten Gesellschaft leben, ist es somit
noch ein weiter Weg, bis Diskriminierung vollständig abgebaut ist.
Liebe Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, die Bundesregierung ist sich den in Ihrem Antrag aufgezeigten
Problemen durchaus bewusst. Sie geht diese Probleme
aktiv an, und sie schafft Lösungen. So konnten wir erreichen, dass Deutschland zu den Ländern mit der niedrigsten HIV-Neuinfektionsrate in Europa zählt. Erst in der
vergangenen Woche - Sie haben es angesprochen - hat
die Bundesregierung die Strategie zur Eindämmung von
HIV, Hepatitis B und C und anderen sexuell übertragbaren Infektionen vorgelegt. Diese Strategie begrüßen wir
sehr; denn sie holt die Betroffenen ebenso wie potenziell
Gefährdete dort ab, wo sie stehen, und geht auf deren
individuelle Lebenssituation ein.
({0})
Sie umfasst auf nationaler Ebene fünf Handlungsfelder, die durch konkrete Maßnahmen mit Leben erfüllt werden sollen: erstens gesellschaftliche Akzeptanz
schaffen, zweitens bedarfsorientierte Angebote weiter
ausbauen, drittens integrierte Prävention, Tests und Versorgungsangebote weiterentwickeln, viertens sektorübergreifende Vernetzung der Akteure fördern, fünftens Wissensgrundlage und Datennutzung weiter ausbauen.
Es ist aber nicht nur unserer Gesundheitspolitik, sondern auch mutigen Kampagnen wie „Gib Aids keine
Chance“ der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zu verdanken, dass die Zahl der Neuinfektionen
seit mehreren Jahren - leider auf einem leicht erhöhten
Niveau - stabil ist. Es ist auch ein Verdienst der BZgA,
dass Kondome heute ein Alltagsgegenstand sind. Diese
Enttabuisierung müssen wir auch für die Krankheit selbst
erreichen.
Zudem ist mir wichtig, den zahlreichen Selbsthilfeorganisationen, die unglaublich wertvolle Arbeit leisten, zu
danken. Es muss für uns selbstverständlich bleiben, dass
diese ausreichend finanziell gestützt werden.
Eine wichtige Säule der Versorgung bilden zudem unsere niedergelassenen Ärzte, die sich auf die Behandlung
HIV-Infizierter spezialisiert haben. Sie stellen eine hohe
Qualität sicher. Davon profitieren natürlich vor allem die
Patienten.
Es ist aber auch so, dass bei den Landärzten und auch
den spezialisierten Ärzten in absehbarer Zeit ein Mangel
droht. Deswegen müssen wir Anstrengungen unternehmen, den Nachwuchs für dieses Berufsfeld zu begeistern.
Auch unsere Hausärzte, wie gesagt, stellen eine wichtige Säule der Versorgung dar. Deswegen wollen wir auch
dort die Fort- und Weiterbildungsangebote ausbauen.
Ich könnte noch sehr lange über dieses Thema reden.
Aber meine Redezeit ist fast beendet. Dennoch möchte
ich noch einen ganz wichtigen Punkt ansprechen und bitte deswegen um Verständnis - präventiv.
Wenn er nicht zu lang wird.
Nein. - Bei der Bekämpfung von HIV verzeichnen
wir auch Erfolge. Leider besteht in anderen Bereichen
zu Recht die Sorge, dass sich bei jungen Menschen verschiedene Krankheiten verbreiten, zum Beispiel Chlamydien, HPV. Es ist auch nachgewiesen, dass die Zahl der
Syphilisinfektionen zugenommen hat. Hier droht sich ein
Teufelskreis zu entwickeln. Wir dürfen nicht riskieren,
dass wir an der einen Front gewinnen und zeitgleich an
der anderen verlieren. Deswegen ist es hervorragend,
dass die Strategie der Bundesregierung einen ganzheitlichen Ansatz fährt und sich nicht nur auf eine Krankheit
fokussiert, sondern alle Krankheiten im Blick hat.
In diesem Sinne wünsche ich weiterhin gute Beratungen.
Danke.
({0})
Vielen Dank. - Für die Fraktion Die Linke spricht jetzt
der Kollege Harald Petzold.
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Besucherinnen und Besucher!
Liebe Kollegin Zeulner, wenn es so ist, wie Sie sagen,
dass 16 von 22 Punkten, die im Antrag der Grünen stehen, schon in der Strategie der Bundesregierung vorkommen: Wieso können Sie dann nicht über Ihren Schatten
springen und sagen: „Das ist ein guter Antrag“?
({0})
Der Antrag beinhaltet Substanz, mit der wir gemeinsam umgehen können. Ich frage Sie dies deshalb, weil
vor ein paar Tagen auf dem Frühlingsfest der Deutschen
AIDS-Hilfe eine Politikerin aus Ihren Reihen mit der Ehrenmitgliedschaft ausgezeichnet worden ist, nämlich die
ehemalige Bundesgesundheitsministerin Rita Süssmuth.
Ihr haben wir es zu verdanken, dass wir in dieser Gesellschaft zu einem Umdenken, was den Umgang mit HIV
und Aids betrifft, gekommen sind.
({1})
Sie hat damals trotz Widerstandes in den eigenen
Reihen neue Methoden und vor allen Dingen ein neues
Denken durchgesetzt, die dazu geführt haben, dass wir
gemeinsam diese Krankheit angehen konnten. Wir sollten uns daher nicht gegenseitig vorhalten: Wir sind die
Guten, und ihr könnt gefälligst mitmachen.
Es sind in der damaligen Zeit im Bundestag ganz andere Töne zu hören gewesen. Hier denke ich an Reden
von Herrn Gauweiler, der eine Meldepflicht oder Reihenuntersuchungen für alle schwulen Männer gefordert hat.
Hiervon sind wir Gott sei Dank weit entfernt, und solche
Forderungen - das sage ich mit allem Respekt - wurden
auch nicht wieder vorgebracht, im Gegenteil. Das finde
ich auch gut so.
Ich erinnere mich noch an Zeiten, als wir in den
90er-Jahren in Brandenburg, in Potsdam, die AIDS-Hilfe aufgebaut haben und uns rechtfertigen mussten, warum wir für so wenige Menschen da sind. Wir hatten
glücklicherweise nur eine niedrige Betroffenenrate und
eine niedrige Infiziertenrate. Allerdings - Sie und auch
Frau Schulz-Asche haben es gesagt - sterben leider noch
viel zu viele Menschen daran. Deswegen ist es dringend
notwendig, dass wir uns neu verständigen, dass wir eine
neue Konzeption entwickeln.
