Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alle
herzlich zu unserer Plenarsitzung und rufe gleich den Tagesordnungspunkt 1 auf:
Abgabe einer Regierungserklärung durch die
Bundeskanzlerin
zum Europäischen Rat am 17./18. März 2016
in Brüssel
Hierzu liegen drei Entschließungsanträge der Fraktion Die Linke und ein Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Über einen Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke werden wir später
namentlich abstimmen. Ich möchte also schon jetzt darauf aufmerksam machen, dass nach Ende der Aussprache die Abstimmungen über diese Anträge, darunter eine
namentliche Abstimmung, stattfinden werden.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung 96 Minuten vorgesehen. - Das ist offenkundig einvernehmlich. Also können wir so verfahren.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
die Bundeskanzlerin Frau Dr. Merkel.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Der Europäische Rat im
März ist klassischerweise ein Wirtschaftsrat. Auch wenn
in Europa derzeit andere Themen im Vordergrund stehen,
ist es wichtig, die wirtschaftlichen Fundamente der Europäischen Union weiter zu stärken. Denn nur wenn wir
wirtschaftlich gut dastehen, werden wir auch in Zukunft
in der Lage sein, die drängenden Herausforderungen unserer Zeit zu bewältigen.
Im Rahmen des sogenannten Europäischen Semesters
wird sich der morgen und übermorgen stattfindende Europäische Rat mit der wirtschaftlichen Lage in der gesamten Europäischen Union befassen, und wir werden
darauf drängen, dass die Mitgliedstaaten der Europäischen Union ihre Volkswirtschaften durch Strukturreformen und Investitionen stärken sowie eine verantwortungsvolle Haushaltspolitik betreiben.
Meine Damen und Herren, im Mittelpunkt des morgen
und übermorgen stattfindenden Europäischen Rates wird
aber erneut die Flüchtlingspolitik und dabei vor allem die
Zusammenarbeit mit der Türkei stehen. Für Deutschland
und für die Europäische Union als Ganze ist die Flüchtlingsfrage die größte Herausforderung seit Jahrzehnten.
Konflikte, die uns früher sehr weit weg erschienen, betreffen uns heute direkt, und sie werden uns auch in Zukunft immer wieder direkt betreffen. Das sehen wir an
Syrien, das sehen wir an Afghanistan, und das sehen wir
am Irak.
Wir erleben, dass es sich bei der Flüchtlingsfrage um
eine Aufgabe handelt, die uns allen sehr viel abverlangt,
die unsere ganze Kraft und auch unsere volle Aufmerksamkeit erfordert. Denn unser Umgang mit der Flüchtlingsfrage wird Deutschland wie auch Europa auf lange
Zeit prägen, sowohl nach innen als auch nach außen. Und
umso mehr setze ich mich dafür ein, dass wir als reicher
Kontinent zeigen, dass wir in der Lage sind, eine solche
Herausforderung gemeinsam zu meistern.
({0})
Dabei dürfen wir nie vergessen: Auch Deutschland
geht es auf Dauer nur dann gut, wenn es auch Europa gut
geht, also Europa als Ganzes. Für mich bedeutet das, dass
wir weiterhin unverändert auf allen Ebenen an dauerhaften Lösungen arbeiten müssen: national, europäisch und
international. Wir müssen dabei von dem Ansatz ausgehen, dass wir die Ursachen bekämpfen, die die Menschen
dazu veranlassen, ihre Heimat zu verlassen. Mit diesem
Ansatz werden wir es auch schaffen, die Zahl der nach
Europa und Deutschland kommenden Flüchtlinge spürbar und dauerhaft zu reduzieren; denn so können die
Menschen vor Ort bzw. in der Nähe ihrer Heimat sicher
vor Krieg und Verfolgung wie auch mit einer Perspektive
für sich und ihre Familien leben. Denken wir an Themen
wie Gesundheit, Bildung, Arbeit, aber eben allzu oft auch
Ernährung. Und mit diesem Ansatz werden wir es auch
schaffen, in Zukunft wirklich denen zu helfen, die tatsächlich auf unseren Schutz angewiesen sind.
Ich glaube, dass wir beiden Zielen zuletzt ein gutes
Stück näher gekommen sind, sowohl in Europa als auch
bei uns zu Hause in Deutschland. Hier bei uns haben unsere ordnenden und steuernden Maßnahmen - von den
seit September geltenden Kontrollen an unserer nationalen Grenze bis zu den Asylpaketen I und II - begonnen
Wirkung zu entfalten, genauso wie die vielen Veränderungen zum Beispiel im Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge.
Ohne jeden Zweifel profitieren wir in Deutschland gegenwärtig auch davon, dass der Flüchtlingszuzug, allerdings durch einseitige Entscheidungen Österreichs und
der Staaten entlang der Westbalkanroute, zum Stillstand
gebracht wurde.
({1})
Doch ich kann gar nicht oft genug davor warnen, uns
hiervon täuschen zu lassen; denn die momentane Erleichterung, die Deutschland und einige andere Mitgliedstaaten jetzt spüren, ist das eine, die Lage in Griechenland ist
das andere; und diese muss jedem von uns große Sorge
bereiten, weil sie natürlich nicht ohne Folgen für uns alle
in Europa bleiben wird. Der Zustand dort kann und darf
nicht von Dauer sein, sonst kämen wir nach einer kurzfristigen Erleichterung bei uns vom Regen in die Traufe.
Deshalb lautet die alles entscheidende Frage unverändert, wie es uns gelingen kann, die Zahl der Flüchtlinge
nicht nur für einige, sondern für uns alle zu reduzieren,
und zwar nachhaltig und dauerhaft und ohne dass wesentliche Errungenschaften unseres Lebens in Europa
geschwächt werden.
({2})
Genau das sind die Ziele des gesamteuropäischen Ansatzes.
Erstens, weil gerade Deutschland als Land in der Mitte Europas wie kein zweites Land von der Reisefreiheit
in Europa profitiert. Das gilt eben auch für unsere Wirtschaft.
Zweitens, weil wir nur mit einer gesamteuropäischen
Lösung verhindern können, dass mit einer Schließung der
Binnengrenzen die Fluchtrouten verlagert würden; denn
wenn jetzt wieder neue, noch kompliziertere und gefährlichere Routen entstünden, dann profitierten davon nur
die kriminellen Schlepper. Den höchsten Preis bezahlten
dann die Flüchtlinge, häufig mit ihrem Leben. Aber auch
wir Deutsche und Europäer zahlten einen hohen Preis,
weil ja offenkundig würde, dass bisherige Maßnahmen
nur Scheinlösungen gewesen wären, die lediglich an den
Symptomen der Krise ansetzten, nicht aber an den Ursachen. In der Folge wäre die Enttäuschung der Bürger
noch um ein Vielfaches größer als manche Sorge heute.
({3})
Und drittens können wir nur mit dem gesamteuropäischen Ansatz Lösungen entwickeln, die den letzten Mitgliedstaat in der Reihe nicht alleine lassen, in diesem Fall
Griechenland. Noch einmal: Auch Deutschland geht es
auf Dauer nur dann gut, wenn es auch Europa gut geht,
also Europa als Ganzes. Deshalb ist es richtig und wichtig, dass die Europäische Union Griechenland jetzt humanitäre Hilfe anbietet und dafür auch die erforderlichen
700 Millionen Euro aus dem EU-Haushalt bereitgestellt
werden. Auch Deutschland hat Griechenland Hilfe angeboten. Ich bin dazu mit dem griechischen Ministerpräsidenten in engem Kontakt, der Bundesinnenminister ist es
mit seinem griechischen Kollegen, der Bundesaußenminister ebenfalls.
Genauso wichtig ist, dass Griechenland seinen eigenen Verpflichtungen nachkommt. Dazu gehören der volle
Betrieb der Hotspots und damit eine umfassende Registrierung der Flüchtlinge. Wir haben erhebliche Fortschritte bei der Registrierung und bei der Aufnahme in
die Eurodac-Datenbank zu verzeichnen. Das gilt auch für
die Bereitstellung von Flüchtlingsunterkünften, nachdem
es zuvor viel zu viele Verzögerungen gegeben hatte. Wir
brauchen nur daran zu erinnern, dass wir darüber seit
dem Herbst des letzten Jahres reden: Im Oktober hatten
wir eine Konferenz der Staaten des westlichen Balkans
und Griechenlands, und dort ist verabredet worden, dass
jedes dieser Länder ausreichend Unterbringungskapazitäten bereitstellt. Aber auch hier sind jetzt in Griechenland Fortschritte deutlich erkennbar.
Griechenland will gemeinsam mit den anderen
27 EU-Mitgliedstaaten und dem UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR die Krise humanitär vertretbar lösen, also
mit sicherer und menschenwürdiger Versorgung und Unterkunft. Wir helfen Griechenland dabei, sowohl finanziell als auch vor Ort mit konkreter Unterstützung. Genau
dieses Vorgehen unterscheidet die Situation heute von
der in und mit Ungarn im letzten Sommer.
({4})
Sicherlich sind viele Flüchtlinge enttäuscht, wenn sie
nicht dorthin reisen können, wohin sie wollen, weil wir
uns in Europa einig sind, dass es kein Recht auf Asyl in
einem bestimmten Land gibt. Die Menschen haben aber
Anspruch auf eine menschenwürdige Behandlung. Genau dafür arbeiten wir gemeinsam mit Griechenland,
auch für die Menschen, die jetzt in Idomeni ausharren
und die der griechischen Regierung vertrauen sollten,
dass es ihnen in den neugeschaffenen Unterkünften in
Griechenland deutlich besser geht als jetzt in Idomeni.
Eine wirklich tragfähige Lösung jedoch haben wir
erst dann erreicht, wenn nicht nur nach Deutschland,
sondern in die gesamte Europäische Union dauerhaft
weniger Menschen illegal einreisen als bisher. Um das
zu erreichen, führen wir derzeit wichtige Gespräche mit
der Türkei. Die Türkei ist das mit Abstand wichtigste
Transitland, über das die Menschen - im Augenblick jedenfalls - illegal nach Europa kommen. Die Seegrenze
zwischen Griechenland und der Türkei ist unsere europäische Außengrenze. Sie muss geschützt werden. Dazu
gehört ein entschlossener Kampf gegen Schlepper und
Schleuser.
({5})
In Zusammenarbeit mit der Türkei haben wir verschiedene Schritte eingeleitet. So setzen wir auch auf den
Aufklärungseinsatz der NATO in der Ägäis, für den sich
die Verteidigungsministerin unermüdlich eingesetzt hat
und der ich dafür ganz herzlich danken möchte.
({6})
Ich will es auch hier ganz offen sagen: Auch dieser Einsatz kommt nur Schritt für Schritt in Gang. Wir haben
bis jetzt erste Überwachungsmöglichkeiten hinsichtlich
der Insel Lesbos. Wir brauchen weitere Zugänge in die
türkischen Territorialgewässer, damit alle Inseln überwacht werden können; denn es zeigt sich schon in den
letzten Tagen, dass jetzt, wo Lesbos sehr gut überwacht
ist, in Chios mehr Flüchtlinge ankommen. Und auch das
ist eben keine nachhaltige Lösung. Deshalb brauchen wir
Zugang zu allen Bereichen der türkischen Territorialgewässer.
Bislang war es für Europa ein großes Problem, dass
illegal eingereiste Menschen nicht wieder in die Türkei
zurückgeschickt werden konnten, selbst wenn sie keinen
Schutzanspruch in Europa hatten. Genau bei diesem Problem setzen jetzt die Vorschläge an, die der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoglu am 7. März beim Gipfel mit den europäischen Staats- und Regierungschefs in
Brüssel vorgelegt hat. Seine Grundidee ist, dass die Türkei sich verpflichtet, alle Flüchtlinge zurückzunehmen,
die zuvor illegal über die Ägäis nach Europa gekommen
sind. Wann immer ein syrischer Flüchtling in die Türkei
zurückgebracht werde, dürfe - so der Vorschlag des türkischen Ministerpräsidenten - im Gegenzug ein anderer
syrischer Flüchtling legal aus der Türkei nach Europa
reisen.
Es ist ganz offenkundig: Ziel einer solchen Regelung ist es, den Flüchtlingen den Anreiz zu nehmen, in
ein Schlauchboot krimineller Schlepper zu steigen und
sich auf die lebensgefährliche Überfahrt nach Europa
zu begeben. Eine Umsetzung dieses Vorschlags könnte
also dazu führen, dass den kriminellen Schleppern in der
Ägäis die Geschäftsgrundlage entzogen wird. Stattdessen gäbe es eine legale Alternative, die für Flüchtlinge sicher und für Europa kontrollierbar wäre. Da es aber unser
Ziel ist, sehr schnell die Illegalität sozusagen zum Erliegen zu bringen, wird dieser Vorschlag im Anschluss, also
später, ergänzt werden durch freiwillige Kontingente, die
europäische Mitgliedstaaten übernehmen, um dann auch
syrische Flüchtlinge aufzunehmen. Damit würde das
grausame Sterben in der Ägäis endlich ein Ende finden.
Allein in diesem Jahr, 2016, sind über 350 Menschen
in der Ägäis ertrunken; im vergangenen Jahr waren es
800 Menschen.
Ohne Zweifel handelt es sich bei dem türkischen Vorschlag um sehr weitreichende Überlegungen. Es war deshalb wichtig, eine endgültige Entscheidung nicht schon
am 7. März zu treffen, sondern uns die Zeit zu nehmen,
rechtliche und politische Fragen im Zusammenhang mit
diesem Vorschlag eingehend und sorgfältig zu prüfen.
Wir haben zum Beispiel auch den UNHCR konsultiert,
um seinen Sachverstand zu nutzen. Aber - und das halte ich für sehr wichtig - aus dem türkischen Vorschlag
spricht auch - das war bereits bei der Zustimmung zur
NATO-Mission der Fall -, dass die Türkei mit Blick
auf das Flüchtlingsthema ein eigenes Interesse hat, den
Flüchtlingszuzug in das eigene Land zusammen mit Europa zu ordnen und zu steuern, damit die Schleuserstrukturen nicht noch weiter um sich greifen, als sie das ohnehin, wie wir alle wissen, schon tun. Das ist nämlich ein
Zustand, der auch für die Türkei selbst auf Dauer nicht
tragbar ist. Das Ziel ist also eine faire Teilung der Lasten.
Dass die Türkei im Rahmen der Verhandlungen mit
der EU außerdem ihre Interessen im Zusammenhang
mit dem Beitrittsprozess zur EU artikuliert, das kann
und sollte eigentlich niemanden von uns verwundern.
Entscheidend ist auch hier, wie wir damit umgehen, ob
und wie wir also einen Ausgleich der Interessen schaffen
können, der unseren Werten entspricht.
Die Türkei ist seit vielen Jahren Beitrittskandidat zur
Europäischen Union. Für mich als Bundeskanzlerin und
für die Bundesregierung galt immer das Prinzip: Pacta
sunt servanda. Das hieß bislang und das heißt auch für
die Zukunft: Wenn wir im Falle einer vertieften Zusammenarbeit neue Verhandlungskapitel öffnen sollten, dann
ist und bleibt weiterhin unverändert entscheidend, dass
die Beitrittsverhandlungen der Europäischen Union mit
der Türkei ergebnisoffen geführt werden. Schon daraus
folgt, dass der Beitritt der Türkei zur Europäischen Union jetzt wirklich nicht auf der Tagesordnung steht.
({7})
Auch bei den Verhandlungen über neue Kapitel kann
und wird es keine Abstriche bei unseren eigenen Prinzipien geben. Dazu will ich zwei Bemerkungen machen:
Erstens. Die Eröffnung neuer Kapitel ist nicht wegen
uns so schwierig, sondern wegen der ungelösten Zypern-Frage. Das heißt, wir haben bis zum morgigen Rat
noch Arbeit vor uns. Ich kann den Ausgang auch nicht
prognostizieren.
Zweitens bitte ich, gerade in der Eröffnung der Kapitel 23 und 24, in denen es um Rechts- und Justizfragen
geht, vor allen Dingen auch die Chancen zu sehen, mit
der Türkei in einen wichtigen Dialog einzutreten, der
sehr drängend ist.
({8})
Intensiv beraten werden gegenwärtig die Themen
„Rückführung von Drittstaatsangehörigen aus der EU
in die Türkei“ und „Visumsfreiheit“. Hierzu haben die
Spitzen der Koalition am 5. November letzten Jahres in
einem Beschluss vereinbart, sich für die Beschleunigung
des Inkrafttretens der Rückführung von Drittstaatsangehörigen aus der EU in die Türkei und parallel dazu für die
Beschleunigung der Verhandlungen über die Visumsfreiheit einzusetzen. In der Folge habe ich für Deutschland
beim Europäischen Rat am 29. November letzten Jahres
gemeinsam mit den anderen 27 Mitgliedstaaten der EuBundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
ropäischen Union in der EU-Türkei-Agenda vereinbart,
dass die Rückführung von Drittstaatsangehörigen im
Juni dieses Jahres und die Visumsfreiheit spätestens ab
Oktober dieses Jahres in Kraft treten. Alle 28 Mitgliedstaaten der Europäischen Union hatten das einvernehmlich beschlossen.
Hinsichtlich der Visumsfreiheit möchte die Türkei
diesen Prozess nun noch einmal beschleunigen und ihn
statt im Oktober bereits Ende Juni dieses Jahres abschließen. Im Gegenzug bietet die Türkei an, alle Flüchtlinge
wieder zurückzunehmen, auch die mit Bleiberecht - das
betrifft mehr als nur normale Drittstaatler -, und das alles
ab sofort. Dafür möchte sie die Visumsfreiheit ebenfalls
drei Monate vorher erreichen. Sie sagt zu - das ist absolut unabdingbar für uns -, dafür alle Bedingungen zu
schaffen. Das alles gilt es im Zusammenhang zu beachten. Entscheidend also ist, dass sich die Voraussetzungen
nicht ändern, die die Türkei für eine Visumsliberalisierung erfüllen muss. Diese sind und bleiben unverändert.
Es ist im Übrigen noch vieles zu lösen. Wir werden sicherstellen, dass diese Bedingungen vollständig eingehalten werden, und wir werden Sie alle zu all diesem
natürlich immer wieder konsultieren.
Nicht zuletzt bittet die Türkei um zusätzliche finanzielle Unterstützung bis Ende 2018, da nach ihrem Verständnis die bereits bewilligten 3 Milliarden Euro für
Flüchtlingsprojekte nur ein erster Schritt waren. Auch
für Europa ist entscheidend, dass Flüchtlinge, die wieder
in die Türkei zurückgeschickt werden, dort entsprechend
unseren humanitären Kriterien und denen des UNHCR
behandelt werden; denn wenn die Türkei den Menschen
eine sichere Versorgung, eine angemessene Lebensperspektive im Einklang mit den internationalen Verpflichtungen bietet, dann nimmt das den Menschen einen wichtigen Grund mehr, sich auf die lebensgefährliche Flucht
mit Schleusern und Schleppern einzulassen.
Ich halte den türkischen Wunsch nach mehr finanzieller Hilfe deshalb für völlig nachvollziehbar. Die Europäische Union ist dazu auch bereit. Entscheidend ist, dass
diese Mittel tatsächlich in sinnvolle Projekte, und zwar in
die sinnvollsten, fließen - in Unterbringung, in Schulen
oder in medizinische Versorgung. Auch das werden wir
sicherstellen. Die Türkei bittet darum, dass dies möglichst schnell geht. Um das zu erreichen, sind die Mechanismen in der Europäischen Union aber manchmal etwas
schwierig.
Die ersten 95 Millionen Euro wurden bereits ausgezahlt. Sie helfen, 100 000 syrischen Flüchtlingskindern
den Schulbesuch zu ermöglichen, und zwar in arabischer
Sprache, und 700 000 Syrer in der Türkei mit Lebensmitteln zu versorgen.
Bei aller notwendigen Sorgfalt, mit der wir die Gespräche mit der Türkei jetzt führen und zu führen haben,
sollten wir eines aber nicht übersehen: Das, was die Türkei für weit über 2 Millionen Flüchtlinge, genau gesagt
für etwa 2,7 Millionen Flüchtlinge, in ihrem Land seit
Jahren leistet, kann gar nicht hoch genug gewürdigt werden. Es gereicht Europa nicht zur Ehre, sich als Union
von 28 Mitgliedstaaten mit 500 Millionen Bürgern bislang so schwergetan zu haben, die Lasten zu teilen.
({9})
Umso wichtiger ist es, dass wir nun dabei sind, doch wenigstens schrittweise voranzukommen.
Meine Damen und Herren, die weitreichenden Vorschläge des türkischen Ministerpräsidenten zeigen, dass
wir in den europäischen Verhandlungen zur Lösung der
Flüchtlingsfrage an einem entscheidenden Punkt angekommen sind. Eine vertiefte Zusammenarbeit, wie wir
sie mit der Türkei anstreben, ist immer eine Angelegenheit des Gebens und des Nehmens, des Kompromisses
und des Ausgleichs von Interessen; und das gilt für beide Seiten gleichermaßen. Es versteht sich deshalb von
selbst, dass wir gegenüber der Türkei unsere Überzeugungen zum Beispiel zur Wahrung der Pressefreiheit
oder zum Umgang mit den Kurden entschieden einbringen, bei dem trotz allem notwendigem Kampf gegen den
Terror der PKK stets die Angemessenheit des Vorgehens
in Bezug auf alle Kurden zu beachten ist.
({10})
Eine vertiefte Zusammenarbeit, wie wir sie jetzt anstreben, zum Beispiel auch in der Diskussion über geöffnete Kapitel, kann hierfür im Übrigen den richtigen
Rahmen bieten, wenn wir das auf der Grundlage der klaren Kriterien und Voraussetzungen machen, von denen
ich eben gesprochen habe. Wir spüren, dass auf beiden
Seiten die ernsthafte Bereitschaft besteht, die Probleme
in der Flüchtlingspolitik gemeinsam zu lösen. Und das
erachte ich als einen großen Fortschritt.
Doch noch ist das Ergebnis nicht erzielt, noch sind außerordentlich schwierige rechtliche wie politische Fragen
zu klären, damit der Ausgleich der Interessen ein echter
Ausgleich wird. Die Kommission hat heute im Übrigen
zu den rechtlichen Fragen noch einmal eine Mitteilung
veröffentlicht. Gleichzeitig muss der Ausgleich der Interessen dem Ziel des europäisch-türkischen Ansatzes
dienen, die Zahl der Flüchtlinge dauerhaft und nachhaltig für alle zu reduzieren sowie auch weiterhin den Menschen Schutz geben zu können, die diesen Schutz auch
wirklich brauchen. Beim Europäischen Rat morgen und
übermorgen geht es also darum, ob es gelingt, eine Einigung zu erzielen, mit der wir zum ersten Mal eine echte
Chance auf eine dauerhafte und gesamteuropäische Lösung in der Flüchtlingsfrage haben könnten.
Zu dieser gesamteuropäischen Lösung gehört im Übrigen neben der Türkei auch die Partnerschaft mit unseren anderen Nachbarn, etwa in Nordafrika. Ich danke
Innenminister Thomas de Maizière, der auf seiner Reise
nach Marokko, Algerien und Tunesien weitreichende
Vereinbarungen getroffen hat. Genauso danke ich dem
Entwicklungsminister Gerd Müller, der dies in Fragen
der Entwicklungshilfe getan hat. Thomas de Maizière
hat vereinbart, dass zukünftig Rückführungen von nichtBundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
schutzbedürftigen Migranten in diese Länder erleichtert
werden.
Zu einer gesamteuropäischen Lösung gehört ganz
entscheidend, dass wir die Fluchtursachen gemeinsam
bekämpfen. Hier sind die Friedensgespräche für Syrien
von großer Bedeutung, bei denen ich dem Bundesaußenminister allen Erfolg wünsche. Das ist ein langer, ein
schwieriger Weg; aber in den letzten Wochen haben wir
doch eine ganze Reihe von Ereignissen gesehen, die uns
zumindest mehr Hoffnung geben, als wir über lange, lange Zeit hatten.
({11})
Natürlich gehört es auch zu unserer Agenda, dass wir
die Schlussfolgerungen des Valletta-Gipfels mit unseren
afrikanischen Nachbarn umsetzen, und zwar konsequent
umsetzen.
Zu einer gesamteuropäischen Lösung gehört außerdem, langfristig auch das Dublin-System zu reformieren.
Die EU-Kommission wird demnächst Vorschläge vorlegen. Sie wollte das heute tun. Angesichts der intensiven Debatten über die rechtlichen Grundlagen der Türkei-Fragen hat sie das verschoben, aber sie wird das tun;
denn wir müssen wissen, wie wir das Dublin-System an
die veränderten Gegebenheiten anpassen und zukunftsfest machen können. Diese Vorschläge werden dann auch
Grundlage für die weiteren Überlegungen sein. Ich sage
ganz klar: Nur mit einer Reform von Dublin werden wir
Schengen langfristig aufrechterhalten können. Denn zu
einer gesamteuropäischen Lösung gehört nicht zuletzt
auch, dass wir schrittweise zu den offenen Binnengrenzen zurückkehren können, von denen wir im Schengen-Raum so sehr profitieren.
Neun Schengen-Staaten, unter anderem Deutschland,
sahen sich in den vergangenen Monaten gezwungen,
temporäre Binnengrenzkontrollen einzuführen. Ich begrüße daher, dass die Kommission einen sehr ehrgeizigen Fahrplan vorgelegt hat, der das Ziel enthält, bis Ende
des Jahres alle temporären Kontrollen wieder aufzuheben. Aber auch dafür müssen natürlich die Bedingungen
erfüllt sein. Sonst können wir das nicht machen. Das
heißt, wir müssen bis dahin die Situation an den europäischen Außengrenzen in den Griff bekommen, und alle
Mitgliedstaaten müssen wieder ihre Verpflichtungen aus
dem Schengener Grenzkodex einhalten.
Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren, wenn sich all diese Bausteine zu
einer Gesamtstrategie zusammenfügen, dann können wir
eine dauerhaft tragfähige gesamteuropäische Lösung tatsächlich erreichen. So haben wir es als Staats- und Regierungschefs bei unseren Treffen im Februar und Anfang
März gemeinsam vorgezeichnet. Und der morgen beginnende Europäische Rat ist hierfür eine weitere und, ich
würde auch sagen, durchaus entscheidende Wegmarke,
ohne dass ich schon voraussehen kann, wie die Entscheidungen genau aussehen.
Ich bin und bleibe überzeugt: Wir brauchen ein Europa, in dem gemeinsame Herausforderungen durch europäische Solidarität und durch gemeinsames Handeln
gemeistert werden. Das ist der einzige Weg, der Europa
langfristig Erfolg verspricht und der dazu führen wird,
dass Europa und damit alle seine Mitgliedstaaten auch
aus dieser Krise stärker hervorgehen werden, als sie in
sie hineingekommen sind.
Herzlichen Dank.
({12})
Ich eröffne die Aussprache. Dietmar Bartsch ist der
erste Redner für die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Bundeskanzlerin, Sie haben mehrfach in Ihrer Rede
davon gesprochen, dass die aktuelle Flüchtlingskrise nur
gelöst werden kann, wenn die Fluchtursachen beseitigt
werden. Ja, das ist richtig, aber das darf nicht zu einer
Phrase werden, meine Damen und Herren.
({0})
Ich will es noch einmal klar und deutlich sagen: Die
Flüchtlinge sind die Botschafter der Kriege und des
Elends dieser Welt. Deutschland und Europa müssen an
die Ursachen, an den Kern des Problems gehen, und der
liegt nun mal im Krieg und in der Zerstörung in Syrien, im Irak und in der ganzen Region. Das bedeutet aber
auch: Schluss mit Waffenlieferungen in Krisenregionen,
Schluss mit militärischer Logik in Krisenregionen
({1})
und Nachdenken über eine andere Weltwirtschaftsordnung. Ich könnte jetzt noch einmal die Situation in Afghanistan seit 2002 schildern. Da sehen wir die Ergebnisse der Politik. Das kann so nicht weitergehen.
({2})
Sie haben zu Beginn Ihrer Rede auf die Situation in
Griechenland Bezug genommen. Ich habe gestern ein
Video gesehen, das Norbert Blüm in Idomeni zeigt. In
diesem Video sagt er: Was ist das für ein Europa? Hier,
wenn ich die Bahngleise sehe, wenn es um Geschäft und
Waren geht: freie Bahn; wenn es um die Menschen geht:
dann nicht. Geldgeschäfte: global und grenzenlos. Wenn
es um die Menschen geht: eingesperrt. Was ist das für
eine Welt? Ist das Globalisierung? - Norbert Blüm hat
mit den Fragen und der Analyse völlig recht.
({3})
Es ist leider so: An vielen innereuropäischen Grenzen
und auch an seinen Außengrenzen hat Europa seine Humanität, seine Menschlichkeit verloren. Der Tod - Sie haben die Zahlen genannt - ist zu einer alltäglichen Nachricht geworden, und es sind keine Lösungen in Sicht. Das
große Projekt Europa, das ein Projekt des Friedens, der
Kultur und der Solidarität ist, steht vor dem Scheitern. Es
geht Europa nicht gut, Frau Bundeskanzlerin. Um diese
Dimension geht es, um nicht mehr und auch nicht weniger.
({4})
Nun sind in diesen Gipfel auch mit Blick auf die Landtagswahlen, die stattgefunden haben, viele Erwartungen
gesetzt worden. Natürlich ist unbestritten: Die Türkei ist
ein Schlüsselland in dieser Krise. Sie meinen, Lösungen gefunden zu haben, indem Sie mit dem Despoten
Erdogan einen Schulterschluss suchen. Erdogan diktiert
Europa Bedingungen.
Frau Merkel, Sie haben eben von Angemessenheit gesprochen. Sie hofieren einen Mann, der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler entlässt, weil sie von ihrem
Recht der freien Meinungsäußerung Gebrauch machen
und sich für den Frieden in der Türkei einsetzen. Sie hofieren einen Mann, der die Türkei zu einer Kriegspartei
in Syrien gemacht hat, der die Türkei über Jahre zu einem Transitland des Terrorismus gemacht hat. Sie hofieren einen Mann, der Journalisten verhaften lässt, der die
Pressefreiheit abschafft und kritische Zeitungen staatlich
besetzen lässt. Sie hofieren einen Mann, der Krieg gegen die eigene Bevölkerung, gegen die Kurden führt mit
Hunderten Toten, der sogar im Irak, also in einem anderen Land, bombardieren lässt. Sie hofieren einen Mann,
der Frauen niederknüppeln lässt und der kurz vor dem
Internationalen Frauentag mit Gummigeschossen gewaltsam gegen eine friedliche Demonstration von Frauen vorgegangen ist. 103 ermordete Frauen im Jahr 2015!
Mit so einem Partner kann es keine Lösung für Europa
geben. Menschenrechte dürfen nirgendwo und niemals
auf dem Verhandlungstisch liegen.
({5})
- Auch nicht in Russland, Herr Kauder. Da haben Sie
völlig recht. Ich habe „nirgendwo“ gesagt.
Ihre Vorvereinbarung auf dem letzten EU-Gipfel besagt, dass Sie Flüchtlinge vor allen Dingen aus Griechenland wieder in die Türkei abschieben wollen. Sie haben
das eben noch einmal dargelegt. Für jeden abgeschobenen Flüchtling sollen andere aus Syrien in die EU einreisen dürfen. Darunter sind im Übrigen unter Umständen
auch Kurdinnen und Kurden. Stellen Sie sich vor, dass
von Griechenland Kurdinnen und Kurden in die Türkei
abgeschoben werden. Was ist denn das für eine Herangehensweise? Das kann doch nicht wahr sein.
({6})
Das alles ist ein scheinheiliger Deal. Sie schaffen damit
das fundamentale Recht in der Europäischen Union auf
ein individuelles Asylverfahren ab. Dieses Recht ist aber
nun einmal ein Grundrecht.
({7})
Während in Idomeni im Dreck und in Fäkalien Kinder geboren werden und leben müssen, machen Sie uns
vor, dass es eine europäische Lösung geben kann. Sie
haben völlig recht - auch Herr Blüm hat das gesagt -:
500 Millionen Europäer müssten in der Lage sein, dieses
Problem zu lösen. Ja, es muss eine europäische Lösung
unter Einbeziehung der Menschen geben. Doch das Problem ist: Europa folgt Ihnen nicht mehr. Sie haben eben
de facto kein Wort zu den problematischen europäischen
Partnern gesagt, weder zu Ungarn noch zu Polen oder
zu Frankreich. Beim Verteilungsschlüssel wollen die
EU-Staaten nicht mitmachen. Das ist doch die reale Lage.
Der UN-Hochkommissar für Flüchtlinge, al-Hussein,
bezeichnet die kollektive und willkürliche Ausweisung
von Flüchtlingen sogar als illegal. Das Europäische
Parlament ist gegen Ihren Vorschlag. Die Mehrzahl der
EU-Staaten will nicht mitmachen.
Es gibt dafür einen Grund: Frau Bundeskanzlerin, Sie
haben einen Beitrag dazu geleistet, dass Europa so entzweit ist. Das hat auch mit Alleingängen und Drohungen Richtung Athen vor anderthalb Jahren zu tun. Das ist
doch die Realität. Ist Ihnen aufgefallen, dass Nicht-EUStaaten die Grenzen zu uns dichtmachen? Mazedonien
baut Grenzanlagen gegen die EU. Früher wollten diese
Länder die Schlagbäume Richtung EU einreißen. Das alles ist auch das Ergebnis von zehn Jahren Ihrer Politik,
Frau Merkel. Das ist ein Ergebnis Ihrer Politik.
({8})
Sie sind mitverantwortlich für die politische, humanitäre
und soziale Krise in Europa. Sie waren es doch, die sich
mit ihrem Finanzminister geweigert hat, die Verantwortlichen für die Wirtschafts- und Finanzkrise wirklich zur
Verantwortung zu ziehen.
Das, was Krise in Griechenland, Spanien und anderen
Ländern ist, ist im Übrigen auch Krise in unserem Land.
Auch da sage ich ganz klar: Was waren denn die Rezepte? Weiterhin die schwarze Null. Ein Ergebnis ist, dass
es in unserem Land auf der einen Seite immer mehr Kinder und immer mehr Rentnerinnen und Rentner in Armut
gibt und dass auf der anderen Seite wenige Menschen
extrem viel Geld besitzen, und zwar obszön viel Geld,
meine Damen und Herren.
({9})
Warum wird die ungerechte Verteilung von Einkommen
und Vermögen in Deutschland und Europa angesichts
dieser Krise nicht einmal thematisiert?