Ich finde, dass die Vorschläge, die die Grünen gemacht
haben, es wert sind, dass man sie unterstützt. Es sind gute
und richtige Vorschläge, und der Finger wird genau an
der richtigen Stelle in die Wunde gelegt, zum Beispiel
bei der Frage des Nichtzugangs zahlreicher Infizierter zu
lebenswichtigen Medikamenten und des unzureichenden
Zugangs zu notwendiger spezieller und gesunder Ernährung. Sie sprechen davon, dass wir natürlich - das muss
kritisch angemerkt werden - eingegangene Selbstverpflichtungen mit Blick sowohl auf den internationalen als
auch auf den nationalen Bereich nicht eingehalten haben.
Frau Süssmuth hat in ihrer Dankesrede eindeutig gesagt,
dass wir im Moment vor der Situation stehen, dass es
ein Rollback gibt, weil in den letzten Jahren die Mittel
für Prävention leider zurückgegangen sind und weil wir
wieder eine Zunahme von Diskriminierung haben.
Warum lassen sich Menschen nicht testen? Weil sie
natürlich Angst vor einem positiven Testergebnis haben.
Aber vor allen Dingen haben sie Angst vor der Diskriminierung, die damit verbunden ist. Mit ihr sind wir nach
wie vor konfrontiert. In dem Antrag, den uns die Grünen
vorgelegt haben, sind zu diesem Punkt gute Vorschläge
enthalten. Das gilt genauso für die Frage der Verleumdung der Infektionsentwicklung vor allem in osteuropäischen Ländern. Das Beispiel der Ukraine, mit der wir ja
immer so hervorragend kooperieren, ist hier zu nennen.
Es finden dort, was diese Frage angeht, ganz finstere Entwicklungen statt. Damit müssen wir uns auseinandersetzen.
Deswegen sage ich: Lassen Sie uns gemeinsam über
den eigenen Schatten springen. Wenn 16 von den 22 Forderungen gut sind, kann man auch laut sagen, dass sie gut
sind, und man kann sie in die Strategie mit aufnehmen.
Vielen Dank.
({2})
Vielen Dank. - Jetzt hat die Kollegin Mechthild
Rawert, SPD-Fraktion, das Wort.
Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger!
Liebe Kolleginnen der Grünen, ich bedanke mich dafür,
dass dieser Antrag eingebracht wurde. Denn so habe ich
auch die Gelegenheit, darzustellen, dass wir über Ihre
Forderungen hinaus in vielen Bereichen längst auf der
Ebene der Handlungserfüllung angekommen sind.
({0})
Die Strategie zur Eindämmung von HIV, Hepatitis B
und C sowie anderen sexuell übertragbaren Infektionen
ist längst weiter, als dies Ihre Forderungen suggerieren.
Mit dieser Strategie verfolgen wir einen bedarfsorientierten und sektorübergreifenden Ansatz, der vor allem
aber integrierend wirkt. Das ist auch im Hinblick auf die
Vielfalt der hier zur Debatte stehenden Erkrankungen
notwendig. Das alles sind nämlich Erkrankungen, die
durch sexuelle Handlungen übertragen werden. Es ist
auch logisch, dass wir eine Strategie und nicht nur einen
reinen Maßnahmenkatalog vorlegen. Denn auf diese Art
und Weise können wir in den nächsten Jahren viele Aspekte aufgreifen.
Die erste Forderung Ihres Antrages lautet, eine nationale Strategie zur Bekämpfung von HIV/Aids vorzulegen. Das ist längst - nämlich am 6. April 2016 - passiert.
Diese Forderung wäre damit also erledigt.
Selbstverständlich ist der Abbau von Stigmatisierung
und Diskriminierung ein zentrales Anliegen. Das ist
ein zentrales Anliegen auch dieser Strategie. Auch diese Forderung von Ihnen erfüllen wir. Schauen Sie sich
bitte die Seiten 13 und 14 an. Da sind unter der Rubrik
„Gesellschaftliche Akzeptanz schaffen“ konkrete Handlungsfelder zur Enttabuisierung, Antistigmatisierung und
Antidiskriminierung benannt.
Es werden weitere Maßnahmen - wie zum Beispiel
das Harm-Reduction-Programm für Drogengebrauchende - gefordert. Ich übersetze, wofür das Ganze dienen
soll: Dabei handelt es sich um Programme zur Minderung von Schäden bei drogengebrauchenden Menschen.
Dabei geht es zum Beispiel um das Zurverfügungstellen
von sauberen Spritzbestecken. Auch solche Dinge berücksichtigen wir in der zugrundeliegenden Strategie.
Auch prüfen wir bereits die sehr richtige Forderung
nach Aktualisierung der Hämotherapieleitlinien. Das
ist ja eine Forderung, über die wir in den letzten Jahren
schon gemeinschaftlich - über alle Fraktionsgrenzen
hinweg - diskutiert haben. Selbstverständlich setzen wir
uns auch dafür ein, dass beim Blutspenden der pauschale
Ausschluss von Männern, die Sex mit Männern haben,
beendet wird.
({1})
Das ist eine richtige Forderung in dem Antrag, die von
uns sehr unterstützt wird und an der wir auch arbeiten.
Zu den internationalen Forderungen gehört, dass in
Ländern mit hoher HIV-Prävalenz eine Sexualaufklärung
für Mädchen, junge Frauen und Männer etabliert wird.
Das ist richtig. Es ist auch ein Kernanliegen des deutschen Beitrages zur internationalen HIV-Bekämpfung.
Sie sehen, wir brauchen auch hier das Rad nicht neu
zu erfinden. Ich würde mir sogar manches Mal wünschen, dass die Beschlüsse, die wir im Hinblick auf internationale Politik treffen, innenpolitisch leichter durchzusetzen wären. In diesen Programmen sind wir nämlich
manchmal besser als das, was wir hier vor Ort machen.
Ich könnte so fortfahren, aber die genannten Beispiele
sollten jetzt reichen.
Insgesamt betrachtet, sind der Kampf gegen HIV/Aids,
der Abbau von Stigma und Diskriminierung sowie die
Menschenrechte der Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter,
der Drogengebrauchenden, der Menschen ohne Papiere
und auch der gefährdeten Menschen in Risikoländern
Harald Petzold ({2})
längst auf der Tagesordnung der SPD und Bestandteil
der Strategie. Wir Sozialdemokratinnen sind hier sogar
Vorreiterinnen: Die erste HIV/Aids-Bekämpfungsstrategie der Bundesregierung von 2005 kam auf Initiative der
Ministerinnen Ulla Schmidt und Heidemarie WieczorekZeul zustande. Der erste Aktionsplan zur Umsetzung der
HIV/Aids-Bekämpfungsstrategie kam 2007 auf Initiative
von Ulla Schmidt zustande. Ehre, wem Ehre gebührt!
({3})
Wir haben uns des Weiteren für eine ausreichende Finanzierung in diesem Bereich eingesetzt. Die SPD-Fraktion hat 2015 eine Erhöhung der Mittel für die Aidsprävention und auch für Aufklärung und Forschung in
diesem Bereich durchgesetzt. Diese Mittel sind im Haushalt 2016 verstetigt worden.
Die Aufklärung und die Prävention sind selbstverständlich in unserem Blick. Ein gutes Beispiel ist das
Webportal www.zanzu.de, ein Projekt des Familienministeriums und der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, das sich gezielt an Migrantinnen und
Migranten und auch an geflüchtete Menschen wendet;
denn Aufklärung tut hier not. Es ist alles richtig, was hier
im Hinblick auf eine Konkretisierung der Zielgruppenarbeit gesagt worden ist. Da haben wir sehr genau zu arbeiten.
Es kann sich durchaus sehen lassen, was wir als SPD
bereits unternommen haben. Auf eines möchte ich gegen
Ende meiner Rede aber noch hinweisen: Das, was den
gemeinsamen Kampf gegen HIV/Aids, gegen sexuell
übertragbare Erkrankungen ausgemacht hat, war eine
hohe Einigkeit zwischen sämtlichen Fraktionen in diesem Haus. Diese Einigkeit hat nicht nur dazu geführt,
dass wir breite Debatten geführt haben, sondern hat auch
wesentlich zum Erfolg der Bekämpfung von HIV/Aids
beigetragen.
Es ist gesagt worden: Wir müssen mehr im Bereich
der Prävention tun. Ja, das stimmt; denn seitdem insbesondere viele junge Menschen Aids als chronische Erkrankung, aber nicht mehr als Todesdrohung empfinden,
kommt es wieder zu mehr Sorglosigkeit. Hier ist tatsächlich ein Mehr an Aufklärung zu leisten. Daran können
wir alle uns beteiligen.
In diesem Sinne: Machen wir in dieser Gemeinsamkeit im Kampf gegen HIV/Aids und andere sexuell übertragbare Erkrankungen weiter!
({4})
Vielen Dank. - Jetzt spricht für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Dr. Georg Kippels.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zu diesem Zeitpunkt, in der Rolle als letzter Redner der
Debatte und bei diesem hohen Maß an Übereinstimmung
fällt es schon ausgesprochen schwer, einen kritischen
Unterton in die Diskussion zu bringen.
({0})
Das ist zwar nicht unbedingt nötig. Aber ich denke, es
muss gestattet sein, sich zumindest mit den Punkten, an
denen dieser doch sehr ausführliche Antrag den Kern
der jetzt noch vorhandenen Problemstellungen vielleicht
nicht so richtig trifft, kritisch auseinanderzusetzen.
Die Überschrift des Antrags besagt, dass die Aidsepidemie in Deutschland und weltweit bis 2030 beendet
werden soll. Gestatten Sie mir, dass ich eine internationale Komponente hineinbringe, da ich mich als Mitglied
des AwZ schon seit längerem aktiv mit dieser Fragestellung auseinandersetzen darf und muss, was sich darin
dokumentiert, dass ich Mitglied des Vereins „Freunde
des Globalen Fonds Europa“ bin, in dem Ihre ehemalige
Kollegin, Frau Wieczorek-Zeul, als stellvertretende Vorstandsvorsitzende entscheidende Beiträge zur Fortentwicklung der Arbeit des GFATM leistet.
Zu Ihrer Frage, Herr Petzold, warum denn die CDU/
CSU-Fraktion diesem Antrag nicht einfach vorbehaltlos
zustimmen kann, kann ich nur sagen: Man kann eben
nicht vorbehaltlos zustimmen, wenn - und das ist nun
leider auch wieder im Antrag der Grünen passiert - bestimmte Fragestellungen mit Begeisterung ideologisch
überzogen werden
({1})
und dadurch schon ein bisschen ein falscher Unterton
in diese Debatte hineinkommt. Lassen Sie mich deshalb
exem plarisch einige Punkte aufgreifen, die mit Sicherheit sehr wichtig sind.
Entscheidend ist, dass wir im Rahmen unserer Bekämpfungsstrategie darauf abstellen, dass die nationale
Situation in einem untrennbaren Zusammenhang mit der
internationalen Situation steht.
({2})
Die Mobilität der Menschen, aber auch die Wanderungsbewegungen aus osteuropäischen Ländern hin in den
zentraleuropäischen Raum lösen wieder eine neue Infektionsproblematik aus, die nicht nur durch Aufklärung,
sondern darüber hinaus auch durch eine entsprechende
Gesundheitsvorsorge bekämpft werden muss. Letztlich
darf aber nie vergessen werden, dass alle Maßnahmen
auch in den Ursprungsländern ansetzen müssen; denn
nur dann, wenn in den Entwicklungsländern eine Stabilisierung der Gesundheitssysteme stattfindet, vor allen
Dingen auch nachhaltig stattfindet, ist eine internationale
Eingrenzung der Problematik gewährleistet.
In einzelnen Punkten Ihres Antrags ist festzustellen,
dass der Hinweis auf die ODA-Quote, auf die MittelausMechthild Rawert
http://www.zanzu.de
weisung bei der Prävention und beim GFATM sowie auf
die Forschungsmittel standardisiert auftritt. Wir sollten
uns zunächst darüber Gedanken machen, an welcher
Stelle tatsächlich eine Mittelunterdeckung vorhanden ist.
Das kann die CDU/CSU-Fraktion im Rahmen der Analyse der einzelnen Titel absolut nicht feststellen. Beim
GFATM sind wir immerhin der viertgrößte Geber. Bei
einem Titel mit einem Volumen von 250 Millionen Euro
pro Jahr ist - das hat die Diskussion auch ergeben - eine
Strukturierung, eine Weiterentwicklung des GFATM
selbst erforderlich und keine großzügige Mittelaufstockung.
In Ihrem Antrag sind ordnungspolitische Hinweise
im Kontext der Flüchtlingsfrage zu finden. Sie sprechen
Veränderungen bei der Abschiebepraxis oder bei der Gesundheitsvorsorge an. Das mag inhaltlich zwar richtig
sein, aber das betrifft die Zuständigkeit der Länder und
Kommunen. Insofern können wir gesetzgeberisch an dieser Stelle überhaupt nicht tätig werden. Letztlich können
wir die Länder durch entsprechende Empfehlungen nur
animieren, darüber nachzudenken. Aber bereits jetzt ist
bei den Abschiebungen eine entsprechende Berücksichtigung im Rahmen der Einzelfallentscheidungen gegeben.