({10})
Kurz vor den Landtagswahlen kam der Vizekanzler
mit der Forderung, in Deutschland müsse mehr in Sachen
„sozial“ getan werden. Das, lieber Herr Gabriel, kam
zwar spät und direkt vor den Wahlen - na ja -, aber es
ist völlig richtig. Auch wir sind dieser Auffassung. Allerdings sind wir der Auffassung, dass es für alle in diesem
Land ein Solidaritätspaket geben sollte. Ja, das sollten
wir machen.
({11})
Deswegen gibt es unseren Entschließungsantrag. Wir
fordern mehr Investitionen unter anderem in den sozialen
Wohnungsbau, ins Gesundheitswesen, in Schulen und in
Bildung. „5 x 5“ haben wir vorgeschlagen, also fünfmal
5 Milliarden Euro für ein soziales Land, solide finanziert.
Das muss doch wirklich möglich sein.
({12})
Meine Damen und Herren, es wurde in diesem Land
bereits viel Vertrauen in die Politik zerstört. Was das bedeutet, haben wir alle am letzten Sonntag sehen können.
Die Braunen im nationalkonservativen blauen Gewand
sind in drei Landtage zweistellig eingezogen, und sie fischen ganz bewusst am ganz rechten Rand.
({13})
Die AfD ist aber nicht nur rechtspopulistisch und rassistisch. Nein, sie würde das Land sogar noch unsozialer machen. Die AfD spaltet die Gesellschaft. Sie will
Hartz IV absenken, den Mindestlohn abschaffen, die
Frauen zurück an den Herd schicken und fürs Vaterland
gebären lassen. Deshalb, meine Damen und Herren: Das
übliche Parteiengeplänkel ist keine Antwort auf die Fragen der Zeit. Alle in diesem Haus haben am 13. März
verloren. Das muss man erst einmal anerkennen und entsprechend handeln.
({14})
Wir als demokratische Sozialistinnen und Sozialisten haben einen Vorteil. Wir sagen: Wir können niemals
glücklich sein, wenn andere unglücklich sind.
({15})
- Sie auch? Sehr schön. Nur mittun! Sie haben nachher
die Möglichkeit; denn dann findet eine wunderbare Abstimmung statt.
({16})
Die alten Recken der Union haben das im Übrigen begriffen. Sie haben begriffen: Die Menschen in diesem
Land wollen wieder ernst genommen und gehört werden,
und sie wollen mehr soziale Gerechtigkeit. Wir haben
das verstanden. Ich hoffe, Sie auch. Kommen Sie mit den
entsprechenden Ergebnissen vom Gipfel zurück!
Herzlichen Dank.
({17})
Für die SPD-Fraktion erhält nun Thomas Oppermann
das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der
EU-Gipfel in den nächsten beiden Tagen wird einer der
wichtigsten der letzten Jahre sein. Denn nach wie vor befindet sich die Europäische Union in einer äußerst angespannten Lage. Es geht um die Frage: Überwinden wir
die Flüchtlingskrise gemeinsam auf einem europäischen
Weg, oder zerfällt Europa in einzelne nationale Entscheidungen?
Wir haben in den letzten Wochen gesehen, wohin nationale Alleingänge führen: Das Schengen-System ist an
vielen Stellen außer Kraft, es gibt diplomatische Spannungen zwischen EU-Staaten, und Griechenland trägt
zurzeit die ganze Last der Probleme. Das ist keine dauerhafte Lösung, und das ist auch nicht der richtige Weg
für Europa.
({0})
Deshalb sind die Ergebnisse des EU-Türkei-Gipfels
der vergangenen Woche aus meiner Sicht ein gutes Zwischenergebnis. Es war auf diesem Gipfel das erste Mal
seit längerer Zeit wieder spürbar, dass es ein gemeinsames Interesse an einer europäischen Lösung gibt. Deshalb hoffe ich sehr, Frau Bundeskanzlerin, dass Sie in
den nächsten beiden Tagen aus diesem Zwischenergebnis einen tragbaren, dauerhaften Kompromiss entwickeln
können.
Dazu gehören für uns erstens ein Rücknahmeabkommen zwischen der EU und der Türkei, zweitens eine
Vereinbarung über Flüchtlingskontingente, mit denen
wir die Türkei entlasten und unsere eigenen humanitären
Verpflichtungen erfüllen können, drittens die europäische
Unterstützung von Griechenland und viertens ein klares
Signal, dass die EU entschlossen ist, die Fluchtursachen
entschieden zu bekämpfen. Mit einem solchen Ergebnis
können wir die Spaltung der Europäischen Union in der
Flüchtlingsfrage überwinden und die Flüchtlingsströme
reduzieren und wieder in geordnete Bahnen lenken.
({1})
Vor allem aber ist es wichtig, dass alle Flüchtlinge
wissen: Wer mit Schleppern über die Ägäis kommt, der
muss damit rechnen, wieder zurückgeschickt zu werden.
Denn erst dann werden die Flüchtlinge aufhören, ihre Ersparnisse den Schleppern anzuvertrauen, und erst dann
werden wir in der Lage sein, den kriminellen Banden in
der Ägäis endlich das Handwerk zu legen.
({2})
Meine Damen und Herren, ich weiß, dass diese Lösung nicht jedem gefällt. Der UN-Menschenrechtskommissar hat die geplante Rückführung von Flüchtlingen
kritisiert.
({3})
Das ist ein gewichtiges Wort, das wir ernst nehmen müssen. Ich bin mir sicher, dass der EU-Gipfel diese Kritik
aufnehmen und menschenwürdige und rechtskonforme
Lösungen finden wird, um die Zusammenarbeit mit der
Türkei zu ermöglichen. Das ist aus zwei Gründen wichtig:
Erstens. Die Sicherung der europäischen Außengrenze in der Ägäis ist ohne die Kooperation zwischen Griechenland und der Türkei ausgesprochen schwierig. Wenn
uns hier keine Übereinkunft mit der Türkei gelingt, dann
wird es überall in Europa zu einer nationalen GrenzDr. Dietmar Bartsch
schutzpolitik, zu einer Renationalisierung der Grenzen
und zu einer schweren Beeinträchtigung der Freizügigkeit und der Reisefreiheit kommen.
Ich darf daran erinnern: In Deutschland hängt jeder
vierte Arbeitsplatz direkt von der Exportwirtschaft ab.
({4})
Der Export-Vizeweltmeister Deutschland als abgeschotteter Nationalstaat: Das wäre ein Treppenwitz der Geschichte. Mit Grenzschließungen können wir unseren
Wohlstand nicht erhalten.
({5})
Zweitens. Trotz aller berechtigten Kritik an
Syrische Flüchtlinge sind
in der Türkei sicher. Die Türkei gibt mehr Syrern Schutz
und Sicherheit als alle anderen europäischen Länder zusammen.
({0})
Deshalb ist eine überhebliche und herablassende Haltung
gegenüber der Türkei in der Flüchtlingsfrage völlig unangebracht.
({1})
Es gibt in diesem Land allerdings zwei gravierende
Mängel bei der Flüchtlingsunterbringung.
Darf die Kollegin Hänsel eine Zwischenfrage stellen?
({0})
Ja, bitte.
Danke schön, Herr Präsident und Herr Oppermann,
für die Möglichkeit, eine Zwischenfrage zu stellen. - Sie
sagten, mit Grenzschließungen werde unser Wohlstand
nicht zu halten sein. Meine Frage ist: Werden wir mit
unserer derzeitigen Handelspolitik, durch die die Länder des Südens, die afrikanischen Länder, ausgebeutet
werden, unseren Wohlstand weiterhin halten können?
Brauchen wir hier nicht noch ganz andere grundsätzliche
politische Veränderungen? Ansonsten werden wir doch
nicht dazu beitragen, dass es weniger Menschen gibt, die
fliehen müssen.
Sie können sich doch nicht nur darauf konzentrieren,
zu sagen, dass wir unseren Wohlstand halten und versuchen müssen, unseren Binnenmarkt zu erhalten, sondern
wir brauchen hier doch eine andere Politik.
({0})
Zum einen: Frau Kollegin Hänsel, dass Sie den Wohlstand erhalten wollen, hat der Kollege Bartsch, Ihr Fraktionsvorsitzender, hier eben noch einmal bekräftigt.
({0})
Er hat gesagt: Die Linken sind nicht glücklich, solange
nicht alle anderen glücklich sind. - Ohne wirtschaftlichen Wohlstand geht das nicht wirklich.
({1})
Zum anderen: Natürlich müssen wir die Abhängigkeitsverhältnisse in der Weltwirtschaft abbauen. Wir
versuchen das auch mit einer Politik der wirtschaftlichen Zusammenarbeit. Diese Bundesregierung hat aus
Haushaltsüberschüssen in der mittelfristigen Finanzplanung 8 Milliarden Euro zusätzlich für wirtschaftliche
Zusammenarbeit zur Verfügung gestellt. Ich glaube, wir
werden auch sehr stark gefordert sein, wenn es gelingt,
den Bürgerkrieg in Syrien zu beenden; denn wenn dieser Bürgerkrieg zu Ende ist, muss das Land wieder aufgebaut werden. Der syrische Bürgerkrieg ist aber nicht
etwa aufgrund eines direkten Ausbeutungsverhältnisses
entstanden. Er hat völlig andere Ursachen. Deshalb muss
dieser Krieg erst einmal beendet werden, wenn wir in der
Region zu einer nachhaltigen Politik kommen wollen.
({2})
Die Türkei hat 2,5 Millionen Flüchtlinge aufgenommen. Diese syrischen Flüchtlinge in der Türkei werden
dort auch akzeptiert. Die Menschen haben Verständnis
für die Fluchtgründe; aber es gibt zwei gravierende Probleme. Dabei geht es zum einen um den Zugang zu medizinischer Versorgung und zum anderen um den Zugang
zu Bildungsmöglichkeiten für die Kinder. Genau diese
beiden Dinge aber können und werden wir ändern, indem
wir 3 Milliarden Euro Unterstützung aus der EU primär
genau für diese beiden Bereiche einsetzen werden.
({3})
Flüchtlinge haben ein Recht auf Schutz, aber sie haben keinen Anspruch darauf, selber bestimmen zu können, welches Land diesen Schutz gewähren muss. Wer in
ein bestimmtes Land einreisen möchte, der muss schon
die Einreise- und Einwanderungsbestimmungen dieses
Landes beachten. Die Flüchtlinge haben einen Anspruch
auf Schutz, aber keinen Anspruch auf freie Wahl des
Schutzlandes.
Meine Damen und Herren, die Türkei bietet syrischen
Flüchtlingen Sicherheit. Das heißt aber natürlich nicht,
dass auch sonst in der Türkei alles in Ordnung wäre. Im
Gegenteil: Erdogan verletzt Menschenrechte. Er geht
brutal gegen die kritische Opposition vor, lässt Proteste
niederknüppeln und bekämpft die Kurden mit rücksichtslosen Militäreinsätzen. Die Presse in der Türkei wird
eingeschüchtert. Bei Bedarf werden regierungskritische
Zeitungen gestürmt und einer staatlichen Kontrolle unterworfen. Dazu sagen wir ganz klar: Dieser Umgang mit
Opposition und Meinungsfreiheit ist einer Demokratie
nicht würdig.
({4})
Aber, meine Damen und Herren, die Türkei wünscht
sich eine Perspektive mit Blick auf die Europäische Union. Und wenn jetzt neue Verhandlungskapitel eröffnet
werden, dann ist das auch eine Chance, auf grundlegende
Veränderungen in der Türkei hinzuarbeiten und die Menschenrechtslage dort nachhaltig zu verbessern.
Meine Damen und Herren, die AfD-Ergebnisse bei den
Landtagswahlen am vergangenen Wochenende waren
zweifellos ein Warnsignal. Auch Deutschland ist nicht
immun gegen rechtspopulistische Parteien, die in unsere
Landtage einziehen. Aus anderen europäischen Ländern
wissen wir: Das wäre schleichendes Gift für eine weltoffene, liberale und gerechte Politik. Deshalb sage ich: Wir
müssen uns mit den Gründen für den Wahlerfolg dieser
Partei auseinandersetzen, und davon gibt es eine ganze
Reihe. Ein Teil der Wähler vermisst eine konservative
politische Heimat. Ein anderer Teil fühlt sich von dem
sogenannten politischen Establishment nicht mehr vertreten. Und manche wollen mit ihrer Wahl einfach ihren
Protest ausdrücken - ob gegen die Euro-Rettung oder die
Flüchtlingspolitik.
Mir zeigt der Erfolg der AfD aber vor allem eines: Die
Spaltung der Gesellschaft hat schon begonnen. Deshalb
sind die richtigen Aufgaben für die Politik jetzt folgende:
Wir müssen erstens den Riss, der in der Flüchtlingspolitik mitten durch unsere Gesellschaft geht, wieder kitten
und die Zahl der Flüchtlinge auf ein vernünftiges Maß reduzieren. Wir brauchen zweitens ein finanziell kraftvoll
ausgestattetes Integrationsgesetz mit klaren Regeln und
Angeboten für Flüchtlinge mit Bleibeperspektive.
({5})
Wir brauchen drittens ein Einwanderungsgesetz, mit dem
wir Deutschland als Einwanderungsland gestalten und
mit dem wir die Einwanderung von Fachkräften sinnvoll
steuern können.
({6})
Wir müssen viertens den Staat wieder zum unbestrittenen
Garanten für die öffentliche Sicherheit in diesem Lande
machen. Aber vor allem müssen wir fünftens die soziale
Spaltung der Gesellschaft stoppen.
Um zu wissen, was die Menschen in diesem Lande
umtreibt, lohnt sich übrigens ein Blick in unseren Koalitionsvertrag. Über 1 Million Leiharbeiter und Werkvertragsnehmer warten auf eine anständige Regulierung
der Leiharbeit und darauf, dass wir den Missbrauch von
Werkverträgen stoppen.
({7})
Die Lohnlücke bei der Bezahlung von Männern und
Frauen und die trotz jahrzehntelanger Arbeit drohende
Altersarmut bei Niedrigverdienern empfinden viele als
eine große Ungerechtigkeit.
({8})
Unsere Kommunen warten auf die versprochenen Entlastungen, die jetzt tatsächlich kommen müssen.
({9})
Millionen von Menschen wünschen sich, dass die Politik
die antiquierte Eingliederungshilfe reformiert und Menschen mit Behinderungen die Möglichkeit gibt, ihr Leben
selbstständig und autonom zu gestalten.
({10})
- Wir sind mittendrin.
({11})
Meine Damen und Herren, keines dieser Probleme ist
durch die Flüchtlingskrise weniger wichtig geworden.
Deshalb müssen wir den Menschen jetzt zeigen: Wir
werden die Probleme anpacken und die Lösungen umsetzen, so wie das vereinbart worden ist.
({12})
Für mich hat der Wahlkampf in Rheinland-Pfalz vor
allem eines gezeigt: dass den Menschen in Deutschland
der Zusammenhalt der Gesellschaft ganz besonders am
Herzen liegt. Dieser Wunsch hält viele Menschen davon
ab, in großer Zahl die AfD zu wählen - aber nur dann,
wenn wir tatsächlich in Integration und in sozialen Zusammenhalt investieren. Gerade die Ärmsten, die Arbeitslosen und die Migranten, die hier schon leben - das
kann ich sagen, ohne irgendwelche Gruppen gegeneinander auszuspielen -, sind doch die Ersten, die zu Flüchtlingen in Konkurrenz geraten können oder zumindest das
Gefühl haben, dass das passieren könnte. Deshalb war es
absolut richtig, dass wir eine Ausnahme vom Mindestlohn für Flüchtlinge strikt zurückgewiesen haben, meine
Damen und Herren.
({13})
Deshalb werden wir darauf bestehen und daran arbeiten, dass diese Dinge jetzt angepackt und umgesetzt werden. Wir dürfen bei der Integration nicht an den falschen
Stellen sparen. Wir müssen Wohnungen schaffen, Erzieherinnen und Erzieher, Lehrerinnen und Lehrer einstellen sowie Ausbildungsplätze und Kapazitäten an Berufsschulen bereitstellen. Wir müssen Eingliederungen für
den Arbeitsmarkt aktivieren. Wir müssen die Flüchtlinge
und die Langzeitarbeitslosen in Arbeit bringen.
({14})
Dazu werden wir den Haushalt 2017 nutzen.
Ich freue mich auf die konstruktiven Gespräche, die
wir dazu in der Koalition haben werden. Ich sage: Wir
haben viel zu tun. Lassen Sie uns das gemeinsam anpacken!
Vielen Dank.
({15})
Anton Hofreiter erhält nun das Wort für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, für Ihre
grundsätzliche Linie in der Flüchtlingspolitik der letzten
Monate haben Sie auch von meiner Partei viel Respekt
und Zustimmung erfahren.
({0})
Sie haben der zum Teil hysterischen Stimmung in Ihren
eigenen Reihen nicht nachgegeben - auch nicht der bei
der CSU - und sich im Grundsatz an Humanität und Solidarität orientiert. Ja, Ihre Partei hat bei den Wahlen nicht
davon profitiert. Aber Ihre Haltung ist durch die Erfolge
von Malu Dreyer und Winfried Kretschmann inhaltlich
bestätigt worden.
({1})
Die große Mehrheit in unserem Land hat Parteien
gewählt, die eine humane, eine realistische und eine europäische Flüchtlingspolitik unterstützen. Die Mehrheit
unserer Bevölkerung bleibt gelassen und hält Kurs, liebe
Kolleginnen und Kollegen. Das sollte uns alle freuen.
({2})
Unser Ziel muss eine europäische Lösung bleiben, die
das individuelle Recht auf Asyl bewahrt, Geflüchteten
Schutz bietet und in der Tat auch unsere Außengrenzen
sichert.
Sie, liebe Frau Bundeskanzlerin, sagen, Sie wollen
Kurs halten. Aber zurzeit sprechen Ihre Taten leider eine
andere Sprache. Als sich vor einem halben Jahr die dramatischen Szenen in Budapest ereignet haben, haben Sie
geholfen. Heute ereignen sich ähnlich dramatische und
zum Teil noch dramatischere Szenen in Idomeni. Wo
bleibt da Ihre Hilfe? Wo bleibt da das Signal aus Deutschland? Dieses Mal tun Sie nichts, und das ist beschämend
für die Bundesregierung und für unser Land.
({3})
Dabei wäre angesichts der Bedingungen, unter denen die
Menschen dort leben, humanitäre Soforthilfe nötig.
Im Rahmen des beschlossenen europäischen Verteilmechanismus müssten auch wir 28 000 Geflüchtete aus
Griechenland aufnehmen. Warum zaudern Sie? Warum
zaudert die Bundesregierung, die von Ihnen selbst hochgehaltenen Beschlüsse umzusetzen? Ich spreche gar
nicht von den insgesamt 160 000 Geflüchteten. Der deutsche Anteil sind 28 000. Warum gehen wir nicht als gutes
Vorbild bei der Umsetzung voran, indem wir die 28 000
Geflüchteten aufnehmen? Damit wäre vielen Menschen
in Griechenland geholfen. Handeln Sie endlich! Es ist
Zeit.
({4})
Auch mit Blick auf den Deal, der beim EU-Gipfel
droht, habe ich sehr große Zweifel daran, dass Sie gedenken, Ihren Kurs beizubehalten. Denn es droht uns ein
schmutziger Deal. Wenn man die Unterlagen genau studiert, dann stellt man fest, dass da Formulierungskünstler
am Werk sind, die den Anschein erwecken wollen, dass
alle Geflüchteten ein faires Verfahren erhalten würden.
Aber seien Sie doch ehrlich: Nur Syrer sollen noch nach
Europa kommen; alle anderen sollen in die Türkei zurückgeschickt werden. Seien Sie ehrlich: Das ist de facto
nichts anderes als eine flexible Obergrenze. Deshalb frage ich mich - und das frage ich auch die lieben Kolleginnen und Kollegen von der CSU -, warum sich Herr
Seehofer wieder wie Rumpelstilzchen aufführt.
({5})
Bei dem Deal, der uns droht, sind Geflüchtete keine
Individuen mehr, deren Schutzbedürftigkeit im Einzelfall
entsprechend geprüft wird. Es sind nur noch Rechengrößen im Tauschhandel zwischen der Europäischen Union
und der Türkei, bei dem zum Beispiel Afghanen und Iraker komplett unter den Tisch fallen. Das ist unmenschlich. Das ist Europas unwürdig, und es ist inakzeptabel.
Deshalb: Stoppen Sie das, Frau Merkel!
({6})
Ich gebe Ihnen völlig recht, Frau Merkel, dass es beschämend ist, dass dieses Europa - 28 Nationalstaaten
und 505 Millionen Einwohner allein in der Europäischen
Union - nicht in der Lage ist, einige Hunderttausend
Geflüchtete bei uns unterzubringen und immer nur auf
einzelnen nationalen Lösungen besteht. Ich mache Ihnen
nicht den Vorwurf, dass Sie alleine an dem vergifteten
Klima in Europa Schuld sind. Aber in den anderen europäischen Ländern ist nicht vergessen worden, dass es erst
gut zwei Jahre her ist, dass Italien in großen Schwierigkeiten war und um eine solidarische Lösung gebeten hat,
als viele Geflüchtete nach Lampedusa kamen. Damals
hat ein deutscher Innenminister gesagt: Das ist ein rein
nationales Problem; das ist allein das Problem von Italien. - Insofern glaube ich: Wenn in Europa immer nur diejenigen für eine solidarische Lösung kämpfen, die gerade
in dem Moment Solidarität brauchen, dann wird Europa
nicht funktionieren.
({7})
Jetzt ist das alles vergossene Milch. Bei uns ist das
weitgehend vergessen. Aber ich sage Ihnen, Frau Merkel:
In den anderen europäischen Ländern ist das nicht vergessen. Deshalb: Geben Sie sich einen Ruck, und hören
Sie nicht auf, weiter für eine solidarische Lösung zu
kämpfen. Geben Sie sich aber vor allem einen Ruck, und
sagen Sie: Es tut uns leid. In der Vergangenheit, als andere auf Solidarität angewiesen waren, waren wir unsolidarisch. Wir haben jetzt verstanden, wie problematisch
das ist. - Ich glaube, wenn Sie das deutlich aussprechen
würden, wenn Sie sich bei Italien entschuldigen würden
({8})
für die Haltung, die damals der deutsche Innenminister
innehatte, dann würde man sich viel leichter tun, zu einer
solidarischen Lösung und zu einer gemeinsamen Zusammenarbeit zu kommen. Wenn man bereit ist, die eigenen
Fehler und die eigene Unsolidarität zuzugeben, dann
werden die Verhandlungen leichter werden. Wenn man
hingegen immer nur mit dem Finger auf andere zeigt,
wird es problematisch.
({9})
Die Türkei hat sehr viele Geflüchtete aufgenommen,
und zwar mehr als die gesamte Europäische Union. Das
sehen wir, und das muss man anerkennen. Aber man
muss auch sehen, dass es in der Türkei kein faires Verfahren für Geflüchtete gibt. Schlimmer noch: Zum Teil ist in
Berichten zu lesen, dass die Türkei Geflüchtete zurück
in den Bürgerkrieg schickt. Wenn Sie nun, liebe Bundeskanzlerin, unsere humane Verantwortung, die Verantwortung Europas zur Wahrung der Menschenrechte,
auf Erdogan abschieben, dann ist das nur noch grotesk.
Hören Sie damit auf! Beenden Sie das!
({10})
Die Türkei steht am Rande eines Bürgerkriegs. Die
schrecklichen Anschläge in der Türkei bedrücken uns
alle. Es muss uns wirklich besorgt machen, dass die Regierung Erdogan das Land mehr spaltet als vereint sowie
massiv gegen die Menschen- und Bürgerrechte ihrer eigenen Bürgerinnen und Bürger verstößt.
Sehr geehrter Herr Bundesinnenminister, Ihre Bemerkung, wir sollten uns nicht zum Schiedsrichter beim Thema Menschenrechte aufspielen, ist eine Unverschämtheit
({11})
gegenüber denen, die unter Erdogans Repressionen und
den Angriffen der türkischen Armee in den Kurdengebieten leiden. Diese Bemerkung ist eine Unverschämtheit
gegenüber den Journalisten und Oppositionellen, die im
Gefängnis sitzen. Da darf Europa nicht wegschauen. Da
darf Europa nicht schweigen, und dazu darf auch die
Bundesregierung nicht schweigen. Hierzu muss man sich
ganz deutlich äußern.
({12})
Es ist richtig, die Türkei finanziell zu unterstützen.
Auch bei der Visafreiheit haben Sie unsere Unterstützung. Aber wir appellieren an Sie, Frau Merkel: Gehen
Sie nicht jeden Deal bei den bevorstehenden Verhandlungen ein! Lassen Sie sich nicht von den Seehofern, den
Orbans und den anderen Asylgegnern in Europa treiben!
Verraten Sie nicht die Werte Europas! Verraten Sie nicht
die Geflüchteten! Verraten Sie nicht die Menschen, die an
die Werte Europas glauben, beim nächsten Gipfel!
({13})
Lassen Sie sich auch nicht von der AfD vorantreiben.
Die AfD, wie wir sie erlebt haben, verfolgt reaktionäre,
völkische und menschenverachtende Ziele. Wir müssen
mit ihr streiten und deutlich machen, dass Hass keine
Alternative für Deutschland ist. Das tun wir Grüne mit
unseren Argumenten und die SPD und die Union mit
ihren. Das wird nicht immer gleich klingen. Aber eines
sollte uns allen klar sein: Keiner von uns darf den rassistischen Motiven hinterherlaufen. Das ist keiner der hier
im Hohen Hause vertretenen Parteien würdig. Es bringt
zudem keinen Erfolg; denn im Zweifel wählen die Menschen lieber das Original für rechte Sprüche, und das
Original für rechte Sprüche ist nun einmal die AfD. Lassen Sie uns streiten mit sachlichen Argumenten über die
Flüchtlingspolitik, über Verteilungspolitik und über die
Euro-Politik. Nichts ist alternativlos. Demokratische Parteien bieten Alternativen. Streit ist fruchtbar, wenn er auf
dem Boden des Grundgesetzes geführt wird. Weite Teile
der AfD und ihres Umfeldes tun das aber nicht. Der Hass
in den sozialen Netzwerken, auf den Pegida-Demonstrationen und in den AfD-Wahlprogrammen verletzt den
politischen Grundkonsens unserer Republik. Deren Alternativen sind keine Alternativen, sondern Angriffe auf
unsere Werte, und zwar auf unsere gemeinsamen Werte.
({14})
Nicht nur der Streit in der Regierung und über den
Umgang mit den Geflüchteten spielt der AfD in die Karten. Was der AfD jenseits der harten Rechtsextremisten
unter ihren Wählern weiterhin in die Karten spielt, ist,
dass viele Menschen gefühlt Angst vor dem sozialen
Abstieg haben, unabhängig davon, ob sie wirklich davon bedroht sind oder nicht. Das liegt auch daran, dass
viele Menschen das Empfinden haben, dass die soziale
Herkunft stark die Bildungs- und Aufstiegschancen bestimmt. Das Versprechen der sozialen Marktwirtschaft
ist doch: Aufstieg aufgrund eigener Leistung ist möglich.
Dieses Versprechen löst unser Wirtschaftssystem zu häufig nicht mehr ein. Dieses gebrochene Versprechen ist
brandgefährlich für den Zusammenhalt. Wer etwas gegen die Menschenfeindlichkeit tun will, der muss auch
für eine gerechtere Gesellschaft arbeiten, für mehr Chancen für alle.
Herr Kollege.
Die SPD und Sigmar Gabriel haben dazu ein paar
richtige Vorschläge gemacht. Aber Herr Gabriel hat sein
Solidarpaket unter dem Motto verkauft: Jetzt sind auch
einmal die Deutschen dran. - So spielt man aber Menschen gegeneinander aus. So bestätigt man das Motiv
der AfD. Das ist keine konstruktive, das ist keine linke
Politik.
({0})
Die Abgehängten und die sich abgehängt Fühlenden
anzusprechen, ohne Ressentiments zu bedienen, das
müsste die SPD doch schaffen. Deshalb: Achten wir
darauf, dass wir diesen Parolen nicht hinterherlaufen.
Weder durch Arroganz noch durch Hinterherlaufen oder
dumme Sprüche werden wir die AfD bekämpfen. Wir haben eine Verantwortung für die Demokratie. Werden wir
ihr gerecht - hier im Bundestag, in den Landtagen und
auf den europäischen Gipfeln.
({1})
Für die CDU/CSU-Fraktion erhält nun Volker Kauder
das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Wieder einmal, so könnte man fragen, ein neuer Gipfel,
und was wird das Ergebnis dieses Gipfels sein? Aber
wenn wir uns die letzten Gipfel anschauen, dann sehen
wir, dass wir immer vorangekommen sind. Wir haben
in Europa schon immer erlebt, dass es manchmal etwas
langsam und schwierig gegangen ist, dass wir aber dann
doch zu Ergebnissen gekommen sind. Ja, auch mir geht
es bei der Frage der europäischen Flüchtlingspolitik zu
langsam. Deshalb ist es aber doch richtig, dass wir diejenige unterstützen und derjenigen Erfolg wünschen, der es
auch zu langsam geht, nämlich unserer Bundeskanzlerin.
({0})
- Da darf der Beifall bei unserem Koalitionspartner ruhig
etwas größer sein;
({1})
denn ich gehe davon aus, dass auch Sie den Erfolg wollen.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, ja,
das Gesicht, das Europa im Augenblick in Griechenland
zeigt, ist nicht das Gesicht von Europa, das ich mir in der
ganzen Welt vorstelle.
({2})
Das, was wir in Griechenland erleben, ist aber das Ergebnis davon, dass Europa nicht schnell genug gehandelt
hat, und das ist das Ergebnis ausschließlich nationaler
Maßnahmen.
({3})
Das zeigt, dass wir eine wirkliche Lösung nur hinbekommen, wenn wir europäisch handeln.
Jetzt, Herr Kollege Hofreiter: Wir müssen schon die
Wirklichkeit richtig darstellen. Ein Teil des Protestpotenzials, das sich auch - nicht nur, aber auch - in Stimmen
für die AfD zeigt, hängt auch damit zusammen, dass wir
die Dinge, wie sie wirklich sind, manchmal nicht so richtig bezeichnen. Wenn Sie jetzt versuchen, die Situation in
Griechenland mit der damals in Ungarn zu vergleichen,
dann ist das eben nicht fair.
({4})
- Nein. In Ungarn gab es eben keine Möglichkeiten für
die Flüchtlinge, in entsprechende Einrichtungen zu gehen.
Die Ungarn haben die Flüchtlinge auf die Straße geschickt, damit sie woanders hingehen; aber in Griechenland gibt es Plätze, wohin die Flüchtlinge gehen können.
({5})
Insofern besteht ein Unterschied, und das sollten wir
auch sagen.
Richtig ist aber auch - das sieht man an diesem Beispiel -, dass es mit europäischen Werten nichts zu tun
hat, wenn wir denjenigen im Stich lassen, der jetzt die
ganze Last tragen soll, nach dem Motto: Es interessiert
uns nicht, was die Griechen zu tun haben. - Das geht auf
gar keinen Fall. Es bringt Europa an den Rand des Zerfalls, wenn so gedacht wird. Wir wären dann nicht mehr
füreinander da, und wir würden uns dann nicht mehr in
schwierigen Situationen helfen. Das wäre nicht das Europa, wie ich es mir vorstelle. Dafür kämpft die Bundeskanzlerin auch auf dem bevorstehenden Gipfel.
({6})
Ich wünsche ihr dabei viel Erfolg.
Es wird - auch dies ist klar - ohne den Beitrag der
Türkei nicht gehen. Deswegen ist es richtig, dass wir mit
der Türkei darüber sprechen, welchen Beitrag sie leisten
kann, und dass wir der Türkei auch klar sagen, wie es die
Bundeskanzlerin gesagt hat: Das, was ihr macht, ist nicht
nur etwas, was ihr für uns in Europa tut, sondern es ist
auch etwas, was die Türkei für sich selber tut. - Sie hat
also ein Eigeninteresse. Trotzdem ist klar, dass wir mit
der Türkei auch darüber reden müssen, welche Wünsche
und Vorstellungen sie hat.
Ich bin froh darüber, Herr Kollege Hofreiter, dass Sie
gesagt haben: Die finanziellen Leistungen an die Türkei
sind richtig, und sie sind auch notwendig, um dort mitzuhelfen, zu stabilisieren und damit Fluchtursachen zu reduzieren. Jetzt hat die Türkei noch eine Reihe von anderen Wünschen. Man muss mit der Türkei darüber reden,
was gehen kann und was nicht gehen kann.
Ich gebe Ihnen in einem Punkt recht - ich wäre der
Letzte, der das bestreiten würde; schließlich habe ich es
bereits mehrfach gesagt -: Wir müssen mit der Türkei
reden - ich habe nie etwas anderes gesagt -, obwohl
sich mir dabei manche Fragen im Hinblick auf meinen
Einsatz für Religionsfreiheit und verfolgte Christen stellen. Wir, die Unionsfraktion, haben der Bundeskanzlerin immer gesagt: Wir wollen, dass das nächste Kapitel,
das bei den Verhandlungen mit der Türkei eröffnet wird,
Menschenrechte, Rechtsstaat und Religionsfreiheit und
kein anderes Thema betrifft. Wenn das jetzt geschieht,
dann werde ich mir die eine oder andere Diskussion in
der Türkei und mit der Türkei notwendigerweise leisten.
Auch das ist klar. Aber das heißt doch nicht, dass wir jetzt
überhaupt nicht mit der Türkei darüber sprechen, wie sie
uns helfen kann, bei diesem wichtigen Thema voranzukommen.
({7})
Wir müssen lernen, dass wir mit Ländern, bei denen
wir glauben, dass sich im Rechtsstaatsdialog mit ihnen
einiges verändern muss, reden, dass wir klare Kante zeigen, wenn es um unsere Positionen geht, dass wir sie aber
auch dort mitnehmen, wo sie Beiträge im gemeinsamen
Interesse leisten müssen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist richtig, dass
wir nicht von uns aus nach dem Motto vorgehen: Jetzt
steht der schnelle Beitritt der Türkei vor der Tür. Das entspricht nicht der Wahrheit. Es trüge zur Verunsicherung
in der Bevölkerung bei und auch dazu, dass der eine oder
andere sagt: Dann suche ich mir ein Ventil in einer Partei wie der AfD. Deswegen müssen wir alle miteinander
überlegen - auch in diesem Hohen Haus -, welchen Beitrag wir durch unsere Diskussionsbeiträge dazu leisten,
dass Menschen verunsichert werden und sich dann einen
anderen Weg suchen, statt bei den Parteien zu bleiben,
die für das Wohl dieses Landes mehr getan haben, als
Parteien wie die AfD jemals tun werden.
({8})
Dazu trägt auch bei, dass wir, die wir in einer Koalition sind, das tun, was wir vereinbart haben, und nicht nur
ständig darüber reden, was wir tun wollen. Deswegen ist
es besser, zunächst einmal miteinander zu sprechen, bevor man ein neues Programm heraushustet.
({9})
Ich kann nur sagen: Peter Struck hat einmal zu mir
gesagt: Wenn du etwas heraushustest, ohne es vorher mit
mir besprochen zu haben, dann kannst du das gleich in
meine Pfeife stopfen.
({10})
Deswegen kann ich nur raten, dass man sich als Koalition nicht über das Wochenende in Wochenendmagazinen mit neuen Vorschlägen überrascht, sondern vielleicht
vorher miteinander spricht. Mit mir hat man auf jeden
Fall nicht gesprochen - um das einmal klar zu sagen.
({11})
Lieber Kollege Oppermann, das gilt natürlich wechselseitig auch für die andere Seite. Das sage ich in beide
Richtungen.
({12})
- Frau Göring-Eckardt, wir können das nachher auch
bilateral klären. Jetzt lassen Sie erst einmal die Baden-Württemberger ihre Gespräche führen, und dann reden wir miteinander.
({13})
Ich möchte darauf hinweisen, dass das deswegen
schwierig ist, weil wir einen Punkt - auch in den Reden,
die heute gehalten worden sind - völlig vernachlässigt
bzw. gar nicht angesprochen haben. Es geht doch jetzt
nicht in erster Linie darum, neue Pakete zu schnüren, als
ob wir bisher gar nichts getan hätten. Vielmehr hat diese
Koalition im sozialen Bereich doch sehr viel auf den Weg
gebracht. Bei dem einen waren wir nicht so fröhlich dabei, bei dem anderen aber schon.
Wir haben für 9 Millionen Mütter die Mütterrente
geschaffen. Wir haben die Rente mit 63 geschaffen. Außerdem haben wir den Mindestlohn eingeführt. Insofern
kann man doch nicht so tun, als ob man jetzt erst damit
anfangen müsste, in diesem Bereich etwas zu tun. Machen wir uns doch nicht selbst kleiner, als wir wirklich
sind, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({14})
Jetzt kommt mein Thema: Wir diskutieren immer wieder darüber, wie es mit der Rente weitergeht und ob das
Rentenniveau in Ordnung ist. Dazu muss man die ganze
Wahrheit sagen. Wir sind aktuell nicht bei einem Rentenniveau von 42 Prozent angekommen, wie immer wieder behauptet wird. Wir werden bei diesem Niveau auch
niemals ankommen, wenn wir endlich einmal verstehen,
dass - ({15})
- Das ist ganz falsch. Darüber reden wir gleich aber auch
noch.
Wir werden auf diesem Niveau gar nicht erst ankommen, wenn wir weiterhin wirtschaftlich stark bleiben.
Wirtschaftliche Stärke und Wachstum werden das Rentenniveau nicht nach unten, sondern nach oben bringen.
({16})
Deswegen sage ich auch, dass wir in erster Linie einen
Pakt für Wachstum und Innovation in diesem Land brauchen, meine sehr verehrten Damen und Herren.
({17})
Gestern ist die CeBIT eröffnet worden. Wenn man
sieht, was dort passiert - darüber wird heute gar nicht
gesprochen -, kann ich nur sagen: Es ist richtig, dass wir
in Infrastruktur investieren.
({18})
- Ja, ja. - Ich will einmal Folgendes sagen: Wenn wir es
nicht zügig angehen, dieses Land von der Struktur her fit
zu machen für die neuen Herausforderungen, dann werden wir kein einziges soziales Problem mehr lösen, liebe
Kolleginnen und Kollegen. Deswegen sind Innovation
und Wachstum die entscheidenden Punkte.
({19})
Wir müssen die Menschen auch damit einmal konfrontieren und ihnen sagen, dass wir das wollen.
({20})
Es ist mit Blick auf die Wahlergebnisse, die uns am
vergangenen Sonntag präsentiert worden sind, auch richtig, dass die Flüchtlingsfrage wie ein Katalysator gewirkt
hat. Sie war nicht das Einzige, was Menschen dazu bewogen hat, nicht mehr uns oder die Parteien zu wählen,
die sie bisher gewählt haben, aber sie war ein Katalysator, durch den vieles aufgebrochen ist. Dabei geht es jetzt
gar nicht um die Benachteiligten.
Da sind vielmehr Menschen auf einmal sauer darüber - sie haben das auch formuliert -, dass seit längerer
Zeit die Themen „Innere Sicherheit“ oder „Einbruchskriminalität“ überhaupt nicht richtig behandelt werden.
Dazu kann ich nur sagen: Wir in der Koalition hätten
beim passiven Einbruchschutz auch mehr tun können;
vielleicht können wir das noch nachholen.
({21})
Da glauben Menschen, dass die Bekämpfung von Kriminalität in bestimmten Regionen gar nicht mehr stattfindet. Es ist doch dramatisch, wenn wir in Zeitungen am
Wochenende lesen müssen, dass es in Dortmund, in Berlin und überall Viertel gibt, wo die Polizei schon längst
die Waffen gestreckt hat und nichts mehr passiert.
({22})
Da kann ich nur sagen: Es wäre wirklich kurzsichtig
und würde kein einziges Problem lösen, wenn wir glauben: Ausschließlich das Flüchtlingsthema hat die Menschen zur AfD gebracht. - Das belegt die Wahlanalyse
hundertprozentig nicht, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen.
({23})
Wir sprechen ständig davon, Herr Hofreiter: Es muss
mehr für Bildung und, und, und getan werden.
({24})
So stimmt das aber nicht. Wenn ich in mein Heimatland
schaue, dann muss ich sagen:
({25})
Es ist nicht das Thema, mehr für Bildung zu tun, sondern
es geht darum, das Falsche zu vermeiden und das Richtige zu tun. Das ist der entscheidende Punkt.
({26})
Aber darüber diskutieren wir nicht hier im Deutschen
Bundestag, sondern das muss in den Ländern stattfinden.
({27})
Ich wehre mich ein bisschen dagegen, dass jedes Problem, das in den Ländern nicht richtig behandelt wird,
hier bei uns im Bund abgeladen werden soll. So funktioniert Föderalismus auf gar keinen Fall. Wir werden uns
daran auf jeden Fall nicht beteiligen.
({28})
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, jetzt haben wir
auf dem Gipfel eine große Aufgabe vor uns. Ich glaube, dass mehr europäische Länder erkannt haben, dass
das, was sich im Augenblick in Griechenland abspielt, so
nicht gehen kann, so nicht funktionieren kann. Deswegen
wünsche ich der Bundeskanzlerin, dass sie mit ihrer Mission auf dem Gipfel Erfolg hat. Ich will, dass Europa ein
menschliches Gesicht zeigt und nicht das zeigt, was sich
jetzt gerade in Griechenland abspielt.
({29})
Das Wort erhält nun die Kollegin Eva Högl für die
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Lieber Herr Kauder,
({0})
wenn Sie festgestellt haben, dass es in Berlin Viertel gibt,
in denen die Polizei nicht mehr präsent ist und KriminaVolker Kauder
lität nicht mehr bekämpft, dann empfehle ich, dass Sie
das dem Berliner Innensenator, Herrn Henkel, mitteilen.
({1})
Wenn Sie das nicht machen, übernehme ich das gern.
Ich muss Ihnen sagen: Ich als Berliner Bundestagsabgeordnete habe das noch nicht feststellen können.
({2})
Ich finde, wir sollten so etwas auch nicht herbeireden.
Unsere Polizei ist landauf, landab gut aufgestellt, auch
in Berlin.
({3})
Lieber Herr Kauder, in der Koalition können wir
gleich morgen über mehr Geld für die Einbruchsicherung
und auch über mehr Unterstützung für die Polizei sprechen. Da haben Sie uns, die SPD-Bundestagsfraktion,
wirklich ganz an Ihrer Seite.
({4})
Sie wissen auch, dass wir bei den Gesprächen immer
eher in diese Richtung gedrängelt haben, als dass wir da
blockiert haben.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich lenke unseren
Blick wieder zurück auf die Lage in Europa und auf den
bevorstehenden Gipfel. Ich möchte damit beginnen, dass
ich noch einmal hervorhebe, dass die Lage in Griechenland und die Bilder aus Idomeni uns jeden Tag vor Augen
führen - das sage ich jetzt sehr deutlich -, wie grausam
Grenzschließungen sind und welch gravierender Verstoß
gegen Menschenrechte und gegen internationales Asylrecht diese Grenzschließungen zwischen Mazedonien
und Griechenland sind und wie absurd, sinnlos und hilflos solche nationalen Alleingänge sind. Deshalb, Frau
Bundeskanzlerin, haben Sie uns, die SPD-Bundestagsfraktion, selbstverständlich an Ihrer Seite, wenn es darum
geht, eine gemeinsame europäische Politik zu gestalten.
({6})
Ich möchte eines noch einmal ganz deutlich sagen,
liebe Kolleginnen und Kollegen: Wenn Personen vor
Verfolgung, vor Folter, vor Vertreibung und vor Krieg
fliehen, dann hat jede einzelne dieser Personen das Recht
darauf, in Europa um Schutz zu bitten - jede einzelne
Person.
({7})
Diese Personen handeln nicht illegal - auch nicht,
wenn sie von der Türkei nach Griechenland kommen -,
sondern sie haben einen Anspruch darauf, dass wir ihr
Anliegen prüfen. Sie haben einen Anspruch auf ein faires Verfahren, und wenn sie schutzberechtigt sind, haben
sie auch einen Anspruch auf Schutz. Deswegen erübrigt
sich in dieser Debatte jede Diskussion über Obergrenzen,
über Tageskontingente oder über Grenzschließungen,
weil sie weder rechtlich zulässig noch, wie ich finde, moralisch vertretbar, sinnvoll oder wirksam sind.
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt keine einfachen Antworten, weil wir natürlich wissen, dass nicht
alle Menschen, die verfolgt sind, nach Europa kommen
können und auch nicht alle in Deutschland Zuflucht finden können; das haben wir hier schon oft betont. Es gibt
nur schwierige Antworten, um die lange gerungen werden muss. Eines will ich aber deutlich sagen - das haben
Sie herausgestrichen, Frau Bundeskanzlerin -: Die Antwort liegt in einer gemeinsamen europäischen Politik.
Alle anderen Antworten sind unzureichend, und deswegen müssen wir gemeinsam daran arbeiten.
Ich finde, wir müssen klarmachen, dass es etwas geben muss zwischen einer Festung Europa auf der einen
Seite - was wir nicht wollen, sind Stacheldraht und
Grenzpolizei - und einer unkontrollierten und unbegrenzten Einwanderung auf der anderen Seite; das wollen wir natürlich auch nicht. Was wir wollen und woran
wir gemeinsam in Europa arbeiten müssen, sind Recht
und Ordnung sowie faire Verfahren. Ich finde, es lohnt
sich, unsere gesamte politische Anstrengung genau darauf zu lenken, dass wir in Europa diesen Weg weiter
beschreiten.
({9})
Dies setzt voraus - das ist schon erwähnt worden; ich
möchte es aber noch einmal betonen -, dass wir Griechenland unterstützen. Ja, es gehört zur Wahrheit, dass
wir - Deutschland - es waren, die die Mitgliedstaaten,
die eine EU-Außengrenze haben, insbesondere die Mitgliedstaaten am südlichen Rand der Europäischen Union,
in den vergangenen Jahren mit dem Thema Flüchtlingspolitik alleingelassen haben. Diese Politik müssen wir
jetzt ändern.
({10})
Es ist wichtig, dass wir das Dublin-System weiterentwickeln. Das Dublin-System ist von der Anlage gut
und richtig; es beinhaltet richtige Prinzipien. Aber wir
merken jetzt, dass es unter diesem enormen Druck nicht
funktioniert, und wir stellen auch fest, dass sich nicht alle
Mitgliedstaaten daran halten. Deswegen ist es wichtig,
dass wir das Dublin-System weiterentwickeln, und zwar
in die Richtung, wie es ursprünglich einmal angelegt
war: Wir müssen eine einheitliche Registrierung, einheitliche Standards und einheitliche Kriterien für die Überprüfung, ob eine Person Schutz bekommt, schaffen.
Ich würde das Dublin-System auch gerne in die Richtung weiterentwickeln, dass wir einen einheitlichen
Flüchtlingsausweis für ganz Europa bekommen. Das ist
sicherlich noch Zukunftsmusik, aber ich glaube, dass es
sinnvoll und richtig wäre, wenn wir mit dem Dublin-System genau dahin kämen.
({11})
Ein paar Sätze zur Türkei. Auch ich bin der Auffassung - dieser Auffassung ist die gesamte SPD-Bundestagsfraktion -, dass wir die Türkei als Gesprächspartner
brauchen. Die Türkei ist das Nachbarland von Syrien.
Die meisten Flüchtlinge, die jetzt versuchen, über die
Balkanroute zu kommen, kommen von Syrien über die
Türkei. Die Türkei ist ein wichtiger und notwendiger
Partner, aber selbstverständlich - das ist heute schon gesagt worden - nicht um jeden Preis. Das sagt auch niemand, der für die Zusammenarbeit mit der Türkei wirbt.
Selbstverständlich nutzen wir die Gespräche auch, um
die Einhaltung der Menschenrechte und der Pressefreiheit sowie die Situation der Kurdinnen und Kurden anzusprechen. Aber wenn die Zusammenarbeit mit der Türkei
unsere Möglichkeit ist, legale Wege nach Europa zu öffnen, den Schleppern das Handwerk zu legen und in Europa zu einer einheitlichen Politik zu kommen, dann ist das
alle Anstrengung wert, dann lohnen sich die Gespräche
mit der Türkei, und dann ist das sinnvoll und richtig.
({12})
Die Türkei möchte von uns gern Erleichterungen in
der Visapolitik und eine Visafreiheit haben. Ich wundere mich ein bisschen - jetzt gucke ich ein wenig nach
rechts -, wer sich jetzt alles zu Wort meldet und sagt,
dass es nicht vereinbart und auf keinen Fall machbar sei,
mit der Türkei über Visaerleichterungen zu sprechen. Wir
haben das längst vereinbart. Die Gespräche laufen seit
2012. Das, was wir jetzt vereinbart haben, ist genau der
richtige Weg, nämlich diese Vereinbarung zu beschleunigen und vorzuziehen. Wir haben übrigens auch in der
Koalition längst gemeinsam besprochen, dass wir Visaerleichterungen für die Türkei auf den Weg bringen wollen.
Natürlich wird es keine voraussetzungslose Visafreiheit geben; auch das ist längst vereinbart. Die Türkei muss
Voraussetzungen erfüllen, was die Sicherheit der Dokumente, den Austausch der Daten und natürlich auch ihre
eigene liberale Visapolitik angeht. Beispielsweise müsste
sie ihre Visafreiheit mit Ländern der Maghreb-Staaten
oder Pakistan einschränken, damit wir davon ausgehen
können, dass, wenn wir Visafreiheit gewährleisten, dadurch keine weiteren Lücken und Schlupflöcher entstehen. Es wird noch schwierig genug, bis die Türkei diese
Voraussetzungen erfüllen kann, aber die Anstrengungen
lohnen sich auf jeden Fall.
Deshalb sage ich, wir haben ein klares Programm:
Fluchtursachen bekämpfen, gemeinsame Politik in Europa sowie hier in Deutschland die richtigen Voraussetzungen dafür schaffen, dass Flüchtlinge aufgenommen und
integriert werden können.
Mit Blick auf den europäischen Gipfel, Frau Bundeskanzlerin, wünschen wir Ihnen viel Erfolg. Kommen Sie
mit guten Ergebnissen zurück. Ich wünsche uns weiterhin gute Beratungen.
({13})
Sevim Dağdelen ist die nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Während
wir hier heute debattieren, treibt die Bundesregierung
noch mehr Menschen in die Flucht. Hubschrauber, Gewehre, Pistolen für die Emirate, Saudi-Arabien und
Oman: Die Rüstungsindustrie hat neue Millionengeschäfte abgeschlossen. Genehmigt haben sie aber Frau
Bundeskanzlerin Merkel und Herr Wirtschaftsminister
Gabriel. Wie lange, glauben Sie, wird es dauern, bis sich
die 5 Millionen Binnenflüchtlinge im Jemen aus der saudischen Kopf-ab-Diktatur, die Sie, meine Damen und
Herren hochrüsten, auf den Weg nach Europa machen?
Wie lange wird es dauern, bis sich noch mehr Menschen
aus Syrien aufmachen werden, weil sie vor den islamistischen Terrorbanden fliehen müssen, die Sie dadurch
unterstützen, dass Sie Saudi-Arabien und die Türkei bewaffnen, meine Damen und Herren? Statt Fluchtursachen
zu bekämpfen, liefert die Bundesregierung kriegführenden Staaten weiterhin Waffen und trägt dazu bei, dass immer mehr Menschen ihre Heimat verlassen müssen. Ihre
Waffenlieferungen, Frau Merkel und Herr Gabriel, sind
ein Verbrechen gegen die Menschen in der Region.
({0})
Jetzt versuchen Sie erneut, mit dem Terrorpaten
Erdogan zu einem Vertragsabschluss zu kommen. Der
Türkei-Plan, der jetzt vorliegt, ist im Kanzleramt geschrieben worden. Fast alle anderen europäischen Partner haben Sie mit diesem Alleingang wieder einmal
brüskiert. Sie, Frau Merkel, versuchen, Ihre Politik mit
jemandem wie dem türkischen Präsidenten Erdogan
durchzusetzen, der Zeitungsredaktionen stürmen lässt
und die Presse- und Meinungsfreiheit mit Füßen tritt. Die
Alleingänge der Bundesregierung, ihre Bereitschaft, jeden Verstoß Erdogans gegen die Grundwerte unserer Zivilisation zu decken, hat die Bundesregierung in Europa
isoliert wie noch nie zuvor. Bei Ihrer Achse Berlin-Ankara will so gut wie niemand - nur Luxemburg - mitmachen. Wir sagen Ihnen: Europa hat Ihre Alleingänge satt.
Sie zerstören mehr und mehr all das, was an Vertrauen in
Europa nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebaut wurde.
({1})
Ich sage Ihnen auch: Ihr Glaube, mit jemandem wie
Erdogan, der Krieg gegen die Kurden führt, dafür sorgen
zu wollen, dass weniger Menschen, weniger Flüchtlinge
nach Europa kommen, ist ungefähr so stimmig wie die
Hoffnung, dass ein Mafiaboss dafür sorgen würde, dass
es weniger Verbrechen gibt. Sie machen mit Erdogan
den Bock zum Gärtner. Mit dem, der Krieg führt, der die
Kurden massakriert, der Menschen zwingt, ihre Heimat
zu verlassen, wollen Sie Geschäfte machen, damit keiner
flieht. Aber ich frage mich: Wem wollen Sie eigentlich
diesen Bären aufbinden? Das ist doch ein Stück aus dem
Tollhaus, Herr Kauder. Das müssen Sie doch einmal einsehen.
({2})
Der Preis, den Sie bereit sind für Ihre tödlichen Illusionen zu bezahlen, ist sehr hoch.
({3})
Sie schweigen zu den Gewerkschaftern, Sie schweigen
zu den Journalisten in den Kerkern Erdogans, und Sie
schweigen zu den zerstörten Kirchen
({4})
und den in die Flucht getriebenen Christen aus Diyarbakir. Die UNO und der Europarat sagen Ihnen, dass dieser
Plan mit der Türkei gegen das Völkerrecht verstößt, weil
Erdogan dabei ist, die Flüchtlinge weiter in das Bürgerkriegsland Syrien zurückzuschieben. Doch dadurch lassen Sie sich offensichtlich nicht aufhalten. Ich frage Sie:
Ist jetzt eigentlich Rechtsnihilismus die offizielle Politik
dieser Bundesregierung? Reicht es Ihnen nicht, durch
Ihre Unterstützung der Regime-Change-Politik und der
Ölkriege internationales Recht zu missachten? Ich finde,
der Preis, den Sie da zahlen, ist hoch ({5})
obwohl die Türkei voll auf dem Weg in die Diktatur ist.
Herr Kauder, ich finde es wirklich unerträglich, dass Sie
jetzt auch noch versprechen, einer Diktatur den Weg in
die EU zu bahnen, und dabei sozusagen alle Perspektiven
für ein soziales und demokratisches Europa verspielen.
Frau Kollegin.
Eine solche Perspektive bedeutet für Europa eine Beerdigung erster Klasse. Dagegen werden Sie auf jeden
Fall Widerstand erfahren. Wir werden dagegen Widerstand leisten.
({0})
Das Wort erhält nun Gerda Hasselfeldt für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wieder einmal beschäftigt sich ein europäischer Gipfel
im Schwerpunkt mit der Bewältigung der Flüchtlingsproblematik, und das ist auch gut so. Denn eines gilt: Mit
rein nationalen Maßnahmen wird dieses Problem nicht
zu lösen sein. Es gilt aber auch: Je weniger auf europäischer Ebene gelöst wird, desto größer wird der Druck,
noch mehr nationale Maßnahmen zu ergreifen, und je
mehr auf europäischer Ebene gelöst wird, desto geringer
wird dieser Druck sein.
({0})
Worum geht es? Ich will ins Gedächtnis rufen, dass
es - zum Ersten - darum geht, mit den Menschen, die zu
uns kommen, aber auch mit den Menschen, die in Krisengebieten unter schwierigen Umständen leben, human
umzugehen und unseren Beitrag dazu zu leisten. Ich sage
bewusst: mit denjenigen, die bei uns sind, aber auch mit
denjenigen - auch sie müssen wir im Blick haben -, die
in den Krisengebieten und Kriegsgebieten sind, dort unter schwierigen Verhältnissen leben, in den Flüchtlingslagern sind oder auch in Staaten und Ländern leben, in
denen die Verhältnisse sehr schwierig sind.
Ich will bei der Gelegenheit deutlich machen: Das,
was in unserem Land an Nächstenhilfe, an humanitärer
Begleitung bei der Unterbringung, bei der Versorgung,
bei der Integration geleistet wird, ist beispielhaft und
kann nicht oft genug gewürdigt werden; dafür gilt unser
Dank.
({1})
Ich will auch sagen: Das, was zur Bekämpfung der
Fluchtursachen, zur Verbesserung der Situation der Menschen in den Krisengebieten, geleistet wird - mittlerweile mehr und intensiver, als es in den vergangenen Monaten zu spüren war -, darf nicht einfach negiert werden,
sondern muss erwähnt und auch weitergeführt werden.
Ich bin der Bundeskanzlerin sehr dankbar, dass sie dies
heute angesprochen hat. Dazu gehört zum Beispiel die
Hilfe für Griechenland und andere Länder.
({2})
Es geht um ein Zweites: um die Integration derjenigen, die eine Bleibeperspektive haben. Auch da wird
Enormes unternommen, wenn auch in den einzelnen
Ländern unterschiedlich viel. Aber die Integration ist keine Angelegenheit, die man nur mit Geld und noch so vielen Kursen lösen kann, sondern sie ist - liebe Kolleginnen und Kollegen, auch darauf will ich hinweisen - eine
gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Das, was heute schon
von unseren Vereinen - nicht nur von den Sportvereinen,
sondern auch von vielen anderen in unserem Land - geleistet wird, ist beispielhaft und vorbildlich. Ich möchte
ausdrücklich dafür danken.
({3})
Es geht um ein Drittes, nämlich um die Begrenzung
der Zahlen. Das ist wichtig; denn die Integration von
und der humanitäre Umgang mit Flüchtlingen sind nur
zu leisten, wenn wir die Zahl der Flüchtlinge deutlich
und nachhaltig reduzieren. Die Integrationskraft unseres
Landes hat Grenzen, und diese Grenzen müssen wir beachten.
({4})
Nun geht es darum: Wie machen wir das auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene? Auf nationaler Ebene haben wir in den vergangenen Monaten eine
ganze Reihe von Gesetzen verabschiedet: Asylpaket II,
Asylpaket I. Wir haben die Westbalkanländer als sichere Herkunftsstaaten eingestuft. Nur als Randbemerkung:
Wenn die Grünen rechtzeitig bereit gewesen wären, eine
entsprechende Entscheidung zu fällen,
({5})
dann wären viele Hunderttausende von Flüchtlingen im
vergangenen Jahr nicht in unser Land gekommen. Auch
das gehört zur Wahrheit.
({6})
In den nächsten Wochen gilt es, weitere Vorhaben umzusetzen, zum Beispiel die Einstufung der Maghreb-Staaten als sichere Herkunftsstaaten. Auch das gehört zu unserer nationalen Verantwortung.
({7})
Auf dem Europäischen Gipfel stehen die Verhandlungen mit der Türkei im Mittelpunkt. Wir alle wissen,
dass die Türkei ein Schlüsselland bei der Bewältigung
der Problematik ist. Das ist unbestritten. Trotz all dem,
was wir kritisieren, was uns besorgt durch die Bilder und
Berichte zur Menschenrechtssituation, zur Pressefreiheit
und zur Meinungsfreiheit, deren Einhaltung in der Türkei
sehr zu wünschen übrig lässt, gilt: Wir müssen mit der
Türkei reden, verhandeln und zu Lösungen kommen. Das
ist unbestritten.
Es gibt eine Reihe von Forderungen vonseiten der
Türkei. Ich habe Verständnis für die finanziellen Forderungen. Ich habe auch für manche andere Forderung
Verständnis. Ich will für die Landesgruppe der CSU allerdings deutlich machen: Wir haben in der Tat Bedenken
hinsichtlich der vollen Visumsfreiheit. Eines darf nicht
passieren: Die Überprüfung der Bedingungen, die die
Türkei zu erfüllen hat, darf nicht zu lasch gehandhabt
werden. Auf die Einhaltung der Bedingungen muss geachtet werden. Ich bin dankbar, dass die Bundeskanzlerin heute klargestellt hat: Von der Verbindlichkeit dieser
Bedingungen wird kein Jota abgewichen. Das ist für uns
ganz wichtig.
({8})
Ich will darüber hinaus zum Ausdruck bringen: Wir
wissen, dass im Laufe der Beitrittsverhandlungen immer
wieder Kapitel eröffnet werden. Die Eröffnung weiterer
Kapitel kann durchaus zu einer Modernisierung in der
Türkei führen. Aber ich will deutlich machen - nicht
dass man später einmal sagt: „Ihr hättet ja was sagen
können!“ -: Wir sehen im derzeitigen Stadium keine
Möglichkeit, dass die Türkei volles Mitglied der Europäischen Union wird. Das will ich deutlich zum Ausdruck
bringen.
({9})
Es ist meines Erachtens ein richtiger Ansatz, die
Rücknahme von Flüchtlingen aus Drittstaaten zu vereinbaren. Es ist wichtig, dass die Türkei die Flüchtlinge, die von der Türkei in die Europäische Union, nach
Griechenland kommen, wieder zurücknimmt. Das kann
zur Eindämmung der Arbeit der Schleuser- und Schlepperbanden führen. Ich hoffe sehr, dass es dazu kommt
und dass im Zuge dessen die syrischen Flüchtlinge in
Europa verteilt werden. Es muss allerdings auch sichergestellt werden, dass die Last dieser Verteilung nicht
einseitig auf Deutschland liegt, vielmehr muss diese in
Europa gerecht verteilt werden; das gilt sowohl für die
160 000, deren Verteilung vereinbart wurde, als auch für
den Anteil, der darüber hinausgeht. Auch dies ist für uns
ein wichtiger Bestandteil der Vereinbarung.
({10})
Dass bei jeder Gelegenheit in Gesprächen mit der Türkei auf die Menschenrechte, auf die Bürgerrechte, auf die
Defizite bei der Pressefreiheit und bei der Meinungsfreiheit hingewiesen wird, das versteht sich von selbst.
Das hoffe ich zumindest. Wir werden jede Gelegenheit
wahrnehmen, darauf hinzuweisen. Vielleicht sind die
Beitrittsverhandlungen und die weitere Öffnung der Kapitel auch Anlass dazu, sich zu bewegen.
Meine Damen und Herren, dabei darf es aber nicht
bleiben. Wir haben noch eine ganze Reihe an zusätzlichen Aufgaben in Europa, nämlich die wirkliche Umgestaltung von Frontex in einen effektiven Grenz- und
Küstenschutz oder die Instandsetzung der Hotspots, der
Einrichtungen an den europäischen Außengrenzen, damit
sie so, wie es von Anfang an gedacht war, genutzt werden
können, nämlich zur Registrierung der Flüchtlinge, aber
auch zur Rückführung derer, die keine Bleibeperspektive
in Europa haben, und zur gerechten Verteilung in Europa.
So war die Arbeit der Hotspots tatsächlich vereinbart. Ich
weiß, dass da noch ein Stück Arbeit vor uns liegt, aber
wir dürfen da nicht einfach stehenbleiben, sondern wir
müssen dies auf den Weg bringen.
({11})
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen, Europa hat in den vergangenen Jahren und
Jahrzehnten schon viele schwierige Zeiten erlebt. Viele
schwierige Entscheidungen waren zu treffen, viele wichtige Weichen wurden gestellt, und nicht immer war es
am Anfang gleich so, dass die Lösung auf dem Tisch lag.
Ähnlich ist es auch jetzt. Es ist eine objektiv schwierige
Situation, dieses weltweite Problem der Flüchtlingsströme zu bewältigen, und es ist in einem Europa mit unterschiedlichen nationalen Interessen in dieser Frage ganz
besonders schwierig. Nicht zuletzt deshalb wünschen wir
Ihnen, Frau Bundeskanzlerin, eine weiterhin glückliche
Hand und viel Erfolg bei diesen schwierigen Verhandlungen.
({12})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Norbert Spinrath
für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Traditionell soll sich
ja der Frühjahrsgipfel mit Wirtschaftsthemen beschäftigen und gemeinsame Strategien zur Wirtschaftspolitik
entwickeln. Angesichts der aktuellen HerausforderunGerda Hasselfeldt
gen in der Flüchtlingspolitik, aber auch zuletzt bei den
Verhandlungen mit Großbritannien sind die normalen
Themen aber immer wieder in den Hintergrund gedrängt
worden. Dabei gilt es aus meiner Sicht nicht nur bei der
Flüchtlingspolitik und nicht nur bei den großen Aufregern Brexit oder Grexit in Brüssel belastbare Politik zu
machen; denn eine ständige Weiterentwicklung der Lösungsmechanismen und der Strategien und eine ständige
Vertiefung der Europäischen Union - das sage ich ganz
bewusst und schiele dabei natürlich in Richtung London - sind die Grundlage dafür, dass wir in Europa für
alle Menschen, auch für Neuankömmlinge, leistungsfähig bleiben können.
Das Europäische Semester ist Teil der Koordinierung
der Wirtschaftspolitik. Ganz klar: Eine echte Veränderung der Währungsunion hin zu einer Vertiefung der
Wirtschaftsunion ist das noch nicht, aber es ist immerhin
ein Schritt in die richtige Richtung.
Nun stellt sich jedes Jahr, wenn wir die nationalen
Reformpläne und die länderspezifischen Empfehlungen
diskutieren, die Frage: Wie ernst nehmen dies eigentlich
die Mitgliedstaaten? Wie ernst nimmt es Deutschland mit
den Verpflichtungen, mit den länderspezifischen Empfehlungen? Die Kommission sagt, die wirtschaftliche
Situation in Deutschland sei gut, dennoch würden seit
Jahren nötige öffentliche und private Investitionen nicht
vollzogen, auch nicht die in den letzten länderspezifischen Empfehlungen von 2015 empfohlenen Investitionen. Die Kommission sagt, dass in der Vergangenheit in
Deutschland Investitionen in Infrastruktur, Bildung und
Wohnen vernachlässigt wurden. Das führt zum Fazit,
dass wir sozialen Wohnungsbau brauchen, dass wir mehr
Investitionen in die soziale Stadtentwicklung brauchen
und Anreize für den Neubau bezahlbaren Wohnraums für
die Normalverdiener schaffen müssen.
Wir in der SPD haben das verstanden, und wir haben mit unserem Drängen die Bundesregierung dahin
bewegt, mit dem Umsteuern zu beginnen. Das wird für
uns in der SPD das Topthema der kommenden Monate
und Jahre bleiben. Wir brauchen eine Investition in die
Zukunft aller Menschen in Deutschland, sowohl in die
Zukunft derjenigen, die schon lange oder schon immer
hier leben, als auch in die Zukunft der Neuankömmlinge.
Wir brauchen ein Solidarprojekt für Deutschland.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Europa steht bei
diesem Gipfel und bezüglich der aktuellen Flüchtlingspolitik an einer Wegscheide. Die Erwartungen an die
politisch Handelnden sind derzeit enorm hoch. Von allen Partnern in Europa, natürlich auch von uns, werden
Kompromissbereitschaft und Flexibilität verlangt. Dabei
müssen wir aber immer auf der Grundlage der gemeinsamen Werte dieser Europäischen Union handeln. Ich
begrüße ausdrücklich die Lösungsvorschläge der Europäischen Kommission und den umfassenden Ansatz, mit
dem der Rat in den nächsten zwei Tagen der Aufgabe der
Bewältigung der aktuellen Migrationsbewegungen begegnen will. Man will beraten und wird hoffentlich zu
wichtigen und richtigen Entscheidungen kommen; denn
nur gemeinsames europäisches Handeln kann uns letztendlich zu dauerhaften und zufriedenstellenden Lösungen führen. Eine gemeinsame europäische Lösung in der
Flüchtlingsfrage ist aber sicherlich nicht in den nächsten
zwei Tagen zu erzielen. Sie braucht Zeit. Aber es braucht
in den nächsten Tagen zumindest gemeinsame Signale.
Es mag sein, dass wir als einer der 28 Partner zusammen mit einigen wenigen Willigen besondere Anstrengungen unternehmen und einseitig Vorleistungen erbringen müssen. Aber ich bleibe dabei: Wir sind 28 in der
Europäischen Union, und die 28 Mitgliedstaaten müssen
die Bewältigung der Flüchtlingssituation als gemeinsame
Aufgabe ansehen und auch zu gemeinsamen Lösungen
gelangen.
({1})
Wenn aber der Kreis der Willigen in der Realität der
nächsten Wochen und Monate tatsächlich beweisen kann,
dass die Kombination aus Verhinderung von Grenzübertritt, Ausschaltung der Schlepper, Öffnung von legalen
Zugangswegen - ich glaube, das ist ein ganz wichtiger
Punkt -, Zugang zu den Asylverfahren und menschenwürdiger Versorgung in allen Aufnahmeländern zu einem
signifikanten Nachlassen des Migrationsdrucks führt,
dann entsteht hoffentlich auch bei den jetzt noch Unwilligen die Bereitschaft, sich doch noch auf eine gemeinsame Lösung einzulassen. Appelle alleine reichen nicht.