Zum guten Schluss sei ein Hinweis zu den Pharmafirmen gestattet. Sehr geehrte Frau Schulz-Asche, auch
Ihnen wird wahrscheinlich - so hoffe ich doch jedenfalls - nicht entgangen sein, dass bereits zwölf Lizenzen
im Patentpool hinterlegt sind und Boehringer Ingelheim
zurzeit weitere Verhandlungen führt, um die Lizenzierung der pädiatrischen Formel von Nevirapin an den Pool
weiterzugeben. Ich glaube, dass wir auf diesem Sektor
hervorragende Ergebnisse erzielen werden. Ich glaube
auch, dass die Erfolge, die bis jetzt verzeichnet worden
sind, absolut nicht möglich gewesen wären, wenn aus der
Pharmaindustrie und vor allen Dingen aus der Privatwirtschaft nicht ganz erhebliche Beiträge geleistet worden
wären.
Alle, die an diesem Thema verantwortlich arbeiten,
wissen um die Dimension der Aufgabe. Sie wissen vor
allen Dingen um die wissenschaftlichen Problemstellungen, mit denen wir uns in ganz erheblichem Umfang
auseinandersetzen. Deshalb muss uns nachgesehen werden, dass wir dem vorliegenden Antrag in diesem Fall
die Zustimmung verweigern; denn mit dem Papier der
Regierung haben wir eine hervorragende Grundlage für
die weitere Arbeit.
Es wäre vielleicht ein gutes Signal gewesen, wenn Sie
in Ansehung des Regierungsvorschlages Ihren Antrag
zurückgezogen hätten. Das wäre eine geeignete Möglichkeit gewesen, großes Einvernehmen herzustellen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Vielen Dank. - Wir sind damit am Ende der Aussprache,
aber es wird heute noch nicht abgestimmt, sondern die
Fraktionen haben sich darauf geeinigt, dass die Vorlage
auf Drucksache 18/6775 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen wird. Ich gehe davon
aus, dass Sie alle damit einverstanden sind? - Dann ist
die Überweisung so beschlossen. Wir werden das Thema
zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufrufen.
Jetzt rufe ich Tagesordnungspunkt 16 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform
der Investmentbesteuerung ({0})
Drucksache 18/8045
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. - Ich bitte
die Finanzer, ihre Plätze einzunehmen.
Dann erhält jetzt für die Bundesregierung der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Michael Meister das
Wort. - Bitte schön.
({2})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Investmentfonds sind definiert im Kapitalanlagegesetzbuch. Es gibt zwei verschiedene Arten von Investmentfonds. Es gibt Fonds, die sich an das breite Publikum
wenden, das sind Publikums-Investmentfonds, in denen
sehr viele Menschen ihr Kapital anlegen. Hier weiß man
aufgrund der Breite nicht, wer diese Anleger sind. Daneben gibt es Spezialfonds, die sich an wenige Anleger
richten, bei denen man aber genau weiß, mit wem man es
im Kreis der Anleger zu tun hat.
Wir haben das Investmentsteuerrecht, das die Besteuerung dieser Fonds adressiert. Wir sehen als Bundesregierung Handlungsbedarf, das bestehende Investmentsteuerrecht zu verändern, und zwar aus drei Gründen:
Erstens. Wir glauben, dass wir es europafester machen
müssen, als es ist. Wir haben heute die Situation, dass es
gewisse europarechtliche Risiken gibt, weil wir im deutschen Investmentsteuerrecht an einigen Stellen inländische und ausländische Fonds unterscheiden. Hier ist die
Frage zu stellen, ob dies am Ende des Tages, wenn Klagen vor dem Europäischen Gerichtshof eingereicht würden, tatsächlich Bestand hätte. Kollegen in Frankreich
und Polen haben an dieser Stelle schlechte Erfahrungen
gemacht. Wir wollen dafür sorgen, dass unser Recht
rechtzeitig so EU-rechtsfest ist, dass es auch bei entsprechenden Klagen Bestand hat. Daher plädieren wir an
dieser Stelle für eine Gleichbehandlung von inländischen
und ausländischen Investmentfonds. Ich glaube, dass das
ein vernünftiger Ansatz ist, meine Damen und Herren.
({0})
Zweitens hat insbesondere im Bereich der Publikums-Investmentfonds unser Investmentsteuerrecht heuDr. Georg Kippels
te eine sehr große Komplexität. Wenn Sie in diesem Zusammenhang eine Besteuerung für ein Jahr durchführen
wollen, dann müssen Sie 33 Parameter angeben, um Ihre
Steuererklärung abzugeben. Wir schlagen jetzt vor, dass
wir im Bereich der Publikums-Investmentfonds einen
Weg gehen, der die Anzahl der Besteuerungsgrundlagen
für die Anleger deutlich reduziert, indem wir in Zukunft
nur noch vier Parameter abfordern, nämlich Angaben zu
den Fragen: Was ist der Fondsanteil zum Jahresbeginn
wert? Welchen Wert hat er am Jahresende? Wie hoch
ist die Ausschüttung an den Anleger, und um welchen
Fondstyp handelt es sich?
Ich glaube, das ist immer noch nicht einfach, aber es
ist wesentlich einfacher als das, was wir bisher im Bereich des Investmentsteuerrechts haben. Deshalb werben
wir ein Stück weit für diesen Vereinfachungsansatz.
Bei den Fonds entstehen heute Kosten in Höhe von
etwa 50 Millionen Euro allein für das Administrieren der
Besteuerung. Dieses Geld, das man heute für die Verwaltung der Besteuerung aufwendet, geht den Anlegern als
Ertrag verloren. Deshalb kommt, so glaube ich, über die
Vereinfachung auch den Anlegern etwas zugute.
({1})
Der dritte Punkt, der uns umtreibt, richtet sich eher
an die Spezialfonds, bei denen wir es mit institutionellen
Anlegern zu tun haben. Hier haben wir die Vermutung,
dass an der einen oder anderen Stelle Investmentfonds
genutzt werden könnten, um Steuergestaltung zu betreiben. Daher ist unser Anliegen, diese Gestaltungsoptionen
so weit als möglich zu reduzieren.
Ich will als ein Beispiel das Thema Kopplungsgeschäfte ansprechen, bei denen man auf der einen Seite
versucht, Veräußerungsgewinne aus Aktien zu erzielen,
und auf der anderen Seite, Verluste aus Termingeschäften zu organisieren. Die Veräußerungsgewinne aus Aktien sind steuerfrei, wenn es sich um Streubesitz handelt.