Jetzt muss gehandelt werden.
Die Sicherung der Außengrenzen wird immer als
Monstranz vorangetragen. In den letzten Wochen glaubte
man oft, alleine mit der Sicherung der Außengrenzen zu
einer signifikanten Verringerung der Zahlen zu kommen.
Die Sicherung der Außengrenzen ist richtig und wichtig,
sofern damit gemeint ist, an den Außengrenzen zu erfassen, wer wo und unter welchen Umständen in die EU
einreist, wenn damit also ein kontrollierter Zugang für
diejenigen gemeint ist, die zu uns kommen. Wer mit dem
Schließen der Grenzen aber lediglich das Ziel verfolgt,
Schutzbedürftigen das Stellen eines Asylantrags zu erschweren, der verlagert die Missachtung unserer gemeinsamen Werte an die Grenzen.
({2})
Wir müssen jetzt das Signal senden - ich hoffe, dass
das von diesem Gipfel ausgehen wird -, dass wir alle in
der gemeinsamen Verantwortung stehen, insbesondere
Griechenland angesichts der dort aktuell entstandenen
Lage zu helfen. Es gilt nun, die Mittel zur Verfügung zu
stellen, aber auch personelle und technische Hilfe zu leisten. Wir müssen auch dafür Sorge tragen, dass wir mit
der Türkei einen Partner gewinnen, der mit uns gemeinsam ein Problem löst, das eben nicht seins ist.
Es ist richtig, dass wir in der Krise mit der Türkei zusammenarbeiten. Hier ist der Dialog entscheidend. Ich
setze darauf, dass es über diesen Dialog gelingt, zu mehr
Rechtsstaatlichkeit und zur Einhaltung der Menschenrechte zu kommen. Ich will das im Sinne von Rechtsstaatlichkeit auch als Chance begreifen, einen Beitrittsprozess zur EU zu ermöglichen.
Herr Kollege.
Die Türkei hat, nebenbei gesagt, in den letzten Jahren
bei der Aufnahme von mehr als 3 Millionen Flüchtlingen
Erstaunliches geleistet. Jetzt sollten wir die Bedingungen
für gemeinsame Lösungen schaffen.
Liebe Frau Bundeskanzlerin - sie ist gerade nicht an
ihrem Platz -,
Sie müssen zum Schluss kommen.
- ich möchte Ihnen viel Glück, viel Kraft und Erfolg
in Brüssel wünschen. Ich wünsche mir, dass Ihr viel zitierter Satz der letzten Wochen und Monate auch für die
Verhandlungen in Brüssel gilt: Wir schaffen das, weil wir
es machen.
({0})
Michael Stübgen erhält nun das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich gebe zu:
Ein bisschen kam es mir schon wie in Tausendundeine
Nacht vor, als die türkische Regierung der Europäischen
Union wenige Stunden vor dem Europäischen Rat in der
letzten Woche einen sehr weitgehenden Vorschlag dazu
gemacht hat, was sie bereit wäre zur Lösung oder teilweisen Lösung der Migrationsproblematik über ihr Land in
die Europäische Union zu tun. Es gibt in den deutschen
Medien wilde Spekulationen darüber, wie es denn zu diesem Vorschlag gekommen ist. Daran will ich mich nicht
beteiligen.
Ich will aber eines feststellen: Wir haben es mit einem
ernsthaften und sehr weitreichenden Vorschlag der türkischen Regierung an die Europäische Union zu tun. Nach
meiner eingehenden Analyse dieses Vorschlages und der
Vorbereitungspapiere, die unter Leitung von Ratspräsident Donald Tusk entstanden sind, muss ich Ihnen sagen,
dass es meine Überzeugung ist, dass dieser Vorschlag
das Potenzial hat, dass wir als Europäische Union es gemeinsam mit der Türkei schaffen, das Geschäftsmodell
Balkanroute zu beenden. Dieses Geschäftsmodell führt
seit Monaten dazu, dass skrupellose Schlepperbanden
auf dem Rücken von geschundenen Menschen, die fliehen, Milliardeneinnahmen machen. Diese Banden haben vorsätzlich in Kauf genommen, dass bisher mehr
als 1 000 Menschen auf der Balkanroute gestorben sind.
Wenn wir es schaffen sollten, wenn die Chance besteht,
dieses Geschäftsmodell zu beenden, ist es alle Anstrengungen wert, zu versuchen, bei den Verhandlungen mit
der Türkei morgen und übermorgen zu einem Erfolg zu
kommen.
({0})
Für ein erfolgreiches Agreement mit der Türkei gibt
es nach meiner Einschätzung drei grundsätzliche Fragen,
die beantwortet werden müssen.
Die erste ist: Können wir davon ausgehen, können wir
glauben und voraussetzen, dass die Türkei dieses Mal
wirklich will, was sie ankündigt? Ich verstehe jeden, der
in dieser Frage Zweifel hat angesichts der Politik, auch
der Geopolitik der Türkei in den letzten zehn Jahren,
die vorsätzlich nicht darauf ausgerichtet war, sich der
Europäischen Union anzunähern, sondern eher ein ganz
anderes Ziel verfolgt hat und ganz andere geopolitische
Schwerpunkte hatte.
Ich kann auch angesichts der Tatsache, wie die türkische Regierung in den vergangenen 15 Monaten mit der
Flüchtlingswelle umgegangen ist, Zweifel verstehen. Sie
hat diesen Prozess in ihrem Land geduldet, ohne ihn zu
reduzieren oder gar zu stoppen. Denn dies war in ihrem
eigenen Interesse: Wenn Flüchtlinge aus der Türkei in die
EU gehen, sind weniger in der Türkei. Genauso erkennbar ist allerdings in den letzten Monaten, dass der Türkei
dieser Prozess mehr und mehr aus dem Ruder gelaufen
ist. Die Entwicklung, dass sich die Türkei zu einem internationalen Durchgangslager für Migranten bis hin aus
Indien und Bangladesch in die Europäische Union entwickelt hat inklusive der logistischen mafiösen Strukturen
ringsherum, ist mit Händen zu greifen.
Ich gehe davon aus, dass diese Frage mit Ja beantwortet werden kann. Ja, die türkische Regierung hat
verstanden: Sie muss an der jetzigen Situation etwas ändern. - Wir haben eine ausreichende Schnittmenge, auf
Augenhöhe zwischen EU und Türkei zu verhandeln, und
die Chance, zu einem richtigen Ergebnis zu kommen.
Die zweite wesentliche Frage ist: Haben wir denn eine
Garantie, dass ein mögliches Agreement mit der Türkei
auch funktioniert, dass es erfolgreich umgesetzt werden
kann? Diese Frage kann man einfach beantworten: Nein,
die haben wir nicht, und die werden wir auch nicht haben, wenn dieses Agreement morgen oder übermorgen
verabschiedet werden kann. Die nächste Frage, die sich
anschließt, lautet: Ist denn die Wahrscheinlichkeit des
Erfolges dieser Vereinbarung groß genug? Da ist meine
Überzeugung, gerade aufgrund meiner Ausführungen zur
ersten Frage, dass die Wahrscheinlichkeit eines Erfolgs
groß genug ist.
Ich komme zur dritten und entscheidenden Frage - wir
haben sie uns im Übrigen bei allen Rettungspaketen, bei
allen Rettungsprogrammen in den letzten fünf Jahren im
Rahmen der Euro-Krise immer wieder gestellt -: Haben
wir denn für den Prozess der Umsetzung solch einer Vereinbarung - in diesem Fall mit der Türkei - eine ausreichende Kontrolle, und haben wir, wenn es das Agreement gibt, wenn es also verabschiedet ist, noch genügend
Möglichkeiten und Kraft, Fehlentwicklungen, die zufällig, durch Fehleinschätzungen, aber möglicherweise auch
vorsätzlich erzeugt werden, zu korrigieren? Die Antwort
auf diese Frage ist natürlich wesentlich schwieriger.
Ich will nur zwei Punkte kurz ansprechen:
Die Türkei wünscht sich, dass der Prozess mit der
Europäischen Union mit dem Ziel der Visafreiheit massiv beschleunigt wird. Es gab schon eine Roadmap, die
das für das Jahr 2017/2018 vorsah. Im Herbst des letzten Jahres wurde beschlossen, dass dies bis Oktober der
Fall sein soll. Jetzt sagt die Türkei: Wir schaffen das alles
bis Ende Juni dieses Jahres. - Dass bisher wenig passiert
ist, hat nichts mit der EU, sondern hat damit zu tun, dass
die Türkei selber die Voraussetzungen noch nicht ausreichend umgesetzt hat. Ich kann Ihnen nur eines sagen: Ich
habe Zweifel, dass die technischen und politischen Voraussetzungen bis Ende Juni dieses Jahres von der Türkei
umgesetzt werden können. Aber ich glaube nicht, dass
ich das Recht habe, aufgrund dieser Zweifel der Türkei
gegenüber zu erklären: Ich glaube nicht, dass ihr das
schafft; also reden wir nicht darüber.
({1})
Wichtig ist, dass die notwendigen Voraussetzungen sie sind bis ins letzte Detail definiert - umgesetzt werden,
ohne politische Rabatte. Wichtig ist: Wir haben in diesem
Prozess als Deutscher Bundestag die vollständige Kontrolle über die Vorgänge. Ich glaube, wenn das erfolgreich
umgesetzt wird - von mir aus am besten Ende Juni -,
dann werden wir mit biometrischen türkischen Pässen
ohne Visa wahrscheinlich eine bessere Sicherheitsstruktur haben als mit den bisherigen nicht fälschungssicheren
türkischen Pässen mit Visa. Wir können hier also zu einem Vorteil kommen.
Der letzte Punkt: die Beschleunigung der Beitrittsverhandlungen. Es ist ganz eindeutig, dass die Türkei in den
letzten zehn Jahren nicht wirklich Interesse daran hatte,
sich anzunähern. Das Gegenteil war der Fall. Aber auch
hier können wir feststellen, dass die Türkei mit ihren
ehemaligen geostrategischen und geopolitischen Zielen
gescheitert ist; das ist sogar ein Desaster. Wenn es ein
Umdenken bei der türkischen Regierung in die Richtung
gibt, sich der Europäischen Union anzunähern und mehr
Rechtsstaatlichkeit im eigenen Land umzusetzen, dann
wird dies ein Vorteil für 80 Millionen Türken sein, und
es wird auch ein Sicherheitsvorteil für die Europäische
Union als Ganzes sein.
Ich glaube, dass die notwendigen Voraussetzungen
dafür, solch ein Agreement mit der Türkei zu erzielen,
erfüllt sind. Wir als Deutscher Bundestag werden sehr
genau darauf achten, dass die Voraussetzungen erfüllt
werden. In diesem Zusammenhang wünsche ich dem Europäischen Rat einen erfolgreichen Abschluss und Bundeskanzlerin Merkel Erfolg bei den sehr, sehr komplexen
und sehr, sehr schwierigen Verhandlungen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Vielen Dank, Herr Kollege Stübgen. - Darf ich die
Kolleginnen und Kollegen, die sich so angeregt unterhalten, bitten, Platz zu nehmen? Die Debatte ist noch nicht
zu Ende, und es gehört sich, den beiden Kollegen, die
noch reden, zuzuhören.
Nächste Rednerin in der Debatte: Luise Amtsberg für
Bündnis 90/Die Grünen. - Und ich meine das mit dem
Hinsetzen ernst.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! In der letzten Regierungserklärung hat die Bundeskanzlerin betont, wie wichtig es ist, alle in Europa an
einen Tisch zu bringen, für eine gemeinsame europäische
Asylpolitik zu streiten und den nationalen Alleingängen
in Europa endlich ein Ende zu bereiten. Wir haben das
von Anfang an unterstützt, weil auch wir glauben, dass
eine gemeinsame Asylpolitik bedeutet, dass es die Bereitschaft aller in Europa zur Aufnahme von Flüchtlingen
gibt, und dass man die Staaten beim Aufbau von Asylsystemen unterschiedlich stark unterstützen muss. Dem liegt
natürlich die Erkenntnis zugrunde, dass Dublin gescheitert ist und Griechenland mit der Verantwortung nicht
länger alleingelassen werden kann.
({0})
Wir haben Sie auf diesem Weg immer unterstützt,
wissend, dass nationale Alleingänge Europa schaden
und den Schengen-Raum gefährden, und weil so etwas
am Ende dazu führt, dass wir in Europa, wenn wir nicht
gemeinsam aufnehmen, weniger Flüchtlinge aufnehmen
werden, als wir es bisher tun. Mit dem EU-Türkei-Gipfel
allerdings konterkarieren Sie, Frau Bundeskanzlerin, diese Bestrebungen. Sie konterkarieren den Plan, Flüchtlinge gemeinsam umzuverteilen. Davon liest man in diesen
Vereinbarungen nämlich gar nichts mehr, und das finden
wir nicht richtig.
({1})
Ich möchte an dieser Stelle nicht falsch verstanden
werden. Die Türkei ist Teil der Lösung. Sie kann auch
gar nicht nicht Teil der Lösung sein. Sie war von Anfang
an Teil der Lösung und Teil der Auseinandersetzung,
weil sie mit Beginn des Syrienkrieges Hauptaufnahmeland von Flüchtlingen war. Jeder, der sagt, dass die Türkei nicht Teil der Lösung ist, arbeitet an den Realitäten
vorbei.
Aber, Herr Oppermann, es geht nicht um „überheblich“ oder „herablassend“, wenn wir es falsch finden, die
Türkei zum europäischen Türsteher zu machen, wohl
wissend, dass Erdogan diese Bedingungslosigkeit, mit
der wir auf ihn zugehen, nutzt, um uns zum Schweigen
zu bringen, wenn es um seine menschenverachtenden innen- und außenpolitischen Aktionen geht. Und genau das
passiert jetzt gerade.
({2})
Wenn Sie, Frau Bundeskanzlerin, wollen, dass die
Türkei Flüchtlinge versorgt und ihnen internationalen
Schutz gibt, dann verstehe ich nicht, warum alle europäischen Regierungen nahezu schweigen, wenn es um die
Zeitung Zaman, um die Einschränkung der Pressefreiheit
und um das Verhindern von Demonstrationsrechten geht.
Ich verstehe auch nicht, warum die Genfer Flüchtlingskonvention nicht Bestandteil der Verhandlungen war und
es keinen bedingungslosen Anspruch an die Türkei zur
Aufnahme von Flüchtlingen gab. Warum haben Sie darüber nicht gesprochen?
({3})
Die Genfer Flüchtlingskonvention ist von der Türkei
nicht vollumfänglich ratifiziert worden. Wenn wir von
der Aufnahme von Flüchtlingen sprechen, dann reden
wir auch über Integration. Sie ist in der Türkei nicht
möglich, solange die Genfer Flüchtlingskonvention nicht
vollumfänglich umgesetzt wird.
Einige Worte noch zu dem, was hier das Ziel von uns
allen ist, nämlich zur Bekämpfung des Schlepperwesens:
Es ist Fakt, dass man ohne Schlepper nicht nach Europa kommen kann, weil es keinen Familiennachzug mehr
gibt, weil wir keine Kontingente haben, weil das Resettlement-Programm lächerlich klein ist und weil wir in
diesem ganzen Szenarium auch keine Lösung für Iraker
und Afghanen haben.
({4})
Wer glaubt, dass mit Ihrem Vorgehen die Schlepperei
bekämpft wird, der irrt sich, und der wird das auch erkennen.
Wir glauben, das Festhalten an der Umverteilung, an
einer gemeinsamen europäischen Lösung und die Stärkung der europäischen Institutionen sind der einzige
Weg, um hier wieder zusammenzukommen.
Herzlichen Dank.
({5})
Vielen Dank, Luise Amtsberg. - Ich darf jetzt vor allem die CDU/CSU-Kollegen und -Kolleginnen, die sich
so angeregt unterhalten, noch einmal bitten, Ihrem Kollegen zuzuhören, weil der nächste Redner Matern von
Marschall ist, und es lohnt sich, ihm zuzuhören. Also
nehmen Sie bitte Platz.
Der letzte Redner in der Debatte: Matern von
Marschall. Bitte schön.
({0})
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Frau Präsidentin, ich danke Ihnen für diese
Vorschusslorbeeren,
({0})
und ich will meinen Dank auch gerne gleich mit einem
Kompliment an die Kolleginnen und Kollegen der Grünenfraktion verbinden. Dass Sie die Politik der Bundeskanzlerin heute so ausdrücklich unterstützen, ist natürlich erfreulich. Ich würde mir aber auch wünschen, dass
sich das auch in Ihrem Zustimmungsverhalten im Bundestag niederschlägt. Ich darf an das Asylpaket II erinnern. Damals haben Sie vollständig dagegen gestimmt.
Diese Diskrepanz werden wir hoffentlich vielleicht noch
ausgeräumt sehen.
Herr Bartsch, nachdem ich Ihren Entschließungsantrag gelesen hatte und Ihre Einlassungen heute zur
Kenntnis nehmen musste, habe ich erkannt, dass Sie mit
aller Vehemenz gegen eine europäische Lösung, gegen
eine Kooperation der Europäischen Union mit der Türkei
arbeiten.
({1})
Das allerdings, Herr Bartsch, wird in erster Linie dazu
beitragen, dass es verstärkt zu nationalen Lösungen
kommt. Und das wiederum - da können Sie ganz sicher
sein - wird noch mehr auch Ihrer Wähler in die Arme der
AfD treiben.
({2})
Jetzt möchte ich im Detail auf das Rückübernahmeabkommen zu sprechen kommen, das zwischen Griechenland und der Türkei - genau darum geht es nämlich - getroffen worden ist. In diesem Rückübernahme abkommen,
das übrigens schon länger besteht, geht es sehr wohl darum, dass jeder Einzelne eine Anhörung bekommt und
dass auch jedem Einzelnen die Möglichkeit der Inanspruchnahme eines Rechtsbeistandes eröffnet wird. Insofern geht es dabei nicht um eine pauschale unrechtmäßige Zurückweisung. Auch wird nicht etwa - was hier als
Kritik geäußert worden ist - möglicherweise verfolgten
türkischen Bürgern der Rechtsschutz verwehrt. Sie könnten dann natürlich in der Europäischen Union um ein
Asylverfahren nachsuchen.
Im Zentrum dessen, was jetzt vereinbart werden könnte, ist ein ganz enormes Potenzial. Dabei geht es darum,
dass fast niemand mehr als illegaler bzw. irregulärer
Migrant über den gefährlichen Seeweg kommen muss.
Das ist natürlich bemerkenswert, weil damit Verbrechern, die sich als Schleuser betätigen und Menschen in
Lebensgefahr bringen, die Geschäftsgrundlage entzogen
wird.
({3})
Das ist eben ein humanitärer Ansatz und kein - so
haben Sie es in Ihrem Entschließungsantrag formuliert Menschenhandel. Auch wird die Türkei nicht - so haben Sie es gleichfalls dort formuliert - in ein Gefängnis
verwandelt. Genau das Gegenteil ist der Fall. Mit dem
3-Milliarden-Euro-Paket, das bis 2018 aufgestockt werden soll, wird - unter Einsatz des BMZ und gerade auch
unter Einsatz der GIZ - in der Provinz Gaziantep ein
wichtiger, ganz zentraler Schwerpunkt insofern gesetzt,
als die syrischen Flüchtlinge in den infragekommenden
türkischen Gemeinden angenommen werden, dass die
Kinder der Flüchtlinge in den Schulen dieser Gemeinden
Plätze finden, um zu lernen, auch um die türkische Sprache zu erlernen. Weiterhin soll den Flüchtlingsfamilien
die Möglichkeit geboten werden, in diesem Nachbarland
Syriens Fuß zu fassen. Sie können nach dem Ende des
Bürgerkrieges hoffentlich auch in ihre Heimat zurückkehren.
Selbstverständlich ist dieses Konzept in eine Kette
weiterer Maßnahmen eingebettet. Dabei geht es auch
um das Anliegen, dass die Türkei gegenüber Drittstaaten Visaverpflichtungen geltend macht. Dabei geht es
nicht mehr etwa nur um den Irak und den Iran, bei denen das schon geschehen ist, sondern eben auch um die
Maghreb-Staaten, damit die Menschen aus diesen Ländern die Türkei nicht als Transitland benutzen, um auf
diesem Wege zu uns zu kommen. Es handelt sich also um
ein umfangreiches Konzept, das im Zentrum auch humanitäre und entwicklungspolitische Maßnahmen beinhaltet, die den 500 000 schulpflichtigen Kindern syrischer
Flüchtlinge in der Türkei zugutekommen.
Ich will zum Abschluss noch einmal die Fragen stellen: Trauen wir uns eigentlich nach lediglich sechs Monaten Arbeit - von September letzten Jahres bis jetzt - bereits jetzt nicht mehr zu, diese Krise europäisch zu lösen?
Wollen wir - angesichts vereinzelt unruhig werdender
Regionen in Deutschland, wenn wir auf die Wahlergebnisse vom letzten Sonntag schauen - 70 Jahre Frieden in
Europa riskieren?
Meine Damen und Herren, jetzt gilt es doch, Rückgrat
zu zeigen. Jetzt gilt es doch für alle von uns, das, was Europa starkgemacht hat, aufrechtzuerhalten, nämlich unsere Friedensgemeinschaft in Europa und Deutschland als
ein wesentliches und starkes Land im Herzen Europas zu
stützen. Ferner sollten wir auch unsere Bundeskanzlerin
bei ihren Verhandlungen stützen.
({4})
Meine Damen und Herren, es ist jetzt - angesichts
schlechter bzw. guter Wahlergebnisse für diejenigen, die
wir nicht im Parlament haben wollen - nicht die Zeit, das
Rückgrat zu verlieren und vielleicht - nur um kurzfristig
ein Mandat zu retten - diese Grundprinzipien der Europäischen Union wegzugeben für ein Linsengericht.
Danke schön.
({5})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Ich schließe damit die
Debatte.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Entschlie-
ßungsanträge und beginnen mit dem Entschließungsan-
trag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/7884, zu
dem namentliche Abstimmung verlangt wurde.
Ich bitte nun die Schriftführer und Schriftführerinnen,
die vorgesehenen Plätze einzunehmen und mir zu signa-
lisieren, wann die Urnen besetzt sind. - Sind die Urnen
besetzt? - Gut, die Plätze an den Urnen sind besetzt.
Dann eröffne ich die Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag auf Drucksache 18/7884.
Gibt es ein Mitglied dieses Hauses, das seine Stimme
noch nicht abgegeben hat? - Alle scheinen ihre Stimme
abgegeben zu haben. Dann schließe ich die Abstimmung
und bitte die Schriftführer und Schriftführerinnen, mit
der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis wird Ihnen
später bekannt gegeben1).
Ich darf die Kolleginnen und Kollegen, die noch im
Saal sind, bitten, Platz zu nehmen, weil wir noch weitere
Abstimmungen vor uns haben.
Wir kommen nun zum Entschließungsantrag der Frak-
tion Die Linke auf Drucksache 18/7883. Wer stimmt für
diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? -
Wer enthält sich? - Der Entschließungsantrag ist abge-
lehnt. Zugestimmt hat die Linke, dagegengestimmt ha-
ben CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen.
Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 18/7885. Wer stimmt für diesen Entschlie-
ßungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Entschließungsantrag ist abgelehnt. Zuge-
stimmt hat die Linke, dagegengestimmt haben CDU/
CSU und SPD, enthalten hat sich Bündnis 90/Die Grü-
nen.
Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 18/7886. Wer stimmt für die-
sen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthält sich je-
mand? - Nein. Der Entschließungsantrag ist abgelehnt.
Zugestimmt haben Bündnis 90/Die Grünen und die Lin-
ke. Dagegengestimmt haben CDU/CSU und SPD.
Dann rufe ich jetzt den Tagesordnungspunkt 2 auf:
Befragung der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat als Thema der heutigen Ka-
binettssitzung mitgeteilt: Entwurf eines Gesetzes zur
verbesserten Durchsetzung des Anspruchs der Urhe-
ber und ausübenden Künstler auf angemessene Ver-
gütung.
Das Wort für den einleitenden fünfminütigen Bericht
hat der Bundesminister der Justiz und für Verbraucher-
schutz, Herr Heiko Maas. - Herr Heiko Maas, Sie haben
das Wort.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Das Kabinett hat heute den Entwurf
einer Reform des Urhebervertragsgesetzes beschlossen.
Die letzte Reform des Urhebervertragsgesetzes datiert
aus dem Jahr 2002. Damals ist im Wesentlichen die Re-
gelung aufgenommen worden, dass Urhebern eine ange-
messene Vergütung zusteht, die in der Regel in gemein-
samen Vergütungsregeln zwischen den Verwertern und
den Urheberverbänden vereinbart werden soll.
In der Zeit bis heute sind viele Defizite dieses Verfah-
rens offengelegt worden. In der Realität ist es so, dass zu-
mindest in einigen Urheberbranchen nicht angemessene
Vergütungen gezahlt werden und die Urheber - seien es
freie Journalisten, Drehbuchautoren oder andere - auch
1) Ergebnis Seite 15768 D
keinerlei praktische Möglichkeit haben, ihre Rechte
durchzusetzen, weil sie sonst von ihren Auftraggebern
sehr schnell damit konfrontiert werden, dass sie in Zukunft keine weiteren Aufträge mehr erhalten. Das hat in
der Branche auch einen Fachbegriff bekommen: Das ist
das sogenannte Blacklisting.
Darüber hinaus ist durch die Digitalisierung und die
Vervielfältigung der Verwertungsmöglichkeiten eine Situation entstanden, in der viele Urheber gar nicht mehr
nachvollziehen können, wo und wie oft ihre Werke genutzt und verwertet werden. Deshalb ist es notwendig
geworden, in einer umfassenden Reform das Urhebervertragsgesetz weiterzuentwickeln, und das haben wir heute
im Kabinett beschlossen.
Ich will nur wenige - die wichtigsten - Punkte aus
der Reform vortragen. Zum einen haben wir im Gesetzentwurf erstmals einen gesetzlichen Auskunftsanspruch
geregelt, damit die Urheber von den Verwertern in Erfahrung bringen können, wie oft Werke genutzt worden
sind und wie viel Geld damit verdient worden ist. Dies
ermöglicht den Urhebern, möglicherweise Nachforderungen zu stellen, wenn die Nutzung im Vergleich zu der
im ursprünglich abgeschlossenen Vertrag genannten in
einem Missverhältnis steht. Das ist für die Urheberseite
außerordentlich wichtig zur Rechtsdurchsetzung.
Wir haben dabei aber auch darauf Rücksicht genommen, dass keine überbordende Bürokratie entstehen soll,
indem wir diesen Auskunftsanspruch zumutbar eingeschränkt haben: Dort, wo untergeordnete Beträge betroffen sind, soll er in dem Umfang ausnahmsweise nicht
gelten, wenn dies zu einem unzumutbaren Aufwand bei
den Verwertern führen würde.
Im Gesetzentwurf ist auch der Grundsatz geregelt,
den wir so beschreiben, dass mehrfache Nutzung auch zu
mehrfacher Vergütung führen soll. Wir haben heute etwa
in der Filmbranche die Situation, dass sogenannte Total-Buy-out-Verträge abgeschlossen werden. Das heißt,
es wird einmal vergütet, unabhängig davon, wie oft ein
Film gezeigt wird. Wir wollen das Ausnahme-Regel-Verhältnis umkehren und sehen im Gesetzentwurf ausdrücklich vor, dass die Häufigkeit der Verwertung auch bei der
angemessenen Vergütung eine Rolle spielen soll, sodass
in Zukunft Total-Buy-out-Verträge zurückgedrängt werden und Verträge, die zum Beispiel Wiederholungshonorare einbeziehen, in Zukunft wieder häufiger genutzt
werden können.
Wir haben eine Regel eingeführt, die einen ganz neuen
Anspruch definiert. Wir haben Urhebern ein Recht eingeräumt, nach der zehnjährigen Nutzung ihres Werkes
durch den Erstverwerter ein Zweitverwertungsrecht geltend zu machen. Das heißt, bei Beibehaltung der Rechte
des Erstverwerters wird sich der Urheber, wenn er dies
will, nach zehn Jahren einen Zweitverwerter suchen können, der das Werk weiter verlegt, ausstrahlt oder in welcher Form auch immer verwertet. Das wird in der Praxis
aber häufig dazu führen, dass sich die Urheber dieses
Recht von ihren Erstverwertern abkaufen lassen werden.
Auch das wird die Rechtsstellung der Urheber deutlich
verbessern.
Wir haben des Weiteren die Regeln zur Aufstellung
der gemeinsamen Vergütungsregeln gestrafft, und zwar
sowohl im Verfahren als auch organisatorisch. Wir wollen damit erreichen, dass es schneller als bisher zu kollektiven Absprachen kommt; dies halten wir für sinnvoll.
In der Vergangenheit haben vielfach jahrelange Vertragsverhandlungen stattgefunden, ohne dass man zu befriedigenden Ergebnissen gekommen ist.
Letztlich haben wir ein Verbandsklagerecht im Gesetzentwurf vorgesehen. Das heißt, dass Urheber, die
keine angemessene Vergütung erhalten, diese, vertreten
durch den entsprechenden Verband, im Rahmen einer
Verbandsklage geltend machen können. Wir halten das
für sinnvoll, weil sich in der Praxis diejenigen, die in
unterschiedlichen Branchen keine angemessene Vergütung bekommen haben, nicht getraut haben, ihre Rechte durchzusetzen, weil sie davon ausgehen mussten,
anschließend von Vertragsvergaben ausgeschlossen zu
werden. Durch die Verbandsklage, also die Möglichkeit,
dass die Verbände der Urheber einen entsprechenden
Anspruch durchsetzen, verändert sich diese Situation.
Dabei gehe ich fest davon aus, dass das nicht unbedingt
zu vielen Klageverfahren führen wird. Vielmehr wird die
präventive Wirkung der Verbandsklage wesentlich dazu
beitragen, dass häufiger die angemessene Vergütung gezahlt wird, die vereinbart wurde.
Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Herr Maas. - Bevor wir zur Fragerunde kommen - es haben sich schon einige gemeldet, die
Fragen stellen wollen; ich bitte, zuerst Fragen zu dem
Themenbereich zu stellen, den Minister Maas vorgestellt
hat -, möchte ich Ihnen das von den Schriftführerinnen
und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Entschließungsantrag zur
Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin - das ist die Drucksache 18/7884 - bekannt
geben: abgegebene Stimmen 557. Mit Ja haben gestimmt
53, mit Nein haben gestimmt 446, Enthaltungen 58. Der
Entschließungsantrag der Linken ist damit abgelehnt.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 557;
davon
ja: 53
nein: 446
enthalten: 58
Ja
DIE LINKE
Jan van Aken
Herbert Behrens
Karin Binder
Matthias W. Birkwald
Heidrun Bluhm
Christine Buchholz
Eva Bulling-Schröter
Roland Claus
Dr. Diether Dehm
Klaus Ernst
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Annette Groth
Dr. Gregor Gysi
Dr. André Hahn
Dr. Rosemarie Hein
Inge Höger
Andrej Hunko
Ulla Jelpke
Susanna Karawanskij
Kerstin Kassner
Jutta Krellmann
Katrin Kunert
Caren Lay
Sabine Leidig
Michael Leutert
Stefan Liebich
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Birgit Menz
Norbert Müller ({0})
Dr. Alexander S. Neu
Petra Pau
Harald Petzold ({1})
Richard Pitterle
Martina Renner
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Azize Tank
Frank Tempel
Alexander Ulrich
Kathrin Vogler
Dr. Sahra Wagenknecht
Harald Weinberg
Katrin Werner
Birgit Wöllert
Jörn Wunderlich
Nein
CDU/CSU
Stephan Albani
Artur Auernhammer
Günter Baumann
Maik Beermann
Manfred Behrens ({2})
Veronika Bellmann
Sybille Benning
Dr. André Berghegger
Dr. Christoph Bergner
Ute Bertram
Peter Beyer
Clemens Binninger
Peter Bleser
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Alexandra Dinges-Dierig
Alexander Dobrindt
Michael Donth
Thomas Dörflinger
Hansjörg Durz
Iris Eberl
Jutta Eckenbach
Hermann Färber
Uwe Feiler
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Dirk Fischer ({3})
Axel E. Fischer ({4})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Thorsten Frei
Dr. Astrid Freudenstein
Dr. Hans-Peter Friedrich
({5})
Michael Frieser
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Cemile Giousouf
Josef Göppel
Ursula Groden-Kranich
Hermann Gröhe
Klaus-Dieter Gröhler
Michael Grosse-Brömer
Astrid Grotelüschen
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Fritz Güntzler
Olav Gutting
Christian Haase
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Matthias Hauer
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Frank Heinrich ({6})
Mark Helfrich
Uda Heller
Jörg Hellmuth
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Ansgar Heveling
Peter Hintze
Dr. Heribert Hirte
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Alexander Hoffmann
Thorsten Hoffmann ({7})
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Dr. Hendrik Hoppenstedt
Margaret Horb
Bettina Hornhues
Charles M. Huber
Anette Hübinger
Erich Irlstorfer
Thomas Jarzombek
Sylvia Jörrißen
Xaver Jung
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Steffen Kanitz
Alois Karl
Anja Karliczek
Bernhard Kaster
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Dr. Georg Kippels
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Markus Koob
Carsten Körber
Hartmut Koschyk
Kordula Kovac
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Roy Kühne
Uwe Lagosky
Dr. Karl A. Lamers
Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Barbara Lanzinger
Dr. Silke Launert
Paul Lehrieder
Dr. Katja Leikert
Dr. Philipp Lengsfeld
Dr. Andreas Lenz
Dr. Ursula von der Leyen
Antje Lezius
Matthias Lietz
Andrea Lindholz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Wilfried Lorenz
Dr. Claudia Lücking-Michel
Dr. Jan-Marco Luczak
Daniela Ludwig
Karin Maag
Yvonne Magwas
Thomas Mahlberg
Dr. Thomas de Maizière
Gisela Manderla
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({8})
Reiner Meier
Dr. Michael Meister
Jan Metzler
Maria Michalk
Dr. h.c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Dietrich Monstadt
Karsten Möring
Volker Mosblech
Elisabeth Motschmann
Dr. Gerd Müller
Carsten Müller ({9})
Dr. Philipp Murmann
Dr. Andreas Nick
Michaela Noll
Helmut Nowak
Dr. Georg Nüßlein
Julia Obermeier
Wilfried Oellers
Florian Oßner
Dr. Tim Ostermann
Henning Otte
Ingrid Pahlmann
Sylvia Pantel
Martin Patzelt
Dr. Martin Pätzold
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Kerstin Radomski
Alexander Radwan
Alois Rainer
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Erwin Rüddel
Anita Schäfer ({10})
Dr. Wolfgang Schäuble
Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Jana Schimke
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Heiko Schmelzle
Christian Schmidt ({11})
Gabriele Schmidt ({12})
Ronja Schmitt
Patrick Schnieder
Dr. Ole Schröder
Dr. Kristina Schröder ({13})
Bernhard Schulte-Drüggelte
Dr. Klaus-Peter Schulze
Uwe Schummer
Armin Schuster ({14})
Christina Schwarzer
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Tino Sorge
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Dr. Wolfgang Stefinger
Albert Stegemann
Peter Stein
Erika Steinbach
Sebastian Steineke
Johannes Steiniger
Dieter Stier
Rita Stockhofe
Gero Storjohann
Max Straubinger
Matthäus Strebl
Karin Strenz
Thomas Stritzl
Dr. Sabine Sütterlin-Waack
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Astrid Timmermann-Fechter
Dr. Hans-Peter Uhl
Dr. Volker Ullrich
Arnold Vaatz
Oswin Veith
Thomas Viesehon
Michael Vietz
Volkmar Vogel ({15})
Sven Volmering
Christel Voßbeck-Kayser
Kees de Vries
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Nina Warken
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({16})
Dr. Anja Weisgerber
Peter Weiß ({17})
Sabine Weiss ({18})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Waldemar Westermayer
Kai Whittaker
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Heinz Wiese ({19})
Elisabeth WinkelmeierBecker
Tobias Zech
Heinrich Zertik
Emmi Zeulner
Dr. Matthias Zimmer
SPD
Niels Annen
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heike Baehrens
Ulrike Bahr
Heinz-Joachim Barchmann
Dr. Katarina Barley
Doris Barnett
Klaus Barthel
Dr. Matthias Bartke
Sören Bartol
Bärbel Bas
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding ({20})
Burkhard Blienert
Willi Brase
Dr. Karl-Heinz Brunner
Edelgard Bulmahn
Martin Burkert
Dr. Lars Castellucci
Petra Crone
Dr. Daniela De Ridder
Dr. Karamba Diaby
Sabine Dittmar
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Siegmund Ehrmann
Michaela Engelmeier
Petra Ernstberger
Saskia Esken
Karin Evers-Meyer
Dr. Fritz Felgentreu
Dr. Ute Finckh-Krämer
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Ulrich Freese
Dagmar Freitag
Michael Gerdes
Martin Gerster
Angelika Glöckner
Ulrike Gottschalck
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Michael Groß
Uli Grötsch
Bettina Hagedorn
Rita Hagl-Kehl
Ulrich Hampel
Sebastian Hartmann
Michael Hartmann ({21})
Dirk Heidenblut
Hubertus Heil ({22})
Gabriela Heinrich
Wolfgang Hellmich
Heidtrud Henn
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz ({23})
Thomas Hitschler
Matthias Ilgen
Christina Jantz-Herrmann
Frank Junge
Josip Juratovic
Thomas Jurk
Johannes Kahrs
Ralf Kapschack
Gabriele Katzmarek
Marina Kermer
Cansel Kiziltepe
Arno Klare
Dr. Bärbel Kofler
Birgit Kömpel
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Helga Kühn-Mengel
Christine Lambrecht
Christian Lange ({24})
Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Hiltrud Lotze
Kirsten Lühmann
Dr. Birgit Malecha-Nissen
Hilde Mattheis
Dr. Matthias Miersch
Klaus Mindrup
Susanne Mittag
Bettina Müller
Detlef Müller ({25})
Michelle Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Dietmar Nietan
Ulli Nissen
Mahmut Özdemir ({26})
Markus Paschke
Christian Petry
Jeannine Pflugradt
Detlev Pilger
Sabine Poschmann
Joachim Poß
Florian Post
Achim Post ({27})
Dr. Wilhelm Priesmeier
Dr. Sascha Raabe
Dr. Simone Raatz
Martin Rabanus
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Andreas Rimkus
Sönke Rix
Petra Rode-Bosse
Dennis Rohde
Dr. Martin Rosemann
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth ({28})
Susann Rüthrich
Bernd Rützel
Johann Saathoff
Annette Sawade
Dr. Hans-Joachim
Schabedoth
Axel Schäfer ({29})
Dr. Nina Scheer
Marianne Schieder
Udo Schiefner
Dr. Dorothee Schlegel
Ulla Schmidt ({30})
Matthias Schmidt ({31})
Dagmar Schmidt ({32})
Elfi Scho-Antwerpes
Ursula Schulte
Swen Schulz ({33})
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Andreas Schwarz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Rainer Spiering
Svenja Stadler
Martina Stamm-Fibich
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Claudia Tausend
Michael Thews
Franz Thönnes
Carsten Träger
Ute Vogt
Dirk Vöpel
Gabi Weber
Bernd Westphal
Waltraud Wolff ({34})
Gülistan Yüksel
Dagmar Ziegler
Stefan Zierke
Dr. Jens Zimmermann
Manfred Zöllmer
Enthalten
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Annalena Baerbock
Marieluise Beck ({35})
Agnieszka Brugger
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Katharina Dröge
Harald Ebner
Dr. Thomas Gambke
Matthias Gastel
Kai Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Anja Hajduk
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Dieter Janecek
Uwe Kekeritz
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Stephan Kühn ({36})
Christian Kühn ({37})
Markus Kurth
Monika Lazar
Steffi Lemke
Dr. Tobias Lindner
Nicole Maisch
Peter Meiwald
Beate Müller-Gemmeke
Özcan Mutlu
Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth ({38})
Corinna Rüffer
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Ulle Schauws
Dr. Gerhard Schick
Dr. Frithjof Schmidt
Kordula Schulz-Asche
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
Dr. Julia Verlinden
Beate Walter-Rosenheimer
Dr. Valerie Wilms
Dann kommen wir jetzt zu den Fragen. Eine Minute
Frage, eine Minute Antwort - Sie wissen, wie es geht.
Wir fangen an mit Renate Künast.
Danke. - Herr Minister, wir alle haben über das Urhebervertragsrecht als Bestandteil einer großen Urheberrechtsreform diskutiert. Dieser Bestandteil sollte dazu
dienen, den ursprünglichen Urhebern und nicht den Verwertern mehr Rechte zu geben und sie zu stärken. Deshalb frage ich Sie bezüglich zweier Punkte.
Meine erste Frage betrifft das pauschale Rückrufsrecht, dessen Geltungsdauer Sie von fünf auf zehn Jahre
verlängert haben. Wie begründen Sie diese Verlängerung? Dahinter stehen sicherlich detaillierte Überlegungen. Ich möchte gerne wissen, wo das eigentlich wem
etwas bringt, zumal die Verwertungszyklen viel kürzer
sind.
Zweitens. Ich halte ein verbindliches Schiedsverfahren für feste, verpflichtende und gemeinsame Vergütungsregelungen für ein starkes Werkzeug und eine gute
Ergänzung des Verbandsklagerechts. Ich frage mich, warum Ihr Entwurf ein solches Verfahren nicht vorsieht. Ein
solches Verfahren macht den einzelnen Urheber zum Teil
einer Gruppe und stärkt ihn damit.
Herr Maas.
Die Tatsache, dass wir die Schiedssprüche nicht für
verbindlich erklärt haben, hat etwas damit zu tun, dass
wir uns für das Instrument der Verbandsklage zur Durchsetzung von Ansprüchen auf eine angemessene Vergütung ausgesprochen haben. Man kann durchaus auch zu
anderen Ergebnissen kommen. Wir haben uns nach der
Anhörung mit den Betroffenen, und zwar von beiden
Seiten, zum Schluss politisch für das Instrument der Verbandsklage entschieden.
Zu Ihrer ersten Frage nach dem fünfjährigen Rückrufsrecht. Der Entwurf, den das Kabinett nun beschlossen hat, beinhaltet ein Zweitverwertungsrecht nach zehn
Jahren. Es handelt sich also nicht mehr um ein Rückrufsrecht. Wir haben das nach vielen Gesprächen mit unterschiedlichen Gruppen, für die das Urhebervertragsgesetz
gilt, verändert, weil uns von der Verlagsseite deutlich
gemacht wurde, und zwar insbesondere von kleinen und
mittleren Verlagen, dass sie viel in Autoren investieren,
deren Werke erst einmal keine hohen Auflagen erzielen.
Wenn diese Erfolg und nach fünf Jahren ein Rückrufsrecht hätten, dann sei zu befürchten, dass von auf den
Markt drängenden Global Playern wie Amazon usw.
diese Autoren weggekauft würden und dies das Ende für
kleine und mittlere Verlage sei. Das habe ich für nachvollziehbar gehalten. Deshalb haben wir diese Bestimmung so verändert.
Danke schön. - Nächste Fragestellerin: Halina
Wawzyniak.
Die Änderungen, die in diesem Gesetzentwurf enthalten sind, sind, vorsichtig formuliert, wenig urheberfreundlich. Ich würde gerne wissen, auf wessen Vorschläge die Änderungen bei der angemessenen Vergütung,
beim Anspruch auf Auskunft und Rechenschaft, im Hinblick auf das vormalige Rückrufrecht und die Streichung
des Vorkaufsrechts und der Streichungsvorschlag bei der
Vergütung des ausübenden Künstlers für später bekannte
Nutzungsarten zurückzuführen sind. Von wem konkret
kamen die Vorschläge zur Änderung an diesen Stellen?
Von wem in der Anhörung - ich nehme an, dass Sie
das meinen - diese Vorschläge kamen, kann ich Ihnen
jetzt im Einzelnen nicht sagen. Das kann man aber, wenn
man sich mit der Anhörung und dem, was die Verbände
dazu geschrieben haben, noch einmal beschäftigt, sicherlich im Einzelnen nachvollziehen. Am Schluss haben wir
im Ministerium das entschieden.
Wir haben es, wie im Urhebervertragsrecht und im
gesamten Urheberrecht üblich, mit diametral entgegengesetzten Interessen zu tun. Deshalb haben wir an
bestimmten Stellen Veränderungen herbeigeführt. Am
substanziellsten ist sicherlich die Veränderung vom fünfjährigen Rückrufrecht in ein zehnjähriges Zweitverwertungsrecht, was allerdings die Begründung hatte, die ich
Frau Künast gerade genannt habe. Auch an anderen Stellen - etwa beim Auskunftsrecht, bei dem wir Ausnahmen
für untergeordnete Beiträge eingeführt haben, oder bei
einem unzumutbaren Aufwand für die Verwerter - sind
aufgrund dessen, was uns geschildert wurde, sowohl von
der Urheberseite als auch von der Verwerterseite, diese
Änderungen in den Gesetzentwurf aufgenommen worden.
An allen Stellen handelt es sich um einen Interessenausgleich, der möglicherweise der einen Seite schon zu
weit geht, der anderen Seite aber nicht weit genug. Zu
glauben, dass man bei Rechtsmaterien im Urheberrecht
zu Ergebnissen kommt, die beide Seiten zufriedenstellen,
halte ich allerdings für leicht illusionär.
Vielen Dank. - Nächster Fragesteller: Dirk Wiese.
Sehr geehrter Herr Minister, auch ich habe eine Frage. Ich habe mir das angeschaut und festgestellt, dass es
wirklich lange gedauert hat, bis sich die Bundesregierung
nach dem sogenannten Stärkungsgesetz - ich glaube, das
war im Jahr 2002 - wieder mit dem Urhebervertragsrecht
beschäftigt hat. Vielleicht könnten Sie den Grund anführen, weshalb die Reform jetzt neu angestoßen worden ist.
Ich habe noch eine zweite Frage. Wenn ich es richtig
mitbekommen habe, gab und gibt es gerade in der Öffentlichkeit eine heftige Diskussion über die Reform des
Urhebervertragsrechts. Man kann den Eindruck gewinnen, dass sich die Verwerter teilweise übergangen fühlen;
so scheint es manchmal. Vielleicht können Sie darstellen,
wie deren Interessen berücksichtigt worden sind.
Wir haben bei diesem Gesetzentwurf die üblichen
Anhörungen durchgeführt. Wir haben nach den schriftlichen Anhörungen auch mit den wesentlichen Gruppen,
insbesondere auf der Verwerterseite, gesprochen. Wir haben im Vorfeld der Anhörung Verwerter und Urheber in
kleineren Runden zusammengebracht, weil wir aus der
Historie wussten, wie schwierig es ist, eine Reform des
Urheberrechts auf den Weg zu bringen. Das hat sich auch
daran gezeigt - Sie haben darauf hingewiesen -, dass die
Vorgängerregierung dieses Gesetz nach 2002, obwohl
die Missstände offengelegen haben, nicht mehr angepackt hat, eben weil das eine politisch sehr umstrittene
Materie ist. Ich bin froh, dass wir das jetzt aufgegriffen
und einen Gesetzentwurf vorgelegt haben, der sicherlich
im parlamentarischen Verfahren noch zu intensiven Diskussionen führen wird.
Wir haben im Übrigen nicht nur an der Stelle etwas
getan, sondern auch zu dem Recht der Verwertungsgesellschaften einen eigenen Gesetzentwurf im Rahmen der
Umsetzung der jeweiligen EU-Richtlinie eingebracht,
und wir wollen im Laufe dieses Jahres noch einen Gesetzentwurf einbringen, der die Bildungs- und Wissenschaftsschranke neu regelt, sodass wir das Ziel, das wir
haben, nämlich umfassende urheberrechtliche Reformen
innerhalb dieser Legislaturperiode nicht nur anzustoßen,
sondern auch abzuschließen, erreichen können.
Vielen Dank. - Johannes Fechner.
Herr Minister, laut dem Gesetzentwurf soll das
Schlichtungsverfahren zur Aufstellung der gemeinsamen
Vergütungsregeln effektiver gestaltet werden. Könnten
Sie erläutern, welche Auswirkungen Sie in der Praxis erwarten und wie das konkret erfolgen soll?
Wir haben aufgrund der Praxis in der Vergangenheit
festgestellt, dass das Schlichtungsverfahren an vielen
Stellen zu lange dauert, weil Gutachten erstellt werden
müssen. Es ist sehr exakt vorgegeben, wie diese Verfahren ablaufen, wer an welcher Stelle beteiligt ist. Wir
haben die bisherigen Fristen angepasst und auch die
Voraussetzungen dafür geschaffen, dass die Verfahren
beschleunigt durchgeführt werden können. Wir stellen
nicht mehr so viele unbedingte Voraussetzungen dafür
auf, was alles - Informationen, Gutachten usw. - im Verfahren erbracht werden muss. Wir haben die Zuständigkeiten etwas klarer geregelt, als es im Gesetz bisher der
Fall ist. Wir gehen davon aus, dass das alles dazu beitragen wird, dass die entsprechenden Verfahren in Zukunft
schneller vonstattengehen werden, als wir es aus der Vergangenheit kennen.
Vielen Dank. - Die nächste Frage kommt von Sigrid
Hupach.
Herr Minister Maas, Sie haben eben schon mehrfach
angeführt, dass Sie neben den gemeinsamen Vergütungsregeln auch durch das Verbandsklagerecht die Rechte der
Urheberinnen und Urheber stärken wollen. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf machen Sie aber eigentlich das
Gegenteil, indem den Verwertern die Möglichkeit eingeräumt wird, sich dem Verbandsklagerecht dadurch zu
entziehen, dass sie aus den Verwerterverbänden austreten
können. Warum regeln Sie das nicht genau umgekehrt,
sodass das Verhandlungsergebnis für die gesamte Branche verbindlich gilt, also auch für die nicht organisierten
Verwerter? Warum regeln Sie das nicht so?
Weil das ein nicht unerheblicher Eingriff in die Vertragsfreiheit wäre und weil wir die Erfahrung gemacht
haben, dass die Verwerter und vor allen Dingen die Verwertungsgesellschaften in Deutschland bewährt sind; das
System funktioniert. Wir haben an dieser Stelle keine
weiteren strukturellen Änderungen vorgenommen, weil
wir nicht glauben, dass das System dadurch in irgendeiner Weise optimiert würde.
Die nächste Frage kommt vom Kollegen Hakverdi.
Herr Minister, welche konkreten Auswirkungen hat
das neue Recht auf die Beteiligten, also Urheber, ausübende Künstler und Verwerter, in der täglichen Praxis,
und müssen die Konsumenten, also etwa Zeitungsabonnenten, Käufer von Büchern oder Kunden von Streaming-Diensten, Nachteile befürchten?
Wie sich das auswirkt und ob Nachteile zu befürchten sind, dazu kann ich natürlich nur sehr bedingt etwas
sagen. Ich kann aber an keiner Stelle dieses Gesetzentwurfs erkennen, dass wir irgendetwas beschlossen haben,
was an die Verbraucherinnen und Verbraucher in Form
von höheren Kosten weitergegeben wird. Wir haben ja
keine Regelung getroffen, wie eine angemessene Vergütung aussieht, sondern nur die Rechtsdurchsetzung vereinfacht. Geklärt werden soll: Wie können Künstlerinnen
und Künstler ihr Recht auf angemessene Vergütung auch
durchsetzen? Dazu dienen die Einführung einer Verbandsklage und die Einführung eines Auskunftsrechts.
So können sie überhaupt einmal erfahren, was von dem
Werk genutzt wurde, bei dem man die Rechte an einen
Verwerter abgetreten hat, und wie viel Geld derjenige damit verdient hat. Insofern glaube ich, dass den Urhebern
nur das zukommen wird, was ihnen auch zusteht, und
dass lediglich verhindert wird, dass sie weniger als eine
angemessene Vergütung bekommen.
Daraus kann ich nicht ableiten, dass das in irgendeiner Form Folgen haben wird, etwa dass sich Preise für
Streaming-Dienste oder für sonstige kulturelle Werke
erhöhen. Deshalb gehe ich davon aus, dass sich für die
Verbraucherinnen und Verbraucher im Wesentlichen gar
nichts verändern wird.
Vielen Dank. - Jetzt fragt Sie Dr. Stefan Heck.
Herr Minister, Sie haben schon erwähnt, dass im Gesetzentwurf ein Auskunftsanspruch der Urheber vorgesehen ist. Schon bislang gab es einen nicht kodifizierten
Auskunftsanspruch; er ist aufgrund der Rechtsprechung
entstanden. Inwieweit geht dieser Gesetzentwurf über
das hinaus, was wir bisher schon an Auskunftsansprüchen haben?
Der Auskunftsanspruch, den wir im Gesetzentwurf
vorgesehen haben, orientiert sich an der bisherigen
Rechtsprechung. Wir fassen damit die Grundlagen der
Rechtsprechung zum Auskunftsanspruch zusammen, der
sich bisher entweder aus einer einzelvertraglichen Regelung ergeben hat oder aus Treu und Glauben, also aus
dem Zivilrecht, abgeleitet wurde.
Wir wollten dies kodifizieren, weil es in der digitalisierten Welt mit neuen Verbreitungs- und Nutzungsmöglichkeiten für Urheber sehr schwer ist, zu überblicken,
wo und wie häufig ihr Werk genutzt worden ist, um
festzustellen, ob möglicherweise Nachzahlungen eingefordert werden können. Deshalb ist dieser Auskunftsanspruch ein direkteres Recht für den Urheber, das sich in
der Rechtsprechung sicher weiter herausbilden wird und
nicht mehr über Drittquellen abgeleitet werden muss.
Auch das halten wir im Ergebnis für eine Stärkung der
Rechte von Urheberinnen und Urhebern.
Vielen Dank. - Christian Flisek ist dran.
Herr Bundesminister Maas, Sie haben in Ihrem Eingangsstatement angedeutet, dass sich das Urheberrecht
auf sehr viele Kreativbranchen bezieht, die ausdifferenziert sind, die oft sehr eigene Geschäftsmodelle fahren.
Der Entwurf bezieht sich jedoch auf alle Branchen gleichermaßen im Sinne eines allgemeinen Urheberrechts.
Meine Frage an Sie ist: Inwieweit glaubt die Bundesregierung, dass die Stärkung gemeinsamer Vergütungsregeln
dazu beitragen kann, dass wir verstärkt branchenspezifische Regelungen entwickeln, die bedarfsgerecht sind?
Das halten wir für absolut sinnvoll. Ein nicht unwesentlicher Teil dieses Gesetzentwurfs hat genau zum
Inhalt, den Abschluss gemeinsamer Vergütungsregeln
zu stärken, indem wir die Rechte, die wir den Urhebern
zusätzlich einräumen, in diesen gemeinsamen Vergütungsregeln für abdingbar erklären, die so etwas wie
Tarifverträge sind. Deshalb wird es in Zukunft für die
Verwerterseite noch interessanter werden, solche gemeinsamen Vergütungsregeln zu vereinbaren.
Das ist in der Vergangenheit nicht in allen Branchen
der Fall gewesen. Es besteht die Möglichkeit, mit den
Urheberverbänden diese Rechte auszuhandeln und
branchenspezifisch zu regeln. Schließlich ist das Urheberrecht so komplex, weil die gleichen Regelungen für
völlig unterschiedliche Sachverhalte passen müssen, also
für Buchverlage, für die Filmindustrie, die Musikindustrie usw. Das ist die eigentliche Problematik. Mit gemeinsamen Vergütungsregeln wird es ermöglicht, dieses
Problem branchenspezifisch zu lösen. Wir wollen deshalb mehr gemeinsame Vergütungsregeln und haben den
Druck, solche abzuschließen, mit diesem Gesetzentwurf
noch etwas erhöht.
Vielen Dank. - Renate Künast stellt die nächste Frage.
Bezüglich der vorherigen Antwort zur Verbindlichkeit der Schiedsverfahren und zu den gemeinsamen Vergütungsregeln muss ich ehrlich sagen, dass ich relativ
wenig Druck spüre. Ich spüre auch relativ wenig Druck
beim Thema Auskunftsanspruch; der Kollege Heck hat
bereits danach gefragt. Ich verstehe gar nicht, warum der
Anspruch ausgeschlossen werden soll, wenn der Urheber
einen „lediglich untergeordneten Beitrag zu einem Werk,
einem Produkt oder einer Dienstleistung erbracht hat“
oder aus anderen Gründen die Auskunft unverhältnismäßig ist. Ich verstehe diese unbestimmten Rechtsbegriffe
nicht. Sie öffnen damit meiner Meinung nach Tür und
Tor dafür, eine Nichtauskunft zu geben, und Tür und Tor
für Gerichtsverfahren.
Ich verstehe den Aspekt „untergeordneter Beitrag“
nicht, wenn man doch die kleinen Urheberrechteinhaber unterstützen will. Diese sind auf kleine Beträge und
kleine Nutzungen und das Wissen darüber angewiesen.
Deshalb frage ich, warum Sie statt dieser Rechtsbegriffe
nicht gesagt haben, dass es Auskunftsansprüche immer
dann gibt, wenn es sich um direkt verbundene Vertragspartner handelt.
Das ist ganz einfach so, weil uns in den Anhörungen
Fallgestaltungen dargelegt worden sind, bei denen der
unmittelbare Gewinn für den Urheber und der daraus
resultierende Aufwand für den Verwerter zur Feststellung der Verwertung und der Häufigkeit der Verwertung
in keinem vernünftigen Verhältnis zueinander gestanden haben. Es gibt eine Rechtsprechung, wann ein Auskunftsersuchen unverhältnismäßig ist.
({0})
Das haben wir in die Regelung aufgenommen, die wir
vorgeschlagen haben.
Es ist nun einmal so, dass wir mit dem Auskunftsanspruch einen konkreten Anspruch definieren, den es
zuvor im Gesetz so nicht gegeben hat, der aus anderen
Rechtsquellen abgeleitet werden musste. Dass es Fallkonstellationen gibt, in denen die Wahrnehmung eines
Auskunftsanspruchs nicht mehr verhältnismäßig ist,
steht, glaube ich, außer Frage. Darauf weisen wir hin. Im
Übrigen wäre dies in der Praxis, auch bei einer anderen
Formulierung, von Gerichten möglicherweise ebenfalls
so festgestellt worden.
Also: Wir nehmen die Rechtsprechung auf, die es dazu
gibt. Dass in Ausnahmefällen bei unzumutbarem Aufwand auch von der Erfüllung eines Auskunftsanspruchs
abgesehen werden kann, halte ich für relativ realistisch.
Halina Wawzyniak.
Ich würde gern noch einmal auf das ursprüngliche
Rückrufrecht zurückkommen; es geht um fünf Jahre oder
zehn Jahre. Sie haben versucht, zu erklären, warum Sie
den Zeitraum von fünf Jahren auf zehn Jahre ausgeweitet haben. Sie haben im neuen § 40 a des Urheberrechtsgesetzes im Zusammenhang mit dem ausschließlichen
Nutzungsrecht noch eine Einschränkung vorgenommen,
nämlich: „gegen eine pauschale Vergütung“. Da würde
mich interessieren: Wie kommt es zu dieser Einschränkung, die vorher nicht vorgesehen war, zumindest nicht
im Referentenentwurf?
Wenn wir schon beim neuen § 40 a sind, würde mich
noch interessieren, wie Sie auf die Idee gekommen sind,
dass ein zeitlich unbeschränktes Nutzungsrecht eingeräumt werden kann, wenn das Werk nicht veröffentlicht
werden soll. Also: Welche Fälle gibt es, in denen jemand
ein zeitlich unbeschränktes Nutzungsrecht einräumt,
wenn das Werk nicht veröffentlicht werden soll?
Was die erste Frage angeht: Wir haben die pauschalierten Verträge von der Zweitverwertungsregel ausgenommen, weil sie im Wesentlichen Fallgestaltungen im
Buchverlagswesen und in der Musikindustrie betreffen.
Dort werden in der Regel stückzahlabhängige Verträge
abgeschlossen. Das heißt, die Autoren werden nach Auflage oder die Musiker nach dem Platten- oder CD-Verkauf entlohnt. Wir haben aufgrund der Mechanismen und
der Mischkalkulation, die es in den Verlagen oder in Unternehmen der Musikbranche gibt, nicht die Auffassung
gewonnen, dass es hier die größten Missstände gibt. Das
hat sich im Übrigen auch daran gezeigt, dass es eine nicht
unerhebliche Anzahl von Autoren großer, kleiner und
mittlerer Verlage gegeben hat, die darauf hingewiesen
haben, dass durch ein fünfjähriges Rückrufrecht neben
den zusätzlichen Rechten, die den Urhebern eingeräumt
werden, auch Gefahren drohen und insbesondere kleine und mittlere Verlage dadurch Probleme bekommen
könnten. Wir haben uns deshalb entschlossen, von der
Regelung, so wie wir sie ursprünglich vorgesehen hatten,
abzusehen. Es bleibt immer noch ein Mehrwert, nämlich
das Zweitverwertungsrecht für Urheber nach zehn Jahren, das es im jetzigen Gesetz so nicht gibt.
Die Antwort auf die zweite Frage werde ich nachliefern, weil ich jetzt keine Zeit mehr habe.
Danke schön. - Dann noch Frau Hupach und Herr
Flisek.
Herr Minister Maas, ich komme noch einmal auf den
Anspruch auf Auskunft und Rechenschaft zurück, und
zwar auf die sogenannte Kannregelung, die Sie jetzt vorschlagen, und darauf, dass der Anspruch zusätzlich auf
den Fall der entgeltlichen Nutzung beschränkt wird. Sie
haben eben gesagt, dass manchmal die Verhältnismäßigkeit nicht gegeben ist. Wie würden Sie das definieren?
Könnten Sie einmal näher erläutern, nach welchen Kriterien die Verhältnismäßigkeit festgestellt werden soll und
warum es zu dieser Kannregelung kommt?
Es gibt ganz einfach Fälle, in denen Kosten und Nutzen außer Verhältnis stehen. Wenn jemand zu einem
Vertrag, bei dem es um 100 Euro geht, einen Auskunftsanspruch geltend macht, der einen Verlag oder einen
Sender über Monate beschäftigt, dann, glaube ich, ist
das unverhältnismäßig. Ehrlich gesagt glaube ich, dass in
einem solchen Fall zwischen den Vertragspartnern bzw.
ehemaligen Vertragspartnern auch eine gütliche Regelung möglich sein müsste, weil es sich um nicht so große
Beträge handelt. Wenn es also darum geht, Kleinstbeträge zu erstreiten, und dafür ein großflächiges Auskunftsersuchen geltend gemacht wird, sind wir der Auffassung,
dass es sinnvoller ist, das außerhalb eines Auskunftsersuchens einvernehmlich zu regeln. Auf jeden Fall glauben
wir, dass es eine Grenze gibt, die im Übrigen auch die
Rechtsprechung ableitet, nämlich dass die Geltendmachung des Auskunftsersuchens nicht unverhältnismäßig
sein darf. Ins Verhältnis gesetzt werden muss das, was
es möglicherweise an Nachzahlung gibt, und das, was
die Erfüllung des Auskunftsanspruchs beim Verwerter an
Kosten verursacht.
Vielen Dank, Herr Maas. - Als Letzter zu diesem Thema hat Christian Flisek die Fragemöglichkeit.
Herr Bundesminister Maas, Sie haben gesagt, im Gesetzentwurf sei eine Stärkung der gemeinsamen Vergütungsregeln vorgesehen. Auf der anderen Seite steht die
Durchsetzung dieser gemeinsamen Vergütungsregeln in
Form einer Verbandsklage. Auf Verwerterseite finden
sich ausreichend mächtige Organisationen wieder, die
für eine solche Verbandsklage durchaus auf der Passivseite stehen könnten. Wie ist die Einschätzung der
Bundesregierung: Sind die Kreativen, die Urheber auch
ausreichend organisiert, um von diesem Verbandsklageinstrument in der gewünschten Form Gebrauch machen
zu können?
Ich glaube, dass es bei den Kreativen grundsätzlich
keinen größeren Drang zur Organisation in Verbänden
gibt. Das hat etwas mit dem Selbstverständnis in den
unterschiedlichen Branchen zu tun. Wir würden uns
wünschen, dass sich mehr Kreative, also Urheber, in Verbänden zusammenschließen, weil das die Schlagkraft der
Verbände und damit auch die Rechtsdurchsetzung der
Urheber verbessern würde. Letztlich ist das aber eine
Entscheidung, die jeder selber treffen muss. Wir glauben,
dass wir es ihnen mit den Rechten, die wir jetzt eingeräumt haben, noch deutlich attraktiver gemacht haben,
einem Verband anzugehören. Mich würde nicht wundern, wenn sich Kreative an der einen oder anderen Stelle
aufgrund der neuen Rechtslage entschließen, Verbänden
beizutreten. Ich persönlich würde das begrüßen.
Dann kommen wir zum Fragekomplex „Themen der
heutigen Kabinettssitzung“. - Katja Keul.
Vielen Dank. - Ich habe eine Frage zu der Reform des
§ 179 StGB, also zum Sexualstrafrecht. Dies war heute
auch Gegenstand der Kabinettssitzung. Ich würde gerne
von Ihnen wissen, warum Sie sich auf den Tatbestand des
sexuellen Missbrauchs von Widerstandsunfähigen berufen, der zudem nach dem neuen Gesetzentwurf einen
niedrigeren Strafrahmen hat als die Vergewaltigung einer
gesunden Person. Das verstehe ich nicht. In der Begründung heißt es:
Der … niedrigere Strafrahmen rechtfertigt sich daraus, dass der Täter des § 177
- das ist die Vergewaltigung zusätzlich einen entgegenstehenden Willen
des Opfers durch Zwang beugen muss und
daher wegen Nötigung mit einer Mindestfreiheitsstrafe von einem Jahr rechnen muss.
Demgegenüber muss der Täter, der einen Widerstandsunfähigen vergewaltigt, den Widerstand nicht überwinden
und wird deswegen milder bestraft.
Das ist doch eine Diskriminierung behinderter Personen. Das wurde schon immer am § 179 StGB kritisiert.
Sie behalten das aber ausdrücklich bei. Warum?
Zunächst einmal will ich darauf hinweisen, dass mit
dem Gesetzentwurf überhaupt erst eine Rechtsgrundlage
dafür geschaffen wird, dass geistig behinderte Menschen
zukünftig durch das Strafgesetzbuch besser geschützt
werden können. Bisher ist es gar nicht möglich, geistig
behinderte Menschen zu „vergewaltigen“, weil sie nach
der Rechtsprechung und den Rechtsgrundlagen gar keinen entgegenstehenden Willen bilden können. Das wird
in diesem Gesetzentwurf aufgehoben. Damit wird die
Rechtsgrundlage verändert, auf der entschieden wird.
Dass es einen unterschiedlichen Strafrahmen gibt, hat
etwas damit zu tun, dass die Widerstandshandlungen in
unterschiedlicher Intensität wahrgenommen werden, und
wird durch die Definition in der Begründung gerechtfertigt.
Vielen Dank. - Die nächste Frage hat Frau Haßelmann.
Herr Maas, es kann uns doch nicht zufriedenstellen,
wenn Sie sagen: „Bisher war es nicht strafbar; deshalb
machen wir das jetzt hier“, und das sollen wir gut finden.
Das bedeutet ja, dass Sie diese Regelung im Jahr 2016 so
anlegen, dass sie im Hinblick auf behinderte Menschen,
behinderte Frauen und Mädchen, nicht diskriminierungsfrei ist.
Ich finde schon, dass das einen Unterschied macht,
da die Einordnung einer Handlung, deren Unwertgehalt
nach unserer Auffassung eindeutig zu bestrafen ist, in
der Vergangenheit von vielen Bundesregierungen unterschiedlicher Couleur nie geändert worden ist.
Wir ändern das jetzt. Es ist ein deutlicher rechtspolitischer Fortschritt, dass wir auch nach der Art der Widerstandsleistung differenzieren und danach, dass bestimmte Personen gar keinen Widerstand leisten, weil sie
ihn nicht leisten können. Das ist der tiefere Gehalt dieses Gesetzes. Wir müssen auch bei Menschen, die nicht
behindert sind, differenzieren, ob sie überrascht werden
oder keinen Widerstand leisten, weil sie befürchten, dass
ihnen noch mehr Gewalt angetan wird, oder sich irgendwo befinden, wo keine Hilfe absehbar ist, oder ihnen mit
dem Verlust des Arbeitsplatzes gedroht wird. Das alles
sind Umstände, die unterschiedlich behandelt werden.
Deshalb haben wir auch unterschiedliche Strafrahmen.
Wenn ein durchgeführter Widerstand mit Gewalt innerhalb einer sexuellen Nötigung oder einer Vergewaltigung
überwunden wird, dann erhöht das den Unwertgehalt
der Tat noch einmal. Das rechtfertigt unserer Auffassung
nach unterschiedliche Strafrahmen.
Vielen Dank, Herr Minister. - Katja Keul, noch einmal dazu? - Gut.
Noch einmal zu demselben Gesetzentwurf, hier aber
eine andere Passage. Es geht darum, dass die Istanbul-Konvention des Europarates umgesetzt werden soll
und es nicht mehr auf eine Widerstandsleistung des Opfers ankommen soll. Jetzt behalten Sie in Ihrem Gesetzentwurf bei, dass es auf den Widerstand ankommt. Sie
schreiben sogar in der Begründung: Aufgrund der Verknüpfung zwischen Übel und Widerstand mit den Worten „im Falle eines Widerstandes“ werden nur solche
Fälle erfasst, bei denen das Opfer die sexuelle Handlung
zwar eigentlich ablehnt, aber den Widerstand wegen der
Furcht vor dem empfindlichen Übel gleichwohl unterlässt. Gleichzeitig werden hierdurch Fälle ausgeschlossen, in denen das Opfer lediglich ein Übel befürchtet, das
mit dem Widerstand in keinem Zusammenhang steht. Das verstehe ich nicht. In Zukunft muss das Opfer wieder
beweisen, dass das Übel mit dem Widerstand zusammenhängt und warum es keinen Widerstand geleistet hat. Das
sollte doch gerade geändert werden.
Nein, wir haben im Gesetzentwurf keine Beweislastumkehr vorgenommen, weil das unter keinem Gesichtspunkt sinnvoll oder vertretbar gewesen ist, auch nicht bei
diesen Straftatbeständen, auch wenn die deutsche Rechtsprechung in der Vergangenheit bezüglich Sexualdelikte
sehr restriktiv gewesen ist,
({0})
weil es sich im Wesentlichen um Straftaten aus dem persönlichen Nahbereich gehandelt hat. Deshalb haben wir
neben dem nichtvorhandenen Einverständnis - das ist
natürlich auch in dieser Regelung abgebildet - weiterhin
darauf abgestellt, dass Widerstandshandlungen vorgenommen werden könnten. Sie müssen aber nicht mehr
vorgenommen werden. Wir haben in einem langwierigen
Prozess mit allen Landesjustizverwaltungen in der Gerichtspraxis noch einmal überprüft, wo die Schutzlücken
bei der Vergewaltigung sind. Was führt dazu, dass nur
8 Prozent der angezeigten Vergewaltigungen wirklich einer Verurteilung zugeführt werden? Das hat etwas damit
zu tun, dass die Rechtsprechung grundsätzlich restriktiv
ist, weil es sich um Straftaten aus dem persönlichen Nahbereich handelt. Deshalb haben wir die Fallgestaltungen,
um die es geht, genau beschrieben. Um welche Fälle
es geht, zum Beispiel Überraschungsmomente, steht
im Tatbestand. Wir sind fest davon überzeugt, dass es
zu häufigeren In-dubio-pro-reo-Entscheidungen führen
wird, wenn man sich auf den subjektiven Tatbestand beschränkt.
({1})
Deshalb und weil mir niemand, der die reine Nein-heißtnein-Lösung propagiert, einen Fall genannt hat, der von
dem Tatbestand, wie wir ihn heute beschlossen haben,
nicht erfasst wird, glaube ich, dass das Ergebnis das gleiche sein wird. In der Praxis und der Anwendung wird die
Verurteilungsquote durch das, was wir heute im Kabinett
beschlossen haben, deutlich besser angehoben
({2})
als durch andere Tatbestandsformulierungen, die rein
subjektiv sind.
Britta Haßelmann, bitte.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Minister, wir
haben gar nicht von Beweislastumkehr gesprochen. Wir
haben Sie vielmehr gefragt, warum Sie an der Stelle eigentlich den Nachweis der betroffenen Frauen und Mädchen durch die Formulierung, die meine Kollegin Keul
vorgetragen hat, so belassen, wie es Status quo ist. Bei
uns spricht niemand von Beweislastumkehr. Drehen Sie
das Argument also nicht um.
Zudem hat mich Ihre Erläuterung im Hinblick auf die
behinderten Menschen in keiner Weise überzeugt. Eigentlich müssten wir doch sagen: Behinderte Betroffene
sind besonders schutzbedürftig. - Die Logik, hier eine
andere Argumentation für ein möglicherweise geringeres
Strafmaß anzusetzen oder die Strafbarkeit überhaupt herabzusetzen, kann ich nicht nachvollziehen.
Weil behinderte Menschen besonders schutzbedürftig
sind, haben wir sie überhaupt an dieser Stelle gesondert
in den Geltungsbereich des Strafrechtes aufgenommen.
({0})
Vorher ist das nicht getan worden. Wer es vorher hätte
tun wollen, hätte es zu bestimmten Regierungszeiten
auch tun können. Es ist aber nicht geschehen.
({1})
Deshalb finde ich, dass man durchaus darauf hinweisen darf, dass wir eine verbesserte Rechtslage und mehr
Schutz für behinderte, insbesondere geistig behinderte
Menschen schaffen, die bisher beim Straftatbestand der
Vergewaltigung überhaupt nicht gesondert vom Strafrecht erfasst worden sind.
Zur Frage der Beweisführung. Natürlich ändern wir
mit dem Gesetz auch maßgeblich die Regelungen zur
Beweiserbringung. Wir drehen nicht die Beweislast um das wollen sicherlich auch Sie nicht fordern -, aber wir
definieren genau die Fälle, in denen der Straftatbestand
erfüllt ist, ohne dass körperlicher Widerstand geleistet
wurde: bei einem Überraschungsmoment oder wenn
gedroht wurde oder wenn mit noch mehr Gewaltanwendung gerechnet werden musste. Die Opfer können sich
darauf stützen; die Fälle sind im Gesetzentwurf in detaillierter Form zusammengefasst. Damit werden die Beweisbarkeit und die Beweisführung für die Opfer deutlich erleichtert.
Nach wie vor gilt: Die Länder, die die Lösung eines
rein subjektiven Tatbestands gewählt haben, in denen
man sich also auf eine reine Nein-heißt-nein-Lösung beschränkt hat - auch sie wird in der parlamentarischen Debatte eine Rolle spielen -, können nicht darauf zurückblicken, dass sich die Verurteilungsquoten damit wesentlich
verändert haben. Ich halte das Risiko für zu groß, dass
es in diesem Falle zu häufig In-dubio-pro-reo-Entscheidungen gibt.
({2})
Deshalb halten wir es aus dem Blickwinkel, den Schutz
für Frauen vor sexueller Gewalt zu verbessern, für richtig, den Tatbestand genauer zu beschreiben, die Beweisführung für die Opfer zu erleichtern und damit die Verurteilungsquote endlich zu erhöhen.
Vielen Dank, Herr Minister. - Wir haben damit den
Bereich der Fragen zur heutigen Kabinettssitzung beendet.
Ich komme jetzt zu der Frage, ob es darüber hinaus
Fragen an die Bundesregierung gibt. - Kollegin Künast
hat sich gemeldet, der ich hiermit das Wort erteile.
Danke, Herr Präsident. - Gefühlt zehnmal, real wahrscheinlich erst fünfmal habe ich gelesen, dass morgen
ein großer Justizgipfel stattfindet, verbunden mit dem
Willen, der Welle von politisch motivierter Gewalt etwas entgegenzusetzen. Meine Frage lautet nun: Welche
positiven Beschlüsse haben wir morgen zu erwarten?
Ich gehe einmal davon aus, dass allein ein besserer Informationsaustausch, eine bessere statistische Erfassung
und ein bisschen Richterfortbildung oder die Mitteilung,
was Sie in Bezug auf Hate Crime schon gemacht haben,
aber Facebook noch nicht umgesetzt hat, nicht das Ergebnis des morgigen großen Justizgipfels sein kann. Deshalb frage ich Sie: Wird es seitens des Bundes morgen
die Ankündigung geben, im Bundesbereich eine bessere
Personalausstattung zu schaffen? Wird es morgen die
Ankündigung geben, mehr Sach- und Personalmittel für
ein flächendeckendes Programm gegen rechtsextreme
Gewalt zur Verfügung zu stellen? Sonst macht die ganze
Veranstaltung keinen Sinn.
Ich will die Frage anschließen: Hat es eigentlich intern Ärger dadurch gegeben, dass nunmehr spontan die
Innenminister dazukommen, aber nur Vertreterinnen und
Vertreter der Großen Koalition die morgige Pressekonferenz bestreiten und dass das Schwesig-Ministerium
wiederum nicht beteiligt ist? Ich verstehe nicht, was da
gerade personell passiert.
Herr Bundesminister, Sie haben das Wort.
Ich weiß nicht, inwiefern Sie nicht verstehen, was da
personell passiert. Was der Justizgipfel morgen beschließen wird, kann ich Ihnen im Voraus jetzt nicht sagen.
Ihre Frage war, ob der Bund beschließt, dass es mehr
Personal geben wird. Ich kann Ihnen sagen: Der Bund
braucht das gar nicht mehr zu beschließen, sondern der
Bund hat das bereits getan und wird es auch in den kommenden Haushaltsjahren tun. Wir haben das Personal bei
den Gerichten - beim BGH, im Übrigen auch bei den
Strafsenaten - aufgestockt, der Generalbundesanwalt hat
mehr Geld bekommen, ebenso die Bundespolizei. Der
Bund hat das also längst getan. Insofern brauchen wir das
gar nicht zu beschließen.
Ich werde Ihre Frage gerne zum Anlass nehmen, den
Kolleginnen und Kollegen aus den Ländern mitzuteilen,
dass es im Bundestag als sinnvoll erachtet wird, die Justiz personell und auch organisatorisch besser auszustatten. Da ist ja auch wirklich etwas dran.
Sie haben angesprochen, dass die Innenminister am
Gipfel teilnehmen, und gefragt, ob es irgendwelchen Ärger gegeben hat. Keine Ahnung, ich weiß es nicht. Bei
mir hat sich keiner gemeldet. Ich habe darum gebeten,
dass die Innenminister sowie das BKA oder der Generalbundesanwalt vertreten sind und jeweils berichten, weil
auf der Tagesordnung der Innenministerkonferenz regelmäßig Maßnahmen gegen extremistische Gewalt oder
gegen islamistischen Terrorismus stehen. Wir wollen uns
im Rahmen der Konferenz besser mit den Kolleginnen
und Kollegen austauschen.
Frau Kollegin Künast, Sie haben dazu noch eine weitere Frage.
Danke. - Herr Maas, veräppeln kann ich mich alleine.
Das weiß ich nicht.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Landesminister
bis vor zwei Tagen nicht wussten, dass auch die Innenminister teilnehmen sollen. Ich kann mir nicht vorstellen,
dass Sie das mit denen nicht absprechen. Eine gemeinsame Sitzung läuft doch wohl nicht so ab, dass Sie den
Landesministern durch Zufall zukommen lassen, wer
sonst noch alles an der Veranstaltung teilnimmt; das wäre
zumindest schwer unhöflich.
({0})
Wie gesagt: Veräppeln kann ich mich alleine. Sie
glauben doch nicht im Ernst, dass irgendjemand hier im
Raum glaubt, Sie würden morgen nicht vorbereitet in die
Sitzung gehen und würden den Ländern nicht schon einen Vorschlag für ein Abschlusspapier vorgelegt haben;
denn zur Pressekonferenz haben Sie ja schon eingeladen.
Kein Mensch glaubt, dass Sie das so freihändig tun. Deshalb frage ich noch einmal: Werden Sie selber oder andere Bundesvertreter morgen konkret vorschlagen, dass
die Bundesmittel für Präventionsprojekte im Bereich
rechtsextreme Gewalt oder für Aussteigerprogramme
ausgeweitet werden sollen? - Nach Richtern habe ich gar
nicht gefragt.
Herr Bundesminister.
Vielleicht wäre es aber sinnvoll, auch nach den Richtern zu fragen.
({0})
Frau Künast, Sie können noch dreimal fragen: Ich
werde hier nicht präventiv erklären, was der Justizgipfel
morgen beschließen wird, und ich werde auch nicht erklären, was die Bundesregierung dort vorschlagen wird.
({1})
Natürlich sind wir dabei, mit den Kolleginnen und
Kollegen aus den Ländern die Themen festzulegen, möglicherweise auch Themen, bei denen wir besondere Dinge beschließen. Das bleibt aber dem vorbehalten, was mit
den Kolleginnen und Kollegen morgen diskutiert und beschlossen wird. Vom Vorgehen her hielte ich es für mehr
oder weniger grenzwertig, wenn man sich am Tag vorher
vor den Bundestag stellte und erklärte, was die 16 Justizminister der Länder gemeinsam mit dem Bundesjustizminister zu beschließen haben.
({2})
Ich sehe keine weiteren Fragen. Dann beende ich die
Befragung der Bundesregierung.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 3 auf:
Fragestunde
Drucksache 18/7841
Ich rufe die mündlichen Fragen in der üblichen Reihenfolge auf.
Wir beginnen mit dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.
Für die Beantwortung steht die Frau Parlamentarische
Staatssekretärin Caren Marks zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 1 der Kollegin Dr. Franziska
Brantner auf:
Mit welcher Begründung ist die Ausweitung des Anwendungsbereiches in Artikel 1 § 1 des Referentenentwurfs zum
Gesetz der Neuregelung des Mutterschutzes nicht mehr für
Schülerinnen, Studentinnen und Praktikantinnen vorgesehen,
und unter welchen Voraussetzungen sieht das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend in Absprache
mit dem Bundesministerium für Bildung und Forschung die
Möglichkeit, Schülerinnen, Studentinnen und Praktikantinnen
erneut in den Anwendungsbereich des Artikels 1 § 1 des Referentenentwurfs zum Gesetz der Neuregelung des Mutterschutzes einzubeziehen?
Frau Staatssekretärin, Sie haben das Wort.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Liebe Kollegin
Dr. Brantner, vielen Dank für Ihre Frage, die ich gerne
beantworte. Der Gesetzentwurf zur Neuregelung des
Mutterschutzrechts befindet sich zurzeit in der Ressortabstimmung und wurde Anfang März, genauer gesagt,
am 3. März, an die Länder und Verbände zur Stellungnahme versandt. Vor dem Hintergrund der noch nicht
abgeschlossenen Abstimmungsprozesse ist es zu diesem
Zeitpunkt nicht möglich, nähere Auskünfte zur Einbeziehung von Studentinnen, Praktikantinnen und Schülerinnen zu geben.
Frau Kollegin Brantner, Sie haben eine Nachfrage.
Bitte sehr.
Aber Sie werden trotzdem nicht leugnen können,
dass in den ursprünglichen Entwürfen Studentinnen und
Schülerinnen Teil der Neuerung waren. In dem Entwurf,
den Sie jetzt versendet haben, sind diese Gruppen aber
offensichtlich nicht mehr dabei.
Frau Staatssekretärin.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Frau Kollegin, ich
kann meine Antwort nur wiederholen: Der Entwurf ist an
die entsprechenden Verbände versandt. Er befindet sich
in der Ressortabstimmung. Genau wegen dieses Prozederes ist es nicht üblich, an dieser Stelle und zu diesem
Zeitpunkt nähere Auskünfte zu geben.
Für eine weitere Nachfrage hat die Kollegin
Dr. Brantner das Wort.
Soweit wir vernehmen konnten, will Frau Ministerin
Wanka diese Gruppen ausnehmen, weil sie befürchtet,
dass aus dem Gesetz eine Mussregelung für Schülerinnen
und Studentinnen werden könnte. Wir haben extra unser
Justiziariat gefragt. Es wurde eindeutig gesagt: Das war
im ursprünglichen Entwurf niemals ein Muss, sondern
eine Option. Daher die Frage an Sie: Werden Sie sich
als Familienministerium weiterhin dafür einsetzen, dass
Schülerinnen und Studentinnen Teil dieses neuen Gesetzentwurfs sein werden?
Frau Staatssekretärin.
Vielen Dank. - Sehr geehrte Frau Kollegin, ich denke, die Haltung des Ministeriums für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend zu dieser Thematik ist - wie auch
Ihren Ausführungen zu entnehmen ist - bekannt. Wir
werden unsere Haltung zu dieser Thematik entsprechend
unterfüttern. Wie gesagt, alles Weitere wird die Ressortabstimmung zeigen.
Vielen Dank. - Die Frage 2 der Kollegin WalterRosenheimer wird schriftlich beantwortet. Damit können
wir den Geschäftsbereich dieses Ministeriums verlassen.
Für den Geschäftsbereich des Bundesministeriums
für Gesundheit liegt eine Frage, die Frage 3 der Kollegin Kathrin Vogler, vor. Diese wird ebenfalls schriftlich
beantwortet.
Damit kommen wir zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur.
Für die Beantwortung steht der Parlamentarische Staatssekretär Norbert Barthle zur Verfügung.
Die Frage 4 des Kollegen Andrej Hunko wird schriftlich beantwortet.
Damit kommen wir zur Frage 5 des Kollegen Herbert
Behrens:
Mit welcher Begründung hat der Bundesminister für Verkehr und digitale Infrastruktur, Alexander Dobrindt, von der
EU-Kommission gefordert, dass es „‚ohne eine weitere Verzögerung‘ zur Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes
über die Rechtmäßigkeit der Pkw-Maut komme“ ({0}), und welche anderen Forderungen wurden seitens des Bundesverkehrsministers
an die EU-Kommission erhoben?
Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort.
Danke, Herr Präsident. - Lieber Herr Kollege Behrens,
die Infrastrukturabgabe ist mit dem Europarecht vereinbar. Die Kfz-Steuer fällt eindeutig in die Zuständigkeit
der Mitgliedstaaten und liegt damit außerhalb der Kompetenz der Europäischen Kommission.
Vizepräsident Johannes Singhammer
Herr Kollege Behrens, möchten Sie eine Nachfrage
stellen?
Herr Präsident, es handelt sich dabei nicht im eigentlichen Sinne um eine Nachfrage, sondern nur um die
Bitte, meine Frage zu beantworten. Ich habe danach gefragt, was für Verzögerungen beispielsweise vonseiten
der Europäischen Union kamen, weil Verkehrsminister
Dobrindt - zumindest laut einer Pressemitteilung vom
5. März - gesagt hat, dass die Europäische Kommission
ohne weitere Verzögerung zu einer Entscheidung kommen solle. Meine Frage war auch, welche Forderungen
beispielsweise seitens des Bundesverkehrsministeriums
an die Kommission gestellt worden sind, um diese Verzögerung aufzulösen.
Herr Staatssekretär.
Herr Kollege Behrens, wir haben auf das Aufforderungsschreiben der Kommission vom Juni des vergangenen Jahres fristgerecht geantwortet und damit die Kommission zur Einstellung des Verfahrens aufgefordert. Die
Kommission hat uns daraufhin erneut mit Schreiben vom
11. Dezember 2015 gebeten, unsere Argumentation mit
einem ergänzenden Aufforderungsschreiben zu erweitern. Wir haben das fristgerecht getan mit Datum vom
2. Februar. Damit hat die Bundesregierung alle Mahnschreiben der Europäischen Kommission entsprechend
fristgerecht beantwortet, ist auf die Vorwürfe eingegangen und hat die Kommission auch zum zügigen Fortgang
des Verfahrens und zur Einstellung des Verfahrens aufgefordert.
Herr Kollege Behrens, hat das Ihre Nachfrage beantwortet?
Damit wäre die ursprüngliche Frage beantwortet.
Haben Sie eine weitere Nachfrage? - Dann haben Sie
dazu das Wort.
Herr Staatssekretär, wenn es diese Nachfragen oder
Nachforderungen seitens der EU-Kommission gegeben
hat, können Sie etwas zu den Inhalten dieser Nachforderungen sagen? Welche Fragen hatten Sie in Ihren ersten Unterlagen noch nicht beantwortet, bei denen die
EU-Kommission darauf gedrängt hat, doch bitte schön
eine Position zu beziehen?
Herr Staatssekretär.
Herr Kollege Behrens, die Einwendungen der
EU-Kommission bezogen sich insbesondere auf die Frage der Rechtskompatibilität mit Europarecht, weil hier
Diskriminierung zugrunde gelegt wurde. Wir sind anderer Rechtsauffassung. Ich wiederhole: Nach unserer
Rechtsauffassung ist die Zuständigkeit des Mitgliedstaates für die Kfz-Steuer gegeben. Dies fällt nicht in die
Zuständigkeit der Kommission. Weil wir zwei Gesetze
gemacht haben, ein Infrastrukturabgabegesetz und ein
Kfz-Steuergesetz, sind wir der Auffassung, dass unsere
Gesetze europarechtskompatibel sind. Das haben wir in
unserer Antwort an die Frau Kommissarin ausführlich so
dargelegt.
Wir kommen dann zur Frage 6 des Kollegen Behrens:
Ist die Bundesregierung bisher allen Aufforderungen der
EU-Kommission zur Vorlage weiterer Informationen im Kontext des Vertragsverletzungsverfahrens zur Pkw-Maut nachgekommen ({0}), und auf welcher Stufe befindet
sich dieses Vertragsverletzungsverfahren aktuell?
Herr Staatssekretär Barthle, Sie haben das Wort.
Da habe ich eine kurze Antwort: Ja, und das Vertragsverletzungsverfahren befindet sich in der ersten Stufe.
Herr Kollege Behrens, Sie haben vermutlich noch eine
Nachfrage. Deswegen haben Sie das Wort.
Danke schön. - Ich möchte den Zeitraum abschätzen
können. Es geht ja auch darum, dass in den entsprechenden Haushalten, also nicht nur im Haushalt 2016,
sondern möglicherweise auch in weiteren Haushalten,
Pkw-Maut einnahmen berücksichtigt würden. Insofern
interessiert mich, zu welchem Zeitpunkt damit zu rechnen ist, dass die Stufe 1 abgeschlossen ist, also die Position der Bundesregierung noch einmal erläutert wurde.
Dieser Stufe folgen möglicherweise weitere Stufen, wenn
die Antwort, die Sie an die EU-Kommission gerichtet haben, nicht ausreicht. Können Sie mir einen Zeitraum nennen, in dem diese Verfahren üblicherweise abgeschlossen
werden, wann möglicherweise, bei einem unbefriedigenden Verlauf, die nächste Stufe gestartet wird?
Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort.
Herr Kollege Behrens, einen konkreten Zeitraum
kann ich Ihnen da leider nicht nennen; denn es ist so,
dass für die Kommission im Unionsrecht keine Fristen
für die einzelnen Schritte eines Vertragsverletzungsverfahrens vorgesehen sind. Das heißt, die Kommission
entscheidet eigenständig über den weiteren zeitlichen
Fortgang innerhalb eines Vertragsverletzungsverfahrens.
Sie entscheidet auch eigenständig - das liegt im Ermessen der Kommission -, welche Fristvorgaben seitens der
Mitgliedstaaten einzuhalten sind. Das gilt auch für die
Entscheidung, ob die Europäische Kommission vor den
Europäischen Gerichtshof zieht.
Herr Kollege Behrens, haben Sie noch eine weitere
Frage? - Dann haben Sie dazu das Wort.
Wir wissen, dass nach ursprünglicher Planung zum
1. Januar 2016 die Pkw-Maut „scharf gestellt“ werden
sollte; das war der Wortlaut des Bundesverkehrsministers. Jetzt meine Frage: Halten Sie es für realistisch, dass
Ihre Pkw-Maut, die wir als Ausländermaut bezeichnen,
zum 1. Januar 2017 „scharf gestellt“ werden kann?
Herr Staatssekretär.
Herr Kollege Behrens, ich glaube, Sie wissen so gut
wie ich, dass wir alle rechtlichen Hürden überwunden
haben - der Deutsche Bundestag hat die Infrastrukturabgabe beschlossen, der Bundesrat hat sie beschlossen, der
Bundespräsident hat den Gesetzentwurf unterzeichnet -;
nur die technische Umsetzung ist noch nicht erfolgt, weil
wir die technische Umsetzung dann vornehmen, wenn
wir Rechtssicherheit haben bezüglich der Europäischen
Kommission, wenn also entweder das Vertragsverletzungsverfahren eingestellt wird oder ein entsprechendes
Urteil des Europäischen Gerichtshofs vorliegt, das unsere Rechtsauffassung bestätigt.
Der Kollege Kühn hat eine Frage. - Sie haben das
Wort, Herr Kollege.
Danke, Herr Präsident. - Danke, Herr Staatssekretär,
für die Möglichkeit, hier eine Frage zu stellen. Wie lange
wird die technische Umsetzung, die Sie gerade angesprochen haben, nach Schätzungen des Ministeriums dauern?
Herr Kollege Kühn, wir sind dabei, die notwendigen
Vorarbeiten zu erledigen. Das heißt, man muss die Ausschreibung vorbereiten, man muss all das vorbereiten,
was zur technischen Umsetzung notwendig ist. Da sind
wir mittendrin. In dem Augenblick, in dem wir Rechtssicherheit haben, können wir relativ schnell, innerhalb
weniger Monate - eine genaue Frist kann ich Ihnen nicht
nennen -, die technische Umsetzung vornehmen.
Ich sehe keine weiteren Nachfragen zur Frage 6.
Die Frage 7 der Kollegin Sabine Leidig wird schriftlich beantwortet, ebenso die Fragen 8 und 9 des Kollegen Stephan Kühn, die Frage 10 des Kollegen Matthias
Gastel und die Frage 11 des Kollegen Oliver Krischer.
Ich bedanke mich sehr herzlich bei Herrn Staatssekretär Barthle. Damit haben wir diesen Geschäftsbereich
verlassen.
Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit. Für die Beantwortung steht der Herr
Parlamentarische Staatssekretär Florian Pronold zur Verfügung.
Die Frage 12 des Kollegen Oliver Krischer wird
schriftlich beantwortet, ebenso die Fragen 13 und 14 der
Kollegin Sylvia Kotting-Uhl und die Frage 15 der Kollegin Bärbel Höhn.
Ich rufe die Frage 16 des Kollegen Christian Kühn
auf:
Werden Produkte wie Polystyrol, Textilien, Polstermöbel,
Kunststoffe mit HBCD zukünftig als Sondermüll eingestuft
bzw. klassifiziert, und, wenn ja, ab wann?
Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort.
Kollege Kühn hat gefragt, ob Produkte wie Polystyrol,
Textilien, Polstermöbel und Kunststoffe mit HBCD - das
ist ein Stoff, der dazu dient, dass die Brandgefahr geringer
ist - als Sondermüll eingestuft bzw. klassifiziert werden,
und, wenn ja, ab wann. Nach § 3 Absatz 1 der Abfallverzeichnis-Verordnung sind die Abfallarten im Abfallverzeichnis, deren Abfallschlüssel mit einem Sternchen
versehen ist, gefährlich im Sinne des § 48 des Kreislaufwirtschaftsgesetzes. Für Textilien und für Möbel sind
keine Einträge bei Abfällen vorgesehen. Bei einigen Abfällen, für die sowohl ein nichtgefährlicher als auch ein
gefährlicher Abfallschlüssel gelistet ist, kommt es darauf
an, ob ein bestimmter Grenzwert überschritten wird. Das
ist zum Beispiel bei polystyrolhaltigem Dämmmaterial
oder Kunststoffen je nach Herkunftsbereich der Fall.
Der Grenzwert für HBCD in Anhang IV der Verordnung der Europäischen Union 850/2004, mit dem das
Ziel verfolgt wird, HBCD aus dem Wertstoffkreislauf
auszuschließen, wird voraussichtlich ab Herbst 2016
rechtswirksam sein.
Herr Kollege Kühn, haben Sie eine Nachfrage dazu?
Dann haben Sie das Wort.
Ja, habe ich, Herr Präsident. - Herr Pronold, HBCD
wird ja, wie Sie gerade dargestellt haben, in Deutschland als Sondermüll eingestuft, und zwar dann, wenn es
in der Fassadendämmung genutzt wurde. Seit wann ist
der Bundesregierung bekannt, dass dieser Stoff HBCD
in die PBT-Stoffe einzusortieren ist, also die Stoffe, die
krebserregend sind, die als Sondermüll zu klassifizieren
sind? Warum wurde in der Vergangenheit die weitere
Verwendung dieser Stoffe empfohlen, zum Beispiel über
die KfW und andere, durch die die Verwendung gefördert
worden ist?
Herr Staatssekretär.
Der erste Punkt ist, dass wir es bei der Frage der Dämmung bisher immer den Bauherren überlassen haben,
welche Stoffe sie einsetzen, und dass wir das nicht bewertet haben.
Der zweite Punkt ist, dass nach jetzigem Kenntnisstand - auch nach intensiven Untersuchungen des Umweltbundesamtes - keine Gesundheitsgefährdung vom
Einsatz dieser Stoffe, zum Beispiel auch in Dämmplatten,
für die Bewohner von Wohnungen oder Häusern ausgeht.
Der dritte Punkt ist, dass wir EU-weit eine Verordnung haben, die, wie ich vorhin schon gesagt habe, das
Ziel verfolgt, dass wir diesen Stoff ab einer bestimmten
Konzentration aus dem Wertstoffkreislauf ausschließen
und als Sondermüll behandeln. Bisher war es so, dass
diese Dämmplatten recycelt worden sind, auch wenn
sie einen erhöhten Konzentrationswert hatten. Im Zuge
dieses Entscheidungsprozesses, der auf der EU-Ebene
begann, wurde diese Verordnung auf Wunsch des Bundesrates auch bei uns zügig umgesetzt; unsere nationale
Verordnung ist unterschrieben und tritt im Herbst 2016
in Kraft.
Herr Kollege Kühn, möchten Sie noch eine weitere
Frage stellen?
Ja. - Es geht ja dann darum, wie man weiter sicherstellen kann, dass in Zukunft, wenn gedämmt wird, wenn
energetisch modernisiert wird, möglichst Stoffe eingesetzt werden, die keine fatalen Folgewirkungen haben,
die recycelbar sind, die weiter im Wertstoffkreislauf sein
können, die wenig graue Energie haben, die möglichst
aus nachwachsenden Rohstoffen sind. Ich frage deswegen, weil Sie ja im Bauministerium sind und es auch dort
die Frage gibt, wie man nachhaltiges Bauen schafft. Es
ist ja gleichzeitig das Umweltministerium. Plant die Bundesregierung aufgrund der Erfahrungen in der Vergangenheit mit dem Dämmen, in Zukunft Förderkriterien zu
schaffen oder Förderprogramme aufzulegen, die gezielt
auf nachwachsende Rohstoffe setzen und damit auch den
Einsatz nachwachsender Rohstoffe beim Bauen, Sanieren und Dämmen fördern?
Meine Ministerin hat sich bereits vor über anderthalb
Jahren an die KfW gewandt, um auch in der Frage der
Förderkriterien auf diese Problematik, über die wir hier
diskutieren, aufmerksam zu machen. Es gibt - das sage
ich aus dem Gedächtnis heraus, nicht aus meiner Vorbereitung - im Etat des Landwirtschaftsministeriums einen
Fördertatbestand für nachwachsende Rohstoffe in der
Dämmung. Auch wir unterstützen das in vielfältigen Forschungsvorhaben. Ich bin mir relativ sicher - das zeigen
übrigens auch die ersten Reaktionen aus der Wohnungswirtschaft -, dass die Klassifizierung von mit HBCD
behandelten Dämmplatten als Sondermüll dazu führen
wird, dass auch die Beteiligten in der Wirtschaft diese
Dinge nicht mehr in dem Umfang einsetzen werden, wie
sie das bisher machen, selbst wenn sie preislich ein Stück
weit günstiger sind.
Ich gebe Ihnen recht, dass es eine ganze Menge Alternativen gibt. Das Problem ist, dass bisher alle preislich
etwas höher liegen als diese Materialien. Unser Ziel ist
es, auch insgesamt nachhaltig zu wirtschaften. Der Bund
geht, was den eigenen Gebäudebestand betrifft, positiv
damit um, indem er ein sehr umfassendes Zertifizierungslabel anwendet, das insbesondere die nachhaltige
Verwendung von Baustoffen sehr deutlich ausweist und
zum Nachahmen anregt.
Damit kommen wir zur Frage 17 des Kollegen
Christian Kühn. Diese Frage wird nach Anlage 4 unserer
Geschäftsordnung - dort Nummer 2 Absatz 2 - ebenfalls
schriftlich beantwortet. Dahinter verbirgt sich, dass der
Inhalt dieser Frage einen Tagesordnungspunkt betrifft,
den wir diese Woche debattieren. Deshalb erfolgt eine
schriftliche Beantwortung.
Wir kommen zur Frage 18 des Kollegen Hubertus
Zdebel:
Wie sieht angesichts der jüngst bekanntgewordenen Vorgänge um die Ablagerung und den Transport von gefährlichen
Bohrschlämmen der niedersächsischen Erdöl- und Erdgasindustrie in andere Bundesländer ({0}) die bundesweite Entsorgungsstrategie der Bundesregierung aus, und welche Schritte
wird die Bundesregierung ergreifen, um die Probleme bei der
Beseitigung der Bohrschlämme zu lösen und den Giftmülltourismus zu beenden?
Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort.
http://www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/Bohrschlamm-Entsorgung-Niedersachsen,bohrschlamm140.html
http://www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/Bohrschlamm-Entsorgung-Niedersachsen,bohrschlamm140.html
http://www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/Bohrschlamm-Entsorgung-Niedersachsen,bohrschlamm140.html
Die Antwort der Bundesregierung auf Ihre Frage lautet, dass der Vollzug des Abfallrechts ausschließlich der
Länderkompetenz unterliegt. Das gilt auch für die hier in
Rede stehende Entsorgung von Bohrschlämmen.
Ebenso ist es die alleinige Aufgabe der Länder, im
Rahmen der Abfallwirtschaftsplanung für ausreichende
Entsorgungsanlagen zu sorgen, um eine gemeinwohlverträgliche Beseitigung zu gewährleisten. Die im länderübergreifenden Verbund stattfindende Entsorgung von
gefährlichen Abfällen - wie bei der Entsorgung von Bohrschlämmen - ist üblich. Sie ermöglicht eine ordnungsgemäße Entsorgung dieser Abfälle in dafür spezialisierten
Anlagen. Nach den Informationen der Bundesregierung
ist es so, dass sie im Einklang mit den abfallrechtlichen
Vorgaben steht.
Herr Kollege Zdebel, ich vermute, Sie haben eine weitere Nachfrage. - Dann haben Sie das Wort.
Danke schön, Herr Präsident. - Herr Pronold, das Problem mit den Bohrschlämmen aus der Erdöl- und Erdgasindustrie in Niedersachsen ist natürlich dramatisch. Sie
wissen ja, dass Niedersachsen keine eigenen Deponien
mehr vorhalten kann und es deswegen auch zu einem
Export, sozusagen zu einem Giftmülltourismus quer
durch die Republik, gekommen ist, unter anderem nach
Nordrhein-Westfalen. Vor diesem Hintergrund würde ich
sagen: Es mag ja sein, dass das alles legal ist. Nichtsdestotrotz habe ich Sie nach einer bundesweiten Strategie
gefragt. Wenn es länderübergreifend quasi eine Art Giftmülltourismus gibt, ist es nicht ausreichend, darauf hinzuweisen, dass das eine Länderangelegenheit ist, sondern
ich glaube, dass dort auch die Bundespolitik gefordert ist.