Umgekehrt kann man aus Termingeschäften Verluste
machen, und die Verluste können steuerlich anerkannt
bzw. geltend gemacht werden. Wenn man diese Geschäfte gegenläufig organisiert, kann man aufgrund der steuerlichen Vorteile quasi Geld organisieren. Wir sind der
Meinung, dass diese Gestaltungsoption künftig ausgeschlossen sein sollte.
({2})
Ein weiterer Weg sind die sogenannten Cum/Cum-Geschäfte, bei denen man um den Dividendenstichtag herum seine Anteile veräußert und dann dafür sorgt, dass
die Dividendenausschüttung nach Möglichkeit bei jemandem erfolgt, der die Dividenden steuerfrei beziehen
kann. Direkt nach dem Dividendenstichtag wird der Anteil wieder bezogen, und man kann dann dafür sorgen,
dass diese nicht abgeführte Besteuerung der Dividende
zwischen den beiden Vertragspartnern ordentlich geteilt
wird.
Das ist auch heute nicht zulässig, wenn es als solches
identifiziert werden kann, wenn man also feststellen
kann, dass ein solches Geschäft gemacht worden ist, ohne
dass das wirtschaftliche Risiko übergegangen ist, nur um
Steuergestaltung zu betreiben. Aber das ist schwer feststellbar. Deshalb haben wir an dieser Stelle gesagt: Wir
nehmen Anleihe am Beispiel USA und Australien, die
eine feste Zeit um den Dividendenstichtag herum verlangen, zu der die Aktie in Besitz sein muss, wenn man
die Dividende beziehen will und diese Möglichkeit, den
Veräußerungsgewinn sozusagen gegenzurechnen, nutzen
will. Ich glaube, dass wir das mit diesem Ansatz für die
Finanzverwaltung erkennbarer machen und damit dafür
sorgen, dass diese Geschäfte in Zukunft unterbleiben.
Abschließend will ich noch die Bemerkung machen,
dass wir nicht alles vollständig ausschließen. Das liegt
daran, dass wir die Veräußerungsgewinne aus Streubesitz
nicht steuerpflichtig machen. Dabei haben wir allerdings
ein doppeltes Anliegen: Wir wollen junges Wagniskapital nicht treffen, aber die Veräußerungsgewinne im
Allgemeinen schon. Da wir für diese Frage noch keine
EU-rechtskonforme Lösung haben, haben wir in diesem
Gesetzentwurf leider keinen Vorschlag dazu machen
können; aber wir suchen weiter nach einer Lösung, die
diese beiden Ziele zusammenbringt.
Ich würde mich freuen, wenn das sachkundige Publikum hier zu einer guten Beratung dieses Gesetzentwurfs
käme.
Vielen Dank.
({3})
Vielen Dank. - Sachkundig macht jetzt der Kollege
Richard Pitterle für die Fraktion Die Linke weiter.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Besucher auf der Besuchertribüne! Erst vor einigen Tagen hat der bayerische
Ministerpräsident meinem Fraktionskollegen Matthias
W. Birkwald beigepflichtet, der im Bundestag gebetsmühlenartig die Absenkung des gesetzlichen Rentenniveaus als Fehler bezeichnet. Wenn Seehofer des Weiteren
erkannt hat, dass die Riester-Rente gescheitert ist, hat er
ausnahmsweise richtig recht.
({0})
Bekanntlich hat die rot-grüne Koalition mit der Rentenanpassungsformel das Niveau der gesetzlichen Rente
abgesenkt und die Bürger stattdessen aufgefordert, selbst
für das Alter zu sparen.
({1})
- Ich komme schon noch zum Thema. Keine Angst, lieber Kollege.
({2})
Ein Fünftel der deutschen Haushalte ist dieser Aufforderung gefolgt, indem sie ihr Geld in Investmentfonds
angelegt haben. Die Besteuerung dieser Fonds soll mit
dem vorliegenden Gesetz - das haben wir ja gehört - geändert werden. Man will, wie es in der Begründung des
Gesetzentwurfs heißt, Steuervermeidungsmodelle, die in
diesem Bereich besonders gehäuft vorkommen, verhindern. Gegen diesen Ansatz wird niemand etwas haben,
selbst die Linke nicht, insbesondere wenn man bedenkt,
dass sich allein seit 2008 das Volumen des in deutschen
Fonds verwalteten Vermögens auf fast 1,8 Billionen Euro
verdoppelt hat.
Aber ich frage mich angesichts der Tatsache, dass
bereits 2011 an einer umfassenden Reform gearbeitet
wurde, warum der selbst nach Angaben der Regierung Zitat - „gehäuften Steuervermeidung“ fünf Jahre lang
tatenlos freie Hand gelassen wurde.
({3})
Nun ließe sich einwenden: Lieber spät als nie. Ich habe
jedoch ernsthafte Zweifel, dass die von Ihnen vorgegebenen Ziele erreicht werden. Die Reform soll das steuerliche Gestaltungspotenzial eindämmen. Doch sie betrifft
nur Fonds von der Stange, also diejenigen, die von Privatanlegern genutzt werden. Mit Privatanlegern meine
ich zum Beispiel die Arbeitnehmer, die das hart erarbeitete Geld zur Altersvorsorge angelegt haben. Bei den für
Superreiche und institutionelle Anleger maßgefertigten
Spezialinvestmentfonds, bei denen zwei Drittel des verwalteten Vermögens liegen, bleibt es beim Alten. Für
Fonds also, die von Anlageprofis eingerichtet und genutzt
werden, bleibt es bei den Regelungen, die Steuervermeidungen erst ermöglichen. Wenn man an die Briefkästen
in Panama oder an die beim Aktienhandel verschenkten
Steuermilliarden, die wir jetzt sogar in einem Untersuchungsausschuss - Cum/Ex - hier im Bundestag untersuchen müssen, denkt, dann erscheint die Begründung des
Gesetzentwurfs mehr als naiv, nach der bei diesen Spezialfonds nichts geändert werden müsse. Ich zitiere aus der
Begründung des Gesetzentwurfs, wonach - Zitat - „die
Einhaltung von sehr komplexen Besteuerungsregelungen“ gewährleistet werden könne.
Was ändert sich nun für den Privatanleger? Kritische
Untersuchungen gehen von einer erheblichen Steuererhöhung aus. Was ändert sich für die Reichen und Superreichen? Nichts. Welche Fortschritte gibt es beim Kampf
gegen Steuervermeidung? Keine.