Eine konkrete Nachfrage stellt sich trotz alledem, zumindest für mich, und zwar zu den Sanierungsplänen.
Hat es bezüglich dieser Bohrschlammgruben Sanierungspläne gemäß § 13 Absatz 1 des Bundes-Bodenschutzgesetzes gegeben, sind also tatsächlich Sanierungspläne
erstellt worden, bzw. in welchen Fällen ist es möglicherweise zu Unterlassungen gekommen?
Herr Staatssekretär.
Herr Zdebel, ich würde Ihnen auf diese Frage gerne
detailliert schriftlich antworten. Mir ist aus vergangener
Zeit - nicht aber aufgrund meiner Vorbereitung - nur im
Gedächtnis, dass natürlich bei verschiedensten Deponien
in unterschiedlichen Ländern Sanierungen stattgefunden
haben. Wenn ich es richtig im Kopf habe, ist das übrigens
auch ein Grund dafür, dass es keine Möglichkeiten mehr
gibt, die Deponierung in Niedersachsen vorzunehmen.
Ich werde erfragen, ob wir Kenntnisse haben, wie das
in den einzelnen Bundesländern ist, und werde Ihnen die
Antwort schriftlich geben.
Darüber hinaus will ich darauf hinweisen, dass zumindest nach unserem Kenntnisstand eine Verbringung von
Bohrschlamm aus Niedersachsen in zwei andere Bundesländer stattfindet, und zwar in dafür geeignete Deponien,
die auch werkseigen sind. Das heißt also, es findet eine
Verbringung in andere Bundesländer statt.
Wichtig ist aber, dass diese Abfälle sach- und fachgerecht entsorgt bzw. deponiert werden. Sowohl den Transport als auch die Deponierung müssen die Länder - so ist
es nun einmal - gewährleisten.
Herr Kollege Zdebel, genügt Ihnen diese Antwort?
Ich habe noch eine weitere Nachfrage.
Jawohl. Dann haben Sie das Wort.
Danke schön, Herr Präsident. - Herr Pronold, ich habe
noch eine weitere Nachfrage, weil das in der Öffentlichkeit jetzt auch eine Rolle spielt.
Sie wissen, dass diese Bohrschlämme anfallen, wenn
nach Erdgas bzw. Erdöl gebohrt wird, und hier stellt sich
natürlich automatisch die Frage, was eigentlich mit Fracking ist.
Wir alle wissen, dass die Bundesregierung hier in
erster Lesung den Entwurf eines - ich nenne es einmal
so - Fracking-Erlaubnisgesetzes eingebracht hat, das seit
einem Jahr quasi erst einmal auf Halde liegt und hier im
Plenum nicht weiter behandelt worden ist. Wenn jetzt
aber ein Fracking-Erlaubnisgesetz in Kraft treten sollte,
von dem circa zwei Drittel der Fläche der Bundesrepublik betroffen wären: Mit welchen Mengen an Bohrschlämmen rechnen Sie dann, und wie stellt sich vor diesem Hintergrund die Entsorgungsproblematik dar?
Herr Staatssekretär.
Herr Zdebel, ich komme, wie Sie sich vorstellen können, zu einer völlig anderen Bewertung als die, die Sie in
Ihre Frage eingekleidet haben.
Die Bundesregierung hat einen Gesetzentwurf vorgelegt, der den bisherigen Rechtszustand beseitigt, wonach
beim Thema Fracking keine Umweltverträglichkeitsprüfung vorgesehen war und es auch keine anderen Handhabungen gab, wenn eine Fracking-Aufsuchungserlaubnis
beantragt worden ist. Dieser Gesetzentwurf, mit dem
zum Beispiel auch die Sorgen um den Schutz des Wassers oder die Gesundheit von Menschen ernst genommen
werden, wird im Bundestag demnächst sicher abschließend beraten werden. Wir haben damit eine der härtesten
Regulierungen vorgelegt, die es in Europa dazu gibt.
Weil die wirtschaftliche Nutzung von Fracking darin
überhaupt nicht vorgesehen ist und es nur um Probebohrungen zur wirtschaftlichen Erprobung dieser Dinge
geht, ist dort nicht von größeren Mengen Bohrschlamm
auszugehen. Bis zum heutigen Tage ist auch noch nicht
entschieden, in welchem Umfang es solche wissenschaftlichen Probebohrungen überhaupt geben wird.
Wir haben auch noch keinerlei Mutmaßungen darüber
angestellt, welche Mengen Bohrschlamm bei einer wirtschaftlichen Nutzung der Fracking-Technologie möglich
wären, weil es das Ziel unseres Gesetzentwurfes ist, dass
genau dies nicht stattfindet.
Herr Kollege Behrens, Sie haben eine weitere Nachfrage.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Kollege Pronold, Herr
Staatssekretär, ich komme aus Niedersachsen, und zwar
aus der Region Rotenburg und Verden, wo es die Zwischenfälle mit Fracking gegeben hat. Die entsprechenden
Schlämme und die späteren Flüssigkeiten sind hier sehr
wichtig.
Eine der vielen Fragen, die auch in Ihrer Fraktion
ständig diskutiert werden, lautet: Gibt es Möglichkeiten,
diese Abfallprodukte zu behandeln und letztendlich so zu
entsorgen, dass sie für die Umwelt und für die Menschen
ungefährlich sind? Können Sie mir sagen, welche Maßnahmen es dafür schon gibt, inwieweit bundesweit entsprechende Anlagen installiert sind und welche Mengen
dort vor- und nachbehandelt werden können?
Herr Staatssekretär.
Bei aller Liebe zu Ihren Fragen, glaube ich, dass Sie
Ihr Fragerecht an dieser Stelle ein bisschen überdehnen,
weil Fracking nicht Gegenstand der Frage insgesamt ist.
Ich will trotzdem zunächst einmal darauf hinweisen,
dass in dem Gesetzentwurf der Bundesregierung steht,
dass beim Fracking zukünftig allenfalls nur leicht wassergefährdende Stoffe eingesetzt werden dürfen. Daneben reden wir über die Frage, was hier insgesamt herauskommt und wie man das wieder entsorgen kann.
Theoretisch besteht zum Beispiel die Möglichkeit,
eine höhere Salzbelastung des dortigen Lagerstättenwassers mit hohem Energieaufwand wieder zu beseitigen. Es
gibt aber niemanden - auch nicht vonseiten der Umweltexperten -, der eine solche Behandlung fordert. Dies gilt
vor allem dann, wenn das in sichere Regionen zurückgepresst wird, in denen sich Wasser befindet, welches auch
eine höhere Salzbelastung aufweist. Deswegen ist nach
meinem Kenntnisstand beim Fracking bisher eine Reinigung, die zum Beispiel den Salzgehalt verändert, nicht
verpflichtend vorgesehen. Sie wird so wohl nicht praktiziert. Sehr wohl unterfällt das aber, wenn toxikologische
Belastungen von Bohrschlämmen vorhanden sind, nach
meinem Kenntnisstand den abfallrechtlichen Vorschriften und ist dann natürlich anders zu behandeln.
Ich sehe keine weiteren Nachfragen. Damit verlassen wir diesen Geschäftsbereich. - Herr Staatssekretär
Pronold, vielen Dank.
Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung. Für die Beantwortung der diesbezüglichen
Fragen begrüße ich Herrn Parlamentarischen Staatssekretär Hans-Joachim Fuchtel.
Die Fragen 19 und 20 des Abgeordneten Uwe Kekeritz
werden schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Frage 21 des Abgeordneten Niema
Movassat auf:
Welche Schlüsse zieht die Bundesregierung aus dem Bericht „Glass Half Full: The State of Accountability in Development Finance“ ({0}), der der DEG ({1}) Verbesserungen bei ihrem Beschwerdemechanismus hinsichtlich Legitimität ({2}), Zugang ({3}), Vorhersehbarkeit
({4}), gleichberechtigtem Zugang ({5}),
Transparenz ({6}), Übereinstimmung mit Menschenrechten ({7}) sowie fortlaufende Anpassung
an gemachte Erfahrungen ({8}) empfiehlt ({9}), und wird sie sich dafür einsetzen, dass die
DEG sich ebenso wie die niederländische Entwicklungsbank
FMO, mit der die DEG den Beschwerdemechanismus eingerichtet hat, dazu verpflichtet, die OECD Guidelines for Multinational Enterprises bei ihren Finanzierungen anzuwenden, in
denen Menschenrechtsstandards stärker verankert sind als bei
den IFC-Richtlinien?
Herr Staatssekretär, Sie haben jetzt die Möglichkeit,
die Frage des Kollegen Movassat zu beantworten.
Hans-Joachim Fuchtel, Parl. Staatssekretär beim
Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung:
Das BMZ sieht in Sachen Beschwerdemechanismus
die DEG - an die Zuschauer gewandt, sage ich, dass es
sich bei der DEG nicht um eine deutsche Eisenbahngesellschaft, sondern um eine große Tochter der KfW
handelt, die den Privatsektor bearbeitet - und auch das
Institut, nach dem gefragt wurde, nämlich die holländische FMO, auf einem sehr guten Weg. Bis jetzt wurden
solche Beschwerdemechanismen ausschließlich bei multilateralen Banken zur Anwendung gebracht. Hier wird
nun erstmals auf der Welt - soweit wir das überhaupt recherchieren konnten - dieser Beschwerdemechanismus
in bilateralen Funktionen bei Institutionen eingesetzt, die
im Zusammenhang mit Entwicklungszusammenarbeit
Finanzierungen vornehmen.
http://bankwatch.org/sites/default/files/glass-half-full.pdf
http://bankwatch.org/sites/default/files/glass-half-full.pdf
Herr Kollege Movassat, haben Sie eine weitere Frage?
Ja, habe ich. Danke, Herr Präsident. - Herr Staatssekretär, ich erhalte von der Bundesregierung immer
wieder die Antwort, dass die DEG ganz tolle Umwelt-,
Sozial- und Menschenrechtsstandards hat. Das will ich
auch gerne glauben, Herr Staatssekretär. Das Problem
aber ist, dass alle Prüfberichte nicht öffentlich sind. Das
heißt, wir haben keinen Zugang, um herauszufinden, ob
das, was Sie sagen oder die DEG sagt, auch der Wahrheit
entspricht.
Sie wissen ja: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser,
Herr Staatssekretär. Daher lautet meine Frage, ob die
Bundesregierung auch angesichts der Tatsache, dass es
immer wieder in gehäuftem Maße Berichte darüber gibt,
dass DEG-Projekte fragwürdige Finanzierungen beinhalten, gedenkt, die Prüfberichte öffentlich oder einer bestimmten eingeschränkten Öffentlichkeit zugänglich zu
machen. Das könnte zum Beispiel ein parlamentarischer
Beirat der DEG sein. Oder es könnte irgendeine andere
Art von Offenlegung der Umwelt- und Sozialrisikoprüfungen geben.
Hans-Joachim Fuchtel, Parl. Staatssekretär beim
Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung:
Lieber Kollege, wir sind da viel weiter, als Sie vermuten. Hier würde ein Blick ins Internet auch bei Ihnen
die Erkenntnis noch etwas erweitern. Es gab eine Petition
von FIAN und anderen. Hierzu hat der Deutsche Bundestag höchst öffentlich und mit Mehrheit festgestellt, dass
die Maßnahmen der Transparenz in sehr guter Weise realisiert wurden; denn genau das war Gegenstand dieser
Petition. Wenigstens Ihren Kollegen sollten Sie glauben,
wenn Sie uns schon nicht glauben.
Herr Kollege Movassat, sind die Fragen ausreichend
beantwortet? Oder haben Sie noch eine Nachfrage?
Herr Präsident, ich habe noch eine Nachfrage. - Herr
Staatssekretär, das ändert ja nichts an der Problematik,
dass die Prüfberichte nicht zugänglich sind. Das ist ja das
Problem. Zum Beispiel gibt es immer wieder Berichte,
dass die DEG bei Finanzierungen involviert ist, bei denen es zu Land Grabbing - zu sogenanntem Landraub gekommen ist. Was das anbelangt, so hat die Bundesregierung auch die sogenannten freiwilligen Leitlinien zu
Landnutzungsrechten der FAO aus 2012 mit unterstützt.
Sie wurden verabschiedet. Das Problem besteht darin,
dass bis heute die KfW und auch die DEG nicht auf diese
freiwilligen Leitlinien verpflichtet sind, obwohl die Bundesregierung diese die ganze Zeit über gepusht bzw. nach
vorne gestellt hat.
Immer wenn ich danach frage - vielleicht werden Sie
mir auch dieses Mal wieder das Gleiche wie seit zwei
Jahren sagen -, höre ich die Antwort: Das Institut für
Menschenrechte soll schauen, wie man diese Leitlinien
in der KfW bzw. in der DEG umsetzen kann. - Ich finde,
zwei Jahre für eine Prüfung von Leitlinien, die Sie unterstützt haben, sind sehr lange. Deshalb ist meine ganz
konkrete Frage: Gibt es einen Zeitplan, wann Sie diese
Leitlinien endlich umsetzen?
Ich will Ihnen sagen: Es ist schwierig, private Unternehmen dafür zu gewinnen, die freiwilligen Leitlinien
für Landnutzungsrechte umzusetzen, wenn sie noch nicht
einmal in den eigenen, hundertprozentig staatlichen Unternehmen umgesetzt werden.
Herr Staatssekretär.
Hans-Joachim Fuchtel, Parl. Staatssekretär beim
Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung:
Wir haben mit diesem Beschwerdemechanismus ein
erstes Verfahren durchgeführt. Dabei ging es um die indigenen Völker in Panama und um die Berücksichtigung
von deren Interessen. Es hat sich gezeigt, dass deren Interessen gerechtfertigt sind. Es wurde im Rahmen der
Möglichkeiten untersucht. Das gesamte Verfahren wurde
höchst transparent durchgeführt. Solche Fragen werden
jetzt in dieser Petition an den Deutschen Bundestag bestätigt.
Was Sie aber wollen, ist etwas anderes. Sie möchten
gerne bei privaten Finanzierungen Transparenz, die so
weit gehen soll, dass bis unter die Haut geschaut werden darf, was aber aufgrund des Bankgeheimnisses nicht
möglich ist.
({0})
Ich gebe zu bedenken, dass Sie vielleicht einer Partei angehören, die darüber länger nachdenken muss als die Partei, der ich angehöre. Aber das Bankgeheimnis gilt natürlich auch bei solchen Engagements und muss gewahrt
werden. Hier stößt auch Transparenz an ihre Grenzen.
Frau Kollegin Hänsel, Sie haben das Wort für eine Zusatzfrage.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Staatssekretär, ich
glaube, dass das Bankgeheimnis - darin sind wir uns einig - natürlich nur vorgeschoben ist. Das haben wir auch
in der ganzen Diskussion um Steuerhinterziehung erlebt.
Aber irgendwann hat auch die CDU erkannt, dass sie ihre
Klientel nicht uneingeschränkt schützen kann.
Ich habe eine konkrete Nachfrage. Die Frage meines
Kollegen bezog sich auf einen Bericht über ein DEG-finanziertes Staudammprojekt in Panama, wo entgegen
verfassungsrechtlichen Bestimmungen die indigenen
Gemeinden vor dem Beginn der Planungen für dieses
Projekt eben nicht umfassend informiert, konsultiert und
einbezogen wurden, was ihr Recht ist. Mit diesem Projekt aber droht ihnen die Existenzgrundlage entzogen zu
werden.
Jetzt wurden die indigenen Gemeinden gefragt: Was
hat sich denn nun nach der Einführung des Beschwerdeverfahrens bei der DEG geändert? Sie haben einhellig
geantwortet: Nichts hat sich geändert. - Von daher frage
ich: Wie effektiv ist ein Beschwerdeverfahren, wenn sich
für die Betroffenen nichts ändert? Was wollen Sie in dem
konkreten Fall unternehmen, damit dieses Staudammprojekt nicht mithilfe der DEG auf Kosten der indigenen
Gemeinden in Panama durchgesetzt wird, sondern dass
deren indigene Rechte geschützt werden und in Einklang
mit der Rechtslage stehen?
Herr Staatssekretär, jetzt bitte ich Sie, die Frage der
Kollegin Hänsel zu beantworten.
Hans-Joachim Fuchtel, Parl. Staatssekretär beim
Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung:
Sie haben die Frage suggestiv gestellt. Deswegen habe
ich zwei Möglichkeiten, Ihnen zu antworten. Zunächst
einmal erkläre ich das System. Wenn Sie mir dann eine
Zusatzfrage stellen, kann ich gerne auch etwas zu dem
ganz konkreten Fall sagen.
Wie also geht ein solches Verfahren vor sich? Zunächst einmal wird durch ein unabhängiges Expertengremium geprüft, ob eine individuelle Betroffenheit des
Beschwerdeführers vorliegt. Dann wird der Sachverhalt
geprüft. Die Entscheidungen in Konsultation mit der
Beschwerdeführung und den geförderten Unternehmen
werden dann vorbereitet. Dazu gibt es zunächst einmal
eine Mediation, um eine einvernehmliche Lösung herzustellen, oder es wird geprüft, ob die Richtlinien, Vorgaben und Standards beachtet wurden, „Compliance Review“ genannt. Am Ende erscheint ein Abschlussbericht
des Panels, der in die Jahresberichte zum Mechanismus
einfließt. Das ganze Verfahren ist öffentlich.
Ich weiß nicht, wo in diesem Verfahren Lücken sind.
Sie sollten dieses Verfahren in der Praxis anhand der
Mechanismen nachvollziehen. Sie sollten versuchen,
solche Finanzierungen nicht durch Überforderungen zu
behindern. Auf der Welt brauchen wir nämlich mehr solcher Finanzierungen und nicht weniger. Derzeit kommen
weltweit 15 Prozent der Wertzuflüsse aus dem öffentlichen Sektor und 85 Prozent aus dem privaten Sektor.
Wenn wir diese alle ausschließen und alles so kompliziert machen, dann werden wir die Entwicklungspolitik
schwächen, statt sie zu stärken. Wir brauchen aber ihre
Stärkung. Das zeigt sich jeden Tag beim Fernsehen.
Herr Kollege Zdebel, Sie haben eine weitere Nachfrage.
Danke schön, Herr Präsident. - Herr Staatssekretär,
Sie haben eigentlich die Frage überhaupt nicht beantwortet. Es geht um die indigenen Gemeinden in Panama
und darum, wie es ihnen damit geht. Deswegen frage ich
noch einmal ganz konkret nach und bitte Sie darum, die
Frage, wie die Lage der indigenen Gemeinden in Panama
aussieht, ganz konkret zu beantworten.
Hans-Joachim Fuchtel, Parl. Staatssekretär beim
Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung:
Das tue ich gerne. Danke, dass Sie mir die Chance
dazu geben. Es ging um das Vorhaben Barro Blanco,
ein Wasserkraftwerk in Panama mit einer Kapazität von
29 Megawatt, das von einer Firma getragen und von der
DEG, der FMO und einer zentralamerikanischen Bank
gemeinsam finanziert wurde.
Man muss auch wissen, dass 2,6 Prozent der Stauseefläche sich in einem erweiterten indigenen Territorium
befunden haben. Die Indigenen kritisieren die Unwirksamkeit der Zustimmung zur Landnutzung gegenüber
der Regierung und fordern den Stopp des zu 98 Prozent
fertiggestellten Vorhabens. Sie haben sich dann bei FMO
und DEG beschwert und das Panel gebeten, zu prüfen,
ob die Darlehensgeber bei der Einstufung, Prüfung und
Überwachung des Vorhabens im Einklang mit den zum
Zeitpunkt der Finanzierung geltenden Umwelt- und Sozialrichtlinien agieren.
Das Panel kommt zu dem Ergebnis, dass DEG und
FMO zum Zeitpunkt der Kreditentscheidung keine hinreichenden Informationen über die Umwelt- und Sozialrisiken vorlagen und dass sie damit den Landkonflikt
nicht ausreichend erkennen konnten und seine Bedeutung unterschätzt haben. Das Panel empfiehlt, Kreditentscheidungen zukünftig erst nach Vorliegen hinreichender
Informationen über die Umwelt- und Sozialrisiken zu
treffen und insbesondere rechtliche Aspekte sowie die
Partizipation betroffener Personen vorab zu prüfen. Genau so wird künftig verfahren. Das sind lernende Systeme, meine Damen und Herren.
Ich habe zu Beginn gesagt, dass es weltweit das erste
Mal ist, dass man sich - nach unserer Meinung zu Recht auf diesen Weg begibt. Es bedarf natürlich noch weiterer
Lernfähigkeit des Systems. Aber wir können nicht sagen,
dass zu 100 Prozent Territorium der Indigenen betroffen
sind. Ich habe die Prozentzahlen genannt.
({0})
- Die leben dort; das ist richtig. Aber es geht um eine
Wasserfläche von 2,6 Prozent, meine Damen und Herren.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär Fuchtel. - Damit
können wir diesen Geschäftsbereich verlassen.
Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie. Zur Beantwortung der Fragen steht die Parlamentarische Staatssekretärin Frau Kollegin Iris Gleicke zur Verfügung.
Wir kommen zur Frage 22 des Kollegen Hubertus
Zdebel:
Welche Maßnahmen hat die Bundesregierung bisher ergriffen und welche Schritte wird sie zukünftig ergreifen, um
sicherzustellen, dass die Erdgas- und Erdölindustrie voll und
ganz für die Sanierungskosten der von ihr verursachten Schäden aufkommt?
Frau Staatssekretärin, Sie haben das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Lieber Kollege Zdebel,
hinsichtlich der Ersatzpflicht für Sanierungskosten für
Schäden der Erdgas- und Erdölindustrie sind drei Aspekte zu beachten.
Erstens. Die juristische Pflicht zur Übernahme der Sanierung bzw. der Sanierungskosten ergibt sich aus dem
geltenden Recht. Demnach ist die Erdgas- und Erdölindustrie ebenso wie auch alle anderen Industriezweige
oder Verursacher sowohl nach dem öffentlichen Recht
als auch nach Zivilrecht für die Sanierung von ihr verursachter Schäden bzw. die Erstattung der dadurch entstandenen Kosten verantwortlich.
Speziell für schädliche Bodenveränderungen und Altlasten sieht das Bundes-Bodenschutzgesetz die Pflicht
des Verursachers und gegebenenfalls seines Gesamtrechtsnachfolgers vor, Sanierungen durchzuführen. Der
zur Durchführung der Sanierung Verpflichtete hat nach
§ 24 Absatz 1 Bundes-Bodenschutzgesetz die Sanierungskosten zu tragen.
Zweitens. Die praktisch wichtige Frage ist darüber
hinaus, ob der jeweilige Schaden einem Unternehmen
nachgewiesen werden kann. Hierbei handelt es sich um
eine Beweisfrage. Falls aufgrund konkreter Anhaltspunkte der hinreichende Verdacht einer schädlichen Bodenveränderung oder einer Altlast besteht, kann die zuständige Behörde nach dem Bundes-Bodenschutzgesetz
anordnen, dass die verantwortlichen Personen die notwendigen Untersuchungen zur Gefährdungsabschätzung
durchzuführen haben.
Drittens kann sich die Frage stellen, ob ein festgestellter Verursacher wirtschaftlich in der Lage ist, seine
Pflichten zur Erstattung der Sanierungskosten zu erfüllen. Um dies zu gewährleisten, kann die Bergbehörde
präventiv eine Sicherheitsleistung nach § 56 Absatz 2 des
Bundesberggesetzes von dem Unternehmer verlangen.
Dadurch soll verhindert werden, dass im Fall mangelnder
Leistungsfähigkeit des Unternehmers die Allgemeinheit
die Kosten einer Ersatzvornahme zu tragen hat. Die Höhe
der Sicherheitsleistung kann die Behörde in Ausübung
ihres Ermessens festlegen.
Kollege Zdebel, Sie haben das Wort zu Ihrer ersten
Nachfrage.
Danke schön, Herr Präsident. - Wir erleben im Moment, wie es um das Verursacherprinzip bzw. das Aufkommen für Schäden bestellt ist. Gerade im Atombereich
waren die Konzerne starke Hirsche, wenn es darum ging,
ihre Profite zu maximieren. Sie werden aber zu scheuen
Rehen, wenn es darum geht, für die Kosten der Entsorgung und der Endlagerung des Atommülls aufzukommen. Wahrscheinlich stellt sich genau dasselbe Problem
bei der Erdöl- und Erdgasindustrie. Es ist sicherlich keine falsche Vermutung, dass etliche dieser Unternehmen,
insbesondere die kleinen und vielleicht auch unterkapitalisierten Firmen, gar nicht mehr auf dem Markt sind.
Dann stellt sich die Frage, wie sich das Verursacherprinzip durchhalten lässt.
Vor diesem Hintergrund haben wir schon vor längerer
Zeit insbesondere in der Atompolitik die Forderung aufgestellt, einen öffentlich-rechtlichen Fonds zu schaffen,
um über das, was Sie vertreten, und das Bergrecht hinaus
sicherzustellen, dass Unternehmen in gebührender Form
für die Sanierung der von ihnen verursachten Schäden
aufkommen. Wie stehen Sie in diesem Zusammenhang
zu der Forderung nach Einrichtung eines öffentlich-rechtlichen Fonds?
Frau Staatssekretärin.
Die Bundesregierung hat, was die Atommüllentsorgung angeht, die notwendigen Vorkehrungen getroffen.
Im Rahmen dieser Fragestunde habe ich dazu nicht mehr
zu sagen.
Ich will Ihnen aber gerne noch ausführlicher Auskunft geben, weil ich das Gefühl habe, dass hier etwas
durcheinandergeht. Sie haben als Hintergrund Ihrer Frage erläutert, dass es in Niedersachsen eine ganze Reihe
von Untersuchungen sogenannter Schlammgruben gibt.
Die niedersächsische Regierung hat gesagt: Wir müssen
das aufarbeiten. - Diese Schlammgruben sind zwischen
Mitte des 19. Jahrhunderts und den 1960er-Jahren entstanden. Das heißt, dass nicht mehr nach dem Bergrecht
verfahren werden kann. Wenn heutzutage beispielsweise
eine Genehmigung für Fracking erteilt wird, dann fällt
das in das Bergrecht. Dann werden die Maßnahmen nach
dem Bergrecht abgearbeitet, und zwar bis zum letzten
Betriebsplan. Bei den in Rede stehenden alten Verdachtsfällen handelt es sich um Grabungs- und Bohrrückstände
aus der Erdgas- und Erdölförderung, die bei jeder Tiefbohrung entstanden sind, wenn sie nicht sofort verwendet wurden. Seit den 60er-Jahren haben die Unternehmen
den Bohrschlamm von Bohrstellen in Zentraldeponien
entsorgt. Bereits seit einigen Jahren dürfen Bohrschlämme nicht mehr in Gruben neben Bohrstellen entsorgt
werden, sondern müssen nach dem Kreislaufwirtschaftsrecht außerhalb des Bergbaugebiets entsorgt werden. In
diesem Zusammenhang verweise ich auf die Antwort
des Kollegen Pronold betreffend des vorhin in Rede stehenden Sachverhalts. Insofern geht es nun darum, eine
Altlastensanierung und eine Risikoüberprüfung vorzunehmen. Das macht die niedersächsische Landesregierung zusammen mit dem Wirtschaftsverband Erdöl- und
Erdgasgewinnung, WEG. Wie Sie wissen, gibt es einen
Vizepräsident Johannes Singhammer
entsprechenden Vertrag. Die Industrie trägt die Kosten zu
80 Prozent.
Herr Kollege Zdebel, haben Sie eine zweite Nachfrage? - Bitte.
Danke schön, Herr Präsident. - Frau Parlamentarische
Staatssekretärin Gleicke, der Vorgang ist mir natürlich
bekannt. Ich weiß auch, dass es eine Vereinbarung mit
der WEG gibt, die Sie gerade angesprochen haben. Da
geht es um 5 Millionen Euro. Die dienen aber jetzt dazu,
um überhaupt diese Standorte ausfindig zu machen. Da
reden wir noch nicht über eine mögliche Sanierung, was
das Ganze angeht.
Das stimmt.
Deswegen habe ich konkret die Nachfrage, ob Ihnen Zahlen vorliegen und wie Sie die Kosten pro Tonne
Bohrschlamm, die möglicherweise saniert werden muss,
einschätzen, damit man eine realistische Kosteneinschätzung bekommt, was auf die verursachende Industrie zukommen könnte.
Frau Staatssekretärin.
Die Bohrschlämme bestehen zu 60 bis 95 Prozent aus
Wasser und zu 5 bis 15 Prozent aus Bohrklein, also erbohrtem Gestein. Weiterhin können geringe Mengen an
Stärke, Schwerspat, Kreide, Ton, Bentonit, Natronlauge
und Polymeren enthalten sein. Einige Bohrspülungen
enthalten Salze und Anteile von Schmierstoffen. Auch
Rückstände von Quecksilber - das war in dem Artikel
benannt - sind nicht auszuschließen. Gleichwohl liegen
uns jetzt keine Kostenschätzungen vor.
Sie haben recht: Es ist so, dass das Land und die WEG
eine Vereinbarung geschlossen haben, dass die Untersuchung der Verdachtsfälle, die das Land Niedersachsen
verifiziert hat, jetzt vorgenommen wird. Die Industrie
trägt, wie gesagt, zu 80 Prozent die Kosten dieser Untersuchung. Vor Abschluss der Untersuchung ist natürlich nicht geklärt, ob und in welchem Umfang von den
Bohrschlämmen überhaupt Gefahren ausgehen und Sanierungsbedarfe bestehen. Es steht also nicht fest, inwieweit überhaupt Kosten anfallen. Erst wenn das feststeht,
stellt sich die Frage, welche Kosten auf die Erdöl- und
Erdgasunternehmen zukommen.
Für diese Untersuchung ist eine Zeitdauer von zwei
Jahren angesetzt. Erst dann wird man belastbare Zahlen
nennen können. Das Entscheidende ist, dass jetzt erst
einmal die Aufsuchung und die Gefährdungsabschätzung
stattfinden.
Damit haben wir auch diese Frage abgeschlossen,
und wir verlassen gleichzeitig den Geschäftsbereich des
Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie. - Frau
Staatssekretärin Gleicke, vielen Dank.
Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Auswärtigen Amts. Für die Beantwortung steht Herr Staatsminister Michael Roth zur Verfügung.
Wir kommen zur Frage 23 des Kollegen Niema
Movassat:
Inwiefern besteht für die 400 Millionen Euro an zusätzlichen Haushaltsmitteln, die dem Auswärtigen Amt von der
Bundesregierung 2016 für den Themenkomplex „Flucht und
Migration“ zur Verfügung gestellt wurden, Zweckgebundenheit für die ausschließliche Verwendung in bestimmten Krisenregionen ({0}), und inwiefern zieht die Bundesregierung in Erwägung, einen Teil dieser Mittel zur Bekämpfung
der Folgen von El Niño zur Verfügung zu stellen?
Herr Staatsminister.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Abgeordneter
Movassat, ich möchte Ihre Frage gerne zum Anlass nehmen, mich ganz herzlich beim Deutschen Bundestag dafür zu bedanken, dass er uns im parlamentarischen Verfahren für das Haushaltsjahr 2016 400 Millionen Euro
zusätzlich zur Verfügung gestellt hat, insbesondere für
die Bekämpfung der Fluchtursachen und zur Stabilisierung der Nachbarländer Syriens. Das ist ein ganz wichtiger Beitrag. Wir fühlen uns natürlich diesem klaren
Auftrag des Deutschen Bundestags verpflichtet. Deshalb
wird der Schwerpunkt des Mitteleinsatzes im Jahr 2016
in Syrien und in den Nachbarländern liegen.
Wir unterstützen darüber hinaus seit 2015 im Rahmen
unserer vorausschauenden humanitären Hilfe Projekte im
Kontext der Auswirkung des sogenannten El-Niño-Phänomens. Dies erfolgt in bewährter Weise in einer ganz
engen Zusammenarbeit mit den Organisationen der Vereinten Nationen, aber auch mit Nichtregierungsorganisationen. In Abhängigkeit von der Umsetzung anderer
geplanter Projekte können diese regulären Mittel selbstverständlich auch ergänzt werden.
Es geht dabei zum einen um von Hilfsorganisationen
eigens aufgelegte Projekte wie auch um bereits laufende
humanitäre Hilfsprojekte, die um Komponenten ergänzt
werden, um von El Niño verursachten Auswirkungen zu
begegnen. Dafür haben wir in diesem Haushaltsjahr bereits Mittel in Höhe von rund 11 Millionen Euro bereitgestellt. Davon sind rund 9,5 Millionen Euro nach Afrika
gegangen.
Darüber hinaus gehört das Auswärtige Amt zu den
wichtigsten Gebern des Zentralen Nothilfefonds der
Vereinten Nationen. Wir haben hierfür im Jahr 2015
40 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Seit dem vergangenen Jahr wurden aus diesem Fonds der Vereinten
Nationen rund 64 Millionen US-Dollar zur Bewältigung
der Folgen von El Niño bereitgestellt.
Außerdem hat das Auswärtige Amt ein umfassendes
Klimamaßnahmenpaket auf den Weg gebracht, um die
humanitären Auswirkungen des Klimawandels zu lindern, unter anderem durch Maßnahmen der Klimarisikoanalyse sowie durch den Aufbau und die Verbesserung
entsprechender Frühwarnsysteme.
Vielen Dank. - Herr Kollege Movassat, haben Sie eine
Nachfrage? Wenn ja, haben Sie das Wort.
Danke, Herr Präsident. - Herr Staatsminister, es ist
ja so: Die UNO und auch andere Hilfsorganisationen
warnen seit mehreren Monaten vor den verheerenden
Folgen von El Niño für das östliche und südliche Afrika. Es sind ungefähr 50 Millionen Menschen betroffen;
das ist eine ungeheuer große Zahl. Angesichts dessen,
dass die UN einen Finanzbedarf von 5 Milliarden Dollar
veranschlagt haben, bisher jedoch noch nicht einmal ein
minimaler Anteil dieses Geldes dort angekommen ist dafür ist nicht nur Deutschland verantwortlich, sondern
auch andere Länder geben sehr wenig Geld -, habe ich
das Gefühl, dass man sich die Situation vor Ort kaum
vergegenwärtigt. Wenn man die Zahlen nimmt, die Sie
gerade genannt haben, und in Relation zu den 50 Millionen Betroffenen setzt, kommt man zu dem Ergebnis, dass
die Bundesregierung bisher vielleicht 1 bis 2 Euro pro
Betroffenem zur Verfügung gestellt hat.