({4})
Damit nicht genug. Im jetzigen Gesetz schlummern
durch den Verstoß gegen das Europarecht Milliardenrisiken durch Steuerrückforderungen. Wie reagiert der
Bundesfinanzminister auf die Mahnungen des Bundesrechnungshofs? Dazu - so heißt es - hat das BMF eine
„andere Meinung“ - also gar keine.
Zumindest eine Änderung erscheint auf den ersten
Blick zielführend: Dem Missbrauch von Steuererstattungen auf Dividenden mit sogenannten Cum/Cum-Geschäften soll der Boden entzogen werden. Ob das stimmt,
werden wir in den Beratungen sehen.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({5})
Vielen Dank. - Dann erhält jetzt der Kollege Lothar
Binding, SPD-Fraktion, das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vielleicht zunächst
eine Bemerkung zu den Ausführungen von Richard
Pitterle.
({0})
- Teile waren gut, es gab auch Teile, die weniger gut waren, und es gab Teile, die waren ganz schlecht. Das ist
klar. - Was ich sagen wollte, ist, dass mit solchen Reformen eben auch das Ziel einer sicheren und stabilen Altersvorsorge erreicht werden soll. Es ist völlig klar, dass
bei der privaten kapitalgedeckten Altersvorsorge Risiken
auftauchen, um die wir uns kümmern müssen. Auch das
tun wir mit der heutigen Reform. Außerdem war es nie
so gedacht, dass die Riester-Rente ein Ersatz für die gesetzliche Altersvorsorge ist. Die Idee war, eine kleine Lücke von wenigen Prozenten auszugleichen. Insofern ist,
glaube ich, die Wirkmächtigkeit deiner Aussage relativ
niedrig.
({1})
Die Behauptung, dass es eine Steuererhöhung für die
kleinen Leute gibt, ersetzt auch nicht den Beweis dieser Aussage. Das müsste noch gezeigt werden. Wer hier
nachrechnet, kommt auf eine Größenordnung von etwa
3 Euro. Wir schauen uns das später genauer an.
Der Anlass dieser Reform - das hat Herr Dr. Meister
vorgetragen; das hatten wir damals schon einmal bei der
Körperschaftsbesteuerung im Vollanrechnungsverfahren
in unserem Trennungssystem mit der Vorbelastung in der
Körperschaft und der Steuerzahlung desjenigen, der die
Dividende bekommt - ist die Unterscheidung zwischen
inländischen Fonds und ausländischen Fonds, bei denen
es eine Dividende gibt. Im inländischen Fall ist sie von
der Steuer befreit, im ausländischen Fall wird sie besteuert. Das ist der klassische Fall des Verdachts, dass es europarechtswidrig ist. Deshalb ist die Reform notwendig.
Es gibt noch mehr Notwendigkeiten. Denn unser jetziges System - ich glaube, Sie haben das ausgeführt - ist
hochgradig gestaltungsanfällig; das muss man sagen. Wir
haben dafür ja auch ein paar Belege. Es dient bei vielen
der Steuerverkürzung. Wir haben im Moment sogar einen
Cum/Ex-Untersuchungsausschuss; auch das spielt hier
natürlich eine Rolle. Es gibt auch Cum/Cum-Geschäfte.
Sie haben die Kopplungsgeschäfte erwähnt. Deshalb sagen wir: Diese Reform ist gut, um diesen Gestaltungen
zu begegnen. Es ist ja ein allgemeiner Grundsatz, dass
wir Steuergestaltungen grundsätzlich bekämpfen wollen.
Nun reden wir ja viel über Briefkastenfirmen, Offshore firmen. Wir haben gerade etwas über Panama gehört.
Es ist gut, dass wir gleichzeitig die GestaltungsmöglichRichard Pitterle
keiten, die im eigenen Land existieren, nicht vergessen.
Insofern gefällt uns die Reform im Grundansatz sehr gut.
Nun klingt sie sehr harmlos. Aber wir haben gerade
gehört, dass es um eine Größenordnung von etwa 2 Billionen Euro geht, um Vermögen in Höhe von 2 000 Milliarden Euro. Die Bundesbank sagt 1,7 Billionen, die Branche spricht von 2,5 Billionen. Wir merken jedenfalls:
Egal was für Erträge es dort gibt, sie müssen exorbitant
hoch sein; schließlich reden wir über mehrere 1 000 Milliarden. Deshalb ist es klug, sich um dieses Vermögen zu
kümmern, indem wir die Anlageformen EU-rechtsstabil
machen, den administrativen Aufwand verringern und
natürlich die Gestaltungsanfälligkeit bekämpfen. Das
waren die drei Hauptpunkte, die auch Sie vorgetragen
haben. Wir glauben, dass das gut funktioniert.
Der bürokratische Aufwand kommt übrigens durch
ein eigentlich gutes Ziel zustande. Wir hatten gesagt: Die
Direktanlage und die Anlage über einen Fonds wollen
wir gleich behandeln. Also, ob jemand eine Aktie kauft
oder ob er das sozusagen über einen Fonds macht, darf
eigentlich keinen Unterschied machen. Das Dumme ist:
Aus diesem guten Ziel ergeben sich große Probleme.
Denn durch das Prinzip der steuerlichen Transparenz das heißt, der Fonds wird nicht besteuert, sondern der
Fiskus guckt durch den Fonds und, so war die Idee, der
Anteilseigner soll letztendlich besteuert werden - war es
nötig, dass mehr als 30 Besteuerungsgrundlagen ermittelt
und administriert werden müssen. Das ist sowohl für die
Fondsverwalter als auch für die Bürger eigentlich nicht
seriös zu administrieren. Deshalb ist es gut, wenn wir etwas dagegen tun.
Jetzt will ich noch einen Satz zu Cum/Cum-Geschäften sagen. Ich glaube, keiner, der im Publikum sitzt,
weiß, was das ist. Stellen wir uns einen Steuerausländer,
etwa einen Franzosen, vor, der eine Aktie an eine deutsche Bank verkauft, und zwar kurz vor dem Dividendenstichtag. Dann erhält die Bank, weil sie die Aktie ja mit
Dividende gekauft hat, die Dividende und zahlt, wie es
sich gehört, auch zunächst Kapitalertragsteuer.
Allerdings kauft der Steuerausländer wenige Tage
nach dem Stichtag der Dividendenauszahlung die Aktie
von der Bank zurück, und zwar zu einem niedrigeren
Kurs - das ist ja klar, weil kein Anspruch auf Dividende
mehr existiert -, mit dem sogenannten Dividendenabschlag. Der Steuerausländer erzielt also statt Dividende
einen Veräußerungsgewinn. Dieser Veräußerungsgewinn
ist in Deutschland - Sie sagten: Streubesitz - steuerfrei.
Hier haben wir einen Dissens, weil wir der Meinung sind,
die steuerliche Behandlung von Dividenden und Veräußerungsgewinnen sollte unbedingt gleichgestellt werden.
Es geht übrigens immer noch um eine Flasche Sekt, die
derjenige bekommt, der eine europarechtskonforme Lösung für dieses Problem findet. Es ist jeder aufgerufen,
sich diese Flasche Sekt zu verdienen.
Die inländische Bank erhält also die Nettodividende
plus einer Steuergutschrift für die Kapitalertragsteuer. Da
sie durch den Verkauf der Aktie allerdings einen Verlust
erleidet - weil ohne Dividende -, heben sich Dividendenertrag und Veräußerungsverlust auf. Im Ergebnis hat der
Fiskus nichts. Das heißt, den Gewinn aus der gesparten
Steuer teilen sich der Steuerausländer und die Bank. Genau diesem Umstand, dass sich eine Bank und ein Steuerausländer die in Deutschland gesparte Steuer aufteilen,
wollen wir mit diesem Gesetz begegnen. Insofern ist die
im Gesetz vorgesehene Regelung, wie ich finde, eine sehr
gute Idee, allerdings mit dem Malus, dass wir nach wie
vor eine unterschiedliche Besteuerung von Dividende
und Veräußerungsgewinn haben. Diesen Zustand muss
man sicherlich noch überwinden.
Die Lösung ist letztendlich: Wir gehen in ein intransparentes System. Das bedeutet: Auf Fondsebene werden
die Erträge besteuert, in diesem Fall mit 15 Prozent Vorbelastung auf alle dortigen Erträge. Dann ist es möglich,
dass inländische und ausländische Fonds gleichbehandelt
werden. Damit ist das Europarechtsproblem gelöst.
Dass wir für gemeinnützige Anleger und Altersvorsorgeverträge Ausnahmen vorsehen, ist sicherlich eine sehr
gute Sache. Dass diese Vorbelastung auf Fondsebene
letztendlich durch eine Teilfreistellung bei der Ausschüttung kompensiert wird, ist nicht mehr als fair. Denn mit
diesem Gesetz wollen wir nicht die Steuer anheben, sondern die anderen genannten Ziele erreichen.
Wenn wir dieses Gesetz beurteilen, dann können
wir feststellen, dass wir das Ziel der Vereinfachung erreichen, der Gestaltungsanfälligkeit begegnen und es
europarechtskonform machen. Dass wir über die Höhe
der Teilfreistellung noch diskutieren müssen, ergibt sich
vielleicht auch daraus, dass wir beobachtet haben, dass
die Prozentsätze im Vergleich zum Diskussionsvorschlag
durchweg angehoben werden. Hier gibt es sicherlich
noch einiges zu rechnen, aber wir finden einen guten
Kompromiss.
Schönen Dank für die Aufmerksamkeit.
({2})
Vielen Dank. - Da der Kollege Dr. Gerhard Schick
seine Rede zu Protokoll1) gegeben hat, erhält jetzt als
letzter Redner in der heutigen Debatte der Kollege Fritz
Güntzler für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Ich glaube, das war ich auch gestern schon, wenn ich
das richtig erinnere.
Ja, vielleicht. Es kommt also immer zu einem guten
Abschluss.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten, wie gesagt, in
erster Lesung das Gesetz zur Reform der Investmentbe-
1) Anlage 6
Lothar Binding ({0})
steuerung. Das ist etwas für die Feinschmecker des deutschen Steuerrechts. Das ist Steuerrecht am Hochreck,
wie manche gesagt haben. Von daher freue ich mich auf
diese Beratung.
Das Investmentsteuergesetz, so wie wir es jetzt vorfinden, gibt es seit 2003. Wir haben im Rahmen des
AIFM-Steuer-Anpassungsgesetzes im Jahre 2013 und
des Finanzmarktanpassungsgesetzes im Jahre 2014 bereits einige Regelungen angepasst und Reformen durchgeführt. Nun gibt es diese umfassende Reform.
Zweck des Investmentsteuerrechts - der Lex specialis,
die allen anderen steuerlichen Regelungen vorgeht - ist
die Gleichstellung der Direktanlage mit der kollektiven
Anlage über einen Investmentfonds. Man will also ermöglichen, dass man sich über einen Investmentfonds an
etwas beteiligt, an dem man sich sonst nicht beteiligen
könnte, dass man steuerlich aber nicht schlechter gestellt
wird als derjenige, der sich unmittelbar daran beteiligen
kann.
Man fragt sich: Hat dieses Gesetz eigentlich eine Bedeutung? Wenn man einmal ein bisschen näher hinschaut,
stellt man fest: Es hat schon eine erhebliche Bedeutung.
Viele wissen es gar nicht, weil sie ihre Dividende von
der Bank bekommen und den entsprechenden Wert dann
einfach in die Anlage KAP der Steuererklärung eintragen. Es gibt immerhin 50 Millionen Anleger in Investmentfonds in Deutschland. Davon sind 15 Millionen
Bürgerinnen und Bürger. Die restlichen Anleger sind
institutionelle Anleger. In Investmentfonds sind 2,2 Billionen Euro investiert. Circa 40 Prozent davon befinden
sich in den sogenannten Publikums-Investmentfonds, die
der breiten Öffentlichkeit zur Verfügung stehen. Der Rest
liegt in die sogenannten Spezial-Investmentfonds. Man
sieht: Die Investmentfonds und damit auch die Besteuerung ihrer Erträge haben eine große Bedeutung. Folglich
ist auch diese Reform bedeutend, bedeutender als manche glauben.
Wir diskutieren dieses Thema ja schon recht lange.
Diesem Gesetzentwurf ist ein recht langes Beratungsverfahren vorangegangen. Es begann mit der Länderfinanzministerkonferenz im Jahre 2011. Danach beriet
eine Arbeitsgruppe der Vertreter des Bundes und der
Länder. Das Ganze ging dann über in ein Gutachten, das
das Bundesfinanzministerium in Auftrag gegeben hat,
um die volkswirtschaftlichen Auswirkungen der Umsetzung dieser Reformvorschläge einmal zu untersuchen.
Die Gutachter sind damals zu dem Ergebnis gekommen,
dass durch die Umsetzung der Reformvorschläge keine
negativen Auswirkungen auf den Kapitalmarkt, den Finanzstandort oder die Altersvorsorge in Deutschland zu
erwarten sind.