Dabei hatte, wie ich gehört habe, die Kindernothilfe
dem Auswärtigen Amt angeboten, vor Ort mit einem
Projektpartner eine Maßnahme für die Schulspeisung
von 5 000 Kindern und für die Wasserversorgung von
20 000 Menschen durchzuführen. Der Antrag, dies zu
finanzieren, wurde vom Auswärtigen Amt abgelehnt.
Angesichts dessen, dass Sie die Finanzierung konkreter
Hilfsangebote ablehnen und wenig Mittel geben, frage
ich mich: Was muss denn eigentlich passieren, dass das
Auswärtige Amt den Ernst der Lage wirklich begreift
und mehr Mittel zur Verfügung stellt?
Herr Staatsminister.
Wenn Sie mir aufmerksam zugehört haben - das unterstelle ich Ihnen selbstverständlich, Herr Kollege -, dann
werden Sie festgestellt haben, dass die Bundesregierung,
insbesondere das Auswärtige Amt, auf ganz vielfältige
Weise dem El-Niño-Phänomen zu begegnen versucht.
Wir sind im Rahmen des Nothilfefonds der Vereinten Nationen einer der größten Geldgeber gewesen, und
wir stehen in einem ständigen Kontakt mit Nichtregierungsorganisationen und selbstverständlich auch mit den
Vereinten Nationen, um unsere Bemühungen engagiert
fortzusetzen. Dabei sind wir für jede weitere Initiative
dankbar.
Ich habe aber auch darauf hinweisen wollen, dass mit
den 400 Millionen Euro, die uns der Deutsche Bundestag zusätzlich zur Verfügung gestellt hat, die klare Erwartungshaltung verbunden war, dass diese Mittel für die
Fluchtursachenbekämpfung und für die Stabilisierung
Syriens und insbesondere der syrischen Nachbarschaft
verwendet werden. Ich möchte nicht, dass ein dringliches
Projekt - da sind wir ja völlig einer Meinung - gegen
ein anderes dringliches Projekt ausgespielt wird. Die entsprechenden Mittel werden wir so verwenden, wie es uns
der Deutsche Bundestag aufgetragen hat.
Herr Kollege Movassat, Ihre zweite Zusatzfrage.
Danke, Herr Präsident. - Herr Staatsminister, Sie wissen sicherlich auch - das ist aber, glaube ich, in der Öffentlichkeit relativ wenig bekannt -, dass sieben der acht
größten Flüchtlingslager auf der Welt in Ostafrika sind;
das wird ja oft vergessen. Wenn man, wie Sie ja gerade
sagten, Fluchtursachen bekämpfen möchte, dann stellt
sich natürlich schon die Frage: Was tut man, um der Situation in diesen Lagern, die schon unter normalen Verhältnissen kaum erträglich ist, etwa weil kaum genug Nahrung vorhanden ist, jetzt Herr zu werden, wo auch noch
El Niño dazukommt. Daher meine konkrete Frage: Was
wird derzeit getan, um die Zustände in den Flüchtlingslagern zu stabilisieren - von „verbessern“ rede ich erst gar
nicht? Die Zustände drohen ja jetzt durch El Niño in eine
völlige Katastrophe überzugehen.
Herr Staatsminister.
Ich habe Ihnen, Herr Kollege, einen wesentlichen
Schwerpunkt unseres Engagements benannt. Aber das
heißt nicht, dass es nicht über Syrien und über die syrische
Nachbarschaft hinaus weitere Aktivitäten im Rahmen der
humanitären Hilfe gibt. Dieser fühlt sich das Auswärtige
Amt natürlich in besonderer Weise verpflichtet.
Durch das, was ich eben mit dem Hinweis auf signifikante Mittel, die wir in konkrete Projekte investieren,
zum Ausdruck gebracht habe, ist doch deutlich geworden, dass wir auch hier unserer Verantwortung gerecht zu
werden versuchen.
Dem Deutschen Bundestag steht es selbstverständlich
frei, weitere Mittel zur Verfügung zu stellen, damit wir
unsere bisherigen Bemühungen noch engagierter fortsetzen können.
Frau Kollegin Hänsel.
Danke schön. - Herr Staatsminister, ich möchte auch
noch einmal nachfragen, weil ich finde, dass Ihre Antwort wirklich unzureichend bzw. sogar widersprüchlich
ist. Wenn Sie erkennen, dass man viel früher aktiv werden und die Fluchtursachen bekämpfen muss, um nicht
schon jetzt die nächsten Flüchtlinge zu produzieren,
dann müssen Sie doch jetzt viel mehr Geld geben, um
die Auswirkungen von El Niño aktiv zu bekämpfen und
den Leuten etwas anbieten zu können. Ansonsten haben
wir in einem Jahr das Problem, dass ganz viele Äthiopierinnen und Äthiopier vor den Grenzen stehen oder gar
vorher im Mittelmeer ertrinken. Es kommen doch schon
jetzt viele Menschen aus Äthiopien nach Deutschland.
Das wissen Sie doch genau. Da kann man doch nicht sagen: „Wir machen ja schon viel“, wenn Sie als konkrete
Hilfe für diese Region nur 10 Millionen Euro vorsehen
und ansonsten auf UN-Mittel sowie das Klimamaßnahmenpaket verweisen. Schauen wir uns doch nur an, dass
Sie für den G-7-Gipfel im vergangenen Jahr in Bayern,
der drei Tage dauerte, 360 Millionen Euro ausgegeben
haben. 360 Millionen Euro in drei Tagen! Zugleich haben
Sie für diese Region mit 50 Millionen Menschen jedoch
nur 10 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Das geht
doch so nicht. Sie machen genau dieselbe Politik wie bisher und wundern sich dann, dass die Bevölkerung völlig
unzufrieden ist, weil Sie nicht auf die Herausforderungen
reagieren.
Herr Staatsminister.
Frau Kollegin, auch Ihnen dürfte nicht entgangen sein,
dass wir noch niemals zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland so viel Geld für humanitäre Hilfe und für die Stabilisierung von Regionen zur Verfügung
gestellt haben, und das mit Ihrer Unterstützung.
({0})
Ich habe darüber hinaus darauf hingewiesen, dass
dies nicht ausschließlich Projekte sind, die sich im Bereich Syriens oder der syrischen Nachbarschaft bewegen.
Vielmehr habe ich ebenso darauf hingewiesen, dass wir
ein vielfältiges Klimamaßnahmenpaket auf den Weg gebracht haben, bei dem es insbesondere um Prävention
geht. Die humanitären Auswirkungen des Klimawandels
sollen gelindert werden unter anderem durch Maßnahmen der Klimarisikoanalyse sowie durch den Aufbau
und die Verbesserung von Frühwarnsystemen. Das liegt
genau auf der Linie, die Sie zu Recht eingefordert haben.
({1})
Wir kommen jetzt zur Frage 24 der Kollegin Heike
Hänsel:
Welche Konsequenzen wird die Bundesregierung im Rahmen der politischen, finanziellen und entwicklungspolitischen
Zusammenarbeit gegenüber der honduranischen Regierung
nach der Ermordung von Berta Cáceres, Menschenrechtsverteidigerin und Mitbegründerin des indigenen Rates in
Honduras, COPINH ({0}),
am 3. März 2016 ziehen, damit dieser Fall aufgeklärt und die
Verantwortlichen verurteilt werden und auch die Rolle von
dem am Bauvorhaben des Wasserkraftwerks Agua Zarca auf
indigenem Lenca-Gebiet beteiligten deutschen Unternehmen
Siemens-Voith Hydro untersucht wird, ob es seine selbsterklärte Unternehmensverantwortung ({1}) in diesem
Konflikt um Agua Zarca, angesichts der seit Jahren verzeichneten Menschenrechtsverletzungen, einhält?
Herr Staatsminister, Sie haben das Wort zur Beantwortung.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Frau Kollegin Hänsel,
wir kommen jetzt zu einem tragischen Mordfall, der sich
in Honduras abgespielt hat. Sie wissen, dass die Bundesregierung in einem ständigen Dialog, sowohl bilateral als
auch im Rahmen der Europäischen Union, über die Situation der Menschenrechte in Honduras steht. Dieser Dialog wird selbstverständlich nicht nur mit der honduranischen Regierung geführt, sondern bezieht natürlich auch
die honduranischen Menschenrechtsorganisationen gleichermaßen mit ein. Dies gilt insbesondere für COPINH,
den indigenen Rat in Honduras, den Frau Berta Cáceres
mitbegründet und geleitet hat.
Als Kennerin der Region wissen Sie vielleicht auch,
dass unsere Botschaft einen sehr engen und sehr intensiven Kontakt mit Frau Cáceres gepflegt hat. Wir haben gemeinsam mit den anderen Botschaftern der EU-Staaten
vor Ort dieses furchtbare Verbrechen, diesen Mord verurteilt und die honduranischen Behörden zur raschen und
vollständigen Aufklärung aufgefordert. Darüber hinaus
hat die Hohe Vertreterin der EU, Federica Mogherini, am
12. März gleichfalls dieses furchtbare Verbrechen verurteilt und eine rasche Aufklärung des Verbrechens gefordert. Bislang liegen uns keinerlei Informationen zu den
Hintergründen und zu den Verantwortlichen vor.
Der Lateinamerikabeauftragte meines Hauses, der sich
kurz nach dieser abscheulichen Tat in Honduras befand,
hat dieses Thema in allen Gesprächen angesprochen, insbesondere in Gesprächen mit Präsident Hernández, dem
Außenminister, dem Justizminister und der Ministerin für
Menschenrechte - überall kam die Ermordung von Frau
Cáceres zur Sprache. Die honduranische Regierung hat
dieses Verbrechen noch am gleichen Tag verurteilt. Sie
hat den UNHCHR um Hilfe bei der Aufklärung gebeten.
Seit dem zweiten Tag nach der Tat sind VN-Experten vor
Ort an den entsprechenden Ermittlungsarbeiten beteiligt.
Uns gegenüber, Frau Kollegin Hänsel, hat die honduranische Regierung in allen Gesprächen versichert,
dass sie sich ernsthaft darum bemühen werde, die Tat
vollständig aufzuklären und vor allem auch die Situation
der Menschenrechtsverteidiger in Honduras zu verbessern. Insofern sieht die Bundesregierung derzeit keinen
Anlass, die entwicklungspolitische Zusammenarbeit mit
Honduras grundsätzlich infrage zu stellen.
Ich habe gehört, dass der Parlamentarische Staatssekretär Fuchtel - er ist jetzt nicht mehr hier - Anfang April
Honduras besuchen wird. Selbstverständlich wird auch
dann der Mord Gegenstand der Gespräche mit den Regierungsvertretern sein.
https://amerika21.de/files/a21/offener_brief_an_die_firma_voith.pdf
https://amerika21.de/files/a21/offener_brief_an_die_firma_voith.pdf
Darüber hinaus haben Sie noch auf das Wasserkraftwerk Agua Zarca hingewiesen. Dieses Wasserkraftwerk
wird ohne deutsche Finanzierung gebaut. Die Firma
Voith soll drei Turbinen zuliefern. Das Projekt hat insgesamt ein Auftragsvolumen von 8 Millionen Euro. Das
Unternehmen hat die Ermordung in einer Stellungnahme
am 11. März ebenfalls verurteilt.
Frau Kollegin Hänsel, Sie haben die Möglichkeit einer
Nachfrage.
Danke schön. - Herr Staatsminister, ich habe nicht die
Frage gestellt, ob Sie die Entwicklungszusammenarbeit
einstellen, sondern ob Sie sich im Rahmen der umfassenden politischen, finanziellen und entwicklungspolitischen Zusammenarbeit mit Honduras gegenüber der
honduranischen Regierung für eine umfassende Aufklärung einsetzen.
Jetzt muss man wissen: Es gibt ein enormes Maß an
Straflosigkeit in Honduras - wie in vielen anderen lateinamerikanischen Ländern auch. Die schönen Absichtsbekundungen, man wolle aufklären, bringen eigentlich so
gut wie gar nichts; in hundert anderen Fällen ist nämlich
nichts passiert.
Die Aktivistin Berta Cáceres von COPINH, die ermordet wurde, war sehr oft auch hier in Deutschland.
Viele Kollegen und Kolleginnen haben sie getroffen und
sie in ihren Aktivitäten im Zuge des Staudammprojekts
und in ihrem Einsatz für die Rechte Indigener unterstützt.
Wenn Sie, wie Sie sagen, Kontakt zur Familie und
zu COPINH haben, dann wissen Sie ganz genau, dass
COPINH, der indigene Rat, fordert, dass es eine unabhängige internationale Untersuchungskommission gibt,
weil eben nicht gewährleistet ist - wie in anderen Fällen auch -, dass der honduranische Staat die Aufklärung
nachhaltig betreibt. Deshalb meine Frage an Sie: Setzt
sich die Bundesregierung gegenüber der honduranischen
Regierung für die Einsetzung einer unabhängigen Untersuchungskommission des Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshofs ein? Dann würden nicht nur
irgendwelche Experten geschickt, sondern diese hätte
einen eigenen Auftrag, einen Vertrag mit der Regierung
und mit der Familie, dort unabhängig zu ermitteln.
Herr Staatsminister.
Ich habe Ihnen deutlich zu machen versucht, Frau Abgeordnete, dass wir in allen Gesprächen auf eine entsprechende Aufklärung dieser Tat drängen. Selbstverständlich sind wir mit der derzeitigen Menschenrechtslage,
insbesondere auch mit der Lage der Menschenrechtsverteidiger, nicht zufrieden.
Ich habe schon eine Reihe von konkreten Projekten
benannt, die von der Bundesregierung und von der Europäischen Union unterstützt werden. Ich kann da gerne
noch ein paar weitere hinzufügen: Deutschland beabsichtigt beispielsweise, die kürzlich ins Leben gerufene internationale Rechtsstaatsmission MACCIH finanziell und
personell zu unterstützen. Die Erfahrungen, die im Nachbarland Guatemala gemacht worden sind, waren durchaus positiv. Wir wollen auf diesen Erfahrungen aufbauen.
So begrüßen wir, dass die honduranische Regierung sich
bereit erklärt hat, diese internationale Rechtsstaatsmission einzurichten. Positiv ist ebenso festzuhalten, dass
Honduras ein Abkommen mit Transparency International
abgeschlossen hat. Die Regierung hat sich zudem bereit
erklärt, dass in Tegucigalpa - Sie können das möglicherweise etwas besser aussprechen als ich, Frau Hänsel - ein
Büro des Hochkommissars der Vereinten Nationen für
Menschenrechte eröffnet wird. Das alles sind Beiträge,
die in die richtige Richtung weisen.
Ich kann Ihnen aber noch einmal versichern, dass
wir alles, was in unseren Möglichkeiten steht, tun werden, um dazu beizutragen, dass dieser Fall aufgeklärt
wird - im Interesse der Familie, aber auch im Interesse
der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte in Honduras. Das sage ich sicherlich nicht nur für die Bundesregierung, das ist auch das gemeinsame Bemühen der
Europäischen Union.
Frau Kollegin Hänsel.
Danke schön, Herr Staatsminister. - Ich möchte aber
noch einmal darauf insistieren: Wir haben ein enorm hohes Maß an Straflosigkeit in Honduras. Wir haben die
Erfahrung, dass Fälle nicht aufgeklärt werden. Erschwerend kommt hinzu, dass gestern ein weiterer Kollege
von COPINH, des indigenen Rates, ermordet worden
ist: Nelson García. Aufgrund dieses weiteren Mordes in
kürzester Zeit an einem Mitglied des indigenen Rates,
dessen Mitglieder ja zum Beispiel involviert sind in die
Auseinandersetzung um indigene Rechte, auch bei Staudammprojekten, an denen Siemens-Voith Hydro beteiligt
ist, hat zum Beispiel die holländische Entwicklungsbank
ihre Gelder zurückgezogen. Sie stoppt erst einmal alle
Finanzierungen für Projekte in Honduras, weil sie es als
so gravierend ansieht, wie dort mit Menschenrechten
umgegangen wird. Sie könne es einfach nicht mehr verantworten, hier einfach weiterzumachen.
Deshalb noch einmal meine Nachfrage: Sind Sie bereit, sich gegenüber der honduranischen Regierung für
die Einsetzung einer unabhängigen Untersuchungskommission des Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshofes einzusetzen, so wie es sie zum Beispiel
in Mexiko gegeben hat? Die Arbeit dieser Kommission
in Mexiko hat sehr wichtige und positive Resultate gebracht. Sie ist ja zum Beispiel im Fall Ayotzinapa tätig
geworden und kam im Vergleich zu den staatlichen Ermittlungen zu ganz anderen und weitreichenden Ergebnissen. Setzen Sie sich also für die Einsetzung einer
unabhängigen Kommission ein, wenn Sie es ernst damit
meinen, der Straflosigkeit dort den Kampf anzusagen!
Herr Staatsminister.
Frau Kollegin Hänsel, ich habe Ihnen ja eingangs
schon deutlich zu machen versucht, was wir alles tun.
Wir werden sicherlich, auch in enger Abstimmung mit
unseren Partnerländern in der Europäischen Union, weitere Schritte nicht ausschließen. Aber derzeit stimmt das,
was ich Ihnen eben als Teil meiner Antwort mit auf den
Weg gegeben habe, uns zumindest zuversichtlich, dass
die honduranische Regierung und die honduranischen
Behörden ihren Worten auch Taten folgen lassen. Das ist
eine ganz klare Erwartungshaltung der Bundesregierung
und der Europäischen Union.
Damit kommen wir zur Frage 25 der Kollegin Heike
Hänsel:
Kontrolliert die Bundesregierung in irgendeiner Art und
Weise die Verwendung der in Syrien gewonnenen deutschen
Aufklärungsprodukte mit dem Freigabevermerk „For Anti-DAESH Operation only“ ({0}) durch die Türkei ({1}), und kann die Bundesregierung dann eindeutig
ausschließen, dass die Türkei mit den deutschen Aufklärungsergebnissen andere Ziele als Anti-Daesh-Ziele bombardiert?
Herr Staatsminister.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Das Thema hat ja
schon einmal unter etwas anderen Vorzeichen in der Fragestunde eine Rolle gespielt. Deswegen beziehe ich mich
in Teilen auf Antworten, die Staatsministerin Böhmer
hier vorgetragen hat.
Die Bereitstellung von Aufklärungsergebnissen
im Rahmen der Operation Inherent Resolve der Anti-Daesh-Koalition erfolgt ausschließlich zu den Zielen
und innerhalb der Grenzen des Mandats des Deutschen
Bundestags, das heißt zur Aufklärung von IS-Zielen,
zu deren Bekämpfung und zum Schutz von ziviler Infrastruktur. Um das zu garantieren, haben wir ein entsprechendes dreistufiges Verfahren eingerichtet. Das ist
Ihnen, wie gesagt, schon in der schriftlichen Beantwortung mitgeteilt worden. Ich will es hier zur Klarheit noch
einmal wiederholen.
Die erste Stufe: Ein deutscher Stabsoffizier im Hauptquartier in al-Udeid in Katar stellt bereits im Vorfeld, das
heißt bei der Planung der Flugeinsatzbefehle sowie auch
während der Einsatzflüge sicher, dass diese im Einklang
mit dem Auftrag des Bundestagsmandats erfolgen.
Die zweite Stufe: Ein weiterer deutscher Stabsoffizier
prüft die erflogenen und analysierten Aufklärungsergebnisse nochmals auf die mandatskonforme Verwendungsmöglichkeit.
Und die dritte Stufe: Die ausgewerteten deutschen
Aufklärungsprodukte - so heißt das offiziell - werden
mit dem Freigabevermerk „For Counter-DAESH Operation only“ versehen, um den politischen Willen, wie im
Mandat manifestiert, auszudrücken.
Die Bundesregierung hat keinen Anlass, davon auszugehen, dass die von deutschen Kräften der Anti-IS-Koalition zur Verfügung gestellten Aufklärungsergebnisse zu
einem anderen Zweck als der Bekämpfung von IS-Stellungen verwendet werden.
Frau Kollegin Hänsel, Sie haben das Wort.
Danke schön. - Herr Staatsminister, ich habe bereits
auf die letzte mündliche Frage die Antwort erhalten,
dass die Aufklärungsprodukte geprüft werden und danach sozusagen mit einem Stempel mit dem Text „Ausschließlich für IS-Bekämpfung zu verwenden“ versehen
werden. Dieser Stempel ist ja schön und gut. Aber kontrolliert denn dann die Bundesregierung in irgendeiner
Weise, ob die Aufklärungsprodukte nur dafür verwendet
werden, oder belässt sie es, zum Beispiel gegenüber dem
NATO-Partner Türkei, bei Treu und Glauben und geht
davon aus, dass die Aufklärungsprodukte schon nach
bestem Wissen und Gewissen verwendet werden? Meine
Frage: Kontrollieren Sie eigentlich, was mit den von Ihnen gesammelten Informationen konkret passiert?
Wenn wir dies nicht kontrollierten, würden wir sicherlich nicht dem entsprechenden Mandat des Deutschen
Bundestages gerecht. Das von mir vorgestellte dreistufige Verfahren dient ja gerade der Sicherung und Wahrung
dessen, wozu uns der Deutsche Bundestag verpflichtet
hat. Da mir und der Bundesregierung keine weiteren Erkenntnisse vorliegen, was Missbräuche betrifft, gehe ich
fest davon aus, dass es einen entsprechenden Mechanismus regelmäßiger Kontrollen gibt. Einen wesentlichen
Teil dieses Kontrollmechanismus habe ich Ihnen geschildert.
Frau Kollegin Hänsel, haben Sie noch eine weitere
Frage? - Dann haben Sie das Wort.
Ich möchte in eine andere Richtung nachfragen. Sie
sprachen davon, dass Sie das Mandat mit der Aufklärung
von IS-Zielen, also des sogenannten „Islamischen Staates“, beauftragt. Nun wissen wir, dass die Konflikte in
der Region - je nach Frontverläufen - sehr miteinander
verwoben sind. Man kann ja nicht sagen: Hier ist ausschließlich der IS. - Vielmehr wissen wir, dass es gerade
in Nordsyrien, in Richtung der Grenze zur Türkei, nördlich von Aleppo, kurdische Gebiete, vom IS dominierte
Gebiete und von verschiedenen anderen Rebellengruppen dominierte Gebiete gibt. All das verschiebt sich ja
ständig, und es ist eine strategisch sehr wichtige Region. Wie können Sie denn ausschließen, dass die Türkei,
die ja nachweislich kurdische Stellungen in Nordsyrien
bombardiert und angreift, die an sie weitergegebenen Informationen benutzt, um kurdische Stellungen zu bombardieren, und Sie somit indirekt dazu beitragen? Meine
Frage: Überfliegen die deutschen Tornados kurdische
Regionen in Nordsyrien, und betreiben sie dort Aufklärung?
Herr Staatsminister.
Frau Kollegin Hänsel, ich habe Ihnen doch deutlich
gemacht, dass wir uns in dem Rahmen bewegen, den uns
der Deutsche Bundestag gegeben hat. Dabei geht es ausschließlich um die Unterstützung bzw. Vorbereitung der
Bekämpfung von IS-Zielen.
Über die Art und Weise möglicher militärischer Aufklärung der Türkei im Norden Syriens haben wir keine
Erkenntnisse. Dazu kann ich Ihnen nichts sagen. Aus
Sicht der Bundesregierung eignen sich unsere Aufklärungsprodukte nicht für die Bekämpfung anderer Konfliktparteien. Es gibt hier einen klaren Auftrag, und den
erfüllen wir.
Die Fragen 26 und 27 der Kollegin Dağdelen, die Frage 28 der Kollegin Keul und die Frage 29 des Kollegen
Ströbele werden allesamt schriftlich beantwortet.
Insofern danke ich dem Herrn Staatsminister sehr
herzlich.
Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern. Ich freue mich, dass Herr Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Günter Krings für die
Beantwortung zur Verfügung steht.
Die Frage 30 des Kollegen Ströbele, die Frage 31 des
Kollegen von Notz, die Fragen 32 und 33 der Kollegin
Jelpke und die Frage 34 der Kollegin Walter-Rosenheimer
werden schriftlich beantwortet.
Deshalb kommen wir jetzt zur Frage 35 der Kollegin
Irene Mihalic:
Welches Maß an Vernetzung sieht die Bundesregierung im
Bereich politisch rechts motivierter Straftaten mit Blick auf
die jüngsten Anschläge im brandenburgischen Nauen inzwischen erreicht?
Herr Staatssekretär.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Liebe Frau Mihalic, schön, dass Sie
es bei der mündlichen Beantwortung der Frage belassen
haben. Das ist sozusagen der Höhepunkt der Fragestunde.
({0})
Aber das soll keine Kritik an den Kollegen sein, die vor
mir dran waren, im Gegenteil. - Einigen wir uns auf:
Schlusspunkt der Fragestunde.
Das Thema allerdings ist leider alles andere als positiv. Es geht um die Frage der Vernetzung bei Anschlägen, insbesondere auf Asylbewerberheime, konkret auf
ein Asylbewerberheim in Brandenburg. Meine Antwort
lautet: Nach bisherigem Erkenntnisstand handelte es sich
bei den Straftaten gegen Asylunterkünfte im Bereich der
PMK-rechts - darüber haben wir schon mehrfach im Innenausschuss gesprochen - überwiegend um lokale Agitationen, die bislang keinen Rückschluss auf eine bundesweit gesteuerte Strategie zulassen. Die Intensität und
die Quantität entsprechender Aktionen stehen in starker
Abhängigkeit von den organisatorischen Möglichkeiten
der jeweiligen lokalen Szenen, deshalb auch die unterschiedliche Ausprägung, die unterschiedliche Stärke und
Häufigkeit solcher Anschläge. Konkrete Hinweise auf organisationsgesteuerte Gewaltstraftaten in Form von angeordneter oder gezielt gelenkter Delinquenz durch rechte Parteien oder rechtsextremistische Strukturen gegen
Asylbewerber und Unterkünfte liegen bislang nicht vor.
Es wird unserer Einschätzung nach aber auch zukünftig damit zu rechnen sein, dass ein nicht unerheblicher
Teil der Straftaten gegen Asylbewerberunterkünfte von
Personen mit Anbindung an rechte bzw. rechtsextremistische Organisationsstrukturen begangen wird.
Im Hinblick auf das laufende Ermittlungsverfahren
der Staatsanwaltschaft Potsdam zu den Straftaten in Nauen bleibt das Ergebnis der Ermittlungen abzuwarten.
Die Sicherheitsbehörden des Bundes verfolgen den
Fortgang der Ermittlungen des Landes Brandenburg mit
großer Aufmerksamkeit. Daraus gewonnene Erkenntnisse, auch im Hinblick auf Vernetzungen, werden somit
auch in die Bewertungen der Sicherheitsbehörden des
Bundes einfließen. Insbesondere der Generalbundesanwalt - das wissen Sie - steht im Kontakt mit den Ermittlungsbehörden vor Ort.
Frau Kollegin Mihalic, Sie haben das Wort.
Herr Staatssekretär, vielen Dank für die Beantwortung
der Frage. Sie können sich vorstellen, dass mich Ihre
Antwort nicht vollumfänglich befriedigt, insbesondere
wenn es darum geht, uns darüber zu verständigen, welcher Grad einer Vernetzung vorliegen muss, bis wir von
Rechtsterrorismus sprechen. Diese Frage spielt ja dabei
sozusagen eine wesentliche Rolle. In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage, inwiefern Taten wie die in
Nauen oder beispielsweise der Rohrbombenanschlag auf
eine Flüchtlingsunterkunft in Eisenach als staatsgefährdend eingestuft werden oder Staatsschutzrelevanz haben.
Mich interessiert deshalb die Antwort der Bundesregierung auf die Frage: Welche Kriterien müssen denn vorliegen, damit solche Ereignisse wie in Nauen oder wie der
eben von mir erwähnte Rohrbombenanschlag auf eine
Flüchtlingsunterkunft in Eisenach als staatsschutzrelevant oder staatsgefährdend eingestuft werden? Ab wann
wird also ein rechtsterroristischer Hintergrund angenommen?
Herr Staatssekretär.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Zunächst einmal zum
Thema Vernetzung. Gerade im Nauener Fall gibt es - ich
muss vorsichtig sein, wie ich antworte, weil es sich um
ein laufendes Ermittlungsverfahren handelt - offenbar
Bezüge zu einer rechtsradikalen Partei. Lokale Vernetzungen der Urheber solcher Anschläge innerhalb rechtsradikaler Strukturen sind offenbar vorhanden.
Zur Einschätzung, ob die von Ihnen genannten Delikte in Betracht kommen: Es ist die Aufgabe des Generalbundesanwalts, das zu entscheiden. Er hat einen
Beobachtungsvorgang angelegt und steht, wie gesagt, in
engem Kontakt mit der Staatsanwaltschaft Potsdam. Das
obliegt seiner Einschätzung; Sie hatten ja schon einmal
eine schriftliche Frage zu diesem Thema gestellt, deren
Beantwortung zuständigkeitshalber vom Bundesjustizministerium übernommen wurde.
Der Generalbundesanwalt beobachtet die Ermittlungen intensiv. Nach meinem Kenntnisstand ist er bisher
nicht zu dem Schluss gekommen, dass die Grenze schon
überschritten ist. Aber dass sie relevant ist und dass wir
uns vielleicht kurz vor dieser Grenze befinden, das will
ich gar nicht in Abrede stellen. Dem Generalbundesanwalt aber obliegt die Einschätzung, ab welcher Grenze
die von Ihnen genannten Delikte einschlägig sind und ab
wann es sich um mehr handelt als um das, was von der
Staatsanwaltschaft Potsdam ermittelt wird.
Frau Kollegin Mihalic.
Ich will meine Nachfrage präzisieren und an einem
Beispiel veranschaulichen; denn es geht nicht nur um
die Einschätzung des Generalbundesanwalts, sondern
auch um die Einschätzung der ermittelnden bzw. der mit
diesen Fällen betrauten Sicherheitsbehörden. Lassen Sie
mich deswegen folgenden Vergleich anstellen.
Im hessischen Oberursel befand sich eine Rohrbombe
in einem Keller, mit der mutmaßlich ein Anschlag auf
ein Radrennen in Frankfurt verübt werden sollte, und alle
beteiligten Sicherheitsbehörden gingen sofort von einem terroristisch geplanten oder motivierten Anschlagsszenario aus. Dem gegenübergestellt haben wir einen
vollendeten Rohrbombenanschlag auf eine Flüchtlingsunterkunft in Eisenach oder die jetzigen schrecklichen
Geschehnisse in Nauen. Da wird aber kein terroristischer
Hintergrund angenommen, bzw. dieser ist - wenn ich mir
Ihre Antwort vergegenwärtige - noch nicht ganz klar. Erklären Sie mir den Unterschied.
Wir sollten festhalten - das ist nicht so sehr an Sie gerichtet, sondern ich sage dies, um den Kontext klarzustellen -, dass es furchtbare Taten sind, unabhängig davon,
ob wir sie bereits als terroristische Taten einstufen oder
nicht. Wir gehen davon aus, dass alle Behörden vor Ort,
auch die Ermittlungsbehörden vor Ort, die Nachrichtendienste und der Verfassungsschutz sehr intensiv prüfen,
welche Qualität die Delikte haben. Dies gilt erst recht für
die Staatsanwaltschaften und die Polizeibehörden. Die
Frage, ob es terroristische Delikte sind, wird geprüft, und
es wird geschaut, ob diese Schwelle jeweils erreicht ist.
Ich kann das an dieser Stelle nicht Punkt für Punkt
kriminalistisch und strafrechtlich subsumieren. Allerdings dürften wir uns hoffentlich darin einig sein, dass
die geplante Art der Straftat - hier mit einer Rohrbombe - ein besonders schwerwiegendes Indiz ist. Gleichwohl muss die Verwendung des gleichen Mittels nicht
zwingend zum gleichen Schluss führen. Im Übrigen trug
der geplante Anschlag in Oberursel offenbar bereits terroristische Züge. Der islamistische Terror in Deutschland
ist auf eine andere Weise vernetzt.
In dem von Ihnen genannten Fall prüfen wir erst. Wie
gesagt, bisher haben wir noch keine harten Anzeichen
dafür, dass es hier eine bundesweit vernetzte terroristische Struktur gibt. Aber wir haben aus den NSU-Fällen
gelernt, dass wir hier sehr wachsam sein müssen. Wir
dürfen nicht nur nach einer bestimmten Struktur suchen.
Es gibt Ausprägungen terroristischer Gruppen, die vielleicht anders sind, als wir das von anderen Phänomenen
und aus anderen Bereichen kennen. Insofern sind die Behörden an dieser Stelle sehr wachsam.
Ich will an dieser Stelle noch ergänzen, was die Arbeit des Vertreters des Bundes in der länderoffenen Arbeitsgruppe betrifft. Wenn es um rechtsradikale Parteien
und rechtsextremistische Strukturen geht, wird geprüft,
ob etwas in den Kontext eines Verbotsverfahrens gerückt
werden kann und ob es hier Bezüge zu einer Partei gibt.
Auch das werden wir natürlich berücksichtigen. Das bezieht sich nicht nur auf die strafrechtliche Aufklärung.
Wir werden auch dafür sorgen, dass wir dann, wenn
etwa Bezüge zur NPD festgestellt werden sollten, diese
im Verbotsverfahren verwenden werden, das zurzeit in
Karls ruhe läuft.
Damit ist auch diese Frage abschließend beantwortet.
Die Frage 36 des Kollegen Andrej Hunko wird schriftlich beantwortet.
Ich danke Herrn Staatssekretär Krings und allen anderen herzlich.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Finanzen. Die Fragen 37 und 38 der Kollegin Katrin Kunert sowie die Frage 39 der Kollegin Britta
Haßelmann werden schriftlich beantwortet.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Die Fragen 40 und 41
der Kollegin Sabine Zimmermann sowie die Frage 42 der
Kollegin Brigitte Pothmer werden schriftlich beantwortet.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft. Die Fragen 43 und 44 des Kollegen Friedrich Ostendorff sowie
die Frage 45 der Kollegin Bärbel Höhn werden schriftlich beantwortet.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung. Die Frage 46 der Kollegin
Katja Keul sowie die Fragen 47 und 48 der Kollegin Inge
Höger werden schriftlich beantwortet.
Wir sind damit am Ende dieses Tagesordnungspunktes
und zugleich am Ende unserer Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 17. März 2016, 9 Uhr,
ein.
Kommen Sie alle morgen gesund wieder hierher. Die
Sitzung ist geschlossen.