Insofern ist es gut, dass uns jetzt ein Gesetzentwurf
vorliegt. Vergleicht man ihn mit dem zunächst zur Diskussion gestellten Entwurf, stellt man die Fortentwicklung fest. Ich finde, dieser Gesetzentwurf ist von Stufe
zu Stufe besser geworden. Vielleicht kann er durch die
parlamentarischen Beratungen noch besser werden. Ich
glaube, wir sind da auf einem sehr guten Weg.
({1})
Was soll erreicht werden? Es ist mehrfach angesprochen worden: Es geht darum, EU-rechtliche Risiken zu
vermindern. Diese Risiken sind erheblich. Sie kommen
dadurch zustande, dass wir ausländische und inländische Fonds unterschiedlich behandeln. Es könnten Milliardenforderungen gegenüber dem Fiskus entstehen.
Daher ist es richtig, dass wir hier handeln. Es geht aber
auch um aggressive Steuergestaltung, ein Thema, das
uns hier ständig betrifft. Diese Steuergestaltung wollen
wir verringern. Es geht natürlich auch um Verwaltungsund Steuererhebungsvereinfachung. Es ist bereits angesprochen worden, dass über 30 Besteuerungsmerkmale
erfasst werden müssen, um eine gerechte Besteuerung
durchzuführen. Das soll einfacher werden.
Ich glaube, es ist richtig - es ist mehrfach angesprochen worden -, dass wir jetzt eine Regelung zu den sogenannten Cum/Cum-Geschäften anstreben. Der Cum/
Ex-Untersuchungsausschuss hat heute eine öffentliche
Anhörung durchgeführt. Es ist schon deutlich geworden, dass Cum/Cum-Geschäfte das nächste Problem sein
könnten, wenn wir nicht reagieren. Daher ist es richtig,
dass wir hier reagieren.
Nur ein Hinweis, Herr Kollege Binding: Das Problem
im Zusammenhang mit den Veräußerungsgewinnen - Sie
haben in Ihrem Beispiel ja sehr schön geschildert, was
Cum/Cum-Geschäft heißt - ist nicht der Streubesitz,
sondern es besteht darin, dass die Veräußerungsgewinne
nach dem DBA grundsätzlich im Ausland zu versteuern
sind. In Ihrem Beispiel wären sie in Frankreich zu versteuern gewesen. Ich finde es legitim, dass Sie versuchen,
dieses Thema auf allen Wegen anzugehen. Aber in diesem Punkt waren sie steuerlich fehlgeleitet.
({2})
- Okay.
Ich finde gut, dass wir jetzt ein System für Publikums-Investmentfonds haben, in dem es auf der Fondsebene eine Erstbelastung von 15 Prozent gibt. Das muss
auf der Anlegerebene Berücksichtigung finden. Das werden wir durch Freistellungsregelungen gewährleisten. Es
geht um die Freistellung von 30 Prozent der Gewinne bei
der Veräußerung von Aktienfonds und von 60 Prozent
der Gewinne bei der Veräußerung von Immobilienfonds.
Herr Binding, diese Werte sind tatsächlich größer
geworden; die Freistellung muss ja auch funktionieren.
Wenn wir sagen, dass wir wieder erreichen wollen, dass
die Anleger von einer Vorbelastung freigestellt werden,
dann brauchen wir Prozentsätze in dieser Höhe. Das kann
man rechnerisch nachweisen.
Ich glaube, dass es ein guter Gesetzentwurf ist. Bezüglich der Cum/Cum-Geschäfte glaube ich, dass wir eine
gute Lösung gefunden haben. Über sie werden wir noch
weiter diskutieren. Nach dem Vorbild aus Australien und
den USA sieht die Regelung vor, dass die Kapitalertragsteueranrechnung dann ausgeschlossen ist, wenn der
Steuerpflichtige innerhalb eines Zeitraums von 45 Tagen
vor und 45 Tagen nach der Fälligkeit der Kapitalerträge
weniger als 45 Tage wirtschaftlicher und zivilrechtlicher
Eigentümer der Aktien ist.
Ich bin auch sehr froh - das sage ich ausdrücklich -,
dass das Thema Veräußerungsgewinne - Sie haben es im
Zusammenhang mit dem Streubesitz schon angesprochen - vom Tisch ist. Nachdem wir das Anrechnungsverfahren in der Körperschaftsteuer abgeschafft haben,
macht die Steuerbefreiung nach § 8 b Körperschaftsteuergesetz Sinn. Wir brauchen diese Freistellung, weil es
sonst zu Kaskadeneffekten, zu mehrfachen Belastungen
kommt. Insofern ist es systematisch ein Fehler gewesen,
dass wir die Dividenden bei Streubesitz besteuern. Es hat
eine umfassende Diskussion darüber stattgefunden, ob
diese Besteuerung sinnvoll ist oder nicht. Systematisch
ist sie eigentlich falsch.
Wenn man systematisch schon einmal einen Fehler gemacht hat, dann stellt sich die Frage, ob es sinnvoll ist,
noch einen weiteren systematischen Fehler zu machen.
Ich bin sehr froh, dass sich die Regierung entschieden hat,
diesen Punkt, der in Diskussions- und Referentenentwürfen noch enthalten war, aus dem Gesetzentwurf herauszunehmen. Ich glaube, das Ganze ist eine kluge Lösung.
Ich freue mich auf die bestimmt intensiven Beratungen eines komplexen steuerrechtlichen Themas. Sie werden für alle Fachleute eine Herausforderung sein. Wir
werden mit Begeisterung die Diskussion darüber führen.
Herzlichen Dank.
({3})
Vielen Dank. - Ich gehe davon aus, dass Sie damit
einverstanden sind, dass der Gesetzentwurf auf Drucksache 18/8045 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse überwiesen wird, so wie es die Fraktionen
vereinbart haben. - Ich sehe auch keine anderen Vorschläge. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur
Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften
Drucksache 18/8034
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({0})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor-
sicherheit
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.1) Ich sehe, dass Sie damit einverstanden sind und bitte
auch hier um die Zustimmung, dass der Gesetzentwurf
auf Drucksache 18/8034 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen wird. - Ich sehe keine
anderen Vorschläge. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aktualisierung der Strukturreform des Gebührenrechts des Bundes
Drucksache 18/7988
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Haushaltsausschuss
Auch hier sollen die Reden zu Protokoll gegeben
werden.2) - Ich sehe auch hier, dass Sie damit einverstanden sind. Dann müssen wir noch die Überweisung des
Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/7988 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse beschließen. - Sie
sind damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so
beschlossen. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung für morgen, Freitag,
den 15. April 2016, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen allen
noch einen schönen Restabend.